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German Pages 516 Year 2000
Sprachspiel und Bedeutung
Sprachspiel und Bedeutung Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Susanne Beckmann, Peter-Paul König und Georg Wolf
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sprachspiel und Bedeutung: Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 65. Geburtstag / hrsg. von Susanne Beckmann .... -Tübingen: Niemeyer, 2000 ISBN 3-484-73054-4
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
IX
Semantik Hans Jürgen Heringer Semantik in der akademischen Lehre Peter Rolf Lutzeier Der Stellenwert der Empirie in der Semantik
13
D. Alan Cruse Lexical 'facets': between monosemy and polysemy
25
Gerd Fritz Extreme Polysemie - der Fall ziehen
37
Jochen Splett Zur systematischen Darstellung von Quasisynonymengruppen, dargelegt anhand von FRIEDFERTIG
51
Götz Hindelang Die Bedeutung von schwarz kann man nicht erraten
61
Robert Hinderling „Abfallprodukt"
73
Gottfried Kolde ,,Hunde(artige?) werden in der Gefangenschaft rasch zahm". Über Schwierigkeiten der lexikographischen Definition trivialer Alltagskonzepte
81
Werner Zillig Anmerkungen zum Begriff,Grundwortschatz'
93
Frank Liedtke Modalverben im Deutschen - semantische und pragmatische Beschreibung
105
Dmitrij Dobrovol 'skij Ist die Semantik von Idiomen nichtkompositionell?
113
VI
Susanne Beckmann Bemerkungen zur Integration phraseologischer Einheiten in ein semantisches Beschreibungsformat
125
Karl Sornig Equal goes it loose. Fremdwörter ä la mode
137
Wilfried Kürschner Fremdwort-Variantenschreibung. Befund - Problem - Lösung
147
Klaus Siewert Semantischer Wandel versus semantische Verwandlung
157
Klaus Ostheeren Got. Driugan - ,zu Felde ziehn'. Ein Versuch in historischer Wortsemantik
165
Michael Job Zur Geschichte der deontischen Sprechaktverben des Deutschen
177
WolfDietrich Aspekte der Gliederung des Wortschatzes in Sprachen sehr verschiedener Kulturkreise
189
Yutaka Shimokawa Eine valenzbasierte Klassifikation der Adjektive des japanischen Grundwortschatzes
201
Moustafa Mäher Arabische Eigennamen in deutschen Übersetzungen. Semantische und konnotative Probleme
209
Kennosuke Ezawa Tsugio Sekiguchi (1894-1958). Grammatiker der „Bedeutungsformen" (imikeitai)
215
Werner Abraham Mehrfachnegation (MN) im Deutschen und im Afrikaans
221
Harald Weydt Der Konjunktiv - semantisch und Ubereinzelsprachlich betrachtet
227
VII Dialoganalyse Kirsten Adamzik Bezeichnungen für Dialogsorten im Deutschen
243
Bernd Naumann Chaotische Dialoge. Sind chaostheoretische Aspekte auf die Dialoganalyse anwendbar?
255
Edda Weigand Coherence in discourse - a never-ending problem
267
Wolfgang Herrlitz Diskursanalysen in pädagogischer Absicht
275
Valerij Dem 'jankov Geheimnisse des Dialogs
289
Klaus Robering Wie der Hörer überlegt
295
Wilhelm Franke Über semantische Muster
305
Eckard Rolf Versprecher (und Versprechen)
315
Atsuo Kawashima Besonderheiten des deutschen Dialogs im Vergleich zum japanischen dargestellt am Beispiel der Routineformeln
327
Manabu Watanabe Über den Normbegriff in der Linguistik
335
Peter-Paul König Loben, danken und gedenken. Zur Funktion partnerbezogener Expressiva in öffentlichen Reden
343
Georg Wolf Die Kommunikation der Politiker - ein Mannschaftsspiel
353
Wolfgang Niehüser Symbolische Kommunikation als Chance - das Problem der Rückgewinnung von Reputation
367
Karin Luttermann Gerichtskommunikation und Gesprächsanalytisches Integrationsmodell
379
VIII Sabine Frilling Was heißt hier DiebstahH Probleme einer Auseinandersetzung mit Rechtsnormen im Deutschunterricht ... 391 Wilhelm Grießhaber Zum Begriff,Wirtschaftssprache'. Überlegungen und Vorschläge zur Analyse der Fachsprache der Wirtschaft.... 403 Herbert Kraß Gäbe es den Dialog, wäre das Subjekt keine abstrakte Vorstellung mehr: Die Erzählung „Tonka" von Robert Musil
415
Ernst Ribbat Wettergespräche. Heinrich von Kleists „Kapuziner-Anekdote"
421
Helmut Arntzen Einige Dialogstrukturen in Karl Kraus' Drama „Die letzten Tage der Menschheit"
427
Claudia Pilling Linguistische Poetik und literaturwissenschaftliche Linguistik? Anmerkungen zu Schillers „Kabale und Liebe"
439
Ludwig Völker Dialog als lyrische Zwiesprache
451
Ulrich Müller Godefroiz de Leigni - Chretien de Troyes - Lancelot, le Chevalier de la Charette: Ein Autor im Gespräch mit seinem Publikum?
461
Volker Honemann Die .Kreuztragende Minne'. Zur Dialogizität eines spätmittelhochdeutschen geistlichen Gedichtes
471
Tomas Tomasek Sentenzen im Dialog. Einige Beobachtungen zum Profil der Gawan-Figur im X. Buch des .Parzival' Wolframs von Eschenbach
481
Verzeichnis der Schriften Franz Hundsnurschers Zusammengestellt von Youngsook Yang
489
Von Franz Hundsnurscher betreute Dissertationen
505
Vorwort
Am 22. September 2000 feiert Franz Hundsnurscher seinen 65. Geburtstag. Mit dieser Festschrift würdigen Freunde, Kollegen und Schüler Franz Hundsnurscher als Forscher und akademischen Lehrer, der wie nur wenige die germanistische Sprachwissenschaft in ihrer gesamten Breite repräsentiert. Angesichts der Vielseitigkeit Franz Hundsnurschers stellt die Konzentration auf zwei thematische Schwerpunkte eine arge Beschränkung dar. Von seinen mediävistischen Anfängen als Assistent bei Wolfgang Mohr ausgehend, erschloss Franz Hundsnurscher sich und anderen die zentralen Felder der modernen Linguistik. In seinem umfassenden Werk führte er Sprachhistorie und Synchron ie in ihren verschiedenen paradigmatischen Verzweigungen zusammen; linguistische Untersuchungen zur Syntax, Semantik und Pragmatik stehen neben mediävistischen und sprachgeschichtlichen Arbeiten, Aufsätze zur Sprache des Alltags neben Beiträgen zur poetischen Sprache. Mit den Themenfeldern dieses Bandes, der Semantik und der Dialoganalyse, sind zwei Kristallisationspunkte im Schaffen Franz Hundsnurschers benannt. Im Bereich der Pragmatik ist es ihm ein Anliegen, die ursprünglich philosophisch orientierte Sprechakttheorie für die linguistische Sprachtheorie fruchtbar zu machen und zu einer eigenständigen Dialogtheorie auszubauen, die er - unter Bezug auf die methodologischen Prinzipien Noam Chomskys - „Dialoggrammatik" genannt hat. Wie inspirierend und ertragreich Franz Hundsnurschers Wirken in diesem Bereich war und ist, zeigen im näheren Umfeld eine Reihe von Dissertationen zur Subklassifizierung und Sequenzierung von Sprechakten, im internationalen Rahmen u. a. die Mitbegründung der „Dialoganalytischen Gesellschaft", die Mitherausgabe der Reihe „Beiträge zur Dialogforschung" sowie des einschlägigen „Handbuchs der Dialoganalyse". In der Semantik war es Ludwig Wittgenstein, der ihn durch seine gebrauchstheoretischen Ausführungen anregte, ein semantisches Projekt von immensem Ausmaß ins Leben zu rufen, in dem der gesamte Adjektivwortschatz des Deutschen untersucht wird. Dahinter steckt die mutige Überlegung, dass eine semantische Theorie ihre Gültigkeit nur beweisen kann, wenn sie sich nicht scheut, zumindest einen Teilwortschatz in seiner Gesamtheit zu bearbeiten. Die Bedeutung der gerne von ihm gebrauchten Wendung die Nase an den Schleifstein halten wurde hier für alle Beteiligten konkret spürbar. Das Arbeitsheft „Neuere Methoden der Semantik" aus dem Jahr 1970, das schon ein Jahr später in zweiter Auflage erschien, bezeugt, wie stark Franz Hundsnurscher bereits damals die aktuelle Forschungsdiskussion beeinflusste und wie unmittelbar die Ergebnisse dieser Diskussion in seine Lehre Eingang fanden. Die Mitherausgabe des HSK-Bandes zur Lexikologie dokumentiert die internationale Anerkennung, die er auch im Bereich der Semantik genießt.
Natürlich sind damit nur einige Schlaglichter auf das Wirken Franz Hundsnurschers geworfen. Seine innovative Untersuchung zu den Partikelverben des Deutschen, seine umfangreichen Bemühungen auf dem Gebiet der Wortfamilienforschung, seine Arbeiten im Bereich der Transformationsgrammatik und der historischen Syntax sowie seine Anstöße auf dem Gebiet der Lexikologie runden das Bild eines überaus vielseitigen Philologen ab. Trotz seiner ausfüllenden Tätigkeiten als Universitätsprofessor, als Betreuer von Dissertationen, als Reihenherausgeber, als Organisator wissenschaftlicher Kongresse und Kolloquien und seines Wirkens als Prorektor der Universität, als Dekan der Philosophischen Fakultät und als Institutsdirektor nahm sich Franz Hundsnurscher immer auch Zeit für Gespräche jenseits des Tagesgeschäfts. Jeder, der an einem solchen ,Teegespräch' teilgenommen hat, kennt den inspirierenden Witz, mit dem Franz Hundsnurscher seine Dialogpartner für sich einzunehmen weiß. Die Anzahl und Herkunft der Autoren dieses Bandes mag einen Eindruck davon vermitteln, in welcher Offenheit und Kontaktfreudigkeit er den wissenschaftlichen und persönlichen Austausch pflegt. Nicht zuletzt dafür sagen wir Franz Hundsnurscher von Herzen Dank. Allen, die uns bei der Fertigstellung der Festschrift unterstützt haben, möchten wir an dieser Stelle danken, vor allem den Autorinnen und Autoren der Beiträge, Youngsook Yang für die gewissenhafte Zusammenstellung des Schriftenverzeichnisses, Wilhelm Franke und Götz Hindelang für manchen guten Rat, Mechtild Schieß und den studentischen Hilfskräften des Lehrstuhls für ihre Mitarbeit, dem Verlag Max Niemeyer für die Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm und Birgitta Zeller-Ebert sowie Bettina Gade für die umsichtige Betreuung der Drucklegung. Münster, im März 2000
Susanne Beckmann Peter-Paul König Georg Wolf
Semantik
Hans Jürgen Heringer
Semantik in der akademischen Lehre
Le dictionnaire [...] est fatalement quelque chose de mort. (Lucien Tesniere) l. Semantik ist ein Unternehmen, in dem Leute, die die Bedeutung zu kennen glauben, sie für Leute darstellen, die die Bedeutung zu kennen glauben. In diesem Unternehmen wird es nicht als Problem gesehen, wie man die Bedeutung eines Wortes herausbekommt. Und ebenso wenig, in welcher Form man sie darstellt. Und noch viel weniger ist man auf die Frage gekommen, wie interessante und wirksame Darstellungen aussehen könnten. Die Form der semantischen Darstellung wurde als direkt verknüpft gesehen mit der Theorie, sozusagen als Beiprodukt oder Ausfluss der Theorie. Indem ich Ihnen die Lage so darstelle, bemerken Sie, dass ich derartigen Annahmen skeptisch gegenüberstehe. Zuerst zur Idee, dass Semantiker die Bedeutung kennen. Dies basiert auf der naiven Annahme, nach der wir alle die Bedeutung kennen. Wie könnten wir sonst kommunizieren? Nur ist unsere Kommunikation eben nicht vollkommen. Wir verstehen uns immer mehr oder weniger gut, mehr oder weniger tief. Und das rührt zum Teil daher, dass wir eben nicht die gleichen Bedeutungen mit den Wörtern verbinden. Um diese Argumentation zu vermeiden, muss man den Begriff der Bedeutung verkürzen auf etwas, das eben so eng ist, dass es tatsächlich alle Sprecher kennen. Aber gibt es das? Hat es je jemand nachgewiesen? Oder ist es nur ein Postulat? Eben jenes naive Postulat, das wir brauchen, um darauf zu vertrauen, dass wir uns verstehen. Ohne dieses Postulat und ohne diesen Glauben müssten wir unsere Kommunikation wohl einstellen. 2. In der Gebrauchstheorie der Bedeutung heißt es: Die Bedeutung ist der Gebrauch. Darin schillert das Wort „Gebrauch" elegant zwischen: die Menge der faktischen Verwendungen und die etablierte Verwendungsweise. In jedem Fall muss, wer die Verwendungsweise eruieren und darstellen will, mit den Verwendungen anfangen, wenigstens mit einer anständigen Menge von Verwendungen. Über den Weg von den Verwendungen zur Verwendungsweise findet man in der semantischen Methodologie wenig - nicht verwunderlich, wenn man von der genannten Grundannahme ausgeht. Natürlich hat ein Sprecher, der die Bedeutung eines Wortes lernen soll, das gleiche Problem wie der Semantiker. Nicht dass er es nicht könnte, es scheint ein wesentlicher Zug der Sprachlernfähigkeit zu sein, dass wir schon aus ganz wenigen Verwendungen die Verwendungsweise gewinnen können. Die Verwendungsweise? Wie sollte das logisch möglich sein?
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Hans Jürgen Heringer
Ein bisschen Überlegung zeigt uns Folgendes: Nehmen wir ein mittelfrequentes Wort des Deutschen. Wie oft dürfte es in den letzten fünfzig Jahren verwendet worden sein? Das wissen wir nicht. Aber wenn es in einem Textkorpus von 50 Mio. Textwörtern schon zweitausendmal vorkommt, dann genügt uns das für unsere Überlegung. Denn wie viele Verwendungen dieses Wortes lernt ein normaler Sprecher kennen? Auf jeden Fall so wenig, dass er aus weniger als einem Prozent der Verwendungen auf die Verwendungsweise schließen können müsste. Ein solches Schlussverfahren ist riskant, gute Treffer extrem unwahrscheinlich. Es funktioniert eben nur um den Preis der Nichtbewertung des Ergebnisses. Das Ergebnis bleibt eben so etwas wie Wittgensteins Käfer in der Schachtel. So funktioniert Kommunikation - oder eben nicht.
3. Wer viele Belege für ein zu untersuchendes Wort zur Kenntnis genommen hat und nicht dem Glauben an die kleine Bedeutung anhängt, wird immer wieder erlebt haben, wie viele Aspekte der Bedeutung ihm oder ihr entgangen sind. Sei es, dass er sie gar nicht kannte oder dass sie ihr nicht eingefallen sind. Darum ist es durchaus eine Aufgabe der Semantik, die Bedeutung zu eruieren.
4. Nur, was man dann noch braucht, ist ein Verfahren der Kondensierung. Denn die Belege sprechen zwar, aber sie sind zu viele. Ein mögliches Verfahren liefert uns die distributive Semantik, etwa in Form eines implementierten Computerprogramms.1 Hier mögen zwei Beispiele in einer rudimentären, aber anregenden und aussagekräftigen Darstellungsform genügen. Beim zweiten sind als hommage an den Jubilar die Adjektive herausgefiltert. Die Sterne sind das Ergebnis einer distributiven Analyse. Je näher ein Satellit bei der untersuchten Wurzel steht, umso signifikanter ist er für ihre Bedeutung. Die Position im Stern ist irrelevant. Und wenn man die Bedeutung dann hat, hat man natürlich auch schon eine Darstellung der Bedeutung; anders kann man Bedeutung nicht haben. Nur, diese Darstellung ist bloß so etwas wie direkter Ausfluss des Mechanismus, der Theorie. Ob die Adressaten sie deuten und verstehen können, ist eine ganz andere Frage. Das war nur so lange kein Problem, wie Produzenten und Rezipienten die gleichen waren, nämlich die Semantiker. Sobald die Semantik eine Anwendung bekommt, bekommt sie auch ein Adressaten- und Verständlichkeitsproblem. Und nun geht es rund. Das semantische Karussell kommt ins Laufen. Die Ermittlung und die Vermittlung interagieren. Nicht mehr nur die Theorie muss jetzt interessant sein - nein, auch ihre Ergebnisse.
Die Arbeitsweise dieses semantischen Inspektors ist dargestellt in www.phil.uni-augsburg.de/ phil^faecher/germanis/daCTehrstuhiyheringer/publika/leseprobe/gefuhl/inspektor/index.html. Ergebnisse und Interpretationsmethoden wie einige Darstellungsformate finden Sie in: Heringer, Hans Jürgen: Das höchste der Gefühle. Empirische Studien zur distributiven Semantik. Tübingen 1999.
Semantik in der akademischen Lehre
wachsend A
abgrundtief_A ander_A Angst_S begegn_V
vertrau V
betracht_V deutsch A Mensch_S
eigen_A
konstruktiv A
gegenseitig_A gewiß_A
Herz S
groß_A he
S-V
Grund_S
Abb. l: Misstrauen, r = 8, n = 1100
traurig_A
bürgerlich_A
europäisch_A tragisch_A \
freundschaftlich_A
sexuell A
geistig_A glückiich_A
schmerzlich A romantisch-—— A
kö erlich_A menschlich A religiös_A politisch_. persönlich_A
moralisch A mütterlich A
Patriotisch_A
nostalgisch_A
Abb. 2:Gefühl,r = 8 , n = 7700
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Hans Jürgen Heringer
5. Die Darstellungsformate werden sich natürlich hauptsächlich nach den Interessen der Adressaten richten. Beispielsweise wird es für einen Lerner nicht so gUnstig sein, die Bedeutung expliziert zu bekommen. Dazu mlisste das erst einmal in lemfreundlicher Weise möglich sein und er müsste die entsprechende Beschreibungssprache beherrschen - das Grundproblem dieser Lehrmethode. FUr Lerner ist es deshalb günstiger am Beispiel zu lernen. Die didaktische Zubereitung des Beispiels ist dabei durchaus ein Thema. So wird es sich einerseits natürlich nicht um ein einziges Satzbeispiel handeln können. Die Idee ist eher eine Satzbatterie, also eine strukturierte Menge von Sätzen zu erstellen, die dem Lerner die unterschiedlichen Aspekte zeigt - ohne Metasprache sozusagen.
6. Allgemeine Prinzipien für die einzelnen Beispiele wie für die Struktur der Batterie wären zu erarbeiten. Ich will hier nur etwas zum ersten Aspekt nennen. Grundfrage - das ist bekannt - ist natürlich, ob die Beispiele authentische Belege oder produzierte, zubereitete Beispiele sein sollen. Dieses Problem ist so prinzipiell nicht. Denn wenn man didaktische Prinzipien für die Zubereitung hat, dann würden sie auch für die Selektion authentischer Beispiele gelten. Prinzipien einer Beispiellehre könnten etwa sein: 1) Transparenz 2) Prototypizität 3) Natürlichkeit Transparenz meint hier, dass ein Beispiel die auszustellende Eigenschaft eindeutig zeigt. Hierzu könnten gehören: Valenz, Kasus, Genus, Selektion usw. Eine Form wie sie oder Hans zeigt nicht deutlich Kasus, eine Form wie ihr zeigt nicht deutlich Wortart, ein Pronomen wie ich zeigt nicht Sexusmarkiertheit usw. Prototypizität meint, dass Beispiele möglichst prototypische Eigenschaften haben sollten. Dies kann auch die Frequenz betreffen. Was prototypische Lerneigenschaften sind, wissen wir allerdings nicht. Natürlichkeit meint, dass die Beispiele möglichst in natürlicher Umgebung bleiben sollten. Kollokationen etwa, Stillage und Varietät sollten erkennbar sein.
7. Im Sommersemester 1998 habe ich ein Seminar zum Gefühlswortschatz gehalten, in dem es gerade darum ging, dass die Teilnehmer Methoden kennen lernten, die Bedeutung mit dem semantischen Inspektor zu eruieren und die Erkenntnisse anschließend in einem bestimmten Format darzustellen und dabei natürlich in einem ersten Versuch solche Formate zu entwickeln. Es standen hierbei neben dem Stern das jeweilige Belegkorpus zur Verfügung. Der Stern sollte den Weg zu relevanten Aspekten der Bedeutung weisen, eben ins Belegkorpus, die sprachliche Realität sozusagen.
Semantik in der akademischen Lehre
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Dabei sollte es weniger um Introspektion gehen, wie sie viele Semantiker betreiben. Grundlage sollten also nicht sein „one's own deep intuitions".2 Vielmehr sollten die Studenten sich zu Herzen nehmen: „We have learned what happens when we sit down and intuit how words are used - we are likely to get it wrong".3
8. Die Aufgabe war für die Teilnehmer ein Training in methodischer Hygiene. Die distributive Analyse war formal absolut transparent; ihre empirische Bedeutung offen. Der Weg vom Analyseergebnis zur Darstellung war begleitet von ständiger methodischer Reflexion. Jeder Schritt war zu reflektieren, die Alternativen in den Blick zu nehmen und jede Entscheidung mehr oder weniger begründet zu treffen, zumindest Begründungen vorzubringen. Das ist die Stärke der Korpuslinguistik, dass sie sozusagen neu anfangen darf, alles in Frage stellen.
9. Das ist durchaus vielen Korpuslinguisten nicht so bewusst. Ein Beispiel liefert mir Fraas,4 deren Untersuchungsobjekte mir interessant und beispielgebend erscheinen. Sie ist im übrigen Parteigängerin korpusbasierten Vorgehens in der Semantik. Aber sie expliziert zum Beispiel nicht, wie sie vom Beleg zur Bedeutung kommen will. Sie stellt zwar - in ihren Worten - global die richtige Frage, hat aber nur eine etwas resignative Antwort parat, die ich so zusammenfassen würde: „Bis auf weiteres geht nicht viel." Auffällig an ihrem Vorgehen scheint mir zweierlei: Es wird zu viel vorausgesetzt, zu viel traditionelles linguistisches Wissen wird verwendet, dessen Fragwürdigkeit sich erweisen würde. Wieso sollen „Begriffe" wie „Glück" universell sein? Was sollen Begriffe überhaupt? Kommen sie in Korpora vor? Wie existiert ein „Konstrukt, das Nation genannt" wird, wenn nicht textuell? Wie gelangt man vom individuellen Wissen, das es aus den Texten zu eruieren gälte, zum kollektiven Wissen, das Ziel der Untersuchung sein soll? Wie kommt man dazu, als Korpuslinguist den Diskurs, den man ja in Korpusform haben könnte, weniger interessant zu finden als die Vorstellungen der Sprecher, die man doch nur aus dem Korpus bekommt? Übrigens erkennt man nicht durchgehend den korpusbasierten Ansatz: Woher kommen die Aussagen über historische Zustände? Zweitens scheint mir die frühe Schematisierung der Ergebnisse in der sogenannten Skriptform nicht angebracht. Sie mag für die Zielsetzung der Autorin angebracht sein, aber der semantische Reichtum wird verschenkt. Und wenn Wierzbicka, Anna: Lexicography and Conceptual Analysis. Ann Arbor 1985, S. 43. Für diese Art des Vorgehens würde man sich wenigstens ein ausgewiesenes Training wünschen. Hanks, Patrick: Definition and Explanation, in: Sinclair, John M. (ed.): Looking Up. London; Glasgow 1987, S. 128. Fraas, Claudia: Interpretations- und Gebrauchsmuster abstrakter Nomina. Ein korpusbasierter Beschreibungsansatz, in: Deutsche Sprache 26 (1998), S. 256-272.
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Hans Jürgen Heringer
man schon eine Formularisierung möchte, so denke ich, müsste man auf jeden Fall für bestimmte semantische Typen eigene Formulare entwickeln. Und vor allem müsste dieses Format evaluiert werden.
10. Für die Studenten und Studentinnen des Semantik-Seminars galt ein minimalistisches Vorgehen, methodischer Purismus zu Übungszwecken. Drei EndErgebnisse studentischer Mühen sind im Anhang auszugsweise dokumentiert. Sie zeigen, dass auch in der universitären Lehre mit der traditionellen Auffassung der Semantik zu brechen ist und damit vielleicht ein tieferes Verständnis der Bedeutung und des Charakters der Sprache erreicht werden kann. Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, dass wir die Zusammenhänge sehen.
Anhang I. Semantischer Essay: Trauer Trauer ist ein Gefühl. Trauer hat man nicht, man empfindet sie - tief in sich. Trauer können alle Menschen empfinden — Kinder, Frauen, Männer, in jedem Alter. Oft ist Trauer die gefühlsmäßige Reaktion auf den Tod eines geliebten Menschen. Eine Situation, ein Unglück kann einen einzelnen Menschen, eine Gruppe oder Familie oder auch ein ganzes Volk in Trauer stürzen. Unter Umständen trauert ein ganzes Volk, es feiert einen Volkstrauertag. Trauer richtet sich immer auf Vergangenes, bereits Geschehenes, sie wirkt in der Gegenwart und gleichzeitig erschwert sie die Zukunft und macht sie weniger lebenswert. Je inniger und intensiver eine Gefühlsbindung zwischen Menschen ist, desto tiefer und intensiver ist die Trauer über den Verlust des geliebten Menschen durch Trennung - sei es Tod oder andere Formen des Verlusts. In unserem Kulturkreis zeigen Menschen ihre Trauer offen: In Trauerkleidung - sie tragen Trauer - nehmen sie im Trauergollesdienst und in einer Trauerfeier Abschied vom Verstorbenen. Wer intensiv trauert hält ein Trauerjahr ein. Seine Trauer über den Tod eines Menschen macht man öffentlich durch Todesanzeigen in der Presse. Trauer kann man über etwas, wegen etwas empfinden, auf einen Schicksalsschlag kann man mit Trauer reagieren, man kann traurig sein oder etwas betrauern. Trauer kann einen Menschen quälen, niederschlagen, erdrücken. Trauer macht einem das Herz schwer, wer trauert, empfindet inneren Schmerz. Trauernden Menschen steht ihre Trauer ins Gesicht geschrieben. Trauer verzerrt einem das Gesicht - man macht oder bekommt eine Trauermine. Trauer kann durch starke Gefühlsausbrüche gekennzeichnet sein, sie kann aber auch ganz
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still sein, sinnlich, tief. Die wirkliche Tiefe der Trauer lässt sich nicht von außen ablesen. Ob und wie jemand seine Trauer zeigt, ist individuell. Oft ist jedoch gerade die verzweifeltste Trauer die, die nicht nach außen gekehrt und so sichtbar gemacht wird. Ein plötzliches, momentanes Ereignis löst Trauer aus, das Gefühl selbst hält jedoch lange an und bestimmt den Alltag eines Menschen massiv mit. In der Regel wird Trauer im Laufe der Zeit weniger stark. Hilfreich bei der Bewältigung von Trauer kann vor allem sein, dass andere Menschen anteilnehmen, sich dem oder der Trauernden zuwenden. Wenn man über sie spricht, wird Trauer leichter. Man kann einem anderen Menschen sein Herz ausschütten. Indem man seine Trauer einem anderen mitteilt und dieser sie mit dem Trauernden teilt, wirkt man der Trauer entgegen. Vor allem auch durch andere positive Gefühle wie Liebe und Zuneigung kann Trauer gelindert werden. Wird ein Mensch in seiner Trauer ganz allein gelassen, kann Trauer zu psychischen Störungen wie Depression, Lethargie oder auch Aggression führen. Wer Trauer empfindet, muss versuchen, sie zu überwinden - oder aber lernen, mit ihr zu leben. Trauer muss nicht immer echt und tief sein. Trauer kann auch gespielt oder vorgespiegelt werden. Abwertend bewerten wir Situationen oder Szenen mit dem Ausdruck „das ist ein echtes Trauerspier. Als eine Form von Theater macht das Trauerspiel die Trauer zum Medium von Fiktion. Wenn sie gut dargestellt und vermittelt wird, überträgt sich die gespielte Trauer auf den Zuschauer, der dann mit den Schauspielern trauert. Gespielt wird Trauer auch ab und an von Menschen, von denen die Gesellschaft Trauer erwartet. Während einer angemessenen Zeit verlangt der Anstand, seine Trauer zu zeigen und sein Verhalten danach zu richten. (Heike Hutter)
II. Semantisches Portrait: Wut Ich bin das Wort „Wut". Einfach drei Buchstaben? Ich bin natürlich wesentlich mehr und das möchte ich euch zeigen. Ich werde jetzt einiges über mich erzählen. Stellt euch einfach vor, wir malen ein Bild zusammen. Viele Einzelheiten werden dieses Bild langsam vervollständigen, so dass ihr am Ende ein genaues Portrait von mir sehen könnt. Ihr werdet dann viel mehr von mir wissen. Ich werde immer beginnen: Ich bin ... Dazu bekommt ihr Beispiele und Erklärungen. Ich bin Natur. Das ist zu viel und sehr allgemein. Ich muss etwas genauer malen. Ich bin manches Element. Ich mag es, Wasser, Feuer und Wind oder Kälte zu sein.
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Hans Jürgen Heringer
Ich bin flüssig.
Wenn ich aufgehalten werde, also gestaut werde, dann steige ich in die Höhe und ich werde mehr. (1) Wenn ich an die eigene Schulzeit denke, spüre ich wie Wut und Zorn in mir aufsteigen. (2)
Vermutlich gab ihm angestaute Wut mehr Kräfte.
Ich kann wie das Meer sein, als Welle aufsteigen und richtig groß werden. (3)
Er rief damit eine wahre Woge von Komponierwut in der Gemeinde hervor.
Ich bin elektrischer Strom. (4)
Eine lange aufgespeicherte Menge von Wut entlud sich.
(5) So wird sich viel Wut auch sicherlich auf Fraktionsmanager Peter Struck entladen.
Als die Menschen begannen, die Elektrizität zu verwenden, kam ihnen bald die Idee, sie wie Wasser zu sehen und die Wörter für „Wasser" auch für diesen Bereich zu benützen. Da gab es schöne Mischungen. (6) Wenige Stunden später entlud sich die aufgestaute Wut in einer solchen Brutalität, dass... Ich bin Feuer.
Hier gefallen mir auch die verschiedenen Möglichkeiten, die ich habe. Ich fange mal klein an, um dann auch größer zu werden. (7) (8)
Er suchte an welchem Thema er seine Wut wieder anfachen könnte. Brennende Wut und Leere. Ich stürze zum Kühlschrank und esse.
Ich bin Hitze.
Als Hitze kann ich Substanzen verändern. (9) Der kaltblütige Mord von Larnaka hat die Israelis in heiße Wut versetzt. (10) Die Prinzessin kochte innerlich vor Wut.
Feuer und Hitze zu sein ist mir nicht genug. Ich verbinde mich mit konzentrierter Energie, so dass es zu Explosionen kommt. Ich bin ein Vulkan. (l 1) Das löste bei der Vorstellung jedoch hämisches Gelächter und Wutausbrüche aus. (12) Was den Zuschauer zwischen leuchtender Vision und eruptiver Wut schwanken lässt, ist mehr als der übliche Tatort.
Und jetzt will ich noch ganz das Gegenteil sein von dem, was ich euch erzählt habe. Ich bin Kälte. (13) Als ich die in Ungarn kampierenden Landsleuten sah, packte mich die kalte Wut, sagt die Ost-Berliner Malerin Bärbel Bohley.
Ich bin ein Tier.
Am liebsten ein Tier, vor dem viele Menschen Angst haben, ein Wolf. (14) Unter dem Wutgeheul der Papsttreuen krönte sich der exkommunizierte zum König. (15) Aber eine ohnmächtige Wut packt mich, wenn ich daran denke.
Wenn ihr in Zukunft meine drei Buchstaben seht, dann werden euch wenigstens Teile meiner Idee: ,Ich bin Natur' in den Sinn kommen. Ich benütze die Energie, die ich als Naturerscheinung bekomme. Seht mal weiter, was ich mache, weil ich so viel Kraft habe. [...] (Dagmar Klein)
Semantik in der akademischen Lehre
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III. Eine Satzbatterie zu misstrau Vorsicht und Misstrauen sind gute Dinge, nur sind ihnen gegenüber Vorsicht und Misstrauen nötig. (Christian Morgenstern) Misstrauisch ist meist jemand, der wenig Vertrauen hat. Er kann sein Misstrauen überwinden oder vertiefen. Es gibt Menschen, denen das Misstrauen tief in den Knochen sitzt. Sie leiden an tiefverwurzeltem Misstrauen. Diese Menschen hegen Misstrauen gegen fast alles: z. B. gegen die Politik, die Polizei, die Nachbarn. Man wird oft misstrauisch, wenn man schlechte Erfahrungen gemacht hat. Sie können großes Misstrauen hervorrufen, so dass einen vieles misstrauisch macht. Im Zuhause eines misstrauischen Menschen herrscht eine Atmosphäre von Misstrauen und Angst, alle sind voller Misstrauen und Argwohn. Selbst wenn man ein freundliches Gesicht macht, misstraut man einem dort. Man begegnet einander voller Misstrauen. Angst und Misstrauen stehen jedem Familienmitglied in den Augen. Man wirft einander misstrauische Blicke zu. Die Freude am Zusammenleben wird einem vergällt durch das Misstrauen. Unter Partnern kommt es sogar öfter zur misstrauischen Eifersucht. Der Unmut, das Misstrauen und der Zorn nehmen stetig zu. Wo das Misstrauen groß ist, lebt auch der Hass. Der Vater beobachtet seine ganze Familie und andere Sachen ein Leben lang misstrauisch. In der Politik ist er auch äußerst misstrauisch. Misstrauisch wittert er überall Unrecht und Konspiration. Vor allem zielt sein Misstrauen auf die ehemaligen Kommunisten. Sein starres Gesicht verrät gar ängstliches Misstrauen. Seinen von Misstrauen verhängten Blick auf das Leben wird er nicht mehr los. Mit misstrauischem Blick schaut er besonders seinen Vetter an, der Polizist ist, der wiederum von Beruf wegen misstrauisch sein muss. Alle Gespräche sind von einem tiefen gegenseitigen Misstrauen bestimmt. So sehen sie oft stundenlang misstrauisch einander an. Das gibt dem Misstrauen weitere Nahrung. So bleibt man Zeit seines Lebens misstrauisch. Es gibt auch eine intellektuelle Haltung, die Misstrauen erfordert. Man prüft kritisch und betrachtet alles mit Skepsis und Misstrauen. Nicht nur gegenüber der politischen Führung besteht in diesem Fall ein tiefes Misstrauen, sondern alle Geschehnisse der Welt betrachtet man mit einem fragenden misstrauischen Blick. Jeden politischen Aufstieg beobachtet er mit Misstrauen.
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Hans Jürgen Heringer
Auch die europäische Einigung wird von ihm mit tiefem Misstrauen verfolgt. Beim Lesen begegnet man dem Geschriebenen nicht ohne Misstrauen. Gegen die Massenmedien scheint ihm ein tiefes Misstrauen ins Blut geimpft. Beim Einkaufen guckt er misstrauisch auf die Waren. Misstrauen verrät auch sein forschender Blick. Viele Menschen stehen technischen Neuerungen mit großem Misstrauen gegenüber. Das Misstrauen der Deutschen gegen die Atomenergie gewinnt zur Zeit an Aktualität, da letztens viele MUlltransporte hohe radioaktive Strahlung aufwiesen. Seit dem letzten Zugunglück misstraut man auch der Deutschen Bahn AG. Es gibt das in der Geschichte begründete Misstrauen der Völker gegenüber einem starken deutschen Staat. Die deutsche Geschichte berechtigt zu diesem Missrauen. Das tiefe Misstrauen gegen deutsche Soldaten sei hier erwähnt. Durch die Einheit Deutschlands hat man das Misstrauen unserer Nachbarn neu geweckt. Diese Vorgänge sind von den Nachbarstaaten - nicht nur jenseits des Rheins und der Oder - mit Misstrauen verfolgt worden. Viele Deutsche haben sich damals Über das Misstrauen ihrer Nachbarn beklagt. Die deutsche Einheit hat aber auch in der ehemaligen DDR Misstrauen gegenüber den westdeutschen Kollegen hervorgerufen. Es entsteht das große gegenseitige Misstrauen zwischen den Ossis und Wessis. (Withold Banas)
Peter Rolf Lutzeier
Der Stellenwert der Empirie in der Semantik
l. Hinführung zum Thema Darauf zu achten, ,wie der volksmund sagt', oder gar ,dem volk auf das maul zu schauen', empfiehlt sich nicht nur in der Politik und Werbe-/Designbranche, sondern auch in der Linguistik. Wir wollen dies mit diesem Beitrag für den Bereich der Semantik, genauer, den Bereich der Wortsemantik nachweisen. Zur Empirie in der Wortsemantik zählen wir hier alle Verfahren und Ansätze, die sich um die Erfassung gesprochen- und/oder schriftsprachlicher Daten kümmern bzw. sich an solchen Daten orientieren. Im Vergleich zu vielen anderen linguistischen Disziplinen hatten die Lexikografie und die Lexikologie, und damit auch die Wortsemantik, schon immer eine große Affinität zur Empirie. Weder eine eher lokal orientierte Beschreibung lexikalischer Elemente in der Lexikografie noch eine eher global orientierte Beschreibung lexikalischer Elemente in der Lexikologie kann ohne eine Auseinandersetzung mit den Daten erfolgen. Dies heißt hier aber nichts anderes als sich um den Gebrauch der lexikalischen Elemente zu kümmern. Es ist z. B. für die Geschichte der Lexikologie in diesem Jahrhundert nicht uninteressant, dass ein zu seiner Zeit seltener Versuch, die Empirie ernstzunehmen, ein Resultat hervorbrachte, das dann erst knapp 30 Jahre später für die Theorie herangezogen wurde. Ich meine hier den von Betz (1954) durchgeführten Wortfeldtest mit dem Ergebnis: „[...] der Sprachschatz ist nicht in erster Linie unter sich gegliedert, sondern auf das Gemeinte hin, auf den jeweiligen Sach- und Sprechzusammenhang hin."
Diese aus der Empirie abgeleitete wichtige Erkenntnis der Flexibilität des mentalen Lexikons haben wir später durch die konsequent durchgeführte Relativierung auf Aspekte in die Theorie umgesetzt.2 Möglichkeiten, der Realität auf die Spur zu kommen, ergeben sich in der ungesteuerten Erfassung von Daten der gesprochenen und/oder geschriebenen Sprache oder in der gesteuerten Erfassung von Daten der gesprochenen und/oder geschriebenen Sprache. Die ungesteuerte Erfassung besteht in der Dokumentation von Texten, die von dem jeweiligen Untersuchungsziel unabhängig proBetz, Werner. Zur Überprüfung des Feldbegriffes, in: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen 71 (1954), S. 189-198, hier S. 195. Vgl. Lutzeier, Peter Rolf: Wort und Feld. Wortsemantische Fragestellungen mit besonderer Berücksichtigung des Wortfeldbegriffes. Tübingen 1981; Lutzeier, Peter Rolf: Lexikologie. Ein Arbeitsbuch. Tübingen 1995.
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Peter Rolf Lutzeier
duziert worden sind, wohingegen die gesteuerte Erfassung in der Dokumentation des in Abhängigkeit von dem jeweiligen Untersuchungsziel elizitierten sprachlichen Materials besteht. Die ungesteuerte Erfassung sprachlicher Daten hat in den letzten Jahren durch eine neue BlUte der Korpuslinguistik einen erfreulichen Aufschwung erfahren.3 Wie in Lutzeier (1999 und 2000a)4 gezeigt, kann davon auch die Lexikologie eindeutig profitieren. Die gesteuerte Erfassung lexikologischer Daten ist dagegen leider immer noch ziemlich unterentwickelt. So gibt es für bestimmte Untersuchungsziele keine klaren Richtlinien für die Erfassung der Daten, den Umfang der Datenmengen und deren Auswertung. Um hier den Anstoß zu einer Veränderung zu geben, werden wir uns im Folgenden auf die Methode der gesteuerten Erfassung lexikologischer Daten konzentrieren. Dies wird an einem von uns selbst entwickelten und durchgeführten Projekt geschehen.
2. Die Erfassung lexikologischer Daten Vorgabe für das Projekt war, das konzeptuelle Selbstverständnis einer global operierenden Autofirma - deren Markenwerte - in etwa 4 lexikalischen Elementen des Deutschen auszudrücken.5 Dabei sollte eine positive Einschätzung sowohl nach innen, innerhalb des Unternehmens, als auch nach außen, in der Gesellschaft, gewährleistet sein. Das Projekt bestand zunächst aus einer onomasiologischen Phase, bei der eine Liste von lexikalischen Elementen als mögliche Kandidaten für das von der Firma formulierte konzeptuelle Selbstverständnis zu finden waren. Aus verständlichen Gründen kann auf diese Phase hier nicht eingegangen werden. Die Liste der aufgestellten Kandidaten war dann in einer semasiologischen Phase lexikologisch auf ihren gegenwärtigen Inhalt hin zu erfassen. Die Ergebnisse dieser Phase bildeten zum Schluss die Grundlage für die Auswahl der zur Kommunikation der Markenwerte zu verwendenden Wörter. Es waren genau jene Wörter auszuwählen, die das konzeptuelle Selbstverständnis am besten reflektierten. Idealerweise sollte hierfür ein Substantiv als Kern der Aussage mit drei begleitenden Adjektiven gefunden werden. Jeweils einzeln für sich betrachtet sollten die Elemente eine relativ einfache Form aufweisen und möglichst eingängig sein, d. h. die Vorstellung auf etwas relativ Konkretes fokussieren. Ferner sollten die Elemente möglichst nicht einzeln für sich, isoliert wahr-
Biber, Douglas; Conrad, Susan; Reppen, Randi: Corpus Linguistics. Investigating Language Structure and Use. Cambridge 1998. Lutzeier, Peter Rolf: Das „Wort"-Korpus. Fragen und Antworten zu seiner Rolle am Beispiel der Präposition um, in: Deutsche Sprache 27.2 (1999), S. 118-133; Lutzeier, Peter Rolf: Lexicology and Corpus Linguistics, in: Partridge, John (ed.): Forum of German Linguistic Studies, Canterbury 1999. Bern 2000. Dank geht an die BMW AG München, die das Projekt finanzierte. Die Analyse der Grunddaten erfolgte durch die für das Projekt angeworbene Hilfskraft Anna-Jane Cramp.
Der Stellenwert der Empirie in der Semantik
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genommen werden, sondern vielmehr einen einheitlichen Rahmen, ein Begriffsgerüst, evozieren. Wir waren hierbei auf der Suche nach maximaler Kompatibilität untereinander. Was uns hier interessiert, ist die semasiologische Phase des Projektes. Um dem Anspruch des Projektes gerecht zu werden, eine positive Einschätzung auch in der Gesellschaft zu garantieren, war es nicht genug, sich auf vorliegende Quellen wie gegenwartssprachliche Wörterbücher oder Korpora zu verlassen. Es ging vielmehr darum, ein geeignetes Design von lexikologischen Fragetypen zu entwerfen, das den Alltagsgebrauch und das Alltagsverständnis von bestimmten lexikalischen Elementen testet. Sprache im Alltag ist für uns nichts anderes als die Summe der im Alltag getätigten Äußerungen.6 Auf dieser Ebene sind alle Äußerungen .gleich'. Es ist dann Aufgabe der Sprachwissenschaft ein Raster zu entwickeln, das Ordnung in die Beliebigkeit der alltäglichen Äußerungen bringt. Dieses Raster selbst muss sich an Momentaufnahmen der Realität des Sprechens, Hörens, Schreibens und Lesens messen lassen. Unsere im Folgenden näher zu beschreibende semasiologische Phase des Projektes stellt eine solche Momentaufnahme dar.
3. Das Design der semasiologischen Phase des Projektes Die erste, onomasiologische Phase des Projektes hatte eine provisorische Liste von folgenden 20 Wörtern erbracht: Substantive (in alphabetischer Reihenfolge): dynamik, faszination, flexibilität, fortschrittlichkeil, freude, gediegenheit, Intelligenz, Seriosität, Sorgfalt, Souveränität, sportlichkeit, zukunß. Adjektive (in alphabetischer Reihenfolge): ästhetisch, exklusiv, individuell, innovativ, kreativ, verantwortungsfreudig, kultiviert, mutig.
Es war von vornherein klar, dass bei der Befragungsphase Wortartenwechsel zwischen Substantiv und Adjektiv erlaubt sind, um auch hier eine gewisse Flexibilität zu garantieren. Es waren nun zuerst die jeweils einzelnen Begriffsnetze der vorgegebenen lexikalischen Elemente zu ermitteln. D. h. es war zu ermitteln, in welchen Verwendungsbereichen das Wort überhaupt/vorherrschend auftaucht und mit welchen anderen Wörtern das zu untersuchende Wort innerhalb eines bestimmten Verwendungsbereiches verbunden wird. Diese „Verbindung" auf der sprachlichen Ebene ist dabei zu verstehen im Sinne der Ermittlung der jeweiligen Gegenwörter [z. B. im Temperaturbereich: kalt - warm], der übergeordneten, allgemeineren Wörter [z. B. im Tierbereich: panther - raubtier], der untergeordneten, spezifischeren Wörter [z. B. im Objektbereich: farbig - grün] (die In ähnlicher Weise hat unser Jubilar im Hinblick auf den Bedeutungsbegriff schon seit langem argumentiert; vgl. z. B. Hundsnurscher, Franz: Die „Lesart" als Element der semantischen Beschreibung, in: Peter Rolf Lutzeier (ed.): Studies in Lexical Field Theory. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 239-250.
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Peter Rolf Lutzeier
sog. paradigmatische Dimension) und das gemeinsame Auftreten mit Elementen anderer Wortarten [z. B. gackernde Hühner; eingefleischter Motorradfahrer; laut singen] (die sog. syntagmatische Dimension) und auf der mentalen Ebene im Sinne der Ermittlung der Assoziationen [z. B. lehrer -ferien; golf- reich, elitär} (die sog. assoziative Dimension). Um dem sprachlichen Alltag dieser drei zentralen lexikologischen Dimensionen nahezukommen, mussten diese Dimensionen in geeignete Fragetypen umgesetzt werden. Direkte Fragen nach dem Inhalt vorgegebener einzelner lexikalischer Elemente würden dieser Aufgabe nicht gerecht. Sprecherinnen sind weder wandelnde Wörterbücher, noch besteht der Alltag des Sprechens/Hörens/Schreibens/Lesens im Umgehen mit einzelnen lexikalischen Elementen. Wir schlugen zur Erfassung der paradigmatischen, syntagmatischen und assoziativen Dimension folgende Fragentypen vor: Typ l. Nennen Sie bis zu 10 Wörter, die Ihnen im Zusammenhang mit dem Wort X spontan einfallen. Dieser Fragetyp diente zur Ermittlung der assoziativen Dimension. Es handelt sich hier um die Ermittlung der sog. .freien' Assoziationen, ein in der Psychologie bewährtes Mittel. Betz (1954)7 hatte in seinem Seminarversuch zum Intellektualwortschatz diesen Fragetyp zur Erforschung der Realität des Wortfeldgedankens benützt. Probanden/-innen bleiben in diesem Fall sich selbst überlassen. Entweder werden 10 Wörter in relativ kurzer Zeit produziert oder die ProbandenAinnen zeigen normalerweise vor Erreichen von 10 Wörtern in expliziter Weise an, dass sie ,am Ende sind'. Es ist wichtig, dass kein Druck auf die ProbandenAinnen ausgeübt wird. Lücken können hier aussagekräftiger als erzwungene Antworten sein.8 Typ 2a. Beschreiben Sie bis zu drei typische Situationen/Szenen SZ1, SZ2, SZ3, in denen Sie das Wort X verwenden würden. Wählen Sie eine möglichst knappe, prägnante, eventuell stichwortartige Beschreibung von nicht mehr als 100 Worten. [Um ein Beispiel zu geben: Für das Wort kalt kann man z. B. eine Szene am Strand beschreiben, in der es um das Baden im kalten Meerwasser geht. Gebrauch des Wortes in dieser Szene: Verdammt, das Wasser ist mir viel zu kalt.] Dieser Fragetyp zielt auf das durch das Wort evozierte holistische Bild ab, wobei gleichzeitig die paradigmatische und syntagmatische Dimension erforscht wird. Dieser Fragetyp ,spielt' mit der gestaltpsychologischen ,Figur-Hintergrund'-Vorstellung bzw. der lexikologischen ,Wort bezüglich eines Aspektes'Vorstellung und macht sich gleichzeitig die in der Semantik noch immer weitgehend unterschätzte Alltagstendenz zunutze, Geschichten erzählen zu wollen. Die ethnographische Feldforschung basiert größtenteils auf dieser Tendenz, aber meines Wissens ist dieser Fragetyp für lexikologische Zwecke bisher noch nicht systematisch verwendet worden. Selbstverständlich sollte auch hier kein Druck auf Vollständigkeit im Sinne von 3 Szenen ausgeübt werden. Auch hier können wiederum Lücken aussagekräftiger als erzwungene Antworten sein. Siehe unter Fußnote 1. Vgl. in Anhang l die ermittelten Assoziationen für das Adjektiv dynamisch.
Der Stellenwert der Empirie in der Semantik
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Typ 2b. Was wäre in den von Ihnen unter 2a) beschriebenen Situationen/Szenen SZ1, SZ2, SZ3 das Gegenwort von X, d. h. das Wort, das das Gegenteil von X ausdrückt? [Um ein Beispiel zu geben: Das Wort, das das Gegenteil von kalt in einer Badeszene im Meer ausdrückt, ist warm: Das Wasser ist angenehm vorm.] Dieser Fragetyp erforscht die paradigmatische Dimension. Dabei ist es aus früheren sporadischen Tests mit Studenten/-innen wohlbekannt, dass ProbandenAinnen normalerweise keine Schwierigkeiten haben, Gegenwörter zu produzieren. Auch hier machen wir von der ,Wort bezüglich eines Aspektes'Vorstellung Gebrauch9 Typ 3. Bewerten Sie in der angegebenen Tabelle spontan die Güte des Zusammenhangs zwischen den in der vertikalen Liste angegebenen Wörtern und den in der horizontalen Liste angegebenen Bereichen' Benutzen Sie hierfür eine Skala von 4 numerischen Werten: 3 .... passt ausgezeichnet, 2 .... passt, l .... passt zur Not, 0 .... passt überhaupt nicht. Es ist erlaubt, für das jeweilige Wort den gleichen Wert mehrmals zu verwenden.
GESELL-
UM-
SCHAFT
WELT
POLITIK
WIRT-
VERKEHR
SCHAFT
ästhetisch Innovation dynamisch Sportlichkeit Faszination exklusiv Flexibilität Zukunft Freude
Dieser Fragetyp zielt auf die präferierten Domänen, d. h. die bevorzugten Verwendungsbereiche der einzelnen Wörter ab. Lexikologisch gesprochen, wird hier die Polysemie der Wörter getestet. Auch dieser Fragetyp ist meines Wissens bisher noch nie systematisch fur lexikologische Fragestellungen angewendet worden. Dieser Fragetyp bereitete teilweise Schwierigkeiten für die ProbandenAinnen und war auf jeden Fall im Rahmen des Gesamtinterviews der zeitaufwendigste Teil." Unter Berücksichtigung des gesteigerten Interesses an der Korpuslinguistik ist es angebracht, den Erkenntnisgewinn anhand dieser Fragetypen mit dem Erkenntnisgewinn durch die Auswertung von Korpora zu vergleichen. Für Fragetyp l gibt es keinen Ersatz auf der Basis von Korpora. Der unmittelbare und der gesamte Kontext einzelner lexikalischer Elemente in Korpora kann dagegen selbstverständlich auch zur Ermittlung der paradigmatischen und syntagmati-
10 Vgl. in Anhang 2 die ermittelten Szenen für das Adjektiv kultiviert. Sowohl die Wörter als auch die Bereiche sind an dieser Stelle als Beispiele zu verstehen. Vgl. in Anhang 3 die ermittelten Werte Kit dynamik und Intelligenz.
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Peter Rolf Lutzeier
sehen Dimension und zur Polysemiefrage herangezogen werden. Allerdings sind Korpora meist Sammlungen mündlicher und/oder schriftlicher Texte über längere zeitliche Perioden hinweg, somit für aktuelle Momentaufnahmen weniger geeignet. Nichtsdestotrotz hatten wir über die Dauer des Projektes im Hinblick auf den Fragetyp 2 zu Vergleichszwecken eine begleitende Korpusstudie des Magazins ,Der Spiegel' durchgeführt. In Zusammenarbeit mit einem professionellen Befragungsinstitut, das die konkreten Interviews durchführen sollte, wählten wir eine Stichprobe von N = 60.l2 Um die Belastung in Grenzen zu halten, sollten für die Fragetypen l und 2 einzelne Probanden/-innen nicht mit mehr als zwei Gruppen von jeweils 3 verschiedenen Wörtern konfrontiert werden. Nur für Fragetyp 3, der Bewertungstabelle, wurden jeweils alle Wörter getestet. Schließlich wurde die Reihenfolge der Fragetypen und in der Bewertungstabelle die Reihenfolge der Wörter von Fragebogen zu Fragebogen verändert. Probanden/-innen haben das Recht, informiert zu werden. Diese Information kann zusätzlich zu einem finanziellen Anreiz günstigenfalls auch motivationssteigernd wirken. Das Recht auf Information steht allerdings gleichzeitig in Konflikt mit dem Versuch, die Antworten auf möglichst unbeeinflusste Weise zu erhalten. Schließlich muss den ProbandenAinnen auch eine Versicherung über die Anonymität der Daten und die verantwortungsbewusste Verwendung der Daten gegeben werden. Zu Beginn des Interviews wurden die ProbandenAinnen hierzu gebeten, sich den folgenden, durch die Einrahmung hervorgehobenen Absatz auf der ersten Seite des Fragebogens in Ruhe durchzulesen: Dieser Fragebogen dient zur Ermittlung der Stellung einiger Wörter im deutschen Wortschatz. Indem Sie bereit sind, sich die Zeit für diesen Fragebogen zu nehmen, helfen Sie uns, mehr über das Verständnis von Wörtern bei Sprechern/Sprecherinnen des Deutschen zu erfahren. Bitte nehmen Sie folgendes zur Kenntnis: Die auswertenden Personen sind auf die Verschwiegenheit der Daten individueller Fragebögen verpflichtet. Ihre Antworten werden linguistisch und statistisch ausgewertet, wobei die Anonymität Ihrer individuellen Antworten im Gesamtresultat absolut garantiert ist.
In welcher Weise sollte das jeweilige Interview durchgeführt werden? Folgende Möglichkeiten standen zur Debatte: (a) rein schriftliches Ausfüllen des Fragebogens ohne mögliche Kontaktperson, (b) rein schriftliches Ausfüllen des Fragebogens mit Kontaktperson, (c) rein mündliches Interview mit gleichzeitiger Aufnahme des Interviews, (d) Kombination des schriftlichen und mündlichen Interviews mit gleichzeitiger Aufnahme des mündlichen Teils. Obwohl sicherlich mit die zeitaufwendigste Möglichkeit, haben wir uns für die Möglichkeit (d) entschieden.13 Für die Bewertungstabelle in Fragetyp 3 12
13
Die Stichprobe setzte sich wie folgt zusammen: Geschlecht mann l. 85%, weibl. 15%; Alter: < 30 10%, 30-50 50% > 50 40%; Bildung: Volks-THauptschule 25%, Realschule 33%, mind. Abitur 42%. Diese Zusammensetzung wurde weitgehend von dem Projektauftraggeber vorgegeben. Möglichkeit (a) erlaubt, alle ProbandenAinnen in einer Sitzung zu erfassen, und ist - vom Zeitaufwand her gesehen - die effizienteste Möglichkeit.
Der Stellenwert der Empirie in der Semantik
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wurde der Proband/die Probandin sich selbst überlassen. Gleichzeitig ist es für die Probanden/-innen beruhigend zu wissen, dass jemand zur Hand ist, wenn Bedarf hierfür ist. Fragetypen l und 2 wurden mündlich durchgeführt. Die spontanen Reaktionen bei den Assoziationen sollten nicht durch das Schreiben unterbrochen werden, und die Tendenz des Geschichten-Erzählens schien in der kommunikativen l-l-Situation zwischen Proband/-in und Interviewer am besten zum Tragen zu kommen. Andererseits muss klar gesehen werden, dass durch die Präsenz einer Interviewperson sich der Proband/die Probandin eventuell unter Druck gesetzt fühlt, eine Antwort zu geben. Dieser Druck wurde jedoch als mit der realen Kommunikationssituation durchaus vergleichbar angesehen: Es ist Teil des erwartbaren kooperativen Verhaltens, in Kommunikation zu treten. Die Interviewpersonen waren angewiesen, keine Kommentare zu den Assoziationen abzugeben. Der Vorteil der Aufnahmen war, dass diese Vorgabe überprüft werden konnte.14 Insgesamt kann gesagt werden, dass die Befragung von allen ProbandenAinnen gemeistert wurde und einigen der gesamte Test sogar Spaß zu machen schien. Damit kann das beschriebene Design generell als ein Modell für die Ermittlung von semasiologischen Daten im Alltag dienen.
4. Ergebnisse der semasiologischen Phase In Lutzeier (2000b)15 berichten wir über die Resultate zu den Substantiven freude undfaszination. Wir wollen uns hier auf die Resultate zu den Adjektiven dynamisch und kultiviert beschränken.
4.1. DYNAMISCH In den Wörterbüchern finden wir für dynamisch Angaben wie .eine Bewegung, Entwicklung aufweisend'; ,durch Schwung und Energie gekennzeichnet, Tatkraft und Unternehmensgeist besitzend'.16 Es handelt sich somit um ein prozesshaftes Adjektiv, das in einen allgemeinen Rahmen ,durch „positive" Energie bewirkte Veränderung' passt. Die jeweilige Veränderung sollte auf Erfolg bedacht sein und würde dann ein allgemeines Wohlbefinden garantieren. Hervorzuheben ist, dass sich in unserer empirischen Studie die eventuell als 14
In zwei Fallen konnten die Antworten nicht berücksichtigt werden, da die Interviewperson morphologisch verwandte Assoziationen zum Ausgangswort durch Kommentare wie „Das geht nicht" abgelehnt hatte. Lutzeier, Peter Rolf: Die Rolle lexikalischer Daten im Alltag für das Strukturgerüst im Lexikon, in: Kammerer, Matthias; Konerding, Klaus-P.; Lehr, Andrea; Storrer, Angelika;
Thimm, Caja; Wolski, Wemer (Hgg): Sprache im Alltag. Beiträge zu neuen Perspektiven in der Linguistik. Berlin/New York 2000. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Banden. Hg. von Günther Drosdowski u. a. Band 2. Mannheim 1993, S. 805.
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Peter Rolf Lutzeier
menschliche Eigenschaft in ihrer Verbindung TM jung, erfolgsorientiert, karriere· bewusst (,Ellbogenmentalität') ursprünglich befürchtete negative Besetzung für dynamisch nicht bestätigt hat. Dies ist ein klarer Fall, bei dem man sich auf die Intuition des Linguisten/der Linguistin hätte nicht verlassen können. Die insgesamt immer relevante Intuition stellte somit keinen Ersatz für die Empirie in der Semantik dar. Die falsche intuitive Einschätzung ist bereits an den Assoziationen (n>3: Substantive: verkehr, stärke, Schnelligkeit, bewegung, menschen; Adjektive: kräftig, agil, schnell, flexibel, jung, lebhaft, progressiv) zu erkennen. Wobei die höchste Anzahl für verkehr (n=l 1) im Sinne des Auftraggebers zu begrüßen ist. Schließlich lassen sich auch bei den Szenen keine negativen Einstellungen finden. Die Bereiche behandeln hier ,Auto', .Beruf, .Sport' und .Technologie', wobei als entsprechende Gegenwörter lahm, ausgebrannt, ängstlich/kraftlos, stagnierend genannt wurden. In der Bewertungstabelle wurde nur das Substantiv dynamik überprüft. Dynamik erzielt durchwegs in allen Bereichen relativ gute Akzeptanz: Wirtschaft 2.4, Autoindustrie 2.33, Fußball 2.11, Verkehr 2.09, Gesellschaft 2.04, Umwelt 1.65, Politik 1.49. Dynamikldynamisch evozieren offensichtlich gegenwärtig einen zentralen, positiv eingeschätzten Bestandteil des europäischen Kultur- und Werteverständnisses. Veränderung spielt in unserem und vielen anderen Gesellschaftssystemen eine wichtige Rolle. Insofern ist der durch das Adjektiv dynamisch angesprochene Bereich ein überzeugender Bestandteil des Begriffsgerüsts. Zumal dieser Bereich im allgemeineren Umfeld von ,beweglich' auf verschiedene Domänen anwendbar ist und eine attraktive Verbindungskette zwischen dynamisch und Erfolg und allgemeinem Wohlbefinden aufgebaut werden kann. Vgl. hierzu das Diagramm l für dynamisch: Erfolg/Wohlbefinden als Voraussetzung für / durch »positive' Energie bewirkte Veränderung
/
beweglich
/ Jugendlich
/
/
Erwartung
/
dynamisch ist / spezifischer / als /
schwungvoll
\
\.
ist spezifischer N. als
progressiv
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4.2. KULTIVIERT Die Wörterbücher liefern für das Adjektiv kultiviert folgende Angaben: ,durch Übung, Ausbildung, Behandlung o. ä. gepflegt, verfeinert/von vornehmer, gebildeter, zivilisierter Art'.17 In der ganz am Anfang zusammengestellten Bewertungstabelle fand kultiviert keinen Platz, da dieses Adjektiv erst im Verlauf des Projektes vorgeschlagen wurde. Allerdings konnte es wenigstens noch auf Assoziationen und Szenen mit Gegenwörtern getestet werden. Die Assoziationen deuten alle auf gedankliche Verbindungen hin, die mit dem feinen/vornehmen Kulturverständnis der westlichen Welt und einem gehobenen Lebensstil zu tun haben. Vgl. die häufigsten Assoziationen bei den Substantiven (n>3): kullur (22), gutes benehmen (15), essen & trinken (10), kunsl (9), menschen (6), musik (6), gespräche (4), kleidung (4), bildung (3), gesellschaft (3), pflege (3) und spräche (3). Bei den Adjektiven tritt höflich zweimal auf. Die ermittelten Szenen spiegeln diese „Welt" getreu wider. Die hier gefundenen relevanten Bereiche betreffen ,Essen', ,menschliches Benehmen', .Gespräche', .Kleidung', .Reisen', .Kultur' und ,Auto'. Die entsprechenden Gegenwörter geschmacklos!ordinär, ungehobelt!tölpelhaft, nichtssagend, schreiend!schlampig, unkultiviert (Mallorca), primitiv, hektisch!unruhig unterstreichen die insgesamt sehr positive Einschätzung des Bereiches von kultiviert. Zwar ist bei der Interpretation dieser Resultate sicherlich gewisse Vorsicht geboten, denn die gerade von der Werbung forcierte, als erstrebenswert gebotene Phantasiewelt hat nicht unbedingt immer etwas mit der Realität zu tun. Dennoch kann der Wert .kultiviert' offenbar als etwas rundum Erstrebenswertes dienen und Autos scheinen zu einem kultivierten Lebensstil beitragen zu können. Das Adjektiv kultiviert ergänzt und verstärkt die Wirkung des im Projekt ebenfalls betrachteten Adjektivs intelligent, insofern als das Ausnutzen und Genießen der Annehmlichkeiten der Kultur einen gewissen Bildungsstand voraussetzen. Im Hinblick auf das Adjektiv dynamisch kann das Adjektiv kultiviert unerwünschte Verbindungen vermeiden helfen: Wer kultiviert ist, hat das Selbstbewusstsein, die Sicherheit und die Souveränität, um ohne allzu forschen Aktivismus auskommen zu können.18 Man kann sich auf die mit .dynamisch' verbundenen positiven Seiten von Wandel, Veränderung konzentrieren. Das unter den Assoziationen notierte Adjektiv erfolgreich deutet auf eine lockere, aber interessante Verbindung hin: Die mit den Adjektiven intelligent und kultiviert angesprochenen Werte können als Voraussetzungen für Erfolg gesehen werden. Vgl. hierzu das Diagramm 2 für kultiviert:
Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden. Hg. von Günther Drosdowski u. a. Band 4. Mannheim 1994, S. 2019. Erinnert sei an die zweimalige Assoziation .höflich' bei kultiviert.
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Peter Rolf Lutzeier
Gehobener Lebensstil gewisser Bildungsstand
Portion Selbstbewusstsein und Souveränität vermittelt setzt voraus ^"""•^-^
kultiviert
als Beispiele ... gut essen/trinken
Konzerte besuchen ...
5. Schluss Die durch die Empirie ermittelten Daten haben in dem geschilderten Projekt die relevanten Entscheidungsgrundlagen geliefert. Dabei stellte sich eine solche Momentaufnahme als Ergänzung zu der Intuition und den in gegenwartssprachlichen Wörterbüchern vorhandenen Informationen als unentbehrlich dar, da die Datenanalyse eine Korrektur der Intuition liefern kann und die Wörterbücher selbst nie den letzten Sprachzustand - weder in der Gesellschaft allgemein noch im Hinblick auf bestimmte Gesellschaftsgruppen - repräsentieren können. Momentaufnahmen dieser Art können uns ferner wichtige Hinweise auf die inhärente Dynamik und Flexibilität im Strukturgerüst des Lexikons geben. Veränderungen werden sichtbar, wenn die Ergebnisse Abweichungen zu Angaben in den Wörterbüchern oder zu über längere Perioden angelegten Korpusanalysen aufweisen. Insofern kann ein solches Projekt dann auch Anlass zu Korrekturen in Wörterbüchern liefern. Deshalb ist die Empirie in der Semantik sowohl für die Lexikologie als auch für die Lexikographie von zentraler Bedeutung. Schließlich hat sich die Relevanz der Empirie auch für die Verbindung zwischen Universitäten und der Gesellschaft erwiesen. Die Ergebnisse des Projektes werden für die sprachliche Umsetzung von Markenwerten verwendet, wobei diese sehr wohl den Identifikationsgrad der Arbeitnehmer/-innen mit der Firma als auch das Verhalten von potentiellen Käufern/-innen beeinflussen können.
Der Stellenwert der Empirie in der Semantik
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Anhang l Die Assoziationen von dynamisch in alphabetischer Reihenfolge/Anzahl in Klammern: 19 Substantive: ausdauer (1), ausstrahlung (1), auto (1), bewegung (3), BMW (\), energie (Inflexibilität (2), Industrie (1), menschen (3), Schnelligkeit (4), selbstbewusstsein (1), sport (2), stärke (5), teamwork (1), technologie (1), //'ere (1), Veränderung (l), verkehr (11), w'/jii (2), Wirtschaft (l) Adjektive: og/7 (4), // (2), aufgeschlossen (1), ausdauernd ( l ) , beweglich (1), erfolgreich ( l ) , fit (Inflexibel (3), frisch (1), g/o*a/ (l),>/ig (3), Ära/% (5), lebhaft (3), leistungsfähig (1), modern (l),progressiv (3), schnell (4), schwungvoll ( l ) , spontan (1), sportlich (2), tatenvoll ( l ) , technisch (1) Verben/Syntagmen: /awg arbeiten (1), schwer arbeiten (1), zusammen arbeiten (1), g«/ bewegen (1), schnell fahren (1), immer bereit, alles zu tun (1)
Anhang 2 Kategorien der Szenen fiir kultiviert mit den jeweiligen Gegenwörtern in Klammern:20 RESTAURANT/ESSEN {ungepflegter rahmen, geschmacklos, unkultiviert, ramsch, fast-food, standardisiert, ordinär, proletenhaft, grauselig, abstoßend, disharmoniej MENSCHEN/BENEHMEN [ungehobelter mensch, unhöflich, verletzend, primitivismus, armselig, unkultiviert, unangepaßt, fehlendes benehmen, tölpelhaftigkeit, anstandslosigkeit, schlechtes benehmen, rüpelhaft, anpöpeln, ordinär, proletenhaft, primitiv, grob, ungeduldig, unmenschlich, normal, asozial] AUTO [hektisch, unruhig] KLEIDUNG [auffallen, schlampig] REISE [unkultiviert] GESPRÄCH [langweilig, nichtssagend, unkultiviert, banause, unsachlich, schlecht, unangenehm] KULTUR [primitiv, nicht zeitgemäß]
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Es wurden 58 Fragebögen hierfür ausgewertet. 60 Fragebögen wurden ausgewertet.
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Peter Rolf Lutzeier
AnhangS Bewertungstabelle21
2l
GESELLSCHAFT
UMWELT
POLITIK
WIRTSCHAFT
VERKEHR
FUSSBALL
AUTOINDUSTRIE
dynamik
2.04
1.65
1.49
2.40
2.09
2.11
2.33
Intelligenz
2.02
1.69
1.98
2.42
1.39
1.14
1.85
59 Fragebögen wurden ausgewertet.
D. Alan Cruse
Lexical 'facets': between monosemy and polysemy
1. Introduction This paper is about a lexical semantic phenomenon which falls between polysemy as it is usually understood and monosemy. Consider sentences (1) and (2): (1) John's speech was very boring. (2) John's speech was scarcely audible. Here we have two fairly distinct interpretations of the word speech: in (1), it is the content, or text of the speech which is the focus of attention, whereas in (2) it is the physical/acoustic manifestation of the speech. These readings, which here, following Cruse (1995),' will be termed facets, would not normally be considered distinct senses of the word speech; however, they display many of the properties of fully-fledged senses. At the same time they show properties which set them apart from senses. The aim of this paper, then, is to present a brief'natural history' of facets.
2. Senses The hypothesis to be defended is that the two readings of speech (and similar words) are not distinct senses, but are distinct conceptual entities within a single sense. It is therefore necessary to say what is understood by the term (lexical) sense. What will be taken to distinguish fully-fledged senses from related notions is a high degree of mutual antagonism; that is to say, they compete for the honour of being the currently relevant reading, and only one can win. Full senses are antagonistic in this sense in all qualifying contexts. In ambiguous contexts, antagonism is easily recognised by direct intuition: (3) We finally reached the bank.
Notice that in (3) it is not possible to 'mean' both readings, nor is it possible to be uncommitted: there is no superordinate reading which subsumes the two alternatives. Where readings belong in different domains, and hence ambiguous
Cruse, D. Alan: Polysemy and related phenomena from a cognitive linguistic viewpoint, in: St. Dizier, Patrick; Viegas, Evelyne (Hgg.): Computational Lexical Semantics. Cambridge: Cambridge University Press 1995, S. 33-49.
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D. Alan Cruse
sentences are few or non-existent, antagonism can only be recognised by zeugma or punning: (4) When the chair became vacant, the appointments committee sat on it for six months. Zeugma is also useful in cases where one reading is a hyponym of the other (autohyponymy), as with dog: (5) ?Dogs are old enough to have puppies at twelve months, but nonetheless mature later than bitches.
(In cases of autohyponymy, we can also appeal to the criterion of truth-conditional independence, although this is less decisive than zeugma. For instance, it is not difficult to envisage a situation in which the question Is that a dog? can be truthfully given an affirmative or a negative answer.) A further word about zeugma is necessary. Zeugma arises when two simultaneously active readings of a word resist semantic unification. There are two significant types of unification: either the two readings in question are subsumed under a superordinate reading, as in (6): (6) One of my cousins married a policeman, and the other, an actress.
or they are unified as sister components of a global reading, as in (7): (7) John's speech was interesting, but almost inaudible at times.
This type of unification will be discussed in greater detail below. There is also a type of unification which is not relevant, at least for current purposes: (8) Not all banks are money banks, you know. Notice that this type of unification is totally insensitive to the semantic content of the readings being unified, so it is arguably not a semantic phenomenon. It might be termed metalinguistic unification: what we really mean is that not all things we refer to using the word-form bank are money banks. Such cases are easy to recognise and discount. Where two readings are unifiable (in the relevant way) in some (qualifying) contexts but not in others, then we are in general dealing with distinct units of meaning which fall short of sensehood. Resistance to unification is a matter of degree: the more resistant, (a) the more contextual pressure needed to unify and (b) the fewer the contexts in which unification can occur. It is assumed here that sense-divisions point to concept-divisions, and that antagonism results from a particular type of mapping relation between wordforms and concepts.
3. Facets We may now turn to the topic of facets. Their characteristic properties will be illustrated by reference to what is probably the prototypical example, namely that of book, and its facets [TOME] ('physical object') and [TEXT] ('abstract
Lexical 'facets': between monosemy and polysemy
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content'). What is interesting about facets is that in many respects they behave like distinct concepts/senses, but in other respects they behave jointly like a single unified sense. Fully-fledged senses behave as autonomous semantic entities; let us now look at some indications of autonomy in facets.
3.1. Symptoms of autonomy in facets 3.1.1. Compositional independence Facets show full compositional independence: that is to say, each facet can combine independently with predicates that would be irrelevant or anomalous in combination with a sister facet; it is only necessary for a predicate to compatible with one facet for it to co-occur normally with book: (9) a. a red book b. an interesting book
This property is of course also shown by full senses. Another sign of compositional independence is that any predicate which can apply to both facets gives rise to ambiguity: (10) a. two books b. a new/long/beautiful book
(10a) can designate either two copies of the same text (i. e. two 'tomes') or two texts (which may be contained within a single 'tome', as in two books in one; a new book may be a new copy of a very ancient text, or a copy (whether in pristine condition or not) of a recently composed text.
3.1.2. Relational independence Facets show full relational independence, in that each facet has (or may have) its own sense relations, independently of other facets. For instance, the hyponyms of book form two parallel series, showing within-series incompatibility, but between-series compatibility: (11) novel and biography are incompatibles paperback and hardback are incompatibles novel and paperback are compatibles
The normality of generic statements such as (12a) and (12b) shows that the two facets of book are fully entrenched: (12) a. A novel is a kind of book. b. A paperback is a kind of book.
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D. Alan Cruse
Nonce readings tend to be odd, away from the context of their creation, especially in generic statements; hence, although (13a) is acceptable as 'waitress language' in the context of a cafe or restaurant, (13b), (13c) and (13d) are odd: (13) a. The hamburger wants his coffee now. b. ?Most of their customers are hamburgers. c. ?Schoolchildren are rarely omelettes.
d. ?An omelette is a type of customer.
3.1.3. Independent essences Consider sentences (14) and (15). Both are normal, but they receive different interpretations: in (14), the speaker's interest is in the [TOME], and in (15), in the [TEXT]: (14) I'm not interested in the contents, etc., I'm interested in the book itself
(15) I'm not interested in the binding, etc., I'm interested in the book itself. Notice that in the case of novel, an item from the same domain as book, only one of these alternatives is normal: (16) ?I'm not interested in the story, etc., I'm interested in the novel itself. (17) I'm not interested in the cover design, etc., I'm interested in the novel itself.
We shall return to this point later.
3.1.4. Independent referential properties This is a tricky one: some (Kleiber,2 for instance) claim that facets have no referential consequences. But three points can be noted: (a) A tomeless text and a textless tome can both be designated by book: (18) I've got a book to write the minutes of the meeting in. (19) A: How's your book going?
B: Oh, it's all in here [pointing to head], but I haven't written anything down yet. (b) It could be argued that book in (14) and (15) refers to two different entities. (c) Situations can be imagined where an ambiguous phrase like the new book could refer to two different books.
Kleiber, Georges: Cognition, somantique et facettes: Une "histoire" de Hvres et de ... romans, in: Kleiber, Georges; Riegel, Martin (Hgg.): Les Formes du Sens. Louvain: Duculot 1996, S. 319-331.
Lexical 'facets': between monosemy and polysemy
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3.1.5. Independent metaphorical extensions In order to interpret (20), it is only neccesary to access the [TOME] facet: (20) a book of matches
3.1.6. Independent proper names Middlemarch is the name of a text, not of a physical object, nor yet of a textphysical object complex.
3.2. Unity On the above evidence, one might be tempted to say that the facets of book are separate senses, related to separate concepts. But this would be to ignore the evidence of unity, a summary of which follows.
3.2.1. Prototypical co-occurrence If we think of book as a basic-level item, it is clear that the prototype has both facets. Naive subjects learn about the dual nature of book with initial surprise, but ready acceptance.
3.2.2. Joint compositional properties One aspect of joint compositional properties is that there are predicates which attach themselves to both facets simultaneously: (21)
to publish a book
It is not possible to publish something which does not comprise both a text and some physical manfestation. Another aspect of joint compositional properties is serial composition without zeugma, that is to say, different predicates in the same sentence may attach to different facets without antagonism. In other words, facets do not show antagonism in circumstances where senses would: (22) This is a very interesting book, but it is awfully heavy to carry around.
In (22), interesting modifies the [TEXT] facet, and heavy to carry around the [TOME] facet.
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D. Alan Cruse
3.2.3. Joint lexical relations The global reading (which includes both facets) has its own sense relations. An example of this is the superordinate/hyponym relation between publication and book. 3.2.4. Global reference A definite noun phrase such as the red book arguably refers to the global entity, rather than purely to the [TOME] facet. 3.2.5. Joint extensions There are extensions of sense which require both facets to be taken into account for them to be intelligible: (23)
I can read him like an open book.
To interpret read in (23), we must access our knowledge of how texts are processed; to interpret open, we need to access knowledge of books as physical objects. 3.2.6. Joint nameability The Lindisfarne Gospels (a mediaeval text) is the name of a global [TEXT] + [TOME] entity. 3.2.7. Global reading The distinctness of facets is sometimes overestimated. For instance, the Oxford Advanced Learner's Dictionary' gives two separate entries for the facets of book: they are listed as I (a) and I(b), and are thus not distinguished from senses. It was argued in Cruse (1986)3 that they were separate senses. However, the conclusion seems inescapable that there exists a global sense 'book' and a global concept BOOK, and that the facets do not have the full status of lexical senses. At least in our terms, book is therefore not truly polysemous.
3
Cruse, D. Alan: Lexical Semantics. Cambridge: Cambridge University Press 1986.
Lexical 'facets': between monosemy and polysemy
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3.3. Examples of facets The items in (24) illustrate cases of words possessing facets analogous to [TOME] and [TEXT]: (24) letter:
a crumpled letter a moving letter CD: an indestructible CD a beautiful CD film: a 16mm film a sad film speech: an inaudible speech an incomprehensible speech
Sentences (25a), (25b) and (25c) illustrate three facets of bank, and (26a), (26b) and (26c), three facets of Britain: (25) a. The bank in the High Street was blown up yesterday. [PREMISES] b. It is a very friendly bank. [PERSONNEL] c. That bank was founded in the 15th Century. [INSTITUTION] (26)
a. Britain today lies under 1m of snow. [LAND] b. Britain is today mourning the death of the Royal corgi. [PEOPLE] c. Britain declares war on San Marino. [STATE]
A striking feature of facets is that they are ontologically very distinct from one another; this appears to be a necessary feature for facet-like behaviour to appear.
3.4. The nature of the unity of multi-faceted words Facets cannot be subsumed under a superordinate: that is to say, there is no category of which [TOME] and [TEXT] are sub-categories. What, then, is the nature of their unification in contexts (like (7) and (22)) where normal polysemes would be expected to give rise to zeugma? I propose that they are integrated as parts are integrated into a whole: facets are parts of the global meaning (the sense), and sister facets are co-ordinate parts like the arm and the leg of a body. 1 am speaking here (ultimately) of concepts - the concept BOOK has (at least) two parts, the facet [TEXT] and the facet [TOME]. Looking at normal part-whole relations in the world, we find that there is a continuous scale of integratedness, stretching from two separate objects, to fully integrated parts of one object. In (27), the pairs are progressively more integrated (as judged by student informants). There is linguistic evidence of a greater degree
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D. Alan Cruse
of integration in (27f) than (27e): it is normal to say The handle is attached to the door, but not ?The handle is attached to the spoon. (27) a. table
chair
b. computer
mouse
c. bottle d. teapot
cap lid
e. (door-)handle
door
f. handle
spoon
Returning now to facets, it is arguable that there is a similar scale of integratedness (the examples are confined to concepts of different ontological types that are closely associated pragmatically). Consider the notion of a punch on the nose. Here, we have an action (concrete) associated with a sensation (mental). However, signs of facethood are absent, since intense, for instance, which is normal with paw, is not normal with punch on the nose: (28) *an intense punch on the nose Somewhat more facet-like \sfactory: (29) a. The factory was blown up. [PREMISES] b. The whole factory came out on strike. [PERSONNEL] c. (50%?)The factory that was blown up came out on strike.
However, out of a typical class of student informants, only about half will accept (29c) as normal. In contrast, there is unanimity concerning the normality of (30c): (30) a. a red book
b. a funny book c. You'll find that red book on the top shelf very funny.
It seems, then, that the integratedness of facets is a graded phenomenon. But where exactly on the scale does book lie? My current thinking is that facets represent incomplete conceptual integration, similar to that exhibited by door and handle: it occupies an intermediate point on the scale of integration, equivalent to that of 'attachments' on the scale of part-whole integration. This is because there seem to be cases of dual-nature concepts/senses which are even more integrated, and which show significantly less facet-like behaviour. Let me give two possible examples. The first is woman (many words referring to human beings are similar). Although informants are intuitively not happy to put woman into the same semantic category as book, it shows some signs of facethood (the facets will be referred to as [BODY] and [SOUL], for convenience, but this carries no philosophical implications). For instance, there are adjectives which attach themselves to one facet or the other: (31) a. a tall woman
b. an intelligent woman
Lexical 'facets': between monosemy and polysemy
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There is some evidence of relational autonomy, in that, for instance, the meronyms are different; and there are separate classificatory systems for body types and personality types. And consider the following scenario. Suppose we wired Mary up to a computer which mapped accurately every neuronal connection in her brain, producing a replica of her mind, but unfortunately destroyed the original patterns in the process (except perhaps for the innate ones), leaving her with a tabula rasa. Suppose we could also replicate sensory inputs to the disembodied mind. We would then have a body and a mind. Which one would be the 'real' Mary? Or would they both be? I think I have some tendency to assent to either one being Mary. But other indications of autonomy seem to be weak. For instance, it is hard to find any ambiguous contexts explicable only by appeal to facets; and woman (for many informants) fails the X itself-iest: (32) I'm not interested in the woman's body, I'm interested in the woman herself. (33) ?I'm not interested in the woman's mind or personality or feelings, I'm interested in the woman herself.
The second example concerns the verb weigh. This involves a physical action allied to a mental action: (34) a. John weighed the potatoes with trembling hands. [PHYSICAL ACTION] b. John weighed the potatoes accurately. [MENTAL ACTION]
The integration here shows up in the lack of truth-conditional independence in the two putative facets. In answer to the question Did John weigh the potatoes? one can only base one's answer on the global reading; that is to say, it is not sufficient merely to, for instance, put some potatoes onto a scale to be able to truthfully say one has weighed them. Nor does, for instance, John weighed the potatoes calmly seem ambiguous in the way that John writes beautifully is, or even Did you write the letter? (i. e. 'Did you compose the text?'/'Did you produce the physical inscription?'). It is not being suggested that there is anything unusual about woman or weigh. There are grounds for believing that it is facets which represent the 'marked' case.
3.5. The frontiers
offacethood
Facets can be viewed as occupying a relatively restricted position in a theoretical space constituted by two dimensions: integration and ontological distinctness. With reduced integration, facets are simply polysemic senses related by metonymy; with increased integration, facets lose their independence. A reduction of ontological distinctness also leads to a loss of autonomy, giving rise to normal sister parts of complex objects or events.
34
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4. The novel problem The semantic properties of book differ interestingly from those of certain other items from the same domain (publications). Take the case of novel. There are certain usages which at first sight seem to point to the existence of a [TOME] reading for novel: (35)
a. a novel of some three hundred pages b. a thick novel with many coloured illustrations c. a paperback novel
But there are others where novel is far less normal than book: (36) a. ?a red novel b. ?a dirty novel (in the physical sense) ?this novel is dirty
c. ?a dusty novel Furthermore, certain contexts which are clearly ambiguous with book require a considerable cognitive effort to see as ambiguous with novel: (37)
a new novel two novels
Perhaps most strikingly, as has been already noted, the X /tee^construction has two readings with book, but only one with novel (examples (16) and (17) repeated here for convenience): (38) (39)
I'm not interested in the typography or the cover design, I'm interested in the novel itself. ?I'm not interested in the plot or the characters, I'm interested in the novel itself.
At the very least, we can say that the [TOME] reading of novel, in spite of the fact that it informs a good deal of our everyday interaction with novels, is for one reason or another, very much less LINGUISTICALLY accessible than that of book. Notice, too, that even in the contexts where a [TOME] reading seems permissible, the physical features can be construed as giving information about the text of the novel. Why does novel behave in a different way from book? I find it hard to believe that the TOME information is not present in the concept NOVEL; nor can I believe that it is cognitively hard to get at. But somehow we have to explain why it is l i n g u i s t i c a l l y not so accessible. One approach to answering the question is to look at features of meaning which distinguish items which behave like book from those which behave like novel. It might be argued, for instance, that what is distinctive about a novel is its text, not its physical format; one might even say that the immediate default contrasts of novel are other literary genres, like poem or short story. In the case of book, on the other hand, one might argue that the facets are more equally balanced. There are two sorts of contrast: first, with other everyday physical objects such as clock, vase, ornament or in-tray, and second, with other text-types, such as newspaper, magazine, brochure, directory (many of which also have distinctive formats).
Lexical 'facets': between monosemy and polysemy
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There is a certain intuitive plausibility about this explanation, but on close examination, the matter is much more complex. Take the case of dictionary. The most distinctive property of a dictionary is its contents, i. e. its [TEXT] facet is the most salient. Yet dictionary behaves not like novel but like book, in that, for instance, two dictionaries is ambiguous between 'two different dictionary-texts' and 'two copies of the same text'. At this point one might point out that while a novel does not have a distinctive format, a dictionary does, at least prototypically, and this might account for the higher salience of the [TOME] facet. There are two objections to this. One is that there are other book-like entities with distinctive formats which behave like novel: one of these is thesis, which at least in a British university has a highly distinctive format. Yet two theses can only mean two different texts, and not two copies of the same thesis. The other objection is that novels do prototypically have a distinctive format, or at least, there are possible book-formats which are unlikely to be novels: think of the characteristic large-format art books or atlases. A different line of argument is to say that there is no novel problem: novel behaves as one might expect. The problem lies with dictionary, in that it unexpectedly behaves like book in spite of being defined by its contents. At this point, the example of bible is perhaps relevant: a bible is defined by its contents, but two bibles normally refers to two copies of the same text. This is presumably because the text of a bible is (in everyday experience) unique - there are no others of the same type. There is some plausibility in the suggestion that to the man-in-the-street, the same is true of The Dictionary'; that is to say, there is a naive assumption that there is only one text, and this forces a [TOME] interpretation of plurality (something similar would occur with, for instance, two David Copperfields). (The fact that one says Look it up in the dictionary at least as readily as Look it up in a dictionary is confirmatory evidence.) Again, a certain prima facie plausibility cannot be denied. However, it is not quite true to say that there is no novel problem. It is still not clear why a red novel should be odd. After all, even granted that novel 'focuses' on the text, and red tells us nothing about the text, we all know that novels have concrete manifestations, and that these may well be red. There is therefore nothing conceptually odd about a red novel. Consider the following cases: (40) a. a pretty secretary b. a burly barman c. a tall, fair-haired professor of linguistics
Just as novel is defined by its text, secretary, barman and professor of linguistics are defined by their jobs, yet there appears to be no prohibition on the use of 'irrelevant' adjectives, of the sort we find with novel and thesis. (It may be that this is an aspect of the wider problem of restrictions on 'active zones': why, for instance, can we say Mary is fair, meaning that she has fair hair, but not Mary is blue, meaning that she has blue eyes?)
36
D. Alan Cruse
5. Concluding remarks I would like to conclude by highlighting two problems raised by facets. The first concerns the formation of autonomous islands of sense which have their own individual place in the semantic economy, with more-or-less clearly delimited relational, combinatory and truth-conditional properties. How, why and under what circumstances does this occur? A Langackerian notion of entrenchment does not appear to provide an answer. Entrenchment is deepened every time a word is used in a particular sense; however, frequency of use has not led to the development of the autonomy of, for instance, the 'boy' and 'girl' readings of child. The second problem concerns constraints on co-occurrence, especially where there is no immediately apparent conceptual barrier, as with red novel. It appears that the principles of combination are still only imperfectly understood.
Gerd Fritz
Extreme Polysemie - der Fall ziehen
l. Probleme und Methoden Hundsnurscher (1996) hat mit einer umfangreichen Liste von Beispielen für Verwendungsmöglichkeiten des Verbs ziehen auf das bemerkenswerte Bedeutungsspektrum dieses Verbs aufmerksam gemacht und auch schon wichtige Hinweise auf Zusammenhänge zwischen diesen Verwendungsweisen gegeben.1 Der vorliegende Beitrag ist ein Gegenstück zu meiner Untersuchung des Verwendungsspektrums von scharf m Fritz (1995).2 Dort bin ich näher auf den bedeutungstheoretischen Status des Begriffs der Verwendungsweise und auf Probleme und Methoden der Unterscheidung von Verwendungsweisen eingegangen, so dass ich im vorliegenden Beitrag die dort explizierten theoretischen und methodischen Annahmen nur andeuten will (vgl. auch Fritz 1998, l Iff.).3 Um einen ersten Eindruck von der Vielfalt der Verwendungsweisen von ziehen zu geben, führe ich zunächst einige Verwendungsbeispiele an, bei denen man annehmen könnte, dass sie jeweils eine eigene Verwendungsweise repräsentieren. 1l) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12)
Das Kind zieht am Türgriff- aber die Tür bewegt sich nicht Das Kind zieht den Wagen Der Ritter zieht das Schwert aus der Scheide Die Plastikmasse lässt sich ziehen Der Magnet zieht nicht mehr Der Motor der R1100 zieht wie der Teufel Der Nachbar zieht eine Mauer Die Mauer zieht sich entlang der Grundstücksgrenze Schröder zieht an seiner Havanna Es zieht Die Wolken ziehen am Himmel Die Parlamentarier ziehen nach Berlin
Hundsnurscher, Franz: Wortsemantik aus der Sicht einer Satzsemantik, in: Hundsnurscher, Franz; Weigand, Edda (Hgg.): Lexical Structures and Language Use. Bd. 1. Tübingen 1996, S. 39-51. (Beitrage zur Dialogforschung 8) Fritz, Gerd: Metonymische Muster und Metaphernfamilien. Bemerkungen zur Struktur und Geschichte der Verwendungsweisen von scharf, in: Hindelang, Götz; Rolf, Eckard; Zillig, Werner (Hgg.): Der Gebrauch der Sprache. Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 60. Geburtstag. Münster 1995, S. 77-107. Fritz, Gerd: Historische Semantik. Stuttgart/Weimar 1998. (Sammlung Metzler 313)
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Gerd Fritz
Schon diese kurze Liste lässt erkennen, dass ziehen ein erstaunliches Verwendungspotential hat. Aus der Sicht des beschreibenden Semantikers gibt es nun, grob gesprochen, drei Auffassungen, wie man mit einem derartigen Befund umgehen kann: (i) Man nimmt an, dass jede dieser Verwendungsweisen isoliert zu beschreiben ist. (ii) Man nimmt an, dass diese Verwendungsweisen zwar alle einzeln etabliert sind, dass es aber zwischen ihnen systematische Zusammenhänge gibt, die es zu zeigen gilt. (iii) Man nimmt an, dass es eine Grundbedeutung von ziehen gibt, von der alle Einzelverwendungen konversationell abzuleiten sind (die minimalistische Strategie).
Strategie (i) ist methodisch resignativ, weil sie sich der Möglichkeit verschließt, eine zumindest partielle Einheit der Bedeutung von ziehen zu rekonstruieren. Sie ist auch empirisch unbefriedigend, weil sie voraussetzt, dass die Sprecher keine Zusammenhänge zwischen diesen Verwendungsweisen sehen und folglich auch jede Verwendungsweise einzeln lernen mUssen. Das wäre ein sehr unökonomisches System, das auch unserer Intuition von der (zumindest partiellen) Einheit der Bedeutung eines Wortes wie ziehen widerspricht. Strategie (iii) ist methodisch in vielen Fällen akzeptabel, führt allerdings zu dem Problem, dass man oft weite Ableitungswege gehen muss, um von einer angenommenen Grundbedeutung zur Deutung einer bestimmten Verwendung zu gelangen. Empirisch ist sie ebenfalls unbefriedigend, weil sie außer Acht lässt, dass viele Verwendungsweisen fest etabliert sind und dass deshalb entsprechende Verwendungen (Sprecherperspektive) und Deutungen (Hörerperspektive) routinisiert sind und nicht ad hoc konversationell gefunden werden müssen. Strategie (ii) vermeidet die genannten Probleme von (i) und (iii). Das Problem der weiten Deutungswege umgeht diese Strategie durch die Annahme, dass nicht alle Verwendungen direkt von einer Grundbedeutung abgeleitet werden müssen, sondern dass es etablierte Zwischenglieder zwischen bestimmten prototypischen Verwendungsweisen und verschiedenen Einzelverwendungen gibt, so dass diese Zwischenglieder den Sprechern als Deutungsgrundlage für bestimmte Einzelverwendungen dienen können. Empirisch setzt diese Strategie voraus, dass die Sprecher Zusammenhänge zwischen diesen oder wenigstens einigen dieser Verwendungsweisen sehen und es in diesem Sinne eine gewisse Einheit der Bedeutung gibt. Bei dieser Betrachtungsweise wäre ziehen ein sehr ökonomisches Werkzeug, ein Multifunktionsinstrument. Mit der Wahl dieser Strategie, der ich in diesem Beitrag folgen will, handelt man sich natürlich die Aufgabe ein, mögliche Zusammenhänge zu zeigen und plausibel zu machen. Zur (partiellen) Lösung dieser Aufgabe möchte ich im Folgenden einen Versuch machen. Von einer partiellen Lösung spreche ich in zweierlei Hinsicht. Erstens kann ich auf dem hier verfügbaren Raum nur einen Teil der vielfältigen Beziehungen behandeln, die man sehen kann. Und zweitens vermute ich bei einer ganzen Anzahl von Verwendungsweisen, dass der Zusammenhang mit anderen Verwendungsweisen abgerissen ist. Dies gilt insbesondere für einige feste Verbindungen, u. a. die Verwendung als Funktionsverb:
Extreme Polysemie - der Fall ziehen (13) (14) (15)
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Er hat Bilanz gezogen Er zieht die Konsequenzen Auch diese Möglichkeit müssen wir in Betracht/in Erwägung ziehen
Derartige Verwendungsweisen lernen die Sprecher normalerweise relativ spät, und zwar als isolierte, quasi-idiomatische Verbindungen. Auf diese Frage werde ich in Abschnitt 5 nochmals kurz eingehen.
2. Beschreibungsgrundlagen Mit dem Verb ziehen und seinen Aktanten kann man eine Reihe von Ereignistypen (Szenen) charakterisieren, von denen ich annehme, dass sie eine Familie bilden, also in irgendeinem Sinne systematisch zusammenhängen. Die folgende Beschreibung ist der Versuch einer rationalen Rekonstruktion von Teilen eines solchen Familienzusammenhangs, d. h. eine Beschreibung, die plausibel machen soll, wie Sprecher derartige Zusammenhänge sehen könnten. Die stärkere Behauptung, dass die Sprecher die Zusammenhänge tatsächlich so sehen, ist natürlich eine empirische Behauptung, die also auch empirisch zu belegen wäre. Diesen Nachweis kann ich hier nicht führen. Allerdings deuten informelle Befragungen darauf hin, dass manche Sprecher manche dieser Zusammenhänge tatsächlich so sehen, allerdings auch darauf, dass verschiedene Sprecher die Zusammenhänge z. T. verschieden sehen. Das Ziel meiner Beschreibung besteht primär darin, Wissensbestände und semantische Verfahren zu eruieren, die die Sprecher bei der Deutung von Verwendungen von ziehen nutzen können. Wie schon erwähnt, setze ich voraus, dass es für viele gebräuchliche Verwendungsweisen dieses Verbs routinisierte Deutungen gibt. Aber auch für diese Fälle erscheint die Annahme plausibel, dass die ad-hoc-Deutung entsprechender Verwendungen auf der Folie bestimmter zentraler Verwendungsweisen möglich wäre. Die wichtigsten Wissensbestände und semantischen Verfahren will ich an dieser Stelle schon erwähnen, um die Aufmerksamkeit auf diese Aspekte der folgenden Beschreibung zu lenken: (i) stereotypes Wissen Über eine Anzahl von grundlegenden Ereignistypen, die mit ziehen charakterisiert werden können, und deren Hauptaspekte, (ii) stereotypes Wissen über bestimmte Arten von Gegenstanden (bewegliche Gegenstände, elastische Gegenstände etc.), (iii) die Möglichkeit, Aspekte der Ereignistypen mit bestimmten Aktanten des Verbs explizit auszudrücken oder, z. B. durch elliptischen Gebrauch, implizit zu lassen, (iv) die Möglichkeit, durch Fokussierung von Aspekten, durch Hinzufügen von Aspekten und durch Ausblenden von Aspekten verwandte Ereignistypen zu charakterisieren, (v) die Fähigkeit, metaphorische Verfahren anzuwenden.
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Gerd Fritz
3. Erster Beschreibungsschritt: Zwei Prototypen In einem erster Schritt meiner Beschreibung des Gebrauchs von ziehen gehe ich davon aus, dass die Sprecher ein stereotypes Wissen Über zwei grundlegende Ereignistypen (El) und (E2) haben, die ihrerseits verwandt sind, von denen einzelne Aspekte fokussiert oder ausgeblendet sein können und an die zusätzliche Aspekte angelagert werden können.4 (El) A übt auf einen Gegenstand (gegen einen Widerstand) eine Kraft in Richtung auf A hin aus (mit der Intention, den Gegenstand zu A hinzubewegen). (E2) A Übt auf einen Gegenstand (gegen einen Widerstand) eine Kraft in Richtung auf A hin aus, so dass sich der Gegenstand in der Bewegungsrichtung von A mitbewegt. Die Möglichkeit zur Charakterisierung wichtiger Aspekte dieser beiden Ereignistypen ergibt zwei prototypische Verwendungsweisen, die durch die Beispiele (16) und (17) repräsentiert sind. Als prototypische Besetzung der Subjektsposition „A" kann ein Agens-Ausdruck wie in (16) gelten: (16) Das Kind zieht am Türgriff (17) Das Kind zieht den Wagen Den Kontrast der beiden Verwendungsweisen kann man hervorheben, wenn man die Beispielsätze einander angleicht, also etwa (18) und (17) wählt: (18) Das Kind zieht am Wagen Syntaktisch auffallend ist der Unterschied von Akkusativ-Ergänzung in (17) und präpositionaler Ergänzung in (16) bzw. (18). Dabei gehört in Fällen wie (16) oder (18) der Angriffspunkt der Kraft, der mit einer Präpositionalphrase ausgedruckt wird (am Türgriff, am Wagen, an den Haaren etc.) im Sinne von Heringer (1984, 37) zweifellos zu den Grundaspekten der z/eAe/i-Szene.5 Dieser Aspekt kann auch bei Äußerungen nach dem Muster (E2) ausgedrückt werden, wie (l9) zeigt: (19)
Das Kind zieht die Puppe an den Haaren hinter sich her
Den Zusammenhang von (El) und (E2) kann man auf unterschiedliche Art beschreiben: Geht man von (El) aus, dann sind der Bewegungs- und der Richtungsaspekt in (E2) zusätzliche Aspekte, die aufgrund unseres Wissens Über die Wirkungen der Kraftanwendung auf bewegliche Gegenstände bei der Deutung einer entsprechenden Äußerung eingeführt werden. Geht man dagegen von (E2) aus, so werden bei einer Deutung nach (El) diese Aspekte ausgeblendet.
Die Formulierungen, die ich verwende, um die Ereignistypen und die Zusammenhange ihrer Aspekte explizit zu machen, klingen z. T. etwas künstlich. Darin scheint sich bei semantischen Beschreibungen von Basislexemen eine gewisse Notlage auszudrücken, die mit der Frage der Dosierung des Grades der Explizitheit zusammenhängt. Die Funktion der Formulierungen mag jedoch ihre Form rechtfertigen. Heringer, Hans Jürgen: Neues von der Verbszene, in: Stickel, Gerhard (Hg.): Pragmatik in der Grammatik. Jahrbuch 1983 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf 1984, S. 3464.
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Unabhängig von der Konstruktion dieses Zusammenhangs benutze ich beide Typen als Prototypen, von denen aus andere Verwendungen gedeutet werden können. Eine auffallende Beobachtung ist, dass in manchen Fällen mit der Ausblendung des Bewegungsaspekts ein Misserfolg signalisiert werden kann, wie der Vergleich von (20) und (21) bzw. (22) und (23) zeigt. Dies spricht für die Berücksichtigung des Aspekts „mit der Intention, den Gegenstand zu A hinzubewegen" in der Beschreibung (El). (20)
A zieht den Wagen
(21) A zieht am Wagen (22) A zieht die Notbremse (23) A zieht an der Notbremse
4. Weitere Beschreibungsschritte: Die nähere Verwandtschaft Im folgenden Beschreibungsteil versuche ich, Zusammenhänge einiger etablierter Verwendungsweisen von ziehen mit den beiden genannten prototypischen Verwendungsweisen zu zeigen. Von den so eingeführten Verwendungsweisen ausgehend zeige ich anhand von Beispielen weitere Verzweigungen im Familienbaum von ziehen*
4. l. Das Extrakiions-Muster Von (El) ausgehend kann man mit einer Präpositionalphrase mit aus einen zusätzlichen Aspekt einfuhren, so dass man einen Spezialfall des Bewegungstyps (E2) erhält. Man kann mit der Verwendung von ziehen und geeigneten Aktanten ausdrücken, dass eine Person eine Kraft auf einen Gegenstand ausübt, der in sich in einem Behältnis befindet, so dass der Gegenstand aus dem Behältnis herausbewegt wird. (24) Er zieht das Schwert aus der Scheide (25) Er zieht den Korken aus der Flasche Vor allem in Bezug auf Schusswaffen finden wir zwei Stufen des elliptischen Gebrauchs (27)/(28): (26) (27) (28)
Er zog den Colt aus dem Halfter Er zog den Colt Er zog (schneller als Billy the Kid)
FUr den vorliegenden Beitrag konnte ich auf Beispielmaterial zurückgreifen, das K. Lynker in ihrer Examensarbeit zu ziehen aus dem elektronischen Corpus der SPIEGEL-Ausgaben von 1996 gewonnen hat. Nützliches Datenmaterial liefert auch DIE ZEIT auf CD-ROM (1995-1998).
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Gerd Fritz
Das Gegenstück zu (27) ist der Normalfall bei (29), wo mitverstanden wird, dass der Zahn aus seiner Befestigung im Kiefer herausbewegt wird.7 (29) Der Zahnarzt zieht den Backenzahn Auch in der Verwendung (30) ist der Bezug auf einen Behälter, den Automaten, mitverstanden: (30) Er zieht sich eine Schachtel Zigarenen Als eine Übertragung vom Personen-Prototyp in (24)-(30) kann man (31) deuten: (31) Die Pflanzen ziehen Nährstoffe aus dem Boden Allerdings könnte man hier auch einen Zusammenhang mit dem Inhalationstyp A zieht den Rauch in die Lunge (61) sehen. Von hier führt möglicherweise ein weiterer metaphorischer Pfad zu (32): (32) Er zieht Nutzen aus seiner Mitgliedschaft Statt in einem Behältnis kann der Gegenstand auch in einer relativ festen oder klebrigen Masse stecken, aus der der Gegenstand dann herausbewegt wird: (33)
Munchhausen zog sich an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf
Auch dieses Muster kann man metaphorisch nutzen. Wenn man annimmt, dass es eine unangenehme oder auch gefährliche Situation ist, in einer derartigen Masse zu stecken, kommt man zu einer möglichen Deutung von (34): (34) Die Manager ziehen sich aus der Verantwortung Alternativ könnte man für (34) auch eine metaphorische Verwendung von (35) als Deutungshintergrund nehmen: (35) Er zieht den Kopf aus der Schlinge
Die Tatsache, dass sich mehrfach verschiedene Deutungswege für das Verständnis einer bestimmten Verwendung anbieten, zeigt, dass eine Verwendungsweise durch unterschiedliche Zusammenhänge mit anderen Verwendungsweisen gestutzt sein kann. Bei einer sehr feinkörnigen Beschreibung käme man dabei möglicherweise auch zu der Einsicht, dass je nach bevorzugtem Deutungshintergrund bei unterschiedlichen Sprechern feine Gebrauchsunterschiede zu erkennen sind, die jedoch in der alltäglichen Praxis und bei einer grobkörnigeren Beschreibung nicht zu Buche schlagen. Insgesamt scheint eine derartige mehrfache Deutbarkeit von Verwendungen zur Robustheit des Systems der Verwendungsweisen beizutragen. Diese Betrachtungsweise gibt auch einen Hinweis darauf, warum sich Kinder ein derartig komplexes System, abgesehen vom 7
Das Zahnarztbeispiel zeigt wieder ein Problem der Beschreibungssprache. Wir würden den Mund oder auch den Raum im Kiefer, in dem der Zahn sitzt, naturlich nicht als Behältnis oder Behälter bezeichnen. Andererseits scheinen Behältnisse aber doch den Prototyp für das Extraktions-Modell abzugeben, das dann flexibel angewendet werden kann. Alternativ könnten wir das Zahnarztbeispiel aber auch nach dem verwandten Muster (33) deuten, wobei dann der Aspekt der Befestigung des Zahns fokussiert wäre.
Extreme Polysemie - der Fall ziehen
43
fachsprachlichen Teil, relativ schnell aneignen. Da es unterschiedliche Deutungswege gibt, kann sich das Kind opportunistisch den nächstliegenden wählen und damit in vielen Fällen zu einem befriedigenden Deutungsresultat kommen. Ein methodisch lehrreiches Beispiel ist auch die Verwendung (36): (36)
Der Tee muss noch ziehen
,die Teeblätter müssen noch im heißen Wasser bleiben'
Man könnte versuchen, (36) auf der Folie von Verwendungen wie (16) zu deuten als eine spezielle Anwendung des Extraktions-Musters. Das mag als historische Rekonstruktion zutreffend sein, aber in der Praxis der Sprecher scheint dieser Zusammenhang keine Rolle zu spielen. Damit muß der Versuch, einen Zusammenhang mit anderen Verwendungsweisen zu zeigen, hier wohl aufgegeben werden. Also dürfte (36) ein Beispiel für eine isolierte Verwendungsweise sein, die als solche etabliert ist.
4.2. Das
Verformungs-Muster
Ein zusätzlicher Aspekt wird auch eingeführt bei der Anwendung von ziehen in Bezug auf elastische Gegenstände. Aufgrund des Alltagswissens, dass sich derartige Gegenstände bei Kraftanwendung ausdehnen oder anderweitig verformen können, wird eine Deutung nach folgendem Muster möglich: Eine Person übt (gegen einen Widerstand) eine Kraft auf einen elastischen Gegenstand aus, so dass sich der Gegenstand in einer bestimmten Richtung verformt. (37) A zieht den Kaugummi (38) A zieht den Draht Diese Verwendungsweise findet sich häufig mit implizitem Agens in der Konstruktion mit lässt sich: (39)
Die Plastikmasse lässt sich ziehen
,man kann die Plastikmasse verformen'
Wenn reine Verformung ohne Agens ausgedrückt werden soll, wird die reflexive Konstruktion verwendet: (40)
Das Holz zieht sich
Auch vom Ausdehnungs-Muster ist eine metaphorische Übertragung gebräuchlich, von der räumlichen auf die zeitliche Ausdehnung: (41) Die Sitzung zieht sich (in die Länge)
Möglicherweise kann man mit dem Ausdehnungs-Muster auch die Verwendung (42) in Verbindung bringen: (42)
Er zieht Tomaten aus Setzlingen
44
Gerd Fritz
4.3. Anziehungskraft: das Magnet-Modell Ausgehend von (El) kann die Anziehungskraft eines Gegenstands auf andere Gegenstände fokussiert werden. Prototyp eines derartigen anziehenden Gegenstands ist der Magnet:8 (43)
Der Magnet zieht nicht mehr
Das Magnet-Modell kann in verschiedener Weise metaphorisch genutzt werden, um die Attraktivität eines Gegenstands zu charakterisieren. Auch hier sind die syntaktischen Varianten bemerkenswert: (44) (45) (46) (47)
Der alte Film zieht immer noch Nutzwert zieht beim Bundesbürger Viele Leute zieht es in die Südsee Der Carisma von Mitsubishi zieht keine bewundernden Blicke auf sich
4.4. Kraßentfaltung Von Fahrzeugmotoren kann mit ziehen die reine Kraftentfaltung prädiziert werden: (4 8) Der Motor der R1100 zieht wie der Teufel
Diese Verwendungsweise, mit der ein Kraftpotential angegeben wird, könnte man von (El) ableiten. Allerdings ist auch eine Verknüpfung mit dem Bewegungs-Prototyp (E2) denkbar - aufgrund des Wissens, dass diese Kraftentfaltung normalerweise eine Beschleunigung des Fahrzeugs bewirkt, wenn die Kupplung losgelassen wird. Bei dieser Deutung wäre der Aspekt der Bewegung des Fahrzeugs mitverstanden. 4.5. Herstellung eines Gegenstands mit einer bestimmten Verlaufslinie Auch folgende Variante eines Ereignistyps kann mit ziehen charakterisiert werden: Jemand erstellt einen Gegenstand. Beim Arbeitsvorgang bewegt sich der Herstellende (mit seinem Werkzeug) in einer bestimmten Richtung, so dass der entstehende Gegenstand in dieser Richtung eine Linie bildet. (49)
Der Nachbar zieht eine Mauer/einen Zaun/einen Graben
Bei dieser Verwendung von ziehen ist der Zusammenhang mit (El) schon etwas weniger eng. Der Aspekt der Kraftentfaltung scheint mehr oder weniger ausgeblendet zu sein. Vielleicht kann man sagen, dass er in den Aspekt des ArbeitsAn dieser Stelle könnte man ein komplexes Thema anschließen, das in diesem Beitrag ganz ausgeklammert wird, nämlich die Frage des semantischen Zusammenhangs zwischen dem Simplexverb ziehen und den Partikelverben wie anziehen, aufziehen, herausziehen etc. In manchen Fällen bietet sich die Hypothese an, dass Simplexverwendungen elliptische Versionen von Partikelverb-Verwendungen sind.
Extreme Polysemie - der Fall ziehen
45
Vorgangs integriert ist. Im Vordergrund steht das Produzieren eines Gegenstands, dessen Hauptdimension die Länge ist. Eine nahe verwandte Verwendungsweise repräsentiert (50): (50) Adrian zieht einen Strich
4.6. Verlaufslinie eines Gegenstands Im Anschluss an 4.5 kann mit der Verwendung von ziehen auch die Verlaufslinie eines Gegenstands fokussiert werden, ohne dass ein Herstellungsvorgang erwähnt oder überhaupt angenommen wird. Dazu dient der reflexive Gebrauch. (51) Die Mauer zieht sich entlang der Grundstucksgrenze (52) Der Fluss zieht sich durch die Ebene
4.7. Bewegung in eine bestimmte Richtung Gehen wir nun von (E2) aus, so läßt sich bei der Verwendung von ziehen der Aspekt der Bewegung in eine bestimmte Richtung fokussieren und der Aspekt der externen Kraftanwendung ausblenden. Auf diese Weise kann man folgende Szene charakterisieren: Personen, Tiere oder andere Gegenstände bewegen sich in eine bestimmte Richtung. (53)
Die Wolken ziehen (am Himmel)
Grammatisch zeigt sich die Ausblendung des Aspekts der externen Kraftanwendung in einer Agensverschiebung. Während in den prototypischen Verwendungen der Art Das Kind zieht am Türgriff und Das Kind zieht den Wagen mit dem Subjektsausdruck jeweils auf eine Person (oder einen anderen Gegenstand) Bezug genommen wird, die die Bewegung durch externe Wirkung herbeiführt, wird in (53) bis (57) mit dem Subjektsausdruck jeweils auf die Gegenstände Bezug genommen, von denen die Bewegung selbst prädiziert wird. (54) Abends zieht er mit seinen Mitarbeitern durch die Berliner Kneipen
Zu unserem Alltagswissen Über Bewegungen gehört, dass sie von einem Ausgangsort zu einem Zielort verlaufen. Bei der hier beschriebenen Verwendung von ziehen gehört die Angabe des Zielorts durch eine Präpositionalphrase mit nach oder in zur Standardsituation: (55) Das Gewitter zieht nach Westen (56) Die Schwalben ziehen nach Süden (57) Der Zirkus zieht in die nächste Stadt
Zusätzlich kann der Ausgangsort der Bewegung durch eine Präpositionalphrase mit von ausgedrückt werden: (58)
Der Zirkus zieht von Gießen nach Wetzlar
46
Gerd Fritz
Einen Sonderfall des Ortswechseltyps (57) haben wir in Satz (59), mit dem wir ausdrucken, dass Leute den Wohnort wechseln, m. a. W. sich mit ihrer Wohnungseinrichtung an einen Ort begeben, an dem sie längere Zeit zu bleiben beabsichtigen. (59) Die Parlamentarier ziehen nach Berlin
4.8. Bewegung von flüchtigen Materien Neben den beweglichen und den elastischen Gegenständen bilden flüchtige Materien wie Luft oder Rauch (ähnlich: flüssige Materien) eine weitere interessante Gruppe von Gegenständen, die durch Kraftanwendung in Bewegung versetzt werden können. Diese Beschreibungskategorie liegt quer zu der Unterscheidung von (El) und (E2). Von beiden Prototypen lassen sich Sonderverwendungen beim Bezug auf flüchtige Gegenstände ableiten, z. B. (60) und (61). Dabei lässt sich die Art der Kraftanwendung und der Bewegung jeweils aufgrund des Wissens über den Umgang mit derartigen flüchtigen Materien deuten: (60)
Schröder zieht an seiner Havanna
Hier wird mitverstanden, dass es Rauch ist, der inhaliert wird, wenn auch dieser Aspekt der Szene nicht ausgedrückt ist: (61) A zieht den Rauch in die Lunge
Als eine Art metaphorische Verwendung lässt sich (62) von den eben erwähnten Verwendungsweisen ableiten: (62) Der Kamin zieht wieder besser Man kann damit ausdrücken, dass der Kamin aufgrund seiner Eigenschaften die Bewegung des Rauchs, d. h. seinen Abzug, bewirkt bzw. ermöglicht. In einen Zusammenhang mit Verwendungen vom Typ (62) gehört vielleicht auch die Verwendungsweise (63), die aufgrund der Valenzeigenschaften des Ausdrucks der Familie von es friert, es regnet, es schneit zugeordnet werden kann: (63)
Es zieht
Ähnlich wie bei den anderen nullwertigen Verben auch wird hier die Luftbewegung als eine Art Umweltereignis ohne Agens thematisiert. Eine Verwandtschaft könnte man hier auch zum reinen Bewegungsmuster sehen (Die Warmluft zieht nach Osten, Der Rauch zieht durchs Zimmer).
Extreme Polysemie - der Fall ziehen
47
5. Metaphorische, idiomatische und isolierte Verwendungsweisen In der bisherigen Beschreibung wurden schon an verschiedenen Stellen metaphorische Verwendungsweisen erwähnt. Grundsätzlich kann man natürlich alle Verwendungsweisen zur Basis einer metaphorischen ad-hoc-Verwendung machen. Beispielsweise könnte man (64) metaphorisch verwenden, um zu verstehen zu geben, dass ein Politiker seine Fraktionskollegen kräftig ermahnt hat: (64)
Er hat seine Fraktionskollegen an den Ohren gezogen
Neben der Möglichkeit der ad-hoc-Metaphern gibt es aber für ziehen und seine Aktanten zahlreiche etablierte, lexikalisierte Verwendungsweisen, deren metaphorischer Charakter noch erkennbar ist, weil die dazugehörigen nicht-metaphorischen Verwendungsweisen gebräuchlich sind: (65) Die Deutschen ziehen die Amerikaner bei den Verhandlungen über den Tisch
(66) BMW zieht bei Rover die Notbremse (67) Wollte Kohl nicht auch auf seine Weise einmal einen Schlussstrich ziehen? (68) Er hat wieder einmal alle Register gezogen (69)
Suhartos Sippe zieht die Fäden
Daneben gibt es auch verfestigte idiomatische Wendungen, deren metaphorische Deutung den Sprechern im Allgemeinen nicht mehr zugänglich ist: (70) (71)
Er zieht gewaltig vom Leder Zieh Leine!
Schließlich gibt es auch eine ganze Anzahl fachsprachlicher Verwendungsweisen, die wohl ebenfalls als isolierte Verwendungsweisen gelten müssen: (72) Dann wird der Wein auf Flaschen gezogen (73) Rüstungslieferanten konnten auf die „Metallurgische Forschungsgesellschaft" (Mefo) Wechsel ziehen
Zusammen mit den zu Beginn erwähnten festen Verbindungen wie z. B. den Funktionsverbgefügen vom Typ in Erwägung ziehen findet sich also eine ganze Anzahl von Verwendungsweisen, die sozusagen außerhalb des Familienverbandes existieren und bei denen deshalb der Versuch nicht aussichtsreich erscheint, synchronisch Zusammenhänge mit anderen Verwendungsweisen zu rekonstruieren.
6. Zur Verwandtschaft der Verwendungsweisen: ein Familienbild Nachdem ich nun einen Ausschnitt aus dem Spektrum der Verwendungsweisen von ziehen beschrieben habe, will ich die wichtigsten Beschreibungsergebnisse in einem Verwandtschaftsgraphen übersichtlicher darstellen. Zur einfacheren Kennzeichnung der Verwendungsweisen verwende ich Kürzel wie Verformung, die jeweils Hauptaspekte der betreffenden Beschreibung angeben.
48
Gerd Fritz Kraftanwendung
Kraftentfaltung
Anziehungs- Verformung kraft
Kraftanwendung / Bewegung
Herstellung Extraktion eines Gegenstandes
Verlaufslinie
Bewegung
Ortswechsel
In diesem Graphen sind die feineren Verzweigungen nicht berücksichtigt, die in den vorigen Abschnitten eingeführt wurden. Wichtiger noch: Es sind mit der Ausnahme von Extraktion keine Mehrfachverbindungen dargestellt, so dass auf dieser Ebene der Beschreibung das System der Verwendungsweisen sich als Baum darstellt und nicht, wie bei feinkörnigerer Beschreibung, als Netz.
7. Zusammenfassung: Semantische Verfahren, Wissensbestände, Ökonomie Extreme Polysemie funktioniert, das zeigt der Fall ziehen, deshalb, weil die Sprecher über semantische Verfahren und Wissensbestände verfugen, die es ihnen erlauben, Zusammenhänge zwischen Verwendungsweisen zu sehen und aktuelle Verwendungen auf der Folie unterschiedlicher etablierter Verwendungsweisen zu deuten. Allgemein verfügbare Verfahren zu diesem Zweck sind die Orientierung an Kommunikationsprinzipien wie dem der Relevanz und die Anwendung Gricescher Ableitungsverfahren. Speziell für den Gebrauch von ziehen haben sich die folgenden semantischen Techniken als grundlegend herausgestellt:9 - die Fokussierung von Ereignisaspekten, -
die Verlagerung des Fokus, die Einführung neuer Aspekte, das Ausblenden von Aspekten, metaphorische Verwendung von Ausdrücken.
Beim Verfahren, einen Aspekt des Ereignistyps aus dem Fokus zu nehmen, ließen sich zwei Stufen unterscheiden: das implizite Voraussetzen eines Aspekts und das völlige Ausblenden des Aspekts. Die semantische Technik der Verlagerung des Fokus wird teilweise grammatisch realisiert durch elliptischen Gebrauch, durch die Einführung zusätzlicher Aktanten und durch Agensverschiebung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Valenzeigenschaften des Verbs in meiner Beschreibung eine wichtige Rolle spielen. Als grundlegende Wissensbestände werden verwendet - ich wiederhole aus Abschnitt 2:
Die Fokussierung, Verlagerung, Einführung und Ausblendung von Aspekten eines Ereignistyps könnte man als ein metonymisches Verfahren bezeichnen. Ich glaube aber, dass mit dieser Bezeichnung nicht viel gewonnen ist.
Extreme Polysemie - der Fall ziehen
49
(i)
stereotypes Wissen über eine Anzahl von grundlegenden Ereignistypen, die mit ziehen charakterisiert werden können, und deren Hauptaspekte, (ii) stereotypes Wissen über bestimmte Arten von Gegenstanden (bewegliche Gegenstände, elastische Gegenstände, flüchtige Gegenstände etc.).
Wenn diese Verfahren und Wissensbestände den Sprechern verfügbar sind, dann ist Polysemie, auch extreme Polysemie, nicht nur unproblematisch, sondern sogar funktional und ökonomisch. Diese Auffassung steht im Einklang mit Bröals Einsicht, dass für die Sprachbenutzer eine zusätzliche Verwendungsweise so viel leistet wie ein zusätzliches Wort.10
Brial, Michel: Essai de Semantique. Science des Significations. 7. Auflage. Paris 1924, S. 146.
Jochen Spielt Zur systematischen Darstellung von Quasisynonymengruppen, dargelegt anhand von FRIEDFERTIG1
In dem gemeinsamen Forschungsvorhaben .Semantik der Adjektive des Deutschen' ging es zunächst darum, einen Überblick über die synonymischen Beziehungen zwischen den knapp 16000 ermittelten Adjektivlesarten zu gewinnen.2 In einer ersten Grobgliederung ließen sie sich restlos 70 übergeordneten Bedeutungskategorien zuordnen, die wiederum unter übergreifenden Gesichtspunkten zu 13 Blöcken - angefangen von den ,Perzeptionsadjektiven' bis zu den .Übergreifenden Adjektiven' - zusammengefasst werden konnten. Die Untergliederung der jeweiligen 70 Großgruppen erfolgte durch Aufteilung in semantische Kleingruppen, den sog. Quasisynonymengruppen. Im entsprechenden Forschungsbericht ist als Beispiel eine dieser Gruppen, die auf der synonymischen Basis der ,im Sinne von'-Relation strukturiert sind, abgedruckt, und zwar aus der Großgruppe der Verhaltensadjektive die um die Orientierungslesart FRIEDFERTIG:3 (Synonymengruppe) FRIEDFERTIG
(Großgruppe) VERHALTEN
versöhnlich verständigungsbereit kompromißbereit
friedenswillig pazifistisch FRIEDFERTIG
versöhnlerisch kompromißlerisch
friedlich friedliebend verträglich
unkriegerisch
defensiv inoffensiv
Anders als im Beitrag von Werner Zillig Aggressiv und friedfertig" in der Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 60. Geburtstag (Der Gebrauch der Sprache. Hg. von Götz Hindelang, Eckard Roifund Werner Zillig. Münster 1995, S. 426-449) geht es hier nicht um die Verdichtung semasiologischer Dialoge zu einem „semantischen Essay", sondern um eine Darlegung einer systematischen, praktisch durchfuhrbaren Darstellungsweise. Auf eine Auseinandersetzung mit den dort vertretenen Ansichten wird daher bewusst verzichtet. Hundsnurscher, Franz; Spielt, Jochen: Semantik der Adjektive des Deutschen. Analyse der semantischen Relationen. Opladen 1982. (Forschungsberichte des Landes NordrheinWestfalen, Fachgruppe Geisteswissenschaften Nr. 3137) Hundsnurscher; Splett, 1982, S. 50.
52
Jochen Spien
Im Folgenden geht es nun darum, diese Darstellungsweise zu ergänzen und auszubauen, um so einen Beschreibungsrahmen vorzugeben, mit dem alle Quasisynonymengruppen erfasst und möglichst viele Informationen systematisch vermittelt werden. Andererseits ist im Auge zu behalten, dass dieser Vorschlag auch praktisch durchführbar sein muss. Zunächst ergab sich im Verlauf der gemeinsamen Arbeit, dass es sinnvoll ist, die Zahl der um eine Orientierungslesart angeordneten synonymen Lesarten eher zu reduzieren als zu vermehren. Dies gilt auch im vorliegenden Fall: die Lesarten versöhnlerisch und kompromisslerisch sind auszusondern und bilden mit nachgiebig zusammen eine eigene Kleingruppe. Außerdem ist die Lesart verträglich nicht direkt mit friedlich und friedliebend zusammenzustellen. Mit hinzugefügter Durchnummerierung ergibt sich folgende modifizierte Anordnung: Verhaltens-Adjektive / Orientierungslesart: FRIEDFERTIG versöhnlich (1) verständigungsbereit (2) kompromissbereit (3)
friedenswillig (10) pazifistisch (11) friedfertig (6)
defensiv (4) inoffensiv (5)
friedlich (7) friedliebend (8)
unkriegerisch (l2)
verträglich (9) Durch die Art der Anordnung um die Orientierungslesart sind erste Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede markiert. Die Lesarten (1), (2) und (3) rücken unter dem Aspekt der .Bereitschaft zum Ausgleich' näher zusammen, die Lesarten (4) und (5) unter dem Aspekt der fehlenden Aggressivität', die Lesarten (7) und (8) unter dem Aspekt der »harmonischen Verfasstheit' sowie die Lesarten (10) und (11) unter dem Aspekt eines »aktiven Eintretens für den Frieden'. Da es sich hier um eine Quasisynonymengruppe handelt, ist die synonymische Ersetzbarkeit durch entsprechende Austauschproben zu verdeutlichen. Dies geschieht gemäß dem pragmatischen Ansatz im Rahmen von Sätzen, die in exemplarischen Verwendungszusammenhängen gebräuchlich sind. Als solche zentralen Bereiche kommen im vorliegenden Fall die Sachgebiete .Friedenspolitik' und .Konfliktforschung' in Betracht. Außerdem ist die syntaktische Einbindung, also die attributive, die prädikative und die adverbiale Stellung zu berücksichtigen. Um ein möglichst breites Spektrum an Verwendungsweisen zu bieten, sind die unter b (prädikativ) und c (adverbial) aufgeführten Sätze nicht nur einfache syntaktische Umformungen, sondern auch inhaltliche Variationen der attributiven Sätze (a). Die Beispiele sind zudem so gewählt, dass sie einerseits nicht zu allgemeine und anderseits nicht zu spezielle Gebrauchsweisen betreffen. Das ist darin begründet, dass hier die Relation der Synonymic auf mittlerer
Zur systematischen Darstellung von Quasisynonymengruppen
53
Ebene der Lesarten dargelegt wird und nicht auf der Ebene der elementaren Bedeutungspositionen als den kleinsten Einheiten der semantischen Beschreibung. Ideal wäre es, wenn man die Beispielsätze aus sogenannt authentischen Texten auswählen wiirde. Mit Hilfe der hinzuzufügenden Quellenangaben wäre dann ein Rückgriff auf den weiteren Kontext möglich. Ob ein entsprechendes Korpus, das eine gewisse Homogenität erfordert, auf diese Weise erstellt werden kann, ist allerdings nicht nur unter arbeitsökonomischem Gesichtspunkt fraglich. I
II
III
IV
V
VI
VII
Vffl
IX
a) Er war trotz der vorangegangenen Auseinandersetzung zu einer versöhnlichen Aussprache bereit. b) Trotz schwerwiegender Meinungsverschiedenheiten ist er ihr gegenüber immer noch versöhnlich. c) Trotz der damaligen Trennung ging sie versöhnlich auf seine Annäherungsversuche ein. a) Die verständigungsbereite Außenpolitik zeigte erste Erfolge. b) Auf der Konferenz waren alle anwesenden Außenminister verständigungsbereit. c) Der Erfolg der Konferenz beruhte darauf, dass man sich verständigungsbereit gezeigt hatte. a) Gegen die Falken im Kabinett konnte sich der kompromissbereite Minister leider nicht durchsetzen. b) Der Minister war zwar kompromissbereit, konnte sich aber dennoch nicht durchsetzen. c) Der Misserfolg beruhte darauf, dass sich fast alle geweigert hatten, kompromissbereit zu verhandeln. a) Die Auseinandersetzung hatte nun endgültig ihren defensiven Charakter verloren. b) Die Auseinandersetzung war keineswegs nur defensiv. c) Er hatte vergeblich versucht, sich defensiv zu verhalten. a) Das inoffensive Spiel der Hamburger Stürmer brachte den Trainer in Rage. b) Das Spiel der Mannschaft war so inoffensiv, dass der Trainer schon frühzeitig auswechseln musste. c) Die Mannschaft spielte zum Leidwesen des Trainers mal wieder inoffensiv. a) Wenn sich doch die friedfertigen Menschen nicht so zurückhalten wurden! b) Wie bedauerlich ist doch die Zurückhaltung gerade der Menschen, tot friedfertig sind! c) Wie schön wäre es, wenn gerade die, die friedfertig gesinnt sind, größeren Einfluss hätten! a) Das friedliche Zusammenleben der früher verfeindeten Brüder hat viele überzeugt. b) Inzwischen sind die früher verfeindeten Brüder überraschenderweise./r;ei///cA. c) Seit kurzem leben die beiden verfeindeten Brüder zur Überraschung aller friedlich nebeneinander. a) Der Verlauf des Streits hat am Ende gezeigt, dass Otto doch ein friedliebender Mensch ist. b) Es stellte sich am Ende heraus, dass Otto im Grunde seines Herzens doch friedliebend ist. c) Abschließend war allen klar, dass sich Otto friedliebend verhalten hatte. a) Die angeblich verträglichen Geschwister zeigten nach der Auseinandersetzung ihren wahren Charakter. b) Die Geschwister waren nach diesem Vorfall nicht mehr so verträglich wie früher. c) Es gelang den Geschwistern nicht mehr, verträglich miteinander um zugehen.
54
Jochen Spielt X
a) Die friedenswilligen Bürger haben sich nun doch über ein gemeinsames Vorgehen verständigt. b) Die Bürger, die friedenswillig waren, verständigten sich darauf, nur gemeinsam etwas zu unternehmen. c) Die Bürger, die sich friedenswillig gezeigt hatten, schlössen ein gemeinsames Abkommen. XI a) Je mehr sich der Krieg ausweitete, desto stärker machten sich pazifistische Tendenzen bemerkbar. b) Falls sich der Krieg weiter in die Länge zieht, sind bald alle Beteiligten pazifistisch. c) Die Tendenz, sich pazifistisch zu verhalten, zeichnete sich immer deutlicher ab. XII a) Er war schon immer ein höchst unkriegerischer Mensch gewesen. b) In seinem Verhalten war er schon immer unkriegerisch. c) Er verhielt sich auch diesmal wieder unkriegerisch.
Im Folgenden werden die oben bestimmten Lesarten der Orientierungslesart FRIEDFERTIG (arabische Ziffern) systematisch an diesen Beispielsätzen (römische Ziffern) erprobt. Die Reihenfolge der Ergebnisdarstellung folgt den o. a. syntaktischen Stellungstypen (Tabellen a bis c). Die Ergebnisse der Austauschproben sind in den folgenden drei Tabellen in der Weise markiert: + = Ersetzung ist akzeptabel, +? = Ersetzung ist fraglich, -? = Ersetzung ist eher nicht akzeptabel, - = Ersetzung ist nicht akzeptabel.4 Tabelle a:
_9
III
_9
_9
_9
10
11
12
_9
_9
_9
_9
IV
_9
_9
_9
_9
_9
VI VII
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_9
_9
_9
_9
_9
_9
_9
VIII
IX
XI
_9
_9
XII
Vor allem die Problematik der Akzeptanz habe ich dankenswerterweise mit Peter-Paul König anhand der Beispiele erörtern können.
