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German Pages 291 [293] Year 2010
Günter Saße Auswandern in die Moderne linguae & litterae
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linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies
Edited by
Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Erika Greber (Erlangen) · Ekkehard König (Berlin) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Pieter Muysken (Nijmegen) Wolfgang Raible (Freiburg) Editorial Assistant Aniela Knoblich
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De Gruyter
Günter Saße
Auswandern in die Moderne Tradition und Innovation in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022553-2 e-ISBN 978-3-11-022554-9 ISSN 1869-7054 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
V
Inhaltsverzeichnis
I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1. 2.
Zur Genese des Wilhelm Meister-Komplexes . . . . . . . . . . Die Modernisierungsproblematik in Faust II und Wilhelm Meisters Wanderjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Eine Arbeit wie diese, die sich selbst als collectiv ankündiget«: Zum narrativen Organisationsprinzip der Wanderjahre . . . . »Daß jeder sich zueigne was ihm gemäß ist«: Die von den Wanderjahren geforderte Rezeptionshaltung . . .
1
3. 4.
8 16 24
II.
Joseph der Zweite: Inszenierte Tradition als Zuflucht vor der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
1. 2. 3. 4.
Enttäuschte Erwartungen . . . . . . . . . . Das Leben Josephs als imitatio . . . . . . . . Das ironische Arrangement des Redaktors . Wilhelm Meisters »Abschied aus der Familie«
. . . .
28 30 36 41
III. Von der Bildung zur Ausbildung: Die Pädagogische Provinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
1. 2. 3.
Die Ehrfurchtslehre als Sinnsurrogat . . . . . . . . . . . . . Kunst als Medium sozialer Integration . . . . . . . . . . . . Die Unterordnung der theoretischen Erkenntnis unter das praktische Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV.
»Die Sehnsucht verschwindet im Tun und Wirken«: Wilhelm Meisters Reise an den Lago Maggiore . . . . . . 90
1.
Die Überwindung der Sehnsucht durch ihre ästhetische Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Zum Erzählverfahren der Lago Maggiore-Episode . . . . . . 103
2.
50 66 80
VI
V.
Vom schönen Körper zum nützlichen Muskelpräparat: Wilhelm Meisters Weg zum Beruf des Wundarztes . . . . 113
1.
Wilhelms Meisters Pubertätstrauma als Motivation seiner Berufswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Die Überführung der bildenden Kunst in die plastische Anatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
2.
VI. Die funktionale Integration des ›Esoterischen‹ in das ›Exoterische‹: Die ambivalente Figur der Makarie . . 139 1. 2. 3.
Makarie als hermeneutisches Problem . . . . . . . . . . . . . 139 Die kosmologische Konzeption der Makarie-Figur . . . . . . 149 Makarie als Psycho- und Sozialtherapeutin . . . . . . . . . . 154
VII. Die »Verflechtung des streng-trocknen Technischen mit ästhetisch-sentimentalen Ereignissen«: Lenardos Überwindung emotionaler Verstrickungen durch planende Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. 2. 3. 4.
Lenardos traumatisches Erlebnis mit dem »nußbraunen Mädchen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lenardos Tagebuch als Fortsetzung der Novelle . . . . . . . . Die Ästhetisierung der Lebensform der Spinner und Weber als ›Entschuldungsstrategie‹ Lenardos . . . . . . . . . . . . Das »überhand nehmende Maschinenwesen« als Dementi des schönen Scheins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 159 . 168 . 176 . 188
VIII. »Etwas muß getan sein in jedem Moment«: Der funktionale Mensch im amerikanischen und europäischen Siedlungsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. 2. 3. 4. 5.
Mobilität als Signum der Moderne: Lenardos Auswanderungsrede . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gesang als Manipulationsmedium . . . . . . . . . . . . Die Gemeinschaftskonzeption des Auswandererbundes . . »Die strenge Kunst [muß] der freien zum Muster dienen«: Die Unterordnung der Kunst unter das Handwerk in Odoards Binnenkolonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kolonisationsprojekte als zeitdiagnostische Paradigmen
. 199 . 203 . 212 . 223 236
VII
IX. Die ästhetische Reflexion der Moderne in den Wilhelm Meister-Romanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. 2. 3. 4.
Der Selbstbehauptungsversuch moderner Subjektivität in den Lehrjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Funktionalisierung des Individuums in den Wanderjahren Der Preis der Entsagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstkonzeption und Autorintention . . . . . . . . . . . .
X.
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
1. 2. 3.
Werkausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
. . . .
240 244 249 256
XI. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
VIII
1
I. Einleitung
1. Zur Genese des Wilhelm Meister-Komplexes Als Goethe 1829 die zweite Fassung seines Romans Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden publizierte, fand seine mehr als ein halbes Jahrhundert währende Beschäftigung mit dem Wilhelm Meister-Komplex ein, wenn auch pointiert als vorläufig ausgewiesenes Ende. Die Schlußzeile »(Ist fortzusetzen.)« (774)1 bezeugt dabei jedoch nicht etwa Goethes Unbehagen an den bisherigen Versuchen,2 das ›unorganische Gebilde‹ zu einem gelungenen Abschluß zu führen, sondern verweist retrospektiv gerade auf die konzeptionelle Offenheit seines Altersromans. Als erster konkreter Nachweis von Goethes Arbeit am Wilhelm Meister findet sich in seinem Tagebuch unter dem 16. Februar 1777 die lakonische Notiz: »Zu Seckend[orf] Schrötern mit ihr gessen, zu Wieland viel geschwäzzt. In Garten dicktirt an W. Meister. Eingeschlafen.« (WA III/1, 34) Zwischen 1777 und 1786, dem Jahr seines fluchtartigen Aufbruchs nach Italien, kommt Goethe sowohl im Tagebuch als auch in Briefen in eher unregelmäßigen Abständen auf die Arbeit an seinem Werk zu sprechen. So schreibt er etwa am 3. September 1785 an Charlotte von Stein: »Könnte ich nur indessen meinen Wilhelm ausschreiben! das Buch wenigstens, ich habe das Werck sehr lieb, nicht wie es ist, sondern wie es werden kann.« (WA IV/7, 84) Auch in Italien widmet er sich seinem Romanprojekt. Mit dem 1
2
Zitate aus den Wanderjahren werden nach der zweiten Fassung von 1829 unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen (abgedruckt in: FA 10, S. 261–774). Wird auf die erste Fassung von 1821 (abgedruckt in: FA 10, S. 9–259) Bezug genommen, so ist dies vorab vermerkt. Zur vieldiskutierten Schlußzeile des Romans »(Ist fortzusetzen.)« siehe Karl Viëtor: Goethe’s Gedicht auf Schiller’s Schädel, in: PMLA 59 (1944), S. 142–183, bes. S. 173–183; siehe auch Franz Heinrich Mautner, Ernst Feise, Karl Viëtor: »Ist fortzusetzen«. Zu Goethes Gedicht auf Schillers Schaedel, in: ebd., S. 1156– 1172; Karl Viëtor: Zur Frage einer Fortsetzung … (Antwort), in: PMLA 60 (1945), S. 421–426; zu Goethes vermutlich erster Auseinandersetzung mit dem Wilhelm Meister-Stoff um 1773 siehe Hellmuth Himmel: Die Urmeister-Frage, in: JbWGV 77 (1973), S. 64–88; vgl. auch den Kommentar FA 9, S. 1134.
2 14. Kapitel des Sechsten Buches bleibt das bisherige Unternehmen aber schließlich als Fragment liegen; bekanntlich wurde es erst wieder 1910 im Nachlaß von Barbara Schultheß als Theatralische Sendung aufgefunden.3 Vermutlich trug Goethes Begegnung mit Karl Philipp Moritz in Rom dazu bei, daß er seine Konzeption im Herbst 1786 neu durchdachte und Wilhelms ›Berufung‹ zum Theater durch die Einführung der Turmgesellschaft konterkarierte – analog zu Moritz’ Roman Anton Reiser, der die theatralischen Ambitionen seines Titelhelden als fragwürdige Kompensationen darstellt.4 Zu Beginn des Jahres 1791 nimmt Goethe die Arbeit am Wilhelm MeisterProjekt zwar erneut auf, bricht sie jedoch kurz darauf abermals ab, um sich ihm erst gegen Ende 1793 wieder entschiedener zuzuwenden. »Man muß sich mit Gewalt an etwas heften.« (WA IV/10, 131) – mit diesen Worten teilt er am 7. Dezember 1793 Carl Ludwig Knebel seinen Entschluß zur Fortführung mit. Er setzt sich selbst unter Arbeitszwang, indem er einen Vertrag mit dem Berliner Verleger Johann Friedrich Unger schließt, ohne ihm freilich Titel und Inhalt des erwarteten Werkes mitzuteilen. Als Schiller Goethe kurz darauf bittet, ihm seinen Wilhelm Meister zum Abdruck in den Horen zu überlassen, muß er bedauernd ablehnen: Er sei schon mit Unger einig geworden. Auch wenn Goethe dem Publikationswunsch des Freundes nicht mehr zu entsprechen vermag, will er ihn doch produktiv an der Entstehung des Werkes beteiligen. »Seinen Roman«, so berichtet Schiller an Christian Gottfried Körner, »will er mir Bandweise mittheilen, und dann soll ich ihm allemal schreiben, was in dem künftigen stehen müsste, und wie es sich verwickeln und entwickeln werde. Er will dann von dieser anticipirenden Critik Gebrauch machen, ehe er den neuen Band in den Druck giebt.«5 Zu dieser Art von Co-Autorschaft, die Schiller ein dezidiertes Mitspracherecht bei der Romankonzeption einräumt, ist es allerdings nicht gekommen. Zumindest deutet nichts darauf hin, wenn man sich Schillers Briefe an Goethe ansieht, in denen er anfänglich zu den Teil3
4 5
Siehe hierzu Wilhelm Voßkamp: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung, in: Goethe-Handbuch, Band 3: Prosaschriften, hrsg. von Bernd Witte und Peter Schmidt, Stuttgart, Weimar 1997, S. 101–113; zur Überlieferung der Theatralischen Sendung siehe Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim 1994, S. 328–330. Siehe hierzu Hee-Ju Kim: Ich-Theater. Zur Identitätsrecherche in Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser, Heidelberg 2004, bes. S. 95–135. Schiller an Christian Gottfried Körner, Brief vom 9. Oktober 1794, in: FA/ Schiller 11, S. 742; zu Einzelheiten der Auseinandersetzung zwischen Goethe und Schiller um den Meister-Roman siehe Günter Saße: »Gerade seine Unvollkommenheit hat mir am meisten Mühe gemacht«. Schillers Briefwechsel mit Goethe über Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: GJb 122 (2005), S. 76–91.
3 publikationen des Romans, bald darauf auch zu den Manuskripten und Entwürfen einzelner Kapitel Stellung nimmt. Mag sich Schillers Anteil an der Entstehung der Lehrjahre auch auf eine kritische Sichtung des von Goethe Vorgelegten beschränken, so notiert dieser doch fast drei Jahrzehnte später (1824) unter dem Abschnitt 1795 in seinen Tag- und Jahresheften: »Schillers Theilnahme [sei] die innigste und höchste« gewesen. (FA 17, 43f.) Enthusiasmus, Lektorierung, Sinnfixierung – so läßt sich stichwortartig die Linie punktieren, auf der sich Schillers fast zweijährige Auseinandersetzung mit Goethes Roman bewegt. Dankbarkeit, Akzeptanz, Ironie – dies sind die entsprechenden Reaktionen Goethes hierauf. Vor allem entzieht er sich Schillers Wunsch nach auktorialen Direktiven, die verdeutlichen, worauf es ankommt; statt dessen beläßt er alles im Spiel narrativer Vermittlungen. Was im Roman auf den ersten Blick den Anschein einer ex-cathedra-Aussage erweckt, unterliegt bei genauerem Hinsehen figurenperspektivischer Brechung, charakterisiert eher denjenigen, der etwas aussagt, als das, was er aussagt, und wird vom Kontext und Handlungsverlauf wiederholt relativiert. Doch Schiller fordert vehement ein Telos, das er zunächst darin sieht, daß Wilhelm Meister »von einem leeren und unbestimmten Ideal in ein bestimmtes thätiges Leben [tritt], aber ohne die idealisierende Kraft dabey einzubüßen.«6 Da er allerdings erkennt, daß dieser Entwicklungsgang nicht auf den Roman zu übertragen ist, zieht er sich auf das Argument zurück, daß der Lebensweg des Protagonisten keineswegs abgeschlossen sei. Folglich bedürfe es eines Fortsetzungsromans, um Wilhelms ›Vollendung‹ darzustellen. Denn, so schreibt Schiller an Goethe am 8. Juli 1796: »Lehrjahre sind ein Verhältnißbegriff, sie fordern ihr Correlatum, die Meisterschaft.«7 In diesem Fortsetzungsroman müsse es darum gehen – wie er ihm am nächsten Tag mitteilt –, daß der Held die in den Lehrjahren noch nicht erreichte Vollkommenheit erlangt, jene »ästhetische Reife«, die den »Zögling mit vollkommener Selbständigkeit, Sicherheit, Freiheit und gleichsam architectonischer Festigkeit« ausstattet.8 Goethe reagiert auf Schillers Wunsch nach einer »etwas deutlichere[n] Pronunciation der HauptIdee«9 ironisch. Er könne aufgrund seines »realistischen Tic[s]« (WA IV/11, 121) gar nicht anders, als alle eindeutigen Setzungen subversiv zu unterlaufen. Während Schiller dafür plädiert, es müsse sich in der Fortsetzung des Romans alles runden, verdeutlicht schon Goe6 7 8 9
Schiller an Goethe, Brief vom 8. Juli 1796, in: FA/Schiller 12, S. 194. Schiller an Goethe, Brief vom 8. Juli 1796, ebd., S. 191. Schiller an Goethe, Brief vom 9. Juli 1796, ebd., S. 200. Schiller an Goethe, Brief vom 19. Oktober 1796, ebd., S. 224.
