Sprachskepsis und Poetologie: Goethes Romane ‚Die Wahlverwandtschaften‘ und ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘ 9783484970373, 9783484151161

In his late novels, Goethe formulates a profound critique of language and thus challenges his own capacity to represent.

249 80 1MB

German Pages 240 Year 2008

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Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Sprachskeptische Horizontbildung
III. ›Die Wahlverwandtschaften‹
IV. ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹
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Sprachskepsis und Poetologie: Goethes Romane ‚Die Wahlverwandtschaften‘ und ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘
 9783484970373, 9783484151161

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MLLER

BAND 116

CHRISTIAN MITTERM LLER

Sprachskepsis und Poetologie Goethes Romane ›Die Wahlverwandtschaften‹ und ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹

n MAX NIEMEYER VERLAG T BINGEN 2008

Die vorliegende Arbeit wurde von der Studienstiftung des deutschen Volkes mit einem Promotionsstipendium gefçrdert. Gedruckt mit Unterst3tzung des Fçrderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Dissertation, Albert-Ludwigs-Universit8t Freiburg, Wintersemester 2005/2006 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet 3ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-484-15116-1

ISSN 0440-7164

B Max Niemeyer Verlag, T3bingen 2008 Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch3tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul8ssig und strafbar. Das gilt insbesondere f3r Vervielf8ltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest8ndigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Sprachskeptische Horizontbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sprachskepsis um 1900 – Nietzsche, Mauthner, Hofmannsthal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Friedrich Nietzsche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Fritz Mauthner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Hugo von Hofmannsthal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sprachskepsis um 1800 – Herder, Lichtenberg, Goethe . . . . . 2.1. Johann Gottfried Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Georg Christoph Lichtenberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Johann Wolfgang Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Die ›Wahlverwandtschaften‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Kapitel I, 4 als sprachskeptisches Zentrum der ›Wahlverwandtschaften‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die Sprachskepsis im Kontext der Ordnungs-Thematik . . . . 1.2. Die sprachskeptische Dimension der chemischen Gleichnisrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als Experimentalroman? – Zur poetologischen Valenz der Sprachskepsis. . . . . . . . . . . . . 3. Problematisiertes Verstehen als Konsequenz der Sprachskepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Novellistische Narration und mimetische Repräsentation – Das Gegensatzverhältnis zwischen den ›Wunderlichen Nachbarskindern‹ und der ›camera obscura‹ des englischen Lords. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erstarrtes Leben und verlebendigte Kunst – Zur ästhetischen Dialektik der ›tableaux vivants‹ . . . . . . . . . . 5.1. Der Kunst-Charakter der ›tableaux vivants‹ vor dem Hintergrund der ästhetischen Schriften Goethes . . . . . . . . . . 5.2. Der bildimmanente Betrachter. Intertextuelle Bezüge und rezeptionsästhetische Implikationen der ›tableaux vivants‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V

5.3.

6. IV.

Dilettantische Reproduktion versus produktive Literarisierung – Zum Gegensatzverhältnis von figuraler Inszenierungstechnik und textueller Praxis . . . . . . . . . . . . . . 137 »Zeugnis für eine entfernte Nachwelt« – Die poetologische Valenz der Grundsteinlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Wilhelm Meisters Wanderjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erzählte Bilder – Zum Wechselspiel zwischen sprachlichen und bildkünstlerischen Zeichen in der Josephsgeschichte . . . 1.1. Die Josephsfamilie in der Wahrnehmung Wilhelms. . . . . . . . 1.2. Bilder als Lebensmodell – Josephs ›imitatio‹ . . . . . . . . . . . . . 2. Konkurrierende Semiotechniken – Utilitaristische Bezeichnungsgewißheit und poetologische Signifikationsskepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Repräsentationsformen des Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Der Bezirk des Oheims . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Die Pädagogische Provinz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Poetologisch grundierte Repräsentationskritik . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Sprachskeptische Elemente im Eröffnungsdialog, in Wilhelms Briefen an Natalie sowie in der Naturschrift-Konzeption Jarno-Montans . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Leerstellen und Ambivalenzen – Die Quellen-Basis der Archivfiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Sprachskeptische Poetologie – Zur Polyvalenz des Kästchen-Zeichens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

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I. Einleitung

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Die Sprache unserer Gegenwart scheint sich von ihren Basis-Funktionen zunehmend zu verabschieden. Sie kommt ihrer Aufgabe der Repräsentation von Wirklichkeitserfahrungen kaum mehr nach und dient auch immer weniger der intersubjektiven Verständigung. Dieser sich beschleunigende Funktionsverlust tritt am verbalen Material der Umgangssprache besonders deutlich hervor, die – wie Uwe Pörksen in einschlägigen Analysen vor allem auf der Ebene des Wortschatzes herausgearbeitet hat – Züge der Illusionsbildung und der Verunklärung aufweist.1 Besonders treffend diagnostiziert Pörksen diesen Sachverhalt anhand der von ihm eingeführten Kategorie der »Plastikwörter«, die aus der Wissenschaftssprache in die Alltagssprache übergehen und dort, vom jeweiligen Sprecher weitgehend unverstanden, als zwar prestigeträchtige, aber inhaltsarme und abstrakte Stereotype Verwendung finden. Die international zirkulierenden Plastikwörter, zu denen Pörksen etwa die Begriffe »Kommunikation«, »Information«, »Management« und »Modernisierung« rechnet2 und die als eine Art »Legosprache« beliebig miteinander kombinierbar erscheinen,3 führen zu einer kognitiven Entmündigung ihrer Benutzer, denen die Definitionsmacht über die eigene Rede abhanden kommt: Sie bedienen sich einer weitgehend unverstandenen Terminologie im blinden Vertrauen auf deren durch Expertenwissen abgesicherte Korrektheit.4 Dabei verstellt das abstrakte und bedeutungsleere Vokabular der Plastikwörter den Blick auf die konkrete Lebensrealität und hat insofern einen erkenntnishemmenden Charakter.5

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Uwe Pörksen: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart 41992; Uwe Pörksen: Das Demokratisierungsparadoxon. Die zweifelhaften Vorzüge der Verwissenschaftlichung und Verfachlichung unserer Sprache. In: U.P.: Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien. Tübingen 1986, S. 202–221; Uwe Pörksen: Vom pseudowissenschaftichen Jargon. In: U.P.: Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Untersuchungen zu Geschichte und Gegenwart. Tübingen 1994, S. 265–274. Eine Zusammenfassung der Thesen Pörksens bietet Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart. München 1998, S. 256–258 u. S. 273–282. Uwe Pörksen: Plastikwörter, S. 41. Ebd., S. 113. Vgl. dazu ebd., S. 30 u. S. 89f. Für Pörksen marginalisiert das terminologische System der Plastikwörter die individuellen Erlebnisse und Empfindungen der einzelnen Sprecher: Es »verführt dazu, das Wichtigste zu übersehen«; mit seiner Hilfe »entzieht [...] der Experte [...] die Wirklichkeit den Sinnen« (ebd., S. 102).

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Die Diagnose der Unzulänglichkeit verbalen Bezeichnens ist allerdings keineswegs eine Eigenheit unserer Gegenwart. So konstatiert die germanistische Literaturgeschichtsschreibung bereits für die deutschsprachigen Autoren um 1900 eine tiefgreifende Sprachkrise,6 die nicht selten zur Initialerfahrung modernen Dichtens deklariert wird. Weniger bekannt, wenngleich von einer gerade erschienenen Monographie erstmals in einem repräsentativen Querschnitt untersucht,7 ist die Tatsache, daß bereits zahlreiche Texte der »Sattelzeit«8 um 1800 durch eine ausgeprägte Sprachskepsis gekennzeichnet sind. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Namensgeber dieser auch ›Goethezeit‹ genannten Epoche, der in seinem umfangreichen Œuvre immer wieder, zumeist anlaßbezogen und in aphoristischer Kürze, auf die Defizite der Sprache hinweist. Die Sprachreflexionen in Goethes theoretischen Schriften sind von der Forschung eingehend analysiert9 und inzwischen sogar zu einer kleinen Anthologie zusammengestellt worden.10 Die Entfaltung der Sprachthematik in seinen fiktionalen Werken fand bislang dagegen nur geringe Beachtung. Mit Fragen nach der Auswirkung sprachskeptischer Einsichten des Autors auf die Faktur seiner Dichtungen hat sich die Forschung meines Wissens selten befaßt. Das ist nicht zuletzt deshalb erstaunlich, weil Goethe mit dem kritischen Blick auf das verbale Ausdruckspotential zugleich auch die Darstellungskapazität des eigenen dichterischen Mediums zur Disposition stellt.

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Vgl. dazu die grundlegenden Studien von Günter Saße und Dirk Göttsche (Günter Saße: Sprache und Kritik. Untersuchungen zur Sprachkritik der Moderne. Göttingen 1977; Dirk Göttsche: Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa. Frankfurt a. M. 1987). Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel. Zur Sprachskepsis in der deutschen Literatur um 1800. Tübingen 2005. Reinhart Koselleck: Vorwort. In: R.K.: Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart 1977, drei nicht numerierte Seiten, hiervon S. 2. Die folgenden älteren Arbeiten sind heute vorwiegend als Materialsammlungen von Interesse: Ewald A. Boucke: Wort und Bedeutung in Goethes Sprache. Berlin 1901; Georg Rausch: Goethe und die deutsche Sprache. Leipzig, Berlin 1909; Johannes Seiler: Die Anschauungen Goethes von der deutschen Sprache. Stuttgart 1909. Spätere Abhandlungen unterziehen das von der älteren Forschung gesammelte Material erhellenden Analysen: Hans Rudolf Schweizer: Goethe und das Problem der Sprache. Einsiedeln 1959; Wolfgang Schadewaldt: Wort und Sache im Denken Goethes. In: W.S.: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur. 2 Bde. Bd. 2. Zürich, Stuttgart 1970, S. 117–126; Josef Simon: Goethes Sprachansicht. In: Jb. des Freien Deutschen Hochstifts 1990, S. 1–27; Alan Corkhill: Zum Sprachdenken Goethes in beziehungsgeschichtlicher Hinsicht. In: Neophilologus 75 (1991), S. 239–251; Uwe Pörksen: Wissenschaftssprache und Sprachauffassung bei Linné und Goethe. In: U.P.: Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien. Tübingen 1986, S. 72–96; Uwe Pörksen: »Alles ist Blatt«. Über Reichweite und Grenzen der naturwissenschaftlichen Sprache und Darstellungsmodelle Goethes. In: U.P.: Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Untersuchungen zu Geschichte und Gegenwart. Tübingen 1994, S. 109–130; Uwe Pörksen: Die Selbstüberwachung des Beobachters. Goethes Naturwissenschaft als Brückenschlag zwischen menschlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Methode. In: Goethe–Jb. 118 (2001), S. 202–215. Johann Wolfgang Goethe: Über Sprache. Hg. v. Volker Ladenthin. Eitorf 1999.

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Die vorliegende Studie will den Zusammenhang zwischen Sprachskepsis und Poetologie anhand der beiden Romane ›Die Wahlverwandtschaften‹ und ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ untersuchen, handelt es sich doch bei diesen beiden Werken um Dichtungen, die zum einen in expliziter Weise sprachkritische Positionen formulieren und zum anderen durch ein hohes Maß an poetologischer Selbstreflexivität gekennzeichnet sind. Darüber hinaus scheint diese Werkauswahl auch dadurch gerechtfertigt, daß beide Texte hinsichtlich ihrer Genese eng miteinander verknüpft sind,11 von der Forschung aber kaum je unter einem verbindenden Gesichtspunkt betrachtet wurden.12 Den analytischen Schwerpunkt der vorliegenden Studie bilden – der skizzierten Fragestellung entsprechend – diejenigen Passagen und Konstellationen in Goethes späten Romanen, die nicht nur unter sprachskeptischen Gesichtspunkten relevant erscheinen, sondern zudem eine poetologische Valenz aufweisen. Ferner werden auch solche poetologischen Aspekte und Symbolelemente der beiden Romane in den Gang der Untersuchung einbezogen, die selbst keinen unmittelbar sprachskeptischen Aussagewert besitzen, gleichwohl aber als Konsequenz der jeweils an anderer Stelle romanimmanent formulierten Sprachskepsis verstanden werden können oder zumindest mit dieser in Wechselwirkung stehen. Die von einer unhintergehbaren Polyvalenz und einer signifikativen Defizienz der Worte ausgehende sprachskeptische Grundhaltung Goethes, so die im folgenden durch genaue Textanalysen zu fundierende Hypothese der vorliegenden Studie, führt im Fall der ›Wahlverwandtschaften‹ und der ›Wanderjahre‹ zur Herausbildung einer Konzeption des offenen Kunstwerks,13 wobei sich der Zusammenhang zwischen Sprachskepsis und Dichtungsauffassung aus zahlreichen poetologisch selbstreflexiven Passagen beider Romane rekonstruieren läßt. Im Hinblick auf die Begriffe »Sprachkritik« und »Sprachskepsis«, die im folgenden weitgehend synonym verwendet werden sollen, erscheint eine terminologische Konkretisierung notwendig. In der literaturwissenschaftlichen Sprachskepsis-Forschung hat sich die Verwendung einer binären Typologie etabliert, die Günter Saße entwickelt hat. Saße unterscheidet zwischen der

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Goethe hat die ›Wahlverwandtschaften‹ wie allgemein bekannt ursprünglich als Binnen-Novelle der ›Wanderjahre‹ konzipiert. So gibt es, abgesehen von Überblicksdarstellungen, die sich mit allen vier Romanen Goethes beschäftigen, meines Wissens keine Monographie, welche die ›Wahlverwandtschaften‹ und die ›Wanderjahre‹ vergleichend analysiert. Der Begriff des »offenen Kunstwerks« wird hier im Sinne Umberto Ecos verwendet. Für Eco ist zunächst jedes ästhetische Erzeugnis – unabhängig von der Epoche, aus der es stammt – durch eine »fundamentale Ambiguität« gekennzeichnet (Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Übers. v. Günter Memmert. Frankfurt 81998, S. 11). Das »offene Kunstwerk«, das Eco als ein spezifisch modernes Phänomen begreift, zeichnet sich nun dadurch aus, daß es diese generelle ästhetische Ambiguität steigert, indem es eine bewußte Inszenierung von Mehrdeutigkeit mit der Reflexion über deren rezeptionsästhetische Konsequenzen verbindet.

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Literatur einer »sprachtraditionelle[n] Moderne«, die »auf der Grundlage der ontologischen Bedeutungstheorie sprachkritisch ist«, und der Literatur einer »sprachdemonstrative[n] Moderne«, die »auf der Grundlage der pragmatischen Bedeutungstheorie sprachkritisch ist«.14 Während die ontologische Bedeutungstheorie davon ausgehe, daß die Sprache auf eine außersprachliche Realität referiert, basiere die pragmatische Bedeutungstheorie auf der Annahme der Unhintergehbarkeit von Sprache, die als Erkenntnisapriori aufgefaßt wird.15 Goethes Sprachkritik, die in Saßes Studie unerwähnt bleibt, läßt sich durchgängig dem ersten Typus zurechnen, der die Sprache hinsichtlich ihrer Repräsentationsfunktion problematisiert, indem er die Angemessenheit der verbalen Wiedergabe sprachexterner Phänomene in Zweifel zieht und damit das designative Potential der Sprache relativiert. Eine solche Art von Sprachkritik, die tendenziell auf einer nominalistische Auffassung basiert,16 ist vornehmlich auf der Ebene der Semantik angesiedelt. Durch eine von Johannes Roggenhofer eingeführte Differenzierung läßt sich die Eigentümlichkeit der für die Analyse der beiden Goetheschen Romane relevanten Sprachkritik indes noch genauer profilieren. Roggenhofer unterscheidet zwischen einer »epistemische[n] Sprachtheorie«, der es um die Frage geht, »was sich eigentlich sprachlich ausdrücken läßt«, und einer »normativen [...] Stiltheorie«, die Anleitungen und Regeln entwirft, »wie etwas sprachlich ausgedrückt werden soll«.17 Während einige Bemerkungen Goethes über die naturwissenschaftliche Sprache durchaus als Prolegomena zu einer normativen Stiltheorie gelesen werden können, dominiert in den ›Wahlverwandtschaften‹ und den ›Wanderjahren‹ die epistemische Spielart der Sprachkritik, deren Interesse der generellen, von stilistischen Fragestellungen weitgehend unabhängigen Defizienz verbalen Bezeichnens gilt. Für die beiden späten Romane Goethes ist, so läßt sich in der Terminologie der neueren Forschung zur Sprachskepsis zusammenfassen, in erster Linie die epistemische Variante der ontologischen Sprachkritik relevant. Auch die Verwendungsweise des Poetologie-Begriffs verlangt eine einleitende definitorische Klärung. Im Rahmen der vorliegenden Studie geht es 14 15

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Günter Saße: Sprache und Kritik, S. 7f. Dirk Göttsche übernimmt den typologischen Befund Saßes, modifiziert aber dessen Terminologie, indem er statt der Gegenüberstellung von ontologisch-sprachtraditioneller und pragmatisch-sprachdemonstrativer Moderne eine »repäsentationssemantische« von einer »gebrauchssemantischen Sprachskepsis« unterscheidet (Dirk Göttsche: Zur Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa, S. 26). Ein ausführliches Referat der Sprachskepsisforschung und ihrer Typologisierungsmodelle bietet Dieter Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists. Göttingen 2003, S. 26–35; vgl. dazu zusammenfassend Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 9, Anm. 2. Obgleich Goethe in seinen sprachskeptischen Äußerungen vornehmlich nominalistisch argumentiert, läßt sich sein Sprachverständnis, das gelegentlich auch Spuren der realistischen Gegenposition aufweist, nicht generell auf eine bestimmte Konzeption festlegen. Johannes Roggenhofer: Zum Sprachdenken Georg Christoph Lichtenbergs. Tübingen 1992, S. 32.

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nicht darum, aus Goethes späten Romanen allgemeingültige oder gar normative Aussagen über das Wesen der Dichtung zu extrahieren; im Mittelpunkt der poetologischen Analysen stehen vielmehr jene Passagen, die als textuelle Autothematisierung gelesen werden können, die also die je individuelle Eigenart des Werkes, dem sie entstammen, reflektieren. Dabei beschränkt sich die vorliegende Arbeit ausdrücklich auf eine Untersuchung jener poetologischen Reflexionen, die mit den textimmanent entfalteten sprachskeptischen Anschauungen korrelierbar sind. Diese relationale Eingrenzung limitiert das mit dem Poetologie-Begriff verbundene weitgespannte Themenspektrum ästhetischer Selbstvergewisserung:18 So bleiben etwa Fragen der Legitimation des Dichtens, des Verhältnisses zwischen Dichterexistenz und Alltagsrealität sowie des politisch-gesellschaftlichen Wirkungspotentials literarischer Texte unberücksichtigt. Statt dessen fokussieren die poetologischen Erwägungen der vorliegenden Studie insbesondere Fragen der leserseitigen Deutbarkeit des Kunstwerks, welche in den beiden untersuchten Romanen Goethes unter anderem anhand von textimmanenten Definitionsakten, fiktional durchgespielten Rezeptionsmodellen und der Gegenüberstellung von bildkünstlerischer Repräsentation und dichterischer Narration verhandelt werden. Darüber hinaus erfahren jene symbolischen Ordnungen eine besondere Aufmerksamkeit, vermittels derer sowohl die ›Wahlverwandtschaften‹ als auch die ›Wanderjahre‹ das Konzept eines dem Text qua Autorintention implantierten stabilen Sinngebungs- und Semantisierungsmusters subvertieren und damit die Vorstellung eines eigentlichen Gehalts, der jenseits der je individuellen Rezeptionshorizonte verläßlich rekonstruierbar wäre, verabschieden.19 Nicht zuletzt wird es in diesem Zusammenhang auch um einige produktionsästhetisch dimensionierte poetologische Implikationen gehen, welche die unvermeidliche Bedeutungsverschiebung bei der narrativen Verarbeitung vorgeformter Traditionsbestände thematisieren. Sowohl die ›Wahlverwandtschaften‹ als auch die ›Wanderjahre‹ sind von der Forschung hinsichtlich der Sprachkritik und ihrer Auswirkungen auf die romanimmanente Poetologie bislang allenfalls punktuell in den Blick genommen 18

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Ein umfassender Überblick über die Bandbreite möglicher poetologischer Fragestellungen findet sich in der Einleitung der aspektreichen Wilhelm-Meister-Monographie von Mathias Mayer, der auf sprachskeptische Erwägungen allerdings nicht eingeht (Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion. Selbstreflexion und Legitimation der Dichtung im ›Wilhelm Meister‹. Heidelberg 1989, S. 1–6). Für eine Zusammenfassung poetologischer Themenfelder im Bereich der Lyrik siehe die Ausführungen von Olaf Hildebrand und Sandra Pott (Olaf Hildebrand: Einleitung. In: O.H. [Hg.]: Poetologische Lyrik. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 1–15, hier bes. S. 3f. u. S. 11–15; Sandra Pott: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin, New York 2004, S. 10–14). Damit soll keinesfalls eine Beliebigkeit der Auslegungen behauptet werden. Die vorliegende Studie orientiert sich vielmehr – trotz der Akzentuierung jenes pluralen Sinn-Potentials, welches die beiden untersuchten Romane Goethes ihren Lesern eröffnen – am Verifikationskriterium interpretatorischer Plausibilität, dem durch detaillierte Textanalysen Rechnung zu tragen ist.

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worden. Während Andrea Bartl in ihrem umfangreichen Kapitel über »Johann Wolfgang Goethe und die Unzulänglichkeit der Sprache«20 die beiden Romane erstaunlicherweise vollkommen ignoriert und sich statt dessen mit dem ›Götz‹ und dem ›Egmont‹ auf zwei Texte konzentriert, die für ihre Fragestellung wenig ergiebig sind,21 werden Einzelaspekte der Sprachthematik der ›Wahlverwandtschaften‹ und der ›Wanderjahre‹ in einigen Spezial-Abhandlungen untersucht.22 Der wichtigste dieser Beiträge stammt von Uwe Pörksen,23 der die chemische Gleichnisrede24 der ›Wahlverwandtschaften‹ in den Horizont einer aus verschiedenen naturwissenschaftlichen Schriften Goethes rekonstruierten Metaphernkritik stellt. Kern dieser Metaphernkritik ist für Pörksen die Warnung vor

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Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 101–183. Überzeugend hebt Bartl in ihren Analysen der beiden Dramen die Götz und Egmont gemeinsame Abneigung gegen das geschriebene Wort hervor (ebd., S. 107f. u. S. 117), die in den einschlägigen schriftkritischen Äußerungen Goethes einen aufschlußreichen Widerhall findet (vgl. dazu Johann Wolfgang Goethe: Aphorismen. In: J. W. G.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe (im folgenden zitiert als FA). 40 Bde. Hg. v. Friedmar Apel u. a. Bd. 13. Hg. v. Harald Fricke. Frankfurt a. M. 1993, S. 9–107, hier S. 74f. sowie Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: FA 14, S. 9–852, hier S. 486). Allerdings vermag Bartls Versuch, gerade diese beiden Dramen im Horizont der Sprachkritik zu situieren, trotz zahlreicher innovativer Einzelbeobachtungen nicht zu überzeugen – zu häufig werden Sachverhalte und Handlungselemente, die in ihrem jeweiligen szenischen Kontext eigentlich auf individuelle Bedingtheiten der Figuren oder auf konkrete politische Mißstände zurückzuführen sind, zu Indikatoren einer sprachskeptischen Haltung deklariert. So stellt etwa die von Götzens Sohn Carl im ersten Akt erzählte Geschichte »vom frommen Kind« (Johann Wolfgang Goethe: Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand. In: FA 4, S. 125–248, hier S. 136f.) m. E. keinen Beleg für eine generelle »Sinnentleertheit der Worte« dar (Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 106), sondern verweist auf die mentale Unzulänglichkeit des Knaben, der – so wird bereits bei seinem ersten Auftreten deutlich – die für seinen Vater kennzeichnende Lebensform des freien Reichsritters niemals wird fortführen können. Auch die für verschiedene Passagen des ›Götz‹ charakteristische »Diskrepanz von Erzähltem und auf der Bühne Gezeigtem« läßt sich wohl kaum als »Zerfallssymptom des Sprachsystems« werten (ebd., S. 114f.), sondern geht zumeist auf eine bewußte Täuschungsstrategie des jeweiligen Sprechers zurück – die Existenz lügenhafter Sprechakte setzt keineswegs einen vorgängigen Sprachzerfall voraus! Ähnliches gilt für die von Bartl vorgenommene Bewertung der Sprache Albas im Egmont, deren inhumaner Charakter eher ein Epiphänomen der von dieser Figur verkörperten absolutistischen Herrschaftsform als einen Beleg für die »destruktive Komponente verbaler Zeichenprozesse« darstellt (ebd., S. 118). Im folgenden werden nur diejenigen Beiträge referiert, die sich mit der Sprachthematik der beiden Romane befassen, da diese auch den Ausgangspunkt meiner Analysen bildet. Die Auseinandersetzung mit den Publikationen zur Poetologie beider Texte, denen ich insbesondere im Fall der ›Wanderjahre‹ zahlreiche Anregungen verdanke, findet in den einzelnen Kapiteln der vorliegenden Studie statt. Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Jb. der deutschen Schillergesellschaft 25 (1981), S. 285–315. Der von Goethe in seiner Selbstanzeige der ›Wahlverwandtschaften‹ verwendete Begriff der »chemische[n] Gleichnisrede« (Johann Wolfgang Goethe: Notiz. In: FA 8, S. 974) bezeichnet im folgenden das um die Begriffe »Verwandtschaft« und »Wahlverwandtschaft« kreisende berühmte Gespräch zwischen Eduard, Charlotte und dem Hauptmann aus dem vierten Kapitel des ersten Romanteils.

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einer »Sphärenvermengung«,25 die im metaphorischen Sprachgebrauch durch die semantische Interferenz von Bildspender und Bildempfänger die Grenzen zwischen organischem und anorganischem Natur-Bereich verwische. Allerdings lehne Goethe das metaphorische Sprechen nicht ›in toto‹ ab, sondern plädiere für eine die eigene Bildlichkeit deutlich markierende Diktion, welche in der Naturbeschreibung eine »Synthese [von] Unterscheiden und Verbinden, Empirie und Theorie« ermögliche.26 Pörksens Versuch, diesen für die naturwissenschaftliche Sprache Goethes zweifellos zutreffenden Befund auf die Analyse der chemischen Gleichnisrede zu übertragen, scheint allerdings in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen reduziert er die implizite Sprachreflexion dieses fiktionalen Gesprächs auf die Problematik der »Vorzüge und Gefahren von Analogien und Metaphern«27 und verkennt dadurch dessen wesentlich weiter reichende sprachskeptische Stoßrichtung, die durch eine am Beispiel der Termini »Verwandtschaft« und »Wahlverwandtschaft« geradezu modellhaft vorgeführte Destabilisierung verbaler Semantik konstituiert wird. Zum anderen führt Pörksens Verquickung von metapherntheoretischen und moralischen Kategorien zu eindimensionalen Werturteilen, die mit dem von Ironie und skeptischer Urteilsenthaltung geprägten erzählerischen Verfahren der ›Wahlverwandtschaften‹ kaum zu vereinbaren sind.28 Vor Uwe Pörksen hat sich bereits Thomas Fries mit den sprachkritischen Implikationen der chemischen Gleichnisrede auseinandergesetzt.29 Ähnlich wie Pörksen, allerdings ohne dessen durch Goethes naturwissenschaftliche Schriften abgesteckten intertextuellen Bezugsrahmen, fokussiert Fries seine Lektüre auf den metaphorischen Charakter der Gleichnisrede, deren zentralen Begriff der »Wahlverwandtschaft« er als »Metapher der Metapher« zu bestimmen versucht.30 Der Sache nach überzeugend, wenn auch ohne ausreichende Textarbeit, wird auf das semantische Changieren dieses figurativen Terminus’ hingewiesen, dessen Referenzbereich sich im Laufe des Gesprächs von den »Naturphäno-

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Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaflticher Metaphorik und der Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 289. Ebd., S. 290. Ebd., S. 285. So wertet Pörksen die im Begriff der »Wahlverwandtschaft« angelegte »Sphärenvermengung« als »Verführung« und bezeichnet die chemische Gleichnisrede als »gefährlichen Boden«, dessen Wirkung darin bestehe, moralische »Schranken niederzulegen« (ebd., S. 308 u. 312). In eine ähnliche Richtung weist die Behauptung Pörksens, daß Ottilie durch die im »Schweigegelübde« kulminierende »Strenge der Entsagung« ihre »Freiheit« in Form eines »heiligen Lebens« zu retten vermöge (ebd., S. 314f.). – Zum Gestus skeptischer Urteilsenthaltung in den ›Wahlverwandtschaften‹ siehe Jochen Schmidt: Ironie und Skepsis in Goethes Alterswerk, besonders in den ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Jb. 121 (2004), S. 165–175. Thomas Fries: Die Reflexion der »Gleichnisrede« in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: T.F.: Die Wirklichkeit der Literatur. Drei Versuche zur literarischen Sprachkritik. Tübingen 1975, S. 90–130. Ebd., S. 100.

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menen« zur zwischenmenschlichen Realität verschiebe.31 Unglücklicherweise geht Fries dieser aufschlußreichen Beobachtung nicht genauer nach, sondern widmet sich im weiteren Verlauf seiner Abhandlung vorwiegend abstrakten, von Hegelianischer Terminologie durchsetzten Spekulationen über das Wesen der Sprache, die Goethes Text in deduktiver Manier übergestülpt werden.32 In dieser Hinsicht erscheint die Abhandlung von Fries, die sich unter anderem auch auf Derrida und Paul de Man bezieht, als frühes Beispiel jener in der ›Wahlverwandtschaften‹-Forschung zu einer ungewöhnlichen Konjunktur gelangten dekonstruktivistischen Lektüren, die – wie in der vorliegenden Studie anhand einiger Beispiele gezeigt wird33 – nicht selten gegen jedes noch so weit gefaßte interpretatorische Plausibilitätskriterium verstoßen. Insgesamt befaßt sich der Beitrag von Fries – anders als sein Titel vermuten läßt – nur marginal mit dem Thema der »literarischen Sprachkritik«. Er konstatiert zwar summarisch eine Ausschlußbeziehung zwischen Selbsterkenntnis und Sprache, da letztere »eine gewisse Mystifiziertheit des Sprechenden« voraussetze,34 erweitert diese Einsicht aber nicht zu einer Problematisierung des verbalen Darstellungsmediums der Literatur. Aus einer ganz anderen Perspektive als Pörksen und Fries nimmt Barbara M. Henke die Sprachthematik der ›Wahlverwandtschaften‹ in den Blick. In ihrer alle vier Romane Goethes berücksichtigenden Monographie analysiert sie

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Ebd., S. 101f. So bemerkt Fries etwa über die Sprache als den »Rahmen [...] konventionell-gesellschaftliche[n] Verhalten[s]«: »Wenn sich die gesellschaftliche Repräsentation zum Selbstzweck entfremdet hat, so ist die Diskrepanz von Schein und Sein nirgendwo deutlicher als in der Sprache. Denn wenn in anderen Repräsentationsformen das ursprünglich Repräsentierte völlig vergessen sein mag, enthält die Sprache die Selbstentfremdung immer schon in sich und objektiviert damit, gewollt oder ungewollt, die Diskrepanz von Sein und Schein beim Sprechen – verborgen und offen zugleich« (ebd., S. 110f.). Wenn Fries im weiteren Verlauf seiner Abhandlung versucht, die hier behauptete objektivierende Kraft der Sprache mit Textbelegen aus den ›Wahlverwandtschaften‹ plausibel zu machen, kommt es m. E. zu gravierenden Fehldeutungen: So ist die Behauptung, daß die chemische Gleichnisrede eine »Objektivierung bestimmter Naturbeobachtungen« leiste (ebd., S. 116), mit der für diese Textpartie charakteristischen sprachskeptischen Grundtendenz, die – wie in der vorliegenden Studie gezeigt wird – auf einer fundamentalen Subjektivierung der Designation beruht, nicht zu vereinbaren. Auch die von Fries vorgenommene Kategorisierung von Eduards Liebesbekenntnis gegenüber Ottilie als »sprachliche Objektivation«, welche »die gegenseitige Liebe zu einem entschieden intersubjektiven Faktor [...] mach[e]«, entbehrt jeder textlichen Grundlage (ebd., S. 120); schließlich spricht Eduard hier nicht über seine eigenen Empfindungen für Ottilie, sondern schreibt ihr in narzißtisch-subjektivistischer Manier das von ihm gewünschte Gefühl mit den Worten zu: »Ottilie du liebst mich!« (Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: FA 8, S. 269–555, hier S. 355). Eine verbale Reaktion der Angesprochenen bleibt dabei allerdings aus, eine intersubjektive Kommunikation im Medium der Sprache kommt demnach gerade nicht zustande. Vgl. dazu bes. S. 73–75, S. 98f., S. 105f., S. 126–129 sowie S. 64, Anm. 16, S. 106, Anm. 121 der vorliegenden Studie. Ebd., S. 123. Vgl. dazu auch den von Fried aus der Tendenz des Romans zur abstrakten Maxime hergeleiteten Widerspruch zwischen der »Allgemeinheit« der Sprache und der »Individualität der Person« (ebd., S. 113).

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das verbale Kommunikationsverhalten der Figuren, um daraus deren Gesprächsstrategien abzuleiten sowie die Folgen von »Verbergen und Offenlegen« für das fiktive Geschehen aufzuzeigen.35 Bedauerlicherweise erschöpft sich die Untersuchung über weite Strecken in einer Nacherzählung von Gesprächsverläufen, die nur gelegentlich einen interpretatorischen Mehrwert stiftet. Hinzu kommt, daß sich die Verfasserin zuweilen selbst widerspricht: So wird etwa zu Recht darauf hingewiesen, daß sich das gesprochene Wort in den ›Wahlverwandtschaften‹ hinsichtlich seiner Wirkung vom Sprecher kaum kontrollieren lasse36 – eine Feststellung, die freilich von der in unterschiedlichen Zusammenhängen artikulierten Überzeugung der Autorin konterkariert wird, ein größeres Maß an Gesprächsbereitschaft der Figuren hätte sich auf das wahlverwandtschaftliche Geschehen positiv auswirken können.37 Diese Annahme verweist auf eine durchgängige Schwäche der Arbeit, die sich mit dem Sprachverhalten der Figuren befaßt, ohne den medialen Charakter verbalen Bezeichnens zu berücksichtigen und die designative Funktion von Worten generell zu problematisieren. Henke setzt die grundsätzliche Eignung der Sprache zu gegenstandsgetreuer Repräsentation und verständnisstiftender Kommunikation stillschweigend voraus und führt die interpersonellen Mißverständnisse in den ›Wahlverwandtschaften‹ vorwiegend auf individuelle Defizite einzelner Gesprächsteilnehmer zurück. Goethes diskursive Äußerungen zur Sprachkritik werden dabei ebenso übergangen38 wie deren fiktionale Ausgestaltung in der chemischen Gleichnisrede, der Henke nur wenige Zeilen ihrer Arbeit widmet.39 Ähnlich verfährt Henke bei ihrer Lektüre der ›Wanderjahre‹, die über weite Strecken aus Text- und Forschungsparaphrasen besteht. Henke konstatiert für diesen Roman eine Vielzahl von »positiv verlaufenden Situationen des Miteinander-Sprechens«40 – und marginalisiert dabei sowohl die sprachskeptischen Äußerungen Jarno-Montans, die zwar wortreich referiert, nicht aber kategorial analysiert und auf ihren Stellenwert innerhalb des Romanganzen befragt werden, als auch die schriftkritischen Bemerkungen in Wilhelms Briefen an Natalie, die Subversion des kommunikativen Wertes von abstrakten Sentenzen durch

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Barbara M. Henke: »Sie ließen einen Hasen nach dem andern laufen ...«. Beobachtungen zum Sprachverhalten der Figuren in Goethes Romanen. Frankfurt a. M., Bern, New York 1983, S. 177. Vgl. dazu ebd., S. 183f. u. S. 189. Für Henke wäre die im Roman nicht erreichte »Harmonie der Liebenden« dadurch gekennzeichnet, daß diese »zu einem gegenseitigen Verständnis und einer gemeinsamen Lösung sich sprachlich austauschend gefunden hätten« (ebd., S. 207; zu ähnlich optimistischen Einschätzungen des verbalen Verständigungspotentials vgl. S. 185f. u. S. 188). Henke weist zwar in der Einleitung ihrer Arbeit kurz auf Goethes »grundsätzliche Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit von Sprache« hin, kommt aber im Rahmen ihrer Textanalysen nicht auf diesen Befund zurück (ebd., S. 9). Ebd., S. 179. Ebd., S. 250.

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Hersilie und die am Beispiel des Kästchen-Zeichens demonstrierte Unmöglichkeit der interpretatorischen Fixierung eines eindeutigen Sinns. Die bisherige literaturwissenschaftliche Forschung hat das Themenfeld der Sprachkritik in den ›Wanderjahren‹ allerdings insgesamt umfassender erschlossen als in den ›Wahlverwandtschaften‹. Das liegt nicht zuletzt an der Dissertation von Manfred Karnick, der dieses Thema bereits im Jahre 1968 für die Lektüre von Goethes letztem Roman fruchtbar gemacht hat.41 Ausgehend von einer ausführlichen Analyse des sprachskeptisch grundierten Gesprächs zwischen Jarno-Montan und Wilhelm im vierten Romankapitel, entwickelt Karnick für die ›Wanderjahre‹ eine differenzierte Phänomenologie der Kommunikation, die er in erster Linie durch das Spannungsfeld von »Mitteilungsbedürfnis und [nicht zuletzt sprachskeptisch begründeter] Mitteilungshemmung« bestimmt sieht.42 Im vergleichsweise knapp ausfallenden poetologischen Teil seiner Arbeit vertritt Karnick die These, daß die Einsicht in die Unmöglichkeit einer »eigentlichen« Mitteilung bei Goethe zu einer Strategie »bedingten Mitteilens« führe,43 die sich mit dem vom Autor der ›Wanderjahre‹ im berühmten Iken-Brief formulierten Strukturmodell der ›wiederholten Spiegelungen‹ beschreiben lasse.44 Das poetologische Zentralzeichen des Kästchens, das sich durch sein Ineinander von Bedeutungsstiftung und –aufhebung mit der Kategorie der »bedingten Mitteilung« nur schwer vereinbaren läßt, wird von Karnick weitgehend ignoriert.45 Die unter Rückgriff auf Goethes Gesamtwerk kenntnisreich kontextualisierende Darstellung hat für die literaturwissenschaftliche Erschließung der lange unterschätzten ›Wanderjahre‹ wertvolle Pionierarbeit geleistet, leidet aber zuweilen an einem weihevollen Sprachduktus, der in der Tradition der älteren Forschung seinen Gegenstand als eine Art Weisheitsbuch begreift und dazu tendiert, analytische Distanz und terminologische Trennschärfe der Suggestivität eines ergriffenen Nachvollzugs zu opfern. In Fortführung des Ansatzes von Karnick befaßt sich Armin Westerhoff mit dem Aspekt der Sprachverweigerung in den ›Wanderjahren‹, den er in dem für Goethes Schaffen insgesamt charakteristischen Spannungsfeld von »Kommunikation und Mitteilung einerseits und deren Unterlassungen und Aussparungen andererseits« zu verorten sucht.46 Dabei wird zunächst das – als terminologische Kategorie unglücklich gewählte, da tautologische – »sprachtranszendente 41 42 43 44 45

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Manfred Karnick: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ oder die Kunst des Mittelbaren. Studien zur Verständigung in Goethes Altersepoche. Freiburg 1968. Ebd., S. 158 u.ö. Ebd., S. 159. Ebd., S. 8. Vgl. dazu auch ebd., S. 163–169. Karnick zählt die verschiedenen Kästchen der ›Wanderjahre‹ lediglich auf und weist auf ihre »Geheimnistendenz« hin, ohne diese allerdings näher zu erläutern und auf ihre poetologische Valenz hin zu befragen (ebd., S. 81). Armin Westerhoff: Schweigen und Verstummen in Goethes ›Wanderjahren‹. In: Béatrice Dumiche (Hg.): Goethe als Neuerer und Vermittler. Akten des deutsch-französischen Nachwuchs-

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Schweigen«47 analysiert, das der Roman affirmativ präsentiere und das in den Figuren Makaries und Jarnos zwei von Westerhoff allerdings nicht ausreichend profilierte »komplementär[e]« Ausprägungen finde.48 Während die Sprachverweigerung der beiden genannten Charaktere auf der Einsicht in verbale Unzulänglichkeiten basiere und daher einer »allgemeineren Sprachkritik« zuzurechnen sei,49 stelle das »Verstummen«50 der Protagonistin in der Binnennovelle ›Die pilgernde Törin‹ eine individuelle Sprachhemmung dar, die traumatische Ursachen habe.51 Insgesamt gilt das Erkenntnisinteresse von Westerhoff primär »den Implikationen von Sprechen und Schweigen auf der Figurenebene«;52 eine mögliche poetologische Dimensionierung dieser Thematik wird im letzten Satz des Beitrags lediglich angedeutet.53 Wie der skizzenhafte Abriß der wissenschaftlichen Literatur gezeigt hat, ist der Zusammenhang zwischen Sprachskepsis und Poetologie in Goethes späten Romanen bislang kaum untersucht worden. Die vorliegende Studie möchte diese Forschungslücke schließen, indem sie die immanente Sprachkritik der ›Wahlverwandtschaften‹ sowie deren poetologische Konsequenzen ausführlich analysiert und die daraus gewonnenen Erkenntnisse einer Lektüre der ›Wanderjahre‹ zugrundelegt, die wegen des hier schon weiter fortgeschrittenen Forschungsstandes54 etwas knapper ausfallen kann. Der ›Wahlverwandtschaften‹-Analyse sind zwei horizontbildende Kapitel vorgeschaltet, welche in Form einer historischen Tiefenbohrung die mit den

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kolloquiums zum 250. Geburtstag des Dichters – Reims 1999. Essen 2003, S. 117–132, hier S. 117. Ebd., S. 117 u. S. 130. Worin der komplementäre Charakter der Sprachhaltungen Makaries und Jarnos bestehen soll, bleibt in Westerhoffs Ausführungen allerdings unklar. Die folgende Bemerkung, die Jarnos und Makaries Arten des Schweigens zueinander ins Verhältnis zu setzen sucht, läßt sich jedenfalls kaum nachvollziehen: »Sie [die Sprachhaltung Jarnos] steht als Ausdruck dessen, was nicht ausgesprochen werden kann, neben der mystischen Sammlung im Schweigen, die das Vernehmen dessen ist, was der sprachlose Kosmos vermittelt« (ebd., S. 123). Ebd., S. 124. Ebd., S. 118. Vgl. ebd., S. 127. Ebd., S. 118. Vgl. ebd., S. 130. Nicht nur hinsichtlich der Sprachkritik, sondern auch hinsichtlich der Poetologie ist die Forschungsliteratur zu den ›Wanderjahren‹ weitaus ergiebiger als diejenige zu den ›Wahlverwandtschaften‹. Besonders hervorzuheben sind hier die Abhandlungen von Klaus-Detlef Müller, Mathias Mayer und Rolf Günter Renner, die allerdings andere Schwerpunkte setzen als die vorliegende Studie, in der die Poetologie der ›Wanderjahre‹ sprachskeptisch begründet und eine Analogie zwischen dem poetologischen Zentralzeichen des Kästchens und der chemischen Gleichnisrede der ›Wahlverwandtschaften‹ aufgezeigt wird (Klaus-Detlef Müller: Lenardos Tagebuch. Zum Romanbegriff in Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 53 [1979], S. 275–299; Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion; Rolf Günter Renner: Text, Bild und Gedächtnis. Goethes Erzählen im ›Mann von fünfzig Jahren‹ und in den ›Wanderjahren‹. In: Poetica 31 [1999], S. 149–174).

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Namen Nietzsche, Mauthner und Hofmannsthal einerseits sowie Herder, Lichtenberg und Goethe andererseits verbundenen Konjunkturphasen der deutschsprachigen Sprachskepsis um 1900 und um 1800 vorstellen und damit eine Art Koordinatensystem sprachkritischer Positionen entwerfen. Diese beiden Kapitel haben im Rahmen der vorliegenden Studie einen heuristischen Charakter: Sie sind durchgängig auf die Interpretation der ›Wahlverwandtschaften‹ und der ›Wanderjahre‹ hin perspektiviert; für Goethe weniger relevante Aspekte, wie etwa der Zusammenhang zwischen Sprach- und Erkenntniskrise einerseits sowie Identitätszerfall andererseits, der, wie Dieter Heimböckel überzeugend aufgezeigt hat, die Sprachkritik Heinrich von Kleists mit derjenigen um 1900 verbindet,55 bleiben unberücksichtigt. Den textimmanenten Ausgangspunkt für meine Analyse der ›Wahlverwandtschaften‹ bildet das vierte Romankapitel, das in der vorliegenden Studie auf dem Wege eines ›close reading‹ erstmals als Ganzes in den thematischen Horizont der Sprachskepsis gestellt wird. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der berühmten chemischen Gleichnisrede, die Goethe in Form eines Gesprächs zwischen Eduard, Charlotte und dem Hauptmann entfaltet. Innerhalb dieses Gesprächs demonstrieren die von den drei Romanfiguren vorgenommenen, gleichwohl scheiternden Definitionsversuche des aus einem chemischen Zusammenhang entlehnten Begriffs »Wahlverwandtschaft« eine radikale Subjektivierung sprachlicher Semantik, die vom Temperament des Sprechers, von seinem Geschlecht, von seiner historischen Situation sowie von gesellschaftlichen Rücksichten abhängig ist. Keiner der drei Gesprächspartner vermag es, eine intersubjektiv verbindliche Stabilisierung des Begriffsinhalts herbeizuführen; im Zuge der unterschiedlichen Definitionsversuche gerät der Signifikant »Wahlverwandtschaft« ins Gleiten und generiert immer neue Signifikanten, ohne daß sich dadurch eine terminologische Klärung erzielen läßt. Dieser Befund zieht nicht nur das Gelingen sprachlicher Repräsentation ganz allgemein in Zweifel. Daß sich die Sprachkritik gerade am titelgebenden Terminus des Romans entzündet, verleiht ihr eine poetologische Dimension: Die notwendig sprachgebundene Dichtung kann keinen eindeutigen Sinn stiften, dessen Substanz durch einen Titel adäquat zu bezeichnen wäre. Die Unzulänglichkeit der Sprache verlangt vielmehr ein dichterisches Verfahren, das jeden objektiven Wahrheitsanspruch negiert; sie erweist sich als Initial einer poetologischen Konzeption, die man in der Terminologie Umberto Ecos als ›offenes Kunstwerk‹ klassifizieren und durch einen kontrastierenden Vergleich mit der von einem unbekümmerten Erkenntnisoptimismus getragenen naturalistischen Konzeption des »roman expérimental« profilieren kann. Die in der chemischen Gleichnisrede entfaltete Sprachkritik bleibt während der gesamten Romanhandlung virulent und unterminiert immer wieder jene 55

Vgl. Dieter Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit.

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Bemühungen, die auf ein eindeutiges Verstehen verbaler Äußerungen ausgerichtet sind. Dieser Sachverhalt läßt sich anhand verschiedener Aspekte verdeutlichen: Die Problematik des Verstehens kennzeichnet nicht nur die Kommunikation zwischen den Romanfiguren, sondern tritt auch an der Gestalt Mittlers hervor und kommt darüber hinaus auch in den zuweilen durchaus fragwürdigen Wertungen des Erzählers zum Ausdruck. Die in der chemischen Gleichnisrede exponierte Verknüpfung von sprachund dichtungstheoretischen Erwägungen zeigt sich in den ›Wahlverwandtschaften‹ auch hinsichtlich der Art und Weise, wie die Binnen-Novelle ›Die wunderlichen Nachbarskinder‹ in den Romantext integriert wird. Diese Dichtung in der Dichtung ist durch eine semantische Polyvalenz geprägt, die sich der intentionalen Sinn-Fixierung selbst durch den eigenen Erzähler verweigert. Wie ihre romanimmanente Rezeption deutlich vor Augen führt, eröffnet sie in Abhängigkeit vom situativen Verstehenshorizont des jeweiligen Interpreten ganz unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten. Insofern illustrieren die ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ als narrativer Text, was die chemische Gleichnisrede anhand der Einzelworte »Verwandtschaft« und »Wahlverwandtschaft« vorführt: die perspektivische Bedingtheit sprachlicher Bedeutungskonstitution, die im Umfeld der Binnen-Novelle mit der vermeintlich objektivistischen Repräsentationstechnik der ›camera obscura‹ kontrastiert wird. Auch die im zweiten Teil der ›Wahlverwandtschaften‹ thematisierten ›tableaux vivants‹ tragen eine poetologische Signatur, die mit der Sprachkritik der chemischen Gleichnisrede korreliert werden kann. Sie vergegenwärtigen ein differenziertes Spektrum bildimmanenter Betrachterfiguren, das sich als Typologie unterschiedlicher Rezeptionsweisen begreifen läßt. Nicht zufällig kommt dabei gerade derjenigen Rezeptionsweise, die von einer unaufhebbaren Deutungsunsicherheit des Rezipienten ausgeht und insofern dem polyvalenten Darstellungsverfahren der ›Wahlverwandtschaften‹ entspricht, gemäß der metaphorischen Logik der lebenden Bilder eine besonders hohe Wertigkeit zu. Ähnlich wie die lebenden Bilder besitzt auch die Symbolik der Grundsteinlegung eine poetologische Dimension, die dem in der chemischen Gleichnisrede entwickelten Paradigma sprachlicher Polyvalenz Rechnung trägt. Die Grundsteinlegung erweist sich als bildhafte Verdichtung zentraler ästhetischer Prämissen Goethes, die allerdings durch ihre Situierung innerhalb der semiotisch aufgeladenen Topographie des Romans und durch die psychologischen Antriebe der beteiligten Figuren eine subtile Relativierung erfahren. Darüber hinaus steht die in dieser Textpassage symbolisch verschlüsselte Poetologie in einer aufschlußreichen Wechselwirkung mit dem erzählerischen Verfahren der ›Wahlverwandtschaften‹, was sich an der Eigenart der im Umfeld der Grundsteinlegung erfolgenden Bezugnahmen auf die Legende der heiligen Odilia demonstrieren läßt. Ähnlich wie die ›Wahlverwandtschaften‹ hat Goethe auch seine ›Wanderjahre‹ als offenes Kunstwerk im Sinne Umberto Ecos konzipiert, was bereits 15

anhand der am Beginn des Romans plazierten Kapitel über Joseph den Zweiten herausgearbeitet werden kann. Meine Analyse dieser Erzählsequenz konzentriert sich auf das intermediale Wechselspiel zwischen sprachlichen und bildlichen Zeichen. Dabei wird gezeigt, wie der Text den vermeintlich eindeutigen Sinnzusammenhang einer kulturell codierten Bilderordnung in ein komplexes narratives Sprachspiel transformiert, das keine letztgültigen Bedeutungszuschreibungen kennt und insofern mit der sprachskeptischen Stoßrichtung der chemischen Gleichnisrede aus den ›Wahlverwandtschaften‹ korreliert werden kann. Anschließend untersuche ich die auf utilitaristische Effizienz und semantische Eindeutigkeit ausgerichteten Signifikationspraktiken im Bezirk des Oheims und der Pädagogischen Provinz. Die Ergebnisse dieser Analysen werden zu den sprachskeptischen Implikationen des Romans ins Verhältnis gesetzt, die vor allem im Eröffnungsdialog zwischen Wilhelm und Felix, in Wilhelms Briefen an Natalie sowie im Zusammenhang mit der Naturschrift-Konzeption Jarno-Montans zu beobachten sind und für die formale Anlage der ›Wanderjahre‹ weitreichende Konsequenzen zeitigen. Den Schlußpunkt meiner Ausführungen, welche auch die von der Forschung selten beachtete erste Fassung der ›Wanderjahre‹ einbeziehen, bildet die Interpretation des Kästchen-Zeichens und dessen Verortung im semiotischen Spektrum des Romans. Dabei werden unter anderem die verschiedenen Bedeutungsdimensionen rekonstruiert, die das Kästchen im Verlauf des Handlungsgeschehens annimmt, sowie seine an die Sprachkritik der chemischen Gleichnisrede anknüpfende semantische Funktionsweise beschrieben und auf eine Poetologie der Offenheit hin transparent gemacht. Darüber hinaus zeige ich, daß die hermeneutischen Irritationen, die von diesem Dingsymbol ausgehen, die multiperspektivische Bauform der ›Wanderjahre‹ reflektieren, die auf Auslassungen, Brüche, Leerstellen und die Subversion eindeutiger Sinnzuschreibungen hin angelegt ist. Die Poetologie der Offenheit, die das nicht zufällig mit einem »Oktavband« und einem »Prachtbüchlein« verglichene Kästchen-Zeichen der ›Wanderjahre‹ in einer dem Titel-Terminus der ›Wahlverwandtschaften‹ analogen Weise vergegenwärtigt, erweist sich dabei als ein sprachskeptisch grundierter Gegenentwurf zu den auf inhaltlicher Ebene dominanten utilitaristischen Gesellschaftsformationen, die das Prinzip semantischer Pluralität zugunsten einer autoritativ fixierten Eindeutigkeit zurückdrängen.

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II. Sprachskeptische Horizontbildung

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1.

Sprachskepsis um 1900 – Nietzsche, Mauthner, Hofmannsthal

Im frühen 20. Jahrhundert rückt die Frage nach Wesen und Leistungsfähigkeit der Sprache verstärkt ins Zentrum des literarischen und philosophischen Interesses.1 Das Nachdenken über die Grenzen verbaler Repräsentation läßt sich zwar von einer Verdichtung sprachkritischer Reflexionen in der deutschsprachigen Literatur und Philosophie um 1800 über den mittelalterlichen Universalienstreit bis hin zu Platons »Kratylos« zurückverfolgen,2 wird aber um 1900 unter anderem von Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner und Hugo von Hofmannsthal aufgegriffen und in einer bis dahin unbekannten Weise radikalisiert. Die krisenhafte Zuspitzung sprachkritischen Gedankenguts im Denken dieser drei Schriftsteller weist eine mitunter erstaunliche Nähe zu jenen skeptischen Theoremen auf, die Goethe in diskursiver Form nur aphoristisch und unsystematisch angedeutet, im literarisch-fiktiven Medium der ›Wahlverwandtschaften‹ und der ›Wanderjahre‹ jedoch in großem Stil ausgestaltet hat. Die Positionen der genannten Autorentrias können daher den Blick für die sprachkritische Dimension von Goethes späten Romanen schärfen und zugleich die Modernität des Weimarer Klassikers erweisen.

1.1. Friedrich Nietzsche Innerhalb der Geschichte der modernen Sprachkritik kommt dem Werk Friedrich Nietzsches eine zentrale Bedeutung zu. Fritz Mauthner erkannte bereits 1890 die besondere Relevanz der sprachkritischen Erwägungen Nietzsches und hat sich auch in seinem später entstandenen Hauptwerk ›Beiträge zu einer Kritik der Sprache‹ mit diesem Denker auseinandergesetzt.3 Weitere Reflexe des Nietzscheschen Sprachdenkens begegnen etwa im Werk so bedeutender Autoren

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Vgl. dazu Günter Saße: Sprache und Kritik. Eine überblickshafte Chronologie sprachkritischer Reflexionen bietet Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache. Zu Mauthners Nietzsche-Rezeption vgl. Elizabeth Bredeck: Fritz Mauthners Nachlese zu Nietzsches Sprachkritik. In: Nietzsche-Studien (1984), S. 587–599.

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wie Thomas Mann,4 Franz Kafka5 oder Robert Musil.6 In neuerer Zeit haben sich mit Jacques Derrida, Sarah Kofman und Paul de Man insbesondere die Wortführer des Dekonstruktivismus immer wieder auf Nietzsches Sprachskepsis berufen,7 wobei neben der frühen Baseler Rhetorik-Vorlesung von 1872/73 die posthum veröffentlichte Schrift ›Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‹ den wohl wichtigsten Referenztext darstellt.8 Nicht zuletzt weil Nietzsche in dieser Schrift nach eigenem Bekunden zahlreiche Aspekte seines späteren Werks antizipiert,9 eignet sie sich besonders zur paradigmatischen Darstellung seines sprachkritischen Ansatzes und soll daher im Mittelpunkt der folgenden Erwägungen stehen. Die zentrale These in ›Ueber Wahrheit und Lüge‹, einer Schrift, die deutliche Spuren von Nietzsches Rezeption des wenig bekannten Sprachtheoretikers Gustav Gerber trägt,10 ist die Determination der Vernunft durch die Sprache. Indem Nietzsche ontologische Gewißheiten als sprachgezeugte Projektionen dekuvriert, entzieht er jeder Objektivität beanspruchenden Wirklichkeitserkenntnis den Boden. Er bedient sich dabei einer genealogischen Argumentationsstrategie, die das Darstellungspotential der Sprache durch eine Rekonstruktion der Sprachentstehung zu bestimmen versucht. Dies geschieht im Gewand eines aitiologischen Mythos’: Am Beginn der intersubjektiv kommunizierbaren Sprache, an welchem Nietzsche auch den Ursprung des Wahrheitsbedürfnisses situiert, steht ein »Friedensschluß« zwischen den Menschen, der ein gesellschaftliches Zusammenleben ermöglicht. Dieser »Friedensschluß« besteht in

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Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Der Traum von einem Leben ohne Horizont. Zum Verhältnis zwischen Realitätserfahrung und Sprachskepsis in Thomas Manns Erzählung ›Enttäuschung‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 71 (1997), S. 217–244, hier S. 230f., Anm. 22 sowie Karl Pestalozzi: Sprachkritik und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Basel 1990, S. 13f. Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identität in Kafkas ›Beschreibung eines Kampfes‹. Heidelberg 2004, S. 105f. u. S. 167f. Vgl. dazu Renate Gahn: Musil und Nietzsche. Zum Problem von Kunst und Erkenntnis. Mainz 1980, S. 140–150; Katharina Grätz: Die Erkenntnis des Dichters. Robert Musils ›Fliegenpapier‹ als Modell seines poetischen Verfahrens. In: Jb. der deutschen Schillergesellschaft 48 (2004), S. 206–230, hier S. 207, Anm. 6 u. S. 228f. Vgl. dazu Eric Blondel: Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für das Verständnis Nietzsches: Nietzsche und der französische Strukturalismus. In: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/1982), S. 518–537, hier S. 528–534; Lutz Ellrich: Der Ernst des Spiels. Zu drei Versuchen einer dekonstruktiven Nietzsche-Lektüre. In: Josef Kopperschmidt, Helmut Schanze (Hg.): Nietzsche oder »Die Sprache ist Rhetorik«. München 1994, S. 197–218, hier S. 205–218. Zur Kritik an der argumentativen Vereinnahmung von ›Ueber Wahrheit und Lüge‹ für den dekonstruktivistischen Ansatz Paul de Mans siehe Thomas Böning: Literaturwissenschaft im Zeitalter des Nihilismus? Paul de Mans Nietzsche-Lektüre. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 64 (1990), S. 427–466, hier S. 453–466. Zu Nietzsches Selbstinterpretation von ›Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‹ siehe Hans Gerald Hödl: Nietzsches frühe Sprachkritik. Wien 1997, S. 36–39. Zu Nietzsches Gerber-Rezeption siehe Karl Pestalozzi: Sprachkritik und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, S. 6f.; Hans Gerald Hödl: Nietzsches frühe Sprachkritik, S. 77–87; Dieter Heimböckel: Emphatische Unaussprechlichkeit, S. 324f.

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einer arbiträren Setzung, die die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat festschreibt. »Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an ›Wahrheit‹ sein soll d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden«.11 Wer diese Fixierung der sprachlichen Zeichen mißachtet und von der intersubjektiv verbindlichen Kodifizierung abweicht, wird als Sanktion hierfür von der Gesellschaft ausgegrenzt. Im Kontrast zu solchen semiotischen ›outcasts‹ definiert sich die Majorität über ihre normenkonforme Bezeichnungspraxis, die sie zur objektiv gültigen Wahrheit überhöht. Wahrheit allerdings, die als Übereinstimmung von Zeichen und Wirklichkeit zu beschreiben wäre,12 kann die Sprache für Nietzsche keinesfalls verbürgen. Vielmehr sind bereits die einzelnen Worte, wie ein Blick auf ihre Entstehung zeigt, durch Wahrnehmungs- und Assoziationssprünge von der gegenständlichen Realität abgesetzt: »Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue«.13 Die Sprache erscheint somit als Produkt eines mehrstufigen Übertragungsprozesses, der keinerlei kausale Kontinuität aufweist. Indem Nietzsche die Sprache insgesamt mit der Kategorie der Metapher beschreibt und damit die konventionelle Grenzziehung zwischen literaler und figurativer Rede aufhebt, macht er deutlich, daß Sprechen immer schon dem Bereich des Uneigentlichen zugehört – ein Befund, der sich in ähnlicher Form auch aus der Analyse der chemischen Gleichnisrede in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ gewinnen läßt.14 Die Sphäre des Eigentlichen, die erkenntnistheoretisch als menschenunabhängiges »Ding an sich«15 zu qualifizieren wäre, wird von der sprachlichen Darstellung nicht erreicht.16 Dem entspricht, daß die einzelnen Worte nicht nach dem Prinzip der angemessenen Bezeichnung, sondern ganz und gar willkürlich gebildet werden, wie Nietzsche anhand verschiedener Beispiele demonstriert: So bezeichnet etwa das Adjektiv »hart« nach dem allgemeinen Sprachgebrauch den Konsistenzgrad bestimmter Dinge. Diese vermeintlich objektive Eigenschaft gründet aber ausschließlich auf einem subjektiven Eindruck, auf der Wirkung, die der betreffende Gegenstand auf unseren Tastsinn ausübt. Es geht der Sprache demnach nicht um das Ding an sich, sondern um dessen Gegebenheitsweise für den Menschen. Einen ähnlichen Anthropomorphismus verrät die Ordnung der grammatischen Genera: »Wir theilen 11

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Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: F.N.: Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. III, 2. Berlin, New York 1973, S. 369–384, hier S. 371. Zum traditionellen Wahrheitsbegriff der ›adaequatio intellectus ad rem‹ siehe Günter Saße: Sprache und Kritik, S. 38–40. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, S. 373. Vgl. dazu bes. S. 71f. der vorliegenden Studie. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, S. 373. Vgl. dazu Hans Gerald Hödl: Nietzsches frühe Sprachkritik, S. 82.

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die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen Übertragungen!«17 Eine andere Form der sprachlichen Rubrizierung, die sich ebensowenig in der Gegenstandssphäre verankern läßt, sieht Nietzsche auf der Ebene der Semantik am Werk. Der Signifikant »Schlange« charakterisiert sein Signifikat ausschließlich durch die Eigenschaft des »Sichwindens«, die allerdings nicht nur der Schlange, sondern etwa auch dem Wurm zukommt. Mit dieser Reduktion auf ein einziges Merkmal, das noch nicht einmal die ›differentia specifica‹ des benannten Tieres darstellt, verfehlt die sprachliche Bezeichnung die Merkmalsfülle und den Variantenreichtum der empirischen Erscheinungen. Die verbale Repräsentation empfängt ihre Ordnung auch in diesem Beispiel nicht aus der Natur der dargestellten Phänomene, sondern nimmt mit ihren Begriffen lediglich »willkürliche Abgrenzungen« vor.18 Die Struktur der Sprache und die Struktur der Dingwelt erweisen sich als inkongruent. Ein Blick auf die der Sprache inhärente Tendenz zu Verallgemeinerung und Abstraktion vertieft diesen Befund. Die Worte sind für Nietzsche ganz wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß sie individuelle Einzelfälle, die gewisse Ähnlichkeiten aufweisen, unter eine generalisierende Kategorie subsumieren. Dabei werden die Differenzen der jeweils singulären empirischen Phänomene zugunsten einer begrifflich fixierten Identität annihiliert. Die Unverwechselbarkeit des Einzelfalls geht in der klassifikatorischen Ordnung der Sprache verloren. Eine solche Bezeichnungspraxis führt zu einer problematischen Illusionsbildung: Der durch das »Uebersehen des Individuellen und Wirklichen«19 entstandene Begriff wird in die Wirklichkeit projiziert und dabei zur einheitlichen Urform, die der Mannigfaltigkeit der konkreten Erscheinungen zugrunde- und vorausliegt, hypostasiert. Was eigentlich auf einer Verkennung der empirischen Phänomene beruht, erscheint so als deren gestaltgebendes Prinzip. Allerdings erfüllt die Sprache, indem sie die Vielheit der Erscheinungen in das Korsett einer (wenn auch nur scheinhaften) Ordnung überführt, eine für den Menschen zentrale Funktion: Sie erlaubt ihm eine zweckgebundene Orientierung innerhalb der ansonsten unkontrollierbaren Empirie: »[E]r leidet es nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden, er verallgemeinert alle diese Eindrücke erst zu entfärbteren, kühleren Begriffen, um an sie das Fahrzeug seines Lebens und Handelns anzuknüpfen«.20 Diese Funktionsbestimmung der Sprache als ordnende Kraft liest sich wie ein Kommentar zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, wo die Sprache als Ordnungsmacht

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Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, S. 372. Ebd., S. 373. Ebd., S. 374. Ebd., S. 375.

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charakterisiert und an einer Stelle implizit mit dem Einsortieren von Unterlagen in rubrizierte Fächer analogisiert wird.21 Insgesamt begreift Nietzsche – ganz analog zu Goethe – die Sprache als ihrem Wesen nach anthropomorph. Sie erfaßt die Dinge lediglich in ihrem Verhältnis zum Menschen und ist somit außerstande, die Welt an sich zu beschreiben. Da Nietzsche immer wieder die Sprachabhängigkeit der menschlichen Erkenntnis betont, mündet seine Sprachkritik konsequenterweise in einen radikalen erkenntnistheoretischen Skeptizismus. Jede Art von Weltwissen bis hin zu den Naturgesetzen unterliegt einem Zirkelschluß. »Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der ›Wahrheit‹ innerhalb des Vernunft-Bezirkes«.22 Die Kluft zwischen Subjekt und Objekt scheint Nietzsche ebenso unüberwindlich wie diejenige zwischen Sprache und Dingwelt.

1.2. Fritz Mauthner Direkte Anknüpfungen an Nietzsches Sprachreflexionen finden sich im Werk Fritz Mauthners, der in seinen ›Beiträgen zu einer Kritik der Sprache‹ einerseits explizit auf Nietzsche rekurriert, andererseits aber auch Goethe zum Ahnherren seiner umfassenden Sprachskepsis erklärt.23 Mauthner sieht die Sprache sowohl in ihrer Kommunikations-als auch in ihrer Erkenntnisfunktion von einer fundamentalen Unzuverlässigkeit geprägt. Die unterschiedlichen Nationalsprachen können nicht auf ein klar umrissenes abstraktes System zurückgeführt werden, das die Möglichkeiten paradigmatischer Selektion und syntagmatischer Kombination reglementieren würde. Lediglich im konkreten Sprachgebrauch, im kommunikativen Austausch zwischen Menschen, läßt sich die jeweilige Sprache momenthaft erfassen. Diese strikt anti-idealistische Konzeption radikalisiert Mauthner durch die Annahme, daß jeder einzelne Sprecher, wenn auch innerhalb eines vorgegebenen Horizontes, seine eigene Sprache spricht, daß also »die Individualsprache eines Menschen niemals der irgend eines anderen Menschen vollkommen gleich ist«24 – ein Gedanke, den bereits Wilhelm von Humboldt in seiner Abhandlung ›Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus‹

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Vgl. dazu S. 60 der vorliegenden Studie. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, S. 377. Vgl. dazu Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde. Bd. 1. Leipzig ³1923, S. 136–144; Fritz Mauthner: Erinnerungen. München 1918, S. 215–226; Fritz Mauthner: Selbstdarstellung. In: Raymund Schmidt (Hg.): Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. 7 Bde. 3. Bd. Leipzig 1922, S. 121–143, hier S. 129f. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1, S. 6.

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formuliert25 und den Goethe in Bezug auf die Bedeutung einzelner Worte in der chemischen Gleichnisrede der ›Wahlverwandtschaften‹ entfaltet hat.26 Zwar ergeben sich für Mauthner zwischen Gesprächspartnern gewisse semantische Schnittmengen, keiner von ihnen kann jedoch über die gemeinsame Muttersprache ›in toto‹ verfügen. Diese Einsicht führt zu einer grundlegenden perspektivischen Relativierung jedweder sprachlichen Aktivität. Sprechen und Verstehen, Produktion und Rezeption linguistischer Einheiten sind von einer Vielzahl individuell verschiedener Faktoren bestimmt: Je nach Lebensalter, Bildungsniveau, Beruf und Geschlecht verfügt der einzelne Sprecher über unterschiedliche semantische und syntaktische Kenntnisse, so daß »ein jeder einen anderen Ausschnitt aus der gemeinsamen Muttersprache ›beherrsch[t]‹«27 – ein Befund, der die Möglichkeit einer im Medium der Sprache gelingenden Kommunikation grundsätzlich in Zweifel zieht. Besonders deutlich zeigt Mauthner die für seine skeptische Konzeption konstitutive Subjektivierung des Sprachgebrauchs auf der Ebene der Wortbedeutung. In Abhängigkeit vom persönlichen Erfahrungshintergrund können unterschiedliche Sprecher mit ein und demselben Wort differente Inhalte verbinden, wobei die individuelle Färbung der Semantik mit dem Abstraktionsgrad des Begriffes zunimmt. »Je vergeistigter das Wort, desto sicherer erweckt es bei verschiedenen Menschen verschiedene Vorstellungen«.28 Diese Individualisierung der Sprache wird von Mauthner mit einer entschiedenen Historisierung verknüpft. Die Wortbedeutungen sind einem permanenten Wandel unterworfen, der eine stabile und intersubjektiv verbindliche Designation ausschließt. Die in steter Dynamik befindliche Bedeutungsgeschichte, die Mauthner als »wahre Kritik jedes Wortes« versteht,29 wirkt bis in jede einzelne Individualsprache hinein: »[U]naufhörlich wechseln meine Begriffe ihren Umfang und damit leise fließend ihren Inhalt«.30 Diese historische Relativierung des Verhältnisses zwischen Signifikant und Signifikat, die in ähnlicher Form bereits Goethe der chemischen Gleichnisrede seiner ›Wahlverwandtschaften‹ eingeschrieben hat,31

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So bemerkt Humboldt über die Sprache, daß deren »wahre Individualität nur in dem jedesmal Sprechenden liegt. Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit« (Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues. In: W.v.H.: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 15 Bde. Bd. 6/1. Hg. v. Albert Leitzmannn. Berlin 1907, S. 111–303, hier S. 180). – Vgl. dazu auch die folgende Feststellung Hofmannsthals über die Sprache: Sie »scheint uns alle zu verbinden, und doch reden wir jeder eine andere« (Hugo von Hofmannsthal: Aufzeichnungen aus dem Nachlaß [1889–1929]. In: H.v.H.: Gesammelte Werke. Hg. v. Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert. 10 Bde. Bd. 10. Frankfurt a. M. 1980, S. 311–595, hier S. 413). Vgl. dazu S. 63–66 der vorliegenden Studie. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1, S. 18. Ebd., S. 56. Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Leipzig ²1923, S. XIII. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde. Bd. 3. Leipzig ³1923, S. 341. Vgl. dazu S. 65 der vorliegenden Studie.

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führt Mauthner zu der Annahme, »daß auch die Individualsprache noch eine Abstraktion aus einem Menschenleben ist, daß wirklich und konkret uns nur noch die Momentsprache sein kann«.32 Die Semantik des sprachlichen Zeichens entzieht sich durch eine solche zeitliche Atomisierung ins Diffuse; was bleibt, ist einzig das Bewußtsein einer unhintergehbaren Polyvalenz. Die ständige Bedeutungsverschiebung erklärt sich aus der metaphorischen Struktur der Sprache. Sprechen ist für Mauthner, ganz ähnlich wie für Nietzsche, immer schon uneigentliches Sprechen, Resultat einer unendlichen Übertragungsbewegung von Metapher zu Metapher, die bereits mit dem spekulativ rekonstruierten Ursprung der Sprache einsetzt. Die menschheitsgeschichtlich ersten Worte stellt sich Mauthner als natürliche Zeichen vor, die durch Analogie auf ein durch sie bezeichnetes Naturphänomen bezogen sind. So könne etwa der Raumbegriff »groß« durch den Vokal o ausgedrückt worden sein, der zu seiner Artikulation eines weit geöffneten Mundes bedarf.33 Schon hier sieht Mauthner das Prinzip der Metapher am Werk: Zwar sind Signifikant und Signifikat in diesem Urzustand noch durch das Prinzip der Analogie zu einem natürlichen Zeichen verbunden; gleichwohl ist diesem natürlichen Zeichen bereits ein Übertragungsvorgang inhärent: ein Raumbegriff wird durch einen Schallbegriff abgebildet. Im weiteren Verlauf der Sprachentwicklung finden immer wieder semantische Erweiterungen und Neu-Besetzungen des gegebenen Wortmaterials statt, die Mauthner ebenfalls unter den Begriff der Metapher subsumiert: »Jedes einzelne Wort ist geschwängert von seiner eigenen Geschichte, jedes einzelne Wort trägt in sich eine endlose Entwicklung von Metapher zu Metapher«.34 Aufgrund dieses permanenten Gleitens sprachlicher Signifikanten ist es »unmöglich, den Begriffsinhalt der Worte auf die Dauer festzuhalten«.35 Doch Mauthners Sprachkritik thematisiert nicht nur die instabile Designation des sprachlichen Signifikanten, sondern nimmt auch die ontologische Unzulänglichkeit des Signifikats in den Blick. Worte bezeichnen für Mauthner ausschließlich sinnlich vermittelte Vorstellungen. »[N]ichts ist in den Begriffen unserer Sprache, was nicht zuvor in unseren Sinnen war«.36 Die sinnlichen Wahrnehmungen liefern freilich kein zuverlässiges Bild der Wirklichkeit. Die fünf Sinne, die sich im Laufe der menschlichen Entwicklung zufällig herausgebildet haben, wirken als willkürliche Selektionsorgane, die lediglich einen Ausschnitt der vielfältigen äußeren Erscheinungen aufzunehmen vermögen. Dies führt Mauthner zu der »Überzeugung, daß es da draußen Kräfte gibt,

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Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1, S. 208. Vgl. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde. Bd. 2. Leipzig ³1923, S. 452. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1, S. 115. Ebd., S. 97. Fritz Mauthner: Selbstdarstellung, S. 135.

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die zu uns nicht hinein können, weil wir für sie keine Tore haben«.37 Die perspektivische Beschränktheit der menschlichen Perzeption, die Mauthner als »Hominismus« bezeichnet,38 schließt eine substantielle Korrespondenz des wahrgenommenen Objekts mit der von ihm generierten sinnlichen Vorstellung aus. Durch diese sensualistische Fundierung gewinnt die Sprachskepsis eine erkenntniskritische Dimension: Die Sprache, die Mauthner mit dem Denken gleichsetzt, wird als defizientes Bezeichnungsmedium sinnlicher Vorstellungen begriffen, die ihrerseits wiederum defiziente Repräsentationen der Realsphäre sind. Adäquate Wirklichkeitserkenntnis, die eine wechselseitige Entsprechung von realem Sachverhalt und dessen sprachlicher Darstellung erfordern würde, erweist sich vor dem Hintergrund dieser Prämissen als unmöglich. Gegen Ende seiner ›Beiträge zu einer Kritik der Sprache‹ hat Mauthner den Zusammenhang von Sprachzweifel und Erkenntniszweifel als Resümee seiner skeptischen Unternehmung formuliert: »Die Worte [der] Sprache sind wenig geeignet zur Mitteilung [...]. Die Worte der Sprache sind wenig geeignet zur Erkenntnis, weil jedes einzelne Wort umschwebt ist von den Nebentönen seiner Geschichte. Die Worte der Sprache sind endlich ungeeignet zum Eindringen in das Wesen der Wirklichkeit, weil die Worte nur Erinnerungszeichen sind für die Empfindungen unserer Sinne und weil diese Sinne Zufallssinne sind, die von der Wirklichkeit wahrlich nicht mehr erfahren als eine Spinne von dem Palaste, in dessen Erkerlaubwerk sie ihr Netz gesponnen hat«.39 Mauthner vertieft diese umfassende Kritik verbaler Repräsentation durch eine Analyse kognitiver Illusionen, die sowohl von der semantischen als auch von der syntaktischen Ebene der Sprache ausgelöst werden können. Zum einen erfolgt häufig eine unzulässige Projektion von Wortbedeutungen in die Dingwelt, wie sie bereits Goethe als Quelle wissenschaftlicher Irrtümer diagnostiziert hat;40 die bloße Existenz eines Signifikanten läßt auch das Signifikat wirklich erscheinen, »als ob das Dasein eines Wortes ein Beweis für die Wirklichkeit dessen wäre, was es bezeichnet«.41 Zum anderen prägt die grammatikalische

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Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1, S. 360. Fritz Mauthner: Selbstdarstellung, S. 136. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 3, S. 641. So bemerkt Goethe in einem Brief an Wilhelm von Humboldt vom 22. August 1806 anläßlich einer naturphilosophischen Studie von Steffens: »Nun tritt das Gefährliche hervor, das diese Sprache mit jeder andern gemein hat. Ich weiß recht gut, daß man einen Schall an die Stelle der Sache setzt, und daß man diesen Schall wieder oft als Sache behandelt« (Brief an W. v. Humboldt vom 22. August 1806. In: WA IV, 51, S. 197–201, hier S. 200). In der häufig zitierten »Schlußbetrachtung über Sprache und Terminologie« aus der ›Farbenlehre‹ weist Goethe darauf hin, wie schwer es sei, »das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen« (Johann Wolfgang Goethe: Entwurf einer Farbenlehre. Des Bandes erster, didaktischer Teil. In: FA 23/1, S. 21–294, hier S. 245), und warnt an anderer Stelle den Physiker davor, »das Anschauen in Begriffe, den Begriff in Worte zu verwandeln und mit diesen Worten, als wären’s Gegenstände, umzugehen und zu verfahren« (ebd., S. 232). Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1, S. 158.

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Struktur der Sprache mit ihren Kategorien des Substantivs, des Adjektivs und des Verbs die Weltaneignung des Menschen in tiefgreifender Weise. Während das Adjektiv, das Merkmale und Eigenschaften bezeichnet, der außersprachlichen Realität durchaus angemessen ist, suggeriert das Substantiv, das ein Bündel adjektivischer Eigenschaften semantisch zusammenschließt, eine Einheit, die von den empirischen Phänomenen nicht gedeckt wird. Das Substantiv integriert die Fülle der adjektivischen Impressionen zu einer begrifflichen Substanz, die in die Wirklichkeit hinein projiziert wird und damit die Existenz klar umgrenzter Dinge vortäuscht.42 Diesen komplexen Gedankengang konkretisiert Mauthner anhand eines Beispiels: »Von diesem Apfel in meiner Hand weiß ich, daß er glatt, süß, rot, schwer ist, daß er gelegentlich beim Fallen auf die Erde hörbar wird und daß er mir angenehm ist. Was er abgesehen von diesen Adjektiven noch sein mag (alles was wir von ihm als Chemiker, als Botaniker usw. wissen, ließe sich ebenso in Adjektiven ausdrücken), das ist eine metaphysische Frage«.43 Im Gegensatz zum Substantiv, das statische und in sich ruhende Einheiten bezeichnet, ist es dem Bedeutungsbereich des Verbs um Entwicklung und Veränderung zu tun. Zwar wirkt das Verb nach Mauthner nicht in dem Maße illusionsbildend wie das Substantiv, zählt aber gleichwohl zu jenen »Kategorien [...], die in der Wirklichkeitswelt nicht sind«.44 Insgesamt läßt sich resümieren, daß die Sprache für Mauthner aufgrund ihrer syntaktischen und semantischen Struktur eine angemessene Wirklichkeitserfahrung verhindert. Nicht zufällig kulminieren daher seine sprachskeptischen Reflexionen in einer Affirmation der sprachlosen Weltaneignung, die auf mystische Konzepte rekurriert.45 Mauthners wortreiche Sprachkritik mündet in eine Apologie des Schweigens.46

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Vgl. dazu Elisabeth Leinfeller: Die böse Sprache. Fritz Mauthner und das Problem der Sprachkritik. In: E.L., Hubertus Schleichert (Hg.): Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Wien, Köln, Weimar 1995, S. 57–82, hier S. 72. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 3, S. 99. Ebd., S. 10. So spricht Mauthner etwa in der späten ›Atheismus‹-Schrift von seiner »blinden Liebe zu Meister Eckhart« (Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. 3 Bde. Bd. 1. Stuttgart, Berlin 1920, S. 342). Zur mystischen Einfärbung des Mauthnerschen Erkenntnisbegriffs siehe Gottfried Gabriel: Philosophie und Poesie. Kritische Bemerkungen zu Fritz Mauthners »Dekonstruktion«. In: Elisabeth Leinfeller, Hubertus Schleichert (Hg.): Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Wien, Köln, Weimar 1995, S. 27–41, hier S. 39f. Vgl. hierzu insbesondere den Schluß der posthum veröffentlichten Abhandlung ›Die drei Bilder der Welt‹: »Überall wo echte Kunst waltet [...], begreift ein Genie die eine Welt ohne Begriffe, ohne Sprache. [...] Das Begreifen zerfällt, sobald [das Genie] es für sich oder andere in Begriffe oder Worte bannen will. Das All-Eine war nur im schweigenden Ich verbunden; beim ersten lauten Worte verschwindet herabstürzend jede Einheit, auch die des Ich. Nichts läßt sich mehr sagen« (Fritz Mauthner: Die drei Bilder der Welt. Ein sprachkritischer Versuch. Aus dem Nachlaß hg. v. Monty Jacobs. Erlangen 1925, S. 169f.).

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1.3. Hugo von Hofmannsthal Eine ebenfalls auf das Schweigen hin angelegte Konstellation gestaltet Hugo von Hofmannsthal in seinem von Mauthner euphorisch gefeierten Text ›Ein Brief‹,47 den die Forschung aufgrund seiner sprachskeptischen Stoßrichtung immer wieder zu einem Gründungsdokument des modernen Dichtens mythisiert hat. Die in diesem fiktiven Schreiben geschilderte Sprachkrise ist mit der individuellen Entwicklungsgeschichte des Protagonisten verknüpft: Lord Chandos kontrastiert einen bereits mehrere Jahre zurückliegenden Lebensabschnitt, der von rückhaltlosem Sprachvertrauen gekennzeichnet war, mit seinem gegenwärtigen Zustand, der von radikalem Sprachzweifel geprägt ist. Erst auf der Folie des revidierten Welt- und Dichtungsverständnisses gewinnt die sprachskeptische Position des Lords ihre klare Kontur. Wie aber läßt sich die vergangene Lebensphase genauer charakterisieren? Chandos war, wie er rückblickend bekennt, vor dem Beginn seiner Sprachkrise von künstlerischem Schaffensdrang beseelt. Die knappe Werkbiographie, die der Lord skizziert, verzeichnet verschiedene Schäferspiele sowie einen Traktat in lateinischer Sprache. Darüber erwähnt Chandos seine früheren Pläne für weitere dichterische Werke. Sämtliche Projekte des Lords schreiben sich explizit in bestimmte Traditionslinien ein oder rekurrieren auf vorgefertigte sprachliche Ausdrucksmuster: Die Schäferspiele »Der Neue Paris« und »Der Traum der Daphne« knüpfen schon im Titel an die griechische Mythologie an; der aus einem formvollendeten »Gefüge lateinischer Perioden« konstruierte Traktat verweist auf die römische Antike. Der geplanten literarischen Darstellung Heinrichs VIII. sollten Aufzeichnungen eines verstorbenen Großvaters als Grundlage dienen. Die Sammlung »Apophthegmata«, die auf Julius Cäsar als literarischen Ahnherren verweist, war über weite Strecken als Sammlung geistreicher Zitate konzipiert. Diese vielfältigen Traditionsstränge glaubte sich Lord Chandos bruchlos aneignen zu können; das inhaltlich und historisch Disparate fügte sich für ihn zu einer Einheit, die im Dienst der Selbsterkenntnis stand.48 Ähnlich wie der Kaufmannssohn aus Hofmannsthals ›Märchen der 672. Nacht‹ konstruierte sich Chandos seine Identität aus Überkommenem. Voraussetzung für diese Amalgamierung des Eigenen und des Fremden war der Glaube an ein umfassendes Ordnungsprinzip, das Geistiges und Körperliches, Vergangenheit

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Zu Mauthners Rezeption des Chandos-Briefs siehe Martin Stern (Hg.): Hofmannsthal – Mauthner, Fritz. Der Briefwechsel. In: Hofmannsthal-Blätter 19/20 (1978), S. 21–38 sowie Karl Pestalozzi: Zur zeitgenössischen Rezeption des Chandos-Briefs. In: K. P., Martin Stern (Hg.): Basler Hofmannsthal-Beiträge. Würzburg 1991, S. 113–127, hier S. 113–115. Nicht zufällig hat Chandos den Imperativ »Nosce te ipsum« als eine Art übergeordnetes Motto über alle seine dichterischen Pläne gesetzt (Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: H.v.H.: Gesammelte Werke. 10 Bde. Bd. 7. Hg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979, S. 461–472, hier S. 463).

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und Gegenwart, Ich und Welt durch ein Geflecht von Analogien und Korrespondenzen zur Einheit verbindet. Der gegenwärtige Zustand des Lords ist dieser naiven Totalitätserfahrung diametral entgegengesetzt. An die Stelle des Sprachvertrauens tritt der Sprachzweifel, an die Stelle einer durch Analogien verbürgten Einheit rücken Partikularisierung und Wirklichkeitszerfall, die kontinuitätsstiftende Aneignung der Tradition wird von der Erfahrung einer unüberwindlichen Fremdheit überlagert. Zur Erklärung seines gegenwärtigen Zustands bedient sich der Lord jener beiden grundlegenden Spielarten der Sprachkritik, die Fritz Mauthner als sentimentalische beziehungsweise als erkenntnistheoretische Sprachkritik qualifiziert hat.49 Während sich die sentimentalische Sprachkritik mit der Problematik der Verbalisierung des menschlichen Innenlebens befaßt, geht es der erkenntnistheoretischen Sprachkritik um die Inadäquatheit von sprachlicher Bezeichnung und Ding an sich, um die Unmöglichkeit einer angemessenen Repräsentation der Wirklichkeit durch Sprache. Die erkenntnistheoretische Sprachskepsis des Lords hat sich stufenweise entwickelt.50 Zuerst gehen ihm die allgemeinen Begriffe verloren. Es gelingt Chandos nicht mehr, Worte wie »Geist«, »Seele« oder »Körper« mit einer festen Bedeutung zu versehen. Die Verknüpfung von Signifikant und Signifikat scheint derart brüchig, daß die abstrakten Sprachzeichen dem Lord »im Munde [...] wie modrige Pilze [...] zerfielen«.51 Nicht zufällig illustriert Chandos diesen Zerfall gerade am Beispiel des Wahrheitsbegriffes: »Es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen Tochter Katharina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte, und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, daß ich den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ«.52 Wenn der Lord gegenüber seiner Tochter die Wahrheit als normativen Maßstab sprachlicher Aussagen zu propagieren versucht, setzt er dabei implizit voraus, daß es überhaupt möglich ist, einen außersprachlichen Sachverhalt in angemessener Weise zu verbalisieren. Doch gerade diese ›adaequatio intellectus ad rem‹, die Übereinstimmung von Ausdrucksseite und Inhaltsseite sprachlicher Äußerungen, die den meisten klassischen Definitionen des Wahrheits-Begriffes zugrunde liegt, wird durch die Erfahrung der Unverbundenheit von Signifikant und Signifikat grundsätzlich negiert. Der radikale Zweifel an den Möglichkeiten der Sprache entzieht dem Wahrheitspostulat, das Chandos gegenüber seiner

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Vgl. dazu Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 3, S. 630f. Vgl. dazu Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache, S. 195. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, S. 465. Ebd.

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Tochter zu erheben versucht, das argumentative Fundament. Mit dieser impliziten Destruktion des Wahrheitsbegriffes wird aber jede Form des Urteilens fragwürdig. Die geläufigen Wertungen verlieren ihre Gültigkeit; sie erscheinen Chandos »so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich«.53 Auf diese Weise wird die Sprachkrise zur Erkenntniskrise. Der Zusammenbruch eines begrifflich vermittelten Orientierungshorizonts führt zu einer chaotischen Partikularisierung der außersprachlichen Wirklichkeit: »Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen«.54 Den Kulminationspunkt seiner Sprachkrise beschreibt der Lord in den folgenden vielzitierten Sätzen: »Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt«.55 Die zentralen Funktionsbestimmungen sprachlicher Systeme haben für den Lord ihre bindenden Kräfte verloren: Die einzelnen Worte lassen sich weder syntagmatisch zu größeren Einheiten verknüpfen, noch können sie auf eine Bedeutung hin transparent gemacht werden. Die Metaphern der Augen und der Wirbel, die ins Leere führen, figurieren diese Desemantisierung des sprachlichen Zeichens und verweisen zugleich auf eine bedrohliche Eigendynamik, die das von stabilen Bedeutungszuschreibungen befreite Sprachmaterial gewinnt. Vor dieser desorientierenden Erfahrung des Sprachzerfalls versucht sich Chandos zu retten, indem er sich den Werken Senecas und Ciceros zuwendet. »An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen, wie sie zueinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun, und das Tiefste, das Persönliche meines Denkens, blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen«.56 Bei der Lektüre Ciceros und Senecas gelangt der Lord zu einer Einsicht, die im Bereich der sentimentalischen Sprachkritik angesiedelt ist. Das innerlich Erlebte verweigert sich der sprachlichen Artikulation; die generalisierenden Begriffe vermögen es nicht, die individuellen Erfahrungen adäquat auszudrücken. Über diese sentimentalische Sprachkritik hinaus negiert Chandos in der zitierten Textstelle jeden Bezug des sprachlichen Zeichens zu außersprachlichen Phänomenen. Die einzelnen Begriffe sind ausschließlich durch ihre wechselseitigen Beziehungen bestimmt: Sie stehen – gemäß den Worten des

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Ebd., S. 466. Ebd. Ebd. Ebd.

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Lords – in einem »wundervolle[n] Verhältnisspiel«, sie »spielen zueinander« und haben es »nur miteinander zu tun«. Dieses relationale Verständnis des sprachlichen Zeichens erinnert einerseits an den sprachphilosophischen Monolog-Essay des Novalis, dem Hofmannsthal nach eigenem Bekunden wichtige Anregungen für seinen Text verdankt,57 andererseits aber auch an die Einsichten Ferdinand de Saussures, die – von Hofmannsthal nicht rezipiert – in zeitlicher Nachbarschaft zum Chandos-Brief den linguistischen Strukturalismus begründeten: Die Sprache erscheint Chandos als ein komplexes Verweisungsgefüge, dessen semantische Einheiten, isoliert betrachtet, keine Bedeutung haben.58 Erst durch ihre Position innerhalb des Sprachsystems avancieren die einzelnen Worte zu Bedeutungsträgern, nur durch die Differenz zu anderen Signifikanten erhält der jeweilige Signifikant sein Signifikat – ein Befund, den bereits Goethe dem Kästchen-Symbol seiner ›Wanderjahre‹ eingeschrieben hat.59 Nicht zuletzt in der beschriebenen selbstreferentiellen Struktur ist das in Hofmannsthals Text durchgängig thematisierte Auseinanderfallen von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Dingwelt begründet. Die Einsicht in die Unzulänglichkeit der Sprache führt Chandos zu einem gänzlichen Verzicht auf jede Art von dichterischer Betätigung. Er verweigert sich den vorgefertigten Ausdrucksformen, die sich mit sprachlicher Artikulation notwendig verbinden, reduziert die alltägliche Kommunikation auf ein Minimum und weist konsequenterweise auch in seinem brieflichen Rechenschaftsbericht immer wieder auf die Inadäquatheit des eigenen Darstellungsmediums hin.60 Der Verlust des Sprachvertrauens erscheint allerdings nicht bloß als schmerzliche Defizienzerfahrung, sondern eröffnet dem Lord einen neuen und unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit. Während die Sprache aufgrund ihrer Tendenz zu Abstraktion und Generalisierung die versprachlichten Phänomene vom Sprecher distanziert, vermag der sprachskeptische Chandos in Augenblicken mystischer Ekstase den Abgrund zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden und in ein allverbindendes »Fluidum des Lebens und Todes« einzutauchen.61 Diese momenthaften Erfahrungen einer nicht durch Reflexion gebrochenen Einheit entziehen sich einer Darstellung »in vernünftigen Worten«.62 Sie sind,

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Vgl. dazu Martin Stern (Hg.): Hofmannsthal – Mauthner, Fritz. Der Briefwechsel, S. 34. Vgl. dazu Waltraud Wiethölter: Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts. Psychostrukturelle und ikonographische Studien zum Prosawerk. Tübingen 1990, S. 65. Vgl. dazu bes. S. 212–214 der vorliegenden Studie. Insbesondere in der zweiten Hälfte des Briefs häufen sich die Unsagbarkeitsbekundungen. Bei dem Versuch, seine augenblickshaften Verschmelzungserfahrungen zu verbalisieren, gesteht der Lord, daß ihn »die Worte [...] wiederum im Stich« lassen (Hofmannsthal: Ein Brief, S. 467), daß er den Worten grundsätzlich »verschworen« hat (S. 468), daß ihm zur Beschreibung seiner Erlebnisse »alle Worte zu arm scheinen« (S. 467) und er eigentlich »nichts darüber auszusagen [...] weiß« (ebd., S. 469). Ebd., S. 468. Ebd., S. 469.