Zur systematischen Darstellung von Quasisynonymengruppen
55
Tabelle b: 10 _9
_9
_9
_9
III
11
12
-9
-9
+9
_9
11
12
_9 _9
_9
_9 _9
IV
_9
_9
+9
VI
+9
VII
+9
VIII
+9
IX
XI
+f
-9
_9
_9
+9
+9
XII
Tabelle c: 10 +9
+9
_9
+9
_9
_9
+9 _9
III
_9
IV
_9
+9
_9
VI VII
_9 _9
+9
+9
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_9
_9
_9
_9
_9
+9
VIII IX
_9 _9
XI XII
+9
+9
+9
56
Jochen Spleti
Die Entscheidung hinsichtlich der Ersetzbarkeit ist nun keineswegs so eindeutig, wie es die formalisierten Tabelleneinträge suggerieren könnten. Sie ist zunächst im Rahmen einer gewissen Schwankungsbreite vom individuellen Sprachgebrauch abhängig. Alle Versuche, diesen Faktor etwa durch Befragungen auszuschalten, sind meines Erachtens illusorisch. Sie verschieben nur das Problem, lösen es aber nicht. Statistische Mittelwerte helfen nicht weiter, zumal die mit dem Stichwort »Architektur der Sprache'5 erfassten Unterschiede im Sprachgebrauch so gerade nicht erhellt, sondern nivelliert werden. Hinzu kommt das grundsätzliche Problem der Texteinbettung. So ist beispielsweise der Satz VII a mit der Ersetzung von friedlich durch defensiv - „Das defensive Zusammenleben der früher verfeindeten Brüder hat viele überzeugt" - als .eher nicht akzeptabel' eingestuft. Wird diese Äußerung aber in einen spezielleren Kontext eingebettet, in dem es um defensive bzw. offensive Verhaltensweisen geht, und wird dieser Gegensatz vor allem mit diesen Lexemen ausgedrückt, so verliert er weitgehend seinen etwas befremdlichen Charakter. Oftmals ist im konkreten Fall die synonymische Verwendungsweise blockiert, da die Kombination mit dem entsprechenden Bezugswort nicht üblich ist. Die Äußerung „Er war trotz der vorangegangenen Auseinandersetzung zu einer friedliebenden Aussprache bereit" (Tabelle a: 1,8) ist wohl deswegen inakzeptabel, weil das WOrt friedliebend eine Personenbezeichnung als Kollokationspartner erfordert. In anderen Fällen ist zwar eine Ersetzung möglich, sie verändert aber die Satzbedeutung. Das gilt etwa für die Vertauschung von kompromissbereit mit verträglich in dem Beispielsatz „Gegen die Falken im Kabinett konnte sich der verträgliche Minister leider nicht durchsetzen" (Tabelle a: III, 9). Da verträglich primär im privaten Bereich zum Ausdruck friedfertiger Gesinnung verwendet wird, ist es zur Kennzeichnung eines auf Verständigung bedachten Politikers nicht geeignet. Die Äußerung wird daher so verstanden, dass dem Minister eine Eigenschaft zugesprochen wird, die ihn als friedlich im persönlichen Umgang mit anderen charakterisiert. Zugleich wird hier ein anderes Problem deutlich, nämlich das der Abgrenzung der vielfach sich überschneidenden Adjektive der beiden Großgruppen ,Verhaltensadjektive' und .Charakteradjektive'. Bestimmte Handlungen können eben auf Charakterzüge des Handelnden zurückgeführt und umgekehrt können sich bestimmte Charakterzüge in entsprechenden Handlungen zeigen. Wie schon das klassische Beispiel starker Raucher zeigt, ist eine Trennung der angesprochenen Bereiche durch den Hinweis auf die Kollokationspartner, die einmal ein Verhalten, eine Handlung, zum ändern eine Person bezeichnen, aber nicht möglich. Eine syntaktische Beschränkung auf eine der drei möglichen Stellungen ist hier in keinem Fall zu erkennen. Dies zeigt sich bei einer strikt syntaktischen Variation der Beispielsätze wie etwa den folgenden:
5
Coseriu, Eugenic: Probleme der strukturellen Semantik. 3. Auflage. Tübingen 1978, S. 38ff. (Tübinger Beiträge zur Linguistik 40)
Zur systematischen Darstellung von Quasisynonymengruppen
57
II
a) A: Die verständigungsbereite Außenpolitik zeigte erste Erfolge. B: Die Außenpolitik, die verständigungsbereit ist, zeigt erste Erfolge. C: Die Außenpolitik, die verständigungsbereit eingestellt ist, zeigt erste Erfolge. VIII a) A: Der Verlauf des Streits hat am Ende gezeigt, dass Otto doch ein friedliebender Mensch ist. B: Der Verlauf des Streits hat am Ende gezeigt, dass Otto doch ein Mensch ist, der
friedliebend ist. C: Der Verlauf des Streits hat am Ende gezeigt, dass Otto doch ein Mensch ist, der sich friedliebend verhält. Dem widerspricht auch nicht die unterschiedliche Akzeptanz der Austauschproben, die bei einem Vergleich der jeweils gleichen Positionen in den drei aufgeführten Tabellen festzustellen ist. Denn diese beruht ja darauf, dass die Beispielsätze zusätzlich nach Form und Inhalt variieren. Anhand der Einträge in den drei Tabellen zeigt sich auch die größere Nähe oder Ferne der einzelnen Lesarten zueinander. Die identischen Einträge in den senkrechten Spalten 2 und 3 aller drei Tabellen bestätigen die enge Synonymic von verständigungsbereit und kompromissbereit. Die Lesarten defensiv (Spalte 4) und inoffensiv (Spalte 5) stehen dagegen am Rande, wie an den zahlreichen negativen Kennzeichnungen abzulesen ist. Bei ihrem Gebrauch spielt häufig das Gegenwort offensiv eine wichtige Rolle. Ausdrücke wie offensive versus defensive Friedenspolitik zeigen, dass die Lesart ,defensiv im Sinne von friedfertig' nicht die vorherrschende ist. Bei inoffensiv kommt noch hinzu, dass dieses Wort überhaupt seltener gebraucht wird. Der Fremdwortcharakter im Sinne der Übernahme aus einer anderen Sprache spielt dabei allerdings keine Rolle, wie beispielsweise die Kernwörter aggressiv, autoritär, egoistisch und sensibel im Bereich der Verhaltensadjektive zeigen. Bekanntlich sind die Relationen Synonymie und Antonymie eng verflochten, so dass zwei Adjektive mal als Synonyme, mal als Antonyme verwendet werden können. Die synonymische Relation von friedliebend und pazifistisch - vgl. Position VIII, 11 - kann im Rahmen einer Diskussion durchaus zu einer antonymen werden, wenn man unter pazifistisch den strikten Verzicht auf Gewaltanwendung unter Ausschaltung der Schuldfrage versteht. Von einem Standpunkt aus, der sich auf das von Vegetius herleitende Sprichwort „Si vis pacem, para bellum" beruft, erscheint ein pazifistisches Verhalten gerade nicht als friedliebend. Insofern ist es sinnvoll, im Rahmen der Etablierung von Quasisynonymengruppen jeweils auf die zentralen Antonyme hinzuweisen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und der Arbeitsökonomie kann dies jeweils zusammenfassend für die als nähere Synonyme bezeichneten Gruppen geschehen: unversöhnlich (1-3); angriffslustig, aggressiv, offensiv (4, S); streitsüchtig (6); gewalttätig, streitbar (7, 8); unverträglich, zänkisch (9); kriegstreibend, kriegshetzerisch (10, 11); kriegerisch, militant (12).
Die zu (4, 5) und (12) genannten antonymen Lesarten sind in der Gruppe mit dem Kernadjektiv aggressiv aufgeführt, die allerdings in gleicher Weise noch zu überarbeiten wäre:
58
Jochen Spielt
Verhaltens-Adjektive / Orientierungslesart: AGGRESSIV6 militant (l) kriegerisch (2) kämpferisch (3) streitbar (4)
offensiv (5) aggressiv (6)
beißwütig (10) reißend (11)
angreiferisch (7) angriffslustig (8) angriffig (9)
bissig (12) giftig (13) scharf (14) säbelrasselnd (lS) eisenfresserisch (16)
Das Antonym streitbar hat zwei Lesarten, die unter den synonymischen Kleingruppen AGGRESSIV und ZÄNKISCH vermerkt sind. Die übrigen zentralen Antonyme sind unter AUFRÜHRERISCH (10, 11), GRAUSAM (7, 8), RACHSÜCHTIG (1-3), ZÄNKISCH (6, 9) zu finden. Ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger sind die sich unmittelbar anschließenden Quasisynonymengruppen im Bereich der Verhaltensadjektive. Es handelt sich dabei um die Gruppen ENTGEGENKOMMEND, FOLGSAM, GESITTET, GUTARTIG und GÜTIG. Hier stellt sich das Problem der Abgrenzung, des Ineinandergreifens und der Überlappung, das im Rahmen der Wortfeldforschung durch fortschreitende Modifizierung des Wortfeldbegriffs zu lösen versucht wurde und zu keinem überzeugenden Ergebnis geführt hat.7 Auch der strukturalistische Ansatz, der die Lexik in Analogie zur Phonologic als ein System von Knotenpunkten eines Netzes von Oppositionen zu erweisen versucht, hat diese Fragen nicht zu lösen vermocht. Wie Coseriu8 in seiner Lexematik gezeigt hat, bleiben nach den zahlreichen Abstraktionsschritten, die zur Gewinnung einer strukturierbaren Ebene der Sprache führen, am Ende nur die drei bekannten Oppositionsarten übrig. Von einem pragmatischen Standpunkt aus, der die lexikalischen Einheiten als spezifische sprachliche Mittel im Rahmen dialogischer Sprechhandlungen auffasst und unter dieser Perspektive zu ordnen versucht, reduziert sich das angesprochene Problem jedoch zum Problem einer adäquaten Darstellung der semantischen Beziehungen im Wortschatz; im vorliegenden Fall nochmals reduziert auf den Teilwortschatz der Adjektive und die synonymischen Beziehungen auf der Ebene der Lesarten. Diese Beziehungen in möglichst optimaler Form vor Augen zu führen, ist kein 6
8
Hundsnurscher; Spielt, 1982, S. 51. Vgl. Herbermann, Clemens-Peter: Felder und Wörter, in: Hoinkes, Ulrich (Hg.): Panorama der Lexikalischen Semantik. Thematische Festschrift aus Anlaß des 60. Geburtstags von Horst Geckeier. Tübingen 1995, S. 263-291. Coseriu, 1978, S. 53-73. Vgl. auch Kapitel IV (kurze Skizzierung einer strukturellen Wortfeldmethode nach E. Coseriu) in Geckeier, Horst: Zur Wortfelddiskussion. Untersuchungen zur Gliederung des Wortfeldes „alt - jung - neu" im heutigen Französisch. München 1971, S. 177-200. (Internationale Bibliothek für Allgemeine Linguistik)
Zur systematischen Darstellung von Quasisynonymengruppen
59
utopisches, wenn auch ein mühsames und nur in Etappen erreichbares Ziel. Bezogen auf die Gruppe FRIEDFERTIG zeigt sich die Nähe zur Gruppe GUTARTIG u.a. an den jeweiligen Lesarten vonfriedlich:
Verhaltens-Adjektive / Orientierungslesart: GUTARTIG bieder (l) biedermännisch (2) biedersinnig (3)
sanft (11) sanftmütig (12) gutartig (13)
kreuzbrav (4) brav (5) lieb (6) artig (7)
leutselig (17) jovial (18) gemütlich (19) umgänglich (20)
gutmütig (l4) gutwillig (l5) friedlich (16)
ungefährlich (8) harmlos (9) unschuldig (10) Die beiden Lesarten unterscheiden sich auf dieser Ebene der Beschreibung durch die ,im Sinne von'-Relation -friedlich im Sinne von friedfertig bzw. im Sinne von gutartig. Auf einer weniger spezifischen Ebene, in der dieser Gegensatz nicht fokussiert ist, können die hier durch die Zuordnung zu verschiedenen Orientierungslesarten als different aufgezeigten Verwendungsweisen zusammenfallen. Da diese Ebenen unterschiedlich spezifizierten Wortgebrauchs bei allen Wörtern bzw. bei den Lesarten aller Wörter nicht in derselben Weise anzutreffen sind, ist das Ideal einer homogenen horizontalen ,Wortdecke' eine Vorstellung, die mit der tatsächlichen Wortverwendung nicht im Einklang steht. Auch ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Wahl der jeweiligen Orientierungslesart einen Einfluss auf die Darstellung hat. Auf den ersten Blick könnte z. B. die Entscheidung, friedfertig und nicht das geläufigere friedlich als Orientierungslesart auszuwählen, als unpassend erscheinen, weil die Verwendung dieses Wortes auf eine gehobene Ausdrucksweise beschränkt ist. Ausschlaggebend war aber, dass friedlich zu polysem ist und daher die erforderliche Eindeutigkeit der ,im Sinne von'-Relation nicht gewährleistet gewesen wäre. Als Fazit dieser Überlegungen ergibt sich, dass über die flächig um die Orientierungslesart angeordneten Quasisynonyme hinaus folgende Angaben erforderlich sind: -
Zentrale Antonyme (bezogen jeweils auf die Gruppen der näheren Synonyme), Anschluß-Quasisynonymengruppen, Zentrale Bereiche (des Gebrauchs), Exemplarische Verwendungsweisen (jeweils eine Äußerung in Satzform für jede Lesart, möglicherweise jeweils für jede der drei syntaktischen Positionen), Synonymische Ersetzbarkeit (in Tabellenform auf der Grundlage der .Exemplarischen Verwendungsweisen'),
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Jochen Spielt -
Syntaktische Einschränkungen,
-
Besonderheiten (einzelner Lesarten hinsichtlich stilistischer Ebene und Häufigkeit der Verwendung).
Auf diese Weise ist eine adäquate Darstellung einer an die Wortfeldforschung anknüpfenden, der notwendigen pragmatischen Fundierung Rechnung tragenden Strukturierung eines Teilwortschatzes möglich. Die entsprechenden Analysen sind ja im Rahmen des Projektes .Semantik der Adjektive des Deutschen' bereits durchgeführt worden. Mögen Sie, lieber Herr Kollege Hundsnurscher, diese kurzen Hinweise und Überlegungen, die aus der jahrelangen gemeinsamen Arbeit am Adjektivprojekt erwachsen sind, als einen willkommenen Festtagsgruß entgegennehmen, verbunden mit der Hoffnung auf einen auch in Zukunft nicht abreißenden wissenschaftlichen Dialog.
Götz Hindelang
Die Bedeutung von schwarz kann man nicht erraten1
Hundsnurscher (1993: 247) formuliert die Aufgaben einer lexikalischen Semantik wie folgt: ,AIs vordringliche wortsemantische Aufgaben erscheinen mir daher detaillierte Beschreibungsbemühungen am empirischen Material [...]: 1. die zuverlässige Erfassung von Gebrauchsweisen von Wörtern und Äußerungsform unter Verzicht auf eine Merkmalsorientierung 2. eine theoretisch aufschlußreiche oder sonst irgendwie zweckmäßige Anordnung, vielleicht sogar systematische Gliederung der Gebrauchsweisen 3. die Explikation des Zusammenhangs der Gebrauchsweisen."
Im folgenden möchte ich skizzieren, wie ich mir vorstelle, daß man diese Aufgaben angehen könnte. Auf der Grundlage eines umfangreichen Korpus soll untersucht werden, welche Gebrauchsweisen von schwarz sich unterscheiden lassen.3 Methodisch wird dabei der Versuch gemacht, die einzelnen Gebrauchsweisen als in Sprachspiele eingebettete sprachliche Handlungsmuster zu verstehen. Skizzenhaft ist die Darstellung sowohl, was die Entfaltung der methodischen Voraussetzungen angeht, als auch, was die Möglichkeit betrifft, die Zuordnung konkreter Vorkommen von schwarz zu den einzelnen Sprachspielen im Detail zu begründen und transparent zu machen.
1. Empirische Grundlagen Ausgangspunkt der Untersuchung war das öffentlich im Internet zugängliche Textkorpus ,public' des IDS, das ca. 62 Millionen Textwörter enthält.4 Das Korpus besteht u. a. aus Pressetexten (Mannheimer Morgen, DIE ZEIT, BildDer Titel dieses Beitrags spielt an auf folgende Stelle aus Wittgensteins .Philosophischen Untersuchungen': „Wie ein Wort funktioniert, kann man nicht erraten. Man muß sich seine Anwendung ansehen und daraus lernen." (PU 340, zit. nach: Wittgenstein, Ludwig: Schriften 1. Frankfurt a. M. 1969, S. 414) Hundsnurscher hat diese Stelle an verschiedenen Stellen in seinen Arbeiten zitiert. Hundsnurscher, Franz: Die ,Lesart* als Element der semantischen Beschreibung, in: Lutzeier, Peter (Hg.): Studien zur Wortfeldtheorie. Tübingen 1993, S. 239-249. Zur Beschreibung von schwarz vgl. Hundsnurscher, Franz; Splett, Jochen: Semantik der Adjektive des Deutschen. Opladen 1982 (zu schwarz S. 26-30); Herbermann, ClemensPeter: Gebrauchsvielfalt, Mehrdeutigkeit und Bedeutungszusammenhang bei lexikalischen Einheiten, in: Hindelang, Götz; Rolf, Eckard; Zillig, Werner (Hgg.): Der Gebrauch der Sprache. Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 60. Geburtstag. Münster 1995, S. 147175(zujdwarzS. 151-156). Die Internetadresse lautet: http://corpora.ids-mannheim.de/~cosmas/.
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Götz Hindelang
Zeitung), literarischen Texten (Grass, Frisch, Böll, Goethe etc.), Trivialromanen und populärwissenschaftlichen Werken. Untersucht wurden hier ca. 3400 Vorkommen der verschiedenen Wortformen von schwarz*5: schwarz, schwarzer, schwarzen, schwarzem, schwarzes, schwarze, schwärzer, schwärzesten. Nicht einbezogen wurden Zusammensetzungen wie schwarz-afrikanisch, schwarz-blau, schwarz-rot-gold, schwarz-metalic, schwarzäugig, schwarzßgurig, schwarzbewimpell, schwarzgelockt, schwarzgeblümt usw. Verwendungen von schwarz* als Teil von Namen oder von Titeln von Büchern, Filmen oder Theaterstücken wurden ebenfalls nicht in die Analyse einbezogen. Bei bestimmten feststehenden Ausdrücken wie Schwarze Magie, Schwarze Listen, Schwarzer Peter wurden wegen der uneinheitlichen Orthographie im Korpus sowohl die Formen in Großschreibung als auch die zum Zeitpunkt der Abfassung der Texte nicht korrekte Kleinschreibung berücksichtigt, da sie weitaus häufiger vorkam, als zu erwarten war.
2. Methodische Überlegungen: Gebrauchstheorie der Bedeutung und semasiologische Analyse Die Gebrauchstheorie der Bedeutung, wie sie Wittgenstein in den ,Philosophischen Untersuchungen' entwickelt hat, ist eine radikale Alternative zu den Konzeptionen sowohl der traditionellen vorstrukturalistischen Bedeutungslehre als auch zu den gesamten Bemühungen der struktureilen Semantik. Eine gebrauchstheoretische Bedeutungskonzeption erlaubt keinen Zeichenbegriff mit Ausdrucks- und Inhaltsseite. Dabei ist es unbedeutend, ob die ,Inhaltsseite' mentalistisch mit Vorstellungen oder Begriffen in Beziehungen gebracht wird oder ob sie durch ihre Stellung im System der ,langue' erfaßt werden soll. Nach Wittgensteins Sprachauffassung führt jedes Reden von der Bedeutung von Worten nur zu einer ,Vernebelung' der Möglichkeit, das Funktionieren der Sprache zu verstehen.6 Das Verfahren einer semasiologischen Analyse besteht herkömmlicherweise darin, daß man die ,Ausdrucksseite' eines sprachlichen Zeichens in den Blick nimmt und die Frage zu beantworten sucht, wieviel und welche Bedeutungen dieser ,Ausdrucksseite' zugeordnet werden können. Dieses Vorgehen läßt sich jedoch bei einer gebrauchstheoretisch fundierten Semantik nicht ohne weiteres Die Schreibweise .schwarz*' bedeutet: .Alle Wortformen von schwarz". Die Gesamtzahl der Belege der oben genannten Wortformen im .public'-Korpus beläuft sich auf ca. 7000. Daß nur ca. 3SOO untersucht wurden, hat hauptsächlich zwei Gründe: 1) ein beträchtlicher Teil der Beispiele, die angezeigt werden, sind Zusammensetzungen mit Bindestrich wie schwarz-rot; solche Verwendungen wurden hier nicht berücksichtigt. 2) Das Computerprogramm COSMAS des IDS zeigt höchstens 999 Belege pro Anfrage an. So konnte also z.B. bei schwarze, das im puplic-Korpus laut COSMAS 1940 mal vorkommt, nur knapp die Hälfte der Belege gesichtet werden. Vgl. Wittgenstein, 1969, S. 219 (PU 5).
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anwenden, da die Aufteilung in Ausdrucks- und Inhaltsseite bei dieser Methode nicht möglich ist. Die Frage nach der Bedeutung von Wörtern wird bei Wittgenstein ersetzt durch die Analyse ihrer Rolle in Sprachspielen. Die Entsprechung der traditionellen semasiologischen Fragestellung in einem gebrauchstheoretischen Kontext müßte deshalb etwa wie folgt formuliert werden: „Nenne mir die Sprachspiele, in denen eine bestimmte Äußerungsform bzw. ein bestimmtes interessantes lexikalisches Element L dieser Äußerungsform vorkommt." Das Problem einer solchen methodischen Anleitung besteht nun natürlich darin, daß man keinen Überblick über die Sprachspiele hat, die zu einer bestimmten Lebensform gehören. Eine konsequente gebrauchstheoretische Herangehensweise an die Probleme der lexikalischen Semantik müßte m. E. deshalb wie folgt aussehen: In einer ersten Phase bemüht man sich ausschließlich darum, einen Überblick über die Sprachspiele zu gewinnen, die in einer Lebensform relevant sind. Diese Darstellung müßte die systematische Beschreibung der Äußerungsformen, die in diesen Sprachspielen vorkommen, mit einbeziehen. In einem zweiten Schritt erst könnte man dann diese Äußerungsformen daraufhin untersuchen, ob sie ein bestimmtes lexikalisches Element L enthalten. Die semasiologische Fragestellung könnte in diesem methodischen Kontext nun dadurch gelöst werden, daß man alle Sprachspiele zusammenstellt, in denen L vorkommt. Die vorliegende Analyse kann nicht den Anspruch erheben, die Beschreibung der Gebrauchsweisen von schwarz aus einer Übersicht aller wichtigen Sprachspiele ableiten zu können, die zuvor unabhängig erarbeitet wurde. Die folgende Darstellung versucht jedoch, bei der Gliederung der Gebrauchsweisen den Sprachspielaspekt in den Vordergrund zu rücken. Statt von schwarz als ,Farbadjektiv', ,Geltungsadjektiv' oder ,Institutionsadjektiv' zu sprechen, sollen die Sprachspiele genannt werden, in denen schwarz häufig gebraucht wird, z. B. die Verwendung von schwarz in Personenbeschreibungen, beim Reden über die Legalität oder Zulässigkeit von bestimmten Praktiken oder beim Reden über die Zugehörigkeit zu politischen Gruppierungen usw.
3. Der Zusammenhang von Gebrauchsweisen Innerhalb des oben skizzierten methodischen Konzepts läßt sich auch die Frage nach dem Zusammenhang einzelner Gebrauchsweisen neu stellen und beantworten. Zunächst würde man bei der Darstellung von Zusammenhängen an die Explikation von historischen Abstammungsverhältnissen denken oder an den Zusammenhang, den zwei Gebrauchsweisen eines Wortes aufgrund ihrer jeweiligen Stellung in einem Begriffssystem oder einem .Wortfeld' haben.7 Für eine am Sprachspiel orientierte Beschreibung bietet es sich an, den Zusammenhang Vgl. z.B. die Analyse des historischen Zusammenhangs der Gebrauchsweisen von grün in Hundsnurscher, Franz: Über den Zusammenhang des Gebrauchs der Wörter. Eine methodologische Untersuchung anhand des deutschen Adjektivs GRÜN, in: Poetica 28 (1988), S. 75-103.
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zwischen Gebrauchsweisen von Wörtern als Handlungszusammenhang zu deuten. Dabei kann man auf die Ergebnisse der analytischen Handlungstheorie aufbauen und insbesondere auf die ,indem-Relation' zur Charakterisierung von Handlungszusammenhängen zurückgreifen.8 So kann man z. B. einen Gebrauchtwagen öffentlich zum Verkauf anbieten, indem man eine Kleinanzeige aufgibt, indem man einen Text formuliert, indem man die Eigenschaften des Gebrauchtwagens und die Preisvorstellung angibt, indem man entsprechende Äußerungsformen aufschreibt (und diese dann einer Zeitung zum Druck übergibt). Das Ergebnis solcher Handlungen kann dann wie folgt aussehen: (1) Porsche 911 Bj. 67, 30000 km, grün, KL-Sitze schwarz, Halogen-Scheinwerfer, Stabilisatoren etc., 13000,- DM inkl. MwSt. Zuschr. unt. y+ Chiffre+y .
Die Teilhandlung [Eigenschaften eines Autos angeben] wird unter anderem dadurch vollzogen, daß man sagt, welche Farbe das Auto hat, welche Art von Sitzen das Auto hat, welche Farbe diese Sitze haben usw. In diesem textuellen Handlungszusammenhang spielt also die Teilhandlung [sagen, welche Farbe X hat] eine wichtige Rolle. (2) Die Zypressen [...] waren schwärzer als das Laubgewölk der Kastanien. Aber die Straße war weiß von Mondlicht überflutet. (Andersch, Alfred: Die Kirschen der Freiheit. Zürich 1971, S. 59)
Die Gebrauchsweise von schwarz in (2) unterscheidet sich von der in (1) u. a. dadurch, daß man nicht sagen würde: ,die Farbe der Zypresse war schwarz'. In (2) ist nicht von den Farben der Dinge die Rede, sondern von Lichtverhältnissen. Im Gegensatz zu (1) wird hier also nicht die Teilhandlung [sagen, welche Farbe X hat] vollzogen. Trotzdem besteht ein bestimmter Zusammenhang zwischen dem Gebrauch von schwarz in (1) und (2). Der Zusammenhang besteht darin, daß in beiden Fällen davon geredet wird, wie etwas aussieht. In (1) können wir den Handlungszusammenhang durch (3) beschreiben, in (2) durch (4). (3) [Eigenschaften eines Gegenstands charakterisieren] indem [sagen wie X aussieht] indem [sagen, welche Farbe X hat] indem [„... schwarz* ..." sagen] (4) [Lichtverhaltnisse charakterisieren] indem [sagen, wie X aussieht] indem [„... schwarz* ..."sagen]
Hier wird der Zusammenhang zwischen den beiden Gebrauchsweisen also nicht über historische Bezüge hergestellt oder durch Zuordnung zu bestimmten Adjektivgruppen (,Farbadjektive' vs. ,Helligkeitsadjektive') erklärt, sondern es wird hervorgehoben, daß man in beiden Fällen darüber spricht, wie etwas aussieht. Das ist z. B. in (5) nicht der Fall. (5) Zehntausende von schwarzen Südafrikanern sind am Wochenende dem Aufruf der Befreiungsbewegung Afrikanischer Nationalkongreß (ANC) gefolgt [...]. (Mannheimer Morgen, 08.04.1991)
Vgl. Goldman, Alvin 1.: A theory of human action. Engelwood Cliffs 1970; Heringer, Hans Jürgen: Praktische Semantik. Stuttgart 1974.
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In diesem Verwendungszusammenhang bezieht man sich nicht auf das Aussehen der Südafrikaner, sondern auf ihre Rassenzugehörigkeit. Noch deutlicher wird das, wenn man Beispiele wie (6) betrachtet. (6) [...] in den späten sechziger Jahren entschloß Pretoria sich, in gewissen schwarzen Townships jegliche Neubauten zu verbieten [...]. (DIE ZEIT, 06.09.85)
Hier ist nicht vom Aussehen von Townships die Rede, sondern von der Rasse der Menschen, die dort leben. Für (5) und (6) könnte (7) als Beschreibung des Handlungszusammenhangs gegeben werden: (7) [über die Zuordnung von Menschen und Kulturphänomenen zu bestimmten Rassen reden] indem [„... schwarz* ..." sagen]
Im Zusammenhang der hier vorgeschlagenen Methode lassen sich auch Fragestellungen behandeln, die man traditionell einer onomasiologischen Perspektive zuordnen würde. So kann man z. B. das Sprachspiel [über die Sauberkeit von X reden] (vgl. 4.3 unten) nicht nur machen, indem man sagt, wie X aussieht, man kann auch über Sauberkeit von X reden, indem man sagt, wie X riecht, oder indem man sagt, wann X das letzte mal gereinigt wurde. Innerhalb dieses Sprachspiels können Ausdrücke wie stinken, riechen, muffeln funktional äquivalent sein mit Ausdrücken wie X ist schon zwei Monate nicht mehr gewaschen worden, X wurde noch nie gereinigt, X hat das letzte mal vor drei Wochen geduscht, gebadet etc. Hier wären auch die Zusammenhänge einzuordnen, die die .Wortfeldtheorie' zu ihrem zentralen Gegenstand gemacht hat. Will man das Sprachspiel [über die Sauberkeit von X reden] vollständig darstellen, wird man bei der Explikation des Handlungszusammenhangs [über die Sauberkeit von X reden] indem [sagen, wie X aussieht] Äußerungsformen wie die in (8) und (9) erfassen müssen. (8) X ist {fleckig, speckig, dreckig, schmutzig, verdreckt, verschmiert, unrein, schwarz, beschmutzt, unsauber, besudelt, versaut, etc.} (9) X ist {sauber, fleckenlos, rein, frisch, reinlich, geputzt, gereinigt etc.}
4. Sprachspiele, in denen schwarz gebraucht wird Insgesamt wurden 17 Sprachspiele und damit 17 verschiedene Gebrauchsweisen von schwarz unterschieden.
4.1. Ein ObjektXcharakterisieren (Gesamthäufigkeit: 691 = 19,69%) a) Handlungsstrukturen: l) [ein Objekt X charakterisieren] indem [sagen, wie X aussieht] indem [sagen, welche Farbe X hat] indem [„... schwarz* ..." sagen]
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Götz Hindelang 2) [ein Objekt X charakterisieren] indem [sagen, wie X aussieht] indem [sagen, welche Färbung X hat] indem [„... schwarz* ..." sagen] 3) [ein Objekt X charakterisieren] indem [sagen, wie X aussieht] indem [sagen, welche Farbgestaltung durch Farbauftrag oder Färbung X hat] indem [„... schwarz* ..." sagen] 4) [ein Objekt X charakterisieren] indem [sagen, wie X aussieht] indem [sagen, welche Farbgestaltung durch Textilmaterialien X hat] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Häufigkeiten nach Kollokationen bzw. nach Klassen der Objekte, die als schwarz bezeichnet wurden. 1.1) Gegenstände charakterisieren: Fahne* (14)10, Leder* (12), Tafel* (11), Mercedes (10), Samt (9) (insgesamt: 264) 1.2) Graphische Formen charakterisieren: Linie* (20), Grund (14), Lettern (8), Schrift* (8) (insgesamt: 171) 1.3) Künstlerische Objekte charakterisieren: Bühne (8), Bild (2), Pelikan, Bühnenbild (insgesamt: 43) 2.1) Tiere charakterisieren: Katze* (18), Pferd* (11), Hund* (5), Vogel* (5) (insgesamt: 94) 2.2) Substanzen charakterisieren: Erde (5), Granit (4), Stuhl (= Kot) (3), Stein (2), Dreck (2) (insgesamt: 31) 2.3) Pflanzen und Pflanzenteile charakterisieren: Rosen (2), Stielen, schwarz gefleckte Blätter 2.4) Dispersionen in Luft charakterisieren: Rauchwolke (10), Wolke* (7), Rauch (6), Qualm (5), Qualmwolken (3), Gewölk, Wolkenbänke (insgesamt: 42) 3) gefärbt (5), bemalt (5), angestrichen (4), lackiert (3), eingefärbt (2), streichen* (2), mit Ruß schwarz gemacht (2), bepinselt, beschichtet, glasiert (insgesamt: 34) 4) ausgeschlagen (4), ausgehängt (2), verhängt (2), bespannt, verhüllt (insgesamt: 11)
4.2. Eine Person X beschreiben (Gesamthäufigkeit: 744 = 21,20%) a) Handlungsstrukturen: 1) [eine Person X beschreiben] indem [sagen, wie X aussieht] indem [ein Kleidungsstück K von X charakterisieren] indem [sagen, welche Farbe K hat] indem [„... schwarz* ..." sagen] 2) [eine Person X beschreiben] indem [sagen, wie X aussieht] indem [sagen, welche Farbe X hat] / [in welcher Farbe X gekleidet ist] indem [„... schwarz* ..." sagen] 3) [eine Person X beschreiben] indem [sagen, wie X aussieht] indem [sagen, welche Körpermerkmale X hat] indem [sagen, welche Färbung Augen/Haare/Haut von X haben] indem [„... schwarz* ..." sagen]
10
Bei [sagen, welche Farbe X hat] sind alle Farben möglich. So kommen z.B. beim Reden über Kleider u.a. folgende Ausdrücke häufig vor: grau, weiß, schwarz, dunkelblau, grün, braun, weiß, rot, rosa, blau, gelb etc. Bei [sagen, welche Färbungen X hat] sind je nach Art die unterschiedlichen natürlichen Erscheinungsformen zu nennen, z.B. bei Pferden: schwarz, weiß, braun, falb. Diese Angabe besagt, daß die Wortformen Fahne bzw. Fahnen in den hier ausgewerteten Texten vierzehn Mal mit schwarz* vorkommen. Lexeme ohne Angabe der Häufigkeit kommen in dem Korpus einmal im Zusammenhang mit schwarz vor.
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b) Kollokationen: 1)
Lederjacke* (48), Anzug* (42), Hose* (34), Jeans (24), Mantel* (19), Schuhe* (13), Rock* (12), Kleid*(12), Bomberjacke* (10), Jacke* (10), Kleidung (9), T-Shirt (6) (insgesamt: 430) 2.1) [sagen, welche Farbe X hat]: Reiter (11), Männchen (9), Ritter (8), Gestalten (3) (insgesamt: 31) 2.2) [sagen in welcher Farbe X gekleidet ist]: gekleidet (25), gewandet, eingekleidet, bekleidet, geht schwarz (2), kleidet sich schwarz (insgesamt: 37) 3) Haar* (169) Augenbrauen (5), Bart (5), Augen (28) Haut (5), Hautfarbe (4) (insgesamt: 242)
4.3. Über die Sauberkeit eines Objekts Xreden (Gesamthäufigkeit: 8 = 0,23%) a) Handlungsstruktur: [über die Sauberkeit eines Objekts X reden] indem [sagen, wie X aussieht] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Beispiele: „Hier hängen schwarze Wäsche und andere schmutzige Wäschestücke auf Stangen [...]." (DIE ZEIT, 08.02.85) „[...] der Barfüßler schaut auf seine schwarz gefleckten Zehen [...]." (Sachlicher Zusammenhang: Die Zehen sind vom Teer im Wasser schmutzig geworden) (Mannheimer Morgen, 06.07.85)
4.4. Über Sorten/Varianten eines Warentyps X reden (Gesamthäufigkeit: 37 = 1,05%) a) Handlungsstruktur: [über Sorten/Varianten eines Warentyps X reden] indem [sagen, wie X aussieht] indem [sagen, welche Färbung X hat] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Kollokationen: Pfeffer (9), Kaffee (5), Johannisbeere (4), Tee (4), Brot (3), Zigarillo (2), Johannisbeersaft, Senf, Kaviar
4.5. Über die Degeneration von Lebendigem reden (Gesamthäufigkeit: 8 = 0,23%) a) Handlungsstruktur: [über die Degeneration von Lebendigem reden] indem [sagen, wie X aussieht] indem [sagen, welche (Verfärbung X hat] indem [„... schwarz* ..." sagen]
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b) Häufigkeiten: 1) bei Erkrankung von Pflanzen (4) „Typisch sind schnei l welkende Triebspitzen, die verbräunen und schwarz werden." (Mannheimer Morgen, 06.05.1989) 2) bei menschlicher Krankheit (4) „Ich sah die Zehen seines rechten Fußes vom Brand schwarz werden [...]." (Andersch, Alfred: Die Kirschen der Freiheit. Zürich 1971, S. 16)
4.6. Über Lichtverhältnisse bezüglich X reden (Gesamthäufigkeit: 46 = 1,31%) a) Handlungsstruktur.· [über Lichtverhältnisse bezüglich X reden] indem [sagen, wie X aussieht] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Kollokationen: Loch (10), Schatten (9), Nacht (3),.Nichts (3), Dunkel, Kerker, Wald „[...] nach 13 Uhr wurde der Himmel über Heidelberg so schwarz, daß in den Häusern und auf den Straßen die Lichter angingen." (Mannheimer Morgen, 24.07.1995)
4.7. Über graphische Materialien und Instrumente X reden (Gesamthäufigkeit: 56 = 1,59%) a) Handlungsstruktur: [über graphische Materialien und Instrumente X reden] indem [ sagen wie X aussieht bzw. welche Farbveränderung X hervorruft] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Kollokationen: Farbe (= Material zum Färben oder Malen) (20), Kreide (8), Tinte (6), Filzstift (3), AcrylFarbe (2), Tusche, Lack, Fettstift, Faserstift, Schminke
4.8. Über Farbe allgemein reden (Gesamthäufigkeit: 8 = 0,23%) a) Charakteristische Handlungen: z. B. [sagen, welche Farben/Farbtöne es gibt] indem [„... schwarz* ..." sagen]; [sagen, was Farben bedeuten] indem [„... schwarz* ..." sagen]; [Farben bewerten] indem [„... schwarz* ..." sagen] Entscheidend für diesen Gebrauch ist, daß nicht auf Gegenstände referiert wird, von denen prädiziert wird, daß sie schwarz sind. Vielmehr bezieht man sich auf die Farbe als solche. In der Regel wird bei diesen Sprachspielen die substantivierte Form ,(die Farbe) Schwarz" verwendet. Bei den folgenden Beispielen ist die Deutung als Adjektiv trotz der Kleinschreibung nicht unproblematisch.
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b) Beispiele: „Gleich den Elementen nimmt er [Empedokles] viere derselben [Farben] an: weiß, schwarz, rot, gelb." (Goethe, Johann Wolfgang: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, in: Hamburger Ausgabe, Bd. 14, S. 16) „Bremer Gastwirtin: unsere Farben sind schwarz, dunkelblau und grün." (Bild-Zeitung, 31.03.1967).
4.9. Über Spiele und Spielverläufe reden (Gesamthäufigkeit:
156 = 4,44%)
a) Handlungsstruktur: [sagen, welche Spielelementevorkommen] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Kollokationen: Farbe* (beim Skat) (131), Lusche*(9), Karte*(8), Buben (5), (schwarz beim Roulett) (2) Beispiel: „Vorhand führt in einer schwarzen Farbe (fünf Karten) 15 und in einer roten Farbe 14 Augen [...]." (Mannheimer Morgen, 27.05.1989)
4.10. Zuordnung von Menschen und Kulturphänomenen zu Rassen vornehmen (Gesamthäufigkeit: 346 = 9,86%) a) Handlungsstrukturen: 1) [eine Person X der negriden Rasse zuordnen] indem [ „... schwarz* ..." sagen] 2) [ein soziales/kulturelles Phänomen Angehörigen der negriden Rasse zuordnen] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Kollokationen: 1) Mann* (17), Südafrikaner (15), Amerikaner (6), Polizist (6), Sklave*(4), Pianist (4), Künstler (4), Afrikaner (3), Musiker (3) (insgesamt: 183) 2) Bevölkerung (24), Mehrheit (20), Bevölkerungsmehrheit (12), Townships (10), Familien (4), Theater (2), Wohnviertel, Kunst, Blues, Epos (insgesamt: 163)
4.11. Über die Legalität und offizielle Zulässigkeit von Praktiken reden (Gesamthäufigkeit: 90 = 2,56%) a) Handlungsstruktur: [sagen, daß etwas nicht legal oder offiziell zulässig ist] indem [„... schwarz* ..." sagen]
Wie schon oben ausgeführt, wird nicht davon ausgegangen, daß die Handlungsstruktur wie folgt aussieht: [ein X der negriden Rasse zuordnen] indem [sagen wie X aussieht] indem [ schwarz* ..." sagen]. Das heißt natürlich nicht, daß es nicht auch Fälle gibt, in denen eine Person X beschrieben wird, indem man sagt, wie sie aussieht, indem man sie als schwarz bezeichnet. Hier liegt aber dann die Handlungsstruktur 4.2, 3) vor.
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b) Kollokationen: Kollokation mit Nomina: Kasse* (22), Markt (20), Geld (2), Konto (2), Kurs, Handel, Währung (insgesamt: 52) Kollokation mit Verben: arbeiten (18), fahren (4), beschaffen, bekommen, kaufen, erwerben, verkaufen, tauschen, mitnehmen, verdienen, herstellen, hochziehen, schlachten, ausbauen, ausführen etc. (insgesamt: 38)
4.12. Über die Zugehörigkeit bestimmter Phänomene zum Bereich des Diabolischen urteilen (Gesamthäufigkeit: 35 = 0,1%) a) Handlungsstruktur: [etwas dem Bereich des Diabolischen zuordnen] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Kollokationen: Kleinschreibung schwarz*: Magie (8), Kunst (3), Messe (2), Teufel (2), Heer (2), Hex, Hölle, Großschreibung Schwarz": Magie (l 1), Messe (4), Kunst
4.13. Über ein literarisch-ästhetisches Phänomen reden (Gesamthäufigkeit: 66 = 1,89%) a) Handlungsstruktur: [über ein literarisch-ästhetisches Phänomen X reden] indem [über thematische Aspekte von X reden und/oder über die psychologische Wirkung von X reden] indem [das Thema von X/die psychologische Wirkung von X als makaber und schauerlich charakterisieren] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Kollokationen: Humor (39), Komödie* (18), Stück (2), Moritat, Buch, Märchen, Nachwort, Romantik
4.14. Über Stimmungen und Erwartungen reden (Gesamthäufigkeit: 106=- 3,02%) a) Handlungsstrukturen: 1) [eine Stimmung als negativ und depressiv charakterisieren] indem [„... schwarz* ..." sagen] 2) [eine negative/pessimistische Erwartung ausdrücken] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Kollokationen: 1) Loch (= Stimmungstief) (5), Stimmung (2) (insgesamt: 12) „[...] ein dauernder bohrender Schmerz, in meiner Seele war's schwärzer denn je [...]." (Böll, Heinrich: Ansichten eines Clowns, Köln/Berlin 1963, S. 222) „[Es ist zu beobachten, daß] manche Kranke abends hoffnungsvoll einschlummern, um dann morgens mit den schwärzesten Gedanken und Gefühlen aufzuwachen." (Mannheimer Morgen, 04.09.87)
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2) sehen* (72), malen* (11), Loch (= Versorgungslücke) (3) (insgesamt: 94) „[...] die Zukunft, die ich da vor Augen hatte, ist so schwarz, daß ich nicht mehr weiterschreiben konnte." (DIE ZEIT, 07.11.86)
4.15. Über moralische Aspekte von Handlungen reden (Gesamthäufigkeit: 11 = 0,31%) a) Handlungsstruktur·. [Über moralische Aspekte einer Handlung X reden] indem [X als böse oder unmoralisch bewerten] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Beispiele: .„Meine Wege waren nicht weiß, nicht schwarz. Sie waren grau', hat Vogel vor Gericht eingeräumt." (Mannheimer Morgen, 10.01.1996) „Wenn sie doch wenigstens, statt schwarz in weiß zu verwandeln, die Schuldfrage beiseite gelassen hätten." (DIE ZEIT, 15.08.86)
4.16. Über unheilvolle Tage/Zeiten/Ereignisse reden (Gesamthäufigkeit: 89 = 2,54%) a) Handlungsstruktur: [über unheilvolle Tage/Zeiten reden] indem [„... schwarz* ...." sagen]
b) Kollokationen: Tag (35), Montag (19), Serie (= Folge von Niederlagen) (11), Freitag (10), Stunde (3), Mittwoch, Jahrestag, Jahr, Jahresauftakt, Datum, Augenblicken
4.17. Über politische und weltanschauliche Zugehörigkeit reden (Gesamthäufigkeit: 58 = 7,65%; a) Handlungsstrukturen: 1) [über politische und weltanschauliche Zugehörigkeit von X reden] indem [sagen, daß X der CDU/CSU zuzuordnen ist] indem [„... schwarz* ..." sagen] 2) [über politische und weltanschauliche Zugehörigkeit von X reden] indem [sagen, daß X anarchistischen Gruppen zuzuordnen] indem [„... schwarz* ..." sagen] 3) [über politische und weltanschauliche Zugehörigkeit von X reden] indem [sagen, daß X dem klerikalen/konservativen Einflußbereich zuzuordnen ist] indem [„... schwarz* ..." sagen]
b) Kollokationen: 1) Filz, Rathäuser, Lager, Wahlpropaganda, .einen Wahlkreis schwarz machen' (4) (insgesamt: 50) 2) Block (6) (insgesamt. 6)
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Götz Hindelang 3) (insgesamt: 4) „[...] meine Wahl war nicht rouge et noir, sondern dunkelbraun oder schwarz: Braunkohle oder Kirche." (Böll, Heinrich: Ansichten eines Clowns, Köln/Berlin 1963, S. 260) „[...] die Preußenvereine wie auch das Organ der schwärzesten junkerlichen Konterrevolution [...]." (Marx-Engels-Werke. Bd. 5, S. 534)
4.18. Phraseologisch verfestigte Syntagmen Auf die genaue Analyse der terminologisch und phraseologisch verfestigten Syntagmen mit schwarz kann hier nicht eingegangen werden. Es soll jedoch der quantitative Befund vorgestellt werden, da solche Verwendungen recht häufig sind (27,20%). schwarzes Gold (= Kohle und Erdöl als Bodenschätze) (16 = 0,46%) schwarzer Mann (= Gestalt des Volksglaubens) (6 = 0,17%) (davon Großschreibung: 1) schwarze Nullen schreiben (= eine ausgeglichene Bilanz vorlegen) (21 = 0,60%) ein schwarzes Schaf (= Mitglied einer Gruppe, das sich nicht korrekt verhält) (172 = 4,90%) (davon Großschreibung: Schwarzes Schaf '14) schwarze Zahlen schreiben (oder ähnliche Ausdrücke) (= eine Bilanz vorlegen, die Gewinne ausweist) (264 = 7,52%) Schwarzes Brett (= Anschlagbrett) (36 = 1,02%) (davon Kleinschreibung: 10) Schwarzer Gürtel (= Kennzeichen eines Meisters in asiatischen Kampfsportarten) (4 = 0,11%) (davon Kleinschreibung: 3) Schwarzer Hautkrebs: (17 = 0,48%) (davon Kleinschreibung: 10) Schwarze Kunst (= Druckgewerbe) (16 = 0,46%) (davon Kleinschreibung 2) Schwarze Listen (= Listen von Personen, Institutionen, Ländern, Gegenständen etc., die als gefahrlich gelten oder vernichtet werden sollen) (56 = 1,59%) (davon Kleinschreibung: 42) Schwarzes Loch (= kosmisches Phänomen) (43 = l ,23%) (davon Kleinschreibung: 24) den Schwarzen Peter haben (und ähnliche Wendungen) (155 = 4,42%) (= in einer Auseinandersetzung als der Schuldige dastehen) (davon Kleinschreibung: 17) Schwarze Serie (= Filmgenre) (l 7 = 0,48%) (davon Kleinschreibung: 4) (etwas) schwarz auf weiß (besitzen, lesen, vorliegen, etc.) (= gedruckt, geschrieben) (124 = 3,53%) schwarz vor Augen werden (= ohnmächtig werden) (2 = 0,06%) sich schwarz ärgern (= sich lange Zeit sehr stark ärgern) (3 = 0,08%) ein Ort ist schwarz von Menschen (= ganz voll von Menschen) (3 = 0,08%)
Robert Hinderung „Abfallprodukt4
Man wird die Nase rümpfen über so einen Titel in einer Festschrift. Und doch: Was für ein interessantes Wort: Ein Oxymoron sozusagen - Abfall, das nicht mehr Verwertbare, oft Stinkende, Gesundheitsschädliche, und Produkt, der Ertrag der Arbeit, der Förderung von Bodenschätzen. Und die zwei nun verbunden in einer Zusammensetzung, die nicht das Mittel von Schlecht und Gut ist. Anders als bei den Griechen, wo aus der Verbindung von Gott und Mensch nicht ein Gott, auch nicht ein Halbgott hervorging, sondern ein sterblicher Mensch ist ein Abfallprodukt etwas Positives, ein Gut, das aus dem Weggeworfenen gewonnen werden kann. Hier wollen wir das Wort Abfallprodukt als „Abfall"Produkt verstehen, d. h. als Ergebnis einer Beschäftigung mit dem Wort Abfall und den sonstigen ,Abfall-Wörtern', bei denen eine Partikel, die ursprünglich aus dem Verb stammt, im nominalen Bereich selbständig produktiv geworden ist. Das ist keineswegs selbstverständlich. Denn während die Partikel aus- zwar im Rahmen der verbalen Wortbildung eine ganz unglaubliche Produktivität entfaltet hat - wie von unserem Jubilar meisterhaft herausgearbeitet1 -, ist dieselbe Partikel im nominalen Bereich so gut wie bedeutungslos geblieben. Zwar gibt es nicht wenige Nomina mit der Partikel aus-, es handelt sich aber in den allermeisten Fällen um Verbalnomina, z. B. Ausbau zu ausbauen oder Ausbruch zu ausbrechen usw., d. h. die Partikel oder der Partikelausdruck hat die Bedeutung im Verb entwickelt, nicht im Nomen. Dieser Zusammenhang ist auch da noch erkennbar, wo die Verbalnomina sich von der Bedeutung des Grundverbs entfernt haben, indem sie z. B. konkret geworden sind wie Ausguß, Ausweis, Aushang u. a. Selbst bei einem Wort wie Aushub, das sich zusätzlich durch einen Stammvokal, der dem Verb abhanden gekommen ist, vom Grundwort unterscheidet, wird der Zusammenhang mit dem Verb noch deutlich empfunden. Andere Arten semantischer Besonderheiten liegen in Ausrede, Auskunft und Ausschuß vor, wo der Zusammenhang mit einem Grundverb mehr oder weniger deutlich verlorengegangen ist. Und trotzdem hat die Partikel auch hier keine nominale Eigenbedeutung entwickeln können. Auskunft ist zwar kaum mehr mit auskommen in Verbindung zu bringen, die Partikel ist aber zusammen mit dem Wort Kunft (?) auch nicht in neuer Weise deutbar geworden, wie es im Falle des Wortes Abfall geschehen ist. Ausrede ist nicht aus aus + Rede entstanden, die Besonderheit von Wörtern wie Ausrede und Ausschuß Hegt also
Hundsnurscher, Franz: Das System der Partikelverben mit AUS in der Gegenwartssprache. Göppingen 1968. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 2); Hundsnurscher, Franz: Das System der Partikelverben mit aus in der Gegenwartssprache. 2. Auflage. Hamburg 1997. (Beitrage zur germanistischen Sprachwissenschaft 11)
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Robert Hinderung
nur darin, daß sie stark idiomatisiert sind. Auch Auspuff ist m. E. ebenso aufzufassen, als nicht oder kaum vernünftig analysierbare Einheit, da ja ein anzunehmendes Grundverb nicht besteht. So bleiben nur ein paar Wörter übrig, die eine Struktur aus + Substantiv erkennen lassen: Ausweg, ferner das von Grimm gebildete Auslaut, vielleicht auch Ausland (obwohl vielleicht rückgebildet nach ausländisch oder Ausländer). Das klarste Beispiel, Ausweg, ist aber Einzelfall geblieben. Es hat weder ein *'Ausbahn, noch *Ausstraße, *Auspfad o. ä. nach sich gezogen. Selbst Ausgeburt und Ausbund, in denen man aus als eine Art Pejorativpräfix auffassen könnte, haben nicht reihenbildend gewirkt und sind auch in sich selber nur schwer zu analysieren. Bei den Adjektiven mit der Partikel aus- steht es nicht anders. Es gibt zwar das Beispiel ausverschämt, in dem aus steigernde Bedeutung zu haben scheint. Hier könnte man also in aus + Adjektiv analysieren; auch dieses Beispiel ist aber ein Einzelfall geblieben.2 Deutlich anders verhält es sich nun bei Nomina mit der Partikel ab-, worauf ich durch folgenden Beleg aus dem „Spiegel" aufmerksam wurde: (1) Die rohstoffarme DDR will diesen Müll später einmal wiederverwerten. Jedes Jahr fallen 80 Millionen Tonnen von solchen rund 350 sogenannten Abprodukten an, 40 Prozent gehen zurück in die Produktion. (22.7.65)
Hier liegt nun ganz deutlich ein Nominalpräfix vor, ein ab, das das Nomen in bestimmter Weise charakterisiert. Wie es der Beleg nahelegt, handelt es sich bei Abprodukt ursprünglich wohl um ein DDR-Wort, das allerdings im WDG3 noch nicht enthalten ist, wohl aber in dem (in der Neubearbeitung des DWb zitierten)4 „Ökonomischen Lexikon" von 1967. Der älteste Beleg nach dem DWb ist aber noch ein Jahr älter: (2) die Beseitigung oder Verwertung der Abprodukte (Berliner Zeitung 6.9.66)
Im genannten Ökonomischen Lexikon wird Abprodukt dagegen definiert als: (3) bei der Produktion abfallende Stoffe
Ähnlich schreibt auch das achtbändige Dudenwörterbuch:5 (4) bes. in Industrie und Landwirtschaft bei der Produktion entstehende Abfülle
Man erkennt, daß die Erklärung der Belege 3 und 4 ungenau ist. Sie hat bloß den ,Müllcharakter' des Wortes im Auge, während doch schon im ältesten BeDagegen ist nach Johannisson verstärkendes ule-(uut) im Mnl. ziemlich verbreitet mit Entsprechungen auch in ostschwedischen Mundarten; vgl. Johannisson, Ture: Verbal och postverbal partikelkomposition i de germanska spräken. Mit einer Zusammenfassung in deutscher Sprache. Lund 1939, S. 48. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. 7. Auflage. Berlin 1974-1977. Die Belege aus dem DWb beziehen sich auf: Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften Göttingen. Leipzig 1983ff, hier Bd. I, Sp. 651. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion unter Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim 1993-1995, hier Bd. I, S. 82.
„Abfallprodukt"
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leg (2) ganz deutlich von Beseitigung oder Verwertung die Rede ist und auch der erste ,West'-Beleg (1) deutlich macht, daß die ,Abprodukte' zu 40% der Produktion wieder zugeführt werden. Es scheint, daß die Rohstoffarmut (bzw. der Devisenmangel) der DDR früher hat erkennen lassen, was dann durch die Umweltdiskussion auch im Westen deutlich geworden ist: daß die Rohstoffe begrenzt sind, daß man sparsam damit umgehen und eben Abfälle wiederverwerten muß. Die hier zu nennenden Abfall-Wörter lassen beide Seiten des Abfalls erkennen. Während Abgas, Abluft und Abwasser wohl ausschließlich negativ - als Abfall, Müll - zu betrachten sind, ist die Abwärme ganz deutlich etwas auch Positives, eine Wärme, die für die Beheizung von Häusern wiederverwendet werden kann. Das Wort Abfall selber, das am ehesten als Oberbegriff dieser Ab-Wörter gelten kann, ist dementsprechend doppeldeutig. Es kann mehr oder weniger synonym mit Müll verwendet werden. Da Küchenabfälle aber auch kompostiert werden können, gehört es zugleich auch in die Gruppe von Abwärme u. ä. Am Wort Abfall läßt sich auch die Herkunft der Abfall-Wörter gut erkennen. Wie ja auch heute Abfall noch Verbalnomen sein kann („der Abfall der Niederlande"), so ist an älteren Belegen die Entstehung der ,Müll'-Bedeutung des Wortes aus dem Verbalabstraktum noch erkennbar. Ein Beleg bei Adalbert Stifter 1855 macht dies deutlich. (5) er ging auf dem modrigen Boden, der die tausendjährigen Abfälle der Bäume enthielt. (DWb 1,225)
Die „Abfälle der Bäume" - das meint das von den Bäumen Herabgefallene, aber dann auch die pflanzlichen Abfälle schlechthin. Es gibt aber noch andere, ältere und wohl auch einflußreichere Abfall-Wörter, vor allem das Wort Abraum. Die Bedeutung dieses Wortes wird im WDG (1,47) wie folgt angegeben: (6) 1. Erd- und Gesteinsmassen ohne Nutzgehalt; Bergm. taube Schicht. 2. landsch. Abfall Ganz ähnlich lauten die Angaben im Duden Wb. Vielleicht müßte man zu „landsch. Abfall" auch die Bedeutung .Bauschutt' ergänzen. Der älteste Beleg für das Wort in dieser Bedeutung von 1399 stammt aus der Oberlausitz: (7) vir gesellin, dy den aberum ... wek gefurt haben (DWb I, 665)
Daß es sich dabei um den Bauschutt handeln konnte, zeigt ein Beleg aus der 2. Hälfte des 15. Jh. (Tucher Baumeisterbuch): (8) müssen die pflasterer haben einen mit einem pferde karren, der... von inen fürt den abraum (DWb I, 665)
Aber auch pflanzliche Abfälle konnten Abraum genannt werden: (9) weinlaub und allerley abrum (1493) (DWb I, 665)
Der semantische Zusammenhang mit dem jüngeren Wort Abfall ist also deutlich. Dabei ist für Abraum von einer Rückbildung vom Verb abräumen auszugehen, das für Nürnberg schon 1300 belegt ist. (10) swer ainen unpau tut ... und dem die paumaistere ... gebietent, daz er den abräume (DWb l, 666)
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Robert Hinderung
Das heißt offenbar: ,den Schutt, der beim Umbau entsteht, wegschaffen'. Vor allem aber ist das Verb seit der 2. Hälfte des 15. Jh. im Bergbau anzutreffen: (l 1) da man, wenn der berg einer lachtertieff abgereumet [ist], einen [Kohlenjfletz ... antrifft. (DWb I, 666)
Um an die Kohle heranzukommen, muß das taube Gestein entfernt werden. Das ist offenbar im technischen Sinne die Bedeutung von abräumen. Man kann das Wort aber sogar noch früher im Forstwesen antreffen. Hecken, Bäume, ganze Wälder können „abgeräumt" werden (DWb I, 666). Für die Entstehung des Wortes Abraum scheint aber das Bergwesen wichtiger zu sein. Vom Verb abrumen wird nun ein Substantiv Abraum rückgebildet, das genau wie Abfall zunächst Verbalabstraktum ist. Abraum ist so zunächst das .Wegräumen'. Das DWb verzeichnet dazu Belege seit 1443. Ein besonders deutlicher ist der folgende (allerdings erst 1744): (12) daher... solcher Abraum des Gehöltzes gantzlich untersagt... ist. (DWb 1,666) Konkret bezeichnet Abraum dann das Objekt, das abgeräumt wird, besonders eben im Bergwesen die .(abzutragenden) tauben Erd- und Gesteinsschichten' (2. Hälfte 15. Jh.), im Forstwesen (seit 1719 belegt) .Kleinholz, Abfallholz'. Drei weitere Wörter sind alt und dürften auf die Entstehung der Gruppe eingewirkt haben: das heute ausgestorbene Abfeim (vgl. abgefeimt), Abschaum und Abwasser. Das Wort feinten bedeutet .schäumen', abfeimen ,den unreinen Feim, Schaum von einer Flüssigkeit abschöpfen, sie dadurch reinigen, klären'. Das Partizip abgefeimt wird dann schon früh auf den Menschen übertragen, wobei sich die Bedeutung wohl an die von Abfeim .Abschaum' anlehnt; denn das Abgefeimte müßte ja an sich das Geklärte, Lautere sein. Abfeim - auch Abfaum6 selber - ist rückgebildet vom Verb und taucht wie dieses in technischem Zusammenhang auf: Abfeim des Metalls. Später wird Abfeim durch Abschaum verdrängt, das genauso wie Abfeim aus dem Verb (abschäumen) rückgebildet ist. Der technische Zusammenhang wird auch hier deutlich: (13) das Abziehen der Unreinigkeit - des Abschaums von dem Zinn bei dem Verzinnen des Weißblechs (1825) (DWb I, 770)
Abschaum wiederum eignet sich zur Übertragung, zur Bezeichnung des Gemeinsten, Schlechtesten der Gesellschaft, ja es ist in dieser Bedeutung im DWb sogar früher belegt (seit 1494), doch setzt die übertragene Bedeutung natürlich die konkrete voraus. Alle bisher besprochenen Wörter: Abfall, Abraum, Abfeim und Abschaum sind Rückbildungen von Verben mit ab-. Das Präfix ab- ist also verbalen Ursprungs. Anders zu beurteilen ist das Wort Abwasser, das seit 1336 am Oberrhein belegbar ist: (14) in dem abewasser dur den muH runsen (DWb I, 1217)
Diese Lautung vielleicht nach Abschaum, worauf mich R. Harnisch aufmerksam macht.
„Abfallprodukt"
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Das heißt doch wohl: ,das Wasser, das vom Bach in den Mühlkanal abgeleitet wird'. Erhellend ist auch die Worterklärung in Maalers Wörterbuch von 156l:7 (15) Abwasser: Das wasser so von einem brunen abgadt, vnd etwan hinzu nutzen geleitet wirt.
Die Bedeutungsangabe .abfließendes Wasser' im DWb (I, 1217) ist also wohl ungenau; es handelt sich nicht um (von sich aus) abfließendes Gewässer, sondern um zum Zweck der Nutzung abgeleitetes Wasser. Später erhält das Wort aber eine, Abfall'-Bedeutung, wie aus den folgenden Belegen hervorgeht: (16) das Abwasser auß den Kuchinen (1545) (DWb I, 1217) (17) Alle gegenwertige gifft, von denen die flüß ... todtlich werden, allein von dem abwasser, darinn die ertz ... geweschen werden (1572) (DWb I, 1217)
Der zweite Beleg deutet wieder auf den Bergbau. Das abgebaute Erz mußte offenbar gewaschen werden, und das Wasser, das dazu benutzt wurde, war nach seiner Verwendung Abwasser. Dieses Wort ist nun wie gesagt nicht als Rückbildung von einem Verb aufzufassen, sondern es ist in Analogie zu Wörtern wie Abraum, Abfluß (i. d. Bedeutung »abführender Wasserlauf; 1511) direkt zum Substantiv gebildet. Es versteht sich, daß damit eine neue Entwicklungsstufe erreicht ist. Es ist nicht vorstellbar, daß eine Präfigierung von Wasser anders denn in Entsprechung zu bereits vorhandenen Bildungen erfolgte. Am nächsten liegt hier wohl das Wort Ablauf, das seit dem frühen 15. Jh. als .abführender Wasserlauf, Abzug, Abflußvorrichtung' belegt ist. Ablauf tritt auch gemeinsam mit Abfluß auf, das für Abwasser ebenfalls ein Vorbild abgegeben haben könnte: (18) die prunn ... mit allen ableuffen und abßußen (1416 Steir. Gerichtsbeschr.) (DWb l, 495)
Wir dürfen uns das Wort Abwasser also als eine nach diesen und ähnlichen Wörtern entstandene Bildung vorstellen. Es muß aber auch unter Einfluß der Abfall-Wörter geraten sein, wie die Belege (16) und (17) gezeigt haben. Den Grund für diesen Einfluß macht der Beleg (17) besonders deutlich: Es handelt sich um Vorgänge, die ebenfalls mit der Beseitigung von Abfall zu tun haben. Der Hauptunterschied liegt aber darin, daß der Vorgang, der zum Abfall führt, im einen Fall transitivisch, im ändern intransitivisch ist. Für die Nomina spielt der Unterschied aber keine Rolle mehr: Abwasser ist genauso wie Abfall, Abschaum usw. das Abfallprodukt, das beseitigt werden muß. In Band I der Neubearbeitung des „Deutschen Wörterbuchs" ist eine ganze Fülle weiterer Abfall-Wörter verzeichnet, von denen die wichtigsten hier kommentarlos aufgeführt werden sollen:
Maaler, Josua: Die teutsch Spraach: Alle Wörter, Namen und Arten zu Reden in hochteutscher Spraach, dem ABC nach ordentlich gestellt und mit gutem Latein vertollmetscht. Tiguri 1561, S. 8v.
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Robert Hinderung 1) Abbruch (90) u. a. ,was abgebrochen ist': daz abholz,... dessglychen ouch die abbrüch (1539); 2) Abdampf (101) .Dampf, der nach Verrichtung seiner Arbeit ins freie oder in den Kondensator geleitet wird' (1904); 3) Abdrusch (117) u. a. ,beim Dreschen entstehender Abfall' (in dieser Bed. 1823); 4) Abgang (278) ,bei der Bearbeitung oder Zubereitung abfallende Substanz, Abfall' (1365); 5) Abguß (346) .Abfall beim Münzguß' (um 1396); 6) lAbhitze (393) ,in Abgasen entweichende Wärme' (1887); 7) Abholz (396) .Abfallholz' (1390/2);
8) Abhub (400) .diejenige leichte Materie und Unart.... welche in der Wäsche von denen Ertzen oben mit einem Brettgen ... abgehoben wird' (1730); 9) Ablauge (505) .basische Flüssigkeit als Abfallprodukt der chemischen Industrie' (1928); 10) Abluft (568) ,zu beseitigende verunreinigte, verbrauchte Luft' (1916); 11) Aböl (631) Bedeutungsangabe fehlt (1916); 12) Abrehr (678) .das Herabgefallene, Abfall' (um 1340 ); ll^Abries (703) .das Abgefallene, Fallobst, auch andere Früchte und dürres Holz' (1529/32); 14) Abschabsei (752) mit Verweis auf Ziesemer, Preußisches Wb.8 (1600); 15) Abschlag (810) ,das Abgeschlagene, der Abfall' (1429); 16) Abschrot (879) .Abgeschnittenes, Abgang' (1339); 17) Absprung (999) .das Abgesprungene, der Abfall' (Forstwirtschaft, 1737); 18) Abstoß ( 060) .Wollabfall' (1397); 19) Abstrich (1090) .Substanz, die von geschmolzenen Metallen als Verunreinigung getrenntwird' (1557); 20)/4i>w>r/(1261) .Wertloses, Verachtetes' (um 1330/40); 2\)Ab\verg(\21Q) .Flachs-, Hanfabfall' (15. Jh.?); 22) Abwurf(\293) u. a. .Abfall, Ausscheidung des Körpers' (1584).
Die meisten dieser Wörter sind in der Schriftsprache auf die Dauer nicht erhalten geblieben, leben aber z. T. in Mundarten oder Fachsprachen weiter. So ist z. B. im T h ü r i n g i s c h e n Wb. 9 Abgang (ougang) als .Abfall beim Kraut' für Sonneberg belegt (I, 24); vgl. ebenda auch Abkratze (l, 36) ,beim Flachshecheln abfallende Fasern, Werg', ferner Abputze (\, 49) .Abfall, der beim Putzen von Feldfrüchten anfällt'. Ein Wort, das auch den Wiederverwendungssinn enthält, ist Absatz (I, 55), das u. a. Rückstand beim Auslassen der Butter' bedeutet. Auch das Wb. der obersächsischen Mundarten 1 0 verzeichnet Abgang (I, 9) und zwar in folgenden Bedeutungen: „1. a. ,ÄhrenabfalP [...], b. .Abfälle verschiedenster Art'." Wir finden da auch Abgerechftje (I, 10) ,grober Abfall beim Dreschen'; Abharke (1,11) dass., ferner Abschäubich
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Ziesemer, Walther: Preußisches Wörterbuch. Bde. I-II. Königsberg 1935-1940, Bd. I, S. 53f. Thüringisches Wörterbuch. Hg. von Wolfgang Lösch. Bd. I. Leipzig 1991 ff. Wörterbuch der obersächsischen Mundarten. Bearbeitet von Gunter Bergmann. Bd. I. Berlin 1998.
„Abfallprodukt"
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(I, 19) ,Abfall'. Selbst im M e c k l e n b u r g i s c h e n Wb." finden wir ein entsprechendes Wort Afgang .Abfall bei der Verarbeitung von Eßwaren' (I, 118). Eine ganze Anzahl von Beispielen liefert auch das Schweizerische Id.: 12 Abbruch (V, 368) ,die vom Abbruch eines Hauses herrührenden Holzstücke'; .Überreste von Speisen, zu Schweinefutter verwendet'; Abschab, auch Abschabete (VIII, 9) ,bei schabender Bearbeitung eines Stoffes entstehender Abfall'; Abdechs (XIII, 348) »Abfälle von der Hanfschwinget, von welchen geringe Ware fabriziert wird'; Abwachs (XV, 327) ,das beim Gebrauch von Wachskerzen abgehende Wachs', sodann Abchabis (III, 99) »Abgang von K[abis], zur Fütterung der Schweine gebraucht usw.' Wir erkennen auch bei diesen Wörtern verschiedentlich den Nebensinn des Wiederverwendbaren. Der Überblick über die verschiedenen Belege in der älteren Sprache und in heutigen Mundarten zeigt uns recht schön den .Sprachgeist' über Jahrhunderte am Werk (wenn die Ausdrucksweise gestattet ist). Die ältesten Belege stammen aus der Zeit um 1300, die jüngsten sind erst im 20. Jh. belegt, so z. B. Abluft und Aböl (Erstbelege 1916), Abwärme 1927 und Abprodukt - wie wir sahen sogar erst 1966 (alles nach DWb). Wie wichtig die Mundartwörterbücher auch für die Datierung sein können, vermag uns das Wort Ablauge zu zeigen, für das DWb (I, 505) als ersten Beleg das Jahr 1928 nennt. Das Schweiz. Id. belegt das Wort aber bereits in dem (1895 erschienenen) dritten Band (III, 1171). In der Geschichte dieser Wörter mit der Partikel ab- schlagen sich die Erfahrungen nieder, die während Jahrhunderten an den verschiedensten Ecken des Sprachgebiets, in unterschiedlichen Gewerken gemacht wurden. Man erkennt staunend, wie sich der Kampf von Generationen von Handwerkern mit ihrem Material, dem Holz, den Bodenschätzen im Bergwerk, dem zu verarbeitenden Metall, seinen Ausdruck geschaffen hat, wodurch die Erfahrung auch erst weitervermittelt werden konnte. Die Wörter enthalten so ,in der Nußschale' den Erfahrungsschatz dieser von Pioniergeist erfüllten, hart arbeitenden Menschen. Was alles mußte geschehen, damit dieses verhältnismäßig harmlose, aber praktische, ausbaufähige Wortbildungsmittel entstehen konnte! Auch wortbildungstheoretisch vermögen uns diese Wörter etwas zu lehren. Die Verwendung bestimmter Wortbildungsmittel ist zunächst auf eine Wortart begrenzt. Es gibt aber auch eine \vortartubergreifende Wortbildung, über die m. W. noch wenig nachgedacht wurde. Gewiß, diese übergreifenden Mittel sind eher selten. Am einfachsten erscheint der Übergang eines Mittels vom Adjektiv aufs Substantiv (bzw. umgekehrt) zu sein. So ist das Präfix un- offensichtlich in beiden Wortarten selbständig produktiv geworden (unschön, Unmenge), wo es sich doch ursprünglich um ein reines Adjektivpräfix gehandelt zu haben scheint.
Mecklenburgisches Wörterbuch. Hg. von Richard Wossidlo und Hermann Teuchert. Neumünster 1937-1992.
Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Frauenfeld 1881ff.
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Robert Hinderung
Viel schwieriger ist der Übergriff vom Verb zum Nomen oder umgekehrt, aber - wie Figura zeigt - eben doch nicht unmöglich.13 Schließlich wäre noch darüber nachzudenken - und damit nähern wir uns wieder der Dissertation unseres Jubilars -, warum dieser Wortartübergriff bei ab- möglich war, dagegen bei aus- nicht. Auch für aus- wird von Hundsnurscher Produktivität in den verschiedensten handwerklichen Zusammensetzungen nachgewiesen. Es gibt die Verben des Säuberns, und doch kommt es nirgends zu Bildungen wie *Auswasser, ^Auslauge, *Ausstaub u. ä. Es gibt Verben des gewaltsamen Entfernens, und auch hier sind selbstverständlich deverbale Substantive (Verbalabstrakta) wie Ausbruch (zu ausbrechen), Ausschnitt (ausschneiden) oder Auswurf (auswerfen) zu belegen. Aber nirgends scheint der Bereich der Verbalnomina verlassen zu werden. Es gibt kein *Ausholz, kein *Ausschutt usw. Warum dies so ist, darauf erhoffe ich mir eine Belehrung von Ihnen, verehrtes Geburtstagskind. Denn die Festschrift haben Sie zwar verdient, aber aufs Altenteil entlassen werden Sie damit noch lange nicht.
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Recht geläufig ist jedoch die Entstehung der wmw-Partikel aus einem Verbalpräfix, z. B. zu- (vor Adjektiv) aus Verbalpräfix zwo-, ze-, ähnlich über- (übervoll) aus Verbalpräfix über- (überfüllen, überfüllt usw.); dazu ausführlich Johannisson, 1939.
Gottfried Kolde
,,Hunde(artige?) werden in der Gefangenschaft rasch zahm' Über Schwierigkeiten der lexikographischen Definition trivialer Alltagskonzepte
l. Wer auf die offensichtlich abwegige Idee kommt, sich in gängigen einsprachigen Wörterbüchern über die Bedeutung von Wörtern wie Hund, Wasser, Kopf oder Tisch informieren zu wollen, der kann Merkwürdiges erfahren, so etwa Folgendes zum Lemma Hund oder eher über den Hund: In Gerhard Wahrigs Deutschem Wörterbuch heißt es noch 19971, genauso wie schon 1966: (1) HUND': l Angehöriger einer Familie weltweit verbreiteter, kleiner bis mittelgroßer Raubtiere mit gut ausgebildetem Geruchs- u. Gehörsinn, werden in der Gefangenschaft rasch zahm: Canide; = Haushund: Canis familiaris; Kerl, Bursche [...].
Im Deutschen Wörterbuch von Karl Dieter Bunting et al. (Chur 1996) liest man hingegen: (2) HUND: l in vielen wissenschaftlichen Theorien als vom Wolf abstammendes, beliebtes, normalerweise in Rudeln lebendes Haustier bezeichnet, das in zahlreichen verschiedenen, Rassen, Kreuzungen u. Größen vorkommt „ Wir haben uns einen Schäferhund, Dackel gekauft." 2 gemeiner, betrügerischer Mensch [...].
Für Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (GdaF), hg. von Dieter Götze et al., Berlin 1993, gilt: (3) HUND: l ein Tier, das dem Menschen bei der Jagd hilft, sein Haus bewacht u. bes. als Haustier gehalten wird. [...] 4 vulg; msl als Schimpfwort ftlr einen Menschen verwendet [...].
Dagegen hatte sich Paul Grebe in der l. Auflage des Duden Bedeutungswörterbuchs (Mannheim u. a. 1970) mit der Angabe eines genus (proximum) und der Abbildung eines pudelähnlichen Tieres begnügt, zwei für den Menschen eher Deutsches Wörterbuch. Hg. von Gerhard Wahrig. Gütersloh 1997. Da wir uns mit dieser Definition ziemlich gründlich beschäftigen werden, sei bereits hier erwähnt, daß sie für die dtv-Fassung des Wahrig (dtv-Wörterbuch der deutschen Sprache. München 1978) in zweierlei Hinsicht verändert wurde: erstens wurde die locker angeschlossene Bestimmung „[...] werden in der Gefangenschaft rasch zahm" durch einen Relativsatz mit eindeutigem Bezug Auf Raubtiere ersetzt: „[...] die in der Gefangenschaft rasch zahm werden", zweitens findet sich zum nun mit „ l. l." markierten Canis familiaris etwas mehr als nur der wissenschaftliche Spezies-Name, nämlich: „gezähmte Form des Hundes l, der wegen seiner Gelehrigkeit u. Treue als Haustier gehalten od. auf der Jagd od. zur Wache verwendet wird". Diese Definition wurde in den 1997 herausgegebenen „Kleinen Wahrig" (Wörterbuch der deutschen Sprache. München 1997) übernommen, die ursprüngliche, oben unter (1) wiedergegebene Fassung ist aber ftlr den „Großen Wahrig" noch in seiner Ausgabe von 1997 unverändert beibehalten. Darum ist im folgenden vorzüglich von dieser Fassung die Rede. Wenn es um die spätere dtv-Defmition geht, wird dies eigens angemerkt.
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Gottfried Kolde
unangenehme Eigenschaften von Hunden in Kollokationen genannt, aber die Möglichkeit, dieses Wort als Personenbezeichnung zu verwenden, gar nicht erwähnt: (4) HUND: /ein Haustier/ (siehe Bild): ein bissiger H.; der H. bellt, beißt.
Wegen ihrer sprachlogischen und formalen Sorglosigkeit lassen Einträge wie (1) und (2) vermuten,2 daß viele Wörterbuchschreiber die Explikation trivialer Alltagskonzepte nicht als Herausforderung, sondern als lästige, weil unsinnige Pflicht empfinden,3 vielleicht u. a. weil sie nicht wissen, welchen Benutzern des Wörterbuches sie mit welchen Angaben wissenswerte, neue Informationen vermitteln können. Ein Leser, der dem gleichen Sprach- und Kulturraum angehört wie der Lexikograph, verfugt in dem Wirklichkeitsbereich, um den es geht, über ebenso vielfältige Erfahrungen wie dieser, so daß ihm das, was er nun z. B. in (1) und (2) expliziert findet, im besten Fall nichts Neues bringt, also überflüssig, banal, pedantisch wirkt, oft aber auch seinen individuellen Erwartungen nicht entspricht, ihn zum Widerspruch reizt, ihm seltsam oder lächerlich erscheint. Daß dies ganz anders ist, wenn man zum Wörterbuch greift, weil man als primär Anderssprachiger das betreffende Wort nicht kennt, ist evident: dann geht es um das Wiedererkennen einer aus der Primärsprache und der eigenen Kultur vermutlich wohlbekannten Kategorie der Wirklichkeit in der unvertrauten Form der Fremdsprache, wobei der Leser gelegentlich wohl auch auf die Grenzen der interkulturellen Äquivalenz stößt. Der Autor eines speziell für fremdsprachige Benutzer konzipierten einsprachigen Wörterbuchs wie Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache wird sich eher trauen, ganz einfach auf das stereotype Alltagswissen der Benutzer anzuspielen und dieses so schlicht gemeinsprachlich in dem Umfang zu explizieren, wie es nötig ist, damit der Leser das Konzept als Ubereinzelkulturelles wiedererkennen oder gegebenenfalls seine (ziel)kulturspezifischen Besonderheiten4 erfassen kann. Was dabei z. B. in Schon an der mißgluckten Syntax von (2) wird deutlich, daß hier vieles durcheinander geht, vor allem das Laien- und Expertenwissen. Es fehlt, genau genommen, die Angabe eines nominalen Genus, denn als „beliebtes Haustier" wird der Hund Bunting zufolge nur in „vielen wissenschaftlichen Theorien bezeichnet". Das falsche Komma hinter „verschiedenen" wird wohl den meisten Lesern kaum auffallen. Man ist versucht, diese Explikation, ohne ihren Inhalt anzutasten, so zu reorganisieren, daß das vermutlich Gemeinte etwas geordneter zum Ausdruck kommt: „Der Hund ist ein beliebtes Haustier, das in vielen Rassen, Kreuzungen und Größen vorkommt." So weit das Laienwissen. Nun das Experten wissen: „In vielen wissenschaftlichen Theorien wird der Hund als vom Wolf abstammend bezeichnet. Diese Abstammung würde erklären, warum der heutige Hund in seinem Verhalten zum Menschen bestimmte Verhaltensweisen zeigt, die auch der Wolf zeigt: er ist eben ein Rudeltier." Auf die naheliegende Frage, ob diese Explikationspflicht wirklich für alle Lemmata gilt oder ob nicht vielleicht ganze Klassen von Lemmata gerade nicht definiert werden sollten, kommen wir unter 3.1. zurück. Daß man „in den wannen Morgenländern [...] die Hunde wegen ihres Geruches nie in den Zimmern und Häusern duldet", schien Adelung (Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Leipzig 1775) beispielsweise noch der Erwähnung in seinem Wörterbuch wert; in interkulturellen Kontaktsituationen könnte dieses Wissen auch heute noch nützlich sein. Zum Laienkonzept dieser Tiere gehört es ohne Zweifel. Vgl. auch unten Anm. 20.
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(3) herauskommt, ist sicherlich eine sinnvolle Alternative zu anderen Strategien, die oft eher dazu dienen, das betreffende Konzept zu ,enttrivialisieren'. Bevor wir im 3. Abschnitt auf diese Verfahren zu sprechen kommen, sei in einem kurzen wörterbuchgeschichtlichen Exkurs daran erinnert, daß die oben behauptete ,Pflicht' des Lexikographen zur Explikation trivialer Alltagskonzepte in der Sprache, deren Lexik im Wörterbuch beschrieben wird, gar nicht so selbstverständlich ist.
2. Im Abschnitt 13 seiner berühmten Vorrede zum Deutschen Wörterbuch begründet Jacob Grimm (1854, XXXIX-XL) ausführlich, warum er bei Lemmata wie Tisch, Nase oder Hand das „geschlepp langweiliger definitionen, das seit Adelung durch die deutschen Wörterbücher zieht", durch die „beifügung lateinischer, den wortbegrif erklärender ausdrücke" (also mensa, naso, manus) systematisch ersetzt. Er beruft sich dabei u. a. auf Caspar Stielers Wörterbuch von 1691, muß aber einräumen, daß er in seiner Zeit auch im internationalen Vergleich allein dasteht,5 und es würde heute, da das Englische statt des Lateinischen lingua franca der Wissenschaften und Kultur ist, kaum jemandem einfallen, in einem Wörterbuch der deutschen Sprache statt deutscher Bedeutungsbeschreibungen englische Wortäquivalente zu bieten. Nun wollten die Grimms ja seinerzeit auch kein Bedeutungswörterbuch für fremdsprachige Benutzer schreiben, sondern „ein heiligthum der spräche gründen" (XII), nach dem der Familienvater greifen wird, „ein paar Wörter ausheben und sie abends mit den knaben durchgehend zugleich ihre sprachgabe prüfen und die eigene anfrischen wird:" (XIII) In einer solchen strikt einsprachigen Familie ist „die spräche allen bekannt und [doch] ein geheimnis" (XII). Dieses Geheimnis ist aber nicht in den scholastischen Definitionen ihrer Vorgänger Adelung und Campe verborgen, sondern in der Vielfalt der historisch belegten Wortverwendungen, in denen der bereits sprachkompetente Leser die eigenen Intuitionen teils bestätigt findet, teils erweitern kann, ohne sein Sprachwissen in die Zwangsjacke von genus proximum und differentiae specißcae zwingen zu müssen, mit denen man sich nur „die umständlichsten und unnützesten Sacherklärungen" (XL) aufbürdet: Alles, was Grimm in den Definitionen von Tisch, Nase, Hand oder Wie (1) zeigt, scheint sich die Grimmsche Praxis bei Gerhard Wahrig für bestimmte Lemmatypen bis heute erhalten zu haben: Noch 1997 haben die Bearbeiter des „Großen Wahrig" zum „begleiter, haus- und zimmergenossen" des Menschen (so in dem von Moriz Heyne bearbeiteten Artikel Hund im Grimmschen Wörterbuch!) außer dem Synonym Haushund und der zweiteiligen lateinischen wissenschaftlichen Bezeichnung canis familiaris gar nichts zu sagen, was nicht auch für Fuchs, Schakal und Wolf gälte (s. u.), und Wahrigs Definition von Kopf, auf die wir später zurückkommen, kulminiert in einer Aufzählung von zwei „sinnverwandten" deutschen Wörtern und des lateinischen Äquivalents: „Haupt, Schädel: Caput". Dagegen scheint man in der Neubearbeitung des Grimm (Leipzig 1983ff.) nur noch für Lemmata wie eiche Angaben wie Quercus beizubehalten, während die in der Erstfassung bei ehre genannten lateinischen Äquivalente honos, decus.fama nun fehlen. Für Jacob Grimm war allerdings das Lateinische die lingua franca der europäischen Bildungstradition, während Wahrig den naturwissenschaftlichen Terminus als Garanten der präzis-fachlichen Identifizierung der Spezies zitiert.
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Lilie bei Adelung und Campe findet, gehört zum Sachwissen der Tischler, Anatomen, Botaniker. Das lateinische Äquivalent führt den Leser hingegen „in den mittelpunct des worts, auf die stelle der hauptbedeutung6 [...] von welcher dann frei und unbefangen nach allen richtungen hin umzuschauen ist", was „am besten in der nachfolgenden deutschen erläuterung" in engem Bezug auf die Belege geschieht. In dieser „verfremdenden" Beigabe lateinischer Äquivalente statt einer Definition in eben der Sprache, deren Lexik das Wörterbuch darstellt, kommt wohl auch ein Unbehagen an der Zirkularität zum Ausdruck, die man darin erblicken kann, daß die Bedeutung eines Wortes in eben der Sprache erklärt wird, zu der dieses Wort gehört. Wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, sind heute andere Arten der Verfremdung üblich, etwa die funktiolektale. Seit Jacob Grimm ist dieses Unbehagen an der lexikographischen Definition in analytisch-aristotelischer Form ein Leitmotiv der deutschen Wörterbuchkritik,7 obwohl, vielleicht auch weil ihre Verfertigung als Höhepunkt, Stolz und Lohn der sonst so entsagungsvollen philologischen Arbeit des Lexikographen gilt; dies trotz der Feststellung Bolingers8 aus dem Jahre 1965: „Dictionaries do not exist to define, but to help people grasp meaning". Die Theoretiker sind sich einig, daß sich nur die wenigsten Arten von Stichwörtern für die klassische, die Lemmabedeutung in (elementare) Merkmale (Seme) zerlegende und eines derselben zum Genus (proximum) erklärende Definition eignen und damit die Bedeutung auch dieser Wörter nur partiell und deformiert wiedergegeben wird. Bei substantivischen Lexemen, die natürliche Arten, Körperteile oder Artefakte bezeichnen und auf die wir uns in diesem Beitrag weitgehend beschränken, liegt diese Zerlegung in Merkmale deswegen besonders nahe, weil im Deutschen mit der attributiv erweiterten Nominalphrase ein überaus produktives syntaktisches Muster für eine solche Definition zur Verfügung steht. Welche Merkmale allerdings im regierenden Genus-N, welche attributiv als (wesentliche) differentiae abgebildet werden, läßt der interessenbedingten Aspektualisierung des Konzepts breiten Raum: Der Hund - ein gezähmtes Raubtier oder ein fleischfressendes Haustier? Schon ein Substantiv wie Stolz bequemt sich diesem Muster aber Daß die lateinischen Äquivalente nicht immer zur zeitgenössischen Hauptbedeutung eines Wortes führen, ist sprach- und begriffshistorisch zu erklären. So erläutert Grimm das Stichwort blau mit „lividus, color ex pallido nigrescens, qualem in contusis partibus videre est". Er geht darum für die erste Lesart von der „Vorstellung des tiefblauen, schwarzblauen, bleifarbigen, blutunterlaufenen" aus und behandelt andere Nuancen wie „himmelblau", die heute wohl als zumindest ebenso zentral gelten, erst später. In der französischen Lexikographie ist das Vertrauen in den Gebrauchswert der Wörterbuchdefinition gerade für den Laien noch heute erheblich ungebrochener als in der deutschen. So erklärt Alain Key in der „Prosentation" des „Petit Robert" (Paris 1977) die Elemente der aristotelischen Definition und fordert, daß letztere korrekt und exakt sei, während Klarheit und Eleganz wünschenswert, aber von sekundärer Bedeutung seien. Kein Zufall ist es wohl auch, daß es kürzlich eine Fachtagung in Paris gab, die ausschließlich der lexikographischen Definition gewidmet war und deren Beiträge von Jacques Chaurand und Francine Maziere unter dem Titel „La deTmition" (Paris 1990) herausgegeben wurden. Bolinger, Dwight: The Atomization of Meaning, in: Language 41 (1965), S. 555-573, hier S. 572.
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gar nicht: „das Gefühl e-s Menschen, wichtig u. viel wert zu sein, das sich auch in seiner Haltung zeigt" - so wird der Stolz in Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache erklärt: Funktioniert hier nun Gefühl als Genus, das vierfach spezifiziert wird: ,des Menschen', »wichtig sein', ,viel wert sein', ,auch in der Haltung sichtbar werden'? Oder sollte man nur das Adjektiv stolz und zwar mit einer implikativen Formel - erklären? Also: Wenn ein Mensch stolz ist, hält er sich für -wichtig und wertvoll, und das sieht man ihm auch an. Harras (1986)9, Hanks (1987)'° und Weber (1996)" (um nur drei Gewährsleute zu nennen) fordern generell, das Arsenal der .synthetischen', dem holistischen Charakter der lexikalischen Bedeutungen angemesseneren Methoden der Bedeutungsexplikation in seiner ganzen Vielfalt auszunutzen, eine Vielfalt, von der in den eingangs zitierten Definitionen von Hund nicht viel zu spüren ist. Es fragt sich nur, welche Möglichkeiten bei trivialen Alltagskonzepten tatsächlich zur Verfügung stehen.
3.1. Angesichts der Trivialität eines Alltagskonzepts könnte auch der heutige Lexikograph natürlich einfach auf eine aristotelische Definition des betreffenden Lemmas beziehungsweise der ,trivialen' Lesart desselben verzichten12 und die Beispiele bzw. Kollokationen eventuell so gestalten, daß der Benutzer die notwendigen Hinweise auf die Lemmabedeutung aus ihnen ableiten kann. Er Harras, Gisela: Zugänge zu Wortbedeutungen, in: Harras, Gisela; Haß, Ulrike; Strauß, Gerhard (Hgg.): Wortbedeutungen und ihre Darstellung im Wörterbuch. Berlin, New York 1987,8.3-96. Hanks, Patrick: Definitions and Explanations, in: Sinclair, John M. (ed.): An account of the COBUILD project in lexical computing and the development of the Collins COBUILD English language dictionary. London, Glasgow 1987, S. 116-136. Weber, Nico: Formen und Inhalte der Bedeutungsbeschreibung: Definition, Explikation, Repräsentation, Simulation, in: Weber, Nico (Hg.): Semantik, Lexikographie und Computeranwendungen. Tübingen 1996, S. 4-46. Franz Josef Hausmann hat in seiner Kleinen Weltgeschichte der Metalexikographie (in: Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Wörterbücher in der Diskussion, Tübingen 1989, S. 75-107) daran erinnert, daß d'Alembert 1754 in seinem Artikel DICTIONNAIRES in Diderots Enzyklopädie von der Definition von Lemmata wie Seele, Raum, Gedanke, Zeit wegen der Gefahr der Zirkeldefmition abrät. Die Alltagskonzepte, um die es hier geht, sind nun aber gerade nicht von dieser Art. Für uns einschlägiger ist darum der Verweis von Fritz Neubauer (Beobachtungen zu den deutschen Bedeutungsangaben zu nennlexikalischen Ausdrucken im Deutschen Wörterbuch, in: Alan Kirkness et al. (Hgg.): Studien zum Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Tübingen 1991, II, 528f) auf die Fußnote 113 in Ladislav Zgustas Manual of Lexicography (Prag, Den Haag 1971, S. 257). Dort geht es Zgusta ausdrücklich darum, ob Alltagskonzepte unbedingt im Wörterbuch definiert werden müssen. Aber das Konzept triviales Alltagskonzept selbst hat die ärgerliche Eigenschaft, grundsätzlich relativ zu sein, und deswegen kann man nur feststellen, daß beispielsweise das Lemma Hund in der Lesart .Haustier, das bellen und beißen kann' sicherlich ein .trivialeres' Konzept bezeichnet als in der fach-, genauer: bergmannssprachlichen Lesart .kleiner kastenförmiger Förderwagen'. Dieser Tatbestand kann nur dann einem Lexikographen als Legitimation dafür dienen, auf das trivialere dieser beiden Konzepte von Hund nur allenfalls mit .das bekannte Haustier' zu verweisen, wenn sein eigentliches Interesse etwa der Erklärung sprichwörtlicher Redensarten wie vor die Hunde gehen gilt. Dies ist bekanntlich der Fall z. B. bei Hermann Paul als Lexikographen.
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könnte auch, auf vorausgesetztes Alltagswissen seiner Leser verweisend, nur das Genus nennen. So schrieb Moriz Heyne in seinem Deutschen Wörterbuch (Leipzig 1890/1905) zu Hund: „das bekannte Haustier", Friedrich Ludwig Karl Weigand in seinem Deutschen Wörterbuch (5. Aufl. Gießen 1909) zu Wasser. „die bekannte Flüssigkeit". Diese Autoren hatten allerdings ausdrücklich nicht die Absicht, ein Bedeutungswörterbuch ihrer Gegenwartssprache zu schreiben, während eben diese Absicht schon im Titel des Bedeutungswörterbuchs des Duden zum Ausdruck kommt. Umso überraschender, daß in dessen l. Auflage von 1970, wie eingangs unter (4) zitiert, an die Stelle einer vollständigen verbalen Definition der Kategorie ein Bild (und zwar einer nicht recht identifizierbaren Hunderasse, vermutlich eines Pudels) tritt, aber im übrigen nur das Genus .Haustier' genannt wird. Damit wird das Wissen um die Vielfalt der Hunderassen beim Leser vorausgesetzt, während in anderen Wörterbüchern dieser Tatbestand ausdrücklich erwähnt wird oder mehrere Hunderassen abgebildet werden, in Langenscheidts GDaF beispielsweise sieben, vom Dalmatiner bis zum Pekinesen. 3.2. In der Regel versucht man aber, das Alltagskonzept im Wörterbuch zu ,enttrivialisieren', das alltäglich Vertraute zu verfremden, interessant zu machen dadurch, daß man dem sprachkompetenten Laienleser etwas bietet, was er noch nicht weiß. Angesichts des hohen Prestige, das in unserer Kultur alles , Wissenschaftliche' genießt, und der entsprechend großen Angst des Lexikographen, vom Fachmann als Banause entlarvt zu werden, verwissenschaftlicht er häufig das Alltagskonzept, reichert es mit Elementen des Fachwissens an. Bevor er seine Definition von Hund schreibt, konsultiert er dann ein Handbuch der speziellen Zoologie, über die Eigenschaften des Wassers unterrichtet er sich bei Chemikern und Physikern, über Himmel beim Geographen und Astronomen oder beim Theologen; für Kopf oder Mund sind entweder Humananatomen und Physiologen oder Zoologen zuständig, für rot die Optik. Bunting (1996) definiert in seinem Wörterbuch rot als „farblich in der Wellenlänge zwischen 600 und 780 mm"13 und Wahrig Mund noch 1997 als „Eingangsöffnung des Verdauungskanals (mit Einrichtungen zur Aufnahme u. Zerkleinerung der Nahrung"14. Zugegeben: Dies sind gern zitierte extreme Ausnahmen in der heutigen lexikographischen Definitionspraxis. Das Wasser wird aber immerhin in 6 von 9 ausgewählten heutigen deutschen Wörterbüchern durch seinen Gefrierpunkt und in vieren durch die chemische Formel H2O definiert, während in nur zweien seine Lebensnotwendigkeit genannt wird. Wahrig nennt Gefrierpunkt und chemische Formel, Langenscheidts GDaF definiert hingegen konsequent im Sinne der Laienerfahrung („die durchsichtige Flüssigkeit, die z. B. als Regen vom Himmel 13
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Daß er kaum „Millimeter", also tausendstel Meter meinen kann, sondern millionste! Meter, die man früher mit „ " abkürzte, ist eine der Pannen, die man heute so bequem mit ,dem Computer' erklären kann. Im dtv-Wahrig (1978) ist diese Definition allerdings ersetzt durch die folgende: „durch die Lippen begrenzte Öffnung in der unteren Hälfte des menschlichen Gesichts (die der Atmung, der Aufnahme von Nahrung u. der Lautbildung dient)".
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fällt"), nachdem Heyne schon 1890/1906 das Wasser ganz anthropozentrisch als den „natürliche(n) Stoff zum Waschen und Trinken" charakterisiert hatte. Daß man unter Hund die Zahnformel der Hunde spezifiziert, ist heute zwar nicht mehr zu erwarten, obwohl Campe eben dies 1808 getan hat; Bunting verweist aber auf „viele wissenschaftliche Theorien", um die Abstammung des Hundes vom Wolf zu untermauern. Bei Wahrig wirkt sich die Ausrichtung auf zoologisches Fachwissen in anderer Weise aus. Die naheliegende Interpretation seiner eingangs unter (1) zitierten Festellung „werden in der Gefangenschaft rasch zahm" widerspricht dem Laienwissen insofern, als sie präsupponiert, daß die Hunde generell ihr Leben in Freiheit beginnen und zahm werden (können), wenn sie in die Gefangenschaft des Menschen geraten. Nachvollziehbar wird diese Behauptung, wenn man in Kenntnis der zoologischen Taxonomie den Terminus „Canide" am Ende der Definition und den Numeruswechsel vom Singular („Angehöriger") zum Plural („werden [...] zahm") berücksichtigt: Wahrig plaziert sein Basiskonzept des Hundes15 offensichtlich zwei Linnösche Hierarchiestufen höher als der Laie, für den der Hund zu allererst ein Haushund, also im Linnoschen System eine .Spezies' (eben Canis familiaris) ist16 und nicht eine .Gattung' (Canis), zu der, wie Joachim Heinrich Campe (1808) bemerkt, „außer unserm eigentlichen Hunde, der Wolf, die Hiäne, der Fuchs etc. gehören"17, geschweige denn eine .Familie' (Canidae oder Caniden), die die Zoologen und mit ihnen Knaurs Großes Wörterbuch der deutschen Sprache (München 1985) mit dem eingedeutschten Terminus Hundeartige(r) bezeichnen. Wenn man Wahrigs derart vom alltagssprachlichen Hundekonzept abweichende taxonomische Kategorisierung von Hund einmal verstanden und akzeptiert hat, verliert also seine im Titel dieses Beitrags zitierte Kennzeichnung „werden in der Gefangenschaft rasch zahm" ihre Merkwürdigkeit. Auf einzelne Wölfe, Hyänen, Schakale und Füchse könnte dies durchaus zutreffen. Die hier sichtbar werdenden Schwierigkeiten bei der exakten Rekonstruktion der vom Lexikographen gemeinten Referenzverhältnisse in generischen Sätzen wird uns in 3.4. noch kurz beschäftigen. Zwischenfazit: Wahrig sieht den Hund zunächst aus der Perspektive seiner zoologischen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Raubtierfamilie. Die damit notwendig verbundene Verwendung von Fachlexik in der Explikation kann beim Laienleser gewiß nicht im eigentlichen Fachsinn funktionieren, sie verleiht dem Text aber immerhin eine gewisse fachliche Färbung. Das gilt etwa für die Angabe „Canide", mit der Wahrig die Ausführungen zu HUND11 schließt. Daß mit Familie hier weder die .Eltern und ihre Kinder' noch |5 Vgl. Harras, 1991, S. 52. Wahrig begnügt sich auch dementsprechend damit, unter dem Lemma Haushund schlicht auf „HUND " zu verweisen. Damit gibt Campe vermutlich das zoologische Wissen seiner Zeit wieder. Schon die lateinischen Äquivalente im Grimmschen Wörterbuch spiegeln ein differenzierteres Bild: Haushund, Schakal und Hyäne werden wie von Campe als Canis familiaris, Canis aureus und Canis hyaena identifiziert, der Wolf und Fuchs hingegen als lupus bzw. vulpus von den drei ersteren abgetrennt. Wahrig bietet für Fuchs Vulpinas, für Hyäne Hyanida, den Wolf ordnet er hingegen als canis lupus den Hunden zu. Es sei darauf verzichtet, den heutigen zoologischen Wissensstand detailliert darzustellen.
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,alle Verwandten', gemeint sind, wird jeder Leser intuitiv verstehen. Das heißt aber nicht, daß er die dritte im Wahrig genannte und mit „" markierte, nicht-triviale Lesart von Familie genau kennt, die bekanntlich definiert ist als die taxonomische Hierarchiestufe zwischen der (Über)Gattung und der (Unter)Ordnung.18 3.3. Handelt es sich bei dem Alltagskonzept um eines, das sowohl auf Menschen wie auch auf andere Objekte Anwendung findet (von Köpfen spricht man beim Menschen, bei Tieren und bei Nägeln), wirkt es auch .verfremdend', wenn der Bezug auf den dem Leser entfernteren Bereich dadurch in den Vordergrund rückt, daß er zuerst genannt wird: Wahrig definiert den Kopf als „das vom übrigen Körper abgesetzte u. unterschiedene Vorderende vieler Tiere u. des Menschen", hat also offensichtlich eher Tiere vor Augen als den Menschen, und wenn schon diesen, dann das krabbelnde Kleinkind und nicht den aufrechtgehenden Erwachsenen. Bei der oben schon zitierten Definition des Mundes im Großen Wahrig, die sich ganz auf den animalischen Verdauungsaspekt beschränkt, kommt noch hinzu, daß Mund in Opposition zu Maul, aber auch zu der im Duden Universalwörterbuch mit „Zool." als fachsprach lieh markierten Mundöffnung sicherlich zunächst mit dem Menschen assoziiert wird; dies würde wohl nahelegen, den Mund auch als Ort der Sprachlautbildung zu charakterisieren, was u. a. der dtv-Wahrig denn, wie erwähnt, auch tut. Auch Hund kann man schon insofern als polysem betrachten, als dieses Wort, wie am Vorgehen von Wahrig oben demonstriert, zur Bezeichnung unterschiedlicher klassifikatorischer Hierarchiestufen verwendet werden kann. Indem Wahrig mit der umfassendsten und alltagsfernsten beginnt, verfremdet er das Konzept in dem hier gemeinten Sinne. Adelung war in dieser Praxis noch einen beträchtlichen Schritt weiter gegangen, indem er unter Hund zunächst (1) „ein Werkzeug" und (2) „ein hohles Behältniß" behandelt, bevor unter (3) das „bekannte vierfüßige fleischfressende Hausthier" folgt. Vermutlich geht er so vor, weil er generell mit den historisch ältesten Lesarten beginnt, (1) und (2) als schon zu seiner Zeit veraltet empfindet und daraus schließt, daß diese Lesarten älter seien als die zu seiner Zeit vorherrschende, die er deswegen erst als dritte behandelt. 3.4. Wichtiger als die unter 3.3. erwähnten Verfahren ist es, daß auch die Fachsprache des Lexikographen, die jeweilige Varietät der „lexicographese" oder „dictionary-ese"19, gerade bei der Explikation von Alltagskonzepten verfremHeyne hatte übrigens offensichtlich eine andere, nicht derart definierte Variante eines zoologischen Familienkonzepts im Sinne, als er im Grimmschen Wörterbuch schrieb: „Hund im eigentlichen sinne l das wort geht auf die grosze familie des canis familiaris ,9
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··]"
So Hanks, 1987, in durchaus negativ wertender Absicht. Wenn Wolfgang Müller in seinem Beitrag „Zur Praxis der Bedeutungserklärung (BE) in (einsprachigen) deutschen Wörterbüchern und die semantische Umkehrprobe" (in: Germanistische Linguistik 3-6 (1984), S. 370ff.) vom „Wörterbuchdeutsch" spricht, denkt er hingegen vorzüglich an die zahlreichen Falle, in denen der Lexikograph in seinen Bedeutungsexplikationen offenbar unabsichtlich den .üblichen' kommunikativen Gebrauch der Wörter verfehlt.
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dend wirkt. Hier ist zunächst an das lexikographische Explikationsvokabular zu denken: Einerseits gehören metasprachliche Ausdrücke wie Bezeichnung, Bedeutung, Terminus, Benennung, bezeichnen, benennen zur allgemeinen Umgangssprache der Laien, andererseits werden diese Ausdrucke immer wieder von Linguisten im Rahmen bestimmter Theorien terminologisiert. Es ist aber auch an syntaktische Besonderheiten der Fachsprache der Lexikographen zu denken: an die Tilgung der Kopula zwischen Lemmaausdruck als deßniendum und nominal konstruiertem deßniens, durch deren Restitution der Subjektstatus des ersteren und der Prädikativstatus des letzteren expliziert würde. Zu denken ist aber auch an die Tilgung der Nominaldetermination bei Lemmaausdruck und nominalem deßniens. Diese Tilgungen werden meist mit Raumersparnis begründet, sie tragen aber auch zur verfremdenden Abgrenzung des lexikographischen Deflnierens vom mündlich-spontanen Definieren bei, welch letzteres nicht nur in Sprachlernkontexten, sondern auch in allen möglichen sprachlichen Interaktionen immer dann vorkommt, wenn sich das Bedürfnis nach Begriffsklärung ergibt. Die gegenwärtig als unmarkierte Norm der deutschen, französischen und englischen Lexikographie geltende Nicht-Determiniertheit von Lemma- und Explikationsausdruck läßt sich mithin als Versuch des Wort-Lexikographen deuten, seine Definition als die (semantische) Explikation einer Wortbedeutung zu kennzeichnen und sie damit zu unterscheiden von enzyklopädischen Sachdefinitionen, die in der Form singularischer generischer Sätze im Deutschen sowohl den Definit- wie den Indefinitartikel in Subjekts- und Prädikativposition erlauben, nicht aber artikellose Substantive. Bevor wir diesen Punkt im 4. Teil mit der Gegenüberstellung der beiden Oppositionen .Expertenvs. Laienwissen' und .semantisches Bedeutungs- vs. enzyklopädisches Sachwissen' noch etwas vertiefen, sei am Beispiel der Wahrigschen Definition des Hundes gezeigt, daß die Tilgung der Determination die lexikographische Explikation in einer durchaus relevanten Form uneindeutig machen kann: Die oben vorgeschlagene Interpretation ging aus von der Annahme, daß die Extension des Ausdrucks Hund11 und die Extension des Ausdrucks Angehöriger einer Familie weltweit verbreiteter, kleiner bis mittelgroßer Raubtiere mit gut ausgebildetem Geruchs- und Gehörsinn, werden in der Gefangenschaß rasch zahm identisch seien. Also: Jedes mit Hund'l zu bezeichnende Tier ist ein Angehöriger dieser bestimmten Raubtierfamilie, und umgekehrt ist jeder Angehörige dieser Raubtierfamilie ein Hund 1 1 (wird Hund11 genannt). Dies ist aber nicht die einzig mögliche Interpretation. Es wäre auch denkbar, daß der Hund 1 1 nur einer unter anderen, nicht mit Hund'l zu bezeichnenden Angehörigen jener Raubtierfamilie ist, also zwar jeder Hund 1 1 zu dieser Raubtierfamilie gehört, aber nicht jeder Angehörige dieser Familie ein Hund ist; noch anders gesagt: mit dieser Raubtierfamilie würde nur das genus proximum der Hunde spezifiziert. Gegen diese zweite Interpretation der Definition spricht im wesentlichen, wie schon oben erwähnt, die zoologische Benennung „Canide" im Singular am Ende der ersten Bedeutungsexplikation, die in der dtv-Fassung seltsamerweise zum Plural wird: „Canidae". Die oben in Anm. l zitierte erweiterte dtv-Fassung der Definition der Lesart 1.1. („=Haushund") überrascht zum einen durch die Genuskongruenz
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des Relativums mit dem Attribut „des Hundes" (und nicht mit seinem grammatischen Bezugselement „Form"), zum ändern in ihrer Logik: Wenn man den Haushund als gezähmte Form des Hundes l bezeichnet, entsteht der Eindruck, daß die Klasse der Hunde l gerade den Haushund nicht enthalte, sondern nur seine wilden Anverwandten.
4. Nachdem wir am Beispiel des Hundes einige Probleme der Definition von Alltagskonzepten demonstriert haben, die dadurch entstehen, daß sich der Lexikograph nicht damit begnügt, das stereotype Alltagswissen der Laien zu erfassen - was keineswegs so einfach ist, wie es vielleicht das eingangs unter (3) wiedergegebene Beispiel vermuten läßt20 -, soll die Erörterung nun abschließend durch die Einführung zweier Begriffspaare (Laien- und Expertenwissen einerseits, Sprach- und Sachwissen andererseits) auf eine etwas allgemeinere Ebene verlagert werden. Zunächst dürfte darüber Einverständnis herrschen, daß im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch in erster Linie das stereotype, anthropozentrierte und (einzel)kulturspezifische ,pragmatische' Laienwissen von Alltagskonzepten wie dem des Hundes in allgemeinsprachlicher Form expliziert werden sollte und (cynologisches) Expertenwissen in entsprechend fachlexikalischer Form allenfalls von ersterem getrennt und als solches gekennzeichnet erwähnt werden sollte. Dieser Forderung kommt Langenscheidts GDaF unter den heutigen deutschen Wörterbüchern zweifellos am nächsten. In der englischen Allgemeinlexikographie gehen die verschiedenen Versionen von COBUILD beträchtlich weiter. Sehr viel problematischer ist die Unterscheidung von (semantischem) Sprachwissen einerseits und (enzyklopädischem) Sachwissen andererseits. Zum einen faßt Weber (1996, 20 u. 24) die communis opinio der Metalexikographie zutreffend in dem Sinne zusammen, daß allgemeine Wörterbücher Realdefinitionen bevorzugen, nachdem schon Wiegand (1985, 33)21 festgestellt hatte, lexikographische Definitionen seien sachbezügliches Reden. Diese Tatsache findet ihre theoretische Begründung in John Haimans22 Nachweis, daß die übliche Unterscheidung zwischen Wörterbuch und Enzyklopädie gar nicht auf einem Unterschied zwischen Sprach- und Sachwissen, sondern eher zwischen ,subjektiven' und ,objektiven', (für den Laien) »wesentlichen' und .unwesentlichen' Merkmalen bzw. Informationen beruht;23 und was die Praxis betrifft, so ist mit
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Gehören z. B. auch die kulturspezifischen, positiven oder negativen Einstellungen der Sprecher zum Hund in das Wörterbuch? Anders als heute üblich stellte Moriz Heyne in seinem eigenen Wörterbuch (Leipzig 1890/1905) beispielsweise der Treue und Anhänglichkeit des Hundes seine Gefräßigkeit, Unverträglichkeit und Geilheit gegenüber. Vgl. auch oben Anm. 4. Wiegand, Herbert Ernst: Eine neue Auffassung der sog. lexikographischen Definition, in: Hyldgaard-Jensen, Karl; Zettersten, Arne (Hgg.): Symposium on Lexicography II. Tübingen 1985, S. 15-100. Haiman, John: Dictionaries and Encyclopedias, in: Lingua 50 (1980), S. 329-357. Müller, 1984, S. 404ff. kritisiert zwar gerade in den Bedeutungserkläningen (=BE) fachsprachlicher Wörter „enzyklopädische" Angaben, unterscheidet dann aber durchaus
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Martin Stark24 auf die derzeitige Tendenz der Fremdsprachendidaktik zum ,AI1buch' (also zum integrierten Sprach- und Sachwörterbuch) zu verweisen. Zum ändern fordert Gisela Harras (1991, 89) unter Verweis auf Filimores Kritik am COBUILD-Verfahren25, daß das allgemeine einsprachige Wörterbuch nicht nur das kurzfristige partikuläre Informationsbedllrfnis des Laien befriedigen solle, aus dem heraus er zum Wörterbuch gegriffen hat, sondern daß es auch seine metakommunikativen Fähigkeiten und sein metasprachliches Bewußtsein dafür wecke und fördere, daß im Sprachwörterbuch Bedeutungen bzw. Verwendungen einzelsprachlicher Wörter definiert werden und nicht einzelsprachunabhängige Begriffe oder gar »Sachen'. Die COBUILD-artigen Definitionen in der Form generischer Sachbeschreibungen („A dog is a very common four-legged animal that is often kept by people as a pet or to guard or hunt") erfüllen diese Forderung gerade nicht. Eher entspräche ihr vielleicht die in der älteren deutschen Lexikographie häufiger anzutreffende Darstellung einzelkulturspezifischer stereotyper Wertungen (vgl. oben Anm. 20). Das heutzutage nur gelegentlich in Beschreibungen übertragener Verwendungsweisen anzutreffende Verfahren, die .Sprachlichkeit' des Gegenstandes der Definition durch eine entsprechende metalexikographische Rahmung zu verdeutlichen („HUND 4: v«/g. msl als Schimpfwort für e-n Menschen verwendet")26, eignet sich für tri-
sinnvoll auf S. 410 „nötige, zur BE gehörende enzyklopädische Informationen" von möglichen und von solchen, „die nicht in eine BE gehören", und nennt als Beispiel für letztere die Charakterisierung des Mundes als Eingangsöffnung des Verdauungskanals. Für nichtenzyklopädisches (also rein sprachliches) Bedeutungswissen bleibt bei dieser Sicht im Falle der Nennlexik letztlich nicht viel Raum. In seinem Beitrag „Zur Unterscheidung von semantischen und enzyklopädischen Daten in Fachwörterbüchern" (in: Schaeder, Burkhard; Bergenholtz, Henning (Hgg.): Fachlexikographie. Fachwissen und seine Repräsentation in Wörterbüchern. Tübingen 1994, S. 103132) unterscheidet Herbert Ernst Wiegand auf S. 1 16f. bei Fachlexemen wie Strabometer drei Wissenstypen. Er postuliert zwischen dem fachenzyklopädischen Anwendungs- und Herstellungswissen und dem sehr allgemeinen nicht-enzyklopädischen Bedeutungswissen (daß etwa Strabometer ein Substantiv und als solches referentiell oder prädikativ verwendbar ist) als dritte Instanz das fachenzyklopädische gegenstandskonstituierende Bedeutungswissen. AufS. 1 16 führt er sehr vage aus, dies sei ein Wissen „darüber, wie man mit dem nennlexikalischen Ausdruck sprachlich handeln kann" (wer handelt hier genau in welchem Kontext?), auf S. 117 beschreibt Wiegand hingegen unter dieser Rubrik in laienverständl icher Form die allgemeine Funktion des Strabometers, also eindeutig Sachund nicht Bedeutungswissen. Außerdem erfahren wir, daß sich fachenzyklopädisches Sach- und Bedeutungswissen „zwar deutlich unterscheiden, nicht aber strikt trennen" lassen. Der Verdacht liegt nahe, daß das, was hier als fachenzyklopädisches Bedeutungswissen vom Strabometer postuliert wird, ein Laien- (genauer: Patienten)konzept bildet, das allerdings nicht so trivial ist wie das vom Hunde als einem Haus- und Zimmergenossen des Menschen. Daß der Hund (nun im Sinne von Canide) in Gefangenschaft rasch zahm werde, ist weniger trivial, denn wer hält sich schon zu Hause eine Hyäne oder einen Scha24
Stark, Martin: Encyclopedic Learners' Dictionaries. A Study of their Design Features from the User Perspective. Tübingen 1999. Fillmore, Charles J.: Two dictionaries, in: Journal of Lexicography 2 (1989), S. 57-83. So in Langenscheidts GDaF. In COBUILDs Learners' Dictionary (London 1996) finden sich etwas häufiger Formulierungen wie „You can refer to something that you have done or made yourself as your handiwork."
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Gottfried Kolde
viale AHtagskonzepte sicher noch weniger als für jeden anderen Lemmatyp. Eine Definition wie (S) HUND: l Dieses Wort wird in seiner Grundbedeutung dazu verwendet, um sich auf vierbeinige Tiere zu beziehen, die bellen und beißen können, dem Menschen bei der Jagd helfen, sein Haus bewachen sowie als Haustier gehalten werden.
ist aus anderen Gründen, aber nicht weniger merkwürdig als (1) und (2). Eines ist zumindest klar: Laienwissen ist nicht einfach mit Sprachwissen, Expertenwissen mit Sachwissen gleichzusetzen. Am ehesten wird man sagen können, das einzelsprachspezifische stereotype Wortbedeutungswissen sei ein .savoir faire", das sich der sprachkompetente Laie allenfalls an Lexemoppositionen (Mund vs. Maul vs. Mundöffnung) oder an beobachteten Verletzungen der entsprechenden Wortgebrauchsregeln bewußt machen kann, während Laie, Experte und Lexikograph ihr bei trivialen Alltagskonzepten besonders unterschiedliches Sachwissen (zum Beispiel eben, daß ,Hunde(artige?)' in der Gefangenschaft rasch zahm werden) leichter explizieren und damit auch kritisch hinterfragen können.
Werner Zillig
Anmerkungen zum Begriff »Grundwortschatz'
Die nachfolgenden Überlegungen haben eine doppelte Wurzel: Der Grundgedanke geht auf ein Hauptseminar zum Thema .Grundwortschatz' zurück, an dem ich, als Assistent von Franz Hundsnurscher, teilgenommen habe. Damals habe ich mir die Frage gestellt, wie das Konzept .Grundwortschatz' so rekonstruiert und damit durchsichtig gemacht werden kann, dass eine Optimierung der Grundwortschatz-Erstellung erreicht wird. Erst in jüngster Vergangenheit, bei der Arbeit an einem Artikel zum Thema ,Begriffsgeschichte'', kam eine andere Überlegung hinzu. Diese besagt: Die Festlegung eines Grundwortschatzes ist keine normale lexikalisch-lexikographische Arbeit. Es ist vielmehr sinnvoll, die Festlegung, welche Wörter zum Grundwortschatz einer Sprache zählen, von einer begrifflichen Gliederung des lexikographischen Materials abhängig zu machen. Was dies im Einzelnen bedeutet, soll nachfolgend umrissen werden. Die Hauptthesen: 1) Wir müssen jeden Grundwortschatz konsequent passiv-verstehensorientiert, nicht aktiv-kommunikationsorientiert anlegen. 2) Der Grundwortschatz sollte als erste Gliederungsinstanz Wort/ormen, nicht Wortlypen enthalten. 3) Mit den seit geraumer Zeit zur Verfügung stehenden Hypertext-Mitteln lassen sich Wort-Text-Verknüpfungen erstellen, die in einer bisher nicht möglichen Exaktheit die Elemente des Grundwortschatzes mit Texten und Dialogen verbinden.
1. Die Idee des Grundwortschatzes Festzulegen, welche Wörter und Redewendungen einer Sprache zu einem »Grundwortschatz* gezählt werden können, hat keineswegs, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte, nur das Ziel, das Fremdsprachen-Lernen zu vereinfachen; es gibt durchaus gute Gründe, von einer rein linguistisch-theoretischen Ebene aus über das Grundwortschatz-Problem nachzudenken.2 Was den Vgl. Zillig, Werner: Lexikologie und Begriffsgeschichte, erscheint als Art. Nr. 280 im HSK-Band Lexikologie, hg. von Peter Rolf Lutzeier u. a. bei de Gruyter. Eine Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur kann dieser Beitrag, schon aus Gründen des Umfangs, nicht sein. Grundlage der deutschsprachigen Diskussion ist wohl immer noch: Kühn, Peter: Der Grundwortschatz. Bestimmung und Systematisierung. Tubingen 1979. Was die Entwicklung des kindlichen Wortschatzes angeht: Äugst, Gerhard: Grund-
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Werner Zillig
Fremdsprachen-Unterricht und den muttersprachlichen Unterricht angeht, liegen die Hoffnungen, die sich mit der Grundwortschatz-Erstellung verbinden, auf der Hand: Diejenigen, die eine Sprache lernen, sollen zuerst die Wörter und Redewendungen kennenlernen, die für ein aktives Kommunizieren und für ein Verstehen von Mitteilungen in der fremden Sprache besonders wichtig sind. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass es noch eine ganze Reihe von Gebieten gibt, die mit ,Grundwortschätzen' operieren, angefangen von der Grundschuldidaktik, die festlegt, welche Wort-Orthographien in welchem Schuljahr bekannt sein sollen, bis hin zum Grundwortschatz innerhalb von SpezialWortschätzen, etwa bei den Juristen. Mit Blick auf die Sprachwissenschaft besteht die Aufgabe darin, festzulegen, welche ,Wörter' notwendig sind, um die Bedeutung möglichst vieler anderer, semantisch komplexerer Wörter paraphrasierend bestimmen zu können. Dabei ist es unerheblich, ob das praktische Ziel die Erstellung eines einsprachigen Wörterbuchs mit ,Bedeutungsangaben' ist oder ob es darum geht, mit handhabbaren Definitionen die Verwendungsweise von .wichtigen Wörtern' zu präzisieren. Dass es Verbindungen zwischen dieser innerlinguistischen Aufgabe und den Zielen der Didaktik gibt, liegt auf der Hand: Die für Paraphrasen wichtigen Wörter und Wendungen können dazu verwendet werden, um die, die eine Sprache lernen, in den Stand zu setzen, möglichst viel mit möglichst wenigen Wörtern ausdrucken zu können.3 Im Rahmen der .innerlinguistischen Fragestellung' lassen sich die Erkenntnisse der strukturellen Semantik unmittelbar fruchtbar machen. Besonders wichtig ist hier das, was normalerweise mit dem Terminus .Archilexem' gefasst wird: Es gibt Wörter, die das allen Wörtern eines Wortfelds gemeinsame Merkmal bezeichnen. Schlangen, Würmer, Hirsche, Fische, Goldhamster usw. - das sind alles Tiere. Das Wort Tier in einen Grundwortschatz des Deutschen mit aufzunehmen, liegt damit nahe. Bedenken muss man freilich, dass die Semantik der natürlichen Sprachen eine höchst .unangenehme' Eigenschaft besitzt: Es gibt durchaus relevante Wörter, die sich nicht oder nur schwer paraphrasieren lassen. Dass Rot eine
Wortschatz und Ideolekt. Empirische Untersuchungen zur semantischen und lexikalischen Struktur des kindlichen Wortschatzes. Tübingen 1977. Aus der neueren (Grund-)Wortschatzdiskussion sei herausgegriffen: Pohl, Inge; Ehrhardt, Horst (Hgg.): Wort und Wortschatz. Beiträge zur Lexikologie. Tübingen 1995. Was die Aspekte des Fremdsprachenlernens angeht, sei auf das Forschungsprojekt von Peter Scherfer .Struktur und Genese des mentalen Lexikons bei Fremdsprachenlernern' verwiesen (Informationen unter http://www. verwaltung.uni-wuppertal.de/forsch/fb4). Dort finden sich auch die Veröffentlichungen, die aus diesem Projekt hervorgegangen sind. Eine gute Bibliographie zum Thema .Wortschatz und Fremdsprachenlemen' findet sich unter http://www.uni-mainz.de/FB/PhilologieI/daf. Diese zum Teil vehement betriebenen Bemühungen gehen meist in irgendeiner Form auf Grundgedanken zurück, die Charles Kay Ogden zwischen 1925 und 1935 entwickelt hat, um ein ,Basic English' zu kreieren. (Zusammenfassend zu Hilfssprachen-Projekten: http://adam.cheshire.net/~jjbowks/auxiling.)
Anmerkungen zum Begriff,Grundwortschatz'
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Farbe ist, ist klar; doch paraphrasierend zu bestimmen, welche Farbe es ist, ist nicht oder nur sehr schwer möglich. Noch einmal zur Grundwortschatz-Problematik innerhalb der Fremdsprachendidaktik: Die Frage, ob ein Wort in den Grundwortschatz gehört, wird hier oftmals allein durch die Sprachstatistik gelöst. Gesetzt, dass ein hinreichend großes Korpus unterschiedlicher Texte und Dialoge vorliegt, sind diejenigen Wörter Kandidaten für den Grundwortschatz, die im Korpus am häufigsten vorkommen. Kaum eine Aufstellung zum Grundwortschatz innerhalb des Fremdsprachenunterrichts kommt ohne einleitende Feststellungen wie diese aus: „Mit 100 Wörtern deckt man über 50% eines Normaltextes ab."4 Daneben werden Grundwortschätze vor allem aus eher intuitiv erstellten Schematisierungen heraus erstellt, wobei entweder nach ,Sachgruppen' oder nach ,Kommunikationssituationen' bzw. ,Textsorten' gegliedert wird.
2. Das Wort-Problem Für eine Theorie des Grundwortschatzes sind drei Kategorieniwrtife/ wichtig: a) Wörter und feste Wendungen, also die objektsprachlichen Einheiten, b) Begriffe, d. h. die Einheiten, die zur Gliederung der objektsprachlichen Einheiten dienen und c)Termini, mithin die ,Begriffe der Theoriesprache'. Aus den Festlegungen zur Terminologie sollten sich Kriterien ableiten lassen, die, präziser als dies durch eine rein sprachstatistische Sichtweise möglich ist, sagen, welche Wörter und Wendungen zu einem Grundwortschatz welchen Umfangs hinzugenommen werden müssen und welche nicht. Eine wesentliche Voraussetzung der nachfolgenden Argumentation liegt in der Auffassung, dass es sinnvoll ist, nicht von Wortlisten, sondern von einer Vielzahl von Kurz-Texten bzw. Kurz-Dialogen auszugehen und von diesen zu den Wörtern und Wendungen zurückzugehen.5 Dieses Ausgehen von Texten und Dialogen impliziert in einer Zeit der EDV-gestützten Analysemöglichkeiten auch ein Ausgehen von wort/ormen-basierten Darstellungsweisen.
Langenscheidts Grundwortschatz Französisch. Ein nach Sachgebieten geordnetes Lemwörterbuch mit Satzbeispielen. Erarbeitet von der Langenscheidt-Redaktion. 9. Aufl. Berlin etc. 1994. Angesicht solcher Feststellungen muss man allerdings hinzufügen, dass Praktiker des Fremdsprachenunterrichts kaum jemals dazu neigen, die Probleme der Grundwortschatz-Erstellung herunterzuspielen. Das gilt auch für die Einleitung zu dieser Grundwortschatz-Zusammenstellung. Darauf, dass Hundsnurscher dieses Verständnis des Begriffs der Wort-Bedeutung entscheidend mit geprägt hat, habe ich bereits an anderer Stelle hingewiesen. Vgl. Zillig, Werner: Aggressiv und friedfertig. Überlegungen zur Gliederung semantischer Kleingruppen, in: Hindelang, Götz; Rolf, Eckard; Zillig, Werner (Hgg.): Der Gebrauch der Sprache. Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 60. Geburtstag. Münster 1995, S. 431 f.
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Werner Zillig
2.1. Wörter und Wendungen 2.1. L Der Wortbegriff Natürlich entgeht keinem theoretischen Beitrag zur Grundwortschatz-Problematik die Tatsache, dass der Wort-Begriff selbst klärungsbedürftig ist, wenn man über den möglichen Umfang eines Grundwortschatzes sprechen will. Nur wenn klar ist, was innerhalb der Sprachwissenschaft als Wort gilt und inwieweit und in welcher Form Wörter die »Träger von Inhalten' sind, lässt sich sinnvoll über eine Auswahl von Wörtern für den Grundwortschatz sprechen. Beim Begriff Wort ist es wie bei allen Begriffen, die außerhalb der Wissenschaft entstanden und in die Wissenschaft übernommen wurden: Die Begriffsränder sind unscharf. Der vorwissenschaftliche Wort-Begriff geht von zwei schlichten Auffindungsprozeduren aus: a) Wird ein Satz langsam gesprochen, so machen die Sprecher Pausen, die in der Regel den Wortgrenzen entsprechen: Ich - komme - bald - nach - Hause. In der geschriebenen Sprache markieren .Begrenzer' die Wörter. Diese Begrenzer sind im Normalfall: Textanfang und Textende, Spatium, Absatz und die Satzzeichen. Eine vernünftige Schreibung versucht, die Wörter in der geschriebenen Sprache den intuitiven Aussprachegepflogenheiten anzupassen, wobei es immer wieder zu - meist sprachhistorisch bedingten - Schwierigkeiten kommt.6
2.7.2. Flektierte Formen Im traditionellen sprachwissenschaftlichen Denken ist das ,Primat des Typus' so sehr verwurzelt, dass kaum jemals ein Gedanke darauf verschwendet wird, ob denn das Notieren von .Grundformen', denen die flektierten Formen, meist als Verweise in Deklinations- und Verbtabellen, nachgeordnet werden, der einzig mögliche Weg ist. Auch die Einträge im Grundwortschatz sind natürlich, soweit es um die Hauptwortarten geht, unflektierte Normalformen mit angehängten Verweisen ins grammatische Regelwerk. In realen Dialogen und Texten treten als .Wörter' allerdings flektierte Formen auf. Auch hier hat die Untersuchung von Texten mit Hilfe der Datenverarbeitung unter der Hand die AnalyBeispiele für Problemzonen lassen sich gerade heute, nach der Rechtschreibreform, leicht finden: Vor der Reform wurde das meist in einem einzigen Lautfluss gesprochene sodass als ,so daß' geschrieben; die Getrenntschreibung musste gelernt werden. Das ist jetzt nicht mehr so. Nach der Reform werden nun andererseits komplexe Wörter mit einem Vollverb an der ersten Stelle generell auseinander geschrieben - oft in schroffem Gegensatz zu den Aussprachegepflogenheiten (spazieren gehen, sitzen bleiben). Was ein Wort ist, wurde immer schon sehr stark von den Verschriftlichungsgepflogenheiten bestimmt. Seit der Einfuhrung von Computern, die auch dazu benutzt werden, Texte automatisch zu analysieren, um das Ergebnis dann beispielsweise in den Indizes von Suchmaschinen niederzulegen, hat die verschriftlichte Sprache und haben die Schreib- und Verschriftlichungsregeln noch einmal an Bedeutung gewonnen. Die altbekannte, einst eher als Linguistenscherz gemeinte Definition ,Ein Wort ist, was zwischen zwei Leerzeichen steht' hat jedenfalls erheblich an Bedeutung gewonnen.
Anmerkungen zum Begriff, Grundwortschatz'
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serichtung verändert, und es sind vor allem zwei Bereiche, die heute eine besondere Rolle spielen: Die bereits erwähnten .Suchmaschinen' arbeiten nicht mit Normalisierungen; einzig die Möglichkeit der .Trunkierung', also der Verwendung von - meist rechtsverweisenden - Platzhaltern, ermöglicht es, bei regelmäßigen Einträgen flektierte Formen zu finden, geh* steht für gehe, gehst, geht, gehen, allerdings nicht für ging. Da viele Textdatenbanken intern Umlaute als nicht umgelautet verwalten, können mit haus* auch die Formen Hauses und Häuser gefunden werden. Innerhalb der automatischen Spracherkennung, in Systemen wie ,Via Voice' von IBM, die ja bis heute keinerlei Verstehen des Textsinns beinhalten, sondern lediglich eine möglichst korrekte Zuordnung von Aussprachevarianten zur orthographisch korrekten Schreibweise anstreben, spielen Grundformen keine Rolle. Das Ziel ist erreicht, wenn ein ins Mikrofon gesprochenes Wort auf dem Bildschirm korrekt geschrieben erscheint. Die Frage, die sich, bedingt durch die EDV-Entwicklungen, im Rahmen der Grundwortschatz-Erstellung aufdrängt, lautet also: Sollten nicht formenbasierte Darstellungen an die Stelle von normalisierten Listen treten? Die für das traditionelle sprachwissenschaftliche Denken so naheliegende Auffassung, dass nur durch Normalisierungen .Ordnung in die Sache' kommt und der Lernaufwand verringert wird, trifft nicht zu. In den flektierten Formen ist in erheblichem Umfang Kontext- und Situationsinformation gebunden. Sogar die Sprachstatistik wird verfälscht, wenn Textanalysen mit einem internen Reduktionsprogramm versehen werden, das die flektierten Formen auf Grundformen zurückschreibt. Beispiele: Reicht hat eine »flektierte Position' die nicht vollständig mit efw. reicht erfasst ist, wenn diese Form in Jetzt reicht es (mir) aber! und damit in Streit-Zusammenhängen vorkommt. Die Wortform wehret kommt wohl nur in Wehret den Anfängen! vor. Sie verweist heute meist auf große, ernste, politische Themen und die entsprechenden Situationen, in denen über solche Themen gesprochen wird. Mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit lässt sich bei wehret erwarten, dass gegen einen RUckfall in Nationalismus und Rechtsradikalismus gewarnt wird. Nicht der Infinitiv wehren oder eine andere flektierte Form ist hier wichtig, sondern tatsächlich nur dieser altertümliche Imperativ.
2.2. Weitere Probleme Die soeben umrissene traditionelle Haltung zum Thema ,Grundwortschatz', nämlich die flektierten Formen von Substantiven, Adjektiven und Verben als unmittelbare und leicht wieder einzufangende Emanationen der grammatischen Grundkategorien .Infinitiv' und ,1. Person Singular' zu sehen, führt dazu, dass auch die Fragen der Grundwortschatz-Erstellung immer in der traditionellen linguistischen Draufsicht überblickt werden. Es ist jedoch fraglich, ob diese Sicht in Zukunft, wenn die linguistische Arbeit immer mehr von automatisierten Analyseprozessen bestimmt sein wird, die richtige ist. Vor allem aber ist fraglich, ob diese Vorgehensweise den Lernerbedürfnissen entspricht. Der Wort-
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Werner Zillig
schätz kann so ja nur verwendet werden, wenn die korrespondierende Grammatik bereits »gekonnt' wird. Betrachten wir zunächst noch in einer knappen Sammeldarstellung die anderen Probleme, die sich bei einer von Texten und Dialogen abgeleiteten Wortschatz-Erstellung auftun. Da ist zunächst das Problem der Satzklammer, das vor allem für das Deutsche wichtig ist. Betrachten wir Sätze wie Im Sommer 1989 setzten sich viele DDR-Bürger über Ungarn in den Westen a b oder Mit dem Geld, das er von seinem Herrn Vater geerbt hatte, hielt Baron von L. gleich zwei Mätressen aus. In derartigen Sätzen werden traditionell nicht nur die flektierten Formen von menschlichen Bearbeitern sicher erkannt, es werden auch die geteilten Verben setzten ...ab bzw. hielt... aus den Infinitiven (sich) absetzen bzw. jmdn. ausholten zugeordnet. (Ganz nebenbei erfolgt auch noch die Desambiguierung und Lesartenzuordnung: absetzen wird der intransitiven Variante zugeordnet und neben dem seltenen sich absetzen \. S. v. ,sich unterscheiden' notiert. Jmdn./etw. ausholten i. S. v. ,etw./jmdn. ertragen' wird von jmdn. ausholten i. S. v. jmdn. durch finanzielle Zuwendungen ein Auskommen schaffen' unterschieden.) Es wird hier also auch en passant das Problem der Lesarten-Zuordnung, das bei diesen Beispielen eine spezielle Variante des Homonymie-Problems ist, erledigt. Wohlgemerkt, und das sei an dieser Stelle hervorgehoben, weil es dem traditionellen lexikographischen Denken sehr fremd ist: Man sollte sich ein Wörterbuch vorstellen, das von flektierten Formen ausgeht und in dem die Einträge beispielsweise lauten: setzte ... ab; setzt... ab; ab-setzen, sich ~: sich in den Westen absetzen (.fliehen') bzw. hielt ... aus -> halt ... aus; aus-halten: eine Geliebte aushallen (,den Lebensunterhalt der Geliebten bezahlen').
Das sprachliche Phänomen, das als die .Idiomatik einer Sprache' gefasst wird, reicht von den einfachen festen Syntagmen und FunktionsverbgefÜgen über Redewendungen bis hin zu den sogenannten Truismen, zu Sprichwörtern und bekannten Zitaten, den .geflügelten Worten'. Beispiele: der grüne Punkt - etw. von etw. abhängig machen - die Nase läuft - Haare auf den Zähnen haben - jmdn. auf den Ann nehmen - Rache ist süß - Morgenstund hat Gold im Mund - Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer - Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.
Es sind diese über die Wortgrenzen hinausreichenden Bedeutungseinheiten im Verein mit grammatischen Besonderheiten der jeweiligen Sprachen, die das ,Wort' und auch seine linguistisch-terminologische Entsprechung, das Lexem - ganz allgemein als eine sprachwissenschaftlich wenig brauchbare Größe erscheinen lassen. Dem tragen Wörterbücher und Grundwortschatz-Sammlungen meist mit einem einfachen Mittel Rechnung: Sie liefern Teilkontexte, die LesartenDesambiguierung und Übersetzungshilfe in einem sind. Ein Ausschnitt aus einem deutsch-französischen Wörterbuch sei hier angeführt:
Anmerkungen zum Begriff, Grundwortschatz'
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scharf I adj l (schneidend) · tranchant; coupant; aiguiso - Zähne, Nägel, Krallen · ac6r£ - Kurve · brusque - Ecke · saillant - scharfe Kante · aröte vive - 2 (ausgeprägt) Linien, Gesichtszüge · marquo; accuse - Gegensätze · fbien) tranche - Umrisse · net, nette; procis - Foto · net, nette - 3 Brille, Fernglas · fort
Das Prinzip ist so klar wie schlicht: Wer eine bestimmte Lesart von scharf sucht, muss das passende Beispiel - oder ein möglichst nahes Beispiel - in der Liste finden, und er weiß dann beispielsweise, dass ein scharfes Foto im Französischen nicht etwa mit une photo tranchante zu übersetzen ist, sondern mit une photo nette. Das weitergehende Mittel, durch das den Wörtern nicht nur Lesarten, sondern auch Verwendungskontexte mitgegeben wird, liegt in der Einbettung der Wörter in Satzbeispiele.8 Eine konsequente Verbindung zwischen Wortschatz und umfangreicheren Texten und Dialogen, über Wort-Hilfen in Anmerkungen hinaus, scheint es gegenwärtig noch nicht zu geben. Dabei wären derartige Verbindungen zwischen Text/Dialog auf der einen und Wort-Listen auf der anderen Seite durch Hypertext-Verbindungen relativ leicht zu bewerkstelligen. Hier könnte dann auch mit der Zeit eine Wortformen-Datenbank aufgebaut werden, die den Zusammenhang zwischen Wortform und Kontext bzw. Situation deutlich werden lässt.
3. Prinzipien der begrifflichen Gliederung Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die gängigen inhaltlichen Gliederungen, die für Grundwortschatz-Sammlungen verwendet werden, als begriffliche Gliederungen verstanden werden können. Mit dieser Feststellung ergibt sich zunächst für das ebenfalls bereits angesprochene, aus der strukturellen Semantik bekannte Ebenenproblem eine zumindest vorläufige Lösung. Die Antwort auf die Frage »Welchen Status haben Archilexeme und semantische Merkmale?' lautet: ,Archilexeme verhalten sich zu den entsprechenden Wörtern wie der Begriff zum Wort.'