4 thes 1821 veröffentlichte erste Fassung der Wanderjahre, daß der Held keinen Schritt auf dem Weg zu jener Meisterschaft vorangekommen ist, die Schiller ihm in Aussicht gestellt hat. Im Gegenteil: Wir finden ihn nicht einmal als glücklichen Familienvater wieder, der mit Natalie und Felix in trauter Harmonie lebt. Statt dessen folgt er einem ominösen Wandergebot, das ihn nötigt, nicht länger als drei Tage an einem Ort zu bleiben (siehe 24). Sein Sohn Felix ist nur noch für kurze Zeit an seiner Seite, bis er ihn wegen eines Suchauftrags in der Pädagogischen Provinz abgibt. Mit Natalie wechselt er in der zweiten Fassung der Wanderjahre von 1829 lediglich Briefe – und selbst das nur selten; ob er sich später mit ihr, die schon nach Amerika ausgewandert ist (siehe 720), verbinden wird, läßt der Roman offen. Was Schiller vom Fortsetzungsroman vor allem erwartete, nämlich Wilhelm Meisters Vollendung in der Meisterschaft »ästhetischer Reife«, negieren die Wanderjahre auf vielfältige Weise – grundsätzlich schon dadurch, daß sie den Begriff der Meisterschaft auf den entgegengesetzten Gesichtspunkt handwerklichen Spezialistentums beziehen. Doch bereits am Ende der Lehrjahre verändert sich der Tenor; selbst hier geht es nicht mehr um Entfaltung, Vollendung und Bildung, sondern um Rücknahme, Integration und Nützlichkeit. So fordert Jarno im vorletzten Buch der Lehrjahre programmatisch, was dann in den Wanderjahren – nicht nur an Wilhelm – ›exekutiert‹ wird: die Einordnung in die Gemeinschaft, in der der Einzelne als brauchbares Mitglied zu fungieren hat: Es ist gut, daß der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke, daß er alles möglich zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer größern Masse verlieren lernt, wenn er lernt um anderer willen zu leben, und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. (FA 9, 871)
Doch in der Turmgesellschaft bleibt fast alles Gedankenspiel; hier wird viel geredet, aber wenig gehandelt. Goethe mag dabei allerdings schon an den Fortsetzungsroman gedacht haben, der dann viel stärker die soziale Welt mit ihren Zwängen und Verpflichtungen in den Fokus rückt. Zumindest hat er bereits vor Beendigung der Lehrjahre »eine Fortsetzung des Werks« erwogen, wie er Schiller am 12. Juli 1796 mitteilt: Über den Roman müssen wir nun nothwendig mündlich conferiren. […] bey jenem wird die Hauptfrage seyn: wo sich die Lehrjahre schließen, die eigentlich gegeben werden sollen, und in wie fern man Absicht hat, künftig die Figuren etwa noch einmal auftreten zu lassen. Ihr heutiger Brief deutet mir eigentlich auf eine Fortsetzung des Werks, wozu ich denn auch wohl Idee und Lust habe, doch davon eben mündlich. Was rückwärts nothwendig ist muß ›gethan‹ wer-
5 den, so wie man vorwärts ›deuten‹ muß, aber es müssen Verzahnungen stehen bleiben, die, so gut wie der Plan selbst, auf eine weitere Fortsetzung deuten. (WA IV/11, 125)
Entsprechend erwähnt Goethe bereits im Februar 1797 »das Mährchen mit dem Weibchen im Kasten« (WA IV/12, 30), das später unter dem Titel Die neue Melusine in die Wanderjahre eingefügt wird. Ebenfalls berichtet er seinem Verleger Johann Friedrich Cotta am 27./28. Mai 1798, er überlege, »Briefe eines Reisenden und seines Zöglings, unter romantischen Nahmen, sich an Wilhelm Meister anschließend« (WA IV/13, 166), in den Propyläen zu veröffentlichen. Zwei Jahre später erkundigt er sich im Brief vom 10. Mai 1799 an Johann Heinrich Meyer nach der »gewöhnliche[n] Suite von Gemählden wenn die Geschichte des heiligen Josephs des Pflegevaters vorgestellt wird.« (WA IV/13, 87) Dies bildet die eigentliche Keimzelle für die Anfangsnovelle der Wanderjahre, die in beiden Fassungen mit der Geschichte Josephs des Zweiten einsetzen. Im Tagebuch vom 17. Mai 1807 hält Goethe dann den Beginn seiner konkreten Beschäftigung mit den Wanderjahren fest: »Morgens um 1⁄2 7 Uhr angefangen, von Wilhelm Meisters Wanderjahren das erste Capitel zu dictiren.« (WA III/3, 210) Während seines längeren Aufenthalts in Karlsbad im Sommer 1807 arbeitet er einzelne Passagen und Erzählungen aus10 und beginnt auch mit den Wahlverwandtschaften, die er zu diesem Zeitpunkt noch als Binnenerzählung in die Wanderjahre integrieren will. Seit Ende November 1809 beschäftigt sich Goethe sehr intensiv mit den Wanderjahren, erwähnt im Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer (23. November 1809) »neue Motive zu dem Roman«,11 von dem er zu diesem Zeitpunkt noch glaubt, »zu Ostern den ersten Theil« (WA IV/21, 140)12 herausgeben zu können. Während seines Sommeraufenthalts in Karlsbad im Jahr 1810 wendet er sich dann erneut seinem Romanvorhaben zu, muß jedoch am 16. November 1810 gegenüber seinem Verleger bekennen, daß »über [sein] Wandern die Wanderjahre in’s Stocken gerathen« seien.13 Er behilft sich mit einer Reihe von Vorver10 11
12 13
Es handelt sich um Die neue Melusine, Die gefährliche Wette und den ersten Teil des Mannes von funfzig Jahren. Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Aufgrund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hrsg. von Wolfgang Herwig, Band 2, Zürich, Stuttgart 1969, S. 485. Goethe an Charlotte von Stein, Brief vom 24. November 1809. Goethe an Johann Friedrich Cotta, Brief vom 16. November 1910, in: Goethe und Cotta. Briefwechsel 1797–1832. Textkritische und kommentierte Ausgabe in drei Bänden, hrsg. von Dorothea Kuhn, Band 1, Stuttgart 1979, S. 215.
6 öffentlichungen einzelner Erzählungen in Cottas Taschenbuch für Damen, die zwischen 1808 und 1818 zur Gänze oder in Teilabdrucken publiziert werden.14 Erst seit Oktober 1820 arbeitet Goethe wieder energischer an seinem Buch. Am 9. Dezember 1820 schreibt er an Sulpiz Boisserée: Der Druck von Wilhelm Meisters Wanderjahren wird nun auch angefangen. Es kommt mir sehr wunderbar vor, ein zwanzigjähriges Manuscript, an das ich bisher kaum gerührt, redigirend abzuschließen. Es erscheint mir als ein wiederkehrender Geist, freylich jugendlicher und liebenswürdiger als der jetzige Autor und die jetzige Zeit. (WA IV/34, 37f.)
Während einzelne Teile des Romans in Druck gingen, war Goethe noch mit der Abfassung der letzten beiden Kapitel beschäftigt; doch am 22. Mai 1821 notiert er: »Erstes Exemplar von den Wanderjahren geheftet.« (WA III/8, 58) Der Untertitel lautet: Ein Roman / von / Goethe. / Erster Theil – ein Hinweis darauf, daß Goethe ursprünglich zumindest noch einen zweiten Teil geplant hatte. Schon vor Fertigstellung der ersten Fassung waren die »notwendigen Fortsetzungen durchgedacht und schematisirt« (WA III/8, 11), wie er in seinem Tagebucheintrag vom 26. Januar 1821 vermerkt. Doch es kommt zu keinem zweiten Band. Vielleicht hat sich die kritische Aufnahme15 der ersten Fassung hemmend auf Goethes Produktivität ausgewirkt, auch mag der anonym in fünf Teilen und zwei Beilagen unter dem Titel Wilhelm Meisters Wanderjahre zwischen 1821 und 1828 erschienene Roman von Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen16 Goethes wei14
15
16
Siehe hierzu Wolfgang Bunzel: Poetik und Publikation. Goethes Veröffentlichungen in Musenalmanachen und literarischen Taschenbüchern. Mit einer Bibliographie der Erst- und autorisierten Folgedrucke literarischer Texte Goethes im Almanach (1773–1832), Weimar, Köln, Wien 1997, S. 188–199 und S. 206–219. Entsprechende Rezeptionsdokumente finden sich in: Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre, hrsg. von Klaus F. Gille, Königstein i.Ts. 1979, S. 99–118; Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Band 1: 1773–1918, München 1980, S. 65–85; siehe auch die Kommentare FA 10, S. 888–915 und MA 17, S. 1028–1049. Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 5 Bände, neue, verbesserte Aufl., Quedlinburg, Leipzig 1823–1828; Klaus F. Gille charakterisiert Pustkuchens Roman wie folgt: Pustkuchen gehe in seiner Kritik von der »Plan- und Ziellosigkeit von Wilhelms bisherigem Lebensgang und [der] Ergebnislosigkeit seiner Bildungsbemühungen bei der Turmgesellschaft [aus].« Die Turmgesellschaft wird wegen ihrer Schulmeisterei und Mystifikationen kritisiert und die Verbindung mit Natalie als ein »unwürdiges Kompensationsgeschäft« hingestellt, »dessen Konsequenzen Natalie dadurch für sich mildert, daß sie ihren Verlobten auf Reisen schickt.« K. F. G.: Wilhelm Meister im Urteil der Zeit-
7 tere Beschäftigung mit seinem Wilhelm Meister-Projekt zunächst blockiert haben, wie Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz im Kommentar zur Frankfurter Ausgabe vermuten.17 Goethe selbst verweist allerdings in seiner Anzeige sämtlicher Werke vom 1. Februar 1826 darauf, daß ihn Pustkuchens Wanderjahre später gerade dazu veranlaßt haben, seiner »Produktion neue, doppelte Aufmerksamkeit zu schenken. Es unterhielt ihn [Goethe spricht hier in der dritten Person von sich selbst], das Werklein von Grund aus aufzulösen und wieder aufzubauen, so daß nun in einem ganz Anderen Dasselbe wieder erscheinen wird.« (FA 22, 759) Im Zuge der Vorbereitung der Ausgabe letzter Hand arbeitete er seinen Roman völlig um, indem er den Text der ersten Fassung von 1821 auf den neuen Gesamtroman verteilte und dazwischen weitere Partien einfügte. Eckermann berichtet von dem besonderen Verfahren, das Goethe sich hierfür ausgedacht hatte: Um den vorhandenen Stoff besser zu benutzen, sagte er mir eines Tags, habe ich den ersten Teil ganz aufgelöset und werde nun so durch Vermischung des Alten und Neuen, zwei Teile bilden. Ich lasse nun das Gedruckte ganz abschreiben; die Stellen, wo ich Neues auszuführen habe, sind angemerkt, und wenn der Schreibende an ein solches Zeichen kommt, so diktiere ich weiter und bin auf diese Weise genötigt, die Arbeit nicht in Stocken geraten zu lassen.18
Die Umorganisation und Erweiterung des Romans zu einer zweiten Fassung erfolgte hauptsächlich im Zeitraum von September 1828 bis März 1829. Ende Februar wird das Manuskript zunächst abgeschlossen, im März dann noch die Aphorismensammlung Aus Makariens Archiv hinzugefügt. Kurz darauf erscheint der Roman in den Bänden 21–23 der Ausgabe letzter Hand bei Cotta. Am 2. September 1829 schreibt Goethe daraufhin an Boisserée: Dem einsichtigen Leser bleibt Ernst und Sorgfalt nicht verborgen, womit ich diesen zweyten Versuch, so disparate Elemente zu vereinigen, angefaßt und durchgeführt, und ich muß mich glücklich schätzen wenn Ihnen ein so bedenkliches Unternehmen einigermaßen gelungen erscheint. Es ist wohl keine Frage
17 18
genossen, Assen 1971, S. 215–222, hier S. 217; zu Goethes Reaktion siehe Thomas Wolf: Pustkuchen und Goethe. Die Streitschrift als produktives Verwirrspiel, Tübingen 1999, bes. S. 279–309; zur zeitgenössischen Kritik an Pustkuchens Goethe-Kritik siehe Karl Immermann: Brief an einen Freund über die falschen Wanderjahre Wilhelm Meisters (1823), in: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland 1773–1782, Band 1, hrsg. von Karl Robert Mandelkow, München 1975, S. 344–358. Siehe Kommentar FA 10, S. 790. Goethe im Gespräch mit Eckermann am 15. Januar 1827, in: FA 39, S. 198.
8 daß man das Werk noch reicher ausstatten, lakonisch behandelte Stellen ausführlicher hätte hervorheben können, allein man muß zu endigen wissen. (WA IV/46, 66)
2. Die Modernisierungsproblematik in Faust II und Wilhelm Meisters Wanderjahre Nicht nur an seinem Wilhelm Meister-Projekt hat Goethe ein halbes Jahrhundert gearbeitet, auch die Beschäftigung mit dem Faust-Stoff dauerte fast sein ganzes Leben. Die Entstehung beider Werkkomplexe nimmt ihren Ausgang im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und kommt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Abschluß, umfaßt also einen Zeitraum einschneidender Veränderungen: Französische Revolution und Napoleonische Kriege erschütterten das überkommene Gesellschaftsgefüge; mit der Niederlegung der Kaiserkrone am 6. August 1806 zerfiel das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, und mit der verlorenen Doppelschlacht von Jena und Auerstädt im Oktober des gleichen Jahres endete die preußische Souveränität; auf Napoleons Sturz und Verbannung folgte zwar eine restaurative Epoche, in der die fürstliche Macht und die Vorrangsstellung des Adels erneut befestigt wurden. Doch revolutionierten technische Errungenschaften wie Dampfmaschine, Eisenbahn und Telegraphie die herkömmlichen Produktions-, Distributions- und Kommunikationsabläufe; Finanz- und Bankenwesen stießen in ganz neue Dimensionen vor; die Grundherrschaft sah sich einer wachsenden Konkurrenz durch den aufkommenden Agrarkapitalismus ausgesetzt; die überkommenen feudalen Herrschaftsstrukturen und die damit einhergehenden personalen Abhängigkeiten wurden zunehmend durch vertragliche Vereinbarungen ersetzt; der Kreis der Informierten und Gebildeten erweiterte sich sprunghaft; die gesellschaftliche Welt pluralisierte sich. Nicht von ungefähr spricht Reinhart Koselleck von der »Schwellenzeit«19 als einer epochalen Zäsur, die – wie Niklas Luhmann ausführt – die ständisch-hierarchische in eine funktional-stratifikatorische Gesellschaft transformierte20 und so dem feudal-ständischen System tendenziell die Grundlagen entzog. 19
20
Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hrsg. von R. K. und Reinhart Herzog, München 1987, S. 269–282. Siehe Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 1, Frankfurt a. M. 1980, bes. S. 25–27; siehe auch N. L.: Das Problem der Epochenbildung und die Evo-
9 Goethe hat diesen Wandel genau registriert. So stellt er in einem Gespräch aus dem Jahre 1829 fest, daß unser neunzehntes Jahrhundert nicht einfach die Fortsetzung der früheren sei, sondern zum Anfange einer neuen Ära bestimmt scheine. Denn solche große Begebenheiten, wie sie die Welt in seinen ersten Jahren erschütterten, können nicht ohne große, ihnen entsprechende Folgen bleiben […].21
Daß Goethe das 19. Jahrhundert als einen epochalen Einschnitt wahrnahm und problematisierte,22 zeigt vor allem sein Alterswerk Wilhelm Meisters Wanderjahre. Aber auch in Faust II dominiert – in einem weitergespannten historischen Horizont – die Modernisierungsproblematik. In unterschiedlicher personaler und geschichtlicher Perspektivierung, in variationsreicher formaler Ausgestaltung und divergierender Beurteilung reflektieren beide Texte die Prozesse, durch die die Moderne die Vormoderne ablöste. So thematisiert das Drama – symbolisch-allegorisch verschlüsselt – die moderne Subjektivität im Spannungsfeld ihrer ökonomischen, kulturellen und wissenschaftlichen Bedingtheiten und markiert mit der Renaissance als Epochenzäsur den Beginn der unter dem Vorzeichen der Beschleunigung stehenden, im 19. Jahrhundert dann voll durchschlagenden Modernisierung aller Lebensverhältnisse.23 Deren Auswirkungen auf das Verhalten der heranwachsenden Generation beklagt Goethe in einem Brief an Carl Friedrich Zelter vom 6. Juni 1825: Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichthum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Facilitäten der Communikation sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. (WA IV/39, 216)
Ein Aphorismus aus den Betrachtungen im Sinne der Wanderer reflektiert, wie diese allgemeine Beschleunigung mit Veränderungen des Verhaltens einhergeht:
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lutionstheorie, in: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Ursula Link-Heer, Frankfurt a. M. 1985, S. 11–33. Antoni Edward Odyniec an Julian Korsak am 25. August 1829, in: Goethes Gespräche, Band 3.2, Zürich, Stuttgart 1972, S. 471f. Zu Goethes kritischem Verhältnis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts siehe Wolfgang Rothe: Der politische Goethe. Dichter und Staatsdiener im deutschen Spätabsolutismus, Göttingen 1998, S. 39–61. Siehe hierzu Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, bes. S. 349–376.