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wie Chandos immer wieder betont, nicht kommunizierbar. Das Paradoxon, daß er sie dennoch zu beschreiben versucht, wird am Ende des Textes aufgehoben, wenn Chandos bekennt, daß dies sein »voraussichtlich letzte[r] Brief« sei:63 ähnlich wie diejenige Mauthners ist auch Hofmannsthals Sprachkritik auf das Schweigen hin angelegt. Die methodologische Prämisse Mauthners aus der Einleitung der ›Beiträge zu einer Kritik der Sprache‹ charakterisiert demnach auch die Schreibstrategie des Lord Chandos: »Will ich emporklimmen in der Sprachkritik [...], so muß ich die Sprache hinter mir und vor mir und in mir vernichten von Schritt zu Schritt, so muß ich jede Sprosse der Leiter zertrümmern, indem ich sie betrete«.64

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Ebd., S. 472. Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1, S. 1f.

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2.

Sprachskepsis um 1800 – Herder, Lichtenberg, Goethe

Die von Nietzsche, Mauthner und Hofmannsthal um 1900 entfalteten Reflexionen über die Unzulänglichkeiten verbalen Bezeichnens gelten in der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung als sprachskeptisches Paradigma, das zuweilen gar in den Rang einer Initialerfahrung modernen Dichtens erhoben wird.65 Gleichwohl sind einige Argumentationslinien dieser Autoren bereits in jenen sprachkritischen Erwägungen vorgezeichnet, die um 1800 unter anderem von Herder, Lichtenberg und Goethe formuliert werden. Trotz ihres großen zeitlichen Abstands schreiben die sprachskeptischen Vertreter beider Epochen über weite Strecken gegen die vorwiegend optimistische Sprachkonzeption der Aufklärung an. Diese geht davon aus, daß die einzelnen Worte durch klare Definitionen auf jeweils eine begriffliche Bedeutung festgelegt werden können, die dann ihrerseits – hinreichende Kenntnis der definitorischen Zuschreibungen bei Sender und Empfänger der verbalen Botschaft vorausgesetzt – eine durchaus stabile intersubjektive Gültigkeit zu erreichen vermag.66 Terminologische Exaktheit und semantische Eindeutigkeit fungieren in der Aufklärung, wie das Werk Christian Wolffs beispielhaft demonstriert,67 als Garanten gelingender Verständigung. Scheiternde Kommunikationsakte resultieren lediglich aus mangelnder definitorischer Disziplin, prinzipiell läßt sich alles Wahrgenommene und Erkannte in intersubjektiv verständlicher Weise verbalisieren. Diese rationalistische Sprachkonzeption, die eine Transparenz der Worte auf Gedanken und Empfindungen für relativ problemlos realisierbar hält und sich ohne Vorbehalt dem Ideal semantischer Eindeutigkeit verschreibt, markiert die Kontrastfolie zu den sprachkritischen Reflexionen Herders, Lichtenbergs und Goethes, die mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen die von der Aufklärung marginalisierten Defizite verbalen Bezeichnens thematisieren.

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Prominentestes Beispiel hierfür ist die Interpretation des Hofmannsthalschen Chandos-Briefes durch Walter Jens, der apodiktisch formuliert: »Ausgangspunkt jeder Analyse der neuen Revolution [in der deutschen Literatur um 1900], man kann es nicht oft genug sagen, ist Hofmannsthals Chandos-Brief« (Walter Jens: Statt einer Literaturgeschichte. Pfullingen 1957, S. 61). Vgl. dazu Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache, S. 124f. u. S. 181f. sowie Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 33, S. 38, S. 46 u. S. 94–96. Vgl. dazu Wolfgang Walter Menzel: Vernakuläre Wissenschaft. Christian Wolffs Bedeutung für die Herausbildung des Deutschen als Wissenschaftssprache. Tübingen 1996, S. VII, S. 141–144 u. S. 150f. sowie Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache, S. 181.

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2.1. Johann Gottfried Herder Seit ihrer persönlichen Begegnung im September 1770 verband Goethe und den wohl bedeutendsten deutschen Sprachtheoretiker des 18. Jahrhunderts, Johann Gottfried Herder, eine zeitweise von freundschaftlicher Übereinstimmung, zeitweise aber auch von Differenzen und Entfremdung geprägte Beziehung.68 Wie wirkmächtig das Werk Herders nicht nur für Goethe selbst gewesen ist, bezeugt dessen Bemerkung aus den Jahren 1829 bis 1830, die rückblickend dem inzwischen verstorbenen Freund einen weitreichenden Einfluß auf die zeitgenössische geistige Physiognomie attestiert: »Herders Ideen [sind] bey uns dergestalt in die Kenntnisse der ganzen Masse übergegangen, daß nur wenige, die sie lesen, dadurch erst belehrt werden, weil sie, durch hundertfache Ableitungen, von demjenigen was damals von großer Bedeutung war, in anderem Zusammenhange schon völlig unterrichtet worden«.69 Gewiß hat Goethe bei dieser Feststellung auch an Herders »Lieblingsthema, die Sprache«, gedacht.70 Aus dem reichhaltigen sprachtheoretischen Reservoir des Herderschen Œuvres sind, der Themenstellung der vorliegenden Studie entsprechend, im folgenden vor allem diejenigen Aspekte in den Blick zu nehmen, die einen sprachkritischen Impetus verraten.71 Dabei soll es zunächst um jene Unzulänglichkeiten gehen, die Herder an bestimmten Stufen der historischen Sprachentwicklung, insbesondere an der Sprache seiner eigenen Zeit, konstatiert. In einem zweiten Schritt werden dann einige Defizienzkriterien herausgearbeitet, durch welche Herder die menschliche Sprache grundsätzlich gekennzeichnet sieht und die sich zu einem geringeren Teil der kommunikativen, zu einem größeren Teil der erkenntnistheoretischen Dimension der Sprachkritik zuordnen lassen.

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Einen chronologischen Aufriß des Verhältnisses zwischen Goethe und Herder von der ersten Begegnung in Straßburg bis zu Herders Tod im Jahre 1803 bietet Hans Dietrich Irmscher, der die Übereinstimmungen und Differenzen der beiden Freunde hinsichtlich ihrer ästhetischen Positionen herausarbeitet, ohne dabei allerdings auf etwaige sprachtheoretische Affinitäten einzugehen (Hans Dietrich Irmscher: Goethe und Herder im Wechselspiel von Attraktion und Repulsion. In: Goethe-Jb. 106 [1989], S. 22–52). Den Einfluß von Herders Sprachdenken auf Werke des jungen Goethe untersucht Wolfgang Düsing, der Herders sprachtheoretisch ambivalente Position auf ein grundsätzliches Sprachvertrauen reduziert (Wolfgang Düsing: Herders Sprachtheorie und die Dichtung des jungen Goethe. In: Herder-Jb. 5 [2000], S. 33–56, hier bes. S. 54). Johann Wolfgang Goethe: Vorwort zu Carlyles ›Leben Schillers‹. In: FA 22, S. 869–883, hier S. 871. Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945. Bd. 1. Darmstadt ²1988, S. 120. Eine umfassende Darstellung der teilweise in sich widersprüchlichen Sprachtheorie Herders würde den Rahmen der vorliegenden Studie bei weitem überschreiten. Vgl. hierzu den insgesamt erhellenden, zuweilen aber etwas kryptischen Systematisierungsversuch der Herderschen Sprachreflexionen, den Ulrich Gaier vorgelegt hat (Ulrich Gaier: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988).

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Herders sprachtheoretische Reflexionen folgen über weite Strecken einer genetischen Betrachtungsweise: »[N]othwendig ist’s« – postuliert er bereits in seinem frühen ›Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst‹ – »dem Ursprunge der Gegenstände nachzuspüren, die man etwas vollständig verstehen will. Mit ihm entgeht uns offenbar [...] der wichtigste Theil der Geschichte, aus welchem sich nachher Alles herleitet«.72 Um dieser selbstformulierten Forderung Rechnung zu tragen, hat Herder dem Ursprung der Sprache umfängliche Betrachtungen gewidmet. Sein phylogenetischer Ansatzpunkt ist dabei das menschliche Bedürfnis, einzelne Bestandteile des ursprünglich ungegliederten Wahrnehmungskontinuums zu isolieren und anhand eines charakteristischen Merkmals zu identifizieren. Herder erläutert diesen Vorgang anhand eines Beispiels, das Hamann später als »Böhschafexempel« verspottet.73 Der Mensch, der sich von der instinktgeleiteten Wahrnehmungsweise des Tiers durch seine reflexive »Besonnenheit« unterscheide, beobachte an einem Schaf die Sinnesqualitäten »weiß, sanft, wollicht«, die allerdings hinter dem akustischen und daher nach Herder besonders eindrücklichen Merkmal des Blökens zurückträten.74 Dieses Blöken fungiere für den Menschen fortan als synekdochisches Erinnerungszeichen, als »innerliches Merkwort«, welches den Begriff des Schafes – also die Gesamtheit seiner wahrgenommenen Eigenschaften – repräsentiere.75 Damit ist für Herder eine sprachliche Verweisstruktur etabliert, der neben ihrer wahrnehmungsstrukturierenden auch eine mnemotechnische Funktion zukommt: »Er [der Mensch] erkannte das Schaf am Blöcken [sic!]; es war gefasstes Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann – Was ist das anders als Wort?«76 Obwohl Herder das Wortmaterial der hier exemplarisch skizzierten Ur-Sprache ausdrücklich nicht auf Imitationen akustischer Wahrnehmungen beschränkt, attestiert er dieser doch einen hohen Anteil an onomatopoetischen Ausdrücken und sichert ihr damit einen sinnlich-konkreten Charakter. Darüber hinaus unterstellt Herder der Ursprache einen außerordentlichen Affekt- und Bilderreichtum sowie eine nur gering ausgeprägte Reglementierungsdichte, die sich unter anderem in einer Häufung von Inversionen zeige.77 Im weiteren Ver72

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Johann Gottfried Herder: Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst. In: Herders Sämmtliche [sic!] Werke. 33 Bde. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 32. Berlin 1899, S. 85–140, hier S. 86f. Zu Herders genetisch-organischem Geschichtsverständnis siehe Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 1, S. 135–141. Zit. n. Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 166. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: J.G.H.: Werke. 10 Bde. Hg. v. Martin Bollacher u. a. Bd. 1. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985, S. 695–810, hier S. 723. Ebd., S. 724. Ebd. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. 1767. In: J.G.H.: Werke. 10 Bde. Hg. v. Martin Bollacher u. a. Bd. 1. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985, S. 161–259, hier S. 218.

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lauf der Sprachentwicklung werden die Wörter laut Herder stufenweise »vom Mannigfaltig-Sinnlichen entkleidet«; mit zunehmender Ursprungsferne treten Abstraktion, Rationalisierung78 und Reglementierung79 immer stärker hervor, die lebendige Klangschönheit des gesprochenen Wortes weicht einer Tendenz zur Fixierung im »toten Buchstaben« der Schrift.80 Herder hat seine Konzeption unterschiedlicher sprachgeschichtlicher Entwicklungsstadien in den Fragmenten ›Über die neuere deutsche Literatur‹ zu einem anthropomorphen Modell verdichtet, das auf verschiedenen »Lebensaltern einer Sprache« beruht.81 Während die ursprungsnahe Kindheits- und Jünglingszeit mit einer poetischen Sprechweise einhergeht und die Phase des Greisenalters von einem philosophischen Sprachstil gekennzeichnet ist, kultiviert der mittlere Lebensabschnitt, das Mannesalter, als verbales Artikulationsmedium eine »schöne Prose«. Die Poesie der Frühzeit lebt nach Herder von sinnlicher Fülle, variativem Reichtum und semantischen Überschüssen und steht damit in einer antithetischen Beziehung zur spätzeitlichen philosophischen Sprache, die mit abstrakter Systematik, trennscharf definierter Begrifflichkeit und einem nach Effizienzgesichtspunkten reduzierten Wortmaterial operiert.82 Zwischen diesen beiden einander wechselseitig ausschließenden Extremen liegt die »schöne Prose«, die sich sowohl in Richtung auf die poetische Diktion anreichern als auch in Richtung auf die philosophische Diktion präzisieren läßt. Die Gegenwartssprache soll sich nach Herder an eben dieser Mittel-Position orientieren,83 indem sie einerseits durch »Übersetzungen und Nachbildungen« aus alten Sprachen ihr poetisches Potential maximiert und andererseits durch

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»[J]e ursprünglicher die Sprache, desto weniger Abstraktionen, desto mehr Gefühle« (Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 758). Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten, S. 218f. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Dritte Sammlung. 1767. In: J.G.H.: Werke. 10 Bde. Hg. v. Martin Bollacher u. a. Bd. 1. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985, S. 367–539, hier S. 417f. Vgl. dazu auch jene Korrelation zwischen mündlichem Sprechen und naturhaft-vitaler Klanglichkeit, die Herder in seiner ›Abhandlung über den Ursprung‹ der Sprache formuliert: »Je lebendiger nun eine Sprache ist, je weniger man daran gedacht hat, sie in Buchstaben zu fassen, je ursprünglicher sie zum vollen, unausgesonderten Laute der Natur hinaufsteigt, desto minder ist sie auch schreibbar« (Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 702). Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten, S. 181. Vgl. dazu ebd., S. 197f. Vgl. dagegen Bartl, die irrtümlicherweise behauptet, daß das »Ideal der schönen Prose« für Herder »vergangen« sei (Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 168), und dabei offenbar übersehen hat, daß dieser den gegenwärtigen Zustand »unsere[r] deutsche[n] Sprache« als »Prose« bestimmt, die durch Anleihen bei der poetischen und der philosophischen Sprache weiter zu »bilde[n]« sei (Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten, S. 186f.).

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»Reflexion« und »haushälterisch[en]« Gebrauch des Wortmaterials den Erfordernissen des Verstandes Rechnung trägt.84 Obgleich Herder seinem historistischen Grundansatz gemäß von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit der drei Sprachalter ausgeht,85 fokussiert er seine Kritik primär auf die Dominanz der Schriftlichkeit, die er der philosophischen Sprache zuordnet und als bedrohliche Tendenz seiner eigenen Gegenwart konstatiert.86 Für Herder unterliegt die schriftliche Fixierung im Gegensatz zum mündlichen Sprechen einer weitreichenden Reduktion: Der artikulatorische Nuancenreichtum der Mündlichkeit, der auf einer großen Variationsbreite bei Lautung und Akzentuierung beruht,87 geht laut Herder im Rahmen der Verschriftlichung ebenso verloren wie die Möglichkeit ergänzender Gestik, die Intensität der kommunizierten Empfindungen,88 die Ganzheitlichkeit der mitgeteilten Erfahrung89 und die unmittelbare Wirkungsmacht auf den Rezipienten.90 Darüber hinaus legt die Schrift mit ihrer im Vergleich zur mündlichen Rede stärkeren Reglementierung der Individualität ihres Urhebers »Fesseln« an,91 beengt durch ihre »Festigkeit und Ordnung« den semantischen Freiraum der Begriffe92 und erscheint als Medium verbaler ›Mortifikation‹.93 Aus der spätmittelalterlichen Erfindung des »Lumpenpapiers«, die einen Zuwachs an schriftlichen Erzeugnissen nach sich zog, resultiert für Herder sogar ein Rückgang der kreativen Denkfähigkeit: »Je mehr sich Schriften vermehrten, desto mehr verminderten sich ganz eigentümliche, freie Gedanken; endlich ward der menschliche Geist ganz in Lumpen gekleidet« – eine Entwicklung, die durch die spätere Erfindung des Buchdrucks weiter forciert wird.94 Die für Herder mit der Literalität verbundenen Verlusterfahrungen lassen sich, wie Jürgen Schiewe überzeugend dargelegt hat, auf eine gegenüber dem

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Ebd., S. 187. »Nicht bloß mit dem Tode der Sprache, sondern mit jedem Lebensalter gehen gewisse Vollkommenheiten verloren, die durch Vollkommenheiten eines andern Lebensalters ersetzt werden« (ebd., S. 251). Zur Schriftkritik bei Herder vgl. ausführlich Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache, S. 106– 111 sowie zusammenfassend Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 169–171. Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 702. Vgl. ebd., S. 699f. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 705f. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten, S. 194. Johann Gottfried Herder: Vom Einfluß der Schreibekunst ins Reich der menschlichen Gedanken. In: Herders Sämmtliche [sic!] Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 32. Berlin 1899, S. 517– 518, hier S. 517. Vgl. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten, S. 244; Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 704. Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. In: J.G.H.: Werke. 10 Bde. Hg. v. Martin Bollacher u. a. Bd. 7. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a. M. 1991, S. 9–806, hier S. 528.

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mündlichen Sprechen grundlegend veränderte kommunikative Konstellation zurückführen: Während die orale Verständigung auf einer situativen Einheit von Sprechen und Hören, von Produktion und Rezeption basiert, erlaubt der konservierende Charakter der Schrift eine räumliche und zeitliche Trennung zwischen Sender und Empfänger der verbalen Botschaft. Insofern konstituiert sich die Schrift durch »zwei Kommunikationssituationen, in denen das Gegenüber aus Papier besteht. Sprache [sic!] und Hören werden zu einem vereinzelten und vereinzelnden Schreiben und Lesen«.95 Die schriftliche Codierung führt dabei zu einer doppelten Entfremdung, die den Schreiber einerseits vom selbstverfaßten Text, andererseits aber auch vom potentiellen Leser trennt.96 Mit besonderem Nachdruck akzentuiert Herder den defizienten Charakter der schriftlichen Kommunikation im Hinblick auf die Verbalisierung emotional besetzter Sachverhalte und läßt dabei auf eine für die Epoche der Empfindsamkeit typische Weise phonozentrische Schriftkritik mit sentimentalischer Sprachkritik konvergieren. So bemerkt er am 11. Mai 1771 in einem Brief an seine Braut Karoline Flachsland über die Schwierigkeit, eine empfindungsvolle Landschaftswahrnehmung in schriftlicher Form wiederzugeben: »Die Gestalten [der affektiv aufgeladenen Landschaft] sind nicht zu malen, sonst hätten Sie schon eine Menge von Gedichten bekommen; der Gedanke verschwindet, wenn ihn das träge Wort aufnehmen will! Die unmittelbare Sprache redet mehr, ach aber – es ist doch immer nur Bild der Seele, Schatte, Nebel«.97 Während das »träge Wort« der Schrift der gefühlshaften Dynamik des »Gedankens« antithetisch gegenübersteht, vermag die »unmittelbare Sprache« der Rede, obgleich ebenfalls als defizient markiert, dem von Herder intendierten Aussagesubstrat offenbar eher gerecht zu werden. In den Fragmenten ›Über die neuere deutsche Literatur‹ stellt Herder das unterschiedliche expressive Potential von Rede und Schrift bei der Kommunikation von Empfindungen in einen poetologischen Kontext, wenn es über den Dichter heißt: »Er soll Empfindungen ausdrücken: – Empfindungen durch eine gemahlte Sprache in Büchern ist schwer, ja an sich unmöglich. Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers – so spricht die Empfindung eigentlich, und überläßt den toten Gedanken das Gebiet der toten Sprache«.98 Der Ausweg aus diesem Dilemma, den Herder den als »arme Dichter« apostrophierten Poeten des schriftzen95 96

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Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache, S. 108. Die für die schriftliche Kommunikation charakteristischen Entfremdungs- und Distanzerfahrungen hat Goethe ganz analog zu Herder in den ›Wahlverwandtschaften‹ anhand der NebenFigur des Schreibers skizziert und in den ›Wanderjahren‹ im Zusammenhang mit der auf das Medium des Briefes beschränkten Beziehung zwischen Wilhelm und Natalie facettenreich vor Augen geführt (vgl. dazu S. 60 sowie S. 194–200 der vorliegenden Studie). Johann Gottfried Herder: Briefe. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. 12 Bde. Bd. 2. Weimar 1977, S. 22f. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Dritte Sammlung, S. 402.

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trierten Zeitalters anbietet, besteht in einer Anreicherung des Geschriebenen mit den für die orale Kommunikation charakteristischen Elementen »natürlichen Ausdruck[s]«,99 die, wie Ulrich Gaier zutreffend konstatiert, in Form von »Inversionen, Betonungen und Hervorhebungen, Tonwechsel[n] zwischen Ausruf, Frage, mitteilender Rede [...] der modernen Büchersprache einen Aspekt impliziter Mündlichkeit« zu verleihen vermögen.100 Während Herders Schriftkritik vornehmlich die Sprachstufe der Gegenwart trifft und damit auf ein bestimmtes historisches Entwicklungsstadium verbalen Bezeichnens zielt, finden sich in seinem umfangreichen Werk auch zahlreiche Passagen, die einen grundsätzlichen Zweifel an den Möglichkeiten der Sprache verraten. In den ›Ideen‹ wirft Herder eine Frage auf, die dem Bereich der kommunikativen Sprachskepsis zugehört und die von Goethe in der chemischen Gleichnisrede der ›Wahlverwandtschaften‹ ›in extenso‹ demonstrierte Subjektivierung der Semantik antizipiert: »Verstehet mich der andre? verbindet er mit dem Wort die Idee, die ich damit verband oder verbindet er gar keine?«101 Einen ähnlichen Zweifel an der intersubjektiven Verbindlichkeit von Wortbedeutungen formuliert Herder in den Fragmenten ›Über die neuere deutsche Literatur‹. Dabei verwendet er den Münzwert als Metapher sprachlicher Kommunikation und rekurriert damit auf einen bereits in der Antike häufig verwendeten Topos,102 den später auch Goethe in einem vergleichbaren Kontext gebraucht.103 So bemerkt Herder über die »feinere Sprache des Umgangs«: Wir »wechseln [...] mit Worten, wie mit Geldstücken: jedes soll seinen bestimmten Wert haben: aber ob es ihn hat, und ob der andre weiß, wie viel es haben soll; das ist eine ganz andre Frage«. Der weitere Fortgang der Textpartie erläutert die mögliche Bedeutungsdiffusion am Beispiel eines geschlechtsspezifischen

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Ebd., S. 403. Ulrich Gaier: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, S. 58. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: J.G.H.: Werke. 10 Bde. Hg.v. Martin Bollacher u. a. Bd. 6. Hg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1989, S. 9–898, hier S. 359. Harald Weinrich hat für die metaphorische Analogie zwischen dem Bildspender »Münze« und dem Bildempfänger »Wort« Belegstellen bei Horaz, Ovid, Plutarch, Lukian, Sextus Empiricus und Quintilian angeführt und daraus die Vermutung abgeleitet, »daß der Vergleich der Wörter mit Münzen aus der griechischen Skepsis« stamme (Harald Weinrich: Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld. In: Heinrich Lausberg, H.W.: Romanica. Fs. für Gerhard Rohlfs. Halle 1958, S. 508–521, hier S. 510f.). Ähnlich wie Herder, der in einem sprachtheoretischen Zusammenhang die Metaphern der arbiträr bezeichnenden »Scheidemünzen« und der natürlich bezeichnenden »Goldstücke« voneinander unterscheidet (Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten, S. 195), verwendet auch Goethe das Bild der Münze, um die unterschiedlichen Arbitraritätsgrade sprachlichen Bezeichnens zu veranschaulichen, wenn er in den Notizen zu seinen »Physikalischen Vorträgen« festhält: »Verba valent sicut nummi. Aber es ist ein Unterschied unter dem Gelde. Es gibt goldne, silberne, kupferne Münzen und auch Papiergeld. In den erstern ist mehr oder weniger Realität, in dem letzten nur Convention« (Johann Wolfgang Goethe: Symbolik. In: WA II, 11, S. 167–169, hier S. 167).

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Wortgebrauchs: »Ein Frauenzimmer [...] wird über Dinge, die in ihrer Sphäre sind, mit einer Geläufigkeit, ungekünstelten Bestimmtheit, und naiven Schönheit sprechen, daß sie gefällt; kömmt aber ein Schulgelehrter, der ihre Worte wägen will: so wird sie schüchtern werden; will er philosophische Erklärungen und Bestimmungen, so wird sie stammeln – nochmals stammeln und endlich dasselbe Wort wiederholen«.104 Die chemische Gleichnisrede der ›Wahlverwandtschaften‹ rekurriert deutlich auf Herders kommunikationsskeptische Bemerkung, wenn Charlotte im Bezug auf die unterschiedlichen Definitionsversuche des Begriffs »Verwandtschaft« die pragmatisch-konversationsorientierte Ausrichtung weiblichen Wortverständnisses betont: »Wir Frauen [...] nehmen es nicht so genau [...]. Deshalb möchte ich nur wissen, in welchem Sinne dieser Ausdruck eben bei diesen Gegenständen gebraucht wird. Wie es wissenschaftlich damit zusammenhänge, wollen wir den Gelehrten überlassen«.105 Neben der kommunikativen spielt auch die erkenntnistheoretische Dimension der Sprachkritik in Herders Werk eine wichtige Rolle. Eine Bemerkung aus den ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ verbindet beide Bereiche miteinander, um eine grundsätzliche Defizienz verbaler Signifikation zu konstatieren: »Indessen zeigt eine kleine nähere Ansicht, wie unvollkommen dies Mittel unsrer Bildung [die Sprache] sei, nicht nur als Werkzeug der Vernunft, sondern auch als Band zwischen Menschen und Menschen betrachtet; so daß man sich beinah kein unwesenhafteres, leichteres, flüchtigeres Gewebe denken kann, als womit der Schöpfer unser Geschlecht verknüpfen wollte«.106 Dabei affiziert das »Gewebe« der Worte die menschliche Denkfähigkeit in doppelter Weise, indem es, wie Herder an anderer Stelle bemerkt, »der ganzen menschlichen Erkenntnis Schranken und Umriß« gibt.107 Die Metaphern »Umriß« und »Schranke« bezeichnen zwei unterschiedliche Wirkungsarten, welche die Sprache im Hinblick auf das kognitive Vermögen des Menschen entfaltet: Der »Umriß« verweist auf die ordnende Kraft der Worte, die das ›per se‹ ungegliederte Wahrnehmungskontinuum des Menschen in einzelne Rubriken parzelliert; die »Schranke« markiert jenen Graben der Arbitrarität, der – von ursprachlichen Naturlauten und onomatopoetischen Imitationen abgesehen – die verbalen Signifikanten von ihrer außersprachlichen Referenz trennt und damit auch der für Herder durchgängig sprachgebundenen menschlichen Erkenntnis eine unüberwindbare Grenze vorzeichnet.

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Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten, S. 396. Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften, S. 300f.; vgl. dazu S. 66 der vorliegenden Studie. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 348. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. Erste Sammlung. Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe. 1768. In: J.G.H.: Werke. 10 Bde. Hg. v. Martin Bollacher u. a. Bd. 1. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985, S. 541–649, hier S. 557.

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Sowohl den Ordnungs- als auch den Arbitraritätsaspekt der Sprache hat Herder in seinem umfangreichen Werk immer wieder herausgestellt. So bezeichnet er die Sprache in einer berühmten Formulierung als »Organon aller Verstandes-, Einbildungs- und Sinnenbegriffe«,108 nennt sie an anderer Stelle das »Organon unsrer Vernunft«,109 vergleicht sie mit einem »Register«110 und dehnt den Wirkungsbereich ihrer ordnenden Kraft sogar bis auf die Selbsterkenntnis der »menschliche[n] Seele« aus, über die er feststellt: Sie »denkt mit Worten; sie äußert nicht nur, sondern sie bezeichnet sich selbst auch und ordnet ihre Gedanken mittelst der Sprache«.111 Die Arbitrarität der Sprache exponiert Herder anhand des von ihm zugrundegelegten sprachgenetischen Entwicklungszusammenhanges, der vom wahrgenommenen Phänomen über dessen vom Menschen ausgewähltes Identifikationsmerkmal bis zum artikulierbaren Wort reicht. Dabei sieht er die Transformation der empirischen Realsphäre in verbale Signifikanten von zwei Distanzierungsmechanismen geprägt: »Keine Sprache druckt Sachen aus, sondern nur Namen: auch keine menschliche Vernunft also erkennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ihnen, die sie mit Worten bezeichnet«.112 Bereits die Auswahl des charakterisierenden Merkmals unterliegt der menschlichen Willkür und ist keineswegs notwendig im Wesen der zu bezeichnenden Sache begründet; die »merklichste Eigenschaft« muß »nicht immer die wesentlichste seyn [...], indem sehr oft das Moment der Erfahrung, mithin ein Nebenumstand Anlaß zur Bezeichnung gab [und] nach dieser einmal- und einseitig-getroffenen Bezeichnung andre Eigenschaften des Dinges vorbeigegangen wurden«.113 Die Umwandlung des ausgewählten Merkmals in eine Lautfolge geschieht dann wiederum in Form einer subjektiven Setzung, die nicht auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Signifikant und Signifikat beruht, wie Herder in den ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ feststellt: »Unsere Vernunft ist [...] nur eine bezeichnende Rechnerin [...]. Und womit rechnet sie? Etwa mit den Merkmalen selbst, die sie abzog, so unvollkommen und unwesenhaft diese auch sein mögen? Nicht minder! Diese Merkmale werden abermals in willkürliche, ihnen ganz unwesenhafte Laute verfaßt, mit denen die Seele denket. Sie rechnet also mit Rechenpfennigen, mit Schällen und Ziffern: denn daß ein wesentlicher Zusam-

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Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. In: J.G.H.: Werke. 10 Bde. Hg. v. Martin Bollacher u. a. Bd. 8. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a. M. 1998, S. 303–640, hier S. 482. Ebd., S. 321. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 349. Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, S. 320. In den ›Wahlverwandtschaften‹ stellt Goethe die sprachlichen Bewältigungsversuche des Figurenpersonals in den Horizont fragwürdiger Ordnungsbemühungen und knüpft damit indirekt an die beschriebene Reflexionsfigur Herders an (vgl. dazu S. 59–63 der vorliegenden Studie). Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 348. Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, S. 404.

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menhang zwischen der Sprache und den Gedanken, geschweige der Sache selbst sei, wird niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde kennet«.114 Da »die Seele« also im Akt der Verbalisierung »ein Andres durch ein Andres« ausdrückt, gehorcht der sprachliche Bezeichnungsmodus insgesamt dem rhetorischen Verfahren der »Allegorie«.115 Daß sowohl die Auswahl des charakterisierenden Merkmals als auch dessen verbale Signifizierung ausschließlich der menschlichen Willkür unterliegt, verleiht der Sprache, wie später auch Goethe konstatiert,116 überdies einen grundsätzlich anthropomorphen Charakter, den Herder bereits für die ersten menschlichen Worte reklamiert.117 Die Arbitrarität der Sprache birgt für Herder insbesondere im Fall der Schulphilosophie die Gefahr, daß sich die abstrakten und spekulativen ›verba‹ gegenüber den ›res‹ verselbständigen. Er warnt daher nachdrücklich vor einer zum Selbstzweck erstarrten wissenschaftlichen Terminologie, die dazu verleitet, sich »an Formeln [zu] gewöhn[en], als ob [man] den Begriff, an Begriffe, als ob [man] die Sache habe«.118 Als Kontrollinstanz gegen einen solchen aus bedeutungsleeren »Schälle[n] oder Lettern« bestehenden »Wortkram«,119 wie ihn im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Studien auch Goethe anprangert120 und in der Schüler-Szene des ›Faust I‹ mit satirischem Spott überzieht,121 empfiehlt Herder das geistige Verfahren einer »negative[n] Philosophie«,122 der es nicht auf die Erkenntnis von Wahrheiten ankommt, sondern die ausschließlich darauf ausgerichtet ist, die Schranken des Erkenn- und Benennbaren abzustecken, also aufzuzeigen, wo dem Wissensanspruch und dem Verbalisierungsvermögen unüberwindliche Grenzen gesetzt sind. Trotz aller Vorbehalte, die Herder gegen das Erkenntnis- und Kommunikationspotential der Sprache geltend macht, ist sein Œuvre über weite Strecken von einem grundlegenden Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten verbaler Signifikation geprägt. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, daß er eine Fülle von Vorschlägen zur Vervollkommnung der deutschen Gegenwartssprache entwik114 115 116 117

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Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 349. Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, S. 421. Vgl. dazu S. 54 der vorliegenden Studie. Vgl. dazu die folgende Bemerkung Herders aus seiner ›Abhandlung über den Ursprung der Sprache‹: »Indem der Mensch [...] alles auf sich bezog: indem alles mit ihm zu sprechen schien, und würklich für oder gegen ihn handelte: indem er also mit oder dagegen Teil nahm, liebte oder haßte, und sich alles menschlich vorstellte, alle diese Spuren der Menschlichkeit druckten sich auch in die ersten Namen!« (Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 738). Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft S. 424; vgl. ebd., S. 520f. Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, S. 422. Vgl. dazu S. 53 der vorliegenden Studie. Zu den sprachkritischen Herder-Referenzen der Schüler-Szene des ›Faust I‹ siehe Günther Jacoby: Herder als Faust. Leipzig 1911, S. 290–296. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. Erste Sammlung. Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe. 1768, S. 557.

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kelt. So plädiert Herder, um nur wenige Beispiele anzuführen, für die Korrektur mißverständlichen Sprachgebrauchs,123 für die Behebung von Ausdrucksdefiziten der Muttersprache durch Zuhilfenahme fremdsprachlicher Lehnworte124 sowie für die Eliminierung »sinnlos-gelernte[r] Worte«.125 Darüber hinaus entwirft er sogar die Utopie einer durch »intellektuale Vollkommenheit« gekennzeichneten Philosophensprache, die »in allen Worten richtig, genau, erwiesen, einen Schatz von vollkommenen Begriffen enthält«.126 Herders Ziel der Sprachoptimierung ist getragen von seiner Überzeugung, daß die Sprache bei angemessener Verwendung sowohl die Erkenntnis zu befördern als auch deren intersubjektive Vermittlung zu gewährleisten vermag127 – eine Überzeugung, die in einem merkwürdigen Widerspruch zu Herders zahlreichen sprachskeptischen Bemerkungen steht und den Schwellencharakter seines zwischen Sprachvertrauen und Sprachzweifel oszillierenden Denkens deutlich markiert.

2.2. Georg Christoph Lichtenberg Die Sprachreflexionen des von Goethe hoch geschätzten und in den ›Wanderjahren‹ mit einer expliziten Würdigung beehrten128 Georg Christoph Lichtenberg, der seit 1770 an der Universität Göttingen das Amt eines Professors der Philosophie innehatte und dort mit seinen Vorlesungen über Experimentalphysik ein außerordentliches Ansehen gewann,129 erreichen gegenüber denjenigen Herders eine noch größere skeptische Sprengkraft. Dies mag unter anderem an jener in einem Aphorismus aus dem ersten Heft der ›Sudelbücher‹ prägnant 123 124 125 126 127

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Vgl. Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, S. 320. Johann Gottfried Herder: Adrastea. In: J.G.H.: Werke. 10 Bde. Hg. v. Martin Bollacher u. a. Bd. 10. Hg. v. Günter Arnold. Frankfurt a. M. 2000, S. 9–961, hier S. 73 f. Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, S. 522. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. Erste Sammlung. Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe, S. 636f. Johann Gottfried Herder: Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen. In: Herders Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 30. Berlin 1889, S. 217–226, hier S. 217f. So bemerkt Goethe in einer Maxime aus den ›Wanderjahren‹ anerkennend: »Lichtenberg’s Schriften können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen; wo er einen Spaß macht liegt ein Problem verborgen« (Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden ›Zweite Fassung 1829‹. In: FA 10, S. 263–774, hier S. 761. Sofern nicht anders vermerkt, beziehen sich die Zitate aus den ›Wanderjahren‹ im folgenden auf die zweite Fassung). Auch in einer Rezension bezeugt Goethe seine Wertschätzung: »Lichtenbergs Reichtum wird bewundert, ihm stand eine ganze Welt von Wissen und Verhältnissen zu Gebote, um sie wie Karten zu mischen und nach Belieben schalkhaft auszuspielen!« (Johann Wolfgang Goethe: Byrons Don Juan. In: WA I, 41/1, S. 245–249, hier S. 248). – Zu einer möglichen Vorbildfunktion Lichtenbergs für die Figur des Astronomen in den ›Wanderjahren‹ siehe Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion, S. 165. Vgl. dazu Wolfram Mauser: Georg Christoph Lichtenberg – Vom Eros des Denkens. Freiburg i. Brsg. 2000, S. 205.

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verdichteten sokratischen Geisteshaltung liegen, die vorgebliche Gewißheiten in Zweifel zieht und ihr Interesse vornehmlich auf die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens richtet: »Weiser werden heißt immer mehr und mehr die Fehler kennen lernen, denen dieses Instrument, womit wir empfinden und urteilen, unterworfen sein kann«.130 Es versteht sich beinahe von selbst, daß eine Philosophie, die darauf abzielt, »das längst Geglaubte für unausgemacht zu halten«,131 das eigene Darstellungsmedium von ihrem Gestus skeptischen Hinterfragens nicht auszunehmen vermag. Ähnlich wie Herder und später auch Goethe sieht Lichtenberg das kommunikative Potential der Sprache dadurch gefährdet, daß dieselben Worte je nach Verstehenshorizont des Rezipienten in unterschiedlicher Weise semantisiert werden: »Eine Verbindung von Begriffen mit Worten ausgedruckt kann für einen andern ganz etwas anders werden«.132 Für Lichtenberg hat die Sprache keinerlei integrative Funktion; sie erscheint als ein heterogenes Konglomerat jeweils subjektiv eigener Spracharten, die sich einer objektivierenden Kommunikation verweigern und den einzelnen Menschen in seinem individuellen Sprachsystem isolieren: »Es wäre nicht gut, wenn die Selbstmörder oft mit der eigentlichen Sprache ihre Gründe erzählen könnten, so aber reduziert sie sich jeder Hörer auf seine eigene Sprache und entkräftet sie nicht sowohl dadurch, als macht ganz andere Dinge daraus. Einen Menschen recht zu verstehen müßte man zuweilen der nämliche Mensch sein, den man verstehen will«.133 Eingeschränkt durch das relativierende Adverb »zuweilen« verknüpft Lichtenberg die Skepsis gegenüber dem sprachlichen Kommunikationspotential mit einem hermeneutischen Zweifel an der Möglichkeit des Verstehens: Die »eigentliche Sprache«, die zwischen den jeweils »eigenen Sprachen« vermitteln und so den Graben zwischen Sender und Empfänger der verbalen Botschaft überspringen könnte, erscheint als bloße Utopie, die nicht zufällig im Modus des Konjunktivs präsentiert wird; der Einzelne bleibt in seinem subjektiven Interpretationshorizont befangen und vermag daher weder die Gedanken noch die Gefühle134 eines anderen nachzuvollziehen.

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A 137 (Die Aphorismen aus den Sudelbüchern werden nach der folgenden, von Wolfgang Promies besorgten Edition der Schriften und Briefe zitiert und mit der dortigen Numerierung nachgewiesen: Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher. In: G.C.L.: Schriften und Briefe. 4 Bde. Bd. 1. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1968, S. 7–948; Sudelbücher II. In: G.C.L.: Schriften und Briefe. 4 Bde. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Promies. München, Wien 1971, S. 7–564). K 49. D 464. B 262; vgl. dazu Jürgen Schiewe: Die Macht der Sprache, S. 121. Bereits Rudolf Jung hat darauf hingewiesen, daß die Sprache für Lichtenberg kein »Mittel der Kommunikation«, sondern »eher [eines] der Isolation« darstelle (Rudolf Jung: Studien zur Sprachauffassung Georg Christoph Lichtenbergs. Frankfurt a. M. 1967, S. 74) . Nicht nur in sprachlicher, sondern auch in emotionaler Hinsicht begreift Lichtenberg den Menschen als isoliertes Wesen: »Ebenso können wir unmöglich für andere fühlen, wie man zu sagen pflegt; wir fühlen nur für uns« (H 151).

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Lediglich im Modus des Gebets, das als ein von jedem Realisierungsanspruch entbundenes Wunsch-Medium beschrieben werden kann, skizziert Lichtenberg eine Lösung der verbalen Kommunikationsproblematik, indem er für sich die Fähigkeit erbittet, unter Umgehung der Ratio den Rezipienten unmittelbar erreichen zu können: »Lehre mich dem Menschen in das Herz zu reden, ohne daß mein Ausdruck in dem brechenden Mittel seines Gesinnungs-Systems eine andere Richtung nimmt«.135 Das »brechende Mittel« des subjektiven »Gesinnungs-Systems«, das sich auf Seiten des Rezipienten dem adäquaten Verständnis sprachlicher Äußerungen entgegenstellt, resultiert für Lichtenberg aus dem Zusammenwirken jeweils unterschiedlicher Erlebnisse und Erfahrungen, die gleichsam den hermeneutischen Horizont des Einzelnen konstituieren: »Wie mannichfaltig sind die Vorfälle des Lebens aus denen hernach Gesinnungen und Meinungen werden«.136 Die verschiedenen »Meinungen« bestimmen ihrerseits wiederum die Verbalisierung außersprachlicher Geschehnisse: »Die Menschen können nicht sagen, wie sich eine Sache zugetragen, sondern nur wie sie meinen, daß sie sich zugetragen hätte« (C 375). Mit dieser meinungsabhängigen Sprachproduktion korreliert Lichtenberg ein je verschiedenes Sprachverständnis: »Wir sehen [...] jeder einen andern Satz als der andere«.137 Dabei erscheint die Sprache durch einen gegenüber dem Denken höheren Differenzierungsgrad gekennzeichnet: »Wir denken über die Vorfälle des Lebens nicht so verschieden, als wir darüber sprechen«.138 Während im stummen Denken, das Lichtenberg an dieser Stelle offenbar als weitgehend sprachunabhängig ansieht, ein intersubjektives Einverständnis prinzipiell möglich ist, weist dessen verbale Kommunikation eine Tendenz zur Entzweiung auf. Deshalb empfiehlt Lichtenberg, wo immer es möglich ist, auf sprachlichen Austausch zu verzichten: »Da wo einen die Leute nicht mehr können denken hören, da muß man sprechen, sobald man dahin kommt wo

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D 54. Vgl. dazu auch den poetologischen Aphorismus A 65, in welchem Lichtenberg der Frage nachgeht, wie der Dichter den rezeptionsästhetischen Unmittelbarkeitsvorsprung, der Musik und Malerei gegenüber der Sprache zukommt, durch die Konstruktion einer ›vermittelten Unmittelbarkeit‹ sprachlich einzuholen vermag: »Eine Empfindung, die mit Worten ausgedruckt wird, ist allzeit wie Musik die ich mit Worten beschreibe, die Ausdrücke sind der Sache nicht homogen genug. Der Dichter, der Mitleiden erregen will, verweist doch noch den Leser auf eine Malerei und durch diese auf die Sache. Eine gemalte schöne Gegend reißt augenblicklich hin, da eine besungene erst im Kopf des Lesers gemalt werden muß. Bei der ersten hat der Zuschauer nichts mehr mit der Einrichtung zu tun, sondern er schreitet gleichsam zum Besitz, wünscht sich die Gegend, das gemalte Mädgen, bringt sich in allerlei Situationen, vergleicht sich mit allerlei Umständen bei der Sache« (A 65; meine Hervorhebung). D 19; vgl dazu auch J 33, wo Lichtenberg bemerkt: »Die Menschen sind unter sich [...] unendlich verschieden, und da die Größe überhaupt etwas Relatives ist, so ist hier eine unendliche Verschiedenheit, und wenn wir die Gesinnungen der Menschen sehen könnten, wir würden eine Verschiedenheit antreffen, die für das höchste forschende Auge unendlich sein würde«. F 760. J 692.

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man nun wieder Gedanken voraussetzen kann, die mit unsern einerlei sind, da muß man aufhören zu sprechen«.139 Neben der kommunikativen Dimension verbaler Äußerungen hat sich Lichtenberg auch mit den Auswirkungen der Sprache auf die wissenschaftliche Erkenntnis beschäftigt. So stellt er etwa bei einigen seiner Schüler eine sprachbedingte Verständnisschwierigkeit bezüglich mathematischer Gesetzmäßigkeiten fest: »Wir sind gewohnt uns des Anhäng-Worts mal z.E. 5mal 1000mal pp immer bei einer Vermehrung zu bedienen, dieses hat verschiedene Leute, denen ich die Rechnungen mit Brüchen erklärte, auf ganz wunderbare Gedanken gebracht als wenn nämlich unmöglich Sätze die von der Multiplikation sind erwiesen worden, unmöglich [sic!] von der Multiplikation in Brüchen gelten könnten; ein artiger Einfluß der Sprache auf die Meinung«.140 Die geläufige Sprachverwendung der Partikel »mal« als Indikator einer quantitativen Zunahme hindert die Schüler daran, die mathematische Funktionsweise der Multiplikation, die, falls der Multiplikator kleiner als 1 ist, auch zu einer Verringerung des Ausgangswertes führen kann, angemessen zu verstehen. Doch nicht nur auf Seiten der Schüler, sondern auch auf Seiten der Wissenschaftler kann die Habitualisierung bestimmter Sprachstrukturen zu falschen Erkenntnissen führen, wie Lichtenberg am Beispiel einer Aussage des von ihm ansonsten geschätzten141 Botanikers Carl von Linné zeigt: »Linnaeus [...] sagt die Steine wachsen, die Pflanzen wachsen und leben, die Tiere wachsen leben und empfinden, das erste ist falsch, denn der [sic!] Wachstum der Steine hat keine Ähnlichkeit mit dem Wachstum der Tiere und Pflanzen. Vermutlich hat ihn das Steigende des Ausdrucks, den er bei den letzten gespürt hat, auf den Gedanken gebracht, auch die erstern mit unter diese Klasse zu bringen«.142 Die stilistische Suggestionskraft der dreigliedrigen Klimax verleitet Linné zu einer vereinheitlichenden Systematisierung, die im Dienste verbaler Prägnanz die Differenz zwischen anorganischer und organischer Sphäre nivelliert. Diese aphoristische Diagnose eines sprachinduzierten Irrtums verweist als anschauliches Exempel auf die Gefahr einer verbalen Beeinflussung des Denkens, die Lichtenberg in seinem Vortrag ›Von den Charakteren der Sprache‹ als »stille Macht der Wortfügung über die Wahrheit« brandmarkt.143

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B 86. A 159. Zu Beginn des Heftes F der Sudelbücher bemerkt Lichtenberg anerkennend: »Einige artige Abhandlungen in Linnés auserlesenen Abhandl. aus der Naturgeschichte« (Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, S. 455); vgl. hierzu auch J 24 sowie L 395. A 22. Georg Christoph Lichtenberg: Von den Charakteren der Sprache. In: G.C.L.: Schriften und Briefe. 4 Bde. Bd. 3. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1972, S. 497–501, hier S. 500. Vgl. dazu auch K 19, wo Lichtenberg vor einer »Herrschaft der Sprache über die Meinungen« warnt.

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Die wahrheitsverzerrende Macht der Sprache gründet für Lichtenberg indes nicht allein auf syntagmatischen Konventionen der Wortverknüpfung, sondern ist bereits auf der Ebene der Einzelworte am Werk. Die abstrakte Begrifflichkeit der ›verba‹ verfehlt die von Konkretion und Individuation gekennzeichneten ›res‹. Bereits im ersten Heft der ›Sudelbücher‹ notiert Lichtenberg einen entsprechenden sprachskeptischen Befund, auf den er in seinen späteren Aphorismen immer wieder zurückkommt: »Es ist ein gantz unvermeidlicher Fehler aller Sprachen daß sie nur genera von Begriffen ausdrücken, und selten das hinlänglich sagen was sie sagen wollen«.144 Die generalisierende Terminologie scheitert nach Lichtenberg sowohl an der Beschreibung äußerer Sachverhalte als auch an der Wiedergabe innerer Regungen. Je undifferenzierter das jeweilige Sprachsystem der ›genera‹ und ›species‹ ausfällt, desto weniger ist es in der Lage, die ›individua‹ der Natur angemessen zu repräsentieren.145 Dies gilt nicht nur für die Klassifikation von leblosen Gegenständen,146 sondern auch für die Verbalisierung der menschlichen Psyche: »[D]ie Wörter, wodurch wir die Eigenschafften der Seele ausdrücken sind so zu reden nur Geschlechts Namen, die noch sehr viele Gattungen unter sich begreifen [...] Eben so wird man offt in unserer Sprache finden, wieviel Regungen es in uns giebt, die feiner sind als unsere Worte«.147 Neben der abstrahierenden Bezeichnungsweise verbaler Begrifflichkeit, die Heinz Gockel in einer scharfsinnigen Studie als eine wesentliche Triebfeder der Lichtenbergschen Sprachskepsis aufgewiesen hat,148 steht auch die unzureichende semantische Verknüpfung zwischen den jeweiligen Aussagewerten einzelner Worte einer angemessenen Verbalisierung innerpsychischer Phänomene entgegen. Die menschliche Seele ist hinsichtlich ihrer einzelnen Qualitäten von kontinuierlicher Übergänglichkeit und vielfältigen Bezügen gekennzeichnet, im Zuge ihrer Versprachlichung aber wird sie in verschiedene Begriffe zerlegt, die keinerlei Verwandtschaft zueinander aufweisen. Damit separiert die Sprache das Verbundene und suggeriert entschiedene Differenzen zwischen dem eigentlich Verwandten: »[W]enn wir unsere Wörter mit den Sachen vergleichen, so werden wir finden daß die letzteren in einer ganz andern Reihe fortgehen als die erstern. Die Eigenschaften die wir an unserer Seele bemerken hängen so zusammen, daß sich wohl nicht leicht eine Grenze wird angeben lassen, die zwischen zweien wäre, die Wörter, womit wir sie ausdrücken, sind nicht so beschaffen, und 144 145 146

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A 118. »Die Natur schafft keine genera und species, sie schafft individua [...] [Unsere] Begriffe werden immer unrichtiger je größer die Geschlechter sind, die wir uns machen« (A 17). Im Aphorismus A 17 führt Lichtenberg die »Mineralien« als Beispiel für den vergeblichen Versuch an, ein differenziertes Spektrum einzelner Erscheinungen auf ein »erstes Allgemeines« zurückzuführen. Georg Christoph Lichtenberg: Von den Charakteren der Sprache, S. 501. Heinz Gockel: Individualisiertes Sprechen. Lichtenbergs Bemerkungen im Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Sprachkritik. Berlin, New York 1973, hier bes. S. 104–106.

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zwei aufeinander folgende und verwandte Eigenschaften werden durch Zeichen ausgedrückt, die uns keine Verwandtschaft zu erkennen geben«.149 Der hier formulierte Illusionscharakter der Sprache verweist auf eine weitere skeptische Feststellung Lichtenbergs, die in ähnlichem Zusammenhang die Wahrheitsfähigkeit der Sprache rigoros negiert: »Unsere falsche Philosophie ist der ganzen Sprache einverleibt; wir können so zu sagen nicht raisonnieren, ohne falsch zu raisonnieren«.150 Oder, um es mit einem Vers aus Goethes Alterslyrik auf den Punkt zu bringen: »Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren«.151 Um der erkenntnishemmenden Kraft der Sprache beizukommen, empfiehlt Lichtenberg drei unterschiedliche Strategien. Erstens propagiert er die Maxime, durch eine möglichst exakte Begrifflichkeit der generalisierenden Tendenz der Sprache entgegenzuwirken: »Das Besondere statt des Allgemeinen, proprie communia dicere Gänsediebstahl statt Dieberei (dieses ist das Element des Ausdrucks[)]«.152 Zweitens plädiert er für eine Art Entsubstantialisierung verbaler Signifikation, indem er die Worte nicht als charakterisierende »Definitionen«, sondern lediglich als arbiträre »Zeichen« eines Sachverhalts verstanden wissen will.153 Ziel ist es dabei vor allem, die Benennung der Dinge von der jeweils herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung freizuhalten, um nicht im Falle eines Erkenntnisfortschritts eine zunehmend veraltende Theorie durch die von ihr abgeleitete Nomenklatur zu konservieren. Wenn die einzelnen Worte lediglich als arbiträre Signifikanten fungieren, erscheint ein neues Verständnis ihrer Referenz auch unter Beibehaltung des überkommenen Vokabulars möglich. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, daß die »Definition« von Phänomenen »immer das veränderliche Resultat des gesamten Fleißes der Forscher ist«,154 deren Erkenntnissen sich das verbale Signifikationsmaterial möglichst flexibel anzupassen hat – zumal nicht nur die wissenschaftlichen Erklärungen vergänglich, sondern auch die betrachteten Phänomene selbst laut Lichtenberg derart permanenten Wandlungen unterworfen sind, »daß keine Sache zween Sekunden dieselbe bleibt«:155 Wenn sich »alles [...] in jedem Augenblick [...]

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A 118. H 146. Johann Wolfgang Goethe: Spruch, Widerspruch. In: FA 2, S. 420. KA 275; eine ähnliche Forderung erhebt Lichtenberg im Aphorismus L 338: »Immer individuell; immer lieber Hamburgischer Correspondent als Zeitung. Statt Freude, der heilige Schein der Freude et sic in infinitum, NB.« (L 338). Vgl. dazu auch den in einem Brief an Friedrich Nicolai geäußerten Wunsch Lichtenbergs: »Freilich schreiben müßte man gelernt haben und die Kunst verstehen, wenn ich so reden darf, sich selbst auszusprechen so individuell als möglich« (Georg Christoph Lichtenberg: Brief an F. Nicolai vom 29. März 1795. In: G.C.L.: Schriften und Briefe. 4 Bde. Bd. 4. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1967, S. 920–922, hier S. 920). K 19. Ebd., meine Hervorhebung. F 307.

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verändert«,156 müssen die Worte den täuschenden Eindruck vermeiden, in ihnen wären die Wesensmerkmale der bezeichneten Dinge verläßlich und dauerhaft fixiert. Drittens legen verschiedene Aphorismen Lichtenbergs dem Leser nahe, »die Worte in dem Besitz ihrer Bedeutungen zu stören«,157 das verfestigte Relationengefüge der Begriffe durcheinanderzubringen und die schematisierende Sprachordnung aufzubrechen, um auf diesem Wege kreative Impulse freizusetzen und überkommene Wissensbestände durch »unverhoffte Kombinationen« zu erweitern.158 Ein wichtiges Mittel zur Erreichung dieser Ziele kann nach Lichtenberg die Metapher darstellen, die durch ihren Bedeutungs- und Assoziationsreichtum eine Neu-Konfigurierung mentaler Sprachverarbeitungsmuster herbeizuführen vermag: »Wenn man ein altes Wort gebraucht, so geht es oft in dem Kanal nach dem Verstand den das ABC-Buch gegraben hat. Eine Metapher macht sich einen neuen und schlägt oft grad durch«.159 Dies gelingt nicht zuletzt dank der Tatsache, daß sich die Metapher von allen Fixierungen, selbst von derjenigen auf die Aussageabsicht ihres Schöpfers, emanzipiert: »Die Metapher ist weit klüger als ihr Verfasser« (F 369). Durch diesen unkalkulierbaren Bedeutungsüberschuß vermag ein Sprecher, der sich der Metapher bedient, selbst wenn er »weniger sagt, als man erwartet«, dabei dennoch »nicht selten mehr« zu sagen, »als er selbst gedacht hat« (F 375). Die damit formulierte Autonomie der Metapher gegenüber der Intention des Sprechers überträgt Lichtenberg auch auf die Dichtung, wenn er im weiteren Fortgang der gerade zitierten Äußerung anmerkt: »Der Schriftsteller gibt der Metapher den Leib, aber der Leser die Seele« (F 375). Der Dichter stellt mit der Metapher gleichsam eine unvollständige materielle Basis bereit, die zu ihrer Komplettierung auf einen geistigen Rezeptionsakt angewiesen ist. Dieser Rezeptionsakt ist für Lichtenberg offenbar weniger von der sinnfixierenden Autorität des Verfassers gesteuert, sondern vielmehr von der produktiven Deutungsmacht des Lesers bestimmt – eine Auffassung, die der späte Goethe nicht nur für den beschränkten Bereich der Metapher, sondern für die Auslegung dichterischer Texte insgesamt vertritt.160 Im Hinblick auf Lichtenberg bleibt allerdings festzuhalten, daß auch die Wertschätzung der Metapher nicht zu einer Überwindung seiner sprachskeptischen

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Ebd. C 158; vgl. dazu auch E 85. K 309. F 116. Goethe vertritt hinsichtlich der Deutungsmacht des Rezipienten allerdings keine einheitliche Position. Während er in einigen diskursiven Äußerungen eine durch die Polyvalenz des Textes bedingte Aktivierung des Lesers konstatiert und diesen Zusammenhang der impliziten Poetologie der ›Wahlverwandtschaften‹ und der ›Wanderjahre‹ einschreibt, hält er in anderen Bemerkungen an der Intention des Künstlers als Maßstab der Werkauslegung fest. Vgl. dazu etwa S. 84 und S. 151–153 der vorliegenden Studie.

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Position zu führen vermag, die er mit der ihm eigenen Lakonik in folgender Notiz verdichtet: »Hinlänglicher Stoff zum Stillschweigen«.161

2.3. Johann Wolfgang Goethe Die Sprach- und Kommunikationsverweigerung, die Lichtenberg in seinem am Ende des vorausgehenden Kapitels zitierten Aphorismus andeutet,162 wird von Goethe – wie rund hundert Jahre später auch von Mauthner und dem fiktiven Lord Chandos in Hofmannsthals berühmtem Brief – ebenfalls in Erwägung gezogen.163 So äußert er gegenüber Falk den Wunsch, der Sprache zugunsten des Bildes zu entsagen,164 und bekennt in einem Brief an C.F.L. Schultz, daß er sich durch die »Unzulänglichkeit der Sprache« davon habe »abhalten lassen, das zu sagen was ich hätte sagen können und sollen«165 – eine Skepsis bezüglich des eigenen Werkes, die Goethe in einem Brief an Wilhelm von Humboldt zu dem unerhörten Bekenntnis steigert, als Dichter an den »anerkannten Mängeln« der Sprache gescheitert zu sein.166 Goethes Zweifel am kommunikativen Potential der Sprache, der gelegentlich auch die Einschätzung des eigenen Œuvres affiziert, findet seinen Widerklang in den Worten Jarno-Montans, der in den ›Wanderjahren‹ gegen »das schlechte Zeug von öden Worten« polemisiert und

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J 438. Andrea Bartl hat gezeigt, daß bereits das dichterische Verstummen Albrecht von Hallers als sprachskeptisch grundierte Kommunikationsverweigerung zu interpretieren ist (Vgl. dazu Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 80–87). Zu Goethes Sprachreflexionen vgl. die in Anm. 9 genannten Abhandlungen. »Wir sprechen überhaupt viel zu viel. Wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen. Ich meinerseits möchte mir das Reden ganz abgewöhnen und wie die bildende Natur in lauter Zeichnungen fortsprechen« (Gespräch mit J.D. Falk vom 14. Juni 1809. In: Goethes Gespräche. Hg. v. Flodoard Frhr. von Biedermann. 5 Bde. [im folgenden zitiert als »Goethes Gespräche«] Bd. 2. Leipzig 1909, S. 37–42, hier S. 40). Brief an C.L.F. Schultz vom 11. März 1816. In: WA IV, 26, S. 289–291, hier S. 290. Goethe wendet sich gegen Ende des Briefs mit dem folgenden Resümee an den Adressaten: »[I]ndem Sie die Sprache als Hülfsmittel gar trefflich anpreisen, geben Sie uns ferner zu bedenken, daß die Sprache, wenn sie auf einen gewissen Punct gelangt, unveränderlich sey und von ihren anerkannten Mängeln nicht befreyt werden könne; demohngeachtet aber in und aus sich selbst alles Menschliche, vom Tiefsten bis zum Höchsten, aussprechen, ausdrücken, bestimmen und erweitern könne und müsse. Hierdurch haben Sie mir, mein Theuerster, einen Spiegel vorgehalten, worin ich am Ende meiner Laufbahn erkennen kann, was ich als Dichter und Schriftsteller geleistet habe und was ich hätte leisten sollen. Hier sey geschlossen, damit wir uns nicht in die Fluth wagen, die uns zu verschlingen droht« (Brief an W. v. Humboldt vom 24. Dezember 1821. In: WA IV, 35, S. 213–214, hier S. 213). Eine ähnliche Bewertung des eigenen Œuvres bringt Goethe in einem Epigramm vor: »Was mit mir das Schicksal gewollt? es wäre verwegen, / Das zu fragen, denn meist will es mit vielen nicht viel. / Einen Dichter meint es zu bilden; es wär ihm gelungen, / Hätte die Sprache sich nicht unüberwindlich gezeigt« (Johann Wolfgang Goethe: ›Venezianische Epigramme‹. In: FA 1, S. 443–478, hier S. 459). Vgl. dazu Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 138.

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schließlich zu der Erkenntnis gelangt, es sei das Beste, »nicht mitzuteilen«.167 Goethes tief verwurzeltes Mißtrauen gegenüber der verbalen Kommunikation gründet auf einer Diagnose der Unzulänglichkeiten sprachlichen Bezeichnens, die einerseits, wie unter anderem die ausführliche Würdigung des Weimarer Dichters durch Fritz Mauthner zeigt, den sprachskeptischen Positionen der Jahrhundertwende zum Teil erstaunlich nahekommt, andererseits aber auch an sprachskeptische Einsichten Lichtenbergs anknüpft. Immer wieder verweist Goethe auf die unüberbrückbare Kluft zwischen der Gegenstandssphäre und ihrer verbalen Repräsentation: »Alle Erscheinungen«, so notiert er in einer Skizze aus dem Umkreis der ›Farbenlehre‹, »sind unaussprechlich, denn die Sprache ist auch eine Erscheinung für sich, die nur ein Verhältnis zu den übrigen hat, aber sie nicht herstellen (identisch ausdrücken) kann«.168 Damit stellt Goethe die Differenz zwischen dem Signifikanten und seiner gegenständlichen Referenz zur Disposition; indem er beide als gleichermaßen eigenwertige »Erscheinung[en]« begreift, negiert er die verlustfreie Auflösbarkeit sprachlicher Zeichenketten in einen durch sie bezeichneten außersprachlichen Inhalt.169 Die verbale Vermittlung verändert das von ihr beschriebene Phänomen, so daß sie keine wirklichkeitsgetreue Deskription zu leisten vermag, sondern einen bloßen »Behelf« darstellt.170 Sie kann »den eigentlichen Charakter irgend eines Wesens [...] nicht mitteilen«171 und bedient sich »höchst unzulängliche[r] Zeichen«,172 die gegenüber dem intendierten Aussagegehalt als »ewig unerreichende Annäherungen« zu klassifizieren sind.173 Mit unverkennbarer Skepsis gegenüber dem eigenen künstlerischen Medium konstatiert Goethe, »daß die Sprache nur ein Surrogat ist, wir mögen nun das was uns innerlich beschäftigt oder das was uns von außen anregt ausdrücken wollen«.174 Damit ist eine Konvergenz von sentimentalischer und erkenntnistheoretischer Sprachkritik formuliert, die auch bei Fritz Mauthner und Hugo von Hofmannsthal begegnet:175 Weder das menschliche Innenleben noch die gegenständliche Realität können durch verbale Repräsentation angemessen abgebildet werden. Mit dieser Diagnose problematisiert Goethe zugleich die Wahrheitsfähigkeit sprachlicher Äußerungen. Sofern man nämlich die Wahrheit einer Aussage als Übereinstimmung der Zeichenkette

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Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, S. 292 u. S. 762. Johann Wolfgang Goethe: ›Bedenken‹. In: FA 23/2, S. 249–253, hier S.252. Vgl. dazu Josef Simon: Goethes Sprachansicht, S. 6f. Johann Wolfgang Goethe: ›Nachträge zur Metamorphose der Pflanzen‹. In: FA 24, S. 700–714, hier S. 711. Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise I. In: FA 15/1, S. 9–189, hier S. 165. Brief an C.F. Zelter zwischen dem 13. Juli und 15. Juli 1831. In: WA IV, 49, S. 289–293, hier S. 289. Brief an C.H. Schlosser vom 19. Februar 1815. In: WA IV, 25, S. 299–313, hier S. 307. Brief an C.L.F. Schultz vom 11. März 1816. In: WA IV, 26, S. 289–291, hier S. 290. Vgl. dazu S. 29 der vorliegenden Studie.

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mit dem durch sie bezeichneten Sachverhalt definiert, kann die Sprache als inadäquates Darstellungsmedium dieses Kriterium nicht erfüllen. Daher ist es nur konsequent, wenn Goethe in seiner Alterslyrik lakonisch feststellt: »Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren«.176 Ein weiteres Problemfeld sprachlichen Bezeichnens liegt für Goethe – wie auch schon für Lichtenberg177 – im Widerspruch zwischen der Allgemeinheit der Worte und der Besonderheit der einzelnen Erscheinung, die sich nicht in die generalisierenden Schemata begrifflichen Sprechens transferieren läßt: »Nach Goethes sehr treffender Bemerkung«, so überliefert Friedrich Wilhelm Riemer, »kann die Sprache nicht das Individuum (das Individuelle der Erscheinung, wie ich´s nenne) ausdrücken, das Spezifische. Unsere Worte für die species sind doch nur generell«.178 Die Schwierigkeiten und Paradoxien, die sich dadurch insbesondere bei der Versprachlichung des menschlichen Innenlebens einstellen, thematisiert Goethe in einem hintergründigen Achtzeiler: Worte sind der Seele Bild – Nicht ein Bild! sie sind ein Schatten! Sagen herbe, deuten mild, Was wir haben, was wir hatten. – Was wir hatten wo ist’s hin? Und was ist’s denn was wir haben? – Nun, wir sprechen! Rasch im Fliehn Haschen wir des Lebens Gaben.179

Um dem Mißtrauen gegen das eigene Darstellungsmedium gleichsam Rechnung zu tragen, enthält sich das Gedicht gegenüber seinem Thema jeder definitiven Beurteilung; sobald eine argumentative Position formuliert ist, wird sie sogleich modifiziert, hinterfragt oder gar zurückgenommen. So suggeriert die Metapher des Bildes im ersten Vers ein differenziertes mimetisches Potential der Sprache, das eine adäquate Repräsentation seelischer Befindlichkeiten zu gewährleisten vermag. Der zweite Vers allerdings negiert diese Position: Das Ausdrucksrepertoire der Sprache wird vom »Bild« zum »Schatten« depotenziert, der von den vielfältigen Merkmalen eines Gegenstandes ausschließlich dessen Umriß angemessen wiedergibt. Während der zweite Vers mit der Metapher des Schattens also den selektiven und daher defizienten Charakter verbaler Repräsentation akzentuiert, suggerieren die beiden folgenden Verse ein ungebrochenes Vertrauen in die Darstellungskapazität der Sprache, die sowohl zur objektiven,

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Johann Wolfgang Goethe: Spruch, Widerspruch, S. 420. Vgl. S. 47 der vorliegenden Studie. Riemers Mitteilungen über Goethe, Pfingstsonntag 1804. In: Friedrich Wilhelm Riemer: Mitteilungen über Goethe auf Grund der Ausgabe von 1841 und des handschriftlichen Nachlasses. Hg. v. Arthur Pollmer. Leipzig 1921, S. 248. Johann Wolfgang Goethe: Rhein und Main. In: FA 2, S. 616–620, hier S. 620.

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schonungslosen Benennung als auch zur versöhnlichen Deutung menschlicher Befindlichkeiten in der Lage zu sein scheint. Wie beim Übergang vom ersten zum zweiten Vers leitet auch an der Schwelle vom vierten zum fünften Vers ein Gedankenstrich den argumentativen Umschwung ein. Die durch die sprachliche Benennung verbürgte Gewißheit des Selbstbesitzes weicht einem Gestus skeptischen Fragens, der die Fähigkeit der Sprache zur kontinuitätsstiftenden Archivierung des Vergangenen und zur Deutung des Gegenwärtigen entschieden relativiert. Die beiden Schlußverse schließlich fassen die vorangegangenen Widersprüche zu einer Art Fazit zusammen, das im ›pluralis majestatis‹ auch die performative Situation des Gedichts einschließt. Die resignative Feststellung »Nun, wir sprechen!« macht die grundsätzliche Defizienz der Sprache auch als Merkmal der eigenen dichterischen Rede bewußt, deren Gestus des vergeblichen Festhalten-Wollens durch das Verb »haschen« besonders akzentuiert wird. Worin der »Wert« der »Worte«, den Goethe in einer titelähnlichen Anmerkung mit dem vorliegenden Achtzeiler verbindet,180 bestehen soll, bleibt offen; die gehaltliche Unbestimmtheit des künstlerischen Sprechens, die dieses Gedicht charakterisiert, kann dabei als Korrelat einer sprachskeptischen Grundhaltung seines Autors verstanden werden. Während der späte Achtzeiler ›Worte sind der Seele Bild‹ gemäß der Mauthnerschen Terminologie dem Bereich der sentimentalischen Sprachkritik zuzurechnen ist, äußert Goethe in seinen naturwissenschaftlichen Schriften immer wieder eine erkenntnistheoretische Skepsis bezüglich der Leistungsfähigkeit der Sprache. Seine Kritik gilt dabei vor allem der Tendenz zur anschauungsfernen terminologischen Fixierung, welche den Blick auf die tatsächlichen Phänomene zu verstellen droht. So verweist er – mit wörtlichen Anklängen an Herder – auf das ›qui pro quo‹ sprachlichen Bezeichnens, das »einen Schall an die Stelle der Sache setzt« und dazu verführt, daß »man diesen Schall wieder oft als Sache behandelt«,181 brandmarkt den »schädlichen Einfluß« zahlreicher »herkömmliche[r] Ausdrücke«, die »ganzen Fächern eine falsche Richtung geben«,182 warnt vor der Verwendung »hergebrachte[r] hohle[r] Chiffern«183 und polemisiert gegen »immerfort wiederholte Phrasen«, die »zuletzt zur Überzeugung verknöchern«.184

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Ebd. Johann Wolfgang Goethe: Brief an W.v. Humboldt. In: WA IV, 51, S. 197–201, hier S. 200. – In seiner 1799 erschienen ›Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft‹, die Goethe besaß, beklagt auch Herder das »qui pro quo« der Sprache, das im Falle der metaphysischen Terminologie dazu geführt habe, daß »oft aus dem Schalle des Wortes selbst« eine begriffliche »Nebelgestalt« hypostasiert werde (Johann Gottfried Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, S. 422; Goethes Bibliothek. Katalog. Weimar 1958, S. 448, Nr. 3066). Johann Wolfgang Goethe: Verwahrung. In: FA 3/1, S. 204–205, hier S. 205. Brief an C.L.F. Schultz vom 11. März 1816. In: WA IV, 26, S. 289–291, hier S. 290. Johann Wolfgang Goethe: ›Zur vergleichenden Anatomie‹. In: FA 24, S. 476–507, hier S. 487.

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Wenn sich die naturwissenschaftliche Terminologie in dieser Weise von den empirischen Gegebenheiten entfernt und sich gegenüber den Phänomenen verselbständigt, berührt sie damit ein Grundproblem jeder verbalen Wirklichkeitsbeschreibung, das auf dem von Goethe verschiedentlich beklagten »Anthropomorphismus der Sprache« basiert.185 Am 20. Juni 1831 begründet Goethe die Schwierigkeiten einer sprachlich vermittelten Naturerkenntnis gegenüber Eckermann folgendermaßen: »Die Sache ist ganz einfach diese [...] Alle Sprachen sind aus naheliegenden menschlichen Bedürfnissen, menschlichen Beschäftigungen und allgemein menschlichen Empfindungen und Anschauungen entstanden. Wenn nun ein höherer Mensch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Fernliegendes auszudrücken«.186 Damit ist eine unvermeidbare Einseitigkeit der Sprache benannt: Sie verfügt über keinen ausschließlich gegenstandsorientierten, subjektunabhängigen Darstellungsmodus und erschließt die jeweils beschriebenen Phänomenbereiche nur in deren Bezug auf den Menschen. Doch dieser grundsätzliche Anthropomorphismus markiert für Goethe nicht die einzige Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Sprache. Die in steter Wandlung begriffenen Real-Phänomene sind mit einer festgefügten, durch klare Definitionen abgesicherten Terminologie unvereinbar. Im Zuge seiner Versprachlichung werde, so Goethe, »das Fließende starr [und] alles Wandelbare stationär«,187 so daß die verbale Deskription der Natur zu einem »Widerstreit des Fixen und Beweglichen« führe.188 Der Forscher sehe sich bei der Applikation eines begrifflichen Systems der Schwierigkeit ausgesetzt, »daß man etwas als still und feststehend behandeln soll was in der Natur immer in Bewegung ist«.189 Der damit verbundenen Gefahr, das lebendige »Wesen« der Naturphänomene »durch das Wort zu töten«,190 begegnet Goethe mit einer multiperspektivischen Darstellungsweise, die versucht, ihren Gegenstand von verschiedenen Seiten

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Johann Wolfgang Goethe: Geschichtliches. In: WA II, 5/1, S. 385–436, hier S. 392. Gespräch mit J. P. Eckermann vom 20. Juni 1831. In: Goethes Gespräche. Bd. 4, S. 375–377, hier S. 376. Johann Wolfgang Goethe: ›Aphoristisches‹. In: WA II, 6, S. 345–361, hier S. 360. Johann Wolfgang Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre. Des zweiten Bandes erster, historischer Teil. In: FA 23/1, S. 513–986, hier S. 659. Die griechische Sprache vermag für Goethe die Gefahr einer terminologischen Fixierung durch ihren Reichtum an »Verba« wirkungsvoll zu vermeiden; das Wort, das »nichts bestimmt, bepfählt und festsetzt«, fungiert dort als eine die »Einbildungskraft« stimulierende »Andeutung«. Während Goethe die griechische Signifikationsweise mit Wohlwollen betrachtet, wird die ganz anders geartete lateinische strikt abgewertet: Sie wirke »durch den Gebrauch der Substantiven entscheidend und befehlshaberisch« und lasse den »Begriff [...] im Worte erstarr[en]« (ebd., S. 658f.). Johann Wolfgang Goethe: Gestalt-, Verwandlungs- und Vergleichungslehre 1788–1794. In: FA 24, S. 91–216, hier S. 97. Johann Wolfgang Goethe: Entwurf einer Farbenlehre, S. 245.

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einzukreisen, ohne ihn zu fixieren.191 Dies zeigt sich nicht nur an dem Konglomerat unterschiedlicher Textgattungen, die Goethe etwa in der ›Farbenlehre‹ vor seinem Leser ausbreitet,192 sondern auch an dem entschiedenen Plädoyer für eine anti-dogmatische Naturwissenschaft: So sei es besser, »bald diesen bald jenen Standpunkt zu wählen als beschränkt und eigensinnig auf diesem oder jenem Platze stehen zu bleiben«.193 Deutlicher noch als in den naturwissenschaftlichen Schriften bemüht sich Goethe in seinen literarischen Werken, die der Sprache inhärente Gefahr einer starren Fixierung zu umgehen.194 Gerade die Dichtung ist für Goethe in besonderer Weise dazu prädestiniert, die Sprache »lebendig wachsen« zu lassen und zu ihrer »Bereicherung« beizutragen.195 Wie Johannes Anderegg in einem Aufsatz ›Zu Goethes Konzept von poetischer Sprache‹ überzeugend darlegt, hinterfragt dichterisches Sprechen vorgeprägte Phrasen und überkommene Begriffe; es »reproduziert nicht eine schon fertige, konventionalisierte Welt, sondern durchbricht das, was uns konventionell geworden ist«.196 Beispielhaft zeigt sich dies an Goethes Würdigung des Meteorologen Luke Howard, der – wie Goethe in einem wetterkundlichen Aufsatz feststellt – mit seiner terminologischen Klassifikation unterschiedlicher Wolkenarten »die Absicht hatte etwas fertig zu machen und abzuschließen«.197 Doch obgleich Goethe diese unterscheidende Systematik als Orientierungshilfe innerhalb der unendlichen Mannigfaltigkeit der Wolkengestalten durchaus schätzt, gilt sein eigenes Interesse vornehmlich den »Übergänge[n] vor und rückwärts«, also denjenigen Phänomenen, die sich keinem der typisierenden Begriffe Howards eindeutig zuord-

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Vgl. dazu die exzellenten Beiträge von Uwe Pörksen, der Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten von einem »Stil der Einkreisung« gekennzeichnet sieht. Als Merkmale dieses Stils, der auf definitorische Fixierungen weitgehend verzichtet, arbeitet Pörksen anhand detaillierter Textanalysen unter anderem folgende Aspekte heraus: Neigung zur »paradoxe[n] Formel« sowie zu einer »zwischen der Ebene der sinnlichen Anschauung und der höheren der Abstraktion hin und her« fluktuierenden Begrifflichkeit, »Vermeidung des prägnanten Wortes durch Umschreibung und Synonymenvariation, Wechsel der Denkmodelle und Abwechslung in den Gattungen als ebenso vielen Perspektiven« (Uwe Pörksen: »Alles ist Blatt«, S. 122, S.114f. u. S. 123; siehe dazu auch Uwe Pörksen: Wissenschaftssprache und Sprachauffassung bei Linné und Goethe, S. 80–90 sowie Uwe Pörksen: Die Selbstüberwachung des Beobachters, S. 204–208). Vgl. dazu Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie. München 1987, S. 46f. Johann Wolfgang Goethe: Gestalt-, Verwandlungs- und Vergleichungslehre 1788–1794, S.99. Zu Goethes unterschiedlicher Bewertung der wissenschaftlichen und der poetischen Sprache siehe Andrea Bartl, die überzeugend herausarbeitet, daß die poetische Sprache für Goethe »durch ihre Vieldeutigkeit der Polyperspektivität der Welt eher gerecht« zu werden vermöge, während er die wissenschaftliche Sprache als eine »defizitäre« begreife. Zwar habe »das poetische Wort [...] auch mit den Makeln des Sprachsystems an sich umzugehen«, könne aber dennoch »erfolgreicher bezeichnen als das wissenschaftliche« (Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 134 u. S. 137). Johann Wolfgang Goethe: Deutsche Sprache. In: WA I, 41/1, S. 109–117, hier S. 117. Johannes Anderegg: Zu Goethes Konzept von poetischer Sprache. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 56 (1982), S. 101–122, hier S. 119. Johann Wolfgang Goethe: Witterungslehre. In: FA 25, S. 195–303, hier S. 233.

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nen lassen.198 Dem entspricht, daß er bei seiner poetischen Erläuterung der Howardschen Terminologie in dem Gedicht ›Howard´s Ehrengedächtnis‹ keine statischen Definitionen festgefügter Zustände liefert, sondern transitorische Prozesse beschreibt.199 Auf diese Weise dokumentiert das Gedicht – wie Johannes Anderegg treffend resümiert – »eine Distanzierung des Künstlers von Howard, dem Wissenschaftler«.200 Während die terminologischen Systeme der Wissenschaft eine eindeutige und adäquate Abbildung außersprachlicher Sachverhalte suggerieren, inszeniert der Dichter die von der rationalen Begriffssprache verdeckte Offenheit sprachlichen Bezeichnens. Dazu bedient er sich bevorzugt der Ausdrucksform des Symbolischen,201 die sich jeder eindeutigen Übersetzung in einen außerästhetischen Sprachmodus verweigert. Nicht zufällig legt Goethe in seiner Definition des Symbols besonderen Wert darauf, daß dessen Gehalt »selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bliebe«.202 Diese Unverfügbarkeit gegenüber der zweckrationalen Begriffssprache avanciert geradezu zur Kennmarke gelungener Kunst. So eröffnet Goethe seinen Essay ›Über Laokoon‹ mit der Feststellung: »Ein echtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unsern Verstand immer unendlich: es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden«.203 Im selben Sinne bemerkt er über einen Interpretationsversuch seiner ›Wanderjahre‹ mit unverhohlener Skepsis, daß sich die Essenz dieses Romans »in verständige und vernünftige Worte nicht durchaus fassen noch einschließen« lasse.204 Dieser Vorbehalt gilt zweifellos auch für die ›Wahlverwandtschaften‹, die – wie die folgenden Ausführungen zeigen werden – die generelle Unzulänglichkeit der Sprache reflektieren und daraus eine Poetologie des offenen Kunstwerks entwickeln.

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Ebd., S. 216. Vgl. dazu auch das Gedicht ›Wohl zu merken‹, in dem sich Maler und Poet – obgleich beide »mit Howards Sond’rung wohl vertraut« sind – bei der Naturbetrachtung dem »Übergängliche[n]« des »Folge-Lebens« mit besonderem Interesse zuwenden (Johann Wolfgang Goethe: Wohl zu merken. In: FA 2, S. 505). Vgl. dazu Johannes Anderegg: Zu Goethes Konzept von poetischer Sprache, S. 113f. Ebd., S. 114. So erweist sich der »reinfühlende, klardenkende Künstler« nach Goethe gerade dadurch »als Dichter«, daß er »eine vollkommene Symbolik erreicht« (Johann Wolfgang Goethe: Ruysdael als Dichter. In: FA 19, S. 632–636, hier S. 636). Johann Wolfgang Goethe: ›Allegorie und Symbol‹. In: FA 13, S. 207. Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon. In: FA 18, S. 489–500, hier S. 489. Brief an J.F. Rochlitz vom 23. November 1829. In: WA IV, 46, S. 165–168, hier S. 166.

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III. ›Die Wahlverwandtschaften‹

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1.

Das Kapitel I, 4 als sprachskeptisches Zentrum der ›Wahlverwandtschaften‹

1.1. Die Sprachskepsis im Kontext der Ordnungs-Thematik Die Problematik der zeichenhaften Repräsentation ist ein durchgängiges Thema in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹.1 Vom ersten bis zum letzten Satz sieht sich der Leser mit semiotischen Fragestellungen konfrontiert.2 In diesem übergeordneten zeichentheoretischen Horizont stehen auch die zahlreichen sprachkritischen Reflexionen, deren Fluchtpunkt im vierten Kapitel des ersten Teils liegt. Die in diesem Kapitel enthaltene chemische Gleichnisrede3 wurde in der ›Wahlverwandtschaften‹-Literatur zwar wiederholt analysiert, aber bisher noch nie in ihrer umfassenden sprachkritischen Systematik gewürdigt.4 Das mag damit zu tun haben, daß die Forschung, um den Zusammenhang der Gleichnisrede mit dem Romanganzen auszuloten, deren unmittelbaren Kontext innerhalb des vierten Kapitels weitgehend unbeachtet ließ. Schon der Beginn des Kapitels, der auf die kartographischen Aktivitäten des Hauptmanns hinweist, ist äußerst aufschlußreich: »Die topographische Charte, auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen, nach einem ziemlich großen Maßstabe charakteristisch und fasslich [...] dargestellt war, und welche der Hauptmann durch einige trigonometrische Messungen sicher zu gründen wusste, war bald fertig« (296). Die Kartographie des Hauptmanns empfängt ihre Ordnung nicht aus den dargestellten Phänomenen; sie trägt einen im Vorhinein gewählten Maßstab an das abzubildende Landgut heran, der sich, wie eine skeptische Bemerkung Goethes über die positivistische Methodik der neuzeitlichen Naturwissenschaft verdeutlicht, einer gegenstandsfremden und ausschließlich anthropomorphistisch motivierten Setzung verdankt: »Wir mögen an der Natur beobachten, messen, rechnen, wägen usw., wie wir wollen, es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß der Dinge ist. Das Maß könnte größer oder kleiner sein, es ließe sich mehr oder weniger

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Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ werden nach FA 8 zitiert; im folgenden nur mit einfacher Seitenangabe im Text. Der berühmte Erzähleingang des Romans umkreist die Problematik der sprachlichen Benennung (vgl. dazu S. 79f. der vorliegenden Studie). Im letzten Satz werden die »verwandte[n] Engelsbilder« erwähnt, die eine auffallende Ähnlichkeit mit Ottilie aufweisen (529). Zur Verwendung des Begriffs »chemische Gleichnisrede« siehe S. 8, Anm. 24 der vorliegenden Studie. Vgl. dazu den Forschungsbericht auf S. 7–10 der vorliegenden Studie.

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damit abmessen, aber das Stück [...] bleibt nach wie vor, was es ist, und nichts weiter von ihm als seine Ausdehnung in bezug auf den Menschen ist durch jene Operation ausgesprochen«.5 Der in der vom Hauptmann praktizierten Tätigkeit des Messens wirksame Anthropomorphismus läßt eine erkenntnistheoretische Problematik anklingen, die auf die Sprachkritik der chemischen Gleichnisrede vorausweist. Doch nicht nur die Methode, sondern auch die Zielsetzung der Kartographie hat innerhalb der Binnen-Struktur des vierten Kapitels eine antizipatorische Funktion. Durch die geordnete Repräsentation auf der Karte soll Eduards Landgut überschaubar und für die instrumentelle Vernunft beherrschbar gemacht werden. Eine ähnliche Absicht verfolgen die Figuren wenig später mit der chemischen Gleichnisrede, die hochkomplexe menschliche Leidenschaftsbeziehungen durch Reduktion auf ein chemisches Reaktionsmodell verstehbar zu machen sucht. Insofern weist die nonverbale Kartographie des Hauptmanns auf jene sprachlichen Rationalisierungsbemühungen voraus, deren Scheitern der weitere Verlauf des Kapitels deutlich vor Augen führt. Als Hinführung zur Sprachproblematik der chemischen Gleichnisrede erscheint ferner der ebenfalls im vierten Kapitel geschilderte Versuch, Eduards Aufzeichnungen zu ordnen. Auf Initiative des Hauptmanns »war der Wust [...] auf das geschwindeste [...] in eine erfreuliche Ordnung gebracht [und] lag rubriziert in bezeichneten Fächern« (297). Die sprachliche Bezeichnung von Fächern, die ihrerseits wieder sprachliche Aufzeichnungen enthalten, verweist ›pars pro toto‹ auf ein Charakteristikum jeder verbalen Repräsentation. Indem man etwas zur Sprache bringt, ordnet man es in jene Fächer ein, die das sprachimmanente System terminologischer Relationen bereitstellt. Man transferiert es damit in eine vorgegebene Struktur, die den versprachlichten Phänomenen äußerlich bleibt. Die Sprache vermittelt auf diese Weise eine nur scheinhafte Orientierung, da sie den Gegenstandsbereich nicht adäquat zu repräsentieren vermag. Bis in den Vorgang des Schreibens hinein verfolgt Goethes Roman diese Kluft zwischen Signifikant und Referenz. Der alte Schreiber, der Eduard und den Hauptmann bei ihren Archivierungsbemühungen unterstützt, illustriert diesen Aspekt: Durch die völlige Isolation, die er zum Schreiben benötigt, verweist er auf die Absonderung der Sprache von der Sphäre lebendiger Erfahrung. Um seine Aufgabe angemessen zu erfüllen, muß er sich ganz dem Systemzwang der Sprache unterwerfen, so daß ihm jede Einwirkung von außen als lästige Störung erscheint (297).6 5

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Gespräch mit F.W. Riemer vom 2. August 1807. In: Goethes Gespräche. Bd. 1, S. 505–506, hier S. 505. Eine ähnliche Feststellung trifft Goethe in der ›Farbenlehre‹ über die »Auslegung der heiligen Schrift«: »Diese [...] brachte keinen Maßstab mit, wonach sie gemessen werden konnte; er mußte von außen gesucht und an sie angelegt werden« (Johann Wolfgang Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, S. 619). Bereits im ›Götz von Berlichingen‹ markiert das Schreiben eine Rückzugsposition, die Sur-

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Diese kurze Episode um die Archivierung von Eduards Aufzeichnungen verknüpft die Sprachreflexion mit der Ordnungs-Thematik und markiert damit einen für die Analyse des gesamten vierten Kapitels äußerst aufschlußreichen Horizont. Das Projekt des Hauptmanns, Eduards »Papiere nach Fächern abzuteilen« (296), verweist auf ein ganzes Spektrum von Ordnungsbemühungen, das insbesondere den ersten Teil der ›Wahlverwandtschaften‹ leitmotivisch durchzieht. Der manipulatorische Charakter dieser Ordnungsbemühungen offenbart sich bereits im ersten Kapitel, wenn Charlotte ihren Gatten an die ganz auf isolierte Zweisamkeit ausgerichteten gemeinsamen Pläne erinnert: »Du wolltest zuerst die Tagebücher deiner Reise mir in ordentlicher Folge mitteilen, bei dieser Gelegenheit so manches dahin gehörige von Papieren in Ordnung bringen und unter meiner Teilnahme, mit meiner Beihülfe, aus diesen unschätzbaren aber verworrenen Heften und Blättern ein für uns und andre erfreuliches Ganze zusammenstellen« (276, meine Hervorhebung). Bei ihrem Hilfsangebot geht es Charlotte nicht nur darum, Eduards Aufzeichnungen in eine übersichtliche Struktur zu bringen. Ihre Absichten reichen wesentlich weiter: Im Zuge des Neu-Arrangements der Schriftstücke möchte sich Charlotte eine Vergangenheit konstruieren, die ihre tatsächlichen Erlebnisse überdeckt. Das »für uns und andere erfreuliche Ganze«, zu dem sie Eduards Aufzeichnungen zusammenfügen will, soll eine gemeinsame Geschichte beinhalten, die ihre unerfüllte erste Ehe vergessen macht. Auf diese Weise versucht Charlotte, nicht nur die eigene, sondern auch Eduards Biographie neu zu formieren. Sie schreibt ihm eine Vergangenheit an ihrer Seite zu, die niemals stattgefunden hat. Eine ähnlich manipulative Ordnungs-Aktivität entfaltet Charlotte bei der Umgestaltung des Friedhofs. »Mit möglichster Schonung der alten Denkmäler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gern verweilte« (283, meine Hervorhebung).7 Charlotte hat alle Grabsteine von ihren

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rogatcharakter aufweist. Götz, der sein ritterliches Wort gegeben hat, auf seinem Schloss zu bleiben und »still zu halten« (Johann Wolfgang Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. In: FA 4, S. 279–389, hier S. 364), schreibt dort an seiner Autobiographie. Gegenüber seiner Frau Elisabeth charakterisiert er das Schreiben als unbefriedigenden Handlungsersatz: »Indem ich schreibe, was ich getan habe, ärgere ich mich über den Verlust der Zeit in der ich etwas tun könnte« (ebd., S. 367). Auch in den ›Wanderjahren‹ wird diese Thematik gestreift, wenn Wilhelm in einem Brief an Natalie über den Bezirk des Oheims mit kritischem Unterton Folgendes feststellt: »Wieviel die Menschen schreiben, davon hat man gar keinen Begriff. [...] In der Sphäre, in der ich mich gegenwärtig befinde, bringt man beinahe so viel Zeit zu, seinen Verwandten und Freunden dasjenige mitzuteilen, womit man sich beschäftigt, als man Zeit sich zu beschäftigen selbst hatte« (Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 339). Zu Beginn des zweiten Romanteils wird der Begriff der Ordnung noch einmal auf Charlottes Umgestaltung des Friedhofs angewendet: »Nach einer gewissen Ordnung sollten vom Ende heran die neuen Gräber bestellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls besät werden« (395).

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ursprünglichen Plätzen auf dem Gräberfeld entfernt und in der Reihenfolge ihres Alters an der Friedhofsmauer und am Sockel der Kirche aufgereiht. Auf diese Weise hat sie den räumlichen Bezug zwischen den einzelnen Steinen und den durch sie bezeichneten Grabstätten suspendiert. Die Bedeutung der Grabsteine wird dadurch radikal verändert: Sie stehen nicht mehr für bestimmte verstorbene Personen, sondern werden einem chronologischen Ordnungsprinzip unterworfen und in ein artifizielles Landschaftsarrangement eingefügt. Aus referentiell gebundenen Erinnerungs-Zeichen werden ästhetische Zeichen, an die Stelle des ›memento mori‹ tritt auf Seiten des Betrachters der sentimentale Kunstgenuß. So gelingt es Charlotte, jeden Gedanken an den Tod aus ihrem Gesichtskreis zu verdrängen.8 Die Neu-Ordnung des Friedhofs steht im Dienste einer Annihilation der Erinnerung und einer Ausgrenzung der eigenen Endlichkeit. Hinter dem Bedürfnis, Ordnung zu schaffen, verbirgt sich bei Charlotte eine kompensatorische Motivation. »Sie kann das Faktum des Sterbens nicht akzeptieren, da sie niemals wirklich gelebt hat«.9 Ähnlich fragwürdig erscheinen auch die forcierten Ordnungs-Bemühungen Eduards und des Hauptmanns, die sich ebenfalls als Mechanismen der Verdrängung erweisen. »Ordnung und Sauberkeit« (315f.), die sie im Dorf durch eine Regulierung des Baches erreichen wollen, erscheinen als antagonistische Reflexe auf jene emotionale Verwirrung, die aus der wachsenden Zuneigung Eduards zu Ottilie und des Hauptmanns zu Charlotte resultiert.10 Doch die »außerordentliche« Leidenschaft läßt sich – wie der weitere Fortgang des Romans zeigt – durch solche kompensatorischen Aktivitäten nicht zur Ordnung rufen,11 sondern steigert sich im Falle Eduards und Ottilies zu selbstzerstörerischer Intensität.

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Zur Umgestaltung des Friedhofs als ästhetisierender Todesverdrängung siehe ausführlich Klaus Lindemann: »geebnet« und »verglichen« – der Friedhof in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Literatur für Leser 1984, S. 15–24; Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der ›Wahlverwandtschaften‹. Frankfurt a. M. 1986, S. 114–122; Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. Berlin 1998, S. 109–121; Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese-Symptomatik-Therapie. Tübingen 2002, S. 256–259. Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 257. Vgl. dazu Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 105. Als ein Akt kompensatorischer Ordnungsstiftung kann auch die vom Hauptmann betriebene Landvermessung qualifiziert werden, die in einer Situation innerer Orientierungslosigkeit auf die Schaffung eines äußeren Orientierungsrahmens ausgerichtet ist. – In Kafkas ›Schloß‹ scheint die Tätigkeit des Landvermessens in einer ganz ähnlichen Weise kompensatorisch motiviert. Der Protagonist K. nennt sich dort »Landvermesser«, nachdem er als »Landstreicher«, also als Ortloser, bezeichnet wurde; aus seiner Ortlosigkeit ergibt sich das Bedürfnis, alles zu verorten (Franz Kafka: Das Schloß. Frankfurt a.M. 1994, S. 10f. u. S. 12). Ebenso wie im ›Schloß‹ erscheint die Herstellung von Ordnung und Orientierung auch in den ›Wahlverwandtschaften‹ nicht als authentische, sondern als sekundär-reaktive Tätigkeit.