3.1. Lexikalische Gruppierungsverfahren Wollen wir die Zuordnungsverfahren, die bei der inhaltlichen Wortschatzgliederung intuitiv angewendet werden,9 rekonstruieren, so müssen wir uns zunächst Entnommen der CD-ROM-Ausgabe von Langenscheidts Handwörterbuch Französisch, Version I.I.München 1997. * Das ist das Prinzip des oben erwähnten Langenscheidt Grundwortschatzes. Ich erinnere mich daran, dass Franz Hundsnurscher vor Jahren zusammen mit Jochen Spielt einen Vortrag über die Verfahren des Hundsnurscher/Splett'schen .Adjektiv-Projekts' hielt. (Der Vortrag fand im Rahmen des Gesprächskreises statt, den vormals Helmut Gipper vom Institut für Allgemeine Sprachwissenschaft der Universität Münster einberief.) In der auf den Vortrag folgenden Diskussion gefragt, welche Verfahren sie, Hundsnurscher
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vergegenwärtigen, dass die zentrale Frage aller inhaltlichen Gliederungen des Wortschatzes nicht ist: .Welche Wörter verwenden wir, wenn wir einen Text der Textsorte X erstellen?', sondern: ,Welche Wörter verwenden wir, wenn wir über ,X' reden?' Das ,X' in der zweiten Frage aber ist der .Oberoegn^1 eines Text-/Dialog/Aemos, nicht ein Terminus aus der Textsorten- bzw. der Dialogtypen-Lehre. Es geht hier also um die ebenso schlichte wie grundlegende Frage: ,Was macht Wörter (und in einigen Fällen ad-hoc und .künstlich' geschaffene Ausdrücke) zu Oberbegriffen?' Diese Frage ist nun nicht bezogen auf sprachliche Elemente innerhalb gegebener Wortarten-Grenzen, sondern auf thematische Grenzen] Es geht also nicht um Relationen wie .Farbe' -> rot, gelb, blau, grün etc., sondern es geht um die Relation .Reden über Farben', und neben den soeben aufgeführten Farbadjektiven kommen Substantive wie Pinsel, (Färb-) Rolle, Sireichkissen, dann aber auch (Färb-) Spritzer, Muster und (farblicher) Übergang vor, und natürlich werden Verben wie streichen, (aus-/be-/über-) malen, spritzen und (ab-)mischen berücksichtigt werden müssen. Wie nun diese zunächst intuitive, wortarten-übergreifende thematische Gliederung genannt wird, ob wir also den Feld-Begriff entsprechend modifizieren oder von ,Themengruppen' sprechen, ist durchaus zweitrangig. Viel wichtiger ist es, die intuitiven und immer vagen Grenzen derartiger Themenbereiche festzulegen. Hier wird man festhalten müssen: Der Themenbereich .Reden über Farben' kann in einem nächsten Schritt aufgegliedert werden, und das, wovon bisher die Rede war, gehört in die thematische Untergruppe .Applizieren von Farben', die man in einem nächsten Schritt in die Untergruppen .künstlerisch' und .handwerklich/technisch' weiter untergliedern kann. Nur und wiederum: Was geschieht bei dieser weiteren Untergliederung der thematischen Bereiche, und was also heißt es, etwas .begrifflich' zu gliedern? Man kann bei der detaillierteren Beantwortung dieser Frage auf die weitreichenden Möglichkeiten einer umgangssprachlichen Detaillierung des .Redens über Farben' setzen. Diese sieht im vorliegenden Fall etwa so aus: Wer bringt wie
(Hobby-, Kunst-) Maler; Malermeister; Anstreicher; (Auto-) Lackierer; Heimwerker (an-, be-, aus-) malen; anpinseln; (an-) streichen; spritzen; rol-
len; sprayen; tauchfarben; wischen [.Wischtechnik'] in welchem Abfolge-Schritt (ab-) mischen; grundieren; lackieren welches Färbemittel (öl-, Aquarell-, Lack-, Acryl-, Grundier-, Wasser-) Farbe; Grundierung; Eitempera; Lasur
und Spielt, denn anwendeten, um die verschiedenen Lesarten der Adjektive festzulegen, stellte Hundsnurscher, durchaus emphatisch, fest: „Wir bekennen uns ohne Einschränkung zur sprachwissenschaftlichen Intuition!" Ich denke, dass Franz Hundsnurscher dennoch nicht widersprechen wird, wenn man festhält: Es ist sinnvoll, die semantischen Gliederungsverfahren nach einer Zeit des .praktizierten intuitiven Ordnens' so zu rekonstruieren, dass die angewandten vortheoretischen Gliederungsprinzipien expliziert und damit intersubjektiv verständlich gemacht werden können.
Anmerkungen zum Begriff,Grundwortschatz'
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das welche besonderen
kräftig; leuchtend; matt; pastellfarbig; (hoch-) deckend; was-
Eigenschaften besitzt
serlöslich; (hoch-) glänzend
mit welchem Werkzeug
(Dachshaar-) Pinsel; Rolle; Streichkissen; Spritzpistole; Spraydose Leinwand; Wand; (noch feuchter) Putz; Auto; Holz; Stoff; Leinwand; Seide
worauf auf
in welcher
farbig; einfarbig; zweifarbig; schwarz-weiß; bunt
Farbzusammenstellung ggf. mit welchem
rissig; fleckig; abblättern; nicht trocken werden
fehlerhaften Ergebnis Welche speziellen Ausdrücke gibt es?
.Vorsicht, frisch gestrichen!'
In welchem Zusammenhang Handwerkliche Anleitungen; Innenausbau; Zimmerrenoviekommt .Über Farbauftrag rung; Autoherstellung; Autoreparatur; Vernissage; Atelierbesprechen' vor? such; Bilder(ver-) kauf; Kunstbeurteilung allgemein
Die Situationen, die, durch eine Leerzeile abgesetzt, zuletzt genannt werden, stellen sozusagen die ,Schnittstellen' zu Situationen her, in denen weitere Themenbereiche angebunden werden können. Hier wäre auch die Verbindung zu den Textsorten und Dialogtypen anzuhängen. Eine solche Aufstellung bringt einige weitere Probleme der Wortschatzgliederung zumindest einer Lösung näher. Lediglich zwei miteinander eng verbundene Probleme seien kurz angesprochen. Das erste Problem kann man ,das Problem der offenen Klassen' nennen: Betrachtet man die Einträge in der Zeile ,Wer?', dann kann man, wenn man diese Aufstellung als eine reine paradigmatische Darstellung begreift, natürlich auch Mann, Frau oder Jugendlicher, aber auch Rentner und Sonderling einsetzen. Das zweite Problem lässt sich als das .Problem der verqueren Zusammenhänge' bezeichnen. Es lassen sich Situationen konstruieren, in denen jemand, weil kein Pinsel zur Hand ist, einen Farbfleck an der Wand mit einem Rest Farbe und mittels eines Stücks Haushaltspapier ausbessert. Für beide Fälle gilt, dass hier für die anstehenden praktischen Zusammenhänge der Grundwortschatz-Erstellung die Grenze der Pflicht zur argumentativen Darstellung erreicht ist. Hier wird man sagen dürfen: Wörter, die zwar irgendwann einmal im Zusammenhang mit .Über Farbe sprechen' vorkommen, aber ansonsten erkennbar nichts mit dem Thema .Farbe' zu tun haben, bleiben von der Betrachtung von vornherein ausgeschlossen. (Für die, die damit nicht zufrieden sind: Die semantische Nähe spiegelt sich in der Häufigkeit des gemeinsamen Vorkommens hinreichend genau wider.)
3.2. Gruppierung nach Relevanz Gibt es die Möglichkeit, jenseits der reinen Sprachstatistik die Relevanz eines Wortes für die Grundwortschatz-Erstellung festzulegen? Man kann zunächst einmal feststellen, dass es auch hier eine Intuition für die relative Wichtigkeit
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von Wörtern und Ausdrucken gibt, die natürlich nur in einem begrenzten Umfang intersubjektiv einheitlich ist. In der gleichen Klarheit, wie sich die Schritte der inhaltlichen Gliederung rekonstruieren lassen, ist dies bei der Gruppierung nach Relevanz nicht möglich. Es sind empirische Forschungen notwendig, die zeigen, wie einig oder ggf. uneins sich muttersprachliche Sprecher hinsichtlich der Wichtigkeit von Wörtern und Ausdrücken sind. Kontrastiert werden können solche einzelsprachlichen Studien durch einen Vergleich mit anderen Sprachen. Einige Feststellungen zur Relevanzfrage lassen sich allerdings anhand der bisherigen Überlegungen anstellen. Zunächst muss die Frage ,Soll ein Wort in einen Grundwortschatz der Sprache X mit aufgenommen werden?' in ganz ähnlicher Weise erweitert werden, wie dies bei der vorausgehenden Gliederung des ,Redens über ein Thema' vorgenommen wurde. Hier ergibt sich dann, dass beim Thema .Grundwortschatz' viele Unterpunkte der Wortrelevanz, die erfragt werden müssen, mit einem ,Joker', nämlich mit der allgemein gültigen Variable ,für/im Rahmen eines durchschnittlichen Y' ausgefüllt werden müssen. Als Antwort formuliert lauten die beiden relevanten Feststellungen nämlich: a) Variante .Aktiver Wortschatz': ,ln den Grundwortschatz der Sprache X gehören alle Wörter und Redewendungen von X, die für den normalen Sprachbenutzer in häufig vorkommenden Kommunikationssituationen wichtig sind und die sich nicht oder nur recht umständlich durch andere Wörter paraphrasieren lassen.' b) Variante .Passiver Wortschatz': ,ln den Grundwortschatz der Sprache X gehören alle Wörter und Redewendungen von X, die der normale Sprachbenutzer in häufig vorkommenden Kommunikationssituationen kennen muss, um zu verstehen, was Sprecher/ Schreiber in diesen Situationen ausdrucken.'
Diese Feststellungen sind einfach, in ihren Konsequenzen allerdings keineswegs trivial. Diese Konsequenzen seien abschließend in vier thesenartigen Feststellungen formuliert: 1) Das Primat des passiven Wortschatzes: Die zentrale Konsequenz aus den bisherigen Überlegungen liegt darin, dass - weil der passive Wortschatz alle Wörter des aktiven Wortschatzes enthalten wird, das Umgekehrte aber nicht der Fall ist - der passive Wortschatz gültig ist für die Relevanzfrage. Man kann Sprecher in einer Fremdsprache zwar bitten, möglichst einfach zu formulieren, aber zwingen kann man sie dazu nicht. Außerdem gilt natürlich: Wenn man eine ,normale' Zeitung oder ein .normales' Buch lesen will, gibt es die Möglichkeit zu einer solchen Bitte ohnehin nicht. 2) Möglichkeiten der automatisierten sprachstatistischen Verfahren: Die Sprachstatistik sollte, wie oben begründet wurde, als Wort/o/vMefl-Statistik verwendet werden. Dies nicht nur, weil auf diese Weise die Möglichkeiten der automatischen Text- und Dialoganalyse erleichtert werden und der Einsatz von aufwendig programmierten Parsern sich erübrigt, sondern auch, weil die Wortformen-Statistik das spezifische Vorkommen in relativ stabilen Wendungen sozusagen nebenbei mit erfasst. Die Einfachheit der Wort-Erhebungsverfahren ist, was die empirisch fundierte Erstellung eines Grundwortschatzes angeht, ein Wert an sich. Eines der einfachsten Mittel, Kontexte mit zu erheben, ist das 7-Wort-Verfahren. Dabei
Anmerkungen zum Begriff, Grundwortschatz'
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wird die einzuordnende Wortform ausgewiesen und sodann eingebettet im Kontext der drei rechts und der drei links stehenden Wörter gezeigt. (Satzzeichen haben dabei Wortwert. Textanfang und Textende werden wie Satzzeichen behandelt.) Auf diese Weise wird im Regelfall genügend Wortumgebung mit aufgenommen, um, wenn nötig, eine Grundformen- und Lesartenzuordnung vornehmen zu können. 3) Mündliche und schriftliche Sprache: Die Verwendung von geschriebener Sprache ist heute, in einer Zeit der Textverarbeitung und der recht ausgereiften OCR-Verfahren, unproblematisch geworden. (Sieht man von Copyright-Fragen ab.) Die Erfassung der gesprochenen Sprache bleibt hingegen schwierig und in der linguistischen Bearbeitung sehr aufwendig. Geht es um Wort-Verwendungserhebungen des Mündlichen - das sich ja vom Schriftlichen erheblich unterscheidet-, kommt hinzu, dass nur normalisierte, von Versprechern u. ä. gereinigte Transkripte in Frage kommen. Um einem derartigen Aufwand aus dem Weg zu gehen, ist es sinnvoll, die ohnehin vorkommenden normalisierten Texte für Erhebungen zu verwenden. Hier sind weniger die literarisch-dramatischen Texte, die oft von eigenen künstlerischen Zielsetzungen geprägt sind, von Bedeutung; sinnvoller ist es, Drehbücher von Hörspielen, Filmen und Fernsehspielen und ggf. sogar Fotoromane u. ä. zu verwenden. 4) Die Prinzipien der begrifflichen Gliederung: Was die begriffliche Gliederung des Wortschatzes angeht, so wird am Anfang eine Rekonstruktion der bisher vorliegenden Einteilungen der einsprachigen »Wortschätze nach Sachgruppen' sowie der Aufstellungen für den Fremdsprachenerwerb stehen.10 Anschließend wird es darum gehen, zu verbesserten Gliederungen voranzuschreiten. Zwei Überlegungen, die bisher im Zusammenhang mit der Grundwortschatz-Erstellung kaum jemals geprüft worden sind, verdienen dabei nähere Beachtung. Zum einen der allmähliche Aufbau des Wortschatzes als Nachahmung des kindlichen Spracherwerbs und zum anderen die Gliederung des Wortschatzes nach den perzeptuellen Kategorien, die bei der Herausbildung der zentralen Begriffe eine Rolle spielen. Was eine auf eine Perzeptionstheorie" aufbauende Wortschatzgliederung angeht, so ist allerdings eine Metatheorie notwendig, die zeigt, wie komplexe Wahrnehmungsdaten, die in schlichten Wörtern wie beispielsweise Buch, lesen oder sich erinnern gegeneinander vermittelt vorliegen, auf Wahrnehmungen zurückgehen. Und wie diese Vermittlungstheorie aussieht - das ist eine andere Geschichte. Erste Versuche, die ich angestellt habe und die an dieser Stelle nicht ausführlicher dargelegt werden können, weisen daraufhin, dass die begrifflichen Gliederungen der vorhandenen Aufstellungen z. T. extrem beliebig, d. h. von keinen theoretisch befriedigenden Vorüberlegungen getragen sind. Mit diesem Hinweis soll der Wert von intuitiven Gliederungen keineswegs herabgemindert werden. Dass allerdings mehr Grundlagendiskussion Not tut, scheint unbestreitbar. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an jene ersten Versuche zu einer perzeptionstheoretisch fundierten Semantik, die zu Beginn der Zeit in Munster in den Oberseminaren von Franz Hundsnurscher diskutiert worden sind. Die damaligen Ansätze verdienen es, auch mit Blick auf konkrete linguistische Probleme, wie eben dem der Grundwortschatz-Erstellung, erneut durchdacht zu werden.
Frank Liedtke
Modalverben im Deutschen - semantische undpragmatische Beschreibung
Im folgenden Beitrag geht es um die prototypischen Modalverben des Deutschen, also um die Verben müssen, sollen, dürfen, können, mögen und -wollen. Ihre modale Verbbedeutung wird in der Regel von Sprechern dazu genutzt, um bestimmte illokutionäre Effekte mit der Äußerung von Sätzen, in denen sie vorkommen, zu erzielen. Dieser Funktionszusammenhang zwischen der Ebene der semantischen Repräsentation und derjenigen des pragmatischen Sinns der Äußerung ist erklärungsbedürftig. Es stellt sich die Frage, ob Modalverben illokutionäre Indikatoren sein können, und wenn ja, wie sie die Funktion der Illokutionsindizierung übernehmen. Methodologisch setzt eine Antwort auf diese Frage voraus, daß die Abgrenzung des semantischen vom pragmatischen Kenntnissystem des Sprachbenutzers überzeugend gelingt. Das heißt, daß die Kategorie der Modalität als einer semantischen und diejenige des Illokutionstyps als einer pragmatischen hinreichend voneinander abgegrenzt werden müssen, denn dies ist die begriffliche Voraussetzung dafür, daß man dem Modalverbgebrauch überhaupt pragmatische Relevanz zuerkennen kann. Eine solche wechselseitige Abgrenzung hat mit der Schwierigkeit fertig zu werden, daß Bestimmungen der Modalität einer Äußerung, auch wenn sie semantisch angelegt sind, häufig in die pragmatische Betrachtungsebene hinüberreichen, so daß hier besonders feine Differenzierungen nötig sind. Exemplarisch soll die Semantik/PragmatikAbgrenzung darin begründet werden, daß zwischen zwei Dichotomien unterschieden wird, von denen die eine als semantische, die andere als pragmatische eingeführt wird. Die Unterscheidung zwischen dem epistemischen und dem deontischen Gebrauch von Modalverben ist zu trennen von der Dichotomic einer deskriptiven vs. einer präskriptiven Lesart des Modalverbgebrauchs, wobei die erstere Dichotomic als semantisch, die letztere als pragmatisch zu begründende etabliert wird. Wenn eine eigene begriffliche Dichotomic auf der pragmatischen Ebene möglich ist, wofür argumentiert werden soll, dann zeigt dies, daß der Modalverbgebrauch in engem Zusammenhang mit dieser Ebene steht, und daraus folgt letztlich, daß Modalverben durchaus einen Status als illokutionäre Indikatoren haben. Bevor ich für die pragmatische Relevanz des Modalverbgebrauchs mit Hilfe der Unterscheidung zweier Dichotomien argumentiere, möchte ich einige syntaktische Besonderheiten von modalverbhaltigen Sätzen skizzieren, um dann auf die semantische und pragmatische Ebene einzugehen.
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Frank Liedtke
1. Zur Syntax des Modalverbgebrauchs Die auffallendsten syntaktischen Eigenschaften von Modalverben sind im wesentlichen folgende: Sie erfordern in der Regel eine Infinitivergänzung (zum Beispiel: Du mußt laufen). Ein Teil der Modalverben (mögen, wollen) nimmt ifo/3-Sätze sowie Akkusativ-NPs als Objekte, und sie sind eingeschränkt passivfähig. (Er will, daß du bleibst. Sie mag Himbeereis. Der Friede wird von allen gewollt.)1 Der andere, größere Teil der Modalverben (müssen, sollen, dürfen, können) erlaubt / /5-Sätze in Subjektposition, nicht aber als Objekte; sie nehmen keine Akkusativ-Objekte, und sie sind entsprechend nicht passivierbar.2 Als charakteristisch für Modalverben gilt weiterhin ihre Imperativlosigkeit sowie die Bildung zusammengesetzter Vergangenheitstempora mit dem Infinitiv Präsens (Er hat um 7 Uhr abreisen wollen). Viele dieser Eigenschaften von Modalverben können auf ihren Status als Präteritopräsentia zurückgeführt werden. Im Zuge des sprachhistorischen Prozesses der Isolierung wurde die Präteritum-Form der Modalverben beim Übergang vom Mhd. zum Nhd. als Präsens-Form umgedeutet, was an der Übereinstimmung der 1. und 3. PS. Sg. erkenntlich ist sowie an dem ursprunglich für das Präteritum geltenden Vokalwechsel vom Singular zum Plural: Er kann, sie können. Für wollen ist eine Umdeutung vom Konjunktiv zum Indikativ anzunehmen.3 Syntaktisch werden Modalverben entweder als Hebungsverben oder als Kontrollverben klassifiziert. Die Grundidee ist, daß die Infinitivergänzung von transitiven Modalverben (das Bild in die Ecke stellen) in dem Beispiel (1) Arno will das Bild in die Ecke stellen.
das Ergebnis eines Transformationsprozesses ist, der aufbaut auf einer Tiefenstruktur, die ihrerseits zwei Sätze enthält: Arno will + Arno das Bild in die Ecke stell-.
Diese Tiefenstruktur wird in die Oberflächenstruktur von (1) überführt, indem die referenzidentische NP des zweiten Satzes (Arno) getilgt wird." Neuere, auf Chomskys revidierte Standardtheorie5 zurückgehende Ansätze machen sich die Vgl. hierzu Eisenberg, Peter: Grundriß der deutschen Grammatik. Stuttgart: J. B. Metzler 1989, S. 104f; Calbert, Joseph P.: Toward the semantics of modality, in: Calbert, Joseph P.; Vater, Heinz: Aspekte der Modalität. Tübingen: Narr 1975. S. 1-70. Calbert nennt die Modalverben dieser Gruppe .transitiv'. Calbert, 1975, nennt sie .intransitiv'; Eisenberg, M989, S. 104, führt folgendes Beispiel an: Daß du bleibst, muß/soll/darf/kann sein. Nicht möglich ist: 'Er soll, daß er bleibt. Vgl. Eisenberg, 21989, S. lOOf; Brünner, Gisela; Redder, Angelika: Studien zur Verwendung der Modalverben. Tübingen: Narr 1983, S. 14f. Vgl. hierzu die frühen Erklärungsansätze von Bierwisch, Manfred: Grammatik des deutschen Verbs. Berlin: Akademie-Verlag 1963. (studia grammatica 2) und Ross, John R.: Auxiliaries as main verbs, in: Todd, William (ed.): Studies in Philosophical Linguistics I. Evanston /III. 1969, p. 77-102. Vgl. Chomsky, Noam: Lectures on Government and Binding. Dordrecht: Foris Publ.1981. 2
Modalverben im Deutschen - semantische und pragmatische Beschreibung
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erste Dichotomie zwischen epistemischen und deontischen Verwendungen von Modalverben zunutze und charakterisieren Modalverben in der ersten Lesart als Hebungsverben, in der zweiten als Kontrollverben. Sätze mit Modalverben in deontischer Lesart (in der eine Verpflichtung, Erlaubnis etc. ausgedruckt wird) werden auf der Ebene der D-Struktur (sie ist mit der älteren Tiefenstruktur zu vergleichen) ebenfalls wieder als Verbindung von zwei Teil-Sätzen analysiert, wobei der zweite Satz allerdings nicht mehr eine später zu tilgende Subjekt-NP zugewiesen bekommt.6 Statt dessen befindet sich an dieser Stelle ein PRO-Element, das phonetisch leer und mit dem Subjekt des Matrixsatzes referenzidentisch ist. Die D-Struktur eines solchen Satzes ist folgendermaßen wiederzugeben: ArnOj [cp PRO das Bild in die Ecke stellen] will.
Als Kontrollverben werden die Modalverben in dieser Lesart deswegen klassifiziert, weil das Subjekt des Matrixsatzes das phonetisch leere Subjekt des eingebetteten Satzes (PRO) kontrolliert, ihm also sämtliche morphosyntaktischen Eigenschaften überträgt. Demgegenüber sind Modalverben in epistemischer Lesart (in der eine Behauptung modalisiert, z. B. abgeschwächt wird) als Hebungsverben einzuordnen, denn ihre syntaktische Analyse ist eine andere. In (l a) Arno kann das Bild in die Ecke gestellt haben.
ist nicht die Subjektposition des eingebetteten Satzes, sondern die des Matrixsatzes leer, und der Satz ist folgendermaßen zu analysieren: [e [
Arno das Bild in die Ecke gestellt haben] kann]
Dieser Satz sagt nichts darüber aus, was Arno kann. Syntaktisch gesprochen heißt dies, daß bei Modalverben dieses Typs der Subjektposition kein Tiefenkasus - keine Theta-Rolle - zugewiesen wird und Arno infolgedessen nicht als Nominativ-NP zu kann aufzufassen ist.7 Aufgrund dieser Struktur kann das Subjekt des eingebetteten Satzes (CP) beim Übergang in die S-Struktur (vormals Oberflächenstruktur) in die Subjektposition des Matrixsatzes (e) gehoben werden, wobei sich dann folgende Analyse ergibt: [Arno fjp das Bild in die Ecke gestellt haben] kann]
Ich möchte auf die generativistische Diskussion der syntaktischen Eigenschaften von Modalverben nicht weiter eingehen, zumal diese auch nicht abgeschlossen erscheint: Wichtig ist an dieser Stelle, daß die Unterscheidung zwischen der epistemischen und der deontischen Verwendung von Modalverben eine syntaktische Entsprechung hat, die sich in unterschiedlichen Analysen von Modalverben einmal als Kontrollverben, das andere Mal als Hebungsverben Vgl. Stechow, Armin v.; Sternefeld, Wolfgang: Bausteine syntaktischen Wissens. Ein Lehrbuch der generativen Grammatik. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1988, S. 428f.; öhlschläger, Günther: Zur Syntax und Semantik der Modalverben des Deutschen. Tübingen: Niemeyer 1989 (Linguistische Arbeiten 144), S. 51. Zum Prinzip des Kasusfilters, das hier Anwendung findet, vgl. Fanselow, Gisbert; Felix, Sascha W.: Sprachtheorie. Eine Einfuhrung in die Generative Grammatik. Tübingen: Francke 1987, S. 64.
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manifestiert. Im folgenden Abschnitt möchte ich auf den Unterschied zwischen der deontischen und der epistemischen Lesart in semantischer Perspektive näher eingehen.
2. Modalverben in semantischer Perspektive Wenn man die Unterscheidung zwischen dem epistemischen und dem deontischen Gebrauch von Modalverben in den Blick nimmt, dann stellt sich zunächst eine Grundsatzfrage: Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, ob es sich hier um einen Bedeutungsunterschied zwischen den Verben oder lediglich um unterschiedliche Lesarten unterhalb der Bedeutungsebene handelt. Ansätze, die die Möglichkeit einer einheitlichen Bedeutungsbestimmung für Modalverben sehen, nehmen hier nur einen Lesartenunterschied an;8 andere Autoren sehen an dieser Stelle einen Bedeutungsunterschied.9 Ich werde hier die Auffassung vertreten, daß ein bloßer Lesartenunterschied zu schwach ist, um Epistemisches von Deontischem zu trennen, und infolgedessen mit Calbert (1975) und Öhlschläger (1989) einen Bedeutungsunterschied annehmen. Ein Lesartenunterschied bei gleichbleibender Bedeutung soll für die deskriptive vs. präskriptive Verwendung gelten, so daß wir an dieser Stelle schon drei Möglichkeiten des Modalverbgebrauchs unterscheiden können: epistemische Bedeutung, deontische Bedeutung und innerhalb dieser die präskriptive bzw. die deskriptive Lesart. Ich möchte im folgenden die Bedeutungs- und Lesartenunterschiede genauer darstellen. Verwendet man Modalverben in ihrer epistemischen Bedeutung, dann nutzt man ihre „Vermutungsbedeutung" oder die „Bedeutung einer fremden Behauptung".10 Modalverben mit epistemischer Bedeutung sind die klassischen Mittel, um eine Behauptung abzuschwächen. Beispiele sind: (2) (3) (4) (5) (6) (7)
Der Einbrecher muß ein Choleriker sein. Berthold soll bei der Fremdenlegion gewesen sein. Sie dürften jetzt in Paris ankommen. Kann sein. Er mag ein guter Linguist sein. Sie will von dem Vorfall nichts bemerkt haben.
Ersetzt man (2) durch (2a)
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Der Einbrecher ist ein Choleriker.
So Bech, Gunnar: Das semantische System der deutschen Modalverba. Travaux du Cercle Linguistique de Copenhague 4 (1949), S. 3-46; Kratzer, Angelika: Semantik der Rede. Kontexttheorie - Modalwörter - Konditionalsätze. Kronberg: Scriptor 1978; Sweetser, Eve: Root and epistemic modals. Causality in two worlds, in: Berkeley Linguistic Society 8 (1982), p. 484-507. So Calbert, 1975, und öhlschläger, 1989. So beschreiben es Buscha, Joachim; Heinrich, Gertraud; Zoch, Irene: Modalverben. Leipzig: Enzyklopädie 1971.
Modalverben im Deutschen - semantische und pragmatische Beschreibung
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so wird der Bedeutungsunterschied deutlich: Gegenüber dem kategorischen (2a) ist (2) hypothetisch, indirekt, schlußbasiert. Man hat Anzeichen dafür, daß der Einbrecher ein Choleriker ist - ein verwüstetes Zimmer zum Beispiel -, aber man weiß es nicht sicher, weil man ihn nicht kennt. Zur Semantik der Modalverben in epistemischer Verwendung läßt sich folgendes sagen: Sie enthalten in unterschiedlicher Weise eine Modifikation, oft eine Abschwächung des Wahrheitsanspruchs von geäußerten Sätzen, wobei müssen beispielsweise in seiner Bedeutung die Einschränkung mit ziemlicher Sicherheit enthält. Ähnliches gilt - mit jeweils spezifischen semantischen Eigenschaften für die anderen Modalverben auch. Gegenüber der epistemischen gut die deontische Bedeutung als die primäre, grundlegende Verwendung, von der die epistemische im Zuge von Sprachwandel- und Grammatikalisierungsprozessen abgeleitet wurde (s. dazu Sweetser 1982). Sie ist in den folgenden Beispielsätzen realisiert. (8) (9) (10) (11) (12) (13)
Du mußt dich beeilen, der Taxifahrer wartet schon. Du sollst diese Tabletten dreimal am Tag nehmen. Arno darf jetzt wieder Fußball spielen. Sie können gehen. Ich möchte etwas trinken. Wir -wollen nach Kanada auswandern.
Will man die Bedeutung der Modalverben in (8)-03) vollständig beschreiben, so hat man es mit einer Vielzahl von Bedeutungsaspekten zu tun, aus denen die obige Verwendung nur einen kleinen Ausschnitt darstellt. Für müssen wird beispielsweise als Grundbedeutung die Komponente Notwendigkeit angesetzt (so Buscha in Buscha/Heinrich/Zoch 1983). In (8) wird also die Notwendigkeit, sich zu beeilen, damit begründet, daß der Taxifahrer wartet. Kratzer (1978) unterscheidet in ihrem die unterschiedlichen Bedeutungsaspekte letztlich synthetisierenden Ansatz vier Arten von müssen: neben dem schon erwähnten epistemischen müssen gibt es das deontische müssen, außerdem das dispositioneile müssen, zum Beispiel in: (14) Sie muß bei hellem Licht immer eine Sonnenbrille tragen.
und schließlich das buletische müssen, das auf die Wünsche einer Person rekurriert: (15) Er muß jedes Jahr mindestens einmal nach Frankreich fahren.
Kratzers Analyse der Modalverbsemantik zeichnet sich durch die Annahme eines einheitlichen Bedeutungsrahmens für sämtliche Verwendungsweisen (einschließlich der epistemischen) aus, wobei die oben genannten Bedeutungsaspekte dadurch unterschieden werden, daß sie zu einem jeweils anderen Redehintergrund in Beziehung gesetzt werden. Eine Bedeutungsanalyse von Modalverben enthält in ihrer Theorie immer die Wendung „im Hinblick auf, womit deutlich gemacht wird, daß es bei müssen beispielsweise um eine Notwendigkeit im Hinblick auf ein Element des Redehintergrundes geht. So kann der epistemische Bedeutungsaspekt von müssen als Notwendigkeit im Hinblick auf
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das, was wir wissen, dargestellt werden, der deontische als Notwendigkeit im Hinblick auf das, was angeordnet wurde, der dispositionelle als Notwendigkeit im Hinblick auf die Dispositionen und der buletische als Notwendigkeit im Hinblick auf die Wünsche einer Person. Der Redehintergrund selbst wird in einer Anspielung auf Donnellans Unterscheidung1' zwischen dem .referentiellen' und dem .attributiven' Gebrauch von Kennzeichnungen näher bestimmt. Er wird nicht referentiell aufgefaßt, das heißt als eine zum Äußerungszeitpunkt existierende Entität; Kratzer faßt den Redehintergrund vielmehr im attributiven Sinne als einen besonderen Typ von Individuenkonzept auf, nämlich als eine Funktion von möglichen Welten in Mengen von Propositionen. Durch diese Entscheidung zugunsten der attributiven Lesart wird der Redehintergund folglich zu einem „Maßstab", der an mögliche Weltzustände angelegt wird und der hilft, darüber zu entscheiden, ob diese Weltzustände notwendig aus diesem Hintergrund in einer bestimmten Hinsicht folgen oder nicht. Bei aller Eleganz von Kratzers Analyse der Modalverben ist der Annahme eines einheitlichen Bedeutungsrahmens zu widersprechen. Es geht hier um Bedeutungsunterschiede und nicht nur um Lesartenunterschiede ein- und derselben Bedeutung. Deutlich wird dies meines Erachtens am Beispielsatz (3), der nur epistemisch, nicht aber deontisch gebraucht werden kann, denn der Vergangenheitsbezug ist mit einer deontischen Bedeutung vollkommen unverträglich. Das gleiche gilt fur die anderen Modalverben auch. Außerdem sind die in (2)-(7) vorkommenden Verben in der Infinitivergänzung keine Handlungsverben (sie bezeichnen auch keine anderweitig kontrollierbare Aktivität), was ebenfalls die Voraussetzung für deontische Verwendungen ist. Beides zusammengenommen spricht für eine Unterscheidung verschiedener Bedeutungen, denn ein Satz wie (2) mit dem Modalverb müssen in deontischer Bedeutung ist semantisch abweichend und nicht nur pragmatisch unangemessen. Ich setze also im folgenden voraus, daß die Dichotomic zwischen epistemisch und deontisch eine semantische Unterscheidung thematisiert, einen Bedeutungsunterschied (das gilt natürlich auch für die weiteren von Kratzer unterschiedenen Komponenten wie dispositioneil und buletisch). Im nächsten Abschnitt werde ich auf die Dichotomic präskriptiv/deskriptiv eingehen und hier einen Lesartenunterschied, aber keinen Bedeutungsunterschied annehmen.
3. Mitteilungen und Vorschriften Ich argumentiere dafür, daß sich der Lesartenunterschied deskriptiv/präskriptiv auf Sprechakte bezieht, und zwar auf solche, die ein Modalverb in der deontischen Bedeutung enthalten. Deskriptive Sprechakte sind in geläufiger Terminologie assertive Sprechakte, präskriptive sind direktive Sprechakte. Betrachten Donnellan, Keith S.: Reference and Definite Descriptions, in: Philosophical Review 75 (1966), p. 281-304.
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wir folgendes Beispiel: Angenommen, Clemens hat sich in der Schule daneben benommen und bekommt vom Lehrer folgendes aufgetragen: (16) Du mußt bis morgen einen Besinnungsaufsatz schreiben.
Schon mit dieser kurzen Kontextangabe ist die Lesart eindeutig: es handelt sich um einen direktiven Sprechakt, den der Lehrer vermittels des Modalverbs müssen indiziert. Ändern wir den Kontext dahingehend, daß nicht der Lehrer, sondern ein Mitschüler von Clemens (16) äußert, so ändert sich die Illokution zugunsten der assertiven Lesart - der Mitschüler informiert Clemens über eine Strafe, die der Lehrer ihm auferlegt hat. Wir sehen, daß die deontische Bedeutung von Modalverben nicht immer mit einer direktiven Illokution des Sprechakts verbunden ist. Denn (16) ist im zweiten Fall eindeutig assertiv.12 Am überzeugendsten hat G. H. von Wright13 den Lesartenunterschied präskripliv/deskriptiv - bzw. in unserer Terminologie: asserüv/direktiv - herausgestellt, indem er zwischen zwei normativen Äußerungstypen, einer normformulation und einem normative statement unterschied. G. H. von Wright macht diesen Unterschied an einem sehr nachvollziehbaren Beispiel klar: Nehmen wir an, ein Hausbesitzer äußert auf die entsprechende Anfrage eines Autofahrers: (17) Sie können Ihr A uto vor meinem Haus parken.
In der Lesart als norm-formulation ist die Äußerung von (17) eine Erlaubnis, sie ist der Klasse der präskriptiven Äußerungen zuzuordnen. Allerdings kann (17) auch als Information darüber aufgefaßt werden, wie die Halteverbotsregelungen vor dem Haus des Befragten aussehen. In diesem Fall handelt es sich nicht um eine Erlaubnis des Sprechers, sondern um eine deskriptive Äußerung. Beide Möglichkeiten, die deskriptive wie die präskriptive, können in ein und derselben Äußerung realisiert sein. Der Hausbesitzer kann den Frager auf die offizielle Erlaubnis hinweisen und ihm eo ipso zu verstehen geben, daß er ebenfalls nichts dagegen einzuwenden hat, daß ein fremdes Auto vor seinem Haus parkt. Man könnte die Frage aufwerfen, ob nicht schon die Anfrage des Autofahrers in diesem Sinne ambig war (dies scheint zweifellos so zu sein). Doch es kommt hier auf einen anderen Punkt an: Signifikant ist an dieser Unterscheidung, daß (17) ein Wahrheitswert nur in der deskriptiven Lesart zukommt, in der präskriptiven jedoch nicht. Sprechakttheoretisch formuliert: Nur ein assertiver Sprechakt, der in diesem Fall über das Nicht-Bestehen eines Parkverbots informiert, kann hinsichtlich seines Zutreffens vom Adressaten in Zweifel gezogen werden - eine Erwiderung wie Das ist nicht wahr macht nur in diesem Fall Sinn. Ist (17) als direktiver Sprechakt zu verstehen, kann er in dieser Hinsicht nicht beurteilt werden, es kann nur darum gehen, ob der Hausbesitzer es auch
Aus diesem Dualismus von Lesarten folgt jedoch nicht, daß Modalverben keine illokutionären Indikatoren sind, wie öhlschläger, 1989, S. 151, postuliert. In der Pragmatik gilt ähnliches wie in der Semantik: Ein Wort verliert nicht seine Bedeutung, bloß weil es ambig .3
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von Wright, Georg H.: Norm and Action. London: Routledge & Kegan Paul 1963.
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wirklich ernst meint; dies ist jedoch eine andere Frage, es geht in diesem Fall um die Ernsthaftigkeit des Sprechakts und nicht um sein Zutreffen. In (17) könnte man natürlich auch das Modalverb dürfen einsetzen, in einem leicht modifizierten Kontext auch sollen. Infolgedessen ist fllr die ganze Klasse der intransitiven Modalverben in deontischer Lesart prinzipielle Offenheit bezuglich der Wahrheitswertfähigkeit oder Deskriptivität/Präskriptivität des korrelierten Sprechakts anzunehmen. Dies zeigt, daß die deskriptiv/präskriptiv-Unterscheidung nicht mit der epistemisch/deontisch-Unterscheidung zu identifizieren ist. Erstere ist eine Unterscheidung von Sprechakttypen, von Äußerungslesarten, letztere eine Bedeutungsunterscheidung von Modalverben. Bis zu einem gewissen Grade hängen beide Ebenen, die pragmatische und die semantische, miteinander zusammen. Ein Modalverb wie müssen in epistemischer Bedeutung indiziert, daß ein assertiver Sprechakt vollzogen wird; allerdings besteht kein Determinationsverhältnis zwischen beiden Ebenen, was man einfach daran sieht, daß das Modalverb müssen in deontischer Lesart offenläßt, ob eine präskriptive Äußerung - ein direktiver Sprechakt - oder eine deskriptive Äußerung - ein assertiver Sprechakt - vollzogen wurde. Hieraus ergibt sich, daß beide Ebenen, die semantische und die pragmatische, voneinander unabhängig sind und somit die zweite, die pragmatische, nicht auf die erste, die semantische, reduziert werden kann. Und dies wiederum zeigt, daß der Gebrauch von Modalverben in einer bestimmten Bedeutung dazu dient, die Hlokution des jeweils geäußerten Sprechakts anzuzeigen: Modalverben sind mithin illokutionäre Indikatoren.
Dmitrij Dobrovol 'skij
Ist die Semantik von Idiomen nichtkompositionell?1
1. Vorbemerkungen und Zielsetzung In seiner Arbeit »Semantische Kompetenz'2 weist Franz Hundsnurscher darauf hin, daß die Bedeutung eines Wortes als sein Beitrag zur Satzbedeutung zu verstehen ist. „Die semantische Kompetenz ließe sich dann beschreiben als die Fähigkeit des Sprechers, aufgrund der Kenntnis der einzelsprachspezifischen Konfigurationsverteilungen (= Wortbedeutungen) und der Kenntnis der Bedingungen ihrer Verbindbarkeit Wortbedeutungen zu Satzbedeutungen zu amalgamieren." (Hundsnurscher, 1981, S. 36)
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie die Bedeutung eines Satzes konstituiert wird, wenn zu seinen Elementen neben den Wörtern (Einwortlexemen) auch Idiome (Mehrwortlexeme) gehören. Im Standardfall kann die Satzbedeutung (S) als ein Amalgam von den Bedeutungen einzelner Wörter (W), aus denen der Satz besteht, dargestellt werden, etwa wie in (1). Wenn eines der Satzelemente ein Idiom (I) ist, wird diese Konfiguration zunächst in (2) modifiziert. Da aber die Idiome ihrerseits aus Wörtern bzw. Konstituenten (K) bestehen, könnte man sich vorstellen, daß sich die Satzbedeutung in diesem Fall nach dem Prinzip (3) zusammensetzt. ( 1 ) S = (W,,... ( W„) (2) S = (W 1 ,...,l,...,W n ) (3) S = (W,,..., I (K,,..., Kn), ...,W„)
Diese anscheinend selbstverständliche Interpretation ist in Wirklichkeit äußerst problematisch, denn entsprechend den traditionellen Idiomatikkonzeptionen ist die Idiombedeutung grundsätzlich nichtkompositionell, d. h. die Idiome bestehen nur auf der Ausdrucksebene aus einzelnen Wörtern, auf der Inhaltsebene unterscheiden sie sich nicht von den Einwortlexemen.3 Mit anderen Worten ergibt sich die Bedeutung eines Idioms (I) in keiner Weise aus den Bedeutungen seiDieser Artikel ist im Rahmen des von der Russischen Stiftung für Grundlagenforschung (RFFI) geförderten Projektes Nr. 98-06-80081 entstanden. Ich bedanke mich bei dieser Stiftung. Ich danke auch Elisabeth Piirainen und Stephan Eispaß, die das Manuskript gelesen haben. Hundsnurscher, Franz: Semantische Kompetenz, in: Hindelang, Götz; Zillig, Werner (Hgg.): Sprache: Verstehen und Handeln. Akten des 15. Linguistischen Kolloquiums, Münster 1980. Bd. 2. Tübingen: Niemeyer 1981, S. 36. Vgl. z. B. Weinreich, Uriel: Problems in the analysis of idioms, in: Puhvel, Jaan (ed.): Substance and structure of language. Berkeley; Los Angeles: University of California Press 1969, p. 23-81; Molotkov, Aleksandr I.: Osnovy frazeologii russkogo jazyka. Leningrad: Nauka 1977; Cermak, Frantiaek: On the substance of idioms, in: Folia linguistica XXII/3-4 (1988), p. 413^38.
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Dmitrij Dobrovol 'skij
ner Konstituenten (K). So gesehen ist (3) grundsätzlich falsch. Zum Beispiel geht Weinreich (1969) davon aus, daß die Interpretation einer Äußerung, die ein Idiom enthält, aufgrund ihres Vergleichs mit einer im Sprecherlexikon gespeicherten Idiomliste (idiom comparison rule) erfolgt. "[This rule] matches a terminal string against the idiom list. If it finds an entry in the idiom list which is identical with all or part of the terminal string, the idiom comparison rule deletes the semantic features of the matched fragment of the terminal string and substitutes the semantic features and transformational instructions specified for the matching entry in the idiom list." (Weinreich, 1969, S. 58-59) Dabei spielen die Konstituenten eines Idioms als selbständige semantische Entitäten keine Rolle, sie haben keinen Wortstatus, weil Idiome selbst als ,long words' interpretiert werden. Die entsprechenden Module der semantischen Kompetenz sind dieser Konzeption zufolge als die Fähigkeit der Sprechenden zu verstehen, Interpretationen des Typs (3) auszuschalten. Die „nichtkompositionelle" Idiomatikkonzeption klingt zunächst sehr Überzeugend, denn es gibt viele Idiome, deren semantische Repräsentationen in keiner Weise mit den semantischen Repräsentationen der Konstituenten, aus denen sie bestehen, korrelieren, wie z. B. in (4). (4) ins Gras beißen Die Bedeutung des Idioms (4), die approximativ mit ,sterben' paraphrasiert werden kann, konstituiert sich nicht aus den semantischen Repräsentationen von ins, Gras und beißen. Die Interpretation der Bedeutung eines Satzes, der dieses Idiom enthält, muß nach dem Schema (2) und nicht nach dem Schema (3) erfolgen. Bei all ihrer anscheinenden Stringenz ist die „nichtkompositionelle" Idiomatikkonzeption nicht ganz unproblematisch, weil sich empirische Fakten finden, die sie nicht erklären kann. Defizite dieser Konzeption werden bei der Hinwendung zum realen Funktionieren der Idiome im Diskurs evident. Betrachten wir zunächst den folgenden Textbeleg aus den Mannheimer Korpora (5). (5) In seiner Zeit im Stadtrat brachte er außerdem in verschiedenen Ausschüssen so manchen Stein ins Rollen. (Mannheimer Morgen, 30.12.1989) Wenn die Konstituente Stein keinen eigenen semantischen Wert hat bzw. nicht einmal ein Wort ist, wie kann man dann die Tatsache erklären, daß sie durch so manchen auf eine sinnvolle Weise modifiziert werden kann? Wäre in diesem Fall nicht eine Konzeption intuitiv überzeugender und mit den diskursiven Daten konsistenter, die es erlauben würde, Konstituenten wie Stein selbständige semantische Repräsentationen zuzuordnen? Unabhängig davon, daß das Idiom den Stein ins Rollen bringen eine Lexikoneinheit ist und als solche als semantisches Ganzes verfügbar ist - d. h. es hat eine lexikalische Bedeutung, die in Duden 11 (1998, S. 687)4 approximativ mit ,eine Angelegenheit in Gang bringen' paraphrasiert wird -,
Duden 11: Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten: Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Hrsg. u. bearb. von Günther Drosdowski und Werner Scholze-Stubenrecht. Mannheim etc.: Dudenverlag 1998.
Ist die Semantik von Idiomen nichtkompositionell?
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ist zumindest eine seiner Konstituenten in semantischer Hinsicht relativ autonom. So bereitet die Analyse des Satzes (5) keine Probleme, wenn dem Wort Stein eine semantische Interpretation (so etwas wie »Initiative') zugeordnet wird. Wenn dieses Wort dagegen als bedeutungslos eingestuft wird, muß der Satz (5) entweder als nicht normgerecht verworfen werden, was der semantischen Kompetenz der Sprachteilhaber widersprechen würde, oder seine Analyse bedarf eines äußerst komplizierten Erklärungsapparates, dessen mögliche Beschaffenheit auf dem heutigen Entwicklungsstand der Phraseologieforschung unklar bleibt. Überzeugend erscheint mir hier der Standpunkt, der Fälle wie (5) auf die relative semantische Autonomie der betreffenden Konstituenten zurückführt, wie dies z. B. Wasow/Sag/Nunberg (1983, S. 108)5 tun: "In order to modify part of the meaning of an idiom by modifying a part of the idiom, it is necessary that the part of the idiom have a meaning which is part of the meaning of the idiom."
Halten wir zunächst fest, daß die Idiome in bezug auf die semantische Beschaffenheit ihrer Konstituenten keine homogene Klasse darstellen: Es finden sich sowohl Idiome, auf die die Postulate der Non-Kompositionalität zutreffen (4), als auch Idiome, deren Konstituenten eigene metaphorische Lesarten zugeordnet werden können (5). Die letztgenannten Idiome können nur in dem Sinne als nichtkompositionell bezeichnet werden, daß sie nicht nach produktiven Regeln auf eine additive Weise erzeugt werden können.6 Alle Idiome sind und bleiben auf jeden Fall Lexikoneinheiten, d. h. sie werden als mehr oder weniger festgeprägte Elemente der Sprache in die Äußerung eingebettet. In Fällen wie (5) sind sie aber in sinnvolle Bestandteile zerlegbar und in diesem Sinne kompositionell. Es handelt sich dabei sozusagen um eine Kompositionalität post factum. Ich spreche in diesem Fall von der semantischen Teilbarkeit der Idiomstruktur.
2. Zum Begriff der semantischen Teilbarkeit der Idiomstruktur In diesem Abschnitt soll der Begriff der semantischen Teilbarkeit zunächst näher erläutert und vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse verschiedener linguistischer Richtungen kurz diskutiert werden. Ganz allgemein hängt der Begriff der Teilbarkeit mit der Parallelität in der Gliederung der lexikalischen und semantischen Struktur des Idioms und somit
Wasow, Thomas; Sag, Ivan A.; Nunberg, Geoffrey: Idioms: an interim report, in: Hattori, Shird; Inoue, Kazuko (eds.): Proceedings of the Xlllth international congress of linguists. Tokyo: CIPL 1983, p. 102-115. Es sei in diesem Zusammenhang bemerkt, daß auch die Bedeutung der sog. .freien Wortverbindungen' sich so gut wie nie aus den Bedeutungen einzelner Wörter, aus denen sie bestehen, ergibt. Im strengen Sinne ist die Bedeutung jeder Wortverbindung nichtadditiv bzw. non-kompositionell. Hier wird die Non-Kompositionalität als eine saliente Eigenschaft derjenigen idiomatischen Wortverbindungen verstanden, deren Bedeutung auf eine nichttriviale Weise von den Erwartungswerten abweicht.
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mit dem semantischen Status einzelner Konstituenten zusammen.7 Teilbar sind die Idiome, deren Konstituenten als Träger selbständiger Bedeutungen empfunden werden, d. h. die semantische Struktur dieser Idiome läßt sich in einer solchen Weise zergliedern, daß einzelne Konstituenten mit bestimmten Teilen der semantischen Struktur homomorph korrespondieren.8 Nicht teilbar sind dagegen die Idiome, deren Gliederung in lexikalische Konstitutenten keine Parallelen mit der Gliederung ihrer semantischen Struktur aufweist. In diesem Fall sind einzelne Konstituenten des Idioms nicht als Träger selbständiger Bedeutungen interpretierbar. Den traditionellen Auffassungen der Idiome als nichtkompositionelle Lexikoneinheiten steht in jüngerer Zeit die auf kognitivsemantischen Heuristiken9 beruhende „Dekompositionshypothese"10 gegenüber. In den Arbeiten, die auf der „Dekompositionshypothese" basieren, wird grundsätzlich zwischen den analysierbaren bzw. dekompositionellen Idiomen einerseits und den nichtanalysierbaren bzw. non-dekompositionellen Idiomen andererseits unterschieden (analyzable vs. nonanalyzable idioms bzw. decomposable vs. nondecomposable idioms). Aus dieser Gegenüberstellung werden pauschal alle syntaktischen Besonderheiten des Funktionierens der Idiome im Diskurs abgeleitet. Die Termini analyzable und decomposable werden in den Arbeiten dieser Richtung grundsätzlich synonym gebraucht. Charakteristisch für diese Arbeiten ist eine starke psycholinguistische Orientierung. Die Argumentation zugunsten der Heterogenität der Idiome bezüglich ihres Kompositionalitätsgrades beruht hauptsächlich auf den Ergebnissen psycholinguistischer Experimente, wobei Parameter wie Verarbeitungszeit, assoziative Salienz einzelner Konstituenten u. ä. eine führende Rolle spielen.
Vgl. RajchStejn, Aleksandr D.: Sopostavitel'nyj analiz nemeckoj i russkoj frazeologii. Moskau: VysSaja Skola 1980; ders.: Teksty lekcij po frazeologii sovremennogo nemeckogo jazyka. Voprosy frazeologiCeskoj semantiki. Moskva: MGPIIJa 1981. Ich spreche hier im Unterschied zu RajchStejn, 1980, und zu meinen früheren Arbeiten z. B. Dobrovol'skij, Dmitrij: Kognitive Aspekte der Idiom-Semantik. Studien zum Thesaurus deutscher Idiome. Tübingen: Narr 1995. (Eurogermanistik 8) - nicht vom Isomorphismus, sondern vom Homomorphismus zwischen der Gliederung der lexikalischen und der semantischen Struktur, was das Wesen der hier diskutierten Erscheinung exakter zu treffen scheint; vgl. auch Nunberg, Geoffrey; Sag, Ivan A.; Wasow, Thomas: Idioms, in: Language 70 (1994), p. 491-538. Vgl. z. B. Lakoff, George: Women, fire, and dangerous things. What categories reveal about the mind. Chicago; London: The University of Chicago Press 1987, p. 447-451; Langacker, Ronald W.: Foundations of cognitive grammar. Vol. 1: Theoretical prerequisites. Stanford, California: Stanford University Press 1987, p. 93-95. Vgl. z. B. Gibbs, Raymond W.; Nayak, Nandini P.; Bolton, John L; Keppel, Melissa E.: Speakers' assumptions about the lexical flexibility of idioms, in: Memory and cognition 17 (1989), p. 58-68; Gibbs, Raymond W.; Nayak, Nandini P.: Psycholinguistic studies on the syntactic behavior of idioms, in: Cognitive psychology 21 (1989), p. 100-138; Gibbs, Raymond W.; Nayak, Nandini P.; Cutting, Copper: How to kick the bucket and not decompose: analyzability and idiom processing, in: Journal of memory and language 28 (1989), p. 576-593; Gibbs, Raymond W.: Psycholinguistic studies on the conceptual basis of idiomaticity, in: Cognitive linguistics 1-4 (1990), p. 417-451.
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Ähnliche Ideen wurden im Rahmen der eigentlich linguistischen Phraseologieforschung schon früher geäußert." Die Spezifik des für diese Arbeiten charakteristischen Herangehens an die Problematik besteht vor allem darin, daß sowohl die Zielsetzung als auch die argumentative Beweisführung und die entsprechenden Daten rein linguistischer (und nicht psychologischer) Natur sind. Als empirische Evidenz dient vor allem das diskursive Verhalten der Idiome, insbesondere ihre syntaktische Modifizierbarkeit. Die Ziele der Analyse der Idiomstruktur in Termini ihres Kompositionalitätsgrades werden dabei in der Erfassung aller Wesenscharakteristika der Idiomatik sowie in der Aufdeckung und Beschreibung der sog. Idiom-Grammatik gesehen, d. h. eines Regelwerks, das das Funktionieren der Idiome im Diskurs steuert. Da auch der vorliegende Artikel ähnliche Ziele verfolgt, ist es zweckmäßig, an die in den letzteren Arbeiten vorgestellten Thesen zur semantischen Teilbarkeit der Idiomstruktur anzuknüpfen. Es sei hier kurz darauf eingegangen. Es gibt Idiome, die keine Zerlegung ihrer Struktur in semantisch relativ selbständige Teile zulassen (6) und solche, deren Konstituenten autonome semantische Repräsentationen zugeschrieben werden können (7). (6) Haare spalten .unwichtigen Kleinigkeiten übertriebene Bedeutung beimessen; spitzfindig sein1 (7) den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen ,das große Ganze vor lauter Einzelheiten nicht sehen'
Die völlige Unmöglichkeit des Teilens in (6) geht einher mit der fehlenden Parallelität zwischen der Gliederung der lexikalischen und jener der semantischen Struktur: Die Bedeutung der Idiome läßt sich nicht auf die Kombination der Bedeutungen der einzelnen Konstituenten zurückfuhren. Das Formativ des Idioms ist in zwei selbständige Konstituenten gegliedert, und zwar in Haare und spalten, die Bedeutung ist ihrerseits in semantische Komponenten gegliedert (vgl. die Bestandteile der Bedeutungserklärung), zwischen der Gliederung des Formativs und der Gliederung der Bedeutung bestehen jedoch keinerlei Parallelen (Dobrovol'skij, 1988, S. 132). Dem stehen Fälle wie (7) gegenüber, die vor dem Hintergrund ihrer lexikalisierten „Ganzheitlichkeit" als verhältnismäßig reguläre Kombinationen mehrerer Wörter mit relativ autonomen Bedeutungen interpretiert werden können: Die Gesamtbedeutung des Idioms korreliert mit den Bedeutungen der Konstituenten
Vgl. u. a. Burger, Harald: Idiomatik des Deutschen. Unter Mitarbeit von Harald Jaksche. Tübingen: Niemeyer 1973, S. 15-17; Koller, Werner: Redensarten. Linguistische Aspekte, Vorkommensanalysen, Sprachspiel. Tubingen: Niemeyer 1977, S. 18,38; Nunberg, Geoffrey: The pragmatics of reference. Bloomington: Indiana University Linguistics Club 1978; Burger, Harald; Buhofer, Annelies; Sialm, Ambras: Handbuch der Phraseologie. Berlin; New York: de Gruyter 1982, S. 28; Dobrovol'skij, Dmitrij: Zum Problem der phraseologisch gebundenen Bedeutung, in: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 2 (1982), S. 52-67; ders.: Phraseologie als Objekt der Universalienlinguistik. Leipzig: Enzyklopädie 1988, S. 131-158. Außerdem vgl. RajchStejn, 1980, 1981; Wasow; Sag; Nunberg, 1983.
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(Wald ,das große Ganze' oder ,das Wichtigste', Bäume ,die Einzelheiten' oder ,unbedeutende Details'). Die Gliederung der lexikalischen Struktur des Idioms ist mit der Gliederung seiner semantischen Struktur homomorph.12 Auf der diskursiven Ebene manifestieren sich die relevanten Unterschiede zwischen (6) und (7) in dem unterschiedlichen Grad an lexikalischer Stabilität, vgl. charakteristische Textbelege (6a) und (7a). (6a) (7a)
[...] „wir haben viel Zeit verloren", klagte Jacques Delors, „nur um Haare auf der Suche nach einem Gatt-Termin zu spalten." (Die Zeit, 10.05.1985) Eines nicht allzu fernen Tages sehen wir den Wald vor lauter Schildern nicht. (Mannheimer Morgen, 30.08.1989)
Der Austausch von Bäumen gegen Schilder in (7a) ist zwar eindeutig als Wortspiel zu werten, ist aber gerade wegen der Teilbarkeit von (7) aus semantischer Sicht durchaus sinnvoll. Substitutionen dieser Art sind für (6) auch als Wortspiel kaum denkbar. Aus dem Gesagten resultiert die prinzipielle Möglichkeit, die Menge aller Idiome einer Sprache in zwei Untermengen zu unterteilen: die der semantisch nichtteilbaren und die der teilbaren Idiome.13 Aus theoretischer Sicht stellen sich in diesem Zusammenhang mehrere Probleme. Erstens fragt sich, was die Kriterien für die Unterscheidung zwischen teilbaren und nichtteilbaren Idiomen sind. Sind hier bestimmte formale Prozeduren denkbar, deren Implementierung es in jedem konkreten Fall gestatten würde, den Status des betreffenden Idioms bezüglich seiner semantischen Teilbarkeit bzw. seines Kompositionalitätsgrades operational zu bestimmen?14 Zweitens fragt sich, was das Wesen der semantischen Teilbarkeit ausmacht. Wie korreliert sie mit der semantischen Motiviertheit bzw. Transparenz? Auf den zweiten Fragenkomplex sei an dieser Stelle kurz eingegangen.
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Ausführlicher dazu vgl. Rajchätejn 1980; 1981; Dobrovol'skij 1982; Geeraerts, Dirk: Specialisation and reinterpretation in idioms, in: Everaert, Martin; Linden, Erik-Jan van der; Schenk, Andro; Schreuder, Rob (eds.). Proceedings of IDIOMS. Tilburg: ITK 1992, p. 39-52; Nunberg; Sag; Wasow, 1994. In der Fachliteratur werden dafür verschiedene Termini benutzt. Die semantisch teilbaren Idiome werden, wie bereits erwähnt, auch analyzable bzw. decomposable idioms genannt. Nunberg; Sag; Wasow, 1994, nennen sie idiomatically combining expressions bzw. kurz idiomatic combination im Gegensatz zu den semantisch nichtteilbaren Idiomen, die in ihrer Terminologie idiomatic phrases heißen. Transformationen wie Relativsatzumformung, Fokussierung durch Fragesatzumformung oder auch Fokussierung durch Demonstrativpronomen sind durchaus imstande, die Funktion von Tests zu übernehmen, weil sie die betreffende Konstituente in eine Position bewegen, in der sie nur in dem Fall sinnvoll interpretierbar ist, in dem ihr eine selbständige Bedeutung zugeordnet werden kann. Vgl. dazu Dobrovol'skij, Dmitrij: Haben transformationeile Defekte der Idiomstruktur semantische Ursachen?, in: Fernandez-Bravo, Nicole; Sehr, Irmtraud; Rozier, Ciaire (Hgg.): Phraseme und typisierte Rede. Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 25-37. (Eurogermanistik 14); ders.: Gibt es Regeln für die Passivierung deutscher Idiome?, in: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch 1999. Bonn: DAAD (im Druck).
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3. Zur essentiellen Begriffsbestimmung Zur Frage nach dem Wesen der semantischen Teilbarkeit und ihrer Korrelation mit der semantischen Transparenz sei zunächst folgendes angemerkt. Wenn in der Korrelation „semantische Teilbarkeit - syntaktisches Verhalten" das erste Glied als primär (d. h. als Ursache) gilt, darf ausgehend vom syntaktischen Verhalten nur operational auf die Teilbarkeit geschlossen werden. Die Wesenscharakteristika der semantischen Teilbarkeit von Idiomen müssen aber unabhängig von ihren syntaktischen Eigenschaften erfaßt und in semantischen Termini definiert werden. Sonst wäre dieser Begriff zirkulär und für die Theoriebildung überflüssig. Ein bekannter Versuch, das Wesen der semantischen Teilbarkeit zu definieren, stammt von Rajchätejn (1980; 1981) und mündet in die oben bereits erwähnte Feststellung, daß der Begriff der Teilbarkeit mit dem Homomorphismus in der Gliederung der lexikalischen und semantischen Struktur des Idioms zusammenhängt. Diese Definition ist approximativ zufriedenstellend. So beruht die Teilbarkeit des Idioms (7), zumindest bei einer oberflächlichen Betrachtung, auf der Tatsache, daß jeder Konstituente eine unikale verwendungsspezifische Bedeutung zugeschrieben werden kann. Wenn man aber die Teilbarkeit ausschließlich in Termini der Relationen zwischen dem Formativ des Idioms und seiner aktuellen Bedeutung definiert, stellen sich erneut alle oben diskutierten Fragen. Wie kommt es zu diesem Homomorphismus? Ist er nicht eher das Ergebnis einer künstlich zurechtgelegten Bedeutungserklärung als eine objektive sprachliche Gegebenheit? Bleibt das Idiom trotzdem teilbar, wenn wir ihm eine andere, syntaktisch nicht homomorphe Bedeutungserklärung zuordnen? Woher wissen wir, daß die Konstituenten selbständige Bedeutungen aufweisen, wenn diese Bedeutungen unikal sind, d. h. - ähnlich wie in (7) - nie außerhalb des Idioms anzutreffen sind? Eine weitere Definition der semantischen Teilbarkeit stammt von Nunberg (1978, S. 125): "Let us say that verb phrases 'refer' to states and activities, and that transitive verb phrases normally refer to states and activities that are best identified as Open relations' of the form Rxb, where 'R' stands for the relation referred to by the verb, V is a variable for the referent of the sentence subject, and 'b' stands for the referent of the object NP. [...] Then we will say that an idiomatic transitive VP is DECOMPOSABLE just in case it is used to refer to a state or activity such that it would be normally believed that an activity could be identified as an open relation Rxb, such that the object NP of the idiom refers to b, and the verb to R."
Das Problem liegt hier nicht so sehr darin, daß sich diese Definition nur auf Idiome mit der Struktur VP (V + NP) 15 bezieht, sondern vielmehr darin, daß sie auf eine etwas stärker formale Art grundsätzlich dasselbe aussagt wie die Definition von Rajchätejn. Die Ursachen dafür, daß das VP-Idiom als in V und NP Bei der Beschreibung der syntaktischen Struktur der Idiome werden hier die Üblichen Abkürzungen benutzt: Ffilr Verb, VP für Verbalphrase, NP für Nominalphrase und PP für Präpositionalphrase.
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zerlegbar empfunden wird, werden nicht erklärt. Der Hinweis auf die Fähigkeit der Verb-Konstituente, auf das Prädikat, und der NP-Konstituente, auf sein Argument zu referieren, bedeutet nichts anderes als die Feststellung, daß V und NP innerhalb des Idioms als semantisch autonome Elemente empfunden werden. Das wichtigste Moment, das in diesen beiden Definitionsversuchen fehlt, ist die bildliche Komponente des Idiom-Inhaltsplanes, d. h. seine innere Form. Die wesentlichen Charakteristika der semantischen Teilbarkeit zu erfassen und ohne innere Widersprüche zu beschreiben, ist m. E. nur möglich, wenn die aktuelle Bedeutung des Idioms nicht unmittelbar mit seinem lexikalischen Bestand, sondern mit seiner inneren Form in Beziehung gebracht wird. Wenn die Struktur der figurativen Lesart des Idioms mit der Struktur der zugrundeliegenden Metapher homomorphe ZUge aufweist, handelt es sich um ein semantisch teilbares Idiom.16 Diese Interpretation erklärt auch, warum in vielen Fällen nur eine der Konstituenten als semantisch autonom empfunden wird, vgl. (8). (8) die Katze aus dem Sack lassen ,seine wahre Absicht zu erkennen geben, ein Geheimnis preisgeben' (Duden 11, 1998, S. 376)
Die Konstituente Katze referiert auf .seine wahre Absicht' bzw. ,ein Geheimnis', während es kaum möglich ist, eine semantische Interpretation für die Konstituente Sack zu finden. Dies hängt damit zusammen, daß die diesem Idiom zugrundeliegende Metapher eine bestimmte innere Struktur hat, und zwar evoziert die Vorstellung einer „aus dem Sack gelassenen Katze" eine Reihe von Konsequenzen (enlailmenls im Sinne von Lakoff 1993).17 So folgt aus der im Idiom explizit dargestellten Metapher u. a., (i) daß das Agens keine Kontrolle mehr über die Katze hat, die es bis dahin über sie hatte, (ii) daß andere Menschen diese Katze, die bis dahin im Sack versteckt war, jetzt sehen oder sogar fangen können, (iii) daß es äußerst kompliziert ist, die Katze wieder zu fangen und in den Sack zu stecken, (iv) daß, auch wenn das gelingen würde, die anderen Menschen die Katze schon gesehen haben usw. Auf die Notwendigkeit, bei der Bestimmung des Begriffs der semantischen Teilbarkeit das Verhältnis von literal und idiomatic interpretation in Betracht zu ziehen, weisen Nunberg; Sag; Wasow, 1994, p. 504, hin: „To say that an idiom is an idiomatically combining expression is to say that the conventional mapping from literal to idiomatic interpretation is homomorphic with respect to certain properties of the interpretations of the idiom's components. In the case of an idiom like pull strings, this is quite easy to see: the literal situation-type involves a pulling activity and an affected object that is a set of strings. The idiomatic situation-type that this is mapped to involves a different activity, but one that preserves certain properties of pulling, and an affected object that participates in the idiomatic activity in a way that is similar in certain key respects to the way strings are pulled." Unklar bleibt dabei allerdings, was unter similar situation-type zu verstehen ist. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der wörtlichen und figurativen Lesart ist jeder Metapher per defmitionem immanent. In diesem Sinne hilft auch diese Definition kaum, das Wesen der semantischen Teilbarkeit der Idiomstruktur zu erfassen. Lakoff, George: The contemporary theory of metaphor, in: Ortony, Andrew (ed.). Metaphor and thought. Second edition. Cambridge etc.: Cambridge University Press 1993, p. 202251.
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Aus der Korrelation dieser metaphorischen Konsequenzen mit der aktuellen Bedeutung des Idioms ergibt sich eine Reihe von konzeptuellen Korrespondenzen (correspondences nach Lakoff 1993). So entsprechen die metaphorischen Vorstellungen (i-iv) dem Wissen, daß man über die einmal jemandem erzählten Absichten bzw. Geheimnisse keine Kontrolle mehr hat (i), daß durch das Erzählen die Absichten bzw. Geheimnisse anderen Menschen bekannt werden (ii), daß es äußerst kompliziert ist, die erzählten Inhalte wieder unter Kontrolle zu bringen, indem man sie z. B. zu dementieren versucht (iii), daß, auch wenn das gelingen wtlrde, die anderen Menschen die entsprechenden Informationen schon gehört haben (iv) usw. Aus der Tatsache, daß in all diesen konzeptuellen Korrespondenzen die Katze ,den Absichten', .Geheimnissen', .bestimmten Inhalten bzw. Informationen' entspricht, ergibt sich die Möglichkeit, die Konstituente Katze als ein Wort mit einer selbständigen metaphorischen Lesart zu verstehen (und nicht aus dem Wortlaut des Idioms selbst). Die Rekurrenz dieser Lesart in mehreren konzeptuellen Strukturen, die durch das Idiom evoziert werden, macht die Interpretation der Konstituente Katze als einer semantisch autonomen Einheit natürlich und überzeugend. Selbst wenn diese Lesart nur in einem Idiom vorkommt, erscheint sie nicht als etwas Unikales und ad hoc Produziertes, weil ihr das mehrfache Auftreten in mehreren Korrespondenzen der entsprechenden konzeptuellen Metapher eine gewisse Regularität verleiht. Eben diese konzeptuell-semantischen Eigenschaften bestimmen den Status des Idioms als semantisch teilbar. Die möglichen syntaktischen Modifikationen sind dabei sekundär. Die Hinwendung zu Modifikationen kann in operativer Hinsicht hilfreich sein, entscheidet aber (entgegen der in Nunberg/Sag/Wasow, 1994, S. 524, explizit geäußerten Meinung) nicht über den Kompositionalitätsgrad des Idioms. Vergleiche dazu Textbeleg (9), in dem nicht die Konstituente Katze, sondern das ganze Idiom durch eine PP mit adverbialer Funktion modifiziert wird, was mit der semantischen Selbständigkeit der Konstituente Katze nichts zu tun hat. (9)
Die engagierte Deutsche Börse AG hat jungst die Katze in Form von Strategiethesen aus dem Sack gelassen. (Mannheimer Morgen, 19.11.1994)
Sätze wie (9) sind also sowohl mit teilbaren als auch mit nichtteilbaren Idiomen möglich und sind in diesem Sinne dem englischen outer passive ähnlich. Die Einbettung der Idiome in solche Äußerungen sagt über ihren Teilbarkeitsgrad nichts aus, geschweige denn, daß er dadurch in irgendeiner Weise beeinflußt werden könnte. Die Interpretation der semantischen Teilbarkeit als eines Resultats der Interaktion zwischen der aktuellen Bedeutung des Idioms und seiner inneren Form läßt auch erkennen, daß die semantische Teilbarkeit des Idioms eine Art seiner semantischen Transparenz darstellt (vgl. eine etwas abweichende Interpretation in Dobrovol'skij, 1995, die ich inzwischen revidiert habe). Lakoff (1987, S. 451) spricht von der Transparenz als von der Existenz von ,,[m]otivating links for idioms - that is, cases where there is some link (L) of the form conventional image + knowledge + metaphors relating the idiom to its meaning". Wie Beispiel (8) zeigt, ist das Vorhandensein solcher motivating links eine obligator!-
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sehe Bedingung für die Interpretation des Idioms als teilbar und seiner Konstituenten als semantisch autonom. Diese Sichtweise wird nicht von allen in diesem Bereich arbeitenden Linguisten vertreten.18 Auch Keil (1997)19 meint z. B., daß es sich bei Teilbarkeit und Transparenz um voneinander unabhängige Größen handelt. Als Beispiel bringt sie das Idiom einen Bock schießen und interpretiert es folgendermaßen: „Der Phraseologismus ist weder auf Wortebene, noch insgesamt motiviert jedoch [...] kann durch die Komponente Bock auf das Konzept .Fehler' referiert werden."
Ich würde dieses Idiom als motiviert einstufen. Allein die Möglichkeit, dieses Idiom auf vielfältige Art zu modifizieren (vgl. Fußnote 7), zeugt davon, daß sich die Sprecher unter Bock durchaus etwas vorstellen können, d. h. sie ordnen dieser Konstituente eine selbständige metaphorische Lesart zu. Auch hier finden sich ähnlich wie in (8) - konzeptuelle Korrespondenzen, andernfalls könnte man nicht erklären, welche semantischen Mechanismen Modifikationen gestatten. Der Eindruck der Opazität mag hier entstehen, weil sich die metaphorische Lesart von Bock als ,Fehler' nahezu verselbständigt hat und - wie bei allen konventionalisierten Metaphern - nicht mehr des interpretativen Rückgriffs bedarf. Die Unterschiede in der Interpretation des Zusammenhangs zwischen der semantischen Transparenz und der semantischen Teilbarkeit sind meistens dadurch bedingt, daß unter dem Begriff semantisch motiviert bzw. transparent unterschiedliche Phänomene verstanden werden. So halten Nunberg/Sag/Wasow (1994, S. 497) das Idiom spill the beans für teilbar, aber nicht für transparent:21 "When we hear spill the beans used to mean 'divulge the information', for example, we can assume that spill denotes the relation of divulging and beans the information that is divulged, even if we cannot say why beans should have been used in this expression rather than succotash."
Für die Autoren ist das Idiom transparent, wenn für die Sprecher die Wahl der Wörter, die das Idiom konstituieren, vollständig nachvollziehbar ist. In diesem Sinne handelt es sich dabei um quasi-etymologische Kenntnisse, die es gestatten, das Resultat des Phraseologisierungsprozesses in jedem Detail nachzuvollziehen. Aus meiner Sicht besteht die Transparenz eines Idioms in einer grundsätzlichen Möglichkeit, auf der Ebene der synchronen Sprachrezeption die literale Lesart mit der figurativen Lesart eines sprachlichen Ausdrucks in Beziehung zu setzen. So ist es im Idiom spill the beans aus synchroner Sicht tatsächlich nicht klar, warum ausgerechnet beans für die metaphorische Bezeichnung
Vgl. u. a. Geeraerts, Dirk; Bakema, Peter: De prismatische semantiek van idiomen en composita, in: Leuvense bijdragen 82 (1993), S. 185-226; van der Linden, Erik-Jan: A categorial, computational theory of idioms. Utrecht: LEd 1994. Vgl. außerdem Geeraerts, 1992; Nunberg; Sag; Wasow, 1994, p. 496-^97. Keil, Martina: Wort für Wort: Repräsentation und Verarbeitung verbaler Phraseologismen (Phraseo-Lex). Tübingen: Niemeyer 1997. * Keil, 1997, S. 96. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Lakoff, 1987, p. 451, das gleiche Idiom als Beispiel für die Motiviertheit eines Idioms anführt. Der Grund hierfür liegt darin, daß er unter Motivation etwas anderes versteht als Nunberg; Sag; Wasow, 1994.
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der .Geheimnisse' gewählt wurden. Dagegen ist es evident, warum das Verb spill für dieses mapping herangezogen wird. Vor allem ist es dabei wichtig, daß das mapping der ganzen Situation durch die konzeptuellen Metaphern IDEAS ARE PHYSICAL ENTITIES und MIND IS A CONTAINER (im Sinne von Lakoff 1987) motiviert ist. Meiner Meinung nach ist also spill the beans durchaus motiviert, denn ich kann den gleichen Test anwenden wie bei dem deutschen Idiom die Katze aus dem Sack lassen: Es sind jeweils ähnliche Korrespondenzen zwischen beans und ,secrets' wie zwischen Katze und .Geheimnissen'; vgl. auch die von Gibbs (1990) aufgezeigten psycholinguistischen Evidenzen, daß sich die Sprachteilhaber beim Rezipieren bzw. Gebrauchen dieses Idioms durchaus etwas vorstellen können. Beim Verhältnis von Teilbarkeit und Transparenz handelt es sich um eine inklusive Relation. Alle teilbaren Idiome mUssen semantisch transparent sein, nicht aber umgekehrt (vgl. dazu Burger, 1973, S. 15). Daß es nichtteilbare transparente Idiome gibt, beweist u. a. Beispiel (6). Man kann durchaus erklären, warum Haare spalten so viel wie .unwichtigen Kleinigkeiten übertriebene Bedeutung beimessen; spitzfindig sein' bedeutet. Das besagt aber nichts über die Verteilung der Bedeutungselemente auf einzelne Konstituenten bzw. über die Korrelation der Bedeutungselemente mit Elementen der Metapher. Die Erscheinungsformen der semantischen Transparenz können sehr unterschiedlich sein. Damit das Idiom als teilbar empfunden wird, ist es notwendig, daß es nicht nur eine lebendige innere Form aufweist, sondern auch seine innere Form mit seiner aktuellen Bedeutung (teilweise) homomorph strukturiert ist. Abschließend sei daraufhingewiesen, daß es sich bei der semantischen Teilbarkeit um ein graduierbares Phänomen handelt, das von der absoluten Unmöglichkeit, Idiome zu teilen, bis zu einer klaren Zerlegbarkeit in jeweils einzelne Elemente reicht. Der Grad der semantischen Teilbarkeit ist u. a. in den Fällen höher, in denen sich mehrere semantisch korrelierende Idiome mit identischen lexikalischen Elementen (Idiom-Paradigmata) finden. So ist am Ruder stehen schon durch die Existenz der Aktionsart-Varianten ans Ruder kommen, jmdn. ans Ruder bringen, am Ruder bleiben (Duden 11, 1998, S. 592-593) stärker teilbar als z. B. die Katze aus dem Sack lassen?2 Denn der autonome semantische Status der Konstituente Ruder wird nicht nur durch die entsprechenden metaphorischen Korrespondenzen bestimmt, sondern auch durch das wiederholte Auftreten in verschiedenen lexikalischen Konfigurationen bei Erhaltung der gleichen semantischen Funktion unterstutzt.
Das anscheinend semantisch ahnliche Idiom die Katze im Sack kaufen .etwas ungeprüft übernehmen, kaufen (und dabei übervorteilt werden)' (Duden 11, 1998, S. 376) ist kein echtes paradigmatisches Korrelat, weil in diesem Idiom der Konstituente Katze nicht die gleiche Bedeutung jmds. wahre Absicht' bzw. ,ein Geheimnis* zugeordnet werden kann. Man kann hier kaum von der semantischen Autonomie der Konstituente Katze sprechen, es handelt sich vielmehr um die bedeutungstragende NP Katze im Sack = .etwas möglicherweise Wertloses, was als solches nicht rechtzeitig erkannt werden kann, da es noch verborgen ist'.
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4. Fazit Auf die eingangs gestellte Frage, ob die Semantik von Idiomen nichtkompositionell ist, kann nun eine differenzierte Antwort gegeben werden. Bestimmte Idiome sind wirklich nichtkompositionell in dem Sinn, daß sich ihre Bedeutung in keiner Weise aus den Bedeutungen ihrer Konstituenten ergibt. Andere dagegen sind kompositionell, allerdings nicht in produktiver, sondern in rezeptiver Hinsicht, d. h. bestimmten Konstituenten dieser Idiome können sozusagen post factum relativ selbständige semantische Repräsentationen zugeordnet werden, die mit den literalen Bedeutungen dieser Konstituenten nicht identisch sind und sich vielmehr aus der transparenten Strukturiertheit der Gesamtmetapher ergeben. Die semantische Kompetenz des Sprechenden gestattet ihm in diesen Fällen, das Idiom als Einheit zu verarbeiten und gleichzeitig seinen Konstituenten (d. h. den Konfigurationselementen dieser semantischen Einheit) Einzelbedeutungen zuzuordnen. In diesem Sinne unterscheiden sich die teilbaren Idiome nicht von sonstigen Wortkombinationen, weil die Verarbeitung der Sprache generell in ähnlicher Weise vor sich geht. Auch nichtidiomatische Kombinationen lexikalischer Elemente werden sowohl holistisch (als bedeutungstragende Konfigurationen) als auch elementweise verarbeitet.
Susanne Beckmann
Bemerkungen zur Integration phraseologischer Einheiten in ein semantisches Beschreibungsformat
Bei der semantischen Beschreibung von Adjektiven im Rahmen der Lexikologie stößt man immer wieder auf sprachliche Einheiten, die hinsichtlich bestimmter Merkmale wie Distribution, Variabilität, morphologische Veränderbarkeit etc. einige Besonderheiten aufweisen. Die Rede ist von .Phraseologismen', die in der Fachliteratur auch als .Phraseologische Einheit', ,Phrasmus', ,Phrasem', ,Phraseolexem', .festes Syntagma' bezeichnet werden, um nur einige der gängigen Termini zu nennen.1 Jeder der Semantik betreibt, muss sich mit der Frage auseinandersetzen, wie er mit solchen sprachlichen Einheiten verfährt. Grenzt man sie aus der semantischen Beschreibung aus, wie es beispielsweise Coseriu wegweisend für die strukturalistische Semantik empfiehlt,2 und verweist sie somit in das Feld der Phraseologie, oder wird eine wie auch immer geartete Integration versucht? Beide Wege sind mit spezifischen Problemen verbunden. Gegen eine Ausgrenzung spricht zum einen die Schwierigkeit, sie als sprachliche Einheiten überhaupt eindeutig zu identifizieren. Wie problematisch solche dichotomen Grenzziehungen sein können, erläutert Burger am Beispiel der .phraseologischen Verbindung'. .Phraseologische Verbindungen' sind dadurch charakterisiert, dass ein Wort seine usuelle Bedeutung behält und das andere eine spezifisch phraseologische , Färbung' aufweist.3 Nach Rothkegel wäre eine Wortverbindung wie kalter Krieg nur dann als festes Syntagma einzustufen, wenn kalt in dieser Bedeutungsposition nur an das Lexem Krieg gebunden ist.4 Burger kritisiert daran, dass dies ein zu starres Konzept sei, weil es nicht ermögliche, dynamische Prozesse mit zu erfassen. Aufschlussreicher wäre nach Burger „eine Konzeption, die kalter Krieg als Phraseologismus zu bestimmen erlaubt und gleichzeitig eine Erklärung dafür anbietet, warum im heutigen Deutsch auch Wortverbindungen wie kalte Progression, kalte Aufwertung tatsächlich vorkommen, die eine analoge semantische Struktur aufweisen."5 Das dynamische Moment in der Synchronie könne gerade in der Phraseologie nicht
Vgl. Pilz, Klaus Dieter: Zur Terminologie der Phraseologie, in: Muttersprache 93 (1983), S. 336-350, hier S. 339. Vgl. dazu Geckeier, Horst: Strukturelle Semantik und Wortfeldtheorie. München 1982, S. 186f. Vgl. Burger, Harald; Buhofer, Annelies; Sialm, Ambras (Hgg.): Handbuch der Phraseologie. Berlin; New York 1982, S. 3If. Vgl. Burger u. a., 1982, S. 20; vgl. Rothkegel, Annely: Feste Syntagmen. Grundlagen, Strukturbeschreibungen und automatische Analyse. Tubingen 1973, S. 6. Vgl. Burger u. a., 1982,5. 20f.
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ohne Schaden für die Analyse ausgeklammert werden.6 Ein Beispiel wie kalter Krieg zeige, dass die Grenzen zwischen singulärer und serieller Verknüpfung mindestens diachron fließend sind, sofern aus der singulären Verknüpfung jederzeit eine serielle sich entfalten kann.7 Burger benennt damit die spezifische Problematik der .phraseologischen Verbindungen', bei denen Abgrenzungsprobleme vor allem dann entstehen, wenn die phraseologische Verbindung sich .lockert', das heißt, wenn sich - motiviert durch die spezifische Bedeutung der phraseologischen Verbindung - andere Kollokationen herausbilden.8 Gerade neuere Arbeiten zur Phraseologie lassen strikte Grenzziehungen zwischen phraseologischen und nicht-phraseologischen Einheiten immer problematischer erscheinen. Im Grenzbereich anzusiedeln sind z. B. sprachliche Einheiten wie jung und schön, blond und blauäugig, dick und fett, groß und stark, Sorgen und Nöte, Kaffee und Kuchen* usw. die, wie Feilke gezeigt hat, einerseits zwar eine „festgelegte Distribution" aufweisen, anderseits aber aus der Klasse der Zwillingsformeln herausfallen, da sie grammatisch und semantisch völlig regulär sind. Sie seien „durchaus - in traditioneller Terminologie - semantisch kompositionell" und enthielten „auch keine sogenannten unikalen Komponenten", noch seien sie im Sinne des phraseologischen Kriteriums der Idiomatizität bzw. Figuriertheit semantisch idiomatisch.10 Abgrenzungsprobleme entstehen auch dadurch, dass bestimmte Kriterien, die zur Bestimmung phraseologischer Einheiten herangezogen werden, nur relativ zu bestimmten sprachlichen Kontexten ihre Gültigkeit haben. So hat Anne Lise Kjaer am Beispiel juristischer Wortverbindungen darauf aufmerksam gemacht, dass Festigkeit mitunter „nur relativ zu bestimmten fachlich definierten, aufzählbaren Redesituationen und Textpositionen" beschrieben werden kann.11 Der Wortlaut Erledigung der Hauptsache z. B. sei in Prozessakten und gerichtlichen Entscheidungen unabänderlich, in Kommentartexten kämen demgegenüber aber nicht selten Variationen wie Erledigung des Anspruchs, der Sache, des Streitgegenstandes, der Klage vor. Eine ähnliche Problematik sieht sie auch gegeben für .pragmatische Phraseologismen', .bevorzugte Analysen' und .Nominationsstereotype'.12 In welchem Ausmaß letztere davon betroffen sind, kann in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden; in Bezug auf das hier fokussierte Problem kann jedoch festgehalten werden, dass die Phraseologizität einer sprachlichen Einheit ohne entsprechende Kontextuntersuchungen nicht sicher beurteilt werden kann, und darüber hinaus, dass Aussagen über die Phraseologizität
6
Vgl. Burger u. a., 1982, S. 21. Vgl. Burger u. a., 1982,8. 32. 8 Weitere Beispiele hierzu finden sich bei Burger u. a., 1982, S. 32. Weitere Beispiele bei Feilke, Helmuth: Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt a. M. 1996, S. 169. Vgl. Feilke, 1996,8. 169f. 1 ' Vgl. Kjaer, Anne Lise: Phraseologische Wortverbindungen in der Rechtssprache?, in: Palm, Christine (Hg.): „Europhras 90". Akten der internationalen Tagung zur germanistischen Phraseologieforschung, Aske/Schweden 12-15. Juni 1990. Upsala 1991, S. 115-122, hier S. 118ff. 12 Vgl. Kjsr, 1991,8. 118f.
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mitunter nur relativ zu bestimmten Kontexten gemacht und somit im Rahmen einer lexikologischen Untersuchung nicht vorab getroffen werden können. Wie heikel und unklar die Abgrenzung zwischen phraseologischen und nicht-phraseologischen Einheiten ist, zeigt nicht zuletzt auch die Tatsache, dass eine Rechtschreibreform den Status einer lexikalischen Einheit grundlegend verändern kann. So werden durch die letzte Rechtschreibreform Komposita wie alleinstehend, andersdenkend, andersgeartet, dichtgedrängt getrennt geschrieben und erhalten somit - wenn man eine weite Phraseologiedefinition zugrunde legt13 - den Status phraseologischer Wendungen. Ein Blick in den neuen Rechtschreib-Duden14 zeigt, dass es eine Fülle solcher Fälle gibt. Diese wenigen Beispiele sollten auf die Schwierigkeiten aufmerksam machen, die eine Semantik in methodologischer Hinsicht hat, wenn sie eine strikte Trennung von phraseologischen und nicht-phraseologischen Einheiten vorsieht.15 Im Folgenden soll der umgekehrte Weg eingeschlagen werden, es soll die Frage gestellt werden, inwiefern sich Phraseologismen in ein semantisches Beschreibungsformat integrieren lassen oder, allgemeiner formuliert, welche Fragen und Probleme sich stellen, wenn man semantische Operationen auf diese Gruppe von lexikalischen Einheiten anwendet. Natürlich ist die Beantwortung der Frage aufs engste mit der jeweils gewählten Methodik verbunden. Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist das Beschreibungsformat, das Hundsnurscher/SpIett in ihrem 1982 erschienenen Buch „Semantik der Adjektive des Deutschen"16 zur Eingrenzung von Bedeutungspositionen von Adjektiven entworfen haben und das in zahlreichen späteren Aufsätzen von Franz Hundsnurscher weiter entfaltet wurde.17 Ziel des Großprojektes ist eine Gesamtbeschreibung des deutschen Wortschatzes an einem Teilbereich, am Beispiel der Adjektive: „Es ging dabei in erster Linie darum, einen Überblick Über die lexikalische Besetzung in den verschiedenen Bedeutungsbereichen zu erhalten, Zonen synonymischer Verdichtung festzustellen und die Polysemieverhältnisse bestimmter Adjektivgruppen zu erfassen."18
In dem zugrunde gelegten Korpus19, das insgesamt 23 970 Adjektive enthält, findet sich eine große Zahl von Adjektiven, die in phraseologischen Einheiten vorkommen. Diese Phraseologismen wurden zunächst aus heuristischen Gründen einer gemeinsamen Großgruppe zugeordnet, die mit dem Kürzel IDIOM -
Vgl. z. B. die Definition bei Burger, Harald: Phraseologie. Eine Einfuhrung am Beispiel |4
1?
des Deutschen. Berlin 1998, S. 14. DUDEN. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Mannheim u. a. 1996. Vgl. hierzu auch DobrovoPskij, Dmitrij: Ist die Semantik von Idiomen nichtkompositionell?, in diesem Band, S. 113-124. Hundsnurscher, Franz; Spielt, Jochen: Semantik der Adjektive des Deutschen. Analyse der semantischen Relationen. Opladen 1982. (Forschungsberichte des Landes Nordrhein-WestfalenNr. 3137) Vgl. dazu einschlägige Aufsätze im Schriftenverzeichnis von Franz Hundsnurscher in diesem Band. Hundsnurscher; Splett, 1982, S. 48. Vgl. zur Erstellung des Korpus Hundsnurscher; Splett, 1982, S. 19ff.
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„Adjektive in idiomatischen Wendungen"20 gekennzeichnet wurde. Diese Gruppe unterscheidet sich von anderen dadurch, dass der Zusammenschluss zu einer Gruppe nicht wie bei den anderen das Ergebnis einer semantischen Zuordnung ist, sondern zunächst aus rein formalen Gründen geschah, motiviert durch spezifische Eigenschaften wie Mehrgliedrigkeit, Stabilität/Festigkeit, Idiomatizität etc. Bei der ersten Durchsicht des Materials ist zunächst einmal augenfällig, dass die in der Gruppe IDIOM enthaltenen Phraseologismen sehr heterogen sind. Versammelt sind hier so unterschiedliche Formtypen wie autogenes Training; in bar; gestiefelt und gespornt; klein, aber oho; gut für etwas sein; parat haben; platt sein wie eine Flunder; sich heiß reden; etwas hoch und heilig versprechen; sauer sein; gang und gäbe sein. Im Wesentlichen handelt es sich um .satzgliedwertige Phraseologismen' und Phraseologismen, die kleiner sind als ein Satzglied.21 Legt man die morphologisch-syntaktische Klassifikation von Fleischer zugrunde, so fallen die bei Hundsnurscher/Splett versammelten Phraseologismen in alle vier Hauptgruppen, in .substantivische', .adjektivische', .adverbiale' und ,verbale Phraseologismen'.22 Um einen Vergleich mit entsprechenden Adjektivlesarten ziehen zu können, ist es sinnvoll, sich in einem ersten Schritt auf bestimmte Formtypen zu konzentrieren. Das sind im Wesentlichen die Formtypen, die bei Fleischer unter die ,adverbialen' und .adjektivischen Phraseologismen' fallen, aber auch Einheiten des Formtypus platt sein, sauer sein, die nach Fleischer zu den .verbalen Phraseologismen' gehören, sind hier zu berücksichtigen. Insgesamt sind in dem Projekt natürlich nur solche Phraseologismen erfasst, die auch ein Adjektiv enthalten (also nicht etwa Phraseologismen wie von Haus aus, auf Anhieb usw., die bei Fleischer ebenfalls unter den adverbialen Phraseologismen angeführt sind).23 Der methodologischen Beschränkung liegt die Überlegung zugrunde, dass die einzelnen Wortarten - und Gleiches gilt für Phraseologismen -jeweils spezifische Beschreibungskategorien erfordern. Da beispielsweise die verschiedenen syntaktischen Realisierungen bei den Adjektiven Bedeutungsdifferenzierungen mit sich bringen können, muss die syntaktische Einbindung auch eine semantische Beschreibungskategorie für die Analyse der Bedeutung von Adjektiven sein; deshalb stellt sie in dem von Hundsnurscher und Splett konzipierten Semantikprojekt auch eine Beschreibungskategorie zur Ermittlung von Bedeutungspositionen dar.24 Für Verben - und Gleiches würde für die meisten .verbale Phraseologismen' gelten - wären andere Kategorien zu berücksichtigen.
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Die Großgruppe enthält allerdings nicht nur idiomatische Ausdrücke i. e. S. Vgl. zur Terminologie Burger u. a., 1982, S. 23. Fleischer, Wolfgang: Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Tübingen 1997, S. 138ff. Dass die Unterscheidung zwischen den einzelnen Klassen zum Teil heikel ist und eigens diskutiert werden müsste, ist für die hier untersuchte Fragestellung nicht von Bedeutung. Vgl. Hundsnurscher; Splett, 1982, S. 60.
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Nimmt man das Material des Projektes in Augenschein, so lässt sich ein großer Teil des Materials - unter den oben erwähnten methodologischen Beschränkungen - folgenden Formtypen zuordnen.25 Adjektivische Phraseologismen nach dem Muster: -
A d j e k t i v / A d v e r b + P a r t i z i p M: gut gepolstert, kurz angebunden; schiefgewickelt usw.; a t t r i b u t i v verwendbar:./«: und fertig; klipp und klar, doppelt gemoppelt us w. ; z u m + I n f i n i t i v - t - A d j e k t i v : zum Malen schön; („ein zum Malen schönes Mädchen"); zum Greifen nah („zum Greifen nahe Berge"); zum Brechen voll („zum Brechen volles Zimmer").
Adverbiale Phraseologismen nach dem Muster: -
-
P r ä p o s i t i o n + a t t r i b u t i v erweitertes S u b s t a n t i v : mit offenen Armen; mit verschränkten Armen; mit bloßem Auge; unter freiem Himmel; vom grünen Tisch usw.; P r ä p o s i t i o n a l e S u b s t a n t i v g r u p p e , erweitert e n t w e d e r d u r c h e i n u n f l e k t i e r t g e b r a u c h t e s A d j e k t i v , das vor der P r ä p o s i t i o n a l g r u p p e steht, oder in noch k o m p l e x e r e r Weise u n t e r V e r w e n d u n g des Poss e s s i v p r o n o m e n s : kurz vor Toresschluß; hoch zu Roß; für mein/sein Leben gern usw.; P r ä p o s i t i o n + A d v e r b / A d j e k t i v : ^ / · gewöhnlich; in bar usw.; mit Erweiterungen: von klein auf usw.; A d j e k t i v / A d v e r b + u n d + A d j e k t i v / A d v e r b : null und nichtig; recht und billig; gut und gern; kreuz und quer usw.; P r ä p o s i t i o n + A d j e k t i v / A d v e r b + u n d / o d e r + Adjektiv/Adverb: im großen und ganzen; über kurz oder lang usw.; Erstarrte G e n i t i v k o n s t r u k t i o n : leichten/schweren Herzens; linker/rechter Hand usw.
Komparative Phraseologismen unterschiedlicher Struktur: hungrig wie ein Bär; bekannt sein wie ein bunter Hund; müde wie ein Hund; frech wie Oskar usw. Verbale Phraseologismen mit adjektivisch-adverbialer Basiskomponente -
ohne E r w e i t e r u n g '.bereit sein; spruchreif sein; down sein usw. A d j e k t i v i s c h - a d v e r b i a l e s WoTlpu&i. gangundgäbe sein usw.
Die bei Fleischer genannten Formtypen sind noch zu ergänzen durch Formtypen wie die folgenden, wobei hier nur die wichtigsten aufgeführt werden sollen: -
P a r t i z i p + A d j e k t i v : knackend voll; gerappelt voll; gerammelt voll; knackend kalt; brüllend heiß; strahlend blau usw.; A d j e k t i v + P r ä p o s i t i o n a l g r u p p e : arm am Beutel; krank am Herzen; arm im Geiste; gut zu Fuß usw.
Inwieweit sind diese Typen von Phraseologismen in das von Franz Hundsnurscher und Jochen Splett entwickelte Beschreibungsformat zu integrieren? „Die 25
Vgl. Fleischer, 1997, S. 105, 147ff, 149ff. und 156f. (Es werden hier jeweils nur einige Beispiele ohne Bedeutungsangabe genannt.) Aufgrund der oben beschriebenen methodologischen Beschränkungen kommen hier allerdings nur Verbindungen mit sein in Frage; Fleischer führt hier keine entsprechenden Beispiele an.
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Einheit der semantischen Beschreibung" so Hundsnurscher/Splett ist „die minimale konventionalisierte Bedeutungsposition. Die Bedeutung eines Wortes kann so bestimmt werden als die Menge seiner Bedeutungspositionen, d. h. als die Menge der voneinander unterscheidbaren Gebrauchsweisen eines Wortes",27 die auf der Basis folgender Kriterien ermittelt wird: 1) das Vorhandensein von Quasisynonymen, 2) die Unterscheidbarkeit von Kollokationsbereichen, 3) die Zuordnungsmöglichkeit zu einer übergeordneten Bedeutungsgruppe,
4) das Vorhandensein von Antonymen, 5) die Möglichkeit einer Bedeutungsparaphrase, 6) die Einspannungsmöglichkeiten in attributiver und prädikativer Position in StandardÄußerungsformen.28
Ein zentrales Ziel des Projekts ist die Ordnung des gesamten adjektivischen Wortschatzes auf der Ebene der Synonymic, die als die grundlegende semantische Relation angesehen wird. „Auf ihr basieren die semantischen Oppositionen, die für den Wortgebrauch im Einzelnen maßgebend sind."29 Zur Ermittlung synonymischer Relationen wurde zunächst - auf einer mittleren Analyseebene das gesamte Material, das heißt alle Adjektive des Deutschen mit ihren verschiedenen Lesarten,30 in quasisynonymische Gruppen mit jeweils einer Orientierungslesart geordnet. Die Anordnung des Materials in solche semantischen Kleingruppen dient der Kontrastierung der Adjektive mit ihren unmittelbaren semantischen Nachbarn, die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Semantik der minimalen Kontraste".31 Auf dieser Analyseebene, die noch keine Feinanalyse im engeren Sinne vorsieht, lassen sich die meisten der oben genannten Phraseologismen ohne Weiteres dem Material zuordnen. Die Integration der genannten Phraseologismen auf einer mittleren Analyseebene ist bei einigen der angeführten Formtypen semantisch aufschlussreich. So stellen die meisten komparativen Phraseologismen des Formtyps Adjektiv + wie Vergleich (dumm wie Bohnenstroh; schlau wie ein Fuchs; schnell/flink wie der Blitz; hungrig wie ein Wolf, arm wie eine Kirchenmaus; sanft wie ein Lamm; voll wie eine Haubitze; sicher wie in Abrahams Schoß usw.) und des Typs P a r t i z i p + A d j e k t i v (knackend voll; knackend kali; brüllend heiß usw.) eine Intensivierung gegenüber der entsprechenden Orientierungslesart dar. Dies gilt auch für viele Paarformeln, z. B. klipp und klar, kurz und bündig, offen und deutlich, blink und blank, dreckig und speckig usw. Solche Steigerungsformen sind natürlich auch im nicht-phraseologischen Bereich lexikalisiert, sie werden dort häufig in Form von Kompositionen realisiert. So haben z. B. Phraseologismen wie dumm wie Bohnenstroh, dumm wie die Nacht eine semantische Entsprechung in Adjektiven wie saudumm, strohdumm, stockdumm, erzdumm, kreuzdumm, mordsdumm, blitzdumm, saublöd. 27 28 29
Vgl. Hundsnurscher; Splett, 1982, S. 11. Vgl. Hundsnurscher; Spielt, 1982, S. 59f. Vgl. Hundsnurscher; Splett, 1982, S. 49. Zur Erfassung der Lesarten vgl. Hundsnurscher; Splett, 1982, S. 19ff. Vgl. Hundsnurscher; Splett, 1982, S. 51f.
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Die Nähe phraseologischer Wendungen zu lexikalisierten nicht-phraseologischen Formen drückt sich mitunter auch in morphologisch verwandten Paaren aus: strohdumm vs. dumm wie Stroh, schnell/flink wie ein Blitz vs. blitzschnell, rot wie Blut vs. blutrot usw. Allerdings darf man sich durch die morphologische Verwandtschaften auch nicht täuschen lassen: erst die Feinanalyse, die auch die syntagmatische Einbindung und die syntaktischen Positionen berücksichtigt, kann die synonymischen Relationen wirklich aufzeigen. Der entscheidende Einwand gegen eine Integration der Phraseologismen in ein semantisches Beschreibungsformat ist sicherlich ihre mangelnde Flexibilität hinsichtlich der syntaktischen Positionen und der möglichen syntagmatischen Verbindungen. Starke syntaktische Restriktionen sind natürlich evident für syntaktisch komplex strukturierte Phraseologismen wie die k o m p a r a t i v e n Phraseologismen. Hinsichtlich dieser Frage ist es aber sinnvoll, sich vor Augen zu halten, dass ja auch viele Adjektive nicht in allen syntaktischen Positionen realisiert werden können bzw. dass sich mit den veränderten Positionen mitunter auch Bedeutungsdifferenzierungen ergeben. Geht man noch eine Stufe tiefer auf die Ebene der Feinanalyse, das heißt, bezieht man - wie es in dem Beschreibungsformat von Hundsnurscher/Splett vorgesehen ist - die Kollokationen und die syntaktischen Einspannungen in die Analyse mit ein, so ergibt sich - wie auch Jochen Splett in diesem Band32 zeigt - ein wesentlich differenzierteres Bild: Es wird erkennbar, dass die entsprechenden Adjektive nur partiell synonym sind, d. h. dass ein Adjektiv durch ein anderes aus der gleichen Synonymengruppe nur in beschränktem Maße ersetzbar ist. Anders ausgedrückt: Auch für die sogenannten .freien Wortverbindungen'33 kann nicht einfach von einer freien Kombinierbarkeit in syntagmatischer und paradigmatischer Sicht ausgegangen werden, wie es häufig idealisierend formuliert wird.34 Schauen wir uns vor diesem Hintergrund ein Beispiel aus der Gruppe der Paarformeln an, das Beispiel klipp und klar, und überprüfen, inwieweit die oben genannten Beschreibungskriterien auf diese anzuwenden sind. Die Paarformel klipp und klar wäre - wie auch die Paarformeln offen und deutlich und kurz und bündig - in einem ersten Schritt in den Bereich der „relationsbezogenen Adjektive", in die Großgruppe der „Gewißheits-Adjektive" (GWISS) einzuordnen35 und auf einer .mittleren Analyseebene' in die Quasisynonymengruppe mit der Orientierungslesart KLAR zu stellen. Die Lesart im Zentrum der Gruppe dient der synonymischen Orientierung. „Der Orientierungszusammenhang wird [...] durch eine Relation ,im Sinne von' hergestellt":36
32
Vgl. Splett, Jochen: Zur systematischen Darstellung von Quasisynonymengruppen, dargelegt anhand von FRIEDFERTIG, in diesem Band, S. 51-60. Zum Terminus ,freie Wortverbindung' vgl. Burger, 1998, S. 20. Vgl. z. B. Palm, Christine: Phraseologie. Eine Einführung. Tübingen 1995, S. 7; viel vorsichtiger drückt sich in dieser Hinsicht Burger aus; vgl. Burger, 1998, S. 20. Vgl. zur Konzeption der semantischen Großgruppen Hundsnurscher; Splett, 1982, S. 32ff. Vgl. Hundsnurscher; Splett, 1982, S. 49f; zur semantischen Interpretation der graphischen Anordnung ebd., S. 49ff.
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Susanne Beckmann kurz und bündig bündig
offen und deutlich klipp und klar
deutlich unverblümt
KLAR offen entschlossen entschieden
unmissverständlich unumwunden
Klipp und klar kann in allen syntaktischen Positionen verwendet werden, wobei der attributive Gebrauch äußerst selten vorkommt. Fleischer fuhrt in diesem Zusammenhang das Beispiel klipp und klare Stellungnahme an und rechnet klipp und klar wegen der Möglichkeit des attributiven Gebrauchs zu den »adjektivischen Phraseologismen'.37 In den .Korpora geschriebener Sprache' des .Mannheimer Korpus', die der folgenden Analyse zugrunde gelegt werden, findet sich hierzu kein Beleg.38 Die folgenden Beispiele dokumentieren den prädikativen (1) und adverbialen (2) Gebrauch:39 (1) Das Quartett vom Berufskolleg Fachhochschulreife ist auf dem zweiten Bildungsweg, die Berufsvorstellungen sind klipp und klar. (Mannheimer Morgen, 08.03.1999) (2) Das unrühmliche Femseh-Duell der beiden, in dem Kulenkampff sich entschuldigte, dürfte den ARD-Verantwortlichen noch lange in Erinnerung bleiben. Kulenkampff sagt klipp und klar, Ausgewogenheit sei Langeweile. (Mannheimer Morgen, 27.04.1991)
Die Analyse auf der Grundlage des ,Mannheimer Korpus' zeigt deutlich, dass der adverbiale Gebrauch der prägnante ist, wesentlich weniger frequent ist der prädikative Gebrauch. Besonders häufig steht die Paarformel klipp und klar in syntagmatisehen Verbindungen mit Verba dicendi wie erklären (3), fordern (4), bekennen (5), antworten (6), feststellen (7): (3) Die politischen Parteien forderte er auf, im Bundestagswahljahr „klipp und klar den Wählern zu erklären, wie es mit der gesetzlichen Rentenversicherung weitergehen soll". (Mannheimer Morgen, 31.01.1998) (4) Der CDU-Vorstand des Hohenlohekreises fordert nämlich klipp und klar die Auflösung der Verbände. Die CDU-Oberen dagegen wollen sich alle Möglichkeiten offenhalten und niemand verprellen. (Mannheimer Morgen, 05.05.1998) (5) „Ich würde bei den Neuwahlen Udo Barsuhn gerne wieder als Vorsitzenden haben", bekannte Hisgen klipp und klar. (Mannheimer Morgen, 10.03.1989) (6) Er gestand Schwierigkeiten in der Ehe ein: „Jeder weiß, was darunter zu verstehen ist", sagte er im Femsehen, weigerte sich aber, klipp und klar auf die Frage zu antworten: „Haben Sie Ehebruch begangen?" Seine ebenso aparte wie kluge und erfolgreiche Frau Hillary, sprang ihm selbstbewußt bei. „Ich liebe und respektiere ihn. (Mannheimer Morgen, 28.01.1991) (7) Kommissionspräsident Jacques Delors hat klipp und klar festgestellt: Die Verwirklichung des Binnenmarktes der EG bis 1992 hat Vorrang; der Entscheidungsprozeß in der EG muß ohne Einwirkung von außen erfolgen; bei weiteren Beitritten muß ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten zustande kommen. (Mannheimer Morgen, 20.03.1989) 37
Vgl. Fleischer, 1997, S. 149. Zur Größe und Zusammensetzung des Korpus vgl. die Angaben unter http://www.idsmannheim.de/kt/corpora.htm] [Stand: 15.03.2000]. Hervorhebungen in den Beispielen nicht im Original.
Bemerkungen zur Integration phraseologischer Einheiten
]33
Am häufigsten aber ist die syntagmatische Verbindung mit dem Verb sagen wie in den folgenden Beispielen: (8) „Wir können derzeit keine Lkws für die Kunden stellen", sagt Verkehrsleiter Rüdiger Erb klipp und klar. (Mannheimer Morgen, 06.12.1989) (9) „Wenn der Bundestrainer mir allerdings klipp und klar sagt, daß es keinen Zweck hat, werde ich das natürlich akzeptieren." (Mannheimer Morgen, 31.05.1995)
Erst die Analyse der Kollokationen kann wirklich etwas über die semantische Äquivalenz der untersuchten Lexeme aussagen. Schauen wir zunächst das Verhältnis zur Orientierungslesart KLAR an: Auch das Adjektiv klar geht - wie Beispiele (10)-(12) zeigen - syntagmatische Verbindungen mit Verba dicendi ein: (10) Ein Sprecher der Friedensbewegung spornte zur Mobilisierung an: „Um es klar zu formulieren, es genügt nicht, wenn sich in Käfertal nur mal wieder die stadtbekannte linke Szene trifft." (Mannheimer Morgen, 11.04.1989) (11) Was die Esten wollen, haben sie in einer Entschließung klar gesagt: Souveränität, also wirtschaftliche Selbstverwaltung und Vetorecht gegen die Moskauer Gesetzgebung. Einige Gruppen gehen darüber hinaus: eigene Währung, grundsätzliche Zulassung von Privateigentum. (Mannheimer Morgen, 27.04.1989) (12) Steht nicht jedes Muster in Konkurrenz zu dem oder den Kunstwerken? Beide Fragen kann man ganz klar mit „nein" beantworten. Bilder vertragen gemusterte Hintergründe. (Mannheimer Morgen, 28.07.1989)
Allerdings sind diese für das Adjektiv klar nicht so kontextspezifisch wie andere Kollokationen. Die Orientierungslesart klar zeigt insgesamt - und deshalb steht sie als Orientierungslesart im Zentrum der Quasisynonymengruppe - ein relativ breites Spektrum an Kollokationen und eine Ausgewogenheit hinsichtlich der Realisierung der verschiedenen syntaktischen Positionen. Durch diese Breite weist die Orientierungslesart eine Fülle von (quasi)synonymischen Beziehungen zu allen Adjektiven und phraseologischen Verbindungen dieser Gruppe auf. Eng verwandt ist die Paarformel klipp und klar mit den Adjektiven unmissverständlich und unumwunden und mit den Paarformeln offen und deutlich und kurz und bündig.40 Alle vier Lexeme gehen wie klipp und klar syntagmatische Verbindungen mit verschiedenen Verba dicendi ein. (13) Aus ihrer Sympathie für Willy Brandt und die Sozialdemokraten hat sie nie einen Hehl gemacht. Sie ist Mitglied der in jüngster Zeit etwas umstrittenen Vereinigung „Humanes Sterben". Dazu sagt sie unmißverständlich: „Ich denke, daß es jedem Menschen erlaubt sein muß, sein Leben so zu leben, wie sie oder er es will." (Mannheimer Morgen, 30.05.1995) (14) Da Möllemann aber offenbar jetzt sozusagen die letzte Entscheidung suchen will, sollte er unumwunden sagen, wohin die weitere Reise gehen soll. (Mannheimer Morgen, 17.04.1991) (15) Wir haben das zum ersten Mal so formuliert, und das ist für uns eine grundsätzliche, schwerwiegende Frage. Dennoch haben wir ganz offen und deutlich gesagt: unter internationaler Kontrolle bis zum Ural. (DIE ZEIT, 09.05.86) (16) Ein weiterer Einwand Schlechtas, die Wohnungen in der Waldparkdamm- und Landteilstraße zu erhalten, ebenso die des Ludwig-Frank-Blocks, stößt bei Holler auf 40
Die Analyse muss sich aus Platzgründen auf diese vier Lexeme beschränken.
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Susanne Beckmann keine Gegenliebe. Zwar hat ein Großteil der dort lebenden Mieter geäußert, gerne bleiben zu wollen, aber Holler erklärt kurz und bündig, eine gründliche Modernisierung sei volkswirtschaftlich ein Irrsinn. (Mannheimer Morgen, 08.08.1989)
Es sind allerdings unterschiedliche kommunikative Auslastungen feststellbar: Das Adjektiv unumwunden hat seinen Gebrauchsschwerpunkt in syntagmatischer Verbindung mit den Verben zugeben (17), einräumen (18) und bekennen (19): (17) Da gibt es „starke" Männer, die unumwunden zugeben, daß sie Schwierigkeiten mit ihren „schwachen" Frauen oder Freundinnen haben - und ebenso umgekehrt. Da reden Männer von den „Kanten und Ecken", die sie nach jahrelanger „Schwammigkeit" wieder entdecken wollen. (DIE ZEIT, 29.03.85) (18) Da läßt sich so manches Last-Minute-Weihnachtsgeschenk lockerer finanzieren, wie Tanja Szewczenko unumwunden einräumt. „Auch deshalb bin ich heiß auf München und auf das Duell mit Tara Lipinski", sagt die frischgebackene Deutsche Meisterin, die sich mit größtmöglicher Souveränität - zwei Siege bei zwei Ausscheidungsturnieren in Gelsenkirchen und Nagano - für das Finale der besten Sechs qualifizierte. (Mannheimer Morgen, 17.12.1997) (19) Gefragt nach zeitgenössischen Stücken, bekennt er unumwunden, daß er zum Schönberg-Konzert keine besondere Beziehung habe. (DIE ZEIT, 05.12.86)
Das Adjektiv unmissversiändlich steht vorzugsweise in syntagmatischer Verbindung mit Verben und phraseologischen Verbindungen wie klarstellen (20), deutlich machen (21), feststellen (22), formulieren, signalisieren, erklären, zu verstehen geben, zum Ausdruck bringen, vor allem aber mit dem Verb klarmachen (23), einige Beispiele: (20) „Rita, Rita?" Zum Schluß seiner Laudatio stellte Neumann dann aber doch unmißverständlich klar, daß es „absolut unrichtig und absolut aus der Luft gegriffen ist, daß Rita immer das letzte Won haben muß". Der Neumannsche Beweis dafür: „Ich kenne Manfred selbst sehr gut und ich weiß, daß er gerne früh einschläft." (Mannheimer Morgen, 23.02.1998) (21) Vor dem Atomkraftwerk Emsland in Lingen, dem wichtigsten deutschen Kunden der Engländer, wurden verstrahlte Proben aus der Region um Sellafield abgeladen - eine gefährliche Fracht, wie die Umweltschützer unmißverständlich deutlich machten. (Mannheimer Morgen, 20.07.1998) (22) Bereits unmittelbar nach den Ereignissen von Ramstein und Nörvenich habe er unmißverständlich festgestellt, daß er die Veranstaltung des Hallenfestes in Nörvenich eindeutig verurteile. (Mannheimer Morgen, 27.01.1989) (23) Der Generalsekretär der polnischen Bischofskonferenz, Bischof Tadeusz Pieronek, hat der Zeitung „Rzeczpospolita" gegenüber bereits unmißverständlich klar gemacht: „Entweder wird uns Europa so akzeptieren, wie wir sind oder die Integration mit den europäischen Strukturen interessiert uns nicht. Wir haben nicht vor, unsere Identität auf dem Altar Europas zu opfern." (Mannheimer Morgen, 14.12.1995)
Der Phraseologismus kurz und bündig dagegen zeigt, was seine syntagmatische Verbindbarkeit betrifft, ein relativ breites und unspezifisches Spektrum an Verba dicendi, ist also hinsichtlich seiner Kollokabilität wesentlich unspezifischer als die Paarformel klipp und klar und die Adjektive unmissverständlich und unumwunden. Semantisch ist nicht immer ganz klar, ob kurz und bündig im Sinne von ,kurz' bzw. ,knapp' gebraucht wird oder im Sinne von .klar', beide Bedeutungen können natürlich auch zusammenfallen. Hier aus der breiten Palette einige Beispiele:
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(24) Diese Schreibweise könne nicht berücksichtigt werden, „weil sie gegen die amtliche Rechtschreiberegelung verstößt", sagt kurz und bündig Professor Günther Drosdowski, Leiter der Duden-Redaktion in Mannheim. (Mannheimer Morgen, 28.07.1989) (25) Eine Anfrage des Mannheimer Landtagsabgeordneten Dr. Helmut Munch, wieweit denn die Planung gediehen sei, beantwortete das Wissenschaftsministerium jetzt kurz und bündig: „Die organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen für die Errichtung eines solchen Zentrums sind noch nicht konkretisiert. Die Landesregierung hat zu diesen Vorschlägen bislang keine Entscheidung getroffen". (Mannheimer Morgen, 10.08.1989) (26) Wenn Heidemarie Wieczorek-Zeul, SPD-Europa-Abgeordnete, postuliert: „Sozialismus ohne gleichzeitige Beseitigung der patriarchalischen Struktur wäre nicht emanzipatorisch und verdiente den Namen nicht"; wenn Christa Nickels kurz und bündig befindet: „ohne die Frauen läuft bei uns gar nichts, wäre auch die von uns beanspruchte andere politische Kultur nicht durchzuhalten" so tut sich die rechte Politologin Ursula Männle schwer mit der Definition eines Konservatismus, der den Anspruch der Frauen, auch ihres eigenen, so eindeutig integriert. Und wie können sie etwas bewegen - mit den Männern, ohne sie, gegen sie? (DIE ZEIT, 28.12.84)
Die Wendung offen und deutlich ist insgesamt mit relativ wenigen Beispielen in den .Korpora geschriebenen Sprache' belegt, so dass Aussagen hinsichtlich der Synonymic hier kaum gemacht werden können. In den wenigen Beispielen steht die Paarformel in adverbieller Position und geht ebenfalls syntagmatische Verbindungen mit Verba dicendi ein: (27) Denn der 51jährige heute in Kiel lebende Chemiker kritisiert in seinem 1987 gehaltenen Vortrag „Wie können wir verstehen, daß zum aufrechten Gang Verbeugungen gehören" sehr offen und deutlich die Realitätsblindheit des Philosophen gegenüber den Unterdrückungsmaßnahmen in der Sowjetunion und der DDR. (Mannheimer Morgen, 11.08.1989) (28) Vor vierzehn Tagen, nach einer Lesung in einer mecklenburgischen Kleinstadt, beschwor ein Arzt die Anwesenden, die das Literaturgespräch sehr schnell in einen politischen Diskurs umgewandelt hatten, jeder solle jetzt an seinem Platz wenigstens offen und deutlich seine Meinung sagen, sich nicht einschüchtern lassen und nichts gegen sein Gewissen tun. (Wochenpost, 27.10.1989) (29) Wir haben das zum ersten Mal so formuliert, und das ist ftlr uns eine grundsätzliche, schwerwiegende Frage. Dennoch haben wir ganz offen und deutlich gesagt: unter internationaler Kontrolle bis zum Ural. .Zeit': viele europäische Regierungsvertreter stehen diesen Vorschlägen der Sowjetunion durchaus aufgeschlossen gegenüber. (DIE ZEIT, 09.05.86)
Die Feindifferenzierung der phraseologischen und nicht-phraseologischen lexikalischen Einheiten auf der Grundlage der Korpusanalyse zeigt, dass die hier näher untersuchten Lexeme partiell synonym sind, d. h. es gibt eine enge Verwandtschaft der Lexeme hinsichtlich der möglichen syntagmatischen Verbindungen, die es in gewissem Maße erlaubt, das eine durch das andere zu ersetzen, und zwar jeweils in bestimmten syntagmatischen Verbindungen. Hier müsste allerdings zwischen der Möglichkeit und der Faktizität des Gebrauchs unterschieden werden. Das relativ breite Spektrum an Verba dicendi, mit denen die meisten der untersuchten Lexeme stehen k ö n n e n , ergibt eine breite Überschneidungsfläche. Schaut man sich allerdings die tatsächliche Gebrauchsauslastung an, wie sie die Korpusrecherche ausweist, so zeigt sich doch sehr prägnant eine Konzentration auf bestimmte Kollokationen. Dies gilt
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zumindest für drei der hier untersuchten Formen, für klipp und klar, unumwunden und unmissverständlich, nicht aber für das Adjektiv klar und die Wendung kurz und bündig.** Breite und Spezifik der möglichen Kollokationen sind also für die hier gewählten Beispiele nicht abhängig von der Phraseologizität, das zeigt der deutliche Unterschied im Kollokationsverhalten von klipp und klar und kurz und bündig. Auch die Analyse der syntaktischen Einspannungen zeigt keine Spezifik für die Phraseologismen. Klipp und klar, kurz und bündig und offen und deutlich werden fast nur adverbiell gebraucht, Gleiches gilt aber auch für unumwunden. Für unumwunden hat die Korpusrecherche nur einen Beleg für den attributiven Gebrauch und keinen Beleg für die prädikative Lesart ergeben. Bei keiner der hier angewendeten Operationen verläuft die Grenze also eindeutig zwischen phraseologischen und nicht phraseologischen Einheiten. Es zeigen sich vielmehr unterschiedliche Grade von synonymischer Verdichtung, man könnte hier Wittgensteins Begriff der .Familienverwandtschaft' zur Anwendung bringen und von engeren und weiteren Verwandtschaftsbeziehungen sprechen. Nähe und Ferne der semantischen Verwandtschaft lassen sich aber nicht an der formalen Struktur des Lexems ablesen. In diesem Rahmen konnten nur wenige Aspekte der angesprochenen Fragestellung beleuchtet werden; die unterschiedlichen Formtypen, in denen die Phraseologismen sich zeigen, bringen teilweise spezifische Probleme mit sich, die hier nicht mehr thematisiert werden können. Natürlich müsste eine Semantik, die phraseologische Einheiten integriert, noch einige zusätzliche phraseologismusspezifische Gebrauchsregeln formulieren, Angaben zur strukturellen Festigkeit, zu morphologischen und syntaktische Restriktionen, zur Modifikation usw. Die hier gemachten Ausführungen sollten aber auf einen viel generelleren Aspekt einer gebrauchstheoretischen Semantik aufmerksam machen, der Franz Hundsnurscher stets bedeutsam erschien. Es sollte am Beispiel der synonymischen Strukturen gezeigt werden, dass im Rahmen einer gebrauchstheoretischen Untersuchung formale Aspekte nachrangig gegenüber funktionalen Aspekten sind. Ein Synonymiebegriff, der an der Wortgrenze Halt macht, stößt notwendigerweise an seine Grenzen, wo es um die Funktionsäquivalenz von sprachlichen Äußerungen geht.42 Ziel einer gebrauchstheoretischen Untersuchung muss es sein, die verschiedenen Ausdrucksformen unter dem Aspekt der Funktionsäquivalenz zusammenzuführen. In diesem Sinn kann auch die Beschränkung auf eine bestimmte Wortart nur ein heuristischer Zwischenschritt sein.
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Die Paarformel offen und deutlich wird hier wegen der geringen Belegzahl nicht einbezogen. Vgl. z. B. Hundsnurscher, Franz: Die .Lesart' als Element der semantischen Beschreibung, in Lutzeier, Peter (Hg.): Studien zur Wortfeldtheorie. Tübingen 1993, S. 239-249, hier S. 245f; Hundsnurscher, Franz: Pragmatische Wortsemantik. Zum pragmatischen Hintergrund einer gebrauchstheoretisch orientierten lexikalischen Semantik, in: LINGUA GERMANICA. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Spielt zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von Eva Schmitsdorf; Nina Hartl und Barbara Meurer. New York; München; Berlin 1998, S. 128-142, hier S. 138f.
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„Das andre wird genummen, So gut es wird gezeugt, und auf die Welt ist kummen. Durch einen Gerne=Klug, der wenn der Geist ihn rürt, Jetzt dieses Prale=Wort, jetzt jenes rauß gebiert." l. Das Austin'sche statement "How to Do Things with Words" ist nach wie vor virulent. Wann- und wo-immer einem die eclatante Zunahme anglophoner Lexik in an-sich-deutschen (mündlichen und schriftlichen) Texten aufstößt, stellt sich die Frage für diese Allüren: cui bono? Wenn ich (aus gegebenem Anlass) mein Stimmlein in den Chor derer mische, die - wieder einmal - den Verfall der Muttersprache(n) beklagen, so weiß ich mich in guter Gesellschaft, d. h. die besagte Klage beginnt fürs Deutsche mit der Aufrichtigen Tannengesellschaft und ist mit Friedrich Sieburg und Hans Magnus Enzensberger noch nicht verklungen. 1.1. Alles Eigene ist stets von Fremdem umgeben und daraus/dadurch definiert. Was das Ideal sprachlicher „Reinheit" angeht, so ist (mit Hugo Schuchardt) klar, dass praktisch alle natürlichen Sprachen in gewissem Sinne Mischsprachen sind.2 1.2. Es mag nützlich sein, individuelle von (z. B. ethnischer) Gruppen-Identität zu unterscheiden - etwa daran, dass der Einzelne anhand bestimmter Merkmale (polizeilich) unverwechselbar wird, während der Gruppenangehörige aufgrund einiger ausgewählter Merkmale mit den mit-Gliedem seiner Gruppe vergleichbar bleibt.3 Identitätsbewusstsein stützt sich stets auf vertraute und gewohnte Verhaltensmuster, u. a. auf die Verkehrs- oder Umgangssprache (die nicht notwendigerweise mit der Erst- oder der sog. Muttersprache identisch sein muss). Erfahrungsgemäß werden auch ursprünglich fremde, entlehnte Ausdrucksmittel ins Gewohnte integriert. Logau, Friedrich von: Deutscher Sprache Ehrenkranz. Hg. von Paul Pietsch. Berlin 1898, S. 41. Auf die Frage, ob und inwiefern Sprache und Denken miteinander verflochten, aufeinander bezogen oder gar miteinander identisch sind (womit sich allerdings jegliche Übersetzungstatigkeit erübrigen wurde), muss hier gottlob nicht eingegangen werden. Die Grenze zur Ideologisierung des Gewohnten (z. B. der Muttersprache als „Schrein der Volksseele" (Wandruszka, Mario: Die Mehrsprachigkeit des Menschen. München 1979, S. 334) ist fließend.
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1.3. Mode ist, was die Anderen tun. Dies galt und gilt für das aegyptisierende Kunsthandwerk der Etrusker genauso wie fur andere Chinoiserien4 - bis hin zur political correctness unserer Tage. Das Faszinosum des Neuen und quasi-Exklusiven, das alle Modeströmungen begleitet, motiviert naturgemäß auch Übertreibungen bis zur Manier und zum vorzeitigen Verschleiß. N a c h a h m u n g ist an sich gar nicht zu vermeiden, sonst wäre auch jedes (hinzu-)Lernen anhand von Mustern nicht möglich. Das eigene Verhalten gegen das einer fremden, prestigehöheren Gruppe zu tauschen, bedeutet u. U. allerdings, auf Inhalte der eigenen Identität zu verzichten (bis hin zu dem, was B. Brecht die Anpassungssuada der Sklavensprache genannt hat). Die Simulation des binnendeutschen Wortschatzes seitens österreichischer „Dienstleistender" (Brötchen < Semmerl, Klöße < Knödel) soll nicht unerwähnt bleiben. Dieser berüchtigte Unterwerftmgsgestus hat seinen völkerrechtlichen Niederschlag im Protokoll Nr. 10 der EU gefunden; das sind die 23 „Erdäpfelvokabeln", die in der Gemeinschaft aus dem österreichischen Varianten-Wortschatz zugelassen sind.5 Die Überfülle an französischen Wörtern und Floskeln bei bekannten österreichischen Autoren wie Nestroy, Schnitzler und Hofmannsthal, u. zw. als Indiz der Anerkennung fremder kultureller und gesellschaftlicher Wohlverhaltensregeln, ist wohl jedem Theaterbesucher bekannt. Eine Blütenlese aus 4 Stücken: Nestroy - Jux (Urauff. 1842)6, Nestroy - Der Zerrissene (Urauff. 1844)7, Schnitzler - Das weite Land (Urauff. 1909)8 und Hofmannsthal - Der Schwierige (Urauff. 192l)9, bietet u. a. die folgenden seither z. T. ungebräuchlichen Belege: J u x : koramisieren, Hardiesse, das tuschiert mich nicht, nichts als Odiosa, kaschulieren; Der Zerrissene: genieren, assekurieren, Renomee, a tempo, die Pantalon', Marchandmode, ein honettes Quantum, in der Desparation, eine Handlung falliert, Equipage, die aimable Mathilde, Heraus, wennst Courage hast!, eine a la guerre geht los, meine letzte Depense, dass ich mich alterier; Das weite L a n d : soupieren, Menage, dieselbe Couleur, zuviel Poseur, er ist sehr montiert, ein eigentümliches Cachet, sekkiert hat er einen, urgieren, Table d'hote, eine arrangierte Begegnung, Etagere rechts, solenn gefrühstückt, die Art zu inquirieren;
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Dass fremder Kulturimport zur Manier und schließlich zum Kitsch tendiert, steht nicht auf einem anderen Blatt. Kitsch ist nicht nur „gut gemeint" (K. Kraus), wichtig ist seine Hartnäckigkeit in der Anbiederung. Ob die deutschen Fremdwörter im Englischen gar so „bezeichnend" sind, stehe dahin: Sauerkraut, Blitzkrieg, Penisneid, Weltanschauung, Angst, Torschlusspanik, Machtpolitik, u. ä. m. Das russ. strajkbrecher dürfte eine interessante Wandergeschichte haben. Auch das moderne ital. civiltä mitleleuropea ist bemerkenswert. Dazu: de Cilia, Rudolf: Burenwurscht bleibt Burenwurscht. Sprachenpolitik und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in Österreich. Klagenfurt/Celovec 1998, S. 80ff. Nestroy, Johann: Einen Jux will er sich machen, in: Komödien. Bd. 2. Hg. von Franz Mautner. Frankfurt/M. 1970, S. 435-519. Nestroy, Johann: Der Zerrissene, in: Komödien. Bd. 2. Frankfurt/M. 1970, S. 599-664. Schnitzler, Artur: Das weite Land. Das dramatische Werk 8. 6. Auflage. Frankfurt/M. 1998. Hofmannsthal, Hugo von: Der Schwierige. Der Unbestechliche. Zwei Lustspiele. Frankfurt/M. 1980.
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Der S c h w i e r i g e : naturlich chipotiert's dich [...] sans dire, ich brouillier' mich mit ihr, eine Frau, der ich mich attackiert habe, dieser Mensch ist ein guignon, odioser Kerl, diese Bassesse, sie odoriert das fait accompli, au fond bist du wie [...], nicht epatant, aber wenn Er ihn appuyierl [...], heiß vor gene, die Sache ist mir so eine horreur, du bist sehr acharniert gegen den Menschen, sous-entendu.
l .4. Was die Begründungen angeht; die für die Übernahme fremder Lexik ins Feld geführt werden, so fällt auf, dass sie sich immer wieder auf deren unverzichtbare Notwendigkeit und Nützlichkeit berufen. Für den Funktionsbereich der sog. neuen Technologien gilt, was für Fachausdrücke insgesamt (sogar in der Astronomie) zutrifft, dass nämlich der (Er-) Finder die Benennung vornimmt.10 Was die vielfach behauptete Prägnanz und Lucidität anglophoner Termini anlangt, so ist erstaunlich, dass eigentlich nirgends von der zugegeben chaotischen Orthographie des Englischen die Rede ist, deren nicht-Reformierbarkeit sogar ein illustrer und einflussreicher Literat wie G. B. Shaw leidvoll erfahren musste. 1.5. Die eigentliche Ursache für Entlehnungen jeglicher Art von zivilisatorischen und kulturellen Gütern (einschließlich der sog. Werte) ist und war seit jeher das Machtgefälle gegenüber jenen, die „das Sagen haben" - vom pater noster und dem lombardisch-florentinischen banker-Jargon (soldo, conto, giro) bis zu software und fun management. Die top ten bestimmen, was new speak sein soll und wem nachzueifern ist, falls man dazugehören, also in sein möchte: „[...] und so weiß er [Roland Barthes] und sagt es auch, dass die Macht nicht .eine' ist, sondern (...) im Plural auftritt [...], ja dass die Macht 'in den feinsten Mechanismen des gesellschaftlichen Verkehrs gegenwärtig ist: nicht nur im Staat, in den Klassen, den Gruppen, sondern ebenso in den Moden, gängigen Meinungen, [...] Spiel- und Sportveranstaltungen [...], selbst noch in den Befreiungsschlägen, durch die versucht wird, sie in Frage zu stellen'. Das Objekt, in das die Macht sich einschreibt, seit es den Menschen gibt, ist das Sprechen [...]".
1.5.1. Dass es bei den Renommiervokabeln nicht vorrangig um die bessere Verständlichkeit geht, sondern im Gegenteil um die Ausgrenzung der nicht-Eingeweihten (in die cyber-Welt oder eine neue Sportart), zeigt sich am krassesten an den Abbreviaturen, deren Auflösung auch den insidern nicht immer zweifelsfrei gelingt. Die Verschleierungsstrategie ist offensichtlich und auch wirksam. AKÜs sind Zinken eines Rotwelsch der McDonald-World. Das reicht von NKWD und CIA, von NATO und NASA bis AIDS und GAU. Ein besonderes Schmankerl ist die (Amts)Bezeichnung des außenpolitischen Vormunds der EU, das aus der comics-Literatur bestens bekannte Interjektions-Signal für unglaublich Unerhörtes: GASP. „Die Entwicklung geht zurück zur sprachlichen Situation des Mittelalters, mit dem Englischen als dem Neuen Latein der Wissenschaft" (Trabant, Jürgen: Apeliotes oder der Sinn der Sprache. Wilhelm von Humboldts Sprach-Bild. München 1986, S. 123). " Eco, Umberto: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen. 2. Auflage. München 1985, S. 267.
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Anders, nämlich wesentlich creativer steht es um die Abbreviaturen und neoZeichen im internet-chatting: B/C = because, CU = see you, LOL = laugh out loud, BTW= by the way u. ä. m.