10 Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeis’t, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten! ein guter Kopf könnte wohl noch eins und das andere interkalieren. Dadurch wird alles was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vor hat, in’s Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich, und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch. (563)
Goethe charakterisiert hier offensichtlich das beginnende Medienzeitalter, das alle Grenzen zwischen dem, was intim, und dem, was publik ist, aufhebt, Privates ins Licht der Öffentlichkeit zerrt und dem voyeuristischen Blick aussetzt, der keine Scham kennt. Was Richard Sennett in seiner Studie über den Verfall der Öffentlichkeit24 als Phänomen einer sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Medienkultur beschreibt: die Flüchtigkeit, Oberflächlichkeit und Beiläufigkeit aller visuellen Eindrücke, die in der Bilderflut verrauschen, ohne auf ihre vielfältigen Implikationen hin transparent zu werden – all dies hat Goethe mit prognostischer Kraft benannt. Die von ihm mehrfach konstatierte Beschleunigung aller Abläufe, die damit einhergehende Tendenz, alles Gegebene verändern zu wollen, und die dem zu Grunde liegende hyperkritische Haltung, die jegliches Überkommene als überholt bestimmt, stellt Goethe in Faust II unter den weiten Horizont einer in der Renaissance einsetzenden Emanzipation des Subjekts. Im einzelnen gestaltet er dabei den Zusammenbruch der alten Monarchien, allegorisiert die Entstehung der neuzeitlichen Ökonomie, greift die mit den Rationalisierungsschüben dialektisch verbundenen ästhetischen Kompensationsbedürfnisse auf, entfaltet die Folgen einer auf neuer Waffentechnik beruhenden Kriegsführung und demonstriert die desaströsen Konsequenzen einer entfesselten Fortschrittsdynamik, deren Anspruch auf Naturbeherrschung mit dem Verlust an Selbsterkenntnis und Respekt vor überkommenen Kulturstufen einhergeht.25 Während Faust II vor dem Hintergrund der heraufziehenden Moderne ein welthistorisches Panorama entfaltet und dabei den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit als epochalen Einschnitt markiert, der einen in Gewalt und Zerstörung mündenden Prozeß in Gang setzt, fassen die Wanderjahre den Zeitraum der beginnenden Moderne enger und zeichnen die Konse24 25
Siehe Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 21983. Siehe Michael Jäger: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne, Würzburg 2004.
11 quenzen wertfreier nach. Der Roman handelt von der Auflösung der traditionellen Arbeitswelt durch das Aufkommen der Maschinentechnik, von der hierdurch hervorgerufenen Verarmung ganzer Berufsstände und von spezifischen Reaktionen darauf. Beide Werkkomplexe verdeutlichen, wie die zunehmende Rationalisierung, die Max Weber als charakteristisches Merkmal der Moderne herausgestellt hat,26 eine Unterwerfung der inneren und äußeren Natur des Menschen erforderlich macht. Utilitarisierung und Funktionalisierung aller Lebensbereiche führen zu Reglementierungen, die mit wachsendem Selbstverlust einhergehen. So vermag Faust zwar noch einmal im Durchgang durch die Klassische Walpurgisnacht die Feier von Schönheit und Eros in südlicher Zaubernacht zu erleben und sich mit Helena, der Inkarnation vollkommener Schönheit, zu verbinden; und auch Wilhelm Meister erfährt auf seiner »fromme[n] Wallfahrt« (496) an den Lago Maggiore noch einmal die Erfülltheit arkadischen Daseins. Dann aber geraten beide in den Sog sozialer und ökonomischer Modernisierungstendenzen: Faust überantwortet sich einer (selbst-)zerstörerischen Fortschrittsdynamik, während Wilhelm seine an Mignon gebundene Sehnsucht überwindet und eine Ausbildung zum Wundarzt absolviert. 26
Eine programmatische Formulierung seiner These vom »Rationalismus der okzidentalen Kultur« findet sich in der 1920 verfaßten Vorbemerkung zum ersten Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie: »Es kommt […] darauf an: die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus zu erkennen und in ihrer Entstehung zu erklären. Jeder solche Erklärungsversuch muß, der fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft entsprechend, vor allem die ökonomischen Bedingungen berücksichtigen. Aber es darf auch der umgekehrte Kausalzusammenhang darüber nicht unbeachtet bleiben. Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler ›Lebensführung‹ überhaupt abhängig. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände.« Max Weber: Vorbemerkung, in: M. W.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 1988, S. 1–16, hier S. 11f.; Anthony Giddens definiert Webers Rationalisierungs-Begriff wie folgt: »Die Entwicklung von Wissenschaft, moderner Technologie und Bürokratie fasst Weber unter dem Ausdruck Rationalisierung zusammen. Rationalisierung bedeutet die Organisation des sozialen und wirtschaftlichen Lebens gemäß den Prinzipien der Effizienz und auf der Basis des technischen Wissens.« A. G.: Soziologie, Graz, Wien 21999, S. 622; siehe auch Wolfgang Schluchter: Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, Frankfurt a. M. 1998, bes. S. 64–68.
12 Parallelen im Entwicklungsgang der beiden Protagonisten sind unverkennbar, es gibt aber auch wesentliche Differenzen: Desaströs endet das Kolonisationsunternehmen des bindungslosen, sich autonom dünkenden Faust, der in seinem Fortschrittswahn das zeitenthobene Idyll von Philemon und Baucis auf brutale Weise zerstören läßt. Sein Anspruch, der Menschheit zu dienen, ist Ausdruck einer Verblendung, die in der mephistophelischen Täuschung des erblindeten Greises kulminiert, der das Spatengeklirr seiner Totengräber mit dem Baulärm von Arbeitstruppen verwechselt. Wilhelm Meister hingegen beschreitet den Weg der Selbstbeschränkung und der Einbindung in den arbeitsteilig organisierten Auswandererbund. Er entwickelt sich zum nützlichen Mitglied der Gemeinschaft und kann dank seiner medizinischen Kenntnisse am Ende des Romans seinem Sohn Felix sogar das Leben retten. Während Goethe die zerstörerischen Konsequenzen einer hemmungslos gewordenen Fortschrittsideologie am Ende von Faust II verdeutlicht, indem er zeigt, wie die Illusion totaler Ich-Erweiterung zu hybrider Verblendung führt, zeichnen sich die Wanderjahre durch eine stärker deskriptive Haltung aus. In ihnen geht es vor allem um die Problematik, wie sich im Zeichen der Moderne Individualität und Sozialität neu konstellieren. Denn wenn an die Stelle der geburtsständischen Ordnung, die den Einzelnen in überkommene Verhaltensweisen, Glaubensgrundsätze und Werthaltungen einfügt und so zum Teil einer kollektiven Identität macht, die moderne Gesellschaft mit ihrer funktionalen Differenzierung tritt, dann bleibt das nicht ohne Folgen für das Identitätsbewußtsein und das Selbstverständnis der Personen.27 Jetzt bestimmt sich die – vornehmlich männliche – Identität über ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Wirklichkeitsbereichen, Identität wird pluralisiert. Unterschiedliche Rollenverständnisse und Anforderungsprofile werden dem Individuum zugewiesen, das in verschiedenen Wirklichkeitsfeldern verschieden zu agieren hat. Aus den übergeordneten Traditionszusammenhängen werden die Menschen in eine neue Realität entlassen, die ihnen kontingent gegenübersteht und in die sie nur partiell, der jeweiligen Anforderung gemäß, integriert sind. Anders als in der traditionalen Gesellschaft, deren Wirklichkeitsbereiche als Teile einer religiös legitimierten Gesamtordnung hierarchisch so 27
Siehe hierzu Thomas Luckmann: Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz, in: Identität, hrsg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle, München 1979, S. 293–313, bes. S. 305; siehe auch Alois Hahn: Theorie zur Entstehung der europäischen Moderne, in: Philosophische Rundschau 31 (1984), S. 178–202, bes. S. 185f.
13 reguliert sind, wie es das Herkommen bestimmt, agieren, fühlen und reden die auf persönlich zurechenbare Leistung ausgerichteten Bürger neuen Typs in Berufsrollen und den ihnen antithetisch zugeordneten Daseinsformen des Privaten. Goethes Roman verdeutlicht diese neue Anthropologie zunächst ex negativo, indem er thematisiert, wie dem Konzept individueller Bildung, das in den Lehrjahren die ideelle Prämisse des Titelhelden war, seine Legitimation entzogen wird. Die im Titel der Wanderjahre genannten Entsagenden erheben nicht die Ausrichtung auf das sich selbst entfaltende Individuum zum Ideal, sondern die Orientierung des Subjekts am Produkt, das in Kooperation vieler Spezialisten herzustellen ist. Lenardo formuliert das neue Gebot der Arbeitsteilung in seiner großen Rede vor den Handwerkern, die er für den Aufbruch nach Amerika gewinnen will, um dort ein neues Gemeinwesen zu errichten: Doch was der Mensch auch ergreife und handhabe, der Einzelne ist sich nicht hinreichend, Gesellschaft bleibt eines wackern Mannes höchstes Bedürfnis. Alle brauchbaren Menschen sollen in Bezug unter einander stehen, wie sich der Bauherr nach dem Architekten und dieser nach Maurer und Zimmermann umsieht. (672)
Vor dem Hintergrund dieser Gemeinschaftsdoktrin eröffnen die Wanderjahre gegenüber den Lehrjahren ganz neue Szenarien. In den Lehrjahren folgt das Geschehen trotz vielfacher ironischer Brechungen dem Grundschema eines individuellen Entwicklungsganges, insofern Wilhelm durch allmähliche Ablösung vom Elternhaus und nach seiner experimentellen Selbsterprobung in der Sphäre des Theaters am Ende mit den Sozialbezügen der Turmgesellschaft konfrontiert wird. Was dort im Hinblick auf das gemeinschaftsorientierte Tun noch weitgehend Proklamation bleibt – insbesondere durch Jarno –, wird in der von novellenartigen Geschichten emotionaler Verstrickungen immer wieder kontrapunktisch unterbrochenen Rahmenhandlung der Wanderjahre zur herrschenden Praxis.28 Der 28
Henriette Herwig legt den Hauptakzent ihrer Deutung auf diese novellistischen Einschübe. In ihnen komme »das Subjekt, das in den Rahmen-Programmen wegerklärt und wegerzogen wird, als fiktives immerhin noch vor. Sie sprechen nicht von dem, was überwunden werden muß, um das moralisch höhere Rahmen-Niveau zu erreichen, sondern von dem, was beim Versuch, Utopien konkret werden zu lassen, auf der Strecke bleibt: von Gefühlen, Sorgen und Nöten, zwischenmenschlichen Beziehungen, unkonventionellen Verbindungen, von den Wechselfällen des Lebens, die Alters-, Standes- und Geschlechtsrollennormen sprengen. […] Die Erzähleinlagen sind nicht das zu Überwindende, sondern der Sand im programmatischen Getriebe. Sie geben dem Roman jene
14 Agrarkapitalismus des Oheims, die Erziehungs- und Ausbildungspraktiken der Pädagogischen Provinz, Lenardos Auswandererbund und Odoards europäisches Kolonisationsprojekt orientieren sich in ihren Gesinnungen und Handlungen an der von Jarno/Montan verkündeten Maxime: »Mache ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde.« (295) Wenn die Gemeinschaftsformationen der Wanderjahre auf diese Weise für Spezialistentum, Arbeitsteilung und gesellschaftliche Nützlichkeit plädieren, so wenden sie sich gegen die hochgespannten neuhumanistischen Proklamationen einer teleologisch gefaßten Einheit und Ganzheit des Menschen, der entelechiehaft sein individuelles Wesen zur harmonischen Entfaltung zu bringen habe,29 und fordern statt dessen die Beschränkung »auf ein Handwerk« (295) – wie Jarno/Montan gegen Wilhelm Meisters Beteuerung bekräftigt: »Man hat aber doch eine vielseitige Bildung für vorteilhaft und notwendig gehalten.« (295) Wilhelm spielt hiermit auf das an, was ihm einst in den Lehrjahren, provoziert vom Ökonomismus seines Jugendfreundes Werner, selbst als Ziel vor Augen gestanden hatte: die »harmonische Ausbildung meiner Natur.« (FA 9, 659) An die Stelle des negierten Konzepts individueller Bildung tritt in den Wanderjahren die durchgängige Utilitarisierung aller überkommenen Vorstellungskomplexe und eingespielten Handlungsmuster.
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Lebensdichte wieder zurück, die die Anti-Utopien ihm entziehen. Ohne das novellistische Gegengift wären die Wanderjahre ein unerträglich schulmeisterliches Buch, das auf das durch den Zusammenbruch der alten Ständeordnung entstandene Wertevakuum mit einem nüchternen Pragmatismus reagiert.« H. H.: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Geschlechterdifferenz, Sozialer Wandel, Historische Anthropologie, Tübingen, Basel 22002, S. 16f. Diese Favorisierung der Erzähleinlagen beruht darauf, daß die diagnostische Qualität der Wanderjahre nicht zureichend beachtet wird. In ihnen geht es weder um eine Befürwortung noch um eine Verurteilung des dargestellten Modernisierungsprozesses, sondern darum, dessen Spezifik literarisch zu erfassen. Da Henriette Herwig jedoch nach der wertenden Meinung Goethes sucht, die sie zu seiner ›Ehrenrettung‹ nicht in der Rahmenhandlung finden mag, blendet sie aus, daß fast alle Binnenerzählungen nur Vorgeschichten von schließlich ›Entsagenden‹ präsentieren: Sie thematisieren die affektive Dimension zwischenmenschlicher Beziehungen, die unter den Bedingungen der utilitaristischen Moderne dysfunktional erscheinen. Zu Einzelheiten siehe Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, bes. S. 112–159; siehe auch Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs ›Bildung‹ am Beispiel von Goethes Dichtung und Wahrheit, Tübingen 1996, bes. S. 43–64.