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Vor diesem Hintergrund läßt sich die Funktion, die den Archivierungsbemühungen des Hauptmanns im Sinngefüge des vierten Kapitels zukommt, exakt bestimmen: Die Engführung der Ordnungs-Thematik mit der Sprach-Thematik weist darauf hin, daß die sprachliche Artikulation ein System darstellt, das die tatsächlichen Phänomene durch Repräsentation in eine überschaubare Ordnung zu bringen und damit zu bewältigen versucht. Indem die Sprache das, was sie repräsentiert, zugleich auch in ein vorgefertigtes Schema einfügt, erscheint sie allerdings als ein zutiefst fragwürdiges Erkenntnisinstrument. Mit diesen Implikationen exponiert bereits der Beginn des vierten Kapitels eine Problematik, die das dichterische Projekt der ›Wahlverwandtschaften‹ insgesamt affiziert. Die Beschreibung der Leidenschaftsbeziehungen zwischen den vier Hauptfiguren rekurriert auf ein bestimmtes Modell (›attractio electiva duplex‹),12 dessen terminologische Kategorisierung problematisiert und dessen Übertragbarkeit auf den zwischenmenschlichen Bereich im Verlauf des Textes dementiert wird.13

1.2. Die sprachskeptische Dimension der chemischen Gleichnisrede Der weitere Verlauf des vierten Kapitels demonstriert die Defizite sprachlichen Bezeichnens am Beispiel einer konkreten Kommunikationssituation, die durch eine Rezitation Eduards eröffnet wird. Aufschlußreich erscheint dabei der Hinweis des Erzählers auf eine modifizierte Lektürepräferenz: Während sich Eduard in jüngeren Jahren vornehmlich fiktionalen Texten zugewandt hat, widmet er sich gegenwärtig insbesondere »Werke[n] physischen, chemischen und technischen Inhalts« (299). Dieser Interessenwandel spiegelt zunächst einmal die zunehmende gesellschaftliche Relevanz des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, die der späte Goethe in seinem historischen Umfeld diagnostiziert und in den ›Wanderjahren‹ und dem ›Faust II‹ ausführlich reflektiert hat. Darüber hinaus ist dieser Textpassage aber auch eine sprachkritische Dimension eingeschrieben, die auf die unmittelbar folgende chemische Gleichnisrede vorausweist. Eduards Rezeptionsverhalten unterläuft nämlich die Differenz zwischen fiktional-literarischen und sachorientiert-naturwissenschaftlichen Werken in charakteristischer Weise: Obwohl es bei den letzteren, nach den Worten des Erzählers, gerade »nicht auf Erregung des Gefühls« ankommt, behält Eduard auch hier seinen auf emotionale Identifikation angelegten Rezitationsstil bei: Er versucht, wie er gegenüber Charlotte bekennt, das Geschriebene im Akt der

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Zur ›attractio electiva duplex‹ siehe Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 300 sowie Jeremy Adler: »Eine fast magische Anziehungskraft«. München 1987, S. 107–112. Vgl. dazu bes. S. 75 der vorliegenden Studie.

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Lektüre zur Darstellung seines »eigenen Sinnes« und seines »eigenen Herzens« umzucodieren (299). In anaphorischer Akzentuierung verrät Eduard freimütig, daß er auf dem Wege der Rezitation des chemischen Textes lediglich »meine Gedanken einzeln zuzählen, meine Empfindungen einzeln zureichen« will (299, meine Hervorhebung). Die damit verbundene Subjektivierung der Semantik,14 die der traditionellen Vorstellung eines feststehenden Gehalts sprachlicher Äußerungen radikal zuwiderläuft, antizipiert in Form einer strukturellen Analogie jene vielfältigen perspektivischen Relativierungen, denen die Begriffe »Verwandtschaft« und »Wahlverwandtschaft« in der Gesprächssituation der chemischen Gleichnisrede unterworfen werden.15 Eduards narzißtische Aneignung des Gelesenen endet allerdings in einer Erfahrung der Spaltung. Sobald eine andere Person als hermeneutisches Korrektiv Einblick in seine Textvorlage nimmt, fällt die semantische Verknüpfung von Fremdem und Eigenem auseinander. »Wenn mir Jemand ins Buch sieht, so ist mir immer, als wenn ich in zwei Stücke gerissen würde« (299). Aus dieser Irritation, welche die versuchte Signifikation des subjektiv »Eigenen« kollabieren läßt, entspinnt sich ein Gespräch zwischen Eduard, Charlotte und dem Hauptmann, in welchem der referentielle Bezug des sprachlichen Zeichens kritisch relativiert wird. Ursache für den unerwünschten Blick in Eduards Textvorlage ist Charlottes Schwierigkeit, den dort in einem chemischen Zusammenhang verwendeten Begriff der »Verwandtschaft« angemessen einzuordnen. Eduard und der Hauptmann versuchen daraufhin, die metaphorische Verwendung dieses Begriffs in jeweils unterschiedlicher Weise zu begründen. »Hier wird freilich nur von Erden und Mineralien gehandelt, aber der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter« (300). Indem Eduard die Metaphorizität der Sprache auf einen angeblich universellen Narzißmus16 zurückführt, verallgemeinert er seine 14

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Daß Eduard auf dem Wege der Rezitation fremder Texte seine »eigenen Empfindungen« zu kommunizieren trachtet (299), deutet meines Erachtens auf eine individuelle Semantisierung des Gelesenen, die dessen intentionale Codierung durch den jeweiligen Verfasser überlagert. Daher scheint es wenig überzeugend, wenn Rita Lennartz das von Eduard praktizierte Lektürekonzept, das die vorgetragenen Texte tiefgreifenden Bedeutungsverschiebungen unterwirft, als »Inbegriff eindeutiger Rede« klassifiziert (Rita Lennartz: »Von Angesicht zu Angesicht«. Lebende Bilder und tote Buchstaben in Goethes ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Helmut J. Schneider, Ralf Simon, Thomas Wirtz [Hg.]: Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne. Bielefeld 2001, S. 145–184, hier S. 169). Der enge Zusammenhang zwischen Eduards Rezitation und der chemischen Gleichnisrede geht auch aus dem »Schema von Riemers Hand zu den ›Wahlverwandtschaften‹« hervor, wo es über das vierte Romankapitel heißt: »Vorlesung und daraus entspringender Vortrag von den Wahlverwandtschaften« (FA 8, S. 975). Mit dekonstruktivistischer Intention leitet J. Hillis Miller aus der von Eduard konstatierten narzißtischen Verfaßtheit der Sprache eine Annihilierung des Subjekts ab: »Far from being fixed self or substance [...] man, in Goethe’s definition here, is without face or figure. [...]. He puts this non-entity under the whole world« (J. Hillis Miller: A »buchstäbliches« Reading of ›The Elective Affinities‹. In: Glyph 6 [1979], S. 1–23, hier S. 15). Obwohl apodiktisch als

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eigene psychische Disposition zur anthropologischen Konstante.17 Treffender erscheint da der Erklärungsversuch des Hauptmanns, der Eduard zwar scheinbar zustimmt, den Sachverhalt jedoch anders akzentuiert, wenn er fortfährt: »Ja wohl! [...] so behandelt er [der Mensch] alles was er außer sich findet; seine Weisheit wie seine Torheit, seinen Willen wie seine Willkür leiht er den Tieren, den Pflanzen, den Elementen und den Göttern« (300). Der hier formulierte Anthropomorphismus beschränkt sich nicht auf die Metapher der »Verwandtschaft«, sondern weist überdies darauf hin, daß es dem Hauptmann um einen exemplarischen Sachverhalt geht. Die Reflexion über die Begriffe »Verwandtschaft« und »Wahlverwandtschaft«, so wird hier an der Schwelle der näheren Erörterung signalisiert, steht als ›pars pro toto‹ für die Problematik sprachlichen Bezeichnens schlechthin. Nach den unterschiedlichen Erklärungsansätzen, die Eduard und der Hauptmann für die uneigentliche Verwendung des Verwandtschafts-Begriffs gefunden haben, stellt Charlotte die Frage, »wie es eigentlich [...] mit den Verwandtschaften gemeint sei« (300). Charlottes Frage nach dem eigentlichen Begriffsinhalt verweist etymologisch auf Eduards vergebliche Bemühung, sein »Eigenes« in den Signifikantenketten rezitierter Texte zur Darstellung zu bringen. Die objektive Eigentlichkeit einer klar umgrenzten Bedeutung, auf die Charlottes Frage abzielt, scheint ebensowenig verbalisierbar zu sein wie das subjektive Eigene der Emotionen Eduards. Dem entspricht, daß der Hauptmann statt der von Charlotte gewünschten allgemeingültigen Definition die Kategorie der Geschichtlichkeit ins Spiel bringt, die einen entscheidenden Einfluß auf die Bedeutung von sprachlichen Zeichen ausübt: Die inhaltliche Füllung der einzelnen Worte ist einer permanenten Wandlung unterworfen; die Semantik der Signifikanten wird historisiert und damit radikal relativiert (300). Charlotte destabilisiert das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat noch weiter, indem sie auf ihr eigenes geschlechtsspezifisches Sprachverhalten hinweist: »Wir Frauen [...] nehmen es nicht so genau; und wenn ich aufrichtig sein soll, so ist es mir eigentlich nur um den Wortverstand zu tun: denn es macht in der Gesellschaft nichts lächerlicher, als wenn man ein fremdes, ein Kunst-Wort falsch anwendet«

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»Goethe’s definition« apostrophiert, läßt sich die von Hillis Miller behauptete generelle Negation des Subjekts aus dem Text des Romans nicht begründen; vielmehr operieren gerade die ›Wahlverwandtschaften‹, wie Thorsten Valk eindrucksvoll herausarbeitet, beim Entwurf ihrer fiktionalen Hauptfiguren wiederholt mit relativ konzisen individualpsychologischen Motivationszusammenhängen (Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 231–289). – Zur Kritik an der von Hillis Miller vorgelegten ›Wahlverwandtschaften‹-Deutung siehe die geistreichen Ausführungen von Thomas Zabka: »Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben«. Zur Überinterpretation von Buchstaben und Satzzeichen in der neueren Goethephilologie. In: Matthias Luserke (Hg.): Goethe nach 1999. Positionen und Perspektiven. Göttingen 2001, S. 9–21, hier S. 16–19. Vgl. dazu Thomas Fries: Die Reflexion der »Gleichnisrede« in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 121f.

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(300f.). Mit dieser Äußerung führt Charlotte zwei weitere Faktoren ein, die das sprachliche Zeichen perspektivisch relativieren: Zum einen etabliert sie einen genderspezifischen Code, der auf die Wortbedeutung einwirkt. Zum anderen verweist sie auf den Aspekt des kommunikativen Kontextes und akzentuiert damit die Dimension der Pragmatik, die an der jeweiligen Bedeutungskonstitution eines Wortes innerhalb einer konkreten Sprechsituation entscheidenden Anteil hat. Das sprachliche Zeichen ist, so läßt sich schon an diesem frühen Punkt der chemischen Gleichnisrede resümieren, nicht nur durch seine Stellung innerhalb des übergeordneten Sprachsystems codiert. Im Akt der Kommunikation unterliegt es zudem einer Vielzahl unterschiedlicher Subcodes, die vom Temperament des Sprechers, von seinem Geschlecht, von seiner historischen Situation sowie von gesellschaftlichen Rücksichten bestimmt werden. Die Bedeutung eines Wortes erscheint als Resultat zahlreicher Perspektivierungen; sie entzieht sich in ein diffuses Gemenge von sich wechselseitig überlagernden Codes, so daß selbst die Wissenschaftler, die eine durch Übereinkunft stabilisierte Kommunikationsebene zu etablieren versuchen, nicht in der Lage sind, sich auf eine verbindliche Semantik zu einigen.18 Ohne diesen vielfältigen perspektivischen Relativierungen des sprachlichen Zeichens Rechnung zu tragen, äußert Eduard die Bitte, bei der Erläuterung des Verwandtschaftsbegriffs nun möglichst schnell »in die Sache zu kommen« (301). Die gemeinsamen definitorischen Bemühungen der drei Gesprächspartner sollen damit ungeachtet der vorangegangenen Irritationen doch wieder auf ein objektiv gültiges Signifikat hin orientiert werden. Dem entspricht der Versuch des Hauptmanns, sich zunächst »über das Bekannte völlig [zu] verständig[en]«, also den Wortgebrauch zum Zweck einer funktionierenden Kommunikation intersubjektiv verbindlich zu fixieren (301). Seine näheren Ausführungen zeigen dann allerdings, daß sich der Verwandtschaftsbegriff nicht, wie von Eduard gewünscht, zur bequem verfügbaren »Sache« hypostasieren läßt. Es geht bei diesem Terminus, und das macht ihn für sprachkritische Überlegungen so außerordentlich ergiebig, nicht um den Signifikanten eines konkret greifbaren Gegenstandes, sondern ausschließlich um Relationen, welche die drei Protagonisten nunmehr durch eine Erörterung der Kategorie des »Bezug[s]« und

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So äußert Charlotte über den Begriff der »Verwandtschaft«: »Wie es wissenschaftlich damit zusammenhänge, wollen wir den Gelehrten überlassen, die übrigens, wie ich habe bemerken können, sich wohl schwerlich jemals vereinigen werden« (301). – In seinem späten Aufsatz ›Principes de Philosophie Zoologique‹ führt Goethe den Akademiestreit zwischen den Zoologen Geoffroy de Saint-Hilaire und Baron Cuvier, die er als Exponenten des Gegensatzes zwischen synthetischem und analytischem Naturzugriff auffaßt, unter anderem auf eine CodeDiffusion zurück: »Man glaubt in reiner Prosa zu reden und man spricht schon tropisch; den Tropen wendet einer anders an als der andere, führt ihn in verwandtem Sinne weiter und so wird der Streit unendlich und das Rätsel unauflöslich« (Johann Wolfgang Goethe: Principes de Philosophie Zoologique discutés en Mars 1830 au sein de l’Académie Royale des Sciences par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire. In: FA 24, S. 810–842, hier S. 837).

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des »Verhältnis[es]« zu erfassen suchen (301f.). Dabei tritt die individuell verschiedene Konditionierung sprachlicher Semantik, die Goethe in seiner ›Ersten Epistel‹ unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten reflektiert,19 noch einmal deutlich zutage. Während Charlotte, die ihr Handeln im gesamten Roman am gesellschaftlich akzeptierten Normengefüge ausrichtet, »Bezug« und »Verhältnis« als Relation zwischen verschiedenen sozialen Schichten beschreibt, wendet der selbstbezogene Eduard das in Rede stehende Phänomen sofort ins PersönlichSubjektive, indem er die Beziehungsfähigkeit von »Freunde[n] und alte[n] Bekannte[n]« mit der Bezugslosigkeit zwischen einander gleichgültigen Menschen kontrastiert (302). Einzig der Hauptmann scheint sich um Erklärungen zu bemühen, die dem naturwissenschaftlich-chemischen Bereich Rechnung tragen, um den es in der Erörterung ja eigentlich gehen soll. Allerdings wird auch sein eher sachorientierter Diskurs von Begriffen aus dem zwischenmenschlichen Gegenstandsbereich unterminiert, wenn er anmerkt: »Gedenken wir nur des Kalks, der zu allen Säuren eine große Neigung, eine entschiedene Vereinigungslust äußert« (303). Der erotisch besetzte Terminus »Vereinigungslust«, der den chemischen Elementen menschliche Empfindungen unterlegt, verweist weniger auf eine naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit, als auf persönliche Wünsche und Bedürfnisse des Hauptmanns, die dieser ins Unbewusste abgedrängt hat.20 Die Semantik des Begriffs »Verwandtschaft« erfährt somit in jeder Figur eine je andere Realisierung.21

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Die folgenden Verse der von der Forschung bislang vernachlässigten, stellenweise geradezu avantgardistisch anmutenden ›Ersten Epistel‹ leiten aus der Diagnose eines subjektiv überformten Wortverständnisses eine ebensolche Art der Literatur-Rezeption ab: »Reden schwanken so leicht herüber hinüber, wenn Viele / Sprechen und jeder nur sich im eigenen Worte, sogar auch / Nur sich selbst im Worte vernimmt, das der Andere sagte. / Mit den Büchern ist es nicht anders. Lies’t doch nur Jeder / Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so lies’t er / In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde« (Johann Wolfgang Goethe: Erste Epistel. In: FA 2, S. 201–205, hier S. 202). Zur psychischen Disposition des Hauptmanns vgl. Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 243–251. Die subjektive Brechung sprachlicher Äußerungen durch den jeweiligen Rezipienten erläutert Goethe in einer kurzen Abhandlung über Hörfehler beim Diktieren folgendermaßen: »Niemand hört als was er weiß, niemand vernimmt als was er empfinden, imaginiren und denken kann. Wer keine Schulstudien hat, kommt in den Fall alle lateinische und griechische Ausdrücke in bekannte deutsche umzusetzen [...]. Ferner kommt auch wohl beym Diktiren der Fall vor, daß der Hörer seine inwohnende Neigung, Leidenschaft und Bedürfniß an die Stelle des gehörten Wortes setzt, den Namen einer geliebten Person, oder eines gewünschten guten Bissens einfügt« (Johann Wolfgang Goethe: Hör- Schreib- und Druckfehler. In: FA 20, S. 450–454, hier S. 451). – Ohne auf die chemische Gleichnisrede einzugehen, hat Stefan Blessin anhand zahlreicher Beispiele herausgearbeitet, daß in den ›Wahlverwandtschaften‹ einzelne Worte bei »wechselndem Kontext einander entgegengesetzte Bedeutungen« erhalten (Stefan Blessin: Erzählstruktur und Leserhandlung. Zur Theorie der literarischen Kommunikation am Beispiel von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Heidelberg 1974, S. 79). Zur unbestimmten Semantik einzelner Worte vgl. auch die Ausführungen von Susanne Konrad, die in Bezug auf das Vokabular des Goetheschen Romans eine »Vagheit im Wortgebrauch« konstatiert (Susanne

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Um trotz der geschilderten perspektivischen Relativierungen zu einem adäquaten Verständnis des Begriffs »Verwandtschaft« zu gelangen, erproben die Protagonisten im weiteren Gesprächsverlauf zwei gegensätzliche Strategien, die jedoch beide ins Leere laufen. Der Versuch, die Sprachproblematik durch den Rekurs auf die sinnliche Anschauung zu überwinden, schlägt ebenso fehl wie die fortgesetzten Bestrebungen, die inhaltliche Füllung des in Frage stehenden Terminus doch noch verbal zu eruieren. Der Hauptmann plädiert dafür, die defizitäre Darstellungskapazität der Sprache durch den Blick auf die chemischen Prozesse selbst zu kompensieren: »Sobald unser chemisches Cabinet ankommt, wollen wir Sie verschiedene Versuche sehen lassen, die sehr unterhaltend sind und einen bessern Begriff geben als Worte, Namen und Kunstausdrücke« (303). Für den Hauptmann ist demnach die experimentelle Präsentation gegenüber der sprachlichen Repräsentation durch einen kognitiven Mehrwert ausgezeichnet. Die Trias »Worte, Namen und Kunstausdrücke« markiert eine Klimax spezialisierender Konventionalisierung, deren einzelne Stufen jeweils ein zunehmendes Maß an Arbitrarität besitzen. Als Gegenpol zu diesen willkürlichen Bezeichnungsweisen propagiert der Hauptmann einen nonverbalen »Begriff«, der gleichsam organisch durch die visuelle Wahrnehmung der Phänomene generiert wird. Doch vermag es dieses Konzept einer kognitiven Unmittelbarkeit tatsächlich, die Beschränkungen sprachgebundenen Erkennens zu transzendieren? In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf jene Sätze, in denen der Hauptmann die außersprachliche Evidenz sinnlicher Anschauung sprachlich darstellt: »[S]obald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden. Jetzt müßte ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorstellung gäben. Man muß diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu« (305f). Offenkundig führt der bewusste Verzicht auf die »Kunstworte« an dieser Stelle nur zu einer noch größeren Konfusion. Kategorien der Innerlichkeit, der Tätigkeit, der Gestalt und sogar der Metaphysik werden auf chemische Elemente übertragen, obwohl ihnen in diesem Bereich kein reales Korrelat entspricht. Doch nicht nur die inkonsistente Semantik dieser Beschreibung, sondern auch die additive Reihung der Einzelworte wirkt irritierend. Die sprachfreie Unmittelbarkeit, die der Hauptmann zu verbalisieren versucht, bringt offenbar keinerlei Erkenntnisgewinn, sondern führt in Konrad: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und das Dilemma des Logozentrismus. Heidelberg 1995, S. 25).

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ein inkommensurables Wahrnehmungschaos, als dessen stilistisches Abbild die expandierende Worthäufung fungiert. Das Konzept, durch die Evidenz reiner Anschauung zu einem Verständnis des Terminus »Verwandtschaft« zu gelangen, wird durch die Art und Weise seiner sprachlichen Repräsentation ironisch unterminiert.22 Obwohl man nach Meinung des Hauptmanns »dergleichen [...] nicht mit Worten abtun« sollte (305), bleibt die Klärung des Begriffs »Verwandtschaft« auf die Sprache verwiesen. Doch auch die verbalen Definitionsversuche bringen, wie nach der impliziten Sprachkritik zu Beginn des Gesprächs nicht anders zu erwarten, kein Licht ins terminologische Dunkel. Keinem der drei Protagonisten gelingt es, die Verwandtschafts-Metapher inhaltlich zu fixieren. Der Signifikant gerät im Zuge seiner Thematisierung ins Gleiten und generiert immer neue Metaphern, die ihrerseits wiederum interpretationsbedürftig sind. »Lassen Sie mich gestehen, sagte Charlotte, wenn Sie diese Ihre wunderlichen Wesen verwandt nennen, so kommen sie mir nicht sowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Geistes- und Seelenverwandte vor« (303). Eduard setzt diese argumentative Expansion fort, indem er die Semantik der Verwandtschafts-Metapher in graduell differierende Teile zerlegt: »[E]igentlich sind die verwickelten Fälle die interessantesten. Erst bei diesen lernt man die Grade der Verwandtschaften, die nähern, stärkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen« (303). Damit verliert der Terminus jede Spezifität, seine Kontur verschwimmt in einer diffusen Gemengelage unterschiedlicher Intensitäten, der Eduard mit der Einführung des Gegenbegriffs beizukommen versucht: »[D]ie Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken« (303). Doch die Einbeziehung der Antithese »Scheidungen«, die charakteristischerweise nur zur metaphorischen Bedeutung von »Verwandtschaft« (im Sinne von »Vereinigung«) in einem Gegensatzverhältnis steht, führt nicht zu einer definitorischen Klärung, sondern erhöht den Komplexitätsgrad noch weiter. Ohne das chemische Phänomen der Verwandtschaft befriedigend geklärt zu haben, verlagert sich das Gespräch nämlich sogleich zum Sonderfall der »Wahlverwandtschaft«, dessen begriffliche Bezeichnung der Hauptmann nach der Deskription des entsprechenden Reak22

In der Forschung wurde der selbst-subversive Charakter des vom Hauptmann formulierten Plädoyers für die Evidenz der Anschauung bislang übersehen. So lesen etwa Heike Brandstädter und Thomas Lehmann die Ausführungen des Hauptmanns als Affirmation der visuellen Wahrnehmung. Nach Brandtstädter folgt aus den Worten des Hauptmanns, »daß das Bild der Sprache vorgezogen« werde, wobei die Autorin anschließend auf höchst spekulative Weise versucht, das im Roman angeblich präferierte »Bild« seinerseits – gemäß der dekonstruktivistischen Doktrin einer Vorgängigkeit der Schrift – auf die Kategorie der »Textualität« zurückzuführen (Heike Brandstädter: Der Einfall des Bildes. Ottilie in den ›Wahlverwandtschaften‹. Würzburg 2000, S. 49). Lehmann unterstellt den Worten des Hauptmanns eine teleologische Struktur, die auf den »eigentlichen Blick« ausgerichtet sei (Thomas Lehmann: Augen zeugen. Zur Artikulation von Blickbezügen in der Fiktion. Mit Analysen zum Sehen in J.W. Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹ [1809] und in Peter Greenaways Film ›The Draughtman’s Contract‹ [1982]. Tübingen, Basel 2003, S. 178).

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tionsschemas mit den aufschlussreichen Worten einführt: »[M]an glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht als wenn ein Verhältnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwählt würde« (304, meine Hervorhebung). Indem der Hauptmann die Einführung des Wahlverwandtschafts-Begriffs mit auffälligen sprachlichen Unbestimmtheitssignalen durchsetzt, gewinnt sein Redebeitrag den Charakter einer Selbst-Subversion. In einer Art suspensiver Darstellung wird der Fachterminus der ›attractio electiva‹ auf dem Wege seiner Definition als inadäquat erwiesen. Charlottes Replik auf die Einführung des Wahlverwandtschafts-Begriffs durch den Hauptmann demonstriert die semantische Insuffizienz dieses Substantivkompositums, indem sie sich dessen erster Begriffshälfte zuwendet. Nicht zufällig gerät dieser Signifikant ins Gleiten, wenn Charlotte ihn – vor dem Hintergrund der Differenz zwischen anthropologischem Bildspender und chemischem Bildempfänger – folgendermaßen zu präzisieren versucht: »[I]ch würde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum: denn es ist am Ende [...] nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhältnisse« (304, meine Hervorhebung). Die den Terminus »Wahl« substituierende Semiose generiert eine Vielzahl von Interpretanten, die sich allerdings keineswegs – wie in der semiotischen Konzeption von Peirce23 – asymptotisch auf den semantischen Gehalt des Ausgangsbegriffes zubewegen, sondern auf die Auflösung von dessen Bedeutungsinhalt hin angelegt sind: Zunächst plädiert Charlotte dafür, den Begriff der »Wahl« durch seine terminologische Antithese, die »Notwendigkeit«, zu ersetzen, deren Angemessenheit sie jedoch sogleich durch ein »kaum« relativiert. Der daraufhin als korrigierende Alternative propagierte Begriff der »Gelegenheit«, der durch seine Wiederholung in der rhetorischen Figur der Anadiplose besonders akzentuiert wird, ist auf einer anderen Bedeutungsebene angesiedelt: Während »Wahl« und »Notwendigkeit« das semantische Feld der autonomen Entscheidungsfähigkeit abstecken und damit auf den individuellen Spielraum der einzelnen Elemente bezogen sind, beschreiben der Begriff der »Gelegenheit« und deutlicher noch der von diesem abgeleitete Terminus des »Verhältnisses« die übergeordnete Konstellation, die aus dem Zusammenwirken der einzelnen Elemente erst hervorgeht. »Gelegenheit« und »Verhältnisse« erscheinen somit nicht als angemessenere Bezeichnungen jenes chemischen Phänomens, das durch »Wahl« beziehungsweise durch »Notwendigkeit« nur unvollkommen charakterisiert wird. Charlot23

Für Charles Sanders Peirce kann ein Zeichen nur durch seine Verbindung mit interpretierenden Folgezeichen, die er Interpretanten nennt, verstanden werden. Die Generierung dieser Folgezeichen, die Semiose, ist mit einem fortschreitenden Erkenntnisgewinn verbunden, der sich auf eine verifizierbare Bedeutung des Ausgangszeichens zubewegt (Zum Peirceschen Zeichenmodell vgl. Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. Übers. v. Günter Memmert. München 1995, S. 429–431).

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tes Gesprächsbeitrag leistet keine kognitive Annäherung, die in einer adäquaten Versprachlichung der chemischen Reaktionsvorgänge terminieren würde, sondern illustriert in seiner begrifflichen Inkohärenz die unüberwindbare Kluft zwischen Gegenstandssphäre und Sprache. Die in der chemischen Gleichnisrede entfaltete Sprachkritik, die sich an den Metaphern »Wahl« und »Verwandtschaft« entzündet, kulminiert in einer generellen Problematisierung des metaphorischen Sprechens selbst: In zwei aufeinander folgenden Gesprächsbeiträgen Charlottes und des Hauptmanns treten sich zwei gegensätzliche Metaphorisierungsstrategien gegenüber. So warnt Charlotte folgendermaßen vor dem Strukturmuster der wahlverwandtschaftlichen Reaktion: »Der Gips hat gut reden [...], der ist nun fertig, ist ein Körper, ist versorgt, anstatt daß jenes ausgetriebene Wesen noch manche Not haben kann bis es wieder unterkommt. [...] Mir sind leider Fälle genug bekannt, wo eine innige unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen, durch gelegentliche Zugesellung eines Dritten, aufgehoben, und eins der erst so schön verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward« (304f.). Charlotte knüpft hier zwar an die chemische Diskussion an, verwendet deren Kategorien aber lediglich zur Metaphorisierung anthropologischer Vorgänge; die chemische Reaktion erscheint als sprachliches Bild der menschlichen Interaktion. Der Hauptmann hingegen kehrt diese Perspektive um: »[D]iese Fälle sind allerdings die bedeutendsten und merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz, wirklich darstellen kann; wo vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden« (305). Während Charlotte mit dem chemischen Phänomen der »Wahlverwandtschaft« zwischenmenschliche Konstellationen metaphorisiert, verwendet umgekehrt der Hauptmann anthropologische Kategorien als Chiffren für chemische Abläufe. Charlotte kleidet Menschliches in chemische Bilder; der Hauptmann hingegen figuriert Chemisches durch Menschliches. Damit wird die Axiomatik des Metaphorisierungsprozesses ausgehebelt. Während die traditionelle Substitutionstheorie der Metapher von einer klaren Bestimmbarkeit des Eigentlichen und des Uneigentlichen ausgeht, werden in der beschriebenen Konstellation Bildspender und Bildempfänger wechselseitig austauschbar. Die Perspektive des Sprechers bestimmt, was innerhalb einer Metapher als ›verbum proprium‹ und was als ›immutatio‹ fungiert, und macht diese Zuordnung damit grundsätzlich reversibel.24 Indem das Eigentliche in anderer Sichtweise als das Uneigentli24

Die Grenzaufhebung zwischen literalem und figurativem Sprechen ist bereits in der Art und Weise angelegt, wie Goethe den Terminus der »Wahlverwandtschaft« in seinem Roman verwendet. In der häufig zitierten Selbstanzeige bemerkt der Weimarer Dichter über die Bedeutung seines Titelbegriffs: »Es scheint, daß den Verfasser seine fortgesetzten physikalischen Arbeiten zu diesem seltsamen Titel veranlaßten. Er mochte bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wissens

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che erscheint, verliert es als Kategorie seine ontologische Dignität. Eine intersubjektiv verbindliche eigentliche Bedeutung ist, wie schon an früherer Stelle der chemischen Gleichnisrede deutlich wurde, sprachlich nicht formulierbar. Angesichts der kaum beherrschbaren Komplexität verbaler Signifikation versuchen die Protagonisten gegen Ende des Gesprächs, das wahlverwandtschaftliche Reaktionsmuster in einer reinen »Zeichensprache« darzustellen (306). Diese »Zeichensprache« ist auf einzelne Buchstaben reduziert, die sich, weil ihnen kein bestimmter Bedeutungsinhalt vorgegeben ist, definitorisch beliebig besetzen lassen. Der Umgang der Protagonisten mit diesem ganz und gar arbiträren semiotischen System illustriert noch einmal jene perspektivische Relativität der Zeichendeutung, die Goethe der Sprachkritik der ›Wahlverwandtschaften‹ durchgängig eingeschrieben hat: Während der Hauptmann die vier Buchstaben A, B, C und D zur Repräsentation chemischer Elemente heranzieht, werden sie von Eduard kurzerhand zu zeichenhaften Stellvertretern menschlicher Figuren umcodiert. Auch das artifiziell konstruierte System reiner Zeichen vermag es somit nicht, die fundamentale Instabilität der Designation zu überwinden.

weit Entferntes näher heranzubringen; und so hat er auch wohl in einem sittlichen Falle, eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen« (FA 8, S. 974). Der Begriff der »Wahlverwandtschaft« wird in einem ersten Übertragungsschritt von einem zwischenmenschlichen in einen chemischen Bedeutungszusammenhang transferiert; den auf diese Weise entstandenen naturwissenschaftlichen Fachterminus zieht Goethe in einem zweiten Übertragungsschritt wiederum zur Bezeichnung zwischenmenschlicher Beziehungen heran. Diese doppelte Metaphorisierung, die zu einem komplexen semantischen Beziehungsgeflecht zwischen chemischer und menschlicher Sphäre führt, läßt die kategoriale Grenzziehung zwischen Bildspender und Bildempfänger problematisch erscheinen.

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2.

Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ als Experimentalroman? – Zur poetologischen Valenz der Sprachskepsis

Eine besondere Relevanz erhält die in der chemischen Gleichnisrede entfaltete Sprachskepsis dadurch, daß sie dem titelgebenden Terminus der ›Wahlverwandtschaften‹ gilt.25 Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen konnten, vermögen die drei Protagonisten weder den Begriff der Verwandtschaft noch denjenigen der Wahlverwandtschaft definitorisch eindeutig zu fixieren. Goethes Roman trägt somit einen Titel, dessen terminologische Insuffizienz durch die Protagonisten explizit thematisiert wird. Diese selbst-subversive Konstellation wirft die Frage auf, ob – wie in der Forschung oftmals behauptet – das Phänomen der Wahlverwandtschaft das im Roman geschilderte Geschehen tatsächlich angemessen charakterisiert und mithin die chemische Reaktion als modellhafte Verdichtung der menschlichen Interaktion zu betrachten ist. Eine unter diesem Gesichtspunkt harmonisierende Lesart, wie sie am entschiedensten Waltraud Wiethölter vertreten hat, ist mit einer eindeutigen Antwort schnell bei der Hand: Das Phänomen der ›attractio electiva‹ verknüpfe die chemische und die menschliche Sphäre durch das Band der Analogie; die wahlverwandtschaftliche Struktur chemischer Reaktionen werde im Roman bruchlos in Handlung umgesetzt. Wiethölter versucht diesen Befund, der sich auf Goethes Diktum von der dem Roman zugrundeliegenden »durchgreifenden Idee«26 berufen kann, zu erhärten, indem sie jeder Figur des Wahlverwandtschaften-Quartetts ein bestimmtes Element aus der chemischen Gleichnisrede zuordnet. Unter Berufung auf eine Vielzahl von Textstellen27 wird Eduard mit der (Kalk-)Erde, Charlotte mit der Luftsäure, der Hauptmann mit dem Wasser und Ottilie mit dem Feuer (Schwefelsäure) analogisiert.28 Vor dem Hintergrund dieses Schemas

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Auf diesen Sachverhalt hat bereits Jochen Schmidt aufmerksam gemacht (Vgl. dazu Jochen Schmidt: Ironie und Skepsis in Goethes Alterswerk, S. 172f.). Vgl. dazu S. 78, Anm. 47 der vorliegenden Studie. Vgl. dazu Waltraud Wiethölter: Legenden. Zur Mythologie von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 56 (1982), S. 1–64, hier S. 38–42. Eine ähnliche Lesart vertritt Theo Elm, der in einem jüngst erschienenen Aufsatz behauptet, daß der »Romanerzähler [...] das chemische Prinzip der Wahlverwandtschaft analog auf den Menschen« übertrage und damit die »Simulation eines Laborversuchs« inszeniere (Theo Elm: ›Wissen‹ und ›Verstehen‹ in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Gabriele Brandstetter [Hg.]: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Freiburg i. Brsg. 2003, S. 91–107, hier S. 98 u. S. 100). Diese Zuordnung übernehmen auch Gustav Seibt und Oliver R. Scholz, deren Aufsatz »Zur Funktion des Mythos in ›Die Wahlverwandtschaften‹« ansonsten zahlreiche überzeugende Argu-

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»findet sich« – nach Wiethölter – in der chemischen Gleichnisrede »das künftige Geschehen programmatisch und vollständig ausgedrückt«.29 Eine solche Lesart, die »den Roman als chemisch-alchemistisches Experiment« zu begreifen versucht,30 ist in dreierlei Hinsicht anfechtbar: Erstens läßt sich die Zuordnung der einzelnen Protagonisten zu bestimmten chemischen Elementen keineswegs so eindeutig herleiten, wie es Wiethölters Selektion von Belegstellen suggeriert. Goethes Text gibt nämlich durchaus Hinweise, die dem unterstellten stabilen Zuschreibungsmuster zuwiderlaufen. So fühlt sich etwa Ottilie, die doch angeblich als Analogon zum Element des Feuers konzipiert wurde, beim Anblick des ihr zu Ehren veranstalteten Feuerwerks »eher ängstlich als angenehm«, während es über Eduard, den Wiethölter der Erde zuordnet, ausdrücklich heißt, daß sein »Busen brannte« (371, meine Hervorhebung). Die von Wiethölter behauptete Gleichsetzung Ottilies mit dem Element Feuer beziehungsweise Schwefelsäure widerspricht nicht nur deren introvertiertem, durch Ichschwäche, Selbstzurücknahme und Entsagung gekennzeichneten Charakter, sondern wird durch ein alternatives Zuschreibungsmodell konterkariert, wie sich exakt am Text belegen läßt. So ist nämlich die Luft(-Säure), wie der Hauptmann feststellt, in Verbindung mit dem Wasser dazu geeignet, »als Mineralquelle Gesunden und Kranken zur Erquickung zu dienen« (304). Eine ähnliche Wirkung attestiert der Erzähler wenig später Ottilie, wenn er diese als »wahre[n] Augentrost« bezeichnet und ihrer Schönheit »einige Heilkraft« zuspricht (313). Im Zusammenhang mit der legendarischen Apotheose Ottilies gegen Ende des Romans ist dann – in wörtlichem Anklang an die oben zitierte Äußerung des Hauptmanns über die Luftsäure – von der »Erquickung« die Rede, die die Alten und Schwachen an ihrem Sarg zu finden glauben (527). Das Feuer, das Goethe im ›Faust‹ Mephisto zuordnet,31 der mit Ottilie wohl kaum Gemeinsamkeiten aufweist, ist somit nicht das einzige der vier Elemente, das sich auf Ottilie beziehen läßt.32 Darüber hinaus wird das Entsprechungsverhältnis zwischen Eduard und der Erde, das Wiethölter auf dem Umweg über die auf mittelalterlichen Bildern häufig dargestellte Allegorie der Erdgöttin Ceres in Gestalt eines Mannes mit den Attributen Zweig und Spaten plausibel zu machen versucht, dadurch relativiert, daß Eduards gärtnerische Aktivitäten das

29 30 31 32

mente gegen Wiethölters Lesart des Goetheschen Romans anführt (Gustav Seibt, Oliver R. Scholz: Zur Funktion des Mythos in ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 59 [1985], S. 609–630, hier S. 613f.). Ebd., S. 42f. Ebd., S. 37. Vgl. ›Faust I‹, V. 1378f. Wiethölters Verknüpfung Ottilies mit dem Element des Feuers wird auch dadurch konterkariert, daß deren Namensgeberin, die heilige Odilia, der Legende nach eine Heilquelle aus einem Felsen schlug und daher in einem besonderen Bezug zum Element des Wassers steht (Zur legendarischen Verknüpfung der heiligen Odilia mit dem Element des Wassers vgl. Rüdiger Burghardt: Der Odilienberg. Bd. 1. Berlin, Freiburg i. Brsg. 2003, S. 58f.).

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Signum des Dilettantismus tragen, was sich mit der angeblichen Ceres-Analogie kaum vereinbaren läßt.33 Neben dem von Wiethölter unterstellten eindeutigen Zuordnungsverhältnis zwischen den vier Elementen und dem Figurenquartett des Romans ist zweitens auch die von ihr behauptete Strukturanalogie zwischen chemischem Reaktionsmodell und zwischenmenschlicher Handlungsdynamik durchaus problematisch. Denn trotz aller Übereinstimmungen zwischen chemischer und menschlicher Sphäre, die in der ›Wahlverwandtschaften‹-Forschung immer wieder ausführlich dargestellt worden sind, verbleiben doch insbesondere hinsichtlich des Phänomens der ›attractio electiva‹ tiefgreifende Differenzen, die der von Wiethölter konstatierten uneingeschränkten Entsprechung deutlich zuwiderlaufen. Das Modell der wahlverwandtschaftlichen Reaktion zwischen vier unterschiedlichen Elementen (›attractio electiva duplex‹) liegt nämlich nur dort zugrunde, »wo« – wie der Hauptmann bemerkt – »vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen in Berührung gebracht, ihre bisherige Verbindung verlassen und sich aufs neue verbinden« (305, meine Hervorhebung). Die im Handlungsverlauf des Goetheschen Romans entfalteten »Verbindungen« zwischen den einzelnen Figuren genügen dieser Vorgabe nicht.34 Zu Beginn des Geschehens führen nur Eduard und Charlotte eine Paarbeziehung, nicht aber der Hauptmann und Ottilie; der Romanschluß läßt, wenn man von dem ironisch gebrochenen Hinweis auf eine mögliche transzendente Vereinigung im letzten Satz absieht, nach dem Scheitern der Ehe zwischen Eduard und Charlotte keinerlei Aussichten auf neue Verbindungen erkennen. Gegen Wiethölters These spricht drittens auch die sprachkritische Dimension der chemischen Gleichnisrede. Die fundamentale Instabilität der Designation, die der Verlauf des Gesprächs über »Verwandtschaft« und »Wahlverwandtschaft« offenlegt, dementiert die Gültigkeit aller Zuschreibungsmodelle, die – wie Wiethölter das im Falle der chemischen Gleichnisrede tut – auf Eindeutigkeit beharren.

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Die von Eduard bereits auf der ersten Seite des Romans praktizierte gärtnerische Methode, »Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen«, wird später vom Gärtner explizit kritisiert: »Man pfropft und erzieht und endlich wenn sie Früchte tragen, so ist es nicht der Mühe wert, daß solche Bäume im Garten stehen« (383). Die Inkongruenz von chemischem Modell und Handlungsführung hat bereits Beda Allemann hervorgehoben, der darauf hinweist, daß sich der Roman »offensichtlich gerade nicht als die konsequente Illustration der Gleichnisrede interpretieren« läßt (Beda Allemann: Zur Funktion der chemischen Gleichnisrede in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Vincent J. Günther [Hg.]: Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Fs. für Benno von Wiese. Berlin 1973, S. 199–218, hier S. 207). Eine ähnliche Position bezieht Hartmut Böhme, der – ohne nähere Erläuterung – konstatiert, daß die Handlung des Romans »gerade nicht jener chemischen Ordnung entspricht, unter deren emblematische Überschrift der Roman wie die Protagonisten gestellt sind« (Hartmut Böhme: »Kein wahrer Prophet«. Die Zeichen und das Nicht-Menschliche in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Gisela Greve [Hg.]: Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Tübingen 1999, S. 97–123, hier S. 114).

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Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ propagieren demnach keine esoterischalchimistische Gleichsetzung von chemischer und menschlicher Sphäre.35 Wie läßt sich dann aber der Titel des Romans erklären, der bekanntlich der chemischen Fachsprache entstammt?36 Die konventionelle Erwartung an einen Titel besagt, daß dieser nicht nur als eine Art Eigenname des betitelten Werkes fungiert, sondern darüber hinaus auch dessen Inhalt summarisch bezeichnet.37 Goethe allerdings hat seinen Roman mit einem Substantivkompositum benannt, dessen Bestandteile, wie die Forschung häufig betont,38 semantisch inkongruent sind. Die einen freien Willen voraussetzende »Wahl« steht in paradoxer Spannung zur unabänderlichen Naturgegebenheit der »Verwandtschaft«. Nicht zuletzt diese begriffliche Ambivalenz läßt die zahlreichen Definitionsversuche der Handlungsfiguren scheitern. Indem also Goethe seinen Roman mit einem Titel versieht, der schon in sich widersprüchlich erscheint, überträgt er die textimmanent entfaltete Deutungsohnmacht der Figuren auf den Akt der Rezeption. Der Leser, der sich zunächst am chemischen Bezugshorizont des Titels orientiert, versucht vergeblich, das wahlverwandtschaftliche Reaktionsmuster mit der Romanhandlung zur Deckung zu bringen. Die für die ›Wahlverwandtschaften‹ grundlegende Sprachskepsis läßt sich also auch auf der Ebene der paratextuellen Rahmung39 situieren; das Verhältnis zwischen Titel und Text illustriert noch einmal die unhintergehbare Offenheit sprachlichen Bezeichnens. Die spannungsreiche Beziehung zwischen chemischer und menschlicher Sphäre, die sich im Titel des Romans verdichtet, erscheint als eine Art kritischer Vorwegnahme jener naturalistischen Dichtungskonzeption, die Emile Zola in seiner Programmschrift ›Le roman expérimental‹ propagiert.40 Die Anknüp-

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Damit ist Heinz Schlaffers Kritik an den ›Wahlverwandtschaften‹ entkräftet, der in einem ansonsten exzellenten Aufsatz die wenig überzeugende Behauptung aufstellt, »Psyche und Gesellschaft« seien in diesem Roman »nur das Material, um das Gesetz jener geheimnisvollen ›Einen Natur‹ zum Vorschein zu bringen«. Auf diese Weise propagiere der Text ein alchimistisch-vormodernes Weltbild, das Schlaffer als den »Preis« bezeichnet, mit dem der hohe ästhetische Rang des Werkes »erkauft wurde« (Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jb. der Jean-Paul-Gesellschaft 7 [1972], S. 84–102, hier S. 84 u. S. 101). Den Bezugshintergrund der zeitgenössischen Chemie rekonstruiert detailliert Jeremy Adler: »Eine fast magische Anziehungskraft«. Vgl. dazu Jacques Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz. Übers. v. Detlev Otto und Axel Witte. Wien 1992, S. 15. Dazu ausführlich Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 305–307. Zum Begriff der »paratextuellen Rahmung« siehe Werner Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Vera Nünning, Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 23–104, hier S. 43. Beda Allemann hat bei seiner Analyse der Goetheschen »Selbstanzeige« kurz auf deren argumentative Nähe zum ›roman expérimental‹ hingewiesen (Beda Allemann: Zur Funktion der

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fungspunkte für einen Vergleich sind, insbesondere wenn man Goethes SelbstDeutung der ›Wahlverwandtschaften‹ mit heranzieht, offenkundig: Zunächst einmal geht es beiden Autoren um den Versuch, naturwissenschaftliche Erklärungsmuster in dichterischen Texten zur Anschauung zu bringen. Dieses Bestreben wirft die Frage auf, ob sich chemische und physikalische Gesetzmäßigkeiten auf menschliche Verhaltensweisen übertragen lassen. Für Zola fällt die Antwort eindeutig aus: Obgleich er über das Kriterium der Komplexität eine graduelle Differenz zwischen anorganischer und organischer Sphäre markiert, sieht er dennoch beide Bereiche vom übergreifenden Grundprinzip eines lückenlosen Determinismus durchwirkt. Zola begreift chemische Reaktionen ebenso wie menschliche Interaktionen als kausale Ketten, deren einzelne Glieder notwendig auseinander hervorgehen: »Kurz, wir müssen mit den Charakteren, den Leidenschaften, den menschlichen und sozialen Handlungen operieren, wie es der Chemiker und der Physiker mit den starren Körpern, der Physiologe mit den lebenden Wesen tut. Der Determinismus beherrscht alles«.41 Ganz ähnlich argumentiert Goethe in seiner vielzitierten Selbstanzeige der ›Wahlverwandtschaften‹, wenn er deren »seltsamen Titel« zumindest hypothetisch auf »seine fortgesetzten physikalischen Arbeiten« zurückführt und ausdrücklich darauf hinweist, daß » doch überall nur eine Natur ist und auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam durchziehen«.42 Als Folge der ›mutatis mutandis‹ von Zola wie auch von Goethe formulierten Feststellung, daß Mensch und Natur denselben Gesetzmäßigkeiten unterworfen seien, läßt sich bei beiden Autoren die Tendenz beobachten, den Roman nach dem Muster eines naturwissenschaftlichen Experiments anzulegen. Für Zola reagieren Romanfiguren, die in eine bestimmte Konstellation gebracht werden, ebenso gesetzmäßig und vorhersagbar aufeinander wie die Elemente einer chemischen Versuchsanordnung. Die entscheidende kreative Leistung des Schriftstellers kann deshalb nicht in der Konstruktion der narrativen Fabel, sondern ausschließlich in der Anlage der figuralen Konstellation bestehen, die Zola als »apriorische Idee« bezeichnet.43 Hierbei zeigt sich eine verblüffende Gemeinsamkeit mit Goethes Selbstinterpretation der ›Wahlverwandtschaften‹, die er im Gespräch mit Eckermann als »einzige[s] Product von größerem Umfang« hervorhebt, welches nach Maßgabe »einer durchgreifenden Idee gearbeitet« sei.44

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chemischen Gleichnisrede in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 200). Ein knapper, aber treffender Vergleich zwischen Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und der naturalistischen Romankonzeption Zolas findet sich bei Jochen Schmidt: Ironie und Skepsis in Goethes Alterswerk, S. 174. Emile Zola: Der Experimentalroman. Übers. v. J. Zeitler. Leipzig 1904, S. 23. FA 8, S. 974. Emile Zola: Der Experimentalroman, S. 42. Gespräch mit Eckermann vom 6. Mai 1827. In: Goethes Gespräche. Bd. 3, S. 392–395, hier S. 395.

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Wenn man diese Bemerkung Goethes mit der oben zitierten Selbstanzeige zusammennimmt, liegt es nahe, die »durchgreifende Idee« als das konfigurative Muster jener wahlverwandtschaftlichen Versuchsanordnung zu begreifen, auf die die chemische Gleichnisrede rekurriert.45 Während Handlungsführung und implizite Sprachkritik des Goetheschen Romans einer solchen Parallelisierung von chemischer und menschlicher Sphäre eher zuwiderlaufen, suggeriert dessen Wortmaterial eine deutliche Affinität zu naturwissenschaftlich-experimentellen Verfahrensweisen. Dies zeigt sich insbesondere am leitmotivisch wiederkehrenden Begriff des »Versuchs«, der gleichermaßen auf chemische wie auf zwischenmenschliche Vorgänge angewandt wird (282, 286, 303, 305), sowie an jenem Vokabular elementarer Affinität, das der Erzähler zur Charakterisierung der Beziehung zwischen Eduard und Ottilie heranzieht (516). Die »Verhältnisse« – ebenfalls ein leitmotivisch wiederkehrender Begriff, der die Konstellation der Handlungsfiguren bezeichnet und damit an die »apriorische Idee« Zolas gemahnt – scheinen die interpersonelle Dynamik mit quasi naturgesetzlicher »Notwendigkeit« zu entbinden (304, 516). Praktiziert Goethe demnach rund 70 Jahre vor Zolas theoretischem Manifest den von diesem propagierten naturwissenschaftlichen Determinismus? Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ – eine avantgardistische Antizipation des ›roman expérimental‹?46 Zur Beantwortung dieser Frage lohnt sich zunächst ein genauerer Blick auf den Fortgang jener Selbstdeutung, in welcher Goethe die ›Wahlverwandtschaften‹ einer »durchgreifenden Idee« supponiert: »Der Roman ist dadurch für den Verstand faßlich geworden; aber ich will nicht sagen, daß er dadurch besser geworden wäre! Vielmehr bin ich der Meinung: je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser«.47 Die qualitative Relativierung, die Goethe hier mit der Behauptung einer einheitlichen und rational vollständig auflösbaren Konstruktion der ›Wahlverwandtschaften‹ verknüpft, versieht seinen interpretatorischen Befund mit einem Fragezeichen – zumal er an anderer Stelle gerade diesen Roman als sein »bestes Buch« bezeichnet.48 Trotz aller Analogien zum chemischen Ver45

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So Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 307 und Jeremy Adler: »Eine fast magische Anziehungskraft«, S. 140f. Eine vorschnelle Bejahung dieser Frage führt Wilhelm Bölsche dazu, die geistige Urheberschaft der naturalistischen Konzeption für die deutsche Literatur zu reklamieren (Wilhelm Bölsche: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ im Lichte moderner Naturwissenschaft. In: Die Gesellschaft 5 [1889], S. 1330–1340, hier S. 1331). Ähnlich wie Bölsche, allerdings ohne explizite Nennung Zolas, bezeichnet auch Pörksen die ›Wahlverwandtschaften‹ als einen im »genauen Sinn des Wortes experimentelle[n] Roman«, dessen Handlungsgeschehen die chemische Versuchsanordnung dupliziere (Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 285 u. S. 307). Gespräch mit Eckermann vom 6. Mai 1827. In: Goethes Gespräche. Bd. 3, S. 392–395, hier S. 395. Gespräch mit [nicht aufgeführt] von 1809. In: Goethes Gespräche. Bd. 2, S. 62.

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such scheinen sich die ›Wahlverwandtschaften‹ entgegen Goethes Äußerung eine »Incommensurabilität« zu bewahren, die sich nicht auf den poetischen Nachvollzug naturwissenschaftlich-experimenteller Formeln reduzieren läßt. Wenn Goethe dennoch Elemente deterministischer Erklärungsmuster in den zwischenmenschlichen Handlungszusammenhang einspielt, geschieht dies in der Absicht, deren Geltungsanspruch zu relativieren. Darin zeigt sich eine antidogmatische Stoßrichtung, die für die ›Wahlverwandtschaften‹ insgesamt charakteristisch ist. Die von Goethe zur ironischen Sentenz kondensierte Strategie des »Weltleben[s]«, »das Problem in ein Postulat zu verwandeln«,49 ist dem in seinem Roman praktizierten dichterischen Verfahren diametral entgegengesetzt. So bietet das titelgebende Reaktionsmodell der Wahlverwandtschaft dem Leser hinsichtlich des erzählten Geschehens ein letztlich inadäquates Orientierungsmuster, das die geschilderten Leidenschaftsbeziehungen nicht befriedigend zu erklären vermag; das in Goethes Selbstanzeige diskursiv erhobene Postulat der »Einen Natur«, die chemische und menschliche Sphäre verbinden soll, wird im poetischen Text in ein Problem rückverwandelt, das sich allen schematisierenden Lösungsversuchen entzieht. Im Unterschied zu Zola, dessen von aufklärerischem Fortschrittsoptimismus und bedingungsloser Wissenschaftsgläubigkeit getragene Konzeption sich jeder erkenntnistheoretischen Relativierung enthält, problematisiert Goethe in seinem Roman die Übersetzbarkeit gegenständlicher Faktizität in objektiv gültiges Wissen. Der arbiträre Charakter der Sprache, die als Repräsentations- und Speichermedium auf Erkenntnisfindung und -archivierung gleichermaßen einwirkt, wird bereits im ersten Satz der ›Wahlverwandtschaften‹ deutlich herausgestellt: »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht« (271). Die namentliche Nennung des »reichen Barons« verdankt sich einer subjektiven Setzung des Erzählers, die – wie sich später herausstellt – eine wiederum subjektive Setzung Eduards reproduziert.50 Einerseits erinnert der sprachliche Gestus dieses Erzähleingangs an die Gestalt eines Forschers, der die an einem Experiment beteiligten Substanzen mit einer Bezeichnung versieht,51 und läßt damit durchaus den Horizont der naturalistischen Romankonzeption assoziieren; andererseits exponiert er die Problematik des Bezeichnens und markiert auf diese Weise jene Kluft, die das Erkenntnismedium Sprache von seinem Gegenstand trennt. Während Zola von einer friktionsfreien Formulierbarkeit naturwissenschaftlicher Gewißheiten ausgeht, rekurriert Goethe in der chemischen Gleichnisrede auf ein naturwissenschaftliches Experiment, das sich – wie 49 50

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Brief an C.F. Zelter vom 9. August 1828. In: WA IV, 44, S. 259–262, hier S. 261. Wie der Hauptmann anmerkt, wurde sein Jugendfreund eigentlich auf den Namen Otto getauft, hat sich aber später selbst aus Gründen der Klangschönheit in Eduard umbenannt (288). Vgl. Jeremy Adler: »Eine fast magische Anziehungskraft«, S. 142.

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die erfolglosen Definitionsversuche der Romanfiguren zeigen – auf dem Wege seiner terminologischen Kategorisierung ins Diffuse entzieht. Die unterschiedliche Aufmerksamkeit, die beide Autoren der Sprachproblematik widmen, hängt mit der Bedeutung zusammen, die sie dem Subjekt innerhalb des Erkenntnisvorgangs zumessen. Für Zola läßt sich, wie er anhand eines Zitats aus dem Œuvre seines Gewährsmannes Claude Bernard verdeutlicht, der subjektive Faktor vollständig suspendieren: »In der Tat wird die Heraufkunft der experimentellen Medizin [nach deren Vorbild Zola sein Konzept des experimentellen Romans modelliert] zum Resultat haben, alle individuellen Gesichtspunkte aus der Wissenschaft zum Verschwinden zu bringen, um sie durch unpersönliche und allgemeine Theorien zu ersetzen«.52 Was Zola als objektive Erkenntnis deklariert, erscheint bei Goethe zur bloßen Meinung depotenziert, die von der individuellen Grundhaltung und »Weltansicht« des Einzelnen mindestens ebenso stark bestimmt ist wie von der äußeren Faktizität. »Ein jeder Mensch«, formuliert ein Aphorismus aus den ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹, »sieht die fertige und geregelte, gebildete, vollkommene Welt doch nur als ein Element an, woraus er sich eine besondere ihm angemessene Welt zu erschaffen bemüht ist. [...] Wer sich von dieser Grundwahrheit recht durchdrungen fühlte, würde mit niemandem streiten, sondern nur die Vorstellungsart eines andern wie seine eigene als ein Phänomen betrachten«.53 Einen ähnlich relativistischen Standpunkt, der jedem apodiktischen Wahrheitsanspruch die argumentative Grundlage entzieht, formuliert ein Vierzeiler aus den ›Zahmen Xenien‹: »Mit widerlegen, bedingen, begrimmen, / Bemüht und brüstet mancher sich / Ich kann daraus nichts weiter gewinnen, / Als daß er anders denkt wie ich«.54 Eine vergleichbare gedankliche Position, die unterschiedlichen Meinungen unabhängig von ihrer objektiven Verifizierbarkeit einen irreduziblen Eigenwert zuerkennt, hat Goethe in den ›Wahlverwandtschaften‹ dem Hauptmann zugeordnet, den – wie der Erzähler bemerkt – »die Erfahrung gelehrt hatte, daß die Ansichten der Menschen viel zu mannigfaltig sind, als daß sie, selbst durch die vernünftigsten Vorstellungen, auf einen Punkt versammelt werden könnten« (291). 52 53

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Emile Zola: Der Experimentalroman, S. 52. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 581. Ein thematisch verwandter Aphorismus, den Goethe ebenfalls in die ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ aufnahm, weist darauf hin, daß »alle Beweise, die wir vorbringen, [...] nur Variationen unserer Meinungen« sind (ebd., S. 574). Vgl. dazu auch Goethes Kritik an Schelling im Brief an Schiller vom 6. Januar 1798: »[E]ins will mir aber nicht an ihm gefallen, daß er mit den andern Vorstellungsarten streitet, denn man kann eigentlich mit keiner Vorstellungsart streiten« (Brief an F. Schiller vom 6. Januar 1798. In: WA IV, 13, S. 7–11, hier S. 10). Johann Wolfgang Goethe: Zahme Xenien VI. In: FA 2, S. 675–683, hier S. 678. Einen ähnlichen Relativismus vertritt Goethe in einem seiner Aphorismen: »Wenn jemand spricht er habe mich widerlegt so bedenkt er nicht daß er nur eine Ansicht der meinigen entgegen aufstellt, dadurch ist ja noch nichts ausgemacht. Ein Dritter hat eben das Recht und so ins Unendliche fort« (Johann Wolfgang Goethe: Aphorismen, S. 73).

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Die Subjektivierung von Erkenntnis, die Goethe hier formuliert, steht in enger Wechselwirkung mit seinen Gedanken über die Sprache. Produktion und Rezeption sprachlicher Äußerungen lassen sich nicht bruchlos zu einem kommunikativen Kontinuum verschmelzen, da die Zuordnung von Zeichen und Bedeutung je nach individuell verschiedenem Horizont variiert. Laut ›Dichtung und Wahrheit‹ hat bereits der junge Goethe im Zuge seiner Spinoza-Studien realisiert, »daß Niemand den andern versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe was der andere denkt, daß ein Gespräch eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt«.55 Einen ähnlichen Befund liefert, wie oben dargelegt, die chemische Gleichnisrede, in deren Verlauf der Begriff der »Verwandtschaft« aus der Sicht der einzelnen Figuren unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen erfährt. Während die ›Wahlverwandtschaften‹ auf diese Weise eine stabile und intersubjektiv verbindliche Referenz der Sprache negieren, geht die naturalistische Konzeption von einer fraglosen Transparenz sprachlichen Bezeichnens aus. Der Stellenwert der Sprache ist, so kann man aus Zolas Verzicht auf deren Thematisierung erschließen, für Dichter und Wissenschaftler gleichermaßen sekundär; sie besitzt als rein mimetisches56 Repräsentationsmedium keinen Eigenwert und kann daher ganz in den Dienst jener positivistischen Zielvorgabe gestellt werden, die in ungebrochenem Erkenntnisoptimismus »mitten auf die [wissenschaftlich verifizierbaren] Wahrheiten zusteuert«.57 Im Gegensatz zum impliziten Sprachvertrauen Zolas akzentuiert Goethe gerade die Unzuverlässigkeit sprachlichen Bezeichnens, die nicht nur die terminologische Klassifikation der im vierten Kapitel beschriebenen chemischen Vorgänge, sondern auch die narrative Vermittlung der zwischenmenschlichen Leidenschaftsbeziehungen und damit das Romanprojekt der ›Wahlverwandtschaften‹ insgesamt affiziert. Vor diesem Hintergrund gewinnt der titelgebende Begriff bei Goethe eine Signalwirkung, die dem naturalistischen Ansatz Zolas fundamental widerspricht. Während dieser die explizite Zielsetzung verfolgt, in seiner Dichtung die Mensch und Natur gleichermaßen bestimmenden Kausalitäten zur Kenntnis zu bringen, zieht jener die sichere Erkennbarkeit grundsätzlich in Zweifel: Weder im chemischen noch im menschlichen Kontext läßt sich eine klar umrissene Bedeutung des Begriffs »Wahlverwandtschaft« freilegen. 55

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Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, S. 731. Mit der Relevanz der Sprachproblematik für den jungen Goethe befaßt sich ein Aufsatz von Victor Lange, der – ohne Bezug auf die zitierte Passage aus ›Dichtung und Wahrheit‹ – darauf hinweist, daß Goethe die »Vieldeutigkeit des Sprechens« und die daraus resultierende »Unzuverlässigkeit jeder Mitteilung« insbesondere in den Jahren 1772 bis 1774 wiederholt reflektiert habe (Victor Lange: Der junge Goethe und das Problem der Sprache. In: V.L.: Bilder – Ideen – Begriffe. Goethe-Studien. Würzburg 1991, S. 27–35, hier S. 30). Der Begriff der ›Mimesis‹ bezeichnet hier, wie auch im weiteren Fortgang der Studie, eine gegenstandsorientiert-realistische Nachahmung. Emile Zola: Der Experimentalroman, S. 56.

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Was Goethe in der oben zitierten Selbstanzeige als Illustration der Einheit von anorganisch-chemischer und organisch-menschlicher Sphäre ausgibt, scheint in der textuellen Praxis des Romans auf die Unzulänglichkeit sprachlich vermittelter Orientierungsmodelle zu verweisen. Damit unterminieren die ›Wahlverwandtschaften‹ nicht zuletzt auch ihre eigene textliche Darstellungskompetenz. Diesen Sachverhalt, der die paradoxe Frage aufwirft, ob sich das, was der Roman erzählt, überhaupt erzählen läßt, hat Goethe einem leitmotivischen Strang seines Textes eingeschrieben. Die in den ersten Kapiteln immer wieder erwähnten Vermessungs- und Kartographierungsarbeiten, die der Hauptmann betreibt, erscheinen Eduard als »neue Schöpfung«, die »aus dem Papier [...] hervorgewachsen« ist (290). Durch diese merkwürdige Wendung erhalten die Aktivitäten des Hauptmanns eine poetologische Valenz. Die Assoziation einer aufs »Papier« gebannten »Schöpfung« trifft auf einen dichterischen Text weit besser zu als auf die Landkarte des Hauptmanns, die ja lediglich als dokumentarische Abbildung äußerer Gegebenheiten angelegt ist. Der Sinnzusammenhang der ›Wahlverwandtschaften‹ allerdings rückt literarische Fiktion und kartographische Repräsentation in ein aufschlußreiches Analogieverhältnis: Die rationalisierenden Vermessungen des Hauptmanns, die der inneren Orientierungslosigkeit einen äußeren Orientierungsrahmen entgegenzustellen versuchen, müssen vor dem »Unermeßliche[n]« der hereinbrechenden Leidenschaften versagen (321); das Ordnungssystem der Landkarte vermag es nicht, die »außerordentliche Neigung« psychisch zu neutralisieren (321). Einen ähnlich unzulänglichen Status erhalten auch die narrativen Bemühungen des Erzählers. Sein Bestreben, die Leidenschaftsbeziehungen zwischen den Figuren sprachlich zu vermessen und anhand des wahlverwandtschaftlichen Reaktionsmodells verständlich zu machen, muß, wie aus der impliziten Sprachkritik der chemischen Gleichnisrede hervorgeht, vergeblich bleiben. Die ikonische ›Mimesis‹ der Landkarte und die poetische ›Semiosis‹ des Romans erscheinen beide als defiziente Darstellungsversuche, die auf ein sich entziehendes Inkommensurables verweisen.58 Wie der Vergleich mit Zola bereits nahelegt, besitzt die Sprachkritik der chemischen Gleichnisrede eine poetologische Relevanz. Und tatsächlich hat Goethe diese Textpassage mit einer selbstreflexiven Dimension versehen: Die wiederholte Rede vom »Chemiker«, der nicht zufällig als »Scheidekünstler« bezeichnet wird (303, meine Hervorhebung), verweist auf die romantische Gleichsetzung des Alchimisten mit dem Dichter, wie sie etwa E.T.A. Hoffmann seiner berühmten Erzählung ›Der Sandmann‹ eingeschrieben hat.59 Noch deutlicher zeigt sich die Verknüpfung von Sprachkritik und Poetologie an dem

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In der ersten Fassung der ›Wanderjahre‹ kommt der Kartographie ein ähnlicher poetologischer Aussagewert zu. Vgl. dazu S. 204f. der vorliegenden Studie. Zur romantischen Analogisierung des Alchimisten mit dem Dichter siehe Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 2, S. 24f.

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erstaunlichen Sachverhalt, daß sich erstere hauptsächlich am Titel des Romans vollzieht. Diese Koinzidenz verweist auf die grundsätzliche Bedeutung, die der Sprachskepsis für die Konzeption der ›Wahlverwandtschaften‹ zukommt: Die Dichtung, deren Darstellungsmedium die Sprache ist, kann keinen eindeutigen Sinn stiften, dessen Essenz durch einen Titel adäquat zu bezeichnen wäre.60 Die Unzulänglichkeit der Sprache erfordert vielmehr ein dichterisches Verfahren, das auf jeden objektiven Wahrheitsanspruch verzichtet. Nicht zuletzt daraus erklärt sich jene narrative Technik, die Goethe in den ›Wahlverwandtschaften‹ wiederholt praktiziert: Die formal auktoriale Erzählweise führt nicht zu einer verlässlichen Integration der oftmals gegensätzlichen Figurenperspektiven, die gerade an besonders bedeutungsvollen Stellen des Romans unvermittelt nebeneinandergestellt werden.61 So entsteht eine polyperspektivische Offenheit, durch die sich der Text jeder eindeutigen Interpretation entzieht.62 Vor diesem Hintergrund erweist sich das Wechselspiel zwischen dem Titelterminus der »Wahlverwandtschaft« und seiner romanimmanent entfalteten Polyvalenz als ein Kunstgriff von hoher dialektischer Raffinesse: Gerade dadurch, daß der Titel in der chemischen Gleichnisrede jede stabile Referenz verliert, vermag er es, den bedeutungsoffenen Roman angemessen zu bezeichnen.

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Vgl. dagegen Walter Benjamin, der die Sprachproblemtik der ›Wahlverwandtschaften‹ auf die Figurenebene beschränkt und in jeder verbalen Kommunikationsschwierigkeit ein individuelles Defizit des jeweiligen Sprechers sieht. Da die Sprache laut Benjamin »den Strahl der ratio« enthält und ihrem »Wesen« nach auf »Wahrheit« ausgerichtet ist, hätten nach seiner Lesart verstärkte Verständigungsbemühungen der Protagonisten »Klarheit« herbeiführen und das Geschehen womöglich zum Guten wenden können (Walter Benjamin: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Unter Mitw. v. Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I,1. Frankfurt a. M. 1974, S. 123–201, hier S. 164, S. 197, S. 131). Die »stumme Befangenheit«, die Benjamin unter anderem auf die adlige Kommunikationskultur der »Bändigung und Beherrschung« zurückführt, liefere die Figuren hingegen unaufhaltsam dem Einflußbereich mythischer Gewalten aus (Walter Benjamin: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 185). Eine solche Lesart unterschlägt, daß die Problematik verbaler Verständigung nicht nur die Interaktion der vier Protagonisten kennzeichnet, sondern, da die Vieldeutigkeit und Inkonsistenz sprachlichen Bezeichnens unter anderem am Beispiel des Romantitels entfaltet wird, als mediales Charakteristikum des gesamten Textes erscheint. Die Korrelation zwischen Sprachkritik und perspektivischem Relativismus wirkt bis in die Abfolge der einzelnen Kapitel hinein: Nicht zufällig wird im ersten Teil des Romans das sprachskeptische vierte Kapitel von zwei Kapiteln gerahmt, die das perspektivische Erzählen geradezu modellhaft exponieren. Sowohl das dritte als auch das fünfte Kapitel stellen mit jeweils einem Brief der Vorsteherin und einem Brief des Gehilfen zwei gegensätzliche Sichtweisen auf Ottilie nebeneinander, die keine auktorial verbindliche Beurteilung, sondern lediglich eine wiederum perspektivisch gebrochene Kommentierung durch Charlotte und Eduard erfahren. Wolfgang Binder hat in einem erhellenden Aufsatz über das Phänomen der Ironie in den ›Wahlverwandtschaften‹ darauf hingewiesen, daß dieser Roman »in allem Setzen seine Fragwürdigkeit mitsetze« und dadurch dem Leser »die Freiheit des Fragens« gewähre (Wolfgang Binder: Zum Ironie-Problem in den ›Wahlverwandtschaften‹. In: W.B.: Aufschlüsse. Studien zur deutschen Literatur. Zürich, München 1976, S. 131–145, hier S. 136f.).

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Anders als Mauthner und Hofmannsthal, deren Sprachskepsis mit einer schmerzvollen Defizienzerfahrung einhergeht und letztlich auf das Schweigen hin angelegt ist, sieht Goethe in der Offenheit sprachlichen Bezeichnens eine wesentliche Voraussetzung seines Dichtens, das insbesondere im Alterswerk alle eindeutigen Bedeutungszuschreibungen subversiv unterminiert. In dieser Haltung kann man eine gewisse Analogie zu jenem ästhetischen Freiraum erblicken, den Nietzsche im zweiten Teil von ›Ueber Wahrheit und Lüge‹ als Charakteristikum des intuitiven Menschen skizziert: Die als bedrückend erfahrene »Zwingburg« sprachlicher Ordnungsschemata wird durch die Kunst aufgebrochen und in spielerischer Weise einer permanenten Umcodierung unterworfen.63 Ganz ähnlich wie Nietzsche, der in einem seiner nachgelassenen Fragmente ausdrücklich darauf hinweist, daß »derselbe Text [...] unzählige Auslegungen« erlaube und daß es daher »keine ›richtige‹ Auslegung« geben könne,64 gelingt es Goethe, seine sprachskeptische Grundhaltung in unerhört moderner Weise auch rezeptionsästhetisch produktiv zu machen: Sie initiiert jenen unabschließbaren Auslegungsprozeß, der das Werk der intentionalen Verfügungsgewalt des Autors entzieht und jene offene Lektüreerfahrung ermöglicht, die Goethe dem verständigen Leser seines zweiten ›Faust‹ verspricht: »Er wird [...] mehr finden, als ich geben konnte«.65

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Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, S. 381. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Herbst 1885 bis Frühjahr 1886. In: F.N.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. VIII, 1. Berlin, New York 1974, S. 5–61, hier S. 35. Brief an J.S.M.D. Boisserée vom 8. September 1831. In: WA IV, 49, S. 63–66, hier S. 64. Vgl. dazu auch den Brief an Heinrich Gräve, in welchem Goethe von den »vieldeutigen Arbeiten« des »Schriftsteller[s]« spricht (Brief an H. Gräve vom 8. Januar 1821. In: WA IV, 34, S. 75).

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3.

Problematisiertes Verstehen als Konsequenz der Sprachskepsis

Die in der chemischen Gleichnisrede entfaltete Sprachkritik bleibt im weiteren Verlauf des Romans untergründig wirksam und versieht dabei all jene Bemühungen, die auf ein Verstehen verbaler Äußerungen ausgerichtet sind, sowie die Sprache als das Medium, innerhalb dessen sich das Verstehen vollzieht, mit einem skeptischen Vorbehalt. Dieser Zusammenhang, der in der Forschung immer wieder zu einer Vereinnahmung des Romans durch dekonstruktivistische Ansätze geführt hat, soll im folgenden anhand dreier Aspekte illustriert werden. Die Problematik des Verstehens prägt erstens die Kommunikation zwischen den Romanfiguren, zweitens die kommunikative Konstellation zwischen Text und Leser sowie drittens die Gestalt Mittlers, dessen zwanghafte Fixierung auf ein festgefügtes Normensystem zu folgenreichen Mißverständnissen und Fehleinschätzungen führt. Im 16. Kapitel des ersten Romanteils wird die Frage, ob sprachliche Kommunikation ein wechselseitiges Verstehen bewirken kann, bereits vom Wortmaterial aufgeworfen. »Gespräch«, »bezeichnen«, »verständigen«, »sich aussprechen«, »mit Worten aussprechen«, »ausgesprochenes Wort«, »reine Sprache« – die auffällige Häufung von Begriffen aus dem semantischen Feld des Sprechens und Verstehens indiziert eine auf den Bereich der Kommunikation hin perspektivierte Wiederaufnahme des gedanklichen Spektrums aus der chemischen Gleichnisrede. Für diesen Befund spricht weiterhin, daß der Aufbau des Kapitels zwei unterschiedliche Medien sprachlicher Kommunikation einander gegenüberstellt: Das zentrale Gespräch zwischen Eduard und Charlotte wird von schriftlichen Mitteilungen eingerahmt. Während das Abschiedsschreiben des Hauptmanns zu Beginn des Kapitels lediglich summarisch Erwähnung findet, wird der Brief, den Eduard zur Begründung seiner überstürzten Abreise verfaßt, gegen Ende des Kapitels wörtlich mitgeteilt und vom Erzähler kommentiert. Schon der eröffnende Abschnitt des Kapitels verweist auf die Problematik des Verstehens. Charlottes Motivation für das Gespräch mit Eduard und ihren zuvor gefaßten Entschluß zum Verzicht auf den Hauptmann basiert zumindest partiell auf der voreiligen und interessegeleiteten Auslegung eines Schriftstükkes: »Sie empfand eine ewige Trennung und ergab sich darein: denn in dem zweiten Briefe des Grafen, den ihr der Hauptmann zuletzt mitteilte, war auch von einer Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat die Rede; und obgleich er diesem Punkt keine Aufmerksamkeit schenkte, so hielt sie doch die Sache schon für gewiß und entsagte ihm rein und völlig. [...] In diesem Sinne begann sie das Gespräch 85

mit ihrem Gemahl« (373, meine Hervorhebung). Charlottes Schlußfolgerung aus den brieflichen Andeutungen des Grafen ist ihrem Bedürfnis geschuldet, an vertrauten Lebensgewohnheiten festzuhalten. Sie kompensiert jene Traumata, die sie in ihrer ersten Ehe mit einem ungeliebten Aristokraten erlitten hat, durch eine Idealisierung ihrer Verbindung mit Eduard, die sie auf keinen Fall gefährden möchte.66 Vor diesem Hintergrund erscheint ihr Entschluß, der aufkeimenden Leidenschaft für den Hauptmann zu entsagen, nicht als Akt sittlicher Selbstüberwindung, sondern als psychologische Notwendigkeit. Diese psychologische Notwendigkeit bestimmt auch Charlottes Deutung des gräflichen Schreibens: Um ihr Begehren zuverlässiger unterdrücken zu können, interpretiert sie die unbestimmten Andeutungen einer für den Hauptmann vorteilhaften Heiratsmöglichkeit als unumstößliche Gewißheit.67 Eine ähnlich interessegeleitete Verstehenspraxis demonstriert der Beginn des hierauf folgenden Gesprächs zwischen den Ehepartnern, das Charlotte folgendermaßen eröffnet: »Unser Freund hat uns verlassen, [...] wir sind nun wieder gegen einander über wie vormals, und es käme nun wohl auf uns an, ob wir wieder völlig in den alten Zustand zurückkehren wollten« (373). Während Charlotte mit dem »alten Zustand« die isolierte eheliche Zweisamkeit bezeichnet, die sie bis zur Ankunft des Hauptmanns gemeinsam mit Eduard kultivierte, versieht letzterer diesen Terminus mit einer ganz anderen semantischen Füllung: Er bezieht ihn auf den »früheren Witwenstand«, also auf die Zeit vor seiner Verbindung mit Charlotte, und versteht damit deren Aufforderung zur Restitution ihrer Ehe als Scheidungsangebot (373). Seine Replik, im Augenblick des Mißverständnisses ausgesprochen, wirft ein ironisches Schlaglicht auf das Scheitern der wechselseitigen Kommunikation: »Warum nicht? Es käme nur darauf an, daß man sich verständigte« (373, meine Hervorhebung). Ähnlich wie Charlottes Fehldeutung des gräflichen Briefes liegt auch Eduards Mißverständnis in seiner psychischen Disposition begründet. Als »einzige[s], verzogene[s] Kind reicher Eltern« ist er, wie der Erzähler bereits im zweiten Kapitel kritisch anmerkt, nicht in der Lage, »sich etwas zu versagen« (278). So will er auch die Liebe zu Ottilie keinesfalls aufgeben und interpretiert daher die Worte seiner Gattin in einer Weise, die seinem Begehren entgegenkommt. Sowohl Eduard als auch Charlotte projizieren demnach im Akt des Verstehens lediglich die eigenen Bedürfnisse auf die 66

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Schon im ersten Kapitel des Romans zeigt sich Charlottes Bestreben, zwecks Stabilisierung ihrer Ehe mit Eduard das gemeinsame Landgut als einen nach außen abgeschirmten Schonraum zu betrachten, der ausschließlich der isolierten Zweisamkeit gewidmet ist. Auf Eduards Vorschlag, den Hauptmann aufzunehmen, reagiert sie mit abwehrender Sorge: »Nur daß wir nichts hinderndes, fremdes herein bringen!« (276). Vgl. dazu Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 253–255. Diese Fehlinterpretation teilt Charlotte später auch Ottilie mit, der sie »von einer bevorstehenden Heirat des Hauptmanns, wie von einer ganz bekannten und gewissen Sache« berichtet (380). Wie sich später herausstellt, kommt eine solche Heirat des Hauptmanns aber nicht zustande.

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Sprache des kommunikativen Gegenübers – ein Befund, der an die subjektive Überformung der Semantik in der chemischen Gleichnisrede anknüpft. Die konfligierenden Erwartungen, welche die beiden Ehepartner an den jeweils anderen richten, schließen ein wechselseitiges Verstehen aus. Sie generalisieren das jeweils eigene Verhalten zu einem intersubjektiv gültigen Maßstab, was Goethe innerhalb des 16. Kapitels geradezu leitmotivisch akzentuiert: Nachdem Charlotte sich entschieden hat, ihrer Leidenschaft für den Hauptmann zu entsagen, »glaubte sie nun auch die Gewalt, die sie über sich selbst ausgeübt, von andern fordern zu können. Ihr war es nicht unmöglich gewesen, andern sollte das Gleiche möglich sein« (373).68 Nach dieser Prämisse führt sie das Gespräch mit Eduard und verlangt von diesem (und ebenso von der abwesenden Ottilie), sich »auch irgend eine Aufopferung nicht zu versagen« (374). Die durchaus berechtigte Furcht, »daß Ottilie aufgeopfert werde« (374), treibt Eduard schließlich dazu, sein Landschloß fluchtartig zu verlassen, wobei er in seinem Abschiedsbrief die Argumentationsstrategie Charlottes übernimmt, um die eigenen Interessen durchzusetzen und die Abreise seiner Geliebten zu verhindern: »Indem ich mich aufopfre, kann ich fordern« (377). Die Auseinandersetzung zwischen Eduard und Charlotte folgt hier einer zirkulären Bewegung, die den Konflikt zwischen den Ehepartnern zuspitzt, statt ihn zu entschärfen. Nicht nur auf der Ebene der sprachlichen Kommunikation, sondern auch auf der Ebene der argumentativen Interaktion ziehen Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ die Möglichkeit eines gelingenden Verstehens in skeptischen Zweifel. Dieser fundamentale Zweifel affiziert sogar die Position des Erzählers, dessen schematisierende Wertungen und Interpretationen das tatsächliche Gesprächsverhalten Eduards und Charlottes nur unzulänglich erfassen. In mehreren kurzen Kommentaren suggeriert der Erzähler ein striktes Kontrastverhältnis zwischen der vermeintlich aufrichtigen Redeweise Charlottes und der angeblich maskierten Diktion Eduards: Die »liebevolle Sprache« Charlottes (376), die sich mit ihrem Gemahl »ein für allemal [...] aus[...]sprechen« möchte (374), trifft auf einen zur »Verstellung« entschlossenen Eduard, der »die offne, reine Sprache seiner Gattin nicht zu erwidern vermochte« (375). Der souveräne Wertungsgestus des auktorialen Erzählers kann leicht darüber hinwegtäuschen, daß sich das Kommunikationsverhalten der beiden Eheleute nicht auf diese simple Opposition reduzieren läßt. Charlottes Sprechen ist nämlich keineswegs so transparent und aufrichtig, wie es der Erzähler nahelegt. Zwar gibt sie vor, nur »an das Beste sämtlicher Mitglieder unseres kleinen Zirkels zu denken« und insbesondere für Ottilie nur solche Optionen in Erwägung zu ziehen, die für 68

Nach einer ähnlichen Logik argumentiert Charlotte bereits im zweiten Kapitel, um die Einladung des Hauptmanns zu verhindern. Sie hat sich ihren Wunsch, Ottilie zu sich zu nehmen, versagt und verlangt nunmehr von Eduard die gleiche Verzichtbereitschaft: »Ich befinde mich in einer ähnlichen Lage wie du, und habe mir schon eben die Gewalt angetan, die ich dir nun über dich selbst zumute« (280).

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diese »wünschenswert sind« (374). Doch ihr Ziel, Ottilie so schnell als möglich vom Landgut zu verdrängen, läßt sich mit deren Wünschen gerade nicht vereinbaren. So heißt es nach Eduards Abreise über Ottilie: »[S]ie war, nach so großem Verluste, noch da und hatte noch mehr zu befürchten. Ihre nächste Sorge, nachdem das Bewußtsein wiedergekehrt, war sogleich: sie möchte nun, nach der Entfernung der Männer, gleichfalls entfernt werden« (379). Nach den traumatisierenden Erfahrungen im Mädchenpensionat, wo sie sowohl von Mitschülern als auch von Lehrern Spott und Ablehnung erfahren mußte, hat sich Ottilie auf dem Landgut – nicht zuletzt durch ihr konsequent umgesetztes Tätigkeitsethos69 – psychisch stabilisiert. Daß Charlotte einen erneuten Ortswechsel Ottilies durchsetzen möchte, ist – entgegen ihren altruistischen Beteuerungen – rein egoistisch motiviert: Sie möchte sich der unliebsamen Rivalin um Eduards Gunst möglichst elegant entledigen. Verräterisch für Charlottes Haltung gegenüber Ottilie erscheint ein impliziter Rückverweis auf eine Passage der chemischen Gleichnisrede. So äußert Eduards Gattin: »Auch Ottilien in eine andre Lage zu bringen, haben wir gegenwärtig nur zu wählen; denn es findet sich eine doppelte Gelegenheit, ihr Verhältnisse zu geben die für sie wünschenswert sind« (373f.). Die Konstellation der hervorgehobenen Begriffe erinnert deutlich an Charlottes Bemerkung zur chemischen Wahlverwandtschaft aus dem vierten Romankapitel: »Gelegenheit macht Verhältnisse wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkörpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den Händen des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt« (304, meine Hervorhebung). Wenn Charlotte im Gespräch mit Eduard bekennt, daß sie für Ottilie neue »Verhältnisse [...] wählen« möchte, nimmt sie nach der Logik des obigen Zitats die Position des Chemikers ein, der über die Elemente einer Versuchsanordnung nach seinem Gutdünken verfügt. Daß Charlotte dabei, wie sie vorgibt, das für Ottilie »Wünschenswert[e]« im Auge hat, erscheint unglaubwürdig. Die »offene, reine Sprache«, die der Erzähler an Charlotte rühmt, erweist sich damit als Illusion.70 Ihre Argumentation steht nicht im Dienst einer ehrlichen Aussprache, die auch die verschwiegene Leidenschaft für den Hauptmann berücksichtigen müßte, sondern verrät eher ein geschicktes Kalkül, das auf die Durchsetzung egoistischer Zwecke ausgerichtet ist. Besonders deutlich zeigt sich dies übrigens an Charlottes Reaktion auf das Gespräch mit ihrem Gatten: Sie glaubt, »gewonnen zu haben« (376). Ebenso wie die vom Erzähler behauptete Aufrichtigkeit Charlottes muß auch die angebliche »Verstellung« Eduards relativiert werden. Zumindest läßt sich sein Gesprächsverhalten nicht durchgängig mit diesem Etikett kennzeich69 70

Vgl. dazu Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 278f. Vor diesem Hintergrund erscheint die These Victor Langes, die ›Wahlverwandtschaften‹ würden durch »einen völlig unparteiischen Erzähler« vermittelt, durchaus fragwürdig (Victor Lange: Goethes Erzählkunst. In: V.L.: Bilder – Ideen – Begriffe. Goethe-Studien. Würzburg 1991, S. 7–26, hier S. 21).

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nen: Seine Bemerkungen über Ottilie treffen deren tatsächlichen Seelenzustand jedenfalls besser als die Mutmaßungen seiner Gattin,71 und auch die Reaktion auf Charlottes bereits erwähntes Angebot, in den »alten Zustand« zurückzukehren, verrät bezüglich der eigenen Absichten eine gewisse Aufrichtigkeit (373). Die eindeutigen Wertungen des Erzählers werden den Komplexitäten des Textes an dieser Stelle nicht gerecht.72 Die Verstehensproblematik, die das Kommunikationsverhalten der Figuren ebenso prägt wie die täuschenden Wertungen des Erzählers, affiziert auch den Rezipienten des Goetheschen Romans. Der Versuch, das Geschehen mittels abstrakter Kategorien zu erfassen, führt den Leser an zentralen Punkten in interpretatorische Aporien. Besonders deutlich zeigt sich dies an jenem spannungsvollen Miteinander von Freiheit und Notwendigkeit, das schon dem titelgebenden Kompositum der »Wahlverwandtschaft« eingeschrieben ist.73 Die Forschung zu Goethes Roman hat immer wieder versucht, das erzählte Geschehen qua Interpretation mit einem dieser beiden gegensätzlichen Pole zur Deckung zu bringen. Während der Essay von Walter Benjamin – und mit ihm zahlreiche, zumeist ältere Untersuchungen – die wahlverwandtschaftlichen Verstrickungen mit schicksalhafter Notwendigkeit ablaufen sehen,74 neigen neuere Abhandlungen dazu, deterministische Erklärungsmuster als bloße Projektionen der Handlungsfiguren zu dekuvrieren.75

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So gibt Eduard mit Recht zu bedenken: »Wenigstens finde ich es nicht billig, [...] daß Ottilie aufgeopfert werde, und das geschähe doch wenn man sie gegenwärtig unter fremde Menschen hinunter stieße. Den Hauptmann hat sein gutes Geschick hier aufgesucht; wir dürfen ihn mit Ruhe, ja mit Behagen von uns wegscheiden lassen. Wer weiß was Ottilien bevorsteht« (374). Wie gut Eduard damit Ottilies Seelenlage trifft, zeigt ihre wenig später erwähnte »Sorge, [...] gleichfalls entfernt [zu] werden« (379). Und auch die Situation des Hauptmanns hat Eduard richtig erkannt: Bei ihrem späteren Wiedersehen berichtet dieser selbst davon, »wie vollkommen nach seinen Wünschen ihn das Glück begünstigt habe« (483). Goethes Urteil über Eduard fällt differenzierter und widersprüchlicher aus als dasjenige des Erzählers im 16. Kapitel des ersten Romanteils. Während Goethe am 21. Januar 1827 gegenüber Eckermann gesteht, daß er »den Eduard nicht leiden mag« (Gespräch mit Eckermann vom 21. Januar 1827. In: Goethes Gespräche. Bd. 3, S. 329–332, hier S. 330), bekundet er an anderer Stelle, daß dieser ihm »ganz unschätzbar scheint, weil er unbedingt liebt« (Brief an C. F. Reinhard vom 21. Februar 1810. In: WA IV, 21, S. 195–196, hier S. 196). Vgl. dazu insbesondere Peter Michelsen: Wie frei ist der Mensch? Über Notwendigkeit und Freiheit in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Jb. 113 (1996), S. 139–160. Walter Benjamin: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, bes. S. 134. So Gabriele Brandstetter, die überzeugend darlegt, wie insbesondere Eduard immer wieder kontingente Ereignisse aus seinem subjektiven Horizont heraus mit einer schicksalhaften Bedeutung auflädt. (Gabriele Brandstetter: Poetik der Kontingenz. Zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jb. der deutschen Schillergesellschaft 39 [1995], S. 130–145). Aus einem ähnlichen Blickwinkel argumentiert auch Hartmut Böhme, indem er herausarbeitet, wie Eduard bei verschiedenen Anlässen traditionelle Zeichen aus öffentlichen Riten mittels Umcodierung zu individuellen Fetischen privatisiert. Die einläßliche Untersuchung der Signifikationspraxis Eduards verknüpft Böhme mit dem überzeugenden Plädoyer, bei der Interpretation des Romans auf die Kategorie des »Mythischen«, die in der ›Wahlverwandtschaften‹-Forschung seit Benjamins Essay zu

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Die Bandbreite der literaturwissenschaftlichen Lösungsangebote verweist auf die Komplexität der zugrundeliegenden Fragestellung, die sich allerdings nicht zugunsten der einen oder der anderen Seite auflösen läßt. Charlottes vergeblicher Versuch, die Ursachen der chemischen Reaktionsvorgänge begrifflich zu erfassen, charakterisiert zugleich auch jene Deutungsschwierigkeiten, die sich aus der im Roman geschilderten zwischenmenschlichen Beziehungsdynamik ergeben: »[I]ch würde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhältnisse wie sie Diebe macht« (304). Die Trias »Wahl«, »Notwendigkeit« und »Verhältnisse« markiert exakt das kategoriale Spannungsfeld, in welchem sich die unterschiedlichen Erklärungsmodelle für das Romangeschehen zu verorten haben. Der Begriff des »Verhältnisses« verweist dabei auf die zentrale Bedeutung der Konstellation, die das Fühlen und Handeln der Figuren über weite Strecken bestimmt. Allerdings führen Eduard und Charlotte die für ihre Ehe verhängnisvolle Viererkonstellation selbst herbei, indem sie den Hauptmann und Ottilie auf das Landgut einladen. Die zwischenmenschlichen Verhältnisse, die das Geschehen mit einer Art von innerer Notwendigkeit ablaufen lassen, sind somit Resultat einer freien Willenswahl, die aber selbst wieder von gewissen psychologischen Erfordernissen bestimmt ist. Wenn Eduard und Charlotte sich entschließen, den Hauptmann und Ottilie bei sich aufzunehmen, reagieren sie damit, wenn auch unbewußt, auf ihre von Stagnation und emotionaler Leere geprägte Ehe. Insbesondere Eduard versucht, der nach außen hin strikt abgeschirmten ehelichen Zweisamkeit zu entrinnen, indem er seinen Jugendfreund auf das Schloß einlädt. Er hofft, daß »durch die Gegenwart des Hauptmanns [...] alles [...] neu belebt« werde und sich sein von ihm als defizient empfundenes Dasein zu einem »hübsche[n] Ganze[n]« erweitere (277).76 Charlotte versucht zwar zunächst hartnäckig, die Einladung des Hauptmanns zu verhindern, scheint aber zugleich von einer ins Unbewußte abgedrängten gegenteiligen Sehnsucht getrieben, die sich im gemeinsam mit Eduard verfaßten Einladungsbrief an den Hauptmann in jenem ambivalenten »Tintenfleck« artikuliert, »der sie ärgerlich machte und nur größer wurde, indem sie ihn wegwischen wollte« (286). Der amorphe Tintenklecks, der die rational strukturierte Sprachordnung des Briefes durchkreuzt, verbindet als bivalentes Zeichen die Signifikation eines verdrängten Begehrens mit dem Ausdruck eines inneren Vorbehalts. Einerseits »schreibt« er, wie Hermann Beland zutreffend konstatiert, »einen unbewußten Liebesbrief Charlottes an den Hauptmann, der

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einer fragwürdigen Konjunktur gelangt ist, zu verzichten (vgl. dazu Hartmut Böhme: »Kein wahrer Prophet«, S. 101f.). Ganz ähnlich beschreibt der Erzähler wenig später Eduards Reaktion auf Charlottes Widerstand gegen die Einladung des Hauptmanns: »[N]un fühlte er sich zum erstenmal widersprochen, zum erstenmal gehindert, eben da er seinen Jugendfreund an sich heranziehen, da er sein ganzes Dasein gleichsam abschließen wollte« (279, meine Hervorhebung).