2. Beschädigungen der Geber-Sprache: Zunächst - jeder entlehnte Gegenstand leidet unter der unsachgemäßen Behandlung durch den unbedarften Entlehner. Im vorliegenden Fall wird jedenfalls das Englische p i d g i n i siert. Die Einbürgerung fremdsprachlicher Elemente ist offenbar auf der Ebene der Einzellexeme am leichtesten, schwerer schon auf morphologischer Basis (Steffi Graf wird ge-coach-i), im phonetisch-phonologischen Bereich wird der Original-Ton - weil diefremdePhonologic nicht zu leisten ist nur ganz selten versucht (Kammbeck, Ehrbeck). 2.1. Am deutlichsten in den deutschen A u s s p r a c h e v a r i a n t e n ist zum einen die Unfähigkeit, stimmhafte Laute Überhaupt zu bemerken oder zu beachten (jazz = chess),12 zum anderen die (süddeutsche) Scheu vor den (vulgären) Diphthongen /ei/ und /au/: die englische Leberparty, die Piep Schoh, der displäh, der Tschohker und der Tschäkpot. Anlautendes in /st/ und /sp/ gilt wohl weitgehehend als „normal": Schiart, Schtress, Schtop, Schporl, Schponsoren. 2.1.1. Spuren der starken, auch schriftlichen Einflussnahme der Gebersprache zeigen sich in Fällen von spelling pronunciation: der Refereh, die Wonder\vumen und die Lif-Krißis.™ 2.2. Die Verschiedenheit im Bedeutungsumfang und den denotativen Assoziationen ist flir Verschiebungen in den s e m a n t i s c h e n N u a n c e n verantwortlich. Außerdem wachsen den Entlehnungen durch ihre Verwendung in ungewohnten Ko- und Kontexten neue semantische Aspekte zu: carving gilt nicht mehr bloß für mutton chops, sondern auch für Schier, Go West, das eigentlich so viel bedeutet hat wie den Soldatentod oder überhaupt alles, was schiefgeht, wird (sardonischerweise?) für den NATO-Beitritt Ungarns, Cechiens und Polens verwendet.14 Warum der Unterschied zwischen kill und die verloren gegan-
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Vgl. den Schwarzenegger-Film „True Lice". Fink betont, dass die Realisation von englischen Fremdwörtern nicht an einer wie immer gearteten Standardaussprache gemessen werden kann; vgl. Fink, Hermann: Zur Aussprache von Angloamerikanischem im Deutschen, in: Viereck, Wolfgang (Hg.): Studien zum Einfluss der englischen Sprache auf das Deutsche. Tübingen 1980, S. 109-184; hier S. 113. Zu Angleichungen an die deutsche Orthographie vgl. Eggarter, Christoph: Anglizismen im Deutschen: Zur Integration des englischen Wortgutes ins Deutsche, in: Moderne Sprachen 39/3-4 (1995), S. 123-142. Ähnliche Bedeutungsverschiebungen in Entlehnungen sind offenbar zu erwarten, das lässt sich auch an russischen und arabischen Beispielen zeigen: russ. biznes »Wiederverkauf mit Gewinn', komiksy .Ferien', sponsor ,betuchter Liebhaber' (nach: Pfand!, Heinz: Anglizismen in den slawischen Sprachen. Vortragsms. 1999). Vgl. AI Khatib, A. Mahmoud;
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gen ist, sodass jedes Autobahn-Opfer ge-kill-t wird (ohne Nennung des Täters allerdings), ist mir unerfindlich. Ich finde es nachgerade gruslig. Im Grunde genommen handelt es sich bei all diesen Elementen um fragmentarische Etiketten, nicht um Englisch als lingua franca. Konglomerate wie snow board fun park u. ä. kann man nur mit Mühe als syntaktische Gebilde betrachten. 2.2.1. Der wahre Überschmäh (österr. für hat trick, trick of the tricks) aber sind selbst-gebastelte Pseudo-Anglizismen, hausgemachte Prestige-Wörter wie qitizz master, oldtimer, smoking, voice box und dressman; neuerdings handy und wellness (!). Die Gefährdung derartiger Schwindelprodukte durch satirischen backwash zeigen Gebilde, die zwar noch nicht vulgarisiert sind, aber für eine eurowide Akzeptanz durchaus elligible wären: rent a language (.Dolmetscher1), car snake, punish paper (,StrafzetteP), belly painting (.bauchpinseln'), life cake (.Lebkuchen1), eye meadow (»Augenweide'), anxiety rabbit, rent a brain (.Nachhilfelehrer'), heart joker (.Herzkasper').15 2.3. Ein Prozess, der wesentlich tiefer in eines der beiden Systeme eingreift als die unveränderte Übernahme einzelner Lexeme, ist die morphologischg r a m m a t i k a l i s c h e „Einbürgerung" fremder Wortschatzelemente. Ihre fremde Herkunft ist nur mehr anhand der Etymologie des Stammes oder der Wurzel erkennbar. Dies ist eine Erscheinung, die aus der Sprachgeschichte genugsam bekannt ist (vgl. die deutschen Verben romanischer Herkunft - auf -ieren - oder die arabischen Kulturvokabeln im Türkischen oder Persischen). Einerseits ist das englische Pluralsuffix16 im Deutschen längst schon heimisch (es wird sogar für Substantive verwendet, die ohnehin schon im (italienischen) Plural stehen: paparazzis); die Anwendung deutscher Suffixe17 auf englische Fremdwörter beschränkt sich andererseits darauf, Verben mit den infiniten Affixen zu versehen, um sie - in beschränktem Ausmaß - wie deutsche Verben verwenden zu können. Das heißt, es treten meist nur der Infintiv und das Partizip Perfekt auf (neben dem beliebten typisch englischen gerund auf -ing): handeln, gelayouled, boarden, ehalten, coachen, designen, cruisen, featuren, fighten, labein, iasern, layouten, pushen, pulten, releasen, rendern, samplen, targetten, sponsern, skaten, Supporten, triggern, zoomen, antörnen, ital. bluffare, russ. lavnulsja (= ,hat ihm geFarghal, Mohammed: English Borrowing in Jordanian Arabic. Distribution, Functions, and Attitudes. Ms., erscheint in Grazer Linguistischen Studien: "A good example of semantic innovation is JA [Jordanian Arabic] /bluuzih/ 'blouse', which comes to refer to several articles of clothing such as a garment, a pullover, or a jumper. Another good example is JA /sarfiis/ 'service', which comes to mean 'the regular service introduced by taxis shunting between two specific points in the city' or 'the Arab restaurant's free side-plate containing fresh peppers and onions and/or pickled olives or peppers'". Nach: Heygen, Heinz G.; Küttner, Wolfgang P.: The Most English for Runaways. 2. Auflage. München 1991. Dem Russischen stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung: diiny/dzina (früher: diinsy). (Über den Plural von walkman sind sich die Gelehrten noch nicht einig.) Neben Adjektiven auf -y (sexy) wird auch für englische Adjektive die deutsche Endung -ig verwendet: space-ig, trend-ig.
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fallen'), ge-order-t, ge-cast-et, russ. ot-ring-at' (.anrufen'), russ. miting'nutsja (,sich treffen'), ge-pierce-t, russ. spikaC (.sprechen'), perenajtat' (.übernachten'), walken, ein Visum wird ge-cancel-t, jedes 4. Auto wird ge-Ieas-t usw.
Ausgesprochen selten sind andere, fürs Deutsche nötige Affixe, z. B. casus-Endungen (bei den song-wriier-n, eine relax-le Atmosphäre, im Bereich des inlernettes),18 topßt-e Sportler, „besser ein tougher Verhandlungspartner als gar keiner" (Israels Barak zu Verhandlungen mit Syrien, 18.5.99). Außerdem besteht die Notwendigkeit, den englischen Substantiven ein Genus zu „verpassen", was natürlich (aufgrund der Arbitrarität der deutschen Genera) verschiedene Lösungsversuche zeitigt: diesen service, dieses software tool·, vgl. kroat.jedan Spitser, also auchjedan misung}9 Auffallend ist die vereinzelt auftretende analytische Komparation deutscher Adjektive: dann ist es vielleicht political mehr correct [...]. 3.1. Aufseiten der Empfängersprache scheinen vordergründig betroffen abgrenzbare Einheiten, also vor allem die Lexik, u.zw. in ganz verschiedener Dichte je nach pragma-semantischer Domäne. So kumuliert der fremde Wortschatz in Fachgebieten wie der tele-Kommunikation und in den thematischen Bereichen Freizeit, Sport, Mode etc.;20 Ähnliches gilt fürs jordanische Arabisch. Auch die Klientele spielt für die Textverfertiger eine Rolle.21 3.1.1. Dass die anglophone Lexik häufig ähnliche etymologische Herkunft hat wie eingebürgerte deutsche Fremdwörter, verführt zu Scheinübersetzungen nach dem Muster industry oder philosophy. Die Folge sind semantische Turbulenzen: realisieren = sowohl .bemerken' wie auch ,verwirklichen', ein Platz wie Sarajevo, er kontrolliert das größte Hotel, der Botschafter ist alarmiert, der Bann aller Atomtests, der Bundespräsident Klestil absolviert eine Visite in Japan (1.6.99), Manfred Novak vom Boltzmann-Institut sieht die Frage der Pinochet-Anklage nicht so seriös (26.11.98), u. ä. m. 3.2. Als syntaktische Interferenz kann zum einen die Zunahme von Partizipialkonstruktionen betrachtet werden „hab sie mir jünger aussehend vorgestellt", „ein in diesen Bereich gehörendes Faktum", „Kunst, unter die Haut gehend"' (01,21.7.99).
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Der Peugeot 306 Husky bietet: hole Füße undfreshe Luft. Zur Genus-Zuweisung vgl. Eggarter, 1995, S. 138ff. Ob man die Fähigkeit einer Sprache, fremde lexikalische Elemente in ihr morphologisches Repertoire zu integrieren, als kreative Potenz betrachten soll oder aber als Indiz erleichterter Penetrierbarkeit des Empfängersystems, möchte ich nicht entscheiden sollen. Vgl. Fink, Hermann: Von Kuh-Look bis Fit for Fun in der heutigen deutschen Allgemeinund Werbesprache. Frankfurt/M., Wien 1997; Fiocchi, Adelaide: L'universo lessicale "Tangentopoli", in: Moderne Sprachen 38/1 (1994), S. 47-52. Es stimmt nicht, dass die Werbung genötigt ist, den yowgendlichen Taschengeldbringern nach dem Mund zu reden - es ist eher umgekehrt so, dass den kids in den Mund gelegt wird, was gerade in ist.
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Noch auffälliger ist die Nachstellung attributiver Adjektive (quasi in AdverbPosition), womit man sich werbesprachlich die Hürden der Adjektiv-Flexion erspart: Schi total, Urlaub all inclusive, fitness pur. Auch die Erstposition eines unflektierten, scheinsubstantivierten Adjektivs ist in Werbetexten geläufig: die standard Ausführung: „Die Gefahr ist also nicht der Zustrom von fremden Wörtern und Wendungen als solcher. Es ist die Pidginisierung durch die unablässigen unberechenbaren Codesprunge, zu denen die vielen nichtassimilierten fremdsprachigen Wörter und Wendungen des Neuanglodeutsch zwingen, und die von ihnen bewirkte Aufweichung des Regelsystems, der , Folie sprachlicher Richtigkeit'."
3.3. Eine Ebene „höher" verortet als die Lexik sind die phraseologischen Gebilde mit ihren eigenen holistischen Bedeutungsgestalten. Idiomatische Wendungen sind als textliche Versatzstücke syntaktisch und lexikalisch mehr oder minder fixiert, ihre empfindlichste Eigenheit ist, dass weder die gewohnten Wörter noch deren Abfolgeregelung geändert werden dürfen: Es heißt gang und gäbe, bei Nacht und Nebel und schwarz auf weiß (obwohl fürs Italienische gilt: bianco e nero). Redewendungen sind - trotz ihrer tlw. unikalen Oberfläche -, wenn sie einmal geläufig sind, durchaus funktional plausibel, u. zw. trotz ihrer ungewöhnlichen Erscheinung (Trau, schau wem). Zudem kommt ihnen meist größere Expressivität zu.23 Wichtig scheint mir, dass phraseologische Figuren vermutlich diejenigen mit der labilsten Strukturkonsolidierung sind, das merkt man auch daran, wie leicht Muttersprachler in idiomatischen Fragen unsicher werden. Dietz (1999, S. 137) schlägt vor, dass „man die Phraseologizität einer Wortgruppe statt durch lexikographische Vergleiche ihrer Einzelkomponenten vielmehr über das Merkmal der Stabilität definiert". Dies ist also der Bereich, in dem das sog. „Sprachgefühl" am ehesten und irreparabelsten beschädigt werden kann. Die Beeinflussung geschieht offenbar so unauffällig, dass sie in der sprachpflegerischen Literatur kaum Beachtung findet. Lehnübersetzungen sind die letzte Stufe der verschleierten Infiltration: es wird einheimisches Lexemmaterial verwendet, das nach fremden Mustern konfiguriert wird: rund um die Uhr (= Tag und Nacht), da kann man nicht so herumhängen (= hang around), herausragend (= outstanding), das macht keinen Sinn, Liebe machen, Goisem hofft, er wird diesen trouble überkommen (we shall overcome), N. N. wurde geboren (= was born), berührend (= touching), in englisch, FC Dummsdorf liegt in Front, in Schlaffallen, Licht am Ende des Tunnels, „die message, wos er umabringf, meint ein fan von Bruce Springsteen, einmal mehr (= once more), ich hab keine Idee, wir sehen uns.
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Zimmer, Dieter E.: Deutsch und anders. Die Sprache im Modernisierungsfieber. Reinbek b. Hamburg 1997. Vgl. Dietz, Hans-Ulrich: Rhetorik in der Phraseologie. Zur Bedeutung rhetorischer Stilelemente im idiomatischen Wortschatz des Deutschen. Tübingen 1999; sowie Fink, 1997, S
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Russische TV-Ansage: ostavaites' s nami (= stay with us).
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„Wollen Sie einen Arzt sehen?" wird die tapfere Polizeifrau der Serie „Zugriff* nach ihrer Befreiung aus der Gewalt des Bösewichts gefragt. Sie verneint, wohl weil sie sich vom Anblick eines Mediziners nicht viel verspricht.
4. Der Wunsch nach Maßnahmen (Erlässen, Vereinsgründungen, Medienpräsenz und -gehör etc.) ist verständlich. Allerdings lehrt die Erfahrung (spätestens seit dem 17. Jhd.), dass sprachpflegerische Bemühungen (von der Aufrichtigen Tannengesellschaft bis zum Turk Dil Kurumu) meist nur das Sprachbewusstsein einiger Hellhöriger schärfen können. Eindeutschungsversuche zeitigen ganz verschiedene Resultate. Während einige zum selbstverständlichen Gebrauch geworden sind,25 sind andere unbeachtet geblieben.26 Der Mechanismus der Popularisierung sprachlicher Innovationen ist wegen der Vielfalt seiner komplexen Ursachen nach wie vor ungeklärt. Zimmer bemerkt, dass „die Verständlichkeit der deutschen Bezeichnung [...] manchmal geradezu gegen sie" einnimmt (ein sponsor ist ja tatsächlich ein Geldgeber), sie „haben manchmal etwas Entlarvendes",27 was zu meiner Auffassung von der geheimsprachlichen Funktion des Fremdworts passen würde. Man fragt sich, warum eigentlich Eindeutschungen oft so unbeholfen bis lächerlich wirken, während ähnliche Versuche in anderen Sprachen (z. B. dem Slovenischen) durchaus phantasievoll und kreativ erscheinen. Der peinliche aesthetische Effekt hat sich seit dem 17. Jhd. (Gesichtserker = Nase) kaum verändert. Möglicherweise ist es die Vernachlässigung konnotativ-assoziativer Bedeutungsanteile, was die Erfindungen der Sprachpfleger scheitern lässt. Man vergleiche einige neueste gutgemeinte Verdeutschungs-Vorschläge: Gehsteigflitzer (= inline skater), Geckenriege (= jet set), Wackelweibchen (= go-go-girl), Merkling (= Diskette), Spannschau (= peep show), Watschenball (= punching ball) usw.2 mit slovenischen Neuwörtem: uspefnica (= bestseller, zu uspeh .Erfolg'), grelnik (.Wärmer' statt bojler), grenivka (.Bitterfrucht' für grapefruit), navijat (, Anfeurer' für fan).
5. Fazit: Mode kann nicht wirklich rückgängig gemacht werden. Ihre Kapriolen kommen zwar „aus der Mode", lassen aber Spuren zurück. Was sich gegenwärtig (nicht nur im deutschen Sprachraum) abspielt, ist zwar nicht der Anfang ei-
Beispiele für Verdeutschungen, die niemand mehr als kunstliche Gebilde empfindet: Zufall, Jahrhundert, Gewissensbiss, Geschmack, Tatsache, Abteil, Gotteshaus, Feingefühl, Brüderlichkeit, Minderheit, Streitgespräch, Hochschule, Weingeist usw. Obsolete Beispiele: Lügenzicht (= Dementi), Spottlob/Schalksernst (= Ironie). Im Italienischen heißt das Taschentelefon (= handy) telefonino oder cellulare; im jordanischen Arabisch hat sich xalawii gegenüber moobayl durchgesetzt (vgl. Al-Khatib, S. 4). " Zimmer, 1997, S. 29f. Fischer, Gottfried; Micko, Stefan; Paulwitz, Thomas; Prohaska, Norbert; Schmutterer, Christiane; Stang, Christian (Hgg.): Engleutsch? Nein, Danke! Wie sag ich's auf deutsch. Eine Wörterliste. Wien 1998.
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nes Sprach wechseis oder gar der „Tod der Muttersprache",29 sondern schlicht und einfach eine Geschmacksverirrung. Was sich in den internationalen Gremien, den wissenschaftlichen Kongressen und sogar bei den peace keeping Truppen tut, ist nicht dasselbe, was die kids und die Krämer und ihre Werber im Munde führen. Jede Wahl von Ausdrucksmitteln ist eine Geschmackssache, auch die Anhimmelung irgendwelcher exotica. Stil - im Gegensatz zu Mode - ist immer das Ergebnis einer individuellen Entscheidung. Nur der Einzelne kann einen Stil wählen und gestalten, d. h. leben und vollziehen. Die einzelnen Sprachbenutzer sind verantwortlich für das, was und wie sie es verlautbaren. Gegen modische „Auswüchse" helfen Sprachakademien m. E. weniger als das Hausmittel und arcanum des K. Kraus: Spott. „Selbst das Schienbein würden sie sich bügeln, Und sie sind auf keine Art zu zügeln wenn sie hören, dass was Mode ist."
Übrigens - ein vielseitiges Instrument: „Der Purist
Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern, Nun so sage doch, Freund, wie man Pedant uns verdeutscht?"31
Am Rande sei vor einer Fetischisierung des Werkzeugs Sprache gewarnt. Natürlich sind stilistische Entscheidungen auch emotioneil besetzt, aber von einer „heranprasselnden Flut" und einer „Sprachseuche" zu reden, ist nicht viel mehr als Pseudo-Poetisierung. ™ Kästner, Erich: Eine Auswahl. Berlin 1956, S. 50. Schiller, Friedrich: Xenien, in: Deutscher Sprache Ehrenkranz. Hg. von Paul Pietsch. Berlin 1898, S. 90.
Wilfried Kürschner
Fremdwort-Variantenschreibung Befund - Problem - Lösung
1. Der Befund Die Schreibung von Fremdwörtern wird im amtlichen Regelwerk1 von 1996 an zwei systematisch unterschiedenen Stellen behandelt: zum einen im Regelteil, zum anderen im Wörterverzeichnis (gemäß dem Prinzip der .doppelten Kodifizierung'). Im Regelteil werden für die Vokale und flir die Konsonanten jeweils in Listenform „Spezielle Laut-Buchstaben-Zuordnungen in Fremdwörtern" dargestellt (§ 20 bzw. § 32). Dies geschieht exemplarisch, das heißt unvollständig: Von den „fremdsprachigen Zuordnungen" „sind nur die wichtigeren angeführt" und auch die jeweils angeführten Belegwörter stellen natürlich nur Beispiele dar. Etwas umfangreicher - wenn auch bei weitem nicht vollständig - ist die Menge der im Wörterverzeichnis enthaltenen Fremdwörter. Über die Prinzipien der Aufnahme legen die Regelwerkersteller keine Rechenschaft ab. Im Vorwort des Regelwerks heißt es lediglich, das Wörterverzeichnis führe „den zentralen rechtschreiblichen Wortschatz in alphabetischer Reihenfolge an".2 Kriterien dafür, welche Wörter zu diesem Wortschatzausschnitt gehören, sind aus dem Verzeichnis kaum abzulesen, sodass sich etwa die Frage stellt, ob es nötig war, sowohl Callboy als auch Callgirl aufzunehmen, zumal auch Boy und Girl als Einzelwörter verzeichnet sind. In der folgenden Untersuchung wird das Wörterverzeichnis des amtlichen Regelwerks, das „amtliche Wörterverzeichnis" (aW), so hingenommen, wie es ist, und es wird auch nicht die Frage erörtert, was eigentlich genau unter den Begriff „Fremdwort" fällt.3 Die herangezogenen Fälle gehören jedenfalls intuitiv dazu. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die Fremdwörter, für die im aW rechtschreibliche Varianten vorgesehen sind. Zu diesen „Doppelschreibungen" wird im Regelteil des amtlichen Regelwerks vermerkt, dass im „Prozess der Integration entlehnter Wörter ... fremdsprachige und integrierte Schreibung nebeneinander stehen" können (§ 20 (2) bzw. § 32 (2)). Dies war bereits vor der Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis. Text der amtlichen Regelung. Tübingen 1996. Auch als Duden-Taschenbuch (Band 28). Deutsche Rechtschreibung, 1996, S. 14. Vgl. Zabel, Hermann (Hg.): Fremdwortorthographie. Beitrage zu historischen und aktuellen Fragestellungen. Tübingen 1987, sowie die Literaturhinweise in Zabel, Hermann: Fremdwortschreibung, in: Äugst, Gerhard; Blüml, Karl; Nerius, Dieter; Sitta, Horst (Hgg.): Zur Neuregelung der deutschen Orthographie. Begründung und Kritik. Tübingen 1997, S. 141-156.
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Wilfried Kürschner
Orthografiereform der Fall, so standen etwa Drainage und Dränage, Double und Dublee, Sauce und Soße, Nougat und Nugat im Bereich der Vokalschreibung nebeneinander, im Bereich der Schreibung der Konsonanten Graphik und Grafik, Ghetto und Getto, Yacht und Jacht, Calcil und Kalzit, Anchovis und Anschovis, Kathode und Katode, Pretiosen und Preziosen und viele weitere mehr. Den Bezugspunkt für diese Feststellungen bildet der Rechtschreibduden in der 20. Auflage von 199l4, das Werk, das bis zur Reform eine quasiamtliche Geltung hatte. Die Neuerung, die die amtliche Regelung bringt, liegt darin, dass bei solchen Fremdwortdoppelschreibungen grundsätzlich festgelegt wird, ob es sich um gleichberechtigte Varianten handelt oder ob zwischen Haupt- und Nebenvariante (so die Bezeichnungen im Vorwort, Abschnitt 3.2) bzw. Hauptform (Vorzugsvariante) und Nebenform (so die Terminologie im Abschnitt „Zeichenerklärung" vor dem Wörterverzeichnis) zu unterscheiden ist. Zwar war eine solche Gewichtung auch im genannten Rechtschreibduden angelegt, doch erfolgte sie nicht auf eine durchsichtige und konsequente Weise, ein Charakteristikum, das sich leider auch in die 21. Auflage des Werkes (1996) fortgesetzt hat.5 Die Festlegung von Haupt- und Nebenvariante bzw. Haupt- und Nebenform wird im amtlichen Wörterverzeichnis durch Verweise nach dem folgenden Schema angezeigt: HAUPTFORM, auch NEBENFORM - NEBENFORM s. HAUPTFORM. Ein Beispiel: Anschovis ist die Hauptform, Anchovis die Nebenform; der eine Eintrag lautet: Anschovis, auch Anchovis, das Gegenstück lautet: Anchovis s. Anschovis. Gleichberechtigte Varianten stehen dagegen ohne Verweis, lediglich durch ein Komma getrennt, nebeneinander, z. B. Joga, Yoga (im Buchstaben J) und Yoga, Joga (im Buchstaben Y). Diese Festlegungen betreffen sowohl „Altfälle" wie die zitierten Beispiele als auch die im Zuge der Neuregelung hinzugenommenen Fälle. Um im Folgenden jeweils deutlich zu machen, worum es sich im Einzelfall handelt, wird dem Wort ein Gradzeichen nachgestellt, wenn es eine weiterhin gültige Altschreibung ist, z. B. Anchovis0/'Anschovis0, Joga°/Yoga°. Ein Sternchen markiert wie im amtlichen Wörterverzeichnis eine durch die Neuregelung für zulässig erklärte Neuschreibung, z. B. Schikoree*. Ein Kreuz zeigt eine nicht mehr vorgesehene Altschreibung an, z. B. Yoghurtf. Was nun die Verwendung der Partner eines Variantenpaares angeht, findet sich im Regelwerk lediglich der Hinweis, dass es sich bei der Hauptvariante um die „empfohlene, zu bevorzugende Schreibung" bzw. die „Vorzugsvariante" handelt, bei der Nebenvariante um „eine auch mögliche Schreibung" bzw. „eine weitere mögliche Schreibung" (Vorwort bzw. Zeichenerklärung). Zabel präzisiert dies in seinem Beitrag über „Fremdwortschreibung" in dem Kommentar-
Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 20., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Auf der Grundlage der amtlichen Rechtschreibregeln. Mannheim 1990. Vgl. Kürschner, Wilfried: „Entspricht den neuen amtlichen Richtlinien ..." - Zur Umsetzung der Orthografiereform in den Rechtschreib-WörterbUchern von Berteismann und Duden (1996), in: Birkmann, Thomas; Klingenberg, Heinz; Nübling, Damaris; Ronneberger-Sibold, Elke (Hgg.): Vergleichende germanische Philologie und Skandinavistik. Festschrift für Otmar Werner. Tübingen 1997, S. 173-192.
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band zur Neuregelung6 dahingehend, dass die Vorzugsvariante die Schreibung eines Fremdwortes darstelle, „die in der Schule gelehrt wird. Die Nebenvariante ist zugelassen. Schulerinnen und Schüler, die die Nebenvariante benutzen, machen keine Fehler." Wie im Fall von gleichberechtigten Varianten zu verfahren ist, wird nicht ausgeführt. Wenn Zabels Auffassung von der Haupt- oder Vorzugsvariante als derjenigen Form, „die in der Schule gelehrt wird", Geltung hätte, würde dies Lehrer, Schüler und Schulbuchautoren vor große Probleme stellen. Denn, wie sogleich gezeigt werden soll, die Neuregelung macht es dem Schreiber - auch dem Schreiber, der sich außerhalb der Schule um eine konsistente Schreibung bemüht - nicht leicht, sich einzuprägen, wie bei einem auftauchenden Fremdwort jeweils zu verfahren ist.7
2. Das Problem Als Erstes muss er wissen, ob überhaupt Variantenschreibung vorgesehen ist. Dies ist z. B. nicht der Fall bei Alphabet, Apostroph, Asphalt, Katastrophe, Strophe, Triumph, für die im Vorstadium der Reform einmal Schreibung mit/ zusätzlich zu der mit ph vorgesehen war. So auch bei Rhabarber, Rheuma, Rhythmus, bei denen zusätzlich zur Schreibung mit rh die mit einfachem r vorgesehen war, und bei Theke, Apotheke, Artothek, Bibliothek, Diskothek, Hypothek, Kartothek, Videothek; Athlet, Biathlon, Leichtathletik; Asthma, Rhythmus, Thron (zusätzlich vorgesehene Schreibung mit einfachem /). Die zunächst einmal vorgesehene Doppelschreibung wurde ebenfalls zurückgezogen bei Holocaust (auch mit k f , Jackpot, Pot (auch mit it), Karosse, Karosserie (auch mit rr wie Karre), Zigarette, Zigarillo (auch mit rr wie Zigarre), Paket (auch mit ck wie packen, Päckchen) und Restaurant (auch mit o).9 Im Unterschied dazu war Äugst u. a., 1997; Zabel, 1997, S. 151f. Zabel behauptet dort irrigerweise, dass im aW „bei fremdsprachlichen Varianten jeweils eine Vorzugsvariante und eine Nebenvariante angegeben wird", und übersieht damit die zahlreichen gleichberechtigten Varianten vom Typ Joga°/Yoga°, Boutique°/Butike°, Symphonie0/Sinfonie0. Wir beschranken uns hier innerhalb des Gebiets der Buchstabenschreibung auf den Bereich Laut-Buchstaben-Zuordnungen. Vergleichbare Probleme tauchen auf im Bereich Worttrennung am Zeilenende (Silbentrennung), z. B. Päd-agogik" oder Pä-dagogik*. Im Gebiet der Wortgliederung gibt es analoge Probleme im Bereich Getrennt- und Zusammenschreibung, z. B. Short Story* oder Shortstory*, und im Bereich Schreibung mit Bindestrich, z. B. Aupairmädchen* oder Au-pair-Mädchen°. Hier bleibt es Unverstand!icherweise bei der anglisierenden Schreibung mit c, die ganz gegen die Gewohnheit der Wiedergabe des griechischen Buchstabens Kappa durch k vor dunklen Vokalen verstößt. Die Rücknahme der geplanten Doppelschreibungen und einige weitere Änderungen gehen auf eine Intervention des bayrischen Kultusministers Zehetmair zurück, vgl. Zabel, Hermann: Keine Wüteriche am Werk. Berichte und Dokumente zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Hagen 1996, S. 276-324. Die zugehörige Wortliste ist abgedruckt in Zabel, Hermann: Die neue deutsche Rechtschreibung. Aktualisierte Auflage, Stand. Oktober 1995. Niedernhausen 1995, S. 134-136; vgl. auch (allerdings mit Fehlen der Wörter mit th) Schaeder, Burkhard: Neuregelung der deutschen Rechtschreibung -
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für viele der Wörter, die ausgangs der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts von Gegnern der Rechtschreibreform als Menetekel vorgeführt wurden, wie z. B. Philosophie mit zwei/ Physik mit/ ü und ie, Theater mit Anfangs-/, eine Doppelschreibung nicht vorgesehen. Aus dem amtlichen Wörterverzeichnis ergibt sich, ob Varianten- oder Doppelschreibung vorgesehen ist - aber nicht mit letzter Eindeutigkeit. Klar ist die Angelegenheit, wenn für ein Fremdwort zwei Varianten (wie gesagt durch Verweis mit „auch"/„s." bzw. durch Nebeneinanderstellung) genannt werden. Nun fehlen im aW aber eine ganze Reihe von Wörtern, für die im Rechtschreibduden 1991 Doppelschreibung vorgesehen war (und in der 21. Auflage 1996 weiterhin vorgesehen ist), z. B. Couscous/Kuskus, Faeces/Fäzes. Pique/Pikee, shocking/schocking.10 Umgekehrt enthält das aW Fremdwörter mit nur einer Schreibung, wie z. B. Fasson, Plazet, Resümee, darüber hinaus aber auch solche wie Porträt, Kuvert, Klischee, für die sich in den angeblich neuregelungskonformen Rechtschreibwörterbüchern (aus früheren Auflagen übernommene) Varianten - Portraiif, Couvertf, Glichet - finden. Ein Anhänger der amtlichen Rechtschreibung würde in solchen Fällen durch die Wörterbücher in die Irre geführt und müsste jeweils im aW nachschlagen.11 Nehmen wir nun an, unser gedachter Schreiber hätte bei einem Fremdwort ermittelt, dass gemäß aW Variantenschreibung zulässig ist. Wenn es sich um gewichtete Varianten handelt, könnte er die Haupt- oder Vorzugsvariante wählen. Wie aber soll er seine Wahl treffen, wenn gleichberechtigte Varianten vorliegen? In dieser Lage bietet sich ihm das „Duden-Praxiswörterbuch" als Retter an, das verspricht, für jedes Stichwort, also auch für die aufgenommenen Fremdwörter, die eine oder eine der korrekten Schreibweisen zu präsentieren.12 Doch häufig fehlt gerade der gesuchte Eintrag (z. B. finden sich weder Chicoree0 noch Schikoree*, weder Drape0 noch Drapee*13) oder das Praxiswörterbuch mag keine Entscheidung treffen und führt beide Schreibweisen an, wie z. B. bei ciao°l tschau0. Es kann aber unseren gedachten Rechtschreiber auch in anderer Hinsicht in Verwirrung stürzen, wenn er feststellen muss, dass seine vom amtlichen Regelwerk nahe gelegte Entscheidung, bei gewichteten Varianten stets die Vorzugsvariante zu wählen, vom Praxiswörterbuch nicht mitgetragen und konterkariert wird. Dies ist etwa der Fall bei Mayonnaise0, der amtlichen Neben-
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Chronik der laufenden Ereignisse (Stand März 1999), in: Schaeder, Burkhard (Hg.): Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Beiträge zu ihrer Geschichte, Diskussion und Umsetzung. Frankfurt am Main 1999, S. 11-33, hier S. 17. Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. Mannheim 1996. Alternativ dazu kann er benutzen: Kürschner, Wilfried: Orthografie(reform) 2000: Darstellung, Wortindex, Variantenfuhrer. Tübingen 2000. Über den Index sind die Übereinstimmungen und Abweichungen des Rechtschreibdudens 1996 und anderer Wörterbücher vom aW feststellbar. Duden. Praxiswörterbuch zur neuen Rechtschreibung. Herausgegeben und bearbeitet von der Dudenredaktion. Mannheim 1998, S. 9. Was den einheimischen Wortschatz angeht fehlen u. a. Schenke°/Schänke* und Stendel(wurz)°/Ständel(\vur2) *.
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form (im Folgenden: Nf.), die das Wörterbuch statt der Hauptform (im Folgenden: Hf.) Majonäse0 empfiehlt. So auch bei Mohair0 (Nf.) statt Mohär0 (Hf). Übereinstimmung dagegen bei Nugat0 (Hf.) statt Nougat0 (Nf.), aber nicht bei Ketchup0 (Nf.) statt Ketschup0 (Hf). So scheint es für unseren Schreiber nötig zu sein, in allen relevanten Fällen ins amtliche Wörterverzeichnis zu schauen14 - oder aber er lernt auswendig, welche Schreibung im jeweiligen Fall Haupt- und welche Nebenform ist (und lässt für den Moment das Problem der gleichberechtigten Varianten [im Folgenden: g. V.] auf sich beruhen). Die Memorierungsaufgabe dürfte aber wohl nur Gedächtniskünstlern gelingen. Denn bei den gut 200 Fremdwörtern mit Variantenschreibung, die im aW aufgeführt sind, lässt sich beim besten Willen nicht voraussagen, welche Form zur Haupt- und welche zur Nebenvariante erklärt worden ist. Dabei wäre es unter der selbst gesetzten Prämisse der „Integration entlehnter Wörter" ins Deutsche einfach gewesen, zu prinzipiellen (und damit leicht zu behaltenden) Lösungen zu kommen. Dies gilt insbesondere für die Fälle, in denen der fremdsprachlichen Schreibung im aW eine vorher nicht vorhandene eindeutschende Schreibung beigesellt wird.15 Denkbar wäre, die zuvor nicht vorhandene eindeutschende Schreibung zunächst als Nebenform zu der etablierten Fremdschreibung als Hauptform zu stellen. Dies geschieht auch in zahlreichen Fällen, z. B. Maläse* (Nf.)/'Malaise0 (Hf.), Schikoree* (Nf.)/CA;coree0 (Hf), Nessessär* (Nf.)/Necessaire0 (Hf.), Bonboniere* (Nf.)/Bonbonniere0 (Hf), Bravur* (Nf.) / Bravour0 (Hf), Delfin* (Nf.) /Delphin0 (Hf.), Kommunikee* (Nf.) l Kommunique0 (Hf), Hämorride* (Nf.)/Hämorrhoide° (Hf), Katarr* (Nf.)/Katarrh0 (Hf.), Myrre* (Nf.)/Myrrhe* (Hf.), Panier* (Nf.) /Panther0 (Hf.), Tunfisch* (Nf.) / Thunfisch0 (Hf.), Ginko* (Nf.) / Gingko0 (Hf.). Aber es geschieht eben nicht durchgängig: In einigen Fällen wird die neue, eindeutschende Schreibung gleich zur Hauptform erhoben, z. B. Krepp* (Hf.)/ Crepe (Nf.) .Speise', Ketschup* (Hf.)/Ketchup0 (Nf.) (Catchupf), Pappmaschee* (Hf.)/'Pappmache0 (Nf.), Portmonee* (Hf.)/Portemonnaie0 (Nf). In welchem Grade ungleichmäßig verfahren wird, geht aus der folgenden Zusammenstellung hervor, die die Wörter mit e/ee° bzw. eindeutschend ee* umfasst: Neue Eindeutschung ist Haupt-, alte Fremdschreibung Nebenform: Dekolletee* /Dekollete0 (DecolletefJ Exposee * / Expose ° Frappee * / Frappe" Negligee * / Neglige ° Pappmaschee * / Pappmache0 passes* / passe" Rommee * / Romme0 Varietee* / Variete"
Vgl. nochmals Fußnote 11. Auch der umgekehrte Fall, dass nämlich einer allein vorhandenen eingedeutschten Schreibung die fremdsprachliche (wieder) an die Seite gestellt wird, kommt vor: z. B. Kampagne" (Hf.)/Campagne* (Nf), Kargo" (Hf.)/Cargo* (Nf.), Kanossagang0/Canossagang* (g. V.).
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Alte Fremdschreibung ist Haupt-, neue Eindeutschung Nebenform: Boucle" /Buklee* Chicoree ° / Schikoree * Drape ° / Drapee * Glace0 / Glacee* Kommunique ° / Kommunikee * (Communique f) Lame"/Lamee* Separie ° / Separee * Soufflo" /Soujflee*
Wenn man nun noch die ebenfalls hierher gehörigen bereits vor der Neuregelung vorhandenen, jetzt aber gewichteten Doppelformen hinzuzieht, ergibt sich folgendes Bild: Alte Eindeutschung ist Haupt-, alte Fremdschreibung Nebenform: Dragee" / ^ " Dublee* / Double0 Frottee" / Frotte0
Alte Fremdschreibung ist Haupt-, alte Eindeutschung Nebenform: " /Kupee"16 Nicht einmal innerhalb der semantischen Felder, die man hier entdecken kann, wird einheitlich verfahren. Das eine Feld könnte man mit .Textilien', das andere mit .Speisen, Essbares' überschreiben. Feld .Textilien': Eindeutschung Haupt-, Fremdschreibung Nebenform: Frappee* (.Stoff mit eingepresstem Muster') - Frottee"
Feld .Textilien': Fremdschreibung Haupt-, Eindeutschung Nebenform: Boucle0 (,Garn mit Knoten und Schlingen') - Drape0 - G/ac^° - Lame0
Feld .Speisen, Essbares': Eindeutschung Haupt-, Fremdschreibung Nebenform: Dragee"- Frappee* (,mit Eis serviertes alkoholisches Getränk') Feld .Speisen, Essbares': Fremdschreibung Haupt-, Eindeutschung Nebenform: Chicoree0 - Souffle0
Wenn wir über die Schreibung mit e/ee° - ee* hinausgehen und die übrigen Fälle mit einbeziehen, ergibt sich für das Feld ,Speisen, Essbares' folgendes Bild: Feld .Speisen, Essbares': Eindeutschung Haupt-, Fremdschreibung Nebenform: Majonäse" - Mokka" - Reneklode"- Soße" - Anschovis" - Ketschup* - Kreme*- Dragee" - Frappee* - Nugat"
Feld .Speisen, Essbares': Fremdschreibung Haupt-, Eindeutschung Nebenform: Chicoree" - Joghurt" - Spaghetti" - Thunfisch0" 1
In folgenden Fallen ist neben der Fremdschreibung mit e erstaunlicherweise keine Variantenschreibung mit eindeutschendem ee vorgesehen: Abbe", Autodqfi", Bebo", Cafe", Protege0, rose°/Rose°. Mit etwas gutem Willen lassen sich hierher auch Delphin" (Hf.) und Panther" (Hf.) (Nf: Delfm*, Panier*) stellen.
Fremdwort- Variante ns chreibung
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Vielleicht noch verwirrender stellt sich die Lage dar, wenn wir einen Blick auf die Schreibungen mit graph/graf, phon/fon, phot/fot werfen. Soweit Wörter mit diesen Stämmen im aW genannt und hinsichtlich ihres Variantenstatus einsortiert werden, ergibt sich Folgendes: -
Bei allen genannten Wörtern mit phon/fon ist die Fremdschreibung mit pH die Hauptform, die mit/die Nebenform - mit Ausnahme von Mikrofon0, das auch früher schon Variante zu Mikrophon0 war, und von Sinfonie0 und Symphonie0, die zu gleichberechtigten Varianten erklärt werden.18 Darüber hinaus fällt die pA-Variante zu Telefon0 und telefonieren0 weg, eine m. E. unnötige und Memorierprobleme schaffende Maßnahme.
-
Bei den (wenigen) genannten Wörtern mit phot/fot ist anders als bei phon/fon die eindeutschende Schreibung die Hauptform, die mit ph die Nebenform: fotoelektrisch*, fotogen0 (.bildwirksam4), fotogen* (.durch Licht entstanden'), Folometrie*, Fotosynthese*19. Auch hier fällt eine Altschreibung weg: Foto0 ist nicht mehr auch mitpA (Photof) vorgesehen (wohl aber Photograph0, Photographic0 und pholographieren0 als Nebenformen zu Fotograf0 usw.).
-
Bei den (recht zahlreich) genannten Wörtern mit graph/graf ist bald die Fremdschreibung, bald die eindeutschende Schreibung zur Hauptform erklärt worden, ohne dass ein System erkennbar wird: Hauptform: p/i-Schreibung
Hauptform:/-Schreibung
Bibliografie* Biograße * Choreograße* Ethnographie0
Fotografie0
0
Geographie
Grafik0 grafisch"
Graphic0 Graphit" Graphologe" Kalligraphie" Kartographie" Lithographie" Monographie" Orthographie" paläograßsch* (nur so)
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Im Abschnitt „Zeichenerklärung" vor dem aW wird von Megafon fälschlich behauptet, diese Schreibung sei bereits vor der Reform gültig gewesen. In allen genannten Fällen unterbleibt im aW die Kennzeichnung als Neuschreibung. Die technisch-handwerkliche Schlampigkeit der Ausführung des Wörterverzeichnisses (und in Teilen auch des Regelteils) des amtlichen Regelwerks bedürfte einer gesonderten Darstellung. Sie sind auf jeden Fall kein Ruhmesblatt germanistischer Lexikografie.
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Wilfried Kürschner Hauptform:
-Schreibung
Hauptform:/-Schreibung
Paragraph0 phonograßsch0 (Hf.) /fonografisch* Polygrafie * (nur so) Pornograße*
(Nf.)
Seismograph" Stenografie* Telegrafie* Topographie" Typograße*
Wenn man angesichts dieses buntscheckigen Bildes noch bedenkt, dass zahlreiche weitere Bildungen mit graph/graf im aW gar nicht erwähnt sind, ist deutlich, welche Memorier- bzw. Nachschlagearbeit einer leisten müsste, der auch in diesem Bereich regelungskonform schreiben möchte.
3. Die Lösung Die im Vorangehenden exemplarisch dargelegten Befunde mit den sich daraus für die Schreibpraxis ergebenden Problemen erfordern meines Erachtens eine radikale, dafür aber einfache Lösung: In allen Fällen, in denen das amtliche Regelwerk Variantenschreibung vorsieht oder aber auch nur zulässt, sollte grundsätzlich die eindeutschende Schreibung gewählt werden. Diese Lösung hat zumindest den Vorteil, dass die zugrunde zu legende Maxime („Deutschschreibung") leicht zu behalten ist. Natürlich träfe dies auch auf die umgekehrte Lösung zu, nämlich grundsätzlich die Fremdschreibung zu wählen. Beide Lösungen sind meines Wissens bisher nicht in ihrer radikalen Form vorgeschlagen oder praktiziert worden.21 Die Hausorthografien, die im Gefolge der Rechtschreibreform (wohl auch wegen ihrer Unentschiedenheit, die gern als Liberalität dem Schrei-
in den Zusammenhang der in der vorangehenden Fußnote bemangelten Nachlässigkeiten gehört auch die falsche alphabetische Einordnung von Polygrafie (und polytechnisch) vor Polyamid, Polyester usw. Verantwortlich dafür ist offenbar der Bogen hinter Poly, der anzeigen soll, dass weitere Bildungen mit Poly... möglich sind. Dieser Mangel fallt auch bei anderen Bildungen ins Auge, z. B. Foto -fotoelektrisch - Fotosynthese -fotogen ... - Darüber hinaus fällt auf, dass für paläogrqfisch und Polygrafie keine Variante mit ph vorgesehen sind. Das österreichische Wörterbuch (38. Auflage. Neubearbeitung. Mit den neuen amtlichen Regeln. Wien 1997) geht allerdings in vielen Fällen insoweit mit den im Folgenden vorgetragenen Vorschlägen konform, als sie dort, anders als etwa im Rechtschreibduden 1996, wenigstens genannt werden. Es erfolgt aber, z. B. bei Fonem, Grafem stets ein Verweis auf die Fremdschreibungen (Phonem, Graphem), bei denen die Neuschreibung ebenfalls vermerkt ist. Ob die zum Verweisen eingesetzte Pfeilspitze darüber hinaus eine weiter gehende Funktion hat (etwa die, von der Nebenform auf die Hauptform zu verweisen), geht weder aus dem Text noch aus der Zeichenerklärung auf dem Vorsatzblatt hervor: Die Funktion der Pfeilspitze wird nicht erklärt.
Fremdwort- Variantenschreibung
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ber gegenüber herausgestellt wird) entstanden sind und publiziert wurden22, bevorzugen bei der Fremdwortschreibung bald die fremde, bald die eindeutschende Form - erkennbar ohne Berücksichtigung der Varianteneinstufung im aW. Gegen die hier vorgeschlagene Lösung der konsequenten Eindeutschung wird man einwenden mögen, dass sie in vielen Fällen einen Kulturbruch darstellt, z. B. wenn - um im Bereich der Sprachwissenschaft zu bleiben - künftig Fön, Fonem, Allofon und Fonetik, Fonologie und dergleichen geschrieben wird oder Graf, Grafem, Allograf, Grafemik und beides vereinend Fonografem. Doch ist dies die Schreibung, die in der ganzen Romania gilt, abgesehen natürlich vom Französischen, und keiner kommt auf die Idee, den Italienisch-, Spanisch-, Portugiesischsprechenden einen Kulturverfall zu attestieren, bloß weil sie den griechischen Einzelbuchstaben Phi durch den lateinischen Einzelbuchstaben/ wiedergeben (und so übrigens auch bei / für den einen Buchstaben Theta und bei r für das Rho mit darüber gesetztem Spiritus asper verfahren: teatro, ritmo usw.). Zu dem Einwand, viele der hierher gehörigen Wörter, bei denen es sich ja häufig um fachsprachliche Termini handelt, wären in Textdateien und Datenbanken unter der eindeutschenden Schreibung nicht mehr auffindbar, ist Folgendes zu sagen. Zwar enthält ein Großteil der gemeinten Dateien zusätzlich zum deutschen Text englischen Text und ist damit der bisher bevorzugten oder allein zulässigen Fremdschreibung des Deutschen näher, doch entwickeln sich mehr und mehr schreibungstolerante, so genannte fonetische Suchroutinen. Für diese ist es kein Problem, zusätzlich zur Schreibung beispielsweise mit/nach einer Schreibung mit pH zu suchen. Gelegentlich ist auch zu lesen, im amtlichen Regelwerk würde für „gelehrte" Fremdwörter, für den so genannten Bildungswortschatz, die Fremdschreibung gefordert.23 Dies lässt sich aus dem Regelwerk an keiner Stelle herauslesen. Im Gegenteil zeigen Beispiele wie polyphon0 mit seiner Nebenform polyfon* und für die Sprachwissenschaft noch deutlicher - homophon0 (Hf.)/homofon* (Nf.) und Phon0 (Hf.)/Fon* (Nf.) allein, allesamt Wörter, die wahrlich nicht zur alltäglichen Gebrauchssprache gehören, dass die amtliche Regelung (möglicherweise unbedacht oder unbeabsichtigt) die eindeutschende Schreibung durchaus vorsieht, gelegentlich, wie oben bei phot/fot und graph/graf gezeigt, sogar bevorzugt. Was hier für die den Bereich Laut-Buchstaben-Zuordnung bei FremdwortVariantenschreibungen dargestellt wurde, gilt innerhalb dieses Gebietes, der Buchstabenschreibung, wie gesagt auch für den Bereich Worttrennung am Zeilenende. Auch hier sollte Trennung nach den Regelungen, die für einheimische Wörter gelten, bevorzugt werden, also pä-dagogisch* (statt päd-agogisch°), Helikop-ter* (statt Heliko-pter0), aber auch Diph-thong* (statt Di-phthong°), Beispielhaft seien die umfangreicheren genannt: Die Rechtschreibreform. Der Leitfaden für Journalisten. Gemeinsam erarbeitet von den Nachrichtenagenturen AFP, AP, dpa [...]. Freilassing [1999]; die in dieser Broschüre abgedruckte Version wurde noch vor deren Erscheinen durch eine modifizierte Version, die im Internet zuganglich ist, Überholt. - Zimmer, Dieter E.: Neue Rechtschreibung in der ZEIT. Hamburg 1999. Etwa bei Zimmer, 1999, S. 7, in Bezug auf „wissenschaftliche Wörter".
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Wilfried Kürschner
Sy-nonym*/Syno-nym* (statt Syn-onym°) und arbit-rär* (statt arbi-trär°), Signifikat* (statt Si-gnifikat0)24. Vereinheitlichende Regelungen sind nicht nur bei Fremdwortschreibungen vonnöten, sondern auch bei Variantenschreibung einheimischer Wörter wie z.B. Stendel(\vurz)° (Hf.)/Ständel(wurz)* (Nf.), Schenke0/Schänke* (g. V.). Hier empfehle ich, dem Prinzip der Stammschreibung zu folgen und z. B. Ständel(wurz) zu schreiben (Stände! gehört zu Ständer). Wenn das Prinzip der Stammschreibung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt - Schenke stellt sich zu (aus)schenken, Schänke zu (Avs)schank -, empfehle ich, einem Prinzip, das ich, wie bereits oben angedeutet, „Deutschschreibung" nenne, zu folgen: Die Schreibung mit dem Umlautbuchstaben ä ist typisch(er) deutsch, also sollte Schänke bevorzugt werden. Im Gebiet der Wortauszeichnung, also dem Bereich Groß- und Kleinschreibung der Anfangsbuchstaben von Wörtern, empfehle ich bei zulässiger Variantenschreibung großzuschreiben: aufs Schönste* (statt auf das schönste0), Ade* sagen (statt ade° sagen), Hunderte0 (statt hunderte*) usw. Und schließlich empfehle ich im Gebiet der Wortgliederung die Zusammenschreibung vor der Bindestrich- und/oder Getrenntschreibung, also Handout0 (statt Hand-out*), Playback0 (statt Play-back*), aber auch Sitin* (statt Sit-in0) und Makeup* (statt Make-up0), Neuschreibungen, die im aW zum Teil gar nicht genannt werden, aber vom Regelwerk her zulässig sind. Desgleichen auch aufgrund0 (statt auf Grund0), mithilf e* (statt mit Hilfe0), zurande* kommen (statt zu Rande0 kommen), sodass* (statt so dass° [mit ss stattß\). Diese Präferenzhierarchie25 kann man zur leichteren Behaltbarkeit in einem Merkspruch zusammenfassen. Er lautet (in umgekehrter Reihenfolge zu dem gerade Ausgeführten): Zusammenbinden die Getrennten,
bindet nur die Gleichen ihr Großen und Kleinen, ihr stammigen Deutschen und Fremden!
Aber weiterhin nur Mag-ma° und nicht auch Ma-gma, wie das Duden-Praxiswörterbuch empfiehlt. Vgl. Kürschner, Wilfried: Variantenschreibung - die HauptcruxAkrux der Orthographie-/ Orthografiereform?!, in: Akten des 34. Linguistischen Kolloquiums. Frankfurt a. M. (erscheint demnächst). Diese Zeile bezieht sich auf die einzige Ausnahme, bei der Bindestrichschreibung vor Zusammenschreibung gilt: Bei gleichrangigen Adjektiven sollen dadurch Schreibungen wie deutschenglisches oder gar griechischlateinischdeutsches Wörterbuch zugunsten von deutsch-englisches und griechisch-lateinisch-deutsches Wörterbuch vermieden werden. Demzufolge auch süß-sauer, rot-braun (aber rotbraun, wenn ein ins Rote gehendes Braun gemeint ist: Es liegen dann zwei nicht gleichrangige Adjektive vor, vielmehr modifiziert das Adjektiv rot das Adjektiv braun).
Klaus Siewert
Semantischer Wandel versus semantische Verwandlung1
1. Sprachwandel Der Sprachwandel ist ein für alle natürlichen Sprachen feststellbares Phänomen. Bekanntlich sind dabei nicht nur bestimmte Sektoren einer Sprache betroffen, sondern die Sprache im Ganzen. Die natürlichen Sprachen im Gegensatz zu künstlichen Sprachen innenwohnende Fähigkeit, Wandel zu vollziehen, sichert den natürlichen Sprachen ihre Funktionstüchtigkeit: Wäre eine Sprache nicht mehr in der Lage, die sich ihrerseits in stetem Wandel befindliche außersprachliche Welt in allen ihren Einzelheiten zu bezeichnen und neue virtuelle Welten zu erfassen, käme es unweigerlich zu Funktionsstörungen.
2. Semantischer Wandel und semantische Verwandlung Unter anderem unterliegt die semantische Dimension einer natürlichen Sprache dem Wandel. Das, was gemeinhin unter dem Begriff Bedeutungswandel gefaßt wird, geht unmerklich vonstatten als ein natürlicher, von unsichtbarer Hand gelenkter Prozeß innerhalb einer Sprache. In der Regel ist keine normative Instanz erkennbar, die einen solchen Wandel herbeiführt. Die in der NS-Zeit und während des DDR-Regimes betriebenen Versuche, administrativ in die Sprache einzugreifen, betreffen weniger die Bedeutung als den Ausdruck selbst. Da die Inhaltsseite eines sprachlichen Zeichens sich einem solchen steuernden Zugriff einer wie immer gearteten Instanz offenbar leichter entziehen konnte, war das Ziel solcher Bemühungen in der Regel die Ausdrucksseite: Beispiele hierfür wären etwa die Ersetzung des Lehnwortes Nase durch das (von den Nationalsozialisten irrtümlich im Ganzen für ein Erbwort gehaltene) Gesichtserker, in der DDR-Zeit etwa die Eliminierung des Wortes Engel und dessen Ersetzung durch das Wort Jahresendflügelfigur. Betrachtet man die Verhältnisse unserer heutigen Gegenwartssprache, ist aus synchroner Perspektive - ein Bedeutungswandel auf Anhieb nicht erkennbar. Erst die diachrone Perspektive, insbesondere der Vergleich mit älteren Sprachstufen des Deutschen, indiziert Bedeutungswandel, oftmals mit dem Ergebnis einer Bedeutungsverengung zur Gegenwartssprache hin: ahd. kneht 'Knabe, Jünger' > gspr. Knecht 'abhängiger Arbeiter auf dem Bauernhof; ahd. haring 'Fisch' > Die Druckvorlage besorgte Christian Efmg, Arbeitsstelle Sondersprachenforschung der Universität Münster.
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gspr. Hering 'Hering (bestimmter Fisch)'. Auf die methodischen Schwierigkeiten der Bedeutungsermittlung in älteren Sprachstufen des Deutschen hat Franz Hundsnurscher immer wieder hingewiesen, wobei insbesondere fehlende Kollokationen der betreffenden Lexeme diese Schwierigkeiten begründen.2 Im Gegensatz zu dem in natürlichen Sprachen in der Regel ungelenkt ablaufenden Bedeutungswandel stellen wir nun für geheimsprachlich ausgerichtete Sondersprachen andere Verhältnisse fest, die mit dem soeben eingeführten Terminus „Semantische Verwandlung"3 bezeichnet werden sollen. Für solche Sondersprachen konstitutiv ist der bewußt herbeigeführte semantische Wandel, der in unmittelbarem Zusammenhang mit der zentralen Funktion von Geheimsprachen steht, Dritte vom Verständnis ausschließen zu wollen. Solche künstliche Bedeutungsveränderung impliziert einen agitatorischen Faktor und ist insofern vom natürlichen semantischen Wandel zu unterscheiden. Innerhalb der Sondersprachenforschung ist dieser Aspekt bis heute weitgehend vernachlässigt oder übersehen worden. Seine Bedeutung erlangt er indessen dadurch, daß er im Funktionszusammenhang einer Geheimsprache eine zentrale Rolle einnimmt. Im Rahmen der sogenannten Rotwelsch-Dialekte leisten die Verdunklungsarbeit im wesentlichen Lexeme, die aus sogenannten Spendersprachen4 wie dem Jüdischdeutschen, dem Sintes/Romanes oder etwa romanischen Sprachen in die Rotwelsch-Dialekte substitutiv integriert wurden und bestimmte Bezirke des Wortschatzes, die für die entsprechenden Sprechergruppen von besonderer Wichtigkeit waren, für Außenstehende verschleierten. Der Prozeß der Integration eines spendersprachlichen Lexems in die deutsche Sondersprache geht nun zuweilen noch mit einer solchen semantischen Verwandlung einher. Das Ergebnis ist die wie immer geartete Änderung der angestammten Bedeutung des Lexems in der jeweiligen Spendersprache zum Zeitpunkt der Integration in die (deutsche) Sondersprache. Unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität als Geheimsprache bedeutet dies eine zusätzliche Absicherung des Codes gegenüber Außenstehenden. Voraussetzung für die Entschlüsselung eines solchermaßen geheimsprachlich funktionalisierten Lexems wäre in solchen Fällen nicht nur die Kenntnis des spendersprachlichen Lexems und seiner Bedeutung, sondern gleichzeitig auch das Wissen um die veränderte Bedeutung. Nicht nur spendersprachliche Lexeme sind von semantischer Verwandlung betroffen. Wie die später gegebenen Beispiele zeigen, sind auch Wörter der jeweiligen Mundart, in die die betreffende Sondersprache eingebettet ist, und auch Lexeme anderer Varietäten des Deutschen solchermaßen verfremdet und
Hundsnurscher, Franz: Wortsemantik aus der Sicht einer Satzsemantik, in: Hundsnurscher, Franz; Weigand, Edda (Hgg.): Lexical Structures and Language Use. Proceedings of the International Conference on Lexicology an Lexical Semantics, Münster, September 13-15, 1994. Bd. 1. Tubingen 1996, S. 39-51. (Beiträge zur Dialogforschung 8) Sieweit, Klaus: Grundlagen der Sondersprachenforschung. Mit einem Wörterbuch der Masematte aus Sprecherbefragungen und den schriftlichen Quellen. Habilitationsschrift, Münster 1998 (in Druckvorbereitung). Siewert, 1998.
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damit als geheimsprachentauglich in die Sondersprache integriert worden. Unter funktionalem Aspekt waren diese auf der Bedeutungsseite verfremdeten mundartlichen Wörter vergleichsweise leichter zu entschlüsseln als die doppelt verfremdeten spendersprachlichen Lexeme - vorausgesetzt, es handelte sich zum Zeitpunkt der Integration solcher mundartlichen Lexeme in die Sondersprache nicht um antiquierte, nicht mehr oder nur kaum mehr gekannte Wörter. In der sondersprachlichen Lexikographie sind solche geheimsprachlich funktionalisierten Mundartwörter in der Regel bislang nicht verbucht worden, da die bisherige Forschung allein auf den spendersprachlichen Aspekt fokussiert war und ihre Abgrenzungskriterien im wesentlichen von dort aus bezog. Nach dem Primat der Funktionalität solcher Geheimsprachen wären die Iditotika von Rotwelsch-Dialekten und anderen sondersprachlichen Varietäten des Deutschen um diesen bislang übersehenen und mit dem Begriff der semantischen Verwandlung unmittelbar verknüpften Bereich zu erweitern.5
3. Semantische Verwandlung in Rotwelsch-Dialekten Die nachfolgend angeführten Beispiele für semantische Verwandlung zeigen zusammengesehen zwei Typen. 1) Radikale semantische Verwandlung (semantische Antonymie). Der hier zu beobachtende Vorgang ist folgender: Im Zuge der Integration eines spendersprachlichen Lexems in die Sondersprache wird die in der Spendersprache angestammte Bedeutung antonymisch verkehrt. 2) Partielle semantische Verwandlung: Bei der partiellen semantischen Verwandlung wird das Lexem der Spendersprache in seiner angestammten Bedeutung mehr oder minder stark verändert. Hier ist typologisch zu unterscheiden nach (a) spendersprachlichen Lexemen, deren in der Sondersprache verwandelte Bedeutung in keiner erkennbaren Beziehung mehr zur Bedeutung des Wortes in der Spendersprache steht und (b) Fällen, in denen die veränderte Bedeutung in einer in irgendeiner Weise motivierten Beziehung zur Bedeutung des Lexems in der Spendersprache steht.
3.1. Masematte Radikale semantische Verwandlung (semantische Antonymie) bezeugen folgende Beispiele: jd. meschores 'Diener' > mas. maschores, 'Chef; zig. bes 'sitzen, sich setzen'> mas. haschen 'gehen'; zig. tschawo 'Knabe, Sohn' > mas. schabo 'Mädchen'. 5
So jetzt Siewert, 1998, Weiland (siehe Fußnote 6), Bergemann (siehe Fußnote 7), Feuerabend (siehe Fußnote 9).
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Beispiele für partielle semantische Verwandlung sind im Wortschatz der Masematte (wie auch in anderen Rotwelsch-Dialekten) häufiger, etwa: mas. knabbelachiler 'Bauer'< wf. knabbel 'Brotbrocken'; mas. brasseletlen 'Handschellen' < rom. (frz.) bracelet 'Armband'. Im Blick auf die Funktionalität semantisch verwandelter Lexeme, insbesondere im Blick auf die Funktionssicherheit gegenüber den von der Verständigung ausgeschlossenen Dritten, scheinen die Beispiele der partiellen semantischen Verwandlung höhere Code-Festigkeit zu haben als die der radikalen semantischen Verwandlung, da das semantische Verschlüsselungsverfahren „Ersetze A durch sein Gegenteil" im Kontext des geheimsprachlichen Textganzen vermutlich leichter hatte aufgedeckt werden können als die demgegenüber indifferente partielle semantische Verwandlung mit dem Codeschlüssel „Ersetze A durch B oder C oder D ...". Daß die semantische Verwandlung kein singuläres Phänomen eines bestimmten einzelnen Rotwelsch-Dialektes ist, zeigen weitere Beispiele aus jüngeren Arbeiten zu einzelnen solcher Rotwelsch-Vorkommen.
3.2. Hundeshagener Kochum Das Phänomen der partiellen semantischen Verwandlung ist für das Hundeshagener Kochum, eine Geheimsprache von Wandermusikanten aus dem Eichsfeld, reich bezeugt. Beispiele sind hier etwa: hk. jauner 'Musiker' < rw. jauner 'Spieler, Falschspieler'; hk. luschen 'blasen' finden und diese dann zu einer neuen Markierung l/£+1 komplettieren, die das Glaubenssystem Gi +l zu der durch den Sprechaktvollzug von a festgelegten Folgezeit H-1 festlegt. Für keine der beiden Teilaufgaben des Hörers muß es dabei eine eindeutige Lösung geben. Es kann sogar sein, daß es überhaupt keine Lösungen gibt und der Hörer ggf. nur durch die Aufgabe bisher akzeptierter Begründungen wieder zu einem konsistenten Glaubenssystem gelangen kann. Da sich ferner ein Subjekt bewußt eines Urteils über eine ihm präsente Proposition enthalten kann, muß V'b*1 auch nicht vollständig sein. Hier ist der Begriff der Konsistenz wichtiger; Vollständigkeit mag immerhin ein anzustrebendes Ziel sein.
4.2. Behaupten Abschließend wollen wir in stark vereinfachter Weise die hier vorgestellte Mechanik der Hörerüberlegungen am Beispiel des BEHAUPTENS veranschaulichen. Der Sprecher a möge zu t gegenüber dem Hörer b die Proposition p behaupten. Daß dies so ist, sei gerade die Proposition p\. Die Proposition p2 besteht darin, daß zu / über Gründe für die Wahrheit von p verfügt, und die Proposition p3 beinhaltet, daß es für a zu / nicht offensichtlich ist, daß b p weiß. Die Searleschen Einleitungsbedingungen für das Behaupten12 liefern für diese Proposition zwei Begründungen^', = { {p\} \ 0 -+p2 ) und j2 = ( {p\} \ 0 ->p3 ) . Vgl. Beckstein, 1996, S. 83f. Femer: Gärdenfors, Peter; Rott, Hans: Belief revision, in: Gabbay, Dov M.; Hogger, Christopher John; Robinson, John Alan (Hgg.): Handbook of logic in artificial intelligence and logic programming. Vol. 4. Oxford 1995, S. 35-132, hier insbesondere S. 113-118. Searle, John R.: Speech Acts. Cambridge 1969, S. 66. Es sei hier daraufhingewiesen, daß sich diese Bedingungen bei Grice aus der zweiten Maxime der Qualität und der einzigen
Wie der Hörer überlegt
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Wenn jemand etwas behauptet, von dem ihm nicht offensichtlich ist, daß sein Gegenüber das weiß, so deutet dies darauf hin, daß er möchte, daß sein Gegenüber das Behauptete als wahr akzeptiert, was er wiederum dadurch erreichen kann, daß er diesem seinen Glauben protreptisch demonstriert (s. o. l .2). Dies führt auf die Rechtfertigung j3 = ( {/>,, p3} \ 0 -» *U 'G'h+l'G'ap ) . Hat jemand Gründe für die Wahrheit einer Proposition q, so wird er q auch glauben. Dies liefert die Begründung /, = ( {p2} \ 0 —> G'ap } . Wer etwas Falsches behauptet, verliert dadurch an Glaubwürdigkeit. Sei p0 gerade das kontradiktorische Gegenteil von p, also p0 = p und p* die Proposition, daß nicht glaubwürdig ist. Dann haben wir damit die Begründung/! = ( {p\, p0}\ 0 —> pt ). Wenn schließlich jemand möchte, daß eine andere Person glaubt, daß er selbst an q glaubt, und wenn er q auch tatsächlich glaubt, so ist dies unter dem Vorbehalt seiner Glaubwürdigkeit ein Grund für q. Dies ergibt dann schließlich die Begründung js - { {'G^p, 'l'„' G; +1 'G'0p} \ {p4} ->p ) . Wir gehen nun zunächst davon aus, daß b zu t nichts glaubt, das irgendwie Einfluß auf die Propositionen p, p},..., /?4 hat, und daß ihm diese Propositionen auch nicht zu dieser Zeit präsent sind. Die Sprechertätigkeit von wird ihm dann jedoch diese Propositionen vergegenwärtigen, und er wird sie zunächst sämtlich als UNKNOWN markieren, da er ja sonst über keine Gründe und Gegengründe für sie verfügt. Sobald er dann aber die Tätigkeit von a als einen Akt des BEHAUPTENS identifiziert, ist p, mit IN zu markieren, wasy'i undj2 zu gültigen Begründungen macht. Will sich b nicht eines Urteils über p2 und p3 enthalten, wird er also auch diese Propositionen mit IN markieren. Damit werden aber 7'3 undy'4 zu gültigen Begründungen, und b hat die Wahl, sich eines Urteils über 'l'„ 'Gi +l 'G'„p und 'G'ap zu enthalten oder wieder beide Propositionen mit IN zu markieren. Da b keinerlei unabhängige Information überp 0 hat, ergeben sich nun für ihn folgende Optionen: (1) Er enthält sich eines Urteils über die Glaubwürdigkeit von a und markiert ;>„ und PQ mit UNKNOWN. Rationalerweise muß er sich dann auch eines Urteils über p enthalten. (2) Er sieht keinen Grund, an der Glaubwürdigkeit von a zu zweifeln und markiert vertrauensselig p4 mit OUT. Dann kann, um die Konsistenz der Markierung zu wahren, p0 nur noch mit OUT oder UNKNOWN bewertet werden. Wenn p0 für b überhaupt bestimmt ist, muß es also mit OUT bestimmt sein. Logische Gründe würden nun fordern, p als kontradiktorisches Gegenteil von p0 mit IN zu markieren. Unser hier benutzter Konsistenzbegriff berücksichtigt solche logischen Beziehungen aber nicht. Es läßt weiterhin zu, daß p als Konsequenz der nun gültigen Begründung y'5 mit UNKNOWN markiert wird. In diesem Fall würde sich b eines Urteils über p enthalten, obwohl er das Gegenteil
Relationsmaxime ergeben. Vgl. Grice, Herbert, Paul: Logic and conversation, in: Cole, Peter; Morgan, Jerry L. (Hgg.): Syntax and Semantics. Vol. 3: Speech Acts. New York etc. 1975, S. 41-58.
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von p für OUT hält.13 Wenn b aber überhaupt die Proposition p bestimmen will, so kann er sie nun nur noch mit IN bestimmen. (3) Eine Bestimmung von p zu OUT ist nur dann möglich, wenn eine vorherige Entscheidung revidiert wird. Da alle bisherigen Einstufungen von Propositionen auf der Markierung von p, mit IN und auf der Entscheidung beruhten, überhaupt ein Urteil zu fällen (statt neutral zu bleiben), käme also zunächst für diese Proposition eine Revision in Frage. Das heißt, b würde seine ursprüngliche Identifikation der Tätigkeit von als Sprechakt des BEHAUPTENS revidieren. Nehmen wir nun in Abwandlung unseres Beispiels an, b hätte bereits p0 als IN eingestuft (d. h. V'b (p0) = IN). Würde b weiterhin auch p, als IN einstufen, dann würde/, zu einer gültigen Begründung werden. In diesem Fall könnte b die Proposition p allenfalls noch mit UNKNOWN markieren, denn auch p4 könnte nur als IN oder UNKNOWN eingestuft werden. Im ersten Fall wird 75 verletzt, im zweiten unbestimmt. Durch Berücksichtigung der logischen Beziehung zwischen pQ und p könnte man auch hier wieder eine Markierung der letzteren Proposition mit OUT erzwingen (vgl. Fn. 13). Diese Überlegungen zeigen, wie der Hörer dazu gelangen kann, das vom Sprecher Behauptete zu glauben oder zurückzuweisen.. Der Sprecher kann, indem er die zu einer positiven Hörerentscheidung führenden Überlegungen antizipiert, die Bedingungen identifizieren, unter denen eine Kundgabe seines eigenen Glaubens und seiner Absicht den Hörer zu der gewünschten Reaktion veranlassen. Wir meinen, daß die Überlegungen selbst an diesem stark vereinfachten Beispiel die Brauchbarkeit des aus der Theorie der Begründungsverwaltung heraus entwickelten Apparats zur Modellierung von Hörerüberlegungen demonstrieren. Insbesondere zeigt das Beispiel, wie man Hörerüberlegungen nachvollziehen kann, ohne übermäßige Rationalitätsforderungen an den Hörer zu stellen, wie sie Modellierungen im Rahmen der epistemischen Logik postulieren.
Man könnte diese Möglichkeit für b durch Einführung einer absurden Proposition i sperren, indem man fordert, daß diese stets mit OUT markiert sein muß und eine weitere Rechtfertigung j6 = ( 0 | {p, p}-» i } annimmt. Diese würde bei mit OUT markiertem Po b zwingen, p mit IN zu markieren. In der Theorie der Begründungsverwaltung bezeichnet man i als NOGOOD. Vgl. Beckstein, 1996, S. 44.
Wilhelm Franke
Über semantische Muster
l. Einleitende Bemerkungen In seiner Beschreibung des Sprechakttyps AUFFORDERN schlägt Hindelang1 die Errichtung einer „semantischen Ebene" vor, die zwischen der pragmatischen und der grammatischen Beschreibungsebene vermitteln soll. Auf dieser Zwischenebene werden jene Äußerungen, die zum Vollzug von AUFFORDERUNGSHandlungen geeignet sind, wie in (1) nach sogenannten „semantischen Mustern" (SM) strukturiert und beschrieben:2 (1) a. SM Performative Handlungszuweisung Ich (performatives Verb) dich/dir, zu x-en: Ich bitte dich, nachher der Katze etwas Futter zu geben. b. SM Präferenzhinweis
Sagen, daß man will, daß Sp2 x-t: Ich möchte, daß du nachher der Katze etwas Futter gibst.
c. SM Präferenzfrage Fragen, ob Sp2 x-en will: Möchtest du nachher der Katze etwas Futter geben? d. SM Befolgungsfestlegung Sagen, daß Sp2 x-en wird: Du wirst nachher der Katze etwas Futter geben. e. SM Befolgungsfrage Fragen, ob Sp2 x-en wird: Wirst du nachher der Katze etwas Futter geben? f. SM Deontischer Hinweis Sagen, daß Sp2 x-en muß: Du mußt nachher der Katze etwas Futter geben. g. SM Deontische Frage Fragen, ob Sp2 nicht x-en muß: Mußt du nicht nachher der Katze etwas Futter geben? h. SM Kompetenzhinweis Sagen, daß Sp2 x-en kann: Du kannst nachher der Katze etwas Futter geben.
i. SM Kompetenzfrage Fragen, ob Sp2 x-en kann: Kannst du nachher der Katze etwas Futter geben? j. SM Imperative Handlungszuweisung X-e! Gib bitte nachher der Katze etwas Futter! Hindelang, Götz: Auffordern. Die Untertypen des Aufforderns und ihre sprachlichen Realisierungsformen. Göppingen 1978. In (1) folgt auf die Angabe des semantischen Musters (SM) jeweils ein exemplarisches Äußerungsschema, das anhand eines nachfolgenden Beispielsatzes veranschaulicht wird.
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Wenngleich sich die Idee der Etablierung einer semantischen Beschreibungsebene als äußerst attraktiv erwiesen hat und entsprechend in diversen nachfolgenden sprechakttheoretischen Untersuchungen adaptiert wurde,3 wirft sie doch einige Fragen auf, mit denen wir uns im Folgenden befassen wollen. So stellt sich zum Beispiel die Frage, welche Merkmale jener Äußerungen, die zum Vollzug von AUFFORDERUNGEN verwendet werden, bei der Bildung der semantischen Muster zugrunde gelegt wurden. Betrachten wir daraufhin die Äußerungen unter (1): Bei Äußerungen nach den semantischen Mustern (la) „Performative Handlungszuweisung" und (Ib) „Präferenzhinweis" handelt es sich offensichtlich um Aussagenverknüpfungen, die aus zwei Prädikationen bestehen. Dabei werden in der jeweils ersten Prädikation Aspekte der Illokution thematisiert, während sich die sich anschließende Prädikation auf den propositionalen Gehalt der Sprechhandlung bezieht. Für die Konstruktion des semantischen Musters „Performative Handlungszuweisung" dürfte ausschlaggebend gewesen sein, daß die erste Prädikation ein performatives Verb enthält, das die Illokution der Äußerung indiziert. Beim semantischen Muster „Präferenzhinweis" hingegen wird in der ersten Prädikation die „Aufrichtigkeitsbedingung" für AUFFORDERUNGS-Handlungen, nämlich „S wants H to do A"4, expliziert. In beiden Fällen bleibt somit bei der Musterbildung der jeweils in den zweiten Prädikationen ausgedrückte propositionale Gehalt unberücksichtigt. Anders verhält es sich mit allen übrigen semantischen Mustern unter (1). Bei Äußerungen, die nach den Mustern (Ic) bis (li) gebildet sind, handelt es sich, im Gegensatz zu den Äußerungen in (la) und (Ib), durchweg um einfache Aussagen, in denen der propositionale Gehalt von AUFFORDERUNGS-Handlungen zur Sprache kommt, der eine zukünftige Handlung des Adressaten thematisiert. Für die Musterbildung berücksichtigt Hindelang allerdings lediglich einen Aspekt der Proposition, nämlich den der Handlungs-Modalität,5 bei dem es um die Frage geht, ob der Vollzug (oder die Unterlassung) einer bestimmten Handlung durch den Adressaten vom Sprecher bzw. vom Adressaten selbst als möglich, wünschenswert oder notwendig erachtet wird. Alle übrigen Aspekte des propositionalen Gehalts, mit denen wir uns weiter unten befassen werden, spielen dagegen keine Rolle. Bezogen auf das semantische Muster (Ij) „Imperative Handlungszuweisung" bleibt schließlich festzustellen, daß es sich dabei eher um ein syntaktisches Muster handelt, für das die Erscheinung eines morphologisch entsprechend markierten Handlungsverbs in Spitzenposition charakteristisch ist.6 Dagegen sind im eigentlichen Sinne semantische Äußerungsmerkmale für dieses Musters nicht konstitutiv.
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Siehe u. a. Franke, Wilhelm: Insistieren. Eine linguistische Analyse. Göppingen 1983; Graffe, Jürgen: Sich festlegen und verpflichten. Münster, New York 1990; Hundsnurscher, Franz: Dialogmuster und authentischer Text, in: Hundsnurscher, Franz; Weigand, Edda (Hgg.): Dialoganalyse. Referate der 1. Arbeitstagung Münster 1986. Tübingen 1986, S. 35-49. Searle, John R: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge, S. 66. Zur näheren Erläuterung siehe die Ausführungen im Abschnitt 2.3. Vgl. dazu auch Hindelang, Götz: Einführung in die Sprechakttheorie. Tübingen 1983, S. 74.
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Zusammenfassend halten wir also zunächst fest, daß Hindelang bei der Konstruktion semantischer Muster insofern uneinheitlich verfährt, als er entweder auf Illokutionsindikatoren oder auf Aspekte des propositionalen Gehalts oder auf die syntaktische Struktur von Äußerungen, also auf formale Aspekte der Äußerungen abhebt. Femer verhält es sich so, daß immer nur einzelne markante Erscheinungen in Äußerungen fokussiert werden, etwa performative Verben in Äußerungen nach dem Muster (la) oder Modalitäts-anzeigende Modalverben in Äußerungen nach den Mustern (If) bis (li), während keines der Muster unter (1) die semantischen Strukturen von Äußerungen, mit denen AUFFORDERUNGS-Handlungen ausgeführt werden können, komplett abbildet. Um ein Konzept zu entwickeln, das derlei Schwierigkeiten umgeht, empfiehlt es sich, folgende Grundsätze zugrunde zu legen: Erstens sollte bei der Entwicklung semantischer Muster auf die Einbeziehung syntaktischer Gesichtspunkte konsequent verzichtet werden. Das heißt, daß ein Muster wie (Ij) „Imperative Handlungszuweisung" unter genuin semantischen Gesichtspunkten neu zu konzipieren wäre. Zweitens sollte der Schwerpunkt zunächst in der rekonstruktiven Entwicklung von semantischen Mustern liegen, mit denen die Strukturen einfacher Aussagen wie in (Ic) bis (Ij) erfaßbar sind. Erst danach sollte man sich komplexeren Aussagenverknüpfungen wie in (la) und (Ib) zuwenden. Drittens sollte darauf geachtet werden, daß die semantischen Muster so konzipiert sind, daß sie tatsächlich alle relevanten Bedeutungsaspekte und -beziehungen in empirischen Äußerungen zu erfassen imstande sind. Die folgenden Überlegungen dienen dem Zweck, unter Berücksichtigung der genannten Prinzipien ein Konzept zur Bildung semantischer Muster zu umreißen. Als Anschauungsbeispiele legen wir dabei wiederum die in Hindelang (1978) beschriebenen AUFFORDERUNGEN zugrunde.
2. Aspekte einer Handlungsbeschreibung Zum Vollzug von AUFFORDERUNGS-Handlungen, z. B. von Handlungen nach dem Muster BITTEN, sind Äußerungen geeignet, wie sie oben exemplarisch unter (Ic) bis (Ij) zusammengestellt sind. In ihnen wird, wie bereits angemerkt, der propositionale Gehalt von AUFFORDERUNGEN thematisiert, in dem von einer zukünftigen Handlung bzw. Handlungsunterlassung des Adressaten die Rede ist. Um in der Lage zu sein, die semantischen Strukturen solcher Äußerungen zu beschreiben, ist es geboten, sich zuvor einen Überblick über jene Aspekte zu verschaffen, die generell beim Reden über Handlungen thematisierbar sind. Wir bekommen so eine Folie, auf der Handlungsaspekte semantisch interpretiert und die zwischen ihnen bestehenden Relationen expliziert und spezifiziert werden können.
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Für die systematische Beschreibung der Strukturen handlungsexplizierender Äußerungen erweist sich ein von Rescher7 entwickelter Katalog als hilfreich, in dem die deskriptiven Elemente einer Handlung erfaßt sind. Wir stellen diesen Katalog hier, allerdings in erheblich modifizierter Form und mit einigen Erläuterungen versehen, vor:8 (A) (B) (C) (C l) (C2) (C3) (D) (D l) (D2) (D3) (E)
Handlungssubjekt (HS) Wer kann/sollte/muß etwas tun? Akt-Typ/Handlung (HA) Was kann/sollte/muß HS tun? Handlungs-Modus (HMOD) Ist der Vollzug von HA durch HS möglich/ratsam/obligatorisch? Wie kann/sollte/muß HS handeln? (Art und Weise) Womit kann/sollte/muß HS handeln? (Mittel) Kontext der Handlung (HKONT) Wann kann/sollte/muß HS handeln? (temporaler Aspekt) Wo kann/sollte/muß HS handeln? (lokaler Aspekt) Unter welchen Umständen kann/sollte/muß HS handeln? (situativer Aspekt) Gründe der Handlung Warum bzw. mit welchem Ziel kann/sollte/muß HS handeln?
2.1. Erläuterungen zur Kategorie Handlungssubjekt: Typen von Sprechakten, die als Untermuster von AUFFORDERN zu beschreiben sind, unterscheiden sich u. a. hinsichtlich der Frage, von wem jene Handlung auszuführen bzw. zu unterlassen ist, die in der Proposition thematisiert wird. So können wir beispielsweise sagen, daß im Sprechakttyp BITTEN in der Regel der Adressat der Äußerung als Handlungssubjekt angesprochen wird, während in Handlungen nach dem Muster VORSCHLAG, die im Kontext einer Planungsinteraktion realisiert werden, beide Gesprächspartner als potentielle Handlungssubjekte in Betracht kommen. In jedem Fall ist aber die Spezifizierung des jeweiligen Handlungssubjekts mit Hilfe geeigneter Referenzmittel als eine notwendige Bedingung für den erfolgreichen Vollzug von AUFFORDERUNGS-Handlungen anzusehen. Wie die dafür in empirischen Äußerungen verwendeten Sprachmittel semantisch zu interpretieren sind, wird uns weiter unten beschäftigen.
2.2. Erläuterungen zur Kategorie Akt-Typ/Handlung: Wer eine Sprechhandlung nach einem Untermuster von AUFFORDERN ausführen will, muß im Prädikationsakt eine (praktische, sprachliche oder mentale) Handlung spezifizieren, die vom Handlungssubjekt ausgeführt bzw. unterlassen werden soll.
Rescher, Nicholas: Handlungsaspekte, in: Meggle, Georg (Hg.): Analytische Handlungstheorie. Bd.l. Frankfurt/Main 1977, S. 1-7. Vgl. zum Folgenden auch Franke, Wilhelm: Massenmediale Aufklärung. Frankfurt/Main usw. 1997, S. 332ff.
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Die Explikation einer solchen Handlung gehört somit ebenfalls zu den konstitutiven Bedingungen von AUFFORDERUNGS-Handlungen. Handlungen, von denen im propositionalen Gehalt von AUFFORDERUNGEN die Rede ist, lassen sich typisieren, und zwar auf eine Weise, die sich an der Handlungslogik von Wrights orientiert, wie sie insbesondere in Wright (1977)9 entwickelt wurde. Danach ist zu unterscheiden zwischen produktiven Handlungen, wie sie in den Beispielen unter (2) hervorgehoben sind, und präventiven Handlungen wie in den Beispielen unter (3). Bei produktiven Handlungen geht es entweder um die Herbeiführung eines noch nicht bestehenden Zustande wie im Beispiel (2a) oder um die Beseitigung eines bestehenden Zustands wie in (2b). Präventive Handlungen lassen sich dagegen danach unterscheiden, ob sie, wie in (3a), mit dem Ziel der Bewahrung eines bestehenden Zustande ausgeführt werden sollen oder ob sie, wie im Beispiel (3b), auf die Verhinderung der Entstehung eines alternativen Zustands abzielen: (2) a. Du kannst nachher der Katze etwas Futter (geben), b. Du solltest die alte Streu (wegwerfen). (3) a. (Bewahren) Sie sich Ihre gute Laune. b. (Schützen) Sie Ihre Katze vor Wurmbefall! In der Beschreibung von produktiven und präventiven Handlungen sind, wie unten zu zeigen sein wird, nicht nur die Vorgänge zu berücksichtigen, die in den Sätzen unter (2) und (3) durch Handlungsverben wie geben, wegwerfen etc. bezeichnet werden. Zu berücksichtigen sind vielmehr auch solche Entitäten, die auf unterschiedliche Weise vom Vollzug der Handlungen betroffen sind. So werden etwa im Beispiel (2a) mit den Ausdrücken etwas Futter und der Katze betroffene Objekte bzw. Nutznießer jener Handlung bezeichnet, von der im Prädikat die Rede ist.
2.3. Erläuterungen zur Kategorie Handlungsmodus: Beim Vollzug einer Sprechhandlung nach einem Untermuster von AUFFORDERN kann der Sprecher mit Hilfe bestimmter Sprachmittel, etwa durch Modalverben wie in einigen der eingangs unter (1) angeführten Sätze, zu erkennen geben, ob er den Vollzug (bzw. die Unterlassung) einer bestimmten Handlung durch den Adressaten lediglich für möglich, für ratsam oder für notwendig hält. Ebenso kann er seinen Gesprächspartner mit entsprechenden Fragen darum bitten, seinerseits die Realisierbarkeit, Zweckmäßigkeit oder Notwendigkeit einer bestimmten Handlung einzuschätzen. Wie wir bereits einleitend festgestellt haben, sind es in erster Linie solche Erscheinungen, die in Hindelang (1978) bei der Entwicklung des Systems semantischer Muster zugrunde gelegt wurden. Wir gehen hier davon aus, daß der damit angesprochene Aspekt der Handlungs-Modalität gewiß nicht uninteresWright, Georg H. von: Handlung, Norm und Intention. Untersuchungen zur deontischen Logik. Berlin, New York 1977.
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sant ist, daß sich aber eine semantische Klassifizierung und Beschreibung von Äußerungen, die für den Vollzug von AUFFORDERUNGS-Handlungen geeignet sind, nicht ausschließlich auf diesen Aspekt konzentrieren darf. Im Zusammenhang der Beschreibung des Handlungsmodus sind ferner Angaben zu berücksichtigen, mit denen, wie in den Beispielen unter (4), entweder die Art und Weise eines Handlungsvollzugs spezifiziert oder ein Mittel angeführt wird, das bei der Handlungsausführung zu verwenden ist: (4) a. Gibst du der Katze (vorsichtig) die Augentropfen? b. Man sollte der Katze die Augentropfen (mit einer Pipette) verabreichen.
2.4. Erläuterungen zur Kategorie Handlungskontext: Eine Spezifizierung des Handlungskontexts erfolgt, wenn ein Sprecher in Äußerungen wie (5a) oder (5b) angibt, zu welchem Zeitpunkt bzw. innerhalb welchen Zeitraums eine Handlung zu vollziehen ist, oder wenn er in Äußerungen wie (5c) und (5d) räumliche Aspekte des Handlungsvollzugs abklärt: (5) a. Du solltest der Katze (nachher) etwas Futter geben.
b. Du solltest die Katze (zwei Wochen) auf Diät setzen. c. Kannst du der Katze (hier) die Augentropfen geben?
d. Gib der Katze die Augentropfen (in beide Augen)! Eine Spezifizierung des Handlungskontextes erfolgt schließlich auch, wenn vom Sprecher in Äußerungen wie (5e) festgelegt wird, unter welchen Bedingungen eine in Rede stehende Handlung auszuführen bzw. zu unterlassen ist: (5) e. Gib der Katze regelmäßig die Tropfen, (es sei denn, sie verträgt die nicht).
2.5. Erläuterungen zur Kategorie Handlungsgründe: Mit Äußerungen, wie sie in den Beispielen unter (6) hervorgehoben sind, kann ein Sprecher entweder begründen, warum er sich mit der Bitte an seinen Gesprächspartner wendet, oder aber einen Zielzustand angeben, der durch die Ausführung jener Handlung, zu der er seinen Gesprächspartner auffordert, herbeigeführt werden soll: (6) a. Gib du doch bitte der Katze die Tropfen; (ich komme leider nicht mehr dazu), b. Kannst du der Katze die Tropfen geben, (damit die Entzündung endlich aufhört)?
Oben haben wir postuliert, daß es zweckmäßig ist, bei der rekonstruktiven Entwicklung semantischer Muster zunächst im Bereich einfacher Aussagen zu verbleiben; entsprechend sollen in der nun folgenden Aufbereitung der semantischen Beschreibungskategorien Aussagengefüge wie in (5e) sowie (6a, b) unberücksichtigt bleiben.
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3. Semantische Beschreibungskategorien Aus den Aspekten der Handlungsbeschreibung leiten wir die folgenden Kategorien zur semantischen Beschreibung von Äußerungsformen ab, die zum Vollzug von AUFFORDERUNGS-Handlungen verwendet werden: 3.1. Sprachmittel, mit denen das Handlungssubjekt bezeichnet wird, sind in semantischer Hinsicht als Ausdrucksformen in der Rolle AGENS (AG) zu interpretieren. AGENS-Ausdrücke können wie in (7) kenntlich gemacht werden: (7) Kannst (du=AG) nachher der Katze etwas Futter geben?
3.2. Sprachmittel zur Bezeichnung der vom Handlungssubjekt zu vollziehenden bzw. zu unterlassenden Handlung, bei denen es sich in der Regel um Handlungsverben handelt, sind als Realisationen der semantischen Kategorie HANDLUNG (HA) zu beschreiben. Sie können wie in (8) indiziert werden: (8) Kannst du nachher der Katze etwas Futter (geben = HA)? Im Abschnitt 2.2 haben wir erläutert, daß mit Prädikatsausdrucken in Äußerungen, mit denen AUFFORDERUNGS-Handlungen ausgeführt werden, Handlungen unterschiedlichen Typs bezeichnet werden können, nämlich produktive oder präventive Handlungen. Entsprechend gehen Ergänzungen zu den Prädikatsausdrücken unterschiedliche semantische Rollen ein, die nun zu spezifizieren sind:10 Ein Handlungsverb wie geben, mit dem eine produktive Handlung bezeichnet wird, verlangt eine Ergänzung in der semantischen Rolle ADDITIV (ADD) (etwas Futter) sowie eine zweite Ergänzung in der semantischen Rolle BENEFAKTIV (BEN) (der Katze), also eine Entität, die als Nutznießer der Handlung anzusehen ist. Wir können diese Ergänzungen wie in (8a) notieren: (8) a. Kannst du nachher (der Katze=BEN) (etwas Futter=ADD) (geben = HA)?
Ein Handlungsverb wie wegwerfen in (8b) hingegen, das ebenfalls zur Bezeichnung einer produktiven Handlung dient, verlangt eine Ergänzung in der semantischen Rolle PRIVATIV (PRIV) (die alte Streu), womit etwas bezeichnet ist, „das bei einer HANDLUNG oder einem VORGANG aus einer TEIL-, BESITZoder VERFÜGUNGS-Beziehung zu einer Person oder Sache ENTFERNT wird."11 (8) b. Du kannst (die alte Streu=PRIV) (wegwerfen = HA). Das in Äußerung (8c) enthaltene Handlungsverb (bewahren) bezeichnet eine präventive Handlung. Entsprechend verlangt es eine Ergänzung in der semantischen Rolle CONSERVATIV (CONS) (Ihre gute Laune). Bezeichnet sei damit eine Sache oder Person, die durch den Vollzug der Handlung in ihrem FortbeVgl. zum Folgenden insbesondere die Ausführungen in Polenz , Peter von: Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin, New York 1988, S. 170ff. und Franke, 1997, S. 242ff. Polenz, 1988,171f. (Hervorhebungen im Original)
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Wilhelm Franke
stand gesichert wird bzw. werden soll. Ferner ist wiederum eine Ergänzung in der semantischen Rolle BENEFAKTIV erforderlich: (8) c. (Bewahren=HA) Sie (sich=BEN) (Ihre gute Laune=CONS).
Schließlich enthält (8d) den Prädikatsausdruck schützen vor, mit dem ebenfalls eine präventive Handlung bezeichnet wird. Allerdings verlangt dieses Handlungsverb eine Ergänzung in der semantischen Rolle SUPPRESSIV (SUPP) (Wurmbefall), womit ein Ereignis oder Zustand gemeint ist, dessen Entstehung durch den Vollzug einer bestimmten Handlung verhindert werden soll. Hinzu kommt wiederum eine Ergänzung in der semantischen Rolle BENEFAKTIV, so daß sich folgende semantische Beschreibung ergibt: (8) d. (Schützen=HA) Sie (Ihre Katze = BEN) (vor=HA) (Wurmbefall=SUPP). Eine semantische Charakterisierung von Handlungsprädikaten, die sich an der Handlungstypologie von Wrights orientiert, liefert somit zugleich die Bedingungen der Möglichkeit für eine konsistente semantische Interpretation jener Sprachdaten, die in syntaktischer Hinsicht als Ergänzungen zum Verb zu beschreiben sind. 3.3. Modalitäts-anzeigende Sprachmittel, wie sie in (9) hervorgehoben sind, müssen in semantischer Hinsicht sehr unterschiedlich interpretiert werden: (9) Man (sollte = MODAL) der Katze (vorsichtig=MOD) (mit einer Pipette = INSTR) die Tropfen verabreichen. Das Modalverb sollte indiziert, daß der Sprecher den Vollzug einer bestimmten Handlung für ratsam oder zweckmäßig (und nicht für nur möglich oder obligatorisch) hält. Wir wollen sagen, daß damit der MODALITÄTS-Aspekt (MODAL) der Handlung thematisiert wird. Im Gegensatz dazu werden mit dem Adverb vorsichtig und der Präpositionalphrase mit einer Pipette Aspekte des Handlungsvollzugs angesprochen, nämlich der Modus der Handlungsausführung (MOD) bzw. ein im Handlungsvollzug zu verwendender Gegenstand. Entsprechend wollen wir die Präpositionalphrase nach der semantischen Kategorie INSTRUMENT (INSTR) interpretieren. 3.4. Für die semantische Beschreibung solcher Ausdrucksformen, mit denen der Kontext einer Handlung spezifiziert wird, kommen die folgenden Kategorien in Betracht: TEMPORAL (TEMP) wie in (lOa), DURATIV (DURA) wie in (lOb), LOKATIV (LOK) wie in (lOc), DIREKTIONAL (DIR) wie in (lOd): (10) a. Du kannst der Katze (nachher=TEMP) etwas Futter geben. b. Setz die Katze (zwei Wochen = DURA) auf Diät. c. Gib der Katze (hier=LOK) die Tropfen!
d. Gib der Katze die Tropfen (in beide Augen=DIR)! Mit der Aufbereitung der semantischen Beschreibungskategorien sind die Voraussetzungen für die Beschäftigung mit folgender Frage gegeben, der wir uns abschließend zuwenden wollen:
Über semantische Muster
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4. Was sind eigentlich „semantische Muster"? Eine mögliche (und durchaus plausible) Antwort auf diese Frage findet sich in Polenz (1988). Dort wird postuliert, daß es sich bei semantischen Mustern, die allerdings als „Prädikationsrahmen" oder „Aussagerahmen" bezeichnet werden, um Listen von Prädikationstypen handelt, die aus „besonders häufigen Kombinationen von Prädikatsklassen und Bezugsstellen-Rollen"12 zusammengestellt sind. Nach Polenz' Auffassung sind Prädikationstypen die satzsemantischen Entsprechungen zu den syntaktischen Satzbauplänen der Valenzgrammatik13 Als Beispiel für einen Prädikationsrahmen führt Polenz u. a. die Kombinationsformel in (l 1) an, nach der die Bedeutungsstrukturen von Sätzen wie etwa (l l a) und (l Ib) zu interpretieren sind: (11) HANDLUNG (AG, CAG, ADD)
a. (Sie=AG) (gibt=HA) (dem K.ind=CAG) (die Flasche=ADD). b. (Gib = HA) (du=AG) (der Katze=CAG) (etwas Futter=ADD)! Die Kombinationsformel in (l 1) ist folgendermaßen zu lesen: Als Prädikatsausdruck fungiert ein Handlungsverb, in (l l a, b) ist es das Verb geben, das Ergänzungen in unterschiedlichen semantischen Rollen verlangt, nämlich AGENS (AG), CONTRAAGENS (CAG)14 und ADDITIV (ADD). Warum eignet sich ein semantisches Muster wie (11) zur Beschreibung der Bedeutungsstrukturen von Äußerungen wie (lla) und (lib)? Mit einer Äußerung wie (lla) wird der repräsentative Sprechakttyp HANDLUNGSBESCHREIBUNG realisiert; (lib) dagegen ist, wie wir oben gesehen haben, eine Äußerungsform zum Vollzug einer Sprechhandlung nach einem Untermuster von AUFFORDERN. In beiden Typen von Sprechakten ist aber jeweils von einer Handlung die Rede, die von einem Handelnden ausgeführt wird und von der ein anderer betroffen ist. Insofern kann es nicht verwundern, daß es Prädikationsrahmen gibt, die die semantischen Verhältnisse in wie (lla,b) abbilden. Offensichtlich verhält es sich also so, daß die von Polenz beobachteten häufigen Kombinationen von Prädikatsklassen und Bezugsstellen-Rollen ein Reflex des Umstands sind, daß im propositionalen Gehalt von Sprechhandlungen nach bestimmten Mustern auf bestimmte Dinge oder Personen referiert wird und über diese Referenzobjekte bestimmte Sachverhalte prädiziert werden. Sollen mithin die im Deutschen virulenten Prädikationsrahmen oder semantischen Muster systematisch rekonstruiert und deren Zustandekommen erklärbar gemacht werden, so ist dafür die umfassende Analyse und Beschreibung des Systems der Sprechhandlungsmuster des Deutschen unabdingbare Voraussetzung.
12
Polenz, 1988, S. 174. |^ Vgl. Polenz,1988, S. 174.
Als „Contraagens" bezeichnet Polenz einen Interaktanten, der auf die Handlung seines Partners hin reagiert.
Eckard Rolf Versprecher (und Versprechen)
Im Hinblick auf Erscheinungen, die miteinander nichts zu tun haben oder zumindest prima fade miteinander nichts zu tun haben, vorsichtig zu sein, das gehört zu den Dingen, die ich durch das Wirken Franz Hundsnurschers in MUnster gelernt habe. Ich weiß nicht, ob es ein Zufall ist, aber die Bereitschaft, in solchen Fällen vorsichtig zu sein und sich vor einem vorschnellen Urteil zu hüten, hat auch etwas mit Searle zu tun, den Franz Hundsnurscher sozusagen ,im Gepäck hatte', als er 1974, aus Tübingen kommend, in Münster seine Tätigkeit aufnahm. Eine der ersten Überraschungen bestand für mich in dem Umstand, dass ein Hauptseminar zur Textlinguistik mit einem Referat zur Sprechakttheorie anfing. Was mich zunächst verwundert hatte, wurde mir Jahre später klarer, als nämlich die Rolle, die Sprechakte in Texten spielen, immer deutlicher zutage trat. Doch angesichts von Minimalpaaren (oder solchen Wortpaaren wie den im Titel erwähnten) - sollte da die oben erwähnte Vorsicht ebenfalls walten? Sollte man wirklich annehmen, dass, was von den beiden zueinander in Opposition stehenden Gliedern eines Minimalpaares bezeichnet wird, miteinander etwas zu tun haben könnte? Sollte man z. B. annehmen, dass Intentionen und Intentionen etwas miteinander zu tun haben? Ich habe mir darüber - auf der Suche nach einem Thema für meine Staatsexamensarbeit - längere Zeit den Kopf zerbrochen, allerdings ohne Erfolg: Zwischen den vornehmlich als ,Absichten' verstandenen Intentionen und den ,Sinn'-Aspekten von Sätzen, Prädikaten und Namen, die, Camap zufolge, als Intensionen anzusehen sind, konnte ich keinen einschlägigen Zusammenhang erkennen. Ich fühlte mich dann auch bestätigt, als einige Jahre später bei Searle zu lesen war, eine „der verbreitetsten Verwirrungen der zeitgenössischen Philosophie" sei die irrige Annahme, „zwischen Intensionalität-mit-etnem-s und Intentionalität-mit-einem-t gebe es einen engen Zusammenhang (ja, vielleicht seien die beiden sogar identisch). Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Diese beiden Sachen sind einander nicht einmal entfernt ähnlich. Intentionalität-mit-einem-t ist die Eigenschaft des Geistes (Hims), durch die er (es) andere Dinge zu repräsentieren vermag; Intensionalität-mit-einem-s ist die Eigenschaft gewisser Sätze, Feststellungen usw., gewisse logische Tests für Extensionalität nicht zu erfüllen. Die einzige Verbindung zwischen ihnen ist, daß einige Sätze über Intentionalitätmit-einem-t intensional-mit-einem-s sind". „Berichte über intentionale-mit-einem-t Zustände sind typischerweise intensionale-mit-einem-s Berichte. Aber weder folgt daraus noch ist es im allgemeinen so, daß intentionalemit-einem-t Zustände selbst intensional-mit-einem-s sind. Wenn berichtet wird, daß John glaubt, daß Konig Artus Lanzelot erschlagen hat, so handelt es sich in der Tat um einen intensionalen-mit-einem-s Bericht; aber Johns Überzeugung selbst ist nicht intensional."1
Vgl. Searle, John R.: Intentionalität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 43.
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Eckard Rolf
Also: Es wäre sicherlich ein großer Fehler, wollte man Intentionen und Intensionen miteinander identifizieren; doch dass sie nichts miteinander zu tun hätten, dass es Überhaupt keine Berührungspunkte zwischen ihnen gäbe, ist angesichts der (intensionalen) Berichte über intentionale Zustände auch nicht richtig. Was hat ein Versprechen mit einem Versprecher zu tun? Was ist ihnen gemeinsam, und worin unterscheiden sie sich? Man ist geneigt, Fragen wie diese zu verwerfen, sie für verfehlt zu halten. Ein Versprechen ist ein Sprechakt einer bestimmten Art, es ist das Standardbeispiel für einen kommissiven Sprechakt; ein Versprecher aber ist - bestenfalls - so etwas wie ein missglückter Sprechakt. Ein Versprecher ist mit einer bestimmten Sprechaktklasse nicht in Verbindung zu bringen: Ob es sich um einen assertiven, einen direktiven, einen kommissiven, einen expressiven oder einen deklarativen Sprechakt handelt, der vollzogen wird - anfällig für einen Versprecher ist, was der Sprecher sagt, allemal. Darüber hinaus scheinen die Kategorien .Versprechen' und .Versprecher* aber wenig miteinander zu tun zu haben. Doch meine Erfahrungen am Lehrstuhl von Franz Hundsnurscher haben mich, wie gesagt, vorsichtig werden lassen, was die Bereitschaft betrifft, in Anbetracht von Fragen wie den obigen die Flinte allzu früh ins Korn zu werfen. Damals begann man sich in Linguistenkreisen verstärkt für die formale Semantik zu interessieren. Man quälte sich mit der Montague-Grammatik herum. Manch einer war der Ansicht, dass im Stile Montagues alles formalisiert werden müsse, was auf diese Weise formalisiert werden könne. Ich erinnere mich noch allzu gut an einen Abend in einem indischen Restaurant in Oxford. Das war im Oktober 1977. Ich saß dort zusammen mit Wolfgang Niehüser und Klaus Robering. Weiterhin auf der Suche nach einem Thema für meine Staatsexamensarbeit, sagte ich, mir schwebe vor, die Sprechakttheorie mit der Montague-Grammatik in Verbindung zu bringen. Ich erinnere mich noch gut an die Antwort von Klaus Robering (der bereits damals als Logik-Experte angesehen werden musste). Er sagte: „Searle hat mit Montague soviel zu tun wie mit Mozart." Ich konnte dem zugegebenermaßen nicht viel entgegenhalten; doch mehr als ein Jahrzehnt später habe ich mit einer gewissen Genugtuung die Bemerkung gelesen, die Vanderveken am Ende der Einleitung des ersten Bandes seiner zweibändigen Monographie „Meaning and Speech Acts" mit Bezug auf die Formalisierung der Sprechakttheorie macht, indem er feststellt: „One interesting and unexpected discovery ofthat higher order formal izat ion is that speech2 act theory is a very natural generalization and conservative extension of Montague grammar." Auch hier zeigte sich also die Existenz eines Zusammenhangs, auch wenn dieser zuvor lediglich erahnt worden war. Das ermutigt(e). Was den vermeintlichen Zusammenhang zwischen einem Versprechen, das jemand gibt, und einem Versprecher, der jemandem unterläuft, anbelangt, so hat
Vanderveken, Daniel: Meaning and Speech Acts. Vol. I: Principles of Language Use. Cambridge: CUP 1990, p. 6.
Versprecher (und Versprechen)
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Dieter Flader in seiner „Kritik der Fehlleistungstheorie Freuds"3 angedeutet, dass auch über Versprecher (zumindest über solche einer bestimmten Art) mit Mitteln der Sprechakttheorie Searles nachgedacht werden kann. Flader geht bei seiner Kritik an Freud vom sogenannten ,Handlungs-Charakter der Sprache' aus, den er einer eher zeichentheoretischen Auffassung der Sprache entgegensetzt. Flader (1995, S. 44) stellt zum einen heraus, dass Freuds Entdeckungen „in vielfacher Weise einen Bezug zur Sprache" aufweisen. Er denkt dabei vornehmlich an Träume, Witze und bestimmte Arten von Fehlleistungen, und er entdeckt in Freuds Werk zudem „zahlreiche Hinweise darauf, daß die Sprachphänomene, die einen Bezug zu seinen Entdeckungen haben, mit Handlungen zusammenhängen, und dies nicht nur in zahlreichen Fällen von sprachlichen Fehlleistungen"4; doch es sei zum anderen vor allem die assoziationspsychologische Auffassung von Sprache, die Freud daran gehindert habe, zu einer adäquaten Einschätzung der entsprechenden von ihm thematisierten Phänomene vorzudringen. Flader sagt: „Freud konnte die Handlungsfunktion der Sprache nicht konzeptualisieren. Seine assoziationspsychologische Auffassung von Sprache stand dem im Wege. Die Richtung der Sprachwissenschaft, die von dem Handlungs-Charakter der Sprache ausgeht, verspricht hier einen produktiveren Zugang zur Erklärung sprachlicher Leistungen (wie auch ihres Verlusts) im Zusammenhang der von Freud entdeckten Sinn-Phänomene." (Flader, 1995, S. 49)
Flader (1995, S. 49) legt den Schluss nahe, „daß eine Linguistik, für die die Handlungsfunktion der Sprache und nicht die Grammatik im Mittelpunkt steht, eine wichtige Orientierung zur Entwicklung von Kategorien geben kann, die den psychoanalytischen Sprachphänomenen adäquat sind". Eine solche, an der Handlungsfunktion der Sprache und nicht - oder weniger - an der Grammatik orientierte Auffassung vertritt auch Hundsnurscher (auch wenn er sich dabei auf psychologische oder gar psychoanalytische Phänomene niemals bezogen hat). Sprachpragmatiker gehen davon aus, „daß Sprache ein Kommunikationssystem ist. Sprechen ist eine Form des Handelns".5 Die Frage, die sich nun im Hinblick auf die Anwendung dieser Auffassung auf Fälle des S ich-Versprechens stellt, die bei Flader zu beobachten ist, ist, ob er dabei zu plausiblen Resultaten, zu besseren Beschreibungen und/oder Erklärungen der bei Freud thematisierten Phänomene gelangt und ob die Kritik, die Flader an Freud übt, berechtigt ist. Flader geht nämlich von der Annahme aus, beim Sich-Versprechen geschehe etwas mit der Sprache: deren Handlungs-Charakter werde verändert. Und Freud habe „verborgene Struktur-Verzerrungen des Handelns entdeckt, ohne sie als solche analysieren zu können".6
4 6
Flader, Dieter: Psychoanalyse im Fokus von Handeln und Sprache. Vorschläge für eine handlungstheoretische Revision und Weiterentwicklung von Theoriemodellen Freuds. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 51-157. Flader, 1995, S. 49. Flader, 1995, S. 50. Flader, 1995, S. 50.
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Freuds Behandlung der Versprecher geht aus einer Kritik an der Studie von Meringer/Mayer aus dem Jahre 1895 hervor.7 Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass Freud ,das Versprechen' zusammen mit anderen ,Fehlleistungen' untersucht, vornehmlich mit dem Vergessen (von Eigennamen, fremdsprachigen Worten, Namen und Wortfolgen; Eindrücken und Kenntnissen; Vorsätzen) sowie mit dem Verlesen und Verschreiben. Freud will das Zustandekommen dieser Fehlleistungen erklären, und er beansprucht für deren Gesamtheit dieselbe Art von Erklärung. Das heißt, Freud behauptet nicht, dass die von ihm angebotene Erklärung für alle Fehlleistungen, die überhaupt vorkommen, gilt, er sagt lediglich, es gebe Fälle, die sich auf die von ihm favorisierte Art erklären ließen. Freud zufolge gibt es Fälle von Vergessen, Verlesen, Versprechen, Verschreiben etc., die auf verdrängte Bewusstseinsinhalte zurückzuführen sind.8 Was die Behandlung des Sich-Versprechens bei Meringer/Mayer anbelangt, so ist zunächst einmal festzustellen, dass diesen Autoren das Verdienst einer ersten Klassifikation der von ihnen gesammelten Versprecher zuzuschreiben ist. Meringer/Mayer unterteilen die von ihnen gesammelten Versprecher in fünf Klassen. Ihrer Klassifikation zufolge gibt es, erstens, Vertauschungen (ein Sprecher hat zum Beispiel .Gebrecherverhirne' gesagt für ,Ferbrechergehirne'), zweitens Vorklänge oder Antizipationen (,Ich werde nun zur AbjcAra'/ung der Anträge schreiten'), drittens Nachklänge oder Postpositionen (,Er wünscht zu wünschen'' statt ,zu wissen'), viertens Kontaminationen (,etwas über den Stab brechen' für ,etwas übers Knie brechen' und ,den Stab über etwas brechen') und fünftens Substitutionen (.Indogermanische Vorstellungen' für .Indogermanische Forschungen'). In dem bei Leuninger zugrunde gelegten Sprachplanungsmodell, das den Weg einer Sprachäußerungsabsicht oder Botschaft über mehrere Ebenen bis hin zur Sprachäußerung zu veranschaulichen sucht, findet man die von Meringer/Mayer unterschiedenen Klassen von Versprechern wieder. Bedeutungsbezogene Wortsubstitutionen werden zusammen mit den Kontaminationen dem Übergangsbereich zwischen der Sprachäußerungsabsicht und der sogenannten .prädikativen Ebene' zugeordnet, auf der „sich die erste sprachliche Kodierung der Mitteilungsabsicht"9 vollzieht. Wortvertauschungen werden ebenfalls der prädikativen Ebene zugeordnet. Lautvertauschungen beziehen sich Leuninger zufolge auf die sogenannte .positionale Ebene', auf der „der grammatische Satzrahmen festgelegt"10 wird. Die Antizipationen, die Postpositionen und die
10
Meringer, Rudolf; Mayer, Carl: Versprechen und Verlesen. Eine psychologisch-linguistische Studie. Amsterdam: John Benjamins 1895/1978. (Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science, Series II: Classics in Psycholinguistics, Vol. 2) Vgl. dazu Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Frankfurt a. M.: Fischer 1901/1941, S. 12. (Gesammelte Werke, Bd. IV) Und es ist nicht richtig, von Freud zu sagen, die von ihm favorisierte Erklärung gelte für „ausnahmslos alle Versprecher", wie Nora Wiedemann nahelegt in: Versprecher und die Versuche zu ihrer Erklärung. Ein Literaturüberblick. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1992, S. 8. (Fokus. Linguistisch-Philologische Studien, Bd. 9) Leuninger, Heien: Reden ist Schweigen, Silber ist Gold. Gesammelte Versprecher. Zürich: Ammann 1993, S. 103. Leuninger, 1993, S. 103.
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form bezogenen Wortsubstitutionen sind dem Übergangsbereich von der prädikativen zur positionalen Ebene zugeordnet." Mit Freuds Theorie der Versprecher ist Leuninger nicht einverstanden. Leuninger unterscheidet hinsichtlich der Sprachproduktion „drei Kontrollmechanismen: die grammatische Kontrolle, die zum Beispiel die vertauschten Wörter an ihre neue Umgebung anpaßt, die lautliche Kontrolle, die garantiert, daß Versprecher mögliche Lautkombinationen sind, [und] die lexikalische Kontrolle, die manchmal aus Versprechern entstandene Formen durch existierende Wörter ersetzt".12 Das meines Erachtens gewichtigste Gegenargument Leuningers gegen Freud nimmt Bezug auf die lexikalische Kontrolle. Es lautet: „Nur wenn alle Fehlleistungen lexikalisch kontrolliert wären, erhielte Freuds Argument von Seiten der Psycholinguistik Bestärkung."13 Ersteres sei aber nicht der Fall. Wenn man nun aber die Auseinandersetzung Freuds mit den Ausführungen von Meringer/Mayer etwas näher unter die Lupe nimmt, dann ist festzustellen, dass sich Freud mit seiner Theorie, Versprechern könnten unterdrückte Redeabsichten zugrunde liegen, vornehmlich auf die eher .semantischen', der zu übermittelnden Botschaft näherstehenden Arten von Versprechern bezieht, und eigentlich nicht so sehr auf die lautlich bedingten Type. Letzteres fällt an der in der „Psychopathologie des Alltagslebens" zu beobachtenden Auseinandersetzung Freuds mit der Theorie von Meringer/Mayer auf, noch deutlicher aber wird es in den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse",14 deren ganzer erster Teil den Fehlleistungen gewidmet ist. In der „Psychopathologie des Alltagslebens" erhebt Freud Widerspruch gegen die von Meringer/Mayer vorgetragene Erklärung für das Zustandekommen von Versprechern, die auf die sogenannte .psychische Wertigkeit der Sprachlaute' Bezug nimmt. Freud gibt die Theorie Meringers in der folgenden Weise wieder: „Wenn wir den ersten Laut eines Wortes, das erste Wort eines Satzes innervieren, wendet sich der Erregungsvorgang bereits den späteren Lauten, den folgenden Worten zu, und soweit diese Innervationen miteinander gleichzeitig sind, können sie einander abändernd beeinflussen. Die Erregung des psychisch intensiveren Lautes klingt vor oder hallt nach und stört so den minderwertigen Innvervationsvorgang. Es handelt sich nun darum, zu bestimmen, welche die höchstwertigen Laute eines Wortes sind." (Freud, 1901/1941, S. 62)
Um diese Frage zu beantworten, zitiert Freud Meringer/Mayer, denen zufolge man sich z. B. beim Suchen nach einem vergessenen Namen beobachten solle. Welchem Laute eines Wortes die höchste Intensität zukomme, lasse sich dem entnehmen, was zuerst wieder ins Bewusstsein komme. „Die hochwertigen Laute sind [...] [demnach] der Anlaut der Wurzelsilbe und der Wortanlaut und der oder die betonten Vokale." (Freud, 1901/1941, S. 62)
Freuds Entgegnung erweckt zunächst den Eindruck, als gelange sie über den Rang einer bloßen Gegenbehauptung nicht hinaus. Er sagt: Zu weiteren Details vgl. Leuninger, 1993, S. 131. Leuninger, 1993, S. 113. Leuninger, 1993, S. 120. Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer 1917/1944. (Gesammelte Werke, Bd. XI)
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„Ob der Anlaut des Namens zu den höchstwertigen Elementen des Wortes gehöre oder nicht, es ist gewiß nicht richtig, daß er im Falle des Wortvergessens zuerst wieder ins Bewußtsein tritt; die obige Regel ist also unbrauchbar. Wenn man sich bei der Suche nach einem vergessenen Namen beobachtet, so wird man verhältnismäßig häufig die Überzeugung äußern müssen, er fange mit einem bestimmten Buchstaben an. Diese Überzeugung erweist sich nun ebenso oft als unbegründet wie als begründet. Ja, ich möchte behaupten, man proklamiert in der Mehrzahl der Fälle den falschen Anlaut." (Freud, 1901/1941, S. 62f.)
Es verhält sich mit Freuds Bezugnahme auf die Theorie Meringer/Mayers nun aber nicht so, dass er die letztere verwerfen würde, es ist eher so, dass er den Universalitätsanspruch dieser Theorie bestreitet. Freud gesteht für einen Teil der von Meringer/Mayer klassifizierten Versprecher deren Erklärung zu, für einen anderen Teil offeriert er eine andersartige Erklärung. Freud, der übrigens durchgängig von .Versprechen' (nicht von .Versprechern') spricht und dabei (übrigens wirklich) zwei „Klassen von Versprechen"15 unterscheidet, akzeptiert die Theorie Meringer/Mayers für die der Lautgestalt der Sprachäußerung näherstehenden Antizipationen (Vorklänge) und Postpositionen (Nachklänge), für die eher .semantischen' - weil der zu übermittelnden Botschaft näherstehenden Substitutionen und Kontaminationen jedoch postuliert Freud eine andere Erklärung: seine eigene. Er sagt: „Die Störung der Rede, welche sich als Versprechen kundgibt, kann erstens verursacht sein durch den Einfluß eines anderen Bestandteils derselben Rede, als durch das Vorklingen oder Nachhallen, oder durch eine zweite Fassung innerhalb des Satzes oder des Zusammenhanges, den auszusprechen man intendiert [...]; zweitens aber könnte die Störung [...] zustande kommen durch Einflüsse außerhalb dieses Wortes, Satzes oder Zusammenhanges, von Elementen her, die auszusprechen man nicht intendiert und von deren Erregung man erst durch eben die Störung Kenntnis erhält. In der Gleichzeitigkeit der Erregung läge das Gemeinsame, in der Stellung innerhalb oder außerhalb desselben Satzes oder Zusammenhanges das Unterscheidende für die beiden Entstehungsarten des Versprechens." (Freud, 1901/1941,5. 63f.)
Freud macht dann aber sogleich geltend, man dürfe nicht behaupten, dass Meringer/Mayer „die Möglichkeit der Sprechstörung durch ,komplizierte psychische Einflüsse', durch Elemente außerhalb desselben Wortes, Satzes oder derselben Redefolge übersehen haben. Sie mußten ja bemerken, daß die Theorie der psychischen Ungleichwertigkeit der Laute strenggenommen nur für die Aufklärung der Lautstörungen, sowie der Vor- und Nachklänge ausreicht. Wo sich die Wortstörungen nicht auf Lautstörungen reduzieren lassen, z. B. bei den Substitutionen und Kontaminationen von Worten, haben auch sie unbedenklich die Ursache des Versprechens a u ß e r h a l b des intendierten Zusammenhanges gesucht und diesen Sachverhalt durch schöne Beispiele erwiesen." (Freud, 1901/1941, S. 64f.)
Freud führt dann eine Reihe solcher Beispiele an. Und wenn man sich daran erinnert, dass die „Psychopathologie des Alltagslebens" im Kontext der „Traumdeutung" entstanden ist, wird man nicht überrascht sein zu hören, dass Freud gerade in der Bildung von Substitutionen und Kontaminationen bei Versprechern jene .Verdichtungsarbeit' am Werk sieht, „die wir in eifrigster Tätigkeit am Aufbau des Traumes beteiligt finden."16 15
Freud, 1901/1941,8. 68. Freud, 1901/1941, S. 67.
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Mit der von Meringer/Mayer zum Zwecke der Erklärung von Versprechern vorgebrachten Theorie der Laut- bzw. Silbenbevorzugung, der zufolge Laute bzw. Silben unterschiedliche »Wertigkeiten' haben, so dass die Innervation höherwertiger Elemente die Innervation minderwertigerer Elemente störend beeinflussen kann, geht Freud in den 1917 erschienenen „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" etwas weniger schonungsvoll um. Den Erklärungsversuch von Meringer/Mayer bezeichnet er nun als „ganz besonders unzulänglich"17. Freud (1917/1944, S. 23) orientiert sich dabei wiederum vornehmlich an Fällen, in denen jemand „das Gegenteil von dem sagt, was er zu sagen beabsichtigt". In dieser Art von verunglücktem Verbalverhalten erblickt Freud (1917/1944, S. 27) nun die „gewöhnlichste und auch die auffälligste Art des Versprechens"- einer Art von Versprechen, bei deren Aufklärung es sich empfehle, mit in Betracht zu ziehen, „was einen Satz vorher gesprochen oder auch nur gedacht wurde". Ein Fall dieser Art, ein Fall, in dem die Störung beispielsweise „von einem Gedankengang herrührt, der die betreffende Person kurz vorher beschäftigt hatte", kann, Freud zufolge, ebenfalls als eine Art .Nachklang' (»Postposition') bezeichnet werden, „aber nicht notwendig als Nachklang von gesprochenen Worten",18 sondern als Nachklang „von größerer Ferne her".19 Im Hinblick auf die ,semantischen' Typen von Versprechern, für die eine gegenüber Meringer/Mayer alternative Erklärung vorgetragen wird, nimmt Freud (1917/1944, S. 33) an, dass sie - oder zumindest einige von ihnen - „nicht im Verhältnis zu der von ihr gestörten, beabsichtigten Leistung zu betrachten [seien], sondern an und für sich", insofern nämlich als eine solche Fehlleistung „in einzelnen Fällen ihren eigenen Sinn zu verraten scheint". Freud (1917/1944, S. 28) sagt: „In einigen der Beispiele hat auch das einen Sinn, was beim Versprechen zustande gekommen ist." In solchen Fällen habe „der Effekt des Versprechens vielleicht ein Recht darauf [...], selbst als ein vollgültiger psychischer Akt, der auch sein eigenes Ziel verfolgt, als eine Äußerung von Inhalt und Bedeutung aufgefaßt zu werden".20 Versprecher dieser Art betrachtet Freud (1917/1944, S. 29) als „Ausdruck eines konsequenten Programms". Sie können, wie der Traum, als .vollgültige psychische Akte', als sinnhafte Gebilde angesehen werden, die als integraler Bestandteil des Seelenlebens ihres jeweiligen Produzenten anzusehen sind. Die Alternativerklärung, die Freud für die sogenannten ,Substitutionen' und .Kontaminationen' als den von ihm fokussierten und hier als ,semantisch' bezeichneten „dunkleren Fällejn] des Versprechens"21 vorträgt, ist durch die Annahme des Zusammentreffens bzw. der Interferenz „zweier verschiedener Redeabsichten" gekennzeichnet: „Die Unterschiede entstehen nur dadurch, daß einmal die eine Absicht die andere völlig ersetzt (substituiert), so bei den Versprechen zum Gegenteil, während sie sich ein andermal
17
Freud, 1917/1944, S. 26. Vgl. Freud, 1917/1944, S. 57f. Vgl. Freud, 1917/1944,8.28. Freud, 1917/1944, S. 28. Freud, 1917/1844, S. 35.
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damit begnügen muß, sie zu entstellen oder zu modifizieren, so daß Mischbildungen Zustandekommen, die an sich mehr oder minder sinnreich erscheinen." (Freud, 1917/1944, S. 35f.)
Der „Mechanismus des Versprechens", den Freud (1917/1944, S. 60) postuliert, nimmt Bezug auf das Vorhandensein einer Redeabsicht oder .Tendenz', die zurückgedrängt worden ist. Nach Freud (1917/1944, S. 60) ist für die von ihm anvisierten Fälle von Versprechern „die Unterdrückung der vorhandenen Absicht, etwas zu sagen, die unerläßliche Bedingung dafür [...], daß ein Versprechen zustande kommt" (im Original gesperrt). In den entsprechenden Fällen verhält es sich mit der vorhandenen Redeabsicht oder Tendenz folgendermaßen: „Der Sprecher hat sich entschlossen, sie nicht in Rede umzusetzen, und dann passiert ihm das Versprechen, d. h. dann setzt sich die zurückgedrängte Tendenz gegen seinen Willen in eine Äußerung um, indem sie den Ausdruck der von ihm zugelassenen Intention abändert, sich mit ihm vermengt oder sich geradezu an seine Stelle setzt." (Freud, 1917/1944, S. 60; im Original gesperrt)
In solchen Fällen ,entschädigt* sich die zurückgewiesene Absicht oder Tendenz im Versprecher. Ein berühmt gewordenes Beispiel von Substitution, ein Fall von Versprechen „zum genauen Gegenteil dessen, was man zu sagen beabsichtigt"22, stammt von Meringer, das dieser in der „Neuen Freien Presse" vom 23.8.1900 unter dem Titel „Wie man sich versprechen kann" veröffentlicht hat. Freud erwähnt es in seinen „Vorlesungen" (1917/1944), es findet sich aber schon in der „Psychopathologie des Alltagslebens" zitiert: .„Man erinnert sich wohl noch der Art, wie vor einiger Zeit der Präsident des österreichischen Abgeordnetenhauses die Sitzung eröffnete: ,Hohes Haus! Ich konstatiere die Anwesenheit von soundsoviel Herren und erkläre somit die Sitzung für geschlossen!' Die allgemeine Heiterkeit machte ihn erst aufmerksam[,] und er verbesserte den Fehler. Im vorliegenden Falle wird die Erklärung wohl diese sein, daß der Präsident sich w ü n s c h t e , er wäre schon in der Lage, die Sitzung, von der wenig Gutes zu erwarten stand, zu schließen, aber - eine häufige Erscheinung - der Nebengedanke setzte sich wenigstens teilweise durch[,] und das Resultat war .geschlossen' für .eröffnet', also das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war.'" (Freud, 1901/1941, S. 67)
Für Freud ist dieses Beispiel Wasser auf die von ihm in Gang gesetzten Mühlen; Meringer hingegen fügt der obigen Bemerkung noch die folgende, bei Freud ebenfalls mitzitierte, hinzu: .„Aber vielfältige Beobachtung hat mich belehrt, daß man gegensätzliche Worte überhaupt sehr häufig miteinander vertauscht; sie sind eben schon in unserem Sprachbewußtsein assoziiert, liegen hart nebeneinander und werden leicht irrtümlich aufgerufen.'" (Freud, 1901/1941, S. 67)
Man sieht: Meringer favorisiert, der von ihm selbst in Erwägung gezogenen »psychologischen' Erklärung (,dass der Präsident sich wünschte,...') zum Trotz, unter dem Titel .Sprachbewusstsein' eine Erklärung, die auf die Organisation unseres mentalen Lexikons Bezug nimmt. Dem soeben erwähnten Beispiel Meringers widmet sich auch Flader in seiner „Kritik der Fehlleistungstheorie Freuds". Flader behandelt dieses Beispiel allerdings in einem Umfang und in einer Art und Weise, der/die ihm den Vor22
Freud, 1917/1944,8.27.
Versprecher (und Versprechen)
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wurf der Überstrapazierung wohl kaum wird ersparen können. Darüber hinaus haben Fladers Ausführungen teilweise den Charakter einer abenteuerlichen Spekulation. Das soll unten aufgezeigt werden. Wie bereits gesagt, beruft sich Flader bei seiner Kritik an Freud auf die sogenannte .Handlungsfunktion der Sprache1. Davon ausgehend, „daß die Sprache ein Kommunikationssystem" und dass Sprechen „eine Form des Handelns" ist, nimmt Flader an, beim Sich-Versprechen geschehe etwas mit der Sprache: deren Handlungs-Charakter werde verändert, und was dabei geschehe und wie es geschehe, sei „nur mit Kategorien der Sprachpragmatik genauer zu bestimmen".23 Für den Jubilar dürfte eine solche Position, die den Handlungs-Charakter der Sprache betont, von prinzipiellem Interesse sein, denn als .sprachpragmatisch' ist seine in Münster bezogene Position durchaus zu bezeichnen. Von Belang dürfte deshalb sein, ob sich diese Position auch im Hinblick auf Freud sinnvoll vertreten lässt. Die Art, in der Flader es tut, scheint nun aber eher problematisch zu sein. Flader (1995, S. 49) wirft Freud vor, er habe „die Handlungsfunktion der Sprache nicht konzeptualisieren" können, seine „assoziationspsychologische Auffassung von Sprache" habe ihm dabei im Wege gestanden. Freud habe einen auf bloße Motorik verkürzten Handlungsbegriff gehabt, „die soziale Dimension des Handelns"24 werde durch sein Strukturmodell ausgeblendet. Flader behauptet: „FUr Freud war der Weg, das Handeln als einen sozialen Prozeß mit eigenen strukturellen Kennzeichen zu analysieren, also in doppelter Weise versperrt: durch die Sichtweise vom Handeln als einer motorischen Abfuhr von Erregung; und durch den assoziationspsychologischen Bedeutungsbegriff." (Flader, 1995, S. 16)
Flader, der seine Kritik der Fehlleistungstheorie Freuds als immanente Kritik versteht,25 erhebt im Verlauf seiner Ausführungen eine ganze Reihe an Freud adressierter Vorwürfe der Art, dass dieser bestimmte Fragen nicht geklärt habe, dass das eine oder andere unklar, offen oder vage bleibe oder nicht wirklich klar werde etc. Zwingende Begründungen für diese - zumal eher schwachen - Vorwürfe aber findet man kaum. Eine Auseinandersetzung mit diesen Vorwürfen im Rahmen einer Metakritik würde deshalb wenig Aufschluss in Aussicht stellen. Die folgenden Bemerkungen werden sich angesichts dessen auf drei Punkte konzentrieren: (i) auf Fladers Einschätzung der Möglichkeiten einer sprechakttheoretischen Erklärung des von ihm traktierten Präsidenten-Versprechers, (ii) auf Fladers Versuch einer (Re-)Konstruktion des Hintergrunds der PräsidentenÄußerung, (iii) auf die Annahme, im Falle eines sogenannten .Versprechens zum Gegenteil' .geschehe etwas mit der Sprache'. Ad (i): Wie bereits angedeutet, bezieht sich Flader bei seiner Kritik an der Fehlleistungstheorie Freuds schwerpunktmäßig, um nicht zu sagen: nahezu ausschließlich auf das - ursprünglich von Meringer überlieferte - Beispiel des Präsidenten, der eine von ihm zu leitende Sitzung mit den Worten .Hiermit erkläre ich die Sitzung für geschlossen' .eröffnet' hatte. 23 2
Vgl. Flader, 1995, S. 50. Flader, 1995, S. 12. Vgl. Flader, 1995, S. 53.
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Dabei wirft Flader zunächst die durchaus interessante Frage auf, wie die Sprechakttheorie mit der Präsidenten-Äußerung umgehen würde. Beim Versuch einer sprechakttheoretischen Beschreibung, sagt Flader, „mußten wir davon ausgehen, daß beim Sich-Versprechen zum Gegenteil etwas Paradoxes geschieht: Während ein Sprecher einen (von ihm beabsichtigten) Sprechakt ausführt, macht sich gleichzeitig ein propositionaler oder ein illokutiver Akt durch die Störung eines der beabsichtigten Teilakte bemerkbar, zu dem er inhaltlich im Widerspruch steht". (Flader, 1995, S. 68)
Flader zieht dabei die Möglichkeit in Erwägung, dass der Präsident zwei Akte zugleich vollzogen habe: einen gestörten Akt und einen störenden. Beide Akte aber seien als missglUckt zu betrachten. Der gestörte Akt, der Sprechakt des Eröffnens der Sitzung, sei missglückt, „weil der Sprecher mit seiner Äußerung eine der Regeln verletzt hat, die für diesen Akt gelten: Searles Regel des propositionalen Gehalts. Die Proposition dieser Äußerung enthält ja die falsche Prädikation geschlossen'".26 Der störende Akt, der Sprechakt des Für-geschlossen-Erklärens der Sitzung, sei als missglückt anzusehen, weil der Sprecher eine der vorbereitenden Regeln für den Vollzug eines solchen Aktes, „daß die Sitzung überhaupt schon förmlich für eröffnet erklärt wurde",27 nicht beachtet hat. Das Missglücken des gestörten Aktes könnte im Sinne Austins als ein Verstoß gegen dessen Bedingung B. l angesehen werden: Es wäre einer der beiden Fälle von ,Fehlausführung' gegeben, der Fall einer ,Trübung'. Trübungen „liegen zum Beispiel vor, wo falsche Formeln benutzt werden".28 Das Missglücken des störenden Aktes könnte als ein Verstoß gegen Austins Bedingung A. 2 angesehen werden: Es wäre ein Fall von .Fehlanwendung'. Flader lässt nun aber sowohl die Zuhörerschaft als auch die Sprechakttheorie in einem ziemlich ungünstigen Licht erscheinen, wenn er mit Bezug auf die Äußerung des Präsidenten schreibt: „Für einen Hörer, der diese Äußerung rezipiert und z. B. nicht Kenntnis von dem hat, was Freud als die .psychische Situation' des Sprechers erläuten, bleibt die Handlungsbedeutung dieser Äußerung unbestimmt. Er könnte nicht entscheiden, ob die Sitzung nun für geöffnet erklärt wurde oder nicht. Die Heiterkeit der Zuhörer, von der Meringer berichtet, läßt aber darauf schließen, daß sie an der Äußerung durchaus etwas verstanden haben, das Freud mit dem halben Gelingen der .störenden Tendenz' umschreibt. Dieses Mehr an Verstehen kann die Sprechakttheorie nicht analysieren. Einerseits wäre ein halbes Gelingen eines solchen illokutiven Aktes für sie eine widersinnige Kategorie, da ein solcher Akt entweder nach den für ihn geltenden Regeln vollzogen wurde oder nicht. Andererseits kennt sie auch keinen Bezug auf die .psychische Situation' eines Sprechers im Sinne eines methodischen Schrittes, um ein bestimmtes Verständnis wie das der erheiterten Zuhörer zu rekonstruieren. Ihr Untersuchungsgegenstand ist das Sprachverstehen (im Sinne einer intentionalistischen Semantik). Sie ist (kurz gesagt) als eine Bedeutungstheorie der Sprache konzipiert, nicht als eine Handlungstheorie." (Flader, 1995, S. 69)
Dem wäre entgegenzuhalten, dass es wohl eher so sein dürfte, dass die Sprechakttheorie sowohl als Bedeutungstheorie als auch als Handlungstheorie konzipiert ist; dass sie die Heiterkeit der Zuhörer, die aus der Wahrnehmung des 26 2
Vgl. Flader, 1995, S. 68. Vgl. Flader, 1995,8.68. Vgl. Austin, John Langshaw: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam 1972, S. 53.
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gleichzeitigen Verstoßes gegen Austins Bedingungen A. 2 und B. l resultieren dürfte, sehr wohl erklären kann; und dass gerade die Heiterkeit der Zuhörer zeigt, dass sie mit dem Umstand, dass die Handlungsbedeutung der Äußerung des Präsidenten unbestimmt war, offenbar gut fertig geworden sind - zumal die Situation, wie Flader mit Bezug auf den Präsidenten selbst sagt, ganz einfach hat bereinigt werden können: „und so mußte er denn, wie Meringer ja berichtet, sich korrigieren, d. h. er hat die mißlungene förmliche Erklärung der Sitzungseröffnung so in Ordnung gebracht, daß sie ihre illokutive Kraft erhielt." (Flader, 1995, S. 69)
Die Zuhörer haben mit der Äußerung des Präsidenten also letztlich kein Problem gehabt. Letzteres gilt auch für Meringer und Freud, und es dürfte, kontra Flader, auch für ,Sprechakttheoretiker' gelten. Der einzige, der mit der Äußerung des Präsidenten ein (und zwar nicht unerhebliches) Problem zu haben scheint, ist Flader selbst; und er erweckt den Eindruck, als vermöchte er es nicht zu bewältigen. Ad (ii): Nicht zufrieden mit der schon bei Meringer erwähnten Annahme, der Präsident habe möglicherweise den Wunsch gehabt, „die Sitzung, von der wenig Gutes zu erwarten stand, zu schließen"29, gestattet sich Flader die folgende Spekulation. Er sagt: „Da wichtige Kontextinformationen über die Vorgeschichte fehlen, kann ich nicht beanspruchen, die Entstehung dieser Fehlleistung erklären zu können. Ich kann aber die Grundstruktur dieser Fehlleistung als Verlaufsform eines ungelösten Konflikts herausarbeiten. [...] Zu diesem Zweck gehe ich von einer hypothetischen Konfliktsituation des Präsidenten aus; anders gesagt: Ich konstruiere einen möglichen psychischen Konflikt, der in einer systematischen Beziehung zum Handlungsprozeß stand. Unter dieser Voraussetzung kann ich eine mögliche Entstehungsgeschichte dieser Fehlleistung wenigstens in Umrissen rekonstruieren. Eine der Konstituenten des Konflikts, so nehme ich an, war die Angst des Präsidenten vor dem zu erwartenden sturmischen Verlauf der Sitzung; die Angst, dem nicht gewachsen zu sein, verbunden mit einem Gefühl der Überforderung. Sein Wunsch, die Sitzung möge doch schnell zu Ende gehen - für Freud war dieser Wunsch die .störende Tendenz' des Sprechers - entstand im Zusammenhang eines Angstbewältigungsversuchs. Es war der Wunsch, dem Ort zu entfliehen, der für den Präsidenten die Bedeutung von Überforderung, Ohnmacht u. ä. hatte." (Flader, 1995, S. 72)
Das Romanhafte dieser Ausführungen wird noch deutlicher, wenn es heißt: „Möglicherweise bestand in der Vorgeschichte der Wunsch, überhaupt nicht zu dieser Sitzung zu gehen; vielleicht hoffte der Präsident, sie würde ausfallen." „Eine mögliche Lösung dieses Konflikts wäre gewesen, sein Amt zur Verfügung zu stellen: aber das wollte er nicht." „Statt dessen versuchte er, seine Angst zu unterdrücken."30 Und so weiter. Man beachte: Es handelt sich hier nicht um die Ausführungen eines Romanciers; und auch oder erst recht nicht um die eines Psychoanalytikers; sondern um die Ausführungen eines Linguisten, die dieser im Bewusstsein des völligen Fehlens jedweder Kontextinformationen 95 Jahre nach der Ersterwähnung des Versprechers (durch Meringer) veröffentlicht hat. 29 3
Meringer, zitiert nach Freud, 1901/1941, S. 57. Flader, 1995, S. 72.