15 Selbst die Inszenierung einer idyllischen Lebenswelt bestätigt im Akt der Abwehr nur die heraufziehende Moderne, von der sie bedroht wird (Joseph der Zweite); metaphysisch verbürgte Sinngarantien werden durch symbolisch vermittelte Verhaltenssicherheiten ersetzt (die Lehre von den Ehrfurchten); das vordem als zweckfrei erachtete Kunst-Schöne wird abgewertet, indem es nicht mehr als Vorschein erfüllten Daseins, sondern nur noch als ästhetische Illusion fungiert, um die Sehnsucht nicht zur Handlungshemmung werden zu lassen (die Lago Maggiore-Episode); das humanistische Plädoyer der Selbstentfaltung weicht dem pragmatischen Imperativ der Berufsausbildung (Wilhelm Meisters Weg zum Wundarztberuf); das holistische Konzept einer Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie erfüllt seinen nützlichen Zweck bei der Lösung von Beziehungsproblemen (Makarie als Sozialtherapeutin); das romantische Wanderlied wird zum Medium der Gemeinschaftsbildung umfunktionalisiert (der Gesang als Sozialdisziplinierung); die einstmals als sinnliche Erscheinung des Göttlichen angesehene griechische Plastik interessiert bloß noch bei der Herstellung von Muskelpräparaten für die medizinische Ausbildung (die plastische Anatomie); persönliche Traumatisierungen werden zur Antriebsquelle öffentlicher Wirksamkeit (Lenardo und Odoard als Leiter der Kolonisationsunternehmungen); statt des Grundbesitzes gilt die Arbeitskraft als identitätsstiftende Bestimmungsgröße (Lenardos Auswanderungsrede); die unverwechselbare Individualität hat der austauschbaren Funktionalität zu weichen (das amerikanische und das europäische Siedlungsprojekt). Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, all diese Transformationen im einzelnen herauszuarbeiten, auch im Rückgriff auf die Fülle der Prolegomena, Tagebuchaufzeichnungen, Briefäußerungen und Schematisierungen Goethes sowie unter Berücksichtigung seines ökonomischen, kulturellen, technischen und sozialgeschichtlichen Wissens.30 30
Siehe hierzu Pierre-Paul Sagave, der konstatiert: »Die beiden Hauptwerke, die Goethe fast während seiner ganzen literarischen Laufbahn beschäftigt haben, Faust und Wilhem Meister, zeugen von einem leidenschaftlichen Interesse für die wirtschaftlichen Fakten und die Wirtschaftslehren. Dieses Interesse zeigt sich bis zu Goethes Tod.« P.-P. S.: Französische Einflüsse in Goethes Wirtschaftsdenken, in: Festschrift für Klaus Ziegler, hrsg. von Eckehard Catholy und Winfried Hellmann, Tübingen 1968, S. 113–131, hier S. 118; der Abschnitt »Nationalökonomie« in Hans Rupperts Katalog: Goethes Bibliothek, Weimar 1958, S. 430–436, weist 45 Werke zu diesem Thema auf; siehe auch die Ausführungen von Alfred Zastrau: Technik und Zivilisation im Blickfeld Goethes, in: Humanismus und Technik 4 (1957), S. 134–156; Anneliese Klingenberg: Zur ökonomischen Theorie Goethes in den Wanderjahren, in: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft N.F. 32 (1970), S. 207–220; Thomas Metscher: Faust
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3. »Eine Arbeit wie diese, die sich selbst als collectiv ankündiget«31: Zum narrativen Organisationsprinzip 31 der Wanderjahre Wie sehr sich Goethe vorgegebenen Wissensbeständen verpflichtet fühlte, zeigt eines seiner letzten Gespräche mit Eckermann. In ihm fragt Goethe: Und was ist denn überhaupt Gutes an uns, wenn es nicht die Kraft und Neigung ist, die Mittel der äußern Welt an uns heranzuziehen und unseren höheren Zwecken dienstbar zu machen. Ich darf wohl von mir selber reden und bescheiden sagen, wie ich fühle. Es ist wahr, ich habe in meinem langen Leben mancherlei getan und zu Stande gebracht, dessen ich mich allenfalls rühmen könnte. Was hatte ich aber, wenn wir ehrlich sein wollen, das eigentlich mein war, als die Fähigkeit und Neigung, zu sehen und zu hören, zu unterscheiden und zu wählen, und das Gesehene und Gehörte mit einigem Geist zu beleben und mit einiger Geschicklichkeit wiederzugeben. Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, sondern tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu das Material boten.32
Goethe betont hier nachdrücklich, daß er nicht nur aus eigener Kraft, allein der Phantasie gehorchend, seine Werke geschaffen habe. Er verdanke hingegen viel der Kenntnis von Umständen und Personen, historischen Entwicklungen und fremden Gedanken, die er im Laufe seines langen Lebens aufgenommen und auf spezifische Weise verarbeitet habe. Auf die Wanderjahre trifft dies in besonderem Maße zu. Um nachzuvollziehen, wie Goethe in ihnen bestimmte romanexterne Wissensformationen in Akten der Selektion und Kombination aufgreift, ist deshalb eine Forschungsperspektive einzunehmen, die nicht nur Aspekte der Herrschafts- und Ökonomiegeschichte, sondern auch der Kultur- und Mentalitätsentwicklung sowie der Wissenschafts- und Ästhetikdebatten der Zeit berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund gilt es herauszuarbeiten, inwiefern der Roman diese außerliterarischen Diskurse integriert, um sie in
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und die Ökonomie. Ein literarhistorischer Essay, in: Das Argument, Sonderband 3 (1976): Vom Faustus bis Karl Valentin. Der Bürger in Geschichte und Literatur, S. 28–155, speziell zu den Wanderjahren S. 122–135; Bernd Mahl: Goethes ökonomisches Wissen. Grundlagen zum Verständnis der ökonomischen Passagen im dichterischen Gesamtwerk und in den Amtlichen Schriften, Frankfurt a.M, Bern 1982; Harro Segeberg: Literarische Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von Technik und Literaturgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1987, bes. S. 13–54. WA IV/46, S. 27. Goethe im Gespräch mit Eckermann am 17. Februar 1832, in: FA 39, S. 744f.
17 seiner fiktionalen Welt mimetisch zu reflektieren. Analysiert werden soll, wie die Wanderjahre Überlegungen von Adam Smith über den zentralen Stellenwert der Arbeit aufgreifen, sich auf Philipp Emanuel von Fellenbergs neue pädagogische Unternehmungen beziehen, Heinrich Meyers Beschreibung der Schweizer Heimindustrie übernehmen, auf Benjamin Franklins Zeitvorstellungen anspielen, sich von den Reisebeschreibungen des Herzogs Karl Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach und den Berichten Ludwig Galls über Nordamerika anregen lassen, zeitgenössische Überlegungen zur Geologie als angewandter Wissenschaft wiedergeben, Albrecht Thaers Ausführungen zur Rationalisierung, Intensivierung und Ökonomisierung der Landwirtschaft narrativ gestalten, veränderte Präferenzen in der Medizin thematisieren, arbeitsteilig organisierte Vergemeinschaftungsformen darstellen und Konsequenzen der Industrialisierung durchspielen.33 Nur wenn man die außerästhetischen Bezugssysteme erfaßt, die der Roman durch Auswahl, Modifikation und Kombination auf hochkomplexe Weise koordiniert, werden die interdiskursiven Austauschbeziehungen zwischen den Wanderjahren und ihren historischen, sozialen, kulturellen und intermedialen Kontexten deutlich. Einerseits steht Goethes Roman in einer Referenzbeziehung zu den genannten Diskursen, andererseits formt er diese aber auch ästhetisch um. So generieren die Wanderjahre ihre Welt nicht als autonomes Gebilde mit Hilfe von Bausteinen, die der Autor selbst erschafft, sondern rekurrieren auf die schon bedeutungsmäßig organisierte Welt ihrer Gegenwart und Überlieferung. An ihr partizipiert Goethes Roman in Akten fiktionaler Gestaltung, ohne jedoch mit ihr zu ›kollaborieren‹. Aber nicht nur aufgrund des Bezugs auf textexterne Wissensbestände geben sich die Wanderjahre als Produkt zu erkennen, das durch Interaktion mit ihnen entstanden ist, sondern auch aufgrund ihrer formalen Anlage. Denn während sich der Roman üblicherweise als ein in sich geschlossenes 33
Kritik an der vorgeblich unpoetischen Thematik des Romans, der die krude Realität anstelle hehrer Ideale in den Blick nehme, übt Theodor Mundt, wenn er ausruft: »[D]enn was, ums Himmels willen, hätte daraus werden sollen? Ein landwirthschaftlich-, ökonomisch-, didaktisch-allegorischer Roman! Dies sollten auch vielleicht die ganzen Wanderjahre werden, und darum sind sie unvollendet geblieben, denn die Poesie kann so etwas gar nicht ausführen.« Th. M.: Rez.: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Zweite Fassung 1829, in: Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 264–266, Leipzig, 21.–23. September 1830, zitiert nach Teilabdruck im Kommentar MA 17, S. 1044–1049, hier S. 1047; siehe auch den Kommentar FA 10, S. 910–912.
18 Ganzes darstellt, indem er etwa einen Helden konzipiert, auf den hin die fiktionale Welt zentriert ist, oder einen Erzähler einschaltet, der sich als auktorialer Sinngarant präsentiert, fingiert Goethes Roman schon auf der Erzählebene, daß er Resultat eines hochkomplexen Vermittlungsgeschehens ist, das sich aus Briefen, Tagebüchern, Ergebnisprotokollen, Reden, Märchen, Gesängen, Gedichten, Aphorismen, Erzählungen und Schwänken, Gesprächen und Notizen der vielfältigen schriftlichen und mündlichen Kommunikationsprozesse innerhalb des fiktionalen Kosmos speist.34 Auch wenn außerordentlich viele Sprachordnungen, verbunden mit einer großen Anzahl von Erzählinstanzen,35 das Romangeschehen narrativ auffächern und perspektivisch brechen, ist der (fiktive) »Redaktor«, der die verschiedenen (fiktiven) Textdokumente bearbeitet, die auffälligste Erscheinung. Tritt er auch kaum als individuelle Person hervor – allein zu einer früheren Theaterleidenschaft bekennt er sich verhalten (siehe 530) –, so verweist er doch mehrfach auf Absichten und Schwierigkeiten seiner Tätigkeit – zwar nicht so ausführlich wie in der ersten Fassung der Wanderjahre,36 aber deutlich genug, um kenntlich zu machen, daß er sich mit 34
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Zur Mitteilungsproblematik in den Wanderjahren siehe Manfred Karnick: Wilhelms Meisters Wanderjahre oder die Kunst des Mittelbaren. Studien zum Problem der Verständigung in Goethes Altersepoche, München 1968; siehe auch Steffen Schneider: Archivpoetik. Die Funktion des Wissens in Goethes Faust II, Tübingen 2005, S. 74: »Die Wanderjahre stehen von Beginn an unter der Herrschaft der Schrift, die jede Repräsentation in eine Distanz rückt. Die Protagonisten sind unablässig mit der Lektüre von Novellen, dem Lesen und Schreiben von Briefen und anderen Textformen befaßt. Die Resultate dieses Schriftverkehrs bilden den Kern des Archivs, sie sind das hauptsächliche Material des Redaktors.« Zu den Struktureigentümlichkeiten des entsubjektivierten, diskontinuierlichen und multiperspektivischen Erzählens in den Wanderjahren siehe Norbert Christian Wolf: »Die Wesenheit des Objektes bedingt den Stil«. Zur Modernität des Erzählkonzepts in Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: GJb 119 (2002), S. 52–65. Siehe insbes. FA 10, S. 127f. Dort skizziert der Redaktor seine quellengebundene Aufgabe wie folgt: »Denn wir haben die bedenkliche Aufgabe zu lösen, aus den mannigfaltigsten Papieren das Werteste und Wichtigste auszusuchen […]. Da liegen nun aber vor uns Tagebücher, mehr oder weniger ausführlich […]. Sogar fehlt es nicht an Heften der wirklichen Welt gewidmet, statistischen, technischen und sonst realen Inhalts. […] Alsdann begegnen uns Entwürfe, mit guter Einsicht und zu herrlichen Zwecken geschrieben […]. Eben so begegnen wir kleinen Anekdoten ohne Zusammenhang, schwer unter Rubriken zu bringen […]. Hie und da treffen wir auf ausgebildetere Erzählungen […]. Auch an Gedichten ist kein Mangel […]. Wenn wir also nicht, wie schon oft seit vielen Jahren, in diesem Geschäft abermals stocken sollen, so bleibt uns nichts übrig, als zu überliefern was wir besitzen, mitzuteilen was sich erhalten hat.« Siehe ebenfalls FA 10, S. 161f.
19 »Papieren die uns zur Redaktion vorliegen« (659)37 beschäftigt, die er nicht nur als »Sammler und Ordner« (690) zusammenstellen, sondern auch als Lektor bearbeiten will. Im einzelnen spricht er davon, daß er »das […] ernste Geschäft eines treuen Referenten« (720) übernommen habe, der Informationen auswählt,38 sie rafft,39 aber auch dem Leser vorenthält,40 oder diesen auf später vertröstet,41 dabei sein Vorgehen erläutert42 und sich einmal selbst »die Rechte des epischen Dichters [anmaßt]« (676), bei Gelegenheit Lesererwartungen anspricht,43 an einer Stelle sogar eine Person am Vorlesen von »Papieren« hindert, da ansonsten das Didaktische das Literarische verdrängen würde (381f.), und hin und wieder auch auf eigene Faust recherchiert.44 Volker Neuhaus ist zu dem Schluß gekommen, daß sich der Redaktor auf archiviertes Material »von ungefähr zwanzig fiktiven Personen [stützt], zu denen noch eine unbestimmbare Anzahl von Autoren tritt, denen die Aphorismen der beiden Sammlungen angehören.«45 Und Klaus-Detlef Müller präzisierte überdies, der Redaktor habe nicht nur die Aufgabe übernommen, das vorhandene Textmaterial zu bearbeiten und zu collagieren, sondern er unterziehe »sich dieser Aufgabe ausdrücklich im Wissen um die poetologischen Grundsätze der Gattung und um die auf sie gerichteten Erwartungen des Publikums.«46 Allerdings bleibt festzuhalten, daß unzuverlässige Quellenlage und mangelhafte Datierung, punktuelle Informationen und heterogene Textsorten verhindern, daß der Redaktor der gewohnten Gattungsnorm nach37
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Schon früher kommt der Redaktor auf seine besondere Tätigkeit zu sprechen: »Die Papiere, die uns vorliegen, gedenken wir an einem andern Orte abdrucken zu lassen.« (FA 10, S. 381f.) Siehe FA 10, S. 346, 391, 464, 690, 723 und 727. Siehe ebd., S. 295, 419, 494 und 686. Siehe ebd., S. 478, 489, 620, 868, 690 und 721. Siehe ebd., S. 299, 381f., 389, 537 und 725. Siehe ebd., S. 515, 659 und 737. Siehe ebd., S. 381, 433, 477, 484, 490 und 726. Siehe ebd., S. 342, 720 und 728. Volker Neuhaus: Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Euphorion 62 (1968), S. 13–27, hier S. 25; siehe auch die detaillierte Darstellung von Gonthier-Louis Fink: Tagebuch, Redaktor und Autor. Erzählinstanz und Struktur in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Recherches Germaniques 16 (1986), S. 7–54; Benedikt Jeßing: Konstruktion und Eingedenken. Zur Vermittlung von gesellschaftlicher Praxis und literarischer Form in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre und Johnsons Mutmassungen über Jakob, Wiesbaden 1991, S. 112–125. Klaus-Detlef Müller: Lenardos Tagebuch. Zum Romanbegriff in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: DVjs 53 (1979), S. 275–299, hier S. 280.
20 kommt – was einem Kalkül Goethes entspringt. Dieser nämlich folgt ausweislich seiner vielen Schemata, Erklärungen und Bemerkungen einem genauen Konzept der Erwartungsenttäuschung. Wenn er seinen Wanderjahren formale Geschlossenheit verweigert, dann tut er das, um zu demonstrieren, daß diese im Zeichen der Moderne unmöglich geworden ist. Benedikt Jeßing konstatiert zu Recht: Die Romanwirklichkeit der Wanderjahre ist für den Herausgeber nur vermittelt präsent, sie erschließt sich ihm nur noch über Texte. Wirklichkeit kann nicht mehr unmittelbar erschlossen werden: Zwischen sie und den Einzelnen tritt das Medium Text. Wirklichkeit als Ganzes, als Einheit, wird abgelöst von der – unendlich erweiterbaren – Sammlung von Texten über Wirklichkeit, vom Archiv.47
Indem die Wanderjahre sich als Produkt vieler Erzählinstanzen und Textsorten und damit als »Überformung von schon Geformtem«48 darstellen, verdeutlichen sie, daß mimetische Weltreferenz und dichterische Integrationsfähigkeit in der Moderne problematisch geworden sind. An ihre Stelle treten perspektivisch gebundene Zeichenordnungen, über die nicht mehr ein souveräner Erzähler verfügt; vielmehr bemüht sich ein Redaktor ohne rechten Erfolg, das heterogene Material zu einer geschlossenen Romanwelt zu homogenisieren.49 Sofern der Roman vorgibt, aus redigierten ›Textbausteinen‹ zu bestehen, dokumentiert er in seinem fiktiven Organisationsprinzip das für ihn signifikante Verhältnis von außerästhetischem Bezugssystem und ästhetischer Formierung. Auf diese Weise fingiert er in sich, was ihn tatsächlich als Kunstwerk auszeichnet: die ästhetische Transformation von Wissenskodifizierungen verschiedener Bild-, Körper-, Schrift- und Gedächtnisrepräsentationen. Die romanimmanente Archivfiktion spiegelt dergestalt wider, daß die Wanderjahre insgesamt kein geschlossenes Gebilde darstellen, sondern auf ein romanexternes ›Archiv‹ außerästhetischer Diskurse rekurrieren. Indem Goethe Elemente verschiedener gesellschaftlicher Sinnbereiche in den Dienst fiktionaler Gestaltung stellt, formt er ein ästhetisches Werk, das mit seiner realen Außenwelt in Übernahme und Distanz kommuniziert. Hierin gründet das deutungsbedürftige, geschicht47 48 49
Benedikt Jeßing: Konstruktion und Eingedenken, S. 121. Klaus-Detlef Müller: Lenardos Tagebuch, S. 283. In diesem Zusammenhang spricht Ehrhard Bahr in Anspielung auf Roland Barthes vom Tod des Autors. E. B.: The Novel as Archive. The Genesis, Reception, and Criticism of Goethe’s Wilhelm Meisters Wanderjahre, Columbia 1998, S. 99–102; siehe Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 185–193.