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unbewußt und ungeduldig herbeigewünscht wird«;77 andererseits repräsentiert er aber auch die für Charlotte charakteristische Angst vor einer Auflösung der bestehenden Ordnung, die sie im weiteren Verlauf des Romans so entschieden an ihrer steril gewordenen Ehe festhalten läßt. Trotz dieser ambivalenten Semantik, die zwischen Wunsch und Abwehr oszilliert, verrät Charlottes Mißgeschick in recht deutlicher Weise ihr Bedürfnis nach einer authentischen und erfüllten Liebesbeziehung, die sie in der von gegenseitiger Entfremdung gekennzeichneten Partnerschaft mit Eduard nicht zu finden vermag.78 Daß Charlotte der Einladung an den Hauptmann schließlich zustimmt, erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur als Kapitulation vor Eduards eindringlicher Bitte, sondern auch als ein kompensatorischer Reflex auf die emotionalen Defizite innerhalb ihrer Ehe. Bezogen auf die Dichotomie Freiheit versus Notwendigkeit ergibt sich hinsichtlich der Entscheidungsspielräume beider Eheleute somit eine diffuse Gemengelage: Einerseits führen Eduard und Charlotte die handlungsbestimmende Konstellation freiwillig herbei, indem sie den Hauptmann und Ottilie auf das Schloß einladen; andererseits sind sie dabei von Impulsen geleitet, die aus ihrer gegenwärtigen Situation resultieren und die – gleichsam als Teil-Notwendigkeiten – die Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns entschieden relativieren. Die für das Verständnis des Romans grundlegende Dichotomie verweigert sich somit einer eindeutigen Auflösung. Eine äußerste Steigerung erfährt die Kommunikations- und Verstehensproblematik in der Gestalt Mittlers, der – wie im folgenden gezeigt werden soll – sowohl hinsichtlich seiner funktionalen Position im Figurenensemble des Romans als auch hinsichtlich seiner mythologischen Grundierung ganz deutlich innerhalb dieses Themenfeldes situiert ist. Die konstellative Anordnung des ›Wahlverwandtschaften‹-Personals rückt Mittler in ein aufschlußreiches Analogieverhältnis zum Hauptmann. Im zweiten Kapitel antizipiert sein Auftreten, das die eheliche Zweisamkeit zwischen Eduard und Charlotte um einen »Dritte[n]« erweitert, die wenig später erfolgende Ankunft des Hauptmanns, der ebenfalls als »Dritte[r]« apostrophiert wird.79 Diese strukturelle Analogie ver77

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Hermann Beland: »Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben«. Zur Problematik eines zentralen Symbols in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Gisela Greve (Hg.): Goethe. ›Die Wahlverwandtschaften‹. Tübingen 1999, S. 71–96, hier S. 78. Schon auf den ersten Seiten des Romans wird deutlich, daß sich die beiden Eheleute auseinandergelebt haben. Wie aus dem Gespräch mit dem Gärtner hervorgeht, hat Eduard den baulichen Aktivitäten seiner Gattin bislang so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt: Weder die bevorstehende Fertigstellung der Mooshütte noch – wie sich im zweiten Kapitel zeigt – die aufwendige Umgestaltung des Friedhofs hat er zur Kenntnis genommen. Er weiß offenbar nicht, womit sich seine Gemahlin seit langem beschäftigt – ein deutlicher Indikator der gestörten Kommunikation zwischen den Ehepartnern. So ist beim Treffen mit Mittler davon die Rede, daß sich »die Dreie im Saale zusammen[fanden]« (284). Nach dem Besuch Mittlers zieht Charlotte gegenüber Eduard folgendes Resümee: »Hier siehst du [...] wie wenig eigentlich ein Dritter fruchtet, wenn es zwischen zwei nah verbundenen Personen nicht ganz im Gleichgewicht steht« (285). Dieser auf Mittler bezogene Satz

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weist auf einen tieferen Zusammenhang zwischen beiden Figuren, der sich auch in ihrer Namengebung widerspiegelt. Sowohl der Hauptmann als auch Mittler werden durch ihre Bezeichnung von seiten des Erzählers mit einer bestimmten Profession verbunden, wobei allerdings eine graduelle Differenzierung erfolgt: Während der Hauptmann neben seiner sozialen Funktionsbezeichnung noch einen von seiner gesellschaftlichen Stellung unabhängigen persönlichen Namen trägt, fallen bei »Herr[n] Mittler« individueller Name und soziale Funktionsbezeichnung zusammen (283). Diese semiotische Nuancierung erlaubt es, eine wichtige Besonderheit der Mittler-Figur kontrastiv ins Profil zu heben. Der Hauptmann verdrängt seine individuelle Leidensgeschichte, indem er sich ganz in den Dienst gesellschaftlicher Nützlichkeit stellt. Allerdings geht er dabei, wie auf semiotischer Ebene die Differenz zwischen Eigennamen und Funktionsbezeichnung, auf psychologischer Ebene die nur mühsam unterdrückte Leidenschaft für Charlotte signalisiert, in seiner funktionalen Profession nicht völlig auf. Bei Mittler hingegen, der durch eine Identität von Namen und Funktion gekennzeichnet ist, lassen sich keine Individualitätsreste feststellen. Er definiert sich allein über seine Tätigkeit, die folglich auch seinen Stellenwert im thematischen Gefüge der ›Wahlverwandtschaften‹ ausschließlich bestimmt. Mittlers Tätigkeit, die entscheidend durch seine geistige Haltung geprägt ist, läßt sich wie folgt charakterisieren: Seinem Namen entsprechend ist er fortwährend damit befaßt, Streitigkeiten zu schlichten, indem er die antagonistischen Positionen der Kontrahenten einer Einigung zuführt. Mittlers oberstes Ziel ist dabei die Stabilisierung ehelicher Verhältnisse, deren Unauflöslichkeit für ihn das wichtigste aller moralischen Prinzipien darstellt.80 Aus dieser weltanschaulichen Überzeugung heraus nimmt Mittler innerhalb des Romangeschehens die Funktion wahr, unbeirrt von den sich fortwährend verschärfenden Auflösungstendenzen auf die Fortführung der Ehe zwischen Eduard und Charlotte hinzuwirken. Dabei unterwirft er die krisenhafte Situation immer wieder versöhnlichen Deutungen, die eine Fortdauer des ehelichen Verhältnisses nahelegen. Die Schwangerschaft Charlottes, die Eduard in ein selbstmörderi-

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knüpft deutlich an jene Bedenken an, die Charlotte im ersten Kapitel gegen die Einladung des Hauptmanns geltend macht: »Nichts ist bedeutender in jedem Zustande, als die Dazwischenkunft eines Dritten« (277). Nach der Ankunft des Hauptmanns heißt es dann, daß er und seine Gastgeber sich »zu dreien« in der Mooshütte aufhalten (288). – Zur zentralen Bedeutung der Zahlensymbolik für die ›Wahlverwandtschaften‹ insgesamt sei auf die aufschlußreichen Bemerkungen Heinz Schlaffers verwiesen, der auf die Analogie zwischen Mittler und dem Hauptmann allerdings nicht eingeht (Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jb. der Jean-Paul-Gesellschaft 7 [1972], S. 84–102, hier S. 91–96). Der Inhalt des sechsten Gebots »Du sollst nicht ehebrechen« stellt in Mittlers Weltsicht das Fundament dar, »worauf die andern beruhen« (520f.). Während er bei der Beurteilung von Mord und Totschlag auffallend konziliant verfährt (»Man haßt einen, man erzürnt sich, man übereilt sich und in Gefolg von dem und manchem andern kann es wohl kommen, daß man gelegentlich einen tot schlägt« [520]), ist ihm die Ehe als »Grund aller sittlichen Gesellschaft« absolut unantastbar (338).

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sches Kriegsabenteuer treiben wird, »[v]ersteh[t]« Mittler als »gesegnet[e] [...] Nachricht«, von der eine positive Wirkung auf ihren Gemahl ausgehen soll (391). Die »leidenschaftlichen Bewegungen« der entfesselten Beziehungsdynamik bezeichnet er als bloße »Prüfungen ehelicher Liebe und Treue« (506f.) und auch »Ottiliens Schweigen [...] leg[t] er zu seinen Gunsten aus« (519). Diese manipulativen Einschätzungen Mittlers veranlassen den Erzähler zu dem folgenden ironischen Resümee: »[E]r gab zu verstehen und führte sich nach seiner Weise klug genug auf« (519). Die unheilvollen Konsequenzen der Mittlerschen Deutungspraxis, die sich geradezu mechanisch an »vorgefaßten Meinungen« (392) über die Unauflöslichkeit der Ehe ausrichtet und dadurch die tatsächlichen Gegebenheiten fundamental verfehlt,81 treten bei der Taufe des kleinen Otto deutlich zutage. Mittler, der in dem Kind den Garanten für die Sanierung der Ehe zwischen Eduard und Charlotte erblickt, entwirft in einer weit ausgreifenden Rede einen hoffnungsvollen Zukunftsausblick, der in einem folgenreichen Bibelzitat kulminiert. Dem alten Geistlichen, der aufgrund seiner Altersschwäche den Taufakt nur mit Mühe vollziehen kann, legt er die Worte Simeons in den Mund: »Herr laß deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben den Heiland dieses Hauses gesehen« (458). Indem Mittler den kleinen Otto mit Jesus Christus analogisiert, verknüpft er die biblische Heilsgeschichte mit dem wahlverwandtschaftlichen Unheilsgeschehen. Dieser interpretatorische Kurzschluß führt in einem Akt rhetorischer Performanz den Tod des alten Geistlichen herbei, der, während Mittler dazu ansetzt, seinen Sermon »recht glänzend zu schließen«, »[v]om Fall kaum abgehalten [...] schnell zurücksank« (458).82 Diese auffällige Koinzidenz von Rede und Tod verdichtet sich in der ungewöhnlichen Formulierung, daß man den Geistlichen »ungeachtet aller augenblicklichen Beihülfe, für tot ansprechen« mußte (458, meine Hervorhebung). Eine ähnlich verhängnisvolle Wirkung üben Mittlers bei späterer Gelgenheit vorgebrachte Äußerungen an späterer Stelle auf Ottilie aus. Seine Paraphrasierung des sechsten Gebots, die

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Vgl. dazu die Feststellung von Thomas Fries, Mittler mangele es an der »Reflektiertheit des allgemeinen Sprechers auf die individuelle Situation« (Thomas Fries: Die Reflexion der »Gleichnisrede« in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 114). Für David E. Wellbery ist der Tod des Geistlichen das Ergebnis einer »Loslösung des Signifikanten aus einer vorgegebenen symbolischen Ordnung. Seinem Kontext entrissen, wird das Zeichen in seiner Buchstäblichkeit zu einer autonomen Macht, die auf die Menschen beinahe magisch wirkt« (David E. Wellbery: ›Die Wahlverwandtschaften‹ [1809]. In: Paul Michael Lützeler, James E. McLeod [Hg.]: Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Stuttgart 1985, S. 291–318, hier S. 293). Damit ist die von Mittler praktizierte rhetorische Funktionalisierung des biblischen Zitats m. E. nur unzureichend erfaßt. Denn es geht Mittler wohl kaum um eine Entkontextualisierung, die den Ausspruch Simeons zum floskelhaften Versatzstück degradieren würde, sondern um eine (Fehl-)Deutung der Beziehungssituation zwischen Charlotte und Eduard: Die Anspielung auf die biblische Heilsgeschichte figuriert den von Mittler fälschlicherweise angenommenen Sachverhalt, daß der kleine Otto die Ehe seiner Eltern restituieren wird.

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er ohne Rücksicht auf den situativen Kontext wortreich vorträgt,83 erschüttert die anwesende Ottilie so sehr, daß sie wenig später stirbt. Mittlers apodiktischer Gestus, der den einzelnen Fall fraglos einer übergeordneten Norm unterwirft, entfaltet eine desaströse Wirkung, vor welcher ein Aphorismus aus den ›Wanderjahren‹ ausdrücklich warnt: »Allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind immer auf dem Wege entsetzliches Unglück anzurichten«.84 Mittlers wiederholte Versuche, das von unausgesprochenen Leidenschaften und unbewußten Handlungsimpulsen bestimmte Romangeschehen der Eindeutigkeit eines rigoristischen Wertungssystems zu unterwerfen,85 werden demnach spätestens durch den Tod Ottilies als gewaltsam und zerstörerisch entlarvt. In eher indirekter Form ist eine kritische Relativierung Mittlers allerdings bereits im ersten Teil der ›Wahlverwandtschaften‹ erkennbar. So wird seine Kontinuitäts-Doktrin, die auf der Unauflöslichkeit ehelicher Verbindungen beharrt,

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Charlotte, die sich durch ein ausgeprägtes Taktgefühl auszeichnet, sitzt währenddessen »wie auf Kohlen« und gelangt zu der Überzeugung, »daß Mittler nicht wußte was und wo er’s sagte« (521). Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 562. Eine anschauliche Radikalisierung dieses Gedankens entfaltet Georg Büchners Drama ›Dantons Tod‹, das die mortifizierende Kraft der Sprache geradezu leitmotivisch akzentuiert: Die begrifflich-allgemeinen Ideale der französischen Revolution werden dem menschlichen Individuum in todbringender Weise eingeschrieben, so daß »jedes dieser Worte das Röcheln eines Opfers ist«. Dementsprechend äußert der Revolutionsführer St. Just über die von ihm vorgetragenen »allgemeinen Bemerkungen«: »Jedes Glied dieses in der Wirklichkeit angewandten Satzes hat seine Menschen getötet«. Sein Gesinnungsgenosse Barrère bestätigt diese Auffassung, wenn er die Reden St. Justs als »Perioden« bezeichnet, »worin jedes Komma ein Säbelhieb und jeder Punkt ein abgeschlagener Kopf ist«. Vor diesem Hintergrund gewinnt jene Warnung Merciers ihre Berechtigung, die auch an den redseligen Mittler adressiert sein könnte: »Geht einmal Euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden« (Georg Büchner: Dantons Tod. In: G.B.: Werke und Briefe. Hg. v. Karl Pörnbacher u. a. München, Wien 1988, S. 67–133, hier S. 110 [III,3], S. 103f. [II, 7], S. 116 [III, 6] u. S. 110 [III,3]). Mittlers Bedürfnis nach Eindeutigkeit zeigt sich besonders deutlich bei der Vorbereitung der Kindstaufe, wo es ihm dank seiner »entschiedenen Zudringlichkeit« gelingt, »das Schwanken, Meinen, Um-und Wiedermeinen zu beseitigen« und auf diese Weise zu verhindern, daß »aus einer gehobenen Bedenklichkeit immer wieder neue entstehen« (456). Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig plausibel, wenn Gabriele Brandstetter dafür plädiert, die Gestalt Mittlers als »Verkörperung der Erzählproblematik des Romans« zu lesen (Gabriele Brandstetter: Poetik der Kontingenz, S. 142; eine ähnliche Deutung der Mittler-Gestalt bietet Ernst Ribbat: Sprechen, Schreiben, Lesen, Schweigen. Zu Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹. In: Andreas Gössling, Stefan Nienhaus [Hg.]: Critica Poeticae. Lesarten zur deutschen Literatur. Würzburg 1992, S. 171–185, hier S. 174f.). Die Position des Erzählers, der als Vermittlungsinstanz eines äußerst vieldeutigen Textes fungiert, ist derjenigen des auf dogmatischer Eindeutigkeit beharrenden Mittler vielmehr geradezu diametral entgegengesetzt. Besonders deutlich tritt diese Opposition auf der Ebene des Wortmaterials zutage. Der Diskurs des Erzählers ist mit sprachlichen Unbestimmtheitssignalen wie dem Verb »scheinen«, dem Adverb »vielleicht« und der Konjunktion »oder« durchsetzt (402, 524); in Mittlers selbstsicheren Reden finden sich solche relativierenden Wendungen nicht. Ein weiterer Gegensatz zwischen Mittler und dem Erzähler besteht darin, daß Mittler – seinem Namen entsprechend – auf eine Vermittlung gegensätzlicher Positionen hinarbeitet, während das vom Erzähler praktizierte narrative Verfahren gegensätzliche Perspektiven nebeneinanderstellt, ohne sie auch nur versuchsweise einer Synthese zuzuführen.

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durch die Diskontinuität seiner eigenen lebensgeschichtlichen Entwicklung konterkariert: »Dieser seltsame Mann war früherhin Geistlicher gewesen und hatte sich bei einer rastlosen Tätigkeit in seinem Amte dadurch ausgezeichnet, daß er alle Streitigkeiten, sowohl die häuslichen, als die nachbarlichen, erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer Gemeinden und mehrerer Gutsbesitzer, zu stillen und zu schlichten wußte. So lange er im Dienste war, hatte sich kein Ehpaar scheiden lassen [...]. Sein Wirkungskreis dehnte sich wunderbar aus, und man war im Begriff ihn nach der Residenz zu ziehen, um das von oben herein zu vollenden, was er von unten herauf begonnen hatte, als er einen ansehnlichen Lotteriegewinst tat, sich ein mäßiges Gut kaufte, es verpachtete und zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit machte« (284). Die Kontinuität eines linearen Entwicklungsganges zerbricht an der Macht der durch den Lotteriegewinn figurierten Kontingenz.86 Als Folge dieses Lotteriegewinns zieht sich Mittler aus seinem ursprünglichen Beruf als Geistlicher zurück; die religiöse Fundierung seiner Tätigkeit wird durch eine ökonomische abgelöst. Nicht mehr der transzendente Horizont der Heilsgeschichte, sondern das mit Hilfe des Lotteriegewinns erworbene Gut erscheint als Ermöglichungsgrund und »Mittelpunkt seiner Wirksamkeit«. Diese »Wirksamkeit«, der sich Mittler hinfort mit rigoroser Ausschließlichkeit widmet, entspringt nicht etwa einer authentischen Überzeugung, sondern ist in doppelter Weise kompensatorisch motiviert. Wenn sich der zölibatär lebende Junggeselle rückhaltlos für die Stabilisierung ehelicher Verbindungen einsetzt, erscheint dies als unbewußter Reflex auf seine sowohl metaphysische wie auch zwischenmenschliche Bindungslosigkeit. Als Versuche, die Defizite der eigenen Existenz auszugleichen, verlieren Mittlers Handlungen ihren altruistischen Impuls und rücken in den Horizont der »selbstische[n]« »Eigenliebe«, in welchem er sich – wenn auch in etwas anderem Zusammenhang – zweimal explizit verortet (337 u. 391). Insgesamt stehen sich gerade in der Figur Mittlers, der doch selbst zwischen antithetischen Positionen vermitteln zu können glaubt, unauflösbare Widersprüche gegenüber: der auf zwischenmenschliche Kontinuität gegründeten Weltanschauung die Diskontinuität des eigenen Lebenslaufs; der rückhaltlosen Affirmation der Ehe die eigene Ehelosigkeit;87 dem wortreichen Bekenntnis zum Tötungsverbot das todbringende Fehlverhalten;88 den auf Beziehungsstabilisie86 87

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Zur Kontingenz-Thematik der ›Wahlverwandtschaften‹ insgesamt siehe Gabriele Brandstetter: Poetik der Kontingenz, die in diesem Zusammenhang auch auf die Mittler-Gestalt eingeht. Bereits Walter Benjamin hat auf das Paradoxon hingewiesen, daß gerade Mittler, der »ehelos selber lebend als der tiefststehende unter allen Männern des Kreises erscheint«, eine »Philosophie der Ehe [...] zum besten gibt«. (Walter Benjamin: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 130). Die theologisch eingefärbte Behauptung, daß Mittlers Scheitern als Eheschlichter auf sein Ausscheiden aus dem geistlichen Amt zurückzuführen sei, vermag indessen kaum zu überzeugen (ebd., S. 190f.). So läßt Mittler auf die Umschreibung des fünften Gebots jene des sechsten Gebots folgen, die Ottilie den Tod bringt.

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rung ausgerichteten Handlungen die durch sie verstärkte Trennungsdynamik.89 Diese Ambivalenzen verweisen auf die Fragwürdigkeit des von Mittler exekutierten Normengefüges, das jede differenzierte Verstehensanstrengung verhindert und unabhängig vom jeweiligen situativen Kontext immer wieder eine vorschnelle Eindeutigkeit herstellt. Noch pointierter läßt sich die Kritik an Mittlers starrem Verhaltensmuster anhand einer mythologisch-hermetischen Grundierung90 illustrieren, die Goethe seinen ›Wahlverwandtschaften‹ mit erstaunlicher Konsequenz eingeschrieben hat. Wie der Forschung bisher entgangen ist, könnte Goethe zu der eigenwilligen Verknüpfung zwischen dem Ehe-Apologeten Mittler und dem antiken Götterboten91 durch ein 1793 uraufgeführtes Singspiel des ihm gut bekannten Komponisten Paul Wranitzki angeregt worden sein, das die römische Variante des griechischen Hermes schon im Titel als »Heiratsstifter« apostrophiert.92 Jedenfalls treten nahezu alle wichtigen Eigenschaften und Attribute des antiken Gottes auch bei Mittler in Erscheinung. Als »himmli89

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So ist es bezeichnenderweise gerade Mittler, der durch sein Plädoyer gegen die autonome Lebensgestaltung dafür sorgt, daß Charlotte Eduards Wünschen nachgibt und jener Einladung des Hauptmanns zustimmt, aus welcher sich das wahlverwandtschaftliche Auflösungsgeschehen entwickelt (vgl. 284f.). Knappe Hinweise auf den hermetischen Hintergrund Mittlers geben bereits Heinz Schlaffer und Jochen Hörisch, die aber beide die Funktion dieser mythologischen Bezugnahme m.E. nicht angemessen erfassen. Während Schlaffer die mythologische Allusion als Chiffre begreift, die über ein alchimistisches Zuordnungsschema auf die ›quinta essentia‹ verweist, sieht Jochen Hörisch mit dem Scheitern von Mittler-Hermes das Ende der Hermeneutik gekommen (Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 97; Jochen Hörisch: »Die Himmelfahrt der bösen Lust« in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Versuch über Ottiliens Anorexie. In: Norbert W. Bolz [Hg.]: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Hildesheim 1981, S. 308–322, hier S. 308f. Zur Kritik an Hörisch siehe S. 98f. der vorliegenden Studie). Hartmut Böhme hingegen weist den Bezug Mittlers zu Hermes ausdrücklich zurück, ohne dieses Verdikt näher zu begründen (Harmut Böhme: »Kein wahrer Prophet«, S. 121, Anm. 12). Wenn Goethe in den ›Wahlverwandtschaften‹ eine Figur, die die Unantastbarkeit der Ehe als höchsten Wert propagiert, mit Zügen des Hermes versieht, nimmt er damit gleichsam eine Umkehrung jener Zuschreibung vor, mit welcher er den antiken Götterboten in früheren Werken versehen hat. So spricht Goethe in ›Nach Falkonet und über Falkonet‹ von den »durch Merkurs Beihülfe ausgeführt[en] Liebesschwänken« Jupiters (Johann Wolfgang Goethe: Nach Falkonet und über Falkonet. In: FA 18, S. 175–180, hier S. 180) und läßt eine Figur in seiner Aristophanes-Adaption ›Die Vögel‹ aus dem Jahre 1780 den zu unverbindlichen Liebschaften verhelfenden »Kuppelboten Mercur« erwähnen (Johann Wolfgang Goethe: Die Vögel. In: FA 5, S. 225–253, hier S. 245). Vgl. dazu auch die zu Lebzeiten Goethes unveröffentlicht gebliebene ›Römische Elegie‹ »Zwei gefährliche Schlangen, vom Chore der Dichter gescholten«, wo Hermes als »heilende[r] Gott« apostrophiert wird, der vor der bei erotischen Ausschweifungen drohenden Syphilis schützen soll (Johann Wolfgang Goethe: ›Römische Elegien‹. In: FA 1, S. 392–441, hier S. 422). Wranitzkis Singspiel ›Merkur, der Heiratsstifter, oder der Geiz im Geldkasten‹ ist nach Auskunft des New Grove Dictionary verschollen (Vgl. dazu Stanley Sadie: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Second Edition. Vl. 27. London 2001, S. 576). – Goethe schätzte Wranitzki immerhin so hoch ein, daß er ihn als Komponisten für sein geplantes Libretto eines zweiten Teils der Zauberflöte vorgesehen hat (vgl. dazu Goethes Brief an P. Wranitzki vom 24. Januar 1796. In: WA IV, 11, S. 13–15).

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scher Bote« gemahnt Mittler an die kommunikative Funktion des Hermes, der zwischen Göttern und Menschen vermittelt (386). In diesem Zusammenhang steht auch die hektische Mobilität Mittlers, die auf Hermes Hégetor, den Gott der Wanderer, verweist. Sein ausgeprägtes Redebedürfnis entspricht der dem antiken Gott zugeschriebenen Beredsamkeit, die sich in dessen Beinamen Hermes Lógios niederschlägt. Wenn Mittler bei der Vorbereitung der Kindstaufe »alle Meldungsschreiben und Gevatterbriefe« verfaßt (457) und gegen Ende des Romans die biblischen Gebote paraphrasiert, verrät sich darin ein Bezug zum geschriebenen Wort, der auch dem Schrift-Gott Hermes Trismégistos, einem Künder geheimer Weisheiten, eigentümlich ist. Neben dieser sprachlich-kommunikativen Dimension hat Goethe auch einen anderen Zug der Hermes-Mythologie auf die Mittler-Gestalt übertragen. Die dem antiken Gott gewidmeten Kultbilder, die sogenannten »Hermen«, wurden von den Griechen häufig im Eingangsbereich ihrer Häuser aufgestellt. Die apotropäische Funktion des in diesem Zusammenhang als Hermes Propýlaios bezeichneten Gottes grundiert die entschiedene Absicht Mittlers, die Ehe zwischen Eduard und Charlotte gegen alle unheilbringenden Einflüsse zu bewahren. Zugleich offenbart die Bezugnahme auf Hermes Propýlaios eine charakteristische Ambivalenz: Der räumliche Schwellencharakter der schutzbringenden Hermen kennzeichnet auch die Einführung Mittlers, der bei seinem ersten Auftreten »nur bis ans Kirchhoftor« reitet und dort stehenbleibt (283). Wenn Mittler hier aber in einen engen Bezug zum Friedhof gestellt wird, antizipiert dies die todbringende Wirkung, die er auf den alten Geistlichen ebenso wie auf Ottilie ausübt, und evoziert damit die tödliche Valeur des antiken Gottes, dem als Hermes Psychópompos die Aufgabe zukam, die Seelen der Verstorbenen ins Totenreich zu geleiten. Wie wichtig die Hermes-Referenz für Goethe gewesen ist, zeigt sich bis in scheinbar nebensächliche Details: Stab und Hut, zwei feststehende Attribute des antiken Hermes, begegnen in leicht modifizierter Form auch im Zusammenhang mit Mittler, von dem es an einer Stelle heißt, daß er »nach Hut und Reitgerte suchte« (337). Auch Mittlers Lotteriegewinn, der ihm die ökonomische Basis für seine Tätigkeit liefert, verweist auf einen hermetischen Kontext: Die griechischen Kaufleute, die Hermes als ihren Schutzpatron betrachteten, nannten einen unerwarteten Gewinn »Hérmaion«. Worin besteht nun aber die Funktion dieses überaus kohärenten Verweisungsgefüges? Indem Hermes einerseits dem Tätigkeitsfeld der (oralen wie literalen) Kommunikation zugeordnet ist, andererseits aber auch eine tödliche Valenz besitzt, eignet er sich vorzüglich zur Figuration der verhängnisvollen Wirkungen, die im Roman von Mittlers Verhalten ausgehen. Die in der Personalunion von Hermes Lógios, Hermes Trismégistos und Hermes Psychópompos mythologisch vorgeprägte Korrelation von Sprache und Tod aktualisiert Goethe, indem er Mittlers dogmatisch eindeutige Reden als zerstörerische Gewaltakte dekuvriert. 97

Die implizite Kritik an Mittler, die den gesamten Roman durchzieht und bis in seine mythologische Tiefenschicht hinein wirksam bleibt, verbietet es, in seinen Äußerungen – wie in der ›Wahlverwandtschaften‹-Rezeption nicht selten geschehen93 – die Stimme Goethes vernehmen zu wollen. Aus den scheiternden Verstehensanstrengungen Mittlers einen »antihermeneutischen Impuls« des Goetheschen Romans zu extrapolieren,94 erscheint indessen nicht nur methodisch anfechtbar,95 sondern auch der Sache nach kaum gerechtfertigt. Denn Mittlers Sichtweise auf das Geschehen, die – wie der Text geradezu leitmotivisch herausstellt – von einer starren Fixierung auf das eigene Vorverständnis zeugt,96 widerspricht dem hermeneutischen Postulat der Dialogizität des Verstehensprozesses, in dessen Verlauf die eigene Vormeinung durch den Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten beständig zu modifizieren ist.97 Goethe vertritt mit der kritischen Relativierung dieser Gestalt also keinen dogmatischen Dekon-

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So behauptet bereits Johann Peter Eckermann, daß Goethe seine »wahre Herzensmeinung« den »Ansichten von Mittler« eingeschrieben habe, die der »Tendenz« des Romans »völlig gemäß« seien. Dieser idealisierende Blick verleitet Eckermann dazu, die eigentlich von Mittler verursachten Todesfälle dem von Eduard und Charlotte gezeugten Kind anzulasten: »Es tödtet schon bey seiner Taufe, es tödtet Ottilie« (Johann Peter Eckermann: Bemerkungen über Goethe’s ›Wahlverwandtschaften‹. In: Heinz Härtl [Hg.]: ›Die Wahlverwandtschaften‹. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832. Berlin 1983, S. 291–303, hier S. 292f. u. S. 295). In der Nachfolge Eckermanns hat man Mittler immer wieder zur objektiv urteilenden moralischen Instanz erhoben. So Hörisch, der fälschlicherweise behauptet, daß Mittler »hermeneutische Grundsätze« appliziere, und daraus eine apodiktische Schlußfolgerung ableitet, die in ihrem generellen Geltungsanspruch exakt die Mittlersche Wertungspraxis reproduziert: »Mit Mittler aber scheitert auch eine hermeneutisch orientierte Literaturwissenschaft« (Jochen Hörisch: »Die Himmelfahrt der bösen Lust« in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Versuch über Ottiliens Anorexie. In: Norbert W. Bolz [Hg.]: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Hildesheim 1981, S. 308–322, hier S. 308f.). Wenn Hörisch aus dem Verhalten einer fiktionalen Figur allgemeine Aussagen über das Verhältnis zwischen Leser und Text ableitet, ohne seine rezeptionsästhetischen Behauptungen durch weitere Argumente zu stützen, praktiziert er jene »Hermeneutik des generalisierenden Kurzschlusses«, die Jochen Schmidt als gängiges Verfahren der dekonstruktivistischen Kleist-Forschung kenntlich macht (Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche. Darmstadt 2003, S. 186, Anm. 10). Immer wieder weist der Text darauf hin, wie sehr Mittler von vorgeprägten Verhaltens- und Verstehensmustern bestimmt ist. So wird seine Reaktion auf das Gespräch mit Eduard im 18. Kapitel des ersten Teils folgendermaßen beschrieben: »Zeit zu gewinnen, zu erforschen wie es um die Frauen stehe, das war es, was ihm selbst nach seinen eigenen Gesinnungen zu tun übrig blieb« (391, meine Hervorhebung). Charlottes Schwangerschaft legt er sich »nach seiner Gesinnung« günstig aus (391), und selbst die gegen Ende des Romans offensichtlich gewordene Zerrüttung der Ehe zwischen Eduard und Charlotte hindert ihn nicht daran, weiter auf seine Ziele hinzuarbeiten, sich »nach seiner Sinnesweise hoffend und strebend« zu verhalten (506) und sich dabei »nach seiner Weise klug genug« aufzuführen (519). Selbst der unerwartete Tod Eduards vermag es nicht, Mittler aus »seiner gewöhnlichen Fassung« zu bringen (528). Für Gadamer »muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein«, wofür eine »abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile« unabdingbar ist (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen ²1965, S. 253). Der Anti-Hermeneut Mittler hingegen setzt den eigenen Wertehorizont absolut, ohne ihn je zu reflektieren.

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struktivismus ›avant la lettre‹, der jede hermeneutische Bemühung pauschal diskreditiert. Das Scheitern Mittlers bezeugt vielmehr ›ex negativo‹ den auch von der hermeneutischen Theorie konstatierten offenen Prozeßcharakter des Verstehens,98 der nicht zuletzt aus der in der chemischen Gleichnisrede paradigmatisch entfalteten Instabilität sprachlichen Bezeichnens resultiert.

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In einer zentralen Passage aus ›Wahrheit und Methode‹ kennzeichnet Gadamer das Verstehen als einen »unendliche[n] Prozeß«, der »stets neue Quellen des Verständnisses« erschließe, »die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren« (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 282). Die unhintergehbare Offenheit literaturwissenschaftlichen Interpretierens hat Gadamer in seinem Aufsatz ›Dichten und Deuten‹ nachdrücklich herausgestellt: »Deuten heißt ursprünglich: in eine Richtung zeigen. Das ist wichtig, daß alles Deuten nicht auf ein Ziel, sondern nur in eine Richtung zeigt, d. h. aber in ein Offenes, das sich verschieden ausfüllen kann«. Sowohl der Dichter als auch der Interpret »folgen einem Deut, der ins Offene deutet« (Hans-Georg Gadamer: Dichten und Deuten. In: H.G.G.: Gesammelte Werke. 10 Bde. Bd. 8. Tübingen 1993, S. 18–24, hier S. 20 u. S. 23f.).

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4.

Novellistische Narration und mimetische Repräsentation – Das Gegensatzverhältnis zwischen den ›Wunderlichen Nachbarskindern‹ und der ›camera obscura‹ des englischen Lords

Wie im dritten Kapitel der vorliegenden Studie ausgeführt, versieht Goethe die sprachkritischen Implikationen der chemischen Gleichnisrede mit einer poetologischen Valenz. Eine ähnliche Verknüpfung von sprach- und dichtungstheoretischen Erwägungen läßt sich auch in jener späteren Textsequenz nachweisen, die um die Präsentation der Novelle ›Die wunderlichen Nachbarskinder‹ zentriert ist (471–478). Während diese Binnenerzählung seit Walter Benjamins ›Wahlverwandtschaften‹-Essay immer wieder im Zentrum des literaturwissenschaftlichen Interesses stand und eine Vielzahl von Interpretationen erfahren hat, wurde ihre narrative Integration in das Romangefüge kaum untersucht.99 Die folgenden Darlegungen befassen sich zunächst mit dem bislang vernachlässigten situativen Kontext der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹, der durch einen Rekurs auf den kulturgeschichtlichen Stellenwert der ›camera obscura‹ erschlossen werden soll, um anschließend die komplexe Verflochtenheit der Novelle mit dem Romangeschehen in den Blick zu nehmen und dabei herauszuarbeiten, inwiefern ihre spezifische Faktur mit der Sprachkritik der chemischen Gleichnisrede korrelierbar ist. Zwei deutliche thematische Rückverweise im Umfeld der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ signalisieren einen untergründigen Zusammenhang zwischen der Novelle und dem sprachskeptischen vierten Kapitel des ersten Romanteils. Einerseits wird in diesem Kapitel zum ersten Mal jene verdrängte »traurige Erinnerung« (298) des Hauptmanns erwähnt, die seine vorsorglichen Aktivitäten zur »Rettung der Ertrunkenen« motiviert (297) und später »den Hauptzügen« der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ als inhaltliches Substrat zugrundeliegt (479). Andererseits verweisen die vom Erzähler der Novelle, dem Begleiter des englischen Lords, initiierten Pendelversuche, die »manche Bezüge und Verwandtschaften unorganischer Wesen untereinander, organischer gegen sie und abermals untereinander offenbaren« sollen (480f.), schon vom Wortmaterial her auf das thematische Zentrum der chemischen Gleichnisrede. Dieser exoterischinhaltlichen Verklammerung entspricht eine esoterisch-gedankliche: Die in der chemischen Gleichnisrede implizierte Sprachreflexion wird im Umfeld der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ durch die kontrastive Gegenüberstellung mit

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Zur Forschungslage siehe insbesondere die Anmerkungen 118, 121 und 125 des vorliegenden Kapitels.

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einem außersprachlichen Repräsentationsmedium schärfer konturiert. Während der Begleiter des Lords als Erzähler der Novelle100 ein sprachliches Konstrukt darbietet, das – wie noch zu zeigen sein wird – von einer bemerkenswerten semantischen Offenheit gekennzeichnet ist, widmet sich der Lord selbst einer bildlich-zeichnerischen Darstellungstechnik, die auf die Apparatur der ›camera obscura‹ zurückgreift und dadurch ein hohes Maß an mimetischer Objektivität zu gewährleisten vermag. Mit dem Hinweis auf die »dunkle Kammer«, die dem Lord dazu dient, »die malerischen Aussichten des Parks [...] aufzufangen und zu zeichnen« (466), rekurriert Goethes Roman auf eine technische Vorrichtung, deren Funktionsweise sich einer optischen Gesetzmäßigkeit verdankt: Wenn Licht durch eine kleine Öffnung in einen abgedunkelten Innenraum fällt, entsteht auf der Wand, die der Öffnung gegenüberliegt, ein seitenverkehrtes Abbild der äußeren Gegebenheiten. Schon Aristoteles und Euklid haben dieses physikalische Prinzip beschrieben. Die darauf basierende technische Apparatur der ›camera obscura‹ ist allerdings ein historisch weitaus späteres Phänomen, dessen Urheberschaft – obgleich nicht mehr mit letzter Sicherheit rekonstruierbar – häufig dem neapolitanischen Gelehrten Giovanni Battista della Porta zugeordnet wird.101 In seiner Schrift ›Magia Naturalis‹ von 1558 findet sich neben einer detaillierten Deskription der dunklen Kammer die Beobachtung, daß man die seitenverkehrte Anordnung des Abbildes mit Hilfe eines Konkavspiegels verhindern kann. Auf diese Weise gelingt der ›camera obscura‹ eine nach damaligem Ermessen exakte optische Reproduktion gegenständlicher Empirie. Mit der Bezugnahme auf die ›camera obscura‹ wird in den ›Wahlverwandtschaften‹ nicht nur eine technische Apparatur in den Handlungszusammenhang eingespielt, sondern darüber hinaus ein wahrnehmungs- und erkenntnistheoretisches Paradigma aufgerufen, das innerhalb der Kulturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts eine besondere Bedeutsamkeit besitzt.102 Wie Jonathan Crary gezeigt hat, fungiert die ›camera obscura‹ nicht nur als Hilfsmittel zur Beobachtung des äußerlich Sichtbaren, sondern dient den Rationalisten wie den Empiristen als Beleg dafür, daß diese Beobachtung zu gültigen Rückschlüssen auf die Welt zu führen vermag.103 Die Übereinstimmung zwischen dem Abbild in der ›camera obscura‹ und dem Abbild auf der Netzhaut des Auges verbürgt die Objektivität der menschlichen Wahrnehmung. Diese Objektivität

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Victor Lange behauptet irrtümlicherweise, daß der englische Lord »die Geschichte der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹« erzähle (Victor Lange: Goethes Erzählkunst, S. 22). Eine ähnliche Fehl-Lektüre unterläuft Thomas Lehmann, der ebenfalls den englischen Lord zum Erzähler der Novelle erklärt (vgl. Thomas Lehmann: Augen zeugen, S. 232). Vgl. Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Massachusetts 1990, S. 36. Vgl. dazu die hervorragende Studie von Jonathan Crary: Techniques of the Observer. Vgl. dazu ebd., S. 29–50.

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des Abbildes, die sich der maßstabgetreuen Projektion eines dreidimensionalen Wirklichkeitsausschnitts auf eine zweidimensionale Fläche verdankt, erfährt im philosophischen Diskurs zahlreiche Metaphorisierungen. John Locke etwa verwendet die ›camera obscura‹ in seinem berühmten ›Essay Concerning Human Understanding‹ als Metapher gelingender Verstandeserkenntnis: »For methinks the understanding is not much unlike a closet wholly shut from light, with only some little opening left to let in external visible resemblances or ideas of things without: would the pictures coming into such a dark room but stay there, and lie so orderly as to be found upon occasion, it would very much resemble the understanding of a man in reference to all objects of sight, and the ideas of them«.104 Die mimetische Objektivität der ›camera obscura‹, die sie zum Paradigma adäquater Abbildung und zur Metapher gesicherten Wissens werden läßt, beruht ganz wesentlich auf einer strikten Grenzziehung zwischen Betrachter und Wahrnehmbarem. Der Beobachter ist im abgedunkelten Innenraum von der äußeren Welt abgeschnitten und tritt damit aus allen unmittelbaren Wahrnehmungsbezügen heraus. Indem der physikalische Reproduktionsmechanismus unabhängig vom Betrachter funktioniert, bleiben alle subjektiven Störfaktoren aus dem Abbildungsvorgang ausgeschlossen. Für Descartes erweist sich daher das Repräsentationsmodell der ›camera obscura‹, dem er eine maximale Authentizität der Darstellung zuschreibt, als der menschlichen Wahrnehmung überlegen.105 Diese hohe Wertschätzung der dunklen Kammer ist, wie Jonathan Crary gezeigt hat, ein durchgängiges Charakteristikum ihrer philosophischen Thematisierung im 17. und 18. Jahrhundert: Die Zuverlässigkeit bei der Herstellung eines der Wirklichkeit entsprechenden Bildes läßt die ›camera obscura‹ zum Wahrheitsgaranten werden; sie fungiert als »objective ground of visual truth«.106 Goethe allerdings steht einer entsubjektivierten Reproduktionsmechanik, wie sie die ›camera obscura‹ offeriert, skeptisch gegenüber. Dies läßt sich sowohl aus seinen naturwissenschaftlichen als auch aus seinen ästhetischen Schriften rekonstruieren. Entscheidend für seine Auffassung des Wahrnehmungsprozesses, den er unter den Primat des Visuellen stellt, ist die Annahme einer Korrespondenzbeziehung zwischen Subjekt und Objekt, die auf der Gewißheit gründet, »daß alles was innen ist auch außen sei, und daß nur ein Zusammentreffen beider Wesenheiten als Wahrheit gelten dürfe«.107 Beispielhaft zeigt sich dies in den berühmten Versen aus der Einleitung zum didaktischen Teil der ›Farbenlehre‹:

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John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. London 301846, S. 96 (book 2, chapter 11, section 17). Vgl. Jonathan Crary: Techniques of the observer, S. 48. Ebd., S. 14. Johann Wolfgang Goethe: Das Sehen in subjektiver Sicht, von Purkinje 1819. In: FA 25, S. 817– 827, hier S. 819.

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»Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken?«.108 Der optische Sinn vermag es, Ich und Welt zur Einheit zusammenzufügen und auf diese Weise »die Totalität des Innern und Äußern [zu] vollende[n]«.109 Die Konstruktion der ›camera obscura‹, die Betrachter und Wahrnehmbares rigoros voneinander trennt, ist diesem integrativen Wahrnehmungskonzept diametral entgegengesetzt. Daher verwundert es nicht, daß sich Goethe zur dunklen Kammer durchaus kritisch äußert. In polemischer Auseinandersetzung mit Newton propagiert er gegen dessen apparativ vermittelten Zugang zur Natur die sinnlich-unmittelbare Anschauung: »Freunde flieht die dunkle Kammer / Wo man euch das Licht verzwickt, / Und mit kümmerlichem Jammer / Sich verschrobnen Bilden bückt. [...] / Wenn der Blick an heitern Tagen / Sich zur Himmelsbläue lenkt, / Beim Siroc der Sonnenwagen / Purpurrot sich niedersenkt, / Da gebt der Natur die Ehre, / Froh, an Aug’ und Herz gesund, / Und erkennt der Farbenlehre / Allgemeinen ewigen Grund«.110 Ähnliche Invektiven gegen die Newtonsche Verwendung der ›camera obscura‹ als naturwissenschaftliches Beobachtungsinstrument hat Goethe an verschiedenen anderen Stellen vorgebracht.111 Auch im Bereich der bildenden Kunst kritisiert Goethe den Einsatz der ›camera obscura‹, die – als Zeichenhilfe äußerst beliebt – den Künstler zu einer exakten und objektiv-naturgetreuen Abbildung der Wirklichkeit befähigen sollte. In einer zeitgleich zu den ›Wahlverwandtschaften‹ verfaßten biographischen Skizze über Charles Gore, der hinsichtlich seiner bildkünstlerischen Archivierung von Reise-Impressionen als realhistorisches Vorbild des englischen Lords verstanden werden kann, notiert Goethe: »Sein [Gores] früheres Leben auf der See, an den Küsten, in schönen und bedeutenden Gegenden hatte jene Lust in ihm erregt, solche flüchtige Augenblicke zu fixieren. So hatte er sich der Prospektzeichnung ergeben [...]. Um desto gewisser von der Richtigkeit solcher Abbildungen zu sein, hatte er die Camera obscura angewendet; deren Mängel

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Johann Wolfgang Goethe: Entwurf einer Farbenlehre, S. 24. Johann Wolfgang Goethe: Das Auge. In: FA 23/2, S. 268–269, hier S. 269. Johann Wolfgang Goethe: Zahme Xenien VI, S. 677f. So ruft Goethe die Studenten 1822 mit folgenden Worten zum Boykott gegen die herrschende Lehrmeinung Newtons auf: »Jeder Studierende fordere auf seiner Akademie vom Professor der Physik einen Vortrag sämtlicher Phänomene, nach beliebiger Ordnung; fängt dieser aber den bisherigen Bocksbeutel damit an: ›Man lasse durch ein kleines Loch einen Lichtstrahl usw.‹ so lache man ihn aus, verlasse die dunkle Kammer, erfreue sich am blauen Himmel und am glühenden Rot der untergehenden Sonne nach unserer Anleitung« (Johann Wolfgang Goethe: Nachträge zur Farbenlehre. In: WA II, 5/1, S. 321–331, hier S. 330f.). Mit ähnlichem Tenor schreibt Goethe am 1. Februar 1831 an Zelter mit Bezug auf die Anhänger der Lehre Newtons, daß »die herrschende Kirche der dunklen Kammer, des kleinen Löchleins und in der neuern Zeit der kleinen Löchlein zu hunderten bedarf, um das Offenbarste zu verheimlichen und das Planste zu verwirren«. Vgl. dazu auch das kurze Gedicht ›Ist erst eine dunkle Kammer gemacht‹ (Johann Wolfgang Goethe: Ist erst eine dunkle Kammer gemacht. In: FA 2, S. 756–757, hier S. 756).

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ihm zwar nicht verborgen waren, deren er sich aber doch als Liebhaber mit vielem Vorteil zu bedienen wußte«.112 Wenn Goethe die dunkle Kammer hier zur Kontrollinstanz für die »Richtigkeit« von Abbildungen erklärt, bewegt er sich damit ganz im Horizont der oben skizzierten Tradition, der zufolge diese Apparatur als Wahrheitsgarant zu fungieren vermag. Allerdings kombiniert Goethe seinen Rekurs auf die vorgeprägte Wertschätzung der ›camera obscura‹ mit einem nicht weiter ausgeführten Hinweis auf deren »Mängel« und versieht den sich ihrer bedienenden Gore durch die Bezeichnung als »Liebhaber« mit dem Signum des Dilettantismus. Worin aber liegen die an dieser Stelle nicht näher erläuterten Defizite eines malerischen Verfahrens, das sich am Repräsentationsmodell der dunklen Kammer orientiert? Aufschluß hierüber verspricht ein Blick auf jene ästhetische Typologie, die Goethe in seiner kurzen Abhandlung ›Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil‹ entwickelt. Die drei titelgebenden Begriffe bezeichnen drei unterschiedliche Verhaltensweisen des bildenden Künstlers gegenüber der Objektsphäre. Die »einfache Nachahmung« charakterisiert Goethe als detailgenaue Reproduktion äußerer Erscheinungen, als naiven Realismus, der die künstlerische Individualität aus dem Darstellungsmodus ausschließt. Nur »beschränkte Natur[en]« können an dieser Verfahrensweise, die lediglich bei »toten oder stilliegenden Gegenständen« adäquate Resultate zeitigt, ihr Genügen finden.113 In strikter Antithese zur einfachen Nachahmung steht die »Manier«, der Goethe ebenfalls nur einen inferioren Status zubilligt. Während sich die einfache Nachahmung ganz und gar an der äußeren Gegenständlichkeit orientiert, entspringt die Manier der schöpferischen Innerlichkeit des Künstlers; die bildhafte Formensprache ist dabei nicht von der Eigenart des dargestellten Objekts, sondern von der des darstellenden Subjekts bestimmt. Die in ihrer Einseitigkeit gleichermaßen defizienten Kunsthaltungen der einfachen Nachahmung und der Manier werden im Begriff des Stils im Sinne einer Synthese aufgehoben. Der Stil, der das »Wesen der Dinge« zur künstlerischen Erscheinung bringt114 und für Goethe eine höchste ästhetische Dignität genießt, beruht auf einem gelingenden Ausgleich zwischen wirklichkeitsnaher Objektivität und schöpferischer Subjektivität. Die bildhafte Darstellung nimmt zwar einerseits Bezug auf die Gegenstandssphäre, transzendiert aber andererseits durch die Einbeziehung von Wissen und Erfahrung des Künstlers den realistischen Rahmen mimetischer Abbildungsstrenge. Vor dem Hintergrund dieser ästhetischen Systematik läßt sich exakt bestimmen, worin die von Goethe im obigen Zitat lakonisch konstatierte Defizienz der ›camera obscura‹ besteht. Die mit ihrer Hilfe angefertigten Zeichnungen verharren auf der niederen Stufe der

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Johann Wolfgang Goethe: Philipp Hackert. In: FA 19, S. 411–599, hier S. 565. Johann Wolfgang Goethe: Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl. In: FA 18, S. 225– 229, hier S. 225f. Ebd., S. 227.

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einfachen Nachahmung; sie sind das Ergebnis einer passiven Reproduktion und lassen jene aktive künstlerische Aneignung vermissen, die die mimetische Malerei zum Stil veredelt. Insbesondere im Fall der Landschaftsmalerei, der sich unter Zuhilfenahme der ›camera obscura‹ sowohl Charles Gore als auch der nach seinem Vorbild modellierte englische Lord verschrieben haben, hält Goethe eine subjektive Selektion der sinnlichen Eindrucksfülle für unerläßlich, um den »allgemeine[n] Ausdruck des großen Gegenstandes« nicht zugunsten einer sklavischen Detailorientierung aus dem Blick zu verlieren.115 Die mimetische Abspiegelung der realen Welt durch die ›camera obscura‹ mag dank der optischen Übereinstimmung zwischen Abbild und äußerer Wirklichkeit als Wahrheitsgarant fungieren – zur Erzeugung ranghoher Kunstwerke taugt ihr mechanischer Objektivismus nach Meinung Goethes nicht. Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig plausibel, wenn Jochen Hörisch in einem überaus spekulativen Aufsatz behauptet, der englische Lord läute als messianische Gestalt den »Advent neuer Medien« ein und offeriere damit eine »Erlösung« von den verhängnisvollen »Versprechungen der Sprache«.116 Zum einen kann die seit dem 16. Jahrhundert bekannte ›camera obscura‹ im Bezug auf die Erzählgegenwart der ›Wahlverwandtschaften‹ wohl kaum als »neues Medium« verstanden werden; zum anderen hat Goethe diese technische Apparatur – wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen konnten – entgegen der Behauptung Hörischs keineswegs »durchweg positiv« bewertet.117 Der auch in anderer Hinsicht an philologischer Ungenauigkeit nicht eben arme Aufsatz118

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Ebd., S. 226. Jochen Hörisch: Die Dekonstruktion der Sprache und der Advent neuer Medien in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Merkur 52 (1998), S. 826–839, hier S. 839. Ebd., S. 838, Anm. 3. In zahlreichen Passagen dieses Beitrags finden sich Belege für die flüchtige Lektürepraxis seines Verfassers. Hier nur wenige Beispiele: Wenn Hörisch behauptet, daß der Hauptmann im Gegensatz zu seinem Freund Eduard »amusisch« sei (ebd., S. 837), hat er offenbar überlesen, daß dieser auf der Geige mit Charlotte am Klavier »eins der schwersten Musikstücke [...] mit Empfindung, Behagen und Freiheit« zur Aufführung bringt (329). Als ebenso textfern erweisen sich die Ausführungen über die Begegnung zwischen Eduard und Ottilie im 13. Kapitel des zweiten Romanteils: Es handelt sich hier nämlich nicht, wie Hörisch meint, um die »erste und einzige Umarmung zwischen den Liebenden« (Jochen Hörisch: Die Dekonstruktion der Sprache, S. 836) – schließlich heißt es bereits an einer zentralen Stelle im 12. Kapitel des ersten Teils über Eduard und Ottilie: »[S]ie hielten einander umfaßt. Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen« (355). Eine ähnlich nachlässige Textparaphrase bietet Hörisch im Zusammenhang mit der eingelagerten Binnennovelle, wenn er unterstellt, daß der Begleiter auf Wunsch des englischen Lords »sogleich die Novelle von den wunderlichen Nachbarskindern [...] erzählt« (Jochen Hörisch: Die Dekonstruktion der Sprache, S. 828, meine Hervorhebung). Tatsächlich geht dieser aber eine Fülle anderer erzählter Begebenheiten voraus: »[N]achdem der Begleiter durch manche sonderbare, bedeutende, heitere, rührende, furchtbare Geschichten die Aufmerksamkeit erregt und die Teilnahme aufs höchste gespannt hatte; so dachte er mit einer zwar sonderbaren, aber sanfteren Begebenheit [den ›Wunderlichen Nachbarskindern‹] zu schließen« (470). Leserfreundlich an Hörischs Ausführungen ist allerdings die Tatsache, daß bereits in ihrem ersten Abschnitt der Argumentationsstil der folgenden deutlich markiert

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reduziert das komplexe Spannungsverhältnis zwischen objektiv-visueller und subjektiv-sprachlicher Repräsentation auf eine binäre Wertungs-Opposition, die gegenüber den »mißlingenden Sprech-, Schreib- und Leseakten« die »medientechnische Alternative« der ›camera obscura‹ rückhaltlos affirmiert.119 Der Text des Goetheschen Romans liefert für diese Behauptung keinerlei Belege: Zwar ist die kontrastive Gegenüberstellung der beiden unterschiedlichen Repräsentationsarten der Sprache und der ›camera obscura‹ darauf angelegt, deren jeweilige Eigenart deutlich zu profilieren; eine wertende Beurteilung bleibt jedoch aus. Von zentraler Bedeutung ist allerdings die von Hörisch nicht bemerkte Antithetik der Funktionsweise beider Darstellungsmedien: Während die ›camera obscura‹ mit ihrer ikonischen Repräsentationstechnik eine zuverlässige Abbildung der äußeren Realität garantiert, verweigert sich die arbiträre Semantik verbaler Äußerungen einer eindeutigen Referenzialisierung.120 Diesen grundlegenden Gegensatz, den auch Gerhard Neumann in einem kürzlich erschienenen Aufsatz unberücksichtigt läßt,121 illustriert Goethe, indem er der ›camera obscura‹ des englischen Lords mit der von dessen Begleiter erzählten Novelle einen Text gegenüberstellt, der permanent zwischen Faktizität und Fiktion oszilliert und nicht auf einen bestimmten Aussagegehalt fixiert werden kann. Die geradezu exemplarische Offenheit der Novelle, die diese dem festlegenden Zugriff des Interpreten entzieht, resultiert in erster Linie aus dem Prinzip

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wird. So erklärt Hörisch: »Otto-Lotto-Toto-tot-Gott-Goethe« – diesem diffusen Durcheinander läßt sich allenfalls als subversive Karnevalisierung der literaturwissenschaftlichen Arbeit ein gewisser Reiz abgewinnen (Jochen Hörisch: Die Dekonstruktion der Sprache, S. 826). Ebd., S. 831 u. 837. Wie wichtig es für Goethe gewesen ist, die beiden unterschiedlichen Darstellungsmedien miteinander ins Verhältnis zu setzen, zeigt sich auf der Ebene der Wortwahl: Dem »große[n] Portefeuille« (466), in welchem der englische Lord seine Bilder aufbewahrt, entspricht das »Portefeuille« des Begleiters, das dieser auf seinen Reisen mit »vielen angenehmen und bedeutenden Anekdoten und Geschichten [...] bereichert« hat (470). Neumann nivelliert die Differenz zwischen dem zeichnerischen und dem sprachlichen Repräsentationsmedium, indem er die mit Hilfe der ›camera obscura‹ erzeugten Bilder, die Erzählung der Novelle sowie die an Ottilie durchgeführten Pendelversuche zu einer »dreifache[n] Verwirrung im Rahmungs-Geschehen« des Romans vereinheitlicht (Gerhard Neumann: ›Wunderliche Nachbarskinder‹. Zur Inszenierung von Wissen und Erzählen in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Gabriele Brandstetter [Hg.]: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Freiburg 2003, S. 15–40, hier S. 32). Die von Neumann in Anschlag gebrachte Kategorie der Rahmung erweist sich hier als heuristisch wenig ergiebig, da sie weder auf die zeichnerischen Aktivitäten des englischen Lords noch auf die Erzählung seines Begleiters paßt: Wenn Neumann die Präsentation der Zeichnungen des Lords vor Charlotte und Ottilie als dessen »Versuch einer ›Rahmung‹ der zerrütteten Verhältnisse auf dem Schloß« versteht (ebd., S. 33), übersieht er dabei, daß der Lord – wie es im Text heißt – »von den Verhältnissen der Familie [...] nichts [...] wußte« (470). Die Interpretation der Novelle als Geschichte einer »Rahmensprengung und wiedererlangten Rahmenfindung«, die sich angeblich als »geglückt[e] zweite Geburt aus dem natürlichen Element des Wassers zurück in die Gesellschaft« vollzieht (Gerhard Neumann: ›Wunderliche Nachbarskinder‹, S. 34f.), verkennt die Ambivalenzsignale innerhalb des nur oberflächlich harmonischen Schlusses (vgl. dazu S. 108–111 der vorliegenden Studie).

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permanenter Transformation, das sich sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der textgenetischen Ebene der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ situieren läßt. Das erzählte Geschehen kann in zwei Phasen gegliedert werden, die beide von der Thematik der Metamorphose geprägt sind. Zunächst berichtet die Novelle in Form einer stark komprimierten Entwicklungsgeschichte über Feindschaft, Trennung und Wiedersehen der beiden Nachbarskinder. Insbesondere das Mädchen widersetzt sich zu Beginn der Novelle der von den Eltern für die Zukunft geplanten ehelichen Verbindung mit dem Jungen. Nachdem die wechselseitigen Aggressionen zwischen beiden Kindern unübersehbar geworden sind, ändern die Eltern ihre Absichten und beschließen, »die beiden feindlichen Wesen zu trennen« (472). Der Junge ergreift die Militärlaufbahn, das Mädchen gibt – mehr aus »Gewohnheit« denn aus Liebe (472) – dem Werben eines anderen Mannes nach und verlobt sich mit ihm. Als sich die Nachbarskinder einige Zeit später wieder begegnen, schlägt der frühere Haß des Mädchens in leidenschaftliche Zuneigung um. Mit ihrer veränderten Gefühlslage wandelt sich auch ihr Blick auf die Vergangenheit, die sie einer manipulativen Interpretation unterwirft. Die kindliche Feindschaft wird nachträglich zur keimhaften Anlage der Liebe stilisiert: »Sie lächelte über jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand; sie wollte sich des angenehmsten Gefühls erinnern, als er sie entwaffnete; sie bildete sich ein die größte Seligkeit empfunden zu haben, da er sie band, und alles was sie zu seinem Schaden und Verdruß unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen« (474). Die von der NovellenProtagonistin vorgenommene subjektive Umdeutung entspringt ihrer aktuellen emotionalen Bedürfnislage, die auf eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit mit dem Jüngling ausgerichtet ist. Dieser allerdings scheint sich der neuen Rollenzuschreibung durch die Nachbarstochter zunächst zu widersetzen: Er verhält sich ihr gegenüber nicht als Liebhaber, sondern »nur als ein treuer und nicht einmal zärtlicher Bruder« (475). Die zutiefst enttäuschte Nachbarin entschließt sich daraufhin zum Freitod, »um den ehemals Gehaßten und nun so heftig Geliebten für seine Unteilnahme zu strafen« (475). Damit ist die zweite Phase der Novelle erreicht, die ein zentrales Ereignis fokussiert: den Selbstmordversuch des Mädchens und ihre Rettung durch den Geliebten, die in ein versöhnliches Schlußtableau einmündet. Diese ganz im Sinne der Goetheschen Novellendefinition »sich ereignete unerhörte Begebenheit«122 ist wiederum deutlich um die Thematik der Metamorphose zentriert. Sie führt – wie der Erzähler zusammenfassend feststellt – für das Mädchen und ihren Geliebten innerhalb kürzester Zeit »vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise in eine Wildnis, aus der Verzweiflung zum Entzücken, aus 122

Gespräch mit Eckermann vom 29. Januar 1827. In: Goethes Gespräche. Bd. 3, S. 332–337, hier S. 335.

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der Gleichgültigkeit zur Neigung, zur Leidenschaft« (478). Ganz deutlich zeigt sich hier ein wechselseitiges Spiegelungsverhältnis zwischen äußerer Topographie und innerer Befindlichkeit. Der Umschwung von der »Gleichgültigkeit« zur »Leidenschaft« vollzieht sich auf Seiten des Jünglings außerhalb des gesellschaftlich konventionalisierten Bereichs in einer Sphäre elementarer Natürlichkeit: zunächst im Fluß, von dem das zum Freitod entschlossene Mädchen und ihr Retter »gewaltsam fortgerissen« werden; sodann am Ufer auf einem »Pfad, der durchs Gebüsch lief«; schließlich in einer »einsame[n] Wohnung«, wo es dem Jüngling gelingt, »den schönen, halbstarren, nackten Körper [des Mädchens] wieder ins Leben zu rufen« (477). Die Metapher des Stroms, der das Mädchen und den Jüngling mit sich reißt, figuriert die unbewußte Provenienz des Impulses, aus welchem sich die wechselseitige Liebesbeziehung entwickelt. Das vorrational-intuitive Fundament der Leidenschaft wird allerdings gemäß der auf den ersten Blick utopisch anmutenden Konzeption der Novelle scheinbar bruchlos in die kulturelle Ordnung überführt. Ein von einem hilfsbereiten Paar angebotenes Hochzeitskleid ermöglicht es den Liebenden, ihre nackten Körper »von innen heraus zu bekleiden« und damit ihr individuelles Gefühl in symbolischer Antizipation mit der gesellschaftlichen Sanktionierung durch die Ehe zu verknüpfen (477). Gleichwohl versieht der Erzähler diese versöhnliche Perspektive mit einem relativierenden Vorbehalt: Er weist zwar einerseits darauf hin, daß sich »die beiden Abenteurer« in ihren Hochzeitskleidern »mit unmäßiger Leidenschaft [...] in die Arme« fallen, fügt aber andererseits einschränkend hinzu, daß sie sich einer »Vermummung« unterzogen haben (477). Die symbolische Einpassung in das gesellschaftlich normierte Beziehungsmuster der Ehe ist offenbar mit einer gewissen Entfremdung vom ursprünglichen Liebesgefühl erkauft; die emotionale Unmittelbarkeit geht in der von der Gesellschaft bereitgestellten Vermittlungsform nicht völlig auf. Ähnliche Ambivalenzsignale, die den in der Forschung häufig herausgestellten harmonisierenden Charakter der Novelle konterkarieren, prägen auch das auf den ersten Blick so ungebrochen positive ›happy end‹: Wenn die Eltern ihre Kinder nach äußerster Gefährdung wohlbehalten wiederfinden, wird dies in einem Kommentar des Erzählers zum bloßen »Schauspiel« entrealisiert,123 dessen Protagonisten in »sonderbare[r] Verkleidung« auftreten (478). Zudem erscheint das durch die Liebesentscheidung des immerhin anderweitig verlobten Mädchens entbundene Konfliktpotential keineswegs aufgelöst, sondern lediglich abgeblendet: Wie der »liebende Bräutigam«, den aus Sorge um seine Braut »fast die Besinnung verlassen« hatte, auf den Bruch des Heiratsversprechens reagiert, bleibt im Dunkeln (478). Dem

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Zur Konnotation des Scheinhaften und Irrealen in Goethes Verwendung des Begriffs »Schauspiel« vgl. die berühmten Verse, in denen Faust sein Ungenügen an der Makrokosmos-Vision bekundet: »Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur! / Wo fass’ ich dich, unendliche Natur?« (Johann Wolfgang Goethe: Faust I. In: FA 7/1, S. 33–199, hier S. 36, V 454f.).

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korrespondiert, daß der »Segen«, den sich die beiden Nachbarskinder von ihren Eltern wünschen, zwar in einer dreifachen Wiederholung imperativisch gefordert,124 aber nicht explizit erteilt wird. Die elterliche Legitimation der Liebesbeziehung bleibt aus – statt dessen erfährt der Leser, daß angesichts des Ansinnens der Nachbarskinder »alle Welt staunend verstummte« (478). Entgegen einer Fülle von idealisierenden Deutungen, die – im Gefolge des ungemein wirkmächtigen ›Wahlverwandtschaften‹-Essays von Walter Benjamin – den Ausgang der Novelle immer wieder als ein der tragischen Romanhandlung antithetisch zugeordnetes Versöhnungsszenario beschrieben haben,125 mündet 124 125

Im letzten Satz der Novelle stimmt auch der Erzähler in die Bitte der Nachbarskinder ein: »›Euren Segen!‹ ertönte es zum drittenmal, und wer hätte den versagen können!« (478). Zahlreiche Interpreten haben die ›Die wunderlichen Nachbarskinder‹ als positives Gegenbild zum wahlverwandtschaftlichen Unheilsgeschehen gelesen. So avanciert der gattungspoetische Gegensatz zwischen Novelle und Roman bereits für Walter Benjamin zum Signum eines metaphysisch grundierten Oppositionsverhältnisses: Seiner Meinung nach stehen sich in Roman und Novelle scheinhafte und wahre Liebe, Schicksalsverfallenheit und Erlösung, ichbezogene Isolation und familiale Eingebundenheit, verfehltes Freiheitsstreben und rettende Unterwerfung unter den göttlichen Willen antithetisch gegenüber. Die radikale Abwertung des Wahlverwandtschaften-Personals und die vorbehaltlose Idealisierung der Novellengestalten dienen ihm dabei als Anhaltspunkte, um ein religiöses Wertesystem auf Goethes Text zu projizieren. So schreibt Benjamin den Romanfiguren eine als moralisches Vergehen qualifizierte rein innerweltliche Orientierung zu, deren utopisches Gegenbild das in der Transzendenz verwurzelte Handeln der wunderlichen Nachbarskinder darstelle. Als zentralen Beleg für diese religiöse Deutung zieht Benjamin den dramatischen Höhepunkt der Novelle heran, der angeblich zeigen soll, daß die »Liebe [der Nachbarskinder], weil sie um wahrer Versöhnung willen das Leben wagt, sie erlangt [...]. Weil nämlich wahre Versöhnung mit Gott keinem gelingt, der nicht in ihr – soviel an ihm ist – alles vernichtet, um erst vor Gottes versöhnendem Antlitz es wieder erstanden zu finden, darum bezeichnet ein todesmutiger Sprung jenen Augenblick, da sie – ein jeder ganz für sich allein vor Gott – um der Versöhnung willen sich einsetzen« (Walter Benjamin: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 184). Solche metaphysischen Spekulationen lassen sich allerdings aus Goethes Text heraus nicht begründen. Nirgendwo in der Novelle eröffnet sich ein transzendenter Horizont, von einer göttlichen Instanz ist an keiner Stelle die Rede, und die von Benjamin so suggestiv beschworene Versöhnung bleibt auf den innerweltlich-zwischenmenschlichen Bereich beschränkt und wird zudem durch zahlreiche Ambivalenz-Signale in Frage gestellt. – In Anlehnung an Benjamin beschreibt Isabella Kuhn das Novellengeschehen als eine dem Verlauf der Romanhandlung entgegengesetzte Entwicklung »vom Schein in die Wahrheit« (Isabella Kuhn: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ oder das sogenannte Böse. Frankfurt a. M. 1990, S. 71). Während Walter Kayser die Novelle als »märchenhafte[n] Kontrapunkt« zur Sphäre der Romangestalten begreift, Margarethe Beckurts eine »vorrevolutionäre Gegenwelt zur Romangegenwart« erblickt, Johannes Twardella von einer »Kontrastfolie« und Jürgen Jakobs von einem »Kontrastbild zur Welt der Romanerzählung« spricht, ordnet Bernhard Buschendorf die liebenden Nachbarskinder gar dem »Goldenen Zeitalter« zu und läßt sie »zu den Gestaden der Seligen [...] finden« (Walter Kayser: Zur Symbolisierung des Wassers bei Goethe. Rheinfelden, Berlin 1992, S. 161; Margarethe Beckurts: Zur Bedeutung der Novelle in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Zs. für deutsche Philologie 103 [1984]. Sonderheft Goethe, S. 64–78, hier S. 64; Jürgen Jakobs: Glück und Entsagung. In: Jb. des Freien Deutschen Hochstifts 41 [1979], S. 153–169, hier S. 159; Johannes Twardella: Experimente im Treibhaus der Moderne. Versuch einer kommunikationstheoretischen Analyse von Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Neophilologus 83 [1999], S. 445–460, hier S. 448; Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform, S. 84). Wolf Kittler und Elisabeth Herrmann weisen dagegen mit Recht darauf hin, daß es sich beim scheinbaren ›happy end‹ der Novelle um ein »Phan-

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das erzählte Geschehen in einen offenen Schluß.126 Die zentrale Frage, ob sich die naturhaft-elementare Liebesempfindung der Nachbarskinder mit den Forderungen der Gesellschaft vereinbaren läßt, wird durch das Novellen-Ende nicht beantwortet. Daß der Ausgang der Handlung keine definitive Lösung der im Text aufgeworfenen Problemstellungen bietet, zeigt sich auch daran, daß er nur vage als Abschluß markiert wird. So bemerkt der Erzähler des Romans nach dem letzten Satz der Novelle: »Der Erzählende [der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹] machte eine Pause oder hatte vielmehr schon geendigt« (479). In einer an die narrative Technik der ›Wanderjahre‹ gemahnenden Weise erhält die BinnenNovelle damit den Charakter eines bloßen Fragments, das den ihm zugrundeliegenden Gegenstand keinesfalls erschöpfend behandelt.127 Die Fortführung des zitierten Erzähler-Kommentars stellt die Unzuverlässigkeit des in den ›Wunderlichen Nachbarskindern‹ Berichteten noch unter einem anderen Gesichtspunkt heraus und weist nachdrücklich darauf hin, daß diese Novelle keine wirklichkeitsgetreue Abspiegelung eines realen Ereignisses darstellt: »Diese Begebenheit hatte sich mit dem Hauptmann und einer Nachbarin wirklich zugetragen, zwar nicht ganz wie sie der Engländer erzählte, doch war sie in den Hauptzügen nicht entstellt, nur im Einzelnen mehr ausgebildet und ausgeschmückt, wie es dergleichen Geschichten zu gehen pflegt, wenn sie erst durch den Mund der Menge und sodann durch die Phantasie eines geist- und geschmackreichen Erzählers durchgehen. Es bleibt zuletzt meist alles und nichts wie es war« (479, meine Hervorhebung). Der mehrstufige Vermittlungsprozeß, der durch den »Mund der Menge« und die formbildende »Phantasie eines [...] Erzählers« führt, unterwirft das berichtete Geschehen einer Vielzahl von Perspektivierungen. Im Akt der Versprachlichung amalgamieren sich die tatsächliche Begebenheit und deren subjektive Überformung; die Fülle fiktionaler Einfärbungen läßt dabei das Realsubstrat der Novelle ins Diffuse verschwimmen.128

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tasma« handelt (Wolf Kittler: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 233; Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 96). Eine ähnliche Position vertritt Georg Guntermann, der die ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ als »Fiktion zweiter Ordnung« begreift, die sich »zum Roman – innerhalb der Ebene der Kunst – wie die Kunst zum Leben« verhalte (Georg Guntermann: »Wiederholte Spiegelungen« in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Goethe-Jb. 109 [1992], S. 77–89, hier S. 84). Auf den offenen Schluß der Novelle hat bereits Elisabeth Herrmann hingewiesen (Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 93). Innerhalb der ›Wanderjahre‹ weisen insbesondere die Binnennovellen ›Der Mann von funfzig Jahren‹ und ›Nicht zu weit‹, die beide in einen offenen Schluß münden, einen fragmentarischen Charakter auf. Das im Fall der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ romanimmanent entfaltete Spannungsfeld von Faktizität und Fiktion hat Goethe nach Auskunft Eckermanns für die dichterische Genese der ›Wahlverwandtschaften‹ insgesamt konstatiert: »Von seinen ›Wahlverwandtschaften‹ sagt er, daß darin kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden« (Gespräch mit Eckermann vom 17. Februar 1830. In: Goethes Gespräche. Bd. 4, S. 214–215, hier S. 215.; vgl. dazu Friedrich Nemec: Die Ökonomie der ›Wahlverwandtschaften‹. München 1973, S. 253).

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Die oben beschriebenen Ambivalenz-Signale, die den Eindruck allseitiger Harmonie unterminieren, werden durch jenes spannungsvolle Verhältnis verstärkt, in welchem der Novellenausgang zur Vorgeschichte des Romangeschehens steht. Offenbar liegt den ›Wunderlichen Nachbarskindern‹ eine Begebenheit aus dem Leben des Hauptmanns zugrunde, die im Gegensatz zum Novellengeschehen jedoch kein versöhnliches, sondern ein tragisches Ende genommen hat.129 Während es dem Jüngling in der Novelle gelingt, die Nachbarstochter vor dem Ertrinken zu retten, konnte der Hauptmann den Tod seiner einstigen Verehrerin nicht verhindern: Daß er sich auf dem Landgut Eduards so sorgfältig um Vorkehrungen »zur Rettung der Ertrunkenen« (297) bemüht, wird im Text als Kompensation einer verdrängten »traurigen Erinnerung« kenntlich gemacht (298). Diese indirekte Kommentierung, die die Novelle durch den Roman erfährt, läßt deren manipulativen Gestus deutlich hervortreten; das ›happy end‹ erscheint als phantasmatische Konstruktion, die den tödlichen Ausgang in die Begründung einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung transformiert. Nicht nur der Schluß, sondern der gesamte Text der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ kann als Ergebnis einer Transformation verstanden werden. Einerseits stellt die Novelle als Ganzes die abwandelnde Wiedergabe eines Ereignisses dar, das der Jugendzeit des Hauptmanns entstammt und damit dem Handlungszeitraum des Romans weit vorausliegt. Andererseits erscheinen die ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ aber auch als Neukombination und Umcodierung diverser Elemente aus dem Motiv- und Topographiearsenal jener Begebenheiten, die in den ›Wahlverwandtschaften‹ auf der Zeitstufe der Erzählgegenwart angesiedelt sind. Handlung und Symbolik der Binnennovelle speisen sich über weite Strecken aus dem Zeichenvorrat der wahlverwandtschaftlichen Verstrickungen auf Eduards Landgut. Insofern sind die ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in textgenetischer Hinsicht vom Prinzip der Transformation geprägt. Was der Erzähler der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ über seine Protagonistin bemerkt, kennzeichnet zugleich die Novelle in ihrem Verhältnis zum Roman: »[S]ie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwärts und rückwärts, wie man es nehmen will« (474). Wie eng die Novelle »vorwärts und rückwärts« mit ihrem textlichen Umfeld verklammert ist, zeigt sich etwa am Motiv der Schiffahrt: Während kurz vor der Präsentation der Novelle beiläufig erwähnt wird, daß Ottilie »sich manchmal einer Wasserfahrt [...] erfreute« (465), leitet eine »Wasserlustfahrt« die entscheidende Wende im Schicksal der wunderlichen Nachbarskinder ein (475), deren Erzähler, der Begleiter des englischen Lords, unmittelbar nach Beendigung seiner Erzählung darüber berichtet, wie Ottilie ihn mit der »Gewandtheit«

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Vgl. dazu Wolf Kittler: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 233; Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 94–97; Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 248f.

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einer »schönen Schifferin« gar »angenehm [...] über die Wellen geschaukelt« habe (479f.). Der wichtigste Bezugspunkt der Schiffsmotivik allerdings liegt der Erzählsituation der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ etwas weiter voraus: Es handelt sich um jene Kahnfahrt, die Charlotte im 12. Kapitel des ersten Teils gemeinsam mit dem Hauptmann unternimmt. Die Novelle greift zahlreiche Bestandteile dieser Begebenheit variierend auf: Während der Hauptmann auf der Fahrt mit Charlotte den Kahn »in beliebiger Richtung« lenkt (356), übernimmt der Jüngling in den ›Wunderlichen Nachbarskindern‹ ebenfalls das Schiffsruder (476). Beide Schiffe stranden, was sowohl in der Novelle als auch im Roman auf eine – wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägte – krisenhafte Entscheidungssituation hinweist (357; 476). Beide Männer tragen schließlich ihre weibliche Begleitung an Land, wo es zu einer Liebesbegegnung kommt (358f.; 477f.).130 Hierbei zeigt sich allerdings die entscheidende Differenz zwischen den zwei Handlungssequenzen: Was bei den Nachbarskindern zur emphatischen Vereinigung führt, mündet für Charlotte und den Hauptmann in Entsagung und Verzicht; dem intuitiven Bekenntnis zur wechselseitigen Liebesbindung in der Novelle steht im Roman der rational begründete Trennungsentschluß gegenüber. Auf diese Weise transferieren die ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ eine aus dem Romangeschehen bekannte Motivik in einen neuen Kontext; sie erscheinen somit auf einer strukturellen Ebene nicht nur als Bestandteil der Vorgeschichte, sondern auch als Variation des Romangeschehens. Die Verknüpfung von Analogie und Differenz, die sich im Verhältnis zwischen Novelle und Roman immer wieder beobachten läßt,131 untergräbt den auf den ersten Blick so versöhnlichen Gestus der Binnenerzählung. Indem der harmonisierende Handlungsverlauf der Novelle auf Elemente des wahlverwandtschaftlichen Unheilsgeschehens rekurriert, durchbricht er die ihm in der

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Der enge Zusammenhang zwischen den beiden Episoden in Novelle und Roman reicht bis in einzelne Formulierungen hinein: So heißt es über den Hauptmann, daß er »die liebe Bürde [...] an das Land« trug, die dabei »ängstlich ihre Arme um seinen Hals« geschlungen hielt (358). Auch der Jüngling aus der Novelle brachte »seine schöne Beute aufs Trockene«, die »seinen Hals mit ihren himmlischen Armen [...] umschlang« (477). So greift die Novelle etwa auch auf den im Roman entfalteten Motivkomplex zurück, der um die Rettung der Ertrinkenden zentriert ist. Bis in den Wortlaut hinein rekurriert die Rettung des Mädchens durch den Geliebten auf eine Episode, die sich an Ottilies Geburtstag ereignet. Dank dem entschlossenen Eingreifen des Hauptmanns, der sich »als geschickter Schwimmer« sogleich »ins Wasser stürzte«, gelingt es, einen Knaben vor dem Ertrinken zu bewahren (370). Auch der Jüngling in der Novelle, der ebenfalls als »geschickter Schwimmer« apostrophiert wird, »stürzte sich ins Wasser«, um die Nachbarstochter aus den Fluten zu retten (476). Ebenso wie Charlotte den Hauptmann nach seiner gelungenen Rettungsaktion darum bittet, »nur für sich zu sorgen« (370), entläßt das Mädchen in der Novelle ihren Geliebten, »damit er für sich sorgen möge« (477). Doch auch hier rückt der Kontext die analoge Motivik in ein Gegensatzverhältnis: Während der Hauptmann nach gelungener Rettungsaktion gegenüber Charlotte erklärt, »daß seine Abreise nahe bevorstehe« (372), verspricht der Jüngling der Nachbarstochter, sie »niemals [zu] verlassen« (477). Die im Roman erzählte Trennungsgeschichte wird in der Novelle zu einer Vereinigungsgeschichte umgewandelt.

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wissenschaftlichen Literatur so häufig zugeschriebene Aura des Idealen. Das Strukturprinzip der Analogie, die sich – wie Goethe in einem Aphorismus aus den ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ anmerkt – niemals zu dogmatischer Eindeutigkeit verfestigt, da »sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will«,132 unterläuft die Opposition zwischen tragischem Romanausgang und idyllischem Novellenschluß. Nicht zuletzt durch die Kontextualisierung innerhalb der ›Wahlverwandtschaften‹ erscheint die Beziehung der Nachbarskinder insbesondere gegen Ende der Novelle in einem eigentümlichen Schwebezustand zwischen harmonischer Idealität und trügerischer Fiktion. Wie sich an der irritierten Reaktion Charlottes zeigt, läßt diese Offenheit die Wirkungen des Textes auf seine Rezipienten unkalkulierbar erscheinen. Denn eigentlich war die Novelle von ihrem Erzähler ausdrücklich zur unverfänglichen Unterhaltung seiner Zuhörerinnen gedacht. Ein vorangegangener »Mißgriff« in der Gesprächsführung, der Ottilie »in den schrecklichsten Zustand versetzt« hatte, sollte durch den Vortrag »einer zwar sonderbaren, aber sanfteren Begebenheit« wieder ausgeglichen werden (468–470). Gleichwohl verkehrt sich die gute Absicht in ihr Gegenteil: Charlotte ist von der Erzählung so stark betroffen, daß sie wortlos das Zimmer verläßt (vgl. 479). Die gravierende Fehleinschätzung, die dem Novellen-Erzähler unterläuft, ist deswegen besonders auffällig, weil er – anders als der englische Lord – offensichtlich über detaillierte Kenntnisse der vorangegangenen Geschehnisse verfügt und zugleich eine gewisse Sensibilität für das wahlverwandtschaftliche Konfliktpotential aufweist: »Dieser [der Lord] wußte nichts von den Verhältnissen der Familie; allein jener [sein Begleiter], den eigentlich auf der Reise nichts mehr interessierte als die sonderbaren Ereignisse, welche durch natürliche und künstliche Verhältnisse, durch den Konflikt des Gesetzlichen und des Ungebändigten, des Verstandes und der Vernunft, der Leidenschaft und des Vorurteils hervorgebracht werden, jener hatte sich schon früher und mehr noch im Hause selbst mit allem bekannt gemacht, was vorgegangen war und noch vorging« (470, meine Hervorhebung). Damit entspricht der Informationsstand des Begleiters in etwa dem des Lesers. Doch trotz seines umfassenden Wissens ist der Begleiter nicht in der Lage, die emotionale Brisanz der Novelle für Charlotte adäquat einzuschätzen. Die Vieldeutigkeit und Ambivalenz der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ läßt auf Seiten des Rezipienten ganz unterschiedliche Aktualisierungen zu, die sich jeglicher auktorialen Kontrolle entziehen.133 Während der Erzähler der Novelle deren Inhalt wohl eher als versöhnliche Antithese zur tristen Roman132 133

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 571. Die Polyvalenz der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹, die unterschiedliche rezeptive Aneignungen ermöglicht, kann als narrative Umsetzung einer Äußerung Goethes über seine Zeichnungen verstanden werden, die er am 26. Februar 1780 in seinem Tagebuch festhält: »Die Sachen haben kein detail sondern ieder Mensch macht sich drinn sein eignes« (Goethes Tagebücher. 1780. In: WA III, 1, S. 105–126, hier S. 109).

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wirklichkeit begreift, rufen die oben beschriebenen Analogien bei Charlotte eine schmerzvolle Erinnerung an ihre Erlebnisse mit dem Hauptmann hervor. Ein Blick ins Innenleben von Eduards Gattin bleibt dem Leser an dieser Stelle allerdings verwehrt. Er kann lediglich darüber spekulieren, welche psychischen Mechanismen die für Charlottes beherrschten Charakter ungewöhnlich heftige Reaktion herbeiführen. Erblickt sie in der Nachbarstochter voller Eifersucht eine Rivalin, der einst die leidenschaftliche Zuneigung des Hauptmanns galt? Identifiziert sie sich mit der Novellen-Protagonistin, um auf der Kontrastfolie von deren Liebesglück den Schmerz des eigenen Verzichts nur desto deutlicher zu empfinden? Versteht sie die ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ als Plädoyer für die Unbedingtheit der Liebe, die sich über alle gesellschaftlichen Zwänge hinwegzusetzen hat, und sieht sie dadurch ihre entschiedene Absicht, an der Ehe mit Eduard festzuhalten, in Frage gestellt?134 Oder ist sie deswegen erschüttert, weil sie den in Wahrheit tödlichen Ausgang des in der Novelle berichteten Geschehens trotz aller Verklärungstendenzen nicht aus dem Blick verliert? Diese Leerstelle innerhalb der psychologischen Motivation verweist noch einmal auf die irreduzible Polyvalenz der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹; die interpretatorische Offenheit und gehaltliche Unbestimmtheit der Novelle wird durch ihre romanimmanente Rezeption deutlich herausgestellt.135 Indem die ›Wunderlichen Nachbarskinder‹ eine Vielzahl unterschiedlicher Auslegungsmöglichkeiten eröffnen, illustrieren sie auf der Ebene der Erzählung, was die chemische Gleichnisrede auf der Ebene der Einzelworte »Verwandtschaft« und »Wahlverwandtschaft« vorgeführt hat. Der Rezipient ist im Akt des Verstehens an der Generierung der Sprachbedeutung entscheidend beteiligt; die Semantik sprachlicher Äußerungen erfährt in jedem Individuum eine von dessen subjektivem Wahrnehmungshorizont abhängige und daher variierende Realisierung. Während der Begleiter des Lords den ›Wunderlichen Nachbarskindern‹ eine unterhaltende und versöhnliche Wirkung unterstellt, erfährt Charlotte aus ihrem persönlichen Rezeptionshorizont heraus die Erzählung als seelische Verletzung. In dieser perspektivischen Bedingtheit der Sprachbedeutung liegt die entscheidende Differenz zwischen der verbalen Repräsentation der Novelle und der visuellen Reproduktion der ›camera obscura‹. Während der Abbildungsmechanismus der dunklen Kammer unabhängig vom Rezipienten zu einer mimetischen Verdopplung der äußeren Wirklichkeit führt, eignet sich 134 135

So Margarethe Beckurts: Zur Bedeutung der Novelle in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 67. Eine gewisse Unbestimmtheit kennzeichnet bereits die vermutliche Quelle der ›Wunderlichen Nachbarskinder‹, einen von Goethe im ›Zweiten Römischen Aufenthalt‹ referierten Zeitungsartikel, aus welchem sich der genaue Hergang der berichteten Begebenheit nicht rekonstruieren läßt: »Es fanden sich Umstände bei dem Falle die ihn verwickelt und interessant machten, es blieb zweifelhaft ob sie sich ins Wasser gestürzt um den Tod zu suchen, so wie auch, welcher von ihren Verehrern, der Begünstigte oder Verschmähte, sich zu ihrer Rettung gewagt« (Johann Wolfgang Goethe: Zweiter Römischer Aufenthalt. In: FA 15/1, S. 373–597, hier S. 454).

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die Sprache nicht zu einer solchen ausschließlich objektorientierten Repräsentation. Anders als der Betrachter innerhalb der ›camera obscura‹ sieht sich der Rezipient verbaler Äußerungen zur aktiven Sinnproduktion aufgerufen. Die arbiträren Zeichen der Sprache erlauben ein breites Spektrum unterschiedlicher Semantisierungen, wohingegen die mit Hilfe der dunklen Kammer erzeugten Bilder durch ihren ikonischen Darstellungsmodus eindeutig auf bestimmte Referenzobjekte bezogen sind. Aus dem Unbestimmtheitsmoment sprachlichen Bezeichnens resultiert einerseits die Gefahr des Mißverstehens, der Ottilie in ihrem Tagebuch einige Bemerkungen widmet,136 andererseits eröffnet es aber auch einen ästhetischen Freiraum, welcher der sklavischen Abbildungstreue der dunklen Kammer verschlossen bleibt: Nicht zufällig illustriert Goethe die interpretatorische Offenheit mit den ausdrücklich als »Novelle« klassifizierten ›Wunderlichen Nachbarskindern‹ gerade am Beispiel einer Dichtung.

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So vermerkt Ottilie in ihrem Tagebuch einige Sentenzen, die ihr späteres Verstummen vorwegnehmen: »Niemand würde viel in Gesellschaften sprechen, wenn er sich bewußt wäre, wie oft er die andern mißversteht. Man verändert fremde Reden beim Wiederholen nur darum so sehr, weil man sie nicht verstanden hat. [...] Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn« (419).

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5.

Erstarrtes Leben und verlebendigte Kunst – Zur ästhetischen Dialektik der ›tableaux vivants‹

Während es den Zeichnungen des englischen Lords um eine möglichst realitätsnahe Repräsentation der empirischen Wirklichkeit geht, ist der Abbildungsvorgang der ›tableaux vivants‹ durch eine konträre Verlaufsrichtung gekennzeichnet. Sie präsentieren keine bildliche Wiedergabe der Realwelt, sondern leisten, indem sie Darsteller und Requisiten möglichst exakt nach Maßgabe eines ausgewählten Gemäldes arrangieren, eine Art Rückübersetzung der piktoralen Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität, die mit der ursprünglichen Referenz der Bildvorlage nahezu übereinstimmt.137 In den ›Wahlverwandtschaften‹ erhalten die ›tableaux vivants‹, deren ontologischer Status an der Schnittstelle zwischen Kunst und Leben angesiedelt ist, verschiedene ästhetische und poetologische Codierungen, die eng mit dem inhaltlich-thematischen Aussagewert der Bildinszenierungen verflochten sind. Im folgenden soll zunächst die ästhetische Eigenart der lebenden Bilder in den ›Wahlverwandtschaften‹ umrissen und vor dem Hintergrund der in verschiedenen theoretischen Texten Goethes entfalteten Verhältnisbestimmung von Natur und Kunst genauer charakterisiert werden (5.1.). Daraufhin versuche ich, die wirkungsästhetischen Implikationen der ›tableaux vivants‹ herauszuarbeiten, die – indem sie den Perspektivismus der Bildwahrnehmung und -deutung akzentuieren – die in der chemischen Gleichnisrede entwickelten poetologischen Prinzipien auf den Bereich der bildenden Kunst übertragen (5.2.). Abschließend wird der insbesondere durch Luciane praktizierte reproduktive Inszenierungsgestus der ›tableaux vivants‹ mit der produktiven Semantisierung der Bildvorlagen innerhalb des Romankontextes kontrastiert (5.3.).

5.1. Der Kunst-Charakter der ›tableaux vivants‹ vor dem Hintergrund der ästhetischen Schriften Goethes Die spezifische Präsentationsform der ›tableaux vivants‹ überführt die beteiligten Darsteller für die Dauer der Inszenierung in die Sphäre der Kunst. Der Körper der Akteure wird Bestandteil einer vorgegebenen Bilderordnung, die als »bekannte[s] Gemälde« im piktoralen Gedächtnis der Zuschauer gespeichert 137

Den kunstgeschichtlichen Stellenwert der lebenden Bilder erläutert die materialreiche Studie von Birgit Jooss: Lebende Bilder. Berlin 1998.

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ist, und erhält damit eine ästhetische Aura, die ihn der banalen Alltagsexistenz entrückt (427). Komplementär zu dieser Ästhetisierung des Körpers erfolgt im ›tableau vivant‹ eine Naturalisierung der Bildvorlage: Die Repräsentationsstruktur des Gemäldes, die eine räumliche Konstellation in eine flächige Abbildung überführt, wird in körperlich greifbare Präsenz zurückverwandelt; an die Stelle zweidimensionaler Vermittlung tritt die Inszenierung dreidimensionaler Unmittelbarkeit. Im Zuge dieser Transformation piktoraler Abbildung in körperliche Darstellung wird das ausgewählte Gemälde, das – wie aus einer Äußerung Charlottes sowie aus einem Eintrag in Ottilies Tagebuch hervorgeht – als Gemälde generell auf etwas Abwesendes und Vergangenes verweist,138 in den Modus des Gegenwärtigen versetzt. Allerdings bleibt das ›tableau vivant‹ trotz seiner unmittelbaren und präsentischen Gegebenheitsweise streng auf die ihm zugrundeliegende Bildvorlage bezogen und gerät dadurch in eine semiotische Doppelwertigkeit. Es erscheint als Vergegenwärtigung einer »andern Welt«, die durch eine »Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins« gekennzeichnet ist und deshalb beim Publikum eine »ängstliche Empfindung« hervorruft (428). Dabei stellt die »Nachbildung [...] bekannte[r] Gemälde« einerseits eine Art Repräsentation der Repräsentation dar und erhält somit einen potenzierten Abbild-Status, der in den ›Wahlverwandtschaften‹ dadurch noch weiter gesteigert wird, daß die inszenierten ›tableaux vivants‹ nicht direkt auf bestimmte Bildvorlagen zurückgehen, sondern sich am Reproduktionsmittel des Kupferstichs orientieren (427).139 Andererseits gewinnen die lebenden Bilder ihren »unglaublichen Reiz« nicht zuletzt durch eine (scheinbare) Rekonstruktion des ursprünglich Abgebildeten (427): An die Stelle der piktoralen Substitution treten die substituierten Körper, das distanzschaffende Medium des Bildes wird auf die in ihm dargestellte Situation zurückgeführt, die der medialen Repräsentation vorausliegt. Die Ambivalenz zwischen potenzierter Repräsentation und unmittelbarer Präsenz kennzeichnet auch die Situation der an den Bildinszenierungen beteiligten Darsteller. So kann etwa Luciane bei der Inszenierung eines Gemäldes 138

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So begründet Charlotte in der Diskussion über die Umgestaltung des Friedhofs ihre »Abneigung [...] gegen Bildnisse« folgendermaßen: »[S]ie deuten auf etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich, wie schwer es sei, die Gegenwart recht zu ehren« (399). Ottilie greift diesen Gedankengang in ihrem Tagebuch auf: »Es gibt mancherlei Denkmale und Merkzeichen, die uns das Entfernte und Abgeschiedene näher bringen. Keins ist von der Bedeutung des Bildes« (403). In karikierender Überspitzung zeigt sich der hier formulierte substitutive Charakter des Bildes an Lucianes Bestreben, die Abwesenheit ihres Affen durch den Anblick seines Porträts zu kompensieren, was sie folgendermaßen formuliert: »[W]ie bin ich nicht unglücklich! Ich habe meinen Affen nicht mitgenommen [...] Wenn ich nur sein Bildnis sehen könnte, so wäre ich schon vergnügt« (417). Goethe reflektiert in einer Joseph Bossis ›Del cenacolo di Leonardo da Vinci‹ gewidmeten Rezension kurz über den reproduktiven Charakter von Kupferstichen und weist darauf hin, daß diese »von den Originalen verschieden« seien (Johann Wolfgang Goethe: Abendmahl von Leonardo da Vinci zu Mayland. In: FA 20, S. 247–279, hier S. 264).