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Ad (iii): „Was geschieht beim Sich-Versprechen mit der Sprache?" So lautet die Überschrift des dritten Abschnitts der - umfangreichen - „Kritik der Fehlleistungstheorie Freuds", die Flader auf mehr als 100 Seiten vorträgt. Flader beantwortet die von ihm aufgeworfene Frage folgendermaßen: Für die „Kommunikationsform des unmittelbar sprachlichen Nach-außen-Setzens eines mentalen Prozesses" den Ausdruck .Exothese' verwendend, die Prädikation .geschlossen' missverständlicher Weise als ,Gedanken' bezeichnend und von da an immer wieder von der „Exothese des Gedankens .geschlossen'" sprechend,31 sagt Flader, weiterhin über die Äußerung des Präsidenten räsonnierend: „Die von ihm schon produzierten Worte des Satzes, in dem er sich verspricht, könnten zusammen mit der Exothese .geschlossen' die Äußerung eines Satzes sein, deren Handlungsbedeutung der förmliche Schluß einer Sitzung wäre, wenn man von der Handlungssituation absieht. Die Exothese fügt sich ja so in das Sprechen ein, daß aus den sprachlichen Mitteln zur Ausführung einer Handlung Mittel zur Ausführung einer Handlung mit dem gegenteiligen Zweck werden. Dieses Prinzip einer Retroversion [...] tritt auch dann auf, wenn der ungelöste Konflikt so ausgetragen wird, daß davon nicht die Illokution der Sprechhandlung, sondern primär ihre Proposition betroffen ist. Dann wird ein sprachliches Ausdrucksmittel für einen Gedanken, das schon ganz oder teilweise produziert wurde, rückübersetzt zu einem Ausdrucksmittel für den unterdrückten Gedanken. Diese Retroversion verändert den Charakter der Sprache. Diese wird (kurzfristig) von einem Kommunikationssystem umgewandelt zu einem Zusammenhang von Zeichen." (Flader, 1995, S. 106)
Vom sogenannten Handlungs-Charakter der Sprache ausgehend und diesen dem sogenannten Zeichen-Charakter der Sprache gegenüberstellend, wie er in dem auf de Saussure zurückgehenden Paradigma der strukturellen Linguistik angenommen wird, gelangt Flader, der - in der Annahme, für den „Zeichen-Charakter der Sprache [...] [sei] deren Abtrennung vom Handeln konstitutiv" - sogar von einer „Verdinglichung der Sprache zu einer Beziehung von Zeichen" spricht,32 schließlich zu einer Charakterisierung der Sprachauffassung der strukturellen Linguistik, die in Anbetracht ihrer pathologisierenden Implikationen nur noch als blanke Polemik aufgefasst werden kann. Flader sagt mit Bezug auf de Saussure: „Seinem Begriff von Sprache als einem autonomen System von Zeichen korrespondiert in bemerkenswerter Weise die Charakteristik von Sprache, die wir u. a. an sprachlichen Fehlleistungen feststellen können. Die von Freud aufgedeckte Psychopathologie des Alltagslebens ist offenbar eine der Bedingungen, unter der de Saussures theoretische Bestimmung der Sprache ihre Konkretisierung findet." (Flader, 1995, S. 106f.)
Was wäre dem entgegenzuhalten? Vielleicht einfach die - naive - Annahme, dass mit der Sprache gar nichts geschieht, wenn sich irgendein Sprecher verspricht. Die Sprache bleibt, was sie ist: (möglicherweise) ein System von Zeichen und zugleich ein Instrument der Kommunikation. Die Störung der letzteren aber, wie auch immer sie zustande gekommen sein mag, wird, wenn sie überhaupt bemerkt und falls es für erforderlich gehalten wird, korrigiert und dadurch beseitigt. So einfach ist das. 31
Vgl. Flader, 1995, S. 78f. Vgl. Flader, 1995,8. 107.
Atsuo Kawashima
Besonderheiten des deutschen Dialogs im Vergleich zum japanischen - dargestellt am Beispiel der Routineformeln
Wer einmal im Ausland gelebt hat, hat vermutlich sowohl beim Sprechen als auch beim Hören sprachliche Schwierigkeiten erfahren. Dies liegt zum einen darin begründet, daß man die betreffende Sprache nicht beherrscht, zum anderen darin, daß man die sprachlichen Gewohnheiten nicht gut genug kennt. So sagt man zum Beispiel in Deutschland zu Beginn des Essens Guten Appetit!, das Ende wird aber nicht mit einer bestimmten Routineformel markiert, was uns Japaner bei einer Einladung in eine deutsche Familie unruhig macht. Die japanische Routineformel am Ende des Essens Gochisoo sama deshita markiert sprachlich eindeutig die Beendigung der Mahlzeit. Das Beispiel zeigt, daß die Routineformeln des alltäglichen Dialogs bei der interkulturellen Kommunikation eine wichtige Rolle spielen. Was verstehen wir dabei unter ,Routineformel'? Bei PUrschel findet man folgende Definition der Routineformel zitiert: Linguistisch gesehen sind Routineformeln „ganze Syntagmen, die in stereotypen Situationen und zu stereotypen Zwecken entweder unverändert (Wie geht's) immer wieder gebraucht werden oder als feste Muster mit nur einer oder zwei Leerstellen zur Äußerung bestimmter Sprechakte benutzt werden (Würden Sie bitte?)".
In der vorliegenden Arbeit sollen die Besonderheiten der Verwendung deutscher Routineformeln im Dialog (insbesondere im Minimaldialog) im Vergleich zum Japanischen herausgestellt werden.
1. Minimaldialog Sprachliche Einheiten werden auf verschiedenen Ebenen der Sprachstruktur postuliert, so zum Beispiel Phoneme, Morpheme, Syntagmen wie Nominalphrasen usw. im Rahmen der Satz- und Morphosyntax. Auf der satzübergreifenden Ebene nimmt man Texteme an, im Rahmen der Dialogforschung wird von MiPürschel, Heiner: Dialogische Routinen beim Fremdsprachenerwerb - Psychologische Aspekte und Unterrichtsvorschläge, in: Dokkyo-Universität germanistische Forschungsbeiträge 29 (1993), S. 159-176, hier: S. 159; vgl. Linke, Angelika et al.: Studienbuch Linguistik. Tubingen 1991, S. 336. Zur Routineformel vgl. auch Coulmas, Florian: Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik. Wiesbaden 1981; Gülich, Elisabeth: Routineformeln und Formulierungsroutinen. Ein Beitrag zur Beschreibung formlhafter Texte, in: Wimmer Rainer; Berens, Franz-Josef (eds.): Wortbildung und Phraseologie. Tübingen 1997,8. 131-175.
328
Atsuo Kawashima
nimaldialogen gesprochen. Ein Dialog als Text besteht aus Initiatoren, Minimaldialogen und Terminatoren (wie Grußformeln), es müssen jedoch nicht immer alle Elemente in Erscheinung treten. Unter einem Dialog verstehen wir ein Gespräch zwischen mindestens zwei Kommunikanten (Kommunikationsteilnehmern), das von diesen geführt wird, um in einer bestimmten Situation einen Zweck bzw. ein Kommunikationsziel zu erreichen.2 Ein Dialog ist - anders formuliert - eine Interaktion zwischen Kommunikanten, die zielorientiert eine soziale Handlung bewerkstelligen. In diesem Sinne kann ein Dialog als eine Sequenz von Handlungen betrachtet werden, die sprechakttheoretisch illokutionär aufgefaßt werden können. Franke verwendet im Anschluß an Hundsnurscher den Ausdruck ,Minimaldialog(muster)' zur „Bezeichnung für .abgeschlossene' Sprechhandlungsabfolgen wie RATFRAGE/RATSCHLAG, in denen hinsichtlich des Handlungsziels (eines) der am Dialog beteiligten Sprechens) eine Entscheidung herbeigeführt wird. Minimaldialogmuster können als komplementäre, koordinative oder kompetitive Typen klassifiziert werden. Sie werden für die Analyse und Beschreibung komplex(er) strukturierter Dialogmuster zugrunde gelegt."
Im Alltagsgespräch kommen neben abgeschlossenen Minimaldialogen auch komplexere Dialoge vor, die zur Erreichung eines weiteren Ziels fortgesetzt werden. Bei allen inhaltlichen und formalen Unterschieden enthalten Dialoge manchmal stereotype Formulierungen wie Routineformeln, die nicht direkt an der inhaltlichen Gestaltung des Dialogs beteiligt sind; sie spielen, mit Westheide4 zu sprechen, nur eine strukturkonstituierende Rolle. Unter unserer Fragestellung sind dabei die Grußformeln und die trivialen Redewendungen (z. B. Routineformeln mit phatischen Funktionen) von besonderem Interesse.
2. Routineformeln im Minimaldialog Man denke zuerst an Gruß- und Routineformeln wie Guten Tag! Gute Nacht! Servus! Viel Spaß! Schönes Wochenende! Gleichfalls!
Grüß Gott! Gute Besserung! Ebenfalls!
Grüß dich! Gute Reise! Auf Wiedersehen!
Zum Dialog vgl. z. B. Kallmeyet, Werner; Schütze, Fritz: Konversationsanalyse, in: Studium Linguistik l, S. 1-28; Weigand, Edda: Sprache als Dialog. Tübingen 1989; Fritz, Gerd: Grundlagen der Dialogorganisation, in: Fritz, Gerd; Hundsnurscher, Franz: Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen 1994, S. 177-201. Franke, Wilhelm: Elementare Dialogstrukturen. Darstellung, Analyse, Diskussion. Tübingen 1990, S. 164; vgl. auch Hundsnurscher, Franz: Zur dialogischen Grundstruktur von Mehr-Personen-Gesprächen, in: Stati, Sorin; Weigand, Edda; Hundsnurscher, Franz (eds.): Dialoganalyse III. Teil 1. Tübingen 1991, S. 149-161; Kawashima, Atsuo: Minimaldialoge als illokutive Interaktionen, in: Nitta, Haruo; Shigeto, Minoru; Wienold, Götz (eds.): Kontrastive Studien zur Beschreibung des Japanischen und des Deutschen. München 1999, S. 291-302. Westheide, Henning: Dialogstrukturierende Routineformeln, in: Stati, Sorin; Weigand, Edda; Hundsnurscher, Franz (eds.): Dialoganalyse III. Teil 2. Tübingen 1991, S. 325-338. (Beiträge zur Dialogforschung 2)
Besonderheiten des deutschen Dialogs im Vergleich zum japanischen Auf Wiederhören! Tschüs! Danke schön! Herzlichen Dank! Nicht zu danken! Frohe Weinachten! Entschuldigung!
Bis später! Guten Appetit! Danke sehr! Bitte! Gern geschehen! Zum Wohl! Schade!
Bis nachher! Alles Gute! Danke bestens! Bitteschön! Herzlichen Glückwunsch! Verzeihung! Wie bitte?
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Bis morgen! Danke! Vielen Dank! Schönen Dank! Ich gratuliere! Pardon!
Solche einfachen Formeln stehen in bestimmten Abfolgebeziehungen: 1. wechselseitig: Guten Tag! vs. Guten Tag! 2. rezipierend: Viel Spaß! vs. Danke!; Guten Appetit! vs. Ebenfalls! 3. austauschfahig: Bitte! vs. Danke!; Danke! vs. Bitte!
Von den genannten Grußformeln können einige nur schwer ins Japanische übersetzt werden. So würde die wörtliche Übersetzung von Ausdrücken wie Guten Appetit!, Viel Spaß!, Wie geht's? ins Japanische sehr ungewöhnlich klingen. Man sagt statt dessen etwa Doozo meshiagare! (,Essen Sie bitte!'), Gambatte! (.Aushalten!'), Gokigen ikaga? (,Wie ist Ihre Stimmung?'); die in Klammern gesetzten Übersetzungen sind wiederum im Deutschen ungebräuchlich. Das japanische Lobeswort Omedeto! kann etwas freier eingesetzt werden als die deutschen Entsprechungen Herzlichen Glückwunsch! bzw. Ich gratuliere. (1)
Otanjoobi omedeto (gozaimasu)! (.Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!')
(2)
Krismas omedeto (gozaimasu)! (,Frohe Weihnachten!')
(3)
Gookaku omedeto (gozaimasu)! (,Ich gratuliere zu dem Erfolg [bei der Prüfung]!')
Für Ausdrücke wie Viel Spaß! können annäherungsweise lexikalische Übersetzungen ins Japanische angegeben werden, z. B. ,Otanoshimi' bzw. ,Tanoshinde irasshai' (.Machen Sie sich viel Spaß!'), allerdings nur, wenn man ein wenig differenziertes Semantik-Konzept verfolgt.5 Im Deutschen ist nämlich kein Verb wie *sich spaßen vorhanden, das der Formel ,Spaß machen' entspricht, wenngleich es natürlich Verben wie sich vergnügen, sich freuen, genießen etc. gibt. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß man in Deutschland dem Gesprächspartner Viel Spaß! wünscht, während man in Japan die Routineformel Gambatte! der Formel Otanoshimi! vorzieht. Das hängt mit dem Unterschied sprachlicher Gewohnheiten zusammen und nicht mit der Sprache selbst. Im Deutschen gibt es eine Reihe ähnlicher Ausdrücke mit, Viel + Nomen' wie z. B. Viel Glück! (, wo inoru'), Viel Vergnügen! (.Tanoshinde kitamae'), Viel Erfolg! (.Goseikoo wo inoru'). Diese können verstanden werden als Abkürzungen von Wunschsätzen (Ich wünsche dir/Ihnen ...). Im Japanischen werden entsprechende Wünsche in ellipsenlosen Formeln zum Ausdruck gebracht. In
Zum Verhältnis von Dialoganalyse und Semantik vgl. Gloning, Thomas: Dialoganalyse und Semantik, in: Fritz, Gerd; Hundsnurscher, Franz: Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen 1994, S. 259-279.
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Atsuo Kawashima
jüngster Zeit macht man aber, amerikanisch beeinflußt, mitunter von einem abgekürzten Gruß Gebrauch, so z. B. am Ende einer Rundfunksendung an einem Freitagnachmittag: (4) Minasan, yoi shuhmatsu wo! (,Meine Damen und Herren, ein schönes Wochenende!')
Diese Grußformel klingt trotzdem immer noch fremdartig. Auch im Deutschen gibt es neben elliptischen Ausdrücken Wendungen, die als Routineformeln in bestimmten Situationen in Erscheinung treten und Satzform zeigen: Seien Sie so gut und ...
Ich hatte gern ...
Es tut mir leid! Was machen Sie?
Wie geht's? Ich würde sagen ...
Grüßen Sie Ihre Eltern recht herzlich von mir!
Was ich sagen wollte ...
Entschuldigen Sie meine plötzliche Anfrage
Kann ich Ihnen helfen? usw.
Beim Einkaufen sagt man nach dem Gruß Sie wünschen? oder Was soll es sein? Auf der Straße fragt man jemanden mit folgenden Worten nach dem Weg: (5) Entschuldigung, aber können Sie mir sagen, wie man zum Bahnhof kommt? Die genannten Routineformeln haben die illokutive Kraft der Aufforderung. Sie sind eingebunden in illokutive Sequenzen (z. B. Gruß - Aufforderung - Danksagung - Gruß).
3. Illokutive Sequenzen im Dialog Der Gruß als Initiator oder Terminator steht am Anfang und/oder Ende des Dialogs ohne bestimmte Illokution. Er stellt lediglich einen situativen Rahmen her. Der eigentliche Dialog besteht aus Vorfeld, Dialogkern und Nachfeld. Im Vorfeld kommen Routineformeln vor wie Ich hätte eine Frage, Entschuldigen Sie bitte, aber...; am Ende steht z. B. Ich bedanke mich recht herzlich.6 Solche Routineformeln mit Illokutionen wie ,aufmerksamkeitsheischende Entschuldigung' oder ,Danksagung' bilden im Dialog illokutive Sequenzen. Zwischen dem Initiator und dem Terminator kommen im Dialogkern andere Illokutionen vor wie z. B. in (6): (6) A: B: A: B: A: B:
Guten Tag! (Gruß als Initiator) Guten Tag! Entschuldigung, darf ich Sie kurz stören? (Routineformel im Vorfeld) Ja, aber ganz kurz bitte. Können Sie mir sagen, wie ich zur Uni kommen kann? (Dialogkern) Gehen Sie hier geradeaus! Dann sehen Sie bald die Uni auf der linken Seite.
Zur Beendigung von Dialogen vgl. Jäger, Karl-Heinz: Zur Beendigung von Dialogen, in: Berens, Franz-Josef; Jäger; Karl-Heinz; Schank, Gerd; Schwitalla, Johannes (Hgg.): Projekt Dialogstrukturen. Ein Arbeitsbericht. München 1976, S. 105-135.
Besonderheiten des deutschen Dialogs im Vergleich zum japanischen A: B:
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Vielen Dank. (Danksagung im Nachfeld) Bitte.
A: Auf Wiedersehen. (Gruß als Terminator) B:
Auf Wiedersehen.
Dieser (nicht-authentische) Dialog besteht aus der illokutiven Sequenz: (Gruß) - Aufforderung - Befolgung - Aufforderung - Befolgung/Wegbeschreibung Danksagung - Erwiderung - (Gruß). Das Vorfeld ist mit einer Routineformel Darf ich Sie kurz stören? besetzt. Im Nachfeld könnte z. B. auch eine Routineformel wie Ich finde mich schon zurecht stehen. In diesem Fall können also an einer Sequenzposition unterschiedliche Routineformeln vorkommen. Beim Sprachunterricht sollte man darauf aufmerksam machen, in welchen Situationen welche Routineformeln gebraucht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Einsatz von Routineformeln textsortengebunden ist, d. h. für unterschiedliche Textsorten (z. B. Einkaufsdialog, Diskussionsdialog, Wegerkundigungsdialog, Unterrichtsdialog, Geschäftsdialog) variiert. Es ist also zu untersuchen, welche Routineformeln an welchen Positionen in welchen Dialogen vorkommen können. Wir wollen hier einige Beispiele nennen. Zum Vollzug einer Aufforderung können im Deutschen verschiedene Routineformeln verwendet werden.7 (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17)
Darf ich mal durch...? (,Chotto tooshite kudasai.') Seien Sie so gut und ...? (,... shite itadakemasen ka') Können/Könnten Sie mal...? (,... shite itadakemasen ka') Kannst du mir gleich ... (,... shite kureru kai?') Ich wäre froh, wenn Sie ... (,... dattara, ureshii no desu ga') Allesaussteigen! (.Minasan, orite kudasai') Bier her! (,biiru motte koi') Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir... (,... deshitara, ureshii no desu ga') Nehmen Sie doch Platz! (,Okake kudasai') Können Sie mir helfen? (,Te o kashite itadakemasu ka') Sag mal, was ich tun soll. (.Dooshirotoiunoda')
Zur kontrastiven Analyse von Aufforderungen vgl. Schilling, Ulrike: Kommunikative Basisstrategien des Auffbrderns. Eine kontrastive Analyse gesprochener Sprache im Deutschen und im Japanischen. Tubingen 1999.
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(18) Ich hätte gem... (,... wo kudasai') (19)
Ich möchte lieber... (,... no hoo wo kudasai') (20) Alles zusammen, bitte (,Issho ni onegai shimasu') (21) Kann ich bitte eine Quittung haben? (,Ryooshu-sho wo itadakemasu ka')
(22) Dann wollen wir mal! (,Djaa, hajimeyoo ka') Die Illokution der Aufforderung kann im Deutschen durch verschiedene sprachliche Mittel zum Ausdruck gebracht werden; erstens durch einen Imperativ (plus bitte), zum zweiten durch Modalwörter, durch den Konjunktiv I/II, durch einen Fragesatz oder einen Infinitiv, durch bestimmte Wörter u. ä. Im Japanischen wird die Aufforderung durch einen Imperativsatz und/oder einen Fragesatz bzw. ein bestimmtes Verb (o-negaishimasu ,ich bitte') ausgedrückt. Eine Aufforderung des Sprechers zielt auf die Zusage des Hörers ab. Aber in vielen Situationen kann eine auffordernde Frage auch mit einer Gegenfrage erwidert werden. (23)
A: Haben Sie einen leichten Tennisschläger? B: In welcher Preislage?
Hier liegt eine Auslassung der eigentlichen Antwort vor. Der Kunde meint: Ich fordere Sie auf, mir einen leichten Tennisschläger zu zeigen, wenn Sie einen haben. Der Verkäufer antwortet darauf: Ja, wir haben leichte Tennisschläger, und zwar in verschiedenen Preislagen. So frage ich Sie, in welcher Preislage Sie einen Tennisschläger haben möchten.
Der Dialog (23) kann in entsprechender Situation und passendem kulturellen Umfeld ohne weiteres verstanden werden. Fragen müssen nicht immer mit einer normalen Antwort, sie können z. B. auch mit einer erotetischen Frage beantwortet werden.
4. Interkulturelle Kommunikation deutsch-japanisch* Vor mehr als fünfzig Jahren habe ich in China oft einen merkwürdigen Gruß gehört. Es handelt sich dabei um einen Gruß am Morgen, man sagte statt .Guten Morgen' Haben Sie schon gegessen? Jetzt sagt man Ni hao (,Wie geht's?'). Genau betrachtet gibt es in Europa ebenfalls kleine Unterschiede bei der Begrüßung am Morgen. So sagen die Franzosen auch am Morgen einfach Bon
Zur interkulturellen Kommunikation vgl. Hatim, Basil: Communication Across Culture. Translation Theory and Contrastive Text Linguistics. Exeter 1997.
Besonderheiten des deutschen Dialogs im Vergleich zum japanischen
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jour. Und weiter: Die Engländer sagen Good afternoon statt ,Guten Tag', und am Abend sagen die Europäer gemeinsam Bonsoir!, Good evening!, Guten Abend! usw. Beim Abschied sagt man in Deutschland Alles Gute! und in Japan O'ki wo tsukete! (.Nehmen Sie sich in acht!' bzw. ,Vorsicht!'). Diese Ausdrücke haben keine wörtlichen Entsprechungen. Viele Routineformeln entziehen sich einer lexikalischen Übersetzung. Ist der kulturelle Unterschied groß, so muß auch mit einer nicht geringen Differenz in der sprachlichen Formulierung gerechnet werden. Die deutschen Routineformeln können aber hinsichtlich ihrer Funktion ins Japanische übersetzt werden; die entsprechenden Ausdrücke sind in der Verwendung funktional äquivalent. Um eine gute interkulturelle Kommunikation zustande kommen zu lassen, muß man bei den Routineformeln - wie bei den Phraseologismen - zum einen den funktional äquivalenten Ausdrücken beider Sprachen Aufmerksamkeit schenken. Zum ändern muß den kulturellen Unterschieden Rechnung getragen werden. Man denke an den initialen Teil des Dialogs im Deutschen und im Japanischen. (24) A: Guten Tag! B: Guten Tag! A: Wie geht es Ihnen? B: Danke, gut.
(24)' A: Konnichi wa! B: Konnichi wa! A: Atsui desu ne? B: So desu ne.
(.Schön warm, nicht?') (,Ja.')
In der europäischen Gesellschaft grüßt man mit Guten Tag! und fragt danach nach der Gesundheit des Gesprächspartners. Dagegen greift man in Japan an dieser Stelle das Thema ,Wetter' auf. Es gibt dementsprechend verschiedene routinisierte Ausdrücke im Japanischen, z. B. O'samuu gozaimasu bei Kälte, und O' atsuu gozaimasu bei Hitze. Der japanische Gruß, der Guten Morgen! entspricht, ist auf diese Weise gebildet: O' hayoo gozaimasu. Ausdrücke wie die genannten sind deadjektivische Bildungen: Samui (,kalf), atsui (,heiß*), hayai (,früh') sind Adjektive, die in Grüßen benutzt werden können. Wörtlich übersetzt bedeuten sie ,es ist kalt', ,es ist heiß' und ,es ist früh'. Diese Routineformeln behalten noch ihre ursprüngliche Bedeutung, diese spielt beim Gebrauch aber keine zentrale Rolle. Es bleibt im wesentlichen die phatische Funktion. Der Gruß am Tag konnichi wa entspricht - wörtlich übersetzt - dem deutschen Adverb heule. Ursprünglich sagte man: Konnichi wayoi o'tenki de, kekkoo desu ne oder Konnichi wa o' samuu gozaimasu. Damit stellt man fest, daß das Wetter am betreffenden Tag gut ist oder daß es am betreffenden Tag kalt ist. Die illokutive Kraft der Feststellung wirkt auf die menschlichen Beziehungen stabilisierend.9 Diese Art der Feststellung findet sich auch bei Danksagungen. Anstatt zu danken sagt man im Japanischen (kansha shimasu) arigatoo gozaimasu - das bedeutet wörtlich .schwer sein' oder ,eine schwer zu findende Sache sein', im Zur Beziehungsdynamik in Gesprächen vgl. Schwitalla, Johannes: Beziehungsdynamik, in: Kallmeyer, Werner (Hrsg.): Gesprächsrhetorik. Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozeß. Tübingen 1996, S. 281-349.
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Atsuo Kawashima
Sinne von: ,Ich stelle fest, daß eine Hilfe, wie Sie diese geleistet haben, nur schwer zu finden ist. (Darum bedanke ich mich bei Ihnen)'. Die Danksagung geschieht in der japanischen Gesellschaft wie folgt: (25)
Kansha mooshiage masu.
Doomo arigatoo gozaimashita!
,Dank (ich) sage'
.wirklich (ich danke Ihnen)'
(Ich bedanke mich)
(Danke bestens!)
5. Schlußbemerkung Routineformeln sind nicht so stabil wie Phraseologismen. In Dialogen spielen sie am Anfang, am Ende, aber auch an Wendepunkten des Gesprächs eine dialogstrukturierende Rolle. Die Routineformeln sind in mancher Hinsicht kultureil bedingt und der Form nach zum einen mono- bzw. polylexematisch, zum anderen satzförmig. Eins-zu-eins-Entsprechungen zwischen deutschen und japanischen Routineformeln sind nicht zu erwarten, das interkulturell-kommunikative Verhältnis von deutscher und japanischer Formel ist je spezifisch zu bestimmen. Routineformeln können folglich im Sprachunterricht nur effektiv behandelt werden, wenn man sie im Rahmen interkultureller Kommunikation in den Blick nimmt. Es ist deshalb erforderlich, daß man die deutschen Routineformeln und die Entsprechungen der japanischen oder anderer Sprachen sowohl im Hinblick auf die kulturelle als auch auf die sprachliche Struktur vergleichend betrachtet.
Manabu Watanabe
Über den Normbegriff in der Linguistik
1. Zielsetzung Im Folgenden soll versucht werden, den Begriff .(Sprach-) Norm' im Vergleich mit sinnverwandten Begriffen wie ,Regel' und »Konvention' auf seinen Stellenwert in der Linguistik hin zu überprüfen. Die Sprachnorm-Diskussion scheint - um mit Neuland zu sprechen - sprachwissenschaftlich in den 70er und didaktisch in den 80er Jahren verschüttet worden zu sein.1 Es lässt sich jedoch annäherungsweise behaupten, dass es innerhalb der Linguistik drei verschiedene Stellungnahmen zur Sprachnorm-Problematik gibt: 1. Man schweigt darüber, weil Normen keinen Gegenstand der Linguistik darstellen. 2. Man spricht den Normen nur eine periphere Funktion zu (Regeln2 und Formen z. B. seien viel wichtiger). 3. Man rückt sie ins Zentrum des linguistischen Interesses. Letztendlich wird sich die vorliegende Arbeit mit der Frage beschäftigen, wieweit Stellungnahmen dieser Art - ob bewusst oder unbewusst - von bestimmten Sprachauffassungen gesteuert werden. Anders herum betrachtet: Man stößt bei diesem Unterfangen auf die Frage, wie man die Aufgabe(n) der Linguistik auffassen soll.
2. ,Norm' in der Linguistik Auf den ersten Blick bekommt man den Eindruck, dass ,Norm' als Terminus für die Linguistik zu vage ist. Das hängt damit zusammen, dass das Wort in vielen verschiedenen Kontexten im Alltag wie in der Wissenschaft verwendet wird - es kann z. B. einen moralischen/moralisierenden oder einen juristischen Unterton haben. Das hatte zur Folge, dass es von Linguisten, die Linguistik möglichst theoretisch und systematisch verstanden wissen wollen, die, mit anderen Worten, Sprache lediglich durch ihre eigenen, sprich sprachinternen Regelmäßigkeiten erklären bzw. beschreiben wollen, gemieden wird. Vgl. Neuland, Eva: „Sprachnormen" - kein Thema mehr? Zur Neubelebung einer verschütteten Diskussion, in: Der Deutschunterricht 3 (1998), S. 6. Nach Hundsnurscher besteht die Aufgabe der Linguistik darin, „alle Formen des Sprachgebrauchs [...] als regelhaft zu beschreiben und zu erklären" [Hervorh. von MW]. Hundsnurscher, Franz: Zur dialogischen Grundstruktur von Mehr-Personen-Gesprächen, in: Stati, Sorin; Weigand, Edda; Hundsnurscher, Franz (Hgg.): Dialoganalyse III. Referate der 3. Arbeitstagung Bologna 1990. Teil 1. Tübingen 1991, S. 149. (Beiträge zur Dialogforschung 1)
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Manabu Watanabe
Nach der pragmatischen Wende der Linguistik kann man jedoch nicht umhin, eine Sprachauffassung ernsthaft in Erwägung zu ziehen, die das Phänomen Sprache im Zusammenhang mit menschlichem Verhalten sieht und als Sprachverhalten auffasst. Dabei spielt der Begriff ,Norm' eine wichtige Rolle, denn man kann sich kaum ein Verhalten vorstellen, das nicht von gewissen Normen gesteuert wäre. Man kann Sanders ohne weiteres zustimmen, wenn er sagt: „Grundsätzlich hat man zwei Möglichkeiten des Sprachverhaltens: entweder 3verhält man sich normentsprechend, oder aber man verstößt gegen die herrschende Norm". Eine weitere berechtigte Frage wird, wie bereits angedeutet, lauten, ob und wie sich ,Norm' gegenüber anderen Termini auszeichnet. (Vgl. 3.1) Zunächst sollen die im vorangehenden Abschnitt aufgeführten drei Stellungnahmen zur Norm-Problematik präzisiert werden. Bei der 3. Stellungnahme, die den Normbegriff groß schreibt, kann man u. a. zwei Richtungen voneinander abgrenzen: Die eine ist die Linguistik der ehemaligen DDR, die ohne Wenn und Aber gesellschaftsbezogen betrieben wurde und sich mit Vorliebe mit Problemen der Sprachkultur und -pflege beschäftigte, mit Themen also, die ohne die Begriffe ,Norm', .Normierung' usw. nicht auskommen4. Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die DDR-Linguistik sich durch die Einbeziehung der Normproblematik um die Entwicklung der Sprachwissenschaft verdient gemacht hat. Die zweite ist die Soziolinguistik, die um die zwei zentralen Begriffe , Variation' und ,Norm', in unserem Kontext um den Begriff .Norm' in seiner Beziehung zu ,Variation', kreist.5 Hier kann, wenn man so will, ebenso gut von .Standard' und .Abweichung' gesprochen werden. Symptomatisch für das zunehmende Interesse an der Thematik auch innerhalb der angewandten Linguistik - in gewissem Sinne eine Fortführung der Soziolinguistik - ist übrigens die Tatsache, dass ein Sammelband der Gesellschaft für Angewandte Linguistik kürzlich gerade dem Themenkomplex ,Norm und Variation' gewidmet wurde.6 Neben den genannten Richtungen könnte man Beiträge zur Norm-Diskussion von einigen Forschern der (deutschen) Sprachgeschichte hinzufügen, die sich mit dem Wandel der Erscheinungsformen des Deutschen beschäftigen. In diesem Zusammenhang ist vor allem Peter von Polenz zu nennen.7 Sanders, Willy: Gutes Deutsch - besseres Deutsch. Praktische Stillehre der deutschen Gegenwartssprache. Darmstadt 1986, S. 43. Exemplarisch soll hier auf folgende Arbeiten hingewiesen werden: Nerius, Dieter: Zur Bestimmung der sprachlichen Norm, in: ZPSK 33 (1980), S. 365-370; Schmidt, Wilhelm: Zum Problem der Sprachnorm, in: ZPSK 33 (1980), S. 119-127; Fräbel, Roland: Sprachwandel, Normierungsprozeß und Normkriterien, in: Techtmeier, Bärbel (Hg.): Theoretische und praktische Fragen der Sprachkultur. Berlin 1987, S. 161-170; Wurzel, Wolfgang Ullrich: Grammatische Normen und Sprachveränderung, in: Techtmeier (Hg.), 1987, S. 145-160. Vgl. hierzu Imhasly, Bernard; Marfurt, Bernhard; Portmann, Paul: Konzepte der Linguistik. Eine Einführung. 3. Aufl. Wiesbaden 1986, S. 207. Mattheier, Klaus J. (Hg.): Norm und Variation. Frankfurt am Main; Berlin; Bern; New York; Paris; Wien 1997. (forum Angewandte Linguistik 32) Vgl. Polenz, Peter von: Geschichte der deutschen Sprache. 9. Auflage. Berlin; New York 1978,8. 10; S. 185.
Über den Normbegriff in der Linguistik
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Was die Systemlinguistik angeht, so kann man tendenziell feststellen, dass die Norm-Diskussion eher außer Acht gelassen wird. Allerdings hat Coseriu dem Begriff ,Norm' im Rahmen seiner strukturalistischen Linguistik eine überaus wichtige Rolle beigemessen. Hiermit zeichnet er sich unter den Systemlinguisten deutlich aus. Nach ihm steht ,Norm' im Kontrast zu .System' und „ist das, was [in einer Sprache] tatsächlich realisiert wird und realisiert worden ist", mit anderen Worten: „eine Einschränkung des Systems".8 ,Norm' ist also laut Coseriu ein unentbehrlicher Teil des sprachlichen Systems. Diese Einsicht Coserius ist auch in die DDR-Linguistik eingemündet, mit dem Unterschied, dass bei der letzteren darüber hinaus die Existenz von Subnormen unter Normen angenommen wird.9 Das Besondere an Coserius Normbegriff liegt meiner Ansicht nach darin, dass es sich dabei weniger um den normativen Charakter irgendwelcher sprachlichen Einheiten als vielmehr um die „tatsächliche Realisierung"10 konkreter Sprachformen handelt. Obwohl man einerseits der lamentierenden Kritik an dem „Begriffswirrwarr im Bereich ,Sprache und Norm'"11 zustimmen muss, sollte man sich andererseits darum bemühen, Klarheit in diesen Wirrwarr zu bringen und weithin akzeptable Eigenschaften des Normbegriffs auszuarbeiten. Worin besteht dieser überhaupt?
3. ,Norm' und Nachbarbegriffe 3.1. , Norm' und, Regel' Zwar sieht es so aus, als könne man ,Sprachsystemnormen' im Unterschied zu „kommunikativen Normen"12 als etwas Sprachinternes auffassen, so dass es zulässig wäre, den Normbegriff durch den Regelbegriff zu ersetzen. Bei genauem Hinschauen wird es jedoch fragwürdig, ob die beiden Begriffe tatsächlich miteinander vollkommen identisch sind. Denn m. E. ist , ' ein Begriff, der in unserem Kontext auf einer metalinguistischen Ebene verwendet wird, der - genauer gesagt - dahingehend über ,Regel' hinausgeht, dass er eine bewertende Funktion enthält. Nehmen wir hierzu ein Beispiel: Im 17. Jahrhundert wurde von einigen Grammatikern vorgeschrieben, dass man wir und mir eigentlich „wier/wihr" und „mier/mihr" schrei-
Coseriu, Eugenio: Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens. Tubingen 1988, S. 52f. 9 Vgl. hierzu Sommerfeldt, Karl-Ernst; Starke, Günter: Einführung in die Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 15. |° Coseriu, 1988, S. 53. Peyer, Ann; Portmann, Paul R. (Hgg.): Norm, Moral und Didaktik - Die Linguistik und ihre Schmuddelkinder. Tübingen 1996, S. 10.
Sommerfeldt; Starke, 1992, S. 15.
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Manabu Watanabe
ben sollte.13 Niemand kann dazu sagen, welche Schreibweise an und für sich genommen wünschenswerter ist. Nach dem Motto „Schreib, wie du redest" dürfte vielleicht „wier/wihr" treffender sein, da diese Schreibweise die Laut-Buchstaben-Zuordnung klarer wiederzugeben scheint. Um ein solches Urteil zu fällen, fragt man nicht nur nach der „Grundrichtigkeit", sondern man nimmt auch Rücksicht auf „den guten angenommenen [Sprach-] Gebrauch" ä la Schottelius,14 einfach gesagt: auf die Verbreitetheit einer betreffenden Sprachform. Wenn man davon überzeugt ist, dass eine Form Standard ist, d.h. von den meisten Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft als richtig empfunden und akzeptiert wird, kann man sagen, dass es sich bei der Form um eine Norm handelt. Durch die Rechtschreibreform 1998 wurden für die Schreibung des Deutschen neue Normen gesetzt - wohlgemerkt jedoch vorläufig nur in der Schule und Verwaltung. Dies besagt, dass man bei Normen zunächst einmal an ihren Geltungsbereich denken sollte. Aber wenn neue Rechtschreibregeln sich im Laufe der Zeit auch anderswo durchgesetzt haben, werden aus den Normen Regeln. Der Anfang ist ja schon gemacht. Denn nicht nur der Duden, sondern auch die meisten Zeitungen und Zeitschriften in deutschsprachigen Ländern haben sich zwischenzeitlich schon den neuen Regeln angeschlossen, was für das Publikum nicht ohne Folgen bleiben wird. Einige Regeln sind nämlich Normen, die einmal gesetzt wurden, aber mit der Zeit als .gegeben' empfunden werden.15 In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts musste man in Deutschland z. B. in Nebensätzen das Finitum noch nicht unbedingt ans Ende stellen. Als Grammatiker auf die Endstellung des Finitums in Nebensätzen aufmerksam machten, war es eine (gesetzte) Norm. Allmählich wurde daraus der Normalfall, also eine Regel. Um sich für eine Form als Norm zu entscheiden, braucht man immer irgendeinen guten Grund. Das kann Wohlklang sein, das kann der gute Geschmack sein, schließlich kann es sogar das Sprachgefühl sein, das nicht immer mit den anderen geteilt wird. Hundsnurscher schlägt vor, das Sprachgefühl und die „Gebrauchsregeln für einzelne Wörter" „im Vorfeld der Grammatik" zu verorten. Dies kann trotz des fehlenden Terminus ,Norm' dem Sinn nach die Norm-Diskussion betreffen.16 Unter der Rubrik .bewertende Funktion' der Norm soll all dies verstanden werden. Normsetzer sind meistens vom Empfehlungswert ihrer Normen zutiefst überzeugt, obwohl nicht immer das Gleiche für die Normadressaten zutrifft.
1
Näheres dazu vgl. Takada, Hiroyuki: Grammatik und Sprachwirklichkeit von 1640-1700. Tübingen 1998, S. 80ff. Takada, 1998, S. 40-43. .Gesetzte Normen' und .gegebene Normen' heißen auch .statuierte Normen' und ,subsistente/nicht-statuierte Normen'. Vgl. Gloy, Klaus: Sprachnormierung und Sprachkritik in ihrer gesellschaftlichen Verflechtung, in: Besch, Werner; Betten, Anne u. a. (Hgg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Auflage. Berlin; New York 1998, S. 402. Hundsnurscher, Franz: Rezension zu .Weinrich, Harald: Textgrammatik der deutschen Sprache. Unter Mitarbeit von Maria Thurmair, Eva Breindl, Eva-Maria Willkop. Mannheim u. a. 1993', in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 22 (1994), S. 367.
Über den Normbegriff in der Linguistik
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3.2. Sanktionen bei Normverstößen
Wie steht es dann mit Sanktionen, wenn man gegen die herrschende Norm verstößt? Ist „das Risiko des Missverstandenwerdens" wirklich die einzige „Strafe für die Abweichung von der Norm des richtigen Sprachgebrauchs",17 wie Max Black konstatiert? Bartsch behauptet: „Eine Norm existiert, wenn es Normsubjekte gibt, die diese akzeptieren und ihr Verhalten durch sie bestimmen lassen"18 - ohne dazu gezwungen zu werden, also freiwillig, soll zu dieser Passage ergänzend hinzugefügt werden. „Eine Norm [...] wird, auch wenn sie gebrochen wird, instand gehalten, solange Handlungen wie Entschuldigung, Kritik, Korrektion, Sanktion in Bezug auf diese Norm stattfinden".
Für Bartsch ist das auch ein Aspekt, der ,Norm' von .Konvention' abhebt. Zu diesem Komplex sei eine interessante Episode aus der japanischen Berufsbaseball-Szene der jüngsten Zeit vorgestellt. Ein unvergleichlich talentierter ISjähriger Werfer (engl.: Pitcher) sagte in der Saison 1999 im Interview nach einer Niederlage: „Nächstes Mal werde ich mich revanchieren" (im Originalton: revenge-suru, eine englisch-japanische Kontamination, mit der Bedeutung ,sich rächen'). Diese seine Aussage selbst, die eine unbeabsichtigte Wortschöpfung enthält, machte, wie sonst immer seine eigentlichen Baseballleistungen, Schlagzeilen. Revenge-suru ist in den Massenmedien gerade wegen des Prestiges, d. h. des positiven Wertes des Wortschöpfers in der Öffentlichkeit (wenngleich nicht wegen seiner sprachlichen Autorität, die er ja nicht hatte) fast zu einem Modewort geworden. Jemand, der Normen setzt, hat entweder ein so positives Image, dass die anderen meinen, es lohne sich, sich das Image zu eigen zu machen und sich sprachlich ähnlich zu verhalten, oder er hat Autorität, gegen die die anderen besser nichts setzen wollen. Vermutlich über die unerwarteten Folgen erstaunt und verschreckt, hat der Sportler es nach einer Weile zurückgezogen und verwendete statt dessen wieder einen traditionell japanischen Ausdruck vi\e fukushu-suru. Dies ist ein Beispiel dafür, dass die Abweichung von der Norm bestraft werden kann, wenn auch in diesem Fall nur geringfügig: Aus dem Rahmen zu fallen, aufzufallen und gegebenenfalls als anormal abgestempelt zu werden, ist hier die Strafe. Gloys Charakterisierung der Sprachnormen mit dem Terminus „Verpflichtung"20 - darüber hinaus bezeichnet er sie auch als „Ursachen [...] eines bestimmten Sprachhandelns"21 - läuft auf dasselbe hinaus. Gerade weil man sich dazu verpflichtet fühlen kann, sich sprachlich normentsprechend zu verhalten, kommt es, wenn auch nur psychisch, zu Sanktionen, wenn dagegen verstoßen wird. Es ist noch anzumerken, dass hin und wieder nicht nur Normkonflikte stattfinden, sondern auch Normkritik geübt wird. In diesem Zusammenhang sei u. a. an 17
,0 21
Black, Max: Sprache. Eine Einfuhrung in die Linguistik. München 1973, S. 86. Bartsch, Renate: Sprachnormen. Theorie und Praxis. Studienausgabe. Tübingen 1987, S 144 · Bartsch, 1987, S. 157. Gloy, 1998, S. 396. Gloy, 1998, S. 399.
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Manabu Walanabe
die Feminisierung der Pronomina und der Kongruenzregel überhaupt auf Grund der feministischen Sprachkritik22 erinnert. Ob sie allgemeine Beachtung findet oder nicht, sei dabei zunächst dahingestellt.
4. Sprachwandel als Normenwandel Sprachliche Formen bleiben auf der einen Seite stabil, aber auf der anderen Seite ändern sie sich auch ständig. „Wenn eine sprachliche Norm den Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden und sich an der Sprachwirklichkeit orientieren soll, so muß sie eine dialektische Einheit von Stabilität und Erhaltung einerseits und Variabilität und Veränderung andererseits sein".
Dass die Normierungsversuche der Grammatiker und die Sprachwirklichkeit, die diese aufnimmt oder nicht berücksichtigt, nicht immer parallel laufen, hat Takada am Beispiel des Deutschen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überzeugend nachgewiesen.24 In Anlehnung an Coseriu schlägt Polenz vor, den Sprachwandel primär als Normenwandel aufzufassen, denn die „vom System bereitgestellten Varianten werden durch Normen ausgewählt".25 In dieser durchaus berechtigten Aussage ist weniger von Sprachnormen im Sinne Coserius, d. h. von tatsächlich realisierten Sprachformen die Rede, als vielmehr von Auswahlkriterien, die an sich außerhalb der Sprache und im Kopf der Sprecher als ,metasprachliches Wissen' vorliegen. Denn ,Norm' ist in diesem Sinne als Urteilsvermögen der Sprachbenutzer über die Korrektheit und Veränderung der bestehenden sprachlichen Formen aufzufassen. Wenn z. B. im gegenwärtigen Deutsch immer häufiger von dem Bär statt von dem Bären gesagt wird, mit anderen Worten: wenn der Abbau von Kasuszeichen am Wort zunehmend feststellbar ist,26 dann fällt letztendlich das Normbewusstsein ein Urteil darüber, ob und seit wann diese Erscheinung als normal gilt und woran sie beobachtbar ist. Es braucht kaum eigens hervorgehoben zu werden, dass Normen mit präskriptiver Funktion eine wichtige Rolle spielen, besonders solange, bis eine Sprache sich als Einheitssprache vervollkommnet hat. Man denke in diesem Zusammenhang z. B. an das Deutsche im 17. und 18. Jahrhundert. Aber darüber hinaus ist Normenwandel bei jedem Sprachwandel, wenn auch implizit, mit im Spiel.
23
Hornberger, Dietrich. Männersprache - Frauensprache: Ein Problem der Sprachkultur?, in: Muttersprache 2 (1993), S. 89-112, hier bes. S. 100. Wurzel, 1987, S. 146. Takada, 1998, bes. S. 217f. Polenz, 1978,8. 10. Vgl. Wurzel, 1987, S. 149.
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' als eine Herausforderung für die Linguistik
Wenn alle Sprachverwendungsformen als regelhaft beschrieben und erklärt werden sollen,27 muss zunächst danach gefragt werden, ob dabei wirklich alle grammatischen Formen zum Gegenstand gemacht werden können und sollen. Vielmehr ist es in der Tat bei einzelnen Forschungsansätzen meistens so, dass man im Hinblick auf die Gegenstände, in diesem Fall die zu behandelnden Sprachformen, eine Vorauswahl trifft. Einige schränken ihren Gegenstand auf die Hochsprache ein, andere beziehen - wenn nicht alle, so doch einige Dialekte als Varianten mit ein, wieder andere machen sogar zum Teil ungrammatische Formen (denn wer macht im natürlichen Gespräch keinen einzigen Fehler?) zum Gegenstand ihrer Untersuchungen. Manchmal ist man sich dessen nicht bewusst, dass man eine Vorauswahl getroffen hat. Indem man den Normbegriff auch in die Systemlinguistik einführt, macht man auf diese Problematik aufmerksam. Denn bei jeder Gegenstandsabgrenzung geht ein Normierungsprozess vonstatten. Um mit Albrecht zu sprechen: Die „Herausbildung der Norm" lässt ,,, -Standard' und .primären Substandard' als ,Restbestand' zurück; die geltende Norm fordert zur Bildung eines .sekundären Substandards' heraus".28 In diesem Sinne enthält der Normbegriff von Natur aus Pluralität, wie sie beispielsweise in ,Subnormen' zum Ausdruck kommt. Angesichts dessen lässt sich zusammenfassend sagen, dass ,Norm' eine Herausforderung für die Linguistik jeglicher Art darstellt und dass Linguisten normative Aussagen nicht wie der Teufel das Weihwasser scheuen müssen.29 Der Normbegriff eröffnet den Linguisten eher einen neuen Horizont, unabhängig davon, von welcher Sprachauffassung sie ausgehen, ganz besonders aber für diejenigen, die ihn eigentlich lieber außer Acht lassen wollten.
27
Vgl. Fußnote 2.
Albrecht, Jörn: Position und Status der „Norm" im Varietätengefuge des Deutschen und des Französischen. Mit Ausblicken auf weitere europäische Sprachen, in: Mattheier (Hg.), 1997,8.20. In Anlehung an: Peyer et a!., 1996, S. 17.
Peter-Paul König
Loben, danken und gedenken Zur Funktion partnerbezogener Expressiva in öffentlichen Reden
Die Überreichung einer Festschrift an einen verdienten Wissenschaftler anlässlich seiner Emeritierung - das ist eine willkommene Gelegenheit, zu loben, zu danken und zu gedenken. Nun setzt sich, wer solches tut, einem unangenehmen Verdacht aus: In der Fachliteratur werden derartige öffentlich geäußerte Sprechhandlungen nicht als partnerbezogene Expressiva gedeutet, sondern z. B. als „Instrumente der Selbstdarstellung"1, als Mittel, die Einhaltung sozialer Normen2 oder die Integration in eine besondere Kommunikationsgemeinschaft3 zu demonstrieren. LOBEN und DANKEN - das sind partnerbezogene Expressiva, die (in der gesprochenen Sprache) i. d. R. an eine anwesende Person oder Personengruppe adressiert sind; .verwandte' Muster wie GEDENKEN und IN ERINNERUNG RUFEN können sich - sofern überhaupt personenbezogen - auch auf nicht Anwesende beziehen. Die genannten Sprechhandlungen kommen in öffentlichen Reden, Verlautbarungen etc. häufig vor, sie sind im Rahmen bestimmter Textsorten erwartbar und quasi-rituell. Öffentlich geäußerte expressive Sprechakte unterscheiden sich von nicht-öffentlichen .Normalvarianten' dadurch, dass die entsprechende Äußerung nicht nur der .angesprochenen' Person bzw. Personengruppe zugänglich ist, sondern einem weiteren Personenkreis, an den sie - zumindest dem ersten Anschein nach - nicht direkt adressiert ist. Es liegt ein Disperses' Publikum vor, auf das die fokussierten Sprechakte in unterschiedlicher Weise bezogen sind. Es stellt sich die Frage, ob vor Publikum geäußerte partnerbezogene expressive Sprechhandlungen zu Recht den Mustern LOBEN, DANKEN etc. zugeordnet werden können: Dankt jemand, der jemandem öffentlich Dank ausspricht, wirklich? Oder dankt er ihm nur scheinbar? Oder dankt er ihm und gibt dem Publikum gleichzeitig dies oder etwas anderes zu verstehen? Fragen wie diese sind in der Fachliteratur vor allem im Zusammenhang der Diskussion um „Mehrfachadressierung", „inszenierte Kommunikation" und „rituel-
Antos, Gerd: Zur Stilistik von Grußworten, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 14 (1986), S. 50-81, hier S. 51. Vgl. Stein, Stephan: Formelhafte Sprache: Untersuchungen zu ihren pragmatischen und kognitiven Funktionen im gegenwärtigen Deutsch. Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 327. Vgl. Gülich, Elisabeth: Routineformeln und Formulierungsroutinen. Ein Beitrag zur Beschreibung ,formelhafter Texte', in: Wimmer, Rainer; Berens, Franz-Josef (Hgg.): Wortbildung und Phraseologie. Tübingen 1997, S. 131-175, hier S. 161.
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Peter-Paul König
les Handeln" thematisiert worden.4 Wenn ich diese Fragen im Folgenden am Beispiel der politischen Rede - genauer: der Parteitagsrede5 - erörtere, so nicht nur, um damit einen im Kontext einer Festschrift vergleichsweise unverfänglichen Gegenstand aufzugreifen, sondern vor allem auch, da Franz Hundsnurscher diesem besonders in der akademischen Lehre der letzten Jahre großes Interesse geschenkt hat.6
1. Dankworte in Parteitagsreden und ,verwandte' Sprechhandlungen Einleitende Gruß-, Lob- und Dankworte gehören zu den erwartbaren Elementen von Parteitagsreden, sie sind als „konstitutiver Bestandteil von komplexen Kommunikationsformen"7 aufzufassen. Betrachtet man die Parteitagsreden der Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder und Helmut Kohl aus dem Jahr 1998, so drängt sich der Eindruck auf, dass diese Sprechhandlungen zugleich zu den Elementen gehören, die häufig bereits nach kurzer Zeit überholt sind und kaum mehr nachvollziehbar erscheinen - wie der Dank an Oskar Lafontaine in Gerhard Schröders Parteitagsrede vom 17. April 1998 in Leipzig: „Liebe Freundinnen, liebe Freunde, wir haben ein gutes Wahlprogramm. Dafür danke ich Euch. Oskar Lafontaine danke ich für die Disziplin, die Vernunft, die Selbstlosigkeit, die er mir und der Partei demonstriert hat. Ich danke ihm für die Freundschaft. Wir stellen uns den Herausforderungen gemeinsam. Wir sind keine Zwillinge, aber wir sind ein gutes Team." Vgl. neben den bereits angeführten Titeln z. B. Edelmann, Murray: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns. Frankfurt a. M.; New York 1976; Dieckmann, Walther: .Inszenierte Kommunikation'. Zur symbolischen Funktion kommunikativer Verfahren in (politisch-) institutionellen Prozessen, in: Dieckmann, Walther: Politische Sprache. Politische Kommunikation. Vorträge, Aufsätze, Entwürfe. Heidelberg 1981, S. 255-279; Holly, Werner: Holistische Dialoganalyse. Anmerkungen zur .Methode' pragmatischer Textanalyse, in: Stati, Sorin; Weigand, Edda (Hgg.): Methodologie der Dialoganalyse. Tübingen 1992, S. 15-40; Franke, Wilhelm: Massenmediale Aufklärung. Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 48-88. Natürlich kann man hier weiter differenzieren; im Folgenden soll es mir um die Parteitagsreden von Kanzlerkandidaten gehen. Einer dieser Lehrveranstaltungen verdanke ich die Anregung zu dem vorliegenden Beitrag. In Hundsnurschers Umfeld entstanden einige Arbeiten zur politischen Sprache, vor allem die Dissertationen: Tillmann, Alexander: Ausgewählte Textsorten politischer Sprache. Eine linguistische Analyse parteilichen Sprechens. Göppingen 1989; Wolf, Georg: Parteipolitische Konflikte. Geschichte, Struktur und Dynamik einer Spielart der politischen Kommunikation. Tübingen 1998. Hundsnurscher selbst hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von Aufsätzen veröffentlicht, die sich mit der - wie er schreibt - „Schattenseite der Sprache" befassen, z. B. Hundsnurscher, Franz: Lügen - auch eine Form sprachlichen Handelns, in: Haiwachs, Dieter; Penzinger, Christine; Stütz, Irmgard (Hgg.): Sprache, Onomatopöie, Rhetorik, Namen, Idiomatik, Grammatik. Festschrift für Karl Sornig zum 66. Geburtstag. Graz 1994, S. 97-113; vgl. z. B. auch Hundsnurscher, Franz: Streitspezifische Sprechakte: Vorwerfen, Insistieren, Beschimpfen, in: Protosoziologie 4 (1993), S. 140-150. Hundsnurscher, 1994, S. 111; Hundsnurscher diskutiert in diesem Beitrag „lügenhaftes Reden" im Kontext komplexerer Kommunikationsformen und geht dabei auch auf Beispiele aus dem Bereich der Sprache der Politik ein. Zitiert nach der über http://www.spd.de (Juni 1998) abrufbaren Version.
Loben, danken und gedenken
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Dankt Schröder Lafontaine, oder geht es ihm lediglich darum, den Parteitagsdelegierten und der Öffentlichkeit etwas anderes zu verstehen zu geben, z. B. die Verbundenheit mit Lafontaine zu demonstrieren, der ja immerhin als Konkurrent um die Kanzlerkandidatur angetreten war? Oder dankt er Lafontaine - und möchte gleichzeitig der Partei- oder Medienöffentlichkeit darüber hinaus etwas anderes sagen? Als ein Indiz dafür, dass Schröder Lafontaine nicht wirklich dankt, könnte das Faktum angesehen werden, dass er seinen Dank nicht direkt an diesen adressiert, sondern in der dritten Person auf ihn referiert. Wie verhält es dann aber mit sprachlichen Handlungen, in denen der Adressat des Dankes direkt angesprochen wird, wie dies Helmut Kohl in der Bremer Parteitagsrede im Mai 1998 tat, als er sich mit dem Vornamen und dem vertraulichen Du an Wolfgang Schäuble wandte: ,„Wir', liebe Freunde, das ist unsere Bundestagsfraktion unter Fuhrung von Wolfgang Schäuble, (Beifall) Wolfgang Schäuble, dem ich gleich zu Beginn meiner Rede für seinen beispielhaften Einsatz filr unsere Sache herzlich danken will. Ich sage dies sehr persönlich, lieber Wolfgang, da ich weiß, was Dir der Alltag bringt - an Arbeit, auch an Verdruß und Ärger, aber auch an Freude. Ich danke Dir sehr, sehr herzlich für Dein Schaffen."9
Wie Schröder stellt auch Kohl einen Dank an jenen Mann an den Beginn seiner Rede, der parteiintern als schärfster Konkurrent um die Kanzlerkandidatur gegolten hatte. Handelt es sich hierbei um einen Dank - oder z. B. um ein Mittel der Besänftigung, der Demonstration von Geschlossenheit? Für eine solche Interpretation könnte sprechen, dass Kohl nach Schäuble - eingeleitet jeweils durch die ,Wir-Formel' - auch den in der Union umstrittenen Generalsekretär Peter Hintze durch ein Dankwort stützt und schließlich gar Lob- und Dankworte an den nicht anwesenden Theo Waigel anschließt: ,„Wir', liebe Freunde, das sind auch unsere hauptamtlichen Mitarbeiter in den Kreisgeschäftsstellen, in den Bezirksgeschäftsstellen, in den Landesgeschäftsstellen und natürlich im Konrad-Adenauer-Haus. Lieber Peter Hintze, herzlichen Dank für das, was Du leistest, was Du tust, wie Du kämpfst - und auch dafür, daß Du manchen Verdruß ertragen mußt. [...] Wir können nur gemeinsam gewinnen, gemeinsam siegen. Das wird sich auch in diesem Bundestagswahlkampf wieder zeigen. Deswegen will ich schon jetzt unserem Freund Theo Waigel, der heute am späten Nachmittag zu uns kommen wird, danken. Er hat als Finanzminister und als CSU-Vorsitzender ganz schwierige Ämter. [...] Aber Theo Waigel macht einen guten Job, und ich habe gerade in diesen Tagen auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Birmingham wieder erfahren, welch hohes Ansehen er auch international für seine Arbeit genießt. Wir wollen ihm für die Gemeinschaft und filr sein Mittun herzlich danken."10
Auffällig ist nicht nur, dass Kohl seinen Dank an einen Nicht-Anwesenden richtet, bemerkenswert ist vor allem, dass er als ,Grund' für den Dank nicht seine Dankbarkeit bezüglich positiv bewerteter Handlungen nennt, sondern die Notwendigkeit, im Bundestagswahlkampf Geschlossenheit zu zeigen. Dankt Helmut Kohl Kohl, Helmut: Wir führen Deutschland in das 21. Jahrhundert. Rede des Vorsitzenden, Bundeskanzler Helmut Kohl, auf dem 10. Parteitag der CDU Deutschlands 1998 in Bremen. Bonn 1998, S. 2f. Wie aus dem Untertitel der Publikation hervorgeht, spricht Kohl in seiner Rede nicht nur als Kanzler(kandidat), sondern auch als Vorsitzender der Partei. Dies ist v. a. im Zusammenhang seines im Folgenden zitierten Dankes an Theo Waigel von Bedeutung, der zugleich als Dank des CDU-Vorsitzenden an den Vorsitzenden der Schwesterpartei zu verstehen ist. Kohl, 1998, S. 3.
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Schäuble, Hintze und Waigel also gar nicht richtig oder jedenfalls nicht vorrangig? Zu einem solchen Ergebnis könnte man kommen, wenn man eine Reihe von Arbeiten zu verwandten Themen studiert.
2. Formelhaftes Grüßen und Danken - ein Blick in die Forschungsliteratur Einige jüngere Veröffentlichungen gehen von formulierungstheoretischen oder textlinguistischen Fragestellungen aus oder bewegen sich im Rahmen der erweiterten Phraseologieforschung, so die bereits zitierten Arbeiten von Gülich, Antos und Stein. Antos befasst sich in einer Reihe von Arbeiten aus den achtziger Jahren mit Grußworten in Reden und Festschriften, die er von .alltäglichen' Grußhandlungen absetzt: „Grußworte haben - wie sich noch zeigen wird - nur vordergründig etwas mit Grüßen zu tun. Ihre illokutionäre Rolle besteht eben nicht im Übermitteln von Grüßen." (Antos, 1986, S. 53)
Da die primäre Funktion von Grußworten in Reden nicht darin bestehe, eine psychische Einstellung wie Freude oder Anteilnahme auszudrücken, zählt Antos sie nicht zu den Expressiva. Vielmehr gehe es in ihnen darum, „öffentliche Wertschätzung und Offizialität einer Veranstaltung" zu deklarieren." Ähnliche Einschätzungen äußern Gülich und Stein bezogen auf bestimmte Formen stereotypen Dankens. Gülich kommt in ihrer Auseinandersetzung mit Danksagungen in Vorworten von Dissertationen zu dem Ergebnis, dass die dominierende rituelle Funktion aus den „üblichen Regeln für einen Sprechakt .Danken' sicher nicht befriedigend" abzuleiten sei.12 Diese bestehe im Kern darin, als Mitglied einer „besonderen Kommunikationsgemeinschaft" in Erscheinung zu treten.13 Zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt Stein in Bezug auf formelhafte Danksagungen in Familienanzeigen. Bei diesen handele es sich weniger um eine Übermittlung eines Dankes für etwas an jemanden, denn um eine öffentliche Deklaration des Dankens: „Diese Beobachtungen lenken den Blick darauf, daß die eigentliche Information, das Schwergewicht der Danksagungen, in der pragmatischen Komponente, d. h. in der Ausführung, im Vollzug des Dankes liegen: Weder wem noch wofür, sondern daß gedankt wird, ist entscheidend. Insbesondere der Umstand, daß der Dank öffentlich ausgesprochen wird, ist Ausdruck der Wertschätzung und unterstreicht, daß die sozialen Normen eingehalten und respektiert werden." (Stein, 1995, S. 327)
13
Vgl. Antos, 1986, S. 61f; vgl. auch Antos, Gerd: Grußworte in Festschriften als ,institutionale Rituale'. Zur Geschichte einer Textsorte, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 65 (1987), S. Gülich, 1997, S. 162. Gülich, 1997, S. 161.
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Sollten sich diese Ergebnisse auf den fokussierten Gegenstand übertragen lassen, so bedeutete dies, dass auch die angeführten Äußerungen Kohls und Schröders nicht als Dankhandlungen interpretiert werden dürfen; vielmehr wären sie als Deklarationen von Dank zu deuten, mittels derer die Akteure in erster Linie nicht dem vermeintlich Angesprochenen gegenüber etwas zum Ausdruck bringen wollen. Kohl und Schröder wenden sich demnach vorrangig an die Parteimitglieder und die Öffentlichkeit, um Geschlossenheit, persönliche Verbundenheit gegenüber den parteiinternen Konkurrenten, gegenseitige Wertschätzung zu demonstrieren, Kräfte zu mobilisieren etc. Es spricht einiges dafür, dass es Schröder und Kohl (unter anderem) genau darum ging, und insofern ist es sicherlich zutreffend, wenn man sagt, dass die angeführten Äußerungen mehr sind als ein Dank. So wird es kein Zufall sein, dass Schröder und Kohl im Zusammenhang ihres Dankes das Thema der innerparteilichen Geschlossenheit ansprechen. Jede Interpretation, die solche Äußerungen nur „zu ihrem .Nennwert'"14 analysiert und ihre „rituelle Funktion"15 außer Acht lässt, greift zu kurz. Andererseits bedeutet dies keinesfalls, dass damit eine Deutung als Dank ausgeschlossen ist: Dass ein Textmuster eine bestimmte Konstituente fordert, bedeutet nicht notwendig, dass der, der einen Text nach diesem Muster produziert, eine diesem stereotypen Element entsprechende Handlung gar nicht oder nicht aufrichtig ausführt.16 Zudem stellt sich die Frage, welchen kommunikativen Status die attestierten weitergehenden Funktionen haben: Werden die entsprechenden Ziele kommuniziert, oder handelt es sich um strategische Ziele, die angestrebt werden, ohne dass die Angesprochenen erkennen sollen, dass sie angestrebt werden? Der Frage nach den Zielen kommunikativen Handelns ist in der sprechakttheoretischen Diskussion breiter Raum geschenkt worden, z. B. in der Kontroverse zwischen Grice und Searle17 oder in den Überlegungen Habermas' zur Unterscheidung kommunikativen und strategischen Handelns.18 Da die Ergebnisse dieser Diskussionen für die zur Debatte stehende Fragestellung m. E. von zentraler Bedeutung sind, in der jüngeren Literatur jedoch kaum mehr rezipiert werden, sollen sie im Folgenden nochmals in Erinnerung gerufen werden.
14
Dieckmann, 1981,5. 264. Gülich, 1997, S. 162. [' Vgl. hierzu z. B. Dieckmann, 1981, S. 266ff. Grice, H. Paul: Sprecher-Bedeutung und Intentionen, in: Meggle, Georg (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt a. M. 1979, S. 16-51; Searle, John L: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a. M. 1971, S. 70ff. Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1981; Habermas, Jürgen: Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalitat, in: Preyer, Gerhard; Ulkan, Maria; Ulfig, Alexander (Hgg.): Intention - Bedeutung - Kommunikation. Opladen 1997, S. 258-287; König, Peter-Paul: Kommunikatives und strategisches Handeln. Kritische Bemerkungen zu zwei zentralen Begriffen der .Theorie kommunikativen Handelns' von Jürgen Habermas, in: Preyer, Gerhard; Ulkan, Maria; Ulfig, Alexander (Hgg.): Intention - Bedeutung - Kommunikation. Opladen 1997, S. 304-320. 15
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3. DANKEN als kommunikatives Handlungsmuster Grice hat darauf hingewiesen, dass sich kommunikatives Handeln dadurch auszeichnet, dass ein Sprecher einen Hörer zu einer Reaktion bewegen möchte, und zwar dadurch, dass dieser erkennt, dass der Sprecher ihn zu einer bestimmten Reaktion bewegen möchte. Und dieses Erkennen der Sprecherabsicht, das - wie Searle mit seinem Beispiel vom amerikanischen Soldaten einwendet19 - auf Grund der Kenntnis der Regeln der Sprache geschieht, ist der Grund für das Zeigen der Reaktion. „S äußerte mit der Absicht, daß (1) H eine bestimmte Reaktion r zeigt
(2) H glaubt (erkennt), daß S (1) beabsichtigt (3) H (1) aufgrund seiner Erfüllung von S (2) erfüllt"20 Es lässt sich wohl kaum bestreiten, dass Schröder und Kohl die Parteitagsdelegierten und die Öffentlichkeit dazu bringen wollen, gewisse Reaktionen zu zeigen: die Verbundenheit zu Lafontaine bzw. Schäuble zu erkennen, Hintze zu stützen, sich aktiv am Wahlkampf zu beteiligen etc. Aber sollen die Angesprochenen die Reaktion zeigen, weil sie erkennen, dass es die Absicht der Sprecher ist, dass sie diese Reaktion zeigen? Sollen die Parteitagsdelegierten also z. B. erkennen, dass Schröder sie zu einer bestimmten Reaktion bewegen möchte, nämlich zu glauben, dass die Beziehung zwischen Lafontaine und Schröder gut sei? Und kann dieses Erkennen der Absicht Grund für das Reaktion-Zeigen sein? Eine solche Interpretation wäre geradezu absurd. Ein Erkennen der weitergehenden Absicht würde im Gegenteil wohl eher dazu fuhren, dass die angestrebte Reaktion gerade nicht gezeigt wird. Bei den unterstellten Zielen handelt es sich nicht um deklarierte Ziele, sie sind zum Großteil nicht einmal zugebbar, d. h. ein Offenlegen der Ziele würde vermutlich verhindern, dass die gewünschte Reaktion erfolgt. Der Versuch, Geschlossenheit explizit performativ zu demonstrieren, dürfte ähnlich aussichtslos sein, wie dies z. B. bei der Versicherung von Glaubwürdigkeit der Fall ist.21 Fassen wir die Ergebnisse bis hier einmal zusammen: Einer an Dieckmann, Gülich, Antos und Stein orientierten Analyse ist darin zuzustimmen, dass es Rednern wie Schröder und Kohl in entsprechenden Situationen zumindest dem Publikum gegenüber letztlich nicht allein um Danksagungen etc. geht. In der Kommunikation mit Parteitagsdelegierten und Öffentlichkeit sind Lob und Dank allenfalls Mittel zum Zweck. Der angestrebte perlokutionäre Effekt aber wird nicht preisgegeben und kommuniziert,22 es handelt sich um ein strategisches, nicht 19 21
Searle, 1971, S. 70tT. Vgl. Grice, 1979, S. 20. Vgl. Heringer, Hans Jürgen: Politische Glaubwürdigkeit - Betrachtungen eines moralisierenden Linguisten, in: Stickel, Gerhard (Hg.): Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven. Berlin; New York 1990, S. 3(M4. Vgl. hierzu König, Peter-Paul: Nicht-deklarierte Sprecherziele, in: Darski, Jozef; Vetulani, Zygmunt (Hgg.): Sprache - Kommunikation - Informatik. Akten des 26. Linguistischen Kolloquiums, Poznan 1991. Bd. 2. Tübingen 1993, S. 185-191.
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um ein im engeren Sinne kommunikatives Ziel. Die entsprechenden Äußerungen sollen vom angesprochenen Publikum nicht als Demonstration der Verbundenheit, als Unterstützung oder Mobilisierung verstanden werden, sondern als Ausdruck der Verbundenheit, sie sollen unterstützend bzw. mobilisierend wirken etc. Und dies - so meine These - ist nur möglich, wenn sie als partnerbezogene expressive Sprechakte verstanden werden. Dies soll im Folgenden am Beispiel des DANKENs gezeigt werden,23 das Searle durch vier Sprechaktregeln charakterisiert sieht:24 Regel des prop. Gehalts: Einleitungsregel: Aufrichtigkeitsregel: Wesentliche Regel:
In der Vergangenheit liegender und von H ausgeführter Akt A. A nutzt S, und S glaubt, dass A S nützt. S empfindet A gegenüber Dankbarkeit oder Anerkennung. Gilt als Ausdruck der Dankbarkeit oder Anerkennung.
Auch Engel betont in besonderer Weise den Aspekt des Sprechernutzens:25 „Der Sprecher drückt dem Partner seine Anerkennung dafür aus, daß dieser sich auf eine für den Sprecher gunstige Weise verhalten hat."
Rolf vertritt in der Einschätzung des Zwecks von Dankhandlungen eine etwas abweichende Auffassung, er spricht von „Emotionsprophylaxe", benennt im Übrigen aber die bekannten Elemente: Es geht um eine zurückliegende Handlung des Hörers, von der der Sprecher profitiert, und dieser empfindet jenem gegenüber deshalb Dankbarkeit.26 Auf der Grundlage dieser Charakterisierungen erweisen sich die zitierten Äußerungen m. E. als Dankhandlungen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
4. Zur Funktion partnerbezogener Expressiva in Parteitagsreden Kohl und Schröder beziehen sich in ihren Äußerungen auf Handlungen Schäubles, Hintzes, Waigels und Lafontaines (Regel des prop. Gehalts) - Schäuble hat „beispielhaften Einsatz" gezeigt, Hintze etwas geleistet und gekämpft, Waigel „einen guten Job" gemacht, Lafontaine „Freundschaft", „Disziplin", „Vernunft" Im gegebenen Zusammenhang reicht es aus, wenn ich mich um der Einfachheit willen an den Sprechaktregeln bzw. -bedingungen Searles orientiere. Dass ich es für sinnvoll halte, zwischen Gelingens-, Akzeptanz- und Erfüllungsbedingungen zu unterscheiden, habe ich an anderer Stelle ausgeführt (vgl. z. B. König, 1993). Vgl. Searle, 1971, S. 102; vgl. auch Searle, John L.; Vanderveken, Daniel: Foundations of Illocutionary Logic. Cambridge u. a. 1985, S. 212: "The point of thanking is to express gratitude. The preparatory conditions are that the thing in question benefits or is good for the speaker and that the hearer is responsible for it. As with apologies, one normally thanks for actions, but the prepositional content need not necessarily represent an action provided that the hearer is responsible.Thus //thank// is an expressive illocutionary force of the form
26
Engel, Ulrich: Deutsche Grammatik. Heidelberg 1988, S. 42; vgl. z. B. auch Marten-Cleef, Susanne: Gefühle ausdrücken. Die expressiven Sprechakte. Göppingen 1991, S. 202ff. Vgl. Rolf, Eckard: Illokutionäre Kräfte. Grundbegriffe der Illokutionslogik. Opladen 1997, S. 228f.
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und „Selbstlosigkeit" gezeigt. Dieses Tun nützt ihrem Kanzlerkandidaten und wird von diesem positiv bewertet (Einleitungsregel), wie an den wertenden Attributen deutlich wird, und dieser spricht ihnen deshalb seinen Dank und seine Anerkennung (im Sinne der wesentlichen Regel) aus. Ob dieser Dank freilich aufrichtig ist, das steht auf einem anderen Blatt. Im Lichte der Öffentlichkeit wird dieser Dank - ähnlich wie dies Stein ausführt - zu einem öffentlichen Dank. Wie aber ist es möglich, dass Schröder und Kohl mit ihrem Dank etwas über diesen Hinausgehendes bezwecken, und hat dieses „Mehr-" bzw. „Etwas-anderes-Bezwecken" - anders als dies Gülich für die von ihr untersuchten Grußhandlungen annimmt - möglicherweise etwas mit der Struktur der vollzogenen Sprechakte zu tun? Dass ein Sprechakt auf Wirkungen abzielen kann, die über das deklarierte Ziel hinaus gehen, ist in der Sprechakttheorie im Zusammenhang der Diskussion um perlokutionäre Effekte thematisiert worden. Demgegenüber weitgehend unberücksichtigt geblieben ist, dass der Zielpunkt sprachlicher Handlungen auch in den Bedingungen liegen kann, die der vollzogenen Sprechhandlung zugrunde liegen. Voraussetzung für den Erfolg so eingesetzter sprachlicher Handlungen ist, dass sie gelingen, d. h. verstanden werden; dass der deklarierte perlokutionäre Effekt eintritt, ist dafür nicht unbedingt erforderlich. Ein solcher Fall liegt m. E. im Hintze-Beispiel vor: Wenn Kohl Hintze für sein Handeln dankt, bezieht er sich damit auf ein Tun Hintzes (Regel des prop. Gehalts), das (aus seiner Sicht) positiv zu bewerten ist (Einleitungsregel); genau dies aber steht in Frage - auch parteiintern, wie an den gespreizten weiteren Ausführungen Kohls erkennbar wird: „Generalsekretär, das ist ein schwieriger Job. Der eine sieht zuviel General und der andere zuviel Sekretär. Es jedem recht zu machen ist nahezu unmöglich. Wenn die Sache gutgeht, waren es alle; das ist eben immer so. Wenn es nicht so gutgeht, waren es einige wenige, und dazu gehört auch immer der Generalsekretär. Ich will Dir herzlich dafür danken, wie Du - ich sage es salopp in der Sprache unserer Jungen - diesen Job machst, wie Du Dich ohne jedes Zögern in die Schlacht wirfst. Da gibt es andere, die sitzen in der Proszeniumsloge des Staatstheaters und schauen herunter, wie sich auf der Bühne ein paar tummeln. Die können gut darüber reden, aber wenn sie selber auf der Bühne wären, würden manche ein ziemlich jämmerliches Bild abgeben. Auch das ist eine Erfahrung."
Der Versuch Kohls, seinen Generalsekretär zu stützen, baut darauf auf, dass mit seinem Dank gleichzeitig eine positive Wertung der Tätigkeit Hintzes zum Ausdruck kommt. Ähnlich liegt der Fall im Schäuble- und im LafontaineBeispiel: Durch ihren Dank dem Konkurrenten gegenüber führen Kohl und Schröder ein, dass sich der jeweilige Konkurrent loyal und auf den Sprecher bezogen positiv verhalten hat bzw. dass dessen Handlungen durch den Sprecher entsprechend interpretiert werden. Dieser empfindet dafür Dankbarkeit im Sinne der Aufrichtigkeitsregel, und beides unterstreicht die intakte Beziehung zueinander und die innerparteiliche Geschlossenheit. Im Schröder-Lafontaine-Beispiel dient der Dank zudem der Deklaration von Werten, die in der traditionellen sozialdemokratischen Wertehierarchie nicht 27
Kohl, 1998, S. 3.
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unbedingt die obersten Plätze einnehmen: Disziplin, Vernunft und Selbstlosigkeit. Durch derartige Dankhandlungen kann sich ein Redner als Vertreter von Werten in Szene setzen, die bislang nicht selbstverständlich mit ihm verbunden wurden, um z. B. ,neue' Werte einzuführen oder sich im Hinblick auf seine moralische Integrität aufzuwerten. Schließlich kann ein Dank mobilisierend wirken, und zwar nicht nur auf den direkt Angesprochenen, sondern auch auf das erreichte ,Publikum': Zum einen wird durch einen Dank ausgedrückt, dass das gratifizierte Tun möglich ist; es stellt für die Parteitagsdelegierten eine Art Modell dar, dem nachzueifern sich lohnt. Denn der Dank belegt ja zum anderen, dass ein solcher Einsatz honoriert wird - der Dankende kommt der Erwartung nach einer „ratifizierenden Rückmeldung"28 tatsächlich nach. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass Kohl und Schröder als Funktionsträger danken und dass sich ihr Dank an Repräsentanten der Partei bzw. Schwesterpartei, Fraktion etc. richtet. Die Ausführungen zeigen, welch großes .Bewirkungspotential' Dankhandlungen in Parteitagsreden haben - dabei sind weitergehende strategische Möglichkeiten, dieses im Rahmen von Parteitagsreden konventionelle Element zu nutzen, noch gar nicht erwähnt. Gemeinsam ist den oben unterstellten strategischen Zielen, dass sie nur dann erreichbar sind, wenn die Rezipienten die Hintze, Schäuble, Waigel und Lafontaine gegenüber geäußerten Sprechakte als Handlungen nach dem Muster DANK interpretieren.29 (Dass Hintze, Schäuble und Lafontaine den Dank für aufrichtig halten und annehmen, ist hingegen zum Erreichen dieser Ziele nicht unbedingt erforderlich.) Wenn auf den Gratifizierten dabei zum Teil in der dritten Person referiert wird, so zeigt sich daran die Problematik der Ansprache eines dispersen Publikums, es wird aber auch deutlich, dass es den Politikern in ihren Parteitagsreden um mehr als nur einen Dank geht, nämlich zumindest um einen demonstrativen Dank vor Publikum. Und ein solcher ist - wie in dem Waigel-Beispiel - selbst Nicht-Anwesenden gegenüber möglich. Was durch einen derartigen Dank demonstriert werden kann, das ist - anders als dies Stein für Dankhandlungen in Familienanzeigen beschreibt - weder unabhängig vom Adressaten des Dankes noch von seinem Inhalt, und es bleibt an die Struktur des Handlungsmusters DANKEN zurückgebunden. Dass die Parteitagsredner ihre strategischen Ziele mitunter preisgeben, wie im Kohl-Waigel-Beispiel das Ziel der innerparteilichen Geschlossenheit, spricht m. E. nicht grundsätzlich gegen eine Interpretation derartiger Äußerungen als DANK, sondern gegen die Strategie des entsprechenden Redners. Schröder bzw. seine Berater scheinen inzwischen erkannt zu haben, wie wichtig es ist, dass ein Dank in einer Parteitagsrede als solcher auch erkennbar ist, und so wurde die oben zitierte Passage in der Textversion auf der Internetseite inzwischen auf interessante Weise modifiziert: 2
J Rolf, 1997, S. 288f. Dies gilt natürlich nicht für ironisches Danken und ahnliche Formen uneigentlichen Sprechens, wie Hundsnurscher diese im Zusammenhang seiner Überlegungen zur „Schattenseite der Sprache" beschrieben hat; vgl. z. B. Hundsnurscher, Franz: Die Schattenseite der Sprache. Münster 1999 (Manuskript).
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„Liebe Freundinnen, liebe Freunde, wir haben ein gutes Wahlprogramm. Dafür danke ich euch. Oskar Lafontaine, dir danke ich für die Disziplin, die Vernunft, ja die Selbstlosigkeit, die du mir und der Partei immer wieder demonstriert hast. Ich danke dir vor allen Dingen für die Freundschaft, die ich zu schätzen weiß. Wir - das steht fest, und das wird so bleiben - stellen uns den Herausforderungen gemeinsam. Es ist wahr und im übrigen auch sichtbar. Wir sind keine Zwillinge, aber wir sind ein verdammt gutes Team, liebe Genossinnen und Genossen."30 Die Änderung des Wortlautes ist ein Indiz dafür, dass auch Schröder erkannt hat, was als Ergebnis unserer Überlegungen festgehalten werden kann: 1) Trotz ihres rituellen Charakters handelt es sich bei den stereotypen Danksagungen in Parteitagsreden um Dankhandlungen. 2) Gleichwohl stellt der deklarierte perlokutionäre Effekt offensichtlich nicht den (einzigen) Zielpunkt des Handelns dar. 3) Die strategischen Ziele aber werden nicht kommuniziert, eine Offenlegung würde in der Regel das Eintreten des angestrebten Effekts verhindern. 4) Die strategischen Ziele sind nur Über das Gelingen des Bezugssprechakts erreichbar, also nur dann, wenn die Danksagung als Dankhandlung verstanden wird. Ein ähnliches und ähnlich großes Funktionsspektrum ist für sprachliche Handlungen wie LOBEN und GEDENKEN im Zusammenhang von Parteitagsreden zu erwarten, die ja gleichfalls mit positiven Wertungen verbunden sind. Dass LOBEN, DANKEN und GEDENKEN zu den konventionellen Elementen des Musters PARTEITAGSREDE gehören, ist angesichts ihres Bewirkungspotentials nicht verwunderlich. Was dies über das Loben, Danken und Gedenken im Kontext der Übergabe von Festschriften besagt? Möglicherweise nicht viel - immerhin aber wird man erwarten dürfen und kann getrost davon ausgehen, dass auch ein in diesem Zusammenhang geäußertes Loben, Danken und Gedenken als Lob-, Dank- und Gedenkhandlung gemeint ist und verstanden wird, was auch immer darüber hinaus damit bezweckt werden soll.
Vgl. http://www.spd.de/archiv/events/pttleipzig/schroeder.html (19.03.2000). Zur Markierung der geänderten Textteile sind diese durch Kursivdruck hervorgehoben. Die zitierte Fassung wird im SPD-Archiv als „Bandabschrift" ausgegeben - möglicherweise hat Schröder die Änderungen schon während seiner Rede auf dem Parteitag vorgenommen; es ist jedoch auch möglich, dass die Modifikationen auf eine spätere Überarbeitung zurückzuführen sind.
Georg Wolf
Die Kommunikation der Politiker - ein Mannschaftsspiel
Gegenwärtig drängt sich der Eindruck auf, dass es in der Politik ebenso zugeht wie im Sport: Wenn ein öffentliches Großereignis ansteht (eine politische Wahl oder ein politischer Skandal), dann gibt es ebenso viele ,Teamchefs' wie Zuschauer - und mindestens ebenso viele Ansichten darüber, wie am besten zu handeln ist. Es ist nicht leicht, unter solchen Umständen einen linguistischen Standpunkt einzunehmen, der distanziert genug ist, um sich vom Beobachteten nicht einnehmen zu lassen, und der gleichzeitig nahe genug am politischen Geschehen ist, um dessen Eigenheiten nicht aus dem Auge zu verlieren. Eine dieser Eigenheiten besteht darin, dass die wissenschaftlich beobachtbaren Formen politischer Kommunikation in aller Regel öffentlich sind und mithin vor Publikum stattfinden. Insofern unterscheidet sich der hier untersuchte Gegenstand von demjenigen, den Franz Hundsnurscher in den Mittelpunkt seiner dialoganalytischen Forschung gestellt hat, nämlich das „zweckrationale Sprachhandeln in ,normalsprachlichen' Kommunikationssituationen".1 Nun steht seit einiger Zeit nicht mehr allein das öffentliche Sprechen der Politiker im Fokus des linguistischen Interesses, sondern auch das öffentliche, halböffentliche und private Sprechen über Politiker bzw. die Politik.2 Es scheint aus diesem Grund sinnvoll zu sein, die Kommunikation der Politiker ebenfalls neu zu hinterfragen: Wo genau liegen die Unterschiede zwischen politischen' und ,normalsprachlichen' Kommunikationssituationen? Welchen Anlass hat das Publikum, ein solches .Teamchef -Verhalten an den Tag zu legen? Sind die Meinungen und Urteile, die beim Sprechen über Politiker geäußert werden, gerechtfertigt oder nicht? Und schließlich: Wie kann man unter diesen Vorzeichen die Kommunikation der Politiker linguistisch angemessen beschreiben? Der öffentliche Sprachgebrauch der Politiker unterscheidet sich dem ersten Anschein nach nicht erheblich von dem der ,Normalsprecher'. Im Gegenteil: Politiker bemühen sich in ihren Reden, Pressestatements oder Talkshowbeiträgen redlich darum, allgemeinverständlich zu sprechen. Und im allgemeinen werden sie - was die Äußerungsebene angeht - auch verstanden. Die Ursachen
Hundsnurscher, Franz: Der linguistische Zusammenhang, in: Ezavva, Kennosuke; Kürschner, Wilfried; Rensch, Karl H.; Ringmacher, Manfred (Hgg.): Linguistik jenseits des Strukturalismus. Bericht des II. Ost-West-Kolloquiums für Sprachwissenschaft 1998. Tübingen 2000 (erscheint demnächst). Vgl. Burkhardt, Armin: Politolinguistik. Versuch einer Ortsbestimmung, in: Diekmannshenke, Hajo; Klein, Josef (Hgg.): Sprachstrategien und Dialogblockaden. Linguistische und politikwissenschaftliche Studien zur politischen Kommunikation. Berlin/New York 1996, S. 75-100. (Sprache, Politik, Öffentlichkeit 7)
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für den oft geäußerten Vorwurf der politischen „Pseudo-Kommunikation"3 liegen also nicht darin, dass die .Sprache der Politik' eine Fachsprache wäre wie etwa die .Sprache der Medizin'. In der Kritik spiegeln sich vielmehr Meinungen und Urteile von .Normalsprechern' über Inhalte, Intentionen und das Zustandekommen der politischen Kommunikation. Das heißt: Die Kommunikation der Politiker wird gemeinhin an pragmatischen Maßstäben gemessen. Was unterscheidet also die politische von der ,normalsprachlichen' Kommunikation? Die wichtigsten Merkmale der politischen Kommunikation in repräsentativen Demokratien der Gegenwart sind: a) die genuin politische Zielausrichtung, die allgemein mit dem Begriff politische Macht umschrieben wird; b) die Konkurrenzsituation, die mit dem demokratischen Rechtsprinzip der freien Wahl zwischen mehreren Parlamentskandidaten verknüpft ist; c) die Publizität der politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesse, die seit alters her die legitimatorische Grundlage für Politiker in polis bzw. res publica darstellt; d) die hochgradige Vernetzung der politischen Kommunikation mit anderen gesellschaftlichen Kommunikationsformen; e) der institutionelle Status der Parteien, die den verfassungsrechtlichen Auftrag haben, als Interessengruppen an der politischen Meinungs- und Willensbildung mitzuwirken und einzelne Kandidaten für die Parlamentswahlen zu stellen. Die Faktoren ,Konkurrenzsituation', .Publizität', .Vernetzung' und .institutioneller Status' schaffen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und den sozial-situativen Kontext für die Kommunikation der Politiker, sie regeln deren (historisches) Zustandekommen. Da ,normalsprachliche' Kommunikationssituationen gewöhnlich unter vollkommen anderen Umständen zustande kommen, ist zu fragen, wie die Auswirkungen dieser Rahmenbedingungen auf die Kommunikation der Politiker erklärungsadäquat und doch allgemein plausibel dargestellt werden können. Dies gilt in noch stärkerem Maße für das Merkmal der .genuin politischen Zielausrichtung', in dem sich die inhaltlichen und intentionalen Aspekte der politischen Kommunikation bündeln lassen. Wie tagtäglich z. B. an Leserbriefen oder Meinungsumfragen zu beobachten ist, wirkt das Streben der Politiker nach politischer Macht auf .NormalSprecher' gleichermaßen faszinierend wie abstoßend. Vertreten sind hier sowohl .echte' Experten als auch solche Bürger, die ihre persönlichen Alltagserfahrungen in .Fragen der Macht' auf die Politik übertragen - die oben genannten .Teamchefs'. Der Bezug auf die politische Macht ist das mit Abstand wichtigste Unterscheidungskriterium zwischen .normalsprachlichen' und .politischen' Kommunikationssituationen. Daher geht es hier im wesentlichen um die politische Macht und ihre linguistische Beschreibung. Vgl. Czenvick, Edwin: Politikverdrossenheit - politische Selbstreferenz und die „Stimme des Volkes", in: Diekmannshenke; Klein (Hgg.), 1996, S. 55 (vgl. Fußnote 2).
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l. Merkmale der politischen Macht „Wer Politik treibt", schreibt Max Weber,4 „erstrebt Macht, - Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele - idealer oder egoistischer - oder Macht ,um ihrer selbst willen': um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen." Dass es den Politikern um die Macht geht und darin der Schlüssel zur Beschreibung und Erklärung der politischen Kommunikation zu sehen ist, durchzieht die politologische, soziologische und auch linguistische Literatur.5 Was aber genau unter politischer Macht' zu verstehen ist, bleibt unklar. Es lassen sich in dieser Frage vier Herangehensweisen unterscheiden: (i) Die individualistische Herangehensweise in der Tradition Webers: Max Weber wirft die Frage auf, auf welche Weise der Mächtige handelt bzw. wodurch er in die Lage versetzt wird zu handeln: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Herrschaft dagegen soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden [...] "6
Unterstellt wird hier, dass es einen Mächtigen gibt, der die Chance hat, Befehle zu geben, und jemanden, der dem Mächtigen aufgrund dessen Eigenschaften oder Fähigkeiten Gehorsam schuldet. Die Ausübung der Macht wird als einseitig gerichtete Herrschaftsform nach dem Muster ,Befehl - Gehorsam' beschrieben. Der Mächtige handelt aktiv, die Beherrschten müssen (oder wollen) reagieren. (ii) Die symbolisch-kommunikative Herangehensweise in der Tradition Luhmanns: Luhmann kritisiert an Weber, dass Macht keine Eigenschaft oder Fähigkeit eines Mächtigen sei, sondern eine Interaktion, eine zweiseitige Kommunikation zwischen Machthaber und Machtunterworfenem, wobei es sich in erster Linie um eine symbolisch-sinnliche Kommunikation handele: „Macht ,ist' eine codegesteuerte Kommunikation. Die Zurechnung der Macht auf den Machthaber wird in diesem Code geregelt [...]. Obwohl beide Seiten handeln, wird das, was geschieht, dem Machthaber allein zugeschrieben. Die wissenschaftliche Analyse darf sich durch die in ihrem Gegenstand selbst liegenden Zurechnungsregeln jedoch nicht irritieren lassen: solche Regelungen bewirken nicht, daß der Machthaber für das Zustandekommen von Macht wichtiger oder in irgendeinem Sinne .ursächlicher' ist als der Machtunterworfene."7
Die Machtmodelle von Weber und Luhmann beruhen auf der Vorstellung von präfigurierten und relativ stabilen sozialen Beziehungen bzw. Ressourcenver4
Weber, Max: Politik als Beruf. Stuttgart 1992, S. 7. (Erstausgabe 1919) Vgl. den Überblick von Burkhardt, Armin: Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte, in: Besch, Werner; Betten, Anne; Reichmann, Oskar; Sonderegger, Stefan (Hgg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollst, neu bearb. und erw. Auflage. 1. Teilband. Berlin/New York 1998, S. 98122. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2. l; l. Auflage 1984) Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., rev. Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe. Tübingen 1972, S. 28. (I.Auflage 1921) Luhmann, Niklas: Macht. 2., durchges. Auflage. Stuttgart 1988, S. 15. (1. Auflage 1975)
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teilungen. Dies erlaubt beiden, formal-theoretische Abstraktionen zu benutzen und die Politikgeschichte weitestgehend auszublenden. Bei Weber ist stets von .einer Person' und bei Luhmann von ,Ego' und ,Alter' die Rede. (iii) Die historisch-dynamische bzw. kommunikativ-dynamische Herangehensweise in der Tradition von Foucault und Habermas: Foucault kritisiert Abstraktionen wie oben als ahistorisch und „affirmative Behauptung: ihr seid ja immer schon in der Falle";8 statt dessen geht es Foucault um eine „genealogische Analytik" historischer Machtkämpfe zwischen unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräften: „Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhaltnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; [...] und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen. [...] die Macht ist nicht eine Institution, nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in der Gesellschaft gibt." (Foucault, 1976/1977,8. 113f.)
Die Zusammenstellung erscheint gewagt: Doch auch Habermas bewegt sich in der von Foucault beschriebenen Richtung. Allerdings fügt er der historisch-dynamischen Dimension eine kommunikativ-dynamische hinzu, indem er von Verständigungsprozessen spricht, „die sich einerseits in der institutionalisierten Form von Beratungen in parlamentarischen Körperschaften sowie andererseits im Kommunikationsnetz politischer Öffentlichkeiten vollziehen":9 „Diese subjektlosen Kommunikationen, innerhalb und außerhalb der politischen [...] Körperschaften, bilden Arenen, in denen eine [...] Meinungs- und Willensbildung über gesamtgesellschaftlich relevante Themen und regelungsbedürftige Materien stattfinden kann. Die informelle Meinungsbildung mündet in institutionalisierte Wahlentscheidungen und legislative Beschlüsse, durch die die kommunikativ erzeugte Macht in administrativ verwendbare Macht transformiert wird." (Habermas, 1996, S. 288)
Damit ist die Abkehr von Machtmodellen markiert, die von der Vorstellung einer stabilen Ressourcen- und Machtverteilung ausgehen. (iv) Die genetisch-spieltheoretische Herangehensweise von Sofsky und Paris:10 Der Ausgangspunkt hier ist die Vorstellung von einem immer wieder offenen Spiel um die Macht. Im Zentrum steht nicht die Frage, wie sich eine als vorhanden gedachte Macht (kommunikativ) auswirken kann, sondern warum Menschen in Machtbeziehungen eintreten. Es sind komplexe soziale Bedürfnisse und Beziehungen (.Machtfigurationen'), denen die Macht ihre Existenz verdankt. Politisch elementare Machtfigurationen sind nach Sofsky und Paris Autoritäts-, Stellvertretungs- und Koalitions-Beziehungen." Sie lassen sich schematisch folgendermaßen wiedergeben: Foucault, Michel: Sexualität und Wissen. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Übersetzt von Ulrich Rauf und Walter Seitter. Frankfurt/M. 1976/1977, S. 103. Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt/M. 1996, S. 288. Sofsky, Wolfgang; Paris, Rainer: Figurationen sozialer Macht. Autorität, Stellvertretung, Koalition. Frankfurt/M. 1994. 1 ' Vgl. Sofsky; Paris, 1994, S. 13f.
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Autorität
Stellvertretung
Koalition
Figuration
dyadisch (inklusive latenter Dritter und Vierter)
triadisch (inklusive der Bürger)
triadisch (exklusive der Bürger)
beteiligte Individuen, Gruppen
Autorität Autoritätsgläubige
Delegierter Auftraggeber Kontrahent(en)
eigene Partei alliierte Partei gegnerische Partei/ Koalition
Gründe
Bedürfnis der Autoritätsgläubigen nach Entlastung von eigener Verantwortung und Bündelung .ausfransender' Realitätsinterpretationen durch die Autorität
Bedürfnis der Auftraggeber nach Austragung und Losung von Konflikten mit Dritten durch den Delegierten
Bedürfnis von Kontrahenten, die Trümpfe zusammenzulegen, um gemeinsam zu erreichen, was allein nicht zu realisieren ist
Soziale Auswirkungen
Eintreten in den Definition eines komplexen Netzes von Bezie- sozialen Konflikt, eine Handlungszone sui hungen generis
Handlungszone I Zuschreibung und Anerkennung von Autorität, Forderungen an die Autorität
II Werben um das Mandat III Konflikt mit dem Dritten
Eintreten in eine instrumenteile Partnerschaft, eine Handlungszone von hohem Exklusivitätsgrad IV Verhandlung, Kooperation, gemeinsamer Kampf
Diese genetisch-spieltheoretische Perspektive auf die politische Macht - insbesondere die Differenzierung verschiedener Handlungszonen - ist vorzüglich geeignet, politologisches, soziologisches und linguistisches Wissen so zusammenzuführen, dass einerseits die skizzierten Machtaspekte in ihrer Gesamtheit zu integrieren sind und andererseits der historische und kommunikativ-dynamische Charakter des politischen Sprachgebrauchs greifbar wird. So liegt der Gedanke nahe, die von Sofsky und Paris beschriebenen A/acA/spiele und ihre Handlungszonen linguistisch als Sprachspiele zu beschreiben.12 Die an Wittgenstein angelehnte Metapher Sprachspiel dient hier nicht als „Ordnungsbegriff'13, um das Unterscheidende und Trennende der vielfältigen Formen politischen Sprachgebrauchs zu betonen. Es geht im Gegenteil darum, das Gemeinsame, die vielfältigen Überschneidungen und Übergänge der politischen Sprachspiele in den Blick zu nehmen und auf deren .Familienähnlichkeiten' aufmerksam zu machen.
12
13
Dieser Gedanke hat eine längere linguistische Tradition. Vgl. z. B. Grünert, Horst: Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte in ihrer Verflechtung, in: Besen, Werner; Reichmann, Oskar; Sonderegger, Stefan (Hgg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 1. Hbb. Berlin/New York 1984, S. 29-37. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1) Grunert, 1984, S. 3If.
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2. Sprachspiele um die politische Macht Die politische Macht ist ein fragiles soziales Gebilde, das durch fortwährende Kommunikation in den vier oben genannten ,Handlungszonen' erzeugt wird. Unter machtanalytischen Vorzeichen14 können folgende Sprachspieltypen als grundlegend für die Kommunikation der Politiker gelten: - Sprachspiele der persönlichen Beziehungsgestaltung - Sprachspiele der Parteienwerbung - Sprachspiele der parlamentarischen Konfliktaustragung - Sprachspiele der interfraktionellen Koalitionsverhandlung
Der Witz der Sprachspiele zur persönlichen Beziehungsgestaltung zwischen einem Politiker und seinen Anhängern (Handlungszone I) besteht darin, dass die Anhänger dem Politiker die Rolle einer Autorität15 zuschreiben und dieser im Gegenzug den Rollenerwartungen und Forderungen durch entsprechendes Handeln auch tatsächlich entspricht. Die Forderungen an einen Politiker betreffen ein bestimmtes Persönlichkeitsbild (mit Eigenschaften wie Glaubwürdigkeit oder Tatkraft) und seine Fähigkeit, Orientierung zu vermitteln (zu »integrieren1, wie Politiker sagen). Denn im Akt der Autoritätszuschreibung wird bereits eine wichtige soziale Orientierungsleistung erfüllt: „Indem ich den einen als Autorität anerkenne und dadurch die anderen nicht, definiere ich nicht nur eine, sondern ein ganzes Geflecht von Beziehungen." (Sofsky; Paris, 1994, S. 23)
Sprachspiele dieses Typs sind am ehesten ,normalsprachlicher' Natur, und zwar mit allen Vor- und Nachteilen für die Politiker. Der Hauptnachteil lässt sich am Begriff der Glaubwürdigkeit demonstrieren, den Heringer16 folgendermaßen charakterisiert: „Glaubwürdigkeit ist [...] keine selbständige, keine monologische Eigenschaft, sondern ihrer Natur nach ein kommunikativer Begriff. Glaubwürdig kann man nicht allein sein. Glaubwürdig ist der, von dem die anderen glauben, daß er nicht lügt." (Heringer, 1990, S. 32)
Das „kommunikative Urvertrauen"17, das sich in jeder Glaubwürdigkeitszuschreibung der Anhänger ausdrückt, ist durch politische Affären und Skandale der Politiker schon oft enttäuscht worden. Der General verdacht der Lüge schwebt infolgedessen über jedem noch so gut gemeinten Versuch eines Politikers, seine Machtambitionen ,im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern' zu legitimieren. Dieser in Autoritätsbeziehungen bereits angelegte Verdacht sorgt auch dafür, dass sprachliche Handlungsmittel, die in der .normalsprachlichen' Beziehungskommu14
1
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Traditionelle Typologien der politischen Sprache gehen im wesentlichen von Funktionskatalogen der Parlamentarismusforschung aus; vgl. Holly, Werner: Politikersprache. Inszenierungen und Rollenkonflikte im informellen Sprachhandeln eines Bundestagsabgeordneten. Berlin/New York 1990, S. 29-39. Sofsky; Paris, 1994, S. 43-97, unterscheiden die Amts-, Sach-, Organisations-, Funktionsund charismatische Autorität. Heringer, Hans Jürgen: Politische Glaubwürdigkeit - Betrachtungen eines moralisierenden Linguisten, in: Stickel, Gerhard (Hg.): Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven. Berlin/New York 1990, S. 30-44. (IdS Jahrbuch 1989) Heringer, 1990, S. 32.
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nikation probat sind (wie etwa beziehungsklärende Expressiva), in der politischen Kommunikation das odium der Unaufrichtigkeit an sich haben.1* Die Sprachspiele der Parteien-Werbung und der parlamentarischen Konfliktaustragung (Handlungszonen II und III) müssen im Zusammenhang betrachtet werden. Beide Typen von Sprachspielen sind der Stellvertretungsbeziehung zuzuordnen, die per defmitionem eine triadische Figuration ist:19 „Der Delegierte handelt für den Auftraggeber gegenüber einem Dritten, einem Kontrahenten oder Rivalen. [...] Der Delegierte Überbrückt zwei Handlungszonen. Mit dem Ersten verbindet ihn das Mandat, mit dem Dritten der Konflikt. In jeder Region gelten andere Regeln und Verkehrsformen." (Sofsky; Paris, 1994, S. 158f.)
Die Übertragung des politischen Mandats vom Wähler auf den Kandidaten einer politischen Partei ist das zentrale Sprachspiel in repräsentativen Demokratien. Es wird vorbereitet in einer Sequenz von „bilateralen Verhandlungsspielen"20 zwischen Wählern und Parteipolitikern, wie sie sich im Wahlkampf zeigen: Der Parteipolitiker legt sich auf ein politisches .Angebot4 fest, und der Wähler überträgt im Gegenzug das .Mandat' - freilich in der Annahme, dass das Angebot nach der Wahl auch umgesetzt wird.21 Der Witz der Sprachspiele der Parteienwerbung ist es, den Wählern gute Gründe dafür zu liefern, das Wahlkreuz an der richtigen Stelle zu machen. Diese Gründe verweisen zum einen zurück in die Handlungszone I der persönlichen Beziehungsgestaltung und zum anderen voraus auf die Handlungszone III der parlamentarischen Konfliktaustragung. Hier sind es .Leistungsbilanzen' über erfolgreiche Kämpfe mit dem parlamentarischen Gegner, dort sind es die Formen der politischen .Personalisierung' (inklusive der gegnerbezogenen Diskreditierungsvarianten), die bevorzugt als sprachliche Handlungsmittel eingesetzt werden. Das Problem ist hier wie dort, dass die Politiker eine gleichermaßen verständliche und zweckdienliche Kommunikation kaum leisten können. Denn zum einen sind die Spielregeln der parlamentarischen Arbeit den in dieser Hinsicht laienhaften Anhängern in ihrer Komplexität nicht vermittelbar. Und zum anderen führen die Anhänger parlamentarische Erfolge in den seltensten Fällen auf das Wirken glaubwürdiger und integrer Persönlichkeiten zurück, sondern auf taktische und strategische Geschicklichkeit - Verhaltensweisen, die eigentlich (wenn es nicht gerade um die eigenen Delegierten geht) als abstoßend empfunden werden.
18
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Vgl. zum .Ehrenwort' Heringer, Hans Jürgen: „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort". Politik, Sprache, Moral. Frankfurt/M. 1990; zum .Loben', .Danken' und .Gedenken' den Beitrag von Peter-Paul König in diesem Band. Hier, in der Machtdimension des Politischen, liegt der tiefere Grund für die .Trialogizität' öffentlicher politischer Äußerungen; vgl. dazu Dieckmann, Walther: Politische Sprache. Politische Kommunikation. Vortrage, Aufsatze, Entwürfe. Heidelberg 1981, S. 218. Wolf, Georg: Parteipolitische Konflikte. Geschichte, Struktur und Dynamik einer Spielart der politischen Kommunikation. Tübingen 1998, S. 130. (Beiträge zur Dialogforschung 18) Dieser Charakterisierung liegt ein .Markt-Modell' der Politik zugrunde; vgl. Habermas, 1996, S. 282, und Klein, Josef: Dialogblockaden. Dysfunktionale Wirkungen von Sprachstrategien auf dem Markt der politischen Kommunikation, in: Diekmannshenke; Klein (Hgg.), 1996, S. 3-29 (vgl. Fußnote 2).
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Außerdem ist stets zu berücksichtigen, dass der Gegner von heute der Koalitionspartner von morgen sein könnte. Die Sprachspiele der interfraktionellen Koalitionsverhandlung (Handlungszone IV) leben geradezu vom arcanum-Gsdanken: Die Spitzen der Parteipolitik lassen sich in der Koalitionsfrage nur höchst ungern in die Karten schauen - auch nicht im Dienste der Nähe zur Anhängerschaft. Diese Geheimhaltung liegt erneut weniger in den persönlichen Neigungen der Spitzenpolitiker begründet als vielmehr in handfesten Systemzwängen: Politische Koalitionen sind instrumenteile Bündnisse, „in denen die Interaktionsteilnehmer einander als Mittel für den jeweils eigenen Erfolg instrumentalisieren".22 Diese harte machtpolitische Realität lässt sich ungebrochen kaum in die Handlungszone I vermitteln, wo ja von den Politikern in erster Linie bestimmte charakterliche Eigenschaften (Glaubwürdigkeit, Integrationskraft etc.) gefordert werden; die Spitzenpolitiker reagieren, so Luhmann, auf die öffentliche Beobachtung mit zwei „funktional äquivalenten Strategien - Geheimhaltung und Heuchelei".23
3. Sprechen über Politiker Aus einer machtanalytischen Perspektive heraus ist die Kommunikation von .Normalsprechern' über Politiker in der Handlungszone I anzusiedeln. Es handelt sich um Sprachspiele, die den Zweck haben, die Beziehungen zwischen Bürgern und ,ihren' Politikern zu gestalten. Für Politiker, die diese Sprachspiele als notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für ihr .eigentliches' politisches Handeln in den Handlungszonen II bis IV wahrnehmen, ist im gegenwärtigen politischen Diskurs das Hauptproblem, dass die Zuschreibung und Anerkennung politischer Autorität durch die Bürger kaum (mehr) vorausgesehen werden kann. Dies ist im wesentlichen eine Folge der massenmedialen, insbesondere fernsehgebundenen Vermittlung der Politik. Denn die jüngere linguistische Rezeptionsforschung im Bereich des politischen Leitmediums Fernsehen zeigt folgendes Bild: 24 -
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Die Rezipienten sind nur in .weicher Kopplung', d. h. wenig aufmerksam mit dem Femsehen verbunden. Politische Sendungen geben oft nur Themenimpulse, die dann eigenständig weiterverfolgt werden. Die Wahrnehmung ist extrem selektiv, d. h. es kommt zu unpolitischen .Fokusverschiebungen1, Missverständnissen und Fehlverstehen.
Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M. 1984, S. 577. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 2., erw. Auflage. Opladen 1996, S. 185. (I.Auflage 1995) Zum Folgenden vgl. Holly, Werner: Hier spricht der Zuschauer. Ein neuer methodischer Ansatz in der sprachwissenschaftlichen Erforschung politischer Fernsehkommunikation, in: Diekmannshenke; Klein (Hgg.), 1996, S. 101-121, hier vor allem S. 114-118 (vgl. Fußnote 2).
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Die Interpretationsleistungen der Rezipienten sind geprägt durch die Anschließbarkeit des Dargestellten an die eigene alltägliche Lebenswelt; diesbezügliche Unideutungen sind häufig. Bewertungen haben eine emotionale und evaluative Ausrichtung, d. h. sie sind stark personenorientiert und gekennzeichnet durch das Bestreben, in der Gruppe Anerkennung zu finden.
Die Politiker reagieren - wie Klein am Beispiel des Bundestagswahlkampfs 1998 zeigt - auf diesen Trend zum Lebensweltlichen mit „Schlagwörtern aus dem Arsenal der Alltagslogik".25 Die ,Alltagslogik' ist eben nicht auf die Macht, das genuin politische Ziel, ausgerichtet, sondern entwirft eine Art alltäglicher Parallelwelt zur Machtpolitik. Hier geht es um die Artikulation von lebensweltlich geprägten Meinungen und nicht um die machtbewusste Artikulation von politischen Interessen: „Da an Meinungen keine so hohen Anforderungen wie an Interessen gestellt werden, können, ja müssen sie sogar ihren lebensweltlichen Hintergrund beibehalten. Da sie zudem primär auf .Gesinnungen' beruhen, können von ihnen weder Objektivität noch ein besonderes Maß an Vernünftigkeit erwartet werden. Der Umgang mit komplexen Sachverhalten, wie z. B. solchen der Politik, ist in Meinungen deshalb stark vereinfacht. Komplizierte Sachfragen werden personalisiert, mit unterhaltenden Elementen angereichert und selektiv auf den eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhang bezogen. Meinungen müssen zwar begründet, aber nicht empirisch belegt werden. Von daher sind sie jederzeit revidierbar, also auch offen." (Czerwick, 1996, S. 62)
Das heißt aber keineswegs, dass Meinungskundgaben unpolitisch wären; sie haben ihre Position in den Handlungszonen I und II und beziehen sich mithin auf diejenigen Figurationen, in denen die .Normalsprecher' auch tatsächlich eine aktive Rolle spielen. Nun ist aber zeitgleich ein Trend zu beobachten, der mit dem bereits oben angedeuteten ,Teamchef-Verhalten umschrieben werden kann: Es handelt sich um eine Art semi-professioneller Kommentierung politischen Handelns, die stark vom politischen Journalismus beeinflusst ist26 und sich vor allem in den sogenannten .Neuen Medien' artikuliert. Als Beispiele für diese beiden Trends können zwei Passagen aus einem Chat mit Angela Merkel27 dienen; (1) illustriert die Tendenz zur ,Alltagslogik', (2) die Tendenz zur ,Semi-ProfessionaIität': (1) MEMO 01.03.2000 13:03:30: „Frau Merkel, Sie wollen Vorsitzende werden. Was können Sie besser als Ruhe, Rüttgers und Co" [keine Antwort von Angela Merkel]
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Vgl. Klein, Josef: Sprachstrategien im Bundestagswahlkampf 1998, in: Sprachreport IS/3 (l999), S. 20-27, hier S. 24. Klein, 1999, S. 27, spricht von einem „neuen Typ der medialen Wahlkampfkommentierung, der Äußerungen von Wahlkämpfem nicht nach Plausibilität und Glaubwürdigkeit, sondern nach wahlkampfstrategischer Geschicklichkeit beurteilt". Der Chat mit Angela Merkel vom 01.03.2000 war unter einem Link einsehbar, den die CDU im Februar zur Parteispendenaffare um Helmut Kohl eingerichtet hatte (http://www.cdu.de/ politik/wasnun/chat0103.htm). Dieser Link wurde Mitte März wieder aufgehoben.
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Georg Wolf (2) mamoO 1.03.2000 12:59:34: „Hallo Frau Merkel, bin .konservatives' SPD-Mitglied (s. SPIEGEL), aber, Sie werden lachen, ich wünsche mir eine starke, .reformierte' CDU, eine kraftvolle Opposition. Mit Ihnen an der Spitze kann ich mir eine solche Entwicklung vorstellen. Wie stehen Sie dazu?" [keine Antwort von Angela Merkel]
Beitrag (1) bewegt sich ganz im Rahmen dessen, was ein Parteianhänger oder Wähler nach der .Alltagslogik' wissen muss, um sich hinsichtlich einer Autoritätszuschreibung (Handlungszone I) oder Mandatsübertragung (Handlungszone II) eine Meinung zu bilden. Beitrag (2) rekurriert stattdessen auf die Handlungszonen III und IV, d. h. es geht um Fragen der parlamentarischen und regierungsseitigen Machtverteilung („kraftvolle Opposition"). Da nicht anzunehmen ist, dass sich hinter dem Nickname ,mamo' beispielsweise Gerhard Schröder verbirgt, darf die Art der Frageeinfilhrung als Hinweis darauf gelten, dass ein .Normalsprecher' - durch „Spiegel"-Lektüre ins Bild gesetzt - die ,große Politik' nachspielt. Der Beitrag hat nur formal den Charakter einer Frage; offensichtlich kommt es hier darauf an, machtpolitisches Expertenwissen zu demonstrieren und sich in dieser Hinsicht von der Expertin Angela Merkel bestätigen zu lassen. Diese Tendenz zur politischen Semi-Professionalisierung des Publikums dürfte in Zukunft dazu führen, dass sowohl der politische Journalismus als auch die Politiker selbst verstärkt diesem Bedürfnis nach spielerischer Teilhabe nachkommen und Einblicke in die Spielregeln der Machtpolitik gewähren werden - freilich nur wohldosierte Einblicke, denn eine Autorität, die bereits in der Handlungszone I ihr Wissen mit allen teilt, ist keine mehr. Falls sich diese Prognose bewahrheiten sollte, könnte man von einer politischen .Inszenierung zweiter Ordnung' sprechen.
4. Die Kommunikation der Politiker als Mannschaftsspiel Angesichts der gegenläufigen Tendenzen in der öffentlichen Wahrnehmung politischen Handelns - .Alltagslogik' vs. ,Semi-Professionalität' - stellt sich die Frage, welches linguistische Beschreibungskonzept geeignet ist, die dargelegten Machtfigurationen und die darin stattfindenden kommunikativen Prozesse angemessen zu beschreiben. Franz Hundsnurscher sieht die politische Kommunikation im Zusammenhang einer zu entwickelnden linguistischen „Institutionentheorie", die eine „Theorie institutioneller Zwecke" und die empirische Erhebung „historischer Diskurstypen" - d. h. „institutionsspezifischer Kommunikationsformen" umfassen müsse.28 Der institutionelle Status der politischen Kommunikation ist in der linguistischen Forschung seit jeher unumstritten.29 Heikler ist die Frage, wer denn eigentlich die .Agenten' der politischen Institutionen sind und welche linguistischen Kategorien an deren kommunikatives Rollenverhalten anzulegen sind. So 28 29
Vgl. Hundsnurscher. 2000. Vgl. z. B. Dieckmann, 1981, S. 221.
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ist der für eine pragmatische Beschreibung so zentrale Begriff Intention alles andere als unproblematisch: „Wenn der Handelnde seine Handlungen als Rollenträger in einer Institution ausführt, ist die Annahme eines grundlegenden subjektiven Moments in seinem Handeln entweder überflüssig oder vielleicht sogar falsch. Wesentlich für das Verständnis seiner Handlung durch den Partner ist die korrekte Rolleneinschätzung, und insofern wir .Handlung' weiterhin mittels des Intentionsbegriffs definieren wollen, weiterhin von .institutionellen Handlungen', speziell [...] .Sprechhandlungen' reden wollen, benötigen wir einen nicht-subjektivistischen Intentionsbegriff."30
Nun weist aber Dieckmann zu Recht darauf hin, dass in der institutionellen, und speziell in der politischen Kommunikation sehr wohl ,subjektivistische' Handlungskonzepte existieren,31 wie der Begriff der politischen Verantwortung belegt.32 Gesucht ist also eine linguistische Beschreibung, die individuelles Handeln und rollengeprägtes Kollektiwerhalten gleichermaßen zu konzeptualisieren vermag. Ich schlage vor, die Kommunikation der Politiker linguistisch als komplexes Mannschaftsspiel zu beschreiben. Der ,genuin politische Zweck' solcher Mannschaftsspiele liegt darin, in den verschiedenen Handlungszonen der politischen Macht zu .punkten', also Autorität (I), Mandate (II), die Konflikthoheit im Parlament (III) und schließlich mächtige Koalitionen (IV) zu erzielen. Die jeweils historischen .Spielverläufe' werden sowohl durch das individuelle Handeln von exponierten Einzelspielern (,Solisten') als auch durch das Kollektiwerhalten von Mannschaftsteilen oder ganzen Mannschaften bestimmt.33 Es ist eine Frage der jeweiligen Kommunikationsstrategie, welche .Spielweise' zu einer gegebenen Zeit bevorzugt wird, wobei die Erarbeitung solcher Strategien in den Planungsstäben der Parteien ihrerseits als Mannschaftsspiel beschrieben werden kann. In die hiesige politische Terminologie übersetzt heißt das: Politisches Handeln ist parte/politisches Handeln. Die politischen Parteien sind die Mannschaften, die vor Publikum in den verschiedenen Sprachspielen um die politische Macht antreten. Einige Sprachspiele (z. B. die Parteien Werbung oder Koalitionsverhandlungen) sind die Domäne spezialisierter Mannschaftsteile, die sich im Laufe der Parteiengeschichte herausgebildet haben, während andere
31 32
Dittmann, Jürgen: Institutionen und sprachliches Handeln, in: Dittmann, Jürgen (Hg.): Arbeiten zur Konversationsanalyse. Tübingen 1979, S. 214. Vgl. Diekmann, 1981, S. 234f. Mit guten Gründen geht schon Max Weber (1921/1972, S. 6) vom Handeln der Individuen aus: „Für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie sind dagegen diese Gebilde [Staaten, Genossenschaften etc.; G. W.] lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese allein für uns verständliche Träger sinnhaft orientierten Handelns sind." Hans-Jürgen Bucher (Pressekritik und Informationspolitik, in: Bucher, Hans-Jürgen; Straßner, Erich: Mediensprache, Medienkommunikation, Medienkritik. Tübingen 1991, S. 38) benutzt diese Metapher für das kommunikative Zusammenspiel in Presse-Redaktionen: „Das Spiel einer Mannschaft als .spontane Ordnung' besteht zwar aus individuellen Einzelhandlungen, erschöpft sich aber weder darin, noch ist es Ergebnis einer übergeordneten, individuellen Planung (beispielsweise des .Spielmachers' oder des Trainers). Entscheidend ist die Koordination der Einzelaktionen im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel, auch unabhängig von individuellen Absichten der Einzelakteure."
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Sprachspiele (v. a. die persönliche Beziehungsgestaltung) kommunikative Daueraufgaben für alle Mannschaftsmitglieder - insbesondere für die Solisten - bereithalten. Das Publikum beeinflusst alle Spiele durch seine Meinungskundgaben und Forderungen und entscheidet (anders als im Sport) im zentralen Sprachspiel, dem Wahlkampf, über Sieg und Niederlage. Unabhängig davon, ob es sich zeitweilig verdrossen vom Spielgeschehen abwendet oder als ,Teamchef jede Einzelaktion kommentiert - das Publikum ist für die Politiker immer präsent und wirkt auf das Spielgeschehen ein. Die vorgeschlagene Mannschaftsperspektive wirkt sich vor allem in zwei Punkten auf die linguistische Konzeptualisierung politischer Sprachhandlungen aus. Erstens: Politische Sprachhandlungen sind stets Handlungen im Rahmen von Machtfigurationen, in denen die Parteien als Hauptakteure zu gelten haben. Es wäre verfehlt, angesichts der komplizierten Binnenstruktur der Parteien (mit ihren verschiedenen Gremien und Parteiflügeln) individualistisch von der .Intention' zu sprechen, die ein Politiker mit einer bestimmten Sprachhandlung verfolgt. Politische Parteien sind „spezialisierte Interessenvermittlungs-Agenturen"34, und das Handeln der Parteipolitiker sollte daher als w/eressegeleitetes Handeln verstanden werden. .Interessen' aber haben a priori eine duale Struktur, sie sind Einzelleistung und Mannschaftsleistung zugleich. „Sie sind zum einen sowohl individuelle Lebensäußerung und -Orientierung als auch gesellschaftlich vermittelt, d. h. durch die sozioökonomische Position des einzelnen (und die mit ihr verbundenen Rollenerwartungen) vorgeprägt; in ihnen vereinen sich auf verzwickte Weise individuelles Wollen und gesellschaftliche Imperative. Zum anderen enthalten sie eben auf Grund dieser Zweiseitigkeit stets sowohl ein subjektiv-.willkürliches' als auch ein objektiv-,wahres' Moment." (Abromeit, 1993, S. 2) Zweitens: Politische Sprachhandlungen entfalten ihr kommunikatives Potential im Kontext politischer Sprachspiele, die a) als Mannschaftsspiele und b) als Machtspiele in aufeinander bezogenen sozialen Figurationen eine komplexe Sequenzstruktur aufweisen. Einer politischen Sprachhandlung eine bestimmte kommunikative Funktion zuzuschreiben heißt, ihr Zustandekommen im Rahmen des parteipolitischen Mannschaftsspiels zu rekonstruieren und ihre Position in den oben skizzierten machtpolitischen Handlungszonen zu bestimmen. Insofern die konkreten Sprachhandlungen der Politiker Produkte komplexer mannschaftsinterner Abstimmungsprozesse und Repräsentationen politischer Interessen darstellen, haben wir es mit strategischer Kommunikation zu tun. Der Begriff der Strategie reflektiert alle genannten Funktionsaspekte der Kommunikation der Politiker: Die Mannschaft konzipiert ihre Spielstrategie a) nach Maßgabe ihrer parteipolitischen Interessen, b) in Einschätzung der machtpolitischen Rahmenbedingungen und c) gemäß ihren Annahmen Über die Strategien der politischen Gegner. Ein Großteil solcher Strategien ist im Verlauf der politischen Geschichte zu strategischen Maximen oder .Dramaturgien' kondensiert. Doch momentan - im Umfeld von politischen Affären und
Abromeit, Heidrun: Interessenvermittlung zwischen Konkurrenz und Konkordanz. Studienbuch zur Vergleichenden Lehre politischer Systeme. Opladen 1993, S. 28.
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Skandalen - verändern sich die machtpolitischen Rahmenbedingungen, und zwar vor allem im Hinblick auf die Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums. Man darf also gespannt darauf sein, ob die Politiker mit neuen Strategien darauf reagieren werden. Dabei wird dem Internet und den Möglichkeiten, direkten Kontakt mit den Politikern aufzunehmen, eine zentrale Rolle zukommen. So sei abschließend ein weiteres Beispiel aus dem Chat mit Angela Merkel zitiert, aus dem hervorgeht, dass die Vorstellung des politischen .Mannschaftsspiels' ebenso der Selbstwahrnehmung eines bestimmten (neuen?) Politikertyps entspricht wie auch der Intuition einer ,NormaIsprecherin' aus dem Publikum.35 Ich sehe darin eine Ermutigung, den Mannschaftsgedanken auch empirisch zu Zwecken der Elizitierung von Aussagen über die Kommunikation der Politiker zu nutzen. (3) Carolin 01.03.2000 13:27:11: „Frau Dr. Merkel: Sie haben in einem Interview richtigerweise darauf hingewiesen, dass es nicht nur auf den Kapitän, sondern auf die gesamte Mannschaft und deren Zusammenspiel ankommt. Zur Zeit wird nur über wenige Namen öffentlich diskutiert. Wer sind denn aus Ihrer Sicht die Personen, die in der CDU-Spitzenmannschaft mitspielen sollten?" „an carolin: Ich kann naturlich nicht die Wahlen vorweg greifen, aber für mich gehören Volker Ruhe, J. Rüttgers, CHRistian Wulff, annette Schavan und Peter Müller als Beiospiele dazu [sie]. Das ist aber nicht alles!"
Man darf wirklich gespannt sein.
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Chat mit Angela Merkel vom 01.03.2000: http://www.cdu.de/politik/wasnun/chat0103.htm
Wolfgang Niehüser
Symbolische Kommunikation als Chance - das Problem der Rückgewinnung von Reputation
1. Das Grundproblem Die Bundesrepublik Deutschland wird zu Beginn des neuen Jahrtausends von einer politischen Krise bislang nicht gekannten Ausmaßes erschüttert. Obwohl Wissenschaftler in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Zunahme politischer Skandale registriert haben, scheint mit der Diskussion um die ,Schwarzen Kassen' der CDU eine neue Dimension erreicht worden zu sein. Die Bevölkerung bringt gegenwärtig staatlicher Politik nicht nur- wie Ebbighausen es formuliert - „eine gewachsene Legitimationsempfindlichkeit" entgegen,1 sondern bezweifelt in zunehmendem Maße generell die Integrität ihrer Entscheidungsträger. Dies kann sich auf die Stabilität des Gemeinwesens in nicht vorhersehbarer Weise auswirken. Aus diesem Grund fordern Politiker aller Parteien gegenwärtig einhellig, daß die vorrangige Zukunftsaufgabe darin bestehen müsse, das Vertrauen der Wähler zurückzugewinnen. Konzepte, wie dieses Ziel zu erreichen ist, sind jedoch derzeit noch nicht zu erkennen. Röglin (1990) hat im Rahmen der PR-Diskussion auf die generelle kommunikative Problematik eines solchen Vorhabens hingewiesen. Er fragt zurecht: „Verdient Vertrauen, wer um Vertrauen wirbt?"2 Bei der Lösung dieses Problems sind zudem allgemeine gesellschaftliche Entwicklungstendenzen zu beachten - insbesondere die ungeheure Vermehrung und Beschleunigung von Kommunikation am Ende des 20. Jahrhunderts. Alle Beteiligten am Kommunikationsprozeß - ob sie Informationen produzieren oder rezipieren - geraten unter immer stärkeren Druck. Die Konsumenten reagieren auf die steigende Informationsflut mit Desinteresse und Mißtrauen. Dem einzelnen fällt es immer schwerer zu entscheiden, was von dem vielen, was ihm geboten wird, für ihn wichtig sein könnte. Aber nicht nur die Relevanz, auch die Glaubwürdigkeit der einzelnen Information wird zunehmend in Zweifel gezogen. Zu vieles wird versichert, behauptet und versprochen. „Man hört einander immer weniger zu, wenn die Worte nicht das halten, was sie versprechen."
Ebbighausen, Rolf: Skandal und Krise. Zur gewachsenen „Legitimationsempfindlichkeit" staatlicher Politik, in: Ebbighausen Rolf; Neckel, Sighard (Hgg.): Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt a. M. 1989, S. 171-200. Röglin, Hans-Christian: Verdient Vertrauen, wer um Vertrauen wirbt?, in: pr-magazin 8 (l990), S. 143-165.
Münch, Richard: Dialektik der Kommunikationsgesellschaft. Frankfurt a. M. 1991, S. 104.
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Wolfgang Niehüser
Kommunikationsbarrieren bauen sich auf, der einzelne wird immer schwerer erreichbar. Die Produzenten von Kommunikation reagieren darauf zumeist so, daß sie ihre Anstrengungen verstärken. Kommunikation wird aufwendiger, drastischer, spektakulärer und - in quantitativer Hinsicht - häufiger; erfolgreicher wird sie dennoch zumeist nicht. Münch hält es für geboten, über „eine diskursive Abrüstung auf beiden Seiten"4 nachzudenken. Verständigung wird sich danach zukunftig wohl weniger durch ein Mehr an Kommunikation, als vielmehr durch andere Arten von Kommunikation erreichen lassen. Gesucht werden Kommunikationsformen, die den Rezipienten nicht immer stärker bedrängen, sondern ihm die Freiheit der Entscheidung lassen. So wird sich Vertrauen nur dort einstellen können, wo kommunikative Aktivitäten auf anschauliche und exemplarische Weise ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis stellen. Bei der Wiedergewinnung von Reputation - als einer der zentralen Aufgaben der Kommunikationsgesellschaft - werden nach meiner Auffassung symbolische Ausdrucksformen einen immer größeren Stellenwert gewinnen. Im ursprünglichen Sinne waren Symbole (griech. .Zusammenfügung') Erkennungszeichen. Ein Ring, ein kleines Bild oder ein Siegelabdruck wurden dazu in zwei Teile zerbrochen. Wenn befreundete Personen für längere Zeiten getrennt waren und durch die Vermittlung eines Boten wieder miteinander in Kontakt treten wollten, konnte dieser durch das Präsentieren und Zusammenfügen der Bruchstücke glaubhaft seine Identität unter Beweis stellen. Diese Doppelstruktur ist auch in dem heutigen Verständnis des Wortes noch weitgehend enthalten. Mit dem Wort Symbol beziehen wir uns üblicherweise auf Darstellungen und Gegenstände, die einen einfachen oder komplexen Bedeutungsgehalt vermitteln (z. B. Kreuz, Ring, Rose, Stern, Taube etc.). Das Symbol als Vereinigung von Sichtbarem und Unsichtbarem kann als eine Art Kommunikationskürzel5 fungieren, das in komprimierter Form komplexe Erfahrungen zum Ausdruck bringt. So entfaltet es als politisches Symbol6 eine starke Integrationskraft und kann Solidarisierungs- und Mobilisierungseffekte auslösen. Käsler verweist in diesem Zusammenhang (in Anlehnung an Edelmann) auf sogenannte „Verweisungssymbole",7 die zu allen Zeiten von militärischen wie auch zivilen Systemen kreiert werden (Fahnen, Orden, Wappen etc.). Diese sollen Verständigung ermöglichen und politische und gesellschaftliche Inhalte transportieren. „Oft dienen sie dazu, gemeinsames Handeln zu gewährleisten, also einen Ordnungs- und Integrationseffekt zu erzielen". 4
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Münch, 1991, S. 106. Scharfenberg, Joachim; Kämpfer, Horst: Mit Symbolen leben. Soziologische, psychologische und religiöse Konfliktbearbeitung. Freiburg 1980. Kunzli, Arnold: Die Funktion der Symbolik in der Politik, in: Benedetti, Gaetano; Rauchfleisch, Udo (Hgg.): Welt der Symbole. Interdisziplinäre Aspekte des Symbolverständnisses. Göttingen 1988, S. 234-246. Vgl. Käsler, Dirk: Der Skandal als „politisches Theater", in: Ebbighausen, Rolf; Neckel, Sighard (Hgg.): Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt a. M. 1989, S. 307-333; Edelmann, Murray: Politik als Ritual. Frankfurt a. M. 1976. Käsler, 1989,8.319.
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Die Beschäftigung mit religiösen, künstlerischen oder politischen Symbolen vollzieht sich in den entsprechenden Wissenschaftsdisziplinen vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Interpretation. Mir geht es in diesem Beitrag dagegen vor allem um die Erörterung zweier Fragestellungen: 1) Welchen Stellenwert haben symbolische Elemente im Rahmen der öffentlichen Kommunikation? 2) Bieten symbolische Kommunikationsformen eine Ergänzung oder Alternative zu Kommunikationsformen, die vorrangig auf InformationsUbermittlung abzielen? Sind sie vielleicht eher in der Lage, Verständigungsprozesse zu erleichtern und zur Vertrauensbildung beizutragen?
2. Der Mensch als „animal symbolicum" Für den Kulturphilosophen Ernst Cassirer ist das Symbol ein Schlüssel zum Verständnis der besonderen Stellung des Menschen in der Evolution.9 Der Mensch ist nach seiner Auffassung das einzige Lebewesen, das in einer so umfassenden Weise Symbole verwendet und sich dadurch einen ganz eigentümlichen und unverwechselbaren Zugang zur Wirklichkeit verschafft. Die großen Kulturleistungen - Cassirer zählt dazu Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft - sind Versuche, die Welt zu gliedern, zu deuten und zu verstehen. Durch die Entwicklung dieser Systeme entwirft der Mensch ein eigenes, symbolisches Universum. Entscheidend ist das Merkmal der Konstruktion. Schon die Sprache ist keine bloße Abbildung oder Verdopplung der physikalischen Welt, sondern deren Gliederung nach menschlicher Perspektive. Stärker noch wird der kreative Aspekt des Symboldenkens im Bereich des Mythos, der Kunst und schließlich der Wissenschaft sichtbar. Je mehr sich der Mensch in seine selbst konstruierten „Symbolnetze einwebt" - wie Cassirer sagt - sie ausdifferenziert und verfeinert, desto stärker tritt die rein physische Realität zurück und die Symboltätigkeit gewinnt an Raum. Dieser Prozeß ist unumkehrbar, der Glaube an einen rein natürlichen und unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit eine bloße Illusion. „Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam standig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe".
Konsequenterweise definiert Cassirer deshalb den Menschen auch als „animal symbolicum".
Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. Berlin 1923-1927. Cassirer, Ernst: Versuch Über den Menschen. Eine Einführung in eine Philosophie der Kultur. Frankfurt a. M. 1990, S. 50. (Original: An Essay on Man. New Haven 1944)
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Diese Überlegungen sind in zweifacher Hinsicht von Interesse. Sie zeigen zum einen, daß die Symbolsysteme als Ausdruck von Aktivität verstanden werden können. Der Mensch erschließt und konstruiert sich dadurch ,seine' Wirklichkeit. Andererseits hat der Mensch aber auch gleichzeitig ein passives Verhältnis zu seinen Symbolsystemen. Wenn sie einmal etabliert sind, bestimmen sie die Art und Weise, wie er die Dinge sieht. Diese suggestive Kraft ist von Kritikern - insbesondere unter dem Aspekt ihrer Funktionalisierung zu propagandistischen Zwecken - immer wieder betont worden." Der Hinweis, daß Symbole auch zu ideologischen Zwecken verwendet werden, daß sie Menschen manipulieren, verführen und fanatisieren können, sollte jedoch den Blick nicht dafür verstellen, daß sie ein unverzichtbarer Bestandteil der Alltagskommunikation geworden sind. Sie helfen oft, das zum Ausdruck zu bringen, was durch reine Informationsübermittlung nicht oder nur ungenügend kommuniziert werden kann. Insbesondere wenn es um eine bewußte Gestaltung einer Organisationskultur geht, wird der Grundsatz an Bedeutung gewinnen, daß nicht alles, was vermittelt werden soll, auch ausgesprochen werden muß.