21 lich zu bestimmende Spannungsgefüge zwischen der ästhetischen Form und dem empirischen Gehalt des Romans, hierin gründet auch seine sich in thematischen Konstellationen entfaltende Erkenntnisleistung, die von derjenigen begrifflichen Denkens zu unterscheiden ist. Denn wenn Goethe Elemente aus zeitgenössischen Bedeutungszusammenhängen herauslöst und diese im Roman einer komplexen Bearbeitungsprozedur unterzieht, dann treten die vorgegebenen Diskursordnungen,50 die durch Zielgerichtetheit, Folgerichtigkeit und Eindeutigkeit dem amorphen Wissen der Zeit in spezifischen Bereichen der Wirklichkeit die Bestimmtheit begrifflicher Fixierung und argumentativer Stringenz zu verleihen suchen, in den Hintergrund. Vor sie schiebt sich die ästhetische Ordnung des Romans, der mit Hilfe von Partikeln der außerästhetischen Umwelt ein Verweisungsgeflecht kreiert, das die Realitätsmomente durch Einordnung in einen fiktionalen Kosmos aus ihren diskursiv gesicherten Argumentationszusammenhängen löst und Deutungsanstrengungen aussetzt. So entsteht durch die Überführung des Gesellschaftlich-Faktischen ins Ästhetisch-Fiktionale ein Bedeutungsraum, der in seiner semantischen Differenz zu den aufgerufenen Bezugssystemen deren Problemüberhang interpretierbar macht, ohne ihn explizit zu benennen. Folglich sind die Wanderjahre nicht bloß der passive Spiegel (Reflex) vorgegebener Ordnungen, sondern aktivierendes Medium der Auseinandersetzung mit ihnen (Reflexion); sie integrieren Wissensbestände der Vergangenheit und Gegenwart, um sie dem Rezipienten als Probleme zu präsentieren. Daher ist auch die Alternative, der zufolge entweder die Geschichte in der Literatur – so Peter Szondi51 – oder die Literatur in der
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Unter Diskursordnung wird hierbei ein »System des Denkens und Argumentierens« verstanden, das »erstens durch einen gemeinsamen Redegegenstand, zweitens durch Regularitäten der Rede, drittens durch interdiskursive Relationen zu anderen Diskursen charakterisiert ist.« Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft, in: Modelle des literarischen Strukturwandels, hrsg. von M. T., Tübingen 1991, S. 395–438, hier S. 406; siehe auch Ute Gerhard, Jürgen Link und Rolf Parr: Art.: Diskurs und Diskurstheorien, in: Metzler-Lexikon: Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hrsg. von Ansgar Nünning, Weimar 42008, S. 133–135. Siehe Peter Szondi, der behauptet, daß »einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt.« Über poetologische Erkenntnis, in: P. S.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1967, S. 9–30, hier S. 20.
22 Geschichte – so Georg Lukács52 – aufzusuchen sei, im Hinblick auf Goethes Roman nicht zureichend. Er fordert vielmehr dazu heraus, an ihm das eigentümliche Wechselspiel von romanimmanenter Geschichtsanalyse und geschichtsbezogener Romananalyse interpretatorisch zu erfassen. Dabei sind einerseits die zeitgenössischen Debatten zu berücksichtigen, vor deren Hintergrund sich das Geschehen entfaltet; andererseits gilt es zu erkennen, was die vom Redaktor aus dem fiktiven Archivmaterial rekonstruierten Szenarien in ihren vielfältigen narrativen Brechungen an Einsichten über die Wirklichkeit ermöglichen. Wie die Deutung des Romans die Kenntnis seiner Kontexte voraussetzt, so ermöglicht umgekehrt das gedeutete Werk ein vertieftes Wissen über deren Implikationen für das Handeln und Erleben des Einzelnen. So erweist sich der Rekurs auf die außerästhetischen Systeme nicht nur als Mittel zum Zweck fiktionaler Gestaltung, sondern wird in der Perspektive, die vom Roman zurück auf die tradierten Wissensordnungen führt, gerade zum Zweck einer geschichtlichen Erkenntnis, für die die fiktionale Gestaltung bloßes Mittel ist. Die bewußt ›unorganische‹ Integration der zahlreichen außerliterarischen Diskurse in die fiktionale Welt der Wanderjahre hat eine spezifische Offenheit ihrer Form zur Folge. Gegenüber dem Kompositionsprinzip der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, die Goethe nach dem Muster von Boccaccios Decamerone entwarf, erweist sich das narrative Arrangement des Romans als ungemein disponibel und komplex. Der programmatische Haupttext (die ›Rahmenhandlung‹) und die eingeschalteten Erzählsequenzen (die ›Binnennovellen‹) sind auf vielfältige Weise miteinander verwoben. So werden Wilhelm wiederholt Geschichten zur Lektüre vorgelegt (Die pilgernde Törin; Wer ist der Verräter); eine andere erlebt er selbst und notiert sie für Natalie (die Eingangsnovelle); hinzu kommen Erzählungen, aus denen die Figuren in das ›Rahmengeschehen‹ eintreten. Dabei geht es einmal um die Vorgeschichte der beiden Frauen, die Wilhelm am Lago Maggiore trifft (Der Mann von funfzig Jahren); ein andermal findet ein Vergangenheitsbericht seine Fortsetzung in Form von Tagebuchaufzeichnungen (Das nußbraune Mädchen und Lenardos Tagebuch); darüber hinaus fungiert eine hochkomplex 52
Für Georg Lukács, für den das Kunstwerk kein eigenständiges Medium der Wirklichkeitserkenntnis ist, liegen der künstlerischen Formung zwei Operationen zugrunde: »nämlich erstens das gedankliche Aufdecken und künstlerische Gestalten dieser Zusammenhänge [der Gesetzmäßigkeiten objektiver Wirklichkeit]; zweitens aber, und unzertrennbar davon, das künstlerische Zudecken der abstrahiert erarbeiteten Zusammenhänge – die Aufhebung der Abstraktion.« G. L.: Es geht um den Realismus, in: Werke, Band 4: Probleme des Realismus 1. Essays über Realismus, Neuwied, Berlin 1971, S. 313–343, hier S. 323f.
23 organisierte Erzählung als Rechtfertigung für die öffentliche Funktion Odoards (Nicht zu weit); weiterhin wird gezeigt, wie das Schweigegebot des Barbiers im Auswandererbund nur unter den Geboten novellistischer Präsentation aufgehoben ist (Die neue Melusine) und wie der Lastenträger St. Christoph allein in der Form des Schwanks von einem Jugendstreich mit tödlichem Ausgang zu berichten vermag (Die gefährliche Wette). Nicht von ungefähr haben die meisten zeitgenössischen Rezipienten Goethes Roman befremdet aufgenommen. Der Erwartungshorizont des Publikums wurde entschieden durchbrochen, so daß häufig Ratlosigkeit, wenn nicht Polemik die Reaktion war. Alles, was das Publikum für gewöhnlich von einem Roman erwartet, wird nicht erfüllt: Es gibt keine im Erzählmittelpunkt stehende Person, keine durchgängige Entwicklungsgeschichte, kein glückliches Ende, an dem sich alles rundet. »An ein organisches Gebilde, klassische Mannigfaltigkeit und Einheit ist da nicht zu denken« – so Emil Staiger.53 Entsprechend heißt es schon in einer zeitgenössischen, fast fünfhundert Seiten starken Schrift zu Goethes und Pustkuchens gleichnamigen Romanen abwertend über Goethes Werk: Eine unzusammenhängende, formlose Dichtung, die, nur das offenbarste Bruchstück eines Romans, aus den barockesten und heterogensten, selbst wieder nur fragmentarischen, und längst aus Cotta’s Damenkalender bekannten, Einzelnheiten, von denen der Verfasser selber gesteht, daß er »sie zu einem geordneten Ganzen zu verarbeiten, nicht vermögend sei,« zusammengewürfelt ist […]. Wir unsers Theils bekennen unverhohlen, daß Göthe, durch die Absicht: der Welt weiß machen zu wollen, mit diesen Wanderjahren ein bedeutendes philosophisch-dichterisches Kunstwerk geliefert zu haben, sich uns in gleichem Grade an seinem Ruhm, wie an der Kunst und an seiner Nation vergangen zu haben scheinen würde, und daß wir in dieser Hinsicht dann gewünscht hätten, er möchte, statt »Entsagende« zu schreiben, lieber selbst den Entsagenden gemacht [haben].54
Ähnlich bewertet auch Thomas Mann die Wanderjahre, indem er sie in einem Brief an Hermann Hesse als ein »hochmüdes, würdevoll sklerotisches Sammelsurium«55 bezeichnet. Goethe selbst war sich allerdings durchaus bewußt, daß sein Werk gegen alle möglichen Gattungskonventionen verstieß. So hat er in der zweiten Ausgabe von 1829 den in der ersten Fassung von 1821 noch vorhandenen Titelzusatz »ein Roman« ge53 54
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Emil Staiger: Goethe, Band 3, Zürich, Freiburg i.Br. 1959, S. 135. Friedrich Karl Julius Schütz: Göthe und Pustkuchen, oder: über die beiden Wanderjahre Wilhelm Meister’s und ihre Verfasser. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Poesie und Poetik, Halle 1823, S. 138 und S. 142. Thomas Mann: Briefe 1937–1947, hrsg. von Erika Mann, Frankfurt a. M. 1963, S. 424.
24 strichen und ihn in Briefen nurmehr einen »Straußkranz«56 oder ein »Geschlinge«57 genannt. Doch gesteht sich Goethe damit nicht etwa seine mangelnde Integrationskraft als Autor ein – denn es ist ja gerade sein poetisches Vermögen, welches das erzählerische Unvermögen des Redaktors gestaltet, der sein umfangreiches Quellenmaterial nicht mehr zu einem integralen Kunstwerk verschmelzen kann. Dies erweist sich letztlich aber als Signatur einer semiotischen Fragmentierung, die »Welt« nur noch in verschiedenen Modi sprachlicher Konstruktionen erscheinen läßt – als heterogenes Produkt vieler Sprecher und Schreiber.
4. »Daß jeder sich zueigne was ihm gemäß ist«: Die von den Wanderjahren geforderte Rezeptionshaltung Als Goethe seinen fertigen Roman an Freunde und Bekannte schickte, wies er in Begleitschreiben auf die mit der multiplen Textproduktion verbundenen rezeptionsästhetischen Konsequenzen hin. So schrieb er am 28. Juli 1829 an Johann Friedrich Rochlitz: »Eine Arbeit wie diese, die sich selbst als collectiv ankündiget, indem sie gewissermaßen nur zum Verband der disparatesten Einzelnheiten unternommen zu seyn scheint, erlaubt, ja fordert mehr als eine andere daß jeder sich zueigne was ihm gemäß ist.« (WA IV/46, 27) Und am 23. November 1829 ergänzte er ihm gegenüber: Mit solchem Büchlein aber ist es wie mit dem Leben selbst: es findet sich in dem Complex des Ganzen Nothwendiges und Zufälliges, Vorgesetztes und Angeschlossenes, bald gelungen, bald vereitelt, wodurch es eine Art von Unendlichkeit erhält, die sich in verständige und vernünftige Worte nicht durchaus fassen noch einschließen läßt. […] Das Büchlein verläugnet seinen collectiven Ursprung nicht, erlaubt und fordert mehr als jedes andere die Theilnahme an hervortretenden Einzelnheiten. (WA IV/46, 166f.)
Goethe hebt drei Aspekte seines Romans heraus: erstens seinen ›kollektiven Ursprung‹ – Hinweis auf die Archivfiktion, zweitens den »Verband der disparatesten Einzelheiten« – Hinweis auf die unzulängliche Bemühung des Redaktors um die Integration der verschiedenen Texte, und drittens die Rolle des Lesers, der »sich zueigne was ihm gemäß ist« – Hinweis auf die von Goethe geforderte, der Offenheit des Romans korrespondierende Deutungsaktivität. Allen drei Aspekten ist die Suspendierung jener Sinndogmatik gemeinsam, die suggeriert, es gebe einen von verläßlichen 56 57
Goethe an Zelter, Brief vom 24. Mai 1827, in: WA IV/42, S. 190. Goethe an Zelter, Brief vom 5. Juni 1829, in: WA IV/45, S. 284.