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von Ter Borch »in ihrem höchsten Glanze erscheinen«, da sie sich aufgrund ihrer körperlichen Disposition ideal zu dieser »natürlichen Bildnerei« eignet (429 u. 427). Allerdings geht keine der beteiligten Figuren in ihrer jeweiligen Rolle im ›tableau‹ völlig auf. Immer wieder akzentuiert der Text die von den fiktiven Zuschauern unbemerkte Differenz zwischen Darsteller und Dargestelltem, die die illusionierende Wirkung der lebenden Bilder ironisch subvertiert. So heißt es über den Darsteller des bettelarmen blinden Belisar, daß er »freilich reich genug war« (430), und über den Architekten erfährt der Leser, daß er dem von ihm gemimten Soldaten lediglich »etwas ähnlich sah« (427). Die hintergründigste Ironisierung freilich betrifft Lucianes Rollenspiel bei der Inszenierung der ›Väterlichen Ermahnung‹: Wenn Luciane hier als »beschämt scheinende Tochter« auftritt, verweist das zunächst einmal darauf, daß ihr überaus selbstgerechter Charakter der von Scham geprägten Rollenzuschreibung im ›tableau‹ zuwiderläuft (429, meine Hervorhebung).140 Allerdings kennzeichnet diese Wendung nicht nur Lucianes Darstellungsweise, sondern auch die auf der Bildvorlage dargestellte Situation selbst als scheinhaft und doppelbödig: Hinter der auf den ersten Blick so bürgerlich-wohlanständigen Familienszenerie verbirgt sich vermutlich die Offerte eines Kavaliers an eine Prostituierte in einem Bordell.141 Der Rekurs auf die ›Väterliche Ermahnung‹ ist in Goethes Text demnach mit einer potenzierten Akzentuierung des Illusionären verknüpft: Die für das Verhältnis von Romanfigur und ›tableau‹-Rolle charakteristische Diskrepanz zwischen Sein und Schein findet auf der Ebene des Ter Borchschen Gemäldes eine aufschlußreiche Entsprechung. Durch die deutlich markierte Differenz zwischen der Sphäre der Bildvorlagen einerseits und der fiktionalen Wirklichkeit der Romanfiguren andererseits bleibt die kategoriale Trennung der Bereiche Kunst und Leben auch im Moment ihrer strukturellen Verschmelzung im ›tableau vivant‹ klar erkennbar. Dies zeigt sich auch anhand des Gegensatzverhältnisses zwischen Zeitlichkeit und Zeitenthobenheit, das die fiktive Lebensrealität der Romanfiguren vom ästhetischen Binnenraum der lebenden Bilder abgrenzt. Das Bild, so die bei der Beschreibung der ›tableaux vivants‹ durch den Erzähler implizierte Diagnose, ist als Repräsentationsmedium von einer spezifischen Statik gekennzeichnet. Aus einer analogen Charakterisierung hatte Lessing in seinem überaus wirkmächtigen und von Goethe intensiv rezipierten142 Aufsatz ›Laokoon: oder über 140 141

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Zur »Selbstigkeit« Lucianes vgl. insbesondere 434. Vgl. dazu Sturla J. Gudlaugsson: Gerard ter Borch. 2 Bde. Bd. 1. Den Haag 1959, S. 96f. sowie Waltraud Maierhofer: Vier Bilder und vielfältige Bezüge. Die sogenannte ›väterliche Ermahnung‹ und die Figuren der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Richard B. Fisher, Wolfgang Wittowski (Hg.): Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Fs. für Wolfgang Wittowski zum 70. Geburtstag. Frankfurt a. M., Berlin, Bern 1995, S.363–383. Vgl. dazu auch S. 141, Anm. 234 der vorliegenden Studie. Daß Goethe sich mit dem ›Laokoon‹ bereits in seiner Leipziger Zeit ausführlich auseinandergesetzt hat, bezeugt das achte Buch von ›Dichtung und Wahrheit‹, wo von der »Herrlichkeit«

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die Grenzen der Malerei und Poesie‹ das Unvermögen der bildenden Kunst abgeleitet, auf zeitlicher Sukzession basierende Handlungssequenzen adäquat – das heißt für Lessing: vermittels natürlicher Zeichen – zu vergegenwärtigen. Einzig die Simultaneität von »Figuren und Farben in dem Raume«, so Lessings restriktives Postulat, ist der angemessene Darstellungsgegenstand für Maler und Bildhauer.143 Goethe überträgt nun in den ›Wahlverwandtschaften‹ die spezifische Zeitenthobenheit der bildenden Künste auf die Inszenierungssituation der ›tableaux vivants‹. Die Darsteller der lebenden Bilder imitieren nicht nur das Sujet des jeweils ausgewählten Gemäldes, sondern orientieren sich auch an dessen Eigenart als ästhetischem Medium. Sie treten für die Dauer der Inszenierung gleichsam aus dem Zeitfluß heraus und erstarren zu einer Formation, deren Kunstcharakter nicht zuletzt in einer prononcierten Statik besteht.144 Die dem ›tableau vivant‹ eigentümliche Beschränkung auf die bewegungslose Darstellung eines ausschnitthaften Augenblicks führt bei der Abbildung zeitlicher Vorgänge zu einem repräsentationslogischen Problem, auf das der Erzähler bei der Schilderung der »Väterlichen Ermahnung« implizit hinweist: »[U]nd was die Mutter betrifft, so scheint diese eine kleine Verlegenheit zu verbergen, indem sie in ein Glas Wein blickt, das sie eben auszuschlürfen im Begriffe ist« (429). Wenig später wendet sich der Erzähler diesem charakteristischen Detail noch einmal zu, wenn er die abweisende Reaktion der Darsteller auf den Wunsch der Zuschauer, die starre Bildanordnung in Bewegung zu versetzen, folgendermaßen beschreibt: »[D]er Vater blieb in seiner ermahnenden Stellung sitzen, und die Mutter brachte Nase und Augen nicht aus dem durchsichtigen Glase, worin sich, ob sie gleich zu trinken schien, der Wein nicht verminderte« (429). Das Verbum »ausschlürfen« steht hierbei in einer paradoxen Spannung zu der Feststellung, daß sich der Wein im Glas »nicht verminderte«. Diese Spannung zwischen Starre und Bewegung, der sich mit anderer Akzentuierung wenig später auch Ottilie bei der Inszenierung des Präsepe ausgesetzt sieht,145 verweist

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der »Haupt- und Grundbegriffe« der Lessingschen Abhandlung die Rede ist (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, S. 346). Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: G.E.L.: Werke und Briefe. 12 Bde. Hg. v. Wilfried Barner. Bd. 5/ 2: Werke 1766–1769. Frankfurt a. M. 1990, S. 11–321, hier S. 116. Die Affinität der ›tableaux-vivants‹-Passagen zu Lessings Darlegungen beschränkt sich nicht auf das bildkünstlerische Charakteristikum einer temporalen Simultaneität: Indem die ›tableaux vivants‹ die Zweidimensionalität der Bildvorlagen in die Dreidimensionalität der Plastik überführen, treten sie auch in ein spatiales Analogieverhältnis zum Referenzobjekt des LaokoonAufsatzes. Ihre Darstellung der Maria im zweiten Präsepe führt bei Ottilie zu einer schmerzvollen Entfremdungserfahrung, die der Erzähler mit folgenden Worten beschreibt: »Ihr Herz war befangen, ihre Augen füllten sich mit Tränen, indem sie sich zwang immerfort als ein starres Bild zu erscheinen; und wie froh war sie, als der Knabe [der das Jesuskind darstellt] sich zu regen anfing und der Künstler sich genötiget sah das Zeichen zu geben, daß der Vorhang fallen sollte« (441, meine Ergänzung).

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auf einen Themenkomplex, dem bereits Winckelmann und wiederum Lessing aufschlußreiche Bemerkungen gewidmet haben. Es geht um die Frage, ob und inwiefern das statische Zeichensystem der bildenden Künste beim Betrachter den Eindruck einer dynamischen Bewegung des jeweiligen Referenzobjektes hervorzurufen vermag.146 Die »Beschreibung des Apollo im Belvedere«, die der von Goethe mit einer berühmten Denkschrift beehrte Johann Joachim Winckelmann im Jahre 1757 verfaßte147 und später in seine ›Geschichte des Altertums‹ einfügte, kulminiert in einer imaginativ überformten Impression der berühmten Skulptur, die in ihrer Akzentuierung des Scheinhaft-Illusionären der Deskription der ›tableaux vivants‹ in den ›Wahlverwandtschaften‹ nahesteht: »Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selber einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben [...]: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit«.148 Der Eindruck einer lebendigen Dynamik verdankt sich hier weniger der materialen Präsenz der apollinischen Skulptur als vielmehr der produktiven Einbildungskraft des Betrachters, der im obigen Zitat charakteristischerweise nicht von der berühmten Plastik selber, sondern von »mein[em] Bild« von ihr spricht.149 Zu einer ähnlichen Lösung des bei Winckelmann nur implizierten bildkünstlerischen Darstellungsproblems gelangt Lessing, der dem bildenden Künstler wegen der seinem Medium fehlenden zeitlichen Dimension jede Möglichkeit zur ikonischen Bewegungsrepräsentation abspricht: »Der Maler kann die Bewegung nur erraten lassen, in der Tat aber sind seine Figuren ohne Bewegung«.150 Die Bewegtheit des abgebildeten Referenzobjekts wird erst durch eine vom materialen Zeichenträger lediglich angestoßene Aktivität des Rezipienten realisiert, deren Eigenart Lessing im Zusammenhang mit seiner Definition jenes »einzige[n] Augenblick[s], an den die materiellen Schranken der Kunst alle

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Auf die bei Winckelmann zu beobachtende »Tendenz zur Verlebendigung der griechischen Plastik« hat im Zusammenhang mit den ›tableaux vivants‹ bereits Heike Brandstätter hingewiesen, ohne allerdings die zentrale Rolle zu berücksichtigen, die der Einbildungskraft des Betrachters bei dieser Verlebendigung zukommt (Heike Brandstädter: Der Einfall des Bildes, S. 153). Zur Datierung vgl. Walther Rehm, Hellmuth Sichtermann: Kommentar. In: Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Hg. v. Walther Rehm. Berlin 1968, S. 291–509, hier S. 503. Johann Joachim Winckelmann: Beschreibung des Apollo im Belvedere in der Geschichte der Kunst des Altertums. In: J. J. W.: Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Hg. v. Walther Rehm. Berlin 1968, S. 267–268, hier S. 268 (meine Hervorhebung). Zur »pygmalionischen Illusion« der Verlebendigung in Winckelmanns Statuenbeschreibungen siehe die exzellenten Ausführungen von Inka Mülder-Bach (Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der »Darstellung« im 18. Jahrhundert. München 1998, hier S. 20–25). Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, S. 155.

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ihre Nachahmungen binden«, genauer beschreibt:151 »Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; [...] so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben«.152 Die ikonische Defizienz, die als »materielle Schranke« der mimetischen Repräsentation von Bewegung in Werken der bildenden Kunst entgegensteht, kann lediglich durch eine imaginative Aktivierung des Betrachters kompensiert werden. Auch in den nachgelassenen Paralipomena zum ›Laokoon‹ akzentuiert Lessing in diesem Zusammenhang den Anteil des Rezipienten: »Den Schranken der bildenden Künste zu Folge, sind alle ihre Figuren unbeweglich. Das Leben der Bewegung, welche sie zu haben scheinen, ist der Zusatz unsrer Einbildung; die Kunst tut nichts, als daß sie unsere Einbildung in Bewegung setzt«.153 Die durch die Einbildungskraft des Rezipienten ermöglichte Dynamisierung des Kunstwerks, die ›mutatis mutandis‹ auch Goethe in seiner LaokoonAbhandlung anklingen läßt,154 scheint im Falle der ›tableaux vivants‹ nicht zu

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Ebd., S. 31f. Ebd., S. 32. Ebd., S. 296. Goethe modifiziert in seiner Schrift Über Laokoon den fruchtbaren Augenblick Lessings zu einem Moment der simultanen Darstellung verschiedener unmittelbar aufeinander folgender Handlungsphasen (vgl. dazu Goethes Beschreibung des Laokoon: »[D]a sich nun doch in den Füßen, die gefesselt, und in den Armen, die ringend sind, der Überrest der vorhergehenden Situation oder Handlung zeigt, so entsteht eine Zusammenwirkung von Streben und Fliehen, von Wirken und Leiden, von Anstrengen und Nachgeben« [Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon, S. 494]). Allerdings lassen sich die im Kunstwerk zu einem einzigen Moment komprimierten aufeinanderfolgenden Augenblicke nur in der Einbildungskraft des Rezipienten zu einem bewegten Nacheinander ausfalten, was Goethe durch die Beobachtung andeutet, daß der Betrachter gerade durch das Schließen seiner Augen die Laokoon-Gruppe als belebt erfährt: »Um die Intention des Laokoons recht zu erfassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung, mit geschlossnen Augen, davor, man öffne sie und schließe sie sogleich wieder, so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden« (ebd., S. 493). Ähnlich wie bei Lessing geht die Dynamisierung der Plastik also auch für Goethe nicht aus der reinen sinnlichen Wahrnehmung, sondern aus einer von dieser angestoßenen inneren Aktivität des Betrachters hervor. – Das von Goethe in seiner Laokoon-Abhandlung beschriebene bildkünstlerische Prinzip einer simultanen Darstellung zeitlich sukzessiver Handlungsphasen läßt sich auch anhand der Schilderung des Gemäldes vom kranken Königssohn in den Lehrjahren beobachten. Dem im 17. und 18. Jahrhundert äußerst beliebten Bildmotiv liegt folgende in drei Phasen untergliederte Geschichte zugrunde: (1) Der syrische König Seleukos hat sich in zweiter Ehe mit der jungen Stratonike verbunden; Antiochos, sein Sohn aus erster Ehe, leidet seither an einer schweren Krankheit. (2) Der Arzt Erasistratos identifiziert als Ursache der Krankheit eine durch Stratonike ausgelöste Liebesmelancholie. (3) Daraufhin verzichtet Seleukos auf Stratonike, um die Heilung seines

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funktionieren. So zeigt das von den Zuschauern der ›Väterlichen Ermahnung‹ geäußerte Bedürfnis, die starren Figuren des lebenden Bildes in reale Bewegung zu versetzen, daß die imaginative Verlebendigung hier offenbar ausbleibt: Der Ausruf »Tournez s’il vous plaît«, der auf eine »allgemeine Beistimmung« stößt, verrät eine enttäuschte Illusionserwartung (394); dem Publikum gelingt es nicht, die unbewegte Formation phantasmatisch zu dynamisieren.155 Die durch die körperliche Präsenz der Akteure erzeugte Realitätsnähe der ›tableaux vivants‹ eliminiert jene repräsentationslogischen Leerstellen,156 an denen sich die Einbildungskraft der Zuschauer entzünden könnte. Auf diese Weise blockiert die Transformation der zweidimensionalen Bildvorlage in ein dreidimensionales ›tableau vivant‹ die rezeptive Imaginationsfähigkeit des Betrachters und erweckt dadurch das Verlangen, die starre Künstlichkeit der Inszenierung auf die Bewegtheit des Lebens hin zu überschreiten. Diesem »natürlichen Wunsch«, der im Horizont der Goetheschen Ästhetik als ein naturalisierendes und damit entschieden negativ bewertetes Bestreben zu qualifizieren ist,157 setzen die Darsteller ein Beharren auf dem »Sinn dieser Kunststücke« – und damit auf dem ästhetischen Charakter ihrer Darbietung – entgegen (394, meine Hervorhebung). Sie weigern sich geschlossen, dem »allgemeinen Ruf« nachzugeben: »Die beschämt scheinende Tochter blieb ruhig stehen, ohne den Zuschauern den Ausdruck ihres Gesichts zu gönnen; der Vater blieb in seiner ermahnenden Stellung sitzen, und die Mutter brachte Nase und Augen nicht aus dem Glase« (429). Damit bleibt die Bewegungslosigkeit als Differenzkriterium, das die Sphäre der ästhe-

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Sohnes zu ermöglichen. Die auf dem Bild dargestellte Diagnose der Krankheitsursache durch Erasistratos wird im Verlauf der Lehrjahre auf unterschiedliche Phasen der zugrundeliegenden Geschichte bezogen, und zwar sowohl auf den vorausgehenden als auch auf den unmittelbar nachfolgenden Handlungsabschnitt: Während Wilhelms Betrachtung zunächst das liebeskranke Siechtum des Antiochos fokussiert (erste Phase), rückt nach der Begegnung mit der schönen Amazone zunehmend die durch den Verzicht des Seleukos ermöglichte heilende Liebeserfüllung in den Vordergrund, die als dritte Phase des Geschehens auf der Bildvorlage gar nicht dargestellt ist . So werden in Wilhelms Wahrnehmung zwei asynchrone Entwicklungssequenzen des Bild-Sujets auf den im Gemälde dargestellten augenblickshaften Handlungsausschnitt projiziert (Vgl. dazu ausführlich Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes, S. 176–185). Dieses Illusionierungsdefizit hinsichtlich der Darstellung von Bewegung verkennt Nils Reschke, wenn er konstatiert, »daß die Illusionswirkung der ›lebenden‹ Bilder die der ›toten‹ Vorlagen überbietet« (Nils Reschke: »Die Wirklichkeit als Bild«. Die ›tableaux vivants‹ der ›Wahlverwandtschaften‹. In: Gabriele Brandstetter [Hg.]: Erzählen und Wissen. Freiburg i. Brsg. 2003, S. 137–167, hier S. 153). Zum Begriff der »Leerstelle« siehe Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 21984, S. 284–315. So wirft etwa die Figur des Zuschauers in Goethes fiktivem Gespräch Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke die rhetorische Frage auf, ob der Wunsch nach einer Nivellierung der Grenze zwischen Kunst und Leben dem intellektuellen Unvermögen bestimmter Rezipienten entspringe: »Sollte der ungebildete Liebhaber nicht eben deswegen verlangen, daß ein Kunstwerk natürlich sei, um es nur auch auf eine natürliche, oft rohe und gemeine Weise genießen ›zu‹ können?« (Johann Wolfgang Goethe: Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. In: FA 18, S. 501–507, hier S. 505f.).

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tischen Inszenierung von der Lebensrealität der Figuren trennt, strikt gewahrt; trotz ihres gegenüber der jeweiligen Vorlage gesteigerten Präsenzcharakters sind die lebenden Bilder durchgängig als künstliche Arrangements erkennbar. Im Darstellungsmodus des ›tableau vivant‹ rückt der reale Körper in einen Bildzusammenhang ein, der – in seiner dem piktoralen Medium geschuldeten Fixierung auf einen ausschnitthaften Augenblick – die zeitliche Sukzession als Signatur des Lebendigen eliminiert.158 Vor diesem Hintergrund offenbaren die lebenden Bilder eine Tendenz zur Mortifikation,159 die Goethe übrigens auch als theaterpraktisches Mittel einzusetzen versteht, wenn er bei einer Inszenierung seiner ›Proserpina‹ das Totenreich des Hades in Form eines ›tableau vivant‹ auf die Bühne bringt.160 Die Selbst-Ästhetisierung zum piktoralen Kunst-Körper gelingt – so läßt sich aus der leitmotivisch hervorgehobenen Starre der ›tableaux vivants‹ folgern – nur um den Preis eines symbolischen Todes. In dieser Hinsicht verweist die spezifische Inszenierungsform der lebenden Bilder auf einen allgemeinen kunsttheoretischen Zusammenhang, den Goethe seit dem Beginn seiner klassischen Periode wiederholt dargelegt hat. Die Kunst muß für das ontologische Privileg einer überzeitlichen Dauer mit Leblosigkeit bezahlen und ist daher mit dem Attribut des Todes behaftet. So lautet eine berühmte Formulierung in ›Diderots Versuch über die Malerei‹: »Die Natur organisiert ein lebendiges, gleichgültiges Wesen, der Künstler ein totes, aber ein bedeutendes,

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Für Brigitte Peuckert resultiert aus dem Zusammenspiel von Körper und Bildvorlage innerhalb des ›tableau vivant‹ eine charakteristische Ambivalenz: »[T]he arrested motion or ›freezing‹ – hence death – of the human body, on the one hand, and the embodiment or ›bringing to life‹ of the inanimate image on the other« (Brigitte Peuckert: The Material Image in Goethe’s ›Wahlverwandtschaften‹. In: The Germanic Review 74 [1999], S. 195–213, hier S. 209f.; ähnlich Karin Leonhard: Goethe, Diderot und die Romantik. Die Darstellung lebender Bilder in den ›Wahlverwandtschaften‹. In: Jb. des Freien Deutschen Hochstifts [2003], S. 29–54, hier S. 40). Die Korrelation von Bild und Tod tritt an der Figur Ottilies besonders deutlich hervor: Eduards Geliebte versucht in einem Aphorismus aus ihrem Tagebuch das »Leben nach dem Tod« als ein »Leben im Bilde« zu begreifen (404). Mit dieser Denkfigur antizipiert sie ihr eigenes Schicksal: Nicht zufällig macht sie gerade in jener Kapelle, deren Wände vom Architekten mit ihren Gesichtszügen bemalt wurden, jene Erfahrung einer merkwürdigen Entrücktheit, die man als Todesahnung klassifizieren kann (vgl. 407f.; siehe dazu David E. Wellbery: ›Die Wahlverwandtschaften‹ [1809], S. 300f.; Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 129f.). Später wird Ottilie dann tatsächlich in der Kapelle beigesetzt, und noch der Schlußsatz des Romans bestätigt die enge Verknüpfung von Bild und Tod, indem er mit hintergründiger Ironie auf die »verwandten Engelsbilder« hinweist, in denen sich Ottilies Gesichtszüge über ihrer Grabstätte verewigt haben (529). Goethe hat der erfolgreichen Weimarer Inszenierung der ›Proserpina‹ aus dem Jahre 1815 eine kurze Abhandlung gewidmet, die unter anderem auf das »Tableau des Schlusses« eingeht, »wo man das Schattenreich erblickt, erstarrt zum Gemälde« (FA 19, S. 712). – Die mortifizierende Tendenz der lebenden Bilder haben, ohne den Hinweis auf die ›Proserpina‹, Elisabeth Herrmann und Claudia Öhlschläger detailliert herausgearbeitet (Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 130–141; Claudia Öhlschläger: »Kunstgriffe« oder Poiesis der Mortifikation. In: Gabriele Brandstetter [Hg.]: Erzählen und Wissen. Freiburg i. Brsg. 2003, S. 187–204).

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die Natur ein wirkliches, der Künstler ein scheinbares«.161 Wie Mathias Mayer überzeugend nachgewiesen hat, rekurriert Goethe zur Illustration dieses Theorems im 100. ›Venetianischen Epigramm‹ sowie in implizit-indirekter Weise im Sonett ›Das Mädchen spricht‹ auf den Midas-Mythos, der durch die »Verwandlung von lebendem Wesen in das unveränderliche Gold« eine »gleichzeitige Tötung und Verewigung von Leben« vor Augen führt.162 In den ›Wahlverwandtschaften‹ verweist die polarisierende Gegenüberstellung von Natur und Kunst hinsichtlich der Kategorien Leben und Tod auf die strikte Grenzziehung zwischen außerästhetischer Wirklichkeit und ästhetischer Schöpfung – eine Grenzziehung, die Goethe auch in seinen theoretischen Schriften immer wieder deutlich hervorhebt. So konstatiert er etwa in der für das Verständnis seiner klassischen Ästhetik grundlegenden ›Einleitung in die Propyläen‹: »Die Natur ist von der Kunst durch eine ungeheure Kluft getrennt«.163 Diese Kluft prägt bereits die der künstlerischen Gestaltung vorausgehende Wahrnehmung der Objektsphäre, wie Goethe in einem Briefentwurf an Schiller vom 25. Oktober 1797 notiert: »Denn wenn man der Sache recht genau nachgeht so sieht man, daß nicht allein die Gegenstände der Kunst sondern schon die Gegenstände zur Kunst eine gewisse Idealität an sich haben, denn indem sie bezüglich auf Kunst betrachtet werden, so werden sie durch den menschlichen Geist schon auf der Stelle verändert«.164 Mit der Wahrnehmung des Darstellungsobjekts durch den Künstler sowie deren formgebender Transformation zum künstlerischen Werk hat Goethe zwei unhintergehbare Wirkungsgrößen bestimmt, die im Zuge des schöpferischen Produktionsprozesses die kunstexterne Objektwelt entschieden modifizieren. Naturalisierende Tendenzen im Bereich der Ästhetik erscheinen vor diesem Hintergrund als fragwürdig: Sie werden von Goethe in einem Brief vom 4. November 1815 als »falsche, kunstzerstörende Natürlichkeit« gebrandmarkt165 und in seiner Abhandlung ›Über Laokoon‹ »dem modernen Wahne« zugerechnet, »daß ein Kunstwerk dem Scheine nach wieder ein Naturwerk werden müsse«.166 Daher darf es dem Künstler bei der Schöpfung eines Werkes nicht darum gehen, dessen artifizielle Faktur durch einen möglichst bruchlosen Illusionismus zu überdecken; die Kunst hat vielmehr, wie Goethe in seiner ›Laokoon‹-Abhandlung fordert, ihren Kunstcharakter und damit ihre Differenz zur empirischen Realität deutlich her-

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Johann Wolfgang Goethe: Diderots Versuch über die Malerei. In: FA 18, S. 559–608, hier S. 563. Mathias Mayer: Midas statt Pygmalion. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 64 (1990), S. 278–310, hier S. 291. Johann Wolfgang Goethe: ›Einleitung in die Propyläen‹. In: FA 18, S. 457–475, hier S.461. Briefentwurf an Schiller vom 25. Oktober 1797. In: WA IV, 12, S. 449–451, hier S. 450. Brief an die Hoftheater-Commission in Weimar vom 4. November 1815. In: WA IV, 26, S. 129– 131, hier S. 130. Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon, S. 491.

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auszustellen: »Jedes Kunstwerk muß sich als ein solches anzeigen«.167 Eine Illustration dieses Postulates liefert Goethe in seinem kurzen Aufsatz ›Frauenrollen auf dem Römischen Theater durch Männer gespielt‹.168 Anläßlich eines Besuchs der Römischen Komödie würdigt der Weimarer Dichter deren Eigenart, theatralische Inszenierungen durchgängig mit einem Als-ob-Vorbehalt169 zu versehen, der die Differenz zwischen Darsteller und dargestellter Figur im Bewußtsein des Zuschauers offenhält. So heißt es anerkennend über die Schauspieler mit weiblicher Rolle, »daß diese Personen keine Frauenzimmer sind, sondern Frauenzimmer vorstellen«.170 Die dadurch erzielte »selbstbewußte Illusion«, die Goethe mit einem Vokabular umschreibt, das auch die Schilderung der lebenden Bilder in den ›Wahlverwandtschaften‹ kennzeichnet,171 führt dazu, »daß bei einer solchen Vorstellung der Begriff der Nachahmung, der Gedanke an Kunst immer lebhaft« bleibt.172 Ähnliches gilt auch für die Darsteller der ›tableaux vivants‹: Durch den Rückbezug auf Vorlagen, die dem Publikum bekannt sind, halten sie den »Begriff der Nachahmung« stets präsent und insistieren entgegen dem naturalisierenden Wunsch der Zuschauer nach einer Dynamisierung der statischen Bildanordnung auf dem durch Bewegungslosigkeit gekennzeichneten Kunstcharakter ihrer Darbietung.173 Die Oppositionspaare Starre und Bewegung, Zeitenthobenheit und Zeitgebundenheit, Tod und Leben markieren die Differenz zwischen Bild und bildexterner Realität sowohl im Text der ›Wahlverwandtschaften‹ als auch in

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Ebd., S. 491. Auf die außerordentliche Bedeutung dieser kleinen Abhandlung, die bedauerlicherweise weder in die Frankfurter noch in die Münchner Goethe-Ausgabe Eingang fand, hat meines Wissens als Erster Walter Hinck hingewiesen (Walter Hinck: Goethe – Mann des Theaters. Göttingen 1982, S. 25f.). Zum Begriff des »Als-Ob« im Sinne einer fiktionalen »Selbstanzeige« siehe Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Frankfurt a. M. 1991, S. 37–45. Johann Wolfgang Goethe: Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt. In: WA I, 47, S. 267–274, hier S. 272. Das Verbum »vorstellen« begegnet sowohl im Frauenrollen-Aufsatz als auch bei der Beschreibung der ›tableaux vivants‹ als Signal für die Differenz zwischen Darsteller und Dargestelltem. Der Aufsatz spricht davon, daß die männlichen Schauspieler »die Frauenzimmer vorstellen« (ebd., S. 272); im Zusammenhang mit den lebenden Bildern heißt es in den ›Wahlverwandtschaften‹, daß ein ausgewählter Darsteller »den Zeus gleichen König [Ahasverus] vorzustellen« habe (428) und daß ein reicher »Ehrenmann« den verarmten »Belisar vorgestellt hatte« (430). Eine weitere Parallele zwischen Aufsatz und Roman besteht hinsichtlich des Wortfelds des »Scheins«. Während Goethe im Frauenrollen-Aufsatz über ein spielerisches ›gender crossing‹ feststellt, daß »beide Geschlechter sich in dem Scheine dieser Umschaffung vergnügen« (Johann Wolfgang Goethe: Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt, S. 271, meine Hervorhebung), begegnet das Verbum »scheinen« als Illusionsindikator bei der Schilderung des ersten und – in geradezu leitmotivischer Intensivierung – des dritten lebenden Bildes (vgl. dazu S. 427–429). Johann Wolfgang Goethe: Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt, S. 272. Vgl. dazu S. 121–123 der vorliegenden Studie.

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verschiedenen ästhetischen Schriften Goethes. Dieser Befund läßt sich im Hinblick auf die den ›tableaux vivants‹ zugrundeliegende Werkauswahl durch je eine Passage aus den ›Materialien zur Geschichte der Farbenlehre‹ und aus den ›Gesprächen mit Eckermann‹ ergänzen, wo – von der ›Wahlverwandtschaften‹Forschung bislang unbeachtet – gerade im Hinblick auf die niederländische Malerei sowie auf Poussin Bildeindruck und wahrgenommene Wirklichkeit explizit voneinander getrennt werden. So charakterisiert Heinrich Meier in seiner von Goethe in die ›Farbenlehre‹ aufgenommenen Abhandlung über die ›Geschichte des Kolorits seit Wiederherstellung der Kunst‹ die Eigenart holländischer Gemälde folgendermaßen: »Die Eigenschaft aber, wodurch sich die niederländische Malerschule hinsichtlich auf das Kolorit von den andern im allgemeinen unterscheidet, oder vielmehr worin sie andern vorgegangen, ist der Ton, [...] wir verstehen hier die eine, im Ganzen eines Bildes vorherrschende Farbe, eingemischt oder als Lasur übergezogen, so daß die Darstellung dem Auge wie durch das Medium eines gefärbten Glases erscheint«.174 Während die zitierte Passage aus der ›Farbenlehre‹ für die niederländische Malerei, der die in den ›Wahlverwandtschaften‹ nachgestellten Werke Pseudo-van Dycks und Ter Borchs zuzurechnen sind, ein mediales, Bild und Wirklichkeit unterscheidendes Differenzkriterium formuliert, trifft Goethe im Gespräch mit Eckermann im Bezug auf Poussin, der Luciane ebenfalls die Vorlage für ein ›tableau‹ liefert, eine ähnliche Feststellung: Er bemerkt über eine »Landschaft von Poussin oder Claude Lorrain«, daß man diese »in der Wirklichkeit vergebens suchen« würde.175 Unbekümmert um Goethes ästhetische Stellungnahmen und in direktem Widerspruch zu zahlreichen gegenläufigen Textsignalen der ›Wahlverwandtschaften‹ haben neuere Forschungsansätze versucht, das Phänomen der lebenden Bilder gemäß der poststrukturalistischen Methodik einer Dekonstruktion von Oppositionen zu unterziehen.176 Mit auffallender Einmütigkeit extrapolieren etwa Heike Brandstädter, Nils Reschke und Claudia Öhlschläger aus dem Motiv der ›tableaux vivants‹ in Goethes Roman das erkenntnistheoretische Paradigma einer Ununterscheidbarkeit von Bild und Wirklichkeit, Kunst und Leben, Repräsentation und Referenz. Während Heike Brandstädter das ›tableau vivant‹ des blinden Belisar als »theoretische Begründung« dafür liest, daß »Wirk-

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Johann Wolfgang Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, S. 772 (meine Hervorhebung). Gespräch mit Eckermann vom 18. April 1827. In: Goethes Gespräche. Bd. 3, S. 373–380, hier S. 379. Jonathan Culler definiert in seinem Standardwerk zur Dekonstruktion deren Vorgehensweise folgendermaßen: »Einen Diskurs dekonstruieren heißt aufzeigen, wie er selbst die Philosophie, die er vertritt, bzw. die hierarchischen Gegensätze, auf denen er ruht, unterminiert« (Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Übers. v. Manfred Momberger. Reinbeck bei Hamburg 1988, S. 96).

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lichkeit und Bild ununterscheidbar werden«,177 und Nils Reschke behauptet, daß die lebenden Bilder darauf angelegt seien, »die Differenz von Kunst und Wirklichkeit zu problematisieren«,178 sieht Claudia Öhlschläger in ihnen wie in den ›Wahlverwandtschaften‹ insgesamt die »Unentscheidbarkeit [sic!] von Kunst und Natur« gestaltet.179 Die argumentative Fundierung dieser Generalthese verrät die in poststrukturalistischen Lesarten leider nicht selten anzutreffenden180 philologischen Fahrlässigkeiten: manipulative Zitate, spekulative Generalisierungen sowie ein konsequentes Ausblenden des autorbezogenen ästhetischen Kontextes. So kombiniert Reschke zwei Zitatfragmente zu der scheinbar textnahen Behauptung, »daß die ›Gegenwart des Wirklichen‹ schon ›aufs Gemälde berechnet‹ ist«.181 Die zweite Hälfte dieser Montage bezieht sich freilich in Goethes Roman nicht auf eine angeblich immer schon durch Bildvorlagen präformierte Realität, sondern lediglich auf den zur unbeweglichen Darstellungsform des ›tableau vivant‹ besonders gut geeigneten Körperbau der Luciane.182 Und auch die erste Hälfte der Zitatcollage steht in einem ganz anderen als dem von Reschke suggerierten Kontext: Die »Gegenwart des Wirklichen« ist nämlich gerade nicht ›per se‹ zur piktoralen Darstellung disponiert, sondern wird erst im Arrangement des ›tableau vivant‹ durch »kunstreiche« Vorkehrungen jener »anderen Welt«, die als Welt der Bildvorlage von der Alltagsrealität der Romanfiguren grundsätzlich geschieden ist, angeglichen.183 Auf einem solideren argumentativen Fundament als Nils Reschkes Ausführungen, die auch an anderer Stelle eine textorientierte Plausibilität vermissen lassen,184 bewegt sich Claudia Öhlschlägers Aufsatz, der zu Recht auf die bereits

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Heike Brandstädter: Der Einfall des Bildes, S. 188. Nils Reschke: »Die Wirklichkeit als Bild«, S. 138. Claudia Öhlschläger: »Kunstgriffe« oder Poiesis der Mortifikation, S. 202. Auf ähnliche philologische Verfehlungen der dekonstruktivistischen Kleist-Forschung hat jüngst Jochen Schmidt aufmerksam gemacht (vgl. dazu Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist, S. 43–48). Nils Reschke: »Die Wirklichkeit als Bild«, S. 153. »Schnell ward Luciane gewahr, daß sie hier [bei der Inszenierung lebender Bilder, C.M.] ganz in ihrem Fach sein würde. Ihr schöner Wuchs, ihre volle Gestalt, ihr regelmäßiges und doch bedeutendes Gesicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr blanker Hals, alles war schon wie aufs Gemälde berechnet« (427). »Jener Belisar eröffnete die Bühne. Die Gestalten waren so passend, die Farben so glücklich ausgeteilt, die Beleuchtung so kunstreich, daß man fürwahr in einer anderen Welt zu sein glaubte, nur daß die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte« (428). So beruht Reschkes These, Goethe habe die in den ›Wahlverwandtschaften‹ dargebotenen ›tableaux vivants‹ als ein »Bildquartett« angelegt, »das in seiner Vierzahl die Anordnung der vier Elemente in der Gleichnisrede doppelt«, offensichtlich auf einem Additionsfehler: Wenn man, wie Reschke das offensichtlich tut, die beiden Präsepe-Inszenierungen unter den Oberbegriff der lebenden Bilder subsumiert, obwohl das wegen ihrer strukturellen Verschiedenheit von dieser Inszenierungstechnik – ihnen fehlt der Bezug auf eine konkrete Bildvorlage – durchaus problematisch erscheint, ergibt sich eine Gesamtzahl von fünf inszenierten ›tableaux‹ (Nils Reschke: »Die Wirklichkeit als Bild«, S. 147).

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von Walter Benjamin bemerkte185 Analogie zwischen Ottilies Rolle im Präsepe und der späteren Beschreibung ihrer Reaktion auf den Tod des Kindes hinweist. Daraus allerdings eine für die ›Wahlverwandtschaften‹ insgesamt geltende »Unentscheidbarkeit von Kunst und Natur« zu folgern,186 erscheint mir insofern problematisch, als der Erzähler, wie oben genauer ausgeführt,187 an anderer Stelle die Differenz der ›tableaux vivants‹ zur Lebensrealität des Romanpersonals deutlich markiert. Zwar ist den lebenden Bildern hinsichtlich der Struktur ihrer Darstellungsform, die Bilder durch Körper ersetzt, die Möglichkeit einer Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Leben eingezeichnet; die beteiligten Darsteller jedoch sind sich des Kunstcharakters ihrer Inszenierungen durchaus bewußt, so daß die von Öhlschläger behauptete »Unentscheidbarkeit« weder für die ›tableaux vivants‹ noch für das Präsepe188 in Anschlag gebracht werden kann. Das generalisierende Fazit Öhlschlägers, in den ›Wahlverwandtschaften‹ gehe es darum, den »riskanten Spalt zwischen Natur und Kunst« vergessen zu machen,189 erscheint nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Goethes ästhetischen Schriften, die seit Beginn der klassischen Periode mit aller Entschiedenheit die Trennung von Natur und Kunst propagieren, kaum nachvollziehbar.190 Die vom Kontext der kunsttheoretischen Grundsätze Goethes weitgehend abgekoppelte Betrachtungsweise der ›tableaux vivants‹, die tendenziell bereits bei Öhlschläger zu beobachten ist, führt in der Dissertation von Heike Brandstätter zu gravierenden Verzeichnungen. So stützt sie etwa ihre These von der Grenzaufhebung zwischen Natur und Kunst unter anderem auf die Annahme, daß die Inszenierung der lebenden Bilder »auf das pygmalionische Grundmuster der Erweckung des Kunstwerks zum Leben rekurriert«191 – ohne dabei allerdings zu berücksichtigen, daß Goethe den Pygmalion-Mythos wegen dessen

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Vgl. dazu Walter Benjamin: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 173f. Claudia Öhlschläger: »Kunstgriffe« oder Poiesis der Mortifikation, S. 202. Vgl. S. 121–125 der vorliegenden Studie. Auch im Falle der Mariendarstellung des Präsepes ist die ›Unentscheidbarkeits-These‹ Öhlschlägers kaum zu halten. Ihre Behauptung, Ottilie stelle die Mutter Gottes nicht rollenhaft dar, sondern fungiere »im Zusammenfall von Signifikant und Signifikat« als »leibhaftige Präsenz«, als »Sein und Zeichen dieser Mutter«, widerspricht einer Reflexion Ottilies, die gerade auf dem Prinzip der Nicht-Identifikation zwischen Darstellerin und Dargestellten basiert. So bedenkt diese die Wirkung ihrer Marien-Rolle auf den Gehülfen mit folgenden Worten: »[W]ie wenig wert bist du, unter dieser heiligen Gestalt vor ihm zu erscheinen, und wie seltsam muß es ihm vorkommen, dich, die er nur natürlich gesehen, als Maske zu erblicken?« (441). Claudia Öhlschläger: »Kunstgriffe« oder Poiesis der Mortifikation, S. 204. Goethes diskursive Äußerungen allein bilden selbstverständlich keinen interpretatorischen Maßstab für die Analyse der ›tableaux vivants‹ im fiktionalen Gefüge des Romans. Sie werden hier nur deshalb als Argument angeführt, weil die in ihnen entfaltete Position, wie auf den Seiten 121–125 der vorliegenden Studie dargelegt, mit zahlreichen textimmanenten Signalen aus den ›tableau-vivant‹-Partien der ›Wahlverwandtschaften‹ konvergiert. Heike Brandstädter: Der Einfall des Bildes, S. 153f.

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von Rousseau adaptierter, aber bereits in Ovids ›Metamorphosen‹ formulierter192 Tendenz zur Naturalisierung der Kunst rigoros ablehnte. Im elften Buch von ›Dichtung und Wahrheit‹ bemerkt Goethe über Rousseaus dramatische Szene ›Pygmalion‹: »[D]iese wunderliche Produktion schwankt gleichfalls zwischen Natur und Kunst, mit dem falschen Bestreben, diese in jene aufzulösen«.193 Bereits in ›Diderots Versuch über die Malerei‹ qualifiziert er die PygmalionMythe als »lüsternes Geschichtchen, das sich ganz artig anhört; für den bildenden Künstler [aber] ein unwürdiges Märchen« bleibe.194 In einem Brief an Zelter vom 3. Dezember 1812 schließlich distanziert sich Goethe ausdrücklich von der »monstrosen [...] Production« Rousseaus, die er als »Symptom der Hauptkrankheit jener Zeit« qualifiziert, »wo Staat und Sitte, Kunst und Talent mit einem namenlosen Wesen, das man aber Natur nannte, in einen Brei gerührt werden sollte, ja gerührt und gequirlt ward«.195 Gegen die von der poststrukturalistischen Interpretenphalanx im Hinblick auf die ›tableaux vivants‹ so nachdrücklich verfochtene Grenzaufhebung zwischen Kunst und außerkünstlerischer Wirklichkeit sprechen nicht nur die ästhetischen Grundprinzipien Goethes sowie der im Text deutlich herausgestellte Inszenierungscharakter der lebenden Bilder, sondern auch deren Einführung ins Romangeschehen. Nicht zufällig ist es gerade der Graf, der die Schloßgesellschaft auf diese Darstellungsform aufmerksam macht (vgl. 426f.) – eine Figur also, die bereits im ersten Teil des Romans eine Grenzbestimmung zwischen fiktionaler Kunstsphäre und konkreter Lebensrealität vornimmt, indem sie zur Gattung des Lustspiels kritisch anmerkt: »Wir mögen uns die irdischen Dinge und besonders auch die ehelichen Verbindungen gern so recht dauerhaft vorstellen, und was den letzten Punkt betrifft, so verführen uns die Lustspiele, die wir immer wiederholen sehen, zu solchen Einbildungen, die mit dem Gange der Welt nicht zusammentreffen. In der Komödie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch die Hindernisse mehrerer Akte verschobenen Wunsches, und im Augenblick, da es erreicht ist, fällt der Vorhang, und die momentane Befriedigung klingt bei uns nach. In der Welt ist es anders; da wird hinten immer fortgespielt« (340, meine Hervorhebungen). Für den Grafen stellt die Beurteilung zwischenmenschlicher Beziehungsdynamik nach Maßgabe einer ästhetischen Gattungskonvention einen kurzschlüssigen Übertragungsvorgang 192

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Im zehnten Buch der Metamorphosen ist davon die Rede, daß Pygmalion den Kunstcharakter seiner Werke durch eine gleichsam naturalistische ›Mimesis‹ des Lebendigen zum Verschwinden bringt. Über eine Skulptur des Pygmalion heißt es: »Virginis est verae facies, quam vivere credas« (Ovid: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Michael v. Albrecht. Stuttgart 1994, Liber decimus, v. 250). Erklärt wird diese täuschende Wirkungsweise der pygmalionischen Kunst wie folgt: »Ars adeo latet arte sua« (ebd., v. 252). Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 533f. Johann Wolfgang Goethe: Diderots Versuch über die Malerei, S. 569. Brief an C.F. Zelter vom 3. Dezember 1812. In: WA IV, 23, S. 185–191, hier S. 190. Zu Goethes Pygmalion-Kritik vgl. Mathias Mayer: Midas statt Pygmalion, S. 287f.

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dar, der die Differenz zwischen der schablonenhaften Teleologie des Lustspiels einerseits und den unvorhersehbaren Entwicklungsprozessen intersubjektiver Lebensrealität andererseits nivelliert. Das starre Handlungsschema der Komödie ist vom unkontrollierbaren Veränderungspotential ehelicher Zweisamkeit durch den Graben theatralischer Illusion geschieden. Der Graf weiß um den Kunstcharakter des lustspieltypischen ›happy ends‹ und wird damit zum Träger eines ästhetischen Bewußtseins, das auch bei der Einführung der ›tableaux vivants‹ unterstellt werden kann. Während der Graf der Komödie allerdings eine über die Aufführungssituation hinausreichende Wirkung zuspricht, die er als verführerische Täuschung klassifiziert, versteht er die lebenden Bilder eher als eine Ausdrucksmöglichkeit adeligen Amüsierbedürfnisses, deren »unglaubliche[r] Reiz« auf den Moment der Betrachtung beschränkt bleibt (392).

5.2. Der bildimmanente Betrachter – Intertextuelle Bezüge und rezeptionsästhetische Implikationen der ›tableaux vivants‹ Die zentralen Elemente seiner Kunstanschauung, die Goethe dem Phänomen der ›tableaux vivants‹ eingeschrieben hat, lassen sich im Hinblick auf die inszenierten Bildinhalte durch rezeptionsästhetische Reflexionen ergänzen. Mit dem ›Blinden Belisar‹, der ›Väterlichen Ermahnung‹ und dem ersten Präsepe hat Goethe auf Sujets zurückgegriffen, die jeweils einen bildimmanenten Betrachter enthalten, der dem dargestellten Geschehen gegenüber eine dem Rezipienten analoge Position einnimmt. Dabei vergegenwärtigen die in den einzelnen Gemälden je unterschiedlich modellierten Betrachterfiguren verschiedene Aspekte und Möglichkeiten der interpretatorischen Auseinandersetzung des Rezipienten mit dem Kunstwerk. Im Fall des ›Blinden Belisar‹ ist die Ausgestaltung der bildimmanenten Betrachterfigur mit der impliziten Bezugnahme auf einen literarischen Subtext aus der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts verbunden, dessen Freilegung zunächst eine Analyse des Bildinhalts und seines Bezugs zum Romangeschehen erfordert. Luciane, die auf Vorschlag des Grafen als Initiatorin der ›tableaux vivants‹ fungiert, gibt sich bei der Inszenierung der ersten von insgesamt drei genauer beschriebenen Bildvorlagen,196 dem ›Blinden Belisar‹ nach Pseudo-van Dyck,197 mit der »halb bescheiden« ausgewählten Rolle einer im Bildhinter-

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Die beiden Präsepe-Inszenierungen, die der Architekt nach Lucianes Abreise zu Ehren Ottilies vornimmt, können nicht als ›tableau vivant‹ klassifiziert werden, da sie nicht auf eine bestimmte Bildvorlage zurückgehen. Allerdings ist die erste Präsepe-Inszenierung über das Motiv der immanenten Betrachterfigur thematisch mit den ›tableaux vivants‹ verbunden und wird daher in die Erwägungen des vorliegenden Kapitels einbezogen. Das von Goethe irrtümlicherweise van Dyck zugeschriebene Gemälde geht, wie allgemein bekannt, tatsächlich auf Luciano Borzone zurück.

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grund befindlichen Almosengeberin zufrieden (427). Daß sie gerade diesen Part übernimmt, hat für den Leser, der die lebenden Bilder als symbolische Verdichtung der Romanhandlung zu entziffern versucht, eine doppelte Signalwirkung. Zum einen verweist die Rolle der selbstlosen Spenderin in ironischer Brechung auf den egozentrischen Charakter Lucianes, deren Freigebigkeit ausschließlich dazu dient, der eigenen Person eine maximale Aufmerksamkeit zu sichern. Daß Luciane durch ihr Verhalten in der Pension die von Charlotte gegenüber der materiell abhängigen Ottilie verübte »Wohltat [...] gewissermaßen vernichtet«, läßt ihr wohltätiges Rollenspiel besonders fragwürdig erscheinen (280). Zum anderen macht Lucianes periphere Stellung im ›tableau‹ deutlich, daß dessen Sinngehalt in erster Linie auf eine andere Figur zu beziehen ist, nämlich auf Ottilie. Insbesondere der blinde Belisar ist als Zentralgestalt des Bildes durch ein Geflecht von Analogien und Korrespondenzen mit Ottilie verbunden, die auf diese Weise, obwohl durch die Eifersucht Lucianes von der Teilnahme an der Inszenierung ausgeschlossen, ins Zentrum der ›tableau‹-Auslegung rückt. Damit wird die soziale Hierarchie zwischen den beiden Frauenfiguren im symbolischen Raum des ›tableau vivant‹ gleichsam umgekehrt: Während Luciane für die auf dem Schloß versammelte Gesellschaft den Mittelpunkt des Interesses bildet, tritt sie hinsichtlich des auf das Romangeschehen bezogenen Sinnpotentials der Bilddarstellung hinter Ottilie zurück. Das analogische Verhältnis zwischen Ottilie und Belisar zeigt sich zunächst einmal auf der Ebene der gestischen Kommunikation: Die bittend erhobene Hand des oströmischen Feldherrn, die beinahe exakt in der Bildmitte positioniert ist, erinnert an Ottilies nonverbale Mitteilungsweise, die der Text leitmotivisch hervorhebt (vgl. 310, 510f. u. 522). Darüber hinaus verweist die »Bewegung der Hände« Belisars als bettelnde Geste auf eine materielle Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit, welche den geblendeten Feldherrn ebenso charakterisiert wie die Waise Ottilie.198 Wichtiger als solche äußeren Analogien scheint indessen eine anders gelagerte Korrespondenz zu sein: Die Geschichte der heiligen Odilia, die Goethe in ›Dichtung und Wahrheit‹ als Namenspatronin Ottilies bezeichnet,199 geht ebenso auf eine legendarische Tradition zurück wie das in Waltraud Wiethölters Kommentar fälschlicherweise als historische Überlieferung wiedergegebene Ereignis der Blendung Belisars.200 Beide Legenden sind vom Motiv der Blindheit durchzogen,201 wobei sie hinsichtlich der narrativen

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Goethe hat die »Bewegung der Hände« als Mittel, um »Inneres im Aeußern vorzustellen«, an Leonardo da Vincis Abendmahl besonders geschätzt (Johann Wolfgang Goethe: Abendmahl von Leonardo da Vinci zu Mayland, S. 252 u. S. 255). – Auf die motivische Analogie des Bettelns, die Belisar und Ottilie verbindet, hat bereits Elisabeth Herrmann hingewiesen (vgl. Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften«, S. 137). Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 542. Vgl. Waltraut Wiethölter: Kommentar. In: FA 8, S. 973–1053, hier S. 1042. Zu Recht hat bereits Elisabeth Herrmann darauf hingewiesen, daß »das Motiv der Blindheit

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Ausfaltung dieses Motivs in einem chiastischen Strukturverhältnis zueinander stehen: Während die blind geborene Odilia ihre Sehkraft beim Taufakt durch die Gnade Gottes erhält, wird Belisar nach einer erfolgreichen Karriere als Feldherr von seinem argwöhnischen Kaiser Justinian des Augenlichts beraubt; der Geschichte einer Heilung von der Blindheit steht die Geschichte einer Blendung gegenüber. Wirkungsästhetisch ist es beiden Legenden um die Illustration einer vorbildhaften Lebensführung zu tun: Im Falle der Odilia ist dies schon aus der Gattungstradition der Heiligenlegende unmittelbar einsichtig; die didaktisch motivierte Idealisierung Belisars dagegen ist erst aus einem Quellentext zu erschließen, der, obwohl er Goethes Rezeption des Pseudo-van Dyckschen Gemäldes offensichtlich beeinflußt hat, hinsichtlich seines Bezugs zu den ›Wahlverwandtschaften‹ von der Forschung bislang unbeachtet blieb. Bei dem in Frage stehenden Quellentext handelt es sich um den unter ästhetischen Gesichtspunkten eher unbedeutenden, gleichwohl nach seinem Erscheinen im Jahre 1767 in ganz Europa verbreiteten Roman ›Bélisaire‹ von Jean-François Marmontel. Goethe lernte diesen Text, dessen große zeitgenössische Popularität sich nicht zuletzt daran zeigt, daß er in Deutschland als Schullektüre verwendet wurde,202 vermutlich bereits 1772 durch eine deutschsprachige Dramatisierung kennen, über die er sich in den ›Frankfurter gelehrten Anzeigen‹ kritisch äußerte.203 Eine weitere mögliche Verbindungslinie zwischen Marmontels Roman und dem Autor der ›Wahlverwandtschaften‹ besteht über Friedrich August Zeune, mit dem Goethe in Briefkontakt stand und der unter dem Titel seiner seit 1808 in mehreren Auflagen erschienenen didaktischen Abhandlung ›Belisar. Über den Unterricht der Blinden‹ an die moralisierende Stofftradition Marmontels anknüpft.204 Marmontel hat seine Titelfigur als makellose und unanfechtbare Idealgestalt angelegt, deren Verhaltensweisen sich zu einem nahezu lückenlosen Tugendkatalog zusammenfügen.205 Den Vorbildcharakter Belisars unterstreicht Marmontel insbesondere durch die emphatischen Reaktionen zahlreicher Figuren. Dieses Verfahren, das bereits in Pseudo-van Dycks Gemälde implizit angelegt

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und des Sehens [...] Ottilie mit dem Bild des Belisarius« verbinde (Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 137). Vgl. dazu Walter Jens (Hg.): Kindlers neues Literatur-Lexikon. 22 Bde. Bd. 11. München 1990, S. 220. Ob diese kurze Rezension tatsächlich von Goethe stammt, ist allerdings umstritten (Vgl. dazu Johann Wolfgang Goethe: Frankfurter gelehrte Anzeigen [Paralipomena]. In: WA I, 38, S. 332–398, hier S. 341). Eine ausführliche Beschäftigung Goethes zumindest mit Marmontels Mémoires bezeugt ein Tagebucheintrag vom Januar 1805 (WA III, 3, S. 110). August Zeune: Belisar. Über den Unterricht der Blinden. Berlin 1808. Vgl. dazu John Renwick, der in seiner materialreichen Studie Marmontel, Voltaire and the »Bélisaire« affair über Marmontels Konzeption der Belisar-Gestalt bemerkt: »[A] fair list would show that he was, at a conservative estimate, simple, magnanimous, forgiving, faithful, upright, unselfish, humble, humane, wise, firm, honest, equable and tender« (John Renwick: Marmontel, Voltaire and the Bélisaire affair. Banbury, Oxfordshire 1974, S. 63f.).

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ist, kommt auch in den ›Wahlverwandtschaften‹ zur Anwendung, wenn es im letzten Kapitel über den Architekten, der voller Trauer am Sarg Ottilies steht, in deutlicher Anlehnung an Marmontel heißt: »Und so stand er auf der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmut, auf sich selbst zurückgewiesen, starr, in sich gekehrt, mit niedergesenkten Armen, gefalteten, mitleidig gerungenen Händen, Haupt und Blick nach der Entseelten hingeneigt. Schon einmal hatte er so vor Belisar gestanden. [...] Auch hier war etwas unschätzbar Würdiges von seiner Höhe herabgestürzt« (525). Ganz ähnlich schildert Marmontel im vierten Kapitel seines Romans die Reaktion eines ehemaligen Soldaten beim Anblick des geblendeten Belisar: Er »stand [...] vor dem Helden, sahe ihn mit gefalteten Händen und niederhangendem Kopfe nachdenkend an, und sein ganzes Gesicht verriet Bestürzung, Mitleiden und Ehrfurcht«.206 Und während der Erzähler im letzten Kapitel der ›Wahlverwandtschaften‹ davon spricht, daß Ottilie von der »Natur [...] durch ihre gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt« worden sei (526), bemerkt Marmontels Belisar hinsichtlich seiner Blendung: »Liegt etwas daran, welches Werkzeuges sich die Natur bedienet, uns zu vernichten?«.207 In Goethes Text besitzt die andächtige Betrachtung der toten Ottilie durch den Architekten allerdings einen anderen Stellenwert als der Blick des Soldaten auf den blinden Belisar bei Marmontel. Während der ›Bélisaire‹-Roman mit der zugleich bewundernden und schmerzvollen Reaktion des Soldaten auf den Anblick des geblendeten Feldherrn dem Leser die unantastbare Dignität der Hauptgestalt signalisiert, geht es in der entsprechenden Partie der ›Wahlverwandtschaften‹ weniger um die moralische Adelung an sich als vielmehr um deren psychologische Implikationen. Die durch die Verwendung der erlebten Rede auch erzähltechnisch an den Bewußtseinshorizont des Architekten gebundene208 Idealisierung Ottilies fügt sich der in den beiden Schlußkapiteln 206

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Jean-François Marmontel: Belisar. Aus dem Französischen übersetzt, und mit neuen Anmerkungen begleitet. Karlsruhe 1770, S. 32. Karin Leonhard zitiert diese Textpassage im Zusammenhang mit Diderot, ohne allerdings auf deren intertextuellen Bezug zu den ›Wahlverwandtschaften‹ einzugehen (vgl. dazu Karin Leonhard: Goethe, Diderot und die Romantik, S. 44). Ebd., S. 67. – Man könnte gegen diese Analogie einwenden, daß sich der lebende Belisar nicht mit der toten Ottilie vergleichen lasse, würde dabei jedoch übersehen, daß Marmontels Roman Blindheit und Tod, die bereits in der Antike und im Alten Testament als korrelative Größen verstanden wurden, explizit parallelisiert, indem die Titelfigur gleich zu Beginn feststellt: »[U]nd tot oder blind zu sein, kommt doch wohl auf eins hinaus« (ebd., S. 8; ganz ähnlich äußert sich Belisar auch im 6. Kapitel, wenn er gegenüber seiner Tochter bemerkt: »[D]a sie mich der Augen beraubet, haben sie weiter nichts gethan, als was das Alter oder der Tod gleichfalls tun würde« [ebd., S. 54]). Zur Analogie zwischen Blindheit und Tod vgl. die Ausführungen von Mathias Mayer, der – ohne Bezug zu Marmontel – darauf hinweist, daß »der Verlust des Sehens in der Kulturgeschichte als eine nur graduell harmlosere Form des Todes« gilt, und als Belege dafür unter anderem das Buch Jesaja (59, 10), den jüdischen Talmud und den Sophokleischen Ödipus anführt (Mathias Mayer: Dialektik der Blindheit und Poetik des Todes. Über literarische Strategien der Erkenntnis. Freiburg i. Brsg. 1997, S. 33 u. S. 57). Die erlebte Rede wird in der entsprechenden Textpartie (525, Z. 29–526, Z. 4) durch die typi-

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vorgeführten kollektiven Legendenbildung bruchlos ein; sie bietet keine auf fiktionale Objektivität abzielende Deskription, sondern stellt lediglich eine subjektive Zuschreibung dar, die dem Sinnstiftungs- und Erlösungsbedürfnis ihres Urhebers entspringt.209 Die projektive Überformung Ottilies durch den verklärenden Blick des Architekten rekurriert auf eine Passage des ›Bélisaire‹-Romans und modifiziert deren Sinngehalt zugleich in entscheidender Weise, indem die bei Marmontel von der Figur des Soldaten vorgenommene, zugleich aber auch für den Leser verbindliche Idealisierung des römischen Feldherrn bei Goethe durch die perspektivisch zu relativierende Sichtweise des Architekten auf Ottilie ersetzt wird.210 Der vor dem kontrastierenden Hintergrund des MarmontelRomans deutlich hervortretende Perspektivismus von Wahrnehmungs- und Deutungsakten läßt sich anhand jener Bild-Sujets weiter verfolgen, die dem ›Blinden Belisar‹, dem »Nacht- und Niedrigkeitsbild« (439) sowie der ›Väterlichen Ermahnung‹ zugrunde liegen und durch deren Kombination es Goethe gelingt, seinem Text eine rezeptionsästhetisch ausgerichtete Typologie des Betrachtens einzuschreiben. Im Falle des Pseudo-van Dyckschen ›Belisar‹ hat bereits Denis Diderot die These vertreten, daß der Blick des Soldaten auf den blinden Feldherrn dem Blick des Rezipienten auf das Gemälde entspreche, und dabei die Versunkenheit der Betrachterfigur in den Gegenstand ihrer Betrachtung als ästhetisches Qualitätskriterium gewürdigt.211 Der Soldat als Träger dieser rezeptiven Ver-

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schen grammatikalischen Merkmale (3. Person, Indikativ, Präteritum) sowie durch die Verwendung deiktischer Adverbien (»jetzt« [487, Z. 30], »hier« [487, Z. 31 u. Z. 37]) und durch einen intensivierenden Ausruf (487, Z. 30f.) angezeigt. Der Erzähler verdeutlicht den der Legendarisierung Ottilies zugrundeliegenden projektiven Mechanismus in der folgenden Sentenz: »Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum Glauben« (526). Zur legendarischen Überformung Ottilies vgl. die aufschlußreichen Ausführungen von Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 251–266. Jochen Schmidt hat überzeugend aufgezeigt, daß Goethe die Idealisierung Ottilies insgesamt aus der Distanz »hintergründiger Ironie« vergegenwärtigt und die in den letzten Kapiteln geschilderte Legendenbildung als »skeptische Diagnose des [romantischen] Zeitgeists« konzipiert (Jochen Schmidt: Ironie und Skepsis in Goethes Alterswerk, S. 173). Vgl. dazu Michael Fried, der den auf Pseudo-van Dycks Belisarius bezugnehmenden Brief Diderots an Sophie Volland und eine kurze Erwähnung desselben Gemäldes im Salon de 1767 analysiert, um daraus den folgenden Schluß zu ziehen: »Das Bezwingende an der Figur des Soldaten lag für Diderot in der Überzeugungskraft, mit der es dem Künstler in seinen Augen hier gelungen war, die Versunkenheit der Figur in den Akt des Betrachtens und Sinnens darzustellen« (Michael Fried: Malerei und Betrachter. Jacques Louis Davids Blinder Belisarius. In: Wolfgang Kemp [Hg.]: Der Betrachter ist im Bild. Berlin, Hamburg 1992, S. 208–236, hier S. 213f.). – Heike Brandstädter führt Diderots Interpretation des Pseudo-van Dyckschen Gemäldes als Beleg für ihre m.E. unhaltbare These an, daß »Präsenz und Repräsentation, Bild und Wirklichkeit« in den ›Wahlverwandtschaften‹ »ununterscheidbar« seien (Heike Brandstädter: Der Einfall des Bildes, S. 188). Zur detaillierten Situierung der ›tableaux vivants‹ im Horizont der Ästhetik Diderots siehe die ausführlichen Analysen von Karin Leonhard und Rita Lennartz

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sunkenheit, die in anderem Zusammenhang auch Goethe als adäquate Auffassungshaltung gegenüber bedeutenden Kunstwerken bestimmt hat,212 wird durch die kompositorische Anlage des Bildes besonders herausgehoben. Er ist neben Belisar die einzige Gestalt, die sich im Vordergrund des Gemäldes befindet, und scheint darüber hinaus dem kommunikativen Kontinuum, das alle anderen dargestellten Figuren miteinander verbindet, in aufschlußreicher Weise entrückt: Während Belisar und die drei im Hintergrund des Bildes situierten Frauen durch die Gestik des Bittens und Empfangens aufeinander bezogen sind, hat der abseits stehende Soldat an diesem Interaktionszusammenhang keinen Anteil. Seine gefalteten Hände fallen aus dem gestischen Verweisungsgefüge heraus, das durch die nach außen gekehrten Handflächen der übrigen Figuren im Mittelpunkt des Bildes konstituiert wird. Einzig über den Distanzsinn der Augen, die er voller Trauer auf Belisar gerichtet hat, partizipiert der Soldat an der dargestellten Szenerie. Damit entspricht seine Wahrnehmungssituation derjenigen des Bildbetrachters, dessen Rezeptionshaltung durch den ehrfürchtigen Gesichtsausdruck des Soldaten präformiert wird. Während der Architekt mit der Rolle des Soldaten im ›Blinden Belisar‹ den Part einer Betrachterfigur übernimmt, die innerhalb der dargestellten Situation isoliert erscheint und eine gegenüber dem Rezipienten verständnisleitende Funktion aufweist, vergegenwärtigt sein Auftritt als Hirte im »Nacht- und Niedrigkeitsbild« des Präsepe eine andere Variante bildimmanenten Betrachtens.213 Im Rahmen der Krippeninszenierung heißt es über die eingeschränkte Beurteilungskompetenz der Zuschauer: »Der gefühlvolle Kenner, der diese Erscheinung gesehen hätte, [...] wäre in Sorge gestanden, ob ihm jemals etwas wieder so gefallen könne. Unglücklicherweise war Niemand da, der diese ganze Wirkung aufzufassen vermocht hätte. Der Architekt allein, der als langer, schlanker Hirt von der Seite über die Knienden hereinsah, hatte, obgleich nicht in dem genausten Standpunkt, noch den größten Genuß« (439). Anders als bei der Figur des Soldaten, der dem Zuschauer im Fall des ›Blinden Belisar‹ eine verbindliche und objektive Gültigkeit beanspruchende Rezeptionshaltung vorgibt, rückt hier der perspektivische Relativismus der ästhetischen Wahrnehmung in den Vordergrund. Dabei erscheint die Apperzeption des Kunstwerks sowohl

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(Karin Leonhard: Goethe, Diderot und die Romantik; Rita Lennartz: »Von Angesicht zu Angesicht«, hier besonders S. 146–157). So beschreibt Goethe die Wirkung eines Rekonstruktionsversuches der berühmten Kuh des attischen Bronzegießers Myron auf den Betrachter folgendermaßen: »[E]r mag, er kann sich nichts draußen, nichts daneben, nichts anders denken, wie eigentlich ein vortreffliches Kunstwerk alles Uebrige ausschließen und für den Augenblick vernichten soll« (Johann Wolfgang Goethe: Myrons Kuh. In: FA 20, S. 287–294, hier S. 290). Nils Reschke weist darauf hin, daß der Architekt »Ersatzbetrachterpositionen im Belisar wie auch im Präsepe einnimmt«. Seine Deutung dieses an sich zutreffenden Befundes, die den Architekten zur »Personifikation Pygmalions« erklärt, vermag indessen kaum zu überzeugen (Nils Reschke: »Die Wirklichkeit als Bild«, S. 149).

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räumlich als auch kognitiv determiniert: Der Gesichtskreis des Rezipienten ist durch seinen jeweiligen »Standpunkt« eingeschränkt und durch den Grad seiner ästhetischen Sensibilität begrenzt. Lediglich der »gefühlvolle Kenner«, von dem die zitierte Textpassage nicht zufällig im Modus des Konjunktivs spricht, wäre in der Lage, die Einzigartigkeit des Dargestellten zu würdigen und aus einer gleichsam olympischen Sicht alle Aspekte der Darbietung zu einer schlüssigen Gesamtdeutung zu integrieren. Die Möglichkeit einer solchen souveränen Überschau wird freilich dadurch in Zweifel gezogen, daß sogar der Erzähler die von ihm vermittelte Sicht des inszenierten ›tableau‹ als grundsätzlich defizient erscheinen läßt, indem er die eigene Deskriptionskompetenz durch die folgende rhetorische Frage relativiert: »Und wer beschreibt auch die Miene der neugeschaffenen Himmelskönigin?« (439). Damit gibt der Erzähler seinen narrativ vermittelten Blick auf die bildliche Darstellung des Präsepes als unzulänglich zu erkennen und rückt auf diese Weise in ein analogisches Verhältnis zum Architekten, der in seiner Rolle als Hirte einen perspektivisch beschränkten und damit notwendigerweise selektiv-reduktionistisch verfahrenden Betrachtertypus verkörpert.214 Das Motiv der bildimmanenten Betrachterinstanz prägt – allerdings ohne Bezug auf die Figur des Architekten – auch die Vorlage der ›Väterlichen Ermahnung‹. Die ermahnte Tochter blickt hier nämlich – genau wie der Rezipient des Gemäldes – in den Bildraum hinein und nimmt dabei exakt jene Position ein, die Goethe auch an einer Gestalt des Malers Ruysdael beobachtet: Sie befindet sich »im Vordergrund« des Bildes, »uns den Rücken kehrend«, und kann somit als Allegorie des »Betrachter[s]«, als »Repräsentant von Allen, welche das Bild künftig beschauen«, verstanden werden.215 Noch entschiedener als im Fall des ›Blinden Belisar‹ wird die Betrachterfigur in der ›Väterlichen Ermahnung‹ kompositorisch hervorgehoben: Sie befindet sich als einzige Gestalt im Vordergrund des Gemäldes und ist außerdem in der Nähe der Bildmitte plaziert.216 Anders als bei der bildlichen Darstellung der Betrachterfigur im ›Blinden Belisar‹ wird bei Ter Borchs Gemälde dem Rezipienten jedoch etwas Entscheidendes vorenthalten: Da die zentrale Frauengestalt nur von hinten zu sehen ist, bleibt ihr Gesicht verborgen; ihre Reaktion auf die an sie adressierte Ermahnung kann somit nicht eindeutig erschlossen werden. Der Rezipient vermag über die Deutung des Bildes nur zu spekulieren, was der Erzähler der ›Wahlverwandtschaf214

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Zusätzlich fundieren läßt sich diese Analogie dadurch, daß der Architekt als eine Art Regisseur des Präsepes fungiert, während dem Erzähler im Hinblick auf den gesamten Text ebenfalls eine Regiefunktion zukommt. Johann Wolfgang Goethe: Ruysdael als Dichter, S. 635. Indem Ter Borch die Zentralgestalt seines Bildes nicht exakt in der Bildmitte positioniert, entspricht er Goethes im Zweiten Römischen Aufenthalt formulierten Ideal der »verheimlichte[n] Symmetrie« (Johann Wolfgang Goethe: Zweiter Römischer Aufenthalt, S. 488; Ernst Osterkamp spricht in diesem Zusammenhang von Goethes »Forderung nach einer Nicht-Bezeichnung der Mitte« [Ernst Osterkamp: Im Buchstabenbilde. Stuttgart 1991, S. 298]).

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ten‹ bei seiner Beschreibung des entsprechenden ›tableau‹ durch eine Häufung des Unsicherheitsindikators »scheinen« signalisiert.217 Während die rückseitige Darstellung der bildimmanenten Betrachterfigur in der ›Väterlichen Ermahnung‹ also mit einer Deutungsunsicherheit des Rezipienten einhergeht, führt der ehrfurchtsvolle Gesichtsausdruck des Soldaten beim Anblick des geblendeten Feldherren im Falle des ›Blinden Belisar‹ zu einer Art normativer Vorgabe, an welcher sich die Bildauslegung zu orientieren hat. Nicht zufällig bekommt dabei jene Betrachterfigur, die den Deutungsspielraum des Rezipienten offenhält, eine höhere Wertigkeit zugesprochen als ihr präskriptiver Gegenpart: Die rückseitig dargestellte Frauengestalt der ›Väterlichen Ermahnung‹ erscheint als bildkünstlerische Analogie des vom Autor der ›Wahlverwandtschaften‹ praktizierten polyvalenten Darstellungsprinzips und wird wohl nicht zuletzt deshalb vom Erzähler mit Vollkommenheitsattributen versehen, die man bei der Beschreibung des Soldaten aus dem ›Blinden Belisar‹ vergeblich sucht.218

5.3. Dilettantische Reproduktion versus produktive Literarisierung – Zum Gegensatzverhältnis von figuraler Inszenierungstechnik und textueller Praxis Die Thematik der Kunstrezeption, die auf der Ebene des Bild-Inhalts durch eine Typologie unterschiedlicher Betrachterfiguren entfaltet wird, läßt sich auch auf der Ebene der Bild-Inszenierung verfolgen. Indem die an den ›tableaux vivants‹ beteiligten Akteure ihre Darbietungen nach Maßgabe bekannter Gemälde arrangieren, vergegenwärtigen sie eine spezifische Form der Auseinandersetzung mit Werken der Kunst. Sie treten ihren Vorlagen gleichsam als Rezipienten gegenüber, die den kognitiven Aneignungsprozeß körperlich nachstellen. Die materiale Imitation kann somit als metaphorische Einkleidung ästhetischer Rezeption verstanden werden. Wie aber ist der rezeptive Bezug zur Bildvorlage genau beschaffen? Aufschluß hierüber verspricht ein nochmaliger Blick auf jene Figur, die zur Inszenierungstechnik der ›tableaux vivants‹ eine besondere Affinität besitzt: Nicht zufällig ist der Vorschlag des Grafen, sich mit den lebenden Bildern einer »neue[n] Art von Darstellung« zu widmen, gerade an Luciane gerichtet (427). Der enge Bezug, in welchen Charlottes

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»Einen Fuß über den andern geschlagen, sitzt ein edler, ritterlicher Vater und scheint seiner vor ihm stehenden Tochter ins Gewissen zu reden. Diese, eine herrliche Gestalt im faltenreichen, weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hinten gesehen, aber ihr ganzes Wesen scheint anzudeuten, daß sie sich zusammennimmt. [...] Und was die Mutter betrifft, so scheint diese eine kleine Verlegenheit zu verbergen« (429, meine Hervorhebung). So heißt es mit Bezug auf die rückseitig dargestellte Frauengestalt, daß »ganz ohne Frage diese lebendige Nachbildung weit über jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzücken erregte« (429).

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Tochter zu den ›tableaux vivants‹ gesetzt wird, verrät Wesentliches sowohl über den Charakter dieser Figur als auch über die rezeptionsästhetische Eigenart der körperlichen Bildinszenierungen. Entscheidend ist dabei der Hinweis des Erzählers, daß Luciane »beinah ihre sämtliche Garderobe zerschneiden [ließ], um die verschiedenen Kostüme zu liefern, die jene Künstler willkürlich genug angegeben hatten« (428). Das Zerschneiden der Kleider erscheint in soziologischer Perspektive als ein Signum adliger Verschwendungsökonomie: Während die aristokratische Luciane keinen Aufwand scheut, um die Schönheit ihrer Gestalt im lebenden Bild repräsentativ in Szene zu setzen, vermag es die ganz auf bürgerliche Häuslichkeit angelegte Ottilie nicht, sich Eduards prachtvolles Kleidergeschenk zueigen zu machen (vgl. 372f.). Jenseits dieser soziologischen Implikationen hat das Verhalten Lucianes auch eine psychologische Valenz, die sich über die in Goethes Werk nicht selten anzutreffende metaphorische Verknüpfung zwischen Kleidung und Identität219 erschließt. Der Hinweis des Erzählers, daß Luciane »nichts Eigenes zu besitzen [...] schien«, charakterisiert nicht nur ihre materielle Freigebigkeit, sondern auch ihren Mangel an individueller Substanz (420). Weil sie keinen Persönlichkeitskern aufweist, vermag sie sich die von der jeweiligen Bildvorlage geforderte Rolle im ›tableau vivant‹ bruchlos anzuverwandeln. Im Gegensatz zu Ottilie, die sich der Marien-Rolle im Präsepe nur widerstrebend einfügt und sich gegen Ende ihres Auftritts im »Tag- und Glorienbild« zwingen muß, »immerfort als starres Bild zu erscheinen« (440), gelingt es Luciane mit Leichtigkeit, die freigebige Spenderin, die ohnmächtige Königin oder die ermahnte Bürgerstochter zu verkörpern. Dabei erweisen sich diese Rollen als Medien immer neuer Selbstentwürfe, mit denen Luciane kompensatorisch auf ihr Identitätsdefizit reagiert: Charlottes Tochter versucht, mit Hilfe der ›tableaux vivants‹ ihre innere Leere durch artifizielle Imitationen auszufüllen.220 Wenn Luciane, wie oben bereits zitiert, für die lebenden Bilder »beinah ihre sämtliche Garderobe zerschneiden« läßt, »um die verschiedenen Kostüme zu liefern, die jene Künstler, willkürlich genug, angegeben« haben, hat das nicht nur soziologische und psychologische, sondern auch rezeptionsästhetische Implikationen. Oberstes Ziel der ›tableaux vivants‹ ist, wie sich an Lucianes Verhalten zeigt, eine akribisch genaue Reproduktion, deren Detailversessenheit schon durch die auf ein kontingentes Selektionsprinzip verweisende Formulie219

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So wird etwa in der Pädagogischen Provinz der ›Wanderjahre‹ die Kleidung des einzelnen Zöglings als eine Zeichenordnung verstanden, die seine psychische Disposition zum Ausdruck bringt (vgl. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 431). In diesen Zusammenhang gehört ferner Lucianes Hang zu Verkleidungen, der auch bei anderen Anlässen hervortritt: »Sie hatte sich auf eine unendliche Abwechslung in Kleidern vorgesehen. Wenn es ihr Vergnügen machte, sich des Tags drei viermal umzuziehen und mit gewöhnlichen, in der Gesellschaft üblichen Kleidern vom Morgen bis in die Nacht zu wechseln: so erschien sie dazwischen wohl auch einmal im wirklichen Maskenkleid, als Bäuerin und Fischerin, als Fee und Blumenmädchen« (413f.).

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rung der vom Künstler »willkürlich genug« vorgenommenen Kleiderauswahl in ein fragwürdiges Licht rückt. Insgesamt verrät Lucianes Rezeptionsverhalten eine metaphorische Aufgabe des Eigenen (der auf sie zugeschnittenen Garderobe) zugunsten einer Imitation des Fremden (der auf den Bildvorlagen dargestellten Kostüme). Die lediglich reproduktiv ausgerichtete Inszenierungsform der ›tableaux vivants‹221 entbehrt damit jener lebendig-produktiven KunstAneignung, die auf einer Korrelation zwischen dem subjektiven Horizont des Rezipienten und den Sinn-Angeboten des jeweiligen Werkes beruht.222 In dieser Hinsicht entspricht der im wesentlichen von den Bedürfnissen Lucianes bestimmte Umgang des Wahlverwandtschaften-Personals mit den Bildvorlagen exakt jener Verfahrensweise, die Goethe in seinem Fragment ›Über den Dilettantismus‹ kritisiert: »Überhaupt will der Dilettant in seiner Selbstverkennung das Passive an die Stelle des Aktiven setzen«.223 Indem er »bloß den allgemeinen Nachahmungstrieb bei sich walten« läßt,224 fehlt ihm »diejenige ausübende Kraft, welche erschafft, bildet, konstituiert; er hat davon nur eine Art von Ahndung, gibt sich aber durchaus dem Stoff dahin, anstatt ihn zu beherrschen«.225 Ähnlich wie Luciane, die ihr Augenmerk auf eine möglichst vollkommene Nachahmung ihrer Vorlagen richtet, ohne deren tieferen Aussagegehalt zu ergründen, verliert sich auch der Dilettant ans Periphere und kultiviert eine leere »Akkuratesse«,226 deren perfektionistischer Anspruch sich in einer auf Äußerlichkeiten fixierten Reproduktion erschöpft. Die Sterilität des Dilettanten, die auf der starren Übernahme vorgefertigter Muster beruht, zeigt sich nicht zuletzt an einem sowohl für die Hauptdarstellerin der lebenden Bilder als auch für deren Zuschauer charakteristischen Mangel an »Einbildungskraft« (424). Während der Erzähler diesen Mangel bei Luciane explizit herausstellt,227

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Der reproduktive Perfektionismus, den Luciane kultiviert, trägt auch zu ihrem – oben bereits in anderem Zusammenhang analysierten – Beharren auf der Bewegungslosigkeit ihrer Darbietung bei: Sie will nicht nur das auf der Bildvorlage Dargestellte, sondern auch den bildkünstlerischen Modus der Darstellung möglichst vollkommen imitieren. Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer, der das »Spannungsverhältnis zwischen [überliefertem] Text und Gegenwart« in seinem berühmten Theorem der Horizontverschmelzung folgendermaßen beschreibt: »Der Horizont der Gegenwart bildet sich [...] gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte« (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 289f.). Johann Wolfgang Goethe: ›Über den Dilettantismus‹. In: FA 18, S. 739–785, hier S. 779. Zu Goethes Dilettantismuskonzeption siehe Hans-Rudolf Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe. Praxis, Theorie, Zeitkritik. München 1971. Johann Wolfgang Goethe: ›Über den Dilettantismus‹, S. 781. Ebd., S. 785. Ebd. So bemerkt der Erzähler über Luciane, daß »ihre Erfindungen gewöhnlich gemein waren«, und erläutert diese Feststellung folgendermaßen: »Weiter als zu einem Altar, worauf geopfert ward, und zu einer Bekränzung [...] konnte ihre Einbildungskraft sich nicht versteigen, wenn sie

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läßt er ihn im Hinblick auf das Publikum nur verhalten anklingen, indem er dessen Unvermögen vor Augen führt, die Bewegungslosigkeit der ›tableau‹Darsteller imaginativ zu dynamisieren.228 Die exakte Reproduktion der Bildinhalte als primäres Kennzeichen der ›tableaux vivants‹ verweist somit, neben zahlreichen weiteren Bedeutungsdimensionen, auch auf eine sterile Rezeptionshaltung, die der von Goethe propagierten schöpferisch-aktiven Aneignung von Kunst zuwiderläuft. Während der Umgang der Figuren mit den Bildvorlagen Ausweis eines rein reproduktiven Rezeptionsverhaltens ist, nutzt der Erzähler das komplexe Sinnpotential und die vielfältigen Auslegungsspielräume der Gemälde in produktiver Weise, um das Romangeschehen mit einem doppeldeutigen Kommentar zu versehen, dessen Referenzbereich zwischen den Bezugspersonen Luciane und Ottilie oszilliert. Die für Bildauswahl und Rollenverteilung verantwortliche Luciane hat die Inszenierung aller drei Gemälde auf eine simple Verherrlichung ihrer Person angelegt. So ist ihre Rollenwahl bei der Darstellung des ›Blinden Belisar‹ lediglich »halb bescheiden« (427), da die von ihr gemimte großzügige Spenderin zwar nur im Hintergrund der Bühne agiert, sich aber gleichwohl eignet, Lucianes ostentative Freigebigkeit wirkungsvoll in Szene zu setzen. Die Bildvorlage der ›Väterlichen Ermahnung‹ ermöglicht es Luciane, ihre körperlichen Vorzüge optimal zu präsentieren und dabei »in ihrem höchsten Glanze [zu] erscheinen« (429). Die Rolle der Esther in Poussins Gemälde bietet Charlottes Tochter ein gleichermaßen dankbares, weil publikumswirksames Medium für ihre Selbstdarstellung: Sie erscheint als Königin, der es unter Einsatz des eigenen Lebens gelingt, ihr von der Vernichtung bedrohtes Volk zu retten. Die Situierung der lebenden Bilder innerhalb des Romankontextes eröffnet allerdings eine zweite Bedeutungsebene, die der Intention Lucianes diametral entgegensteht. Die drei ›tableaux vivants‹ fungieren nämlich nicht nur als Medien der Selbstinszenierung für Luciane, sondern treten in einen vielschichtigen und komplexen Bezug zu Ottilie, die von Charlottes Tochter doch gerade aus eifersüchtigem Geltungsbedürfnis heraus »von den Gemäldedarstellungen ausgeschlossen« wurde (437).229 Im Fall des ›Blinden Belisar‹ konnte oben bereits gezeigt werden, wie Ottilie durch ihre materielle Hilfsbedürftigkeit, durch ihre Idealisierung sowie durch ihren legendarischen Subtext in ein Analogieverhältnis zum geblendeten Feldherrn rückt.230 Während die semantischen Verweise auf Ottilie und Luciane mit Belisar und der freigebigen Spenderin hier noch zwei getrennte Bildfiguren betreffen, sind die beiden Bezugspersonen bei der

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irgend Jemand zum Geburts- und Ehrentage ein festliches Kompliment zu machen gedachte« (424). Vgl. dazu S. 121–123 der vorliegenden Studie. Vgl. dazu auch den Hinweis des Erzählers im Zusammenhang mit Ahasverus und Esther, daß Ottilie »von diesem Bilde wie von den übrigen ausgeschlossen [...] blieb« (428). Vgl. dazu S. 131f. der vorliegenden Studie.

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Inszenierung der ›Väterlichen Ermahnung‹ in einer Gestalt vereinigt: Die rückseitig dargestellte Frau, die durch ihre zentrale Positionierung unschwer als Hauptfigur des Bildes zu identifizieren ist, läßt sich sowohl in Richtung auf Luciane als auch in Richtung auf Ottilie interpretieren. So kann die piktorale Konstellation als eine symbolische »Ermahnung« Lucianes verstanden werden, deren taktlose »Unart« die Gesellschaft zum Mißfallen des Erzählers stets kritiklos hinnimmt (417). Die im realen Leben vaterlose Luciane231 wird im Bild einem Akt patriarchaler Erziehung unterworfen, der zur Folge hat, »daß sie sich zusammennimmt« (428) – ein Verhaltensmuster, das ihrer unbeherrschten Maßlosigkeit gut anstünde. Doch auch im Hinblick auf Ottilie liegt es nahe, dem inszenierten ›tableau vivant‹ eine zeichenhafte Korrektivfunktion zuzusprechen. Denn obwohl Luciane als Darstellerin der ermahnten Frauengestalt agiert, weist diese in Haltung und Habitus zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Eduards Geliebter auf. Sie erscheint, wie Waltraud Maierhofer feststellt, auf Ter Borchs Gemälde als »höchst dekorativ, dabei reserviert, zurückhaltend, still, passiv, kontrolliert« – Merkmale, die auch für das Auftreten und den Charakter Ottilies eigentümlich sind.232 Dem entspricht, daß Ottilie im Sinnzusammenhang des Textes durchaus als Adressatin einer symbolischen väterlichen Ermahnung in Frage kommt. Wie die kurze Episode um das Portraitmedaillon auf dem Spaziergang zur Mühle zeigt, markiert der Vater für Ottilie eine imaginäre Autorität, die der Verbindung mit dem Geliebten entgegensteht.233 Indem sie das Miniaturbild des Vaters von ihrer Halskette entfernt, tritt sie aus dem patriarchalischen Wertesystem ihrer Herkunftsfamilie heraus, um sich der außerehelichen Liebesbindung an Eduard zu öffnen, der den Zeichencharakter dieser Geste deutlich erkennt: »Ihm war, [...] als wenn sich eine Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt hätte« (323). Mit der ›Väterlichen Ermahnung‹ kehrt nun die verdrängte Vaterinstanz in Form einer bildhaften Inszenierung zurück, um die »außerordentliche [...] Leidenschaft« Ottilies symbolisch zur Ordnung zu rufen (321). Bei genauerer Betrachtung rückt diese moralisierende Valenz der Gemäldedarstellung allerdings in ein ambivalentes Licht: Der ungesicherte Referenzbereich der Bildvorlage, der bekanntlich zwischen Familienidylle und Bordellszene oszilliert,234 untergräbt die Position des ermahnenden Vaters, der 231

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Bereits im ersten Kapitel des Romans erwähnt Charlotte gegenüber Eduard, daß ihr erster Ehemann, der Vater Lucianes, »eben zu der Zeit« verstarb, »da du von Reisen zurückkamst« (275). Waltraud Maierhofer: Vier Bilder und vielfältige Bezüge, S. 371; ähnlich Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 139. Vgl. dazu David E. Wellbery: ›Die Wahlverwandtschaften‹ (1809), S. 304f. Vgl. dazu S. 118 der vorliegenden Studie. Ob Goethe diese Ambivalenz der Bildvorlage erkannt hat, ist in der Forschung allerdings nicht unumstritten. Für ein bewußtes Spiel mit der Doppeldeutigkeit der Bildvorlage argumentieren, unter Hinweis auf das gehäufte Auftreten des Verbums »scheinen« bei der Schilderung der Väterlichen Ermahnung, Aubenque, Reschke und, mit

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– so Goethes vielsagende Beschreibung – »seiner vor ihm stehenden Tochter ins Gewissen zu reden scheint« (428, meine Hervorhebung). Vor diesem Hintergrund läuft die schon im Titel der ›Väterlichen Ermahnung‹235 implizierte moralische Wertung ins Leere; der Gestus skeptischer Urteilsenthaltung, den Jochen Schmidt als durchgängiges Muster der ›Wahlverwandtschaften‹ aufgewiesen hat,236 wirkt damit bis in die Bedeutungsnuancen der literarisierten Bildvorlage hinein. Die Inszenierung der Bildvorlage ›Ahasverus und Esther‹ eröffnet ein ähnlich bedeutungsreiches semantisches Feld wie die ›Väterliche Ermahnung‹. Ohne daß es Luciane bewußt wäre, ist die Geschichte der von ihr gemimten biblischen Esther durch eine Vielzahl von Analogien und Korrespondenzen mit dem Schicksal Ottilies verwoben. Wie Esther ist auch Ottilie eine Waise, die – ›mutatis mutandis‹ – eine Liaison mit einem sozial höhergestellten Mann eingeht. Dabei bleibt beiden Frauen der prunkvolle Lebensstil ihrer Partner wesensfremd: Während Esther in einem Gebet bekennt, daß »ich das Zeichen meiner Würde verabscheue und es an den Tagen meines öffentlichen Auftretens nur unter Zwang auf dem Kopf trage«,237 kann sich Ottilie das exquisite Kleidungs- und Schmuckgeschenk Eduards nicht zueignen und verwendet weiterhin ihre schlichte Garderobe, die auf ihre bürgerliche Herkunft verweist und sich dem adligen Repräsentationsanspruch entzieht (vgl. 373 u. 423). Auch die Motive der Ohnmacht238 und des Fastens239 begegnen sowohl bei Esther

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gewissen Vorbehalten, Maierhofer (Jutta Aubenque: Goethe et la prétendue Remontrance Paternelle de Terborch. In: Etudes Germaniques 32 [1977], S. 437–440, hier S. 440; Nils Reschke: »Die Wirklichkeit als Bild«, S. 150; Waltraut Maierhofer: Vier Bilder und vielfältige Bezüge, S. 364–367). Erich Trunz dagegen plädiert für die ungebrochene Familienidylle als Referenzbereich und urteilt apodiktisch: »Nur in den Köpfen einiger Kunsthistoriker, die kulturgeschichtlich nicht genügend informiert sind, gibt es dieses Bordell« (Erich Trunz: Die Kupferstiche zu den »lebenden Bildern« in den ›Wahlverwandtschaften‹. Mit einem Anhang über Terborchs Väterliche Ermahnung. In: E.T.: Weimarer Goethe-Studien. Weimar 1980, S. 203–217, hier S. 216). Thomas Lehmann erklärt die Diskussion um Goethes Verständnis der Bildvorlage für irrelevant und deutet die Häufung des Verbums »scheinen« bei der Schilderung der Väterlichen Ermahnung als Indikator für die »Abhängigkeit« jeder Bild-Interpretation »vom Gesichtspunkt der interpretierenden Stimme«, ohne diesen Gedanken allerdings genauer auszuführen (Thomas Lehmann: Augen Zeugen, S. 305). Dieser Titel geht übrigens nicht auf Ter Borch selbst, sondern auf Wille zurück, der seinen in den ›Wahlverwandtschaften‹ erwähnten Kupferstich von 1765 mit der Unterschrift »Instruction Paternelle« versah. Das Originalgemälde Ter Borchs aus dem Jahre 1765 trug keinen Titel (Vgl. dazu Alison McNeil-Kettering: Ter Borch’s Ladies in Satin. In: Art History 16 [1993], S. 95–124, hier S. 96). Vgl. dazu Jochen Schmidt: Ironie und Skepsis in Goethes Alterswerk, S. 168–170. Esther 4, 17v. Zit. nach: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg, Basel, Wien 1980, S. 519. Vgl. dazu die wiederholten ohnmachtsähnlichen Zustände, von denen Ottilie berichtet (499f.), sowie Esther 5, 1d–2b. Die Nahrungsverweigerung, die letztlich zum Tode Ottilies führt, korrespondiert mit der Aufforderung Esthers an ihren Pflegevater, drei Tage und Nächte mit ihr zu fasten (Esther 4, 16).