3. Dinge, die etwas zum Ausdruck bringen Eine Untersuchung symbolischer Kommunikationsformen gelangt schnell über den traditionellen Bestand (Wappen, Orden, Fahnen, Farben, Statuen) hinaus. Wir haben uns daran gewöhnt, eine Vielzahl weiterer Phänomene ebenfalls mit diesem Begriff zu bezeichnen. Dazu einige Beispiele aus der Tagespresse: -
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Der Rucktritt eines bedeutenden russischen Reformpolitikers wird von einer Zeitschrift mit der Überschrift kommentiert: „Ein Symbol geht." Ein Artikel über die Pläne des Künstlers Christo, den Berliner Reichstag einzupacken, tragt den Titel „Symbolische Handlung". Wasserschaden an dem Rohbau eines Bonner Abgeordnetenhauses provozieren eine Zeitschrift zu der Stellungnahme: „Tiefgarage, Heizungskeller und Archivräume des Schürmann-Baus wurden über Nacht zum Symbol im Kleinkrieg im Umzug von Regierung und Parlament an die Spree." Ein überdimensionales Lebkuchenherz, das auf einer Karnevalsveranstaltung überreicht wird, veranlaßt den Berichterstatter zu der Schlagzeile: „Ein süßes Riesenherz mit Symbolcharakter."
Personen, Handlungen, Gebäude und sogar Nahrungsmittel können - wie die Beispiele zeigen - in bestimmten dafür geeigneten Konstellationen zu Symbolen werden. Sie bekommen dann neben dem, was sie buchstäblich bedeuten, eine zusätzliche Bedeutungsdimension, sie werden zu Ausdrucksträgern. Dabei ist gar nicht immer erforderlich, daß etwas bewußt als Symbol intendiert war. Die Erbauer des Bonner Abgeordnetenhauses hatten zweifellos überhaupt nicht Vgl. dazu z. B. Überhorst, Horst: Fest, Fahnen, Feiern. Die Bedeutung politischer Symbole und Rituale im Nationalsozialismus, in: Voigt, Rodiger (Hg.): Politik der Symbole, Symbole der Politik. Opladen 1989, S. 157-178.
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im Sinn, ihre Position zum Umzug des Parlaments nach Berlin zum Ausdruck zu bringen. Die Aufdeckung des Symbolcharakters dieses Gebäudes ist erst das Resultat einer interpretatorischen Anstrengung. Diesem Bemühen sind aber Grenzen gesetzt. Ausdrucksträger und Inhalt müssen in einem stimmigen Verhältnis zueinander stehen. Der Rücktritt eines Politikers kann nur dann als Symbol eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses (hier des Scheiterns der Reformbewegung in Rußland) gedeutet werden, wenn diese Person im Rahmen der Reformbewegung eine wichtige Rolle gespielt hat, so daß sich diese Strömung in ihm in gewisser Weise personifiziert. Die Ermittlung des symbolischen Gehalts wird entschieden begünstigt, wenn der Ausdrucksträger ein traditionelles Element aufweist wie etwa in der Kette Lebkuchenherz - Herz - herzliche Atmosphäre. Ihre unmittelbare Verständlichkeit muß ihre Wirksamkeit keineswegs einschränken - ganz im Gegenteil. So sind die großen Schwierigkeiten, die der Verwirklichung des Plans entgegenstanden, den Berliner Reichstag zu verhüllen, sicherlich zu einem großen Teil auch darauf zurückzuführen, daß der symbolische Charakter dieser Aktion vielen Beobachtern nur schwer vermittelt werden konnte. Der Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmahl des Warschauer Gettos am 7. Dezember 1970, dem Tag der Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen, ist ein Beispiel für die ungeheure Wirksamkeit symbolischer Handlungen. Dieser Kniefall war so bedeutungsträchtig, weil er in einem sehr umfassenden Sinne gedeutet wurde: Das gefürchtete und gehaßte Deutschland sinkt in der Person des Regierungschefs demütig vor den nationalstolzen Polen nieder und bittet um Verzeihung. Diese Geste trug dazu bei, die Glaubwürdigkeit des Vertragsabschlusses zu erhärten. Sprachliche Beteuerungen hätten diesen Effekt kaum erreichen können. Der Kniefall ist ein Beispiel, wie eine Handlung zu einem Symbol werden kann. Er verweist - nach dem Muster ,pars pro toto' - auf einen komplexen Zusammenhang (die Beziehung zwischen Polen und Deutschen) und reduziert ihn auf ein einziges augenfälliges Moment (Demut/Entschuldigung/Trauer). Die Handlung als Symbol beschwört nicht nur einen Wandel in der Einstellung der Deutschen zu den Polen, sondern macht ihn augenfällig, unmittelbar einsichtig und emotional nachvollziehbar. Ich fasse die ersten Ergebnisse meiner Überlegungen zusammen. Das Symbol -
verweist immer auf etwas anderes;
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bewirkt Reduktion von Komplexität;
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ist wahrnehmbar sinnlich;
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vermittelt Emotionalität statt Rationalitat.
„Es ist die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache" (Goethe).
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4. Zwei grundlegende Arten von Symbolen Wenn man über symbolische Verständigung spricht, müssen zwei Bereiche auseinandergehalten werden: Symbole, die bezeichnen, und Symbole, die etwas zum Ausdruck bringen.13 Verkehrs- und Hinweisschilder sind zum Beispiel Symbole, die fast ausschließlich eine Bezeichnungsfunktion haben. Sie verweisen im öffentlichen Leben auf Orte, Gegenstände und Personen. Darüber hinaus haben sie keine weitere Bedeutung. Daneben gibt es Symbole, die etwas zum Ausdruck bringen. Diese Funktion tritt fast immer im Zusammenhang mit der buchstäblichen auf. Kleidung ist z. B. das, was sie ist (sie bekleidet), kann aber darüber hinaus die Position in einem gesellschaftlichen Gefüge zum Ausdruck bringen. Durch einen bestimmten Kleidungsstil kann eine Person signalisieren, daß sie sich zu einer bestimmten sozialen Gruppe zählt, gleichzeitig grenzt sie sich dadurch von anderen Gruppen ab. Symbole dieser Art identifizieren und unterscheiden zugleich.14 Ein Gruß ist zunächst ein Zeichen für Bekanntschaft, kann aber auch durch die Weise, wie er vollzogen wird (flüchtig, aufwendig, ehrerbietig, humorvoll, unterwürfig, etc.), die Einstellung eines Menschen zu einem anderen zum Ausdruck bringen. Eine Türbeschriftung an einem Büro bezeichnet die Person, die sich in diesem Raum aufhält, kann aber auch durch das Fehlen oder Vorhandensein hierarchischer Hinweise etwas über den Charakter der kommunikativen Beziehungen in einer Organisation verraten. Kein Gegenstand, Ereignis oder Verhalten ist so unbedeutend, daß ihnen nicht in geeigneten Zusammenhängen eine Ausdrucksfunktion zukommen könnte.
5. Worauf sich Symbole beziehen Der amerikanische Philosoph Nelson Goodman hat nach Ernst Cassirer im letzten Jahrhundert die wohl bedeutendsten Forschungen zur Entwicklung einer allgemeinen Symboltheorie durchgeführt.15 Es ging ihm dabei weniger um die Frage, was Symbole bedeuten, sondern vielmehr darum, wie Symbole bedeuten. Das heißt, er wollte - einfach gesagt - wissen, wie Symbole funktionieren. Goodman verwendet
Zur Kennzeichnung dieser Unterscheidung werden in der Literatur verschiedenartige Begrifflichkeiten verwendet. Populär ist die auf Sapir zurückgehende Unterscheidung von Verweisungs- und Verdichtungssymbolen. Susanne Langer (Feeling and Form. New York 1953) differenziert zwischen diskursiven und präsentativen Symbolen. Zu den Theorien über das Verhältnis von Zeichen und Symbol vgl. Loftier, Heinrich: Das sprachliche Symbol, in: Benedetti, Gaetano; Rauchfleisch, Udo (Hgg.): Welt der Symbole. Interdisziplinäre Aspekte des Symbolverständnisses. Göttingen 1988, S. 23-37. Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a. M. 1991. Vgl. dazu insbesondere Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie. Frankfurt a. M. 1973; Goodman, Nelson: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a. M. 1984; Goodman, Nelson: Vom Denken und anderen Dingen. Frankfurt a. M. 1987; Goodman, Nelson; Elgin, Catherine Z.: Revisionen. Frankfurt a. M. 1989.
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ähnlich wie Cassirer diesen Begriff sehr weit. Er faßt darunter Buchstaben, Worte, Texte, Bilder, Diagramme, Karten, Modelle, aber auch Skulpturen und Bauwerke. Wenn man wissen will, wie Symbole funktionieren, muß man nach seiner Auffassung verschiedene Formen der Bezugnahme unterscheiden. Dabei stehen drei Typen im Vordergrund, von denen die letzten beiden zu einer Gruppe zusammengefaßt werden können: 1) Repräsentation und 2) Exemplifikation und Ausdruck. Alle drei Mittel der Bezugnahme sind eng miteinander verbundene Weisen der Symbolisierung. Das Verständnis der Repräsentationsbeziehung macht dabei die geringsten Schwierigkeiten. Bei der Repräsentation nimmt ein Symbol (ein Wort, ein Bild) als eine Art Etikett auf ein Objekt Bezug, z. B. das Wort Tisch auf den Gegenstand Tisch. Ich habe diesen Symboltyp oben „Symbole, die bezeichnen" genannt. Wichtig ist der Gegensatz zwischen Repräsentation auf der einen Seite und Exemplifikation und Ausdruck auf der anderen Seite. Bei einem repräsentativen Symbol ist die Bedeutung der Gegenstand, auf den es sich bezieht. Bei dem anderen Typ (ich habe ihn oben als „Symbole, die etwas zum Ausdruck bringen" bezeichnet) ist das Symbol mit dem Gegenstand identisch, aber seine Bedeutung ist nicht unmittelbar klar. Wir gehen also hier vom Gegenstand aus und müssen erst Eigenschaften und Merkmale finden, die wir dann dem Symbol als seine Bedeutung zuschreiben. Diese etwas komplizierte Beschreibung ist notwendig, um zu verstehen, was es heißt, daß eine Sache (ein Symbol) etwas zum Ausdruck bringt. Manchmal kann man dem Symbol in gewisser Weise schon ansehen, was es kommuniziert. Dann ist das gesuchte Merkmal eine der buchstäblichen Eigenschaften des Gegenstandes selbst. Goodman erläutert dies am Beispiel der Stoffprobe. Sie ist etwa ,gelb', .kariert', ,aus Wolle', .rechteckig' und .nicht sehr groß'. Von diesen fünf Eigenschaften werden jedoch nur die ersten drei hervorgehoben oder mit Goodman zu sprechen - „exemplifiziert". Stoffproben exemplifizieren im Normalfall nicht Viereckigkeit oder Größe. Eine Stoffprobe ist deshalb ein Symbol, weil sie nach dem Muster ,pars pro toto' auf ein größeres Ganzes (z. B. einen Teppichboden) Bezug nimmt. Ausdruck im Goodmanschen Sinne ist eine besondere Form der Exemplifikation. Manche Symbole haben Eigenschaften, die ihnen nicht im buchstäblichen Sinne zukommen. Wir sagen zum Beispiel, daß ein Bild Traurigkeit oder Schwermut zum Ausdruck bringt. Traurig zu sein ist aber im buchstäblichen Sinne keine Eigenschaft eines Bildes als eines physikalischen Gegenstandes. Das Merkmal ,traurig' kommt dem Bild nur im übertragenen Sinn zu, wird von ihm metaphorisch exemplifiziert. Diesen Vorgang nennt Goodman „Ausdruck". Symbole, die etwas zum Ausdruck bringen, funktionieren also so, daß sie bestimmte Eigenschaften, die ihnen buchstäblich oder metaphorisch zukommen, in besonderer Weise hervorheben. Andere Eigenschaften des Gegenstandes können dagegen auf seine Bedeutung überhaupt keinen Einfluß haben. So wurde der symbolische Gehalt des Kniefalls von Willy Brandt wahrscheinlich über-
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haupt nicht davon beeinflußt, welchen Mantel er zu diesem Anlaß angezogen hatte oder aus welchem Material seine Schuhe waren. Wenn wir sagen, daß ein auffällig pompöses Bürogebäude etwas Über den Charakter dieses Unternehmens verrät, dann orientieren wir uns dabei unter Umständen nur an einem seiner Merkmale, zum Beispiel seiner Größe, und schließen daraus auf seine Bedeutung und seinen Einfluß. Ein Beispiel aus der Unternehmenskommunikation kann das Zusammenwirken der unterschiedlichen Symboltypen veranschaulichen. So stand (und steht) im traditionellen Verständnis bei einem Geschäftsbericht die Repräsentationsbeziehung im Vordergrund. Die abgedruckten Texte nehmen Bezug auf die Unternehmensdaten, die im abgelaufenen Geschäftsjahr von Bedeutung waren. Wenn jedoch der gesamte Geschäftsbericht (als materielles Objekt) als Ausdruck der Unternehmensidentität verstanden werden soll, dann gewinnen auch seine formalen Eigenschaft an Bedeutung, d. h. dann kommen auch die anderen symbolischen Beziehungsformen ins Spiel. Der Geschäftsbericht als ganzer (und nicht nur als Ansammlung von Texten) exemplifiziert so immer einige seiner Eigenschaften (z. B. die Papierqualität, den Umfang, das Format). Der Produzent des Geschäftsberichts muß sich fragen, ob dies in ausreichendem Maße deutlich wird. Nur dann, wenn das Produkt wirklich nachhaltig bestimmte seiner Merkmale exemplifiziert, ist es originell und kann dadurch Aufmerksamkeit und Beachtung auf sich ziehen. Hier wird dann nicht nur mit Worten kommuniziert, sondern gerade die formalen Eigenschaften des Berichts vermitteln überaus komplexe Inhalte. Es kann daher viel effektiver sein, Kreativität durch die Wahl verschiedener Gestaltungsmittel zum Ausdruck zu bringen, als sie einfach nur zu behaupten („Wir sind ein kreatives Unternehmen"). Offenbar spielt auch hier die symbolische Ebene eine bedeutende Rolle. Sie könnte der Bereich sein, wo Dinge vermittelbar sind, die sich einer rein sprachlichen Bewältigung weitgehend entziehen. Von überragender Bedeutung ist darüber hinaus die Ausdrucksbeziehung. Im Normalfall streben Produzenten von Geschäftsberichten nicht nur an, irgendwelche formalen Merkmale zu exemplifizieren, sondern diese sollen zumeist darüber hinaus bestimmte metaphorische Eigenschaften (z. B. Innovationsfähigkeit, Kompetenz, Verläßlichkeit) zum Ausdruck bringen. Die gewählten Darstellungsmittel müssen geeignet sein, das grundlegende Selbstverständnis des Unternehmens zu kommunizieren. Erst dann, wenn sämtliche symbolischen Formen bei der Gestaltung beachtet und reflektiert werden, kann der Geschäftsbericht mehr sein als eine Ansammlung von Texten oder eine bloße Anhäufung formaler Besonderheiten - er wird zu einem echten Imageträger der Organisation.
6. Warum Symbole Menschen bewegen Symbole sind materielle Gegebenheiten, die sinnlich erfahren werden können und als Träger komplexer Bedeutungsgehalte fungieren. Entscheidend ist, daß sie diese Informationsfülle in einem Moment darbieten, sie sind präsentativ.
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Wenn bei einer Siegerehrung die Flagge des Landes aufgezogen und die Nationalhymne gespielt wird, stellt sich bei dem Betrachter Rührung ein. Für einen Moment ist alles Trennende und Negative vergessen und die Nation als sinnstiftende und einheitsbildende Gemeinschaft beschworen. Das Symbol „analysiert nicht, sondern es synthetisiert".16 Es ist von daher nicht erstaunlich, daß die Menschen bei jeder Revolution zunächst die Symbole der alten Macht wütend attackieren. Fahnen werden verbrannt, Statuen zerstört und Regierungsgebäude verwüstet. Das Allgemeine der alten Ordnung, das so schwer greifbar ist, verkörpert sich sinnfällig in den Symbolen und kann scheinbar durch deren Vernichtung quasi miteliminiert werden. Daß sich faktisch dadurch wenig ändert, scheint dabei niemanden zu bekümmern. Bei aller Kritik an der VerfÜhrbarkeit der Menschen durch symbolische Inszenierungen in totalitären Staaten sollte nicht vergessen werden, daß symbolische Kommunikation nicht einfach durch rein rationale Diskurse ersetzbar ist. In ihr drücken sich auch immer Grundbedürfhisse des Menschen wie Emotionalität und der Wunsch nach Geborgenheit und der Teilnahme an einem größeren Ganzen aus. Im Unterschied zum Zeichen, das in Kommunikationsprozessen meist unmittelbar verstanden wird, eröffnet das Symbol immer einen weiten Bedeutungshorizont, der die symbolische Verständigung aber häufig auch problematisch macht. Insbesondere bei der Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen kommt es immer wieder zu Mißverständnissen. Büß nennt dafür zwei Beispiele: „Grün heißt bei uns Naturverbundenheit, Gesundheit, Frische - aber in tropischen Ländern wird die Farbe Grün mit Krankheit verbunden; Fatal ist es z. B. in Singapur zur Geburt eines Kindes mit einem Gruß zu reagieren, bei dem der Storch abgebildet ist. In Singapur ist der Storch Symbol für Kindbettod."17
Trotz dieser Gefahren sollten die Vorteile symbolischer Verständigung im Auge behalten werden: Symbole aktivieren Gefühlsqualitäten, die bei rein rationalen Verständigungsweisen zu kurz kommen; sie erleichtern die Kommunikation, weil in ihnen komplexe Erfahrungsbereiche komprimiert zum Ausdruck kommen können; sie helfen, das zu kommunizieren, was durch Worte oft nicht erfaßt werden kann.
7. Funktionen von Symbolen Ich fasse die wichtigsten Funktionen symbolischer Kommunikation zusammen: 16
Symbole sind Kommunikationskürzel, sie bringen komprimiert komplexe Erfahrungen zum Ausdruck; Symbole haben eine Integrationskraft; sie lösen Solidarisierungs- und Mobilisierungseffekte aus; Symbole schaffen Verhaltenssicherheit (z. B. durch ritualisterte Abläufe);
Künzli, 1988, S. 235. Büß, Eugen: Probleme der Verständigung. Unveröffentlichtes Manuskript. 1990, S. 17.
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Symbole signalisieren Zugehörigkeit; sie identifizieren Menschen als Angehörige einer bestimmten Gruppe, grenzen sie aber gleichzeitig dadurch von anderen Gruppen ab; Symbole sind Ausdruck einer bestimmten Wirklichkeitserfassung; sie helfen, die Wirklichkeit zu interpretieren, indem sie ein einzelnes Ereignis in einen umfassenden Sinnzusammenhang einordnen; Symbole kommunizieren gefühlsmäßige Einstellungen; Symbole sind einheitsstiftend und können dadurch auch scheinbar widersprüchliche Bedeutungen zusammenfassen (z. B. das Kreuz als Symbol für Tod und Leben).
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8. Symbolische Vermittlung von Imagedimensionen Die Impression-Management-Theorie18 hat grundlegende Strategien der Selbstdarstellung ermittelt, mittels derer sich ein Akteur bemüht, eine langfristig gültige, positive Reputation zu erwerben, die auch über unterschiedliche Situationen hinweg gültig ist. Das Ziel ist dabei, die Mitmenschen davon zu Überzeugen, daß man über folgende zentrale Eigenschaften verfügt: Kompetenz, Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit, Attraktivität, Status und Offenheit. Im Rahmen meiner Problemstellung interessiert mich insbesondere die Frage: Inwieweit spielen bei der Umsetzung dieser Strategien direkte sprachliche Selbstcharakterisierungen eine Rolle? Von besonderem Interesse sind für mich die Kernbereiche Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz. Die Vermutung, daß Vertrauenswerbung durch direkte Selbstcharakterisierung ein verbreitetes Mißtrauen - z. B. der Öffentlichkeit gegenüber Institutionen und Unternehmen - nur noch verstärkt, wird durch den Blick auf alltägliche Interaktionssituationen bestätigt. Äußerungen der Art: Das kannst du mir glauben. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich versichere dir, daß es sich so zugetragen hat.
werden normalerweise nicht zu Beginn bestimmter Dialogsequenzen getätigt, sondern erfolgen zumeist erst dann, wenn der Gesprächspartner mehr oder minder deutlich seinen Zweifel an der Wahrheit einer Behauptung oder der Aufrichtigkeit eines Versprechens zu erkennen gegeben hat. Hinweise auf die eigene Vertrauenswürdigkeit sind daher ein deutliches Indiz dafür, daß eine Vertrauensbeziehung schon nicht mehr besteht oder zumindest gefährdet ist. Luhmann19 geht noch ein Stück weiter, wenn er im Hinblick auf die verwandte Imagedimension Aufrichtigkeit bemerkt, daß sie generell inkommunikabel sei, „weil sie durch Kommunikation unaufrichtig wird". Niemand muß meinen, was er sagt - z. B. wenn er jemandem einen „Guten Morgen" wünscht. Andererseits kann aber auch keiner sagen, daß er meint, was er sagt. „Man kann es zwar sprachlich ausführen, aber die Beteuerung erweckt Zweifel, wirkt also gegen die Absicht". (Luhmann, 1984, S. 208) 18
Vgl. dazu Mummendey, Hans D.: Psychologie der Selbstdarstellung. Göttingen 1990, S. 141 ff Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt a. M. 1984.
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Aus diesen Überlegungen wird deutlich, daß Vertrauenswürdigkeit als zentrale Imagedimension nicht durch direkte sprachliche Selbstcharakterisierung vermittelt werden kann. Sie kommt vielmehr im Gesamtverhalten einer Person zum Ausdruck. Sie zeigt sich zum Beispiel darin, daß die faktische Basis für Behauptungen aufweisbar ist und auch darin, daß auf Ankündigungen und Versprechungen wirklich ein entsprechendes Verhalten eintritt. Vertrauenswürdigkeit kann also nur indirekt - symbolisch - vermittelt werden. Bei der Darstellung der eigenen Kompetenz als einer zweiten wichtigen Imagedimension können sowohl direkte als auch indirekte Selbstcharakterisierungen zur Anwendung kommen. Wie Mummendey20 betont, wird insbesondere von jungen Berufsanfängern erwartet, daß sie „ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen". Sie werden oft gar nicht umhin können, ihre Fähigkeiten, die sie noch nicht unter Beweis stellen konnten, Vorgesetzten oder älteren Kollegen immer mal wieder in Erinnerung zu bringen. Der Hinweis, daß man eine bestimmte Fertigkeit besitzt oder diese oder jene Tätigkeit schon einmal ausgeübt hat, kann so den Ausschlag geben, daß man für interessante Aufgaben überhaupt erst in Betracht gezogen wird. Vollmundige Kompetenzzuschreibungen sind jedoch nicht ohne Risiko. Insbesondere im Berufsleben wird früher oder später die Situation eintreten, wo der Fähigkeitsnachweis bei einer konkreten Aufgabenbewältigung erbracht werden muß. Erst im Handeln zeigt sich, ob die Kompetenz eines Akteurs akzeptiert wird. Bei erfolgreichem Ausgang wird man in Folge auf direkte Kompetenzhinweise verzichten, sich bescheiden geben und versuchen, in der kompetenten Bewältigung der Alltagsroutine beständig weitere Indizien für die eigene Leistungsfähigkeit zu sammeln.
9. Schlußfolgerung Im Hinblick auf meine Ausgangsfragestellung ergibt sich für mich zum Abschluß folgendes Bild. Vertrauenswerbung kann selbst in unproblematischen Kommunikationssituationen nicht durch sprachliche Selbstcharakterisierungen praktiziert werden. In einem Kontext, der durch einen vorausgegangenen Skandal und ein dadurch entstandenes allgemeines Mißtrauen der Öffentlichkeit geprägt ist, wird diese Methode in einer noch ausgeprägteren Form ihr Ziel verfehlen. Die Erlangung von Vertrauenswürdigkeit erfolgt im Rahmen einer Impression-Management-Strategie, d. h. sie ist nur über einen langen Zeitraum hinweg zu realisieren. Die kurzfristige Beteuerung, daß alles wieder in Ordnung sei und man von nun an den Entscheidungsträgern in der Politik wieder vertrauen könne, muß deshalb als kontraproduktiv angesehen werden. Dem könnte entgegengehalten werden, daß durch den Sprechakt der Entschuldigung ein sprachliches Instrument zur Verfügung steht, durch das eine unmittelbare Reparatur eines Imageschadens herbeigeführt werden kann. Dieser Einwand ist nicht unbegründet. Der strategische Wert von Entschuldigungen 20
Mummendey, 1990, S. 141 f.
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wird vielfach noch unterschätzt. Sie sind nicht einfach nur Demutsgesten, die dem Eingeständnis einer Niederlage gleichkommen. Sie sind vielmehr, wie Goffman dargelegt hat,21 der Versuch, den anderen davon zu überzeugen, daß das unerwünschte Ereignis kein Ausdruck der wahren Persönlichkeit des Attackierten ist. Jemand, der sich entschuldigt, spaltet sein Ich gewissermaßen in zwei Teile auf. Der eine Teil, das ,böse Ich', hat eine beklagenswerte Handlung ausgeführt; dieses Ich existiert jedoch nicht mehr. Der andere Teil, das ,gute Ich', blickt auf diesen Vorfall mit Abscheu zurück und gibt gleichzeitig zu verstehen, daß sich das Ereignis nicht wiederholen wird. Schlenker22 verweist auf zwei weitere Effekte: Entschuldigungen machen zum einen Bestrafungen überflüssig, denn der Reumütige macht durch sein Verhalten deutlich, daß eine Besserung schon eingetreten ist; eine Bestrafung hätte daher nur noch die Funktion der Rache. Der Angegriffene kann zudem seine Selbstbezichtigung so weit treiben, daß die anderen das Bedürfnis verspüren, ihn wieder aufzurichten, indem sie selbst die positiven Seiten seines Charakters hervorheben. In ihrer frühen dialoggrammatischen Analyse der Vorwurf-Rechtfertigungs-Interaktion haben Fritz/Hundsnurscher23 die Entschuldigung als einen möglichen Endpunkt dieser Sprechaktsequenz bestimmt und aufgezeigt, daß dem Attackierten im Vorfeld noch eine Vielzahl anderer Züge offenstehen: Er kann zum Beispiel ausweichen, seine Verantwortung abstreiten oder Rechtfertigungen vorbringen. Im Unterschied dazu wird einem Akteur im Rahmen einer öffentlichen Verteidigung diese Flexibilität nicht zugestanden. Die Öffentlichkeit erwartet, daß er sich auf eine Verteidigungsstrategie festlegt und dann auch dabei bleibt. Eine Entschuldigung ist also nur dann ein guter Zug, wenn im Vorfeld auftaktische Manöver anderer Art verzichtet worden ist. Erfolgt sie nur unter dem Zwang weiterer angedrohter Enthüllungen, entwertet sie sich selbst. Im Blick auf die Ereignisse in den ersten Monaten des Jahres 2000 ist es verblüffend zu beobachten, wie wenigen Spitzenpolitikern diese einfache Kommunikationsregel bekannt ist. Für die Rückgewinnung von Reputation ist ein langer Atem erforderlich. Wir sind nur dann bereit, einer Person, die uns enttäuscht hat, wieder zu vertrauen, wenn sie über einen großen Zeitraum hinweg ein konsistentes positives Gesamtverhalten an den Tag legt. Für den Betroffenen bedeutet das, daß er in dieser Phase den symbolischen Ausdruckswert jeder seiner Handlungen genau bedenken muß. Denn nur über diese Ebene vermittelt sich seine Vertrauenswürdigkeit. Dabei sind kurzfristige Erfolge - etwa durch spektakuläre Inszenierungen mit hoher Symbolkraft - nicht zu erwarten. Ihr strategischer Hintergrund würde sofort durchschaut. Vielmehr gilt es, das Image der attackierten Person wieder konsequent aufzubauen. Dabei ist das grundlegende Prinzip symbolischer Kommunikation zu beachten: Entscheidend ist nicht, was gesagt wird, sondern was zum Ausdruck kommt. Vgl. Goffman, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Frankfurt a. M. 1982, S. 161. (Original: Relations in Public. Microstudies of the Public Order. London 1971) Vgl. Schlenker, Barry R.: Impression Management. The Self-Concept, Social Identity, and Interpersonal Relations. Belmont, CA 1980. Fritz, Gerd; Hundsnurscher, Franz: Sprechaktsequenzen. Überlegungen zur VorwurfTRechtfertigungs-Interaktion, in: Der Deutschunterricht 27 (1975), S. 81-103.
Karin Luttermann
Gerichtskommunikation und Gesprächsanalytisches Integrationsmodell
1. Einführung Wer kennt nicht das Märchen der Gebrüder Grimm von Rotkäppchen: Ein kleines Mädchen mit roter Kappe trifft auf dem Weg zu seiner Großmutter im Wald einen Wolf. Der eilt zum Haus voraus, frißt zuerst die alte Frau und dann das Mädchen auf. Ein Jäger findet den schlafenden Wolf, schneidet ihm den Bauch auf und befreit beide. Auf Juristendeutsch könnte das etwa so klingen: In S. wohnhaft ist eine Minderjährige aktenkundig, welche infolge ihrer hierorts Üblichen Kopfbedeckung gewohnheitsmäßig Rotkäppchen (R.) genannt wird. R. begegnete im Wald einem streunenden Wolf. Vorbenannter merkte, daß R. zu ihrer Großmutter (G.) eilends war und faßte Tötungsabsicht, die er unmittelbar zum Schaden der R. und dann auch der G. ins Werk setzte. Der auf Dienstgang befindliche Förster (F.) erlegte den Wolf in Nothilfe (§ 32 Abs. 2 Strafgesetzbuch, StGB) und stieß dabei auf die noch lebenden R. und G.1 Soweit das Märchen. Die Übertreibung veranschaulicht: Rechtssprache erschwert die Kommunikation zwischen Experten und Laien. Vor Gericht tritt das bei der Sachvernehmung zutage. Sie wird am Beispiel des Straftatbestandes „Diebstahl" (§ 242 Abs. l StGB) nach thematisch-inhaltlichen Strukturen mit dem Gesprächsanalytischen Integrationsmodell (GIM) untersucht (dazu Ziffern 4-8). Hier nehmen der Richter und der Angeklagte unterschiedliche Perspektiven auf die außersprachliche Wirklichkeit ein: Der Angeklagte kennt die Tat. Wie verteidigt er sich? Welche Einzeltatsachen gibt er preis? Worauf stellt er besonders ab? Der Richter dagegen kennt die Merkmale der Tat und die Rechtsfolgen. Wie vernimmt er? Wie übersetzt er das Deliktwissen für den Sprachhorizont des Angeklagten? Auf welche Merkmale geht er besonders ein? Diese Fragen werden für die Praxis (Ziffer 9) unter Beachtung des Phasenzwecks (Ziffer 2) und der Redeorganisation (Ziffer 3) beantwortet. Wir beginnen mit dem Phasenzweck.
Vgl. Ladnar, Ulrike; von Plottnitz, Cornelia: Fachsprache der Justiz. Frankfurt am Main 1976, S. 121.
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2. Gang der Hauptverhandlung und Zweck der SachVernehmung Jede Hauptverhandlung - ob sie nun zivilen oder öffentlichen Charakter hat - verläuft nach bestimmten Ordnungskriterien. Verhandlungen in Strafsachen richten sich nach der Strafprozeßordnung (StPO). Sie trennt acht unterschiedlich komplexe funktional-thematische Gesprächsphasen (§§ 243ff. StPO): 1. Aufruf der Sache und Feststellung der Beweismittel. 2. Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse. 3. Verlesung des Anklagesatzes. 4. Belehrung über Aussagefreiheit und Vernehmung des Angeklagten zur Sache. 5. Beweisaufnahme. 6. Plädoyers und letztes Wort. 7. Urteilsberatung. 8. Urteilsverkündung. Die Phasen sollen die für die materielle Wahrheitsfindung und Ausübung von Prozeßrechten erforderliche Übersichtlichkeit sicherstellen. Sie sind nacheinander abzuhandeln.2 Die Sachvernehmung ermöglicht dem Angeklagten, sich gegen den Anklagevorhalt zusammenhängend zu verteidigen. Er kann umfassend auf die Vorhaltungen reagieren und die ihn begünstigenden Tatsachen herausstellen. Sie folgt nach der Belehrung, aber vor der Beweisaufnahme, damit der Richter alle Einlassungen berücksichtigen und die Beweismittel ausschöpfen kann. Er muß den Hinweis auf Aussagefreiheit - möglichst mit dem Gesetzeswortlaut des § 243 Abs. 4 S. l StPO - selbst erteilen. Davor darf er den Angeklagten nicht veranlassen, sich durch Kopfschütteln oder Kopfnicken zu den Anklagepunkten zu äußern.3 Ist der Angeklagte zur Aussage bereit, muß er das mündlich tun. Denn nur, was in der Hauptverhandlung zur Sprache kommt, darf in das Urteil einfließen. Die StPO regelt die Redevergabe.
3. Redeorganisation Die Prozeßbeteiligten agieren kraft ihrer Prozeßrolle in einem gesetzlich abgesteckten Rahmen. Die StPO begründet und beschränkt ihre Handlungsmöglichkeiten. Sie bildet somit Rollenerwartungen aus und gibt Kommunikationswege vor. Nach Wassermann besteht zwischen den Beteiligten eine Interrelation. Sie haben spezifische Positionen, die ihr Verhältnis zueinander beschreiben, und Rollen, die durch gegenseitige Erwartungen, das Normprogramm und die Deutung des Positionsinhabers bestimmt werden.4 Der Richter verwaltet die Redeorganisation. Er erteilt und entzieht das Wort, kann intervenieren und Verstöße gegen geltende Interaktionsregeln sanktionieren. Das Rederecht der anderen ist da-
Davon kann abgewichen werden, wenn der Verhandlungsaufbau insgesamt gewahrt bleibt und die Prozeßbeteiligten keine Einwendungen erheben. Die Vernehmung bis nach der Beweisaufnahme zurückzustellen, ist unzulässig. Wohl aber können mit Zustimmung des Angeklagten Teile davon vorgezogen werden (z. B. Verlesung von Vernehmungsprotokollen). Wassermann, Rudolf: Die richterliche Gewalt. Heidelberg 1985, S. 189-190.
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gegen abgeleitet und zeitlich begrenzt. Ihre Redeanteile hängen stark vom richterlichen Verhandlungsstil ab. Wie gestaltet sich nun das Rederecht bei der Vernehmung des Angeklagten zur Sache? Die Vernehmung durch den Richter ist obligatorisch. Er muß den Angeklagten beiragen und sich zuerst ein persönliches Bild vom Tathergang verschaffen. Der Staatsanwalt und der Verteidiger können den Angeklagten befragen. Ob sie das tun oder nicht, liegt am Sachstand. Aufgabe des Staatsanwalts ist, objektiv zur Sachaufklärung beizutragen und auf eine vollständige Erörterung des Prozeßstoffs hinzuwirken. Der Verteidiger darf Belastendes weglassen. Entlastendes muß er vorbringen sowie Widersprüche in der Beweisführung aufdecken. Der Angeklagte ist Prozeßsubjekt mit eigenen Rechten. Er kann sich zur Anklage äußern, seine Sicht der Dinge darlegen und Verdachtsgründe entkräften. Zu seiner eigenen Überführung muß er nicht beitragen. Insoweit kann er schweigen. Damit kommen wir zum GIM.
4. Gesprächsanalytisches Integrationsmodell Das GIM baut auf Annahmen der Dialoggrammatik und Konversationsanalyse zur Beschreibung von kommunikativ-funktionalen und thematisch-inhaltlichen Strukturen institutioneller Gespräche auf.5 Es verbindet die theoretisch-statische Perspektive mit der empirisch-dynamischen Perspektive in vier Schritten: Theorie-, Empirie-, Ergebnis- und Vergleichsmuster. Der Integrationsansatz überwindet so die mit der perspektivischen Verengung der traditionellen Modelle einhergehenden Vereinzelungen im Untersuchungsergebnis. Er bietet neue Möglichkeiten zu interdisziplinärer Arbeit in Institutionen, hier in der Institution Recht. Das Theoriemuster besteht im prozessualen und matriell-rechtlichen Rahmenprogramm. Das Empiriemuster enthält das faktische Handlungswissen je eines Gesprächspartners. Das Ergebnismuster verallgemeinert tatsächliche Wissensbestände mehrerer Gesprächspartner und leitet Gesetzmäßigkeiten ab. Das Vergleichsmuster vergleicht Experten- und Laienwissen und arbeitet empirisch beobachtete Strukturen in das Theoriemuster ein, sofern sie mit dem formellmateriellen Recht zu vereinen sind. Die theoretischen Überlegungen sind damit auf der Basis neuer empirischer Befunde revidierbar. Wir wenden das GIM praktisch auf § 242 StGB an.
Luttermann, Karin: Gesprächsanalytisches Integrationsmodell am Beispiel der Strafgerichtsbarkeit. Münster 1996, S. 6-26. Brinker, Klaus; Sager, Sven: Linguistische Gesprächsanalyse. Berlin 1989, S. 19 schrieben schon früher, daß beide Vorgehensweisen komplementär und unverzichtbar sind. Anders Hundsnurscher, Franz: Konversationsanalyse versus Dialoggrammatik, in: Rupp, Heinz; Roioff, Hans-Gert (Hgg.): Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. 2. Teil. Bern 1980, S. 89-95.
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5. Theoriemuster 5. /. Dreistufiger
Deliktsaufbau
Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit vor Tatbegehung gesetzlich definiert war. Den Unrechtsgehalt einer Tat bestimmen die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale. Ein Verhalten ist tatbestandsmäßig, wenn es die deliktstypische Unrechtsbeschreibung erfüllt. Die Einzeltatsachen des Lebenssachverhalts sind unter die Tatbestandsmerkmale zu subsumieren. Die Prüfung erfolgt regelmäßig nach einem dreistufigen Deliktsaufbau:6 Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Zur ersten Stufe zählen objektiver und subjektiver Tatbestand. Die objektiven Merkmale sind Umstände, die das äußere Erscheinungsbild der Tat bestimmen wie z. B. Tatsubjekt, Tatobjekt und Tatmittel. Die subjektiven Merkmale sind Umstände, die dem psychisch-seelischen Bereich und Vorstellungshorizont des Täters angehören wie z. B. Vorsatz und Absicht. Die zweite Stufe umfaßt Rechtfertigungsgründe. Die Verwirklichung des Unrechtstatbestandes indiziert die Rechtswidrigkeit. Sie kann aber ausgeräumt werden etwa durch die Notrechte (§§ 32, 34 StGB). Die dritte Stufe enthält situative Beeinträchtigungen des freien Willens und psychische Befindlichkeiten. Bei erheblichen Beeinträchtigungen kann der Täter nicht schuldig gesprochen werden. Die Schuld ist die Grundlage für die Strafzumessung (§ 46 Abs. l S. l StGB) und quantitativ über das Strafmaß faßbar.
5.2. Gesetzliche Merkmale der Tat Diebstahl begeht, wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen (§ 242 Abs. l StGB). Der objektive Tatbestand setzt die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache voraus, die im Gewahrsam eines anderen steht. Als „Sache" gelten alle körperlichen Gegenstände (§ 90 BGB) - ohne Rücksicht auf ihren wirtschaftlichen Wert. Diebstahlsobjekte sind z. B. Garderobenmarke, Auto sowie Gas und Flüssigkeiten, soweit sie ein abgrenzbares Dasein aufweisen. Dagegen sind Rechtssubjekte (Mensch) und damit fest verbundene Teile (Herzschrittmacher, Zahnkrone) sowie Forderungen und Rechte nicht diebstahlsfähig. „Beweglich" sind alle Sachen, die zum Zweck der Wegnahme losgelöst und tatsächlich fortgeschafft werden, können. „Fremd" ist jede Sache, die im Eigentum eines anderen steht. Die „Wegnahme" meint den Bruch fremden und die gleichzeitige oder spätere Begründung neuen Gewahrsams. Der „Gewahrsam" hat nur im Rahmen der Wegnahme eine Funktion. Er bezeichnet ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis einer Person über eine Sache, das von einem Herrschaftswillen
Dazu Wessels, Johannes; Beulke, Werner: Strafrecht. Heidelberg 1998, Rn. 129.
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getragen ist.7 Also etwa daß der Täter ein geparktes Kraftfahrzeug aufbricht und damit wegfährt. Subjektiv muß der Täter vorsätzlich und in der Absicht handeln, eine fremde bewegliche Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen. Der „Vorsatz" ist nicht im Gesetz genannt, gehört aber als allgemeine Strafbarkeitsbedingung zur Prüfung (§ 15 StGB).8 Er richtet sich auf alle Merkmale des objektiven Tatbestandes. Beim Diebstahl genügt, daß der Täter in Kenntnis der Tatumstände die Rechtswidrigkeit billigend in Kauf nimmt (dolus eventualis). Die „Absicht" ist (ausnahmsweise) als weiteres subjektives Tatbestandsmerkmal gesondert zu prüfen. Sie ist das zielgerichtete willentliche Einverleiben der Sache. Ihr Gegenstand ist die „Zueignung". Der Zueignungsbegriff läßt sich auffächern in: Aneignung (Täter maßt sich eine eigentümerähnliche Verfügungsmacht an) und Enteignung (also den Eigentümer faktisch auf Dauer aus seiner Herrschaftsposition zu verdrängen). Bezogen auf unser Beispiel kann das heißen: Der Täter verkauft das gestohlene Fahrzeug, um seine Schulden zu bezahlen. Die Zueignung ist „rechtswidrig", weil sie im Widerspruch zur materiellen Eigentumsordnung steht und nicht zu rechtfertigen ist. Wir kommen nun zum zweiten Schritt des GIM.
6. Empiriemuster 6.1. Offene
Aufnahme
Der Bounty-Fall wurde am Amtsgericht Münster auf Tonband offen9 aufgenommen und mit lautsprachlichen Besonderheiten transkribiert.10 Die offene Aufnahme beeinträchtigt zwar in der Regel die Kommunikation. Labov bezeichnet das als „Beobachter-Paradoxon"." Es mußte aber wegen der rechtlichen Lage (§ 169 S. 2 GVG), die verdeckte Aufnahmen grundsätzlich verbietet, in Kauf genommen werden. Andererseits wirkt die Gerichtssituation generell auf Laien belastend.
9
Die herkömmliche Sicht mißt die Sachherrschaft an der täglichen, die neuere Sicht an der sozialen (Lebens-)Anschauung; dazu Tröndle, Herbert; Fischer, Thomas: Strafgesetzbuch und Nebengesetze. München 1999, § 242 Rn. 9, 11. Kritisch Kindhäuser, Urs, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Lfg. 1998, § 242 Rn. 32-35. Dazu Uckner, Karl; Kühl, Kristian: Strafgesetzbuch mit Erläuterungen. München 1999, §15Rn. 1. Voraussetzungen waren: Genehmigung durch den Gerichtspräsidenten, Ankündigung der Datenspeicherung zu Prozeßbeginn und Einwilligung aller Prozeßbeteiligten. R = Richter, A = Angeklagter, St = Staatsanwalt, V = Verteidiger, = rechtlich bedingte Auslassung, / = Fehlerkorrektur, „( )" = akustisch schwer verständlich, ( ) = unidentiflzierbare Lautkette, (...) = Aussparungen,!?,. = Interpunktion, kursiv = Überlappungen. Vgl. die aus Raumgründen nur partiell wiedergegebenen Fälle; Ziffer 7. Labov, William: Das Studium der Sprache im sozialen Kontext, in: Klein, Wolfgang; Wunderlich, Dieter (Hgg.): Aspekte der Soziolinguistik. Frankfurt am Main 1973, S. 147.
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Dies gilt vor allem für den Angeklagten, der unter Strafandrohung steht. Die Experten kennen dagegen die Atmosphäre und brauchen keine Sanktionen zu befürchten, so daß die Aufnahme sich kaum auf ihr Handeln auswirkt.
6.2. Bounty-Fall R Im Strafregisterauszug vom x.x.1991 befinden sich 12 Eintragungen. (...) Herr x, Sie können sich zu diesem Vorwurf äußern. Sie sind dazu aber nicht verpflichtet. Es ist also freiwillig, wenn Sie Angaben machen. A Ja, also ich möchte mich dazu äu/äußern, und an ich möchte Ihnen die Sache auch erzählen, wie sie sich „(ereignet hat)". Ich hatte also/also ich muß da nen bißchen weiter zurückgreifen. Ich bin drogenabhängig äh R Waren oder sind es? A Also man ist nie, wenn man auch mal auch keine Drogen nimmt, nicht mehr drogenabhängig. (...) Und ich hab zu diesem Zeitpunkt äh nen Rückfall gehabt. Hab also morgens schon getrunken, und ich hab äh mich mit dem Zeugen mich etwas länger unterhalten bißchen/und wollte mal äh einfach nur nen bißchen reden. Bin dann ins Bahnhofsgebäude reingegangen, und dann diese Dinge gesehen ( ) und äh diese „(Kiste Bounty)" mitnehmen. R Bounty, was ist das? Ist das Alkohol? Nee, nich? A Nee, nee. Das ist so 'n R So 'n Saft, nich? A Bitte? R Satt ist das doch\ A QuatsM Schokolade. V Kokos. A Ja, ich weiß R Ich kannte A Ich weiß, daß R Ich kannte das nich. V Ach\ R Nein, wirklich nich! A Haben Sie keinen Fernseher? R ( ) ich sitze ja nich en ganzen Tag vorm Fernsehgerät. Also äh hat mir nichts gesagt Bounty. A Ich weiß, daß es ziemlich dumm ist R Ich kenn wohl die Meuterei auf der Bounty. A Ich weiß, daß das ziemlich dumm ist, und ich wußte auch in dem Moment, wo ich das in die Hand genommen hab, auch gar nicht, was ich damit machen sollte so großartig und äh ( ). Ich habe also dauernd Alkoholprobleme, und äh „(die ich)" mich auch äh entschlossen habe, wieder wegzubekommen. (...) Ich habe also eingesehen, daß also äh mein Konsum von Alkohol beziehungsweise irgendwelche illegale Drogen nur zu meinem Nachteil ist. Und „(ich bin deshalb bereit zu einer Therapie)". R Gut. (...) Herr Staatsanwalt, haben Sie Fragen dazu? St Nein, keine, R Dann schließe ich die Beweisaufnahme. V Äh Herr Vorsitzender, R Ja. V vielleicht ne Anregung. Können wir das Verfahren nicht nach 153a erledigen? Äh es ist so, er hat zwar einige Vorstrafen, aber es ist nichts Einschlägiges R Das habe ich wohl gesehen. (...) Aber nach 153/1 S3a geht das Verfahren nicht. Tut mir leid. (...) 12
Die Vorstrafen gehören zwar nicht zur Sachvernehmung. Sie sind aber angeführt, weil darauf Bezug genommen wird; Ziffer 8.
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Die Phase „Vernehmung des Angeklagten zur Sache" ist zweigeteilt. Im ersten Teil benennt der Angeklagte dem Richter Hintergrund und Ablauf der Tat (§ 242 StGB). Der zweite Teil ist ein Rechtsgespräch zwischen Richter und Verteidiger über die Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen (§ 153a StPO). Die Kommunikation unterscheidet sich wesentlich von der zur Sache. Dort ist der Angeklagte Prozeßsubjekt. Er schildert den Lebenssachverhalt eigenständig und nimmt aktiv am Geschehen teil. Dagegen wird er hier zum Prozeßobjekt. Der Richter und der Verteidiger haben gleiche Wissensvoraussetzungen und prüfen die Bedingungen für die Einstellung über seinen Kopf hinweg. Selbst wenn der Angeklagte wollte, kann er sich mangels juristischer Kenntnisse kaum in das Gespräch einschalten.13 Der Richter beendet das Verfahren nicht informell, weil der Angeklagte unter Bewährung den Diebstahl begangen hat. Wir konzentrieren uns auf die Sachvernehmung. Zu Beginn belehrt der Richter den Angeklagten über sein Recht, sich zur Sache zu äußern. Der Angeklagte ist zur Aussage bereit und wählt eine erzählende Darstellung. Die narrative Form und die Tatsache, daß er dabei „weiter zurückgreifen" will, lassen eine Strategie erkennen. In Zusammenarbeit mit seinem Verteidiger zielt er auf eine Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO. Hierzu gehört, daß der Angeklagte die Tat gesteht und mit langjähriger Alkoholabhängigkeit in Zusammenhang bringt. Der Verteidiger setzt das folgerichtig mit dem Hinweis fort, daß die Vorstrafen keine Diebstahlsdelikte enthalten und somit grundsätzlich die Voraussetzungen für eine Einstellung vorliegen. Im wesentlichen führt der Angeklagte aus: Die Drogenabhängigkeit besteht auch dann, wenn man „mal auch keine Drogen nimmt". Er habe einen „Rückfall gehabt" und „morgens schon getrunken". Er habe „dauernd Alkoholprobleme" und „eingesehen", daß das „nur zu (s)einem Nachteil ist." Deshalb sei er auch „zu einer Therapie" bereit. Bezüglich der Tat hebt er hervor, daß er mit dem Zeugen „einfach nur nen bißchen reden" wollte.14 Er sei „ins Bahnhofsgebäude reingegangen" und habe „diese Kiste Bounty" mitgenommen. Die Tat charakterisiert er als „dumm", denn er wußte damit „so großartig" nichts anzufangen. Der Richter faßt zweimal nach. Zum einen will er wissen, ob der Angeklagte drogenabhängig ist oder war. Also auch während der Hauptverhandlung unter Drogen steht und sich überhaupt selbst verteidigen kann. Hinzu kommt, daß wer eine Tat unter (teilweisem) Ausschluß der Zurechnungsfähigkeit begeht, strafmildernde Umstände geltend machen kann oder schuldfrei handelt. Zum anderen will der Richter zweifelsfrei klären, was gestohlen wurde. Dafür stellt er eine Informationsfrage („Bounty, was ist das?"). Wegen des Drogenproblems vermutet er Alkohol. Er erkennt - wohl durch Mimik oder Gestik -, daß seine Interpretation falsch ist und stellt eine Berichtigungsfrage. Der Angeklagte setzt nach zweimaliger Verneinung zu einer Korrektur an, wird dabei aber vom Richter unterbrochen („Saft ist das doch!"). Der Angeklagte weist auch diese Interpretation zurück und korrigiert, daß es sich um „Schokolade" handelt. Er weiß weder, ob die StPO oder das StGB gemeint ist, noch kennt er den Inhalt der Vorschrift. Der Gebrauch des Wortes „Zeuge" zeigt wohl Erfahrung mit der Institution.
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Dann will er sich weiter zur Tat äußern. Der Richter unterbricht ihn aber mehrmals und betont seine Unwissenheit. Daraufhin fragt ihn der Angeklagte, ob er „keinen Fernseher" hat. Obwohl die Gegenfrage unzulässig ist und nichts mit der Tat zu tun hat, greift sie der Richter auf. Noch einmal bekräftigt er, daß „Bounty" ihm „nichts gesagt" hat. Mit der Partikel „gut" beendet er die Befragung. Diese Gerichtsverhandlung wollen wir mit anderen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersuchen.
7. Ergebnismuster Das Ergebnismuster basiert auf drei Diebstahlsfällen (Bounty-, Remy- und Marlborofall).15 Die Datenbasis ist für Generalisierungen zu klein; weitere empirische Erhebungen sind geboten. Es fallen aber mehrere Aspekte besonders auf. Einmal, daß die Richter die Angeklagten mit den Modalverben „können" und „müssen" sowie mit den Adjektiven „verpflichtet" und „freiwillig" über ihr Aussageverweigerungsrecht belehren.16 Ein Richter stellt direkt im Anschluß an die Belehrung eine Informationsfrage nach den Tatmotiven und wartet die Entscheidung des Angeklagten nicht ab.17 Ein anderer Richter gebraucht eine Kooperationsfrage mit „wollen",18 die die Antwort explizit abruft. Alle Angeklagten sind aussagewillig. Sie gehen strategisch vor und setzen andere Akzente als die Richter. Die rechtlichen Relevanzpunkte kennen sie nicht. Ihnen sind vor allem die persönlichen Umstände der Tat und die Auswirkungen der drohenden Rechtsfolgen wichtig. In persönlicher Hinsicht machen sie besonders die familiäre und wirtschaftliche Lage sowie Suchtprobleme geltend.19 Die Angeklagten sind geschieden und leben von Arbeitslosengeld bzw. Sozialhilfe. Zwei Angeklagte sind zudem alkoholabhängig. Darüber hinaus ergibt die empirische Analyse, daß allein die Richter die thematische Komplexität bestimmen. Die Staatsanwälte und Verteidiger machen von ihrem Recht keinen Gebrauch, ergänzende Fragen zum Sachverhalt zu stellen. Den Diebstahl reduzieren die Richter auf wenige Tatbestandsmerkmale, primär auf die Sache. Die Angeklagten nennen sie meist zunächst nicht beim Namen, sondern sprechen vage von „diese Dinge" und „die".20 Erst auf Nachfrage 15
Es sind jeweils kleine Diebstahlsfalle, die als Antragsdelikte wie § 242 StGB behandelt werden (§ 248a StGB). „Sie können sich zu diesem Vorwurf des Diebstahls äußern. Sie müssen hierzu sich nicht einlassen." (Marlborofall, M-F) „Sie sind dazu aber nicht verpflichtet." (Remyfall, R-F) „Wie kam es denn dazu?" (M-F) J* „Wollen Sie etwas sagen?" (R-F) „Die Scheidung von meiner Frau hat mich aus der Bahn geworfen. Job verloren. Mit der Miete im Rückstand. Wohnung gekündigt gekriegt. Pleite." (M-F) „Inzwischen ist mir klar, daß der Suff mich meine Ehe und meinen Job gekostet hat. Ich will von diesem Teufelszeug wieder weg und bin auch schon in Therapie." (R-F) 20 „Und die eingesteckt in meine Tasche." „Was eingesteckt?" „Die Marlboros." (M-F) „Die Flaschen stehen gesehen und eingepackt." „Welche Flaschen?" „Den Remy habe ich in meine Tasche gepackt." (R-F)
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werden sie konkret. Die Richter fordern offenbar eine exakte Bezeichnung des Tatobjekts. Es soll wohl nicht „um den Brei herumgeredet" werden. Die Angeklagten sollen die Sache klar ausdrucken und sich damit auseinandersetzen. Zwei Richter kennen sie und schließen von „Marlboro" auf Zigaretten bzw. von „Remy" auf Cognac. Ein Richter assoziiert mit „Bounty" fälschlicherweise Alkohol statt Schokolade. Weiterhin fällt auf: Die vorsätzliche Wegnahme in Zueignungsabsicht behandeln Richter, wenn Angeklagte vorsätzliches Handeln bestreiten.21 Zwei Angeklagte wollen die Zigaretten und den Cognac schlicht vergessen haben.22 Ob ihre Einlassungen stimmen oder sie das einfach nur behaupten, ist Teil des Wahrheitsfindungsprozesses. Sofern sie die Wahrheit sagen, sind sie freizusprechen. Denn was man vergißt, ist kein Diebstahl und insofern nicht strafbar. Andernfalls sind sie nach der Maßgabe des Strafrechts zu bestrafen.23 Auch beim geständigen Angeklagten wird der Vorsatz als gegeben vorausgesetzt und die Zueignungsabsicht nicht problematisiert. Für den Richter steht fest: Der Angeklagte hat die Bountys genommen, obwohl er wußte, daß sie dem Ladeninhaber gehören. Bei der Zueignungsabsicht liegt das aber nicht ganz so klar. Hier hätte er nachfassen können, ob der Angeklagte in Bereicherungsabsicht gehandelt hat oder tatsächlich keine Verwendung für die Bountys hatte und sie nicht haben wollte. Vergleichen wir diese Ergebnisse mit der juristischen Auslegung.
8. Vergleichsmuster Der Vergleich von Theorie- und Ergebnismuster ergibt: Die Richter belehren die Angeklagten in keinem Fall mit dem Wortlaut des Gesetzes, daß es freisteht, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (§ 243 Abs. 4 S. l StPO). Statt dessen verwenden sie Modalverben: Die Angeklagten „können" den Lebenssachverhalt schildern, „müssen" es aber nicht. Problematisch daran ist, daß dadurch mentale Prozesse gesteuert werden können. „Nicht müssen" kann einen Angeklagten dazu anhalten, seine Aussageabsicht aufzugeben. Um Beeinflussungen und Mißverständnisse auszuschließen, sollten Richter davon absehen. Ein Angeklagter versteht, wenn es z. B. heißt: „Angaben zur Sache sind freiwillig." Zweck der Belehrung ist, daß Angeklagte über die Freiwilligkeit ihrer Aussage Bescheid wissen. Das gehört zu einem Verfahren, das auf Menschenwürde und Wahrung des Persönlichkeitsrechts baut. Sie dürfen sich nicht gedrängt fühlen, in einer bestimmten Richtung zu wählen. Das droht jedoch in den Fällen, in denen Richter den Hinweis erteilen, daß Angeklagte be„Ich bin nicht da reingegangen in den Laden und habe offensichtlich geguckt, ob da einer guckt oder so." (M-F) Jedenfalls bin ich nich da rein und hab mit Vor/also vorsatzlich hab ich mir gesacht, so jetzt klau ich bis meine Tasche voll ist." (R-F) „Ich habe es jedoch nicht absichtlich gemacht, und diese Sachen habe ich tatsachlich vergessen." (M-F) „Dabei ist die Ware aus meiner Tasche in Vergessenheit geraten." (R-F) Alle Angeklagten wurden zu einer Geldstrafe verurteilt.
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rechtigt sind, keine Sachangaben zu machen, anschließend aber dazu auffordern, oder wenn sie keine Kooperationsfrage stellen, die eine Entscheidung einfordert. Ein weiteres Ergebnis ist: Richter haben regelmäßig schon die Vorstrafen festgestellt, wenn sie in die Sachvernehmung einsteigen.24 Offensichtlich passen sie nicht in ihr Vernehmungskonzept. Das trägt § 243 Abs. 4 S. 3 StPO nicht Rechnung. Danach dürfen die Vorstrafen frühestens an dieser Stelle behandelt werden. Richter können sie auch solange zurückstellen, bis absehbar ist, daß die Angeklagten freizusprechen sind oder das Verfahren einzustellen ist. Bei der Vernehmung zur Sache ist markant, daß Richter kaum für thematische Transparenz sorgen. Vor allem bleibt der Vorgang der Subsumtion uneinsichtig. Richter informieren die Angeklagten nicht darüber, daß sie den komplexen Lebenssachverhalt auf bestimmte, rechtlich relevante Einzelphänomene reduzieren, also nur die Tatbestandsmäßigkeit - noch dazu (wie sogleich gezeigt wird) selektiv prüfen und die Rechtmäßigkeit und die Schuld ganz außen vor lassen. Das wäre aber möglich und würde Angeklagten vielleicht helfen, sich besser im Verfahren zurechtzufinden. Üblicherweise kündigen Richter ja auch die Feststellung der Personalien an und dokumentieren den Abschluß der Vernehmung über die persönlichen Verhältnisse.25 Darüber hinaus zeigt der Mustervergleich, daß Richter die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit nicht ausschöpfen, sondern die Tatbestandsmerkmale gezielt selektieren. Ihnen geht es primär darum, Lücken zu schließen, restliche Unklarheiten zu beseitigen. Durch das Studium der Akten sind sie bereits mit der Straftat und dem Täterprofil vertraut und stellen daher oft auf Details ab. Vergleichsweise wenig interessiert sie, den Lebenssachverhalt vollständig in den Worten der Angeklagten zu rekapitulieren. Meistens nehmen sie ihnen sogar die Geschichten durch Fragen weg.26 Das kann § 243 Abs. 4 S. 2 StPO verletzen. Danach müssen Angeklagte Gelegenheit haben, sich zusammenhängend zu verteidigen. Davon darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn sie dazu nicht in der Lage sind. Eine andere Strategie verfolgen die Angeklagten. Sie versuchen, weiter auszuholen, nicht sofort die Tat, sondern zunächst die Umstände und Hintergründe zu beleuchten. Die Richter sollen wohl den Eindruck gewinnen, letztlich doch mit rechtschaffenden Menschen zu tun zu haben, und Milde walten lassen. In dieser Optik wird die Kommunikation vor Gericht zu einem Geschehen, in dem verschiedene Interessen miteinander in Konflikt geraten und die Machtträger sich durchsetzen.
24
Nach der Vernehmung über die persönlichen Verhältnisse und vor der Verlesung des Anklagesatzes. Siehe Luttermann, Karin: Linguistische Gesprächsanalyse, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 25 (1997), S. 294-299. Bei ganz klar liegenden Fällen und geständigen Angeklagten muß nicht alles hinterfragt werden. In Einzelfällen kann das aber geboten sein; Ziffer 7.
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9. Nutzen für die Kommunikation vor Gericht Welchen Nutzen haben nun diese Ergebnisse für die Praxis? In der Gerichtskommunikation treffen die Experten- und Laienperspektive aufeinander. Dazu treten die Unterschiede in der kommunikativen Macht. Vor diesem Hintergrund liegt der Nutzen in erster Linie darin, Richter als Verhandlungsleiter und Urteilende für die besondere Situation der Angeklagten zu sensibilisieren. Zugleich sind kommunikationsfördernde und sachverhaltsstrukturierende Vorschläge für einen transparent(er)en Verhandlungsablauf zu machen. Denkbar und praktikabel ist, daß Richter künftig die Vorstrafen an anderer Stelle in der Hauptverhandlung feststellen (z. B. unmittelbar vor oder nach der Beweisaufnahme) und sich ausschließlich auf die Sache konzentrieren.27 So können sie den von Angeklagten geltend gemachten Gesichtspunkten vollumfänglich Rechnung tragen, ohne Gefahr zu laufen, daß sich die Gewichte verschieben oder sie voreingenommen erscheinen. Bei der Belehrung sollten Richter darauf achten, immer eine Kooperationsfrage anzuschließen. Sie bringt Angeklagte dazu, ausdrucklich zu sagen, ob sie aussagen wollen. Damit kann verhindert werden, daß Richter ihre Entscheidung beeinflussen oder gar vorwegnehmen. Vor allem aber sollten Richter das dreigliedrige juristische Prüfungsschema weniger zeiteffizient abarbeiten und die Einlassungen der Angeklagten auf für Laien nachvollziehbare Weise kategorisieren. Mehr als bisher sind Prüfungsmodus und Informationsverarbeitung zu öffnen, also Angeklagte über den Wahrheitsfindungsprozeß zu informieren. Richter sollten ihnen mitteilen, welche Tatbestandsmerkmale nach Sachlage erfüllt sind und welche nicht. Daran können sich die Angeklagten orientieren und ihr Verteidigungsverhalten einrichten. Dies kann zwar die Prozeßökonomie beeinträchtigen, dient aber der Wahrheitssuche und fördert einen „menschlichen, auf Kooperation und Partizipation zielenden Verfahrensstil"2* Das festigt demokratische Strukturen. Weitere Analysen sollten folgen. Bisher kaum untersucht worden sind z. B. die Beweisaufnahme und Plädoyers. Auch sogenannte Mandantengespräche sind beachtlich, wo zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger Einlassungs- und Verteidigungsstrategien besprochen werden. Dazu gehören ebenfalls Fragen der Übersetzung von Experten- in Laienwissen (Transformation),29 also wie der Anwalt seinem Mandanten etwa Schriftsätze und ausgehandeltes Ergebnis vermittelt.
Verwiesen sei auf die seit Jahrzehnten diskutierte Zweiteilung der Hauptverhandlung; dazu Luttermann, Karin: Die Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 4 (1997), S. 222-223. 2 * Wassermann, 1985, S. 199. Siehe Luttermann, Karin: Übersetzen juristischer Texte als Arbeitsfeld der Rechtslinguistik, in: de Groot, Gerard-Reno; Schulze, Reiner (Hgg.): Recht und Übersetzen. Baden-Baden 1999, S.
Sabine Frilling
Was heißt hier Diebsiahl? Probleme einer Auseinandersetzung mit Rechtsnormen im Deutschunterricht
1. Tendenzen der didaktischen Diskussion seit 1970 Es ist offenkundig, daß die Sprache des Rechts unter den heute gebräuchlichen Fachsprachen einen besonderen Stellenwert einnimmt. Schließlich ist sie u. a. die Sprache der Gesetze und Gerichtsurteile, d. h. konstituiert Texte, die Akte direkter staatlicher Einflußnahme auf das Leben einzelner legitimieren können. Zudem sind es bekanntlich nicht nur Experten, die mit der Fachsprache des Rechtswesens konfrontiert werden: Jeder Bürger kommt wohl irgendwann, und sei es auch nur im Kontext eines Vertragsabschlusses, in die Lage, sich mit juristischen Texten auseinandersetzen zu müssen. Daß in solchen Situationen häufig Schwierigkeiten auftreten, ist - nicht nur von sprachkritischer Seite - wiederholt hervorgehoben worden. Die Forderung nach einer systematischen Behandlung von Rechtssprache im Deutschunterricht erscheint deshalb als wohl begründet. Um so bedauerlicher ist es, daß didaktische Publikationen, die konkrete Anregungen für entsprechende Unterrichtsvorhaben liefern könnten, vergleichsweise knapp sind und die wenigen verfügbaren Arbeiten konzeptionell stark divergieren. Mindestens zwei Gruppen didaktischer Ansätze lassen sich voneinander unterscheiden: a) Sprach- bzw. ideologiekritische Modelle: Entsprechende Konzepte1 wurden in den 70er Jahren unter dem Einfluß einer sich als emanzipatorisch begreifenden Deutschdidaktik entwickelt, derzufolge die Befähigung zur Entlarvung und Überwindung gesellschaftlicher Abhängigkeiten ein zentrales Ziel schulischer Spracherziehung darstellt. Die Rechtssprache (v. a. die der Justiz) erscheint in Arbeiten dieser Art weniger als normale Fachsprache denn als Herrschaftsinstrument: Vorgeschlagene Unterrichtsprojekte befassen sich daher häufig mit Aspekten wie der Manipulation durch Sprache oder sogenannten Sprachbarrieren. Die eher unspektakuläre Frage nach dem alltäglichen Funktionieren der Rechtssprache im Kontext institutioneller Handlungsabläufe tritt demgegenüber zurück; sie wird nur so weit behandelt, wie es zur Erreichung übergeordneter aufklärerisch-politischer Zielsetzungen erforderlich ist.
Vgl. etwa: Ladnar, Ulrike; Plottnitz, Cornelia von (Hgg.): Fachsprache der Justiz. Frankfurt a. M. 1976; sowie Ladnar; Plottnitz: Sprachvergleich - Fachsprache und Gemeinsprache: Sprache der Justiz, in: Thiel, Hans (Hg.): Deutschunterricht im Kurssystem. Frankfurt a. M. 1976, S. 41-60.
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Sabine Frilling
b) Pragmatische Modelle: Entwürfe dieses Typs entstanden vor allem während der 80er Jahre als Ausdruck jener kommunikativen Neuorientierung, die bereits in der deutschdidaktischen Diskussion der 70er Jahre eingesetzt hatte. Das Thema ,Sprachkritik' spielt in entsprechenden Publikationen keine entscheidende Rolle mehr. Im Mittelpunkt des Interesses steht vielmehr die Entwicklung einer „kommunikativen Grundkompetenz für den Sachbereich Recht", die ermöglichen soll, daß sich der Schüler einmal „halbwegs, ohne Schaden zu nehmen, im rechtlichen Alltag zurechtfinden" kann.2 Eine wichtige Voraussetzung dafür wird vielfach in der praktischen Auseinandersetzung mit normativen Rechtstexten, etwa Gesetzen, gesehen. Eine ausgeformte didaktische Konzeption, die einen entsprechenden Unterricht theoretisch abgesichert hätte, entstand in diesem Zusammenhang allerdings ebensowenig wie im Kontext emanzipatorischer Spracherziehungskonzepte. Die Gründe dafür ergeben sich u. a. aus dem raschen Niedergang der kommunikationsorientierten Sprachdidaktik: Unter dem Einfluß neuer, subjektivistisch geprägter Vorstellungen interessierte Sprache schon in den 80er Jahren immer weniger als Verständigungsmittel und immer ausschließlicher als Medium der Identitätsentwicklung und persönlichen Kreativität. Vor diesem Hintergrund ließ das Interesse an der Rechtssprache nach; neuartige didaktische Konzeptionen kamen nicht mehr zustande.3 Zu den kommunikativ ausgerichteten Unterrichtsentwürfen der 80er Jahre gibt es daher - auf dem Gebiet der Rechtssprachendidaktik - bis heute keine ernstzunehmende Alternative. Repräsentative Beispiele dafür sind u. a. die Arbeiten von G. Freytag und D. Furhob4 sowie U. Hagemeister5: Beide Ansätze gehen von der Notwendigkeit eines Deutschunterrichts aus, der typische Verständnisprobleme, wie sie beim Umgang mit Rechtsnormen auftreten, überwinden hilft. Ursachen für solche Schwierigkeiten sehen die Autoren u. a. in einem für Laien unübersichtlichen Textaufbau, einer komplexen und daher schwer durchschaubaren Syntax, nicht zuletzt aber auch im verwendeten Fachvokabular. Entsprechend schlagen sie für die unterrichtliche Auseinandersetzung mit Gesetzen u. a. folgende Arbeitsschritte vor: a) die Identifikation und Kennzeichnung „aller schwierigen Wörter bzw. Sätze"6, b) die Klärung dieser problematischen Textstellen (z. B. durch Lektüre und/oder Expertenbefragung) sowie c) die Erstellung einer neuen, besser verständlichen Textversion u. a. durch den Austausch einzelner Lexeme, die Auflösung komplizierter Satzgefüge und/oder die Einfügung von Gliederungssignalen. Fragwürdig an einer solchen Konzeption ist v. a. eins: Sie vermittelt die Vorstellung, daß die Schwerverständlichkeit von Gesetzestexten ein primär Vgl. Harnisch, Günter: Diebstahl oder... ?, in: Praxis Deutsch 48 (1981), S. 15-18, hier S. 15. Zu dieser Entwicklung vgl. Dingeldey, Erika: Padagogisierung der Schule oder Entpolitisierung der Reform?, in: Diskussion Deutsch 21 (1990), S. 226-242. Freytag, Gerald; Furhop, Doris: Was Redakteure einer Schülerzeitung wissen müssen, in: Praxis Deutsch 91 (1988), S. 49-52. Hagemeister, Ursula: Darf der dreizehnjährige Manuel Zeitungen austragen?, in: Praxis Deutsch 91 (1988), S. 46-48. Hagemeister, 1988, S. 47.
Was heißt hier Diebstahl?
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strukturelles Problem ist und auch entsprechend bewältigt werden kann. Besonders deutlich wird dies in der (impliziten) Annahme, daß Rechtsnormen für Laien u. a. deshalb so schwierig sind, weil sie .schwierige Wörter' enthalten, die es folglich bei der Texterschließung auszumachen und durch gemeinsprachliche zu ersetzen gilt. Dies aber erscheint bei kritischer Betrachtung nur dann als möglich, wenn man unterstellt, daß juristische Fachausdrücke - auch für Laien - ohne weiteres als solche erkennbar sind und jeder dieser Ausdrücke genau eine, präzis festliegende Bedeutung hat, die mit einer gemeinsprachlichen .Übersetzung* erfaßbar wäre. Mit Prämissen wie diesen knüpft die Sprachdidaktik an ein vortheoretisches Verständnis fachspezifischer Kommunikation an, demzufolge sich Fachsprachen auf der Ebene der Lexik durch folgende Merkmale auszeichnen: a) Sie enthalten viele Fremdwörter, Entlehnungen und muttersprachliche Wortneubildungen, die in der Gemeinsprache keine Rolle spielen; b) es gibt zahlreiche regelrechte Termini, d. h. Ausdrücke mit definitorisch exakt festgelegten Bedeutungen; und c) das einzelne Lexem ist grundsätzlich .eindeutiger' und kontextautonomer, als es in der Gemeinsprache der Fall ist.7 Wie sich zeigen läßt, treffen diese Annahmen wohl auf kaum eine Fachsprache so wenig zu wie auf die des Rechts.
2. Zur Spezifik der Gesetzessprache 2.1. Grundlegendes Bekanntlich spielt Sprache im Funktionszusammenhang des Rechtswesens eine zugleich entscheidende und problematische Rolle: Gesellschaftliche Leitideen werden erst dadurch zu verläßlichen Bezugsgrößen für institutionelle Beurteilungs- und Regulierungsakte, daß man sie in schriftlichen Texten wie Gesetzen oder anderen rechtlichen Bestimmungen fixiert. Diese wiederum lassen sich nur dann auf konkrete (Streit-)Fälle anwenden, wenn sie u. a. zwei grundlegenden Anforderungen genügen: Auf der einen Seite müssen sie explizit auf jene Sachverhalte und Verhaltensweisen Bezug nehmen, die durch sie geregelt werden sollen. Gesetze, die ohne konkrete sprachliche Bezüge zur Realität auskommen, sind kaum vorstellbar. Auf der anderen Seite aber dürfen die Beziehungen zwischen Text und Welt prinzipiell nicht,eindeutig' sein: Normen dieser Art würden keine flexible Anwendung zulassen und wären daher schon bei geringfügigen Veränderungen der gesellschaftlichen Realität nicht mehr brauchbar. Gesetze müssen also, wenn sie ihre institutionelle Aufgabe erfüllen sollen, im Grunde beides sein: konkret und abstrakt. Aus diesem Spannungsverhältnis leiten sich eine Reihe von lexikalischen und semantischen Besonderheiten ab, die Zur Kritik an dieser Auffassung vgl. etwa: Roelcke, Thorsten: Das Eineindeutigkeitspostulat der lexikalischen Fachsprachensemantik, in: Zeitschrift filr Germanistische Linguistik 19.2 (l991), S. 194-208.
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die Gesetzessprache von vergleichbaren Varietäten unterscheiden und sie - zumindest im Licht des oben umrissenen populären Begriffsverständnisses - als ,untypische' Fachsprache erscheinen lassen.
2.2. Lexikalische Aspekte Wie erwähnt knüpfen Gesetzestexte aufgrund ihrer spezifischen Funktionen notwendigerweise an „Gegebenheiten des menschlichen Daseins"8 an: Sie referieren auf Objekte, Beziehungen, Handlungen, Werte etc., die auch unabhängig von der Institution (kommunikative) Realität besitzen. Dies unterscheidet das Recht grundsätzlich von anderen fachlichen Kommunikationsbereichen (etwa dem der Philosophie oder dem der Chemie), in denen häufig Gegenstände und Inhalte verhandelt werden, die nur bereichsintern eine Rolle spielen bzw. sogar erst innerhalb des Fachs konstituiert worden sind. Während man in diesen Bereichen darauf angewiesen ist, immer wieder neue Benennungen für bisher unentdeckte oder nicht existente Objekte (bzw. Inhalte) zu prägen, kann man im Rechtswesen in der Regel auf bereits vorhandene Lexeme zurückgreifen. ,Fachchinesisch' spielt daher in Gesetzestexten - anders als man angesichts des schlechten Rufs der Rechtssprache vermuten könnte - keine besondere Rolle. Zwar gehören auch solche Lexeme (und Wortgruppenlexeme) zum Wortschatz der Rechtssprache, die in der Gemeinsprache ungebräuchlich und auf den ersten Blick als fachspezifisch erkennbar sind. Dies gilt z. B. für: a) Fachausdrücke lateinischer Provenienz wie Idealkonkurrenz, Subsidiarilät, persona non grata, actio libera in causa oder culpa in contrahendo und b) fachspezifische Wortneubildungen wie Gläubigerverzug, Mängelhaftung, Unterlassungsklage, Unzulässigkeitserklärung, Besitzdienerschaft oder Gewahrsamsverschiebung. Ausdrücke dieser Art sind jedoch für die Gesetzessprache eher untypisch; z. T. handelt es sich bei ihnen sogar um rein wissenschaftliche Begriffe, die in Rechtsnormen kaum vorkommen, d. h. die in Zusammenhang mit entsprechenden Texten auftretenden Verstehensproblerne nicht erklären können. Erheblich repräsentativer für die Sprache der Gesetze sind Lexeme, die bei oberflächlicher Betrachtung einen leicht erschließbaren Eindruck machen, weil sie auch in der Gemeinsprache gebräuchlich sind. Beispiele für solche Ausdrücke sind Mensch, Mord, Diebstahl, ehrlos, Lärm, Sache, Gefahr, Nachtruhe, Dunkelheit etc. Lexeme wie die genannten werden schon dadurch problematisch, daß sie, losgelöst von ihrem rechtlichen Verwendungszusammenhang, auch für Juristen kaum als Fachausdrücke identifizierbar sind. Tatsächlich aber weicht ihre rechtliche Bedeutung u. U. erheblich von dem im Alltag üblichen Begriffsverständnis ab; der fachsprachliche Gebrauch deckt sich nicht mit dem gemeinsprachlichen. Schwierigkeiten dieser Art können sich selbstverständlich auch im Zusammenhang mit anderen Fachsprachen, etwa der der Technik, einMüller-Tochtermann, Helmut: Struktur der deutschen Rechtssprache, in: Muttersprache 69 (1959), S. 84-92, hier S. 91.
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stellen: Allerdings erfolgt die Übernahme gemeinsprachlicher Wörter hier typischerweise auf dem Weg der Terminologisierung: Das (ehemals) gemeinsprachliche Lexem wird definiert und erhält dadurch eine mehr oder weniger klar umrissene fachliche Bedeutung, die die Grenzziehung zwischen fachlichem und alltäglichem Wortgebrauch erleichtert. Die Existenz von solchen .klaren' Bedeutungen läßt sich im Zusammenhang mit rechtssprachlichen Lexemen prinzipiell nicht voraussetzen.
2.3. Semantische Aspekte In demokratisch verfaßten Gesellschaften gilt es als selbstverständlich, daß bei der richterlichen Beurteilung menschlichen Verhaltens einheitliche Maßstäbe angelegt werden. Einem verbreiteten Mißverständnis zufolge ergeben sich diese Maßstäbe unmittelbar aus dem Wortlaut des Gesetzes: Rechtssicherheit erscheint somit als Folge der Eindeutigkeit, mit der normative Bestimmungen festlegen, was rechtens und was strafbar ist. Tatsächlich aber trifft diese Einschätzung nicht zu: Gesetze haben keine a priori festliegenden Referenzbezüge zur außersprachlichen Realität; intern verwendete rechtssprachliche Ausdrücke sind nicht,eindeutig', sondern - im Gegenteil - semantisch weitgehend offen. Besonders offensichtlich gilt dies im Fall der sog. Generalklauseln (z. B. gute Sitten, Treu und Glauben, billiges Ermessen u. ä.), die unbestreitbar vage und mithin auslegungsbedürftig sind: Was Ausdrücke dieser Art ,konkret' bedeuten, muß immer wieder neu - unter Bezugnahme auf den verhandelten Fall und objektiv geltende Wert- und Moralvorstellungen - festgelegt werden. Ähnlich verhält es sich mit den sog. Ermessensbegriffen (z. B. wichtiger Kündigungsgrund, Interesse des öffentlichen Verkehrs u. ä.), die - anders als die Generalklauseln - individuelle Auslegungen erlauben. Ausdrücke beider Gruppen erfüllen in Gesetzestexten eine bloße Stellvertreterfunktion: Sie geben dem Rechtsanwender nicht mehr als einen groben Hinweis auf die Art der von ihm vorzunehmenden Konkreti s ierungen. Aber nicht nur im Zusammenhang mit offensichtlichen Leerformeln stellt sich das Problem der semantischen Vagheit: Auch scheinbar konkrete rechtssprachliche Lexeme wie Sache, Diebstahl, Gewalt etc. erweisen sich bei näherer Betrachtung als überraschend uneindeutig. Dafür sind u. a. folgende Faktoren verantwortlich: a) Wie ein gesetzessprachlicher Ausdruck verstanden werden muß, ist nicht immer für das gesamte Recht einheitlich, sondern z. T. von Bereich zu Bereich unterschiedlich geregelt. So wird der Begriff Mensch im Bürgerlichen Recht anders bestimmt als im Strafrecht, und die staatsrechtliche Bedeutung des Ausdrucks Fahrlässigkeit weicht von seiner zivilrechtlichen Gebrauchsweise ab. b) Die Gebrauchsregeln für einen rechtssprachlichen Ausdruck können sich im Lauf der Zeit, etwa in Abstimmung auf Phänomene des sozialen Wandels, deutlich verändern. Wie Busse9 gezeigt hat, wurde beispielsBusse, Dietrich: Angewandte Semantik, in: Der Deutschunterricht 43 (1991), S. 42-61.
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weise das Lexem Gewalt ursprünglich nur für Tatbestände verwendet, die mit körperlicher Kraftaufwendung verbunden waren, während heute prinzipiell auch seelischer Zwang (etwa zur Unterlassung einer eigentlich geplanten Handlung) als .Gewalt' gelten kann, c) Auch durch bereichsintern festgelegte Definitionen werden rechtssprachliche Ausdrücke nicht unbedingt eindeutiger, da diese Festlegungen in der Regel selbst interpretationsbedürftig sind. Einem Laien, der sich über die juristische Bedeutung des Ausdrucks Sache informieren möchte, dürfte z. B. mit der Legaldefinition § 90 BGB, derzufolge Sachen „nur körperliche Gegenstände" sind, nicht viel geholfen sein, zumal sich davon ausgehend auch Immobilien und gestohlene Haustiere als Sachen einstufen lassen. Vor diesem Hintergrund hat sich in der jüngeren Rechtssprachenforschung10 immer mehr die Auffassung durchgesetzt, daß Normtexte für sich betrachtet keine vorgegebene, vom Leser nur noch zu ermittelnde Bedeutungsstruktur haben. Worauf ein Text oder Ausdruck referiert, kann sich demnach - der landläufigen Meinung zum Trotz - gar nicht aus ihm selbst ergeben, sondern muß in eigener Verantwortung vom Rechtsanwender festgelegt werden. Indem dieser etwa entscheidet, daß auch ein Sitzstreik .Nötigung' sein kann, vollzieht er für das Lexem Nötigung einen entsprechenden Referenzftxierungsakt und hebt damit die prinzipielle Vagheit des Begriffs zumindest punktuell auf. Daß Rechtsanwendung trotzdem nichts mit Willkür zu tun hat, liegt daran, daß nicht alle Referenzfixierungsakte, die prinzipiell denkbar sind, auch die Chance haben, institutionelle Geltung zu erlangen. Aussicht auf Bestand hat ein Akt der Norm- oder Begriffsauslegung nur dann, wenn er bestimmten bereichsspezifischen Akzeptanzbedingungen genügt. Dazu gehört v. a., daß er sich vor dem Hintergrund dessen, was z. Zt. im Rahmen der Institution als ,rechtens' gilt, argumentativ verteidigen läßt. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nicht nur der genaue Wortlaut des Gesetzes, sondern auch aktuell gängige Positionen zu Fragen seiner Auslegbarkeit, wie sie sich im Rahmen der obergerichtlichen Urteilspraxis und/oder der rechtswissenschaftlichen Forschung herausbilden. Die Frage, welche konkreten Lesarten für einen einzelnen rechtssprachlichen Ausdruck möglich sind, kann daher u. U. nur unter Heranziehung einer Vielzahl von unterschiedlichen Informationsquellen beantwortet werden. Potentiell auslegungsrelevant sind z. B.: a) Wortlaut und Zweck des Gesetzes G, in dem der fokussierte Ausdruck vorkommt, b) andere Gesetze, die zu G in systematischen Beziehungen stehen und seine Anwendbarkeit im konkreten Fall einschränken, ausschließen oder sogar erst ermöglichen, c) einschlägige Gerichtsurteile, in denen sich die bisherige Interpretationspraxis widerspiegelt, und d) rechtswissenschaftliche Literatur, die sich - etwa - mit den theoretischen Grenzen der Auslegbarkeit von G und darin verwendeter Begriffe befaßt oder eine neuartige,
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Hierzu und zum folgenden vgl. etwa: Busse, Dietrich: Juristische Semantik. Berlin 1993; Jeand'Heur, Bernd: Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit. Berlin 1989; sowie Müller, Friedrich: Untersuchungen zur Rechtslinguistik. Berlin 1989.
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bisher unübliche Interpretation des fraglichen Ausdrucks nahelegt." Die Konkretisierung rechtssprachlicher Begriffe erweist sich vor diesem Hintergrund als eine komplexe, hochspezialisierte Tätigkeit, bei der Bedeutungen nicht einfach ,verstanden', sondern durch die regelhafte Bezugnahme auf ganze Netzwerke unterschiedlicher Texte immer wieder neu konstituiert werden. Welchen Umfang solche Netzwerke haben können, hat Busse12 am Beispiel des Lexems Diebstahl gezeigt: Allein zur Klärung der gängigen juristischen Gebrauchsweise des erwähnten Begriffs ist es - zumindest im Prinzip - erforderlich, insgesamt 80 Randnummern in der Kommentarliteratur mit Verweisen auf 343 Urteilstexte zur Kenntnis zu nehmen. Daß ein durchschnittlicher Laie dies nicht leisten kann, versteht sich von selbst.
2.4. Schwierigkeiten im Umgang mit Gesetzestexten Lexikalische und semantische Besonderheiten wie die oben erläuterten sind dafür verantwortlich, daß Gesetzestexte dem Laien andere Verstehensprobleme bereiten als beispielsweise medizinische oder technische Fachtexte. Spezielle Schwierigkeiten, die bei der Auseinandersetzung mit Rechtsnormen auftreten, sind u. a. folgende: a) Offensichtlich .schwierige' Wörter (etwa Fremdwörter), die jeden Leser sofort erkennen lassen, daß er es mit einem fachsprachlichen Text zu tun hat, sind in Rechtsnormen relativ selten. Der Laie läuft deshalb Gefahr, Lexeme für gemeinsprachlich zu halten, die in Wahrheit spezifisch juristischen Gebrauchsregeln folgen. Auf dieser Basis kommt es leicht zu falschen Bedeutungszuweisungen, die letztlich zur Fehlinterpretation ganzer Texte führen können, b) Bewährte Strategien zur Erschließung unbekannter Lexeme, etwa der Griff zum (Fach)Wörterbuch und der Versuch einer .Übersetzung', erweisen sich im Umgang mit Rechtsnormen als wenig effizient: Da rechtssprachliche Ausdrücke prinzipiell semantisch offen sind, d. h. je nach verhandeltem Fall sehr unterschiedlich ausgelegt werden können, ist es kaum möglich, sie ein für allemal in einem Nachschlagewerk zu erfassen: Jede kurze, leicht verständliche Worterklärung bliebe notwendigerweise unpräzise, c) Den möglichen Bedeutungen eines rechtssprachlichen Ausdrucks selbständig auf die Spur kommen zu wollen, ist wenig erfolgversprechend. Nicht umsonst ist die adäquate Konkretisierung von Rechtsnormen und -begriffen eine genuin fachliche Tätigkeit: Sowohl die Auswahl der auslegungsrelevanten Texte als auch ihre methodisch korrekte Vernetzung erfordern weit mehr an juristischem Wissen, als selbst ein interessierter Laie nebenbei erwerben könnte. Für die didaktische Auseinandersetzung mit Rechtsnormen haben die skizzierten Probleme wichtige Implikationen: Offensichtlich ist zunächst, daß Jugendliche im Schulunterricht auf den schwierigen Umgang mit Gesetzen Vgl. zu diesem Komplex auch Frilling, Sabine: Textsorten in juristischen Fachzeitschriften. Münster, New York 1994, S. 88-102. Busse, Dietrich: Recht als Text. Tübingen 1992, S. 189.
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vorbereitet werden müssen. Ebenso evident aber ist, daß dies nur auf der Grundlage von Unterrichtskonzepten geschehen kann, die den besonderen Charakter der Rechtssprache ernst nehmen. Gängige didaktische Entwürfe wie die in Kapitel l referierten erfüllen diese Voraussetzung nur bedingt: Durch ihre prinzipielle Anlage unterstellen sie, daß sich Schüler tatsächlich im Deutschunterricht zu einem weitgehend selbständigen Umgang mit Gesetzestexten erziehen lassen, was angesichts der oben dargestellten Befunde bezweifelt werden muß. Darüber hinaus aber legen sie Rezeptionsstrategien nahe, von denen einige für den Umgang mit Gesetzestexten definitiv ungeeignet sind: Das Aufspüren, Klären und Ersetzen schwieriger Wörter mag bei der Lektüre einer technischen Produktbeschreibung oder eines Arztbriefs helfen; Rechtsnormen aber lassen sich auf diesem Weg nicht erschließen. Es erscheint daher als geboten, noch einmal neu über mögliche Ziele und Verfahren einer unterrichtlichen Behandlung von Gesetzen nachzudenken und damit Voraussetzungen für die Entwicklung alternativer didaktischer Konzepte zu schaffen.
3. Konsequenzen für den Deutschunterricht 3. L Lernziele und methodische Grundsätze Die Behandlung von Fachsprachen im Deutschunterricht hat prinzipiell zwei mögliche Zwecke: Sie kann Schüler zur aktiven Teilnahme an fachinternen Verständigungsprozessen befähigen. Sie kann aber auch auf reine Sprachreflexion - d. h. das Nachdenken über Funktionen, Merkmale und Probleme fachsprachlicher Kommunikation - ausgerichtet sein.13 Da, wie ausgeführt, bereits das Verstehen von Rechtstexten ein gut ausgebautes juristisches Fachwissen erfordert, muß die schulische Auseinandersetzung mit Gesetzessprache v. a. kognitiver Natur sein. Der Schüler sollte in diesem Rahmen allerdings so weit in die Gesetzessprache Einblick gewinnen, daß er ermessen kann, welche Strategien im Umgang mit ihr erfolgversprechend sind. Der Unterricht muß daher mindestens zwei grundlegende Einsichten vermitteln: a) daß die in Rechtsnormen gebräuchlichen Fachausdrücke aufgrund ihrer besonderen Funktion schwer identifizierbar und semantisch vage sind sowie b) daß die Interpretation von Rechtsbegriffen eine fachliche Tätigkeit ist, bei der es nicht nur auf das einzelne Lexem und seinen Kontext ankommt, sondern auch auf die Relationen, die sich zwischen ihm und weiteren Fachtexten herstellen lassen. Auf dieser Grundlage kann sich zunächst erschließen, daß einige der oft gerügten Merkmale der Vgl. dazu Hoberg, Rudolf: Methoden im fachbezogenen Muttersprachenunterricht, in: Hoffmann, Lothar; Kalverkämper, Hartwig; Wiegand, Herbert Ernst (Hgg.): Fachsprachen - Languages for Special Purposes. Halbband 1. Berlin, New York 1998, S. 954-960. (Handbücher zur Sprach- und Literaturwissenschaft 14)
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Rechtssprache, etwa ihre Abstraktheit, durchaus funktional sind. Vor allem aber dürfte ersichtlich werden, daß für den Umgang mit Rechtsnormen - zumindest im juristischen Ernstfall - nur eine Strategie in Frage kommt: Die Inanspruchnahme der sachkundigen Hilfe einer öffentlichen Rechtsberatung oder eines vertrauenswürdigen Anwalts. Zur Realisierung beider erwähnten Ziele ist ein Unterricht erforderlich, der sich nicht auf die Katalogisierung struktureller Textmerkmale beschränkt, sondern das Wesen der Gesetzessprache aus ihrer institutionellen Aufgabe und Funktionsweise heraus begreiflich macht: Im Hinblick darauf erscheint eine Kooperation zwischen Deutsch- und Rechtskundeunterricht, evtl. im Rahmen eines fächerübergreifenden Unterrichtsprojekts .Rechtsprechung', als geboten: Aufgabe des Rechtskundelehrers wäre es in diesem Kontext, Einsichten in relevante institutionelle Rahmenbedingungen (z. B. den normalen Ablauf gerichtlicher Verfahren) und in den juristischen Umgang mit zentralen Textsorten wie dem Gesetz, dem Urteil oder dem Kommentar zu vermitteln. Die Zuständigkeiten des Deutschlehrers würden sich dagegen auf den sprachlichen Sektor beschränken, etwa darauf, allgemeine Merkmale der Rechtslexik zu erarbeiten. Auch bei der Behandlung einzelner Lexeme ist allerdings eine prinzipiell textorientierte Herangehensweise unverzichtbar: Ausdrücke wie Diebstahl oder Sache werden schließlich erst dadurch zu Fachausdrücken, daß sie im Gesetzestext Verwendung finden, und ihre konkreten Bedeutungen ergeben sich aus Relationen, die zwischen diesem und weiteren juristischen Texten herstellbar sind. Unterrichtliche Auseinandersetzung mit Rechtslexik ist daher notwendigerweise Arbeit mit Texten.
3.2. Ein Beispiel Wie Juristen durch das geregelte Aufeinanderbeziehen verschiedener Texte semantische Entscheidungen treffen, wird am ehesten dadurch begreifbar, daß man es am vereinfachten Modell ausprobiert. Im Mittelpunkt einer fächerübergreifenden Unterrichtseinheit ,Rechtssprechung' könnte darum eine (Doppel)Stunde stehen, in der Schüler (ab Klasse 10) selbst in die Rolle von Rechtsanwendern schlüpfen und über die Anwendbarkeit eines Rechtsbegriffs - etwa des Begriffs Diebstahl - auf eine reale Lebenssituation befinden müssen. Den besten Ausgangspunkt für eine entsprechende Untersuchung bildet die Darstellung eines konkreten juristischen Falls, aus der sich im anschließenden Unterrichtsgespräch eine klare semantische Problemstellung ableiten läßt. In Frage käme beispielsweise die Geschichte eines strafmündigen Jugendlichen J, der bei einem Kaufhausbesuch CDs in seiner Manteltasche verschwinden läßt, allerdings schon vor dem Verlassen der Abteilung von einem Detektiv gestellt und des Diebstahls bezichtigt wird. Das Problem liegt in diesem Fall auf der Hand: Kann man von .DiebstahP sprechen, wenn der Täter seine Beute noch gar nicht davongetragen hat? Um hier zu einem juristischen Urteil zu gelangen, müssen sich die (in Gruppen arbeitenden) Schüler über die fachinterne Gebrauchsweise
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des Ausdrucks Diebstahl informieren. Dazu reicht es, wie erwartbar, nicht aus, den Wortlaut des einschlägigen Gesetzestextes (§ 242 StGB) zur Kenntnis zu nehmen, da dieser abstrakt und damit auslegungsbedürftig ist: „Diebstahl (1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." (Text I)
Ob J die CDs tatsächlich im Sinne des Gesetzes ,weggenommen' hat, kann - annäherungsweise - erst unter Rekurs auf jene Auslegungskriterien geklärt werden, die sich in der bisherigen Urteilspraxis (bzw. im wissenschaftlichen Diskurs) herausgebildet haben und in die Kommentarliteratur eingegangen sind. Zusätzlich zum zitierten Gesetz werden den Arbeitsgruppen daher - ungeordnet und unnumeriert - folgende Auszüge aus juristischen Kommentaren zur Verfügung gestellt: „Wegnehmen ist Bruch fremden und Begründung neuen Gewahrsams [...]." (Text II) „Erforderlich dafür [d. h. den Bruch des fremden Gewahrsams] ist die Aufhebung der tatsächlichen Herrschaftsmacht [...] ohne Willen des bisherigen Gewahrsamsinhabers [...]." (Text III) „Ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis besteht, wenn der unmittelbaren Verwirklichung des Einwirkungswillens auf die Sache keine Hindernisse entgegenstehen."1 (Text IV) „Neuer Gewahrsam [...] ist begründet, wenn der Täter [...] die Herrschaftsmacht über die Sache [...] erlangt hat [...]. Bei unauffälligen, leicht beweglichen Sachen [...] genügt im allgemeinen schon ein Ergreifen und Festhalten [...]. Sonst begründet an Sachen geringen Umfangs neuen Gewahrsam idR schon, wer die Beute in seine Kleidung [...] steckt [...]. Bei sperrigen [...] Gegenständen sowie bei Sachen, die wegen ihrer Vielzahl auffälligen Abtransports bedürfen, ist Gewahrsam erst begründet, wenn der Täter die Sache aus dem fremden Machtbereich herausgeschafft hat [...].' (Text V)
Bei der gruppeninternen Arbeit mit dem angeführten Material kommt es zunächst auf sorgfältige Rezeption, dann aber v. a. auf die zielgerichtete Herstellung von Text-zu-Text-Relationen an: Die anfänglich ungeordneten Textauszüge müssen so zueinander in Beziehung gesetzt werden, daß sich daraus eine Konkretisierung des zentralen Begriffs .wegnehmen' und damit eine Klärung des initialen Problems (Liegt ein Fall von Diebstahl vor?) ergibt. Dabei können die Schüler - durch eigene Erfahrung - lernen, daß sich die Bedeutung juristischer Fachausdrücke u. U. erst über komplexe Referenzketten erschließt. So ist der Begriff ,Diebstahl' deshalb auf den Beispielfall anwendbar, weil J a) die CDs ohne zu zahlen eingesteckt, d. h. durch Aufhebung der tatsächlichen Herrschaftsmacht (Text III) fremden Gewahrsam gebrochen hat (vgl. Text II) und b) mit dem Verstecken der Beute in der Kleidung (vgl. Text V) gleichzeitig neuen Gewahrsam begründet hat (vgl. Text II). Demnach hat J die CDs im Sinne des
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Lackner, Karl (Hg.): Strafgesetzbuch: mit Erläuterungen. 21., neubearbeitete Auflage. München 1995, S. 978. Einfügung nicht im Original. Schönke, Adolf; Schröder, Horst: Strafgesetzbuch: Kommentar. 22., neubearbeitete Auflage. München 1985, S. 1483. Schönke; Schröder, 1985, S. 1481. Lackner, 1995,8.981-982.
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Gesetzes weggenommen (vgl. Text II); die Bedingungen für die Anwendbarkeit des § 242 StGB (Text I) sind somit erfüllt. Entscheidungswichtige Text-zuText-Relationen wie die angedeuteten können bei der Gruppenarbeit durch entsprechendes Aufkleben der Textauszüge auf Karton, farbige Hervorhebungen von Textstellen, Pfeilverbindungen u. ä. anschaulich gemacht und abschließend in dieser Form dem Plenum präsentiert werden. Ergänzend zur beschriebenen Textarbeit empfiehlt sich die Einführung einer Variante des ursprünglichen Fallbeispiels: J steckt diesmal keine CDs ein, sondern versucht, einen ganzen Kleiderständer mit Winterjacken wegzurollen. Der Umstand, daß mit einer solchen Tat offenbar kein neuer Gewahrsam begründet wird (vgl. Text V) und darum auch nur von versuchtem Diebstahl die Rede sein kann, würde die Spezifik des juristischen Sprachgebrauchs besonders deutlich hervortreten lassen. Denn schließlich müßten die Schüler hier zu dem Ergebnis kommen, daß die rechtliche Beurteilung der Frage „Diebstahl oder nur versuchter Diebstahl?" - anders als in der Alltagskommunikation üblich - u. U. auch einmal von der Größe und Auffälligkeit der Beute abhängen kann.
4. Fazit Wie oben ausgeführt ist die Sprache der Gesetze eine ,untypische' Fachsprache, deren unterrichtliche Behandlung einen speziell angepaßten didaktischen Rahmen erfordert. Das allein rechtfertigt allerdings noch nicht den Schluß, daß die Rechtssprache eine Art Ausnahmestellung einnimmt, d. h. losgelöst vom Themenbereich ,Fachsprachen' reflektiert werden sollte. Naheliegender ist die Annahme, daß es ,typische' Fachsprachen im eingangs beschriebenen landläufigen Sinn (vgl. Kapitel 1) gar nicht gibt: Formen und Funktionen der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit Fachkommunikation müßten demnach prinzipiell variabel sein. Als Bezugsgrundlage für eine entsprechende Praxis scheint eine Auswahl von miteinander vernetzten Einzeldidaktiken weit besser geeignet zu sein als eine einheitlich konzipierte, allgemeine Fachsprachendidaktik.
Wilhelm Grießhaber
Zum Begriff,Wirtschaftssprache' Überlegungen und Vorschläge zur Analyse der Fachsprache der Wirtschaft
1. Einleitung In den vergangenen Jahren wurden als Ausdruck wachsender Unzufriedenheit mit konventionellen, lexikalisch bzw. syntaktisch und quantitativ orientierten Analyseansätzen verschiedene Modelle zur Analyse der Wirtschaftssprache vorgestellt. Dabei ist festzustellen, daß die Wirtschaftssprachen bislang kaum systematisch untersucht sind.1 Hundsnurschers Klage2 über die Vernachlässigung zentraler gesellschaftlicher Tätigkeitsbereiche (u. a. der Wirtschaft) durch die Sprachwissenschaft ist somit immer noch aktuell. Den Schritt aus dem selbstgewählten Ghetto unterlegt er mit transkriptbasierten Studien zu Verkaufs-/ Einkaufsgesprächen,3 in denen die umfangreiche Ratgeberliteratur, taxonomische Arbeiten und exemplarische Transkriptanalysen miteinander verknüpft werden.4 Die Weiterentwicklung zu einem theoretisch fundierten Konzept zur Analyse der Wirtschaftssprache steht noch aus. Im Folgenden werden zunächst exemplarisch aktuelle Ansätze zur Analyse der Wirtschaftssprache(n) vorgestellt und diskutiert (vgl. 2). Als Konsequenz aus der Kritik der Ansätze werden von einer wortgeschichtlichen Analyse aus die zentralen Momente wirtschaftlichen Handelns bestimmt (vgl. 3) und im Rahmen eines funktional pragmatischen Ansatzes Grundzüge wirtschaftlichen Handelns vorgestellt (vgl. 4). Aus der Konfrontation mit den Stadien des individuellen Handlungsprozesses wird das Ineinandergreifen von institutionellen Handlungsbedingungen und individuellem wirtschaftlichen Handeln entwickelt (vgl. 5). Abschließend wird die fachsprachliche Lexik im Rahmen des pragmatischen Ansatzes thematisiert (vgl. 6).
Hundt, Markus: Neuere institutionelle und wissenschaftliche Wirtschaftsfachsprachen, in: Hoffmann, Lothar; Kalverkamper, Hartwig; Wiegand, Herbert Ernst (Hgg.): Fachsprachen. Languages for Special Purposes. Hg. in Verbindung mit Christian Galinski und Werner Hüllen. 1. Halbband. Berlin u. New York 1998, S. 1296-1304. Vgl. Hundsnurscher, Franz. Einleitung, in: Hundsnurscher, Franz; Franke, Wilhelm (Hgg.): Das Verkaufs-/Einkaufs-Gespräch. Eine linguistische Analyse. Stuttgart 1985, S. 1-9. Hundsnurscher, Franz; Franke, Wilhelm (Hgg.): Das Verkaufs-TEinkaufs-Gespräch. Eine linguistische Analyse. Stuttgart 1985. Ähnlich integriert analysiert Grießhaber Einstellungsgespräche; vgl. Grießhaber, Wilhelm: Authentisches und zitierendes Handeln. Band I. Einstellungsgespräche. Tübingen 1987a.
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2. Aktuelle Ansätze zur Analyse der Wirtschaftssprache(n) Von den frühen Arbeiten zur Handelssprache oder zum Kaufmannsdeutsch zu Beginn des Jahrhunderts bis zu aktuellen Arbeiten stehen Wirtschaftssprachanalysen immer noch eher am Rande sprachwissenschaftlicher und fachsprachlicher Forschungen.5 Dies resultiert einerseits aus der Komplexität des Untersuchungsgegenstands, insofern sich die Analyse der Sprache der Wirtschaft angesichts der Durchdringung nahezu aller Gesellschaftsbereiche als sehr schwierig erweist. Andererseits, so die hier vertretene These, resultiert dies aus zu engen, konventionellen Konzepten verpflichteten Forschungsansätzen. So gleicht die Erhebung repräsentativer Corpora angesichts der Branchenvielfalt und der vielfältigen vertikalen Schichtung der Quadratur des Kreises. Chamäleonartig präsentiert sich die Sprache im Gewand des jeweils betrachteten Sektors oder Branche, wenn man die Texte eines Unternehmens betrachtet.6 Von diesen Beobachtungen aus wird zu Recht die Frage gestellt, ob es ,Wirtschaftsdeutsch' überhaupt gibt. Zur Lösung des Problems wurden in den vergangenen Jahren verschiedene, sich teilweise ausschließende Typologien vorgestellt.7 Als gemeinsamer Kern erweisen sich die Orientierung auf Texte und die zur Analyse der Texte angewandten Verfahren. Entwicklungen zeigen sich in der Erweiterung der untersuchten sprachlichen Einheiten: von der Fachlexik i. e. S. zur morphologischen und syntaktischen Ebene, von schriftlichen zu mündlichen Äußerungen. Die jeweils ermittelten linguistischen Befunde werden mit außersprachlichen Größen korreliert. Außersprachliche Sachverhalte dienen umgekehrt der Systematisierung und Abgrenzung von Fächern, die wiederum die Grundlage der jeweiligen Fachsprache bilden.8 Vom untersuchten Wirklichkeitsausschnitt aus, der Wirtschaft und der in ihr verwendeten Sprache(n), führt dies zu einer Einteilung nach Volks- und Betriebswirtschaft mit entsprechenden makro- und mikroökonomischen Zugängen. Aus der volkswirtschaftlichen Vogelschau ergibt sich die Dreiteilung in einen primären Sektor mit Land-, Forstwirtschaft und Bergbau, einen sekundären Sektor mit produzierendem und verarbeitendem Gewerbe und einen tertiären Sektor mit dem Dienstleistungsgewerbe. Sektorspezifischen Kommunikationsbedürfnissen und damit verbundenen Anforderungen an die verwendeten sprachlichen Mittel entsprechen sprachliche Unterschiede.9
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Vgl. Hundt, Markus: Modellbildung in der Wirtschaftssprache. Zur Geschichte der Institutionen- und Theoriefachsprachen der Wirtschaft. Tübingen 1995; Hundt, 1998. Mohn, Dieter; Pelka, Roland: Fachsprachen. Eine Einführung. Tübingen 1984, Kap. 4. l. Vgl. Hundt, 1998; ähnlich Ihle-Schmidt, Liselotte: Studien zur französischen Wirtschanssprache. Frankfurt/M. 1983. So die Vorgehensweise in den klassischen Arbeiten zur Fachsprachanalyse. Vgl. Hoffmann, Lothar: Kommunikationsmittel Fachsprache. Eine Einführung. 2. Aufl. Tübingen 1985; oder die Beiträge von Kalverkämper, Hartwig, in: Hoffmann u. a. (Hgg.), 1998, S. 1-92. Vgl. z. B. Hundt, 1995.
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Diese Blickrichtung kehrt Bolten um, indem er annimmt, daß irgendein Großunternehmen auf Grund seiner Einbindung in gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge im verkleinerten Maßstab auch die Makroökonomie repräsentiere.10 Er schlägt eine horizontale Fachgliederung in potentiell grundständige Bereiche wie z. B. Geschäftsleitung, Finanzen, Absatz, Produktion usw. und eine vertikale Schichtung nach Managementebenen vor. Letzterer entspricht eine Gliederung in Theorie-, Berufs- und fachbezogene Umgangssprache. Bildlich gesprochen avanciert das Unternehmensorganigramm zum idealtypischen Strukturmodell für fachsprachliche Analysen. Die aus dem engen Fachbegriff entwickelten Wirtschaftsbereiche stehen jedoch weitgehend verbindungslos nebeneinander. Nicht zuletzt aufgrund seiner fremdsprachdidaktischen Zielsetzung wird auch mündliche Fachkommunikation berücksichtigt. Mit noch strikterer fremdsprachdidaktischer Motivation überträgt Buhlmann ein für naturwissenschaftliche Fachsprachen entwickeltes Modell auf die Wirtschaft." Zielleitende Größen sind die vorab zu ermittelnden fachsprachlichkommunikativen Bedürfnisse der Lerner. Ausgangspunkt sind die für die Lerner relevanten fachlichen Kontaktzonen und die sprachlichen Anforderungen in ihnen. Aus diesem kommunikativen Soll-Stand werden corpusbasiert fachsprachlich relevante Merkmale ermittelt und in ein Curriculum umgesetzt. Ein derart erstelltes geschlossenes Curriculum ist auf die Identifizierung der relevanten Handlungskonstellationen und der in ihnen verwendeten sprachlichen Mittel angewiesen. Da das Modell auf eine allgemeine, umfassende Typologisierung wirtschaftssprachlicher Texte verzichtet, stellt die Fachsprache Wirtschaft kein allgemeines Problem dar, insoweit die maßgeblichen Parameter jeweils für bestimmte Kontaktsituationen konkret ermittelt werden. Auf der anderen Seite sind die Ergebnisse entsprechend schwer zu vereinheitlichen. Generell stellt sich diesen Ansätzen das methodische Problem, außersprachliche Sachverhalte mit linguistisch definierten Textmerkmalen zu korrelieren.12 Über statistische Aussagen zu Merkmalsverteilungen und -korrelationen hinaus lassen sich kaum funktionale Beziehungen zwischen außersprachlichen Sachverhalten und sprachlichen Mitteln erarbeiten.13 Für die Bestimmung des Forschungsgegenstands Wirtschaftssprache ergeben sich ähnliche Probleme wie bei Vgl. Bolten, Jürgen: .Fachsprache' oder .Sprachbereich'? Empirisch-pragmatische Grundlagen zur Beschreibung der deutschen Wirtschans-, Medizin- und Rechtssprache, in: Bungarten, Theo (Hg.): Beiträge zur Fachsprachenforschung. Band 1. Tostedt 1992, S. 5711
Vgl. Buhlmann, Rosemarie: „Wirtschaftsdeutsch" - didaktisch relevante Merkmale, in: Fremdsprachen lehren und lernen 19 (1990), S. 46-93. Für ein derartiges Korrelationsmodell zur Erforschung der gesprochenen Sprache vgl. Steger, Hugo: Forschungsbericht: Gesprochene Sprache, in: Triesch, Manfred (Hg.): Probleme des Deutschen als Fremdsprache. München 1969, S. 80-99. Vgl. Grießhaber, Wilhelm: Sprachlehrforschung - eine besondere deutsche Disziplin im internationalen Rahmen, in: Tertium Comparationis. Journal für Internationale Bildungsforschung 2 (1995), S. 123-138; zu allgemeinen methodologischen Problemen beim korrelierenden Vorgehen vgl. Dittmann, Jürgen: Einleitung - Was ist, zu welchen Zwecken und wie treiben wir Konversationsanalyse?, in: Dittmann, Jürgen (Hg.): Arbeiten zur Konversationsanalyse. Tübingen 1979, S. 1-43.
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der Erforschung der gesprochenen Sprache: So wie sich die für die Sprachverwendung relevanten situativen Faktoren systematisch schwer ermitteln lassen, läßt sich das wirtschaftliche Handeln kaum fassen. Schließlich erhält man für jeden Wirtschaftszweig, jede Branche eigene Wirtschaftsfachsprachen, ohne daß deren Gemeinsamkeiten geklärt wären. Als äußerst widerspenstig erweist sich die Integration außersprachlicher Sachverhalte mit sprachlichen Merkmalen der untersuchten Texte. Selbst sehr differenzierte Modelle wie die Typologie schriftlicher Fachtextsorten von Gläser14 stellen letztlich verschiedene Textsorten nebeneinander. Von einer dichotomischen Einteilung ausgehend verzweigen fachinterne und -externe Texte in unterschiedlich viele und unterschiedlich tief gestaffelte Textsorten. Das ergibt z. B. für didaktisierende und direktive Textsorten Parallelen in beiden Zweigen, während fachinformationsvermittelnde Textsorten nur fachintern vorkommen. Die sehr allgemein bestimmten Textfunktionen fuhren unter Berücksichtigung mündlicher Fachkommunikation zu einem äußerst breit gefächerten TextsortenSpektrum.15
3. Begriffliche Annäherung Die aufgezeigten Probleme lassen sich überwinden, wenn die Annäherung an den Untersuchungsgegenstand nicht über die einzelnen ausdifferenzierten Einheiten und sprachlichen Erscheinungen der Wirtschaft erfolgt, sondern von der Bestimmung wirtschaftlichen Handelns ausgeht. Dies erfolgt im Rahmen der funktionalen Pragmatik, die das sprachliche Handeln und die zur Erreichung der jeweiligen Zwecke verwendeten sprachlichen Mittel betrachtet.16 Dazu sollen zunächst von den sprachlichen Wurzeln her die Wortgeschichte und die Verwendung des Begriffs Wirtschaft betrachtet werden. Darauf aufbauend werden die für linguistische Analysen relevanten Merkmale wirtschaftlichen Handelns bestimmt und so eine Bestimmung der Wirtschaftssprache vorbereitet. Die schiere Ubiquität des Wortes Wirtschaft verdeckt die Tatsache, daß es sich beim allgemeinen Bezug auf ökonomische Sachverhalte um eine Bedeutung „sehr jungen Ursprungs"17 des schon im 10. Jh. belegten Wortes handelt. Im Brockhaus von 1820 ist es als eigener Eintrag noch nicht zu finden, allerdings schon in Komposita in der heute üblichen Bedeutung, z. B. Landwirth14
Vgl. Gläser, Rosemarie: Fachtextsorten im Englischen. Tübingen 1990. So bezeichnet Göpferich ihr dreidimensionales Typologiemodell eher als theoretisches Konstrukt denn als ein unmittelbar forschungsleitendes Modell. Vgl. Göpferich, Susanne: Textsorten in Naturwissenschaften und Technik. Pragmatische Typologie - Kontrastierung -Translation. Tübingen 1995. Vgl. Ehlich, Konrad: Language in the professions: Text and discourse, in: Grindsted, Annette; Wagner, Johannes (Hgg.): Communication for Specific Purposes - Fachsprachliche Kommunikation. Tübingen 1992, S. 9-29. Grimm, Jakob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 6. Bearbeitet von Hermann Wunderlich. Leipzig 1960, S. 676. (Nachdruck Leipzig 1991)
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schaft™ oder Nationalwirthschafts lehre19, dem unter dem Hauptstichwort Nationalökonomie zehn Seiten gewidmet sind. Im Anschluß an Adam Smiths bahnbrechende Arbeit werden als Gegenstände der Nationalökonomie Begriffe (z. B. Güter, Preis, Kapital) aufgeführt, denen noch heute ein zentraler Stellenwert zukommt. Wir finden also zu Beginn des 19. Jhs. schon kurz nach Erscheinen eines grundlegenden wissenschaftlichen Werkes zentrale theoretische Elemente, aber noch keinen allgemeinen Begriff für wirtschaftliches Handeln. Im Englischen finden wir mit economy und economics zwei eng verwandte Begriffe als Äquivalent zu Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaften. Die englischen Begriffe gehen über lateinisch oeconomia auf das griechische (Hausverwalter) zurück, das das Handeln des sparsamen Verwalters bezeichnet. Die englischen eco/jo/w-Begriffe haben also einen Bezug zum Wirtschaften, und zwar besonders zum sparsamen, eben ökonomischen, das nach A. Smith gesellschaftliches und individuelles wirtschaftliches Handeln bestimmt. Von hier ergibt sich eine Verbindung zur zentralen Definition des Wirtschaftens, wie es in den Wirtschaftswissenschaften analysiert wird. Das seit Jahrzehnten dominante Einführungswerk „Economics" definiert den Gegenstand wie folgt: "Economics is the study of how societies use scarce resources to produce valuable commodities and distribute them among different groups."20
Ähnliche Definitionen wirtschaftlichen Handelns finden wir in deutschen Texten: „Wirtschaften nennen wir jedes Bemühen, begrenzte Mittel im Hinblick auf alternative Verwendungsmöglichkeiten zu nutzen."
Dieses wirtschaftliche Handeln im engeren Sinn soll im Folgenden der Bezugspunkt zur Bestimmung der Wirtschaftssprache sein. Dazu werden zunächst die für eine linguistische Betrachtung relevanten Aspekte wirtschaftlichen Handelns zu bestimmen sein.
4. Grundzüge wirtschaftlichen Handelns Für sprachwissenschaftliche Analysen sind insbesondere zwei Momente des wirtschaftlichen Handelns relevant: die begrenzte Verfügbarkeit von Ressourcen und der alternative Einsatz (begrenzter) Mittel. Bezogen auf das wirtschaftliche Handeln eines einzelnen Unternehmens bedeutet dies: es muß sich in der Konkurrenz durch den Verkauf von Waren oder Dienstleistungen an Kunden behaupten. Dazu müssen jedoch zunächst die zu verkaufenden Waren produziert oder die Voraussetzungen zur Erbringung von Dienstleistungen geschaffen Brockhaus, Friedrich Arnold: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie fllr die gebildeten Stande (Conversations-Lexicon). Bd. 5. 5. Aufl. Leipzig 1820, S. 613f.
*" Brockhaus, 1820, Bd. 6, S. 731 ff. 21
Samuelson, Paul A; Nordhaus, William D.: Economics. 13. Aufl. New York u. a. 1989, S. 5. Häuser, Karl: Volkswirtschaftslehre. Funk-Kolleg. Bd. 2. Frankfurt/M. 1967, S. 34.
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sein. Jedem Verkauf gehen also Investitionen voraus. Auf der Basis falscher Investitionsentscheidungen bleibt das Unternehmen auf unverkäuflichen Produkten oder Dienstleistungen sitzen und scheidet aus dem Wirtschaftskreislauf aus. Daraus ergeben sich vier grundlegende Typen wirtschaftlichen Handelns: Einschätzungen künftiger Entwicklungen (Orientierung), Entscheidungen über künftige Handlungen, Steuerung des Handelns von Mitarbeitern und Verhandlungen über Kaufund Verkauf von Waren. Der Einsatz begrenzter Ressourcen für künftige Erfolge bedingt die erste Besonderheit wirtschaftlichen Handelns: Da die Früchte aktuellen Handelns erst in der Zukunft realisiert werden können, müssen künftige Entwicklungen frühzeitig zuverlässig prognostiziert werden. Dies erfolgt durch Sammlung, Aufbereitung und Bewertung relevanter Daten zur Erschließung und Einschätzung künftiger Entwicklungen. Diese auch im alltäglichen Handeln durchgeführten Tätigkeiten sind für wirtschaftliches Handeln existenziell und besitzen aufgrund der besonderen Funktion vermutlich auch besondere Formen: wissenschaftliche Gutachten, Beiträge in Fachzeitschriften und Organen für Führungskräfte bis zur Berichterstattung in Regionalzeitungen. Sie betreffen volkswirtschaftliche Entwicklungen wie Nachrichten aus/über Branchen oder einzelne Unternehmen22. Im pragmatischer orientierten angelsächsischen Raum wurde dieser Bereich von der Linguistik schon entdeckt.23 Innerbetrieblich finden solche Einschätzungen routinisiert statt.24 Daher ist anzunehmen, daß die besondere Funktion im Unternehmen auch besondere Formen des sprachlichen Handelns hervorgebracht hat, die es von alltäglichen Einschätzungen unterscheidet.25 Die Betrachtung der Erstellung und Behandlung künftiger ökonomischer Entwicklungen zeigt, daß der Zugang über Handlungszwecke bekannte Daten neu arrangiert und sowohl schriftliche wie mündliche Äußerungen umfaßt. Das zweite grundlegende Merkmal wirtschaftlichen Handelns sind Planungsund Entscheidungsdiskurse. Für erfolgversprechendes Handeln müssen Einschätzungen, die meist mehrere alternative Möglichkeiten aufzeigen, in Handlungspläne umgesetzt werden. Dazu müssen aus potentiell erfolgreichen Handlungsmöglichkeiten umsetzbare Handlungspläne entwickelt und beschlossen werden. In diesen Diskursen müssen unter Abwägung von Chancen und Risiken Mitentscheider für eine bestimmte Handlungsperspektive gewonnen werden. Dadurch unterscheiden sie sich von reinen Einschätzungsdiskursen, in denen lediglich verschiedene mögliche Entwicklungen aufgezeigt werden. In Ent-
24
Der letzte Teil stand lange im Zentrum der Wirtschaftssprachforschung. Vgl. Bloor, Thomas; Pindi, Makaya: Schematic structure in economics forecasts, in: Dudley-Evans, Tony; Henderson, Willie (Hgg.): The Language of Economics: The Analysis of Economics Discourse. Modem English Publications in association with The British Council 1990, S. 55-66. (ELT Document 134) Vgl. die Schilderung von Präsentationen eines leitenden Angestellten in Bohrig, Kristin: Innerbetriebliche Wirtschaftskommunikation in der Fremdsprache Deutsch - Erfahrungen mit dem Einsatz von Transkriptionen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache, in: Zielsprache Deutsch 4 (1997), 180-190. Zu den Veränderungen alltäglicher Handlungen in institutionellen Kontexten vgl. Rehbein, Jochen: Komplexes Handeln. Elemente zur Handlungstheorie der Sprache. Stuttgart 1977.
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scheidungsfindungsdiskursen muß dagegen eine bestimmte Möglichkeit ausgewählt und zur Grundlage des Handelns gemacht werden. In ihnen wird, wie Grießhaber an Einstellungsgesprächen zeigt,26 über verschiedene Schritte ein gemeinsam (bzw. mehrheitlich) geteiltes Wissen etabliert, das zur Entscheidung verdichtet wird.27 Planungs- und Entscheidungsdiskurse sind auch dadurch gekennzeichnet, daß in ihnen in der Regel Experten verschiedener Bereiche auf ein Ziel hin zusammenwirken. Sie sind in hohem Maße durch interfachliche Kommunikation bestimmt.28 Wirtschaftliches Handeln erfordert drittens die Steuerung des Handelns der Mitarbeiter. Dabei ist im Rahmen dieses Beitrags weniger an Arbeitsschutzvorschriften und ähnliche Regularien gedacht als an die Vermittlung von Handlungszielen, die das Handeln der Beschäftigten auf das Unternehmensziel hin orientieren. Auffälligste Vertreter dieses Sektors sind die verschiedenen „management-by"-Konzepte mit ihren Erfolgsversprechen. Im Idealfall wird erreicht, daß die Mitarbeiter eigene Impulse für wirtschaftliches Handeln im Unternehmen ausbilden. Dies umfaßt die Ausbildung angemessener Handlungsziele und Planung der dazu passenden Handlungspläne. Dafür ist die bloße Verkiindung von Handlungsplänen zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung. Die Mitarbeiter müssen bis zu einem gewissen Grad die unternehmensspezifischen handlungsleitenden Relevanzsysteme für das Handeln übernehmen und selbständig umsetzen. Der durch den Markt vermittelte Zwang zu effizientem und ressourcenbewußtem Handeln unterscheidet wirtschaftliche Anleitungsdiskurse von ähnlichen Diskursen, z. B. Lehr-Lern-Diskursen, die auf die Vermittlung von Wissen bzw. Fertigkeiten zielen. So offenkundig in Unternehmen z. B. Auszubildenden Wissen und Fertigkeiten vermittelt wird,29 so wenig sind diese Lehr-Lern-Diskurse per se durch wirtschaftliches Handeln i. e. S. geprägt. Erst durch gleichzeitige Vermittlung wirtschaftlichen Denkens wird das Handeln der Lernenden im wirtschaftlichen Sinn beeinflußt. In pragmatischem Sinne spielen in diesen Diskursen Begründungen eine besondere Rolle, die auf den aktiv mentalen Mitvollzug des Hörers (= Lerners) zielen. Insgesamt gesehen ist zusätzlich zu den institutionell ungesteuerten und den institutionell schulisch gesteuerten LehrLern-Diskursen noch der institutionell unternehmerisch bestimmte Lehr-LernDiskurs mit noch zu untersuchenden diskursiven Besonderheiten anzunehmen.
Grießhaber, 1987a. Vgl. Marquard, Judith: Argumentieren in einem Problemlösungsdiskurs in der Industrie, in: Redder, Angelika (Hg.): Diskursanalysen in praktischer Absicht. OBST 49 (1994), S. 172-189. Rehbein, Jochen: Austauschprozesse zwischen unterschiedlichen fachlichen Kommunikationsbereichen, in: Hoffmann u. a. (Hgg.), 1998, S. 689-710. Vgl. Brunner, Gisela: Kommunikation in institutionellen Lehr-Lem-Prozessen. Diskursanalytische Untersuchungen zu Instruktionen in der betrieblichen Ausbildung. Tubingen 1987.
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Der vierte grundlegende Bereich wirtschaftlicher Diskurse sind Verhandlungen.30 Beschaffung bzw. Veräußerung von Waren aller Art durch Ein- und Verkauf können geradezu als Synonym für wirtschaftliches Handeln unter Marktbedingungen gelten. Dennoch wurde der Diskurstyp sprachwissenschaftlich weit weniger untersucht als seiner Bedeutung entspricht. Zwar ist im Supermarkt moderner Industriegesellschaften die verbale Interaktion zwischen Käufer und Verkäufer im Verschwinden begriffen,31 und beim Internet-shopping reduziert sich die Kaufhandlung auf den one click buy, doch fur die allermeisten gewerblichen Ein-/Verkaufe ist nach wie vor die verbale Interaktion entscheidend. Bei großen Geschäften sind oft vermittelnde Dritte involviert (vornehmlich Banken, Beratungsdienste). Eine Besonderheit von Verhandlungen ist die Eingebundenheit ausgehandelter Verträge in rechtliche Rahmen. Selbst standardisierte nicht-verbale Ver-/Käufe unterliegen vielfältigen rechtlichen Normen. Größere Geschäfte werden regelmäßig in Verträgen schriftlich fixiert. Dabei sind in der Regel juristische Experten beteiligt. Verträge werden oft im Zusammenwirken mit Institutionen der Rechtspflege, z. B. Notaren, abgeschlossen. In jedem Fall erweist sich dieser Bereich wirtschaftlichen Handelns als in hohem Maße durch außerwirtschaftliche Größen bestimmt. Zur Abgrenzung zwischen juristischem und wirtschaftlichem Handeln können die oben vorgestellten Grundsätze verwendet werden: Soweit es um die Festlegung und Gestaltung wirtschaftlicher Ziele geht (z. B. Festlegung der gegenseitigen Rechte und Pflichten, des Umfangs eines Geschäfts, des Kaufpreises usw.), handelt es sich um wirtschaftliches Handeln. Soweit es um die rechtlich angemessene Form vertraglicher Formulierungen geht, handelt es sich um juristisches Handeln. Eine genauere Grenzziehung ist erst durch empirische Studien zu ziehen. Besonders interessant ist der Aspekt, daß eine bestimmte juristische Formulierung im Streitfall zu unbeabsichtigten Pflichten fuhren kann. Von solchen Spezialaspekten ist jedoch bei der grundsätzlichen Bestimmung eines analytischen Konzepts zunächst abzusehen. Die vier genannten Diskurstypen decken sicher nicht das ganze Spektrum wirtschaftlichen Handelns ab, sie erfassen aber den Kern wirtschaftlichen Handelns. Ob sie um weitere grundlegende Diskurstypen ergänzt werden müssen, muß die Forschung zeigen.
Zum Verhandeln vgl. Rehbein, Jochen: Verhandeln. Verbale, nonverbale und interkulturelle Aspekte einer amerikanisch-deutschen Geschäftskommunikation, in: Ehlich, Konrad; Scheiter, Susanne (Hgg.): Aspekte interkultureller Kommunikation. München (im Druck). Vgl. die Analysen in Hundsnurscher; Franke, 1985; Grießhaber, Wilhelm: Chancen und Grenzen des Rollenspiels im Fremdsprachenunterricht, in: Wierlacher, Alois; Stütze!, Georg (Hgg.): Blickwinkel. Kulturelle Optik und interkulturelle Gegenstandskonstitution. Akten des III. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik, Düsseldorf 1994. München 1996, S. 293-316.
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5. Pragmatische Aspekte wirtschaftlichen Handelns Die ersten drei der oben vorgestellten Typen wirtschaftlichen Handelns weisen unter pragmatischen Gesichtspunkten eine Gemeinsamkeit auf. Sie beziehen sich alle auf entscheidende Stadien des Handlungsprozesses, wie er von Rehbein analysiert wurde.32 Nach Rehbein ist eine Sachverhaltsänderung dann eine Handlung, wenn sie von einem oder mehreren Aktanten über folgende Stadien herbeigeführt wird: (I)
Einschätzung der Situation,
(II) Motivation, (III) Zielsetzung, (IV) Plan/Planbildung, (V) Ausführung,
(VI) Resultat. Ein Aktant durchläuft - z. T. durch besondere Mechanismen verkürzt - diese Stadien bei der Ausführung einer Handlung. Es ist unschwer zu erkennen, daß die oben vorgestellten Handlungstypen (1) Einschätzung künftiger Entwicklungen, (2) Planbildung/Entscheidungen und (3) Steuerung des Handelns der Mitarbeiter Affinitäten zu diesen Stadien aufweisen. Die Übereinstimmungen sind nicht zufällig, da in dem hier vorgestellten Konzept das wirtschaftliche Handeln eines Wirtschaftssubjekts (z. B. eines Unternehmens) auch den von Rehbein erarbeiteten Bedingungen unterworfen ist. Allerdings wird das Handeln des Unternehmens durch das Zusammenwirken hochspezialisierter Mitglieder einer Institution erreicht. Von den sechs Stadien des individuellen Handelns erweisen sich nicht alle als gleichermaßen essentiell für das wirtschaftliche Handeln. Einige Stadien sind offensichtlich unspezifischer bzw. in das Handeln der jeweils kooperierenden Mitarbeiter verlagert. Während sich die Typen (1) und (2) mehr oder weniger direkt den entsprechenden Handlungsstadien (I) und (III/IV) zuordnen lassen, erfolgt die Zuordnung von Typ (3), die Zuordnung der Steuerung des Handelns der Mitarbeiter, nicht linear. Die spezifische wirtschaftliche Steuerung umfaßt die Motivation (Stadium II), die Ausrichtung auf bestimmte Präferenzen bei der jeweiligen Zielsetzung (Stadium III), der Planbildung (Stadium IV) und der Kontrolltätigkeiten bei der Ausführung (Stadium V). Insgesamt ergibt sich eine spezifische Verschränkung institutionell organisierter und individuell durchzuführender Prozesse beim wirtschaftlichen Handeln. Wenn institutionell beschlossene Ziele und Pläne und motivierte Mitarbeiter zusammenkommen, die für sich die institutionellen Ziele und Pläne übernommen haben, dann können sie bei entsprechenden Fachkenntnissen wirtschaftlich effektiv arbeiten. Der Typ der Verhandlungen läßt sich dagegen nicht in gleichem Maße den Stadien des Handlungsprozesses zuordnen. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß Verhandlungen per defmitionem kooperative Handlungsmuster sind, in
32
Vgl. Rehbein, 1977, S. 175ff.
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denen mehrere Aktanten zusammenwirken. Deshalb sind Verhandlungen nicht in den Stadien des individuellen Handlungsprozesses angesiedelt. Aus dem kooperativen Charakter von Verhandlungen folgt eine starke Prägung durch interfachliches Handeln, da die Einbeziehung zusätzlicher Ressourcen der Erweiterung eigener Handlungsmöglichkeiten dient.
6. Fachsprachliche Lexik pragmatisch betrachtet Vertreter der textorientierten Fachsprachforschung mögen bei dem vorliegenden Vorschlag die Fachsprache i. e. S., den Fachwortschatz, vermissen. In pragmatischer Sicht stehen jedoch nicht Äußerungsformen als solche im Zentrum, sondern ihre Verwendung beim Handeln. In diesem Sinne ist das zunächst ins Auge springende Merkmal fachsprachlicher Kommunikation, die besondere Lexik, erst im Zusammenhang mit den Typen fachlicher Handlungen zu bestimmen. Hier bietet der englische Begriff der language for specific purposes einen auf den Zweck des Handelns gerichteten Zugang." In dieser Perspektive resultieren aus der Verwendung spezieller Werkzeuge und der Bearbeitung spezieller Sachverhalte spezielle Begriffe. Die sprachlichen Mittel zur Verbalisierung und Rezeption von Wissen über die Wirklichkeit sind vornehmlich die der nennenden Prozedur.34 Deren Mittel sind nach Ehlich35 Bühlers Symbolfeld36 zuzuordnen. Mit Symbolfeldausdrücken (Nomen, Verben, Adjektive, Adverbien) wird ein bestimmter Ausschnitt der Wirklichkeit versprachlicht und zwischen Sprecher und Hörer kommuniziert. Die Bindung von Fachausdrücken an fachliches Handeln wird mit diesem Zugang adäquat erfaßt. Umgekehrt ermöglicht die Kenntnis fachlicher Begriffe noch nicht fachliches Handeln, sondern nur die Reproduktion verbaler Ausdrücke.37
34 35
37
Alexander, Richard J.: The recent English-language register of economics and its present importance for world commerce and trade in the late 20th century, in: Hoffmann u. a. (Hgg.), 1998, S. 1466-1472. Vgl. Rehbein, 1998, S. 692. Ehlich, Konrad: Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse - Ziele und Verfahren, in: Flader, Dieter (Hg.): Verbale Interaktion. Studien zur Empirie und Methodologie der Pragmatik. Stuttgart 1991, S. 127-143. Buhler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena 1934. Vgl. Grießhaber, Wilhelm: Authentisches und zitierendes Handeln. Band II. Rollenspiele im Sprachunterricht. Tübingen 1987b; und Grießhaber, Wilhelm: Fachsprachvermittlungspraxis. DaF-Wirtschaftsdeutsch-Lehrmaterialien und ihre Anwendung im Unterricht, in: BUhrig, Kristin; Matras, Yaron (Hgg.): Sprachtheorie und sprachliches Handeln. Tubingen 1999, S. 1-21. Vgl. auch Wichter, Sigurd: Experten- und Laienwortschätze. Umriß einer Lexikologie der Vertikalität. Tübingen 1994.
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7. Ausblick Wirtschaftliches Handeln präsentiert sich bei einer Annäherung über die Äußerungsseite als kaum zu strukturierende Vielfalt unterschiedlichster Wirtschaftssprachen. Dies fuhrt bei konventionellen Ansätzen der Fachsprachanalyse in Verbindung mit den sprachextern, aus den Bezugswissenschaften Übernommenen Systematisierungen wirtschaftlicher Sachverhalte zu äußerlichen Korrelationen sprachlicher und außersprachlicher Merkmale. Die so erarbeiteten oder vorgeschlagenen Typologien besitzen deshalb wenig Erklärungskraft hinsichtlich des sprachlichen Handelns.38 Dagegen wird ein funktional pragmatischer Ansatz vorgeschlagen, der sich den Spezifika des wirtschaftlichen Handelns von den zugrundeliegenden Handlungszwecken her nähert. Für wirtschaftliches Handeln lassen sich demnach vier grundlegende Diskurstypen ermitteln, von denen drei parallel zu den Stadien individueller Handlungsprozesse stehen. Die Besonderheit des wirtschaftlichen Handelns liegt in der engen Beziehung dieser institutionell bestimmten Diskurse zu den je individuellen Handlungssystemen der Mitarbeiter. Die analytisch erarbeitete Trennung von wirtschaftlichem Handeln und z. B. naturwissenschaftlich-technischem Handeln ist in empirischen Studien zu konkretisieren. Insbesondere die durch interfachliches Handeln geprägten Typen der Einschätzungen, Planungen und Verhandlungen sind auf ihr Verhältnis zu den beteiligten Fächern hin näher zu untersuchen.