25 Erzählinstanzen legitimierten ästhetisch geschlossenen Horizont. Statt dessen akzentuiert der Roman die Pluralität textgenerierter Sinnofferten, die zeigt, daß ›Welt‹ nichts anderes ist als das Ergebnis eines Zusammenspiels von Einzeldeutungen und Sprachordnungen. Konsequent bezeichnet Goethe gegenüber dem Kanzler von Müller am 18. Februar 1830 seinen Roman als ein »Aggregat« (FA 38, 232), um dessen Eigentümlichkeiten zu kennzeichnen, die dem Rezipienten einen aktiven Part bei der Sinnkonstitution zuweisen.58 Daß die Wanderjahre nur die Bedingung der Möglichkeit hierfür bereitstellen, hebt Goethe hervor, wenn er in seinem am 21. März 1822 in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände veröffentlichten Text Geneigte Teilnahme an den Wanderjahren Carl August Varnhagen von Enses polyperspektivische Besprechung als besonders angemessen herausstellt: Nun darf ich mich zuletzt gar mannigfach besonders auch des Wohlwollens gegen die Wanderjahre dankbarlichst erfreuen […]. Ein tiefsinnender und fühlender Mann Varnhagen von Ense, der, meinen Lebensgang schon längst aufmerksam beobachtend, mich über mich selbst seit Jahren belehrte, hat im Gesellschafter die Form gewählt, mehrere Meinungen im Briefwechsel gegen einander arbeiten zu lassen, in solchem Falle sehr glücklich, weil man den Bezug eines Werks zu verschiedenen Menschen und Sinnesweisen hiedurch am besten zur Sprache bringen und sein eignes Empfinden mannigfach anmutig an den Tag geben kann.59
Man könnte meinen, Goethe rede hier avant la lettre einer radikalen Rezeptionsästhetik das Wort, so als sei das Werk gleichsam nur eine Partitur, die sich erst in den verschiedenen Lektüreakten zur vollen Sinnhaftigkeit konkretisiert. Doch wenn er den Lesern seinem Werk gegenüber das Recht einräumt, »daß jeder sich zueigne was ihm gemäß ist«, dann ist damit keineswegs Beliebigkeit gemeint, so als könne man sich wie bei einem »Weisheitsbuch«60 die passenden Sinnsequenzen für erbauliche Zwecke 58 59
60
Zu der vom Roman verlangten produktiven Leserhaltung siehe Manfred Karnick: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Kunst des Mittelbaren, S. 186–191. Kommentar FA 10, S. 854f. Goethe bezieht sich auf die von Varnhagen von Ense 1821 in der Zeitschrift Der Gesellschafter (Berlin, Nr. 131–138, 17.–29. August 1821) veröffentlichten »15 Briefe oder Gespräche über die Wanderjahre, meist dithyrambisch.« Abgedruckt in: Goethe und seine Kritiker, hrsg. von Oscar Fambach, Düsseldorf 1953, S. 252–270. So Erich Trunz, der im Nachwort zu Wilhelm Meisters Wanderjahren ausführt, daß es sich bei Goethes Werk um keinen Roman im herkömmlichen Sinn handle: »Versucht man sie [die Wanderjahre] als Erzählung mit einem Handlungszusammenhang zu lesen, so wird man enttäuscht. Bemüht man sich dagegen, das, was man vorfindet, in seiner Eigenart zu erkennen, so findet man ein Weisheitsbuch,
26 aussuchen. Zwar ruft die offene Form des Romans mit ihren komplexen Überlagerungen unterschiedlicher narrativer Instanzen, der Aufhebung jedes fortlaufenden Erzählens, der mangelnden Integration über einen zentralen Helden und der Präsentation verschiedenster Textsorten mit differierenden Authentizitätsgraden Leserirritationen hervor.61 Das heißt aber nicht, daß der Roman völlig disparate Erzählwelten erzeugt, die durch nichts als die Kapitelfolge zusammengehalten wären. Goethe selbst besteht darauf, daß sein Roman einen gemeinsamen Nenner habe, wenn er Sulpiz Boisserée am 23. Juli 1821 für die »freundliche Aufnahme [seines] Wanderers« mit den Worten dankt: »wenn dieses Werkchen auch nicht aus Einem Stücke ist, so finden Sie doch solches gewiß in Einem Sinne.« (WA IV/35, 31f.)62 Dieser »Eine Sinn« läßt sich bei der Vielfalt der Themen, der Unterschiedlichkeit der Textsorten und differierenden Referenzen zwar inhaltlich nicht genau fixieren, aber doch von den entfalteten Problemfeldern her erfassen. Auf höchst komplexe Weise reflektieren diese im wechselseitigen Bezug aufeinander die Psychohistorie einer Moderne, in der sich das Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität vor dem Hintergrund soziokultureller Umwälzungen neu formiert. Die vorliegende Studie weist diese Neuformierung vornehmlich am Leitfaden von zwei Figuren des Romans auf: Wilhelm und Lenardo, die beide den Weg von der Ich-Zentrierung zur Wir-Orientierung zurückzulegen haben – gemäß dem, was Goethe im Gespräch mit Kanzler von Müller am 8. Juni 1821 über Wilhelm bemerkt: Dieser habe »so vieles
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aber nicht das eines Philosophen, sondern das eines Künstlers.« (Kommentar HA 8, S. 527) Ähnlich äußert sich Friedrich Gundolf: »Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden ist weit mehr ein Weisheitsbuch als eine Dichtung und nur sehr bedingt als eine Fortsetzung der Lehrjahre anzusehen.« F. G.: Goethe, Berlin 61918, S. 714; für Richard Friedenthal sind »die Wanderjahre […] kein Roman mehr, sondern ein Repositorium für Goethes Altersweisheit, für seine Gedanken über Erziehung, die Welt, die Menschen.« R. F.: Goethe. Sein Leben und seine Zeit, München 101982, S. 403. Zu Einzelheiten siehe Heidi Gidion: Zur Darstellungsweise von Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, Göttingen 1969, S. 106–125; siehe auch Hans Rudolf Vaget: Johann Wolfgang Goethe. Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829), in: Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Neue Interpretationen, hrsg. von Paul Michael Lützeler, Stuttgart 1983, S. 136–164, bes. S. 142–145. Fast wortwörtlich greift Goethe diese Wendung in einem Brief an Joseph Stanislaus Zauper vom 7. September 1821 wieder auf: »Zusammenhang, Ziel und Zweck liegt innerhalb des Büchleins selbst; ist es nicht aus Einem Stück, so ist es doch aus Einem Sinn, und dieß war eben die Aufgabe: mehrere fremdartige, äußere Ereignisse dem Gefühl als übereinstimmend entgegenzubringen.« (WA IV/35, S. 74)
27 schon in den Lehrjahren gelernt«, daß »er ja auf der Wanderschaft desto mehr Fremdes an sich vorübergehen lassen« müsse.63 Wenn ich mich auf Wilhelm und Lenardo konzentriere, dann geschieht das also nicht, um deren Bildungsgeschichten zu verfolgen, so als wären die Wanderjahre lediglich als Verlängerung der Lehrjahre zu lesen, sondern um die verschiedenen Wirklichkeitsszenarien, die sie als ›teilnehmende Beobachter‹ durchlaufen, als Empfindende erleben oder als Akteure mitgestalten, näher zu charakterisieren. Wie den Roman selbst interessieren auch mich beide Protagonisten gleichsam nur als Reflektorfiguren, an denen sich die Moderne in narrativen und psychischen Brechungen spiegelt.64 Im einzelnen untersuche ich Wilhelms eigentümliche Begegnung mit Joseph dem Zweiten sowie die Besonderheiten der Pädagogischen Provinz, in der er seinen Sohn Felix abgibt, die Bedeutung seiner Reise an den Lago Maggiore und seinen Weg zum Beruf des Mediziners. Ferner gehe ich den Gründen für Lenardos traumatische Bindung an Nachodine nach, zeige die Eigentümlichkeiten seiner Wiederbegegnung mit ihr im Gebirge auf, analysiere die Spezifik der Auswandererprogrammatik und nehme die Vergemeinschaftungskonzeptionen der amerikanischen und europäischen Kolonisatoren in den Blick. Darüber hinaus lasse ich mich von der Fragestellung leiten, wie im Roman das Schöne, einstmals Garant harmonischen Menschseins, unter die allgegenwärtige Dominanz des Nützlichen gerät und wie selbst das von Makarie repräsentierte holistische Konzept einer übergreifenden Einheit von Mensch und Kosmos im Zeichen der Moderne zu Zwecken der Psycho- und Sozialtherapie instrumentalisiert wird. Dabei stütze ich mich zum Teil auf eigene Vorarbeiten, die im Literaturverzeichnis aufgeführt sind.
63 64
Goethes Gespräche, Band 3.1, Zürich, Stuttgart 1971, S. 251. Im Hinblick auf Wilhelm Meister führt Ehrhard Bahr entsprechend aus, er sei in den Wanderjahren »nicht mehr die Zentralfigur, wie in den Lehrjahren, sondern ein durchschnittliches Einzelschicksal, dessen Geschichte erst in dialektischer Verbindung mit der Gesellschaft und den aktuellen Problemen der Zeit bedeutsamer wird.« E. B.: Realismus und Totalität. Wilhelm Meisters Wanderjahre als Roman des 19. Jahrhunderts, in: Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift für Charlotte Jolles, hrsg. von Jörg Thunecke, Nottingham 1979, S. 88–92, hier S. 90.
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II. Joseph der Zweite: Inszenierte Tradition als Zuflucht vor der Moderne
1. Enttäuschte Erwartungen In seiner kritischen Besprechung der zweiten Fassung der Wanderjahre wundert sich Theodor Mundt über das seltsame Eröffnungsszenario des Romans, da doch die Lehrjahre etwas ganz anderes versprachen: Am Schluß der Lehrjahre vermuteten wir im glücklichsten Falle eine Hochzeit, aber mit dem Anfang der Wanderjahre erfahren wir, daß Wilhelm von der Loge, als deren, wie es scheint, noch immer nicht ganz aufgeklärtes Mitglied er aufgenommen worden, mit der auferlegten Pflicht der ›Entsagung‹ auf die Wanderschaft ausgesendet ist.1
Offensichtlich enttäuscht der Beginn der Wanderjahre Erwartungen, die das Schlußkapitel der Lehrjahre hervorruft. Dort deutet noch alles darauf hin, daß sich für Wilhelm nach vielen Irrtümern, geheimem Bangen und vergeblichem Hoffen in einer ehelichen Verbindung mit Natalie endlich jene Verheißung erfüllen werde, die ihm seit der ersten Begegnung mit ihr vor Augen gestanden hatte. Damals lag Wilhelm nach einem Überfall schwer verletzt am Rande eines Reisewegs, als eine fremde Reiterin erschien, ihn durch ihren Wundarzt versorgen ließ und fürsorglich mit ihrem Mantel bedeckte: In diesem Augenblicke, da er den Mund öffnen und einige Worte des Dankes stammeln wollte, wirkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinne, daß es ihm auf einmal vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite sich nach und nach ein glänzendes Licht. (FA 9, 590)
Als Wilhelm nach seiner Ohnmacht wieder erwacht, ist die sonderbare Erscheinung des »hülfreichen Engels, […] die Schöne samt ihren Begleitern verschwunden.« (FA 9, 591) Die Begegnung avanciert in der Folge zum prägenden Moment seiner Glücksvorstellung, die sich ihm in der »schö1
Theodor Mundt: Rez.: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Zweite Fassung 1829, in: Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 264–266, Leipzig 21.–23. September 1830, zitiert nach Teilabdruck in MA 17, S. 1044–1049, hier S. 1045f.
29 ne[n] Besitzerin des Kleides« (FA 9, 591) als Wunschbild seines zukünftigen Schicksals konkretisiert: »Er sah noch den Rock von ihren Schultern fallen, die edelste Gestalt […] vor sich stehen, und seine Seele eilte der Verschwundnen durch Felsen und Wälder auf dem Fuße nach.« (FA 9, 591) Am Ende der Lehrjahre findet Wilhelm schließlich zu der Frau, die er so lange ersehnt hatte – sogar auf die bevorstehende Heirat wird angespielt (siehe FA 9, 990). Nimmt man den ironischen Unterton nicht wahr, der durch die Referenz auf die biblische Geschichte vom Melancholiker und Selbstmörder Saul ins Spiel kommt, kann der Eindruck entstehen, Friedrichs Schlußsentenz: »du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand« (FA 9, 992), markiere »den Augenblick höchsten Glücks.«2 Dieser vom Oberflächengeschehen der Lehrjahre evozierte glückliche Ausgang wird zu Beginn der Wanderjahre auf subversive Weise aufgenommen: Zwar wird von einem Familienvater erzählt, doch dieser ist Joseph und nicht Wilhelm. Während er in der ersten Fassung der Wanderjahre Natalie immerhin noch einmal, »[o]bschon durch eine ungeheuere Kluft getrennt« (163), durch ein Fernrohr auf einem gegenüberliegenden Gipfel sieht, verliert er in der zweiten Fassung die am Ende der Lehrjahre auserkorene Frau gänzlich aus den Augen. Er schreibt ihr nur noch einige Briefe, bis sie dann mit ihrem Bruder vorzeitig nach Amerika abreist (siehe 720), während er – vorerst noch? – auf dem alten Kontinent zurückbleibt. So präsentiert der Beginn der Wanderjahre Wilhelm als alleinerziehenden Vater, der mit seinem Sohn Felix durchs Gebirge zieht, auf dessen Fragen keine rechten Antworten weiß und ihn an Fachleute verweist. Schließlich gibt er ihn, um einen Suchauftrag zu übernehmen, in der Pädagogischen Provinz ab und entledigt sich damit all seiner Vaterpflichten, die er einst in den Lehrjahren voller Emphase begrüßt hatte (siehe FA 9, 881). Die Glücksverheißung einer Familie, die das Ende der Lehrjahre sug2
So Hans-Jürgen Schings in seiner Einführung in die Lehrjahre, in: MA 5, S. 642; siehe hingegen Friederike Eigler, die anhand der biblischen Analogie aufzeigt, daß die Schlußszene der Lehrjahre nur vordergründig als harmonische Vollendung zu betrachten ist, »weil die Geschichte von Saul noch weitergeht; wie dieses biblische Gleichnis endet, steht nicht im Roman: Saul gelangt unverdient – und unvorbereitet – an ein Königreich, ist aber seiner Lebensaufgabe nicht gewachsen und begeht schließlich Selbstmord.« F. E.: Wer hat ›Wilhelm Schüler‹ zum ›Wilhelm Meister‹ gebildet? Wilhelm Meisters Lehrjahre und die Aussparung einer hermeneutischen Verstehens- und Bildungspraxis, in: Goethe Yearbook 3 (1986), S. 93–119, hier S. 113.
30 geriert, bleibt in den Wanderjahren, wenigstens für Wilhelm, unerfüllt. Statt dessen wird er zu Beginn des Romans nur Zeuge einer solchen Familienidylle, die sich ihm als eindrückliche Szenerie darstellt: Ein derber, tüchtiger, nicht allzugroßer junger Mann, leicht geschürzt, von brauner Haut und schwarzen Haaren, trat kräftig und sorgfältig den Felsweg herab, indem er hinter sich einen Esel führte, der erst sein wohlgenährtes und wohlgeputztes Haupt zeigte, dann aber, die schöne Last, die er trug, sehen ließ. Ein sanftes, liebenswürdiges Weib saß auf einem großen, wohlbeschlagenen Sattel; in einem blauen Mantel, der sie umgab, hielt sie ein Wochenkind, das sie an ihre Brust drückte und mit unbeschreiblicher Lieblichkeit betrachtete. (264f.)
Ihnen voran laufen zwei Knaben, die »große Schilfbüschel [tragen], als wenn es Palmen wären«; und am Vater bemerkt Wilhelm, wie er Natalie brieflich mitteilt, daß dieser »wirklich eine Polieraxt auf der Schulter und ein langes schwankes eisernes Winkelmaß« (265) trägt. In Wilhelms überraschtem Konstatieren (»wirklich«) deutet sich an, daß er seine Wahrnehmung nicht mittels neutraler Beschreibung wiedergibt. Die vermeintliche Faktizität der idyllischen Szenerie überblendet er durch sein ikonographisches Wissen um eine Bildtradition, die die Heilige Familie mit bestimmten Attributen ausstattet, mit welchen die vorbeiziehende Familie sich schmückt.3
2. Das Leben Josephs als imitatio Als Wilhelm dann die Familie näher kennenlernt, deren Oberhaupt Joseph heißt (nomen est omen), wird er Zeuge einer Lebensordnung, in der die Menschen augenscheinlich in völliger Übereinstimmung mit sich und ihrer Umwelt leben. Das Areal, in dem Joseph wirkt, erweist sich als »ein sorgfältig bebautes, von Hügeln rings umschlossenes Tal« (270), in dem sich noch fast keine Spuren des Modernisierungsprozesses finden – anders als bei den Spinnern und Webern um Frau Susanne, deren Existenzgrundlage das aufkommende »Maschinenwesen« (713) zu vernichten droht.4 Allein die Tatsache, daß der Agrarkapitalismus des Oheims in Form des Kir3
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Zum Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und Wissen bei Wilhelm siehe Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre: Eine Kulturgeschichte der Moderne, Tübingen, Basel 2002, S. 208f.; Christian Mittermüller: Sprachskepsis und Poetologie. Goethes Romane Die Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meisters Wanderjahre, Tübingen 2008, S. 168f. Zu Einzelheiten siehe S. 188–198 der vorliegenden Arbeit.