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als auch bei Ottilie. Der wichtigste und zugleich hintergründigste Bezug zum Geschehen der ›Wahlverwandtschaften‹ liegt allerdings in der Bedeutung des Namens der biblischen Heldin: Einerseits verweist die Etymologie von Esther auf das persische Wort »stara«, das sich mit ›Stern‹ übersetzen läßt.240 Andererseits heißt Esther im Hebräischen soviel wie »ich bin verborgen«.241 Beide Bedeutungsimplikationen lassen sich auf den Stellenwert des Poussin-›Tableaus‹ innerhalb des Goetheschen Textes anwenden. Mit der etymologischen Allusion auf die Himmelskörper fügt sich der Esther-Komplex in ein leitmotivisches Geflecht ein, das in erster Linie Ottilie zugeordnet ist, sich an einer Stelle aber auch bei der Charakterisierung Lucianes geltend macht: Während der im Text wiederholt herausgestellte Bezug Ottilies zu den Sternen242 darauf verweist, daß sich diese als Teil einer – innerhalb der Erzählgegenwart anachronistisch gewordenen – kosmischen Ordnung begreift, bezeichnet der Vergleich Lucianes mit einem »brennenden Kometenkern« deren destruktiv-chaotisches, von ruheloser Dynamik getriebenes Naturell (413), das an Goethes Diagnose der anbrechenden Moderne als einer »veloziferisch[en]« Epoche erinnert.243 Der Rekurs auf die Esther-Gestalt, deren Bezugshorizont innerhalb des Romans sowohl Luciane als auch Ottilie einschließt, fügt diese beiden gegensätzlichen Semantisierungen der Gestirnsmotivik zu einer spannungsvollen Einheit zusammen – einer Einheit, die sich auf der Ebene der Namen übrigens auch durch die in den ›Wahlverwandtschaften‹ hintergründig ironisierte Odilien-Legende 240

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Vgl. dazu Arndt Meinhold: Das Buch Esther. Zürich 1983, S. 34. Auf diese etymologische Dimension des Namens Esther hat bereits H.G. Barnes hingewiesen, der aus dem wortgeschichtlichen Befund eine Verbindung zwischen der biblischen Esther und der Goetheschen Ottilie ableitet, ohne diese Affinität detailliert zu analysieren (H.G. Barnes: Bildhafte Darstellung in den ›Wahlverwandtschaften‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 30 [1956], S. 41–70, hier S. 58f.). Vgl. dazu Friedrich Weinreb: Die Rolle Esther. Bern 1980, S. 65f. So heißt es anläßlich der Umarmung zwischen Eduard und Ottilie kurz vor dem Tod des kleinen Otto: »Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg« (493). Wenig später wendet sich die hilflos auf dem See treibende Ottilie »nicht vergebens zu den Sternen«, um einen günstigen Wind zu erbitten (495). An anderer Stelle erinnert sich Ottilie, wie Charlotte nach dem Tod ihrer Mutter davon sprach, »wie mißlich es um mich [Ottilie, C.M.] stehen könne, wenn nicht ein besondrer Glücksstern über mich walte« (500). Nach ihrem Tode schließlich wird ihr Haupt mit »Asterblumen« bekränzt, »die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten« (523). Ein indirekter Bezug Ottilies zum kosmologischen Ordnungsdenken zeigt sich auch an jener von ihr verwendeten Metapher, die den Bildspender der Gestirnsbewegung auf den Bildempfänger der aus ihrer Sicht moralisch verfehlten Beziehung zu Eduard überträgt: »Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze gebrochen« (500). Als Konsequenz aus dieser Einsicht hat sich Ottilie nach eigenem Bekunden »eine neue Bahn vorgezeichnet« (500). Ein Aphorismus aus den Betrachtungen im Sinne der Wanderer hält fest: »Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeis’t, den Tag im Tage vertut [...]. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, [...] von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch« (Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, S. 563).

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beglaubigen läßt.244 Luciane freilich entgeht der Bezug, in dem die Rolle der Esther zu der aus Mißgunst von der ›tableau‹-Darstellung ausgegrenzten Ottilie steht; damit bleibt ihr, der zweiten etymologischen Implikation des Namens Esther entsprechend, eine wesentliche Bedeutungsdimension der eigenen Poussin-Inszenierung ›verborgen‹. Auf diese Weise verkehrt sich die von Luciane mit der ›tableau‹-Darstellung verfolgte Intention in ihr Gegenteil: Was als simple Verherrlichung der eigenen Person gedacht war, gewinnt eine Bedeutungsfülle, die sich der narzißtischen Funktionalisierung verweigert; die reproduktive Bildordnung des ›tableau vivant‹ wird durch die textuelle Praxis des Romans in eine produktive Sprachordnung überführt, die ihrerseits den dilettantisch-mimetischen Rezeptionsakt der Figuren zum ästhetischen Symbol veredelt.

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So erscheint nach der Legende der sterbenden Odilia die heilige Lucia, weshalb die katholische Kirche dieser beiden Heiligen am selben Tag gedenkt (vgl. dazu Maria Stoeckle: Das Leben der hl. Odilia. St. Ottilien 1991, S. 62f. u. S. 126 Anm. 57 sowie Erna und Hans Melchers: Das große Buch der Heiligen. Geschichte und Legende im Jahreslauf. München 1978, S. 802). Darüber hinaus ist beiden Heiligen als wichtigstes Attribut das Auge zugeordnet. Goethe kannte diese ikonographische Tradition im Fall der heiligen Odilia vermutlich durch seine in Dichtung und Wahrheit beschriebene Wallfahrt auf den Odilienberg (vgl. dazu Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 542), im Fall der heiligen Lucia durch seine Übersetzung des Benvenuto Cellini, wo der Titelheld der heiligen Lucia für seine Genesung von einer Augenverletzung mit einem aus einer Münze verfertigten goldenen Auge dankt (Johann Wolfgang Goethe: Leben des Benvenuto Cellini. In: FA 11, S. 9–526, hier S. 391). – Zur Umcodierung der Odilien-Legende in den ›Wahlverwandtschaften‹ siehe S. 158–161 der vorliegenden Studie.

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6.

»Zeugnis für eine entfernte Nachwelt« – Die poetologische Valenz der Grundsteinlegung

Ähnlich wie die lebenden Bilder reflektiert auch die Grundsteinlegung des Lusthauses die Kunst unter dem Aspekt der Temporalität. Während es bei den ›tableaux vivants‹ allerdings primär um den Antagonismus zwischen der Statik der Darstellung und der Dynamik des Dargestellten geht, der die Grenze zwischen zeitenthobener Kunst und zeitgebundenem Leben markiert, verweist die Symbolik der Grundsteinlegung in ironisch gebrochener Weise auf das traditionsstiftende und kontinuitätssichernde Potential der Literatur innerhalb des historischen Zeitlaufs. Um die implizite Poetologie der Grundsteinlegung zu rekonstruieren, soll zunächst die Position des Lustgebäudes innerhalb der symbolischen Topographie der ›Wahlverwandtschaften‹ bestimmt werden. Daraufhin skizziere ich, welche psychischen Mechanismen bei den an der Grundsteinlegung beteiligten Figuren wirksam sind, um anschließend aufzuzeigen, wie diese Partie des Romans eine sich selbst unterlaufende Poetologie kultureller Archivierung entwickelt und in Form von intertextuellen Verweisen auf einen legendarischen Subtext zugleich auch erzählpraktisch umsetzt. Das Lusthaus, dessen Grundsteinlegung im neunten Kapitel des ersten Romanteils erfolgt, ist Bestandteil eines symbolischen Beziehungsgeflechts, das durch Analogie- und Kontrastverhältnisse zwischen insgesamt vier Gebäuden konstituiert wird. In topographischer Hinsicht bilden diese Gebäude zwei Gruppen: Das Schloß und die Mooshütte sind durch Sichtachsen miteinander verbunden (271), während man von der Anhöhe, die Ottilie für den Bau des Lusthauses auswählt, zwar nicht das Schloß und die Mooshütte, dafür aber die Mühle sehen kann (325f.). Wie läßt sich nun die jeweilige symbolische Wertigkeit von Schloß, Mooshütte, Mühle und Lusthaus beschreiben und ihr wechselseitiges Verhältnis genauer charakterisieren? Das Schloß fungiert für die Figuren als Ort der repräsentativen, streng ritualisierten Lebensweise des Adels und markiert zugleich, wie aus einer Bemerkung des Hauptmanns hervorgeht, einen von Vernunft und Tradition bestimmten Bereich, der zuverlässigen Schutz vor dem Elementaren bietet.245 Für Charlotte allerdings ist das Schloß mit einer Defizienzerfahrung verknüpft: Es steht für den Mangel an persönlich-emotionaler Nähe, den sie in der Ehe mit Eduard empfindet und auf den sie mit 245

So beschreibt der Hauptmann die Lage des Gebäudes folgendermaßen: »Das Schloß haben die Alten mit Vernunft hierher gebaut: denn es liegt geschützt vor den Winden« (326, meine Hervorhebung).

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dem Bau der Mooshütte in kompensatorischer Weise reagiert. Die Mooshütte repräsentiert demnach den unbewußten Wunsch Charlottes nach jener ehelichen Intimität,246 die sich innerhalb der ritualisierten Sphäre des Schlosses nicht verwirklichen läßt.247 Charakteristischerweise wird allerdings gerade der Ort der Sehnsucht nach persönlicher Nähe und natürlicher Unmittelbarkeit mit artifiziellen Arrangements versehen: Charlotte dekoriert die Mooshütte mit »künstlichen Blumen und Wintergrün«, die »dem Kunstsinn der Anordnenden zur Ehre gereichten« (288). Die dadurch hervorgerufene Aura des Artifiziellen und Leblosen markiert die Vergeblichkeit von Charlottes Bestreben, die fehlenden emotionalen Bindekräfte ihrer Ehe durch eine sekundär-kompensatorische Inszenierung wiederzubeleben. Im weiteren Verlauf des Romans wird die Mooshütte nach dem dritten Kapitel kaum mehr erwähnt, da ihre intime Räumlichkeit ganz auf die anfängliche Zweierbeziehung zwischen Charlotte und Eduard ausgerichtet ist;248 das um den Hauptmann und Ottilie erweiterte Figurenensemble widmet sich mit dem Lusthaus sogleich einem anderen Bauvorhaben. Dieses markiert als Ort der freien Geselligkeit und des Willkürlich-Beliebigen zwar einen Gegenpol zur ritualisierten Sphäre des Schlosses, bleibt aber dennoch, so zumindest die ursprüngliche Absicht der Figuren, auf dessen Ordnung bezogen: »[M]an wollte oberwärts am Abhange vor einem angenehmen Hölzchen ein Lustgebäude aufführen; dieses sollte einen Bezug aufs Schloß haben, aus den Schloßfenstern sollte man es übersehen, von dorther Schloß und Gärten wieder bestreichen können« (318). Wenig später wird der gewählte »Platz des neuen Hauses gegen dem Schloß über nochmals gebilligt« (325). Damit scheinen zwei gegensätzliche Grundbestrebungen in eine gewisse Balance gebracht: einerseits die Notwendigkeit, sich innerhalb einer festen Ordnung zu situieren; andererseits das Bedürfnis nach einer freien, von den Reglementierungen und Normierungen der gesellschaftlichen Sphäre nicht erfaßten Existenz. Die von den Figuren ursprünglich geplante topographische Konstellation zwischen Schloß und Lustgebäude kann als räumliches Abbild einer in den ›Wahlverwandtschaften‹ im Hinblick auf Eduard auch an anderer Stelle entfalteten Psychodynamik ver246

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Bereits Elisabeth Herrmann hat darauf hingewiesen, daß Charlottes Arbeit an der Mooshütte Ausdruck eines »unbewußten Wunsch[es] nach einer engeren Beziehung zu ihrem Gatten« ist (Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 56). Jenseits der auf Charlotte bezogenen individualpsychologischen Dimension hat die Mooshütte im Sinngefüge der ›Wahlverwandtschaften‹ auch eine kulturhistorisch-diagnostische Valenz: Sie reflektiert jenes rousseauistisch grundierte Verlangen einer überzivilisierten Adelsgesellschaft nach dem Authentisch-Ursprünglichen, das etwa Marie-Antoinette dazu bewegte, zum Amüsement des Hofes ländliche Hütten anlegen zu lassen. Diese regressive Natursehnsucht dementiert sich allerdings selbst, indem sie auf künstlich hervorgebrachte Mittel zurückgreift. Dies zeigt bereits der folgende Dialog, den Eduard und Charlotte zu Beginn des Romans in der Mooshütte führen: » ›Nur eines habe ich zu erinnern‹, setzte er [Eduard] hinzu: die Hütte scheint mir etwas zu eng.‹ ›Für uns beide doch geräumig genug,‹ versetzte Charlotte« (272).

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standen werden: Der Mensch vermag sich nicht dauerhaft auf eine bestimmte Form des Daseins zu beschränken; die Festlegung auf einen Pol ruft jeweils mit dialektischer Notwendigkeit das Bedürfnis nach dessen Gegenpol hervor.249 Ottilie allerdings schenkt dieser Gesetzlichkeit keine Beachtung, wenn sie auf Eduards Frage hin einen anderen Bauort für die Mooshütte vorschlägt, der sich von der überkommenen Ordnung des Schlosses vollständig emanzipiert: »›Ich würde‹, sagte Ottilie, indem sie den Finger auf die höchste Fläche der Anhöhe setzte, ›das Haus hieher bauen. Man sähe zwar das Schloß nicht: denn es wird von dem Wäldchen bedeckt; aber man befände sich auch dafür wie in einer andern und neuen Welt, indem zugleich das Dorf und alle Wohnungen verborgen wären. Die Aussicht auf die Teiche, nach der Mühle, auf die Höhen, in die Gebirge, nach dem Lande zu, ist außerordentlich schön[.]‹« (325f.). Ottilies Ansinnen bezüglich des Bauorts, das später auch tatsächlich umgesetzt wird, versieht das Lusthaus mit einer doppelten semantischen Wertigkeit. Zunächst einmal steht es im Zeichen der Ästhetisierung: Die beschriebene Aussicht bietet ein typisch romantisches Panorama, das mit seiner Öffnung ins Weite eine Tendenz zur Entgrenzung aufweist250 und das Ottilie nicht zufällig mit der Kategorie des Schönen zusammenfassend charakterisiert. Kennzeichnend für diese Ästhetisierung ist das Bestreben, den Bedingtheiten des realen Daseins zu entfliehen, das entschieden in die Distanz gerückt wird. Damit steht das Lusthaus im Kontext zahlreicher insbesondere von Eduard und Charlotte betriebener Aktivitäten, die darauf abzielen, das Reale mit dem Schein der Kunst zu versehen und es dadurch zu bannen. Die Umgestaltung der Parkanlagen, die Neu-Anordnung des Friedhofs, die artifizielle Rahmung des Ausblicks 249

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So zeigt sich etwa in der topographischen Symbolik des dritten Kapitels eine Dialektik zwischen Rückzugsbedürfnis und Expansionsdrang. Nachdem sich Eduard, Charlotte und der Hauptmann in den eng umgrenzten Raum der Mooshütte zurückgezogen haben, äußert Eduard sogleich ein Expansionsbedürfnis, das auf die Unfähigkeit verweist, ein sentimentalisch reduziertes Dasein zu führen: »Laß uns [...] den Freund gleich völlig auf die Höhe führen, damit er nicht glaube, dieses beschränkte Tal nur sei unser Erbgut und Aufenthalt; der Blick wird oben freier und die Brust erweitert sich« (289). Eine ähnliche Dialektik verrät die Abfolge der Exklusions- und Inklusionsmechanismen, die Eduard und Charlotte praktizieren. Nachdem sie offenbar erst einige Monate zuvor Luciane und Ottilie in eine Erziehungsanstalt abgeschoben haben, um in isolierter Zweisamkeit sich »selbst [zu] leben« (275), verspürt Eduard zu Beginn des Romans den Wunsch, den Hauptmann auf das Schloß einzuladen, worauf Charlotte trotz einiger Bedenken mit der Einladung Ottilies reagiert. Ein ebenfalls dialektisches Verhältnis besteht zwischen der »außerordentliche[n] [...] Leidenschaft« der Figuren und ihren ausgeprägten Ordnungsbestrebungen (vgl. dazu S. 62 der vorliegenden Studie). Diese Tendenz zur Entgrenzung, die als Bestandteil eines in den ›Wahlverwandtschaften‹ an verschiedenen Stellen anzutreffenden romantikkritischen Reflexionszusammenhangs betrachtet werden kann, findet ihre Fortsetzung in dem bei der Grundsteinlegung des Lusthauses von einem Zuschauer geäußerten Vorschlag, »die drei Teiche zu einem See« zu vereinigen (335). – Bereits Michael Mandelartz hebt die »Aussicht ins Unendliche« als zentrales Merkmal des Lusthauses hervor und versteht dieses Gebäude als Chiffre der »Romantik« (Michael Mandelartz: Bauen, Erhalten, Zerstören, Versiegeln. Architektur als Kunst in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Zs. für deutsche Philologie 118 [1999], S. 500–517, hier S. 515 u. 506).

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aus der Mooshütte – all diese Ästhetisierungsstrategien, die innerhalb des ersten Buches im Bau des Lusthauses als einem perspektivischen Endpunkt kulminieren, erweisen sich als Formen der Realitätsflucht, mit denen Eduard und Charlotte ihrer stagnierenden Lebenssituation zu entrinnen versuchen. Dabei haftet der Transponierung in den Modus des Ästhetischen durchweg etwas Tödliches an, was insbesondere am Phänomen der ›tableaux vivants‹ sowie an der artifiziellen Zurschaustellung der verstorbenen Ottilie offen zutage tritt. Neben dieser ästhetisierenden und damit – im Sinnzusammenhang der ›Wahlverwandtschaften‹ – lebensverneinenden Dimension trägt die Bildlichkeit des Lusthauses aber auch deutliche Züge der Erotisierung: Schon sein Name, der in den »Lustreisen« des libertinistisch gesinnten gräflichen Paares wenig später einen vielsagenden Nachklang findet (336), rückt das Gebäude in den Horizont der Sehnsucht nach sexueller Erfüllung und intensiv erfahrenem Leben. Dem entspricht, daß Ottilie bei ihrer oben zitierten Schilderung der Aussicht unter anderem die Mühle und die Teiche erwähnt. Die Mühle ist seit alters her der zeichenhafte Ort erotischer Begegnungen, worauf die ›Wahlverwandtschaften‹, wie in der Forschung bereits festgestellt,251 im siebten Kapitel des ersten Teils rekurrieren, wenn Ottilie gerade auf dem Spaziergang zu einer Mühle das Medaillon mit dem Bildnis ihres Vaters von ihrer Halskette ablöst, auf diese Weise aus der Primärbindung an ihre Herkunftsfamilie heraustritt und damit einer Beziehung zu Eduard symbolisch den Boden bereitet. Ähnlich wie die Mühle sind auch die Teiche sexuell konnotiert,252 deren spätere Zusammenlegung zu einem größeren See die insbesondere von Eduard und Ottilie erstrebte Niederlegung moralisch-kultureller Scheidewände zugunsten des erotischen Begehrens verbildlicht. In welchem Verhältnis steht nun der erotische Symbolwert des Lusthauses, der mit einer Überschreitung der durch das Schloß repräsentierten althergebrachten Ordnung verbunden ist, zu der auf ein ordnungsstiftendes Fundament hin konzipierten Grundsteinlegung? Offenbar soll das, was man in der ursprünglichen Planung des Lusthauses durch den Sichtkontakt zum Schloß gewährleistet glaubte, nunmehr durch einen Akt der Begründung und soliden Verankerung hervorgebracht werden. Die Grundsteinlegung erscheint somit als ein psychosymbolisches Gegengewicht zum fluktuierenden Bereich der Erotik, als kompensatorischer Versuch, die für das Lusthaus kennzeichnende okkasio-

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Vgl. dazu Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 85. Zur erotisch besetzten Wassersymbolik in den ›Wahlverwandtschaften‹ siehe Friedrich Kittler: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Sociale Verhältnisse symbolisch dargestellt. In: Norbert W. Bolz (Hg.): Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981, S. 230–259, hier S. 240 sowie Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 84–87.

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nalistische Beliebigkeit, die alle hergebrachten Bindungen zur Disposition stellt, zeichenhaft auszutarieren.253 Für Eduard, dessen großzügige Gaben sein besonderes Interesse an der Grundsteinlegung verraten,254 stellt diese darüber hinaus eine Möglichkeit dar, seine ›illegitime‹ Leidenschaft zu Ottilie gleichsam rituell zu beglaubigen. Dem entspricht, daß – als eine Art Kulminationspunkt gegen Ende der Zeremonie – gerade jene Kette in den Grundstein einlegt wird, die, nachdem das Bild des Vaters von ihr abgelöst wurde, nunmehr die Annäherung Ottilies an Eduard symbolisiert.255 Charlotte allerdings agiert bei der Grundsteinlegung nach einem gegenläufigen Semantisierungsmuster: Sie wirft mit einer Kelle Kalk unter den Stein und führt damit eine Tätigkeit aus, deren symbolische Bedeutung der Maurer folgendermaßen beschreibt: »Aber auch hier soll es am Kalk, am Bindungsmittel nicht fehlen: denn so wie Menschen die einander von Natur geneigt sind, noch besser zusammenhalten, wenn das Gesetz sie verkittet; so werden auch Steine deren Form schon zusammenpaßt, noch besser durch diese bindenden Kräfte vereinigt« (331). Die hier vorgenommene Affirmation der ehelichen Bindung unterstellt eine Einheit von Emotion und Norm, von naturhafter Neigung und deren soziokultureller Sanktionierung, die durch den tragischen Verlauf des Romangeschehens entschieden dementiert wird. Charlottes Geste, als zeichenhafte Stabilisierung ihrer Beziehung zu Eduard gedacht, beruht auf einem semiotischen Verwechslungsgeschehen: Das, wie schon die Wahl des Bauortes zeigt, im Dienste der erwachenden Leidenschaft zwischen Eduard und Ottilie entworfene Lusthaus256 soll auf einer symbolischen Bestätigung

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Eine der Grundsteinlegung vergleichbare symbolische Funktion kommt dem vom Hauptmann konzipierten Weg zu, der zum Lusthaus führt und dessen Erwähnung leitmotivisch wiederkehrt (vgl. 318, 329 u. 330). So weist der Begriff »Weg« in etymologischer Hinsicht eine ausgeprägte Affinität zum Bereich der planenden Vernunft auf: Die »Methode« als rational konzipiertes Verfahren stammt wortgeschichtlich von griechisch »hodós«, der Weg. Die mit Hilfe der Präposition »metá« (»zu etwas hin«) erfolgte Bildung des Kompositums »méthodos« bedeutet ursprünglich »Weg in einer bestimmten Richtung«. Vor diesem Hintergrund kann das Anlegen des Weges als zeichenhafter Versuch verstanden werden, die durch das Lusthaus figurierte irrationale Leidenschaft zu rationalisieren und damit den Bereich des Triebhaft-Elementaren in die kulturelle Ordnung zu integrieren. So hebt der Maurer lobend hervor, daß die im Grundstein enthaltenen Gegenstände »der Freigebigkeit unseres Bauherrn« zu verdanken sind (333). Auf Anregung Eduards »löste [Ottilie] die goldene Kette vom Halse, an der das Bild ihres Vaters gehangen hatte, und legte sie mit leiser Hand über die anderen Kleinode hin, worauf Eduard mit einiger Hast veranstaltete, daß der wohlgefugte Deckel sogleich aufgestürzt und eingekittet wurde« (333). Ottilies Anregung, das Lusthaus außer Sichtweite des Schlosses zu bauen, wird von Eduard sogleich auf der Karte des Hauptmanns visualisiert: »Er nahm einen Bleistift und strich ein längliches Viereck recht stark und derb auf die Anhöhe« (326). Die Reaktion des Hauptmanns zeigt, daß die neue Positionierung des Lusthauses der von ihm vertretenen planvoll-beherrschten Vernunftordnung diametral entgegensteht: »Dem Hauptmann fuhr das durch die Seele: denn er sah einen sorgfältigen, reinlich gezeichneten Plan ungern auf diese Weise verunstaltet« (326). Nicht zufällig wird wenig später gerade in Bezug auf Ottilies Vorschlag Eduards

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des ehelichen ›status quo‹ gegründet werden. Charlottes Verhalten verweist hier auf eine Dialektik, welche die Psycho-Logik der Grundsteinlegung insgesamt kennzeichnet: Während sich die Bindekräfte der Ehe, die Mittler nicht zufällig als »Grund aller sittlichen Gesellschaft« bezeichnet (338, meine Hervorhebung), durch das Hereinbrechen der Leidenschaften auflösen, inszenieren die Figuren ein legitimierendes Begründungsritual; wo das tatsächliche Geschehen in den Worten Mittlers die eheliche Verbindung als den »Anfang und [den] Gipfel aller Kultur [...] untergräbt« (338) und damit gleichsam ins Grundlose führt, wird besonders stark begründet. Die widerspruchsvolle Psycho-Logik der Grundsteinlegung steht in aufschlußreicher Wechselwirkung mit einer anders gelagerten Sinn-Dimension dieses Rituals, die in der Forschung bislang kaum beachtet wurde: Ähnlich wie die chemische Gleichnisrede besitzt auch die Grundsteinlegung eine poetologische Valenz.257 Bereits die Tatsache, daß der die Zeremonie leitende Maurer »in Reimen« spricht (331), deutet in diese Richtung.258 Und tatsächlich erweist sich seine feierliche Rede, die der Erzähler nach eigenem Bekunden »in Prosa nur unvollkommen wiedergeben« kann (331), als metaphorische Einkleidung zentraler kunsttheoretischer Prinzipien Goethes. Der Grundstein, in welchem sich die architektonische Planung des Lusthauses verdichtet, »bezeichnet« – nach den Worten des Maurers, die auf den antiken Topos der ›akríbeia‹ rekurrieren259

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narzißtisch-irrationale Zuneigung zu ihr deutlich herausgestellt: »[Er] konnte seinen Triumph nicht bergen, daß Ottilie den Gedanken gehabt. Er war so stolz darauf als ob die Erfindung sein gewesen wäre« (326). Marlis Helene Mehra hat eine poetologische Dimensionierung dieser Partie lediglich angedeutet: Sie liest die Grundsteinlegung als »Schatzgleichnis« und merkt in diesem Zusammenhang an, daß Goethe das »Gleichnis des Schatzgrabens auch gern für das Kunstschaffen [...] verwendet« habe (Marlis Helene Mehra: Die Bedeutung der Formel »Offenbares Geheimnis« in Goethes Spätwerk. Stuttgart 1982, S. 63f.). Knappe Hinweise auf eine Deutung des Grundsteins als Chiffre eines autorintentional fixierten eigentlichen Sinns finden sich bei Buschendorf und Mandelartz, die allerdings beide zu wenig aus dem Text heraus argumentieren und deshalb übersehen, daß mit der Lesbarkeit der in den Grundstein eingelegten Gegenstände auch die Annahme eines dem Kunstwerk inhärenten unveränderlichen Gehalts problematisiert wird (Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform, S. 195–199; Michael Mandelartz: Bauen, Erhalten, Zerstören, Versiegeln, S. 501). Bereits vor der Entstehung der ›Wahlverwandtschaften‹ hat Goethe gelegentlich einen metaphorischen Zusammenhang zwischen Bauwerk und Dichtung anklingen lassen. So umschreibt er in einem Brief an Herder vom 10. Juli 1772 seine genaue Kenntnis der Werke des wohl bedeutendsten griechischen Chorlyrikers mit den Worten »[i]ch wohne jetzt in Pindar« (Brief an J.G. Herder vom 10. Juli 1772. In: WA IV, 2, S. 15–19, hier S. 15) und überträgt in einer ästhetischen Abhandlung aus dem Jahr 1795 eine genuin dichterische Kategorie auf den Bereich der Architektur, indem er vom »poetische[n] Teil der Baukunst« spricht, »in welchem die Fiktion eigentlich wirkt« (Johann Wolfgang Goethe: Baukunst. In: FA 18, S. 367–374, hier S. 368). Jan Assmann definiert das Bedeutungsspektrum des griechischen Begriffs »akríbeia« folgendermaßen: »›Akribeia‹ meint: genauste Planung und Berechnung sowie genauste Umsetzung der Planung in die Realität, durch Maß und Form, d. h. Zahl, Richtung, absolute Gradheit bzw. exakteste Gravur« (Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 109). Der von Goethe intensiv rezipierte

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– »mit seiner Ecke die rechte Ecke des Gebäudes, mit seiner Rechtwinkligkeit die Regelmäßigkeit desselben, mit seiner wasser- und senkrechten Lage Lot und Waage aller Mauern und Wände« (331). Die architektonische Terminologie figuriert hier die für den qualitativen Rang eines Kunstwerks entscheidende initiale Konzeption, die der konkreten Ausarbeitung – als instrumentelle Dimension der Dichtung symbolisiert durch die Handwerksinsignien »Hammer« und »Kelle« (331) – zugrunde- und vorausliegt. In einem Aphorismus aus den ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ hat Goethe die Unterscheidung zwischen Künstler und Dilettant am jeweiligen planerischen Grundriß ihrer Werke festgemacht: »Die Dilettanten [...] pflegen zu ihrer Entschuldigung zu sagen, die Arbeit sei noch nicht fertig. Freilich kann sie nie fertig werden, weil sie nie recht angefangen ward. Der Meister stellt sein Werk mit wenigen Strichen als fertig dar, ausgeführt oder nicht, schon ist es vollendet. Der geschickteste Dilettant tastet im Ungewissen, und wie die Ausführung wächs’t, kommt die Unsicherheit der ersten Anlage immer mehr zum Vorschein. Ganz zuletzt entdeckt sich erst das Verfehlte, das nicht auszugleichen ist«.260 Und in ähnlichem Sinne bemerkt Goethe anläßlich seiner späten Beschreibung von Bildern Gérards: »[W]as macht denn am Ende den Werth eines Kunstwerkes aus? es ist und bleibt die Intention, die vor dem Bilde vorausgeht und zuletzt, durch die sorgfältigste Ausführung, vollkommen in’s Leben tritt«.261 Diese schöpferische Grundintention, die die Gesamtanlage des Werkes keimhaft in sich trägt, besitzt für Goethe einen esoterischen Charakter. Nicht zufällig weist also der Maurer darauf hin, daß seine Arbeit »wo nicht immer im Verborgnen, doch zum Verborgnen [...] geschieht« (332) und »in der Tiefe begangen« wird (331).262 Die Akzentuierung des Esoterischen ist dabei in einen

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Plutarch reklamiert dieses ursprünglich aus dem Bereich der Baukunst stammende Ideal der Genauigkeit für den Bereich der ästhetischen Produktion insgesamt, über welchen er in seiner Schrift Chance bemerkt: »Rulers, weights, measures, and numbers are everywhere in use, so that random and haphazard may find no place in any production« (Plutarch: Chance. In: Plutarch’s Moralia. 16 Vls. Vl. 2. With an English translation by Frank Cole Babbitt. Cambridge, Massachusetts, London 1926, S. 74–89, hier S. 85). Aristophanes bezieht das der Baukunst entlehnte Ideal der Genauigkeit in satirischer Absicht auf die Dichtung, wenn er in seinen Fröschen die Figur des Aliakos über das abgezirkelte Sprachideal des Euripides bemerken läßt: »Sie bringen Ell’ und Zollstab für die Verse / Und Ziegelformen, sie hineinzupassen, / Und Winkelmaß und Zirkel; messen wird / Euripides das Drama Vers für Vers« (Aristophanes: Die Frösche. In: A.: Sämtliche Komödien. Übers. v. Ludwig Seeger. Zürich, Stuttgart 1968, S. 515–580, hier S. 551, V. 799–802). Die Rede des Maurers in den ›Wahlverwandtschaften‹, die der Erzähler »in Prosa nur unvollkommen wiedergeben« kann (331), ist metrisch reguliert und entspricht damit nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der Ebene der Sprachorganisation dem Topos der ›akríbeia‹. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre ›Zweite Fassung 1829‹, S. 558, meine Hervorhebung. Johann Wolfgang Goethe: Collection des Portraits historiques de M. Le Baron Gérard. In: FA 22, S. 240–253, hier S. 251. Die Bildlichkeit der Grundsteinlegung erhält auch durch den Rückgriff auf Elemente freimau-

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Kontext eingebettet, der auf den für Goethes Poetik hoch bedeutsamen Begriff des »offenbaren Geheimnisses« verweist.263 Das »geheimnisvolle [...] Geschäft« des Maurers (331) muß, obgleich es »insgeheim« ausgeführt wurde, doch damit rechnen, daß es »an den Tag komme« (332). So entsteht jenes Gleichgewicht zwischen Verbergen und Enthüllen, das Goethe in den berühmten Versen seines Gedichts ›Zueignung‹ entfaltet hat, in welchem das unschwer als KünstlerFigur zu erkennende lyrische Ich »der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit« empfängt.264 Eine dem zitierten Vers aus der ›Zueignung‹ vergleichbare metaphorische Konstellation beschreibt der Maurer, wenn er davon spricht, daß der durch den Grundstein figurierte konzeptionelle Kern auch nach Abschluß des Werkes für den Eingeweihten deutlich wahrnehmbar bleibe: »Wenn das Haus aufgeführt, der Boden geplattet und gepflastert, die Außenseite mit Zieraten überdeckt ist; so sieht er durch alle Hüllen immer noch hinein und erkennt noch jene regelmäßigen sorgfältigen Fugen, denen das Ganze sein Dasein und seinen Halt zu danken hat« (332, meine Hervorhebung). Mit wörtlichen Anklängen an diese Textpartie hat Goethe in einem Brief an Zelter vom 26. August 1809 die von ihm gewünschte Rezeptionsweise der ›Wahlverwandtschaften‹ beschrieben und dem Freund zugleich deren Lektüre ans Herz gelegt: »Wo Ihnen auch mein

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rerischer Symbolik wie Maurer, Hammer und Kelle einen esoterischen Charakter. Mit dem Zeichenwert der Kelle knüpft Goethe besonders deutlich an das Gedankengut der Loge an. Für die Freimaurer fungiert die Kelle als »Sinnbild der verbindenden und festigenden Arbeit innerhalb der Bruderschaft« (Eugen Lennhoff, Oskar Posner: Internationales Freimaurerlexikon. München, Zürich, Wien 1932, Sp. 828) und steht damit im Zusammenhang des von Lessing in seinem Goethe bekannten Dialog Ernst und Falk formulierten freimaurerischen Anliegens, »jene Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden, so eng als möglich wieder zusammenzuziehen« (Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer. In: G.E.L.: Werke und Briefe. 12 Bde. Hg. v. Wilfried Barner u. a. Bd. 10. Hg. v. Arno Schilson und Axel Schmitt. Frankfurt a. M. 2001, S. 11–66, hier S. 34). Während das durch die Kelle symbolisierte Integrationsbestreben für die Freimaurer auf die Überwindung nationaler und ständischer Trennungen ausgerichtet ist und damit eine gesellschaftlich-allgemeine Tragweite aufweist, wird dieses Werkzeug im Rahmen der Grundsteinlegung zu einer Figuration der »bindenden Kräfte« der Ehe privatisiert (300). – Pauschale Hinweise auf einen freimaurerischen Hintergrund der Grundsteinlegung geben Walter Benjamin, Richard Faber, Bernhard Buschendorf und Elisabeth Herrmann (Walter Benjamin: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, S. 136; Richard Faber: Parkleben. In: Norbert W. Bolz [Hg.]: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981, S. 91–168, hier S. 160, Anm. 261; Bernhard Buschendorf: Goethes mythische Denkform, S. 193f.; Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 78, Anm. 37). Eine biographisch orientierte Übersicht über Goethes ambivalentes (und in der Forschung heftig umstrittenes) Verhältnis zu den Freimaurern bieten Joachim Bauer und Gerhard Müller: ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹. Goethes Weg durch die Geheimgesellschaften. In: Goethe-Jb. 118 (2001), S. 31–45. Zur Kategorie des »offenbaren Geheimnisses« als Leitbegriff der Goetheschen Ästhetik vgl. Marlis Helene Mehra: Die Bedeutung der Formel »Offenbares Geheimnis« in Goethes Spätwerk. Johann Wolfgang Goethe: Zueignung. In: FA 1, S. 9–12, hier S. 11.

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neuer Roman begegnet, nehmen Sie ihn freundlich auf. Ich bin überzeugt, daß Sie der durchsichtige und undurchsichtige Schleier nicht verhindern wird bis auf die eigentlich intentionierte Gestalt hineinzusehen«.265 Insofern konvergiert die poetologische Valenz der Grundsteinlegung mit Goethes Selbstinterpretation der ›Wahlverwandtschaften‹, die den Roman auf ein bestimmtes gehaltliches Schema, ein dem Eingeweihten erkennbares gedankliches Gerüst, eine subkutane Schicht eigentlicher Bedeutung, eine einheitliche »Idee«266 zu reduzieren sucht. Ähnlich wie im Fall der chemischen Gleichnisrede unterläuft der Text allerdings auch hier – wie im folgenden zu zeigen ist – den Totalitätsanspruch eines solchen homogenen Rezeptionsmodells auf hintergründige Weise und realisiert damit jenen Reflexionsvorsprung, den das dichterische Werk nicht selten gegenüber diskursiven Theoriebildungen und interpretatorischen Äußerungen selbst des eigenen Autors zu erreichen vermag.267 Während der Grundstein in den bisher analysierten Äußerungen des Maurers als Garant einer in sich geschlossenen Ganzheit fungiert, die durch eine exakt vermessene und proportionierte Balance ihrer einzelnen Teile gekennzeichnet ist, gewinnt er in der zweiten Hälfte der Ansprache eine zusätzliche Bedeutungsdimension, die sich der vorangegangenen Semantisierung zunächst widerspruchsfrei anschließt: Die Gewährleistung von Stabilität im Räumlichen wird um eine konservierende Funktion im Bereich des Zeitlichen erweitert; der zur architektonisch-materiellen Verankerung erforderliche »Grundstein« erscheint als ein die Gegenwart für künftige Zeiten symbolisch-ideell bewahrender »Denkstein« (332). Wenn der Maurer dem als Chiffre der Dichtung angelegten Grundstein das Attribut einer unvergänglichen Dauer zuspricht,268 rekurriert er damit auf einen bis in die Antike zurückreichenden poetologischen Topos, welcher die Dichtung als Medium der Verewigung begreift und seinen neben einer berühmten Passage aus der ›Ilias‹269 wohl bekanntesten Niederschlag in den auf das eigene 265 266

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Brief an C.F. Zelter vom 26. August 1809. In: WA IV, 21, S. 45–46, hier S. 46 (meine Hervorhebung). In einem häufig zitierten Gespräch mit Eckermann bekennt Goethe, seine ›Wahlverwandtschaften‹ »nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben« (Gespräch mit Eckermann vom 6. Mai 1827. In: Goethes Gespräche. Bd. 3, S. 392–395, hier S. 395). Zur kritischen Analyse dieser Äußerung im Hinblick auf den Textbefund des Romans vgl. S. 77–80 der vorliegenden Studie. Zur Verhältnisbestimmung zwischen dichterisch-fiktionalen und diskursiv-theoretischen Texten sei auf die literaturtheoretischen Erwägungen von Günter Saße verwiesen, der dafür plädiert, »Literatur als Medium der Problematisierung zu betrachten, das fixierte Sinnangebote [diskursiver Theoriebildung] zersetzt und in die Frag-Würdigkeit zurückführt« (Günter Saße: Die Ordnung der Gefühle. Das Drama der Liebesheirat im 18. Jahrhundert. Darmstadt 1996, S. 60–76, hier S. 68). Vgl. dazu seine Absichtserklärung: »Wir gründen diesen Stein für ewig« (333). Achill berichtet in der Ilias von einer Prophezeiung seiner Mutter Thetis, die ihn vor die Alternative stellt, nach Phthíe heimzukehren und dort ein langes Leben zu führen, oder im Kampf um Troja früh zu sterben und sich unvergänglichen Ruhm (kléos áphtiton) zu erwer-

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Werk bezogenen Versen des Horaz gefunden hat: »Exegi monumentum aere perennius«.270 Goethe selbst, der mit diesem Topos während seiner Arbeit an den ›Wahlverwandtschaften‹ eventuell auch durch einen Brief von Bettine von Arnim in Berührung kam,271 zeigt sich explizit von dieser Tradition beeinflußt, wenn er in einem Aphorismus erklärt, die Literatur enthalte unter bestimmten Bedingungen »Denkmale des menschlichen Geistes«.272 Die metaphorische Logik der Grundsteinlegung allerdings korreliert die Dauerhaftigkeit und Statik des Denkmals in mehrfacher Hinsicht mit einer gegenläufigen dynamischen Tendenz. Zunächst einmal wird die Absicht, »diesen Stein für ewig [zu] gründen«, durch die »Möglichkeit« konterkariert, daß dessen »festversiegelte[r] Deckel wieder aufgehoben werden könne, welches nicht anders geschehen dürfte, als wenn das alles wieder zerstört wäre, was wir noch nicht einmal aufgeführt haben« (333). Während sich die hier imaginierte

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ben (Homer: Ilias. Griechisch u. deutsch. Übers. v. Hans Rupé. Zürich 112001. IX, 412–415). Da das Medium dieses unvergänglichen Ruhmes das Epos selbst ist, wird hier die Kategorie der Dauer mit dem Bereich der Dichtung verknüpft. Zur autopoetischen Deutung dieser Passage vgl. Gregory Nagy: Comparative Studies in Greek and Indic Meter. Cambridge 1974, S. 250–255. Zu weiteren altgriechischen Belegstellen der Wendung »kléos áphtiton« sowie zu deren indogermanischem Ursprung siehe Rüdiger Schmitt: Dichtung und Dichtersprache in indogermanischer Zeit. Wiesbaden 1967, S. 62–70. Horaz: Carminum III, 30, V. 1 (Q. Horatius Flaccus: Oden und Epoden. Übers. v. Richard Heinze. Dublin, Zürich 121966). In der antikisierenden Ersten Epistel ironisiert Goethe diesen Vers des Horaz, indem er erklärt, daß das dichterische Wort zwar »von Erze gestempelt« sei, aber dennoch zumeist schnell vergessen werde (Johann Wolfgang Goethe: Erste Epistel, S. 202). – Zu weiteren lateinischen Belegstellen für den Topos »Dichtung als Verewigung« siehe Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern ²1954, S. 469f. Bettine von Arnim richtet anläßlich des Tiroler Aufstandes in einem Brief vom 22. Mai 1809 die folgende Bitte an Goethe: »[J]a Goethe, während diesem [dem Tiroler Aufstand] hat es sich ganz anders in mir gestaltet [...] düstre Hallen, die prophetische Monumente gewaltiger Todeshelden umschließen, sind der Mittelpunkt meiner schweren Ahnungen [...] Ach vereine Dich doch mit mir, [der Tiroler] zu gedenken [...] es ist des Dichters Ruhm, daß er den Helden die Unsterblichkeit sichere!« (Bettine von Arnim: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. In: B.v.A.: Werke und Briefe. Hg. v. Walter Schmitz u. Sibylle von Steinsdorff. 4 Bde. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1992, S. 9–571, hier S. 273, meine Hervorhebung). Die Authentizität des zitierten Briefes ist allerdings unsicher, da kein Orginalmanuskript erhalten ist. Dies kann entweder bedeuten, daß das Manuskript verlorenging, oder daß Bettine von Arnim den Brief erst für die Buchveröffentlichung des Briefwechsels mit einem Kinde im Jahre 1835 verfaßte und nachträglich rückdatierte. – Aufgrund der zum Teil unsicheren Quellenlage stellen Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff in ihrem Kommentar fest, daß es nicht möglich sei »das Ausmaß der Fiktionalisierung [des Briefwechsels] jeweils exakt zu bestimmen« (Walter Schmitz, Sibylle von Steinsdorff: Kommentar. In: B.v.A.: Werke und Briefe. 4 Bde. Bd. 2: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Frankfurt a.M. 1992, S. 819–1188, hier S. 887). Johann Wolfgang Goethe: Historiker und Dichter. In: FA 13, S. 364–365, hier S. 364; vgl. in diesem Zusammenhang auch das Gedicht Dauer im Wechsel, wo davon die Rede ist, »daß die Gunst der Musen / Unvergängliches verheißt« (Johann Wolfgang Goethe: Dauer im Wechsel. In: FA 13, S. 78–79, hier S. 79), sowie die Korrelation von schriftlicher Fixierung und zeitenthobener Konservierung in einem nachgelassenen Aphorismus: »Doch hat das Geschriebene den Vortheil, daß es dauert und die Zeit abwarten kann, wo ihm zu wirken gegönnt ist« (Johann Wolfgang Goethe: Aphorismen, S. 74f.).

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Destruktion im Rahmen einer Dialektik von Begründung und Zerfall, Dauer und Vergänglichkeit noch mit der kontinuitätsstiftenden Funktion des Denkmals vermitteln läßt, transzendiert die Art und Weise, wie die in den Grundstein eingelegten Dinge semantisiert werden, das Konzept einer auf substantielle Stabilität angelegten Überlieferung: Zwar erscheint der Grundstein durch seine konservierende Aufnahme verschiedener, von unterschiedlichen Besitzern gestifteter Alltagsgegenstände – das Spektrum reicht von Weinflaschen über Münzen bis hin zu Riechfläschchen – als Figuration eines überindividuellen Gedächtnisraums; doch wird die intersubjektive Lesbarkeit der archivierten »Kleinode«, die als Erinnerungs-Zeichen für eine »entfernte Nachwelt« fungieren sollen (332f.), am Beispiel von Ottilies Beigabe grundsätzlich in Zweifel gezogen. Nachdem das Publikum der Zeremonie gemäß der Aufforderung des Maurers verschiedene selbstgewählte Utensilien in den Grundstein eingelegt hat, steuert auch Ottilie einen Gegenstand zur kollektiven Archivierung bei: Sie »löste [..] die goldne Kette vom Halse, an der das Bild ihres Vaters gehangen hatte, und legte sie mit leiser Hand über die anderen Kleinode hin, worauf Eduard mit einiger Hast veranstaltete, daß der wohlgefugte Deckel sogleich aufgestürzt und eingekittet wurde« (333).273 Der Zeichenwert dieser Kette ist allerdings weder für die Umstehenden noch gar für die von den im Grundstein aufbewahrten Gegenständen eigentlich adressierte »entfernte Nachwelt« (333) entzifferbar; das Schmuckstück erhält seinen textrelevanten Symbolgehalt ausschließlich im Rahmen der Beziehung zwischen Eduard und Ottilie. Die Bedeutungsverweigerung der Kette gegenüber Außenstehenden hat Goethe auf der Ebene des dinglichen Signifikanten dadurch markiert, daß dessen semantische Codierung auf einem abwesenden Gegenstand beruht: Nur durch die im siebten Kapitel geschilderte Ablösung des väterlichen Porträtmedaillons erscheint die Kette als Zeichen der unbedingten Leidenschaft für Eduard, die Ottilie durch das Einlegen in den Grundstein symbolisch verewigen möchte. Die anhand der Kette Ottilies exemplarisch entfaltete semiotische Struktur gilt auch für den Zeichenwert jener Gegenstände, welche die anderen Umstehenden zur Aufbewahrung im Grundstein beisteuern: Die Uniformknöpfe, »Haarkämme«, »Riechfläschchen und andre Zierden« (333) sind, so kann qua Analogieschluß angenommen werden, ebenfalls durch den subjektiven Interpretationskontext ihres jeweiligen Spenders codiert, der sich einem kollektiven Verständnis und einer traditionsstiftenden Archivierung entzieht. Sie bilden ein heterogenes Konglomerat gegenständlicher Symbole, die je verschiedenen 273

Elisabeth von Thadden deutet die Kette als symbolischen Garanten generationenübergreifender Kontinuität und weist darauf hin, daß ihr Einlegen in den Grundstein ein »hastige[s] Abtrennen von Vergangenheit« darstelle, welches die Konservierungsabsicht des Maurers konterkariere (Elisabeth von Thadden: Erzählen als Naturverhältnis – ›Die Wahlverwandtschaften‹. Zum Problem der Darstellbarkeit von Natur und Gesellschaft seit Goethes Plan eines »Roman über das Weltall«. München 1993, S. 218).

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individuellen Erfahrunghorizonten entstammen, mit unterschiedlichen semantischen Zuschreibungen versehen sind und sich daher nicht zu einem gemeinschaftlich verfügbaren Zeichenreservoir integrieren. Die so entstehende Pluralität unterschiedlicher Codes ist im Hinblick auf die Archiv-Funktion des »Denkstein[s]« mit der Frage nach der Lesbarkeit der eingelagerten Gegenstände verbunden, die am Beispiel der Kette Ottilies besonders deutlich hervortritt: Wenn sich bereits den Umstehenden der semantische Wert des Schmuckstücks verschließt, wie soll dieser dann von einer »entfernte[n] Nachwelt« (332) rekonstruiert werden können? Damit der Inhalt des Grundsteins einer »entfernte[n] Nachwelt« überhaupt »Zeugnis« ablegen kann (332), müssen deren Repräsentanten in Ermangelung der ursprünglichen Codierungen die einzelnen Gegenstände mit neuen Zuschreibungen versehen – eine Notwendigkeit, die der auf kontinuitätsstiftende Konservierung angelegten Konzeption des »Denksteins« grundsätzlich zuwiderläuft.274 Daß die Lesbarkeit der kollektiv aufbewahrten Gedächtnis-Zeichen dergestalt problematisiert wird, affiziert auch die poetologische Bedeutungsebene der Grundsteinlegung. Die feste Verankerung des Kunstwerks in einem subjektunabhängigen und zeitüberdauernden Aussagegehalt, die der Grundstein in der ersten Hälfte der Maurerrede zu figurieren scheint, gerät ins Gleiten: Indem die Zuschauer der Zeremonie dem Grundstein als metaphorischem Sinn-Zentrum ihre jeweils subjektiven Codes einschreiben, die nicht nur der Einflußnahme, sondern auch dem Verständnis des Maurers entzogen sind, subvertieren sie die von diesem erstrebte konstruktive Einheit seines Werkes. So infiltriert die semiotische Pluralität die auf klassische Geschlossenheit angelegte Ästhetik und verwischt die von ihr propagierte, auf einer homogenen Grundintention basierende klare Kontur. Das ästhetische Konzept einer fixierenden Verankerung erweist sich damit als ebenso fragwürdig wie das kompensatorisch motivierte psychische Reaktionsmuster des wahlverwandtschaftlichen Figurenquartetts, das dem Erwachen ›illegitimer‹ Leidenschaften mit einem symbolischen Akt legitimierender Begründung zu begegnen sucht.275 Die implizite Poetologie der Grundsteinlegung verrät eine der chemischen Gleichnisrede analoge Tendenz: Während die Terminologie-Diskussion des vierten Kapitels auf dem Wege einer Subjektivierung begrifflicher Semantik die Begründbarkeit des Romangeschehens durch das Reaktionsmodell der »Wahlverwandtschaft« entschieden dementiert, stellt die Symbolik der Grundsteinlegung den Illusionscharakter jeder begründenden Rückführung von Kunstwerken auf einen homogenen und klar fixierbaren Aussagegehalt deutlich vor Augen. 274

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Die dingliche Materialität der in den Grundstein eingelegten Gegenstände ist durch eine Konstanz gekennzeichnet, die sich zur Archivierung eignet; die semantische Valenz der Kleinode hingegen stellt eine Funktion vergänglicher bedeutungsstiftender Kontexte dar und entzieht sich daher der zeitüberdauernden Speicherung. Vgl. dazu S. 148–150 der vorliegenden Studie.

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Entscheidend für die Kritik an einer solchen Rückführung ist der Umstand, daß vorgeformte Traditionsbestände unweigerlich auf die Entstehung des Kunstwerks einwirken. Dieses speist sich somit nicht nur aus dem konzeptionellen und instrumentellen Vermögen seines Schöpfers, sondern rekurriert auch auf die Archive kultureller Überlieferung. Deren Konstitution wiederum, die durch eine heterogene Gemengelage subjektiver und nicht aufzuschlüsselnder Codierungen bestimmt ist, verhindert eine kontinuitätsstiftende Konservierung der gespeicherten Inhalte. Daß die archivierten Überlieferungsbestände im Akt der Rezeption semantischen Umbesetzungen unterworfen werden, geht indes nicht nur aus der metaphorischen Logik des Goetheschen Textes hervor, sondern stellt auch ein Strukturmerkmal des poetischen Verfahrens dar, das der Autor der ›Wahlverwandtschaften‹ gerade im Umfeld der Grundsteinlegung mit besonderer Intensität praktiziert. Nicht zufällig umrahmt Goethe diese Textpartie mit Allusionen auf die Geschichte der Odilia, die als populäre Heiligenlegende dem kollektiv verfügbaren Arsenal narrativer Traditionen zuzurechnen ist. Daß Goethe seine Ottilien-Gestalt vor dem Hintergrund der elsässischen Heiligenvita konzipiert hat, erhellt nicht nur aus der Namensverwandtschaft von Ottilie und Odilia, sondern auch aus einer häufig zitieren Passage in ›Dichtung und Wahrheit‹, in welcher der Dichter seine auf die Straßburger Zeit zurückgehende Teilnahme an einer Wallfahrt auf den Odilienberg beschreibt. Hierbei konnte er sich offenbar über einige Elemente der legendarischen Überlieferung unterrichten. Er erfuhr »gar manches Anmutige«, das man sich über die heilige Odilia »erzählt[e]«, und prägte sich deren »Namen« und »Bild« tief ein, um dieses Wissen Jahrzehnte später für die ›Wahlverwandtschaften‹ fruchtbar zu machen: »Beide trug ich lange mit mir herum, bis ich endlich eine meiner zwar spätern, aber darum nicht minder geliebten Töchter damit ausstattete«.276 Eine erneute Begegnung Goethes mit der Geschichte der elsässischen Heiligen könnte – zeitnah zur Entstehung der ›Wahlverwandtschaften‹ – durch die Lektüre der in Goethes Bibliothek mit allen 37 erschienenen Heften vorhandenen277 ›Zeitschrift für Einsiedler‹ erfolgt sein,278 die der Weimarer Dichter nachweislich schätzte und die in ihrer Ausgabe vom 20. Juli 1808 unter der Überschrift »Von Sante Otilien Leben« die Vita vollständig abdruckte.279 276 277 278 279

Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 542. Vgl. dazu Goethes Bibliothek. Katalog. Weimar 1958, S. 51, Nr. 354. Vgl. dazu Nicola Tumparoff: Goethe und die Legende. Berlin 1910, S. 71, Anm. 1. Die Wertschätzung der Zeitung für Einsiedler durch Goethe dokumentiert dessen Gespräch mit Clemens Brentano vom Sommer 1809, von welchem letzterer berichtet: »Er [Goethe] war sehr freundlich und sprach mit ungemeiner Hochachtung von der Einsiedlerzeitung« (Gespräch mit Clemens Brentano vom Sommer 1809. In: Goethes Gespräche. Bd. 2, S. 51–52, hier S. 52). Bereits in einem Tagebucheintrag vom Januar 1809 vermerkt Goethe lakonisch: »Ward einiges aus der Einsiedlerzeitung vorgelesen« (Goethes Tagebücher. 1809. In: WA III, 4, S. 1–86, hier S. 5). Die von mir im folgenden untersuchten, im Umfeld der Grundsteinlegung plazierten

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Der Fortgang der oben zitierten Passage aus ›Dichtung und Wahrheit‹ liefert einen ersten Fingerzeig, wo ein konkreter Anknüpfungspunkt der ›Wahlverwandtschaften‹ an die Odilien-Vita liegen könnte. Goethe skizziert hier den erinnerten Ausblick von der »Höhe« des Odilienberges, der eine panoramatische, »Nähe« und »Ferne« umfassende Perspektive bietet: »Am Horizont wollte man uns sogar Basel zeigen; daß wir es gesehen, will ich nicht beschwören, aber das entfernte Blau der Schweizergebirge übte auch hier sein Recht über uns aus«.280 Die von Goethe aufgezeichnete topographische Struktur, die sich ihm im Zusammenhang mit der Odilien-Legende eingeprägt hat, ist in den ›Wahlverwandtschaften‹ der Schilderung jenes Panoramas eingeschrieben, das sich den Zuschauern der Grundsteinlegung vom Bauplatz des Lusthauses aus eröffnet: »[S]elbst die Türme der Hauptstadt wollte Einer gewahr werden. An der Rückseite, hinter den waldigen Hügeln, erhoben sich die blauen Gipfel eines fernen Gebirges, und die nächste Gegend übersah man im Ganzen« (335). Nicht zufällig rekurriert Goethe im Umfeld der Grundsteinlegung auf eine Landschaftsimpression aus der Zeit seiner lange zurückliegenden Wallfahrt zum Odilienberg; die topographische Analogie verweist auf einen von der Forschung bislang kaum beachteten intertextuellen Zusammenhang, der den Bauort des Lusthauses und die elsässische Heiligenlegende miteinander verbindet.281 In den ›Wahlverwandtschaften‹ ist es nämlich Ottilie, die – entgegen der vom Maurer formulierten Tradition282 – den Platz für das neue Gebäude bestimmt, den sie »auf die höchste Fläche der Anhöhe« legen möchte (325). Die elsässische Heiligenlegende berichtet von einer ganz ähnlichen Begebenheit: Odilia ließ zu Ehren des Johannes eine von Goethe in ›Dichtung und Wahrheit‹ eigens erwähnte »Kapelle«283 »an exponierter Stelle des Odilienberges« auf einem Fels-

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Odilia-Reminiszenzen stammen aus Goethes letzter Arbeitsphase an den ›Wahlverwandtschaften‹, was daraus erschlossen werden kann, daß die Grundsteinlegung im Strukturschema zum ersten Teil aus dem Frühjahr 1809 noch nicht erwähnt wird (Das Schema ist abgedruckt in FA 8, S. 975–977). Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 542. Die Forschung hat sich hinsichtlich der christlichen Mythologeme, die der Ottilien-Gestalt eingeschrieben sind, vorwiegend auf die Marien-Ikonographie fokussiert (vgl. dazu etwa Gerhard Neumann: Bild und Schrift. Zur Inszenierung von Fiktionalität in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. In: Freiburger Universitätsblätter 103 [1989], S. 119–128, hier S. 122–127 sowie Waltraud Wiethölter: Kommentar, S. 1001f.). Bezüglich der Odilien-Vita beschränkte man sich auf die Analogie der Augenmotivik. Lediglich Esther Schelling-Schär geht über diesen Motivbereich hinaus und weist kurz darauf hin, daß in Ottilies »Fingerzeig« bei der räumlichen Situierung des Lusthauses »so etwas wie ein Anklang an Heiligenlegenden« liege, ohne dabei allerdings den kontrafaktischen Charakter der Goetheschen Bezugnahme auf die legendarische Tradition zu berücksichtigen (Esther Schelling-Schär: Die Gestalt der Ottilie. Zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹. Zürich, Freiburg i. Brsg. 1969, S. 50). Der Maurer konstatiert zu Beginn seiner Rede, daß es das »Vorrecht des Grundherrn«, also Eduards, sei, »daß er sage: hier soll meine Wohnung stehen und nirgends anders« (331). Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 542.

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plateau errichten.284 Die Wahl dieses Bauortes wurde ihr – so überliefert es die älteste ›Vita Odiliae‹ aus dem neunten Jahrhundert – in einer Vision vom heiligen Johannes eingegeben.285 Sowohl in der Heiligenlegende als auch in den ›Wahlverwandtschaften‹ verdankt sich die Entscheidung, wo das neue Gebäude zu errichten ist, einem irrational-intuitiven Impuls.286 Goethe übernimmt hier also einen Handlungsbestandteil der Odilienvita, überträgt ihn aber in einen neuen Bedeutungskontext, indem er deren religiös-transzendenten Sinnhorizont durch einen psychologisch-immanenten Begründungszusammenhang ersetzt. Während die Kapelle in der Heiligenlegende auf einem hochgelegenen Felsplateau situiert wird, um Weltabkehr und Gottesnähe zu gewährleisten, ist Ottilies Vorschlag, das Lusthaus auf der »höchsten Fläche der Anhöhe« zu errichten, Ausweis eines unbewußten Wunsches, ihrer Leidenschaft zu Eduard fernab der durch das tiefer gelegene Schloß figurierten alten Ordnung einen symbolischen Freiraum zu verschaffen.287 Eine ähnliche Umcodierung vom Jenseitig-Metaphysischen zum Diesseitig-Erotischen läßt sich am Motiv des Kelchglases beobachten, das ebenfalls der elsässischen Heiligenlegende entstammt und im Zusammenhang mit der Grundsteinlegung in den Roman eingeführt wird. Ausgehend von der Kommunionsszene im letzten Kapitel der Odilienvita avancierte der Kelch nicht nur zum festen ikonographischen Attribut der Heiligen,288 sondern fungierte auch als Wappenzeichen ihres Klosters, wo er angeblich bis zur Auflösung des Konvents von Hohenburg im Jahre 1546 als Reliquie verwahrt wurde.289 Eine im 12. Jahrhundert wirkende Äbtissin des Odilienklosters, Herrad von Landsberg, führte das Kelchsymbol sogar in ihrem persönlichen Siegel und ließ in dieses

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Rüdiger Burghardt: Der Odilienberg. Bd. 1, S. 32. Die entsprechende Passage aus dem 17. Kapitel der Vita lautet in der Übersetzung von Maria Stoeckle: »Während sie [Odilia] sich [...] im Gebet verströmte, soll ihr der heilige Johannes der Täufer, umgeben von strahlender Helligkeit, erschienen sein [...]. Damals machte der heilige Johannes der gotterwählten Jungfrau den Platz kund, wo er die Kirche erbaut haben wollte« (Maria Stoeckle: Das Leben der hl. Odilia, S. 56f.). Mit ihrem jähen Einfall, der spontan aus der momenthaften Situation entsteht, verwirft Ottilie den vom Hauptmann mit seiner rationalen Planungskraft ursprünglich projektierten Bauort (vgl. 325f.). Auch im weiteren Verlauf des Romangeschehens steht das Lusthaus wiederholt im semantischen Horizont des Begehrens und der Leidenschaft. So plant Eduard, beim Richtfest des Lusthauses, das am Geburtstag Ottilies stattfindet, deren Namen auf dem Gesims des Gebäudes »mit Blumen zu bezeichnen« (355). Bei seinem späteren Treffen mit dem Hauptmann, mit dessen Hilfe Eduard Charlottes Einwilligung in die Scheidung erreichen will, erblicken die beiden Gesprächspartner »in der Ferne das neue Haus auf der Höhe, dessen rote Ziegeln sie zum erstenmal blinken sahn. Eduarden ergreift eine unwiderstehliche Sehnsucht; es soll noch diesen Abend alles abgetan sein« (490). Vgl. dazu die von Medard Barth angeführten Beispiele (Medard Barth: Die heilige Odilia. Schutzherrin des Elsaß. Ihr Kult in Volk und Kirche. 2 Bde. Straßburg 1938. Bd. 1, S. 428– 430). Vgl. dazu Maria Stoeckle: Das Leben der hl. Odilia, S. 125, Anm. 54.

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neben Odilias Initiale ihre eigene einprägen.290 Auch das Kelchglas der ›Wahlverwandtschaften‹ trägt mit den Buchstaben E und O zwei unterschiedliche Insignien, deren zweites durch einen willkürlichen intratextuellen Deutungsakt zum zeichenhaften Stellvertreter Ottilies avanciert: Eduard unterlegt dem eigentlich als Abkürzung seines ursprünglichen Vornamens Otto gedachten O den Namen der Geliebten. Aufbauend auf dieser semiotischen Manipulation interpretiert Eduard die Verschlungenheit der beiden in das Gefäß eingravierten Schriftzeichen, wie Hartmut Böhme ohne Berücksichtigung der Verweise auf die Odilien-Legende gezeigt hat, als »Glücks-Emblem« der begehrten »narzißtischen Symbiose« mit Ottilie291 – eine Bedeutungszuweisung, die sich denkbar weit von der sakramentalen Semantik des Odilien-Kelches entfernt. Anders als im Fall der Wahl des Bauortes wird das der Heiligenlegende entnommene Motiv des Kelchglases im Goetheschen Text allerdings nicht bloß mit einer neuen semantischen Wertigkeit versehen, sondern erscheint darüber hinaus gleichsam als Illustrationsobjekt für den Vorgang der Umcodierung selbst. Bevor sich Eduard dieses Glases deutend bemächtigt, tun dies bereits zwei andere Romanfiguren in jeweils unterschiedlicher Weise: Der Maurer wirft es im Rahmen der Grundsteinlegungszeremonie in die Luft, um so seine übermäßige Freude zum Ausdruck zu bringen. Mit diesem Signifikationsakt bewegt er sich auf dem Boden einer durch intersubjektive Übereinkunft stabilisierten rituellen Bezeichnungspraxis, was der Erzähler durch den unpersönlichen Duktus der folgenden Wendung markiert: »[E]s bezeichnet das Übermaß einer Freude, das Gefäß zu zerstören, dessen man sich in der Fröhlichkeit bedient« (334, meine Hervorhebung). Die unmittelbar folgende zweite Bedeutungszuweisung erscheint hingegen als willkürliche Konstruktion, die der vorgängigen rituellen Semantisierung zuwiderläuft:292 Das vom Maurer in die Luft geworfene Glas bleibt unversehrt und wird von einem der Zuschauer aufgefangen, »der diesen Zufall als glückliches Zeichen für sich ansah« (334). Von diesem Zuschauer nun erwirbt Eduard das Glas zu einem »hohen Preis« (390), um es mit einer wiederum neuen Zuschreibung zu versehen, die seiner individuellen Interessenlage entspringt. Das für ihn »in seiner Jugend« angefertigte Glas (334), dessen eingravierte Buchstaben E und O eigentlich auf seine beiden Namen Eduard und Otto verweisen, macht er zum Zeichen einer schicksalhaft vorherbestimmten Verbindung mit Ottilie, indem er der zweiten Initiale den Namen der Geliebten unterlegt.293 Doch Eduard beläßt es nicht bei dieser subjektiv-privaten Signifikation: Im weiteren Verlauf des Romans versucht er sogar, den von ihm konstruierten 290 291 292 293

Vgl. dazu Rüdiger Burghardt: Der Odilienberg. Bd. 1, S. 53. Hartmut Böhme: »Kein wahrer Prophet«, S. 107. Vgl. dazu ebd., S. 102. Zu Eduards Neigung, bloß kontingente Ereignisse durch willkürliche Zuschreibungsakte mit einer schicksalhaften Bedeutung aufzuladen, siehe Gabriele Brandstetter: Poetik der Kontingenz, S. 133–135.

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Bedeutungscharakter des Glases auf sich selbst zu übertragen, indem er dessen Geschichte, die er als Rettung vor Zerstörung trotz höchster Gefahr begreift, mit dem eigenen Körper reinszeniert. »Mich selbst«, so bekennt Eduard dem Major rückblickend über seine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, »mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsre Verbindung [die zwischen ihm und Ottilie] möglich sei oder nicht« (484). Mit diesem wahnhaften Akt der partiellen Verschmelzung von Signifikant und Signifikat ist die wiederholte Umcodierung des aus der Odilien-Legende entlehnten KelchglasZeichens in einer zirkulären Struktur stillgestellt: Eduard erklärt sein kriegerisches Handeln zu einem Zeichenträger, dessen Inhalt – die Möglichkeit einer Beziehung zu Ottilie – ihn selbst betrifft und als dessen Deuter er agiert.294 Er besetzt nicht nur die Position des Signifikanten, sondern ist zugleich auch auf der Ebene des Signifikats situiert und betrachtet sich darüber hinaus als einzig legitimen Interpreten der von ihm selbst gestifteten semiotischen Konstellation. So entsteht eine autistische Zeichenordnung, die sich rigoros gegen jede äußere Einwirkung abschottet, was den Major gegenüber Eduard zu der folgenden Feststellung veranlaßt: »Du löschest [...] mit wenigen Zügen alles aus, was man dir entgegensetzen könnte und sollte« (484). Paradoxerweise scheint aber gerade in der vom Hauptmann kritisierten, da absolut willkürlichen Zuschreibung ein Rest des ursprünglichen legendarischen Kontextes des Kelchglases auf: Indem Eduard sich selbst zum Zeichen macht, läßt er gleichsam das Wort Fleisch werden295 und reproduziert damit in struktureller Hinsicht wenigstens ansatzweise die essentialistische, Signifikant und Signifikat verschmelzende Semiotik der Eucharistie, auf die der Odilien-Kelch verweist. Noch die letzte Erwähnung des Glases kann als Reflex dieses Zeichenkonzepts verstanden werden: Die Entdeckung, daß das Kelchglas zerbrochen ist, geht Eduards Tod im letzten Kapitel des Romans nur um wenige Zeilen voraus (vgl. 527f.). Indem die egomane Signifikationspraxis in ihrem durch das Zerbrechen des Glases figurierten Scheitern den Tod ihres Konstrukteurs ankündigt, wirkt sie in ironischer Brechung doch noch als »wahrhafter Prophet« (527). Wie aus der vorangegangenen Analyse zweier Odilia-Reminiszenzen, die sich im Hinblick auf das Gesamtcorpus der ›Wahlverwandtschaften‹ um einige weitere ergänzen lassen,296 deutlich geworden sein dürfte, ist die im Umfeld der 294

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Auf der Ebene der Rhetorik wird die narzißtische Kreisbewegung der Eduardschen Signifikationspraxis in seinen Worten durch die Figur des Chiasmus verdeutlicht, in welcher Ausgangsund Endpunkt zusammenfallen: »So will ich mich denn selbst [...] mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen« (844, meine Hervorhebung). Vgl. dazu Hartmut Böhme, der Eduards semiotische Aufladung seines Kriegsabenteuers als künstlich hervorgebrachtes »absolutes Zeichen« begreift, das durch eine »finale Form der Fusion von Zeichen und Bedeutung, von Fleisch und Geist« gekennzeichnet sei (Harmut Böhme: »Kein wahrer Prophet«, S. 113). Auch mit dem großzügigen Geschenk, das Eduard seiner Geliebten an deren Geburtstag zukommen läßt, knüpft Goethe an die legendarische Tradition an. Verschiedene volkstümliche Erwei-

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Grundsteinlegung erfolgende Bezugnahme auf die elsässische Heiligenlegende von einem Prinzip kontrafaktischer Neu-Kontextualisierung und semantischer Umbesetzung bestimmt. Damit überführt Goethe die der Konstitution des »Denkstein[s]« eingeschriebene Funktionsweise kollektiver Tradierungsprozesse in die textuelle Praxis seines Romans: Die Umcodierungen der aus der Heiligenvita entlehnten Handlungs- und Zeichenelemente folgen einem semiotischen Mechanismus, den man auch mit Blick auf die Deutung der im Grundstein archivierten Gegenstände durch eine »entfernte Nachwelt« prognostizieren kann (332). Darüber hinaus bestätigen die intertextuellen Verweise auf die OdilienLegende einen poetologischen Befund, der sich im Ritual der Grundsteinlegung zeichenhaft ausgedrückt findet: Der künstlerische Produktionsprozeß verdankt sich nicht allein der individuellen Schöpferkraft, sondern ist auch auf vorgeformte Elemente tradierter Überlieferungsbestände verwiesen, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst werden und durch die Integration in neue Kontexte tiefgreifende Umcodierungen erfahren. Insofern weist die Grundsteinlegung der ›Wahlverwandtschaften‹ auf die Poetologie der ›Wanderjahre‹ voraus, die bereits in ihrer Eingangsepisode um St. Joseph den Zweiten die Umdeutung christlicher Mythologeme modellhaft vor Augen führen, hinsichtlich ihrer formalen Anlage eine plurale Autorschaft suggerieren und durch die mit der Archivfiktion verbundene Interpretationsproblematik die semantische Dynamik narrativer Transformationsprozesse zur Darstellung bringen. terungen der Odilien-Vita berichten davon, daß Bischof Erhard der elsässischen Heiligen nach ihrer Taufe »eine kleine mit Heyligthumen angefüllte Kiste [...] verehrt« habe (Medard Barth: Die heilige Odilia. Bd. 1, S. 235). In den ›Wahlverwandtschaften‹ überrascht Eduard Ottilie »mit einem köstlichen kleinen Koffer«, der erlesene Kleidungsstücke sowie Schmuck enthält (372). Während Bischof Erhard das Geschenk an Odilia mit der Prophezeiung verknüpft, »daß dieses nur ein Anfang der ihro zubereiteter himmlischer Genaden wäre, wann sie nun den allbereit empfangenen Schatz wol wurde zu verwahren wissen« (Medard Barth: Die heilige Odilia. Bd. 1, S. 235), fungiert das Kleidergeschenk seines Namensverwandten Eduard an Ottilie nicht als sakrale Ankündigung jenseitiger Erlösung, sondern als profanes Zeichen »grenzenlos[er] [...] Neigung« (366). Ein weiterer Bezug zwischen den ›Wahlverwandtschaften‹ und der Heiligenlegende besteht hinsichtlich der Platanengruppe, die Eduard, wie er nachträglich erfreut feststellt, am Geburtstag seiner Geliebten gepflanzt hat und die er daher als Zeichen einer schicksalhaften Vorherbestimmtheit seiner Verbindung mit Ottilie ansieht (vgl. 366f.). Auch die elsässische Heilige ist zeichenhaft mit einer Baumgruppe verknüpft. Wie das 15. Kapitel der ›Vita‹ berichtet, pflanzte Odilia drei Lindenbäume, die ihr »Andenken [...] bei den Nachkommen« wachhalten sollten (Maria Stoeckle: Das Leben der hl. Odilia, S. 54). Die offensichtlichste und von der Forschung immer wieder hervorgehobene Analogie zwischen Goethes Roman und der elsässischen Heiligenvita betrifft das Motiv der Augen (vgl. dazu zusammenfassend Waltraud Wiethölter: Kommentar, S. 1000f. u. S. 1020): Die blindgeborene Odilia, der erst durch die Taufe ihr Augenlicht zuteil wird, fungiert im katholischen Glauben als Heilige der Augenleidenden und wird in der bildenden Kunst häufig mit dem ikonographischen Attribut der Augen ausgestattet. Die ›Wahlverwandtschaften‹ rekurrieren auf diese Tradition, indem sie Ottilies »schöne Augen« hervorheben (282 u. 512) und sie als »wahre[n] Augentrost« bezeichnen (313). Daß sich gerade Eduard, der offensichtlich unter einer Sehschwäche leidet (vgl. 337), zu Ottilie hingezogen fühlt, erscheint als ironischer Reflex jener Heilkraft, die die legendarische Tradition der heiligen Odilia für den Bereich der Augenleiden zuschreibt.

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IV. ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹

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Erzählte Bilder – Zum Wechselspiel zwischen sprachlichen und bildkünstlerischen Zeichen in der Josephsgeschichte

1.1. Die Josephsfamilie in der Wahrnehmung Wilhelms Der Beginn von Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ entwirft ein semiotisches Spannungsfeld, das durch die Antithetik zweier Zeichenordnungen konstituiert wird. Während die sprachlichen Zeichen in Wilhelms Eröffnungsdialog mit Felix ein prekäres Verhältnis zwischen verbalem Signifikanten und gegenständlichem Referenzobjekt aufweisen,1 stehen die ikonographischen Zeichen, mit denen sich Joseph der Zweite umgibt, zumindest aus der Sicht des wahrnehmenden Wilhelm in einer stabilen Bedeutungsrelation. Die für die verbale Signifikation des Naturbereichs charakteristische Zuordnungsunsicherheit zwischen Signifikant und Referenz spielt bei Wilhelms Klassifizierung der »sonderbaren Erscheinung« Josephs, die unmittelbar auf das Gespräch mit Felix folgt, offenbar keine Rolle mehr.2 Nach den nicht adäquat verbalisierbaren Elementen der Natur treten jetzt vermeintlich eindeutige kulturelle Zeichen in Wilhelms Wahrnehmungsfeld. Er lernt die Familie Josephs im Horizont einer ikonographischen Tradition kennen, die ihrerseits auf eine legendarische Ausgestaltung der im Matthäus-Evangelium berichteten Flucht nach Ägypten rekurriert. Die aus dieser Tradition entlehnten Elemente, die Wilhelm an der Josephsfamilie beobachtet und die bei ihm sogleich die entsprechende Bilderinnerung mobilisieren, sind die Polieraxt und das Winkelmaß des Vaters, der mitgeführte Esel, der blaue Mantel und das rote Kleid der Mutter sowie das von dieser zärtlich betrachtete Wochenkind (vgl. 264f.). Wie weitgehend Wilhelms Wahrnehmung von assoziativ erinnerten Bildern beeinflußt wird, zeigt sich besonders deutlich, als er die Familie Josephs erstmals genauer in Augenschein nehmen kann: »Er fand sich auf einer Stelle, wo der 1

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Felix fragt seinen Vater, der »eben etwas in seine Schreibtafel [...] bemerkte«, nach dem Namen eines Steines und einer Frucht. Wilhelm jedoch ist nicht in der Lage, diese beiden Naturgegenstände sprachlich zu bezeichnen; eine exakt klassifizierende Verknüpfung von Ding und Begriff bleibt aus. – Der Dialog zwischen Wilhelm und Felix, der die ›Wanderjahre‹ eröffnet, wird auf den Seiten 199–201 der vorliegenden Studie hinsichtlich seiner sprachskeptischen und poetologischen Implikationen genauer analysiert. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre ›Zweite Fassung 1829‹. In: J.W.G.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. 40 Bde. Bd. 10. Hg. v. Gerhard Neumann u. Hans-Georg Dewitz. Frankfurt a. M. 1989, S. 263–774, hier S. 264. Die ›Wanderjahre‹ werden im folgenden mit einfacher Seitenangabe im Text nach dieser Ausgabe zitiert.

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Weg weniger abhängig war, und verschlang mit den Augen die wunderlichen Bilder, die seine Aufmerksamkeit so sehr an sich gezogen hatten. Erst jetzt war es ihm möglich, noch einen und den andern besondern Umstand zu bemerken. Der junge, rüstige Mann hatte wirklich eine Polieraxt auf der Schulter und ein langes schwankes eisernes Winkelmaß. Die Kinder trugen große Schilfbüschel, als wenn es Palmen wären« (265). Wilhelms Blick auf die Josephsfamilie verrät an dieser Stelle eine ausgeprägte kultursemiotische Überformung. Der sinnlich gegebene Sachverhalt wird auf eine ikonographische Tradition bezogen und sogleich als »Bild« qualifiziert. Wenn der Text in personaler Erzählweise3 davon spricht, daß Joseph »wirklich eine Polieraxt auf der Schulter« habe, weist dies darauf hin, daß Wilhelm hier etwas beobachtet, was er beim ersten Anblick der Familie nicht bewußt wahrgenommen, sondern aufgrund der assoziierten Verbindung zur erinnerten Bildvorlage lediglich supponiert hat.4 Diejenigen Merkmale der Josephsfamilie, die weniger reibungslos in der ikonographischen Tradition aufgehen, werden ihr auf der Ebene des Vergleichs wenigstens angenähert. So erinnern die »Schilfbüschel«, die die beiden Knaben tragen, Wilhelm an »Palmen«, die auf bildlichen Darstellungen der Flucht nach Ägypten häufig zu sehen sind und deren Zweige dort zuweilen – einer legendarischen Vorlage entsprechend – von einem Engel getragen werden.5 Diese ikonographische Tradition liegt offenbar zugrunde, wenn es, bezogen auf die Ähnlichkeit der Schilfbüschel mit Palmen, heißt, daß die beiden Knaben »von dieser Seite den Engeln glichen« (265). Das in der Form des Vergleichs noch wirksame Bewußtsein von der partiellen Differenz zwischen der Erscheinungsweise der Josephsfamilie und der bildlichen Tradition verliert sich wenig später vollends. Die beiden Knaben werden von Wilhelm nicht mehr mit Engeln verglichen, sondern direkt als solche bezeichnet; die palmenähnlichen Schilfbüschel erscheinen ihm als »Palmzweig[e]«.6 Diese sprachlichen Details verdeutlichen, 3

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Die personale Erzählperspektive der Geschichte Wilhelms resultiert aus der Archivfiktion: Da der Redaktor seine Informationen über die in den ersten Romankapiteln geschilderten Erlebnisse Wilhelms nur aus dessen Tagebuch bezieht, kann folglich nichts mitgeteilt werden, was den Wahrnehmungs- und Wissenshorizont des Protagonisten überschreitet (vgl. dazu Volker Neuhaus: Die Archivfiktion in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. In: Euphorion 62 [1968], S. 13–27, hier S. 18f.). Das Zimmermannswerkzeug ist in der ikonographischen Tradition ein feststehendes Attribut des heiligen Joseph. – Zum Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Bilderinnerung bei Wilhelm vgl. Franziska Schößler: Goethes ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹. Eine Kulturgeschichte der Moderne. Tübingen, Basel 2002, S. 208f. Das zugrundeliegende legendarische Palmbaumwunder findet sich in Pseudo-Matthäus 21 (vgl. dazu Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst. 5 Bde. Bd. 1. Gütersloh 1966, S. 128f.; Engelbert Kirschbaum [Hg.]: Lexikon christlicher Ikonographie. 8 Bde. Bd. 2. Freiburg 1970, S. 44). »Wilhelm sah seinen Felix mit Behagen in so guter Gesellschaft, er konnte ihn mit den lieben Engelein [i.e. mit den beiden Knaben] vergleichen, gegen die er kräftig abstach. [...] in seiner Natur war ein eigenes Gemisch von Herrschen und Dienen; er hatte schon einen Palmzweig und ein Körbchen ergriffen, womit er beides auszusprechen schien« (266f.).

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daß sich bei Wilhelm die Vorstellung einer Identität zwischen der realen Josephsfamilie und einer bestimmten bildhaften Darstellungstradition ausgebildet hat; die »Flucht nach Ägypten, die er so oft gemalt gesehen«, scheint ihm »hier vor seinen Augen wirklich« geworden zu sein (265). An dieser Stelle hat Wilhelm den Inhalt seiner visuellen Wahrnehmung mit einer kulturell codierten Matrix zur Deckung gebracht, die seinem Bildgedächtnis entstammt.7 Der projektive Charakter einer solchen Ineinssetzung8 zeigt sich besonders deutlich an der Pointierung einer medialen Differenz: Der Text vergegenwärtigt die Josephsfamilie in einer Situation kontinuierlicher Bewegung;9 in Wilhelms Wahrnehmung hingegen ist diese sequentielle Bewegtheit mit einer statischen Bilderinnerung verknüpft.10 Die in ihrer sprachlichen Repräsentation durch eine stetige Dynamik gekennzeichnete Erscheinung der Familie wird mit einem piktoralen Deutungsschema überblendet und dadurch stillgestellt. Wie im folgenden zu zeigen ist, weist die textuelle Vermittlung der Josephsfamilie im zweiten und dritten Romankapitel eine der bildgesteuerten Wahrnehmungsweise Wilhelms entgegengesetzte Tendenz auf, indem sie die kulturell fixierte Bilderordnung des von Joseph imitierten Freskenzyklus in eine polyvalente Sprachordnung überführt.

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Damit soll natürlich nicht behauptet werden, daß die Analogie zwischen der Erscheinung der Josephsfamilie einerseits und der ikonographischen Darstellungstradition der Flucht nach Ägypten andererseits allein auf die subjektive Wahrnehmungsweise Wilhelms zurückgeht. Der objektive Tatbestand der ikonographisch inspirierten Heiligennachfolge Josephs dient Wilhelm vielmehr zum Ausgangspunkt, um, wie oben beschrieben, auch widerständige Details des realen Familienzuges den Vorgaben der bildlichen Darstellungskonvention anzugleichen. Eine ähnliche Tendenz zur piktoralen Überformung attestiert Goethe der eigenen visuellen Wahrnehmungsweise, wenn er in der Italienischen Reise von seiner »alte[n] Gabe« spricht, »die Welt mit Augen desjenigen Malers zu sehen, dessen Bilder ich mir eben eingedrückt« (Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise I, S. 93). Diese Dynamik zeigt sich zum einen darin, daß zuerst die beiden Knaben Wilhelms Wahrnehmungsfeld durchschreiten, bevor ihm St. Joseph in den Blick kommt. Zum anderen insistiert der Text explizit auf der Bewegung Josephs, wenn es über seinen Esel heißt: »Das Tier verzögerte seinen Schritt, aber der Abstieg war zu jäh, die Vorüberziehenden konnten nicht anhalten und Wilhelm sah sie mit Verwunderung hinter der vorstehenden Felswand verschwinden« (265). Diese Differenz zwischen Malerei und Dichtung, die Lessings Laokoon-Aufsatz ›in extenso‹ entfaltet, wird bei der Schilderung des Bilderzyklus in der von Joseph restaurierten Kapelle erneut bedeutsam. (Vgl. dazu S. 170 der vorliegenden Studie). – Henriette Herwig verwischt den Unterschied zwischen der textlichen und der (von Wilhelm erinnerten) bildlichen Repräsentation der Josephsfamilie, wenn sie diese als »lebendes Standbild« bezeichnet (Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab. ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Tübingen, Basel 1997, S. 32).

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1.2. Bilder als Lebensmodell – Josephs ›imitatio‹ Nachdem das erste Kapitel nur einen kurzen Wortwechsel zwischen Wilhelm und Joseph präsentiert hat, entfaltet das zweite Kapitel die Hintergründe der von letzterem praktizierten Amalgamierung zwischen Bildtradition und Realsphäre. Wilhelm, der durch die ungewöhnliche Erscheinung Josephs neugierig geworden ist und Näheres erfahren möchte, verbringt drei Tage auf dessen Gut und läßt sich berichten, wie es zur piktoral grundierten Heiligen-Nachfolge seines Gastgebers gekommen ist. Die von Joseph ins Werk gesetzte ›imitatio‹, durch die sich Wilhelm um »achtzehnhundert Jahre zurückversetzt« fühlt (273), stellt das Ergebnis einer Sozialisationsgeschichte dar, die wesentlich durch Zeichen bestimmt wurde.11 Namen und Bilder haben dem Entwicklungsgang Josephs des Zweiten von Anfang an die Richtung vorgegeben. So beginnt er die Erzählung seiner Lebensgeschichte mit der Feststellung, daß »man mich in der Taufe Joseph nannte und dadurch gewissermaßen meine Lebensweise bestimmte« (274). Die verhaltensregulierende Kraft des Namens, die in den ›Wahlverwandtschaften‹ als mögliche Erklärung für die eigenartige Tätigkeit Mittlers ins Feld geführt wird,12 verweist auf eine Tendenz, die auch Josephs Umgang mit jenem an den Wänden einer ehemaligen Klosterkapelle befindlichen Freskenzyklus kenn11

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In der älteren Forschung ist die Josephs-Geschichte uneingeschränkt positiv gedeutet worden: Deli Fischer-Hartmann versteht sie als Gestaltung eines »Ziel[s], nach welchem zu streben es sich lohnt«, Hans-Joachim Schrimpf qualifiziert Joseph den Zweiten als den »schlechthin Geborgene[n], unmittelbar im Sinnzusammenhang Stehende[n]«, der »im Haus des Seins« wohne, und Hans-Jürgen Bastian sieht in der Eingangsepisode der ›Wanderjahre‹ das »urphänomental-typische [sic!] Modell einer vorbildlichen Familie« gestaltet (Deli Fischer-Hartmann: Goethes Altersroman. Studien über die innere Einheit von ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. Halle [Saale] o.J., S. 35; Hans-Joachim Schrimpf: Das Weltbild des späten Goethe. Stuttgart 1956, S. 150; Hans-Jürgen Bastian: Zum Menschenbild des späten Goethe. Eine Interpretation seiner Erzählung ›Sankt Joseph der Zweite‹ aus ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. In: Weimarer Beiträge 14 [1968], S. 471–488, hier S. 472). Anneliese Klingenberg hat als erste mit dieser Deutungstradition gebrochen und die dilettantisch-reproduktiven Momente im Werdegang Josephs des Zweiten herausgestellt (Anneliese Klingenberg: Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Quellen und Komposition. Berlin, Weimar 1971, S. 30–43). Im Anschluß an Klingenbergs kritische Lesart haben die Darstellungen von Henriette Herwig und Rolf Günter Renner den manipulativen Konstruktcharakter der bildgesteuerten Lebensweise Josephs des Zweiten fokussiert (Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab, S. 32–55; Rolf Günter Renner: Text, Bild und Gedächtnis, S. 152–156). Die jüngst erschienen Abhandlungen von Franziska Schößler und Richard Meier nehmen bei der Beurteilung der Josephs-Geschichte eine vermittelnde Position ein. Während Meier Joseph den Zweiten zwischen den Polen einer »künstliche[n] Restauration« und einer »echten Traditionalität« situiert, sieht Schößler in der Eingangsepisode ein Miteinander restaurativer und innovativer Aspekte gestaltet (Richard Meier: Gesellschaftliche Modernisierung in Goethes Alterswerken ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ und ›Faust II‹. Freiburg 2002, S. 51–53, S. 99f., S. 105f., hier S. 53; Franziska Schößler: Goethes ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹, S. 201–217). Über Mittler, der seine Lebensaufgabe bekanntlich darin sieht, Unstimmigkeiten zwischen Eheleuten zu schlichten, heißt es: »Diejenigen die auf Namensbedeutungen abergläubisch sind,

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zeichnet, welcher der Geschichte des heiligen Pflegevaters gewidmet ist. Das Eigene, Individuelle, Authentische geht im zeichenhaft vermittelten Rückbezug auf Vorgegebenes verloren. Daß dieses Verhaltensmuster paradoxerweise gerade vom Signifikanten des Einmaligen und Unverwechselbaren schlechthin, dem Eigennamen,13 initiiert wird, rückt Josephs Geschichte von Anfang an in ein ironisches Licht.14 Die durch seinen Namen wachgerufene Neigung Josephs, dem heiligen Pflegevater nachzufolgen, wird durch den Freskenzyklus in der Kapelle entscheidend verstärkt.15 Joseph betrachtet die einzelnen Fresken von Kindheit an immer wieder, ist von den dort dargestellten Stationen aus dem Leben seines Namenspatrons fasziniert und erhebt die bildliche Repräsentation des von ihm verehrten Heiligen zum Ich-Ideal. Auf diese Weise reguliert die Bilderordnung Josephs Seelenleben, die piktoralen Zeichen der Gemälde erhalten eine innerpsychische Orientierungsfunktion. Die Tatsache, daß das Bild vom Herodesthron an der Wand der Kapelle seit der Jugendzeit Josephs mehr und mehr »verloschen ist« (276), kann vor diesem Hintergrund als Figuration eines semiotischen Internalisierungsprozesses gelesen werden:16 Das Verblassen des äußeren Bildes visualisiert den psychologischen Vorgang der Verinnerlichung. Allerdings beschränkt sich Josefs Bild-Idolatrie auf die sichtbare Oberflächendimension des Dargestellten, während ihm der religiöse Kern der biblischen Geschichte verborgen bleibt.17 Er internalisiert die biblischen und legendarischen Geschehnisse lediglich in Form einer piktoralen Repräsentation, die – wie Werner Wolf in Bezug auf das Darstellungsmedium des Gemäldes allgemein herausstellt – nur äußere Sachverhalte und Konstellationen direkt

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behaupten, der Name Mittler habe ihn genötigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen« (Johann Wolfgang Goethe: ›Die Wahlverwandtschaften‹, S. 285). Goethe apostrophiert den Eigennamen in Dichtung und Wahrheit als »vollkommen passendes Kleid«, das die Unverwechselbarkeit seines Trägers angemessen zu signifizieren vermag (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, S. 444). – Zur semiotischen Charakterisierung von Eigennamen siehe die Ausführungen von Saul A. Kripke. Kripke versteht Eigennamen als »starre Bezeichnungsausdrücke«, die jeweils einen ganz bestimmten einzelnen Gegenstand signifizieren, dem sie durch den Akt einer »ursprünglichen Taufe« zugeordnet sind (Saul A. Kripke: Name und Notwendigkeit. Übers. v. Ursula Wolf, S. 59 u. S. 113). Mathias Mayer weist darauf hin, daß schon die Bezeichnung »Joseph der Zweite« eine gewisse Abwertung einschließe. Wäre die Novelle hingegen mit der Überschrift »Der neue Joseph« versehen worden, so hätte dies auf eine eher positiv konnotierte »Neubelebung eines alten Modells« schließen lassen (Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion, S. 155). Zur ikonographischen Tradition, die diesem Freskenzyklus zugrunde liegt, vgl. Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab, S. 35–38; Gerhard Neumann, Hans-Georg Dewitz: Kommentar: In: FA 10, S. 775–1340, hier S. S. 1031–1034 sowie Rolf Günter Renner: Text, Bild und Gedächtnis. In: Poetica 31 (1999), S. 149–174, hier S. 152–156. Vgl. hierzu Rolf Günter Renner: Text, Bild und Gedächtnis, S. 153. Joseph selbst bekennt gegenüber Wilhelm, daß sein Verhältnis zum Freskenzyklus von einer Unkenntnis der tieferen Zusammenhänge bestimmt ist: »Aber schon als Kind erfreute es mich besonders, [...] die Bilder zu betrachten, die mir Niemand recht auslegen konnte« (275).