Vgl. Hundsnurschers Kritik in Hundsnurscher, 1985, S. 6.
Herbert Kraft
Gäbe es den Dialog, wäre das Subjekt keine abstrakte Vorstellung mehr: Die Erzählung »Tonka« von Robert Musil
An einem Zaun. Ein Vogel sang. Die Sonne war dann schon irgendwo hinter den Büschen. Der Vogel schwieg. Es war Abend. Die Bauemmädchen kamen singend über die Felder. Welche Einzelheiten! Ist es Kleinlichkeit, wenn solche Einzelheiten sich an einen Menschen heften? Wie Kletten!? Das war Tonka.
Ein Bild, welches zuletzt eine scharf gezeichnete Begrenzung aufweist. Gegen Ende der Erzählung wird dieser Bildausschnitt >reflektiertihrem< Mann niemand befehlen kann, anders als dem Sohn Davids, seine Frau zu sich zu nehmen, wenn gar seine Eltern dafür bezahlen würden, daß er sie wegschickte, warum behält er sie bei sich, die doch nicht Geist von seinem Geiste ist? Es hat gewiß mit der Pflicht zu tun, denn heimlich bewundert er den Kaufmann, der Tonka seinem Geschäftswillen opfert. Daß die Pflichterfüllung nur gutmacht, was angerichtet wurde, zeigt die
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Herber t Kr aß
Episode, die von seiner Mutter und dem Onkel Hyazinth erzählt wird. Außerdem ist Tonka sein Eigentum, sie ist ihm zugelaufen und dient ihm, er hat sonst niemanden, er ist ] fremd. Für Freunde hatte er nie Zeit [...], wohl auch keinen Geschmack an ihnen oder keinen Reiz für sie: er ist belastet von seinen Ideen. Daß also aus dem Augenblick des Glucks keine Dauer entsteht, liegt an dem Leben, das dem einzelnen ständig dazwischenkommt. Vor lauter Ereignissen gibt es das Glück nicht, erst nachher, im großen Abstand, erscheinen die schönen Bilder vom Alltag früher. Ereignis ist zum Beispiel das Jahr beim Militär, denn niemals ist man so entblößt von sich und eigenen Werken wie in dieser Zeit des Lebens, wo eine fremde Gewalt alles von den Knochen reißt. Keine Station eines Bildungsromans, sondern Schule des Lebens, in dem dann die Sehnsucht immer größer wird, bis sie im Schrei nach Tonka erstirbt. Ob Tonka, die in einem Tuchgeschäft arbeitet, in einem Hintergebäude wohnt, mit mehreren in einem einzigen Zimmer, während in der übergroß, prächtig und vornehm erscheinenden Vorderwohnung ein Bordell betrieben wird, ob sie auch Jungfrau war, als er sie kennenlernte, überlegt er - der Verdacht haftet am Sozialcharakter, und den Charakter schüttelt keiner ab. Das Glück steht ihr nicht zu, also Geld und Gut nicht. Dafür wird ihre Seele bedacht, für die Pflege der Großmutter schenkt man ihr, als das Erbe aufgeteilt wird, deren Gebetbuch; daneben erhält sie noch andere Zuwendungen, die von der Caritas stammen könnten: einige Taschentücher, Hemden und Beinkleider der alten Frau [...], dazu ein schwarzes Kleid, dessen Tuch noch neu war. Wenigstens bekommt sie keine Kleidung geschenkt, die erst noch gewendet werden müßte. Sie ist dabei, ihre paar Sachen auf drei Pappschachteln zu verteilen, da merkt sie, daß er sie beobachtet, wird rot, stellt sich vor die offenen Kartons. Und als er verspricht, ihr eine neue Arbeitsstelle zu besorgen, wird sie sehr rot. Es ist jedesmal der Ausbruch des verletzten Selbstbewußtseins; sie schämt sich ihrer Armut, ihrer Abhängigkeit und weil sie sich bloßgestellt fühlt vor jemandem, der oben ist. Und doch verhält der eine sich anders, als sie es gewohnt ist, da denkt sie, das ist jetzt die Liebe. So liebt sie ihn: wenigstens ist es nicht mehr bloß diese ewige Plackerei. So liebt er sie: Tonka liebte er, weil er sie nicht liebte, weil sie seine Seele nicht erregte, sondern glatt wusch wie frisches Wasser. Die Liebe würde die Wirklichkeit verändern, wenn der Glaube - ich glaube dir, ich glaube an dich! - Berge versetzte. Aber der Glaube ist schwach, steht bloß in den Briefen. Dann verbindet die Menschen dieses traurige Gewährenlassen, sie erleben die Augenblicke des Nacheinanderverlangens der Körper. Tonka behält sich zudem den Traum: Sie glaubte, trotz allen Unterschieds, ein Recht auf ihn zu haben; von dem, was er trieb, verstand sie nichts, das ging sie nicht an, sondern weil er im Grunde gut war, gehörte er ihr; denn auch sie war gut, und irgendwo mußte doch der Palast der Güte stehen, wo sie vereint leben sollten und sich niemals trennen. So steht es in den Romanen, wo es anstatt der Herren die guten Menschen gibt, wo die Herren die guten Menschen sind. Die Herren haben es
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gut: von dem, was andere das Leben kostet, bleibt ihnen, als Lehre fürs Leben, auf einem glänzenden Leben ein kleiner warmer Schatten. Und dennoch, wenn die beiden einander nicht verlassen haben, war es aus keinem anderen Grund, als daß sie einander geliebt haben, wie Liebe sein konnte unter den Bedingungen, die ihnen keine Zeit ließ für ihre Seele. Kaum auch für ihren Leib, sie schliefen ja bald, weil der Alltag es so mit sich brachte, getrennt. Er war gewiß kein anderer Mensch, solange sie lebte, aber er benahm sich anders. Er behandelte sie mit Ernsthaftigkeit. Als sie tot ist, geht das Leben wieder seinen natürlich scheinenden Gang. Den Dialog gab es auch auf dem Sterbebett nicht: Er hatte der Wärterin Geld geschenkt, und sie hatte ihm alles erzählt. Tonka hatte ihn grüßen lassen. Er hatte ihr Briefe geschrieben, in denen er vieles sagte, was er sonst verschwieg, aber Tonka konnte nicht antworten, weil die Briefe nie abgeschickt wurden. Da fiel ihm nebenbei ein wie ein Gedicht, zu dem man den Kopf wiegt, das war gar nicht Tonka, mit der er gelebt hatte, sondern es hatte ihn etwas gerufen: ein Menschenleben war demjenigen nicht genug, der sich mit Arbeit betäubte und dem Geheimnis verfiel. Das half Tonka nichts mehr. Aber ihm half es. So ist es in der Gesellschaft der Ungleichen: keinem nützt es zuletzt, aber den Unteren hat es immer geschadet. Keine Zeit für Dialoge.
Ernst Ribbat
Wettergespräche Heinrich von Kleists „Kapuziner-Anekdote"
1. Text und Thema Am 30. November 1810 veröffentlichte Heinrich von Kleist in seiner Tageszeitung „Berliner Abendblätter" den folgenden Text: „Anekdote Ein Kapuziner begleitete einen Schwaben bei sehr regnigtem Wetter zum Galgen. Der Verurtheilte klagte unterwegs mehrmal zu Gott, daß er, bei so schlechtem und unfreundlichem Wetter, einen so sauren Gang thun müsse. Der Kapuziner wollte ihn christlich trösten und sagte: du Lump, was klagst du viel, du brauchst doch bloß hinzugehen, ich aber muß, bei diesem Wetter, wieder zurück, denselben Weg. - Wer es empfunden hat, wie öde Einem, auch selbst an einem schönen Tage, der Rückweg vom Richtplatz wird, der wird den Ausspruch des Kapuziners nicht so dumm finden ."
Eine Quelle ist nicht überliefert, als „Vorform" könnte eine Kalendergeschichte gelten, welche 1822 gedruckt wurde und so lautet: „Zu einem Delinquenten, der sich über das abscheuliche Wetter beschwerte, als er zum Galgen geführt wurde, sagte der Mönch, der ihn begleitete: Laß mich erst klagen, du Lump, du brauchst doch den Weg nicht zweimal zu machen, aber ich muß wieder heimgehen."
Fragt man nach dem Gattungscharakter, so ist kennzeichnend, dass diese „Anekdote" zwar auch eine kurze Geschichte darstellt, die pointiert „einen Augenblick zu erfassen sucht, in dem sich menschliche Charakterzüge enthüllen oder die Merkwürdigkeit einer Begebenheit zutage tritt"3, sie aber keiner historischen oder zeitgenössischen Persönlichkeit zugeordnet wird. Vielmehr wählt sie sich zum Thema etwas, was nun allerdings für „Geschichten im Kalender" (mit astronomischen Rubriken, Bauernregeln, landwirtschaftlichen Empfehlungen etc.) von zentralem Interesse ist: die Einstellungen des Menschen zum Wetter und die mit dem Wetter verknüpften Sprechhandlungen.
Berliner Abendblatter. Hg. von Heinrich von Kleist. Mit einem Nachwort und Quellenregister von Helmut Sembdner. Darmstadt 1973, S. 209. (Reprografischer Nachdruck) Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. Bd. 2. 9. Aufl. München 1993, S. 914 (Anmerkung zu S. 270). Schweikle, Günther u. Irmgard (Hg.): Metzler Literatur Lexikon. Stichwörter zur Weltliteratur. Stuttgart 1984, S. 13.
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Dass es in der Tat hierum geht, indiziert schon die Frequenz des Wortes „Wetter" (dreimal, sonst in der gesamten übrigen Prosa Kleists nur zweimal4). Begleitet wird dies Kennwort durch ein anderes, das ebenso für Kohärenz des kleinen Textes sorgt: „Kapuziner" (ebenfalls dreimal). Denn wenn die Anekdote oder Kalendergeschichte nicht einfach „Mönch", „Pfarrer" oder „Geistlicher" sagt, sondern diesen bestimmten Orden auftreten lässt, dann gewiss nicht wegen einer speziellen theologischen Ausrichtung, sondern weil man l. gerade ihm eine populäre, drastische Ausdrucksweise zutraute („Kapuzinerpredigt", vgl. Schiller: Wallensteins Lager) und weil zugleich 2. die Ordensbezeichnung gerade keine sakralen Verweise impliziert, sondern einen Bezug zum Wetter: eine wetterfeste Kleidung ist das erste Charakteristikum dieser Mönche.
2. Deutungen Ein Kapuziner und schlechtes Wetter also - und die Hinrichtung eines „Schwaben". (Ob mit solchem Stammesbezug des Delinquenten eine besondere Wetterempfindlichkeit oder eine ausgeprägte Klagefreudigkeit des für Berliner Leser fremdartigen Süddeutschen - es könnte wohl auch ein Böhme sein - hervorgehoben werden soll, mag dahingestellt bleiben.) Die Konstellation ist einfach genug. Zwei Sprechhandlungen folgen einander: Zunächst monologisiert der Verurteilte. Er klagt „zu Gott", was meint: er spricht vor sich hin, richtet seine Rede höchstens indirekt an den Wegbegleiter, insofern dieser ihm als Stellvertreter Gottes erscheinen mag. Sodann ergreift der Mönch das Wort (die erste direkte Rede zwar, aber schon reaktiv), und er tadelt den Angeredeten - „du Lump" -, weil sein Klagen so egozentrisch sei und er gar nicht, wie es doch „christlich" wäre, an die nach seinem Tod weitergehenden (Wetter-)Leiden der Mitmenschen denke. Wie absurd der Ausspruch des Mönchs auch immer erscheint - hätte der Todeskandidat nicht Grund, noch ganz andere, viel ernstere Klagen an Gott zu richten? -, die Geschichte beendet schon hier, dies markiert der Gedankenstrich, das Sprechhandeln und geht zum „stummen" Handeln der Hinrichtung über. (Eine solche eigens darzustellen, scheint in einer Zeitung von 1810 überflüssig: Sie gehört zum Alltag, bietet keinen sensationellen Effekt.) Der Text indessen setzt sich noch fort mit einem Erzählerkommentar zum „Ausspruch" des Kapuziners, und zwar derart, dass die reflektierende Beteiligung der Leser der „Anekdote" eingefordert wird: „Wer es empfunden hat [...] der wird finden". Damit wird freilich der Deutungsbedarf nicht vermindert, sondern massiv erhöht. Denn welche Kriterien sind in einer Beurteilung eines Sprechakts wirksam, welche lautet: „nicht so dumm"? Wenn der Erzähler sich Schanze, Helmut: Index zu Heinrich von Kleist. Sämtliche Erzählungen, Erzählvarianten, Anekdoten. Frankfurt/Main 1969, S. 310. (Indices zur deutschen Literatur. Hg. von Hans Schwerte und Helmut Schanze. Bd. 2)
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selbst als einen Menschen mit Vernunft einschätzt - und davon ist zumal bei einer „Kalendergeschichte" ja auszugehen -, dann darf die Empfindung von „Öde" nach einer Hinrichtung auch wohl als Ausdruck von Humanität gelten. Woraus sich ergibt, dass im Kapuziner, weil in seiner Erwartung des Rückwegs sich eine analoge „öde" Empfindung meldete, ebenfalls Menschlichkeit (wenn schon nicht sprachliche Vernunft) wirksam ist. Heinz-Dieter Weber, dessen 1978 erschienener Aufsatz die immer noch eindringlichste Interpretation zu Kleists Anekdoten bietet, hat in solchem Sinne eine Deutung auch der Kapuziner-Geschichte entwickelt: Er sieht Kleists Intention „vor allem aber darin, daß die scheinbar von Selbstbezogenheit, Inhumanität, ja womöglich von Zynismus zeugende Replik des Kapuziners als ,gar nicht so dumm' perspektiviert und dadurch als mögliche Fehlleistung ansichtig wird. Erst dadurch wird der Blick darauf gelenkt, daß in ihr etwas enthalten ist, was der humanen Intention entspringt, aber angesichts der Situation nicht zum Zuge kommen kann, nämlich der humane Widerwille gegen die Hinrichtungsprozedur als solche." Auch Webers grundsätzliche Würdigung des von Kleist erneuerten Anekdotenerzählens sei zitiert: „Die Anekdote kann nicht länger so tun, als stünde für die Interpretation besonderer menschlicher Handelns- und Verhaltensweisen, die sie als signifikant heraushebt, ein fester Bedeutungsrahmen aus tradierten Lebensorientierungen zur Verfugung. Wohl aber kann sie die neue Aufgabe Übernehmen, die Überzeugung von der faktischen Möglichkeit einer pflichtgemäßen Verwirklichung sittlicher Autonomie herbeizuführen. Und wir meinen, daß dies die neue Funktion anekdotischen Erzählens bei Kleist ist." Nun ist in der neueren Kleist-Forschung freilich das Zutrauen zu einer solchen These zurückgegangen, wenn nicht verschwunden, dass nämlich Kleists Werke an der Rekonstruktion eines Menschenbilds „der autonomen und integralen Persönlichkeit"7 arbeiten würden. Verschärft hat sich demgegenüber die Aufmerksamkeit für die Diskrepanzen (des fiktional „Tatsächlichen" wie der figuralen Perspektiven), für die Zufälle und Brüche, für Narzismus und Gewalt, Krieg und Sexualität, vor allem für die babylonische Sprachverwirrung als die vielfach variierte Grundeinsicht des Dramatikers, Erzählers und Publizisten Kleist. Gerhard Neumann hat „Umrisse von Kleists kultureller Anthropologie" unter dem Titel „Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers" formuliert.8 Unter solchen Gesichtspunkten ist Kleist avanciert zu einem Lieblingsautor, zum Ahnherrn gar einer nach-modemen Sprach- und Geisteswelt, wobei Anekdoten allerdings nur in Auswahl („Der Griffel Gottes" etwa) interpretiert werden. Wieviel modische Beliebigkeit in solcher „Wende" mitwirkte, muss Weber, Heinz-Dieter: Zu Heinrich von Kleists Kunst der Anekdote, in: Deutschunterricht 30.6 (1978), S. 23. Weber, 1978, S. 26. Weber, 1978, S. 27. Neumann, Gerhard: Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Umrisse von Kleists kultureller Anthropologie, in: Neumann, Gerhard (Hg.): Heinrich von Kleist. Kriegsfall - Rechtsfall - Sündenfall. Freiburg i. B. 1994, S. 13. (Rombach Wissenschaft Reihe Litterae. Hg. von Gerhard Neumann und Günter Schnitzler. Bd. 20)
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hier nicht erörtert werden. Sie gibt aber Veranlassung, auch für den vorliegenden Text die doch explizit offerierte Sinn-losigkeit des Redens nicht so rasch, wie Weber es tut, durch ein anthropologisches Ideal zu ersetzen, sondern bei ihr zu verweilen - in der Erwartung, dass hier (wie sonst immer wieder bei Kleist) die der literarischen Darstellung eingeschriebene Sprachreflexion Befunde aufdeckt, welche noch heute von Interesse wären.
3. Wetter und Sprache Der Schwabe und der Kapuziner führen auf ihrem Weg zum Galgen ein Wettergespräch. Damit haben sie in einer Situation, die aus freiem Willen oder durch eigene Anstrengung nicht veränderbar ist (um sie herum geht ja Polizei oder Militär), jenen Dialogtyp gewählt, zu dessen Wesen es stets gehört, dass Handlungshorizont und Situationsbedingungen nicht beeinflussbar, nicht veränderbar sind. Dem Sprechen übers Wetter kann keine Intention zweckgerichteten Handelns eigen sein. Wettergespräche kommentieren, interpretieren, vergleichen eine für alle Gesprächsteilnehmer zwar recht wichtige, den Betroffenen aber in ihrer Faktizität völlig überlegene Weltlage. Darum kann unter den Dialogpartnern stets ein Konsens darüber vorausgesetzt werden, dass das Sprachspiel „Wettergespräch" in einzigartiger Weise autonom ist, nur sich selbst zum Ziel hat. Die universelle Beliebtheit des Wettergesprächs beruht darauf, dass nichts als die pure Kommunikation oder auch: die prinzipielle Sozialbindung der Individuen im Sprechen manifestiert wird. Wettergespräche sind „unwichtig": Sobald das Leben noch andere Anforderungen stellt, als mißvergnügt oder in Würde zum Galgen zu gehen, werden Wettergespräche nach mehreren Zügen abgebrochen, und ein anderer Dialog beginnt: ein Verkaufsgespräch oder eine Examensberatung, eine Erkundigung oder Anweisung. Doch bleibt die ästhetische, weil eben zweck-freie Autonomie des Wetterdialogs so faszinierend, dass es vielfach eine starke Motivation gibt, ihn nach Erledigung der zweckgerichteten Gespräche wieder aufzunehmen. Solange man nicht - wie hier - seinen Dialogpartner durch Hinrichtung verliert, kann jede noch so „Öde" Empfindung durch eine weitere Runde im Sprachspiel „Wettergespräch" vertrieben werden, ob in der Bäckerei oder im Büro, im Autobus oder in der Familie. Der Typus ist jedermann bekannt. Wirklich jedermann - kein Gespräch ist internationaler (in England mit besonderer Differenzierung), und keins ist demokratischer: Herrschaftsfreie Dialogizität ereignet sich - trotz Jürgen Habermas9 -, wenn überhaupt irgendwo, dann im Wettergespräch. Mit seiner Hilfe werden Brücken geschlagen, zwischen einem kriminellen Schwaben und einem Kapuziner, zwischen einem empfindenden Erzähler und den Zeitungslesern, zwischen Herrschaftsklassen, Geschlechtern, Generationen. Und so ergibt sich als Folgerung: der Typus Wettergespräch ist so unwichtig Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/Main 1981.
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nicht. Er ist zu Unrecht von der Forschung vernachlässigt worden, dialoganalytische Bemühungen sollten sich ihm zuwenden. Dies allerdings nicht, ohne eine historische, genauer: eine bewusstseins- und literaturgeschichtliche Orientierung durchzuführen. Denn das „Wetter" ist ja alles andere als ungeschichtlich. Es wurde „erfunden", als im 18. Jahrhundert seit Empfindsamkeit und Vorromantik, jedenfalls auf der Grundlage einer säkularen Aufklärung, man einen Zusammenhang zwischen Subjektivität und Naturzeichen suchte, einen Kontakt zwischen der „Empfindung" des Ichs und den Phänomenen des Wetters. Die epochale Wirkung von Klopstocks „Die Frühlingsfeier" (1759) und Goethes „Die Leiden des jungen Werthers" (1774) ist ein Indikator für das neue Interesse am Wetter. Die Aneignung des Verfahrens, seelische Vorgänge sich in meteorologischen Phänomenen spiegeln zu lassen, breitete sich epidemisch aus, etwa durch die gothic novels, dann durch trivialromantisches Erzählen wie auf der Bühne durch Schicksalsdramen. Als Kleist schrieb, war der neue Diskurs bereits durchgesetzt, und wenig später konnte „Wetter" auch in der Lexikon-Definition abgekoppelt werden von der etymologischen Bindung an „Gewitter"10. Erst recht kam es im „bürgerlichen Realismus" zu einer Konjunktur des literarischen Wettergebrauchs." Dagegen zu polemisieren, wurde entsprechend beliebt in der Moderne, bis hin zur Anfangspassage von Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften". Nun ist allerdings in der avancierten Romantik um 1800 eine schlichte Äquivalenzsetzung zwischen Menschen-Empfindung und Natur-Stimmung nicht die Regel.12 Für Kleists Text wird man deshalb eher die ironische Gegenlesart zur sonst so beliebten Wettersymbolik als Kontext anzusetzen haben. Und daneben gibt es hier schon das Umfeld der wissenschaftlichen Erfassung meteorologischer Phänomene. Denn jene „Polizeinachrichten", aus denen Kleist in den ersten Monaten der „Berliner Abendblätter" seine sensationellen Nachrichten schöpfen durfte, enthielten Temperatur- und Barometer-Tabellen sowie Kennzeichnungen der „Witterung" (im November 1810 selbstverständlich zumeist „trüb").13 Soviel, da wir kurz sein müssen, zur Andeutung eines komplexen Zusammenhangs. Eine Lektüre der Kapuziner-Anekdote für den Dialoganalytiker mag
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Vgl. etwa Bilder-Conversations-Lexikon flir das deutsche Volk. Ein Handbuch zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung. In vier Bänden. Bd. 4. Leipzig 1841, s. v. „Wetter": „Wetter und Witterung werden im Allgemeinen die veränderlichen Zustände des unsere Erde umgebenden Dunstkreises genannt, soweit sie von Jedermann leicht wahrgenommen werden und durch Wärme, Kälte, Wind, Regen, Schnee, Sonnenschein, Wolken, Nebel, Gewitter u.s.w. sich bemerkbar machen. [...] Häufig werden auch einzelne Veränderungen der Witterung vorzugsweise ein Wetter genannt, und man versteht darunter namentlich ein Gewitter, weshalb Wetterstrahl so viel wie Blitz (s. d.) bedeutet und Wetterableiter einen Blitzableiter." Vgl. dazu die glänzende Monographie: Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus. München 1971. (Literatur als Kunst. Hg. von Walter Höllerer) Vgl. etwa zu Jean Paul: Delius, 1871, S. 110-135. Vgl. Bamert, Arno (Hg.): Polizei - Theater - Zensur. Quellen zu Heinrich von Kleists „Berliner Abendblättern". Hg. in Zusammenarbeit mit Roland Reuß und Peter Staengle, in: Brandenburger Kleist-Blätter 11 (l997), S. 177.
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sich immerhin lohnen. Will man aber den Sinn von Kleists kleinem Text aktualisieren, so wäre schließlich hervorzuheben: Wem der Partner für das stets geschätzte Wettergespräch fehlt - und sei ihm dieser auch nicht durch den Galgen, sondern nur durch die Pensionierung entzogen -, den wird ein „ödes" Gefühl überkommen. Denn es mangelt ihm jene zweckfreie Gemeinschaft, in welcher Menschen glücklich sein können - auch bei Regenwetter, in Berlin oder Münster.
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Einige Dialogstrukturen in Karl Kraus' Drama „Die letzten Tage der Menschheit"
Platons Dialog „Gorgias" beginnt nach einiger eher beiläufiger Konversation damit, daß Charephon den Polos, der den ermüdeten Gorgias am Anfang vertreten will, danach fragt, auf welche Kunst sich Gorgias verstehe. Darauf antwortet Polos, daß es viele Künste gebe und daß Gorgias „Anteil an der schönsten der Künste"1 habe. Doch nun schaltet sich Sokrates ein, wendet sich direkt an Gorgias und bedeutet ihm, daß Polos nicht auf die gestellte Frage, nämlich was die Kunst des Gorgias sei, geantwortet habe. Der platonische Dialog führt sich also hier selbst ein derart, daß in ihm Fragen gestellt werden, die exakt beantwortet werden sollen. Der Modus von Frage und Antwort ist sicher einer der Grundmodi sowohl des Alltagsgesprächs wie des philosophischen wie des literarischen Dialogs. Der dramatische Dialog als der verbreitetste literarische Dialog scheint dennoch einen anderen Grundmodus zu haben, der im Versdrama am nachdrücklichsten in der Stichomythie begegnet als Wechsel von Rede und Gegenrede. Von Rede und Gegenrede ist aber darum zu sprechen, weil darin These und Antithese erscheinen, die das Drama, insbesondere seinen Konflikt vorantreiben. In Schillers „Maria Stuart" sagt die Amme Hanna Kennedy zu Paulet, dem „Hüter der Maria", in 1,1: „O schimpfliche Gewalt, die wir erleiden!". Darauf Paulet: „Solang sie noch besitzt, kann sie [Maria] noch schaden [...]". .Erleiden - kann schaden': These und Antithese. Und so geht der Dialog beider weiter. Man könnte behaupten, daß sich auch in diesem Grundmodus des dramatischen Dialogs noch Frage und Antwort verbergen, insofern nämlich jeweils These wie Antithese sowohl (rhetorische) Fragen als Antworten sein können auf Fragen, die explizit noch nicht gestellt sind. ,Kann sie nicht schaden, solange sie noch besitzt? - Nein, denn wir erleiden ja schimpfliche Gewalt'. .Erleiden wir nicht schimpfliche Gewalt? - Nein, denn sie besitzt noch, kann also auch noch schaden.' Erörterung in Frage und Antwort und Konflikt als These und Antithese hängen trotz der erheblichen Unterschiede des philosophischen und des dramatischen Diskurses anscheinend eng zusammen. Das ist wohl dem Dialog selbst zuzuschreiben, der in diesen Elementarvarianten sich als ein sprachlicher Grundmodus zeigt.2 Platon: Die Werke des Aufstiegs. Übertragen von Rudolf Rufener. 2. Auflage. Zürich und München 1974, S. 271. Franz Hundsnurscher (Dialog-Typologie, in: Handbuch der Dialoganalyse. Hg. von Gerd Fritz und Franz Hundsnurscher. Tübingen 1994, S. 204-238) unterscheidet den zweipoligen Dialog vom mehrpoligen Gespräch, eine durchaus mögliche Differenzierung, die aber auch kategoriale Unterschiede zwischen beiden impliziert. - Metzlers Lexikon Sprache
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Das Vorspiel und die Akte von Karl Kraus' Drama für ein „Marstheater"3 (S. 9) werden sämtlich eingeleitet durch eine Szene, deren Lokal identisch ist: „Wien. Ringstraßenkorso. Sirk-Ecke" (S. 45 u. ö.). Damit ist ein geschäftliches Zentrum benannt mit der Lederwarenhandlung Sirk, an dem sich die verschiedenen Bewohner und Gäste Wiens begegnen. Diese Begegnung stellt Kraus als ein Nebeneinander und Nacheinander von Dialogen, als eine Dialogrevue dar. Die Dialogpartner sind jeweils fast immer nur auf ihren Dialogteil bezogen, so daß die Gesamtheit der Sprecher dieser Szenen zwar als Figuren gleichzeitig erscheinen und damit eine szenische Einheit repräsentieren, sich als Dialogsprecher aber gegenüber den Sprechern anderer Dialoge isolieren. In den Szenen an der „Sirk-Ecke" begegnet, scheint es, eine Grundfigur des modernen Dramas: nämlich die Repräsentanten der Volksmenge - „die Menge" (S. 72 u. ö.) ist Übrigens auch eine spezifische ,Figur' dieser Szenen -, die aber gleichzeitig in ihre sozialen, kulturellen und anderen Elemente, die im Drama als die verschiedenen Sprecher je eines Dialogs auftreten, auseinanderfällt. Dies erscheint als der genaue Gegensatz zum antiken Drama, wo die einheitliche Szene den Chor und die Protagonisten versammelt, also ein gemeinsames monologisches und dialogisches Sprechen sich ereignet, wobei Chor und Protagonisten wiederum dialogisch aufeinander bezogen sind. Doch griffe man zu kurz, wenn man dieses formale Moment schon als ausreichend zur Bestimmung eines Strukturmoments dieser Dialogrevue auffaßte. Vielmehr gehört unmittelbar dazu ein semantisches Moment. Das erste Wort aller dieser Eingangsszenen haben immer die „Zeitungsausrufer" (S. 45 u. ö.), die der Menge mitteilen: „Extraausgabee -!" (S. 45 u. ö.) Auf diese Weise wird die ganze folgende Szene mit all ihren Dialogvarianten unter die Bedingung der Rezeption der Zeitung gestellt, spezifisch unter die einer Extraausgabe, die politische oder kriminelle Sensationen verbreitet. Die Zeitungsausrufer tauchen immer wieder im Verlauf der Szenen mit neuen Meldungen auf. Sie repräsentieren nun gerade nicht die Isolation der Dialogteile des Ganzen, sondern stehen für die sprachliche Homogenität der Dialogrevue. Diese Homogenität ist freilich eine, die weder auf den philosophischen Dialog noch auf den erwartbaren dramatischen hinweist, denn es gibt schon in den Eingangsszenen keine sich aufbauenden und entfaltenden Konflikte, die in den weiteren Szenen aufgenommen würden. Vielmehr gibt es dank der Umgangssprachlichkeit der Szenen eine Tendenz auf den Alltagsdialog. Doch auch wenn er dessen Mimesis wäre, steht er dennoch in einem Drama,
(Stuttgart u. Weimar 1993) verfährt im Artikel „Dialog" von Konrad Ehlich anders. Dort gilt: „Der Dialog selbst ist hinsichtl. der Sprecherzahl nicht spezifiziert" (S. 139). Hundsnurscher gibt einen guten Überblick über bisherige Dialog- (und Gesprächs-) Typologien und liefert einen eigenen Ansatz von der Sprechakttheorie her. Die .Typen' FrageAntwort- und These-Antithese-Dialog haben darin nur eine randhafte Bedeutung. Doch sind sie, die bei uns als Grundformen von philosophischem bzw. dramatischem Dialog gesehen werden, auf jeden Fall als „zielgerichtete Gespräche (purposeful dialogues)" (S. 224) zu begreifen, und zwar mit dem ,ZieP Erkenntnis dort, Handlung hier. Zitiert wird hier und im folgenden nach der Ausgabe von: Die letzten Tage der Menschheit. Frankfurt am Main 1986.
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genauer in einer „Tragödie", so daß allenfalls die Darstellung eines Alltagsdialogs, nicht dessen Zitat anzunehmen ist. Bevor aber zu zeigen ist, wie die Darstellung des Alltagsdialogs erscheint, soll auf die das Ganze der Szene Bedingende und Garantierende der Zeitungsausrufer eingegangen werden. Der Zeitungsausrufer am Anfang der ersten Szene des Vorspiels stellt als sensationierende Meldung der „Extraausgabee -!" vor: „Ermordung des Thronfolgers! Da Täta vahaftet!" (S. 45) Eben auf diese Meldung reagieren die meisten Teile der Dialogrevue. „EIN KORSOBESUCHER (zu seiner Frau): Gottlob kein Jud. EIN OFFIZIER: Grüß dich Powolny! Also was sagst? [...] [...] DER ERSTE [OFFIZIER]: [...] - aber ich mein, was sagst politisch, du bist doch gescheit DER ZWEITE: Weißt, no wer' mr halt (fuchtelt mit dem Spazierstock) - a bisserl a Aufmischung - gar nicht schlecht - kann gar nicht schaden - höxte Zeit [...] DER ZWEITE: Weißt, der Schlepitschka von Schlachtentreu, der is furchtbar gebildet, der liest dir die Presse also auswendig von A bis Z, er sagt wir sollen auch lesen, dort steht sagt er, wir sind für den Frieden, wenn auch nicht für den Frieden um jeden Preis [...] DER ZWEITE [AGENT]: Ich weiß nicht, ich bin doch etwas nerves, bevor man nicht gehert hat EIN WIENER (zu seiner Frau): Aber laß dir doch sagen, er war nicht beliebt EIN ALTER ABONNENT DER NEUEN FREIEN PRESSE (im Gespräch mit dem ältesten Abonnenten): Schöne Bescherung! DER ÄLTESTE ABONNENT: Was heißt Bescherung? (Sieht sich um.) Besser wird alles! Es wird eine Zeit wie unter Maria Theresia kommen, sag ich Ihnen! [...] DER ÄLTESTE: [...] Ich - freu mich morgen am Leitartikel. Eine Sprache wird er finden, wie noch nie. [...] EINIGE BETRUNKENE (drängen sich durch die Passanten): [...] Nieda! Nieda mit Serbien! Hauts es zsamm! Hoch! FRÄULEIN LÖWENSTAMM: [...] Komm weg aus dem Gedränge, alles wegen dem Mord. [...] EIN GEBILDETER: Kolossaler Verlust wird das sein für die Theater [...] EIN KLEINBÜRGER: [...] Er herentgegen - der Hadrawa hat ihm einmal erkannt, wie er einmal, also natürlich im Kognito war [...] EIN ZEITUNGSAUSRUFER: Extraausgabee-! DER KLEINBÜRGER: Her mitn Bladl! kost-? DER ZEITUNGSAUSRUFER: Zehn Heller! DER KLEINBÜRGER: An Schmarm! Wurzerei. Steht eh nix drin. [...] EIN REPORTER (zu seinem Begleiter): Hier nimmt man am besten die Stimmung auf. Wie ein Lauffeuer, sehn Sie, hatte sich am Korso die Nachricht verbreitet [...] DER FIAKER: Aber Euer Gnaden! An so an Tag -!" (S. 45-50)
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Wir zitierten nur eine Auswahl aus den Dialogstellen, die sich auf die Zeitungsausrufer und ihre (gleichen) Meldungen beziehen. Doch sind sämtliche Sprechervarianten vertreten und alle Teile der Dialogrevue. In ihnen wird die Struktur dieser Szenen wie der analogen Akt-Eingangsszenen sichtbar. Der Dialog ist zunächst, wir wiederholen es, ganz und gar nicht ein dramatischer in dem Sinne, daß er in These und Antithese die Handlung aufbaut und weitertreibt. Eher schon zeigt sich rudimentär ein Dialog aus Frage und Antwort, der argumentativ zu sein scheint. Doch schon die eingangs auftretenden Offiziere entwickeln in Wahrheit keine Argumentation, und zwar aus zwei Gründen. Einmal sind sie immer wieder affiziert durch ihr Unterhaltungsbedilrfnis. (Diese Stellen werden hier nicht zitiert.) Sie wollen in ein Restaurant, sie unterhalten sich über „Menscher" (S. 46). Vor allem aber reden sie von dem, worüber der Zeitungsausrufer scheinbar informiert: vom Tod des Thronfolgers auf eine, wie sie meinen, »politische* und .gescheite' Weise, die jedoch nur die Zeitungsphrasen aufnimmt und ins jargonhaft Militärische übersetzt. Denn die Gescheitheit, die (politische) Bildung basieren darauf, daß man „die Presse [...] auswendig von A bis Z" liest (S. 46). Und wenn dieser,gebildete' Leser die anderen auffordert, auch zu lesen, dann darum, weil ihnen „dort" (S. 46), nämlich in der Zeitung, diejenigen Sätze geliefert werden, die sie in ihrem Jargon repetieren. Der führt sich freilich im Dialog selbst als der eines geistigen Analphabetentums vor, denn die Repetition der Sätze des Zeitungsartikels kommt nicht einmal zu einem syntaktisch einigermaßen korrekten Ausdruck: „Weißt, no wer' mr halt (fuchtelt mit dem Spazierstock) - a bisserl a Aufmischung - gar nicht schlecht - kann gar nicht schaden - höxte Zeit -" (S. 45)
Wenn der alte und der älteste Abonnent der „Neuen Freien Presse" einander begegnen, ist die Syntax korrekter, der Unsinn der Repetition aber nicht geringer. Daß der älteste Abonnent behauptet, es werde eine Zeit wie unter Maria Theresia kommen, gibt er zwar als eigenen Gedanken aus: „[...] sag ich Ihnen!" (S. 7) Aber es ist natürlich nur die übernommene, korrekt übernommene Phrase aus dem letzten Leitartikel. Und auf den nächsten freut er sich schon. Kraus geht in diesem Dialogteil noch einen Schritt weiter als bei dem der Offiziere: Die Figuren selbst werden bereits als Zeitungsabonnenten bezeichnet, ihr Bewußtsein besteht also aus nichts anderem als der imitativen Rezeption der Zeitungssätze. Mit den beiden Zeitungsreportern führt Kraus in die Szene und damit in die Dialogrevue diejenigen ein, die die Produzenten dieses Bewußtseins repräsentieren. Sie sind an „Stimmung" (S. 50) interessiert, die aber, wie ihr Gespräch zeigt, schon vorformuliert ist, so daß auch die Produzenten des Zeitungsbewußtseins alles Geschehen nur noch als die immergleichen Zeitungswendungen erleben. Andere schütteln das Ereignis sofort ab, weil „er" „nicht beliebt" (S. 47) oder „für den kleinen Mann" „nicht das richtige" war (S. 49). Oder sie behandeln es als die Zeitungsnachricht, die es ja ist, und damit als rasch verbrauch-
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baren Konsumartikel, von dem sie letztlich nur interessiert, ob er nicht zu teuer ist, denn: „Steht eh nix drin." (S. 49f.) Wieder andere wie der »Gebildete1 und seine Frau beziehen sich gar nicht mehr direkt auf die Todesnachricht, sondern darauf, wie deren Wirkung auf den Unterhaltungsmarkt aussehen wird. Schließlich fühlen sich welche durch den Tod in ihrem Unterhaltungsbedürfnis gestört. Die Schauspielerfans Fräulein Löwenstamm und Fräulein Körmendy wollen Autogramme ihrer Stars, müssen sich aber wegen des Gedränges („alles wegen dem Mord", S. 48) leider entfernen. Und ein Agent fragt sich, was man „mit dem angebrochenen Abend" (S. 47) anfangen soll. Der Dialog reduziert sich also auf Reaktionen auf eine sensationelle Zeitungsmeldung, besser auf ein Ereignis, das nur noch als sensationelle Zeitungsmeldung rezipiert wird. Denn im Hintergrund steht natürlich die dramaturgische Möglichkeit, den Dialog damit beginnen zu lassen, daß die Dialogpartner den Tod des Thronfolgers als den Tod eines Menschen mitempfinden und/oder als den Tod einer politischen Person bedenken. Indem sich aber der Ausgangspunkt aller Dialogteile bei Kraus von vornherein als sensationelle Zeitungsmeldung zeigt, gibt es nur noch die Möglichkeit, von ihr affiziert zu werden und auf die Sensation, die etwas völlig anderes ist, als es der Tod des Thronfolgers wäre, nämlich ein als Meldung nur zitierter Tod, zu reagieren. Alle Reaktionen aber geschehen bereits im Modus der Zeitungssprache als Bewußtseinsform: sie sind redensartlich, sie sind Phrasen. Kraus geht in seiner „Tragödie" davon aus, daß das Reden der Zeitung für die Dialogpartner so bestimmend ist, wie es der Mythos für die griechische Tragödie, wie es der Glaube (oder Unglaube) für das Trauerspiel seit dem Barock, wie es die Vernunft (oder Unvernunft) für das moderne Drama seit Lessing waren. Nicht der Tod und nicht der Tod des Thronfolgers setzen den Dialog in Gang, sondern die Meldung der Extraausgabe als Textsorte. Deren Ausrufer, die marktschreierische Warenanbieter, nicht Boten eines Mordes sind, durchdringen noch den letzten Monolog des Nörglers im fünften Akt. Und der reflektiert als einziger diesen Ruf als Ausdruck der negativen Universalität der Zeitungsrede: „Nicht daß die Presse die Maschinen des Todes in Bewegung setzte - aber daß sie unser Herz ausgehöhlt hat, uns nicht mehr vorstellen zu können, wie das [nämlich der Krieg, Anm. H. A.] wäre: das ist ihre Kriegsschuld!" (S. 677)
Die von der Presse erzeugte Situation ist eine des .ausgehöhlten Herzens' und der geschwundenen Vorstellung und damit dem Dialog unzugänglich. Es scheint so, als nehme der nun bestimmende Pseudodialog den des absurden Theaters vorweg. Doch der hat keinen dramenimmanenten Ursprung. Seine Figuren bei Beckett und lonesco reden plötzlich in Phrasen, was dann von den Interpreten jeweils mit dem Sinnverlust des Daseins und ähnlichem erklärt wurde. Bei Kraus hingegen gibt es mit der Figur des Zeitungsausrufers durchaus einen .Ursprung' dieses Dialogs und seiner Redensartlichkeit: eben die Reduktion der menschlichen, der geschichtlichen Realität auf die sensationierende Nachricht. Die Figuren der Szene transportieren die Sensation und nur die Sen-
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sation in ihre Sprache, d. h. in ihre Redensartlichkeit. Wollen sie sich wie einer der Offiziere „politisch" äußern, bleibt es beim Fuchteln mit dem Spazierstock und ein paar Ellipsen: mehr bietet die Zeitungsrede als Reflexionsmoment nicht an. Wollen sie sich intellektuell äußern wie der ,Gebildete', gibt die Nachricht nur den Anlaß, an die ökonomischen Verluste des Theaters zu denken. Das heißt: die Sensation kann keinen (dialogischen) Kontext bilden, sie ist das platte Faktum plus der augenblickhaften Nervenerregung. Weiter in einem höchst problematischen Sinn ist nur derjenige, der gar nicht mehr nach einem Sinnsubstrat der Nachricht fragt, sondern sie als das nimmt, was sie wirklich ist: als Teil des Mediensystems, spezifisch als Anlaß für den nächsten Leitartikel, auf den sich der älteste Abonnent freut, als sei er ein Hoffnungsmoment seiner Biographie. Diese Freude richtet sich aber nicht mehr auf Semantisches, sondern auf den Redegestus: „Eine Sprache wird er [der Leitartikler] finden, wie noch nie" (S. 47). Sie ist bereits postmodern. Das Abstraktwerden des Dialogs in schierer Redensartlichkeit stellt Kraus in der Szene in eine Perspektive. Er läßt nämlich zwei Reporter auftreten, die die „Stimmung" derer aufnehmen sollen, die die sensationierende Nachricht gehört bzw. gelesen haben. Die Reporter sind diejenigen, die für die Fortsetzung des medialen Universums sorgen. Die gelingt gerade darum, weil ihnen keine Art von Metasprache zu der der Zeitung zur Verfügung steht: „Hier nimmt man am besten die Stimmung auf. Wie ein Lauffeuer, sehn Sie, hatte sich am Korso die Nachricht verbreitet, wo sich die Wogen brechen. Das fröhliche Leben und Treiben, das sich sonst um diese Stunde zu entfalten pflegte, verstummte mit einem Male, Niedergeschlagenheit, das Gefühl tiefer Erschütterung, zumeist aber stille Trauer, konnte man von allen Gesichtern ablesen. Unbekannte Leute sprachen einander an, man riß sich die Extrablätter aus der Hand, es bildeten sich Gruppen -" (S. 50)
Sie .erleben' die zu vermittelnde „Stimmung" bereits redensartlich. „Wie ein Lauffeuer - das fröhliche Leben und Treiben - das Gefühl tiefer Erschütterung - es bildeten sich Gruppen" sind die Textkeme in der Rede des ersten Reporters. Und die „Stimmung" als Cluster aus Redensarten entfaltet sich, wie der Reporter es richtig fixiert, aus der »Verbreitung der Nachricht', indem man „sich die Extrablätter aus der Hand" reißt bzw. „riß", denn der Reporter ,erlebt' „die Stimmung" sogar im Tempus seines Berichts. Der zweite formuliert den, indem er ihm jede Semantik zugunsten einer Variation aus Redensarten austreibt, aus der er ja auch in Wahrheit besteht und bestehen soll: „Da möcht ich so vorschlagen: In den Alleen der Ringstraße sah man Gruppenbildungen von Leuten, die das Ereignis besprachen. Wachleute zerstreuten die Gruppen und erklärten, daß sie weitere Gruppenbildungen nicht dulden würden. Hierauf bildeten sich Gruppen [...]" (S. 50)
Die Dialogrevue der Akt-Eingangszenen breitet Varianten eines redensartlichen Dialogs aus, der durchweg auf das Reden der Zeitung reagiert oder es auch unmittelbar zitiert. Im ersten Akt, auf dessen Beobachtung wir uns beschränken müssen, treten in der 14., der 21., der 24., der 26. und der 28. Szene Journalisten auf als Produ-
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zenten der Redensarten. In 1,14 und 1,24 geht es um eine Interview-Situation, also formal um einen Frage-Antwort-Dialog, in 1,14 um den von Wort-Journalisten, in 1,24 den eines Bild-Journalisten. In der erstgenannten Szene veranlassen drei Reporter eine zu Beginn des Krieges aus Rußland nach Wien zurückgekehrte Schauspielerin, das zu berichten, was sie als sensationierenden Bericht brauchen. Elfriede Ritter, die Schauspielerin, hat aber nichts Sensationelles erlebt, im Gegenteil: „... mir [ist] gar nichts geschehen [...] die Rückfahrt [war] zwar langwierig, aber nicht im mindsten beschwerlich [...] und [...] ich [...] freue [mich], wieder in meinem lieben Wien zu sein." (S. 133)
Kurz daraufsagt der Reporter Füchsl: „Warten Sie, die Einleitung hab ich in der Redaktion geschrieben - Moment - (schreibend) Aus den Qualen der russischen Gefangenschaft erlöst, am Ziele der langwierigen und beschwerlichen Fahrt endlich angelangt, weinte die Künstlerin Freudentränen bei dem Bewußtsein, wieder in ihrer geliebten Wienerstadt zu sein -" (S. 133)
Der Dialog ist also von vornherein fremdgesteuert, er steht unter den Bedingungen des Zeitungsartikels, dessen Einleitung schon vorliegt und dessen Verlauf so sensationierend wie an der Feindschaft mit Rußland orientiert sein soll. Der Dialog stellt darum ein Interview dar, das die Antworten der Schauspielerin nach den Bedürfnissen der Zeitung manipuliert. Als jene sich gegen die Manipulationen immer heftiger wehrt, drohen ihr die Reporter damit, auf die Rollenbesetzung am Burgtheater Einfluß zu nehmen. Umgekehrt gilt: es möchte „Ihnen kolossal nützen, nicht nur beim Publikum, sondern sogar bei der Presse selbst, wenn Sie in Rußland mißhandelt wurden" (S. 135). Der Versuch der Schauspielerin, gewissermaßen ,im Leben' einen kämpferischen Thesendialog aufzubauen, in dem sie sich gegen die manipulativen Zumutungen der Journalisten wehrt, hat eben wegen der von vornherein ungleichen Konstellation von Journalisten und Schauspielerin, der jene schaden können, keine Chance auf Realisierung. Andererseits dringen die Journalisten nicht wie der Tyrann im barocken Trauerspiel auf ihre autochthone Macht gegenüber dem Märtyrer, vielmehr sind sie selbst Funktionäre eines Systems, das sie von Anfang an, nämlich von der in der Redaktion geschriebenen Einleitung an, dirigiert, vom System erwartete Sätze zu produzieren. „[...] eine Schauspielerin hat sich anzupassen", postuliert Füchsl (S. 135), und Feigl resümiert am Ende der Szene: „Sie is wirklich eine vernünftige Person" (S. 137), nicht begreifend, daß die Anpassung sich an Angepaßte vollzieht und die Vernunft aus der Manipulation durch die Zeitung besteht. Kraus zeigt die Verwandlung der Welt in Redensartlichkeit, wobei die Lügengesättigtheit ihres Tatsachensubstrats nur ein situationsbedingter Nebeneffekt ist. Primär geht es darum, daß subjektives Sprechen als Grundlage jeden dramatischen Dialogs vollständig eskamotiert wird zugunsten eines redensartlichen Ganzen. Wenn in der 24. Szene der Fotograf Skolik den Generalstabschef Conrad von Hötzendorf aufnimmt, dann tritt der, der in der Rolle der Interviewten aus der 14. Szene ist, im Gegensatz zu dieser als von Anfang an den Gesetzen der
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Medien sich Ausliefernder auf. Die Fotolegende der Zeitung aus der Zeit des Balkankrieges - etwa ,Generalstabschef Conrad von Hötzendorf, vertieft in das Studium der Balkankarte' - gibt schon vor, wie das nun herzustellende Foto auszusehen habe: als Wiederholung des älteren Fotos nämlich, bei der die Balkankarte lediglich durch eine Italienkarte ersetzt wird. In der 21. Szene begegnen „zwei Kriegsberichterstatter mit Breeches, Feldstecher, Kodak" auf dem „Schlachtfeld", auf dem man „nichts" „sieht" (S. 154). Der Dialog ist zu Anfang redensartliche Reminiszenz an den Balkankrieg, die als Erfahrung ausgegeben wird, und der Ausdruck einfacher Angst eines Feuilletonisten angesichts der Situation. Als der sagt: „Aber mein Ressort is Theater" (S. 156), geht der Dialog allmählich Über zum Verhältnis der Redensarten der Presse zum Inszenatorischen des Krieges, das das Militär betreibt, um der Presse ein sachliches Substrat der Redensarten zu liefern: „Der Hauptmann hat eigens für uns die zerstörte Brücke herrichten lassen" (S. 157). Das wird aber weit übertroffen durch Ganghofer, für den „eigens ein Gefecht arrangiert" (S. 158) wird. Da gilt allerdings: „Ja, zuerst war es ein Witz aus'm Simplicissimus und dann is es wahr geworn" (S. 159). Der entfremdete Feuilletonist gibt dafür das Stichwort „Fronttheater" (S. 158). Die Erfahrung des Inszenatorischen des Krieges wiederum ist verknüpft mit der Metamorphose von Militärs in Presseleute, wie sie sich im Kriegspressequartier vollzieht. Mit Bezug auf dessen Chef kann der Feuilletonist rhetorisch fragen: „Bin ich Höfer? Bin ich der verantwortliche Redakteur vom Weltkrieg?" (S. 158) Der Dialog entdeckt als satirischer das Ineinander von Redensartlichkeit und Inszenatorik im Krieg. Anders als im dramatischen Dialog wird nicht thetisch und antithetisch der Handlungskonflikt weitergetrieben, sondern die Kulissenhaftigkeit des realen Geschehens entdeckt, und zwar nicht durch die überlegene Reflexion der Dialogpartner als vielmehr durch im redensartlichen Parlando sich sozusagen zufällig ergebende Wahrheiten. Sagt der eine: „[...] nur Stimmungsmensch sein, das geht nicht! [...].Warum haben Sie sich überhaupt für
Kriegsberichterstattung gemeldet? DER ZWEITE: Was heißt das, soll ich dienen? DER ERSTE: No ja, aber ein bisserl Haltung sind Sie dem Blatt schuldig. Krieg ist Krieg." (S. 157)
Die Feststellung des ersten scheint zunächst die ernste Ermahnung des anderen Kollegen angesichts des Krieges zu sein. Doch erweist sie sich sogleich als Austausch unter Journalisten, der allerdings die Drückebergerei des Feuilletonisten in der Beiläufigkeit von dessen eigener Frage entdeckt. Und schon zeigt die Antwort des ersten, daß die ganze Erwägung jedoch nur eine innerhalb des Pressesystems ist. Daß Krieg Krieg ist, bedeutet nicht das knappe wie redensartliche Dictum hinsichtlich der Situation, sondern die abschließende Sentenz zu der Feststellung, daß man „dem Blatt" „ein bisserl Haltung" „schuldig" sei, nicht etwa dem Vaterland oder der »großen Zeit' oder anderen traditionellen und konventionellen Werten. Entsprechend den Produzenten des Medienuniversums werden dessen Rezipienten in Dialogen vorgestellt: „der alte" und „der älteste Abonnent" schon in
Einige Dialogstrukturen in Kraus' „Die letzten Tage der Menschheit"
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der Eingangsszene des Vorspiels, „der Abonnent" und „der Patriot" in der 11. Szene des ersten Akts. Wie viele Figuren des Stücks gehen sie ganz in ihrer Funktion auf. Während aber „Kriegsberichterstatter" noch als Berufsbezeichnung und damit als Stellung in der Gesellschaft verstanden werden kann, ist das bei den .Abonnenten', aber auch beim „Patrioten" nicht der Fall. Wie oben schon angedeutet, sind die .Abonnenten' ausschließlich Angehörige des Medienuniversums: sie ,existieren' als .Abonnenten', „der Patriot" aber auch, denn sein Patriotismus ist allein durch die Medien vermittelt. Er selbst hat, worüber er spricht, „gelesen" (S. 114), nämlich in den Zeitungen, und er fragt den „Abonnenten", ob er „ gelesen" (S. 121) habe, nämlich in der Zeitung. Es gibt für diese Figuren des Stücks keine andere Wahrnehmung mehr. Selbst wenn „der Patriot" sagt: „Als ob [unsere Wiener Straßen] im Krieg schmutziger wären wie im Frieden!", will er nicht von seiner Erfahrung mit dem Straßenschmutz reden, sondern den Zeitungen nachsprechen, die in Italien von „ungenügender Kehrichtabfuhr" schreiben, aber: „Hat man je in einer von unsere [!] Zeitungen ein Wort lesen können, daß in diesem Punkt vielleicht etwas nicht in Ordnung wäre?" (S. 115) Die Differenz zwischen den Zeitungen ist die zwischen der Tatsachenwahrheit der italienischen und der,idealen' Wahrheit der österreichischen Zeitung. Aber in beiden Fällen geht es um die mediale Vermittlung: Wer die Zustände im eigenen Land besser darstellt als der andere, spricht von besseren Zuständen. Auf solche systeminternen Differenzen braucht sich der „Abonnent", weil er ausschließlich „Abonnent" ist, nicht einzulassen; er zitiert zum großen Teil direkt aus der Zeitung. Aber beide sind als Medienfiguren überzeugt: „Man brauch wirklich nur die Titeln anschaun, man brauch gar nicht weiter lesen, weiß man doch schon woran man is." (S. 120) Einige Dialogstrukturen in Kraus' Tragödie gehen aus einem Sprachgebrauch hervor, der nicht mehr auf Vermittlung im Hegeischen Sinn aus ist, sondern die Medialität der Welt repräsentiert, was bedeutet, daß diese ganz im Medium, hier in dem der Zeitung aufgeht. Was immer geschieht, geschieht als Zeitungstext in Redensartlichkeit. So wird der dramatische Dialog zur Darstellung der Genese des redensartlichen Zeitungstexts als des Alltagsidioms, zur Darstellung satirischer Möglichkeiten dieser Redensartlichkeit und zur Darstellung des Funktionierens redensartlichen Sprechens. Dem stellt sich der Nörgler entgegen. Aber er ist die Negativität des Helden im Drama, was bedeutet, daß er den dramatischen Dialog klassischer Form nicht (wieder) in Gang setzen, sondern nur die Gründe für seine Unmöglichkeit benennen kann. Denn in Analogie zu Adornos Wort gibt es kein richtiges Sprechen im falschen. So hat er in seinem Dialog auch keinen Antagonisten, vielmehr ist der Optimist als Repräsentant des redensartlichen Alltagssprechens „ein Stichwortbringer für [die] Monologe [des Nörglers]" (S. 224), der damit die Unmöglichkeit eines von seinem Sprechen aus sich konstituierenden Dialogs andeutet.
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Die 29. Szene des ersten Aktes resümiert die Bedeutung des Krieges, der in der Sicht des Optimisten „einen seelischen Aufschwung" (S. 191) gebracht habe. Der Nörgler demontiert diese und ähnliche Phrasen sofort. In der Mitte der Szene kommt er auf die für ihn zentralen Gründe des Krieges, die im Gegensatz zu den geläufigen historischen Perspektiven nicht in gesellschaftlichen oder politischen Konstellationen gesehen werden, die für ihn allenfalls Folgen der zentralen Problematik sind. Er spricht nämlich von der Sprache als „Quelle" des „Lebens" eines Volkes, versteht also Sprache nicht abstrakt, sondern als natürliche Sprache. Und er sagt: „Kein Volk lebt entfernter von seiner Sprache [...] als die Deutschen" (S. 200), womit er die Sprache als deutsche Sprache konkretisiert und gleichzeitig ihre Entfremdung im Verhältnis der volkszugehörigen Sprecher zu ihr betont. Der Optimist glaubt einem Widerspruch auf der Spur zu sein, wenn er bald darauf sagt: „Sie sehen doch aber die deutsche Sprache als die tiefere" und damit an die Antithese aus „Heine und die Folgen" erinnert: „Die deutsche Rede ist die seichteste". Der Nörgler bildet hier eine verwandte Antithese: „Aber tief unter ihr den deutschen Sprecher" (S. 201). Der sei verantwortlich dafür, daß sie „heute selbst jene Fertigware" sei, „die an den Mann zu bringen den Lebensinhalt ihrer heutigen Sprecher ausmacht" (S. 202). Die äußere und innere Kommerzialisierung der zur Rede, also redensartlich gewordenen Sprache steht hier im Vordergrund. Wenige Seiten später ist es eine scheinbar ganz andere Auffassung, nämlich die des Verlustes der Phantasie. Die wird aber einer „Phraseologie" konfrontiert, die des näheren als eine „von einem abgelebten Ideal" zurückgebliebene (S. 208) apostrophiert und damit den Sprechern zugeordnet wird, die „tief unter" und entfernt von der deutschen Sprache leben. Die Sprache - jedenfalls die deutsche Sprache der zeitgenössischen Sprecher - hat sich, so die Auffassung des Nörglers, von der Phantasie zugunsten ihrer Petrifizierung, ihrer Erstarrung im nur noch konventionellen Ausdruck der verwendbaren, warenhaften Rede verfestigt. Statt der Phantasie hat man die Zeitung, setzt sich der Gedanke fort (S. 209), will sagen die Medienrede ist der eigentliche Repräsentant der »seichten', petrefakten und völlig konventionalisierten deutschen Sprache (als Rede), die im von Wissenschaft und Technik ermöglichten Krieg als Mediensprache dominant ist, weil sie ohne Widerstände eine phraseologische Synthese von Technik und Ideal produziert. Der Nörgler begnügt sich aber nicht mit der Perspektive der medienorientierten Sprache anstelle einer phantasiegesättigten. Denn die Zeitung ersetzt nicht nur die Phantasie, sondern setzt sich an die Stelle der Tat, die nun als Nachricht von Fakten in die Erscheinung tritt. „Der meldende Bote, der mit der Tat auch gleich die Phantasie bringt, hat sich vor die Tat gestellt und sie unvorstellbar gemacht." (S. 209)
Die Unvorstellbarkeit ist geradezu die Voraussetzung für den Krieg bzw. für die Selbstverständlichkeit des Krieges. Sie generiert unmittelbar die Phraseologie, die wiederum unmittelbar, weil jede sprachliche Reflexion ausgeschaltet ist, die kriegerische Gewalt in all ihren Formen generiert:
Einige Dialogstrukluren in Kraus' „ Die letzten Tage der Menschheit"
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„Das gedruckte Wort hat ein ausgehöhltes Menschentum vermocht, Greuel zu verüben, die es sich nicht mehr vorstellen kann, und der furchtbare Fluch der Vervielfältigung gibt sie wieder an das Wort ab, das fortzeugend Böses muß gebaren. Alles was geschieht, geschieht nur für die, die es beschreiben, und für die, die es nicht erleben." (S. 210)
Von hier aus wird erst ganz verständlich, was es mit dem in Redensarten erstarrten Dialog auf sich hat. Er will weder Erkenntnis leisten noch eine Handlung in Gang bringen und fortsetzen, er spricht nur das von den Medien Vorgesprochene so nach, daß alles Denken, Fühlen und Handeln der Dramenfiguren als auf Phraseologien reduziertes erscheint, auf nichts-sagende Bewegungen, auf kommunikatives Geräusch. In den Dialogen der Journalisten und der Abonnenten sind z. B. die Interviews, Talkrunden, Gespräche mit dem Hörer und Zuschauer und der gesamte Mummenschanz der Medien vorgebildet, die in der Postmodeme affirmiert werden. Doch darüber hinaus sind sie Teile des gesamten Dialogs, aus dem die Genese des Untergangs durch geschwätzige Sprachlosigkeit abzulesen ist. Die „Tragödie der Menschheit", die Kraus zu schreiben suchte, präsentiert nur mehr die Hohlform des dramatischen Dialogs. Als dessen letzte Schwundform ist sie ein Teil jener Tragödie.
Claudia Pilling
Linguistische Poetik und literaturwissenschaftliche Linguistik? Anmerkungen zu Schillers „Kabale und Liebe"
1. „Das Dasein hat Sprache. [...] Der Mensch zeigt sich als Seiendes, das redet" freilich, immer bleibt das Mißtrauen: „Wir besitzen eine Sprachwissenschaft, und das Sein des Seienden, das sie zum Thema hat, ist dunkel; sogar der Horizont ist verhüllt für die untersuchende Frage darnach. [...] Die philosophische Forschung wird auf,Sprachphilosophie' verzichten müssen, um den .Sachen selbst' nachzufragen".
Oder, anders gesagt: „Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsem Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. [...] Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache."
Was sich als Erkenntnis versteht, ist als scheinbar unbegriffliche .Beschreibung' bloß die Tautologie des Bestehenden. Als ließe sich in der .Beschreibung' jene Distanz des Subjekts zum Objekt rückgängig machen, die erst die Aneignung von Welt durch die Begriffe, durch Sprache, ermöglichte. Nur anschauen wollen, was ist, verkennt das Potential der Sprache, das Potential der Veränderung. Auch Sprache als Bewußtsein ist vom Sein bestimmt, ihre Abstraktion bedingt aber die Möglichkeit von Veränderung, von Überwindung: weil Begriff und Objekt nicht identisch sind. Die Bezeichnung bedeutet die Aneignung durch Abstraktion und so auch bereits die tendenzielle Veränderbarkeit des Angeeigneten durch die Bezeichnung, durch Erkenntnis. Die Fähigkeit zu solcher Abstraktion durch Sprache ist das Refugium des Verstandes vor seiner ,Verhexung', seiner Determination durch das Sein. Der Begriff kann Zurichtung des Objekts sein ebenso wie Befreiung: Sein semiotischer Doppelcharakter besteht aus dem Ausdruck dessen, was ist, und der aneignenden Darstellung, in deren Mittelbarkeit die Möglichkeit des Anderen liegt. So begründet sich die Ambivalenz von Sprache; ihre Potentialität als Bewußtseinsleistung qua Abstraktion, die das Sein transzendiert; und ihre Deformation als Ausdruck des Seins, der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Reflexion des erkennenden Subjekts hat als Instrumentarium die Sprache, deren Reflexivität ist der Ausgang aus dem .Labyrinth' der auch durch Sprache verstellten Erkenntnis. Und das vorwissenschaftliche Gefühl der Sehn1
Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 15. Aufl. Tübingen 1979, S. 165f. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main 1971, S. 66.
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sucht nach unmittelbarer Erkenntnis, nach einer sicheren, unwandelbaren Tatsächlichkeit, bildet den Ursprung eines Verfahrens, das die historisch notwendige Subjektivität des Individuums ersetzen will durch vormethodisch-kontemplative Anschauung: „Nicht aber, als sollten wir [...] neue Tatsachen aufspüren: es ist vielmehr für unsere Untersuchung wesentlich, daß wir nichts Neues mit ihr lernen wollen. Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgendeinem Sinne, nicht zu verstehen."
Wie Erkenntnis von Welt in Form von Sprache Aneignung durch die Perspektive des Individuums ist, so ist Erkenntnis von Sprache Aneignung durch die formende Perspektive der Wissenschaftler. Die Reflexivität der Sprache ermöglicht die Ausprägung einer wissenschaftlichen Metasprache, die sich nicht als voraussetzungslose empfinden kann. Das Erkenntnisinteresse leitet sich aus dem Doppelcharakter der Sprache her; JUrgen Habermas hat den Anspruch als Theorie kommunikativen Handelns formuliert: „Die kontrafaktischen Bedingungen der idealen Sprechsituation erweisen sich als Bedingungen einer idealen Lebensform. [...] Die symmetrische Verteilung der Chancen bei der Wahl und Ausübung von Sprechakten [...] sind sprachtheoretische Bestimmungen für das, was wir herkömmlicherweise mit den Ideen der Wahrheit, der Freiheit und der Gerechtigkeit zu fassen suchen."
Das sprachtheoretische Postulat muß sich in wissenschaftlichen Verfahrensweisen konkretisieren lassen, die sich des präzisen sprachwissenschaftlichen Instrumentariums bedienen. Die Klassifizierung von Dialogen nach den zugrundeliegenden Interessenkonstellationen5 ist ein schlussiges Modell der Analyse von Sprechakten als Ausdruck gesellschaftlichen Handelns. Das Organisationsprinzip dieser Theorie entspringt der - freilich uneingestandenen - Reflexion eines Gesellschaftszustands, welcher von den konfliktären Interessen der Individuen bestimmt wird. Dieser Ansatz orientiert sich an der von Franz Hundsnurscher entworfenen Vorgehensweise,6 ohne deren Abstraktheit zu überwinden. Generiert werden idealtypische Dialogverläufe - komplementäre, koordinative und kompetitive -, deren Untermuster an der Wirklichkeit des sprachlichen Materials, aus der semantischen Analyse .rekonstruktiv' ermittelt werden sollen. Diese Überprüfung der Hypothese durch empirische Faktizität bestimmt aber den Punkt, wo das Verfahren von seinen Voraussetzungen nichts mehr weiß; wenn sich die gesellschaftlichen Interessenkonstellationen aus der phänomenologisch anschauenden Wittgenstein, 1971,8.60. Habermas, Jürgen: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: Habermas, Jürgen; Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt am Main 1971, S. 101-141, hier: S. 139. Siehe Franke, Wilhelm: Elementare Dialogstrukturen. Darstellung, Analyse, Diskussion. Tübingen 1990, S. 62-84. Hundsnurscher, Franz: Dialogmuster und authentischer Text, in: Hundsnurscher, Franz; Weigand, Edda (Hgg.): Dialoganalyse. Referate der 1. Arbeitstagung Münster 1986. Tübingen 1986, S. 35^*9, hier: S. 41 f.
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Betrachtung nur eines Teils des Sprechakts, der „verbalen oder nominalen Ausdrücke"7, ergeben soll. Der „heuristisch-methodische" Aspekt „einer als ideal zugrundegelegten, expliziten Musterbeschreibung wohlgeformter Dialoge"8 - das könnte, anders verstanden, die Vorstellung eines koordinativen Dialogs der gleichberechtigten Individuen bedeuten, eines „kooperativen Deutungsprozesses", in dem „keiner der Beteiligten ein Interpretationsmonopol"9 hat; „wohlgeformt" hieße dann auch .angemessen': den Individuen angemessen. Die „empirisch-deskriptive" Analyse „authentischer Gesprächsverläufe" bedeutete nun die Beschäftigung mit den kompetitiven Dialogen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, und deren „theoretisch-explanatorische" Bewertung erfolgte nach dem Erkenntnisinteresse, das der Maßstab des koordinativen Dialogs, des herrschaftsfreien Diskurses, vorgegeben hat. Und wenn „Komplementarität" nur die „Anpassung der Interessen oder Ziele eines beteiligten Sprechers an die Interessen oder Ziele des Gesprächspartners"10 ist, dann bleibt dies nur ein Spezialfall eines kompetitiven Dialogs. Keine Veränderung erfährt das Verfahren bei der Analyse künstlerischer Texte; auch sie sind aus Sprache gebildet, und die Vorstellung einer kategorial anderen .Sprache der Kunst' ist bloß ein Mythos. Coserius Entwurf einer „Textlinguistik als ,Linguistik des Sinns'"" lehnt berechtigt die von Roman Jakobson postulierte ,poetische Funktion' ab, es bleibt jedoch ein Rest von jener Metaphysik des Kunstwerks bestehen; als Gegenthese zum naiven Verständnis von Kunst als einem Dialog zwischen dem Autor und den intendierten Rezipienten wird hier wieder eine Eigenständigkeit - ein Für-sich-Sein des Kunstwerks12 - behauptet. Das Kunstwerk intendiert aber, wie jede sprachliche Äußerung, die Rezeption als Bedingung seiner Existenz. Es ist keine „totale" Realisationsform von Sprache „schlechthin", gegenüber welcher die Äußerungen der Individuen „Abweichungen"13 oder Inkompetenz zeigten. Was Sprache als Text bestimmt, ist die potenzierte Darstellungsfunktion: das an sich schon Bezeichnende, die Sprache, wird im Text wiederum zum Bezeichnenden für den ,Sinn', die Bedeutung des Textes. So kann man einen Text ein „sekundär modellbildendes System"14 nennen, diese Funktion ist aber ein Charakteristikum der Texte und nicht der Kunst allein.15 Alle Texte, sofern sie gelungene sind, haben jenen Doppelcharakter, der sich aus der Zeichenfunktion der Sprache herleitet: sie stellen Welt dar und entwerfen so Welt neu; dies ist ihre Erkenntnisfunktion und in dieser unterscheiden sie sich nicht. .FiktionaliFranke, 1990, S. 71. Hundsnurscher, 1986, S. 41f. Dort auch die im weiteren verwendete Begrifflichkeit.
Habcrmas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Frankfurt am Main 1988,8. 150. |° Franke, 1990, S. 64. Coseriu, Eugenic: Textlinguistik. 2. Aufl. Tubingen 1981. Coseriu, 1981,8.62. [* So aber Coseriu, 1981,8. 110. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. 2. Aufl. München 1981. So auch Coseriu, 1981, S. 39 et passim.
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tat' bedeutet dann auch ein Bewußtsein von Sprache als Material, als Gestaltungsmittel, das in den Künsten historisch ausgeprägter ist als etwa in den diskursiven Textsorten. Die Bedeutung der Texte, die „zweite semiotische Ebene"16, entsteht durch ihre Form. Als Modelle suspendieren sie die Linearität der Sprache und gewinnen ihre Bedeutung erst in der Gesamtheit ihres Strukturzusammenhangs. Wie die Texte und ihre Verfahrensweisen historische Voraussetzungen haben, so braucht ihre Explikation die Verfahrensweise17 einer hermeneutischen Literaturwissenschaft. Und weil die Texte eine Geschichte haben, ein „Redeuniversum"18 aus literarischen und außerliterarischen Bezügen, „kann die Textlinguistik, wenn sie wirklich vollständige Interpretation von Texten sein will, sich nicht ausschließlich im Bereich der Sprachwissenschaften bewegen."19 So könnte eine im besten Sinne hybride Verfahrensweise entstehen, die sich einerseits an der ,mikrokosmischen' Vorgehensweise der Sprachwissenschaft orientiert, indem sie sich in verstärktem Maß um die Kleinsteinheiten von Texten, wie etwa die Strukturen von Dialogen, bemüht; andererseits aber die ,makrokosmischen' Vorgehensweisen der Literaturwissenschaft einschließt, die sich auch als Bewußtseinsgeschichte verstehen. Manchmal geraten die Versuche in Interdisziplinarität auch zu .Übersetzungsübungen',20 wenn etwa literaturwissenschaftliche Verfahrensweisen in linguistische Terminologie transponiert werden: auch dies kann Präzisierung sein. Deren Voraussetzung bleibt aber das wertende Urteil der Wissenschaft, das sich nicht als ein unparteiliches versteht.
2. Das ungleiche Liebespaar, der Adelige und die Bürgerliche, stehen in der Gattungstradition des bürgerlichen Trauerspiels für den Anspruch auf Gleichheit, für die Hoffnung auf die Überwindung der Standesgrenzen. Gleich sind die Individuen schon durch die Liebe, die sie verbindet; die gesellschaftlichen Unterschiede werden als den Einzelnen Äußerliches, als Willkürliches und Unwichtiges bezeichnet. Die Sprache, in der das Liebespaar miteinander redete, sollte so auch die Sprache der Freiheit sein. Am Wert des Individuums orientierte sie sich: an seiner Empfindungsfähigkeit vor allem, aber auch an seinen moralischen Grundsätzen. Sie richtete sich gegen aristokratische Vorherrschaft, Standesdünkel und Libertinage, aber auch schon gegen den aufklärerischen Rationalismus der bürgerlichen Schichten. Selbst wenn sie sich religiöser Metaphorik bediente, so verstand sie sich doch als weltliche in ihrer Konzentration auf die Empfindung des Individuums. Ausgeprägt wurde diese Sprache in der Literatur, als Konstrukt ist sie hervorgegangen aus bürgerlichen Vorstellungen, 16 g
19 20
Coseriu, 1981,8.49. Siehe dagegen Coseriu, 1981, S. 114. Coseriu, 1981, S. 95: „Unter Redeuniversum verstehe ich das universelle System von Bedeutungen, zu dem ein Text gehört und durch das er seine Gültigkeit und seinen besonderen Sinn erhält." Coseriu, 1981, S. 149. Siehe etwa Coseriu, 1981, S. 118: „Der sog. .Sprachfamilie' der historisch vergleichenden Sprachwissenschaft entspricht die literarische Gattung in der Textwissenschatt."
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für die das .Allgemein-Menschliche' noch als überwindendes Hoffnungsprinzip galt. .Authentische' Dialoge konnten in ihr nicht geführt werden, weil die Realität sich in moralisch konnotierten Dichotomien gar nicht fassen ließ. Luise Millerin hat bei ihrem ersten Auftritt (I, 3) ein Gebetbuch in der Hand, aber wenn sie dann ein Gespräch mit ihrem Vater beginnt, so ist es, als rezitiere sie aus der bürgerlichen Literatur. Die Vorhaltungen ihres Vaters beantwortet sie mit einem Zitat aus Lessings „Emilia Galotti": „Wenn wir ihn Über dem Gemälde vernachläßigen, findet sich ja der Künstler am feinsten gelobt. - Wenn meine Freude über sein Meisterstük mich ihn selbst übersehen macht, Vater, muß das Gott nicht ergözen?"
Und so hat Miller Recht, wenn er antwortet: „Da haben wirs! Das ist die Frucht von dem gottlosen Lesen."
Aus der zeitgenössischen Lyrik ist entlehnt, was Luise sich zurechtformt zum angeblichen Ausdruck ihrer Wünsche; dem Vater ist es nur ein weiterer Beweis für die Unmöglichkeit der Liebesbeziehung. Entgegnen kann er ihr nicht in solchem Ton, er kann nur das Faktum der Unmöglickeit konkret statt in Metaphorik ausdrücken. Weil die entlehnte Metaphorik nicht mehr Postulat, sondern schon Vertröstung ist, weil sie dem gesellschaftlichen Tatbestand durch Entkonkretisierung den Schmerz nehmen soll, reagiert Luise „erschraken" und muß sich das Gesagte wieder umbiegen in die mittelbare Sprache aus den Büchern. So nimmt sie eine gewisse Überlegenheit an und antwortet in klopstockisierender Manier22, denn sie weiß, daß ihr Vater diesen Diskurs nicht beherrscht: „Er wird nicht wissen, daß Ferdinand mein ist, mir geschaffen, mir zur Freude vom Vater der Liebenden". Was sie dann weiter zu ihrer Liebe ausführt, trägt erkennbar die Signaturen der Lyrik Klopstocks und des Göttinger Hains;23 und wo Luise auf Widerspruch trifft, da lassen sich die Wünsche ja noch weiter entkonkretisieren, bis hin zu einem weiteren Muster aus dem Angelesenen: der Vorstellung einer ins Jenseits verlagerten Welt ohne Standesunterschiede.24 Die Einrahmung dieses Gesprächs durch .natürlichen' Dialog hebt die Artifizialität des bloß Aufgesagten hervor; die Regieanweisungen verdeutlichen den Umstand, daß Luise eine Rolle annimmt, wenn sie etwa ihren Vater „eine Zeitlang starr" ansieht, wenn sie sich über ihre eigenen Worte „erschrikt", da die Sprache der Literatur doch nicht so einfach auf das gesellschaftliche Individuum übertragbar ist. Und am Ende, als die Mutter das Kommen Ferdinands
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Siehe „Emilia Galotti": „O, Sie wissen es ja wohl, Conti, daß man den Künstler erst recht lobt, wenn man über sein Werk sein Lob vergißt." (I, 4) Siehe etwa Klopstocks Gedicht „Salem", in dem jene Bildlichkeit dominiert. Siehe etwa Höltys Gedicht „Die Geliebte": Würde mein heißer Seelenwunsch Erfüllung, / Brächt ein gütig Geschick mich ihr entgegen, / Eine flügelschnelle Minut in ihrem / Himmel zu atmen; / Seliger war ich denn als Staubbewohner, / O dann würd ich den Frühling besser fühlen, / Besser meinen Schöpfer in jeder Blume / Schauen und lieben!" (Der Göttingen Hain. Hg. von Alfred Kelletat. Stuttgart 1967, S. 80) Siehe etwa Klopstocks Gedichte „An Fanny" und „An Freund und Feind".
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mitteilt, bleibt der „zitternden" Luise nichts mehr von der Sicherheit, die sie dem Vater gegenüber zeigen konnte, es bleibt ihr auch nichts mehr von ihrer Sprachgewalt. Mit den literarischen Implikaturen der nun folgenden Dialogkonstellation waren die Zeitgenossen vertraut, das Muster hatten sie, sozusagen als „heuristische Matrix"25, im Kopf. In „Kabale und Liebe" wird aber im ersten gemeinsamen Auftritt des Liebespaars gerade ihr Schweigen durch die Regieanweisung „Pause" besonders hervorgehoben, ein Schweigen, das im weiteren Verlauf des Dramas zur Signatur dieses Paares werden wird. Die ersten Liebesbezeugungen betonen statt der Gleichheit die Verschiedenheit der Gesprächspartner: Luise fällt dem Major „einfach um den Hals", während er sich an der höfischen Etikette orientiert und ihr die Hand küßt. Die Unterschiede verschärft noch der Dialog, denn was auf das Schweigen folgt, hat wenig vom potentiell koordinativen Charakter eines Gesprächs unter Liebenden, sondern mehr von der Textsorte Verhör. Hier redet vorerst nur einer, und die andere kommt nicht zu Wort. Schon der Eröffnungssatz Ferdinands („Du bist blaß Luise") formuliert in Form einer Feststellung, was eigentlich eine Frage sein sollte, und impliziert so bereits einen Vorwurf. Obwohl Luises ausweichende Antwort ein Insistieren nahegelegt hätte, fragt der Major in einem fort, freilich ohne jeweils die Antwort abzuwarten, da er sich seine Fragen entweder selbst beantwortet oder über der nächsten vergißt. Luises nur sehr kurze Antwort, ihr Versuch, der letzten Feststellung zu widersprechen, provozieren dann Nachfragen, die sich durch ihren Gestus der Allwissenheit der Sprache der Herrschaft annähern, obwohl Begriffe wie „Seele" dem als herrschaftsfrei gedachten Raum der Liebe zugehören: „Ich schaue durch deine Seele, wie durch das klare Wasser dieses Brillanten [...]. Hier wirft sich kein Bläschen auf, das ich nicht merkte - kein Gedanke tritt in dieses Angesicht, der mir entwischte. Was hast du nur? Geschwind!" Nun steht Luise gar „stumm" da und formuliert erst nach einiger Zeit den Satz, der schon alle Widersprüche enthält, die das Drama thematisiert, einen Satz, der auch schon die Konzentration auf die Analyse der Sprache andeutet: „Ferdinand! Ferdinand! Daß du doch wüßtest, wie schon in dieser Sprache das bürgerliche Mädchen sich ausnimmt -". Sie weiß, daß Ferdinand eine Sprache spricht, die sie eben nur aus Büchern kennt und nur gegenüber demjenigen ausprobieren kann, der sie auch nicht beherrscht. An dieser sprachlosen bürgerlichen Heroine wird deutlich, daß weite bürgerliche Schichten schon längst von einem Diskurs enteignet sind, der doch die Ausprägung ihres Emanzipationswillens war; am wortgewaltigen jungen Aristokraten zeigt sich, wer sich diese Sprache angeeignet hat. Den präzisesten Satz des ganzen Dramas hat die Protagonistin gesprochen, denn in ihm wird auf den Punkt gebracht, was sonst in der Allgemeinheit des auf Liebe gegründeten Identitätsgefühl nicht formuliert werden darf. Luises Satz versteht Sprache nicht mehr als allgemeine, der menschlichen Empfindung quasi-natürlich entsprin25
Franke, 1981,8. 107.
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gende „Sprache des Herzens" (V, 7), sondern als ,Diskurs', der sich gesellschaftlich zuordnen läßt. Die Sprache, die Ferdinand spricht, trägt eine Vorstellung von Identität in sich; und spricht man sie nur, so soll sich wenigstens das Gefühl von Identität einstellen, einer Identität, welche die gesellschaftlichen Bedingungen gerade nicht zulassen. Daher „befremdet" die Sprache der Realität den Protagonisten; er weist sie zurück aus seiner Welt, der Enklave .Liebe', und die den Sätzen immanente Schärfe deutet schon die Gewalt an, welche dazu nötig sein wird: „Du bist meine Louise. Wer sagt dir, daß du noch etwas seyn solltest. Siehst du Falsche, auf welchem Kaltsinn ich dir begegnen muß. Wärest du ganz nur Liebe für mich, wann hattest du Zeit gehabt eine Vergleichung zu machen. [...] Schäme dich! Jeder Augenblik, den du an diesen Kummer verlorst, war deinem Jüngling gestohlen."
Luise aber, für die es kein Refugium geben kann, formuliert die Einwände in den Kategorien der Standesunterschiede. Solcher Konkretion kann Ferdinand nur in Form von Metaphern vom „Bund zwoer Herzen" und von den „Tönen eines Akkords" begegnen. So verkommt eine Metaphorik, die sich als Korrektiv einer als mangelhaft erfahrenen Wirklichkeit verstand, zur Kompensation: „Ich bin des Präsidenten Sohn. Eben darum. Wer, als die Liebe, kann mir die Flüche versüßen, die mir der Landeswucher meines Vaters vermachen wird?"
Wenn Luise auch jetzt noch, durch die nochmalige Erwähnung des Präsidenten, auf die Machtverhältnisse der Wirklichkeit hinweist, müssen die Gegenbilder noch unwirklicher geraten und aus dem Bereich der Märchen entliehen werden: „wie der Zauberdrach über unterirdischem Golde" will er über sie wachen. Und wenn er ihr gar .jeden Tropfen aus dem Becher der Freude" und die „Schaale der Liebe" verspricht, er, der schließlich auf das Glas mit der vergifteten Limonade zurückgreift, dann hat das Drama den Unterschied zwischen Metaphorik und Realität präzisiert; in seiner Sprache, in gesellschaftlichen Kategorien. Luise kann Ferdinand nur antworten als diejenige, welche den Unterschied erfährt und nicht reflektieren kann, in der inkohärenten Sprache der Verzweiflung, ihrer Form der Expressivität, die ihn nur sprachlos macht. Eine andere aber kann dem Major in der Sprache antworten, in welcher sich das „bürgerliche Mädchen" so schön ausnimmt; es ist die fürstliche Mätresse, Lady Milford. Trotz der kompetitiven Ausgangssituation scheint hier ein Dialog schon zu gelingen (U, 3). Es ist gerade die dem höfischen Verhalten entlehnte Form ritualisierter Höflichkeit, die Gegenform bürgerlicher ,Gesprächskultur', welche den Dialog so formt, daß die Gesprächspartner sich als gleichwertige anerkennen müssen. Zu den Formen höfischer Gewandtheit will Ferdinand sich ja im Gegensatz wissen, und so versucht er sie mit deutlicher Intention zum Affront zurückzuweisen („Und soll Ihnen melden, daß wir uns heurathen"). Weil die Lady aber nun wiederum im ganz unhöfischen Ton der Empfindsamkeit antwortet („Nicht Ihres eigenen Herzens?") und sich auch durch eine weitere Beleidigung nicht davon abbringen läßt, muß er vorerst bei der höfischen Terminologie bleiben und seine Ehre, seinen gesellschaftlichen Status („Kavalier") und seinen Offiziersrang betonen. So entsteht eine komische Umkehrung
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der von Ferdinand intendierten Gesprächsrollen; alles, was der Major als „Vorurteil" verachtet, muß er jetzt ins Feld fuhren, um sich gegen die empfindsame Rede derjenigen zu wehren, die er sich doch als „privilegierte Bulerin" (I, 7) gedacht hatte. Der Hinweis auf seine gesellschaftliche Stellung verletzt aber endlich doch das Selbstwertgefühl der Lady, die sich nun ihrerseits auf ihre Stellung bei Hofe besinnt und so Ferdinand die Gelegenheit bietet, zu der Sprache Überzugehen, welche er doch für die seine hält: der „Sprache" seines „Herzens". Noch trifft er nicht den richtigen Ton, vermengt die empfindsame Rede mit der Berufung auf seine Standesinsignien Wappen und Degen; erst als Lady Milford sich auf den Urheber dieser Macht, den Herzog, bezieht, findet er .seine' Diskursebene. Jetzt kann er die bürgerlichen, die antifeudalen Konzepte von den „Gesezen der Menschheit" formulieren, jetzt erreicht er das Pathos des jugendlichen Rebellen, der sich auflehnt gegen die Macht und die Konvention. Weil die Lady sich schließlich so verhält, wie er es erwartet hat, kann er nun seine ganze Überlegenheit inszenieren und seine Hofkritik pointieren mit dem Hinweis auf die Tugend - die ihn kennzeichnet, den „teutschen Jüngling" (I, 7), und sie eben nicht, die „privilegierte Bulerin". Aber so wohlgeordnet sind die Verhältnisse nicht mehr: Indem die Hofdame statt mit Wut mit Schmerz auf seinen Vorwurf reagiert, erzwingt sie eine Revision seines Vorgehens. Ferdinand vertritt nun - versetzt schon mit Komplimenten für die Lady - die Position des Herzens, der Tugend und auch der Freiheit gegen die Position des Lasters und der Fürstenherrschaft. Und jetzt erst entwickelt sich ein Dialog, wie er sonst nicht im Drama geführt wird, ein geradezu exemplarischer koordinativer Dialog zwischen Gleichberechtigten. In keiner anderen Szene verwenden die Figuren so viele Metakommunikativa, die den Willen zum Gespräch bezeugen. Ihre Interessen könnten nicht unterschiedlicher sein, und dennoch entsteht hier ein Dialog, wie er niemals zwischen dem Liebespaar möglich wäre. Lady Milford ermuntert Ferdinand, seine Position darzulegen, sei sie auch noch so schmerzhaft für sie selbst. Er entwickelt seine Ausstellungen sehr gewandt, unter Vorwegnahme schon der möglichen Entgegnungen, mit Differenzierungen, die ihn von rigider Tugendmoral abgrenzen. Und die ihm antwortet, ist nicht weniger geschickt: Sie streift den Aspekt ihrer Macht nur, um zu beweisen, daß sie freiwillig ein Gespräch führen will. Alle seine Vorwürfe erwähnt sie in ihrer Entgegnung; dem konkreten, der Frage nach der Zwangspressung, weicht sie aus, den allgemeinsten, die Anspielung auf ihre Nationalität, will sie beantworten. Verstand der Major die Anspielung auf England als konstitutionelle Monarchie noch als Gegenvorstellung zur absolutistischen Fürstenherrschaft, so dient sie der Lady nur zum Anlaß, ihr Leben zu erzählen. Wenn sie dann ihre Geschichte mitteilt, scheint von der Hofdame nichts mehr geblieben, so genau trifft sie die Ebene des Empfindsamen. Attraktiver für den Zeitgeschmack kann kein Schicksal sein: eine arme Waise, mit Herzensadel und dann auch noch von wirklichem Adel, schutzlos in der Fremde. Der Angesprochene kann gar nicht anders als sich genau nach den in diesen Ausführun-
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gen enthaltenen Rezeptionsanweisungen zu verhalten; in dem Moment, in dem die Lady ihr privates Schicksal in der empfindsamen „Sprache des Herzens" darstellt, entwickelt der Dialog eine zwingende Eigengesetzlichkeit. Im empfindsamen Diskurs sind die Antworten ja festgeschrieben; eine empfindsam vorgetragene Erzählung verlangt eine empfindsame Erwiderung, wenn anders nicht das Welt- und Selbstbild des Zuhörenden zerstört werden soll. Und wie er muß, so reagiert Ferdinand auch und revoziert schon die Vorwürfe, die nur für die „Bulerin" gelten können, aber nicht für das Individuum, das ihm jetzt seine Geschichte erzählt. Nun entfaltet die Lady das ganze Panorama der bestimmenden Dichotomien des Zeitalters: „der Ehen göttliches Band" hat sie verteidigt gegen „die Wollust der Großen dieser Welt", die Unschuld vor dem Laster geschützt und die Menschlichkeit gegen den Tyrannen. Sie kann die „stille Tugend" für sich reklamieren, und weil das so ist, hat sie ein Recht auf diesen „teutschen Jüngling". Der empfindet die Rechtmäßigkeit der Forderung und versucht deshalb das Gespräch abzubrechen. Daß sie genau dies nicht geschehen lassen kann, weiß die Lady, sie kennt die Macht der empfindsamen Reizwörter: „Das Gewicht dieser Tränen mußt du noch fühlen". In einem abschließenden Crescendo formuliert sie einen Appell, der unwiderstehlich ist, weil sich alles in ihm konzentriert, was das Selbstbewußtsein des empfindsamen Individuums ausmacht: Durch ihre Heirat mit Ferdinand siegen Liebe, Tugend und Religion gegen Standesdünkel, Laster und Verdammnis. „In der schreklichsten Bedrängniß" befindet sich jetzt der Protagonist; er kann keinen .Diskurs' mehr führen, sondern nur noch seine privaten, partikularen Interessen gestehen. Gerade das will die Lady nicht hören, sie muß Ferdinand zwingen, auf ihren Diskurs die richtige Antwort zu geben, und kann daher keinen anderen Gesprächsgegenstand, kein anderes Interesse, zulassen. Sein eigenes Interesse ist aber Ferdinands letzte Ausflucht vor den empfindsamen Forderungen; wie gegensätzlich seine ursprüngliche Gesprächsstrategie und der tatsächliche Verlauf des Dialogs sind, faßt er noch einmal zusammen: „Fest entschlossen Sie zu beleidigen, und Ihren Haß zu verdienen, kam ich her - Glücklich wir beide, wenn mein Vorsaz gelungen wäre!" Die Handlungen der Individuen sind dann nicht vom Gespräch beeinflußt, sondern von den tatsächlichen Interessenkonstellationen. Ferdinand gelingt es im Finale jenes Dialogs noch einmal, das Festhalten an seinen Absichten mit den empfindsamen Normen zu begründen, mit Pflicht, mit dem Vorrang der „Natur" vor den „Konvenienzen", mit „Liebe". Es sind dies aber auch genau die Ansprüche, welche Lady Milford an ihn stellt, ohne daß er bereit wäre, sie zu erfüllen. Wenn sie bloß eine andere betreffen, haben diese Vorstellungen für die Lady keine Gültigkeit mehr; sie besteht auf ihrem Interesse, das sie in einem ganz anderen Diskurs ausdrücken kann, und Ferdinands eloquente Erinnerung an das vorher Gesagte ändert nichts daran: „Meine Ehre kanns nicht mehr - Unsre Verbindung ist das Gespräch des ganzen Landes. [...] Wehren Sie sich so gut sie können. - Ich laß alle Minen sprengen."
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Und so mühelos, wie sie vom vertrauten ,Du' zum formalen ,Sie' überwechselt, so problemlos wechselt sie von einem Diskurs zum anderen.26 Dieser Schluß benennt nicht nur die Gründe für das Scheitern des koordinativ geführten Dialogs; er zeigt auch, wie er überhaupt möglich sein konnte. Bloß eine literarische Sprache hatten die Gesprächspartner gesprochen; als Kunstsprache gehört sie jetzt denjenigen, die gar nicht gemeint waren mit dem emanzipatorischen Anspruch. Die beiden aristokratischen Figuren benutzen den empfindsamen Diskurs schon als Redeinventar, die Vermischung mit aristokratisch konnotierten Konzepten wie Ehre und Stand ergibt die besondere Attraktivität der Szene. Großartigkeit der Empfindung wird noch einmal behauptet, dazu müssen sich aber schon eine „Fürstin" und ein adeliger Offizier unterhalten, zur angeblich natürlichen Hoheit muß noch die tatsächliche treten, damit der Effekt überhaupt noch erreichbar ist. Das Drama macht dieses , Theater' erkennbar durch die Sprachlosigkeit der Bürgerin. Kurz vor der Katastrophe demonstriert das Drama noch einmal die Sprachlosigkeit, die das ungleiche Liebespaar trennt. Das „große Stillschweigen, das diesen Auftritt ankündigen muß" (V, 7), ist schon die Zusammenfassung des Bühnengeschehens, in dem das Mißlingen von Dialogizität inszeniert wird. Die immer neuen Pausen, die auf Luises Konversationsversuche folgen, sind das Strukturprinzip einer Dramaturgie der Sprachlosigkeit. Die Protagonistin versucht, die ihr aufgezwungene Sprachlosigkeit zu überwinden, erst durch konversationeile Harmlosigkeiten und dann durch den Ausdruck ihrer Gefühle: „O ich bin sehr elend!" Statt Versatzstücke literarischer Ausdrucksformen vor sich herzusagen, beginnt sie in der einzigen Sprache, die ihr wirklich zu eigen ist, der Sprache des unmittelbaren Schmerzes, zu reden und scheitert am Widerstand desjenigen, der ja nicht zuhören wollte, sondern gekommen war, um Gericht zu halten. Seiner .uneigentlichen', mittelbaren Sprache aus Bosheit, Ironie und Häme begegnet Luise in direkter, unmittelbarer Sprache mit Appellcharakter: „O Jüngling! Jungling! Unglüklich bist du schon, wilst du es auch noch verdienen?"
„Ergrimmt durch die Zähne murmelnd", spricht der Major nicht mit ihr, sondern zu sich selbst. Weil er die Einwände des Individuums nicht hören will, vollstreckt er das Urteil, noch ehe er mit der Befragung beginnt. Wie in einer Schmierenkomödie insinuiert Luise in dem Moment, in dem sie das Glas mit der vergifteten Limonade wieder niedersetzt, ihre Unschuld. Nicht das Drama ist die Schmierenkomödie, es entlarvt bloß das Verhalten des Protagonisten als solche, wenn statt der Chimäre, die er gerichtet hat, ihm jetzt das Individuum in der unverstellten Sprache der Empfindung antwortet: „Das deiner Luise?" Jetzt, wo es zu spät ist, darf er nicht mehr zuhören und fällt in frenetisches Monologisieren, damit er das Individuum nicht wahrnehmen muß; denn er hatte nur in Bildern gedacht, Luise war ihm erst Ikone, dann Chimäre, und nur so kann er sie beschreiben: als „Engel", als „schönes Werk des himmlischen Bildners"
Greis, Jutta: Drama Liebe. Zur Entstehungsgeschichte der modernen Liebe im Drama des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, S. 118.
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oder als „Schlange", „Wurm" und „Missgeburt". Ikonisierung und das Denken in solchen Dichotomien entstammen bürgerlichem Gedankengut, und gegen die solchen Kategorien immanente Verachtung des Individuums wendet sich das Drama auch. Nur einmal unterbricht der Major sich in seinen Monologen; nachdem er längst gerichtet hat, wendet er sich zum ersten Mal an Luise selbst: „O Louise! Louise! Louise! Warum hast du mir das gethan?"
Der Zynismus jener Umkehr der üblichen Verfahrensweise, der Folge von Verhör und Urteil, entlarvt den empfindsamen Liebhaber, der jetzt erst insistieren kann und auf die Beantwortung seiner Frage nach Luises Verhältnis zum Marschall drängt. Wenn Ferdinand dann den Giftmord gesteht und Luise, schon sterbend, die Wahrheit sagt, geschieht wieder dasselbe wie in der Szene, in welcher die Familie Miller Hilfe gegen den Präsidenten erwartete: Ferdinand „will hinaus", und so verpaßt er noch den Tod Luises. „Ein entsezliches Schiksal hat die Sprache unsrer Herzen verwirrt", sagt Luise; daß es kein Schicksal war, weiß sie ja, aber am Ende kann sie doch nur einen unter den Schuldigen benennen. Einmal nur hatte sie ihren eigenen Standpunkt formulieren können, in der Szene mit Lady Milford. Im „sehr prächtigen Saal", auf fremdem Territorium, glaubte sie, in derjenigen, welche ihr dort mit der Sprache der herablassenden Hochmut begegnete, noch die Feindin erkennen zu können. Diese Situation konnte sie sich erklären in den vertrauten Dichotomien, hier entfaltete sie Eloquenz und Angriffslust. Gegen die „grausambarmherzige" Wohltätigkeit verwahrte sich das „Bürgermädchen" und wies so auf das Barbarische der Standesunterschiede hin: „Wie kommt es Milady, daß Ihr gepriesenes Glük das Elend so gern um Neid und Bewunderung anbettelt?"
Nur weil ohnehin schon alles verloren schien, wollte sie ihre „Ohnmacht zu einem Verdienst aufpuzen"; nur in verzweifelt-hilfloser Selbstinszenierung konnte sie eine trotz der religiösen Metaphorik radikale Gleichheitsvorstellung entwickeln: „Vielleicht wissen Sie es selbst nicht, Milady, aber Sie haben den Himmel zweier Liebenden geschleift, voneinander gezerrt zwei Herzen, die Gott aneinander band; zerschmettert ein Geschöpf, das ihm nahe gieng, wie Sie, das er zur Freude schuf, wie Sie, das ihm gepriesen hat, wie Sie, und ihn nun nimmermehr preisen wird".
Diese Sprachmächtigkeit des Individuums, wie sie die Pointierung des Anspruchs durch die dreimalige Wiederholung des „wie Sie" ausdrückt, verbleibt vorerst im Irrealis einer hilflosen Inszenierung des schon vernichteten Menschen. Aber statt der „Sprache des Herzens" erscheint die Vorstellung einer Sprache des Bewußtseins: einer Sprache unter Gleichen.
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Dialog als lyrische Zwiesprache
l. Lyrische Monologizität Das Kriterium der Monologizität, des Sprechens mit einer Stimme und aus einer einheitlichen Redesituation, bildet den Eckpfeiler im jüngsten Versuch, ein Gattungsgesetz lyrischer Dichtung zu definieren: „Lyrische Rede ist als Einzelrede grundsätzlich monologisch".1 Wenn in einem Gedicht dialogische Elemente vorkommen - z. B. wenn das lyrische Ich ein Du anredet oder wenn es erinnerte oder vorgestellte Gesprächsteile in sein Sprechen einbaut -, so stellt dies den monologischen Grundcharakter des lyrischen Redevorgangs nicht in Frage: „In solchen Reden kommt das angesprochene Gegenüber nur scheinbar zu Wort; in Wirklichkeit unterstellt der Sprecher ihm nur bestimmte Äußerungen, die nichts anderes sind als der Ausdruck seiner eigenen Gedanken oder Gefühle; er dialogisiert seinen Monolog, ohne ihn zu einem echten Dialog werden zu lassen."2
Bloße ,Anrede-Lyrik'3 ist noch nicht dialogisch, auch wenn es im Einzelfall von Bedeutung sein kann, festzustellen, daß die Sprechhaltung des lyrischen Ichs wesentlich dadurch geprägt ist, daß seine Rede sich an einen Adressaten - sei es in Gestalt einer realen Person oder einer rein ideellen Größe usw. - richtet. Wenn im folgenden ein Sonder- und Grenzfall dialogisch-lyrischer Rede näher ins Auge gefaßt werden soll, so geschieht dies auf der Basis einer Einschränkung des Begriffs ,dialogisch' auf solche Fälle, in denen von tatsächlicher Zweistimmigkeit gesprochen werden kann, weil die andere Stimme als selbständige Stimme zu Wort kommt und der Sprachvorgang des Gedichts nicht ohne weiteres als monologische Rede eines einzigen Sprechers aufgefaßt werden kann." Lamping, Dieter: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. 2., durchgesehene Auflage. Göttingen 1993, S. 64. Lamping, 1993, S. 65. Vgl. Spitzer, Leo: Über zeitliche Perspektive in der neueren franzosischen Lyrik (Anredelyrik und evokatives Präsens), in: Spitzer, Leo: Stilstudien. Teil II: Stilsprachen. München 1928, S. 50-83. In bisher vorliegenden Untersuchungen zu dialogischen Strukturen in der Lyrik wird von einem weiter gefaßten Begriff des Dialogischen ausgegangen, der sowohl die monologisch integrierten als auch die selbständigen Formen dialogischer Rede umfaßt, vgl.: Lockemann, Fritz: Gedanken über das lyrische Du, in: Bischoff, Kurt; Röhrich, Lutz (Hgg.): Volk, Sprache, Dichtung. Festgabe für Kurt Wagner. Gießen 1960, S. 79-106; Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Gesprächsformen als Konstituens lyrischer Struktur, in: Dttsing, Wolfgang (Hg.): Traditionen der Lyrik. Festschrift für Hans-Henrik Krummacher. Tübingen 1997, S. 151-168. - Die breiter und gattungsübergreifend angelegte Darstellung von August Langen (Dialogisches Spiel. Formen und Wandlungen des Wechselgesangs in der
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2. Dialog-Gedichte Die Definition des lyrischen Gedichts als monologische Einzelrede schließt also die Verwendung dialogischer Rede nicht grundsätzlich aus. Als „äußerste Möglichkeit" derartiger Dialogisierung der lyrischen Einzelrede wertet Lamping solche Fälle, in denen „der Sprecher der Einzelrede sich in zwei Subjekte gleichsam aufspaltet und sie miteinander reden läßt".5 Hierbei handele es sich jedoch nicht „um echte, sondern bloß um innere Dialoge, um Selbstgespräche mit verteilten Rollen, in denen von einem zweiten Sprecher und von einer zweiten Stimme im strengen Sinn keine Rede sein kann"6 - eine Feststellung, die für das herangezogene Beispiel, Matthias Claudius' Die Sternseherin Lise, zweifellos zutrifft. Dasselbe könnte auch noch für ein modernes Gedicht, Ingeborg Bachmanns Reklame, gelten, obgleich hier die beiden Stimmen, die in ihm zu Wort kommen, in einem für das Gedichtganze konstitutiven Widerspruch zueinander stehen, dessen strukturelle Bedeutung durch den Gebrauch verschiedener Drucktypen noch unterstrichen wird: Reklame Wohin aber gehen wir ohne sorge sei ohne sorge wenn es dunkel und wenn es kalt wird sei ohne sorge
aber mit musik
was sollen wir tun heiter und mit musik
und denken heiter angesichts eines Endes mit musik
und wohin tragen wir am besten unsre Fragen und den Schauer aller Jahre in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge was aber geschieht am besten
wenn Totenstille eintritt
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deutschen Dichtung (1600-1900). Heidelberg 1966) verfolgt keine spezifisch lyrikorientierten Interessen. Lamping, 1993, S. 65. Lamping, 1993, S. 65f. Bachmann, Ingeborg: Anrufung des großen Baren. Gedichte. München 1961, S. 44.
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Trotz der offensichtlichen Zweistimmigkeit des Sprachmaterials kann kein Zweifel bestehen, daß der Redevorgang des Gedichts in der einheitlich monologischen Sprechhaltung eines Ichs verankert ist, eines Ichs, das die Diskrepanz zwischen seinen Fragen nach dem Tod und den von der Sprache der Werbung angebotenen .Antworten' reflektiert. Es gibt jedoch Gedichte, in denen der lyrische Redeprozeß ganz und gar dialogisch angelegt ist und konsequent durchgeführt wird. Es sind Gedichte, in denen zwei Sprecher mit selbständigen, gleichwertigen Redeanteilen zu Wort kommen, wie z. B. in Hugo von Hofmannsthals Großmutter und Enkel* Eine eigene Untergruppe bilden hierbei Gedichte, in denen der lyrische Dialog als Paar-Dialog zwischen einer männlichen und einer weiblichen Stimme geführt wird. Ein Beispiel aus der neueren Lyrik - in der mittelalterlichen Lyrik verkörpert der,Wechsel', ein aus Frauen- und Männerstrophen bestehendes Gedicht, ein eigenes lyrisches Genre - ist Schillers Gedicht Ein Wechselgesang, 1787 wohl anläßlich der Vermählung des befreundeten Ehepaars Körner geschrieben, in dem abwechselnd „Leontes", „Delia" sowie „Beide" das Wort ergreifen.9 Ein anderes Beispiel ist Goethes 1822 - nach der Abreise aus Marienbad und Trennung von Ulrike von Levetzow - verfaßtes Gedicht Äolsharfen, dessen ursprünglicher Titel „Liebschmerzlicher Zwiegesang unmittelbar nach dem Scheiden" lautete.10 Das im Untertitel ausdrücklich als Gespräch bezeichnete Gedicht besteht aus einer Wechselrede zweier Stimmen, die nur als „Er" und „Sie" gekennzeichnet sind und die, durch räumliche Distanz voneinander getrennt, zunächst in der dritten Person von- und zueinander sprechen, zum Schluß jedoch zur direkten Anredeform „Du" übergehen. Bei diesen Gedichten handelt es sich um echte .Dialog-Gedichte'"; ein Gedicht dieser Art soll im folgenden näher betrachtet werden.
3. Ein Beispiel In der zweiten Auflage (1848) seiner Gedichte hat Mörike das folgende .Dialog-Gedicht' veröffentlicht:
Von diesem Gedicht nehmen die Überlegungen Ingrid Strohschneider-Kohrs' zu Gesprächsstrukturen in der Lyrik ihren Ausgang: Strohschneider-Kohrs, 1997, S. 152ff. Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 1. Hg. von Julius Petersen u. Friedrich Beißner. Weimar 1992, S. 177-179. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. l. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz. 9. Auflage. Hamburg 1969, S. 376f. Mit diesem Terminus sollen im folgenden Gedichte bezeichnet werden, deren lyrische Redegestaltung gemäß der oben getroffenen Unterscheidung auf echter Zweistimmigkeit basiert.
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Gesang zu Zweien in der Nacht.
Sie. Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift, Und klingend jetzt den jungen Hain durchlauft! Da noch der freche Tag verstummt, Hört man der Erdenkräfte flüsterndes Gedränge, Das aufwärts in die zärtlichen Gesänge Der reingestimmten Lüfte summt. Er. Vemehm' ich doch die wunderbarsten Stimmen, Vom lauen Wind wollüstig hingeschleift, Indeß, mit Ungewissem Licht gestreift, Der Himmel selber scheinet hinzuschwimmen.
Sie. Wie ein Gewebe zuckt die Luft manchmal, Durchsichtiger und heller aufzuwehen; Dazwischen hurt man weiche Töne gehen Von selgen Feeen, die im blauen Saal Zum Sphärenklang, Und fleißig mit Gesang, Silberne Spindeln hin und wieder drehen. Er. O holde Nacht, du gehst mit leisem Tritt Auf schwarzem Sammt, der nur am Tage grünet, Und luftig schwirrender Musik bedienet Sich nun dein Fuß zum leichten Schritt, Womit du Stund' um Stunde missest, Dich lieblich in dir selbst vergissest Du schwärmst, es schwärmt der Schöpfung Seele mit!
Kein Zweifel, die Zweistimmigkeit dieses Gedichts ist so beschaffen, daß von einem .Selbstgespräch mit verteilten Rollen' und einer Integration beider Stimmen in eine monologische Stimme, die dann als die Stimme des .lyrischen Ichs' für das Gedichtganze stünde, nicht mehr gesprochen werden kann. Eine Charakterisierung des Gedichts als ,innerer Monolog'13 mag ein interessanter weiterführender Interpretationsansatz sein, liegt aber nicht mehr auf der Ebene der Beschreibung - auf die es hier allein ankommt -, sondern der Deutung. 12
Gedichte von Eduard Mörike. Zweite, vermehrte Auflage. Stuttgart u. Tubingen 1848, S. 6If. Vgl.: „the ,Er' and ,Sie' are two sides of the poet's sensibility, engaged in a dialogue which is wholly internal"; Williams, William David: Day and Night Symbolism in Some Poems of Mörike, in: The Era of Goethe. Essays presented to James Boyd. Oxford 1959, S. 163-178, hier S. 163.
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Gleiches gilt für die Meinung, die beiden Stimmen führten gar kein Gespräch miteinander, sondern monologisierten nur;14 dieselbe Meinung hatte übrigens auch schon Erich Trunz gegenüber Goethes Äolsharfen-Gedicht vertreten: „Gespräch ist das Gedicht in übertragenem Sinne [...]. Es sind parallele Monologe, nur im Geiste dialogisch".15 Man könnte genausogut, und mit größerer Berechtigung, sagen: Nur im übertragenen Sinne ist das Gedicht ein Monolog, seiner tatsächlichen Form und Redehaltung nach ist es ein Dialog. Daß Mörike die in der Überschrift angekündigte („Gesang zu Zweien") und in der Aufteilung der Rede auf die beiden Stimmen „Sie" und „Er" angewandte Dialogform ganz wörtlich genommen und zur Grundlage seiner Gestaltung des lyrischen Sprachgeschehens in diesem Gedicht gemacht hat, wird nachdrücklich bestätigt durch den Vergleich des Gedichts in der 1848 veröffentlichten Fassung mit den anderen poetischen Versionen, die Mörike in einem über mehrere Jahre sich erstreckenden Prozeß der Umgestaltung erarbeitet hat.16 Dieser Prozeß angefangen bei einer ersten monologischen Form im Kontext des noch in die Tübinger Studienjahre fallenden S/7i7/rter-Projekts; über die dramatisch-dialogische Erweiterung im Kontext des O/?//W-Zwischenspiels im Maler Nahen (1832); mit einer ersten Veröffentlichung als Monolog-Gedicht in der Erstausgabe der Gedichte (1838); bis hin zur Veröffentlichung der endgültigen Version als Dialog-Gedicht in der zweiten Auflage der Gedichte (1848) - dieser Prozeß ist insgesamt als eine Entwicklung zu sehen, die zu ganz unterschiedlichen Resultaten in wechselnden Gattungskontexten gefuhrt hat, deren jeweiliger Entscheidung entweder für die monologische oder dialogische Version stets eine stringent verfolgte poetische Absicht zugrunde liegt. Deshalb muß die dialogische Rede-Form in dem Gedicht Gesang zu Zweien in der Nacht als ein wesentliches Strukturmoment beachtet werden und darf nicht interpretatorisch umgedeutet oder relativiert werden. Zu Recht insistiert Wilhelm Schneider darauf: „Die Aufteilung in einen Zwiegesang entspringt [...] keiner willkürlichen Laune, vielmehr bedingen die Erweiterung des Gedichts und die Form des Wechselgesangs einander."
Und sehr plausibel scheint die von S. S. Prawer mit Blick auf die Textgeschichte aufgestellte These, daß Mörikes ästhetische Intention erst mit der dialogischen Form ihr Ziel erreicht und aus einem .guten' Gedicht ein .großes' Gedicht gemacht habe:
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von Heydebrand, Renate: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972, S. 24 und S. 107; hierzu unten ausführlicher. Goethes Werke, Bd. l, S. 698. Zur Textgeschichte vgl.: Krummacher, Hans-Henrik: Zu Mörikes Gedichten. Ausgaben und Überlieferung, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 5 (1961), S. 267-344, hier S. 314. Schneider, Wilhelm: Eduard Mörike: Gesang zu Zweien in der Nacht, in: Burger, Heinz Otto (Hg.): Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte. Halle a.d.S. 1942, S. 244-253, hier S. 246.
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„The splitting-up of the lonely student's monologue into a dialogue or duet of lovers was a most happy ,second thought', which realized to the full the potentialities of the original lines and transformed a good poem into a great one." Von Anfang an ist der in den beiden Stimmen entfaltete Redevorgang dialogisch angelegt. So setzt die „Sie"-Stimme mit einer syntaktischen Figur ein „Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift" -, die ihrer Funktion nach zunächst als Ausdruck der Verwunderung, des Entzücktseins über das in der abendlichen Landschaft wahrgenommene Geschehen erscheint, darüber hinaus aber in einem spezifischen Sinne als Kundgabe eines ästhetischen Urteils zu bestimmen wäre, in dem, mit Kant gesprochen, „Anspruch auf Gültigkeit für jedermann" und „subjektive Allgemeinheit" mitschwingt.19 Anders als Goethes Mailied, dessen Ich seine Rede mit derselben Figur beginnt, aber das darin zum Ausdruck gebrachte Gefühl der Begeisterung sogleich auf sich selbst zurückbezieht („Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur!"20), äußert Mörikes „Sie"Stimme ihr Entzücktsein in der Erwartung, daß ihr Bestätigung und Zustimmung zuteil werde. Dem „wie süß [...]" geht gewissermaßen ein mitzudenkendes „schau n u r , [...]" voraus, mit dem sie ein Du in ihr Erleben einzubeziehen sucht, während die Redehaltung des Ichs in Goethes Mailied eher demonstrative, selbstdarstellerische Funktion hat und auf solche Bestätigung sozusagen verzichten kann. Die konsequent gestaltete Dialogizität des Sprechvorgangs beider Stimmen setzt sich in Mörikes Gedicht fort in der Art und Weise, wie die „Er"-Stimme mit ihrer Rede auf die „Sie"-Rede reagiert. Indem sie das Gehörte aufnimmt, bestätigt und durch eigene Wahrnehmungsaspekte ergänzt und vertieft („Vernehm ich doch die wunderbarsten Stimmen ..."), erfüllt sie die Bedingungen einer dialogisch ,antwortenden' Rede. Und nachdem nun, mit geringstem sprachlichem Aufwand, der dialogische Bezug im Sprechen beider Stimmen sichergestellt ist, bedarf es keiner weiteren Signale mehr, um das in Gang gekommene Sprechen beider Stimmen ausdrücklich als dialogisches erscheinen zu lassen. Die Präjudizierung des Dialogcharakters für das ganze Gedicht durch die ersten beiden Redeteile wird nicht beachtet, wenn man Dialogizität nur den ersten beiden, nicht aber den beiden letzten .Strophen' zubilligen möchte.21 Auf die konkrete Ausgestaltung des dialogischen Redeprozesses braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden; hervorgehoben seien nur zwei Momente, an denen deutlich wird, wie wichtig es für das genauere Verständnis des Gedichts ist, seine dialogische Anlage zu berücksichtigen. Zum einen ist auf die individuellen V e r s c h i e d e n h e i t e n hinzuweisen, die in den beiden Stimmen zutage treten. So zeigen die Redeanteile nicht nur ihrem 18
Prawer, Siegbert S.: Mörike's Second Thoughts, in: Modern Philology 53 (1959), S. 2436, hier S. 26f. Vgl. Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 8. Darmstadt 1968, S. 289. (Kritik der Urteilskraft, § 6) ™ Goethes Werke, Bd. l, S. 30 (Hv. L.V.). Vgl.: „Die ersten beiden Strophen können noch als Wechselgesang aufgefaßt werden; Strophe drei und vier sind monologisch"; Werner, Hans-Georg: Zu frühen Gedichten Eduard Mörikes, in: Weimarer Beiträge 10 (1964), S. 577-598, hier S. 589f.
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Umfang nach, sondern auch in ihrer formalen Gestaltung charakteristische Unterschiede: „Die von der Frau gesprochenen Teile eins und drei sind rhythmisch abwechslungsreicher als die vom Mann zu sprechenden Abschnitte zwei und vier."
Dasselbe gilt für die Art und Weise, wie beide Sprecher auf die gemeinsam erlebte Naturstimmung reagieren. So steht dem unbestimmten „man" in der Rede der Frau das bestimmte „ich" und „du" des Mannes gegenüber, und während die „Sie"-Stimme sich ganz den gewonnenen Eindrücken überläßt und diese phantasievoll ausschmückt, bringt die „Er"-Stimme ein Moment gedanklicher Reflexion und distanzierter Selbstbeobachtung ins Spiel. Ob diese Unterschiede allerdings als Ausdruck einer allgemeingültigen Polarität zwischen Mann und Frau zu deuten sind, wie einige Interpreten annehmen,23 bleibe dahingestellt. Zum ändern ist der Umstand bedeutsam, daß die Art und Weise, wie das Gedicht seine Gestalt als Gedicht gewinnt, aufs engste mit seiner dialogischen Anlage zusammenhängt. Gibt der von der „Sie"-Stimme zum Ausdruck gebrachte spontane Gefühlseindruck („Wie süß der Nachtwind [...]") den Anstoß für das im Gedicht dargestellte Sprachgeschehen, so bringt das von der „Er"Stimme aus einer gewissen Distanz formulierte Fazit: „Du schwärmst, es schwärmt der Schöpfung Seele mit!" sie zum Stillstand und gibt damit dem Gedicht erst die geschlossene Form, in der es sich als selbständiges poetisches Gebilde - im Unterschied etwa zum fortlaufenden dramatischen Dialog - behauptet. Das dialogische Moment der Zwiesprache, so zeigt sich, ist tatsächlich das grundlegende, Struktur- und aussagebestimmende Gestaltungsmoment des Gedichts. ,Auch wer das Gedicht nur ein einziges Mal gelesen haben sollte, verbindet dessen eigentümliche Wirkung mit der Weise der Kommunikation, die sich unter zwei Liebenden in Form von Echo, Wiederholung, Steigerung vollzieht."
Mörikes Gesang zu Zweien in der Nacht hat folglich seine gattungspoetische Besonderheit darin, daß in ihm eine Form lyrischer Rede vorgeführt wird, in der zwei Stimmen sich unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit zu einem einzigen Redefluß verbinden, dessen Gegenstand die gemeinsam wahrgenommene und geistig durchdrungene nächtliche Naturszenerie ist.25 Mit anderen Worten: Mörikes Gedicht i s t ein Dialog-Gedicht, aber die F o r m , in der sich in ihm
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Pillokat, Udo: Verskunstprobleme bei Eduard Mörike. Hamburg 1969, S. 18. Vgl. u. a.: Schneider, 1942, S. 247. In die gleiche Richtung geht übrigens die Auffassung des Malers Heinrich Neuy, der in drei Bildern den Versuch einer „Umsetzung" von Mörikes Gedicht „in Form und Farbe" unternommen hat: Neuy, Heinrich: Beweisende Malerei. Steinfurt-Borghorst 1993 (unpag.). Rehder, Helmut: Verwandlung des Lyrischen: Mörike und Shakespeare, in: Phelps, Leland R. (Hg.): Creative Encounter. Festschrift for Herman Salinger. Chapel Hill 1978, S. 40-44, hier S. 41 f. Prawer hat dieses dialogisch-lyrische Sprechen treffend charakterisiert als: „blending of two voices, taking up each other's thoughts, feelings, and sensations, merging and yet retaining their individuality"; Prawer, 1959, S. 26.
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die lyrische Rede als dialogische Rede entfaltet, ist von besonderer Art und bedarf einer genaueren Spezifizierung und Differenzierung des Begriffs .Dialog'.
4. Spezifika eines Grenzfalls Betrachtet man Mörikes Gesang zu Zweien in der Nacht unter dem für die Lyrik konstitutiven Aspekt der Monologizität, so ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Auf der einen Seite ist sein Status als vollwertiges lyrisches Gedicht nicht zu bestreiten; andrerseits ist sein Rededuktus zweifellos nicht monologischer, sondern dialogischer Natur (im Sinne echter, d. h. selbständiger und gleichwertiger Zweistimmigkeit). Offensichtlich handelt es sich, gattungspoetisch gesehen, um einen Grenzfall. Um einen Grenzfall handelt es sich aber auch insofern, als in ihm eine Form dialogischen Sprechens dargestellt ist, die sich nicht mit dem landläufigen Begriff dialogischer Rede deckt, wonach diese nur in Gestalt eines direkten, frontalen Redeaustauschs vorstellbar wäre. Von dieser Vorstellung scheint Renate von Heydebrand auszugehen, wenn sie Mörikes Gedicht dem .monologischeinsamen' Lyriktypus zuordnet: „Gesang zu zweien [sie!] darf insofern als monologische, als .einsame' Lyrik verstanden werden, als die beiden Stimmen, auf die sich der Gesang verteilt, kein Gesprach miteinander führen, sondern von der Atmosphäre der Nacht geeint gleichsam parallel aus dem gleichen Gefühl heraus sprechen".
Abgesehen davon, daß beide Stimmen, wie oben dargelegt, durchaus Signale eines aufeinander Bezug nehmenden dialogischen Sprechens enthalten, bleibt in dieser Einschätzung vor allem jene andere Möglichkeit indirekter, nicht-frontaler sprachlicher Kommunikation ausgeklammert, die Mörike in seinem Gedicht Gesang zu Zweien in der Nacht so überzeugend poetisch gestaltet hat: „Der .Gesang zu Zweien in der Nacht' entfaltet sich nicht als Rede und Gegenrede der Liebenden, die ihr Verhältnis direkt zur Sprache brächten, sondern als wechselweises ZuGehör- und Zu-Gesicht-Bringen eines Naturphänomens [...]."
Die Besonderheit dieses Grenzfalles dialogisch-lyrischer Rede läßt sich anhand folgender Kriterien zusammenfassend genauer bestimmen: 1) Der Dialog wird geführt zwischen einer weiblichen und einer männlichen Stimme, einem P a a r also, das einander in besonderer Weise - Sympathie,
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von Heydebrand, 1972, S. 24. Diese Einschätzung erfolgt und muß vor dem Hintergrund der These gesehen werden, in Mörikes lyrischem Gesamtwerk sei eine „Entwicklung vom ,einsamen' Ausdruck zur .dialogischen' Mitteilung" zu beobachten; von Heydebrand, 1972, S. 143. Schwarz, Peter Paul: Transzendierung der Realität in Mörikes Gedichten .Gesang zu Zweien in der Nacht' und ,Auf eine Christblume', in: Sprachkunst 5 (1974), S. 196-210, hier S. 200.
Dialog als lyrische Zwiesprache
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Freundschaft, Liebe - zugetan ist.28 Zwar wird die Annahme, daß es sich bei Mörikes „Sie" und „Er" - wie von den meisten Interpreten stillschweigend vorausgesetzt - um die Stimmen zweier Liebender handeln müsse, vom Text keineswegs zwingend gefordert, doch liegt es nahe, eine wenn nicht durch Liebe, so zumindest durch Sympathie oder Seelenverwandtschaft motivierte Empfänglichkeit für das Erleben des anderen als eine wesentliche Voraussetzung des gemeinsamen Sprechens anzunehmen. 2) Dasjenige, worin sich das Paar dialogisch begegnet, wird nicht durch den frontalen Redeaustausch hergestellt - wie dies z. B in dem klassischen LiebesDialog der Fall ist, den Tristan und Isolde in Richard Wagners Musikdrama führen und der dem Identitätstausch und völligen Aufgehen in der Person des ändern zustrebt29 -, sondern durch ein p a r a l l e l e s Sprechen, das in die gleiche Richtung zielt und denselben thematischen Inhalt zum Gegenstand hat.30 3) Von Bedeutung ist auch, daß das gemeinsame Ziel dieses dialogischen Sprechens im Bereich der N a t u r verankert ist. Dies gilt nicht nur für Mörikes Gedicht, sondern auch für vergleichbare andere literarische Paar-Dialoge: zum Beispiel für den Dialog, den Leonce und Lena in Georg Büchners gleichnamigem Lustspiel (zweiter Akt, vierte Szene) miteinander fuhren und der in mehrfacher Hinsicht überraschende Analogien zu Mörikes Gedicht aufweist,31 oder für den Dialog zwischen Lorenzo und Jessica zu Beginn des fünften Aufzugs in Shakespeares The Merchant of Venice, dessen unmittelbarer Einfluß auf Mörike aufgrund sprachlicher und motivischer Anklänge vermutet werden darf.32 In allen drei Fällen bildet die ,Nacht' den gemeinsamen Bezugspunkt der dialogischen Rede zwischen Mann und Frau, und wenn Bertolt Brecht in der Dreigroschenoper einen Liebes-Dialog mit den Worten beginnen läßt: „MAC: Siehst du den Mond über Soho? POLLY: Ich sehe ihn, Lieber"33, so läßt sich noch im Gewand der Parodie (besser gesagt: erst recht in ihm!) die Bedeutung des Naturbezugs für die dialogische Paar-Rede erkennen. Daß eines der Gedichte, die
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Dieser Dialog-Typus könnte demnach auch als eine Erscheinungsform der .Paar-Sprache' im Sinne Leisis aufgefaßt werden; vgl. Leisi, Ernst: Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung. 4., durchgesehene Auflage. Heidelberg 1993. Vgl.: „ISOLDE. Du Isolde, / Tristan ich, / nicht mehr Isolde! TRISTAN. Du Tristan, / Isolde ich, / nicht mehr Tristan!"; Wagner, Richard: Die Musikdramen. Hamburg 1971, S. 360. (Tristan und Isolde, zweiter Aufzug, zweite Szene) Gregor M. Mayer verweist in diesem Zusammenhang auf ein Wort von Saint-Exupory: „Die Erfahrung lehrt uns, daß die Liebe nicht darin besteht, daß man einander ansieht, sondern daß man gemeinsam in gleiche Richtung blickt"; Mayer, Gregor M.: Mörikes Liebeslyrik. Kaufering 1989, S. 143. Büchner, Georg: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pömbacher u. a. 3. Auflage. München 1992, S. 179f. Zur Interpretation vgl.: Krapp, Helmut: Der Dialog bei Büchner. München 1958, S. 154f. Vgl. hierzu: Rennert, Hai H.: Eduard Mörike's Reading and the Reconstruction of his Extant Library. New York, Bern, Frankfurt a. M. 1985, S. 75ff. Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u. a. Frankfurt a. M. 1988-1998, Bd. 2, S. 254; vgl. auch die Fassung als L i e b e s l i e d : Brecht, Werke. Bd. 14, S. 13.
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Brechts Ruhm als Lyriker mitbegründet haben, Terzinen über die Liebe, sich desselben Musters auf ganz unparodistische Weise bedient („Sieh jene Kraniche in großem Bogen"), sei am Rande erwähnt. 4) Weiterhin ist dieser Grenzfail dialogischen Sprechens durch ein Moment des A u ß e r g e w ö h n l i c h e n , Ausnahmehaften gekennzeichnet. So steht das glückliche Gelingen des Paar-Dialogs bei Mörike in einem scharfen Kontrast nicht nur zu der wesentlich pessimistischer gestalteten Ulmon-Thereile-Beziehung der Orplid-Version, sondern auch zu dem kategorischen Nein, mit dem in dem 1846 entstandenen Gedicht Neue Liebe die Frage: „Kann auch ein Mensch des ändern auf der Erde / Ganz, wie er möchte, sein?" beantwortet wird.35 Den absoluten Ausnahmecharakter kommunikativer Harmonie in Gesang zu Zweien in der Nacht hebt auch Gregor M. Mayer hervor und sieht darin Niklas Luhmanns Kategorie der „zwischenmenschlichen Interpenetration" realisiert.36 5) Schließlich spielt für die Art des Gelingens solcher Kommunikation der Umstand eine Rolle, daß beide Sprecher sich in einem Zustand e n t h u s i a s t i s c h e r , .schwärmerischer' Gemütsbewegung befinden. Das ist der Grund, warum der in solcher Stimmung geführte Dialog als ,Gesang' erscheint - und nicht als Gespräch, wie zum Beispiel in dem Ehepaar-Dialog, den Mörikes Gedicht Häusliche Szene darstellt und der nicht der Nacht, sondern einer Haushaltsangelegenheit gewidmet ist.37 6) Als letztes sei noch ein Gesichtspunkt hervorgehoben, der im Vorhergehenden implizit immer eine Rolle gespielt hat, ohne ausdrücklich benannt worden zu sein: die Nähe des lyrischen Dialog-Gedichts zum dramatischen FigurenDialog, genauer gesagt zu dem Bereich, in welchem die Musik sich mit der Lyrik verbindet (Oper, Singspiel, Operette, Kantate usw.) und Paar-Dialoge als gesungene in Form des Liebes-Duetts gestaltet werden. Noch schärfer, als dies schon im Bereich der Lyrik selbst der Fall ist, macht sich hier eine Differenz zu Erscheinungsformen und Normen alltagssprachlicher Kommunikation bemerkbar, die den Dialogtypus .Gesang zu zweien' zu einem reizvollen Gegenstand literatur- (und sprachwissenschaftlicher Analyse macht.
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Brecht, Werke. Bd. 14, S. 15f.; vgl. auch die in Dialogform aufgelöste Fassung in der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny: Werke. Bd. 2, S. 364f. Mörike, Eduard: Sämtliche Werke. Aufgrund der Originaldrucke hg. von H. G. Göpfert. 3. Auflage. München 1964, S. 124. Mayer, 1989, S. 143. Mörike, Sämtliche Werke, S. 217-220.
Ulrich Müller
Godefroiz de Leigni - Chretien de Troyes - Lancelot, le Chevalier de la Charette: Ein Autor im Gespräch mit seinem Publikum?
« Seignor, se avant an disoie, Ce seroit outre la matire, Por ce au defmer m'atire:
Godefroiz de Leigni, li clers, A parfinee la Charrette: Mes nus hon blasme ne l'an mete
Se sor Crestiien a ovro, Car 9'a il e fet par le buen gre Crestiien qui le coman9a:
Tant an a fet des la an 93, Ou Lancelot tu anmurez, Tant con li contes est durez. Tant an a fet: n'i vost plus metre Ne mains, por le conte mal metre. » „Ihr Herren, wenn ich Euch noch mehr erzählte, würde das den Stoff überschreiten. Darum will ich nun zum Schluß kommen: hier geht die Geschichte völlig zuende. Der Kleriker Godefroi von Leigni hat den ,Karren' vollendet. Doch möge niemand ihn tadeln oder es ihm zur Last legen, wenn er Chrestien fortgesetzt hat, denn er tat es mit Chrestiens Einwilligung, der das Werk begann. Er hat dort eingesetzt, wo Lanzelot eingemauert wurde, und ist fortgefahren, bis die Erzählung zu ihrem Ende gelangt ist. Soviel hat er getan. Er wollte nichts hinzufügen und nichts abstreichen, um die Erzählung nicht zu verderben."
l. Mit diesen (altfranzösischen) Versen endet einer der interessantesten, merkwürdigsten und der Literaturwissenschaft rätselhaftesten höfischen Romane des hohen Mittelalters, nämlich der Versroman über Lancelot, den Karrenritter („Lancelot, le chevalier de la charette"), verfaßt von Chrotien de Troyes, dem .Erfinder' des mittelalterlichen Artus-Romans - aber eben offenbar nicht zur Gänze.1
Text-Editionen und Übersetzungen: Förster, Wendelin (Hg.): Christian von Troye, Sämtliche Werke IV: Karrenritter und Wilhelmsleben. Halle 1899; Roques, Mario (ed.): Les romans de Chr&ien de Troyes 111: Le chevalier de la charette. Paris 1963 (Classiques Fran9ais du Moyen Age 86); Comfort, William W.: Chrotien de Troyes, Arthurian Romances. Translated with an Introduction. London/New York 1914 u. Ö. (Everyman's Library 698); Frappier, Jean: Chretien de Troyes, Le chevalier de la charette (Lancelot). Roman traduit de I'ancien fran9ais. Paris 1971; Jauss-Meyer, Helga: Chrestien de Troyes, Lancelot. Übersetzt und eingeleitet. München 1974 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 13). - Der Text wird hier nach der Ausgabe von Förster zitiert, die neuhochdeutsche Übersetzung nach der zweisprachigen Ausgabe von Jauss-Meyer (die den Text Försters Übernimmt).
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Die „Charette", wie der Roman in diesen Schlußversen (V. 7120-7134) genannt wird, wurde verfaßt zwischen 1164 (dem Jahr, in dem die neunzehnjährige Marie, die fürstliche Tochter des französischen Königs Louis VII. und der aquitanischen Erbin Eleonore von Poitou sowie die Auftraggeberin des Romans, durch Heirat Herzogin der Champagne [= V. 1] wurde) und mutmaßlich 1173.2 Doch zu dem oben genannten Godefroi de Leigni gibt es kein Lemma in einem der großen Nachschlagewerke, weder in der aktuellsten Auflage der „New Arthurian Encyclopedia" (1996)3 noch im neubearbeiteten Mittelalter-Band des „Dictionnaire des lettres fran$aises" (1992)": In letzterem wird - im Artikel „Chretien de Troyes" zur „Charette" - nur festgestellt: „Chritien a laisse" un de ses disciples, Geoffroy de Lagny, achever son roman" (S. 273b), d. h. „Chretien hat einen seiner Schiller, nämlich Godefroi de Leigni, seinen Roman beenden lassen." Seitdem ich diesen Roman Chretiens erstmals gelesen habe (nämlich während unserer gemeinsamen Assistentenzeit bei Wolfgang Mohr, zu der - beim gemeinsamen Arbeiten, beim gemeinsamen Kochen und den vielen gemeinsamen Konzertbesuchen - unsere bis heute andauernde Freundschaft begonnen hat), hat mich die Geschichte um jenen Godefroi irritiert: Warum sollte Chrotien, einer der bewußtesten und raffiniertesten Erzähler des Mittelalters, wenn nicht der Weltliteratur, einen seiner Romane von einem völligen Nobody zu Ende erzählen lassen? Auch der große Romanist Jean Frappier beispielsweise hatte sich darüber höchst gewundert, aber diese .Seltsamkeit' nicht weiter zu erklären versucht.5 Von Anfang an, unter dem Eindruck meiner damaligen „ParzivaP'-Lektüren bei unserem verehrten ,Meister' Wolfgang Mohr, hatte ich einen Verdacht: Steckt dahinter nicht etwas ganz anderes, nämlich eine Art Gespräch Chretiens mit einem höchst aufmerksamen Publikum, allerdings von so gefmkelter Art, daß die späteren Leser, einschließlich der Literaturwissenschaft, ihm nicht (mehr) auf die Schliche gekommen sind. Wirklich beweisen kann ich meinen folgenden Erklärungsversuch in dieser Sache zwar nicht, aber als Möglichkeit meine ich, ihn glaubhaft machen zu können, als These, die einigen als schlagend, anderen vielleicht auch als höchst gewagt erscheinen mag. Da ich weiß, daß Du, lieber Franz, für überraschende Thesen eine ausgesprochene Schwäche hast, lege ich sie Dir hiermit als Geburtstagsgeschenk vor.
Förster, 1899, S. XVIII-XX: Chrotien spielt auf die Geschichte der „Charette" indirekt in seinem „Yvain"-Roman an; da dieser Roman in V. 596 auf Sultan Nureddin (1146-1173) als noch Lebenden anzuspielen scheint, wird vermutet, daß beide Romane vor 1173 verfaßt wurden. the New Arthurian Encyclopedia. Edited by Morris J. Lacy. Updated Paperback Edition.