31 schenhandels bis in Josephs Tal vorgedrungen ist (siehe 270f.), indiziert zunächst einen gewissen historischen Wandel.5 Die anderen Daseinsbedingungen hingegen werden gemäß der alteuropäischen Ökonomik des Ganzen Hauses 6 und ihrem Leitprinzip der Subsistenz organisiert: Nachhaltigkeit der Produktion sowie die Befriedigung konkreter Bedürfnisse markieren die Wertmaßstäbe dieser Lebensform, für die nicht abstrakte Kapitalakkumulation, sondern die Versorgung mit Notwendigem den Endzweck bildet. Die von Jarno/Montan proklamierte »Zeit der Einseitigkeiten« (295) – zentrales Thema der Wanderjahre – ist in dem abgelegenen Bezirk, in dem Joseph und seine Familienangehörigen leben, offenbar noch nicht angebrochen. So berichtet Joseph über seine vielfältigen Tätigkeiten: »Der Mensch ist mehr auf sich gestellt, seinen Händen, seinen Füßen muß er vertrauen lernen. Der Arbeiter, der Bote, der Lastträger, alle vereinigen sich in Einer Person« (274f.) – und das scheinbar fraglos. Auf den ersten Blick herrscht in dieser Enklave noch keine Diskrepanz zwischen individuellem Lebenssinn und übergreifendem Weltsinn. Josephs Leben scheint ganz in die Gewißheiten einer traditionalen Gemeinschaft eingebettet, in welcher Sozialität die Biographie determiniert. Geprägt von dem Ort seiner Geburt, der Berufstradition seines Vaters und seinem Taufnamen, wächst er in seine soziale Stellung hinein und füllt sie zu seiner und anderer Zufriedenheit aus. Alternative Lebensmöglichkeiten sind ihm nie in den Sinn gekommen. Folglich hat er – anders als Wilhelm Meister in den Lehrjahren – auch nicht gegen die väterliche Lebensform opponiert. Er überschritt niemals die ihm durch Herkunft bestimmten sozialen Grenzen, erprobte sich nicht in neuen Lebensräumen, wiegte sich nicht in schönen Illusionen, scheiterte nicht aufgrund hochgespannter Ambitionen, sondern schreitet seinen eng abgesteckten Lebenskreis in sicherer Übereinstimmung von Wollen und Sollen ab. So scheint es wenigstens, und so ist es in der älteren Forschung auch häufig konstatiert worden. Sie sah in Joseph und der durch ihn repräsentierten Lebens5
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Konsequent hat Goethe die Erwähnung des Kirschenhandels, die auf den in der zweiten Fassung der Wanderjahre dargestellten Agrarkapitalismus des Oheims verweist, ebenfalls erst in die zweite Fassung aufgenommen. Zur alteuropäischen Wirtschaftsform des ›Ganzen Hauses‹ siehe Otto Brunner: Das ›ganze Haus‹ und die alteuropäische ›Ökonomik‹, in: O. B.: Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, S. 33–61; siehe auch O. B.: Art.: Hausväterliteratur, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 5, hrsg. von Erwin von Beckerath, Carl Brinkmann, Hermann Bente, Stuttgart 1956, S. 92f.; siehe ebenfalls Erich Egner: Der Verlust der alten Ökonomik, Berlin 1985, S. 82–133.
32 form die unentfremdete Existenz eines harmonischen Daseins, in dem Ich und Welt, physisches Leben und metaphysische Ordnung zusammenstimmen; man glaubte, er habe das Ideal des ganzheitlichen Menschen realisiert, der frei ist von allen Entfremdungen und Partikularisierungen.7 Fast hat es den Anschein, als herrsche in Josephs Refugium jener ›ästhetische Zustand‹, den Schiller als Manifestation eines Daseins bestimmt, das durch die harmonische Vermittlung unterschiedlicher Lebensbereiche und Seelenvermögen ausgezeichnet ist. Doch nicht allein der Umstand, daß sich Josephs Familie in »Harmonie mit ihrer Umgebung« befindet (273), deutet auf die vermeintliche Verwirklichung eines ›ästhetischen Zustands‹ hin; vielmehr zeigt auch die Genese ihrer Lebensweise, daß die Josephsfamilie nicht einfach in einer rousseauistischen Enklave jenseits der Moderne lebt, sondern ein durch Kunst vermitteltes Dasein führt. Dieses ist nach den Fresken geformt, die Joseph seit seiner Kindheit in der später dann von ihm zum Wohnraum umgestalteten Seitenkapelle vor Augen stehen. »Die Gemälde stellten die Geschichte des heiligen Joseph vor« (271), wie Wilhelm in seinem Brief an Natalie zunächst registriert, um dann auf die einzelnen Bilder näher einzugehen. Seine Beschreibung des Freskenzyklus8 endet mit dem Hinweis 7
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Erich Trunz schreibt in seinem Kommentar in HA 8, S. 556: »Die Josephs-Familie ist verwurzelt, ungebrochen, gläubig und sicher.« Ähnlich Hans Joachim Schrimpf: Joseph sei »der schlechthin Geborgene, unmittelbar im Sinnzusammenhang Stehende, der Mensch, der ›zu Hause‹ ist, der sich ständig als in einer gründenden Ordnung einbehalten begreift.« H. J. S.: Das Weltbild des späten Goethe. Überlieferung und Bewahrung in Goethes Alterswerk, Stuttgart 1956, S. 150; nach Hans-Jürgen Bastian bilden bei Joseph »[k]örperliche und geistige Arbeit […] eine Einheit. Arbeit ist ihm nicht Erledigung lästig-notwendiger Aufträge, sondern hochbemühter Einsatz der Totalität seiner Persönlichkeit.« H.-J. B.: Zum Menschenbild des späten Goethe. Eine Interpretation seiner Erzählung Sankt Joseph der Zweite aus Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Weimarer Beiträge 12 (1966), S. 471–488, hier S. 475. Goethe stützt sich bei Wilhelms Beschreibung auf mehrere Quellen. Schon am 10. Mai 1799 informiert er sich bei Johann Heinrich Meyer über »die gewöhnliche Suite von Gemählden wenn die Geschichte des Heiligen Josephs des Pflegevaters vorgestellt wird« (Kommentar FA 10, S. 1031), leiht sich am 6. Juli 1799 aus der Großherzoglichen Bibliothek den dritten Band der Acta Sanctorium (Venetiis 1736) aus, der die Geschichte des Heiligen Joseph enthält (siehe hierzu Elise von Keudell: Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek, Weimar 1931, S. 156) und greift noch auf weitere Vorlagen zurück (siehe hierzu Gertrud Haupt: Goethes Novellen St. Joseph der Zweite, Die pilgernde Thörin, Wer ist der Verräther?, Greifswald 1913, S. 18–29); nachdem Goethe die Novelle 1809 in Cottas Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1810 vorab publiziert hat, beschreibt er 1820 im Anhang Antik und Modern zu Philostras Gemählde vier Radierungen der Flucht nach
33 auf die Entsprechung zwischen der bildlichen Darstellung der biblischen Josephsgeschichte und Josephs individueller Lebensgestaltung: »Gleich darauf folgt die Flucht nach Ägypten. Sie erregte bei dem beschauenden Wanderer ein Lächeln, indem er die Wiederholung des gestrigen lebendigen Bildes hier an der Wand sah.« (272) Wilhelm bemerkt zu Recht die frappante Übereinstimmung zwischen dem Wandgemälde und dem, was er tags zuvor gesehen hatte. Doch zugleich täuscht er sich – denn es verhält sich umgekehrt: Nicht das Bild reproduziert die lebendige Szenerie, sondern die Szenerie folgt dem Bild. Das Leben wird zur Mimesis der Kunst. Joseph ahmt das in der Ikonographie des Marienlebens geläufige Motiv perfekt nach; und auch die anderen Szenen des Zyklus werden für ihn zum Appell, ins eigene Leben zu überführen, was ihm die Wandgemälde aus den Geschichten um die Heilige Familie vor Augen stellen. Zur Nachahmung lädt der Freskenzyklus Joseph nicht zuletzt deshalb ein, weil er einen bedeutsamen ikonographischen Wandel markiert. In ihm wird der biblische Joseph von der Peripherie ins Zentrum des Bildes gerückt. Erst aufgrund dieser Aufwertung vermag er sein Identifikationspotential für das patriarchale Selbstverständnis des zweiten Joseph zu entfalten. Als Randfigur der vorangegangenen Bildtradition hingegen hätte er für ihn als Familienoberhaupt nicht zur Vorbildfigur avancieren können. Denn die ursprüngliche Ikonographie taucht den Heiligen Joseph in ein durchaus zwiespältiges Licht. Mit ironischer Anspielung auf den Zweifel an dessen Vaterschaft verweist Goethe hierauf in der Notiz Naivität und Humor im ersten Heft Über Kunst und Altertum: Auf den heiligen Joseph überhaupt haben es die Künstler abgesehen. Die Byzantiner denen man nicht nachsagen kann daß sie überflüssigen Humor anbrächten, stellen doch bey der Geburt den Heiligen immer verdrießlich vor. Das Kind liegt in der Krippe, die Thiere schauen hinein, verwundert, statt ihres trockenen Futters ein lebendiges, himmlisch-anmuthiges Geschöpf zu finden. Engel verehren den Ankömmling, die Mutter sitzt still dabei; St. Joseph aber sitzt abgewendet und kehrt unmuthig den Kopf nach der sonderbaren Scene.9
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Ägypten von Sébastien Bourdon, in: FA 20, S. 351–353; darauf, daß die Heilige Familie und insbesondere deren Flucht nach Ägypten ein beliebtes Sujet der Nazarener war, verweist Gabrielle Bersier: Goethe’s Parody of ›Nazarene‹ Iconography. The Joseph Story in Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Goethe Yearbook 9 (1999), S. 264–277, bes. S. 266–268. Goethe: Naivität und Humor (Über Kunst und Altertum, erster Band, drittes Heft), in: FA 20, S. 225–226, hier S. 226. Siehe auch den Vierzeiler, den Goethe unter dem Titel Heilige Familie in die Zweite Sammlung der Vermischten Gedichte von 1789 aufnimmt und dann unter der Rubrik Antiker Form sich nähernd der Sammlung von 1815 einfügt: »O des süßen Kindes, und o der glücklichen Mutter, / Wie sie
34 Im bildgeprägten kollektiven Gedächtnis standen Maria und das Jesuskind bis in die frühe Neuzeit im Zentrum der Heiligen Familie. Joseph war dabei nur als Hintergrundfigur gegenwärtig, die in ihrer Dienstbarkeit aufgeht. Das hat seine Gründe: Vom Zeugungsakt ausgeschlossen, fungierte er als personaler Repräsentant einer spirituellen Beziehung. Dieser gemäß fügte sich die Heilige Familie nicht in die biologische Genealogie, sondern in die göttliche Ordnung ein. Das aber trennt die Heilige Familie substantiell von den profanen Familien. Denn in jener gibt es keine leibliche, sondern nur eine ›geistliche‹ Vaterschaft; die Existenz des Sohnes Jesus ist spirituell fundiert und die Mutter Maria ist durch ihre unbefleckte Empfängnis dem menschlichen Dasein partiell entrückt. Damit sich die Heilige Familie aber mit der psychosozialen Entwicklung der Gläubigen zu akkommodieren vermag, muß die unaufhebbare Differenz zwischen dem Sakralen und dem Profanen nivelliert werden. Dies vollzieht sich in einem langen Prozeß der Säkularisation. In ihm werden die Glaubensinhalte zunehmend in ihren einzelnen Bestandteilen verfügbar, sie lassen sich in neue Kontexte integrieren und zu Elementen des Alltags depotenzieren. Hildegard Erlemann hat in diesem Zusammenhang gezeigt, daß seit dem 15. Jahrhundert und dann intensiviert seit dem 17. Jahrhundert auf den Bilddarstellungen der Heiligen Familie Joseph immer stärker ins Zentrum des Personenensembles rückt.10 War er in der Marienikonographie bis dahin lediglich eine Figur, die nahezu unbeteiligt am Rande des Heilsgeschehens stand, so wird er seit dieser Zeit zunehmend als kundiger Zimmermann und fähiges Familienoberhaupt dargestellt. Zwar partizipiert auch er aufgrund seiner Schutz- und Fürsorgebeziehung zu Maria und Jesus an der Aura des Heiligen, die ihn ein Stück weit über die Sphäre des Alltags erhebt, doch tritt das sakrale Moment mehr und mehr in den Hintergrund. Der Patriarchalismus, den die früheren Darstellungen der Heiligen Familie zugunsten ihrer heilsgeschichtlichen Rolle suspendiert hatten, wird jetzt zur Zentralidee der Bildkompositionen. Joseph steigt zum irdischen Vorbild auf, dem der Mann nachzueifern hat, will er als rechtes Familienoberhaupt agieren. Allerdings erschöpft sich die Josephsnovelle nicht in der Spiegelung dieses ikonographischen Wandels, der die patriarchal umkodierte Heilige
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sich einzig in ihm, wie es in ihr sich ergetzt! / Welche Wonne gewährte der Blick auf dies herrliche Bild mir, / Stünd’ ich Armer nicht so heilig, wie Joseph, dabei!« (FA 2, S. 331) Siehe Hildegard Erlemann: Die Heilige Familie. Ein Tugendvorbild der Gegenreformation im Wandel der Zeit. Kult und Ideologie, Münster 1993, S. 131–157.
35 Familie zur ›Inszenierungsanweisung‹ für das Zusammenleben von Eltern und Kindern macht. Joseph folgt zwar den Nachahmungsappellen des Bilderzyklus seiner Kapelle und ›produziert‹ so das – vermeintlich – »urphänomental[sic!]-typische Modell einer vorbildlichen Familie«.11 Doch hat die sich als zeitenthobenes Idyll präsentierende Welt Josephs des Zweiten, in der die Menschen vordergründig noch in Übereinstimmung mit sich und der Umgebung leben, einen spezifischen geschichtlichen Stellenwert. Ihn verdeutlicht der trügerische Schein, in den diese Welt getaucht ist. Anders als Joseph Wilhelm gegenüber resümiert: »Und so erhalten wir auch mit freundlicher Gewohnheit den äußeren Schein, zu dem wir zufällig gelangt, und der so gut zu unserem Innern paßt« (285), ist an ihr ja nichts authentisch, sondern alles artifiziell. Schon die Tatsache, daß es sich um ein »großes, halb in Trümmern liegendes, halb wohlerhaltenes Klostergebäude« handelt (270), dessen Kapelle Joseph zu Wohnzwecken umgebaut hat, verweist auf den Prozeß der Säkularisierung, in dem sich der religiöse Geist verflüchtigt hat. Dabei verdeutlicht gerade Josephs imitatio der biblischen Gestalt die Abwesenheit dieses Geistes.12 An dessen Stelle tritt die Nachahmung, die das Sakrale profanisiert, um dem Profanen den Anschein des Sakralen zu verleihen. So avanciert die Kapelle zum Ort einer Selbstinszenierung, bei der die Wandgemälde als Kulisse und als Rollenanweisungen fungieren. Damit aber stehen sie in diametralem Gegensatz zu ihrer ursprünglichen religiösen Funktion: Sie dienen nicht mehr dem kulturellen Gedächtnis, das die Glaubensinhalte über Generationen hinweg präsent hält. Stifteten die Bilder als Medien kollektiver Erinnerung einst die Gemeinschaft der Gläubigen, so geht von ihnen jetzt nur noch der Impuls zur äußerlichen Imitation aus. Denn indem Joseph der Zweite sein Leben nach den biblischen Bildern formt, stellt er sich nur scheinbar in die Nachfolge seines Vorbilds.13 Der einstmals lebendige Glaubenszusammenhang verflüchtigt sich bei ihm zur bloßen Darstellung eines Hei11
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Hans-Jürgen Bastian: Zum Menschenbild des späten Goethe, S. 472; ähnlich Wilhelm Emrich, der in Josephs Familie die »Urzelle menschlicher Gemeinschaft« sieht. W. E.: Das Problem der Symbolinterpretation im Hinblick auf Goethes Wanderjahre, in: DVjs 26 (1952), S. 331–352, hier S. 343. Siehe auch Peter Brandes: Sankt Joseph der Zweite. Bildtheologie in Goethes Wanderjahren, in: Literatur und Theologie. Schreibprozesse zwischen biblischer Überlieferung und geschichtlicher Erfahrung, hrsg. von Ulrich Wergin und Karol Sauerland, Würzburg 2005, S. 107–126, bes. S. 119–126. Siehe auch Gabrielle Bersier: »Yet, for all its religious allusions, ›Saint Joseph the Second‹ is also devoid of any sacred dimension.« G. B.: Goethe’s Parody of ›Nazarene‹ Iconography, S. 274.