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wiederzugeben in der Lage ist, tiefere »Sinnzusammenhänge« aber »allenfalls indirekt« anzudeuten vermag.18 Wenn Joseph also die heilige Familie als sein »Vorbild« und »Musterbild« bezeichnet,19 besitzen diese beiden im konventionellen Sprachgebrauch figurativ verwendeten Ausdrücke hier durchaus einen literalen Beiklang: Sie verweisen auf die fundamentale Bedeutung, die dem Bild als Repräsentationsmedium in Josephs Psychogenese zukommt. Wichtig sind dabei, neben der bereits erwähnten Beschränkung auf die Darstellung »sichtbarer Oberflächen«,20 vor allem zwei weitere spezifische Merkmale dieses Mediums: Zum einen können Bilder jenseits von rationaler Kontrolle direkt auf das Unbewußte einwirken21 und eignen sich daher per se zu einer phantasmatischen Verinnerlichung. Zum anderen zeichnet sich das Bild durch eine Punktualität der dargestellten Situation aus: Wie Lessing in seiner überaus wirkmächtigen ›Laokoon‹-Schrift konstatiert, kann die Malerei »von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick« präsentieren und muß daher »der Zeit gänzlich entsagen«.22 Dieses ästhetische Charakteristikum gilt offenbar auch für den Freskenzyklus in der Kapelle Josephs des Zweiten. Die Fixierung des einzelnen Bildes auf einen ausschnitthaften Augenblick wird in der narrativen Beschreibung des Freskenzyklus sprachlich nachgezeichnet.23 Die temporale Punktualität des Bildes prägt Josephs ›imitatio‹ nachhaltig. Er modelliert seine Sozialisation nach einigen bildlich festgehaltenen Einzelmomenten aus dem Leben des heiligen Joseph, ohne den inneren Gehalt und die teleologische Ausrichtung der biblischen Heilsgeschichte zu berücksichtigen.24

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Werner Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Vera Nünning, Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 23–104, hier S. 54. Joseph resümiert die Entwicklung seiner Familie folgendermaßen: »[S]o überschritt zwar unsere kleine Familie, indem sie sich vermehrte, ihr Vorbild an Zahl der Personen, aber die Tugenden jenes Musterbildes an Treue und Reinheit der Gesinnungen wurden von uns heilig bewahrt und geübt« (285). Die bedeutungsvolle Aura, die sich Joseph durch diese Worte zu verleihen versucht, wird übrigens dadurch ironisiert, daß er kurz zuvor auch schon seinen Esel stolz mit dessen »Musterbild« verglichen hat (279). Werner Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik, S. 54. Vgl. dazu grundsätzlich Klaus Sachs-Hombach: Die Macht der Bilder. In: Zs. für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 43 (2/1998), S. 175–189, hier S. 183, Anm. 30 und Aron Kibédi Varga: Visuelle Argumentation und visuelle Narrativität. In: Wolfgang Harms (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. Stuttgart 1990, S. 356–367, hier S. 358. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, S. 32 u. S. 116. Zu Lessings Konzeption einer imaginativen Dynamisierung von Werken der bildenden Kunst durch den Rezipienten siehe S. 120f. der vorliegenden Studie. Die Punktualität des Einzelbildes wird durch die Kombination von Anapher und Asyndeton sprachlich realisiert, wenn es über den Freskenzyklus heißt: »Hier sah man ihn [den heiligen Joseph] mit einer Zimmerarbeit beschäftigt; hier begegnete er Marien, und eine Lilie sproßte zwischen beiden aus dem Boden [...]. Hier wird er getraut« (271). Daß die von Joseph dem Zweiten betriebene Nachahmung auf bloße Äußerlichkeiten ausgerichtet ist, zeigt sich bereits an seinem Umgang mit der den Freskenzyklus über den heiligen Josef beherbergenden Kapelle, die einen tiefgreifenden Funktionswandel erfährt: Die ursprüngliche

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Die erste Lebensentscheidung, die Joseph unter dem Einfluß des Freskenzyklus trifft, ist seine Berufswahl. Er orientiert sich dabei am Bild vom Herodesthron, dessen Zwiespältigkeit er offenbar übersieht. Ihm entgeht, daß der Thron just für jenen Machthaber gebaut wurde, vor dem die heilige Familie später fliehen muß. Josephs Interesse richtet sich allein auf die geschnitzten Verzierungen des Thrones. Die peripheren und rein dekorativen Details des auf dem Fresko dargestellten Schnitzwerks motivieren ihn nicht nur dazu, den Beruf des Zimmermanns zu ergreifen, sondern nötigen ihn auch zu einer fast schon obsessiven handwerklichen Reproduktion. Mit einer auffälligen Emphase, die durch die Kombination von Diärese und Anapher rhetorisch intensiviert wird, beschreibt Joseph die Tätigkeit des Verzierens als Höhepunkt der eigenen Arbeit: »Denn besonders dieses letzte Einkerben der Balken, dieses Einschneiden von gewissen einfachen Formen, dieses Einbrennen zierender Figuren, dieses Rotmalen einiger Vertiefungen, wodurch ein hölzernes Berghaus den so lustigen Anblick gewährt, solche Künste waren mir besonders übertragen, weil ich mich am besten aus der Sache zog, der ich immer den Thron Herodes’ und seine Zieraten im Sinne hatte« (277). Diese wortreiche Schilderung demonstriert nicht nur, daß sich Josephs Bild-Nachfolge auf die Übernahme isolierter Einzelelemente beschränkt. Sie zeigt auch, wie Joseph die verinnerlichten Bild-Details externalisiert, und kann daher als Materialisation jener projektiven Überformung der Wirklichkeit gelesen werden, die für Josephs Verhalten insgesamt charakteristisch ist. Besonders deutlich tritt der inadäquate Realitätsbezug bei Josephs Partnerwahl zutage, die ganz durch die bildlichen Vorgaben des Freskenzyklus gesteuert

sakrale Bestimmung wird eliminiert, das vormals dem religiösen Kultus geweihte Gebäude zum nutzbaren Wohnraum umgestaltet. Aus semiotischer Perspektive läßt sich dieser Vorgang als historisch bedingte Umcodierung architektonischer Formen beschreiben. Wie Umberto Eco in seiner Einführung in die Semiotik gezeigt hat, stellt die Architektur ein Zeichensystem dar, in welchem die einzelnen architektonischen Objekte ihre eigene Funktion denotieren (vgl. dazu Umberto Eco: Einführung in die Semiotik. Übers. v. Jürgen Trabant. München 1972, S. 295– 356). Im Zuge historischer Entwicklungen werden häufig die ursprünglichen Denotate durch andere Denotate ersetzt – ein Prozeß, der gekennzeichnet ist durch ein »Heraustreten des Zeichens aus seinem Kontext und ein Wiedereinfügen des Zeichens in einen neuen Kontext, der es mit anderen Signifikaten belegt« (ebd., S. 319). Genau dies geschieht auch mit der Kapelle, deren vormals sakrale Funktion in eine profane umgewandelt wird. Damit verlieren auch die dort befindlichen Fresken ihren religiösen Zusammenhang. Ursprünglich sollte der Bilder-Zyklus der Heiligen Familie »den irdischen Weg Christi als Leidensweg darstellen, der zum [in der benachbarten Kirche befindlichen] Altar, dem Opfertisch, führt, wo die Erlösungstat im Gottesdienst sich wiederholte« (Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos. Sonderausgabe. Stuttgart 1989, S. 28). In der zur Wohnstube umfunktionierten Kapelle ist davon allerdings nichts mehr zu spüren; die Fresken dienen nicht länger zu frommer Erbauung, sondern nur noch zur Dekoration. Joseph dem Zweiten freilich bleibt die von ihm vorgenommene Profanisierung des Sakralen unbewußt. Er versteht sein Leben als bruchlose Nachahmung des heiligen Joseph, ohne die tiefgreifenden Divergenzen zwischen seinem Lebenswandel und dem seines Vorbilds auch nur in Betracht zu ziehen.

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wird. Marie fasziniert ihn nicht als eigenständiges und unverwechselbares Individuum, sondern lediglich als Realisationsmöglichkeit seines Phantasmas. Während er sie auf seinem Esel neben sich herführt, erinnert ihn diese Konstellation an die Fresken in der Kapelle. Vermutlich ist es in erster Linie die bildliche Darstellung der Flucht nach Ägypten, die ihm dabei in den Sinn kommt. Seine gegenwärtige Situation erscheint ihm als Postfiguration dieses Bildes, so daß sich ihm Marie zur »himmlische[n] Gestalt« verklärt (281). Als Joseph für einige Tage von Marie getrennt wird, unterwirft er sie einer phantasmatischen Rekonstruktion, die ebenfalls nach dem ikonographischen Muster der Flucht nach Ägypten geformt ist: »[U]nd immer hatte ich die schöne Gestalt vor Augen, wie sie auf dem Tiere schwankte und so schmerzhaft freundlich zu mir heruntersah« (282). Eine weitere Vorlage, auf die Joseph bei der projektiven Überformung Maries zurückgreift, ist die im Lukasevangelium erzählte Episode vom Besuch Marias bei Elisabeth, die unter der Bezeichnung »Heimsuchung Mariens« zu einem festen Bestandteil der christlichen Ikonographie geworden ist.25 Obwohl der Freskenzyklus in der Kapelle dieses Sujet ausspart, muß sich die HeimsuchungsAssoziation dennoch auf die piktorale Darstellungstradition beziehen, da Maria im biblischen Text ihre Reise zu Elisabeth ohne Joseph unternimmt.26 Erst seit der Spätgotik tritt er in einigen bildlichen Ausgestaltungen der »Heimsuchung« als Begleiter Marias auf.27 Joseph der Zweite nimmt nun explizit auf diese Tradition Bezug, wenn er im Beisein Maries die Geburtshelferin folgendermaßen anruft: »Frau Elisabeth, Ihr werdet heimgesucht!« (282). Mit diesen Worten manipuliert Joseph die eigene Lebenswirklichkeit, denn obwohl seine tatsächliche Situation mit der biblischen Heimsuchung so gut wie gar keine Gemeinsamkeiten aufweist,28 stellt er dennoch einen engen Bezug zwischen seinen Erlebnissen und der Heilsgeschichte her. Der illusionierende Sprechakt Josephs kann dabei im Horizont jener sprachskeptischen Reflexionen Goethes situiert werden, die das realitätsverfälschende Potential verbaler Signifikation wiederholt thematisieren.29 Auch im weiteren Verlauf des Textes deutet Joseph den Status seiner Beziehung zu Marie durch den Rekurs auf Bilder. Als er den neugeborenen Sohn ihres verstorbenen Mannes zum ersten Mal erblickt, führt dies zu einer zwanghaften Assoziation: »Frau Elisabeth hielt [den Knaben] gerade zwischen mich und die Mutter, und auf der Stelle fiel mir der Lilienstengel ein, der sich auf dem Bilde zwischen Maria und Joseph als Zeuge eines reinen Verhältnisses

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Vgl. dazu Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst. Bd. 1, S. 65ff. sowie Engelbert Kirschbaum: Lexikon christlicher Ikonographie. Bd. 2, S. 230–234. Lk 1, 39–56. Vgl. dazu Engelbert Kirschbaum: Lexikon christlicher Ikonographie. Bd. 2, S. 234. Lediglich die Namen Elisabeth und Marie sowie das Gebirge als Schauplatz des Geschehens erinnern an die biblische Heimsuchung. Vgl. dazu S. 53 der vorliegenden Studie.

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aus der Erde hebt« (283). Indem Joseph das dem Freskenzyklus entstammende Symbol des Lilienstengels herbeizitiert, integriert er die junge Mutter in die der Vita seines Namenspatrons gewidmete Bilderordnung. Damit scheint einer ehelichen Verbindung nichts mehr im Wege zu stehen: »Von dem Augenblicke an war mir aller Druck vom Herzen genommen; ich war meiner Sache, ich war meines Glücks gewiß« (283). Konsequenterweise wird dann sogar der an Marie gerichtete Heiratsantrag über eine Beschreibung der Fresken vermittelt (285): Indem Joseph gegenüber seiner Geliebten das bildlich Dargestellte erläutert, bringt er zugleich die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft zur Sprache. Maries Eintritt in die Lebenswelt Josephs ist, wie auch dieses Beispiel noch einmal hervorhebt, mit der Integration in eine Bilderordnung verknüpft. Auf diese Weise wird der jungen Mutter unabhängig von ihrer personalen Individualität eine bestimmte Rolle aufgenötigt, die einem starr fixierten bildgezeugten Phantasma entstammt. Die entfremdenden und verdinglichenden Tendenzen einer solchen Beziehungskonstitution manifestieren sich in Josephs Sprachverhalten, wenn er Marie mit »kostbaren Waren« vergleicht (282f.). Josephs gesamte Sozialisation ist demnach an kulturell codierten Zeichen orientiert, deren Bedeutung durch die Tradition festgeschrieben wurde. »Die Flucht nach Ägypten«, »Die Heimsuchung«, »Der Lilienstengel« – das alles sind Zeichen beziehungsweise Zeichenkomplexe, deren jeweilige Semantik im Kontext der biblischen Geschichte und ihrer ikonographischen Ausgestaltung klar definiert ist. Joseph übernimmt nun diese Zeichen und appliziert sie auf den eigenen Lebenszusammenhang – in der Absicht, damit auch das ihnen im heilsgeschichtlichen Zusammenhang jeweils zugehörige Signifikat zu aktualisieren.30 Der Text allerdings entlarvt diesen semiotischen Versuch einer »Stillstellung von Geschichte«31 als illusionäres Konstrukt, indem er die kulturell fixierten Zeichen aufbricht und dekomponiert. Besonders deutlich zeigt sich dies in den Episoden »Die Heimsuchung« und »Der Lilienstengel«. Indem der Redaktor diese Zwischenüberschriften einfügt, die den mündlichen Erzählfluß Josephs des Zweiten unterbrechen,32 exponiert er die Diskrepanz zwischen dem biblischen Bedeutungskontext der beiden Begriffe und ihrer Verwendung innerhalb des Romangeschehens. Ähnlich wie der Titel eines Werkes fungiert eine Überschrift bekanntlich nicht nur als eine Art Eigenname des betreffenden Textsegments, sondern bezeichnet zugleich auch summarisch dessen Inhalt.33 30

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So fungiert z.B. die Lilie im biblischen Kontext als Zeichen für die Reinheit des Verhältnisses zwischen Joseph und der Gottesmutter. Durch die assoziative Imagination dieses Zeichens will Joseph der Zweite seine Beziehung zu Marie mit demselben Attribut belegen. Katharina Grätz: Erhabne Trümmer. Zur kulturpoetischen Funktion der Ruine bei Goethe. In: Olaf Hildebrand, Thomas Pitroff (Hg.): »… auf klassischem Boden begeistert«. AntikeRezeptionen in der deutschen Literatur. Fs. für Jochen Schmidt zum 65. Geburtstag. Freiburg 2004, S. 145–169, hier S. 164. Vgl. dazu Franziska Schößler: Goethes ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹, S. 214f. Die gespaltene Referenz von Titeln beschreibt Jacques Derrida in seinem Vortrag Préjugés: »Auf-

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Dieser Inhalt allerdings unterläuft im Fall der Erzähleinheiten »Die Heimsuchung« und »Der Lilienstengel« den durch die Zwischenüberschriften evozierten biblischen Anspielungshorizont nachhaltig.34 Die im Sinnzusammenhang des Neuen Testaments scharf umrissene Semantik der »Heimsuchung«35 gewinnt in Goethes Text einen ambivalenten Charakter: Während es Joseph bei seiner Übernahme des Begriffs um eine Reinszenierung der ikonographisch ausgestalteten biblischen Vorlage geht, entfaltet derselbe Terminus als Zwischenüberschrift in Bezug auf Marie und ihren verstorbenen ersten Gatten eine ganz andere Bedeutung, die in einem krassen Gegensatz zu dem von Joseph beabsichtigten sakralen Wortverständnis steht. Der Tod von Maries Ehemann erscheint als Heimsuchung im Sinne eines brutalen Schicksalsschlages, der sich nicht in einen heilsgeschichtlich-teleologischen Horizont einfügen läßt. Eine vergleichbare säkularisierende Umcodierung zeigt sich auch an der Zwischenüberschrift »Der Lilienstengel«. In der christlichen Ikonographie steht die Lilie für die als sexuelle Unberührtheit verstandene Reinheit Marias. In den ›Wanderjahren‹ hingegen rückt die Lilie in einen Kontext, der dieser Assoziation von Reinheit grundsätzlich zuwiderläuft. Josephs Imagination weist der Lilie nämlich einen Platz zu, den in der Realität ein Kind innehat, das aus einer sexuellen Beziehung hervorgegangen ist.36 Eine solche Umbesetzung des religiösen Diskurses, wie sie Joseph hier unbewußt vollzieht, zeigt sich auch an der Art und Weise, wie das Haus der Frau Elisabeth geschildert wird. Joseph beschreibt dieses Gebäude unter Verwendung eines sakral konnotierten Vokabulars: Es erscheint ihm als ein »Heiligtum«, das mit einem »Geheimnis« umgeben ist und immer »höchst reinlich« wirkt (278). Doch erhalten diese Begriffe

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grund des Platzes, den er besetzt, und des Kontextes, den er strukturiert, ist der Titel zugleich der Eigenname des Diskurses oder des Werkes, das beziehungsweise den er betitelt, und der Name dessen, wovon das Werk spricht oder handelt« (Jacques Derrida: Préjugés, S. 15). Ein ähnlich spannungsvolles Verhältnis besteht auch zwischen Überschrift und Inhalt des Kapitels »Die Flucht nach Ägypten«. Während der biblische Bezugstext (Mt 2,13–15) beschreibt, wie die heilige Familie aus ihrer Heimat in ein fremdes Land fliehen muß, um ihr Kind vor dem Tod zu retten, kann bei der Familie Josephs des Zweiten von einer Vertreibung aus der Heimat keine Rede sein: Er befindet sich, als er Wilhelm begegnet, mit Frau und Kindern auf dem Weg nach Hause. Die existentiell notwendige Flucht, die das Matthäusevangelium schildert, wird im Zitat durch Joseph den Zweiten zu einem idyllischen Familienausflug depotenziert. »Heimsuchung Mariens« bedeutet innerhalb der christlichen Heilsgeschichte, daß Maria ihre Verwandte Elisabeth besucht und sich dabei ihrer Bestimmung als Mutter Gottes im vorhinein bewußt wird. »Frau Elisabeth hielt ihn [den Sohn von Marias erstem Mann] gerade zwischen mich und die Mutter, und auf der Stelle fiel mir der Lilienstengel ein, der sich auf dem Bilde zwischen Maria und Joseph, als Zeuge eines reinen Verhältnisses aus der Erde hebt« (283). Rolf Günter Renner weist auf einen intertextuellen Bezug zwischen dieser Passage und den Lehrjahren hin, der die biblische Bedeutung des Liliensymbols subvertiert: In den Lehrjahren begegne die Lilie im Zusammenhang der inzestuösen Liebe zwischen Augustin und Sperata als Zeichen für eine »nicht völlig beherrschbare Sexualität« (Rolf Günter Renner: Text, Bild und Gedächtnis, S. 156; dort auch der Hinweis auf die entsprechende Textstelle in den Lehrjahren [FA 7, S. 965]).

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hier, ohne daß Joseph die Differenz registrieren würde, eine von ihrem religiösen Bezugssystem ganz und gar abweichende Bedeutung. Das »Heiligtum«, in welchem Frau Elisabeth ihre Dienste als Geburtshelferin anbietet, ist ein Ort unmittelbarer Körperlichkeit, das »Geheimnis« hat keinerlei metaphysischen Hintergrund, sondern besteht einfach nur darin, daß Joseph Elisabeths Tätigkeitsfeld als junger Mann noch nicht kannte, und das Wortfeld der Reinheit benennt lediglich die medizinische Hygiene, die für eine Entbindungsstätte notwendig ist. Die Differenz zwischen Josephs ›imitatio‹ und der biblischen Geschichte wird also im Text deutlich markiert. Die starre Nachahmung der Bilder aus dem Freskenzyklus verfehlt allerdings nicht nur den religiösen Gehalt der biblischen Geschehnisse, sondern erscheint darüber hinaus auch als ein kurzschlüssiger Übertragungsvorgang, der die Grenze zwischen Kunst und Leben zu annihilieren trachtet.37 Anders als die ›tableaux vivants‹ der ›Wahlverwandtschaften‹, die als ästhetische Inszenierung markiert und damit von der fiktiven Realität des Romangeschehens abgehoben werden, fällt Josephs Gemäldeimitation mit seinem konkreten Lebensvollzug zusammen. Joseph konstruiert sich seine persönliche Entwicklungsgeschichte nach Maßgabe von Bildern. Die Geschlossenheit dieses linear erzählten38 Sozialisationsverlaufs wird allerdings durch den narrativen Polyperspektivismus der ›Wanderjahre‹ konterkariert. Ähnlich wie im Falle der ›tableaux vivants‹ in den ›Wahlverwandtschaften‹ läßt sich, wie im folgenden gezeigt werden soll, auch im Hinblick auf den Freskenzyklus Josephs des Zweiten eine narrative Strategie beobachten, die darauf ausgerichtet ist, eine plurale Semantisierung der Bildvorlagen herbeizuführen. Die sterile Reproduktion von kulturell fixierten eindeutigen Zeichen, die Joseph praktiziert, wird in den ›Wanderjahren‹ einer impliziten Kritik unterzogen.39 So setzt die fiktive Textgenese der Josephsgeschichte dem starren Umgang mit Zeichen40 ein semiotisches Modell entgegen, das durch eine lebendige Trans-

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Vgl. dazu Anneliese Klingenberg, die zutreffend konstatiert, daß bereits die Gemälde in der Kapelle, die »in dem Betrachtenden die Meinung« erweckten, »als Natur wiederholbar« zu sein, das Signum des Dilettantismus aufwiesen (Anneliese Klingenberg: Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹, S. 38). Die Lebensgeschichte Josephs wird von diesem in strikt chronologischer Folge berichtet und stellt damit unter formalen Gesichtspunkten ein Gegenbild zu dem von narrativer Zersplitterung geprägten Erzählverfahren der ›Wanderjahre‹ dar (vgl. 274–285). Nicht nur hinsichtlich der starren Semiotechnik wird die Gestalt Josephs des Zweiten durch den Textzusammenhang der ›Wanderjahre‹ relativiert: Das von Joseph vertretene traditionelle Familienmodell spielt, wie die Forschung häufig herausgestellt hat, im weiteren Verlauf des Romans kaum eine Rolle und wird insbesondere in der Rahmenhandlung durch rein funktional definierte kollektivistische Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens abgelöst. Die vormoderne Daseinsweise Josephs des Zweiten wird auf diesem Wege als anachronistisch markiert. Wenn hier von einem starren Umgang mit Zeichen gesprochen wird, bezieht sich das auf die subjektive Wahrnehmung Josephs, dem nicht bewußt wird, wie sehr sich die Bedeutung der

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formationsbewegung zwischen verschiedenen Zeichensystemen charakterisiert ist. Die Textgestalt, die dem Leser vorliegt, präsentiert sich als Ergebnis einer mehrfach gestuften intermedialen Vermittlung: Den Ausgangspunkt bildet die Geschichte der heiligen Familie, die im biblischen Bericht verschriftlicht wird. Dieser biblische Bericht dient jenen Wandmalereien zur Vorlage, die Joseph internalisiert und nach denen er das Leben seiner Familie ausrichtet. Wilhelm schließlich hält die Lebensweise dieser Familie, die ihm teils durch eine Erzählung Josephs, teils durch eigene Anschauung vermittelt wird, in seinem Tagebuch fest,41 das dann seinerseits dem von einem Redaktor erstellten Romantext als Quelle zugrunde liegt. Im Zuge dieses semiotischen Transformationsprozesses kommt es immer wieder zu tiefgreifenden Bedeutungsverschiebungen.42 Besonders markant tritt dies bei der abschließenden Kommentierung hervor, die Josephs Erzählung durch Wilhelm erfährt. Der Rückbezug der Familie Josephs des Zweiten auf die biblische Geschichte als den eigentlichen Ursprung der oben beschriebenen semiotischen Ableitungsreihe spielt für Wilhelm keine Rolle mehr.43 Er sieht in der Entwicklung Josephs eine partielle Analogie zu seinem eigenen Schicksal.44 Was sich dem Leser zunächst als Reinszenierung der Geschichte der heiligen Familie präsentiert, wird im zweiten Brief an Natalie in einen ganz anderen Bezugshorizont gestellt, wenn Wilhelm hinsichtlich der Erzählung Josephs die folgenden rhetorischen Fragen aufwirft: »Jene Verehrung seines Weibes gleicht sie nicht derjenigen, die ich für dich empfinde? und hat nicht selbst das Zusammentreffen dieser beiden Liebenden etwas ähnliches mit

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von ihm übernommenen biblischen Zeichen bei der Applikation auf seinen eigenen Lebenszusammenhang verschiebt. Die Transformation der mündlichen Erzählung Josephs in die schriftlich vorliegenden Tagebuchaufzeichnungen Wilhelms wird im Text besonders deutlich markiert. Was sich dem Leser zunächst als wörtlich wiedergegebene direkte Rede Josephs präsentiert, wird im nachhinein als perspektivisch gebrochenes Produkt einer Schreibsituation kenntlich gemacht. So beginnt Wilhelm seinen zweiten Brief an Natalie, der im Text direkt auf den Bericht Josephs folgt, mit folgenden Worten: »So eben schließe ich eine angenehme, halb wunderbare Geschichte, die ich für dich aus dem Munde eines gar wackern Mannes aufgeschrieben habe. Wenn es nicht ganz seine Worte sind, wenn ich hie und da meine Gesinnungen, bei Gelegenheit der Seinigen, ausgedrückt habe, so war es bei der Verwandtschaft, die ich hier mit ihm fühlte, ganz natürlich« (286). Diese Bedeutungsverschiebungen wurden am Beispiel der vom Redaktor eingesetzten Überschriften auf den Seiten 173–175 der vorliegenden Studie erläutert. Indem der Text der ›Wanderjahre‹ die sakrale Dimension des von Joseph imitierten Freskenzyklus’ durch profane Sinnschichten überlagert, verrät er eine Analogie zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, die, wie Ernst Osterkamp anhand verschiedener Beispiele nachgewiesen hat, »die religiöse Bedeutung des Gemäldes [...] aus der Beschreibung ausblende[n]« (Ernst Osterkamp: Im Buchstabenbilde, S. 309). Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Beziehungskonstellationen JosephMarie und Wilhelm-Natalie vgl. Anneliese Klingenberg: Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹, S. 42; Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister, S. 29–31; Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab, S. 46f.; Franziska Schößler: Goethes ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹, S. 215f.

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dem unsrigen?« (286). Auf diese Weise wird die Beziehung zwischen Joseph und Marie mit der Beziehung zwischen Wilhelm und Natalie parallelisiert, die ihrerseits keine Gemeinsamkeiten mit der biblischen Geschichte aufweist. Der Ausgangspunkt der von Joseph ins Werk gesetzten ›imitatio‹ wird also gegen Ende ihrer narrativen Präsentation von Wilhelms Erinnerungen an die eigene Biographie überdeckt. Auf diese Weise arbeitet der Text dem vereindeutigenden Umgang mit Zeichen, wie ihn Joseph praktiziert, diametral entgegen. Die von Joseph imitierte ikonographische Zeichenordnung, die im Horizont eines geschlossenen Weltbildes steht, wird in ein komplexes narratives Sprachspiel aufgelöst, das keine letztgültigen und unveränderbaren Bedeutungszuschreibungen mehr kennt und insofern als Analogon der in der chemischen Gleichnisrede der ›Wahlverwandtschaften‹ entfalteten Sprachskepsis verstanden werden kann. Zudem weist die textuelle Praxis der Josephs-Geschichte hinsichtlich der Erzeugung semantischer Polyvalenzen auf das Zentralsymbol des Kästchens voraus, das als ein radikal bedeutungsoffenes Zeichen die Faktur der ›Wanderjahre‹ im Modus poetologischer Selbstreflexion figuriert.

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2.

Konkurrierende Semiotechniken – Utilitaristische Bezeichnungsgewißheit und poetologische Signifikationsskepsis

Das Prinzip semantischer Polyvalenz, das die mehrfach gestufte narrative Vermittlung der Josephs-Kapitel bereits zu Beginn der ›Wanderjahre‹ exponiert, wird im folgenden als Grundlage der impliziten Poetologie dieses Romans aufgewiesen und mit den weitgehend auf Homogenität und Eindeutigkeit angelegten Sinn-Konstruktionen des Oheim-Bezirks und der Pädagogischen Provinz kontrastiert. Die Ausführungen zum Oheim-Bezirk und zur Pädagogischen Provinz haben im Hinblick auf die Zeichensysteme, mit denen die dem Nützlichkeitsprinzip verpflichteten Gesellschaftsformationen der ›Wanderjahre‹ operieren, einen exemplarischen und paradigmatischen Charakter – von ähnlichen semiotischen Funktionsmechanismen sind etwa auch die kollektiven Verbände der Auswanderer und der Binnenkolonisatoren geprägt. Die folgenden Unterkapitel wenden sich dem Oheim-Bezirk und der Pädagogischen Provinz nicht zuletzt auch deswegen genauer zu, weil diese beiden Bereiche auf der Figurenebene mit dem Kästchen als dem poetologischen Zentral-Zeichen des Romans vernetzt sind und sich insofern besonders für eine Analyse eignen, welche die implizite Poetologie der ›Wanderjahre‹ mit der inhaltlichen Ebene dieses Romans ins Verhältnis setzt. Nach den Ausführungen zum Oheim-Bezirk und zur Pädagogischen Provinz nehme ich die für die Poetologie der ›Wanderjahre‹ konstitutiven, von den auf Effizienz getrimmten Kommunikationssystemen der utilitaristischen Gesellschaftsformationen weitgehend ausgegrenzten Polyvalenzen in den Blick. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den auf der Figurenebene entfalteten Bezeichnungs- und Deutungsproblemen, die sich mit der sprachskeptischen Stoßrichtung der ›Wahlverwandtschaften‹ korrelieren lassen. Abschließend gehe ich der Frage nach, wie der Antagonismus zwischen dem auf inhaltlicher Ebene propagierten Prinzip utilitaristischer Eindeutigkeit, das dem Wertekanon des Oheim-Bezirks und der Pädagogischen Provinz zugrundeliegt, und der umwegigen, sperrigen, von irreduzibler Vieldeutigkeit geprägten formalen Anlage des Romans interpretiert werden kann.

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2.1. Repräsentationsformen des Utilitarismus 2.1.1. Der Bezirk des Oheims Nachdem Wilhelm und Felix das Gut Josephs des Zweiten verlassen haben, treffen sie sich zunächst für einige Stunden mit Jarno45 und begeben sich dann in den Bezirk des Oheims. Schon auf der Ebene der erzählten Handlung wird dem Leser deutlich vor Augen geführt, daß der Bereich Josephs und der des Oheims in einem Oppositionsverhältnis zueinander stehen: Wilhelm und Felix müssen auf ihrem Weg einen tiefen Graben überwinden, der als topographische Zäsur die Besitzungen des Oheims gegen das Gebirge abgrenzt. Dabei geraten sie in eine Falle und sind gezwungen, aufgrund eines Mißverständnisses kurze Zeit in Gefangenschaft zuzubringen (vgl. 304–306). Diese Gefangenschaft besitzt eine symbolische Valenz: Sie markiert den Übertritt aus einem eher archaischen in einen hochzivilisierten Lebensbereich.46 Indem der Text den Zugang zu diesem Bezirk mit einem vorübergehenden Freiheitsverlust korreliert, unter dem insbesondere Felix leidet, versieht er die Sphäre des Oheims von vornherein mit einem negativen Vorzeichen. Der Bezirk des Oheims ist durchgängig vom Prinzip des Utilitarismus bestimmt, der auf verschiedenen Ebenen umgesetzt wird: Er veranlaßt, wie im folgenden genauer ausgeführt werden soll, die Rationalisierung der bewirtschafteten Anlagen und der zwischenmenschlichen Lebensvollzüge, die säkulare Funktionalisierung sakraler Traditionsbestände sowie den auf semantische Fixierung und eindeutig faßbaren Sinn hin ausgerichteten Umgang mit den Zeichenordnungen von Bild und Sprache. Auf den Besitzungen des Oheims wird die Natur unter dem Gesichtspunkt maximaler Effizienz ökonomisch nutzbar gemacht. Was sich Wilhelms Blicken darbietet, ist eine vereinheitlichte und geometrisierte Landschaft, die ausschließlich utilitaristischen Zwecken dient, dabei aber keinerlei ästhetischen Genuß zu gewähren vermag: »Auf dem Wege nach dem Schlosse fand unser Freund zu seiner Verwunderung nichts was einem älteren Lustgarten, oder einem modernen Park ähnlich gewesen wäre; gradlinig gepflanzte Fruchtbäume, Gemüsfelder, große Strecken mit Heilkräutern bestellt, und was nur irgend brauchbar konnte geachtet werden, übersah er auf sanft abhängiger Fläche mit einem Blicke« (308). Die rationale Organisation der landwirtschaftlichen Anlagen steht im Dienste der Kapitalakkumulation. Das oberste Ziel des Oheims, das die moralisierende Camouflage seiner Nichte Juliette nur unzureichend verdecken

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Zur Begegnung mit Jarno siehe S. 200–202 der vorliegenden Studie. Vgl. dazu Richard Meier, der die Sphäre Josephs des Zweiten als »traditionelle« Gesellschaftsformation dem Bereich des Oheims als einer »moderne[n]« Gesellschaftsformation gegenüberstellt (Richard Meier: Gesellschaftliche Modernisierung in Goethes Alterswerken, S. 55).

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kann, besteht darin, die Erträge seiner Pflanzungen zu einem vorteilhaften Preis zu veräußern.47 Ebenso wie die Bewirtschaftung des Landbesitzes ist auch die Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehungen im Bezirk des Oheims nach dem Prinzip der Nützlichkeit organisiert. Anders als bei Joseph dem Zweiten spielen enge familiale Bindungen für das Zusammenleben keine Rolle. Die Personen stehen allenfalls in entfernteren Verwandtschaftsbeziehungen oder bilden lediglich eine Zweckgemeinschaft: Neben Neffen und Nichten sind auch zwei Beamte in den engeren Kreis des Oheims integriert. Der geringen Bedeutung familialer Bindungen entspricht eine auf dem Grundsatz der Delegation beruhende medizinische Versorgungspraxis, der es allein um die Wiederherstellung körperlicher Unversehrtheit geht. So teilt Juliette dem erstaunten Wilhelm mit, daß er seinem vom Pferd gestürzten Sohn nicht zur Hilfe kommen dürfe, da dieser vor dem Kontakt mit dem Vater zunächst durch einen professionellen Wundarzt zu behandeln sei (vgl. 332). Franziska Schößler, die für den Bezirk des Oheims eine »Innovation« durch »medizinische Funktionalität« konstatiert,48 resümiert zutreffend: »[D]as Heilverfahren [wird] versachlicht und entpersonalisiert; Felix erfährt keinen Beistand durch seinen Vater [...] allein die körperliche Konstitution ist relevant«.49 Auch der Stellenwert religiöser Elemente bemißt sich im Bezirk des Oheims an den Erfordernissen diesseitiger Nützlichkeit. So werden sakrale Traditionsbestände zur Konstruktion einer säkularen Ordnung funktionalisiert, die ganz dem Prinzip des Utilitarismus untersteht. Der Sonntag etwa verliert im Lebensrhythmus der Oheim-Gesellschaft seinen christlichen Sinnhorizont: Die Ruhe am siebten Tag der Woche ist nicht auf den Gedanken an eine metaphysische Ordnung ausgerichtet, sondern dient lediglich dazu, die Arbeitskraft des Einzelnen in psychologischer und physiologischer Hinsicht zu regenerieren. Dabei kommt Gott eine allenfalls periphere Bedeutung zu, indem die Probleme und Schwierigkeiten, die sich mit dem rationalistischen Instrumentarium des Oheims nicht lösen lassen, in den Zuständigkeitsbereich des »allbedingenden und allbefreienden Wesens« verschoben werden (345).50 Dem entspricht, daß die Religion insgesamt jede normative Verbindlichkeit einbüßt: Sie erscheint als

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Juliette unterstellt dem Oheim folgenden hehren Gedankengang: »Keinem Kinde da droben soll es an einer Kirsche, an einem Apfel fehlen, wornach sie mit Recht so lüstern sind; der Hausfrau soll es nicht an Kohl noch an Rüben, oder sonst einem Gemüse im Topf ermangeln [...]« (327). Die Belieferung der Bergregion mit Lebensmitteln ist allerdings nicht altruistisch, sondern ökonomisch motiviert: Die Früchte werden ins Gebirge »verkäuflich hin[ge]tragen« (327) und dort zu einem Preis abgesetzt, der »den Käufern etwas zu hoch« erscheint (271). Franziska Schößler: Goethes ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹, S. 230. Ebd., S. 232. Zur Tendenz der funktionalisierenden Säkularisierung im Bezirk des Oheims vgl. Thomas Degering: Das Elend der Entsagung: Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Bonn 1982, S. 150; Franziska Schößler: Goethes ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹, S. 232f.

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bloße Leerform, die der Einzelne zum Zweck der Gewissensregulierung beliebig ausfüllen kann.51 Allerdings bleibt der damit gewährte individuelle Freiraum im Bereich des Oheims ausdrücklich auf die Sphäre der Religion beschränkt; jenseits der liberalen Haltung in Glaubensfragen wird nämlich »sehr darauf gesehen, daß niemand sich absondere« (344). Das allgegenwärtige Nützlichkeitsprinzip bestimmt auch die Selektionskriterien jener Sammlungen, die der Oheim seinem Gast Wilhelm voller Stolz präsentiert. Aufgenommen werden ausschließlich solche Objekte, die als Konservierungsmedien empirischer Gegebenheiten betrachtet werden können und dadurch das Weltwissen des Rezipienten zu vermehren in der Lage sind. Dies gilt sowohl für die bildlichen Darstellungen als auch für die vom Oheim archivierten schriftlichen Dokumente. Was an den Bildern, die Wilhelm im Schloß zu Gesicht bekommt, auffällt, ist vor allem ihr eingeschränkter Gegenstandsbereich: Es werden entweder geographische Sujets wie Städte und Kontinente oder aber historische Personen dargestellt; Bilder mit mythologischen, religiösen oder literarischen Themen sucht man vergebens. Die Sphäre der Fiktionalität wird rigoros ausgeklammert, Produkte der »Einbildungskraft« sind lediglich unter der Bedingung geduldet, daß sie »das Wahre [...] vergegenwärtigen« (325), wobei der Oheim den Wahrheitsbegriff auf einen schlichten Tatsachenempirismus reduziert.52 Was über die pure Faktizität hinausgeht, erscheint dem rationalistischutilitaristischen Weltbild des Oheims als Störfaktor, den es zu unterdrücken gilt. Die kreative Phantasie, die jenseits von Planbarkeit und Berechenbarkeit situiert ist, hat in seinem einseitig ökonomisch orientierten Effizienzdenken keinen Platz. Die Vernunftordnung des Oheim-Bezirks konsolidiert sich also nicht zuletzt dadurch, daß sie die dem Diktat der Zweckrationalität entzogene Sphäre der Einbildungskraft abzuweisen sucht. Allerdings wird diese Strategie der Ausgrenzung konterkariert, denn gerade der Bereich des Oheims, der sich von allem Imaginativen freizuhalten trachtet, bietet den Rahmen für die beiden Erzählungen ›Die pilgernde Törin‹ und ›Wer ist der Verräter?‹, die im Vergleich zu den anderen eingelagerten Novellen und zur Rahmenhandlung einen deutlich höheren Fiktionalitätsgrad aufweisen.53 Darüber hinaus wird die ablehnende

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»Die eigentliche Religion [bleibt] ein Inneres, ja Individuelles, denn sie hat ganz allein mit dem Gewissen zu tun, dieses soll erregt, soll beschwichtigt werden« (344f.). Zum Wahrheitsbegriff des Oheims vgl. Franziska Schößler: Goethes ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹, S. 235–238. ›Die pilgernde Törin‹ und ›Wer ist der Verräter?‹ sind die beiden einzigen Novellen, die innerhalb der ›Wanderjahre‹ ausdrücklich als Dichtungen präsentiert werden. Die Novellen, die in den weiteren Verlauf des Romans eingeflochten sind (Der Mann von funfzig Jahren, Die neue Melusine, Die gefährliche Wette und Nicht zu weit), stehen hingegen auf derselben Fiktionalitätsstufe wie die Rahmenhandlung, da jeweils eine oder mehrere Personen aus diesen Novellen auch innerhalb der Rahmenhandlung auftreten. (Die Novelle Die neue Melusine stellt dabei einen Sonderfall dar, da zwar ihr Erzähler-Protagonist auch in der Rahmenhandlung auftritt, sie aber dennoch als »Märchen« bezeichnet wird [632]). – Zum Fiktionalitätsgrad der Binnen-

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Haltung, die der Oheim gegenüber wirklichkeitsentrückten Kunsterzeugnissen einnimmt, dadurch unterminiert, daß Hersilie das in seinem Bezirk versammelte Figurenensemble kurzerhand zu einer genuin literarischen Konstellation deklariert: Der Personenverband biete die »ewig in Romanen und Schauspielen wiederholte[n]« Charaktere: »ein[en] wunderliche[n] Oheim, eine sanfte und eine muntere Nichte, eine kluge Tante, Hausgenossen nach bekannter Art [...]« (328). In diesen Worten erscheint der Oheim, der sich so nachdrücklich gegen »Überlieferung, Mythologie, Legende oder Fabel« verwahrt (325), ironischerweise selbst als Statthalter einer literarischen Figur. Während sich die zur Aufnahme in die Sammlungen ausgewählten Bilder nach Ansicht des Oheims relativ einfach auf eine in ihnen repräsentierte empirische Faktizität zurückführen lassen, kann dieser die schriftlichen Zeugnisse der historischen Überlieferung nur mit Einschränkung als verläßliche Codierungen einer ihnen vorgängigen Realität rezipieren. Die Ursache hierfür liegt nicht allein in der Differenz zwischen der ikonischen Darstellungsweise des Bildes und der arbiträren Signifikation der Sprache, sondern vor allem auch in einem grundsätzlichen Perspektivismus historischer Erkenntnis, der den Oheim nach eigenem Bekunden dazu motiviert, schriftliche Zeugnisse zur Geschichte vor der Aufnahme in seine Sammlung besonders intensiv zu untersuchen: »Am schärfsten werden schriftliche Überlieferungen geprüft; denn ich glaube wohl daß der Mönch die Chronik geschrieben hat, wovon er aber zeugt, daran glaube ich selten« (341). Worauf sich das in diesem lakonischen Ausspruch des Oheims geäußerte Mißtrauen gründet, erläutert eine themenverwandte Bemerkung aus Makariens Archiv: »Der Chronikenschreiber selbst deutet nur mehr oder weniger auf die Beschränktheit, auf die Eigenheit seiner Stadt, seines Klosters wie seines Zeitalters« (751). Das Mitgeteilte erscheint somit durch den individuellen Horizont des jeweiligen Verfassers determiniert und kann nicht als Beleg für tatsächliche Geschehnisse, als Zeugnis einer objektiven Wahrheit verstanden werden. Den Gedanken der Relativität historischer Überlieferung, der in den ›Wanderjahren‹ nur kurz anklingt, hat Goethe in einem Gespräch mit dem Historiker Heinrich Luden ausführlich erläutert. Dem Erkenntnisoptimismus des angehenden Jenaer Geschichtsprofessors, der auch aus einander widersprechenden Quellen ein verläßliches Tatsachengerüst historischer Abläufe rekonstruieren zu können glaubt,54 hält der Weimarer Dichter unter anderem eine Anekdote über Sir Walter Raleigh entgegen, die den Aussagewert zeitgenössischer Zeugnisse grundsätzlich in Frage stellt. Raleigh habe vor seiner Wohnung einen (von Goe-

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novellen vgl. in anderem Zusammenhang Richard Meier: Gesellschaftliche Modernisierung, S. 62f. Die intersubjektive Verbindlichkeit historischer »Tatsachen« zieht sich leitmotivisch durch Ludens Argumentation (Gespräch mit H. Luden vom 19. August 1806. In: FA 33, S. 79–111, hier S. 104f.).

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the nicht näher erläuterten) Vorfall beobachtet, der anschließend von anderen Augenzeugen in jeweils fundamental voneinander abweichenden »Erzählungen« beschrieben worden sei.55 Daraus habe Raleigh die Einsicht gewonnen, »daß es keine Wahrheit in der Geschichte gebe«, und als Konsequenz das Manuskript einer von ihm verfaßten historischen Schrift »ins Feuer geworfen«.56 Dem Einwand Ludens, der Historiker könne durch wissenschaftliche Quellenkritik auch aus differierenden Augenzeugenberichten eine verbindliche »Wahrheit« destillieren,57 begegnet Goethe mit der Bemerkung, daß auch der Standpunkt des Forschers perspektivisch bedingt sei und er daher ebenfalls zu einer lediglich »subjektive[n] Wahrheit« gelangen könne; eine »unbestreitbare, objektive Wahrheit« der Geschichte liege jenseits des Erkennbaren.58 Die historische Überlieferung und deren wissenschaftliche Aufbereitung stehen für Goethe im Zeichen einer tiefgreifenden Deutungsunsicherheit.59 Vor dem Hintergrund der im Gespräch mit Luden formulierten Position Goethes, die eine skeptische Radikalisierung der erstmals von Chladenius in seiner Theorie des »Sehe-Puncts« entwickelten Perspektivismus-Diagnose historischer Erkenntnis darstellt,60 läßt sich der Umgang des Oheims mit geschichtlichen Quellen folgendermaßen charakterisieren: Das Unbehagen, welches der faktizitätsfixierte Rationalist angesichts der subjektiven Brechung historischer Überlieferung empfindet, führt ihn dazu, sein Interesse von der Aussageebene der Schriftstücke auf die Frage ihrer Urheberschaft zu verlagern, die sich offenbar mit größerer Sicherheit klären läßt. Deshalb bekennt der Oheim, gerne zu glauben, »daß der Mönch [also eine bestimmte Person] die Chronik geschrieben« habe (341). Die Frage nach der Urheberschaft beschränkt sich dabei auf eine Bestimmung der faktischen Identität des Schreibers, der nicht hinsichtlich der Zuverlässigkeit seiner Aussagen in den Blick genommen, sondern lediglich als Verfasser des Dokuments identifiziert wird. Dem entspricht, daß der Oheim die »schriftlichen Überlieferungen« im Zusammenhang mit »Reliquien« 55 56 57 58 59

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Ebd., S. 102. Ebd. Ebd., S. 105. Ebd. In einer Bemerkung aus den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre verweist Goethe auf die Diskontinuität der Historiographie: »Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben« (Johann Wolfgang Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, S. 684). Chladenius stellt in seiner Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften Folgendes fest: Es gibt »einen Grund, warum wir die Sache so, und nicht anders erkennen: und dieses ist der Sehe-Punckt von derselben Sache [...]. Aus dem Begriff des Sehe-Puncts folget, daß Personen, die eine Sache aus verschiedenen Sehe-Puncten ansehen, auch verschiedene Vorstellungen von der Sache haben müssen« (J.M. Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Leipzig 1742 [Nachdruck: Düsseldorf 1969], S. 188f.). Vgl. dazu Reinhart Koselleck: Geschichte, Historie, VI. ›Geschichte‹ als moderner Leitbegriff. In: Otto Brunner u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 691–715, hier S. 696–698.

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erwähnt, die nur dadurch ihren Wert erhalten, daß ein namentlich bekannter »frühere[r] Besitzer sich ihrer bedient, sie berührt hatte« (341). Während die inhaltliche Ebene des Geschriebenen für den Oheim im Falle historischer Überlieferungen kaum eine Rolle spielt, haben die sentenzhaften Inschriften, die er an den Wänden seiner Gebäude anbringen läßt, durchaus eine Aussagefunktion: Sie sind dazu gedacht, die Grundzüge seines utilitaristischen Welt- und Gesellschaftsbildes zu illustrieren. Daher findet die affirmative Deutungspraxis Juliettes, welche die Maximen auf einen intersubjektiv verbindlichen »Sinn« festzulegen trachtet, seine ausdrückliche Zustimmung.61 Hersilie allerdings verschließt sich diesem interpretatorischen Verfahren und konstatiert, daß man die Sentenzen »alle umkehren kann und daß sie alsdann eben so wahr sind, und vielleicht noch mehr« (328). Dieser relativistischen Position entsprechend, unterzieht Hersilie die Sentenz »Vom Nützlichen durch’s Wahre zum Schönen« einer subversiven Auslegung,62 die der vom Oheim intendierten Aussage radikal zuwiderläuft: »Die Schöne findet Verehrer auch Freier, und endlich wohl gar einen Mann, dann gelangt sie zum Wahren, das nicht immer höchst erfreulich sein mag, und wenn sie klug ist, widmet sie sich dem Nützlichen, sorgt für Haus und Kinder und verharrt dabei« (326). Während die drei Kategorien des Nützlichen, Wahren und Schönen in der Maxime des Oheims als sublimierende Steigerungsreihe angeordnet sind und auf diese Weise sein utilitaristisches Weltbild mit dem Schein ästhetischer Dignität versehen, kehrt Hersilie deren Abfolge um und etabliert so eine deszendierende Werthierarchie, die das Nützliche lediglich als Konsequenz einer von Desillusionierung und Resignation geprägten Haltung begreift. Mit ihrer interpretatorischen Kontrafaktur der Sentenz opponiert Hersilie nachdrücklich gegen die ästhetische Verbrämung der durch den Oheim propagierten utilitaristischen Ideologie. Sie entwertet nicht nur die Kategorie des Nützlichen, sondern nimmt zugleich auch den Maximen, die das Weltbild des Oheims in gnomischer Zuspitzung vermitteln sollen, jede sinnhafte Eindeutigkeit. Die Sentenzen fungieren in

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Während Hersilie die Maximen des Oheims auf religiöse Praktiken der »Orientalen« bezieht, »die an allen Wänden die Sprüche des Korans mehr verehren als verstehen«, besteht Juliette darauf, daß durch ein »Umschreiben« der Sentenzen deren »Sinn alsobald hervorleuchten« werde (328). Als Hersilie wenig später die respektvolle Auslegung Juliettes als »fortlaufenden Kommentar« zu den per se verwirrenden Inschriften verspottet, gibt der Oheim seine Präferenz für Juliettes Deutungsweise zu erkennen (330). – Vor diesem Hintergrund wirkt es wenig überzeugend, wenn Franziska Schößler den Oheim zu einem Poststrukturalisten ›avant la lettre‹ deklariert, der die zeitgenössischen »hermeneutischen Positionen weit hinter sich« lasse und eine »Form von Subjektivierung« praktiziere, welche »weder von trans- noch intersubjektiven Kriterien geleitet« werde und »alle Meinungen« für gleichwertig erachte (Franziska Schößler: Goethes ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹, S. 243). Henriette Herwig führt – ihrem gender-theoretischen Ansatz entsprechend – Hersilies Kontrafaktur der Sentenz darauf zurück, daß »Frauen« über einen geschlechtsspezifischen »Wahrnehmungsmodus« verfügten, der sich von dem der Männer unterscheide (Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab, S. 25).

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Hersilies Äußerungen nicht als bedeutungsvolle Kristallisationspunkte tiefgründiger Lebensweisheit, sondern entpuppen sich als offen interpretierbares verbales Material, das sich nicht auf einen verbindlichen Aussagewert fixieren läßt.63 Damit führt diese Textpartie der ›Wanderjahre‹ in szenischer Kürze vor, was die chemische Gleichnisrede der ›Wahlverwandtschaften‹ mit systematischer Ausführlichkeit entfaltet: Der Bedeutungsgehalt sprachlicher Einheiten läßt sich nicht verbindlich festschreiben. Der Versuch, sie definitorisch zu fixieren, führt vielmehr in einem dialektischen Umschlag dazu, daß sich ihre Semantik ins Diffuse und Vieldeutige entzieht. Auch über ihre Deutung der Maximen hinaus verweigert sich Hersilie den utilitaristischen und streng rationalen Organisationsformen des OheimBezirks:64 Sie bestreitet den Wert des Wissens65 und äußert sogar scherzhaft den Wunsch, den Verstand zu verlieren.66 Sie eröffnet innerhalb der ganz und gar am Empirischen sich orientierenden Oheim-Welt als erste die Sphäre der Fiktionalität, indem sie ihre vernunftgeleitete Umgebung mit der Erzählung über ein »verrücktes Mädchen« konfrontiert (310). Zugleich bewahrt sie sich den Zugang zu einer unmittelbaren Emotionalität, die in scharfem Kontrast zur sterilen Gemütsverfassung des Oheim-Bezirks steht. Während Juliette, die Lieblingsnichte des Oheims, gegen Ende der ›Wanderjahre‹ eine offenbar unkomplizierte Heirat mit einem Mann »nach [des Oheims] Herzen« vollzogen hat (721), scheint Hersilie den ganzen Roman hindurch von einer schwankenden Liebesleidenschaft getrieben, die sich manchmal mehr auf Wilhelm, manchmal mehr auf seinen Sohn richtet. Nicht zuletzt durch diese gefühlshafte Verwirrung nimmt Hersilie innerhalb ihres von rigiden Vernunftprinzipien beherrschten gesellschaftlichen Umfelds eine Außenseiterrolle ein, die sich auch in der formalen Gestaltung des Textes spiegelt: Der weitere Verlauf von Hersilies Schicksal nach Wilhelms Abreise vom Gut des Oheims wird dem Leser nur in Form

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Dekonstruktivistische Arbeiten haben Hersilie zur Vertreterin einer anti-hermeneutischen Lektürepraxis deklariert (Birgit Baldwin: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ as an Allegory of Reading. In: Goethe Yearbook 5 [1990], S. 213–232, hier S. 217f.; Christina Salmen: »Die ganze merkwürdige Verlassenschaft«. Goethes Entsagungspoetik in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. Würzburg 2003, S. 116–121). Dies geht m. E. insofern zu weit, als Hersilie im Zusammenhang mit dem Kästchen den durchaus hermeneutischen Wunsch äußert, »daß eine Deutung vorgehe, was damit gemeint sei« (658). Hersilies Position muß daher differenzierter gefaßt werden: Ihre Interpretationsauffassung steht im Spannungsfeld zwischen der Einsicht in die Nicht-Fixierbarkeit von Sinn und dem Wunsch nach einer verbindlichen Deutung. Vgl. dazu die Ausführungen von Thomas Degering, für den Hersilie die »alleinige Opponentin« innerhalb einer Gesellschaftsformation darstellt, »die sich für die beste aller Welten hält« (Thomas Degering: Das Elend der Entsagung, S. 476). Gegenüber dem Oheim läßt sich Hersilie folgendermaßen vernehmen: »Ich möchte vieles gern vergessen, was ich weiß, und was ich begriffen habe, ist auch nicht viel wert« (331). Zur Einführung in die Erzählung ›Die pilgernde Törin‹ bemerkt Hersilie: »[W]enn ich jemals närrisch werden möchte, wie mir manchmal die Lust ankommt, so wär’ es auf diese Weise« (310).

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von Briefen aus ihrer Feder präsentiert, die »Monologen« ähneln und bei ihrem Adressaten ohne Resonanz bleiben (596). Insgesamt findet die vernunftgeleitete Ideologie der Nützlichkeit, die der Oheim vertritt, in der Figur der Hersilie eine kritische Gegenstimme: Sie plädiert für eine Art der Lektüre, die sich von künstlichen Bedeutungsfixierungen freihält, und beharrt gegenüber einer einseitigen Orientierung an der Faktizität auf dem Wert der Fiktion. Inwiefern das Hersilie zugeordnete Symbol des Kästchens ihre Kritik am utilitaristischen Wertekodex auf einer poetologischen Ebene fortführt, wird im abschließenden Kapitel der vorliegenden Studie (II.2.3.) zu zeigen sein. 2.1.2. Die Pädagogische Provinz Wie der Bezirk des Oheims ist auch die Pädagogische Provinz durch eine Vielzahl semiotischer Ordnungen gekennzeichnet, die sämtlich der Ideologie des Utilitarismus unterstehen. Bereits die erste Erwähnung der Provinz innerhalb der ›Wanderjahre‹ weist darauf hin, daß Zeichensysteme in diesem Bereich eine wichtige Rolle spielen. Lenardo charakterisiert das von einem »alte[n] Freund« ins Auge gefaßte Projekt einer Erziehungsanstalt mit folgenden Worten: »[E]s schien mir als sei, unter dem Bilde der Wirklichkeit, eine Reihe von Ideen, Gedanken, Vorschlägen und Vorsätzen gemeint« (406). Ein zentrales Merkmal der von Lenardo beschriebenen »pädagogischen Verbindung« besteht offenbar darin, daß Gedanklich-Abstraktes zu greifbaren »Bildern« konkretisiert und durch diese repräsentiert wird (406). Eine solche Struktur semiotischer Vermittlung prägt tatsächlich große Teile des Erziehungsprozesses innerhalb der Provinz, die, wie die folgenden Beispiel-Analysen aufzeigen sollen, bei der Indoktrination ihrer Zöglinge mit eindeutigen, von pädagogischen Intentionen linearisierten Zeichensystemen operiert. Der ideologische Kern der Provinz, dessen möglichst effizienter Vermittlung die primäre Anstrengung der Pädagogen gilt, liegt in der Lehre von den drei Ehrfurchten. Die »Ehrfurcht vor dem, was über uns ist«, die »Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist« und schließlich die »Ehrfurcht« vor dem, »was uns gleich ist« (420f.), stellen die Grundpfeiler eines Erziehungskonzeptes dar, dem sich die Zöglinge der Anstalt widerspruchsfrei zu fügen haben. Die Besonderheit der in der Provinz praktizierten Ehrfurcht-Lehre läßt sich durch einen Vergleich mit der Tradition verdeutlichen. Wie Friedrich Ohly überzeugend nachgewiesen hat, rekurriert die pädagogische Doktrin auf ein theologisches Denkmodell des Augustinus,67 das allerdings vollständig säkularisiert und funk-

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Friedrich Ohly: Goethes Ehrfurchten. Ein ordo caritatis. In: Euphorion 55 (1961), S. 113–145, 405–448. Die Forschung hat darüber hinaus noch eine Vielzahl weiterer Einflüsse namhaft gemacht, die von Ciceros ›pietas‹-Denken über Meister Eckhart bis hin zu kabbalistischen

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tionalisiert wird. Der sogenannte ›ordo caritatis‹ des Augustinus kennt vier Objekte der Liebe: »Über uns«, »neben uns«, »unter uns« und »was wir sind«. Die höchste Stufe der Liebe, von der die anderen Liebesarten allererst ihre Legitimation empfangen, ist die Liebe zu Gott, also zu dem, was über uns ist. Die Ehrfurcht-Lehre der Pädagogischen Provinz behält diese hierarchische Strukturierung bei, weicht aber hinsichtlich der Wertungsteleologie in signifikanter Weise von Augustinus ab, indem sie die Spitzenposition aus dem Bereich der Transzendenz in die Sphäre des Diesseitigen und Gesellschaftlichen verlegt. Auf diese Weise verschiebt sich das sinnstiftende Zentrum von der göttlichen Instanz auf die menschliche Gemeinschaft.68 Die Ehrfurcht vor dem, was uns gleich ist, also die Orientierung am Mitmenschen, nimmt innerhalb der den Zöglingen vermittelten Rangfolge die höchste Stellung ein. Die damit einhergehende Dominanz des Gesellschaftlichen über das Individuelle wird in den Ausführungen der Institutsleiter gegenüber Wilhelm dadurch relativiert, daß aus dem Zusammenspiel der drei Ehrfurchten angeblich eine vierte Ehrfurcht erwachsen soll: die »Ehrfurcht vor sich selbst« (423). Diese vierte Ehrfurcht, die innerhalb der kollektivistischen Ausrichtung der Pädagogischen Provinz als ein individualistisches Korrektiv wirken könnte, bleibt allerdings ein bloßes Postulat, das in die konkreten Erziehungspraktiken keinerlei Eingang findet.69 Die Zeichenordnungen, die den Zöglingen die Ehrfurchts-Lehre illustrieren sollen, beschränken sich ausschließlich auf die Repräsentation der ersten drei Ehrfurchten. Besonders wirkungsvoll werden die drei Ehrfurchten den Heranwachsenden durch autoritativ verfügte und auf jeweils eine Bedeutung fixierte gestische Zeichen eingeprägt.70 Je nach Alter und Sozialisationsstand müssen die Zöglinge beim Anblick eines Aufsehers jeweils eine von drei verschiedenen Grußhaltungen einnehmen. Wie Wilhelm von den Vorstehern der Provinz erfährt, soll jede dieser Grußhaltungen einer der drei Ehrfurchten Ausdruck verleihen. Der

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Konzepten und freimaurerischen Gebräuchen reichen. – Einen ausführlichen Überblick über die Ergebnisse der Quellenforschung zur Pädagogischen Provinz geben Wolf-Ulrich Klünker und Franziska Schößler (Wolf-Ulrich Klünker: Goethes Idee der Erziehung zur Ehrfurcht. Die Pädagogische Provinz in dem Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden‹. Göttingen 1987, S. 66–68; Franziska Schößler: Goethes ›Lehr-‹ und ›Wanderjahre‹, S. 326–329). Vgl. dazu Claudia Schwamborn: Individualität in Goethes ›Wanderjahren‹. Paderborn 1997, S. 105f. Claudia Schwamborn hat in ihren Darlegungen zur Pädagogischen Provinz gezeigt, daß das »labile Gleichgewicht« der Ehrfurchten »seinen Schwerpunkt im Laufe des Berichts [...] auf die Ehrfurcht vor dem, was uns gleich ist [...] verlagert« (Claudia Schwamborn: Individualität in Goethes ›Wanderjahren‹, S. 100f.). Den autoritativen Charakter der Ehrfurcht-Lehre betont auch Günter Saße: ›Sinn ist mehr als Glück‹. Die symbolische Ordnung der Pädagogischen Provinz in Goethes ›Wanderjahren‹. In: Ortrud Gutjahr (Hg.): Westöstlicher und nordsüdlicher Divan. Goethe in interkultureller Perspektive. Paderborn, München, Wien 2000, S. 177–186, hier S. 184.

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Lernprozeß der Zöglinge vollzieht sich also wesentlich dadurch, daß sie den Lerninhalt über Gestik und Mimik internalisieren. So wird der Körper selbst zum Zeichen – eine strukturelle Vorwegnahme jener grausigen Hinrichtungsmaschine in Kafkas ›Strafkolonie‹, die dem Verurteilten das Gebot, gegen das er verstieß, auf den Leib ritzt. Und auch hinsichtlich des autoritativen Charakters dieser Signifizierung des Körpers ist die Pädagogische Provinz von Kafkas ›Strafkolonie‹ gar nicht so weit entfernt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag: Die Grußgesten haben für die Zöglinge eine dezidiert gemeinschaftsanzeigende Funktion; wer sie nicht praktiziert, gibt damit zu erkennen, daß er sich den Vorgaben der herrschenden Ideologie widersetzt hat und als Sanktion dafür ausgegrenzt worden ist.71 Die Zeichenordnung der Grußgesten dient nicht nur zur Signifikation der drei Ehrfurchten, sondern fungiert für die Pädagogen zugleich auch als Indikator des Entwicklungsstandes, auf dem sich der einzelne Zögling innerhalb des ideologischen Erziehungssystems der Provinz gerade befindet. So spricht der Aufseher gegenüber Wilhelm von »Grüße[n], die mir sogleich andeuten, auf welcher Stufe der Bildung ein jeder dieser Knaben steht« (415). Die religiös konnotierte Ehrfurcht-Lehre, die sich in den Grußgesten ausdrückt, wird somit funktionalisiert, um drei verschiedene Sozialisationsstadien zu unterscheiden. Ziel dieser triadisch gestuften gesellschaftlichen Initiation ist die Etablierung eines allgemein verbindlichen Verhaltensmusters, das im Wesentlichen darauf hinausläuft, daß der Zögling »gegen die Kameraden gewendet nach ihnen sich richtet« (421). Das pädagogische Wirken verabschiedet sich demnach von jenem ›telos‹ einer umfassenden und harmonischen Entfaltung innerer Anlagen, das dem Bildungsbegriff der ›Lehrjahre‹ noch über weite Strecken zugrunde liegt.72 Im Zentrum des in der Provinz praktizierten Erziehungskonzepts steht nicht die allseitige Ausbildung der eigenen Individualität, sondern vielmehr deren kollektivistische Depotenzierung. Wenn der Zögling die Pädagogische Provinz verläßt, tut er dies nicht als autonomes und mündiges Subjekt, sondern als ein den sozialen Erfordernissen seiner Umwelt perfekt angepaßter Funktionsträger.73 Die Eliminierung des subjektiven Deutungsspielraums, die sich in der autoritativ fixierten Eindeutigkeit der pädagogischen Zeichenordnungen niederschlägt,

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Manfred Karnick marginalisiert die körperliche Dressur der Zöglinge, wenn er behauptet, daß man in der Pädagogischen Provinz »dem Lernenden nicht aufdringlich, dogmatisch und diktierend auf den Leib« rücke (Manfred Karnick: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ oder die Kunst des Mittelbaren, S. 113). Im Gespräch mit Jarno vertritt Wilhelm zu Beginn der ›Wanderjahre‹ noch das für die ›Lehrjahre‹ charakteristische Ideal einer »vielseitige[n] Bildung« (295). Eine solche Erziehung zur bürgerlichen Nützlichkeit ist in Wilhelms Brief an Werner in den ›Lehrjahren‹ deutlich negativ konnotiert: »[E]r [der Bürger] soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon voraus gesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei noch sein dürfe, weil er, um sich auf Eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß« (Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 659).

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korrespondiert mit jener utilitaristisch funktionalisierenden Austreibung von Individualität, auf welche die Ideologie der drei Ehrfurchten ausgerichtet ist. Die in der Pädagogischen Provinz geltende Kleiderordnung scheint auf den ersten Blick den bisher beschriebenen Tendenzen des Bildungsprogramms zu widersprechen; schließlich wird den Heranwachsenden hier »eine gewisse Willkür« eingeräumt (432), indem sie aus den vorhandenen Vorräten einen je individuellen Kleidungsstil zusammenstellen dürfen. Doch dieser Verzicht auf autoritäre Reglementierung ist alles andere als ein Zugeständnis an die autonome Entfaltungsfreiheit des Subjekts. Es geht den Pädagogen bei ihrer Ablehnung des Uniformzwangs nämlich primär um die Möglichkeit, aus dem Kleidungsstil des einzelnen Kindes seine Vorlieben und seinen Charakter abzuleiten, um es auf der Grundlage dieser Kenntnis desto nachhaltiger in die Anpassungsmaschinerie der Provinz eingliedern zu können. Die selbst gewählte Kleidung des Zöglings fungiert dabei als eine Zeichenordnung, die seine psychische Disposition zum Ausdruck bringt: »[A]n der Farbe läßt sich die Sinnesweise, an dem Schnitt die Lebensweise des Menschen erkennen« (432). Nach dem recht grob gerasterten Zuordnungsschema der Pädagogen bevorzugen die »Muntern [...] helle Farben und kurzen, knappen Schnitt«, während sich die »Besonnenen« für eine »bequeme, faltenreiche Tracht« entscheiden (432). Diese Semiotisierung der Kleidung vollzieht sich genau nach jener Gesetzlichkeit, die Roland Barthes dem vestimentären Code zuschreibt: Erst der verbale Kommentar der Pädagogen lädt bestimmte Merkmale der Kleidung mit Bedeutung auf, indem er einzelne Signifikanten bestimmt und dabei zugleich deren Signifikate festlegt.74 Das Zeichensystem der Kleidung, vermittels dessen Individualität eindeutig lesbar und zuverlässig kategorisierbar gemacht werden soll, erweist sich somit als ein arbiträres Konstrukt der Erzieher, das keine objektive Aussagekraft beanspruchen kann. Ein ebenso arbiträres Zeichensystem stellen die Pfiffe der Aufseher dar, die bestimmte Befehle kodifizieren. Ein Pfiff, so erfährt Wilhelm, fungiert als »Zeichen, daß der Aufseher in der Nähe ist und ungefähr wissen will, wie viel [der Kinder] ihn hören. Auf ein zweites Zeichen sind sie still, aber bereiten sich, auf das dritte antworten sie und stürzen herbei« (518). Die hier beschriebenen akustischen Zeichen fungieren als eine Art von Dressur des Zöglings zu einem unreflektierten, sofortigen Gehorsam, der sich quasi automatisch zu vollziehen hat.75 Die Kinder haben die Reaktionen, welche die jeweiligen Zeichen mit autoritativer Eindeutigkeit von ihnen verlangen, offenbar vollständig internalisiert. Das reflexhafte Befolgen des Befehls-Zeichens zeigt die Suspendierung des 74 75

Vgl. dazu Roland Barthes: Die Sprache der Mode. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 1985, S. 74f. u. S. 124f. Vgl. dazu Franziska Schößler: Mechanische Uhr und Sonnenwende-Zeit in Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. In: Recherches Germaniques 27 (1997), S. 75–92, hier S. 81f.

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je individuellen freien Willens und markiert damit einen extremen Grenzwert innerhalb der Kollektivierungstendenzen der Pädagogischen Provinz. Die Sozialisation des Individuums vollzieht sich, wie man zusammenfassend konstatieren kann, in der Pädagogischen Provinz als Integration in eine symbolische Ordnung. Der Erziehungsprozeß, dem die Zöglinge unterliegen, ist wesentlich bestimmt durch Zeichen, etwa durch die drei Grußgesten, die semiotisch aufgeladene Kleidung und die Signale aus der Pfeife des Aufsehers. Kennzeichnend für diese semiotischen Systeme ist ihre durch autoritative Setzungen hergestellte Eindeutigkeit. Die sinnlich erfahrbaren Signifikanten werden durch explizite Interpretation auf jeweils ein bestimmtes Signifikat festgelegt; so werden etwa die drei Grußarten auf die Lehre von den drei Ehrfurchten bezogen. Die Oberen beharren dabei auf der alleinigen Deutungshoheit über das von ihnen konstruierte Zeichensystem. Sie lassen nicht zu, daß sich die Kinder untereinander über den Sinn der Grußgesten austauschen (vgl. 416). Im gemeinsamen Gespräch könnten die Zöglinge nämlich zu eigenständigen und vom vorgegebenen Deutungscode abweichenden Lesarten der Zeichen gelangen. Eine solche interpretatorische Pluralisierung aber würde das von rigider Eindeutigkeit beherrschte semiotische System der Pädagogischen Provinz gefährden, das sich nachdrücklich gegen jede semantische Polyvalenz abschottet.76 Aus dem durchgängigen Bestreben, alles Mehrdeutige zu vermeiden, erklärt sich übrigens auch die merkwürdige Auslegung der biblischen Passionsgeschichte durch die Pädagogen. Das Kreuz als das komplexe Zentralzeichen der Christologie, in dem Leidens- und Heilsgeschichte konvergieren, wird in den Worten des Ältesten zum bloßen »Martergerüst« vereindeutigt (430). Im Zuge dieser rein materialistischen Interpretation, die alle metaphysischen Bezüge abschneidet, wird der semantische Mehrwert des Kreuzes eliminiert.77 Das semiotische Verfahren der Provinz bleibt allerdings innerhalb des Goetheschen Romans nicht unwidersprochen: Mit dem von Felix entdeckten geheimnisvollen Kästchen entwerfen die ›Wanderjahre‹ ein immanentes Gegenmodell zu den pädagogischen Zeichenordnungen, das deren restriktive Eindeutigkeit durch einen irreduziblen Bedeutungspluralismus konterkariert. Das antithetische Zuordnungsverhältnis zwischen dem leitmotivisch wiederkehrenden Kästchen und der Semiotechnik der Pädagogen läßt sich besonders deutlich auf der Ebene des Wortmaterials verorten: Die pädagogischen Zeichen

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Die leblose Sterilität eines solchen künstlichen Sinngebäudes zeigt sich besonders deutlich an den »Heiligtümer[n]«, die vor jeder Form von Entwicklung und Veränderung penibel geschützt werden: Sie »sind in einem besondern Bezirk eingeschlossen« und »werden mit nichts gemischt, durch nichts gestört« (419). Auch die Ausgrenzung der Schauspielkunst aus der Provinz läßt sich auf das Bedürfnis der Pädagogen nach Eindeutigkeit zurückführen: So erklärt ein Aufseher dem wenig erfreuten Wilhelm, daß das »Theater« seinen »zweideutigen Ursprung« nicht »verleugnen« könne und daher im künstlerischen Kanon der Provinz keinen Platz habe (529).

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werden immer schon zusammen mit einer bestimmten Lesart präsentiert, die deren Bedeutung »aufschließt«, wie es im Text mehrmals heißt (420 u. 428). Diese Verb-Metapher, welche die semantisch eindeutige Fixierung von Zeichen figuriert, verweist auf den von Felix unternommenen Versuch, das Kästchen mit dem zugehörigen Schlüssel zu öffnen. Daß das gewaltsame Aufschließen als sprachliches Bild für die vorschnelle Festschreibung von Sinn im Falle des Kästchens nicht gelingt und der bloße Versuch einen Bruch zwischen Hersilie und Felix nach sich zieht, der letzterem beinahe das Leben kostet,78 läßt auch die dogmatischen Interpretationspraktiken der Pädagogischen Provinz durchaus fragwürdig erscheinen.79 Inwiefern das Kästchen, das nicht zufäl-

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Vgl. 742f. u. 744f. Für eine ironische Relativierung der Provinz können weitere Argumente angeführt werden. So bleiben die pädagogischen Bemühungen bei Felix weitgehend wirkungslos, was sich insbesondere an der unzutreffenden Prognose des Ältesten gegenüber Wilhelm demonstrieren läßt: »So viel sei für diesmal genug, um euch über euren Knaben zu beruhigen und völlig zu überzeugen, daß Ihr ihn auf irgendeine Art, mehr oder weniger, aber doch nach wünschenswerter Weise, gebildet und auf alle Fälle nicht verworren, schwankend und unstet wiederfinden sollt« (430, meine Hervorhebung). Diese Prognose wird vom Fortgang des Romans mit aller Deutlichkeit widerlegt. Nach seiner Entlassung aus der Pädagogischen Provinz ist Felix mehr denn je »verworren, schwankend und unstet«. Getrieben von seiner unglücklichen Liebe zu Hersilie entgeht er bei einem Sturz mit dem Pferd nur knapp dem Tod. Eine weitere Relativierung der pädagogischen Ideologie kommt dadurch zustande, daß der Redaktor der ›Wanderjahre‹ den Ausführungen eines Erziehers explizit widerspricht und dessen für das Lehrgebäude der Provinz insgesamt repräsentative Abwertung des Theaters mit folgenden Worten zurückweist: »Mag doch der Redakteur dieser Bogen hier selbst gestehen: daß er mit einigem Unwillen diese wunderliche Stelle durchgehen läßt« (530). Der Redaktor erhebt an dieser Stelle einen direkten Einspruch gegen das Wertesystem der Pädagogischen Provinz, der nachweislich mit der Meinung Goethes konvergiert, und signalisiert damit dem aufmerksamen Leser, daß die hier entfalteten erzieherischen Konzepte generell zu hinterfragen sind (vgl. dazu Goethes auf die Abwertung der Schauspielkunst in der Pädagogischen Provinz bezogenen brieflichen Hinweis, daß »auf jene griesgrämigen Pädagogen keineswegs zu achten« sei [Brief an P.A. Wolff vom 23. September 1821. In: WA IV, 35, S. 94f., hier S. 95]). Eine Parallele zwischen dem ›Mann von funfzig Jahren‹ und der Ideologie der Provinz kann als weiteres Ironiesignal gewertet werden: Der vom Ältesten mit dem Pathos einer Initiation vorgetragene Stufengang, an dessen Ende das Heiligtum des Schmerzes steht, erscheint in der Binnen-Novelle, die zwischen dem zweiten und dem dritten der Pädagogischen Provinz gewidmeten Kapitel präsentiert wird, in einem humoristischen Zusammenhang, wenn es in einem Gespräch zwischen dem Major und seinem Freund, dem Schauspieler und Verjüngungskünstler, heißt: »›Ich lasse dir meinen Diener hier, eine Art von Kammerdiener und Tausendkünstler, der, wenn er gleich nicht alles zu bereiten weiß, nicht in alle Geheimnisse eingeweiht ist, doch die ganze Behandlung recht gut versteht und für den Anfang dir von großem Nutzen sein wird, bis du dich in die Sache so hineinarbeitest, daß ich dir die höheren Geheimnisse endlich auch offenbaren kann.‹ ››Wie!‹ rief der Major, ›du hast auch Stufen und Grade deiner Verjüngungskunst? Du hast noch Geheimnisse für die Eingeweihten?‹« (444). Bis in die Wortwahl hinein reichen die Analogien dieser Textstelle zu den Ausführungen des Ältesten, der im Bezug auf das »Heiligtum des Schmerzes« die Begriffe »Geheimnis« und »Einweihen« verwendet (430). Im ›Mann von funfzig Jahren‹ wird demnach das Modell der stufenweisen Initiation aus dem ethisch-religiösen in einen kosmetischen Kontext übertragen, der durch die Diskrepanz zwischen äußerem Schein und innerer Substanz gekennzeichnet ist. Diese auffällige Analogie mahnt den Leser dazu, die Worte des Ältesten nicht allzu ernstzunehmen und sie auf ihren inneren Gehalt zu prüfen (Zur Ironisie-

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lig dem pädagogikresistenten Felix und der das utilitaristische Sinngebäude des Oheims in Frage stellenden Hersilie zugeordnet ist, als ein grundsätzlich polyvalentes Zeichen eine Art von poetisch-künstlerischem Gegenentwurf zu den eindeutigen semiotischen Systemen der Pädagogischen Provinz darstellt, wird im abschließenden Kapitel der vorliegenden Studie (II.2.3.) genauer zu demonstrieren sein.

2.2. Poetologisch grundierte Repräsentationskritik 2.2.1. Sprachskeptische Elemente im Eröffnungsdialog, in Wilhelms Briefen an Natalie sowie in der Naturschrift-Konzeption Jarno-Montans Wie die beiden vorangehenden Unterkapitel gezeigt haben, versuchen die Repräsentanten des Oheim-Bezirks und der Pädagogischen Provinz, eine stabile Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu etablieren und auf diese Weise Interpretations- und Kommunikationsprobleme zu vermeiden: Während die zahlreichen Sentenzen an den Wänden des Oheim-Bezirks vom Hausherrn als Träger eines fixierbaren Sinnes verstanden werden, entwerfen die Vorsteher der Pädagogischen Provinz eine symbolische Ordnung, deren Semantik durch einen autoritativ verfügten Code für alle Zöglinge verbindlich festgelegt und gegen abweichende Lesarten immunisiert wird. Das poetische Verfahren der ›Wanderjahre‹ freilich entzieht einer solchen am Ideal der Eindeutigkeit orientierten Semiotechnik die repräsentationslogische Grundlage. Bereits der auf den ersten Blick belanglos anmutende Eröffnungsdialog zwischen Wilhelm und Felix offenbart bei genauerer Betrachtung eine sprachskeptische Stoßrichtung, die sich auch poetologisch dimensionieren läßt und die der Roman an verschiedenen späteren Stellen mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung erneut aufgreift. Im Medium eines scheinbar alltäglichen Gespräches zwischen Vater und Sohn vergegenwärtigt der Beginn der ›Wanderjahre‹ einen scheiternden Versuch, verschiedene Bestandteile der Natur auf dem Wege einer begrifflichen Klassifikation verbal zu repräsentieren. Felix erkundigt sich bei seinem Vater nach den sprachlichen Bezeichnungen eines Steines und einer Frucht. Wilhelm jedoch vermag es nicht, diese beiden Gegenstände begrifflich zu benennen. rung der Pädagogischen Provinz vgl. Claudia Schwamborn: Individualität in Goethes ›Wanderjahren‹, S. 99 u. S. 108f.). – Die beschriebene Verknüpfung zwischen Pädagogik und Kosmetik folgt dem Gesetz der »wiederholten Spiegelungen«, das Goethe in seinem vielzitierten Brief an Iken vom 27. September 1827 formuliert hat und das in der Forschung wiederholt als wesentliches Bauprinzip der ›Wanderjahre‹ aufgewiesen wurde (Vgl. dazu etwa Manfred Karnick: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ oder die Kunst des Mittelbaren, S. 8 u. S. 163–169; GonthierLouis Fink: Tagebuch, Redaktor und Autor. Erzählinstanz und Struktur in Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. In: Recherches Germaniques 16 [1986], S. 7–54, hier S. 35–42).

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Wenn er bezüglich der ihm von Felix gezeigten Frucht feststellt, sie sei »nach den Schuppen zu urteilen [...] mit den Tannenzapfen verwandt« (263), kann er lediglich eine relationale Definition vornehmen, die freilich äußerst vage bleibt und von Felix sogleich wieder in Frage gestellt wird: »Das sieht nicht aus wie ein Zapfen, es ist ja rund« (263). Daraufhin delegiert Wilhelm die Kompetenz für die sprachliche Klassifizierung der Frucht an eine abwesende Autorität: »Wir wollen den Jäger fragen« (263). Hieran ist zweierlei auffällig: Zum einen ist der Vorgang der sprachlichen Benennung von einer Verlaufsform des Aufschubs bestimmt, die sich im Verweis auf die Kompetenz des Jägers zeigt. Dieser bleibt als wissende Instanz innerhalb des Dialoges zwischen Wilhelm und Felix unzugänglich; erwähnt wird lediglich die Begegnung mit einem Boten, über den es heißt: »Der wußte viel und ist doch kein Jäger« (264). Zum anderen wird aber auch deutlich, daß die konkreten Naturphänomene vom abstrakten Raster sprachlicher Terminologie nicht adäquat erfaßt werden können: Während die schuppige Beschaffenheit der Frucht dem Begriff des »Tannenzapfen[s]« entspricht, steht ihre runde Form einer solchen Kategorisierung entgegen (263).80 Der einzige Gegenstand, den Wilhelm zur Zufriedenheit seines fragenden Sohnes bezeichnen kann, ist charakteristischerweise das »Katzengold«, dessen Verbalisierung allerdings wiederum auf die Inkongruenz von Sprache und Dingwelt verweist: Während die glänzenden Gesteinsbestandteile aufgrund ihrer visuellen Außenseite tatsächlich an »Gold« erinnern, resultiert die Semantik der ersten Hälfte des Substantivkompositums (»Katze«) aus einer in hohem Maße figurativen Sprachverwendung, welche – gestützt auf das anthropomorphisierende Attribut der Falschheit als ›tertium comparationis‹ – die Bezeichnung eines Tieres auf ein Phänomen der anorganischen Natur überträgt.81 Wilhelm stellt den arbiträren Charakter dieser Signifikation deutlich heraus, wenn er gegenüber Felix anmerkt, daß »die Leute« das entsprechende Gestein »Katzengold nennen«, und diese Wortkombination damit begründet, daß das scheinbare Gold »falsch« sei und »man die Katzen auch für falsch« halte (263, meine Hervorhebung). 80

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Die Unsicherheit im Umgang mit sprachlichen Zeichen wird im Fortgang des Dialogs zwischen Wilhelm und Felix auch auf den Bereich nonverbaler Zeichen ausgedehnt. Die Spur des Hirsches, von der Felix seinem Vater berichtet (vgl. 263f.), weist als ein Index im Sinne der Peirceschen Terminologie zeichenhaft auf etwas hin, zu dem es in einer realen Beziehung steht. Felix hat diese Spur allerdings nach eigenem Bekunden nur dank der Interpretationshilfe des Boten deuten können. Das Index-Zeichen erklärte sich für ihn nicht von selbst; nur durch die Auslegung des Boten wurde es lesbar (Zur Definition des indexikalischen Zeichens vgl. Charles S. Peirce, der den Index als ein »Zeichen« begreift, »das sich zu einem solchen eignet, weil es sich in einer wirklichen Reaktion mit seinem Objekt befindet« [Charles S. Peirce: Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie. Frankfurt a. M. 1991, S. 349]). Vgl. dazu Richard Meier: Gesellschaftliche Modernisierung in Goethes Alterswerken ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ und ›Faust II‹, S. 50f.

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Insgesamt stellt der eröffnende Dialog den Text der ›Wanderjahre‹ unter einen sprachskeptischen Vorbehalt; der Roman relativiert durch diese Exposition auf indirekte Weise seine eigene verbale Darstellungskompetenz. Daß nämlich gerade Wilhelm der Versuch mißlingt, seine Umwelt sprachlich präzise zu erfassen, ist für die Gesamtkonzeption der ›Wanderjahre‹ äußerst bedeutsam, weil dessen Aufzeichnungen dem von einem Redaktor erstellten Romantext über weite Strecken zugrunde liegen.82 Indem der Text seinen Protagonisten gleich zu Beginn als Schreibenden profiliert, verweist er auf die eigene fiktive Genese, die – so suggeriert Wilhelms scheiternder verbaler Klassifizierungsversuch – von sprachlichen Unzulänglichkeiten geprägt ist. Auch im weiteren Fortgang des Textes wird die Figur Wilhelms mit sprachskeptischen Reflexionen verknüpft. So stehen etwa der erste, der dritte und der vierte Natalien-Brief Wilhelms im Zeichen einer Schriftkritik, die das kommunikative Potential des literalen Mediums in Frage stellt. Im ersten Brief beschränkt sich diese Schriftkritik allerdings auf Implikationen, die gleichwohl wesentliche Elemente der expliziten Schriftkritik des vierten Briefes antizipieren. Bereits der Eingangssatz des ersten Briefes markiert mit der räumlichen Distanz zwischen Wilhelm und Natalie83 zugleich eine Eigenart wie ein Defizienzmerkmal schriftlicher Kommunikation: »Nun ist endlich die Höhe erreicht, die Höhe des Gebirgs, das eine mächtigere Trennung zwischen uns setzen wird, als der ganze Landraum bisher« (267). Das Gebirge, das sich als »Scheidewand der Einbildungskraft und der Empfindung entgegen[stellt]«, symbolisiert nicht zuletzt auch jene Entfernung zwischen Sender und Empfänger des Briefes, die eine authentische Mitteilung von Emotionen unmöglich macht (267). Dem entspricht, daß Wilhelm das Distanzmedium der Schrift nicht zur Liebesbekundung nutzt, sondern lediglich deren Aufschub bis zur persönlichen Wiederbegegnung kommuniziert: »Jetzt lebe wohl und lege dieses Blatt mit dem Gefühl aus der Hand, daß es nur Eins zu sagen habe, nur Eines sagen und immer wiederholen möchte, aber es nicht sagen, nicht wiederholen will, bis ich das Glück habe wieder zu deinen Füßen zu liegen und auf deinen Händen mich über alle das Entbehren auszuweinen« (269). In seinem dritten Brief an Natalie kritisiert Wilhelm die Schrift unter einem anderen Gesichtspunkt, wenn er mit Bezug auf die im Bezirk des Oheims vorherrschende literale Kommunikationspraxis ein Konkurrenzverhältnis zwischen nicht näher qualifizierten produktiven Erfahrungen und deren repetitiver Verschriftlichung formuliert: »In der Sphäre, in der ich mich gegenwärtig befinde, 82 83

Mathias Mayer hat in anderem Zusammenhang herausgearbeitet, daß Wilhelm »der wichtigste der fiktiven Autoren des Romans« ist (Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion, S. 148). Mathias Mayer begreift die räumliche Distanz zwischen Wilhelm und Natalie als fiktiven Ermöglichungsgrund der ›Wanderjahre‹, da der Protagonist einerseits der »wichtigste der fiktiven Autoren des Romans« sei, andererseits aber nur durch die Abwesenheit seiner Geliebten zum Schreiben motiviert werde (Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion, S. 148).

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bringt man beinahe soviel Zeit zu, seinen Verwandten und Freunden dasjenige mitzuteilen, womit man sich beschäftigt, als man Zeit sich zu beschäftigen selbst hatte« (339). Die vermittelnde Wiedergabe limitiert die Zeit für authentisches Erleben; die literale Fixierung der individuellen Betätigung tritt tendenziell an die Stelle der Betätigung selbst. Gleichwohl versieht Wilhelm diesen per se kritischen Befund mit einem positiven Vorzeichen, wenn er die »Schreibseligkeit« des Oheim-Personals ausdrücklich begrüßt, da nur sie es ihm ermögliche, durch diverse Schriftstücke die »Verhältnisse« seiner Gastgeber »geschwind und nach allen Seiten hin kennen zu lernen« (339). Die zwischen Kritik und Affirmation oszillierende Wertung, die Wilhelm vornimmt, illustriert eine für den poetologischen Stellenwert der Schriftthematik in den ›Wanderjahren‹ insgesamt charakteristische Ambivalenz: Einerseits wird die Schrift wiederholt als defizientes Kommunikationsmedium markiert, andererseits erscheinen – worauf das folgende Unterkapitel genauer eingeht – im Rahmen der Archivfiktion gerade schriftliche Quellendokumente als unabdingbare Voraussetzung für die Textgenese des Romans. Im vierten Brief an Natalie, der die berühmte Fischerknaben-Episode enthält, findet Wilhelms schriftkritische Position ihre deutlichste Ausprägung. Dabei wird der Themenkomplex der literalen Kommunikation bereits durch den Kontext des Briefes exponiert: Im unmittelbar vorangehenden Schreiben Hersilies an Wilhelm berichtet die Verfasserin von einer Botschaft, die ihr Felix auf einer Tafel habe zukommen lassen. Die Lektüre der sorgfältig eingeritzten Buchstaben habe sie zunächst dazu geführt, die sinnliche Präsenz des Absenders zu imaginieren: »[D]er kleine Schalk ist mir gegenwärtiger als je, ja es ist mir als ob sein Bild sich mir in die Augen hineinbohrte« (538). Wenig später allerdings bringt Hersilie auf hintergründige Weise die Antithetik zwischen sinnlich-konkreter Unmittelbarkeit und abstraktem Schriftmedium ins Spiel, wenn sie über das ihr von Felix zugesandte Täfelchen bemerkt: »Es ist gar zu zierlich, die Schrift gar schön und sorgfältig gezogen; ich glaube ich hätte es geküßt, wenn ich die Schrift auszulöschen nicht fürchtete« (539f.). Die damit angedeutete Ausschlußbeziehung zwischen dem natürlichen Körperzeichen des Kusses und den arbiträren, von der körperlichen Präsenz des Verfassers abgelösten Signifikanten der Schrift antizipiert die im Fischerknaben-Brief formulierte Kritik am Distanz-Charakter literaler Kommunikation. Die besondere Relevanz, die dem Distanz-Aspekt schriftlicher Kommunikation für das Verständnis des Fischerknaben-Briefes zukommt, läßt sich auch an der Entstehungsgeschichte der ›Wanderjahre‹ verdeutlichen. In der ersten Fassung des Romans ist dieser Brief noch nicht enthalten; an seiner Stelle steht die Schilderung eines durch Fernrohre vermittelten optischen Kontaktes zwischen Wilhelm und Natalie,84 der, über den Abgrund zwischen zwei Berggipfeln 84

Vgl. dazu die entsprechende Partie in der Synopse zur ersten und zweiten Fassung der ›Wan-

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hinweg, einen Austausch gestischer Zeichen ermöglicht. Ein Vergleich der in den beiden Textpartien der ersten und zweiten Fassung jeweils unterschiedlichen Kommunikationssituationen erlaubt es, die Eigenart des brieflichen Mediums genauer zu profilieren. Die gestische Verständigung mit Hilfe des Fernrohrs ist durch eine Simultaneität von Produktion und Rezeption der Botschaft gekennzeichnet. Wilhelm nimmt das von Natalie »mit einem weißen Schnupftuch« gegebene »Zeichen« wahr und reagiert darauf nur einen »Augenblick« später seinerseits mit »Zeichen«, die »den Ausdruck einer treuen und herzlichen Anhänglichkeit auszusprechen« vermögen (163f.). Dieser zeitlichen Annäherung im visuellen Kommunikationsakt korrespondiert eine Überwindung der räumlichen Distanz: Der Blick durch das Fernrohr versetzt Wilhelm »ganz in die Nähe des angebeteten Wesens« (163). Die briefliche Kommunikation hingegen vermag es nicht, Sender und Empfänger zu wechselseitiger Präsenz zusammenzuführen.85 Ihr grundlegendes Merkmal ist vielmehr eine durch räumliche Entfernung bedingte Phasenverschiebung zwischen Produktion und Rezeption. Vor diesem Hintergrund kann die Ersetzung der Fernrohrszene durch den FischerknabenBrief, die Goethe im Zuge der Umarbeitung seines Romans vorgenommen hat, als eine Intensivierung des Entsagungsgebots verstanden werden, die Wilhelms Kontakt zur Geliebten auf das Medium der Schrift beschränkt und damit jede Form von erotischer Körperlichkeit ausschließt.86 Bereits in den einleitenden Reflexionen des Fischerknaben-Briefes stellt Wilhelm die Distanz zur Empfängerin seines Schreibens deutlich heraus: Er bezeichnet sich schon im ersten Satz als einen »Entfernten«, beklagt wenig später »das Traurige der Entfernung von Freunden« und äußert seine Präferenz für eine mündliche Gesprächssituation, die durch die »Gegenwart« aller Beteiligten gekennzeichnet sei (541f.). Dabei fokussiert Wilhelm, der durch den Brief seine Entscheidung für den Beruf des Wundarztes gegenüber Natalie legitimieren möchte,87 zunächst eine produktionsästhetische Problematik des

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derjahre‹ im Kommentar der Frankfurter Ausgabe (FA 10, S. 1282f.). Johannes Anderegg hat überzeugend dargestellt, wie bereits der junge Goethe in seinen Briefen »die Erfahrung zum Thema [...] macht [...], dass das Schreiben die entfernten Angesprochenen nicht präsent machen« kann (Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! Das Medium Brief von 1750 bis 1830. Mit einem Beitrag von Edith Anna Kunz. Göttingen 2001, S. 52). In diesen Zusammenhang gehört auch Andereggs Nachweis, daß Goethe später in seinen auf der Reise nach Rom verfaßten Briefen an Charlotte von Stein »Distanz [...] nicht so sehr überwindet als vielmehr schafft« (ebd., S. 108). Wilhelms Entwicklung vom Beginn der ›Lehrjahre‹ bis zum Ende der ›Wanderjahre‹ weist insgesamt eine dem Programm der Entsagung entsprechende Tendenz zur Enterotisierung auf: Bereits die ›Lehrjahre‹ beschreiben Wilhelms Weg von seiner ersten Geliebten, der auf sinnliche Daseinserfüllung angelegten Mariane, zur weitgehend asexuellen Gestalt Natalies, die in der zweiten Fassung der ›Wanderjahre‹ nur noch als Briefpartnerin des Protagonisten in Erscheinung tritt. Die Frage, auf welche Ursachen das Ineinander von hohem Legitimationsdruck und Mitteilungshemmung bezüglich der Berufswahl bei Wilhelm zurückzuführen ist, wird in der Forschung zumeist psychologisch beantwortet. Während Arthur Henkel noch auf das geringe

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literalen Mediums,88 wenn er sein Schreiben mit den Worten eröffnet: »Schon Tage geh’ ich umher und kann die Feder anzusetzen mich nicht entschließen; es ist so mancherlei zu sagen, mündlich fügte sich wohl eins an’s andere, entwickelte sich auch wohl leicht eins aus dem andern; laß mich daher, den Entfernten, nur mit dem Allgemeinsten beginnen« (540f., meine Hervorhebung). Wenig später führt Wilhelm diesen Gedanken genauer aus, wenn er feststellt: »Das ist nun das Traurige der Entfernung von Freunden daß wir die Mittelglieder, die Hülfsglieder unserer Gedanken, die sich in der Gegenwart so flüchtig wie Blitze wechselseitig entwickeln und durchweben, nicht in augenblicklicher Ver-

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gesellschaftliche Ansehen von Wundärzten hinweist, um Wilhelms Rechtfertigungsbedürfnis gegenüber der (adligen) Natalie zu begründen, haben neuere Deutungen unter Hinweis auf die seit der Französischen Revolution steigende Reputation des Wundarzt-Berufes differenziertere Erklärungen gesucht. So interpretieren Yahya A. Elsaghe, Henriette Herwig und Günter Saße mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung das im Zentrum des Briefes stehende Fischerknaben-Erlebnis als ein durch die Verquickung von Homoerotik und Tod ausgelöstes Kindheitstrauma, das einerseits für die Begründung von Wilhelms Wundarzt-Entscheidung unabdingbar sei, andererseits aber auch bis in die Schreibgegenwart hinein dessen Verdrängungs- und Zensurenergien mobilisiere (Arthur Henkel: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman. Tübingen 1954, hier S. 38f.; Yahya A. Elsaghe: Wilhelm Meisters letzter Brief. Homosexualität und Nekrophilie bei Goethe. Mit einem Auszug aus ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. In: Forum Homosexualität und Literatur 24 [1995], S. 5–36; Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab, S. 222–257; Günter Saße: »Die Zeit des Schönen ist vorüber«. Wilhelm Meisters Weg zum Beruf des Wundarztes in Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden‹. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 26, S. 72–97, hier S. 78–82). Thomas Degering und Mathias Mayer marginalisieren die Schriftkritik Wilhelms mit je unterschiedlichen Argumenten: Während Degering das Einstreuen abstrakter Reflexionen in den konkreten Erklärungszusammenhang der Berufswahl auf einen Mangel an »intellektuellen Fähigkeiten« auf Seiten des Briefschreibers zurückführt, geht Mayer davon aus, daß Wilhelms Mitteilungsschwierigkeiten ausschließlich durch den »Gegenstand der Mitteilung« bedingt seien, und erachtet daher die auf das Medium der Mitteilung gerichteten Erwägungen des Briefschreibers für unwesentlich (Thomas Degering: Das Elend der Entsagung, S. 205; Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion, S. 152). Beide Argumente scheinen mir wenig stichhaltig: Degerings Ansicht, daß ein Miteinander abstrakter und konkreter Reflexionen auf ein intellektuelles Defizit schließen lasse, mutet geradezu absurd an; der Behauptung Mayers, Wilhelms Schriftkritik sei bloßer Vorwand, steht entgegen, daß Goethe selbst sich über das Medium der Schrift wiederholt kritisch geäußert hat. So stellt der Weimarer Autor in ›Dichtung und Wahrheit‹ Folgendes fest: »Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede« (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, S. 486). In einem Brief Goethes vom 9. Februar 1788 findet sich eine Anrede an den Empfänger, die das Medium des Briefs als defizient markiert: »Über deine Microscopische Beobachtungen und noch mehr über deine Gedanken dabey müßen wir uns dereinst mündlich umständlicher erklären. Es sind zu zarte Sachen und die Bestimmung der Worte und Ausdrücke verlangt große Genauigkeit die in Schriften kaum, in Briefen nie erhalten werden kann« (Brief an P. Seidel vom 9. Februar 1788. In: WA IV, 8, S. 344–346, hier S. 345f.). Eine ähnliche, vom Kontext allerdings relativierte Ansicht findet sich auch in einem nachgelassenen Aphorismus: »Über die wichtigsten Angelegenheiten des Gefühls wie der Vernunft, der Erfahrung wie des Nachdenkens, soll man nur mündlich verhandeln« (Johann Wolfgang Goethe: Aphorismen, S. 74). – Zu Goethes Äußerungen über eine »Aufwertung des Mündlichen« und eine »Abwertung des Schriftlichen« vgl. ohne Bezug auf die ›Wanderjahre‹ Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel, S. 132, Anm. 96 u. S. 140–142, Zitat S. 140.