New York/London 1996. Dictionnaire des lettres franfaises: Le Moyen Age. Edition entierement revue et mise ä jour sous la direction de Genevieve Hasenohr et Michel Zink. Paris 1992.
Jean Frappier: Chrotien de Troyes, in: Loomis, Roger Sherman (ed.): Arthurian Literature in the Middle Ages. Oxford 1959, S. 175: "It is odd, too, that he entruted the composition of the last thousand lines to Godefroi de Lagny." Siehe auch unten.
Godefroiz de Leigni - Chretien de Troyes - Lancelot
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2. Bis heute hat niemand - abgesehen von den oben zitierten Versen - irgendwelche Spuren und/oder Nennungen von Godefroi gefunden. Prosper Tarbe" (1849)6, Gaston Paris (1883)7 und Wendelin Förster (l899)' haben sich mit dem Problem beschäftigt, aber nichts dazu ausfindig machen können. Tarbo stellte fest, daß mindestens ein Dutzend Orte in Nordfrankreich mit den Namen Ligny, Lagny oder Laigny zu finden wären, und Förster (S. XIV) meinte gar, die Zahl solcher Orte sei, laut französischem Postwörterbuch, „eine ungewöhnlich grosse". Tarbo und Gaston Paris vermuteten, daß Godefroi ein Freund Chretiens gewesen sei und daß dieser den „clers" gebeten habe, den Roman unter Verwendung seiner eigenen Aufzeichnungen zu Ende zu führen, eine Meinung, welcher Förster mehr oder minder zustimmt. Douglas Kelly (1966)9 formuliert die literaturwissenschaftliche ,communis opinio', die bis heute im wesentlichen gültig ist,10 wenn er ausführt: "Chrotien's was the plan, Godefroi's was the polishing up of a part of the nearly completed work"; (Kelly, 1966.S. 95) "Godefroi wrote at Chretien's bidding and according to Chrotien's own conception of the work; we still have every reason to believe that Chrdtien gave to Godefroi the last part in an incomplete state to be perfected in detail." (Kelly, 1966, S. 186) Und nach Meinung der modernen Philologen leistete Godefroi eine exzellente Arbeit. Dazu nochmals Kelly: "That Godefroi lived up to what was expected of him is apparent from the skilful versification in the last thousand lines." (Kelly, 1966, S. 186) Kelly betont auch, daß Godefrois Teil dieselbe hervorragende Qualität besitze wie Chretiens Werk: "It would be almost impossible to determine where Godefroi had begun, had he himself not said so." (Kelly, 1966, S. 95; cf. S. 186) Damit folgt er im wesentlichen der Meinung von Förster (1889), der sich als erster im Detail mit der dichterischen Beziehung zwischen Chrotien und Godefroi beschäftigt hatte." Förster verglich die Sprache von Chre"tien und Godefroi, und er kam zu dem Schluß, daß es keinen wirklich signifikanten Unterschied zwischen den beiden Autoren gäbe. Er erwähnte auch kurz, daß Godefroi die Geschichte ohne „Dunkelheiten und Ungereimtheiten" (S. XV) zu einem raschen Ende gebracht hätte. Während Förster vermutet, daß anderenfalls 6
Tarbe, Prosper: Poetes de Champagne antorieurs au XVIe siecle VII. Reims 1849, S. XXV. Paris, Gaston: Etudes sur les romans de la Table Ronde, Lancelot du Lac: I: Le Lancelot d'Ulrich de Zatzikghoven, H: Le Conte de la charette, in: Romania 10/12/16 (1881/1883/1887); dort in 12 (1883), S. 463. Edition 1899, S. XI ff.; dort auch die verschiedenen Schreibweisen des Namens in den Handschriften. Kelly, Douglas: Sens and Conjointure in the « Chevalier de la Charrette ». The Hague/Paris 1966. (Diss. Wisconsin 1962) Siehe auch Fußnote 13. Eine negative Beurteilung der Arbeit des Godefroi durch Jonckbloet hat Förster dort ausdrücklich zurückgewiesen; siehe Jonckbloet, Willem J. (ed.): Roman van Lancelot, (Xllle eeuw.), naar het (eenig bekende) Handschrift der koninklijke bibliotheek, op gezag van het Gouvernement uitgegeven. 2 vols. 's Gravenhage 1850.
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der Roman schlicht zu lang geworden wäre, stellt Kelly fest, daß Godefrois „comparative shortness" (S. 185) in Übereinstimmung mit Chrötiens „symmetrical plan" des Werkes sei. Insgesamt ist es richtig, wenn man resümiert, daß Godefroi seine Aufgabe gemeistert habe „with an ease that can be compared onlytoChrötien's". 12 Wenn man diese Interpretationen und Ergebnisse wirklich ernst nimmt, ergibt sich daraus, daß Godefroi ein wirkliches Genie gewesen sein müßte, sozusagen ein zweiter Chr&ien und nur mit diesem vergleichbar. Aber - und hier kommt nun meine These: Könnte es nicht so sein, daß es überhaupt nur einen einzigen Autor der „Charette" gegeben hat, daß also Chrotien und Godefroi, der dessen Stil so gut beherrschte und die gleiche Qualität aufweist, ein und dieselbe Person waren, daß es also niemals einen „clers" namens Godefroi de Leigni gegeben hätte? Als ich solche Überlegungen Ende der achtziger Jahre für einen Lancelot-Vortrag formulierte, stellte ich einige Zeit später fest, daß noch jemand anderes - allerdings eher beiläufig - auf einen solchen Gedanken gekommen ist, und zwar David F. Hult (1989).13 Er hat damit aber offenbar keine Beachtung gefunden, denn spätere Publikationen gingen nach wie vor bzw. wieder von zwei Autoren aus.14 Es ist also durchaus angebracht, sich erneut mit dem ,Fall Godefroi' zu beschäftigen. Um die Frage nach der Existenz von Godefroi zu beantworten, ist es zuerst nötig, den vieldiskutierten Prolog des Romans erneut zu betrachten.
3. Chrdtien beginnt seinen Roman wie folgt (V. 1-30): « Des que ma dame de Champaigne Viaut que romanz a feire anpraingne, Je l'anprandrai mount volantiers, Come eil qui est suens anders De quanqu'il puet el monde feire, 12
Kelly, 1966, S. 186. Hult, David F.: Author/Narrator/Speaker: The Voice of Authority in Chrotien's "Charette", in: Brownlee, Kevin; Stephens, Walter (eds.): Discourses of Authority in Medieval and Renaissance Literature. Hanover, NH, London 1989, S. 76-96,267-269. Wichtig war auch ein Lanzelot-Seminar, das ich im Sommersemester 1979 in Salzburg zusammen mit meinem leider verstorbenen Kollegen Peter Stein durchführte; wir beide waren uns hinsichtlich der Möglichkeit, daß Godefroi eine Fiktion Chrotiens ist, ganz einig, und zwar offensichtlich unabhängig voneinander. Abgesehen von den in Fußnote 3/4 genannten Nachschlagewerken wären hier z. B. zu nennen: Brownlee, Kevin: Transformations of the "Charette": Godefroi de Leigni Rewrites Chretien de Troyes, in: Stanford French Review 14 (1990), S. 161-178; Brook, Leslie C.: The Continuator's Monologue: Godefroy de Lagny and Jean de Meun, in: French Studies 45 (1991), S. 1-16; Klüppelholz, Heinz: The Continuation .within' the Model: Godefroi de Lagny's "Solution" to Chrotien de Troye's "Chevalier de la Charette", in: Neuphilologus 75 (1991), S. 637-640; Brandsma, Frank: The Presentation of Direct Discourse in Arthurian Romance: Changing modes of Performance and Reception?, in: Kelly, Douglas (ed.): The Medieval Opus. Amsterdam 1996, S. 245-260; Fourquet, Jean: Chretien entre Philippe d'Alsace et Marie de Champagne. Deux oeuvres de commande: « Lancelot» et « Perceval », in: Quoruel, Danielle (ed.): Amour et chevalerie dans les romans de Chretien de Troyes. Besan9on 1995, S. 19-28.
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Sanz rien de losange avant treire. Mes teus s'an pöist antremetre Qui i vossist losange metre, Si deist, et jel tesmoignasse, Que ce est la dame qui passe Totes celes qui sont vivanz, Tant con li Kins passe les vanz, Qui vante an mai ou an avril. Par foi, je ne sui mie cil Qui vuelie losangier sa dame. Dirai je: Tant com unejame Vaut de pelles et de sardines, Vaut la contesse de reines? Nenil, je n'an dirai ja rien, S'est il voirs maleoit gre mien; Mes tant dirai que je miauz oevre Ses comandemanz an ceste oevre Que sans ne painne que j'i mete. Del Chevalier de la Charrette Comance Crestiiens son livre; Mattere et san an done et livre La contesse, et il s'antremet De panser si que rien n'i met Fors sa painne et s'antacion; Des or comance sa raison. » „Da meine Herrin, (Marie) von Champagne, wünscht, daß ich es unternehme, eine Erzählung in der Volksprache abzufassen, so will ich sie gem in Angriff nehmen, bin ich doch in allem, was ich in dieser Welt tun kann, ihr ganz ergeben, ohne irgendeine Schmeichelei vorzubringen. Aber es könnte sich jemand damit befassen, der eine Schmeichelei hineinlegen wollte. Er würde sagen - und ich könnte es bezeugen -, daß sie alle Damen, die da leben, übertrifft, so wie der laue Wind, der im Mai oder April weht, alle anderen Winde übertrifft. Wahrhaftig, ich bin nicht jemand, der seiner Herrin schmeicheln will. Soll ich sagen: ,So wie ein Diamant viele Perlen und Sardonyx aufwiegt, so wiegt die Gräfin viele Königinnen auf?' Gewiß nicht, ich werde nichts dergleichen sagen, wenn es auch ohne mein Zutun wahr ist. So viel aber will ich sagen, daß in diesem Werk ihr Befehl wirksamer ist als Talent und Arbeit, die ich daransetze. - Chrestien beginnt sein Werk über den Karrenritter. Die Gräfin gibt und liefert ihm hierzu Stoff und Sinn, und er macht sich ans Werk, wobei er nur seine Arbeit und seinen Fleiß daran setzt. Nun beginnt die Erzählung."
Seit Wendelin Förster (1899) haben die meisten Literaturwissenschaftler vermutet, daß Chrotien versucht, sich von seinem eigenen Roman zu distanzieren, und stattdessen seine Auftraggeberin Marie de Champagne für Stoff und Aussage der Erzählung verantwortlich macht. Jean Frappier (1959, S. 175) folgt dieser Meinung, wenn er in seinem bereits erwähnten Chrötien-Beitrag zum Artus-Sammelband von Loomis feststellt: "So far as we know, Chretien chose the subjects of ,Erec' and ,Cliges' in complete freedom, but in the prologue of .Lancelot' he states explicitly that he obeyed the command of the Countess of Champagne, and that she alone was responsible for the ,matiere' and the .sens'; that is, the .subject-matter' and the .controlling purpose'. He seems to be adroitly excusing himself for both, in the form of a compliment to his patroness. It is odd. too, that he entrusted the composition of the last thousand lines to Godefroi de Lagny. It is the current opinion that Chretien followed the countess's instruction with reluctance; after all, the .Lancelot' is a sort of palinode, a recantation of .Cliges'." 15
Siehe Fußnote 5.
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Jean Rychner (1967-1969)16 hat dieser allgemein anerkannten Meinung widersprochen: Nach seinem Verständnis ist der Prolog eine eindeutige Laudatio auf Chretiens Auftraggeberin und Gönnerin, und er bewertet es als Beweis ihrer Überlegenheit, wenn sie die alleinige Verantwortung fUr „matiere et san" der „Charette" zugesprochen bekomme. Rychners Interpretation wurde heftig angezweifelt von Jean Frappier (1972)," jedoch waren später Literaturwissenschaftler/innen vorsichtiger bei der Interpretation von Chrotiens Prolog.18 Aber Försters und Frappiers Interpretation des Prologs hat nach wie vor viel für sich, und es war gleichfalls Förster, der vermutete, daß Chrotien seinen Roman deswegen nicht beendet habe, weil er Probleme mit der Geschichte gehabt hätte.19 Die Aussage der Geschichte ist tatsächlich etwas Skandalöses: Der geheimnisvolle Ritter, der wie aus dem Nichts erscheint, um die entführte Königin Guenievre,20 die Gattin von König Artus, zu retten und an den Artus-Hof zurückzubringen, geht mit der Königin, also der Gattin seines künftigen Herren, ein leidenschaftliches Verhältnis ein. Und - es passiert nichts, es gibt gemäß der Erzählung im Charette-Roman - und anders als im Falle des .epischen Mythos' von Tristan und Isolde - keine Folgen. Die Königin und Lancelot sind am Schluß am Hof von Artus, der Ritter ist und bleibt der heimliche Liebhaber der
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Rychner, Jean: Le prologue du « Chevalier de la Charrette », in: Vox Romanica 26 (1967), S. 50-76; ders.: Le sujet et la signification du « Chevalier de la Charrette », in: Vox Romanica 27 (1968), S. 1-23 (dazu: Felix Lecoy, in: Romania 27 (1968), S. 571-573); ders.: Le prologue du «Chevalier de la charrette» et l'interpretation du roman, in: Mölanges Rita Lejeune 2. Gembloux 1969, S. 1121-1135; siehe femer noch ders.: Encore le prologue du Chevalier de la Charrette, in: Vox Romanica 31 (1972), S. 263-271. Frappier, Jean: Le prologue du Chevalier de la Charrette et son interpolation, in: Romania 93 (1972), S. 337-379. Zum „Lancelot" siehe etwa Brand, Wolfgang: Chretien de Troyes. Zur Dichtungstechnik seiner Romane. München 1972 (Freiburger Schriften zur romanischen Philologie); Condren, Edward I.: The paradox of Chretien's „Lancelot", in: Modem Language Notes 85 (1970), S. 434-453; Fowler, David C.: L'amour dans le „Lancelot" de Chrotien, in: Romania 91 (1970), S. 378-391; Haug, Walter: „Das Land, von welchem niemand wiederkehrt". Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chrotiens „Chevalier de la Charette", im „Lanzelet" Ulrichs von Zatzikhoven und „Lancelot"-Prosaroman. Tübingen 1978 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 21) [mit umfangreicher Bibliographie]; Sears, Theresa Ann: Prisoners of love: Love, destiny, and narrative control in „le Chevalier de la charette" and „Carcel de amor", in: Fifteenth Century Studies 15 (1989), S. 269-282; Topsfield, Leslie T: ,Fin amors' in Marcabru. Bernart de Ventadorn and the „Lancelot" of Chretien de Troyes, in: Hoecke, Willy van; Welkenhuysen, Andries (eds.): Love and Marriage in the twelfth century. Leuven 1981, S. 236-249; Wolf, Alois: ,Ja por les fers ne remanra' (Chrotiens „Karrenritter" V. 4600). Minnebann, ritterliches Selbstbewußtsein und concordia voluntatum, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch NF 20 (1979), S. 31-69. Förster, 1899, S. XIV: „Denn wenn meine Vermutung, er habe den Roman aus Unwillen Über die dem Stoff zu Grunde gelegte Minneauffassung liegen gelassen, den Ivain als Protest dagegen verfasst, richtig ist, dann hatte er wohl den Hof bereits verlassen, und hat bloß später, um den liegen gebliebenen Torso doch aus seinem Pult zu schaffen, mit der Beendigung einen Bekannten beauftragt." Zumeist wird sie nur als „Königin" (afrz. la reine) bezeichnet; die genauen Formen bzw. Schreibweisen ihres Namens sind unterschiedlich, z. B.: Guenievre, Guinievre, Guinevere, Guenevere, Ganievre, Genievre, Genoivre, Gunevere, Guenoivre, Guimart, Guinemars, Jenevre (= frz.), Ginevra (=ital.), Ginover (=mhd.), Gahunmare, Gwenhwyfar (=kymr.)etc.
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Königin - und niemand scheint etwas zu bemerken: Solange dies so ist, droht der heilen Welt des Königs Artus keine Gefahr. Dabei hatte Chrötien die leidenschaftliche Liebesnacht von Lancelot und Guenievre, dort im fernen Land Gorre, „aus welchem niemand wiederkehrt" (ursprünglich also wohl einer Art Totenreich), in einer geradezu unerhörten und für das damalige Publikum ungewöhnlich detaillierten Ausführlichkeit beschrieben: Noch im Land Gorre, während ihrer Gefangenschaft, verabredet sich Guenievre nach vielen Prüfungen heimlich mit ihrem Ritter: Er soll nachts von einem Obstgarten aus an dem Turm hochsteigen, in dem die Königin hinter vergitterten Fenstern unter Bewachung schläft; dort könnten sie wenigstens ungestört miteinander sprechen und ihre Hände berühren. Lancelot aber stemmt das Eisengitter des Turmfensters auf, und es kommt zu einer leidenschaftlichen Liebesnacht (V. 4601 ff.) - der wohl am eindringlichsten erzählten der gesamten Literatur des europäischen Mittelalters: „Sobald Lanzelot die Königin sieht, hat er einen lieben Gruß an sie gerichtet, den sie sogleich erwidert, denn beide begehrten einander sehr. Ihre Unterhaltung und Rede geht Über nichts Häßliches oder Unangenehmes. Sie nähern sich einander, bis sie sich an den Händen halten; es bekümmert sie über die Maßen, daß sie nicht zueinander gelangen können, und sie verwünschen das Gitter. Lanzelot aber rühmt sich, er werde, falls die Königin es wünsche, zu ihr hineinkommen: die Eisengitter werden ihn nicht zurückhalten. ,Seht Ihr denn nicht', antwortet ihm die Königin, ,wie schwer diese Eisenstäbe zu biegen und zu zerbrechen sind? Ihr könnt sie nicht bezwingen, könnt sie nicht zu Euch heranziehen oder zerren, um einen loszureißen.' .Herrin', entgegnet er, ,das soll nicht Eure Sorge sein. Ich glaube nicht, daß das Eisen etwas taugt. Nichts außer Euch kann mich davon abhalten, zu Euch zu gelangen. Wenn Ihr mir Eure Erlaubnis dazu gebt, steht mir der Weg völlig offen: wenn Ihr aber nicht einverstanden seid, dann ist er ftlr mich voller Hindernisse, so daß ich ihn für nichts auf der Welt beschreiten könnte.' .Natürlich will ich es', sagt sie. ,Mein Wille hält Euch nicht zurück. Doch müßt Ihr so lange warten, bis ich wieder in meinem Bett liege. Und daß Euch nicht das Unglück widerfährt, Lärm zu machen! Es gäbe kein Ergötzen, wenn der Seneschall, l der hier schläft, von Euerm Lärm aufwachte. Darum ist es gut, wenn ich vom Fenster weggehe, denn er würde es übel aufnehmen, falls er mich hier stehen sähe.' ,So geht jetzt, Herrin', erwiderte er. .Fürchtet nicht, daß ich hier Lärm machen könnte. Ich gedenke die Eisen so sacht herauszuziehen, daß ich mich dabei nicht anstrengen, noch irgend jemand aufwecken werde.' Darauf zieht sich die Königin zurück, und Lanzelot geht daran, das Fenster zu bezwingen. Er umfaßt die Eisenstäbe, zieht und zerrt so stark, daß er sie alle biegt und herauszieht. Das Eisen war jedoch so scharf, daß er sich am kleinen Finger das erste Glied bis zum Nerv verletzte und sich am anderen Finger das erste Gelenk ganz durchschnitt. Aber er bemerkt nicht das Blut, das hinabtropft, er spürt keine seiner Wunden: sein Sinn ist auf ganz ande-
Keu, der mit Guenievre gefangengenommene und verwundete Seneschall von Artus, schläft - in der Funktion eines Aufpassers - im Vorraum vor dem Schlafzimmer der Königin, so daß alle annehmen, daß wegen der Eisengitter niemand unbemerkt dort hinkommen könne. Am anderen Morgen werden die Blutspuren im Bett der Königin ihm zur Last gelegt, und ihr wird der Vorwurf einer „honte" (.Schandtat', V. 4938) gemacht. Niemand anderes als Lancelot ist es, der auf Bitte der Königin sie im Zweikampf von diesem Verdacht befreit - denn das Blut stammte ja tatsächlich nicht von Keu, wie alle vermuteten. - Man fühlt sich hier an den raffinierten Schwur Isoldes vor dem Gottesurteil mit dem glühenden Eisen erinnert, das diese ja dann auch glorios besteht.
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res gerichtet! Das Fenster ist nicht tief - dennoch schlüpft er schnell und flink hindurch. Er trifft Keu schlafend in seinem Bett an, und dann stand er vor dem Bett der Königin. Er betet sie an und kniet vor ihr nieder, denn an keine Heiligenreliquie glaubt er so sehr. Die Königin aber streckt ihm die Arme entgegen und umarmt ihn; sie zieht ihn eng an ihre Brust, und so hat sie ihn zu sich ins Bett gezogen. Sie bereitet ihm den schönsten Empfang, den sie ihm nur bereiten kann, denn Amor und ihr Herz geben es ihr ein. Amor bewirkt, daß sie ihn liebevoll umfangt. Wenn sie aber für ihn schon große Liebe empfand, so liebt er sie noch hunderttausendmal mehr. Denn Amor entzog allen anderen Herzen etwas im Vergleich zu dem, was er dem seinen gab. In seinem Herz aber faßte Amor Wurzeln und ging so ganz darin auf, daß er allen Herzen gegenüber geizig war. Lanzelot hat nun alles, was er wünscht, da die Königin an seiner Gesellschaft und Gegenwart Gefallen findet, da er sie in seinen Armen und sie ihn in ihren Armen hält. So süß und gut ist ihr Spiel für ihn, voller Küsse und Umarmungen, daß ihnen wahrhaftig eine wunderbare Freude widerfuhr: etwas Ähnliches hat man noch nie gehört. Ich werde aber immer darüber schweigen, denn in einer Erzählung darf davon nicht gesprochen werden. Die wunderbarste und köstlichste aller Freuden war diejenige, die uns die Erzählung verschweigt und verhehlt. Diese ganze Nacht hatte Lanzelot viel Freude und Ergötzen."
Betrachtet man das Ende der Erzählung vor diesem Hintergrund, dann sind der Roman und seine Aussage nicht nur höchst gewagt, sondern geradezu zynisch: Lancelot und Guenievre rütteln sozusagen an den Fundamenten, auf denen die höfisch-feudale Idealwelt des Artus-Hofes aufgebaut ist, und es gibt (wie schon festgestellt) keinerlei Folgen.23 Chrotien war sich sicherlich der Implikationen seiner Geschichte bewußt, und die weitere Rezeption des Stoffes im Mittelalter zeigt die Implikationen und Konsequenzen auch überdeutlich: In den großen Prosa-Fassungen des Stoffes, vom „Lancelot en prose" bis hin zu Thomas Malory („Le Morte Darthur"),24 wird gezeigt, daß die verbotene und gesellschaftswidrige Liebe von Lancelot und Guenievre nicht nur dem Ritter das ersehnte Finden des Grals unmöglich macht, sondern vor allem, daß dadurch unmittelbar der Untergang der gesamten Artus-Welt verursacht wird: Anders als das andere bekannte Liebespaar des Mittelalters, nämlich Tristan und Isolde, scheitert das Paar Lancelot/Guenievre nicht an der Gesellschaft, sondern viel schlimmer: Es treibt diese in eine götterdämmerungsähnliche Katastrophe. Das verbotene Spiel mit dem Feuer, das in den beiden Skandal-Stoffen um diese zwei Liebespaare in der Literatur vorgeführt wurde, hat allerdings das damalige Publikum höchst fasziniert: Im späten Mittelalter gehörten die verschiedenen Fassungen der Geschichte von Tristan, Isolde und König Marke sowie von Lancelot, Guenievre und König Artus (zusammen mit der Gral-Suche) zum beliebtesten Lesefutter der weltlichen Literatur. Für mich liegt es nahe zu vermuten, daß Chretien auf die folgenreiche Problematik der Karrenritter-Geschichte nicht nur im Prolog hinweist, indem er mit einem doppelbödigen Lob seine Gönnerin scheinbar preist, ihr aber gleichzeitig die gesamte Verantwortung für ,ihre' Geschichte und deren Aussage zuBei diesem Wort habe ich die Übersetzung von Helga Jauss-Meyer („niedrig") geändert. Zum .epischen Mythos' von Lancelot und Guenievre siehe demnächst auch die Beiträge von Margarete Springeth und mir im dritten Band der von Werner Wunderlich und mir herausgegebenen Reihe „Mittelalter-Mythen" (St. Gallen 1996ff). Und natürlich einschließlich des mittelhochdeutschen „Prosa-Lancelot".
Godefroiz de Leigni - Chretien de Troyes - Lancelot
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schiebt. Sondern er könnte dies auch am Ende des Romans tun, indem er ein .offenes Ende' ohne die zu erwartenden (und eigentlich in einem solchen Fall unausweichlichen) Folgen konzipiert und die Verantwortung für ein solches Finale wiederum jemand anderem gibt, nämlich dem von ihm zu diesem Zweck erfundenen Godefroi de Leigni. Das würde auch erklären, warum die beiden Anteile des Romans, derjenige Chretiens und derjenige von .Godefroi', so nahtlos zusammenpassen und keinerlei Differenzen in Stil und Qualität festzustellen sind. Dieses raffinierte Spiel mit dem zuhörenden Publikum, dieses hintergründige und nur in Andeutungen geführte Gespräch des Autors und seines fingierten Alter Ego mit dem Auditorium hatte einen großen Vorteil: Die Distanzierung von der vornehmen und wichtigen Auftraggeberin blieb ganz vorsichtig, denn aus dem Prolog konnte man ja Verschiedenes herauslesen, und für das zynische Open End wurde überhaupt jemand ganz anderes namhaft gemacht, eben der „clers" Godefroi, der die Verantwortung für diesen Schluß übertragen erhält. Es ergab sich die Aussage: Nicht die Herzogin, auch nicht der Autor Chretien seien für das .unmoralische' Ende verantwortlich, sondern Godefroi... Das Publikum am Hofe der Marie de Champagne, zumindest die .eingeweihten' Zuhörerinnen und Zuhörer der .Uraufführung' des Romans, werden dies wohl verstanden haben. Für ein späteres Publikum und die spätere Leserschaft des Romans bestand diese .Gesprächssituation' dann nicht mehr, und dann konnte die Geschichte um Godefroi nicht anders verstanden werden, als daß Chretien seinen Roman tatsächlich von jemand anderem zu Ende führen ließ.
4. Hält man diese Interpretation für möglich oder gar glaubhaft, dann wäre Chritiens Roman über Lancelot, den „Chevalier de la Charette", der erste Roman des europäischen Mittelalters, in dem ein Autor auf so raffinierte Weise mit seinem Auditorium spielt. .Gespräche' zwischen mittelalterlichen Autoren und ihrem Publikum gab es aber auch sonst: Chretiens mittelhochdeutsche Nachdichter, Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach, haben solche Dialoge mit ihrem Publikum dann virtuos durchgeführt: Bei Hartmann sei nur an das Kabinettstück der Beschreibung von Enites Pferd im „Erec" erinnert, wo der Dichter sich mit seinem Auditorium nicht nur unterhält, sondern es in einem ironischen Dialog spielerisch in die Irre führt (V. 7265-7766). Und insbesondere Wolframs „Parzival" ist ja gekennzeichnet durch ständige Kommentare des Erzählers, durch eine durch das gesamte Werk hindurch aufrechterhaltene »Gesprächssituation' mit dem Publikum. Auch sonst ist die „Charette" hinsichtlich ihres Schlusses kein Einzelfall: Auch den „Perceval" (= „Li contes del graal") hat Chretien nicht zu Ende geschrieben. Hier werden wir aber von einem der französischen Fortsetzer, nämlich Gerbert (dem Autor der „Vierten Fortsetzung") informiert, daß Chretien vor der Beendigung des Romans verstorben sei. Im Epilog der „Charette" wird dagegen keinerlei Begründung angeführt, warum Chrotien die Geschichte nicht
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Ulrich Müller
selbst zu Ende erzählt habe - und eine solche war für das erwähnte .eingeweihte' Publikum ja gar nicht notwendig, ja sie hätte das raffinierte Spiel nur gestört. Auch sonst gab es mittelalterliche Epen, die nicht von ihrem ursprünglichen Autor zu Ende erzählt wurden: Neben dem „Perceval" (dessen erster .Fortsetzer' möglicherweise Wolfram von Eschenbach war) sei erinnert an den „Tristan" des Gottfried von Straßburg sowie an Wolframs „Willehalm" und „Titurel". Und es erscheint sehr wahrscheinlich, daß Wolfram im „Parzival" ein ganz ähnliches Spiel mit seinem Publikum durchführte, nämlich auch einen Autor erfunden hat, um auf ihn Verantwortung abzuschieben: Denn vieles spricht nach Meinung der neueren Forschung dafür, daß der vieldiskutierte „Kyot", der angeblich die französische Gralsritter-Geschichte im Gegensatz zu „Meister Kristian" .richtig' erzählt habe, gleichfalls eine Erfindung ist, jetzt aber zur .Belastung' von Chrötien, nicht zu seiner .Entlastung'.
Volker Honemann
Die ,Kreuztragende Minne' Zur Dialogizität eines spätmittelhochdeutschen geistlichen Gedichtes
Im Jahre 1821 fand Heinrich Hoffmann von Fallersleben „zu Koblenz bei Hrn. Kaufmann Dietz ein Gemälde des 15. Jahrhunderts", auf dem einerseits „dargestellt [war], wie Christus sein Kreuz trägt und einer Nonne vorangeht, die auch ein Kreuz tragend ihm nachfolgt", andererseits der im folgenden wiedergegebene Text.1 Das Gemälde ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit identisch mit einem um 1420 entstandenen, ca. 62 30cm messenden Tafelbild, das sich heute im Museo Thyssen Bornemisza in Madrid befindet.2 Hoffmann von Fallersleben gab als Herkunft des Bildes das „Kloster Camp bei Boppard" an,3 eine Susterenklause (Beginen, später Augustinerinnen, gegründet 1387), die im 15. Jahrhundert eine Reihe bedeutender erbaulicher und mystischer deutscher Handschriften besaß, darunter den wichtigsten Textzeugen der sog. ,Rede von den fünfzehn Graden'.4 Der von Hoffmann als ,Die innige Seele' bezeichnete Text, eine Variante der heute als .Kreuztragende Minne' firmierenden Gruppe von Dialoggedichten, ist abgesehen von dem heute in Madrid befindlichen Gemälde noch in drei weiteren Textzeugen des 15. Jahrhunderts tradiert.5 Hier zunächst der Text des
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H. v. F. (= Hoffinann von Fallersleben, [Heinrich]): Von der innigen Seele, in: Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters [3] (1834), Sp. 27f. Lübbeke, Isolde: The Thyssen-Bomemisza Collection. Early German Painting 1350-1550. London 1991, S. 72-77 (Nr. 12) mit detaillierter Beschreibung, Abbildungen und Wiedergabe des Textes. - Die Identität mit dem von Hoffinann beschriebenen Bild scheint gesichert, auch wenn dieser erklärt, Text und Bild stunden auf Vorder- und Ruckseite des Gemäldes. Die Madrider Tafel zeigt auf der einen Seite eine Kreuzabnahme, auf der anderen - uns interessierenden - Christus und eine Nonne, jeweils ihr Kreuz tragend, und darunter, in zwei Spalten, den darauf bezogenen Text des Dialoggedichtes. - Siehe weiter die Beschreibung des Bildes bei Pita Andrade, Jose Manuel; del Mar Borobia Guerrero, Maria: Old Masters. Thyssen Bornemisza Museum. Madrid 1992, Nr. 268a-b (mit Abbildungen). Frau Kuratorin Mär Borobia danke ich herzlich für ihre Auskünfte. Vgl. H. v. F., 1834, Sp. 27f. (Vgl. Fußnote 1) Honemann, Volker: ,Rede von den fünfzehn Graden', in: Ruh, Kurt u. a. (Hgg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. [...] Aufl. Bd. 7. Berlin/New York 1989, Sp. 1061-1065. Der gesamte Komplex ist differenziert dargestellt bei Mertens, Volker: ,Kreuztragende Minne', in: Verfasserlexikon, 1985, Bd. 5, Sp. 376-379 (vgl. Fußnote 4), zu Überlieferung und Gestalt der ,Innigen Seele' ebd. Sp. 377. Neben dem Gemälde tradieren die Handschriften Frankfurt, Stadt- und Universitätsbibliothek, Ms. Praed. 121, Mitte 15. Jahrhundert, f. 251r-252r und Basel, öffentliche Bibliothek der Universität, cod. A I X 2, vor 1488, f. 180r'v und 239V (zwei Textzeugen!) das Gedicht von der .Innigen Seele'.
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Volker Honemann
Dialogs, den ich in einer Gestalt biete, die anhand des Faksimiles bei Lübbeke6 deren Abdruck7 und den Text Hoffmanns von Fallersleben überprüft und wo nötig korrigiert. Dabei erwies sich der Abdruck Lübbekes als ziemlich fehlerhaft (zahlreiche Verlesungen), der Hoffmanns als - bis auf Kleinigkeiten - korrekt. Die von letzterem beigefügte moderne Interpunktion wurde übernommen, die wenigen Abbreviaturen aufgelöst. Die Anordnung des Textes folgt, abweichend von Hoffmann, der des Gemäldes (Verse und Strophen abgesetzt, die von Christus gesprochenen Strophen links, die von der Nonne gesprochenen rechts). Die Strophenzählung ist die meine. (1)
(2)
Hebe vff din crutze vnd gange nach mir Odder gange vor, ich volgen dir. Jch muß dich czwingen vnd lernen, Du bist wilde, ich muß dich zemen.
Jch bin noch jung, zart vnd kräng, Wie mocht ich gelyden den betzwang? Die schwere bürden kan ich nit gedragen, Schone myn, here, in mynen jungen dagen.
(3)
(4)
Jch muß nidder biegen dinen hohen mut vnd lypp, O here, wie bistu mir also rechte hart! Jch wont, du werest mynneclich vnd zart. Sol vst guts oder heils an dir becliben. Zu mal schwere vnd hart ist mir die fart, Du wurdest anders gar zu geyle, Dede ich des nit, du wurdest myme fiende zu deyte. Wann noch zu mal sere bin ich vff mich gekart. (5)
(6)
Wie bistu nu so balde herlegen! Du must vechten als eyn degen. Was hastu durch mich herlidden? Du hast noch gar krenglich gestridden.
Sol ich wachen, beden vnd darzu vasten? Min vil lieber here, wan sol ich dann rasten? Vnd nacht vnd dag schwere bürden tragen? Hilff mir, daz ich arme nit vertzage!
(7)
(8)
Sich vffmyn crutze vnd vffdaz din! Sind sie beyde glich geladen, So wil ich myn straffen laßen sin. Was mag dir eyn kortze arbeit geschaden?
Jhesus, din crutze wil ich vnd muß es tragen; Erleubc mir zu gezyden eyns cleyns zu clagen. O here, ich enweys was ich arme sol gedencken, Jch gan vnder disser bürden wencken vnd krencken.
(9)
(10)
Wenestu, zart Jungfrauwe, in rosen baden? Wie dunckestu dich so edel vnd fin! Du must durch die dornen waden, Wiltu anders myns hertzen frauwe sin.
Ach lieber here, ich enweis was ich sol sagen: Dede es mir nit we, ich ließ myn clagen. Doch vff dich wil ich es wagen, Wann ich weiß, es ist der mynnen spil.
( )
(12)
Liebes kint, laß dich din arbeit nit verdrießen! Gedenck, daz du myn mit freuden ewig solt wesen Jn mere freuden vnd wolust in ewigkeit Dann dir mocht gegeben diese weite breit.
Mynnecliches lieb, sint es nit anders mag gesin, So ergeben ich mich gantz in den willen din. Jch weiß, sol ich ewig frolich mit dir leben, So muß ich mich gar in gnade ergeben.
Die .Kreuztragende Minne'
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(13)
(14)
Bis gedultig vnd wol gemut, Eß wirt dir noch alles süße vnd gut. Gehalt dich baß dann dir mag sin, Jn disser not gedenck an daz lyden myn.
O lieber here, durch dyne hohen namen dry Mach mich von allen svnden fry; Jen begere an dynem crutze zu sterben, Vffdaz ich dich, eyniges lieb, möge herwerben.
(15)
(16)
Liebes kint, din hertze gib mir! Wis sicher, daz ich numer gelaßen dir, Vnd soll ich dar vmb zu dem ändern male sterben, Jn dynen svnden laß ich dich nit verderben.
Ach here, myn notdurfftikeit laß dich erbarmen, Versmehe nit mich elende vnd armen! Dynen liebsten willen volbringe an mir! Mich glustet wol zu gefallen dir. Amen.8
Als Dialog weist sich das Madrider Gemälde dem Betrachter auf mehrfache Weise aus: Über dem Text ist links (also über den von Christus gesprochenen Strophen) der dornenbekrönte Christus dargestellt, in dunkelgrüner (Mönchs?-)Kutte mit einem Gürtelstrick, dessen Ende zum Boden herabhängt, sein Kreuz schulternd und kräftig nach links ausschreitend. Er wendet sein Gesicht und seinen Blick der rechts von ihm stehenden, in einen schwarzen Habit gekleideten Nonne zu, die ihr Kreuz bereits geschultert hat; sie blickt nach links zu Boden. Direkt unter ihr ist der von ihr gesprochene Text angebracht.9 Daß Christus derjenige der beiden Dialogpartner ist, von dem die Hauptaktivität ausgeht, ist so schon im Bild angedeutet. Text und Bild sind also unmittelbar aufeinander bezogen; dementsprechend ist die bildliche Darstellung im folgenden in die Betrachtung einzubeziehen. Dafür spricht auch, daß der - nichtillustrierte! - erste Basler Text diesem eine Anweisung zur Illustration beifügt. Er trägt vor Str. 2 die Überschrift: Hie depingitur figura fratris [!] portanfis crucem in humer is Quern Christus trahil cum catena vel fune [mit einer Kette oder einem Strick] post se, vor Str. 7 die Anweisung: Hie depingitur figura Christi portantis crucem trahentis fune post se fratrem.10 Eine Kombination von Bild und darauf folgendem Text bieten überdies zwei weitere Überlieferungsträger der ,Kreuztragenden Minne', die Einsiedler Handschrift 710, lr-2r, 2. Hälfte 15. Jahrhundert," und ein wohl um 1460-1470 im deutschen Südwesten entstandener Einblattdruck.12 In beiden Das in abgesetzten Versen geschriebene Original des Textes weist, soweit sich dies anhand des Faksimiles sagen läßt, bis auf Punkte nach verlzage (Str. 6, Z. 4) und Amen (Str. 16, Z. 4) keinerlei Interpunktionszeichen auf. Konjiziert habe ich lediglich ein sinnstörendes dinen in dine in Str. 14, Z. 1. Der Bildraum ist allerdings durch eine kräftige rote Horizontallinie vom Textraum getrennt. Zitiert nach der Beschreibung der Handschrift bei Binz, Gustav: Die Deutschen Handschritten der Oeffentlichen Bibliothek der Universität Basel. 1. Bd. Basel 1907, S. 110126, hier S. 118. Bei der Handschrift handelt es sich um das Predigtbuch des 1488 gestorbenen Basler Dominikaners Stephan Irmy. Überliefert werden hier die Str. 2-5 und 7-13. Zur Einsiedler Handschrift siehe Banz, Romuald: Christus und die Minnende Seele. Zwei spätmittelhochdeutsche mystische Gedichte. Breslau 1908 (Germanistische Abhandlungen 29), S. 253-258 und T. III (Textabdruck und Abbildung). Zum Einblattdruck siehe Schreiber, Wilhelm Ludwig, Holzschnitte mit Darstellungen der Heiligen Dreifaltigkeit [...]. Leipzig 1926 (Handbuch der Holz- und Metallschnitte des XV.
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Fällen zieht Christus die Nonne an seinem Gürtelstrick hinter sich her, solcherart das Trahe me, post te curremus des Hohen Liedes der Bibel (CC l ,3) evozierend. Auf der Einsiedler Miniatur hält die Nonne den Strick in der linken Hand, auf dem Einblattdruck verschwindet er unter ihrem Habit. Warum der Maler der Madrider Tafel von diesem Motiv, das die beiden Dialogpartner ja aufs deutlichste und im Wortsinne zusammenbindet, keinen Gebrauch gemacht hat, läßt sich nicht sagen. Im weiteren wird aber darauf zu achten sein, ob die bildliche Darstellung die Vorgaben des Textes genau umsetzt oder ob sich Abweichungen zwischen beiden erkennen lassen.13 Der (erste) Redeeinsatz Christi (Str. l, V. 1) wie der der Nonne (2,1) sind durch große rote Initialen hervorgehoben. Besonders interessant ist, daß am Ende jeder der von Christus gesprochenen Strophen (also z. B. dem Ende von 1,4) eine gezackte rote Linie schräg nach rechts oben zum Beginn der Antwort der Nonne (hier also 2,1) führt; dadurch wird sofort klar gemacht, daß - im Unterschied zu anderen strophischen Texten - der Leser nicht etwa zunächst die Strophen der linken Kolumne und dann die der rechten zu lesen hat, sondern daß er am Ende jeder Strophe die Kolumne wechseln muß, um auf diese Weise dem Charakter des Textes als Dialog zwischen Christus und einer Nonne gerecht zu werden. Der Maler des Bildes, der vielleicht mit dem Schreiber des Textes identisch ist, hat so mit den ihm eigenen Mitteln eine Reihe von Signalen dafür gesetzt, daß es sich bei dem auf der unteren Hälfte der Tafel wiedergegebenen Text um einen Dialog handelt. Darüber hinausgehend hat er eine klare Interpretation dafür gegeben, wer die beiden Partner des Dialoges in seinen Augen sind, nämlich Christus (gekennzeichnet vor allem durch die Dornenkrone) und eine Nonne (gekennzeichnet durch den Ordenshabit).14 Diese Identifikation wird durch den Text weitestgehend bestätigt. Er bezeichnet den einen der beiden Partner direkt als Jhesus (8,1) und mehrfach als (lieber) here (4,1, 6,2, 8,3, 10,1, 14,1, 16,1). Etwas Jahrhunderts H), Nr. 929; Abbildung in: The Illustrated Bartsch Bd. 163. New York 1993, S. 224 (= 16301). Für Hinweise hierzu danke ich Sabine Griese. Die Frage, ob von ihrer Genese her Bild oder Text primär sind, muß hier nicht diskutiert werden. Ich vermute, daß die Text-Bildkombination ursprünglich ist. Dessen schwarze Farbe konnte darauf verweisen, daß die Nonne als Augustinereremitin gedacht ist (diesem Orden gehörte das Kloster Kamp an), vgl. Severus, E. v.: Ordenstracht, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. Bd. 7. Freiburg i. Br. 1962, Sp. 1207f; doch ist zu bedenken, daß ein schwarzer Ordenshabit auch ganz allgemein als Zeichen der Weltabsage gedeutet werden kann, vgl. Nixdorff, Heide; Müller, Heidi: Weiße Westen Rote Roben. Von den Farbordnungen des Mittelalters zum individuellen Farbgeschmack. [Ausstellungskatalog] Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz. Museum für Völkerkunde und Museum für Deutsche Volkskunde. Berlin 1983, S. 157-170. In der Liturgie schließlich „ist das Schwarz (besonders als Gewandfarbe), wenn es nicht Ausdruck der Trauer ist, Farbe der Buße, Demut, Selbstverleugnung und des Sündenbewusstseins", Meier, Christel; Suntrup, Rudolf: Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter, Bd. 2, S. 518 (in Druck vorbereitung); Rudolf Suntrup danke ich herzlich für die hier angeführten Nachweise. Schwer zu deuten ist die Kleidung, die Jesus trägt; soll sie - trotz der grünen Farbe des Gewandes - ebenfalls einen Ordenshabit darstellen (wofür der bei den Bettelorden übliche Gürtelstrick spricht)? - In die gleiche Richtung weist, daß beide Figuren bloßfüßig dargestellt sind.
Die .Kreuztragende Minne'
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schwieriger gestaltet sich die Identifikation des anderen Dialogpartners. In Str. 9,1 wird er als zart Jungfrauwe angesprochen, er selbst nennt sich ich arme (6,4, 8,3) und mich elende und arme (16,2), die wachen, beden vnd darzu vaslen, also den Pflichten eines Ordenslebens nachkommen solle (6,1). Der Text gibt den zweiten Partner des Dialoges also als Frau und indirekt auch als Nonne zu erkennen.15 Die Strukturierung des Textes als Dialog16 ist sehr konsequent: Auf eine von dem einen Dialogpartner gesprochene Strophe (vier in der Regel paargereimte Vierheber) folgt stets eine ebensolche, die vom anderen Partner gesprochen wird; beide haben also quantitativ den gleichen Anteil am Gespräch. Der weibliche Dialogpartner (den ich der Einfachheit halber weiterhin als ,Nonne' bezeichne) ist also von dem Gottmenschen Christus als gleichberechtigter Teilnehmer am Gespräch akzeptiert, was für die Frömmigkeitshaltung des Textes von Bedeutung, im Kontext der spätmittelalterlichen Mystik jedoch nicht ungewöhnlich ist. Eine verbalisierte Identifikation der Dialogpartner im Sinne von Redeanweisungen, wie sie sich in anderen Fassungen der ,Kreuztragenden Minne' findet (etwa: „Christus spricht:"), fehlt in unserem Text. Sie ist dennoch ohne Schwierigkeiten zu vollziehen und eindeutig gegeben, dies zum einen durch die graphischen Signale des Textlayouts (siehe oben), zum anderen dadurch, daß die ersten Verszeilen sehr vieler Strophen den Adressaten klar ansprechen, so z. B. in Str. 4,1 (O here), 8,1 (Jhesus), 9,1 (Wenestu, zart Jungfrauwe), 16,1 (Ach here) und öfter. Auch von seiner Satzlogik her ist der Dialog überaus stringent gebaut. Auf einen „Zug" des einen Dialogpartners folgt konsequent der „Gegenzug" des anderen. Diese Einheit aus Zug und Gegenzug ist „als kommunikative Einheit des Sprachgebrauchs zugrundezulegen".17 Wie nun geht der unbekannte Verfasser der ,Kreuztragenden Minne' im einzelnen vor?
Die geschlechtliche Definition war offenbar leicht auszuwechseln, siehe die oben zitierte Malanweisung der Basler Handschrift A IX 2. Auch im Frankfurter Text (siehe Fußnote 5) hat Christus einen männlichen Dialogpartner, siehe die Beschreibung der Handschrift bei Powitz, Gerhard: Die Handschriften des Dominikanerklosters und des Leonhardstifts in Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 1968 (Kataloge der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main 2), S. 272-278, Initium S. 275: verschma nil mich elenden vnd armen. Zum Begriff des Dialoges (und der Dialogizität) siehe die grundlegenden Artikel von HessLuttich, Emest W. B.; Fries, Thomas; Weimar, Klaus; Lehmann, Jürgen, in: Weimar, Klaus (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung [...]. Bd. I. Berlin, New York 1997, S. 350-357. Der dort (S. 355) im Anschluß an Schmitt, P.: Dialog VII. Deutsche Literatur, in: Lexikon des Mittelalters III. München u. a. 1986, Sp. 958-960, hier Sp. 958, vertretenen Auffassung, anders als Lehr- und Streitgespräche fehlten Dialoge in der alt- und mittelhochdeutschen Literatur, kann ich mich nicht anschließen. Ich greife hier eine sehr glückliche Formulierung von Franz Hundsnurscher auf, siehe Hundsnurscher, Franz: Dialoganalyse und Literaturbetrachtung, in: Weigand, Edda (Hg.): Concepts of Dialogue. Considered from the Perspective of Different Disciplines. Tübingen 1994, S. 77-105, hier S. 82 („Skizze eines dialoganalytischen Erzählmodells"), dort auch das Zitat.
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Volker Honemann
Der Dialog setzt ein (Str. 1) mit einem Befehl Christi an die Nonne (1,1-2), den er in den folgenden Zeilen (1,3-4) kommentiert: Christus fordert die Nonne auf, ihr Kreuz zu schultern und ihm nachzufolgen, weil sie wilde sei und gezähmt werden mUsse. Auf diese Kombination aus Befehl und Erläuterung desselben reagiert die Nonne in Str. 2 mit einem Einwand, den sie in die Form einer Feststellung kleidet (sie sei noch jung und schwach, 2,1). Sie verbindet diese mit einer an Christus gerichteten rhetorischen Frage (,wie könnte ich den Zwang [der Kreuzeslast] ertragen?', 2,2), wobei der von ihr gebrauchte Begriff des betzwanges das czwingen der ersten Strophe (1,3) direkt aufnimmt. Aus der Frage wird dann im folgenden Vers sofort eine Feststellung (,ich kann diese Bürde nicht tragen', 2,3), die die Nonne mit einer auffordernden Anrede an Christus kombiniert (,verschone mich Herr, angesichts meiner Jugend', 2,4). Der nächste Zug zeigt sofort, daß Christus nicht gewillt ist, dieser Bitte nachzukommen; fast brutal erklärt er der Nonne: Ich muß deinen hohen mal (deine weltliche Lebenseinstellung und -freude) und deine Leiborientiertheit (lypp) beugen (3,1), weil - die Begründung für sein hartes Vorgehen wird unmittelbar angeschlossen - nur so gut und heil in dir verbleiben können. Die letzten beiden Zeilen der Strophe liefern zunächst eine Erweiterung der Begründung (die Nonne würde sonst allzu weltlich-lebensfroh, 3,3), die dann durch einen fast drohenden Hinweis verstärkt wird: Täte ich das alles nicht, dann würdest du meinem Feind, dem Teufel zum Opfer fallen (3,4); Christus zeigt also hier die Konsequenzen einer von hohem mut (dem Zentralbegriff höfisch-weltlichen Lebensgefühls), Leibzugewandtheit und einer allzu fröhlich-oberflächlichen Lebensauffassung geprägten Befindlichkeit auf, den Weg in die Hölle. Die Antwort der Nonne (Str. 4) läßt erkennen, daß ihr grundsätzlicher Widerstand gegen das Tragen des Kreuzes gebrochen ist. Sie wendet sich zunächst mit einem klagenden Ausruf an Christus (4,1: ,Wie überaus hart bist du mir gegenüber!'), den sie sofort dahingehend erläutert, daß Christi Verhalten die Erwartungen, die sie in bezug auf ihn hegte (daß er nämlich mynneclich vndzart sei, 4,2), enttäusche. Die letzten beiden Zeilen setzen die Klage der Nonne fort (die fort sei überaus schwer), bieten darüber hinaus aber - in einer Selbstreflexion der Sprecherin - zugleich eine Erklärung: Sie sei noch zu sehr auf sich selbst nicht aber auf Christus und die ihr von ihm auferlegte Aufgabe! - ausgerichtet. Wie in Str. 3 läßt sich Christus in Str. 5 hierauf nicht ein. Er tadelt erneut die Schwäche der Nonne (5,1) und fordert sie, unterbrochen durch eine rhetorische, ironisch gefärbte Frage (5,3) auf, wie ein Krieger zu kämpfen, was sie bisher nur gar krenglich getan habe. Christus führt so ein neues, in der geistlichen Literatur des Mittelalters sehr reich verwendetes Bild ein, das des Christen als eines Streiters gegen das Böse und damit den Teufel. Die Antwort der Nonne in Str. 6 besteht zunächst aus drei rhetorischen Fragen (6,1-3), die die Unmöglichkeit andeuten sollen, der Aufforderung Christi zu folgen; Zeile vier schließt die Sequenz durch einen Hilferuf an Christus ab: Hillf mir, daz ich arme nit vertzage! Christus reagiert darauf, wie schon in den Strophen 3 und 5, mit einer Aufforderung: Die Nonne solle die Last der beiden Kreuze vergleichen, wenn sie
Die , Kreuztragende Minne'
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gleich beladen seien, wolle er sein straffen (7,3 - er charakterisiert damit selbst sein bisheriges Dialogverhalten gegenüber der Nonne) bleiben lassen. Der Verweis auf die Last des Kreuzes (7,1-2) nimmt dabei den Verweis der Nonne auf das ihr zugemutete schwere bürden tragen (6,3) auf. Eine rhetorische Frage (,Was kann dir eine so kurze Mühe schon schaden?', 7,4) beschließt die Strophe. Die Nonne gibt nun, in Strophe 8 (also auf der Hälfte des Gesprächsweges), ihren Widerstand völlig auf: Sie wolle und müsse das ihr von Christus auferlegte Kreuz tragen (8,1), bitte sich aber aus, darüber klagen zu dürfen (8,2) und werde unter dessen Last wanken (8,4). Markiert wird diese Einwilligung der Nonne zum Tragen des Kreuzes durch die direkte Anrede Christi: Jhestis, din crutze wil ich vnd muß es tragen; es ist die einzige Nennung des Namens Jesu im ganzen Text. Christus aber setzt in der folgenden Strophe sein straffen unmittelbar fort, wenn auch in anderer Form - in Gestalt einer wohl ironisch gefärbten Frage (.Glaubst du, verzärtelte Jungfrau, in Rosen baden zu sollen?', 9,1), einer Feststellung (,Du kommst dir wohl sehr edel und fein vor!', 9,2) und einer neuerlichen Aufforderung (,Du mußt durch Dornen waten', 9,3)'*, verbunden mit einer Verheißung (9,4): wenn du myns hertzen frauwe sein willst, dann mußt du auch bloßfüßig - man erinnere sich an die bildliche Darstellung - durch Dornengestrüpp gehen. Christi straffen ist so nicht ohne Erfolg geblieben; die Befürchtung von Str. 3 (du wurdest mymeßende zu deyle, 3,4) ist nun, ermöglicht durch das Einlenken der Nonne, also ihre grundsätzliche Bereitschaft, das Kreuz zu tragen, der Aussicht gewichen, daß sie es zur Herrin von Christi Herzen „bringen" könne. Die Nonne reagiert hierauf mit einer Mischung aus Unsicherheit (,ich weiß nicht, was ich sagen soll', 10,1) und dem Eingeständnis, daß die Schmerzen, die das Tragen des Kreuzes bereiten, der Grund für ihr Klagen sind (10,2), ehe sie ihren Entschluß vom Beginn der 8. Strophe bekräftigt (yff dich wil ich es wagen, 10,3), um sodann mit einer sehr kühnen und unerwarteten Begründung zu schließen: Wann ich weiß, es ist der mynnen spil (,es geht hier um eine Liebesvereinigung', 10,4). Die Nonne nimmt jetzt implizit Christi Perspektive aus der vorhergehenden Strophe auf (myns hertzen frauwe syn, 9,4), wobei sie zugleich und ganz selbständig an die Brautmystik des Hohen Liedes anknüpft. Nach dieser geradezu extremen Aufgipfelung ist an ein straffen Christi nicht mehr zu denken, was sich zunächst in der Anrede der Nonne widerspiegelt. An die Stelle der - zumindest teilweise ironisch gemeinten - Formulierung zartJungfrauwe von Str. 9,1 tritt nun ein Liebes kint (11,1), das von Christus gebeten wird, sich doch die arbeit nicht verdrießen zu lassen (11,1), sondern daran zu denken, daß sie auf ewig Christi eigen werden solle, in viel größerer Freude und Wollust, als die Welt sie geben könne (11,2-4); der Terminus der „Braut Christi" wird vermieden, und es ist wichtig, zu beachten, daß die Unio von Christus als eine zukünftige beschrieben wird. Auch die Antwort der Nonne ist 18
Die Strophe weist Kreuzreim auf (abab), wodurch eine direkte Responsion von Z. 3 (in dornen waden) auf Z. l (in rasen baden) möglich wird.
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von einem Wechsel in der Anrede gekennzeichnet: An die Stelle des here von Str. 3 und des lieber here von Str. 10 tritt jetzt - an die Formulierung der Nonne vom mynnen spil in Str. 10,4 anknüpfend - ein sehr kühnes Mynnecliches lieb (12,1), mit dem sie Christus anredet; es scheint zu signalisieren, daß die bisher stets auf Christi Befehle, Aufforderungen und seinen Tadel reagierende Nonne nun zum aktiveren der beiden Gesprächspartner geworden ist. Dazu gehört auch, daß sich die Nonne der eigenen Position, also der ungeheuren Distanz zwischen Mensch und Gott, bewußt bleibt: Ich weiß (das in 12,3 an die Stelle des ich enweis von 10,1 tritt), daß ich mich in deinen Willen und deine Gnade ergeben muß (12,2 und 4), wenn ich in Ewigkeit fröhlich mit dir leben will. Christi Reaktion darauf besteht in Zuversicht spendenden Ermunterungen (13,1-2) und einem Hinweis darauf, wie denn ein Leben in Gottergebenheit geführt werden könne: In disser not gedenck an daz lyden myn (13,4). Die Nonne greift diesen Hinweis zuerst indirekt, dann direkt auf. Sie bittet Christus im Namen der Trinität, sie von allen Sünden zu befreien (14,1-2), und erklärt ihre Bereitschaft, an Christi Kreuz zu sterben, um ihn, ihr eyniges lieb, auf immer zu erwerben (14,3-4); der Weg zur dauerhaften Vereinigung mit Christus führt also - und dies ist der Nonne im Laufe des Gespräches bewußt geworden - über das Tragen des ihr von Christus auferlegten Kreuzes, ja selbst den Tod (des weltlichen Menschen) an diesem Kreuz. Die vorletzte Strophe zeigt schließlich eine Reaktion des göttlichen Gesprächspartners, die erkennen läßt, wie sehr nun seinerseits mynne an die Stelle des strqffens getreten ist. Christus fordert die Nonne, sein liebes kint auf, ihm ihr Herz zu geben (und spielt damit auf das in der höfischen Literatur weit verbreitete Motiv des Herzenstausches an) - nie werde er sie aufgeben und sie nie in ihren Sünden verderben lassen, selbst wenn er dafür ein zweites Mal am Kreuz sterben müsse (15,2-4)! Den Verweis auf die Sündhaftigkeit des Menschen (bzw. der Nonne) greift diese in der letzten Strophe - von Demut erfüllt und die Distanz zwischen dem Menschen und Gott wieder herstellend - auf. Sie bittet Christus (der nun wieder als here angesprochen wird, 16,1), sich ihrer zu erbarmen und seinen liebsten willen an ihr zu vollbringen (16,2-3) - sie gelüste es sehr, ihm zu gefallen (16,4). Das den Dialog beschließende Amen läßt sich dann als (Selbst-)Bekräftigung der Aussagen der Nonne, ebenso aber auch als Schlußsignal des Autors deuten, der solcherart dem „Ergebnis" des Gespräches zustimmt. Der literarische Dialog von der,Kreuztragenden Minne', dessen Verlauf ich hier in flexiblem Umgang mit dem von Franz Hundsnurscher entwickelten Modell einer „Dialoggrammatik" zu beschreiben versuchte,19 läßt sich abschließend folgendermaßen charakterisieren:
1
Vgl. zuerst Hundsnurscher, Franz: Konversationsanalyse vs. Dialoggrammatik, in: Rupp, Heinz; Roioff, Hans Georg (Hgg.): Akten des 6. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. Bd. 2. Bern 1980, S. 89-95, sowie die Erläuterung der dialoggrammatischen Konzeption bei Franke, Wilhelm: Elementare Dialogstrukturen. Darstellung, Analyse, Diskussion. Tübingen 1990, S. 156-158 und Hundsnurscher, 1994, S. 82-85 (vgl. Fußnote 17).
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1) Der Autor des Textes läßt die beiden Sprecher in bezug auf die Abfolge und die Quantität ihrer Sprechakte festen, jeweils gleiche Gesprächsanteile konstituierenden Regeln folgen. 2) Die Sprechakte der beiden Dialogpartner sind „regelhaft verkettete Abfolgen"20: Auf den „dialogeröffnenden Sprechakt" Christi, der eine Aufforderung an die Nonne darstellt, reagiert diese mit einem „negativen Bescheid", ein Muster, das sodann wiederholt wird (Str. 3 und 4, 5 und 6), ehe die Nonne schließlich dem Insistieren Christi gegenüber (zuletzt in Str. 7) nachgibt, wobei dieses Nachgeben sehr differenziert gestaltet ist (Str. 8-12): Es wird nicht etwa die Position des einen Dialogpartners durch die des anderen restlos überwunden, in dem Sinne, daß dieser eine „Niederlage" erleidet, sondern beide verändern, in einer allmählichen Entwicklung (ab Str. 9), ihre Positionen. Konnte der Dialog zwischen Christus und der Nonne bis hierhin als ein - in bezug auf letztere - weitgehend „reaktiver" beschrieben werden,21 so entwickelt nun - nachdem Christus sein straffen (7,3) aufgegeben und der Nonne die Perspektive eröffnet hat, seines herlzen frauwe (9,4) zu werden - die Nonne eine eigene, sich nicht mehr auf reagierendes Klagen und Ablehnen beschränkende Position, indem sie sich selbst zur künftigen Braut Christi erklärt (der mynnen spil, 10,4, Anrede Christi als Mynnecliches lieb, 12,1). Der Schluß des Dialogs ist dann durch eine Parallelführung der beiden Positionen gekennzeichnet (Verweis Christi aufsein Leiden, 13,4, Verweis der Nonne auf ihre Sündhaftigkeit, 14,2, Bestätigung Christi, sie nicht in ihren Sünden verderben zu lassen, 15,2-4, Betonung der eigenen - menschlichen - Schwäche durch die Nonne und Ergebung in den Willen Christi, 16,1-4). Die Bewegung des Gespräches läßt sich so als ein Fortschreiten vom Dissens hin zur (intendierten) Unio und von dieser aus zum Konsens beschreiben; beide Gesprächspartner akzeptieren am Ende die nun gefundene bzw. formulierte Position des jeweils anderen, wobei die Nonne jetzt bereit ist, ihr Kreuz zu tragen; sie hat ihre ursprüngliche, in Str. 2 formulierte Position aufgegeben. 3) Der Verfasser des Dialogs hat die Verknüpfung der Sprechakte wie die Entwicklung der Gesprächspositionen durch eine Vielzahl sprachlicher, insbesondere stilistischer und rhetorischer Mittel vorgenommen. Dazu gehören, wie oben gezeigt, der Wechsel vom Befehl zur Ermahnung und dann zum freundlichen Zureden, von der Weigerung zur widerwilligen und dann aus vollem Herzen ausgesprochenen Zustimmung, das Wiederaufgreifen von zentralen Begriffen und Bildern, die der Dialogpartner verwendet hat (z. B. czwingen - betzwang 1,3 - 2,2, mynnen spil - Mynnecliches lieb 10,4 - 12,1; in rasen baden durch die dornen waden 9,1-9,3), weiterhin der sehr differenziert gestaltete Gebrauch der Anredeformen, deren Auftreten und Wechsel die Veränderung der
Franke, 1990, S. 161 (vgl. Fußnote 19); im folgenden verwende ich die von Franke ebd., S. 157 gebrauchten Begriffe. Vgl. Abraham, Werner: Terminologie der neueren Linguistik. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen 1988,8. 149.
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Positionen der beiden Gesprächspartner im Hinblick auf den jeweils anderen klar erkennen läßt.22 Bezieht man in dieses ebenso komplexe wie ansprechende, literarisch gesehen geradezu „professionell" gestaltete Sprechhandeln noch die bildliche Darstellung dieses Handelns ein, dann dürfte deutlich sein, warum der Text- undBild-Komplex der »Kreuztragenden Minne' sich im 15. und frühen 16. Jahrhundert so großer Beliebtheit erfreute.
22
Anredeformen Christi: zart Jungfrauwe (9,1! - es ist signifikant, daß Christus seine Gesprächspartnerin erst hier, zu Beginn der zweitervHälfte des Dialogs, erstmals einer Anrede würdigt), Liebes kinl (11,1; dasselbe noch einmal in 15,1). Anredeformen der Nonne: O here (4,1), vil lieber here (6,2), Jhesus (8,1), lieber here (10,1), Mynnecliches lieb (12,1), O lieber here (14,1), Ach here (\6,\); Großschreibung bezeichnet jeweils Spitzenstellung als erstes Wort der Strophe.
Tomas Tomasek
Sentenzen im Dialog Einige Beobachtungen zum Profil der Gawan-Figur im X. Buch des ,Parzival' Wolframs von Eschenbach
1. Wie die meisten mittelhochdeutschen höfischen Romane enthält auch der ,Parzival' Wolframs von Eschenbach1 eine Fülle von Sentenzen, die von der Forschung insgesamt noch nicht genügend zur Interpretation der Dichtung herangezogen wurden; im Durchschnitt stößt man im ,Parzival' nach jeweils gut 160 Versen auf eine Sentenz oder Sentenzanspielung.2 Von diesen Mikrotexten sind Figuren- und Erzählerrede gleichermaßen durchdrungen, und da sich in vielen Belegen auch das Sentenzwissen des zeitgenössischen Publikums spiegelt, ist die Bedeutung dieser Textelemente als Argumentations- und Einschätzungsmuster für das Werkverständnis hoch zu veranschlagen. Im folgenden soll die Leistungsfähigkeit eines von den Sentenzen ausgehenden Interpretationsansatzes am Beispiel der Interaktion zwischen Gawan und Orgeluse erprobt werden. Wolframs Doppelroman verfügt über zwei Protagonisten, deren beider Verhalten vom Umgang mit sentenzhaftem Wissen geprägt ist, wobei ihre Lebensläufe zunächst ungleicher kaum sein können: Der als Dümmling aufgewachsene Parzival bedarf nach seinem Ausritt in die Welt dringend der Unterstützung durch Lehrerfiguren, folglich liegt ein Schwerpunkt der Parzivalhandlung auf der nachgeholten Erziehung des Titelhelden, die in mehreren - auch sentenzhafte Ratschläge enthaltenden3 - Lehrgesprächen (Parz. 127,13ff; 170,15ff; 457, l ff.) erfolgt. Dagegen ist Gawan von Kindesbeinen an mit seiner adeligen Rolle vertraut (vgl. Parz. 66,15ff.) und, als er auf Parzival trifft, bereits ein beWolframs ,Parzival' wird im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Einführung von Bernd Schirok. Berlin; New York 1999. Als ,Sentenz' wird im folgenden mit Wilhelm Weise „ein Erfahrungssatz, eine Lebensweisheit in feststehender Prägung, die durch ihre Form allgemeine Gültigkeit beansprucht", bezeichnet (Weise, Wilhelm: Die Sentenz bei Hartmann von Aue. Phil. Diss. Marburg 1910, S. 4). Der Begriff ,Sentenz' wird somit in einem weiten Sinne verstanden und umfaßt sowohl das primär mündliche .Sprichwort' als auch die primär schriftliterarische ,Sentenz im engeren Sinne'. Als ,Sentenzanspielung' gilt jede Verwendung einer Sentenz, die nicht in ihrer Grundform (.Nennform') erfolgt. Die folgenden Ausführungen basieren auf den Erhebungen des Bochumer/Münsteraner Projekts .Literarische Kleinstformen pragmatischer Schriftlichkeit: Sentenzverwendung im mittelhochdeutschen hofischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts', die noch nicht abgeschlossen sind. Zur Sentenzhaltigkeit der Ratschläge Herzeloydes vgl. z. B. Yeandle, David N.: Commentary on the Soltane and Jeschute Episodes in Book III of Wolfram von Eschenbach's Parzival (l 16,5-138,8). Heidelberg 1985, S. 238.
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rühmter Artusritter. Während Parzival, der von höfischen und christlichen Normen nur schrittweise Kenntnis erhält, die ihm erteilten Ratschläge sehr ernst nimmt, bis er auf der Gralburg schmerzlich erfahren muß, daß von ihm auch ein kritisch-abwägender Umgang mit dem tradierten Orientierungswissen verlangt wird, verfügt Gawan derart souverän über die ritterliche Wertewelt, daß er, wie sich auch im folgenden zeigen wird, durchaus in der Lage ist, Regeln zu relativieren. Er kann mit sentenzhaftem Wissen spielen - eine Fähigkeit, die Parzival abgeht -, doch läuft er auch Gefahr, die Geltung von Erfahrungssätzen zu unterschätzen und damit unnötige Risiken heraufzubeschwören - eine Gefährdung, der Parzival nie erliegt. Aus dieser Konstellation wird bereits deutlich, daß Sentenzen im ,Parzival' keinen absoluten, sondern einen funktionalen Wert besitzen: Ihre Gültigkeit muß zwischen den Extremen der Regelgläubigkeit und der WillkUr im konkreten Fall erst gefunden werden.4 Daß beide Protagonisten Komplementärfiguren darstellen, wie die Forschung seit langem erkannt hat,5 gilt somit auch für den Sentenzengebrauch: An den Entscheidungen Parzivals wird deutlich, wie ernsthaft er sein Verhalten an Lehrsätzen ausrichtet (z.B. Parz. I62,29ff.; 163,15f; 202,17f.),6 während Gawan bei seinen äventiuren in Bearosche und Schanpfanzun sein Sentenzwissen auch nutzt, um z. B. vor sich selbst seinen Hang zum Abenteuer zu legitimieren (vgl. Parz. 340,7ff. und besonders 406,30f.). Nicht zufällig ist die für die Rolle der Sentenzen in Parzivals Leben charakteristische Dialogsituation das Lehrgespräch,7 im höfischen Dialog unter Gleichgestellten spricht er dagegen nur gelegentlich in Sentenzform - dann aber mit großem Ernst (Parz. 259,15f.; 260, l f.; 759,10) -, und er wird in dieser Situation von anderen Figuren auch nur selten sentenzhaft angeredet (z. B. Parz. 294,18ff.). Entgegengesetzt verhält es sich bei Gawan, der sein Sentenzwissen gerade in Gesprächen entfaltet, in denen Mitglieder der ritterlichen Gesellschaft ihre Positionen aushandeln und den
Vgl. dazu auch Eikelmann, Manfred: Autorität und ethischer Diskurs. Zur Verwendung von Sprichwort und Sentenz in Hartmanns von Aue ,Iwein', in: Anderson, Elizabeth; Haustein, Jens; Simon, Anne; Strohschneider, Peter (Hgg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Tübingen 1998, S. 73-100, bes. S. 84-91. Hierauf hat vor allem Wolfgang Mohr hingewiesen; vgl. Mohr, Wolfgang: Parzival und Gawan, in: Wolfram von Eschenbach. Aufsatze von Wolfgang Mohr. Göppingen 1975, S. 287318. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 275) (zuerst 1958) Ein Beweis für die Ernsthaftigkeit der Intentionen Parzivals ist bereits sein komisch wirkender Eifer bei der Umsetzung der Ratschläge der Mutter, wenn er etwa Herzeloydes Mahnung: du soll dich site nieten, /der werlde griiezen bieten (Parz. 127.19 ), hinter der die Sentenz saluta libenter aus den breves sententiae der .Disticha Catonis' steht (Disticha Catonis. Recensuit et apparatu critico instruxit Marcus Boas. Opus post Marci Boas mortem edendum curavit Heinricus Johannes Botschuyver. Amsterdam 1952, S. 14, Nr. 10), bei jeder Gelegenheit mechanisch befolgt (vgl. Parz. 132,23f; 138,5ff. u. ö.). Vgl. dazu Hundsnurscher, Franz: Typologische Aspekte von Unterrichtsgesprächen, in: Weigand, Edda; Hundsnurscher, Franz (Hgg.): Dialoganalyse II. Referate der 2. Arbeitstagung, Bochum 1988. Bd. 1. Tübingen 1989, S. 237-256.
Sentenzen im Dialog
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Geltungsbereich ihrer Normen überprüfen, wobei sich Gawan sehr häufig mit sentenzhaften Argumenten von Freunden und Gegnern konfrontiert sieht.8
2. Charakteristisch für Gawans Sentenzgebrauch ist das X. Buch des .Parzival', in dem der Artusritter auf seine spätere Ehefrau Orgeluse9, die ,femme fatale' des Parzivalromans, trifft. Als Gawan bei ihrem Anblick sogleich in Liebe entbrennt (Parz. 508,20), betont der Erzähler, daß Orgeluse zwar für die ougen süeze an smerzen erscheine, doch zugleich ein spansenwe des herzen sei (Parz. 508,29f.). Diese zwiespältige Ausstrahlung wird von Orgeluse selbst thematisiert (Parz. 509-510,14), die Gawan, nachdem er ihr seine Verzückung gestanden hat, zurechtweist: maneger siniu ougen bolt, er möhts üf einer slingen ze senfterm würfe bringen,
ob er sehen niht vermietet daz im sin herze snidet. (Parz. 510,2ff.)
Orgeluses Worte enthalten eine Anspielung auf das im Mittelalter verbreitete Sprichwort Was das Auge nicht sieht, tut dem Herzen nicht weh™, worin eine an Gawan gerichtete Warnung liegt, von ihr abzulassen, sonst werde es ein für ihn leidvolles Ende nehmen (so auch die Folgeverse Parz. 510,7ff.). Doch läßt sich Gawan weder durch diese Signale Orgeluses noch durch das argumentative Gewicht des von ihr anzitierten Sprichworts abschrecken, und es scheint, als fasse er ihre Antwort als Teil eines galanten Liebesdialogs auf." Er gibt ihr
9
Vgl. über das im folgenden Gesagte hinaus z. B. auch Parz. 321,29f; 660,23ff; 675,13; 759,10. Zur Orgeluse-Figur vgl. zuletzt Bumke, Joachim: Geschlechterbeziehungen in den Gawanbüchern von Wolframs ,Parzival', in: Mehler, Ulrich; Touber, Anton H. (Hgg.): Mittelalterliches Schauspiel. Festschrift für Hansjürgen Linke zum 65. Geburtstag. Amsterdam u.a.,S. 109-121, bes. S. 109-113 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 38-39). Die mittelalterliche Verbreitung des Sprichworts dokumentiert: Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, begründet von Samuel Singer. Bde. 1-9. Hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften Berlin; New York 1995-1999 (künftig abgekürzt: TPMA), s. v. AUGE 5.2. Was das Auge nicht sieht, tut dem Herzen nicht weh. Vgl. z. B. folgende charakteristische Belege: Vulgo dicitur: Quod non videt oculus, cor non dolel (Bernhard von Clairvaux: In festo omnium sanctorum. Sermo V, in: Migne, Jacques Paul (Hg.): Patrologia Latina. Bd. 183. Paris 1859, Sp. 475-482, Zitat 478A). - Dal dat oghe nycht en suth dat bekarmel dat herthe nycht (Jellinghaus, Hermann: Die Proverbia Communia mittelniederdeutsch. Nach einer Handschrift der Kieler Universitäts-Bibliothek, in: Jahres-Bericht über die Realschule in Kiel während des Schuljahres 1879/80, mit welchem zu der am 18. März stattfindenden öffentlichen Prüfung ergebenst einladet das Lehrer-Collegium. Kiel 1880, S. 1-21, Nr. 165). - Was das äug nit sihet/ das beschweret auch das hertz nit (Franck, Sebastian: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Band 11: Sprichwörter. Text-Redaktion Peter Klaus Knauer. Bern u. a. 1993, S. 386 [Berliner Ausgaben - Sektion Philologische Wissenschaften]). Daß die Sentenz Was das Auge nicht sieht, tut dem Herzen nicht weh durchaus im galanten Liebesgespräch ihren Platz haben kann, belegt die Sentenzsammlung Johannes Agricolas: Was die äugen nicht sehen / bekümmert das hertze nicht. / Diß wort betrifft die liebe /als
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durchaus recht und bekräftigt sogar ihre Sentenzanspielung mit einer entsprechenden eigenen: frouwe, ir sagt mir war. min ougen sint des herzen vär.
(Parz. 510,16)
Gleichzeitig nutzt Gawan diese concessio, um die ihm von Orgeluse angedrohten Gefahren als ein zumutbares Minnedienstrisiko darzustellen, was er wiederum mit einer Sentenz untermauert: swem ist ze werder minne gäch, da beeret dienest vor unde nach. (Parz. 51 l,I5f.)
Die Figuren des literarischen Textes vollziehen durch ihre Sentenzverwendung strategische Sprechhandlungen.13 Gawan, der Orgeluses Sentenzanspielung mit eigenen Sentenzen neutralisiert, kann sich im Dialog mit der Dame durchsetzen, was sich darin niederschlägt, daß sie ihn sogleich in ihren Dienst nimmt (Parz. 511,17ff). Dennoch fragt es sich angesichts der geheimnisvoll-unberechenbaren Ausstrahlung Orgeluses, die als Minneherrin denkbar ungeeignet erscheint (vgl. z. B. Parz. 510,12f), ob Gawan hier nicht, ähnlich wie in der Episode mit Antikonie (404,17ff), weiblicher Ausstrahlung erlegen ist und den Blick für die Gefahr verloren hat. Führt er nur einen höfisch-galanten Dialog? Müßte er nicht den sentenzhaften Erfahrungsgrundsätzen, die zum Ausdruck bringen, daß das Auge Schaden bewirken kann, mehr Gewicht beimessen? Einen entsprechenden rät (Parz. 514,1; 514,16) erhält Gawan unmittelbar darauf im Gespräch mit einem - nicht zufällig - als altersweise stilisierten Ritter (vgl. Parz. 513,26ff.), der Orgeluses Pferd bewacht: hüet daz iuch iht gehcene miner frouwen schoene. (Parz. 514,17f.)
In diesen Worten klingt unüberhörbar das im Mittelalter verbreitete deutsche Sprichwort schiene daz ist hcene™ an, und es kann dem sentenzkundigen Gawan wenn man einem weybe oder manne sagt / wie eines diß / das ander jhens mit einem ändern oder anderer habe geschertzt / so sagt yhr eins also / Ey was die äugen nicht sehen / bekümmert das hertze nicht / wenn ichs aber sehe / so verdroß michs / und machte mir leyd / aber ytzt nicht (Agricola, Johannes: Die Sprichwörtersammlungen. Hg. von Sander L. Oilman. Bd. l. Berlin; New York 1971, Nr. 180 [Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts]). Gawan spielt dabei auf Sentenzen wie die folgenden an: Oculus est inimicus cordis ([Arnold von Lüttich]: An Alphabet of Tales. An English 15th Century Translation of the Alphabetum Narrationum once attributed to Etienne de Besancon. Edited by Mary Macleod Banks. Bd. 2. London 1905, S. 389, Nr. 583 [Early English Text Society. Original Series 127]). - Von (umher ougen blicke / wirt vil wiser man betrogen (Otte: Eraclius. Hg. von Wilfried Frey. Göppingen 1983, V. 2106f. [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 348]). Weitere Belege sind dem TPMA zu entnehmen (s. v. AUGEN 8. Das Auge kann [der Seele] schaden). Vgl. auch Hundsnurscher, Franz: Dialoggrammatische Analyse literarischer Texte, in: Symposion 9 (Tokyo 1994), S. 1-21. Vgl. etwa folgende Belege: ez ist doch war ein worlelin: /,schoene daz ist hcene' (Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hg. von Friedrich Ranke. 15. Auflage. Berlin; Zürich 1978, V. 17802f.). - Man siht vil manege scheine, /diu doch ist vil hcene (Fridankes Beschei-
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nicht entgangen sein, daß ihn der Alte hier warnend an etabliertes Orientierungswissen erinnern will. Doch scheint er diesen Rat nicht hören zu wollen (vgl. Parz. 514,9; 514,21). Was sodann geschieht, läßt die Gültigkeit des schcene-haene-Spnch'worts offenbar werden und wirft ein bezeichnendes Licht auf Gawans Umgang mit sentenzhaftem Wissen: Als Vorspiel tritt zunächst der ungehobelte Knappe Malcreatiure auf den Plan, ein fleischgewordenes Sinnbild der Unbelehrsamkeit,15 an dessen Stacheln sich der Artusritter die Finger blutig sticht. Danach kommt es zur Begegnung mit dem boshaften Urjans, der Gawan auf eine derart schändliche Weise verhöhnt, daß er sich auch den Spott seiner danebenstehenden Minneherrin zuzieht (Parz. 522,26ff.) - der Zusammenhang von schaene und hoene wird geradezu in Szene gesetzt. Bezeichnenderweise ist es Gawan gewesen, der sich einstmals - auch aus eigenem Interesse (Parz. 527,26) - für eine Begnadigung des zum Tode durch den Strang verurteilten Frauenschänders Urjans in langen Diskussionen am Artushof eingesetzt hatte (Parz. 525,11528,30); als Dank stiehlt der Unhold nun Gawans Pferd - ein gleichfalls mit dem Strang zu bestrafendes Verbrechen - und besitzt sogar die Dreistigkeit, noch einmal zurückzureiten, um Gawan durch die folgenden Sentenzen zu belehren: swer dem ändern half daz er genas, daz er sin vient da nach was. (Parz. 525,3f.) sich flieget paz ob weint ein kint denn ein bartohter man. (Parz. 525,6f.) Urjans konfrontiert den Artusritter also mit jenen Erfahrungsgrundsätzen, von denen sich Gawan einst an Artus' Gerichtshof hätte leiten lassen und auf eine Intervention zugunsten des Schurken verzichten müssen. So wird Gawans damaliger Umgang mit Erfahrungswissen als leichtfertig und seine gegenwärtige Schmach als selbstverschuldet offenbar. Daß es auf diese Pointe ankommt, verdeutlicht Wolfram nicht nur, indem er die an dieser Stelle in seiner Vorlage, dem .Perceval' Chretiens de Troyes, vorgegebene Sentenz um eine zweite erweitert,16 sondern auch dadurch, daß er ausgerechnet Urjans das von Gawan undenheit. Hg. von Heinrich Ernst Bezzenberger. Halle/S. 1872, 104,20f). - Bi der schaene ist dicke haz, / zuo der schaene niemen sl ze gach (Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neu bearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner. Hg. von Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996, 26, III, l f.). Vgl. auch die Zusammenstellung: Die deutschen Sprichwörter im Mittelalter. Gesammelt von Ignaz von Zingerle. Wien 1864, S. 134. Vgl. Parz. 518, l ff. Daß Adams Töchter das Wissen ihres Vaters ignorierten, quittiert der Erzähler mit der verbreiteten Sentenz: dtu wip täten et als wip (Parz. 518,25). Vgl. etwa: Farne quefame! voirs est, ce m 'est a vis (Les Narbonnais. Chanson de geste. Publioe pour la Premiere Fois par Hermann Suchier. Bd. I. Paris 1898, 394 [Societo des Anciens Textes Fransais]). - wip sint doch immer wip. / doch ist etlicher so liep der lip, / sin lest durch vorhte noch durch got, / sin überge ir mannes gebot (Weib und Geiss. Hg. von Franz Pfeiffer, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 7 (1849), S. 336-338, V. 49-52. Siehe auch die Belege in: TPMA s. v. FRAU 1.1.1. Eine Frau ist wie die andere. Die Bedeutung der von Wolfram hinzugefugten Sentenz sich fiieget paz ob weint ein kint / denn ein bartohter man (Parz. 525,6f.) wird aus Johannes Agricolas Kommentar ersichtlich: Es ist besser das kindt weyne / dann ich. l Diß worts brauchen die Gotßfiirchtigen
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terschätzte Sentenzwissen thematisieren läßt, während die entsprechende Einsicht bei Chretien von Gawan nachträglich selbst geäußert wird.17 Es ist sicher kein Zufall, daß Gawans sträfliche Nichtbeachtung sentenziösen Erfahrungswissens im Umgang mit dem unberechenbaren Urjans gerade in der Orgeluse-Handlung virulent wird, denn auch hier begegnet er einer undurchsichtigen Figur und könnte erneut versucht sein, sentenzhafte Erfahrungsgrundsätze beiseite zu schieben. Dies ließe für den weiteren Verlauf der Aventiure nichts Gutes ahnen, denn die schlimmsten Abenteuer im Dienste Orgeluses auf Schastel marveille (Parz. 564,23ff.) und an der Furt Li gweiz prelljus (Parz. 602, l ff.) stehen Gawan noch bevor. Die Urjans-Episode fungiert gleichsam als Katalysator der Beziehung von Gawan und Orgeluse - sie stellt eine erste Bewährungsprobe dar, aus deren Verlauf jedoch erkennbar wird, daß Gawans Minne unerschütterlich ist und keine bloße Galanterie darstellt. So vollzieht sich dann auch von dieser Episode an im Bereich der Sentenzen eine bezeichnende Wende. Nachdem Orgeluse von Gawan über das Sexualverbrechen des Urjans unterrichtet worden ist, läßt sie erstmals eine konstruktive Reaktion erkennen, indem sie sentenzhaft ihre richterliche Zuständigkeit als Landesherrin für den Verbrecher Urjans herausstellt: man sol unruoge rechen mit slahen unt mit stechen. (Parz. 529,15f.)
Vor allem schaltet sich nun der Erzähler ein und verteidigt u. a. mit Hilfe von Sentenzen Gawans bedingungsloses Minneverhalten als einen hohen gesellschaftlichen Wert: reht minne ist wäriu triuwe 18 (Parz. 532,10), der auch zum Erfolg führt: wert man sol sich niht minne wem: wan den muoz minne helfen nern. (Parz. 534,7f.)
Und als Gawan durch den Schmerz seiner unerwiderten Liebe zu Orgeluse zermürbt zu werden beginnt (Parz. 547,1 Iff.), trifft er auf den Fährmann Plippalinot, verstendigen eitern / die da von dem heyligen geyst gelernet haben / und von Salomon. / Wer sein kindt lieb halt / der spart der rutten nicht. Item / Torheyt ist an des kindes hertz gebunden / aber die ruth nimpt die torheyt hyn. Darumb wenn das kindt seinen willen will haben / so strafft es der weise voller / ob es schon darumb weynet / so ists besser das kind weyne in der jugent / denn der votier im alter (Agricola, Johannes: Die Sprichwörtersammlungen. Hg. von Sander L. Oilman. Bd. 1. Berlin; New York 1971, Nr. 636). Vgl. auch: TPMA s. v. KIND 3.6.3. Es ist besser, Kinder weinen als Erwachsene. Vgl. hierzu Wolframs Vorlage: Ore oi je, ce respond Gavains, / .1. proverbe que l'en re trail, /Que l'en disl: (Chretien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Grall. Edition critique d'apres tous les manuscrits par Keith Busby. Tübingen 1993, V. 7098-7100). Dieses Sprichwort ist im Altfranzösischen reich belegt; vgl. die zahlreichen Eintrage in: TPMA s. v. GUT (Adj.) 4.3.7.2. Spez.: Wegen einer Wohltat den Hals (Schädel) gebrochen. Vgl. z. B. die Sentenz des Spruchdichters Marner: Minne ist unstcetefri (Der Marner. Hg. von Philipp Strauch. Mit einem Nachwort, einem Register und einem Literaturverzeichnis von Helmut Brackert. Berlin 1965,5,25 [Deutsche Neudrucke. Texte des Mittelalters]).
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der ihn mit bekannten sentenzhaften Ratschlägen wie hiule riuwec, morgen vro19 (Parz. 548,8) und bi manheit scelde helfen mac20 (Parz. 548,12) ermutigt, den eingeschlagenen Weg beizubehalten. Im letzten Teil des X. Buches geben auffällig optimistische Sentenzen den Ton an.
3. Auch wenn Gawan noch lange nicht an sein Ziel, die Hand der Orgeluse und die Herrschaft über Schaslel marveile, gelangt ist, wird am Ende des X. Buchs bereits deutlich, daß er es erreichen dürfte und seine vorbehaltlose Hinwendung zu Orgeluse eine richtige Entscheidung war. Um seiner Bestimmung willen läßt sich Gawan nicht, wie der alte Ritter ihm riet, durch die Sentenz schcene daz isl hcene abschrecken. Er akzeptiert sie vielmehr als sein Schicksal und bekommt deren Gültigkeit auch schmerzlich zu spüren, doch gerade durch diese Leidensbereitschaft wird er zum Erlöser Schastel marveilles und Orgeluses. Nicht zufällig weigert sich Gawan, die Warnung des alten Mannes vor Orgeluses schcene anzunehmen mit der Wendung: nu \valtes got (Parz. 514,21). Nachdem aber in der Urjans-Episode deutlich geworden ist, daß Gawan, anders als einstmals am Artushof, der Sinnschwere sentenzhafter Erfahrungssätze nicht auszuweichen gedenkt, muß im Nachhinein bereits Gawans erster Dialog mit Ogeluse als programmatisch verstanden werden: Die Sentenzanspielung min ougen sint des herzen vor (Parz. 510,16) stellt als Antwort auf Orgeluses Warnrede keineswegs nur einen galanten Zug, sondern ein ernstgemeintes Bekenntnis Gawans dar. Der Umgang mit Sentenzen ist ein wichtiger Aspekt der Sinnstruktur von Wolframs Werk und nicht zuletzt ein Mittel der Figurenkennzeichnung: Parzival muß im Laufe der Romanhandlung lernen, daß Erfahrungsgrundsätze nicht mechanisch, sondern sinnbezogen und abwägend anzuwenden sind; Gawan erfährt an den Folgen der Urjans-Handlung, daß sich die Gültigkeit sentenzhaften Wissens nicht wegdiskutieren läßt - eine Einsicht, die er in seinem Verhältnis zu Orgeluse vorbildlich umsetzt. So dürfte es kein Zufall sein, daß Gawan und 19
Vgl. Belege wie: Hiute Hep, morne kit, /deist der werlde unstcetekeit (Fridankes Bescheidenheit. Hg. von Heinrich Ernst Bezzenberger. Halle/S. 1872, 31,16). - Umb ritterschaft stat ez also: / hint Hep, morgen leit, / diu beidiu sint in bereit (Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Hg. von Viktor Spechtler. Göppingen 1987, 965, 6-8 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 485 J). - Wir hdn niht gewisses me / wan hiute wol und morgen we / und ie ze jungest der tot (Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hg. von Hermann Paul. 15., neu bearbeitete Auflage besorgt von Gesa Bonath. Tübingen 1984, V. 713-715 [Altdeutsche Textbibliothek 3]). - Hiute vreude und richez guot, / morgen leit und armuot (Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat. Hg. von Franz Pfeiffer. Mit einem Nachwort und Register von Heinz Rupp. Berlin 1965, V. 4577f. [Deutsche Neudrucke. Texte des Mittelalter] [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1843]). - Die werlt, diu was ie wernde, daz si künde geben unde zucken / vreude huet und morgen v/7 der leide (Albrecht von Scharfenberg: Jüngerer Titurel. Bd. II/I. Nach den ältesten und besten Handschriften kritisch hg. von Werner Wolf. Berlin 1964, Str. 2372,2f. [Deutsche Texte des Mittelalters 55]). Vgl. auch die Zusammenstellung: TPMA s. v. HEUTE 2.1.2.6. Heute froh (lieb und teuer, Liebe), morgen betrübt (verhasst, Leid) Umkehrung. Vgl. z. B. manheit gert Salden pflege (Heinrich von dem Türlin: Diu Crone. Zum ersten Male hg. von Gottlob Heinrich Friedrich Scholl. Amsterdam 1966, V. 22619 [Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1852; Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 27]).
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Tomas Tomasek
Orgeluse auch in ihrem Versöhnungsgespräch (Parz. 611,23ff.) im XII. Buch entscheidende Argumente in sentenzhafter Rede (612,7ff.; 614,12f.) austauschen.
Verzeichnis der Schriften von Franz Hundsnurscher Zusammengestellt von Youngsook Yang
l. Buchveröffentlichungen Das System der Partikelverben mit AUS in der Gegenwartssprache. Göppingen: Kümmerle 1968. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 2) Neuere Methoden der Semantik. Eine Einführung anhand deutscher Beispiele. Tübingen: Niemeyer 1970. (Germanistische Arbeitshefte 2) TSG. Transformationelle Schulgrammatik. Erster Versuch. Göppingen: Kummerle 1970. (Göppinger Akademische Beiträge 7) [Herausgegeben von einer Autorengruppe unter Leitung von Franz Hundsnurscher] Linguistik I. Lehr- und Übungsbücher zur Einführung in die Sprachwissenschaft. Tübingen: Niemeyer 1970. (Germanistische Arbeitshefte 5) [zusammen mit Hans Bühler; Gerd Fritz; Wolfgang Herrlitz; Bernd Insam; Gerd Simon; Heinrich Weber] Funk-Kolleg Sprache. Eine Einfuhrung in die moderne Linguistik. Bd. l. Frankfurt a. M.: Fischer 1973. [zusammen mit Klaus Baumgärtner; Gerd Fritz; Wolfgang Herrlitz; Dieter Kastovsky; Ekkehard König; Wolfgang Kühlwein; Wilfried Kürschner; Ulrich von der Mülbe, Brigitte Narr; Karl-Heinz Wagner; Heinrich Weber] Lehrgang Sprache. Einführung in die moderne Linguistik. Teil l: Kommunikation und Sprache. Weinheim; Basel: Beltz; Tübingen: Niemeyer 1974. [zusammen mit Klaus Baumgärtner; Wolfgang Herrlitz; Wolfgang Kühlwein; Herbert Ernst Wiegand] Semantik der Adjektive des Deutschen. Analyse der semantischen Relationen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1982. (Forschungsberichte des Landes Nordrhein-Westfalen 3137, Fachgruppe Geisteswissenschaften) [zusammen mit Jochen Splett] Das System der Partikelverben mit aus in der Gegenwartssprache. Hamburg: Buske 1997. (Beiträge zur germanistischen Sprachwissenschaft 11)
2. Aufsätze Zur „Summa Theologiae", in: Zeitschrift für deutsche Philologie 86 (1967), S. 10-13. Partikelverben und Wörterbücher, in: Muttersprache 80 (1970), S. 353-362.
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Franz Hundsnurscher
Semantische Untersuchung einiger mittelhochdeutscher Verben der Fortbewegung, in: Hundsnurscher, Franz; Müller, Ulrich (Hgg.): „Getempert und gemischet" für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag. Göppingen: Kümmerle 1972, S. 417443. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 65) Syntax, in: Althaus, Hans Peter; Henne, Helmut; Wiegand, Herbert Ernst (Hgg.): Lexikon der Germanistischen Linguistik. Tübingen: Niemeyer 1973, S. 184-221. Einfaches Performanzmodell, in: Baumgärtner, Klaus u. a.: Funk-Kolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Fischer 1973, S.57-65. Sprachvielfalt, Sprachdynamik, in: Baumgärtner, Klaus u. a.: Funk-Kolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Fischer 1973, S. 66-73. Prinzipien wissenschaftlicher Grammatiken, in: Baumgärtner, Klaus u. a.: FunkKolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Fischer 1973, S. 94-102. Modell der Kodierung und Dekodierung, in: Baumgärtner, Klaus u.a.: Lehrgang Sprache. Einführung in die moderne Linguistik. Teil 1: Kommunikation und Sprache. Weinheim; Basel: Beltz; Tübingen: Niemeyer 1974, S. 32-44. Einfaches Performanzmodell, in: Baumgärtner, Klaus u.a.: Lehrgang Sprache. Einführung in die moderne Linguistik. Teil 1: Kommunikation und Sprache. Weinheim; Basel: Beltz; Tübingen: Niemeyer 1974, S. 45-60. Sprachvielfalt, Sprachdynamik, Dynamik sozialer Prozesse, in: Baumgärtner, Klaus u.a.: Lehrgang Sprache. Einführung in die moderne Linguistik. Teil 1: Kommunikation und Sprache. Weinheim; Basel: Beltz; Tübingen: Niemeyer 1974,8.61-75. Reduktion der komplexen sprachlichen Kommunikation, in: Baumgärtner, Klaus u.a.: Lehrgang Sprache. Einführung in die moderne Linguistik. Teil 1: Kommunikation und Sprache. Weinheim; Basel: Beltz; Tübingen: Niemeyer 1974, S. 76-87. Prinzipien wissenschaftlicher Grammatik, in: Baumgärtner, Klaus u.a.: Lehrgang Sprache. Einführung in die moderne Linguistik. Teil 1: Kommunikation und Sprache. Weinheim; Basel: Beltz; Tübingen: Niemeyer 1974, S. 143-158. Überlegungen zur Generativen Semantik, in: Werner, Otmar; Fritz, Gerd (Hgg.): Deutsch als Fremdsprache und neuere Linguistik. Referate eines Fortbildungskurses in Mannheim, 26.2-9.3.1973. München: Hueber 1975, S. 166-183. Überlegungen zur Sprechakt-Theorie, in: Werner, Otmar; Fritz, Gerd (Hgg.): Deutsch als Fremdsprache und neuere Linguistik. Referate eines Fortbildungskurses in Mannheim, 26.2.-9.3.1973. München: Hueber 1975, S. 184-201.
Verzeichnis der Schriften
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Semantik der Fragen, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 3 (1975), S. 1-14. Sprechaktsequenzen. Überlegungen zur Vorwurf/Rechtfertigungs-interaktion, in: Der Deutschunterricht 27/2 (1975), S. 81-103. [zusammen mit Gerd Fritz] Die Perzeptionsverben des Deutschen, in: Forster, Leonard; Roioff, Hans-Gert (Hgg.): Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses, Cambridge 1975. Heft 2. Bern; Frankfurt a. M.: Lang 1976, S. 66-73. (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 2) Insistieren, in: Wirkendes Wort 26 (1976), S. 255-265. Versprechungen, in: Rücker, Helmut; Seidel, Kurt Otto (Hgg.): „Sagen mit Sinne". Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag. Göppingen: Kümmerle 1976, S. 435-455. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 180) Zur Rolle der Wortarten im System der Perzeptionswörter, in: Brekle, Herbert; Kastovsky, Dieter (Hgg.): Perspektiven der Wortbildungsforschung. Beiträge zum Wuppertaler Wortbildungskolloquium vom 9.-10. Juli 1976. Anläßlich des 70. Geburtstages von Hans Marchand am 1. Oktober 1977. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1977, S. 83-97. (Gesamthochschule Wuppertal. Schriftenreihe Linguistik l) Probleme des Sprachverlusts. Einige Überlegungen zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der »Sprache der Vertriebenen', in: Literatur-Spiegel 21 (1978), S. 1-13. Die Einführung semantischer Merkmale anhand von semantischen Minimalpaaren, in: Gewehr, Wolf; Klein, Klaus-Peter (Hgg.): Grundprobleme der Linguistik. Ein Reader zur Einfuhrung. Baltmannsweiler: Burgbücherei Wilhelm Schneider 1979, S. 52-56 Einführung in die transformationelle Syntax, in: Gewehr, Wolf; Klein, KlausPeter (Hgg.): Grundprobleme der Linguistik. Ein Reader zur Einführung. Baltmannsweiler: Burgbücherei Wilhelm Schneider 1979, S. 179-186. Konversationsanalyse versus Dialoggrammatik, in: Rupp, Heinz; Roioff, HansGert (Hgg.): Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses, Basel 1980. Teil 2. Bern; Frankfurt a. M.; Las Vegas: Lang 1980, S. 89-95. (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 8) Syntax, in: Althaus, Hans Peter; Henne, Helmut; Wiegand, Herbert Ernst (Hgg.): Lexikon der Germanistischen Linguistik. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Niemeyer 1980, S. 211-242. Semantische Kompetenz, in: Hindelang, Götz; Zillig, Werner (Hgg.): Sprache: Verstehen und Handeln. Akten des 15. Linguistischen Kolloquiums Münster 1980. Bd. 2. Tübingen: Niemeyer 1981, S. 35-46. (Linguistische Arbeiten 99)
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Franz Hundsnurscher
On Insisting, in: Parret, Herman; Sbisä, Marina; Verschueren, Jef (Hgg.): Possibilities and Limitations of Pragmatics. Proceedings of the Conference on Pragmatics, Urbino, July 8-14, 1979. Amsterdam: Benjamins 1981, S. 343-357. (Studies in Language Companion Series 7) Das System der Partikelverben mit AUS, in: Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Tendenzen verbaler Wortbildung in der deutschen Gegenwartssprache. Mit einer Einleitung von Robert Hinderung. Hamburg: Buske 1982, S. 1-32. (Bayreuther Beiträge zur Sprachwissenschaft 4) Historische Syntax, in: Besch, Werner; Reichmann, Oskar; Sonderegger, Stefan (Hgg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Erster Halbband. Berlin; New York: de Gruyter 1984, S. 427-433. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1) Prinzipien und Methoden historischer Syntax, in: Besch, Werner; Reichmann, Oskar; Sonderegger, Stefan (Hgg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Erster Halbband. Berlin; New York: de Gruyter 1984, S. 642-653. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1) Theorie und Praxis der Textklassifikation, in: Rosengren, Inger (Hg.): Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1984. Stockholm: Almqvist & Wiksell 1984, S. 75-97. Probleme einer semantischen Beschreibung des Wortschatzes, in: Energeia 10 (1984), S. 30-45. Neues zur Metapher?, in: Heintz, Günther; Schmitter, Peter (Hgg.): Collectanea philologica. Festschrift für Helmut Gipper zum 65. Geburtstag. Bd. 1. BadenBaden: Koerner 1985, S. 305-318. Wortfamilienforschung als Grundlage einer Bedeutungsgeschichte des deutschen Wortschatzes, in: Stötzel, Georg (Hg.): Germanistik. Forschungsstand und Perspektiven. 1. Teil. Berlin; New York: de Gruyter 1985, S. 116-123. Bericht über den »Deutschen Germanistentag 1984': Sektionen der Germanistischen Sprachwissenschaft (Passau, 10.-13. Oktober 1984), in: Deutsche Sprache 3 (1985), S. 279-288. [zusammen mit Alan Kirkness; Johannes Schwitalla; Jochen Spielt; Rainer Wimmer] Überlegungen zum lexikalischen Spracherwerb auf dem Hintergrund semantischer Beschreibungsverfahren, in: Nakajima, Yuji; Kikuchi, Takehiro; Kido, Fuyuki (Hgg.): Berichte des Japanischen Deutschlehrerverbandes 29. Tokyo 1986,8.4-13. Dialogmuster und authentischer Text, in: Hundsnurscher, Franz; Weigand, Edda (Hgg.): Dialoganalyse. Referate der 1. Arbeitstagung, Münster 1986. Tübingen: Niemeyer 1986, S. 35-49. (Linguistische Arbeiten 176)
Verzeichnis der Schriften
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Das Problem der Bedeutung bei Justus Georg Schottelius, in: Hauck, Karl; Kroeschell, Karl; Sonderegger, Stefan; Hüpper, Dagmar; Olberg, Gabriele von (Hgg.): Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag. Berlin; New York: de Gruyter 1986, S. 305-320. Probleme des sprachstufenübergreifenden Wortschatzvergleichs, in: Bergmann, Rolf; Tiefenbach, Heinrich; Voetz, Lothar (Hgg.): Althochdeutsch. Heidelberg: Winter 1987, S. 1012-1024. Über den Zusammenhang des Gebrauchs der Wörter. Eine methodologische Untersuchung anhand des deutschen Adjektivs GRÜN, in: Poetica 28 (1988), S. 75-103. Stufen der Lexikographie des Mittelhochdeutschen. Zum Verhältnis Wortfamilienwörterbuch - Alphabetisches Wörterbuch, in: Bachofer, Wolfgang (Hg.): Mittelhochdeutsches Wörterbuch in der Diskussion. Symposium zur mittelhochdeutschen Lexikographie, Hamburg, Oktober 1985. Tübingen: Niemeyer 1988, S. 81-93. Sprachliche Äußerungen als Bindeglieder zwischen Sprechsituationen und Kommunikationszwecken, in: Scherer, Hans (Hg.): Sprache in Situation. Eine Zwischenbilanz. Bonn: Romanistischer Verlag 1989, S. 115-153. Typologische Aspekte von Unterrichtsgesprächen, in: Weigand, Edda; Hundsnurscher, Franz (Hgg.): Dialoganalyse II. Referate der 2. Arbeitstagung, Bochum 1988. Bd. 1. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 237-256. (Linguistische Arbeiten 229) Linguistische Bemerkungen zu einem literarischen Redekonstellationstyp, in: Dietrick, Linda; John, David G. (Hgg.): Monumentum Dramaticum. Festschrift for Eckehard Catholy. Waterloo (Canada): University of Waterloo Press 1989, S. 21-37. „Seien Sie gewarnt, das Eis ist dünn!", in: Hilmi, Alaaeldin; Müller-Speiser, Ursula (Hgg.): AI Harafisch. Beiträge zur arabischen und deutschen Literatur und Sprache. Stuttgart: Heinz 1990, S. 209-225. Syntaxwandel zur Gottsched-Zeit, in: Betten, Anne (Hg.): Neuere Forschung zur historischen Syntax. Referate der Internationalen Fachkonferenz, Eichstätt 1989. Tübingen: Niemeyer 1990, S. 422-438. (Reihe Germanistische Linguistik 103) Probleme bei der Erstellung eines mittelhochdeutschen Wortfamilienwörterbuchs, in: Gärtner, Kurt; Sappler, Paul; Trauth, Michael (Hgg.): Maschinelle Verarbeitung altdeutscher Texte IV. Beiträge zum Vierten Internationalen Symposion, Trier, 28. Februar bis 2. März 1988. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 40-50. Über den Zusammenhang von Wortsemantik, Satzsemantik und Textsemantik, in: Czucka, Eckehard (Hg.): „Die in dem alten Haus der Sprache wohnen".
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Franz Hundsnurscher
Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Helmut Arntzen zum 60. Geburtstag. Münster: Aschendorff 1991, S. 33^4. Semantische Ursachen syntaktischen Wandels. Einige Beobachtungen an mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Texten, in: Iwasaki, Eijirö (Hg.): Begegnung mit dem ,Fremden'. Grenzen - Traditionen - Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanistentages, Tokyo 1990. Bd. 4. München: ludicum 1991, S. 195-205. Zur dialogischen Grundstruktur von Mehr-Personen-Gesprächen, in: Stati, Sorin; Weigand, Edda; Hundsnurscher, Franz (Hgg.): Dialoganalyse III. Referate der 3. Arbeitstagung, Bologna 1990. Bd. 1. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 149162. (Beiträge zur Dialogforschung 1) Die , Satzkonstanz' als Grundbegriff der Rede, in: Die deutsche Sprache - Gestalt und Leistung. H. Brinkmann in der Diskussion. Münster: Nodus 1991, S. 189208. Does a dialogical view of language amount to a paradigm change in linguistics: Language as dialogue, in: Stati, Sorin; Weigand, Edda (Hgg.): Methodologie der Dialoganalyse. Tübingen: Niemeyer 1992, S. 1-14. (Beiträge zur Dialogforschung 3) Some considerations on the explicitness and completeness of semantic description, in: Stamenov, Maxim (Hg.): Current advances in semantic theory. Amsterdam: Benjamins 1992, S. 283-298. (Current Issues in Linguistic Theory 73) Die .Lesart' als Element der semantischen Beschreibung, in: Lutzeier, Peter Rolf (Hg.): Studien zur Wortfeldtheorie. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 239249. (Linguistische Arbeiten 288) Dialoggrammatische Analyse der deutschen Nebensätze, in: Löffler, Heinrich (Hg.): Dialoganalyse IV. Referate der 4. Arbeitstagung, Basel 1992. Teil 1. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 61-69. (Beiträge zur Dialogforschung 4) Das Metaphernproblem aus sprachwissenschaftlicher Sicht, in: Arntzen, Helmut; Hundsnurscher, Franz (Hgg.): Metapherngebrauch. Linguistische und hermeneutische Analysen literarischer und diskursiver Texte. Münster: Waxmann 1993, S. 7-12. Streitspezifische Sprechakte: Vorwerfen, Insistieren, Beschimpfen, in: Protosoziologie4(1993),S. 140-150. Einige Überlegungen zur Syntax aus pragmatischer Sicht, in: Lengen, Catrin van; Rolf, Eckard (Hgg.): Syntax: Zur Subordination von Sätzen. Münster: Lit 1993, S. 11-29. (Münstersches Logbuch zur Linguistik 3) Ansätze syntaktischer Theoriebildung I: Traditionelle Syntax, in: Jacobs, Joachim; Stechow, Arnim von; Stemefeld, Wolfgang; Vennemann, Theo (Hgg.): Syntax. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, l. Halbband. Berlin;
Verzeichnis der Schriften
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New York: de Gruyter 1993, S. 216-231. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 9.1) Einleitung, in: Fritz, Gerd; Hundsnurscher, Franz (Hgg.): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen: Niemeyer 1994, S. IX-XV. [zusammen mit Gerd Fritz] Dialog-Typologie, in: Fritz, Gerd; Hundsnurscher, Franz (Hgg.): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 203-238. Dialoganalyse und Literaturbetrachtung, in: Weigand, Edda (Hg.): Concepts of Dialogue. Considered from the Perspective of Different Disciplines. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 77-105. (Beiträge zur Dialogforschung 6) Lügen - auch eine Form sprachlichen Handelns, in: Hai wachs, Dieter; Penzinger, Christine; Stütz, Irmgard (Hgg.): Sprache, Onomatopöie, Rhetorik, Namen, Idiomatik, Grammatik. Festschrift für Prof. Dr. Karl Somig zum 66. Geburtstag. Graz 1994, S. 97-113. (Grazer Linguistische Monographien 11) Dialoggrammatische Analyse literarischer Texte, in: Symposion 9 (Tokyo 1994), S. 1-21. Über die sogenannten doppeiförmigen Verben, in: Haiwachs, Dieter; Stütz, Irmgard (Hgg.): Sprache - Sprechen - Handeln. Akten des 28. Linguistischen Kolloquiums, Graz 1993. Tübingen: Niemeyer 1994, S. 101-107. (Linguistische Arbeiten 320) Some Remarks on the Development of Dialogue Analysis, in: Hundsnurscher, Franz; Weigand, Edda (Hgg.): Future Perspectives of Dialogue Analysis. Tübingen: Niemeyer 1995, S. 79-93. (Beiträge zur Dialogforschung 8) Das Gebrauchsprofil der Wörter. Überlegungen zur Methodologie der wortsemantischen Beschreibung, in: Hoinkes, Ulrich (Hg.): Panorama der Lexikalischen Semantik. Thematische Festschrift aus Anlaß des 60. Geburtstages von Horst Geckeier. Tübingen: Narr 1995, S. 347-360. Metakommunikation im Dialog, in: Die Germanistik in Portugal: Dialog und Debatte. Akten des I. Internationalen Kongresses des Portugiesischen Germanistenverbandes, Coimbra, 25-27. Januar 1996. Lissabon: Livraria Ler, S. 775781.(Runa26) Wortsemantik aus der Sicht einer Satzsemantik, in: Hundsnurscher, Franz; Weigand, Edda (Hgg.): Lexical Structures and Language Use. Proceedings of the International Conference on Lexicology and Lexical Semantics, Münster, September 13-15, 1994. Vol. 1. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 39-51. (Beiträge zur Dialogforschung 9) Characterising Speech, in: Pietri, Etienne (Hg.): Dialoganalyse V. Referate der 5. Arbeitstagung, Paris 1994. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 9-20. (Beiträge zur Dialogforschung 15)
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Franz Hundsnurscher
Rechtfertigungen und Ausreden, in: Czapla, Beate; Lehmann, Tomas; Liell, Susanne (Hgg.): VIR BONUS DICENDI PERITUS. Festschrift für Alfons Weische zum 65. Geburtstag. Wiesbaden: Reichert 1997, S. 193-199. Repetition Reconsidered, in: Weigand, Edda (Hg.): Dialogue Analysis: Units, relations and strategies beyond the sentence. Contributions in honour of Sorin Stati's 65th birthday. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 107-119. (Beiträge zur Dialogforschung 13) Gliederungsaspekte des Wortschatzes, in: Hoinkes, Ulrich; Dietrich, Wolf (Hgg.): Kaleidoskop der Lexikalischen Semantik. Tübingen: Narr 1997, S. 185-191. Lexikographisches Material für semantische Untersuchungen, in: Germanistische Forschung, Dokkyo Universität 37 (1997), S. 1-9. Dialogverknüpfung im Nibelungenlied, in: Krause, Burkhardt (Hg.): Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann. Wien: Fassbaender 1997, S. 165-176. Der definite positive Bescheid, in: Birkmann, Thomas; Klingenberg, Heinz; NUbling, Damaris; Ronneberger-Sibold, Elke (Hgg.): Vergleichende germanische Philologie und Skandinavistik. Festschrift für Otmar Werner. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 129-141. Was tut der Übersetzer?, in: Kairoer Germanistische Studien 10 (1997), S. 307-324. Streitspezifische Sprechakte: Vorwerfen, Insistieren, Beschimpfen, in: Preyer, Gerhard; Ulkan, Maria; Ulfig, Alexander (Hgg.): Intention - Bedeutung Kommunikation. Opladen 1997, S. 363-375. Pragmatische Wortsemantik. Zum pragmatischen Hintergrund einer gebrauchstheoretisch orientierten lexikalischen Semantik, in: Schmitsdorf, Eva; Hartl, Nina; Meurer, Barbara (Hgg.): Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag. Münster u. a.: Waxmann 1998, S. 128142. Das Drama als Gegenstand der Dialoganalyse, in: Cmejrkova, Svetla; Hoffmannovä, Jana; Müllerovä, Olga; Svetla, Jindra (Hgg.): Dialoganalyse VI. Referate der 6. Arbeitstagung, Prag 1996. Teil 2. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 323-330. Historische Syntax, in: Besch, Werner; Betten, Anne; Reichmann, Oskar; Sonderegger, Stefan (Hgg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, l. Teilband. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin; New York: de Gruyter 1998, S. 755775. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1) Probleme der linguistischen Analyse literarischer Texte, in: Kavanagh, R. J. (Hg.): Mutual Exchanges. Sheffield-Münster Colloquium I. Frankfurt a. M.: Lang 1998, S. 38-50.
Verzeichnis der Schriften
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Ableitungsverhältnisse und Motivationszusammenhänge in der Wortfamilie ziehen, in: Falkner, Wolfgang; Schmid, Hans-Jörg (Hgg.): Words, lexemes, concepts - approaches to the lexicon. Studies in honour of Leonhard Lipka. Tübingen: Narr 1999, S. 141-153. A Historical View on Literacy Discourse Phenomena or How to Bridge an Abyss, in: Fritz, Gerd; Jucker, Andreas H.; Lebsanft, Franz (Hgg.): Historical dialog analysis. Amsterdam u. a.: Benjamins 1999. Der linguistische Zusammenhang, in: Ezawa, Kennosuke; Kürschner, Wilfried; Rensch, Karl H.; Ringmacher, Manfred (Hgg.): Linguistik jenseits des Strukturalismus. Bericht des II. Ost-West-Kolloquiums für Sprachwissenschaft 1998. Tübingen (erscheint demnächst). Das Konzept der Dialoggrammatik, in: Antos, Gerd; Brinker, Klaus; Heinemann, Wolfgang, Sager, Sven F. (Hgg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2. Halbband. Berlin; New York: de Gruyter 2000. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikations Wissenschaft 16) The grammar of bargaining, in: Dascal, Marcelo; Weigand, Edda (Hgg.): Negotiation. Amsterdam u. a.: Benjamins (erscheint demnächst). Das Wortfamilienproblem in der Forschungsdiskussion, in: Cruse, D. Alan; Hundsnurscher, Franz; Job, Michael; Lutzeier, Peter Rolf (Hgg.): Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Erster Halbband. Berlin; New York: de Gruyter (erscheint demnächst). Fallstudie I: Das Hochdeutsche, in: Cruse, D. Alan; Hundsnurscher, Franz; Job, Michael; Lutzeier, Peter Rolf (Hgg.): Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Erster Halbband. Berlin; New York: de Gruyter (erscheint demnächst). Lebensformbezogene Wortschätze, in: in: Cruse, D. Alan; Hundsnurscher, Franz; Job, Michael; Lutzeier, Peter Rolf (Hgg.): Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Erster Halbband. Berlin; New York: de Gruyter (erscheint demnächst).
3. Rezensionen Gelhaus, Hermann: Synchronie und Diachronie. Bern; Frankfurt a. M. 1972. (EH Reihe I. 72), in: Leuvense Bijdragen 63/4 (1974), S. 341-343. Dijk, Teun van: Some aspects oftext grammars. A study in theoretical linguistics and poetics. The Hague: Mouton 1972, in: Germanistik 15/1 (1974), S. 24f.
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Franz Hundsnurscher
Abraham, Werner; Binnick, Robert I. (Hgg.): Generative Semantik. Frankfurt a. M.: Athenäum 1972, in: Germanistik 15/2 (1974), S. 250f. Kiefer, Ferenc; Ruwet, Nicolas (Hgg.): Generative grammar in Europe. Dordrecht: Reidel 1973, in: Germanistik 15/3 (1974), S. 51 If. Montague, Richard; Schnelle, Helmut: Universale Grammatik. Braunschweig: Vieweg 1972 (Schriften zur Linguistik 5), in: Beiträge zur Namenforschung. Neue Folge 9/4 (1974), S. 417f. Götti, Ernst: Die gotischen Bewegungsverben. Ein Beitrag zur Erforschung des gotischen Wortschatzes mit einem Ausblick auf Wulfilas Übersetzungstechnik. Berlin: de Gruyter 1974, in: Germanistik 16/2 (1975), S. 376f. Kratzer, Angelika; Pause, Eberhard; Stechow, Arnim von: Einführung in Theorie und Anwendung der generativen Syntax. Erster Halbband: Syntaxtheorie. Zweiter Halbband: Anwendung. Schwerpunkte Linguistik und Kommunikationswissenschaft 7 I/II. Frankfurt a. M.: Athenäum 1973-1974, in: BNF 4 (1975), S. 435-438. Borchardt, Heinz: Der Schlüssel zur deutschen Sprache. Stuttgart: Selbstverlag 1974, in: Germanistik 17/2 (1976), S. 431 f. Coseriu, Eugenio: Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprachwandels. Übersetzt von Helga Sohre. München: Fink 1974, in: Germanistik 17/1 (1976), S. 31 f. Vasiliu, Emanuel: Outline of a semantic theory of kernel sentences. The Hague: Mouton. 1972, in: Germanistik 17/2 (1976), S. 417f. Link, Godehard: Intensionale Semantik. München: Fink 1976, in: Germanistik 19/3 (l978), S. 601 f. Metzing, Dieter W.: Formen kommunikationswissenschaftlicher Argumentationsanalyse. Hamburg: Buske 1975, in: Germanistik 19/3 (1978), S. 603f. Sprengel, Konrad: A study in word-formation: the English verbal prefixes foreand pre- and their German counterparts. Tübingen: Narr 1977, in: Germanistik 20/1 (1979), S. 38f. Klein, Wolfgang; Dittmar, Norbert: Developing Grammars. The Acquisition of German Syntax by Foreign Workers. Berlin; Heidelberg; New York: Springer 1979, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 48/2 (1981), S. 261-263. Henne, Helmut; Rehbock, Helmut: Einführung in die Gesprächsanalyse. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Berlin; New York: de Gruyter 1982, in: Germanistik 23/4 (1982), S. 593f. Haubl, Rolf: Gesprächsverfahrensanalyse. Ein Beitrag zur sprachwissenschaftlichen Sozialforschung. Frankfurt a. M.; Bern: Lang 1982, in: Germanistik 23/4 (1982), S. 592f.
Verzeichnis der Schriften
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Holly, Werner: Imagearbeit in Gesprächen. Zur linguistischen Beschreibung des Beziehungsaspekts. Tübingen: Niemeyer 1979 (Reihe Germanistische Linguistik 18), in: Germanistik 24/1 (1983), S. 36f. Tesniere, Lucien: Grundzüge der strukturalen Syntax. Herausgegeben und übersetzt von Ulrich Engel. Stuttgart: Klett-Cotta 1980, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 50/1 (1983), S. 109f. Heringer, Hans-Jürgen; Strecker, Bruno; Wimmer, Rainer: Syntax. Fragen Lösungen - Alternativen. München: Fink 1980 (UTB 251), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 50/2 (1983), S. 230-232. Mayer, Rolf: Ontologische Aspekte der Nominalsemantik. Tübingen: Niemeyer 1981 (Linguistische Arbeiten 104), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 50/3 (1983), S. 381-383. Mudersbach, Klaus: Kommunikation über Glaubensinhalte. Grundlagen der epistemischen Linguistik. Berlin; New York: de Gruyter 1984, in: Germanistik 6/2(1985), S. 243f. Pulman, S. G.: Word meaning and belief. London; Canberra: Croom Helm 1983, in: Germanistik 26/2 (1985), S. 244f. Techtmeier, Bärbel: Das Gespräch. Funktionen, Normen und Strukturen. Berlin: Akademie-Verlag 1984 (Sprache und Gesellschaft 19), in: Germanistik 26/2 (1985), S. 246f. Vennemann, Theo; Jacobs, Joachim: Sprache und Grammatik. Grundprobleme der linguistischen Sprachbeschreibung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982 (Erträge der Forschung 176), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 53/1 (1986), S. 80f. Fritz, Gerd; Muckenhaupt, Manfred: Kommunikation und Grammatik. Texte Aufgaben - Analysen. Tübingen: Narr 1981 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 163), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 53/2 (1986), S. 284f. Schwarze, Christoph; Wunderlich, Dieter (Hgg.): Handbuch der Lexikologie. Königstein: Athenäum 1985, in: Germanistik 27/3 (1986), S. 484. Tarvainen, Kalevi: Einführung in die Dependenzgrammatik. Tübingen: Niemeyer 1981 (Reihe Germanistische Linguistik 35), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 54/1 (1987), S. 98f. Diedrichs, Eva Pauline: Johann Bödikers Grund-Sätze der deutschen Sprache mit den Bearbeitungen von Johann Leonhard Frisch und Johann Jakob Wippel. Heidelberg: Winter 1983, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 54/1 (1987), S. 101-103. Spranz-Fogasy, Thomas: ,Widersprechen'. Zu Form und Funktion eines Aktivitätstyps in Schlichtungsgesprächen. Eine gesprächsanalytische Untersuchung. Tübingen: Narr 1986, in: Germanistik 28/2-3 (1987), S. 323.
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Franz Hundsnurscher
MUhlen, Ulrike: Talk als Show. Eine linguistische Untersuchung der Gesprächsführung in den Talkshows des deutschen Fernsehens. Frankfurt a. M.; Bern: Lang 1985, in: Germanistik 28/4 (1987), S. 762f. Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihre Erforschung. Hg. v. Werner Besch, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. 1. Halbband 1984, 2. Halbband 1985. Berlin; New York: de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hg. von Gerald Ungeheuer; Herbert Ernst Wiegand. Band 2.1; 2.2), in: Anzeiger für Deutsches Altertum und Deutsche Literatur 98/4 (1987), S. 143-171. Glindemann, Ralf: Zusammensprechen in Gesprächen. Aspekte einer konsonanztheoretischen Pragmatik. Tübingen: Niemeyer 1987 (Reihe germanistische Linguistik 73), in: Germanistik 29/2 (1988), S. 334. McKay, John C.: A Guide to Germanic Reference Grammars. The Modern Standard Languages. Amsterdam; Philadelphia: Benjamins 1984, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 55/1 (1988), S. 79f. Krohn, Dieter: Die Verben der menschlichen Körperbewegung im heutigen Deutsch. Syntaktisch-semantische und pragmatische Studien zur Struktur des Wortfelds und zu idiomatischen und metaphorischen Bedeutungsproblemen. Göteborg 1984 (Göteborger germanistische Forschungen 22), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 55/1 (1988), S. 96f. Korhonen, Jarmo (Hg.): Beiträge zur allgemeinen und germanistischen Phraseologieforschung. Internationales Symposium in Oulu 13.-15. Juni 1986. Oulu: Universität Oulu 1987 (Veröffentlichungen des Germanistischen Instituts 7), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 55/3 (1988), S. 382. Ortner, Hanspeter: Die Ellipse. Ein Problem der Sprachtheorie und Grammatikschreibung. Tübingen: Niemeyer 1987 (Reihe Germanistische Linguistik 80), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 55/3 (1988), S. 389-391. Heringer, Hans Jürgen: Lesen lehren lernen. Eine rezeptive Grammatik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer 1988, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 56/1 (1989), S. 79-81. Rachidi, Renate: Gegensatzrelationen im Bereich deutscher Adjektive. Tübingen: Niemeyer 1989 (Reihe Germanistische Linguistik 98), in: Leuvense Bijdragen 79 (1990), S. 346-348. Welke, Klaus: Einführung in die Valenz- und Kasustheorie. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1988, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 57/2 (1990), S. 233f. Breindl, Eva: Präpositionalobjekte und Präpositionalobjektsätze im Deutschen. Tübingen: Niemeyer 1989 (Linguistische Arbeiten 220); Thurmair, Maria: Modalpartikeln und ihre Kombinationen. Tübingen: Niemeyer 1989 (Linguistische
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Arbeiten 223), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 57/2 (1990), S. 234-236. Lutz, Benedikt; Wodak, Ruth: Information für Informierte. Linguistische Studien zu Verständlichkeit und Verstehen von Hörfunknachrichten. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1987, in: Journal of Pragmatics 14 (1990), S. 984-988. Preyer, Gerhard; Rom, Michael: Bedeutung und Gebrauch. Zu einer Theorie des Sprachverstehens. Frankfurt a. M.: Lang 1989, in: Germanistik 32/1 (1991), S. 23. Dentler, Sigrid: Verb und Ellipse im heutigen Deutsch. Zum »Fehlen* verbabhängiger Bestimmungen in Theorie und Praxis. Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis 1990, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 59/1 (1992), S. 92-94. Holly, Werner: Politikersprache. Berlin: de Gruyter 1990, in: Journal of Pragmatics 19 (1993), S. 376-380. Sommerfeldt, Karl-Ernst; Spiewok, Wolfgang (Hgg.): Zum Verhältnis von Lexik und Grammatik. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie 1989, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 61/3 (1994), S. 326f. Weinrich, Harald: Textgrammatik der deutschen Sprache. Unter Mitarbeit von Maria Thurmair, Eva Breindl, Eva-Maria Willkop. Mannheim u. a.: DudenVerlag 1993, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 22 (1994), S. 362368. Knowledge and Language. Vol. 1: Reuland, Eric; Abraham, Werner (Hgg.): From Orwell's problem to Plato's problem. Vol. 2: Reuland, Eric; Abraham, Werner (Hgg.): Lexical and conceptual structure. Vol. 3: Ankersmit, F. R.; Mooij, J. J. A. (Hgg.): Metaphor and knowledge. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers 1993, in: Germanistik 36/1 (1995), S. 34f. Hoffmann, Ludger (Hg.): Deutsche Syntax - Ansichten und Aussichten. Berlin; New York: de Gruyter 1992, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 62/3(1995), S. 343f. Zaefferer, Dietmar (Hg.): Semantic Universals and Universal Semantics. Berlin; New York: Foris Publications 1991, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 62/3 (1995), S. 331-333. Auburger, Leopold: Sprachvarianten und ihr Status in den Sprachsystemen. Hildesheim; Zürich; New York: Olms 1993, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 64/2 (1997), S. 232f. Engel, Ulrich: Syntax der deutschen Gegenwartssprache. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin: Schmidt 1994 (Grundlagen der Germanistik 22), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 66/1 (1999), S. 61.
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Sommerfeldt, Karl-Ernst; Schreiber, Herbert: Wörterbuch der Valenz etymologisch verwandter Wörter. Verben, Adjektive, Substantive. Tübingen: Niemeyer 1996, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 66/2 (1999), S. 233f. Peyer, Ann: Satzverknüpfungen - syntaktische und textpragmatische Aspekte. Tübingen: Niemeyer 1997 (Reihe Germanistische Linguistik 178), in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 66/3 (1999), S. 335f.
4. Herausgegebene Schriften „Getempert und gemischet" für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag von seinen Tübinger Schülern. Göppingen: Kümmerle 1972. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 65) [zusammen mit Ulrich Müller] Wernher von Gartenaere: Helmbrecht. Abbildungen zur gesamten handschriftlichen Überlieferung. Göppingen: Kümmerle 1972. (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 6) Linguistische Ernte: Aus dem Deutschen Seminar der Universität Tübingen. Tübingen 1973. [zusammen mit Gerd Fritz] Das Verkaufs-/Einkaufs-Gespräch. Eine Linguistische Analyse. Stuttgart: Akademischer Verlag Heinz 1985. (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 155) [zusammen mit Wilhelm Franke] Dialoganalyse. Referate der 1. Arbeitstagung, Münster 1986. Tübingen: Niemeyer 1986. (Linguistische Arbeiten 176) [zusammen mit Edda Weigand] Dialoganalyse II. Referate der 2. Arbeitstagung, Bochum 1988. Bd. 1-2. Tübingen: Niemeyer 1989. (Linguistische Arbeiten 299-230) [zusammen mit Edda Weigand] Dialoganalyse III. Referate der 3. Arbeitstagung, Bologna 1990. Teil 1-2. Tübingen: Niemeyer 1991. (Beiträge zur Dialogforschung 1-2) [zusammen mit Sorin Stati und mit Edda Weigand] Metapherngebrauch. Linguistische und hermeneutische Analysen literarischer und diskursiver Texte. Münster: Waxmann 1993. [zusammen mit Helmut Arntzen] Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen: Niemeyer 1994. [zusammen mit Gerd Fritz] Lexikon der deutschen Sprachwissenschaft. Tokyo: Kinokuniya 1994. [zusammen mit Eijirö Iwasaki; Yoshihiko Ikegami]
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Future Perspectives of Dialogue Analysis. Tübingen: Niemeyer 1995. (Beiträge zur Dialogforschung 8) [zusammen mit Edda Weigand] Lexical Structures and Language Use. Proceedings of the International Conference on Lexicology and Lexical Semantics, Münster, September 13-15, 1994. Vol. 1: Plenary Lectures and Session Papers. Vol. 2: Session Papers. Tübingen: Niemeyer 1995. (Beiträge zur Dialogforschung 9-10) [zusammen mit Edda Weigand] Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Berlin; New York: de Gruyter (erscheint demnächst), [zusammen mit D. Alan Cruse, Michael Job und Peter Rolf Lutzeier] Pragmatische Syntax. Tübingen: Niemeyer (erscheint demnächst), [zusammen mit Frank Liedtke]
5. Herausgegebene Reihen Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Göppingen: Kümmerle 1968ff. [zusammen mit Ulrich Müller und Cornelius Sommer] Göppinger Akademische Beiträge. Göppingen: Kümmerle 1969ff. [zusammen mit Ulrich Müller und K. Werner Jauss] Germanistische Arbeitshefte. Tübingen: Niemeyer 1970ff. [zusammen mit Otmar Werner, seit 1998 zusammen mit Gerd Fritz] Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte. Göppingen: Kümmerle 1971 ff. [zusammen mit Ulrich Müller und Cornelius Sommer] Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. Stuttgart: Akademischer Verlag 1975ff. [zusammen mit Ulrich Müller und Cornelius Sommer] Beiträge zur Dialogforschung. Tübingen: Niemeyer 1991 ff. [zusammen mit Edda Weigand] Universität Münster (Hgg.): Münstersches Linguistisches Logbuch. Neue Folge. Münster: Lit 1992ff. [als Mitglied im Vorstand des Sprachenzentrums für Sprachforschung und Sprachlehre i. G.]
Von Franz Hundsnurscher betreute Dissertationen
Hindelang, Götz: Auffordern. Die Untertypen des Aufforderns und ihre sprachlichen Realisierungsformen. Göppingen: Kümmerle 1978. (Diss. Münster 1978) Apeltauer, Ernst: Elemente und Verlaufsformen von Streitgesprächen. Eine Analyse von Texten und Tonbandprotokollen unter sprechhandlungstheoretischen Gesichtspunkten. Diss. Münster 1978. Beyer, Arno: Deutsche Einflüsse auf die englische Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert. Göppingen: Kümmerle 1981. (Diss. Münster 1980) Diesing, Monika: Lokatoren. Syntaktische und semantische Studien unter besonderer Berücksichtigung der adnominalen Lokatoren. Göppingen: KUmmerle 1982. (Diss. Münster 1980) Zillig, Werner: Bewerten. Sprechakttypen der bewertenden Rede. Tübingen: Niemeyer 1982. (Diss. Münster 1981) Rolf, Eckard: Sprachliche Informationshandlungen. Göppingen: KUmmerle 1983. (Diss. Münster 1982) Franke, Wilhelm: Insistieren. Eine linguistische Analyse. Göppingen: Kümmerle 1983. (Diss. Münster 1982) Adamzik, Kirsten: Sprachliches Handeln und sozialer Kontakt. Zur Integration der Kategorie „Beziehungsaspekt" in eine sprechakttheoretische Beschreibung des Deutschen. Tübingen: Narr 1984. (Diss. Münster 1982) Robering, Klaus: Die deutschen Verben des Sehens. Eine semantische Analyse. Göppingen: Kümmerle 1985. (Diss. Münster 1984) Niehüser, Wolfgang: Redecharakterisierende Adverbiale. Göppingen: Kümmerle 1987. (Diss. Münster 1986) Tillmann, Alexander: Ausgewählte Textsorten politischer Sprache. Eine linguistische Analyse parteilichen Sprechens. Göppingen: Kümmerle 1989. (Diss. Münster 1989) Graffe, Jürgen: Sich Festlegen und Verpflichten. Die Untertypen kommissiver Sprechakte und ihre sprachlichen Realisierungsformen. Münster u.a.: Waxmann 1990. (Diss. Münster 1989) Neuhaus, Gisela Maria: Justus Georg Schottelius: Die Stammwörter der Teutschen Sprache Samt dererselben Erklärung und andere die Stammwörter betreffende Anmerkungen. Eine Untersuchung zur frühneuhochdeutschen Lexikologie. Göppingen: Kümmerle 1991. (Diss. Münster 1989)
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Marten-Cleef, Susanne: Gefühle ausdrücken. Die expressiven Sprechakte. Göppingen: Kümmerle 1991. (Diss. Münster 1990) Karabalio, Vladimir: „Ohne Worte Dinge tun". Zu einer Theorie nonverbaler kommunikativer Akte. Göppingen: Kümmerle 1994. (Diss. Münster 1994) Benthem, Barbara van: Die laienmedizinische Fachsprache im Spiegel therapeutischer Hausbücher des 18. Jahrhunderts. Göppingen: Kümmerle 1995 (Diss. Münster 1994) Frilling, Sabine: Textsorten in juristischen Fachzeitschriften. Münster u. a.: Waxmann 1995. (Diss. Münster 1994) Kim, Kab-Nyun: Leserzuschrift als textlinguistisches Objekt: Unter besonderer Berücksichtigung der Wortbildungskonstruktionen mit einem gleichen StammMorphem zum Zwecke der Textkohärenz. Münster u. a.: Waxmann 1996. (Diss. Münster 1996) Kang, Chang-Uh: Die sogenannten Kausalsätze des Deutschen. Eine Untersuchung erklärenden, begründenden, rechtfertigenden und argumentierenden Sprechens. Münster u.a.: Waxmann 1996. (Diss. Münster 1996) Keller, Petra: Der innerbetriebliche Zielvereinbarungsdialog als ergebnisorientiertes Führungselement. Eine linguistische Analyse. Münster u. a.: Waxmann 1997. (Diss. Münster 1996) Wolf, Georg: Parteipolitische Konflikte. Geschichte, Struktur und Dynamik einer Spielart der politischen Kommunikation. Tübingen: Niemeyer 1998. (Diss. Münster 1997) Beckmann, Susanne: Die Grammatik der Metapher. Eine gebrauchstheoretische Untersuchung des metaphorischen Sprechens. Diss. Münster 1997. Hauenherm, Eckhard: Pragmalinguistische Aspekte des dramatischen Dialogs im 18. Jahrhundert in Deutschland. Eine dialoganalytische Untersuchung zu Gottscheds Sterbender Cato, Lessings Emilia Galotti und Schillers Die Räuber. Diss. Münster 1998.