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knüpfung und Verbindung vorführen und vortragen können« (542). Zur Erklärung jener Schreibschwierigkeiten, welche die Abfassung des Briefes offenbar um mehrere Tage verzögert haben, verweist Wilhelm auf ein Kohärenzdefizit des schriftlich vermittelten Textes gegenüber der mündlichen Rede. Während die gesprochene Sprache ein durch »Mittelglieder« verbundenes Kontinuum entfalten könne, fehle der Schrift ein solches integratives Potential. Diese kritische Reflexion auf das literale Medium wird von Wilhelm allerdings nicht nur diskursiv formuliert, sondern auch in der strukturellen Anlage seines Briefs gespiegelt, der aus nicht weniger als 15 jeweils durch Leerzeilen voneinander getrennten Textsegmenten besteht.89 Die Ursache für die kommunikative Defizienz des Schreibens sieht Wilhelm, wie aus den beiden obigen Zitaten gleichsam ›ex negativo‹ hervorgeht, in der Abwesenheit des Rezipienten. Dessen Gegenwart nämlich begünstigt im Fall der mündlichen Mitteilung, wie Wilhelm mit einer gewissen argumentatorischen Affinität zu Kleists Essay ›Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‹ unterstellt, das Ausdrucksbemühen des Sprechers in doppelter Weise: Zum einen erfüllt die Anwesenheit des Zuhörers eine mäeutische Funktion, indem sie die Entwicklung der Gedanken beflügelt; zum anderen ermuntert sie zu einer synchronen Verbalisierung des inneren Reflexionsverlaufs, welche die integrierende Spontaneität des Denkprozesses als Fähigkeit zu »Verknüpfung und Verbindung« auf den Sprechakt überträgt (542).90 Die Tendenz zur strukturellen Diskontinuität, die Wilhelm der Schriftlichkeit auf der Kontrastfolie der durch gelingende »Verknüpfung und Verbindung« gekennzeichneten Mündlichkeit in den produktionsästhetisch ausgerichteten

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Auf die 15 »Erzählfragmente« umfassende Struktur des Fischerknaben-Briefs hat bereits Bernd Peschken hingewiesen (Bernd Peschken: Entsagung in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. Bonn 1968, S. 96). Sowohl die mäeutische Funktion, die der Präsenz des Adressaten im Fall der mündlichen Rede zukommt, als auch die damit verbundene Synchronie von Denkprozeß und Verbalisierung hat Kleist in seinem Essay ›Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‹ als Vorteile der oralen Kommunikationssituation herausgestellt. Hinsichtlich der Steigerung seiner geistigen Fähigkeiten, die er durch die mündliche Erläuterung einer komplexen »algebraische[n] Aufgabe« gegenüber seiner Schwester erfährt, bemerkt Kleist: »[W]eil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist« (Heinrich von Kleist: Über die allmählige [sic!] Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: H.v.K.: Sämtliche Werke und Briefe. 4 Bde. Hg. v. Ilse Marie Barth u. a. Bd. 2. Hg. v. Klaus Müller Salget. Frankfurt a. M. 1990, S. 534–540, hier S. 535). Den damit verbundenen zeitgleichen Ablauf von Denkprozeß und Verbalisierung beschreibt Kleist folgendermaßen: »Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen neben einander fort, und die Gemütsakten für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse« (ebd., S. 538).

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Reflexionen zu Beginn des Fischerknaben-Briefs attestiert (542), erfährt gegen Ende seiner Ausführungen eine rezeptionsästhetische Dimensionierung, die auf die Heterogenitäts-Lizenzen eines bestimmten Dichtertypus hinweist: »Wenn es dem Humoristen erlaubt ist, das Hundertste in’s Tausendste durcheinanderzuwerfen, wenn er kecklich seinem Leser überläßt, das, was allenfalls daraus zu nehmen sei, in halber Bedeutung endlich aufzufinden, sollte es dem Verständigen, dem Vernünftigen nicht zustehen, auf eine seltsam scheinende Weise ringsumher nach vielen Punkten hinzuwirken, damit man sie in einem Brennpunkte zuletzt abgespielt und zusammengefaßt erkenne [...]?« (552f.).91 Während Wilhelm die Schriften des Humoristen als semantisch offene Textgefüge charakterisiert, deren »allenfalls [...] halbe« Bedeutung von einem aktiven Leser größtenteils auf dem Wege der Spekulation erschlossen werden müsse, sieht er die Aufzeichnungen des »Verständigen«, denen er implizit auch den eigenen Brief zurechnet, durch eine restriktivere Rezipientenlenkung gekennzeichnet, welche auf die leserseitige Erkenntnis eines einheitsstiftenden Sinnzentrums abzielt.92 Allerdings wird die Realisierbarkeit des von Wilhelm für seinen Fischerknaben-Brief favorisierten integrativen Lektüreverlaufs, der die heterogene Anlage des Schreibens schließlich doch auf einen homogenen Aussagewert zurückführen würde, durch die syntaktische Disponierung der Äußerung als Frage (»sollte es [...] nicht zustehen [...]?«) zumindest ansatzweise in Zweifel gezogen. Zudem steht das Rezeptionstheorem des einheitsstiftenden »Brennpunkt[s]« in einem auffallenden Spannungsverhältnis zu jenen Reflexionen Wilhelms, die zu Beginn des Briefes dem Medium der Schrift einen Mangel an »Verknüpfung und Verbindung« und damit eine Tendenz zur strukturellen Partikularisierung zusprechen (542). Das Aussage-Potential der Schrift changiert somit innerhalb des Fischerknaben-Briefes zwischen ganzheitlicher Sinnvermittlung und heterogener Sinn-Fragmentierung.93 Diesem ambivalenten Status entspricht es, daß 91

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Jane K. Brown versteht die Erwähnung des »Humoristen« als Referenz auf Laurence Sterne, von dem Goethe in den ›Wanderjahren‹ verschiedene Strukturmuster wie etwa dasjenige der »unfinished story« übernommen habe (Jane K. Brown: Goethe’s cyclical narratives ›Die [sic!] Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ and ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Chapel Hill 1975, S. 119f.). – Für Manfred Karnick fungiert Wilhelm bei seinem Verweis auf den einheitsstiftenden »Brennpunkt« als »Sprachrohr für Goethes eigene Konfessionen«, da hiermit die »Struktur« der ›Wanderjahre‹ insgesamt benannt werde – eine Lesart, die das polyvalente Textgefüge dieses Romans meines Erachtens über Gebühr homogenisiert (Manfred Karnick: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ oder die Kunst des Mittelbaren, S. 164). Yahya A. Elsaghe verkennt die Differenzierung zwischen dem »Humoristen« und dem »Verständigen«, wenn er die Charakterisierung des ersteren zur »Leseanweisung« des Fischerknaben-Briefes erklärt, der doch gewiß keine humoristischen Züge aufweist (Yahya A. Elsaghe: Wilhelm Meisters letzter Brief, S. 26). Auch Bernd Peschken behauptet, daß Wilhelm mit seinen Bemerkungen über den »Humoristen« eine Selbstcharakterisierung des eigenen Schreibens leiste (Bernd Peschken: Entsagung in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹, S. 104). Eine Sentenz aus der unmittelbar auf den Fischerknaben-Brief folgenden Aphorismensammlung ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ hebt den partikularen Charakter schriftlicher Quellen hervor: »Literatur ist das Fragment der Fragmente; das wenigste dessen, was geschah und

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der Erfolg von Wilhelms literal vermittelter Kommunikationsstrategie unklar bleibt: Er will mit dem Fischerknaben-Brief bei Natalie um Verständnis für seine Wundarztentscheidung werben – ob ihm dies indes gelingt, erscheint fraglich, da von einem Antwortschreiben der Adressatin an keiner Stelle die Rede ist.94 Ähnlich wie Wilhelm in seinen Briefen an Natalie bezieht auch Jarno-Montan eine schriftkritische Position, die sich allerdings auf eine anders geartete Argumentation stützt. Während Wilhelms Reserve gegenüber der schriftlichen Kommunikation vorwiegend auf produktions- und rezeptionsästhetischen Erwägungen basiert, kreisen Jarnos Reflexionen in erster Linie um den defizienten Bezeichnungsmodus der Schrift, den er durch eine doppelte Distanzierung von der Sphäre eigentlicher Bedeutsamkeit gekennzeichnet sieht: »Buchstaben mögen eine schöne Sache sein, und doch sind sie unzulänglich, die Töne auszudrücken; Töne können wir nicht entbehren und doch sind sie bei weitem nicht hinreichend, den eigentlichen Sinn verlauten zu lassen« (292). Jarno situiert die Schrift demnach am Ende einer Ableitungsreihe, die mit zunehmender Sinn-Ferne einhergeht. Der »eigentliche Sinn« wird bereits durch gesprochene Worte (die »Töne«) nur unzureichend zum Ausdruck gebracht; diese an sich schon defizitären Zeichen werden nun ihrerseits durch die Schrift noch einmal repräsentiert, wobei die literalen Buchstabenkomplexe ihre jeweiligen oralen Signifikate wiederum nur mangelhaft zu vermitteln in der Lage sind. Das von Jarno auf diese Weise implizierte qualitative Gefälle zwischen Sprache und Schrift wird in seinen Ausführungen allerdings sogleich wieder eingeebnet, wenn er mit wörtlichem Anklang an sprachkritische Erwägungen Herders95

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gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das wenigste übriggeblieben« (569). – In der Forschung ist das Wechselspiel zwischen Separation und Integration wiederholt als Formprinzip des Romans herausgearbeitet worden. So kennzeichnet Christina Salmen das »Strukturgesetz« der ›Wanderjahre‹ als Realisierung der »polare[n] Formel« von »Trennen und Verbinden«, während Klaus-Detlef Müller die Archivfiktion als formalen Kunstgriff versteht, der darauf abziele, aus einem heterogenen Quellenkonvolut in Form einer »Synthese des Disparaten« einen romanhaften Textzusammenhang zu erstellen (Christina Salmen: »Die ganze merkwürdige Verlassenschaft«, S. 21; Klaus-Detlef Müller: Lenardos Tagebuch, S. 283). Dieser Sachverhalt wird in der Forschung unterschiedlich bewertet: Während Henriette Herwig aus den fehlenden Antwortschreiben eine Kommunikationskrise zwischen Wilhelm und Natalie ableitet, weist Claudia Schwamborn unter Berufung auf das Formprinzip des Archivromans darauf hin, daß der Redaktor eventuell die auf der Ebene der Fiktion gleichwohl vorhandenen Briefe Natalies an Wilhelm nicht in den von ihm erstellten Text der ›Wanderjahre‹ aufgenommen haben könnte (vgl. dazu Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab, S. 223f.; Claudia Schwamborn: Individualität in Goethes ›Wanderjahren‹, S. 153). In Herders Fragmenten ›Über die neuere deutsche Literatur‹ findet sich die Formulierung »am [verbalen] Ausdruck kleben« immer wieder (vgl. dazu Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Dritte Sammlung, S. 394, S. 423 u. S. 426). Sie benennt dort das Phänomen einer Überlagerung der geistigen Inhaltsseite durch die sprachliche Ausdrucksseite, das Herder je nach Zusammenhang unterschiedlich bewertet, insgesamt aber vorwiegend kritisch betrachtet und als Symptom einer »Philosophie der Faulen« brandmarkt (ebd., S. 426).

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pauschalisierend fortfährt: »[A]m Ende kleben wir am Buchstaben und am Ton, und sind nicht besser dran, als wenn wir sie ganz entbehrten« (292). Die konventionellen Sprachordnungen von Rede und Schrift erscheinen für Jarno hinsichtlich ihres Aussagepotentials als grundsätzlich defizient; ihre Signifikanten können nicht auf bestimmte Signifikate hin transparent gemacht werden, da sich die verbalen Zeichenkomplexe der eindeutigen Übersetzung in einen fixierbaren Sinngehalt verweigern.96 Auf die von ihm konstatierten Unzulänglichkeiten sprachlichen Bezeichnens reagiert Jarno mit dem Konstrukt einer Naturschrift: Die »Spalten und Risse« der Gesteinsformationen werden von ihm als »Buchstaben« aufgefaßt, die es zu »entziffern«, »zu Worten zu bilde[n]« und »fertig zu lesen« gilt (292). Das Phantasma solcher sinntragenden Gravuren eröffnet Jarno die Möglichkeit, den für verbale Zeichenordnungen charakteristischen Deutungsdissens zwischen verschiedenen »Lesarten« zu vermeiden: »Die Natur hat nur Eine Schrift, und ich brauche mich nicht mit so vielen Kritzeleien herumzuschleppen. Hier darf ich nicht fürchten, wie wohl geschieht, wenn ich mich lange und liebevoll mit einem Pergament abgegeben habe, daß ein scharfer Critikus kommt und mir versichert, das alles sei nur untergeschoben« (292). Die stabile Bezeichnungsrelation, die Jarno an seinem Naturschrift-Konzept besonders hervorhebt, basiert allerdings in zweifacher Hinsicht auf einer Strategie semantischer Abschottung: Zum einen fungiert Jarno gleichsam in Personalunion als konstruierender Urheber97 und einzig legitimer Ausleger; zum anderen verweigert sich der in den Graphemen der Naturschrift angeblich niedergelegte Sinn jedem Versuch einer intersubjektiven Kommunikation, weshalb Jarno nicht in der Lage ist, über seine Semiotik des Gesteins »das schlechte Zeug von öden Worten [...] aus[zu]tauschen« (292). Indem er den Bedeutungsgehalt der Naturschrift aus dem normal-sprachlichen Diskurs ausklammert, versucht Jarno einen Bereich eigentlicher Sinnhaftigkeit zu etablieren,98 der von den relativierenden Kräften eines semantischen Perspektivismus, wie ihn die chemische Gleichnisrede der ›Wahlverwandtschaften‹ ›in extenso‹ demonstriert, unberührt bleibt. Damit allerdings steht Jarno als Figur in Opposition zum formalen Prinzip des Romans, dem er entstammt: Die Unanfechtbarkeit der »Eine[n] Schrift« markiert einen äußersten Gegensatz zu den die Archivfiktion erst ermöglichenden 96

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Bereits Manfred Karnick hat darauf hingewiesen, daß die Sprache in Jarnos Ausführungen dazu tendiere, »als Verständigungsmittel überhaupt dahinzufallen [sic!]« (Manfred Karnick: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ oder die Kunst des Mittelbaren, S. 49). Jarno kann deswegen als Urheber der Naturschrift bezeichnet werden, weil die Codierung der Gesteinsformationen und damit ihr Zeichencharakter einzig auf ihn selbst zurückgehen; was er als Schrift der Natur zu objektivieren versucht, verdankt sich einer subjektiven Setzung. Vgl. dagegen Christina Salmen, die, dem dekonstruktivistischen Impuls ihrer Arbeit entsprechend, das auf zumindest subjektive Sinn-Sicherheit angelegte Naturschrift-Konzept Jarnos von der »Abstandnahme eines Sinn-Verstehens [sic!]« gekennzeichnet sieht (Christina Salmen: »Die ganze merkwürdige Verlassenschaft«, S. 112).

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vielfältigen Schriften, die einander zum Teil widersprechen und dadurch ein semantisch polyvalentes Textgefüge konstituieren; dieses aber weist exakt jene plurale Deutbarkeit auf, die Jarno durch seine Konzeption einer Naturschrift zu vermeiden sucht. Die von Wilhelm und Jarno geübte Schriftkritik affiziert nicht nur das dichterische Medium allgemein, sondern auch die speziell für die ›Wanderjahre‹ charakteristische fiktive Textgenese, die sich wiederholt auf schriftliche Quellendokumente bezieht, und erhält insofern eine poetologisch-selbstreflexive Dimension. Durch die immanente Schriftkritik markiert der Roman den eigenen Aussagemodus als vorläufig und defizient,99 wodurch der Leser gleichsam die Lizenz zur eigenen Deutungs- und Rekonstruktionsarbeit zugewiesen bekommt. Diese Aktivierung des Rezipienten100 soll im folgenden anhand der von Leerstellen und Ambivalenzen durchsetzten fiktiven Quellen-Basis des Romans genauer herausgearbeitet werden. 2.2.2. Leerstellen und Ambivalenzen – Die Quellenbasis der Archivfiktion Radikaler noch als in den ›Wahlverwandtschaften‹ hat Goethe in den ›Wanderjahren‹ die formalen Konsequenzen aus seinen sprachkritischen Reflexionen gezogen.101 Den Unzulänglichkeiten des verbalen Darstellungsmediums wird hier durch eine narrative Konstruktion Rechnung getragen, die den Erzähler vom souveränen Sinnstifter zum bisweilen hilflos wirkenden Verwalter eines umfangreichen Schriftcorpus’ entmächtigt. Der Erzähler übernimmt im Hinblick auf den Leser keine Orientierungsfunktion, sondern führt vielmehr durch seine Schwierigkeiten bei der Deutung des Quellenmaterials die Polyvalenz verbaler Mitteilung deutlich vor Augen. Wie aber läßt sich die narrative Faktur der ›Wanderjahre‹ genauer beschreiben? Die Position des Erzählers wird von einer Redaktorfigur übernommen, die den Romantext aus verschiedenen schriftlichen Quellen zu generieren vorgibt.102 Diese Quellen weisen ihrerseits wiederum eine zum Teil äußerst komplexe Entstehungsgeschichte auf, so daß der Text der 99

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Vgl. dagegen Mathias Mayer, der die Schriftkritik im Fischerknaben-Brief in einer dialektischen Denkbewegung als Rechtfertigung des literarischen »Mediums aus sich selbst heraus« deklariert (Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion, S. 154). Hans Rudolf Vaget spricht in Bezug auf die rezeptionsästhetischen Implikationen der ›Wanderjahre‹ treffend von einer »Inthronisation des Lesers« (Hans Rudolf Vaget: Johann Wolfgang Goethe. ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ [1829]. In: Paul Michael Lützeler [Hg.]: Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Neue Interpretationen. Stuttgart 1983, S. 136–164, hier S. 139; ähnlich Christian Schärf: Goethes Ästhetik. Eine Genealogie der Schrift. Stuttgart, Weimar 1994, S. 234). Zum Zusammenhang zwischen Sprachskepsis und narrativer Struktur in den ›Wahlverwandtschaften‹ vgl. S. 82f. der vorliegenden Studie. Die erzähltechnische Faktur der ›Wanderjahre‹ analysieren Volker Neuhaus (Volker Neuhaus: Die Archivfiktion in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. In: Euphorion 62 [1968], S. 13–27) sowie Gonthier-Louis Fink (Gonthier-Louis Fink: Tagebuch, Redaktor und Autor).

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›Wanderjahre‹ über weite Strecken als Resultat vielfältiger und sich wechselseitig überlagernder Perspektivierungen erscheint.103 Goethes Altersroman bezieht sich nicht direkt auf eine fiktive Handlungswirklichkeit, sondern bringt diese nur auf dem Umweg über vorgängig verfaßte Schriftstücke zur Darstellung.104 Das erzählerische Verfahren, zu dessen Charakterisierung Volker Neuhaus in einem grundlegenden Aufsatz den Begriff der »Archivfiktion« eingeführt hat,105 ist somit durch eine Pluralisierung sprachlicher Vermittlungsinstanzen gekennzeichnet: Die Sprachzeichen des Romantextes erscheinen als Filiationen des vom Redaktor arrangierten und bearbeiteten verbalen Quellenmaterials. Mit diesem formalen Kunstgriff wirken die ›Wanderjahre‹ dem Eindruck einer unmittelbaren Repräsentation sprachexterner Wirklichkeit entgegen: Der Roman bietet keinen in sich geschlossenen Realitätsentwurf, dessen Authentizität durch eine souveräne Erzählerfigur beglaubigt wäre, und etabliert stattdessen mit der Gestalt des Redaktors eine narrative Vermittlungsinstanz, die sich zu autoritativen Sinn-Fixierungen nicht in der Lage sieht, sondern es vielmehr im Verhältnis zum fiktiven Quellenmaterial mit eben jenen Deutungsproblemen zu tun hat, die auch den Leser der ›Wanderjahre‹ beschäftigen. Nicht zuletzt dadurch erhält Goethes Roman den in der Forschung wiederholt hervorgehobenen106 Charakter des Vorläufigen, Unabgeschlossenen und Ergänzungsbedürftigen, der von den letzten Worten des Textes – »(Ist fortzusetzen.)« – noch einmal deutlich exponiert wird (774).107 Da der Redaktor für das Erstellen des Romantextes auf ein gewisses Verständnis der ihm vorliegenden Quellen angewiesen ist, erhalten seine hermeneutischen Schwierigkeiten eine produktionsästhetische Relevanz, die sich an einem Beispiel aus der ersten Fassung des Romans exemplarisch aufzeigen läßt.

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Besonders deutlich läßt sich dies an der Geschichte Josephs des Zweiten demonstrieren, deren Textgestalt sich dem Leser als Resultat einer mehrfach gestuften intermedialen Vermittlung präsentiert (vgl. dazu S. 175–177 der vorliegenden Studie). – Christian Schärf bemerkt über die Faktur der ›Wanderjahre‹: »Letztlich unterliegen alle Elemente, aus denen sich der Text zusammensetzt, dem Prinzip eines umgreifenden Perspektivismus« (Christian Schärf: Goethes Ästhetik, S. 234). Ähnlich argumentiert Benedikt Jeßing, der über die narrative Eigenart der ›Wanderjahre‹ anmerkt: »Wirklichkeit kann nicht mehr unmittelbar erschlossen werden: Zwischen sie und den Einzelnen tritt das Medium Text« (Benedikt Jeßing: Konstruktion und Eingedenken. Zur Vermittlung von gesellschaftlicher Praxis und literarischer Form in Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ und Johnsons ›Mutmaßungen über Jakob‹. Wiesbaden 1991, S. 121). Vgl. dazu Volker Neuhaus: Die Archivfiktion in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. Vgl. dazu etwa Heidi Gidion: Zur Darstellungsweise von Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ Göttingen 1969; Waltraud Maierhofer: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ und der Roman des Nebeneinander. Bielefeld 1990; Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab, hier besonders S. 24–26. Christina Salmen hat diese Schlußwendung als »Performativ einer Darstellung allegorischer Verschiebung« charakterisiert und sie auf Goethes Arbeitsweise an der »Textwerkstatt« seiner ›Ausgabe letzter Hand‹ bezogen (Christina Salmen: »Die ganze merkwürdige Verlassenschaft«, S. 90 u. S. 37).

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Gegen Ende des dreizehnten Kapitels bricht das Geschehen nach dem Wiedersehen zwischen Wilhelm und Jarno unvermittelt ab. Der Redaktor begründet diese Leerstelle im Handlungsverlauf mit einer defizitären Informationslage: es sei ihm unmöglich, aus dem vorliegenden Schrift-Konvolut disparater Einzelquellen einen sinnstiftenden Zusammenhang und eine chronologische Abfolge zu rekonstruieren. Auch der unmittelbar folgende Rückgriff auf ein außersprachliches Dokument verweigert die erwünschte Klarheit: »Sodann«, erklärt der Redaktor, »treffen wir auf eine mit mehrern auf einander weisenden Pfeilen bezeichnete Landkarte, neben welcher wir, in gewisser Folge, mehrere Monatstage angeschrieben finden, so daß wir uns überreden dürften, wieder in der wirklichen Welt zu wandeln und über die nächste Marschroute unseres Freundes [Wilhelm] ziemlich im Klaren zu sein, wenn uns nicht auch hier verschiedentlich hinzugefügte Zeichen und Chiffern befürchten ließen, eine geheimere Bedeutung werde uns immer verborgen bleiben« (162). Die Landkarte sollte eigentlich in der Lage sein, den Redaktor aus jener Deutungsunsicherheit herauszuführen, die ihn angesichts der Disparatheit seiner schriftlichen Quellen befallen hat – schließlich bringt das geographische Ikon ›per definitionem‹ die »wirkliche Welt« auf dem Wege einer einstelligen Repräsentation zur Darstellung. Doch gerade der für sich genommen eindeutige Zeichenkomplex der Landkarte entwickelt hier eine unaufhebbare Ambivalenz, da er neben seiner topographischen Codierung in einen durch »verschiedentlich hinzugefügte Zeichen« angedeuteten symbolischen Sinnhorizont gestellt wird, dessen Semantik unentschlüsselbar bleibt.108 Die dem Verständnis des Redaktors entzogene esoterische Tiefenschicht unterminiert den exoterisch-ikonischen Referenzmodus der geographischen Signifikation, was sich in der zitierten Textpassage darin zeigt, daß ein möglicher Bezug der Landkarte auf die »wirkliche Welt« nur noch im ›conjunctivus irrealis‹ erscheint. Die Unlesbarkeit der Landkarte ist in zweierlei Hinsicht poetologisch relevant: Produktionsästhetisch betrachtet erweist sich die semantische Intransparenz als Hindernis bei jener hermeneutischen Rekonstruktionsarbeit, die der Texterstellung durch den Redaktor vorausgeht. Rezeptionsästhetisch gesehen illustriert die Deutungsproblematik der Landkarte jene offene Lektüre, die Goethe selbst den Lesern seiner ›Wanderjahre‹ empfiehlt, wenn er dem Kanzler von Müller über die erste Fassung seines Altersromans mitteilt: »Es sei ja alles nur symbolisch zu nehmen, und stecke überall noch etwas anderes dahinter. Jede

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Dieser Befund bestätigt die These von Rolf Günter Renner, wonach gerade bildliche Repräsentationsformen innerhalb der ›Wanderjahre‹ eine »verdeckte Arbitrarität von Goethes Erzählen« erkennen lassen (Rolf Günter Renner: Text, Bild und Gedächtnis, S. 152). Auf die Bemerkungen des Redaktors über die Landkarte geht Renner, der sein interpretatorisches Augenmerk vornehmlich auf die Josephs-Episode und den ›Mann von funfzig Jahren‹ richtet, allerdings nicht ein.

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Lösung eines Problems sei ein neues Problem« (852).109 Goethes Äußerung, die in modifizierter Form auch in die ›Wanderjahre‹ Eingang gefunden hat,110 erweist sich als erhellender Kommentar zur poetologischen Dimension der Interpretationsprobleme, die den Redaktor beschäftigen: Sie benennt die – nicht zuletzt durch die Polyvalenz der Sprache bedingte – Unabschließbarkeit des Verstehensprozesses, der zu keinem definitiven Ergebnis kommt, sondern sich immer nur mit neuen Fragestellungen konfrontiert sieht; die »geheimere Bedeutung« bleibt letztlich – wie es hinsichtlich der Landkarte heißt – »für immer verborgen«. Die Landkarte, die als poetologische Figuration einer durchgängigen semantischen Struktur der ›Wanderjahre‹ gelesen werden kann, entzieht sich dem deutenden Zugriff des Redaktors, dessen Ziel es ist, die Erlebnisse Wilhelms aus den ihm vorliegenden Materialien zu rekonstruieren und sie in eine chronologische Ordnung zu bringen. Der Redaktor vermag es lediglich, die Landkarte in ihrer ambivalenten Bedeutungsstruktur zu beschreiben; als mögliche Informationsquelle auswerten kann er sie nicht. Deshalb bedient er sich beim Umgang mit dem auf die Landkarte unmittelbar folgenden Schriftdokument, das wiederum eine ungesicherte Referenz aufweist111 und sich chronologisch nicht klar einordnen läßt,112 einer anderen Strategie: Die Quelle, die dem durch Fernrohre vermittelten optischen Kontakt zwischen Wilhelm und Natalie gewidmet ist,113 wird vom Redaktor nicht mehr sprachlich bearbeitet, sondern unverändert wiedergegeben und damit der deutenden Beurteilung des Lesers anheimgestellt. Dabei greift der Redaktor gleichsam auf die Materialität der ihm vorliegenden Sprachzeichen zurück und teilt das offenbar von Wilhelm verfaßte Schriftstück »buchstäblich« mit (162). Die Hilflosigkeit des Redaktors, der an dieser Stelle seine Position als deutender Vermittler aufgibt und den Wortlaut der Quelle – abgesehen von einem einleitenden Hinweis auf deren »Unwahrscheinlich[keit]« (162) – nicht kommentiert, läßt die mit der fiktiven Texterstellung des Romans verbundenen Interpretationsprobleme deutlich hervortreten.

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Ähnlich äußert sich Goethe in einem Brief an C.F. Reinhard vom 7. September 1831 über den ›Faust II‹: »Mein Wunsch ist, daß [der zweite Teil des Faust] Ihnen zu guter Stunde in die Hand kommen möge. Aufschluß erwarten Sie nicht; der Welt- und Menschengeschichte gleich, enthüllt das zuletzt aufgelös’te [sic!] Problem immer wieder ein neues aufzulösendes« (Brief an C.F. Reinhard vom 7. September 1831. In: WA IV, 49, S. 60–62, hier S. 62). Die Unabschließbarkeit des Verstehens, die Goethe in der zitierten Äußerung in einem texthermeneutischen Zusammenhang verhandelt, wird in einem Aphorismus aus den ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ auf den Bereich naturwissenschaftlicher Forschung appliziert: »Hypothesen sind Wiegenlieder womit der Lehrer seine Schüler einlullt; der denkende treue Beobachter lernt immer mehr seine Beschränkung kennen, er sieht, je weiter sich das Wissen ausbreitet, desto mehr Probleme kommen zum Vorschein« (579). Die ungesicherte Referenz ergibt sich daraus, daß das Wiedersehen von Wilhelm und Natalie weder eindeutig dem Bereich der Wirklichkeit noch dem des Traums zugeordnet werden kann (vgl. 162). Die unklare Chronologie bringt den Redaktor »aus aller historischen Fassung« (ebd.). Siehe dazu S. 195f. der vorliegenden Studie.

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Weitere Beispiele für jene Ambivalenzen, die aus dem eigenwilligen erzählerischen Verfahren der ›Wanderjahre‹ resultieren, finden sich im Zusammenhang mit der Makarien-Gestalt, deren ideelle Konzeption deutlich vormoderne Züge trägt. Makarie verkörpert innerhalb der von Partikularisierung und Spezialisierung geprägten Welt der ›Wanderjahre‹ das Paradigma der Ganzheit. Ihre Fähigkeit, das Universum innerlich zu erschauen, steht im Zeichen einer wesenhaften Verwobenheit von Mensch und Kosmos, die auf dem alchimistischen Konzept einer ›analogia entis‹ basiert.114 Dem Vermögen, die Planetenbahnen imaginativ nachzuvollziehen, entspricht im zwischenmenschlichen Bereich eine außergewöhnliche Empathie: Makarie verfügt über eine ausgeprägte Fähigkeit zur psychischen Anteilnahme und kann daher immer wieder auf die emotionalen Wirrnisse des ›Wanderjahre‹-Personals harmonisierend und konfliktlösend einwirken: So kommen die Paarbeziehungen zwischen Hilarie und Flavio, der schönen Witwe und dem Major, Jarno und Lydie vor allem dank ihrer Vermittlung zustande. Darüber hinaus übernimmt Makarie auch auf der Ebene der Textorganisation eine integrierende Funktion, indem sich gegen Ende des Romans zahlreiche Figuren bei ihr einfinden und auf diese Weise vormals getrennte Handlungsstränge innerhalb eines einzigen Kapitels zusammengeführt werden (vgl. 720–733). Allerdings werden Makaries kosmische Ganzheitsvision und die durch sie verbürgte übergeordnete Sinnstiftung115 in den ›Wanderjahren‹ keineswegs affirmativ und in kohärenter Geschlossenheit präsentiert. Vielmehr treten die mit der Archivfiktion verbundenen perspektivischen Überformungen, Fragmentierungen und Diskontinuitäten auch bei der textuellen Vermittlung der Makarien-Gestalt deutlich in Erscheinung;116 das Phantasma eines übergreifenden All-Zusammenhangs wird ironischerweise innerhalb eines Systems narrativer Zersplitterung vergegenwärtigt. Besonders auffällig ist dabei eine Strategie des Aufschubs, welche die Mitteilung zuverlässiger Informationen über Makarie fortwährend ankündigt, ohne diese Ankündigung jemals ›in toto‹ einzulösen. Bereits in der ersten längeren Passage über Makarie wird beim Leser eine finale Spannung aufgebaut, deren ›télos‹ der Text dann allerdings ausspart: So darf Wilhelm erst nach einer kurzen Diskussion zwischen Makarie und 114

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Zur hermetisch-alchimistischen Konturierung der Makarien-Partie siehe Hartmut Böhme: Lebendige Natur – Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 60 (1986), S. 249–272, hier S. 264–271. Vgl. dazu Jochen Schmidt, der über Makarie bemerkt: »Sie ist [innerhalb der fiktiven Romanwirklichkeit] oberste Orientierungsinstanz und verbürgt ohne weitere Begründung den Sinn, weil sie selbst den Kosmos, das heißt die apriorisch sinnvoll geordnete Welt repräsentiert« (Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 1, S. 352). Mathias Mayer bemerkt in Bezug auf Makarie zu Recht: »Das die ›Wanderjahre‹ insgesamt kennzeichnende Erfordernis des aktiven Lesers gilt in besonderem Maße für ihre höchste Figur« (Mathias Mayer: Selbstbewußte Illusion, S. 161); ähnlich Barbara Naumann, die den Makarien-Komplex vor dem Hintergrund der Cassirerschen Symbolphilosophie interpretiert (Barbara Naumann: Philosophie und Poetik des Symbols. Goethe und Cassirer. München 1998, S. 147–152).

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dem Mathematiker an einer offenbar bereits mehrfach »verspäte[ten] Unterhaltung« teilnehmen (379f.), deren Prä liminarien zwar ausführlich mitgeteilt, deren Inhalt aber vom Redaktor mit dem ironischen Hinweis auf die »Geduld« der Rezipienten zurückgehalten wird (381). Auch im weiteren Fortgang des Textes ist die narrative Vermittlung der Makarien-Gestalt von einer Verlaufsform des Aufschubs geprägt: Im Archiv bleibt dem neugierigen Wilhelm der Inhalt eines »abgesonderte[n], verschlossene[n] Fach[es]« mit der vielsagenden Aufschrift »Makariens Eigenheiten« unzugänglich (389). Als er sich daraufhin mit der Bitte an Makaries Vertraute Angela wendet, über einen »so wissenswerte[n] Fall« aufgeklärt zu werden (390), erhält er lediglich einige knappe Hinweise, welche die Auskunftgeberin mit den Worten beschließt: »Soviel nur darf ich Ihnen diesmal vertrauen« (391, meine Hervorhebung). Auf diese Weise wird Wilhelm und damit auch dem Leser genauere Aufklärung für einen späteren Zeitpunkt in Aussicht gestellt, die aber bis zum Ende des Romans nicht erfolgt. Denn selbst das vom Redaktor eingerückte Dokument, das den Makarien-Komplex im 15. Kapitel des dritten Buches abschließt, wird hinsichtlich seiner Aussagekompetenz bezüglich der kosmischen Visionärin mehrfach relativiert: So umrahmt der Redaktor das wörtlich wiedergegebene Schriftstück mit einschränkenden Bemerkungen: Er stellt ihm den Hinweis voran, es sei »erst lange Zeit, nachdem der Inhalt mitgeteilt worden, aus dem Gedächtnis geschrieben«, weshalb man es nicht »für ganz authentisch ansehen« könne (733), und qualifiziert es abschließend gar als »ätherische Dichtung«, was den ontologischen Status von Makaries Ganzheitserfahrungen in die Sphäre des Fiktiven entrückt (737). Zudem situiert der Verfasser des Dokumentes selbst die imaginäre Sternenreise wenigstens partiell jenseits der textuellen Verfügbarkeit, wenn er seine Schilderung von Makaries sich immer weiter der galaktischen Peripherie nähernden Bewegung in den folgenden Worten kulminieren läßt: »Dorthin folgt ihr keine Einbildungskraft« (737). Die mit Makaries kosmischen Ganzheitsvisionen verbundene Sinnstiftung gewinnt durch den relativierenden und lückenhaften narrativen Präsentationsmodus, der jede definitive Festlegung vermeidet,117 innerhalb der ›Wanderjahre‹ einen utopisch-irrealen Charakter.118

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Erhard Bahr, der die ironischen Züge der Makarien-Gestalt herausarbeitet, resümiert zutreffend: »Die Ironie macht jegliche Fest- und Zurechtlegung in der einen oder der anderen Seite unmöglich. Makarie ist die Tante und nicht die Tante, Heilige und nicht Heilige, und Tante und Heilige zugleich« (Erhard Bahr: Die Ironie im Spätwerk Goethes »...diese sehr ernsten Scherze...«. Studien zum ›West-östlichen Divan‹, zu den ›Wanderjahren‹ und zu ›Faust II‹. Berlin 1972, S. 127). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Barbara Hunfeld, die die Ergebnisse ihrer detailgenauen Makarien-Interpretation folgendermaßen resümiert: »Makarie bietet sich universalen Deutungen an [...]. So verspricht sie höchste Bedeutsamkeit, verweigert aber Vereindeutigung« (Barbara Hunfeld: Der Blick ins All. Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter. Tübingen 2004, S. 181). Vgl. die Ausführungen von Jochen Schmidt, der Makarie als »nur noch poetisch aufrechterhal-

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Der utopische Charakter der Makarien-Gestalt zeigt sich auch hinsichtlich ihrer Redeweise, die der kommunikativen Eigenart der ›Wanderjahre‹ antithetisch gegenübersteht. Wiederholt wird Makarie im Text die Fähigkeit attestiert, die menschliche Innerlichkeit adäquat zu verbalisieren. So vergleichen Hersilie und Juliette ihre Tante mit einer »Ursibylle«, deren »Stimme [...] rein göttliche Worte über die menschlichen Dinge ganz einfach ausspräche« (325), und Juliette sieht »allein« sie in der Lage, die einzelnen Charaktere auf dem Gut des Oheims angemessen zu beschreiben (335). Wenig später verleiht eine Bemerkung des Redaktors der Verbalisierungskompetenz Makaries geradezu mystische Züge: »Makarie sprach zu Wilhelm als einem Vertrauten, sie schien sich in geistreicher Schilderung ihrer Verwandten zu erfreuen; es war, als wenn sie die innere Natur eines jeden durch die ihn umgebende individuelle Maske durchschaute. Die Personen, welche Wilhelm kannte, standen wie verklärt vor seiner Seele, das einsichtige Wohlwollen der unschätzbaren Frau hatte die Schale losgelös’t [sic!] und den gesunden Kern veredelt und belebt« (379). Allerdings erscheint Makaries Sprache, welche nach Meinung des Redaktors einen Bereich eigentlicher Bedeutsamkeit zu erschließen und den verborgenen Wesenskern des Subjekts verlustfrei zu verbalisieren vermag, im Text als bloße Leerstelle; die »geistreiche Schilderung« wird zwar emphatisch als gelingender Signifikationsakt markiert, aber nicht direkt wiedergegeben – ein Verfahren, das den narrativen Umgang mit Makaries Äußerungen insgesamt kennzeichnet. Daß der Text der ›Wanderjahre‹ die unmittelbare Wiedergabe von Makaries zuverlässig signifizierender Redeweise ausspart, verweist auf die fundamentale Gegenläufigkeit solcher Sprechakte zur Faktur des Goetheschen Romans: Während Makaries Worte als transparente Signifikanten fungieren, die gleichsam unmittelbar auf einen in ihnen aufbewahrten absolut gültigen Wahrheitsgehalt bezogen sind, resultieren die sprachlichen Zeichen der ›Wanderjahre‹ über weite Strecken aus der Umarbeitung vorgängiger Schriftquellen, deren Verläßlichkeit oft zweifelhaft ist und deren perspektivisch gebrochene Aussagen einen durchweg relativen Charakter aufweisen.119 Die Sinn-Sicherheit, die Makarie als »Ursibylle« zu gewährleisten vermag (325), kann folglich in das polyvalente Textgefüge des Romans keinen direkten Eingang finden. Die poetologische Funktion des Makarien-Komplexes erschöpft sich nicht in einer bloßen Gegenbildlichkeit zur Erzählordnung der ›Wanderjahre‹. Durch

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tene Wunschprojektion« beschreibt, »die Goethe selbst ironisch als ›ätherisch‹-irreal« reflektiere (Jochen Schmidt: Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. München 1999, S. 304). Ein Aphorismus aus den ›Betrachtungen im Sinne der Wanderer‹ führt die erkenntnistheoretischen Konsequenzen des in den ›Wanderjahren‹ praktizierten polyperspektivischen Erzählens deutlich vor Augen: »Man braucht nicht alles selbst gesehen noch erlebt zu haben; willst du aber dem andern und seinen Darstellungen vertrauen, so denke, daß du es nun mit dreien zu tun hast, mit dem Gegenstand und zwei Subjekten« (577).

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ihr Archiv hat Makarie Anteil an der fiktiven Textkonstitution des Romans und verrät damit trotz ihrer kosmologischen Ganzheitsvisionen eine gewisse Affinität zu seinem fragmentarisierenden Erzählverfahren. Dem entspricht, daß Wilhelm im Zusammenhang mit den auf Makaries Wunsch hin archivierten Schriftbeständen von einer Lektürepraxis erfährt, die auch dem Leser der ›Wanderjahre‹ abverlangt wird. Zwar hält Angela gegenüber Wilhelm zunächst – unter Berufung auf einen Ausspruch ihrer Dienstherrin Makarie – an der Vorstellung einer in den Schriftzeichen der archivierten Dokumente aufbewahrten invarianten Sinn-Schicht fest,120 betont aber wenig später die kreative Eigendynamik des Rezeptionsvorgangs: Wenn sie der schlaflosen Makarie bei Nacht ein Blatt aus dem Archiv vorlese, habe das häufig zur Folge, daß »auf eine merkwürdige Weise tausend Einzelnheiten hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber fällt und sich nach allen Seiten hin in die vielfachsten unzähligen Kügelchen zerteilt« (388). Mit der Metapher der »unzähligen Kügelchen« beschreibt Angela die Unausschöpfbarkeit des textuellen Bedeutungspotentials, das sich in Interaktion mit dem individuellen Verstehens-Horizont des Rezipienten im konkreten Lektüreakt je anders und neu realisiert – eine hermeneutische Diagnose, deren Befund im folgenden durch eine detaillierte Analyse des Kästchen-Zeichens als zentrales poetologisches Charakteristikum der ›Wanderjahre‹ aufgewiesen werden soll. 2.2.3. Sprachskeptische Poetologie – Zur Polyvalenz des Kästchen-Zeichens121 »Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben«.122

Das rätselhafte Kästchen, das den gesamten Roman leitmotivisch durchzieht, markiert innerhalb der ›Wanderjahre‹ jenen Konvergenzpunkt von Sprachskepsis und Poetologie, der auch für den Titel-Terminus der ›Wahlverwandtschaf-

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Vgl. dazu die folgende Bemerkung Angelas über Makaries Archivierungsbedürfnis: »Deshalb machte sie mir’s zur Pflicht, einzelne gute Gedanken aufzubewahren [...]. ›Ist man treu‹, sagt sie, ›das Gegenwärtige festzuhalten, so wird man erst Freude an der Überlieferung haben, indem wir den besten Gedanken schon ausgesprochen, das liebenswürdigste Gefühl schon ausgedrückt finden. Hierdurch kommen wir zum Anschauen jener Übereinstimmung, wozu der Mensch berufen ist« (387f., meine Hervorhebung). Die Konstanz der schriftlichen Aufbewahrung von »Gedanken« sowie die »Übereinstimmung« zwischen den Urhebern dieser Gedanken und den Rezipienten der Dokumente indizieren eine Invarianz des in den Schriftzeichen niedergelegten Sinns. Die Kernthesen dieses Kaptitels gehen auf einen Vortrag zurück, den ich am 11. Juni 2003 auf dem Symposium junger Goetheforscher in Weimar gehalten habe und der im Goethe-Jb. 2004 publiziert worden ist (Christian Mittermüller: »Das schiebt sich und verschiebt sich« – poetologische Reflexionen in Goethes Romanen ›Die Wahlverwandtschaften‹ und ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. In: Goethe-Jb. 120 [2004], S. 53–65, hier bes. S. 57–65). Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften. Bd. 7. Frankfurt a. M. 1970, S. 185.

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ten‹ von entscheidender Bedeutung ist. Das Kästchen, das nicht zufällig mit einem »Prachtbüchlein« und einem »Oktavband« analogisiert wird, fungiert als Metapher verbaler Signifikation und bringt dabei zugleich als poetologisches ›mise en abyme‹ sowohl die narrative Faktur als auch die rezeptionsästhetische Eigenart der ›Wanderjahre‹ zur Darstellung.123 Um diese These zu erhärten, soll zunächst der von der Forschung bislang ignorierte topische Bezug zwischen Kästchen und Buch skizziert werden, mit dem Goethe nachweislich vertraut war. Anschließend beschreibe ich die permanent fluktuierenden Bedeutungen, die das Kästchen im Verlauf des Romans annimmt, und versuche daraus seine semiotische Beschaffenheit als offenes Zeichen abzuleiten sowie diese auf eine poetologische Dimension hin transparent zu machen. Die dabei herausgearbeitete implizite Poetologie des Kästchens soll abschließend mit der Inhaltsebene des Romans ins Verhältnis gesetzt werden. Wenn der Redaktor der ›Wanderjahre‹ das von Felix gefundene Kästchen mit einem »Oktavband« und einem »Prachtbüchlein« vergleicht, rekurriert er damit auf eine bis in die Antike zurückreichende Tradition, die das Kästchen als reich dekorierten Gegenstand mit der Sphäre der Literatur verbindet. Der von Goethe intensiv rezipierte Plutarch vermerkt in seinen Parallelbiographien über Alexander den Großen: »Er war überhaupt ein grosser Liebhaber der Wissenschaften und der Lektüre. Die Iliade betrachtete er als einen guten Unterricht in der Kriegskunst, und hatte ein vom Aristoteles selbst critisch verbessertes Exemplar, welches seinen Namen von dem kostbaren Schmuckkästchen bekam, in welchem es aufbewahrt wurde«.124 Ferner berichtet Plutarch im Zusammenhang mit dem Sieg Alexanders über Darius die folgende Anekdote: »Als man ihm [Alexander] ein Schmuckkästchen brachte, welches man für die größte Kostbarkeit unter allen Kleinodien und Sachen des Darius hielt, so fragte er seine Freunde: Was meint ihr wohl, das am würdigsten wäre, darinnen aufbewahrt zu werden? und da einer dieß, der andre jenes nannte, sagte er endlich selbst: Die Iliade will ich darinnen aufbewahren«.125 Während Kästchen und Buch bei Plutarch zwar miteinander in Beziehung gesetzt werden, aber noch unterschiedliche Gegenstände darstellen, kommt es in der Literatur des 17. Jahrhunderts zu einer metaphorischen Verschmelzung beider Kategorien. So trägt die 1633 von Peter Lauremberg veröffentlichte 123

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Gerald Prince definiert den ursprünglich aus der Wappenkunde stammenden Begriff des ›mise en abyme‹ als »a miniature replica of a text embedded within a text; a textual part reduplicating, reflecting, or mirroring (one or more than one aspect of ) the textual whole« (Gerald Prince: A Dictionary of Narratology. Lincoln, London 1987, S. 53). Plutarch: Alexander der Große. In: Biographien des Plutarchs mit Anmerkungen von Gottlob Benedict von Schirach. Bd. 6. Wien, Prag 1796, S. 139–264, hier S. 149f., meine Hervorhebung. Ebd., S. 181. Zur Ausgestaltung dieser Anekdote in Heines ›Romanzero‹ siehe Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 119–126.

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Anthologie, die Texte griechischen und lateinischen Ursprungs enthält, den Titel ›Acerra philologica‹, zu deutsch: philologisches Kästchen.126 Der Titel dieser ungewöhnlich erfolgreichen Anthologie, die im nordeuropäischen Raum nicht weniger als 70 Auflagen erreichte,127 wurde von nachfolgenden Autoren immer wieder aufgegriffen: So erschienen, um nur wenige Beispiele anzuführen, im Jahre 1672 eine ›Acerra Exoticorum‹ von Erasmus Francisci, im Jahre 1674 eine ›Acerra sacra‹ von Matthias Flachsland von Hauingen, und im Jahre 1713 eine pharmazeutische ›Acerra mediochymica‹. Der Begriff ›acerra‹ signalisiert dabei »stets das Disparate und zugleich Vielfältig-Bunte derartiger Sammlungen [...], ihre prinzipielle Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit«128 – ein Formprinzip, das auch Goethes ›Wanderjahre‹ kennzeichnet, die den Begriff ›acerra‹ zwar nicht im Titel tragen, dafür aber das Kästchen als Ding-Symbol zu einem poetologisch-selbstreflexiven Zentral-Zeichen erheben. Goethe selbst war übrigens mit der ›Acerra philologica‹ gut vertraut: Nach dem Zeugnis von ›Dichtung und Wahrheit‹ las er die Sammlung, die ihn mit »allerlei Fabeln, Mythologieen und Seltsamkeiten« bekannt machte, bereits in jungem Alter.129 Neben einer Belegstelle aus den ›Lehrjahren‹130 und einer späten Tagebuchnotiz131 äußert sich Goethe auch in seinem fragmentarischen ›Schema zu einem Volksbuch‹ über die Textsammlung Laurembergs: »Acerra Philologica: Cultur daher. Immer fortwirkend«.132 Diese skizzenhafte Bemerkung verbindet die berühmte Anthologie mit einem dynamischen Überlieferungsprinzip, das durch lebendige Aneignung und kontinuierliche Metamorphose kultureller Überlieferungsbestände gekennzeichnet ist. Das von der ›Acerra philologica‹ verbürgte »Fortwirken« der Kultur erinnert dabei an die berühmte Schluß-

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›Acerra‹ bezeichnet im Lateinischen jene Kästchen, in denen bei kultischen Handlungen der Weihrauch aufbewahrt wurde. Vgl. dazu Thomas Bürger: Die ›Acerra philologica‹ des Peter Lauremberg. Geschichte, Verbreitung und Überlieferung eines deutschen Schulbuchs des 17. Jahrhunderts. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 12 (1987), S. 1–24, hier S. 4–11. Ralf Georg Czalpa: Mythologische Erzählstoffe im Kontext polyhistorischer Gelehrsamkeit. Zu Peter Laurembergs ›Acerra philologica‹. In: Simpliciana 21 (1999), S. 141–159, hier S. 143. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben, S. 41. In ähnlicher Weise hebt auch Karl Philipp Moritz den prägenden Einfluß der ›Acerra philologica‹ hervor, wenn er den Erzähler seines autobiographischen Romans ›Anton Reiser‹ über den jungen Protagonisten bemerken läßt, dieser sei durch die Lektüre der Sammlung »mit allen Göttern und Göttinnen des Heidentums bekannt« geworden, was ihm »eine ganz andre und neue Welt« eröffnet habe (Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: K.P.M.: Werke. Hg. v. Horst Günter. 3 Bde. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1981, S. 33–399, hier S. 50). In den ›Lehrjahren‹ wird unter anderem die namentlich erwähnte ›Acerra Philologica‹ dem fragmentierenden Lektüreverfahren von Friedrich und Philine unterzogen (Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 939). Am 29. Oktober 1830 vermerkt Goethe im Tagebuch: »Abends mit Walther. Las derselbe in Acerra philologica« (WA III, 12, S. 323). Johann Wolfgang Goethe: Schema zu einem Volksbuch, historischen Inhalts. In: WA I, 42/2, S. 418–428, hier S. 426.

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formel der ›Wanderjahre‹ »(Ist fortzusetzen.)«, die den Roman einerseits als unabschließbar markiert, andererseits aber den Leser gleichsam zur kreativen Komplettierung des fragmentarischen Texttorsos auffordert. Wie der Text der ›Wanderjahre‹ insgesamt, so steht auch das leitmotivisch wiederkehrende Kästchen hinsichtlich seines semantischen Potentials im Zeichen der Unabschließbarkeit, da es im Verlauf des Romangeschehens zahlreiche differente Bedeutungszuschreibungen erfährt, die sich nicht zu einem homogenen Sinn-Ganzen zusammenfügen und in ihrer jeweils nur relativen Gültigkeit zu ständig neuen Interpretationsversuchen herausfordern. Wilhelms Sohn Felix findet das geheimnisvolle Behältnis in einem Höhlensystem im Inneren eines Berges, der offenbar Granitgestein enthält. Diese Gesteinsart hat für Goethe eine besondere Bedeutung, die er in seiner geologischen Skizze »Über den Granit« herausarbeitet. Der Granit erscheint dort einerseits als »große leise sprechende Natur«, wird aber andererseits als »natürliche[s] Geheimnis« apostrophiert.133 Sein symbolischer Gehalt besteht somit für Goethe in einer eigentümlichen Dialektik zwischen Verweigerung und Mitteilung, Geheimnis und Offenbarung.134 Diese semantische Ambivalenz des Granits kehrt in der Beschreibung des Kästchens wieder, das einerseits als ein dem Sinn-Verstehen tendenziell entzogenes »Geheimnis«, andererseits als ein den Gedanken kommunikativer Vermittlung implizierendes »Prachtbüchlein« bezeichnet wird (302). Die Art und Weise, wie das Kästchen in die Romanhandlung eingeführt wird, legt es nahe, dasselbe als Metapher für das Buch der Natur aufzufassen, in welchem diese ihr Geheimnis niedergelegt hat.135 Doch im Fortgang des Textes verschiebt sich die Bedeutung des Kästchens. Es steht nicht mehr für eine Einführung in das Geheimnis der Natur, sondern für das erste Erwachen von Liebe und Sexualität:136 Kurze Zeit nachdem Felix das Kästchen gefunden hat, lernt er Hersilie kennen, von der er sich sogleich erotisch angezogen fühlt. Wenn Hersilie später in ihren Briefen über das Kästchen spricht, ist seine Erwähnung stets mit der Liebesgeschichte der beiden jungen Leute verknüpft.137 Gegen

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Johann Wolfgang Goethe: ›Granit II‹. In: FA 25, S. 312–316, hier S. 313 f. Das oxymorale Syntagma »offenbares Geheimnis« bezeichnet ein poetologisches Grundprinzip Goethes. Vgl. dazu Marlis Helene Mehra: Die Bedeutung der Formel »Offenbares Geheimnis« in Goethes Spätwerk. Stuttgart 1982. Vgl. dazu Wilhelm Emrich: Das Problem der Symbolinterpretation im Hinblick auf Goethes ›Wanderjahre‹. In: W. E.: Protest und Verheißung. Frankfurt, Bonn 1968, S. 48–66, hier S. 60. Vgl. dazu die Ausführungen von Richard Meier, der das Kästchen aufgrund seiner »Ambiguität« als »Symbol für die Liebe« deutet (Richard Meier: Gesellschaftliche Modernisierung, S. 89 u. S. 78). Die Verknüpfung zwischen dem Kästchen und der Liebesgeschichte zwischen Felix und Hersilie zeigt sich besonders deutlich, wenn ersterer gegenüber seiner Geliebten ausruft: »Ich habe nichts vom Kästchen noch vom Schlüssel! [...] Dein Herz wünscht’ ich zu öffnen, daß es sich mir auftäte [...]« (742). Eine erotische Bedeutungsimplikation wird auch dadurch evoziert, daß Hersilies Verhältnis zu Kästchen und Schlüssel von einem instinkthaften Verhaltensmuster

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Ende des ersten Buches schreibt der Sammler im Gespräch mit Wilhelm dem Kästchen eine ganz andere Bedeutung zu, indem er es in einen neuen Kontext stellt: Nicht mehr die Liebesgeschichte zwischen Felix und Hersilie, sondern die Person Wilhelms bildet jetzt den Bezugspunkt für die Interpretation des Kästchens, das aus einem erotischen in einen providentiellen Sinnzusammenhang versetzt wird. Wilhelm soll an ihm – in den Worten des Sammlers – sein »Glück prüfen« und den eventuellen Fund des zugehörigen Schlüssels als Zeichen eines verheißungsvollen Schicksals begreifen (412). Das Kästchen allein stellt für den Sammler ein unvollständiges Zeichen dar, das als Korrelat den Schlüssel benötigt, um lesbar zu werden. Diese Annahme einer Bedeutungsteleologie, die mit dem Fund des Schlüssels an ihr Ziel gelangt, wird durch den Fortgang des Textes jedoch nachhaltig widerlegt. Der Schlüssel findet sich zwar, bringt aber Hersilie als Interpretin des Kästchens keinen Schritt weiter; er funktioniert gerade nicht als ergänzendes Korrelat des Kästchen-Zeichens, sondern ist diesem insofern strukturell äquivalent, als dem für das Kästchen charakteristischen Gegensatz zwischen sichtbarer Außenseite und verborgenem Innenraum im Fall des Schlüssels zwei Teile entsprechen, die sich nicht ohne weiteres zu einem sinnstiftenden Ganzen zusammenfügen lassen.138 Daher gibt das, was eigentlich die Lösung des Rätsels bringen sollte, lediglich ein neues »Rätsel« auf, wie Hersilie im Brief an Wilhelm verwundert feststellt (599). Der bedeutungsoffene Rätselcharakter des Schlüssels zeigt sich auch an jenem Wechselspiel zwischen visueller und sprachlicher Repräsentation, durch welches Hersilie diesen Gegenstand in ihrem Brief zur Darstellung zu bringen sucht. Sie rückt nämlich – ein ›unicum‹ in Goethes Romanwerk139 – eine »Abbildung« des Schlüssels in den Textzusammenhang ihres Schreibens ein (599). Diese piktorale Darstellung wird allerdings sogleich verbal kommentiert, wobei sich das visuell Eindeutige in Zweideutiges verwandelt; die sprachliche Umschreibung verunklärt den referentiellen Bezug der Abbildung, indem sie deren ikonischen Repräsentationsmodus durch eine symbolisch aufgeladene Assoziation überschreitet: Die Zeichnung erscheint nicht mehr ausschließlich als detailgetreue Dublette des Schlüssels, sondern erinnert darüber hinaus an »Pfeile mit Widerhaken«, die im Kontext des Hersilien-Briefes ihrerseits wiederum auf Liebe verweisen (599).140

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bestimmt ist: Beim Fund des Schlüssels fühlt sie sich »getrieben«, und über ihre Inbesitznahme des Kästchens heißt es: »Wünschelrutenartig zog sich die Hand darnach« (597 u. 658). Vgl. dazu die Bemerkung Hersilies, daß die beiden Teile des Schlüssels nur durch einen »Eingeweihten« verbunden werden können (743). Vgl. dazu Christina Salmen: »Die ganze merkwürdige Verlassenschaft«, S. 176, Anm. 34. Im Zusammenhang mit seiner überzeugenden These, daß »visuelle Zeichen« in den ›Wanderjahren‹ »keineswegs nur Eindeutigkeiten herstellen«, hat bereits Rolf Günter Renner die Abbildung des Schlüssels als ein »interpretationsbedürftiges Zeichen« charakterisiert (Rolf Günter Renner: Text, Bild und Gedächtnis, S. 151f.).

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Mit der semiotischen Konstellation von Kästchen und Schlüssel inszenieren die ›Wanderjahre‹ ein Modell, das den Zugang zu sinnhafter Eindeutigkeit ›ad infinitum‹ aufschiebt. Die unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen, die das Kästchen im Laufe des Romans erfährt, können nicht durch einen symbolischen Akt des Aufschließens als verbindliche Semantik fixiert werden, sondern erweisen sich als durchweg instabile und flüchtige Resultate eines changierenden kontextuellen Umfelds. Hersilie benennt diesen Sachverhalt mit unmißverständlicher Klarheit: »[W]as das wieder vor [sic!] Umstände sind! das schiebt sich und verschiebt sich« (599). Das von Hersilie im Bezug auf das Kästchen formulierte Prinzip einer relational bestimmten141 semantischen Wandelbarkeit legt es nahe, dieses Dingsymbol als Metapher verbaler Signifikation zu begreifen, die von einer prinzipiellen Polyvalenz gekennzeichnet ist. Wie bereits die chemische Gleichnisrede der ›Wahlverwandtschaften‹ anhand der scheiternden Definitionsversuche des Titelbegriffs demonstriert hat,142 kann ein Signifikant nicht als Träger einer verbindlichen und invarianten Bedeutung fungieren, weshalb das Kästchen der ›Wanderjahre‹ seinen Inhalt nicht preisgibt. Was ein Zeichen jeweils bedeutet, wird durch seinen situativen Kontext bestimmt, der Signifikant und Signifikat momenthaft und vorübergehend zu verbinden vermag. Dies zeigt sich an den verschiedenen Bedeutungszuschreibungen, die das Kästchen im Verlauf des Romans erfährt und die durchweg einen relativen und transitorischen Charakter aufweisen. Das Kästchen-Zeichen der ›Wanderjahre‹ gehorcht also einem Prinzip der semantischen Wandelbarkeit, das auch bei der textimmanenten Thematisierung des titelgebenden Begriffs der ›Wahlverwandtschaften‹ in der chemischen Gleichnisrede deutlich hervortritt. Doch die Analogie reicht noch weiter: Ebenso wie dem Begriff der »Wahlverwandtschaft« hat Goethe nämlich auch dem Kästchenmotiv der ›Wanderjahre‹ eine poetologisch-selbstreflexive Dimension eingeschrieben. Nicht zufällig wird es als »Prachtbüchlein« bezeichnet und mit einem »Oktavband« verglichen (302). Die am Beispiel des Kästchens und seiner hilflosen Interpretin Hersilie verhandelte Unabschließbarkeit des Verstehensprozesses bildet eine wichtige Grundlage der Ästhetik des späten Goethe, der in Bezug auf seinen ›Faust‹ gerade die irreduzible Polyvalenz als entscheidendes Faszinosum eines dichterischen Werks bestimmt: ,,[E]ben dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie mühen sich

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Die relationale Bestimmtheit von Bedeutung beschreibt auch ein Aphorismus aus den »Betrachtungen im Sinne der Wanderer«, indem er für die bildende Kunst folgende ästhetische Gesetzmäßigkeit feststellt: »Die Blume gewinnt erst ihren Reiz durch das Insekt, das ihr anhängt, durch den Tautropfen, der sie befeuchtet, durch das Gefäß, woraus sie allenfalls ihre letzte Nahrung zieht. Kein Busch, kein Baum, dem man nicht durch die Nachbarschaft eines Felsens, einer Quelle Bedeutung geben, durch eine mäßige einfache Ferne größern Reiz verleihen könnte« (S. 284f., meine Hervorhebung). Vgl. dazu S. 64–72 der vorliegenden Studie.

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daran ab, wie an allen unauflösbaren Problemen«.143 Gerade die Konstruktion von Ambiguitäten und Ambivalenzen, die sich dem Zugriff festlegender Interpretation verweigern, stimuliert den Versuch einer hermeneutischen Sinnfindung. Dem entspricht Hersilies sehnlicher, aber vergeblicher Wunsch, daß hinsichtlich des Kästchens »eine Deutung vorgehe, was damit gemeint sei« (658).144 Eine von der Forschung bislang noch nicht berücksichtigte mythologische Referenz verknüpft die intratextuelle Kästchen-Interpretin der ›Wanderjahre‹ mit jenem antiken Gott, der im Rahmen seiner Tätigkeit als Götterbote auch mit der Auslegung der göttlichen Botschaften betraut war und daher als etymologischer Patron der Hermeneutik gilt.145 Wie Ovids ›Metamorphosen‹ berichten,146 verliebte sich Hermes in Herse, eine Tochter des Königs Kekrops, die unter anderem wegen dieser ›hermetischen Liaison‹ eine wichtige Bezugsfigur für Goethes Hersilie darstellt.147 Der untergründige

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Gespräch mit Eckermann vom 3. Januar 1830. In: Goethes Gespräche. Bd. 4, 186–187, hier S. 187. In der Forschung wurde immer wieder versucht, dem Wunsch Hersilies zu folgen und eine letztgültige Bedeutung des Kästchens zu fixieren. So reduzieren etwa Friedrich Ohly und Hannelore Schlaffer die Semantik des Kästchens einseitig auf den erotischen Bereich und stellen es in den Kontext der eleusinischen Mysterien (Friedrich Ohly: Zum Kästchen in Goethes ›Wanderjahren‹. In: Zs. für deutsches Altertum und deutsche Literatur 91 [1961/1962], S. 255–262; Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos. Stuttgart 1989, S. 175). Für Volker Dürr fungiert das Kästchen als »Schlüssel zu Goethes Pädagogik«, die durch ein »hintergründiges Spiel mit dem Geheimnis« charakterisiert sei (Volker Dürr: Geheimnis und Aufklärung. Zur pädagogischen Funktion des Kästchens in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. In: Monatshefte 74 [1982], S. 11–19, hier S. 15f.). Auch Helmut Merkl versucht, eine einheitliche Bedeutung des Kästchens festzuschreiben, die aber aufgrund der unscharfen interpretatorischen Begrifflichkeit diffus bleibt: »Als Hülle des Gewünschten, des unmittelbar sinnlichen, genußreichen Lebens, prüft das Kästchen Kraft, Mut, Stärke des Verlangens nach dem Leben, nach der Liebe bis hin zur Aufhebung des Begehrens, zur Selbstüberwindung« (Helmut Merkl: Die Hülle des Gewünschten als Gegenstand der Wunscherfahrung. Die Kästchen-Episode in Goethes ›Wanderjahren‹. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 47 [1997], S. 65–75, hier S. 74). Wesentlich differenzierter argumentiert Wilhelm Emrich, der überzeugend skizziert, wie das Kästchen die verschiedenen inhaltlichen Bezirke des Romans leitmotivisch miteinander verknüpft und auf diese Weise verschiedene Bedeutungsaspekte in sich vereinigt. Der Emrichs Studie zugrundeliegende Goethesche Symbolbegriff, der von einem Realkonnex zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem ausgeht, verhindert allerdings eine überzeugende interpretatorische Auswertung der zutreffend konstatierten semantischen Polyvalenz des Kästchen-Zeichens. Die irritierende Vieldeutigkeit des Kästchens wird in einer dialektischen Argumentationsfigur aufgehoben und zu einem »Schlüssel« erklärt, der den gesamten Roman aufzuschließen und seinen »Wahrheitsgehalt« freizulegen vermag. Auf diese Weise spricht Emrich dem Kästchen-Zeichen auf einer höheren Ebene doch wieder jene Eindeutigkeit zu, die Goethes Text gerade subvertiert (Wilhelm Emrich: Das Problem der Symbolinterpretation im Hinblick auf Goethes ›Wanderjahre‹, S. 64). Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. 12 Bde. Bd. 3. Hg. v. Joachim Ritter. Basel 1974, Sp. 1061–1073, hier Sp. 1061 f. Ovid: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Michael v. Albrecht. Stuttgart 1994. Liber secundus, v. 708–832. Ähnlich wie in der Hersilie-Handlung der ›Wanderjahre‹ spielt auch innerhalb der Herse-Mythe der verborgene Inhalt eines Kästchens eine entscheidende Rolle. Die Göttin Athene ver-

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Zusammenhang zwischen dem Kästchen und der Verstehensthematik reicht somit bis in die mythologische Tiefenschicht der ›Wanderjahre‹ hinein. In welcher Relation steht nun aber die beschriebene interpretatorische Unverfügbarkeit des Kästchens zu den auf ökonomische Effizienz und utilitaristische Funktionalisierung ausgerichteten Gesellschaftsformationen, die zumindest die Rahmenhandlung der ›Wanderjahre‹ über weite Strecken prägen? Die Bedeutungsoffenheit des Kästchens verrät einen auffälligen Kontrast zu den auf Eindeutigkeit angelegten Zeichensystemen, mit denen innerhalb der utilitaristischen Gesellschaftsformationen operiert wird. Besonders deutlich zeigt sich dies an den Signifikationspraktiken in der Pädagogischen Provinz, die, wie oben bereits gezeigt, durch die Metapher eines gelingenden »Aufschließens« kontrastiv mit dem Kästchen-Zeichen verknüpft werden.148 Darüber hinaus steht insbesondere ein Leitmotiv der ›Wanderjahre‹, das ebenfalls der utilitaristischen Sphäre zuzuordnen ist, in einem deutlichen Gegensatzverhältnis zum Kästchen: das Wundarztbesteck Wilhelms. Eine Verbindung zwischen Kästchen und Wundarztbesteck ergibt sich dadurch, daß sie beide für den Leser ein Geheimnis darstellen. Hierbei zeigt sich jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen Kästchen und Wundarztbesteck: Während das Geheimnis des ersteren grundsätzlich nicht zugänglich ist, resultiert dasjenige des letzteren bloß aus einem bewußten Informationsaufschub des Redaktors, der dem Leser erst nach langer Verzögerung verrät, worum es sich bei jenem »Fetisch«, der »halb wie eine Brieftasche, halb wie ein Besteck aussah«, eigentlich handelt (299).149 Der Gegensatz zwischen diesen beiden Gegenständen reicht indes noch weiter: Die Bedeutung des Wundarztbestecks wird im Verlauf seiner Geschichte einem semantischen Wandel unterworfen, der es in die Sphäre der Nützlichkeit integriert: Aus einem Erinnerungs-Zeichen, das für Wilhelm den »Augenblick« bezeugt, wo sein »Glück begann«, wird ein rein funktional definiertes Instrument, das ganz in seinem »Gebrauch« aufgeht (554). Das Kästchen hingegen läßt sich nicht funktionalisieren und bleibt innerhalb der utilitaristischen Gesellschaftsformationen ein Fremdkörper.

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birgt Erichthonios, einen Knaben mit einem Schlangenunterleib, in einer verschlossenen Kiste, die sie Herse und ihren beiden Schwestern anvertraut. Als diese trotz des Verbots der Göttin die Kiste öffnen, erschrecken sie über den Anblick des kleinen Erichthonius so sehr, daß sie wahnsinnig werden und sich von der Akropolis stürzen. Die katastrophalen Konsequenzen des Blicks ins Kästchen, wie ihn Herse und ihre Schwestern wagen, finden ihren Widerhall in jenen Worten, mit denen der Goethesche Goldschmied das Kästchen der ›Wanderjahre‹ vor den neugierigen Blicken Hersilies verschließt: »An solche Geheimnisse sei nicht gut rühren« (743). Vgl. dazu S. 190f. der vorliegenden Studie. Erst im elften Kapitel des zweiten Buchs erfährt der Leser, daß dieser merkwürdige Gegenstand ein Wundarztbesteck ist (vgl. 553f.).

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Daß das Kästchen zur Ideologie der Nützlichkeit in einem Oppositionsverhältnis steht, zeigt sich auch an seiner Situierung innerhalb des Figurenensembles der ›Wanderjahre‹. Bei den Vertretern der utilitaristischen Sphäre stößt es nämlich eher auf Desinteresse: Wilhelm ist im dritten Buch »zu ernstlich beschäftigt, als daß ihn auch nur die mindeste Neugierde, was in jenem Kästchen befindlich sein möchte, hätte reizen dürfen« (600). Und auch der Oheim kann mit der Bedeutungsoffenheit des Kästchens, das sich weder einem »frühern Besitzer oder Künstler« zuordnen läßt noch als Erinnerungszeichen für eine »historische Merkwürdigkeit« entschlüsselt zu werden vermag, kaum etwas anfangen und qualifiziert es daher als »ihm [...] völlig unnütz und ohne Interesse« (657). Dagegen sind gerade diejenigen Figuren des Romans mit dem Kästchen verknüpft, deren Verhalten der allgegenwärtigen Nützlichkeitsideologie zuwiderläuft: Nicht zufällig findet sich der Schlüssel des Kästchens ausgerechnet in der Jacke des kleinen Fitz (vgl. 597), der im Bereich des Oheims als Störenfried gilt und den Versuchen, »seiner habhaft zu werden«, geschickt entgeht (307). Mit Felix und Hersilie stehen dann gerade jene beiden Gestalten in enger Beziehung zum Kästchen, die sich auf je eigene Weise dem Kreis der Entsagenden und seinen eindeutigen Zeichenordnungen entziehen.150 Die Grußgeste, die in der Pädagogischen Provinz die erste der drei Ehrfurchten repräsentieren soll, wird von Felix – ohne daß es ihm bewußt wäre – ironisch subvertiert, indem er das figurativ gemeinte Körperzeichen literal versteht. Er begreift seinen aufwärts gerichteten Blick nicht als allegorische Einkleidung einer ehrfurchtsvollen Empfindung vor dem, was über ihm ist, sondern beschwert sich darüber, daß er »da droben [...] nichts« sehe (415). Das pathetisch inszenierte Zeremoniell der Grußgesten insgesamt konterkariert er durch eine »schnackische Miene« (418), um schließlich durch sein Verhalten nach der Entlassung aus der Pädagogischen Provinz zu zeigen, daß die dort vertretenen erzieherischen Maximen bei ihm ohne Wirkung geblieben sind.151 Und auch Hersilie opponiert gegen

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Diese Situierung innerhalb des Figurenensembles widerspricht der These von Barbara Thums, das Kästchen stelle als »Verschließung des Innersten« ein Symbol der Entsagung dar (Barbara Thums: Wandernde Autorschaft im Zeichen der Entsagung. Goethes ›Wanderjahre‹. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart, Weimar 2002, S. 501–520, hier S. 517). Vgl. dazu S. 191, Anm. 79 der vorliegenden Studie. – Die Tatsache, daß sich Felix den an ihn herangetragenen gesellschaftlichen Ordnungen nicht fügt, verweist zurück auf das letzte Buch der Lehrjahre, in welchem Wilhelms Sohn durch sein Verhalten die rationale Zweckgerichtetheit der Turmgesellschaft konterkariert. Schon dort läßt Felix alle auf seine Person gerichteten Erziehungsversuche fehlschlagen: Wilhelm »war nicht imstande, [dem Kind] eine Richtung zu geben, die es nicht selbst nahm, und sogar die Unarten, gegen die Aurelie so viel gearbeitet hatte, waren, so schien es, nach dem Tode dieser Freundin alle wieder in ihre alten Rechte getreten« (Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 882). Auf der Ebene des Handlungszusammenhangs scheint der Text dem Ungehorsam von Wilhelms Sohn in gewisser Weise Recht zu geben: Immerhin verdankt Felix der hartnäckigen Weigerung,

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die Sphäre von Ökonomie und Effizienz: Während Juliette und Wilhelm die Maximen des Oheims, der seine Besitzungen dem Gesetz rücksichtsloser Profitmaximierung unterstellt, »recht wahr [...] finden« und sie auf einen in ihnen enthaltenen feststehenden »Sinn« hin auslegen, plädiert Hersilie mit ihrer feministisch-subversiven Lektüre des Spruchs »vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen« für eine offenere Art der Interpretation und stellt über die Maximen des Oheims insgesamt fest, »daß man sie alle umkehren kann und daß sie alsdann ebenso wahr sind, und vielleicht noch mehr« (328f.). Die Situierung innerhalb des Figurenensembles verleiht dem konzeptionellen Stellenwert des Kästchens innerhalb der ›Wanderjahre‹ eine distinkte Kontur: Es erscheint als ein verdeckter Gegenentwurf zu utilitaristischen Gesellschaftsformationen, der nicht zuletzt auf dem zentralen rezeptionsästhetischen Merkmal des offenen Kunstwerks basiert. Die semantische Polyvalenz des Kästchens, das mit einem »Oktavband« und mit einem »Prachtbüchlein« verglichen wird (302),152 gewährt einen kreativen Interpretationsspielraum und eröffnet damit ein Residuum des Poetisch-Künstlerischen inmitten einer vom Nützlichkeitsideal bestimmten Welt.

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aus dem Glas statt aus der Flasche zu trinken, sein Leben (vgl. edb., S. 985f.). Darüber hinaus stellt Felix als spielendes Kind ein durchaus positiv konnotiertes Gegenbild zur finalistischen Lebensweise der Erwachsenen dar: »Der Knabe war mit einem neuen Spielwerke beschäftigt, der Vater suchte es ihm besser, ordentlicher, zweckmäßiger einzurichten; aber in dem Augenblicke verlor auch das Kind die Lust daran. ›Du bist ein wahrer Mensch!‹, rief Wilhelm aus; ›komm, mein Sohn! komm, mein Bruder, laß uns in der Welt zwecklos hinspielen, so gut wir können!‹« (ebd., S. 950). Daß Goethe selbst einer solchen zweckfreien Existenzform zeitweilig keineswegs ablehnend gegenüberstand, zeigt seine Äußerung gegenüber Riemer aus dem Jahr 1807: »Nur nichts als Profession getrieben! Das ist mir zuwider. Ich will alles, was ich kann, spielend treiben [...]. So hab’ ich in meiner Jugend gespielt unbewußt; so will ich’s bewußt fortsetzen durch mein übriges Leben. Nützlich? – Nutzen, das ist eure Sache« (Gespräch mit Riemer. Anfang 1807. In: Goethes Gespräche. Bd. 1, S. 472). Auf diesen Vergleich verweist auch Benjamin Bennett, der dem Kästchen der ›Wanderjahre‹ in seiner essayistischen Studie Beyond Theory einige skizzenhafte Bemerkungen widmet. Für Bennet symbolisiert der – in der zitierten Studie fälschlicherweise Hersilie statt Felix zugeschriebene – vergebliche Versuch, das Kästchen aufzuschließen, die dem Leser der ›Wanderjahre‹ abverlangte Einsicht in die Unmöglichkeit, den Inhalt eines Romans als unmittelbare Erfahrungswirklichkeit zu rezipieren (Vgl. dazu Benjamin Bennet: Beyond Theory. Eighteenth-Century German Literature and the Poetics of Irony. Ithaca, London 1993, S. 311). Ähnlich wie Bennett, aber ohne auf den Vergleich mit »Oktavband« und »Prachtbüchlein« einzugehen, bezieht auch Birgit Baldwin das Kästchen auf den Rezeptionsakt der ›Wanderjahre‹, indem sie es in der Terminologie Paul de Mans als ›Allegory of Reading‹ zu begreifen sucht (Birgit Baldwin: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ as an Allegory of Reading, S. 215) – Die Verknüpfung des Kästchens mit dem Bereich der Literatur, die Goethe in den ›Wanderjahren‹ vornimmt, findet in seinem eigenen Leben eine interessante Entsprechung. Wie Goethe in einem Brief an Boisserée vom 8. September 1831 mitteilt, hat er das Manuskript des ›Faust II‹, das erst nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte, »sorgfältig redigiert und rein geschrieben, in einem aparten Kistchen verwahrt« (Brief an J.S.M.D. Boisserée vom 8. September 1831. In: WA IV, 49, S. 63–66, hier S. 64).

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Um diese poetologisch relevante Diagnose153 zu vertiefen, bietet sich ein Vergleich zwischen dem Kästchen der Rahmenhandlung und dem in der ›Neuen Melusine‹ an, die offensichtlich in einer engen Beziehung zueinander stehen. Nicht zufällig wird das von einem Mitglied des Auswandererbundes erzählte »wahrhafte Märchen« (632) in unmittelbarer Nachbarschaft zu jenem Brief präsentiert, in dem Hersilie darüber berichtet, wie das Kästchen in ihre Hände gelangt sei. Die auf diesen Hersilie-Brief bezogene Arbeitsnotiz Goethes »Ist rückwärts und vorwärts zu betrachten« (809) zeigt deutlich, wie sehr es ihm auf die Verknüpfung der beiden Kästchen in der Rahmenhandlung und in der ›Neuen Melusine‹ ankam. Und tatsächlich weisen die zwei Kästchen einige Gemeinsamkeiten auf: Sie stehen beide in Verbindung mit einem Schlüssel, sie spielen beide eine wichtige Rolle in einer Beziehungskonstellation zwischen Mann und Frau, und sie bergen beide ein Geheimnis. Die letzte dieser drei Analogien weist freilich zugleich auf eine bedeutende Differenz hin. In der ›Neuen Melusine‹ wird das Geheimnis des Kästchens aufgelöst, in der Rahmenhandlung hingegen nicht: Während der Leser im Verlauf des Märchens erfährt, daß das Kästchen der Melusine einen Zwergenpalast enthält, bleibt der Inhalt des von Felix gefundenen Kästchens verborgen. Die Aufdeckung des Geheimnisses ist in der ›Neuen Melusine‹ mit einer fortschreitenden Depotenzierung des Kästchen-Zeichens verbunden. Zunächst erscheint das Kästchen als ein polyvalentes Zeichen, das im Kontext der realen Welt und der Märchenwelt jeweils unterschiedliche Bedeutungen besitzt. Für Rotmantel, den Geliebten der auf menschliche Maße vergrößerten Zwergenprinzessin Melusine, hat es in erster Linie eine ökonomische Funktion: er hofft, daß es »Juwelen« enthalte, die ihm aus seinen Geldproblemen heraushelfen (639, 641). Bezieht man das Kästchen hingegen auf die Märchenwelt, so fungiert es als ein Palast und somit als Zeichen einer dynastischen Herrschaftsordnung, der die Zwergin angehört. Zugleich vermittelt es auch zwischen diesen beiden Bezugsfeldern, indem es zusammen mit dem Ring eine wechselseitige Transformation zwischen realer Welt und Märchenwelt und somit die Beziehung zwischen Melusine und Rotmantel ermöglicht. Gegen Ende des Märchens ist die semantische Polyvalenz des Kästchen-Zeichens verschwunden: Es erscheint vollkommen versachlicht, wird unter rein öko153

Eine poetologische Lesart des Kästchens wird auch durch eine Motivanalogie mit dem ›Faust II‹ nahegelegt. Ebenso wie im Zusammenhang mit dem Kästchen der ›Wanderjahre‹ spielt nämlich auch im ›Faust II‹ ein Schlüssel eine wichtige Rolle. Dieser Schlüssel versinnbildlicht jene kreative Potenz, die Faust dazu befähigt, Helena in einem Akt innerer schöpferischer Ergriffenheit zu vergegenwärtigen (Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie Zweiter Teil. In: FA 7/1, S. 201–464, hier S. 256–258 u. S. 263f. [6259ff. u. V. 6439ff.]). Dieser schöpferische Akt wird in der Handschrift zum ›Faust II‹ in einer später geänderten Partie explizit mit dem »Dichter« in Verbindung gebracht (vgl. dazu Albrecht Schöne: Erläuterungen. In: FA 7/2, S. 149–1064, hier S. 486). Somit steht das Motiv des Schlüssels, das in den ›Wanderjahren‹ dem Kästchen zugeordnet wird, im ›Faust II‹ in einem poetologischen Kontext.

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nomischen Gesichtspunkten gesehen und schließlich verkauft.154 Der Text nimmt diese semantische Entleerung buchstäblich: Am Ende der ›Neuen Melusine‹ enthält das Kästchen tatsächlich nichts mehr (656). Das Kästchen der ›Neuen Melusine‹ unterliegt einer Austreibung seiner semantischen Doppeldeutigkeiten und Ambivalenzen, die mit der Sozialisationsgeschichte des Erzähler-Protagonisten in Verbindung steht: Indem dieser die märchenhafte und mythische Erfahrungswelt des Zwergenreiches hinter sich läßt, wird er zu einer gesellschaftlich integrierbaren und funktionalisierbaren Person. Sein Entwicklungsgang führt ihn aus der Welt der zweideutigen Zeichen in einen ideologisch kontrollierten Bereich, wo eindeutige Botschaften vorherrschen; aus dem Märchenhelden wird ein Mitglied des Auswandererbundes.155 Vor diesem Hintergrund gewinnt der Gegensatz zwischen den beiden Kästchen im Märchen und in der Rahmenhandlung eine besondere Relevanz. Die mit der Preisgabe des Kästchen-Geheimnisses verbundene Geschichte der ›Neuen Melusine‹ führt in die Sphäre des Auswandererbundes, während das Kästchen der Rahmenhandlung, das sein Geheimnis bewahrt, mit der Geschichte von Felix und Hersilie verbunden ist, die über das Ende des Textes hinaus offen bleibt. Diesen beiden unterschiedlichen Kästchen-Geschichten entsprechen zwei unterschiedliche Konzepte der Narration: Der Erzähler der ›Neuen Melusine‹ wird von Lenardo mit einigen Worten eingeführt, die in skizzenhafter Verdichtung eine romanimmanente Gegenpoetik der ›Wanderjahre‹ formulieren: »Sein Leben ist reich an wunderlichen Erfahrungen, die er sonst zu ungelegener Zeit schwätzend zersplitterte, nun aber, durch Schweigen genötigt, im stillen Sinne wiederholt und ordnet. Hiermit verbindet sich denn die Einbildungskraft und verleiht dem Geschehenen Leben und Bewegung« (632). Lenardo beschreibt hier einen Erzähler, der persönliche Erlebnisse einem Ordnungsprinzip unterwirft, um sie dann – durch die Zutaten einer maßvollen Imagination verlebendigt – zu einer in sich geschlossenen narrativen Darstellung zu bringen. Diese theoretischen Prämissen werden in der ›Neuen Melusine‹ beispielhaft realisiert. Ihre Faktur ist von einer linearen Zeitordnung und einer zyklischen Raum154 155

Zur ökonomischen Funktionalisierung des Melusine-Kästchens vgl. Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab, S. 280; Richard Meier: Gesellschaftliche Modernisierung, S. 89f. Den Gegensatz zwischen der Neuen Melusine und der vom Bund der Entsagenden geprägten Rahmenhandlung deutet Franziska Schößler aus einer gender-theoretischen Perspektive: Indem der Wirkungskreis der weiblichen Melusine auf die eingelagerte Erzählung beschränkt bleibe, während sich der männliche Rotmantel in die Sphäre der Rahmenhandlung integriere, werde »die Frau [...] doppelt aus- oder eingeschlossen – in das Kästchen des Hauses, Ort ihrer Verzwergung; und in den Binnenraum des Märchens, das nicht in den Raum männlich bestimmter Unternehmungen, in die Arbeitswelt, hineinreicht« (Franziska Schößler: Aufbrechende Geschlechterrivalitäten und die ›Verzwergung‹ der Frau. Zu Goethes Märchen Die neue Melusine. In: Ina Brueckel, Dörte Fuchs, Rita Morrien, Margarete Sander [Hg.]: Bei Gefahr des Untergangs. Phantasien des Aufbrechens. Fs. für Irmgard Roebling. Würzburg 2000, S. 77–90, hier S. 90).

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ordnung organisiert,156 die – im Verbund mit einer einheitlichen personalen Erzählinstanz – die ästhetische Geschlossenheit der Märchennovelle gewährleisten. Die ›Wanderjahre‹ insgesamt unterliegen jedoch anderen Baugesetzen: Die chronologische Ordnung weist zahlreiche Lücken auf, bleibt über weite Strecken unbestimmt, wird durch Binnenerzählungen aufgebrochen oder zuweilen durch synchrone Anordnungsprinzipien überlagert.157 Die Archivfiktion führt zu einer Pluralisierung der Erzählinstanzen und sorgt zugleich durch die Konstruktion eines mehrfach gestuften schriftlichen Vermittlungsgeschehens für eine Abkehr von traditionellen Prinzipien der Narration. So entsteht eine Erzählordnung, die auf Auslassungen, Brüche, Leerstellen und die Subversion von eindeutigem Sinn hin angelegt ist und den Leser im Akt der Lektüre die hermeneutischen Probleme Hersilies nachvollziehen läßt. Die einheitliche und geschlossene Bauform der ›Neuen Melusine‹, die mit der Auflösung des Kästchen-Geheimnisses einhergeht, stellt ein Gegenbild zur offenen Struktur der ›Wanderjahre‹ dar. Das Kästchen der Rahmenhandlung aber erweist sich als adäquates Abbild dieser offenen Struktur und verdeutlicht zugleich deren Gegensatzverhältnis zu jener Weltanschauung, welche die ›Wanderjahre‹ – oberflächlich betrachtet – zu propagieren scheinen. Die utilitaristischen Gesellschaftsformationen wie der Bezirk des Oheims und die Pädagogische Provinz, die auf maximale Effizienz ausgerichtet sind, operieren durchweg mit eindeutigen Zeichensystemen, die jeden subjektiven Auslegungsspielraum eliminieren. Goethes letzter Roman kann vor diesem Hintergrund als ein Text gelesen werden, der zwar auf inhaltlicher Ebene eine homogene utilitaristische Weltanschauung affirmiert, sich aber selbst in seiner Verfaßtheit als offenes Kunstwerk dieser Weltanschauung gerade entzieht.158 So erheben die ›Wanderjahre‹ einen klar vernehmbaren Einspruch gegen die unaufhaltsamen Rationalisierungs- und Uniformierungstendenzen der Moderne159 und genügen auf 156

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Die Erlebnisse Rotmantels werden in chronologischer Abfolge geschildert. Räumlich betrachtet endet die Erzählung dort, wo sie begonnen hat: bei der »Köchin, wo ihr mich zuerst habt kennen lernen« (656). Vgl. dazu Waltraud Maierhofer: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ und der Roman des Nebeneinander. Bielefeld 1990, S. 158f. sowie Norbert Christian Wolf: Die Wesenheit des Objekts bedingt den Stil. Zur Modernität des Erzählkonzepts in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹. In: Goethe-Jb. 119 (2002), S. 52–65, hier S. 58ff. Vgl. dagegen Wolf, der die formale Eigenart der ›Wanderjahre‹ als Instrument zur »objektivistische[n]« Wiedergabe moderner »Erfahrungswirklichkeit« begreift (Norbert Christian Wolf: Die Wesenheit des Objekts bedingt den Stil, S. 57 u. S. 61). Diese Lesart erscheint in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen ist schwer nachvollziehbar, wie sich das in den ›Wanderjahren‹ entfaltete Kaleidoskop verschiedenster und zum Teil untereinander widersprüchlicher Perspektiven mit der Kategorie der Objektivität vereinbaren läßt. Zum anderen entzieht die Goethesche Sprachskepsis, die – wie ich am Beispiel der chemischen Gleichnisrede aus den ›Wahlverwandtschaften‹ zu zeigen versucht habe – von einer fundamentalen Subjektivierung der Wortbedeutung ausgeht, allen sprachlich verfaßten Bemühungen um darstellerische Objektivität den repräsentationslogischen Boden. Einen ähnlichen Sachverhalt konstatiert auch Hannelore Schlaffer, die allerdings aus einem

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diese Weise jenem mit der Bezeichnungsunsicherheit und der Polyvalenz der Sprache korrelierbaren Ideal ästhetischer Sinn-Pluralität, das Goethe in Bezug auf seinen zweiten Faust propagiert: ,,[I]ndem ein poetisches Werk für viele geschrieben ist, gehören auch mehrere dazu, um es zu empfangen; da es viele Seiten hat, sollte es auch jederzeit vielseitig angesehen werden«.160

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gänzlich anderen Blickwinkel argumentiert: Für Schlaffer wird das Ende der Kunst in der utilitaristischen Moderne, das auf der Handlungsebene der Wilhem Meister-Romane thematisiert wird, durch die mythologischen Anspielungshorizonte des Textes konterkariert: »In den versteckten mythischen Bildern siegt endlich doch die Poesie über die Prosa« (Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister, S. 5). Johann Wolfgang Goethe: Brief an C.L. Knebel vom 14. November 1827. In: WA IV, 43, S. 166–169, hier S. 167.

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