36 ligen. Ihm wird die Welt zur Bühne, aber nicht im theozentrischen Sinn einer Seinsordnung, die in Gott ihren obersten Zuschauer hat, sondern im anthropozentrischen Sinn einer Selbstdarstellung, die im ostentativen Rollenspiel Sinnsurrogate schafft, um Sinnverluste zu kompensieren. Die augenscheinlich heile Welt, in der Joseph mit seiner Familie lebt, erweist sich dergestalt als bloßes Arrangement ohne heilsgeschichtlichen Legitimationsgrund. Das verdeutlicht nicht zuletzt der ruinöse Zustand der Klosteranlage, der die Differenz zwischen Einst und Jetzt markiert. Joseph lebt nicht mehr in der Erfahrung religiöser Gewißheiten, sondern partizipiert nurmehr in postfiguraler Gestaltung seines Lebens an der Aura des Heiligen. Indem Joseph die Distanz zur Vergangenheit im Akt der Inszenierung aufzuheben sucht, setzt er sie implizit als geschichtliches Faktum voraus. Auf diese Weise entfaltet seine imitatio Josephi eine Dialektik von religiösem Traditionsverlust und ästhetischer Traditionsbewahrung. Was Heinz und Hannelore Schlaffer allgemein als Eigentümlichkeit des Historismus bestimmt haben, zeigt sich an ihm geradezu exemplarisch. Denn für ihn wird »die abgelebte Geschichte mittels ihrer ästhetischen Präsenz wieder Gegenstand subjektiver Identifikation«,14 wenn er das in der Bilderfolge aufbewahrte biblische Geschehen ins alltägliche Leben überführt. Dabei findet ein mehrfacher Medientransfer statt: Evangelien, die mündlich tradierte Ereignisse um die Heilige Familie als Glaubensgewißheit fixieren, finden ihre bildmächtige Repräsentanz in einem Kloster, das im Laufe der Jahrhunderte seinen religiösen Charakter als Kultstätte verloren hat und zum Wohnraum einer Familie umgestaltet wurde, die diese Bilder wiederum mittels bestimmter Haltungen und Handlungen nachahmt. Das überlieferte Geschehen verliert dadurch seine Verbindlichkeit, die Bewohner greifen sich einzelne Details seiner Visualisierung heraus und übertragen sie auf ihr eigenes Dasein, um diesem eine Bedeutungstiefe zu verleihen, die es ansonsten nicht aufweist.
3. Das ironische Arrangement des Redaktors Zu beachten ist, daß Wilhelms Aufzeichnungen über Joseph, die er für Natalie anfertigt, dem Leser nicht direkt präsentiert werden, sondern gemäß der Archivfiktion des Romans noch eine Überarbeitung durch den 14
Hannelore und Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt a. M. 1975, S. 15.
37 Redaktor erfahren haben. Dabei verdeutlichen schon die von diesem gesetzten Zwischenüberschriften auf ironische Weise, wie sehr Joseph sich des biblischen Geschehens in gezielter Auratisierung bemächtigt.15 Die ersten beiden Kapitel von Wilhelms redigiertem Bericht überschreibt der Redaktor mit Die Flucht nach Ägypten und Sankt Joseph der Zweite, die anderen beiden Kapitel, die mündliche Berichte Josephs wiedergeben sollen, mit Die Heimsuchung und Der Lilienstengel. Hiermit unterbricht er den Fluß des Erzählten, versieht den Sachgehalt mit anspielungsreichen Etiketten und ordnet seine narrative Entfaltung nominal bereits dem biblischen Geschehen zu. Dadurch aber wird das Erzählte aus Wilhelms Erlebniszusammenhang gerückt; es entsteht der Eindruck einer emblematischen inscriptio – so als sei das Geschehen nur Illustration einer durch die verweisungsreichen Paratexte kenntlich gemachten Sinnstiftungsfigur, die ihre Dignität der Bibel verdankt. Doch stehen Überschrift und Inhalt der Kapitel in ironischem Kontrast. So überdehnt der vom Redaktor für das erste Kapitel der Novelle gewählte Titel Die Flucht nach Ägypten einerseits den heilsgeschichtlichen Orientierungsrahmen so weit, daß die Genreszene eines ›Familienausflugs mit Esel‹ zum marginalen Anknüpfungspunkt schrumpft. Andererseits erweist die Tatsache, daß es sich nicht um eine fliehende, sondern um eine heimkehrende Familie handelt, die Selbstinszenierung der Gestalten nach ikonographischen Vorbildern beinahe als blasphemische Anmaßung. Wenn hier jemand auf dem Weg in die Fremde ist und dabei den am Ende der Lehrjahre aufscheinenden Ort familialen Glücks verlassen muß, dann ist es Wilhelm. Und wenn unter der Überschrift Sankt Joseph der Zweite berichtet wird, wie der Protagonist durch den Ort, den Taufnamen und die Bilder der Kapelle seine Pseudo-Identität gewinnt, so steht doch dessen Familienleben in deutlichem Kontrast zur tradierten Ikonographie der Heiligen Familie. Denn Joseph hat mit Marie neben seinem Adoptivsohn noch mehrere leibliche Kinder, wie er Wilhelm berichtet: Die Pflichten und Freuden des Pflegevaters und Vaters vereinigten sich; und so überschritt zwar unsere kleine Familie, indem sie sich vermehrte, ihr Vorbild an Zahl der Personen, aber die Tugenden jenes Musterbildes an Treue und Reinheit der Gesinnungen wurden von uns heilig bewahrt und geübt. (285)
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Auf Differenzen zwischen den Kapitelüberschriften und dem dargestellten Geschehen verweisen u. a. Anneliese Klingenberg: Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Quellen und Komposition, Berlin, Weimar 1972, S. 41f.; Henriette Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 39–45; Christian Mittermüller: Sprachskepsis und Poetologie, S. 173–175.
38 Allein »Tugenden« stellen die recht brüchige Brücke zum Vorbild dar, über die Joseph nur zu gehen vermag, indem er die widerstrebenden Realitätspartikel mit einem »zwar« marginalisiert. Als brüchig erweist sich diese Brücke allein schon deshalb, weil Joseph einst wünschte, Maries erster Mann möge bei dem Überfall, nach dem er ihr zum erstenmal begegnete, ums Leben gekommen sein (siehe 283) – ein deutlicher Hinweis darauf, daß seine Gesinnungen keineswegs so tugendhaft sind, wie er Wilhelm glauben machen will. Die weiteren Zwischentitel, mit denen der Redaktor den von Wilhelm aufgezeichneten Bericht Josephs segmentiert, markieren gleichfalls die Differenz zwischen biblischem Geschehen und profaner Alltagsexistenz und verdeutlichen darüber hinaus, wie Joseph sich in angestrengter Identifikation mit seinem biblischen Vorbild zu nobilitieren sucht. Das mit Die Heimsuchung überschriebene Kapitel spielt auf das Lukas-Evangelium an (Lk 1, 26–56), in dem davon berichtet wird, wie sich Maria, nachdem ihr ein Engel die Gottesmutterschaft verkündet hat, zu ihrer Verwandten Elisabeth begibt, die in ihr sogleich die künftige Mutter des Heilands erkennt. Im Unterschied hierzu liefert Joseph die hochschwangere Marie nach dem Überfall mit den Worten »Frau Elisabeth, Ihr werdet heimgesucht!« (282) lediglich im Haus einer Hebamme ab. Das Spiel mit Versatzstücken aus der Bibel ist offensichtlich. Während Elisabeth bei Marias biblischer Heimsuchung ausruft: »Gott hat dich unter allen Frauen ausgezeichnet, dich und dein Kind! Wer bin ich, daß die Mutter meines Herrn mich besucht?« (Lk 1, 42–44), wird Marie in den Wanderjahren schlicht zur Entbindung gebracht. Die Erkenntnis göttlicher Auszeichnung wird so zur Geburtshilfe profaniert. Besonders eklatant gestaltet sich die Differenz zwischen den vom Titel Der Lilienstengel hervorgerufenen religiösen Assoziationen16 und der unter ihm gefaßten Erzählung Josephs, in der er berichtet, wie er seine Frau fand. Frau Elisabeth, die Hebamme, reicht Maries neugeborenen Sohn an Joseph weiter, woraufhin diesem sofort »der Lilienstengel ein[fällt], der sich auf dem Bilde zwischen Maria und Joseph, als Zeuge eines reinen Verhältnisses 16
Die Lilie war ursprünglich Symbol für die Jungfräulichkeit Marias und allein ihr zugeordnet. Seit dem 16. Jahrhundert wird sie auch zum Zeichen der Heiligen Familie und erscheint schließlich sogar im Bildtypus »Joseph mit seinem Sohn«. Siehe Margarete Pfister-Burghalter: Art.: Lilie, in: Lexikon der Christlichen Ikonographie, Band 3, hrsg. von Engelbert Kirschbaum, Rom, Freiburg i.Br., Basel u. a. 1971, Sp. 100–102; Gabriela Kaster: Art.: Joseph von Nazareth, in: Lexikon der Christlichen Ikonographie, Band 7, hrsg. von Wolfgang Braunfels, Rom, Freiburg i.Br., Basel u. a. 1974, Sp. 210–221.
39 aus der Erde hebt. Von dem Augenblicke an war mir aller Druck vom Herzen genommen; ich war meiner Sache, ich war meines Glücks gewiß.« (283f.) Die Erinnerung an das Fresko seiner Kapelle, das die Begegnung zwischen Joseph und Maria darstellt, wobei »eine Lilie […] zwischen beiden aus dem Boden« (271) sprießt, wird Joseph dem Zweiten zum Versprechen, daß sich die Realität der biblischen Vorgabe fügt. Doch so frei von allem Begehren, wie es der Lilienstengel auf dem Bild symbolisiert, ist sein Verhältnis zu Marie nicht. Keineswegs will er im Zeichen der Lilie entsagen, eine Josephsehe kommt für ihn nicht in Frage; statt dessen wünscht er sich den Tod von Maries Ehemann, um sie, deren Name ja auch fast perfekt paßt, heiraten und in seinen imitatorischen Lebenslauf integrieren zu können. Seine moralische Attitüde ist nur Camouflage: »Ich gönnte und wünschte dem guten Ehemann das Leben, und doch mochte ich sie mir so gern als Witwe denken.« (283) Josephs Wünsche werden Wirklichkeit; Maries Mann ist an »seinen Wunden in dem benachbarten Dorfe gestorben« (283). Unmittelbar nach der Geburt ihres jetzt vaterlosen Kindes macht er Marie mit den Worten: »Es ist keine Waise mehr, wenn ihr wollt!« (284) einen Heiratsantrag. Sein Esel, den er nach den Bildern der Kapelle geschmückt hat, steht schon bereit; Marie müßte nur noch als Ehefrau auf ihn gehoben werden, dann wäre Josephs von den Wandgemälden evoziertes inneres Bild gänzlich zur äußeren Realität geworden. Doch der Sitte gemäß hat er noch das obligate Trauerjahr abzuwarten, um danach Marie die Rolle der Maria in der Inszenierung der Heiligen Familie anzubieten. Er tut dies nicht direkt, sondern bezeichnenderweise abermals mit Hilfe der Wandgemälde, die er ihr mit Hintersinn erläutert: »Ich zeigte und erklärte ihr die Bilder, eins nach dem andern, und entwickelte dabei die Pflichten eines Pflegevaters auf eine so lebendige herzliche Weise, daß ihr die Tränen in die Augen traten und ich mit meiner Bilderdeutung nicht zu Ende kommen konnte.« (284) Deutlich wird: Hier treffen nicht – wie in der zeitgenössischen Konzeption der Liebesehe proklamiert – zwei Individuen aufeinander, die sich in authentischer Begegnung lieben, sondern ein bildgeprägter Rollenakteur findet in einer verwitweten Mutter die geeignete Mitspielerin für seine Lebensinszenierung.17 So wächst die Liebesgemeinschaft nicht, wie es die herrschende Ideologie postuliert, aus der Zuneigung zweier Personen von Innen nach Außen, sondern die biblische Vorgabe – im Bilderzyklus visualisiert und in der Phantasie idealisiert – erzeugt Gesinnungen, die sich im Handeln manifestieren. 17
Siehe hingegen Henriette Herwig, die in diesem Zusammenhang von »Liebe auf den ersten Blick« spricht. H. H.: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 46.
40 Die Differenz zwischen biblischem Geschehen, künstlerischer Wiedergabe und realer Begebenheit ist offensichtlich. Der Bilderzyklus formt zwar Josephs Phantasie und bestimmt seine Handlungen, zugleich aber markieren die Titelformulierungen des Redaktors den Unterschied zwischen der alltäglichen Realität und ihrer Inszenierung als biblisches Spektakel. Die so herausgestellte Differenz zwischen der Ikonographie der Heiligen Schrift und ihrer lebensgeschichtlichen Nachahmung markiert den historischen Stellenwert dieser imitatio Josephi. Auf den ersten Blick könnte man meinen, Josephs Gestaltung seines Lebens nach dem biblischen Muster der Heiligen Familie sei traditionell. Doch indem er aus dem einstmals lebendigen Glaubenszusammenhang einzelne, ihm durch die Fresken vor Augen gestellte Merkmale der Heiligen Familie herauslöst und in sein eigenes Familienleben integriert, verhält er sich bloß eklektisch. Zwar dominieren in der Lebenswelt von Josephs Familie noch die Merkmale der Vormoderne, doch ist seine eigentümliche Lebensweise nicht geschichtlich, sondern intentional gegründet. Denn es ist ja Joseph selbst, der seinen Lebensraum gleichsam zum ›Freilichtmuseum‹ avant la lettre macht. Mit seiner individuellen Entscheidung zur Nachahmung des Heiligen bestätigt er unbewußt den Prozeß der Säkularisation. Denn erst unter ihrem Vorzeichen kann das Heilige zur Überhöhung des Profanen dienen, indem es aus seinem transzendenten Bezugsrahmen herausgelöst und zur Garnierung des Alltagslebens verwendet wird – ein Unterfangen, für das Goethe selbst allenfalls Kritik übrig hätte, ist ihm doch die direkte Verbindung des »Idealen« mit dem »Gemeinen« »unerträglich«, wie er im Brief an Schiller vom 16./17. August 1797 bemerkt: Wann ist eine sentimentale Erscheinung (die wir nicht verachten dürfen wenn sie auch noch so ›lästig‹ ist) unerträglich? ich antworte: wenn das Ideale unmittelbar mit dem Gemeinen verbunden wird, es kann dies nur durch eine leere, gehalt- und formlose Manier geschehen, denn beyde werden dadurch vernichtet, die Idee und der Gegenstand, jene, die nur bedeutend seyn und sich nur mit dem bedeutenden beschäftigen kann, und dieser, der recht wacker, brav und gut seyn kann ohne bedeutend zu seyn. (WA IV/12, 245)
Josephs Existenz steht also nicht etwa im Zeichen des ›zu achtenden‹ Sentimentalischen, das für Schiller darauf beruht, daß der »sentimentalische« Mensch, anders als der »naive« Mensch der Antike, der als ein »harmonierendes Ganze[s]« lebt, unter den Bedingungen der Moderne die einstmalige »ungeteilte sinnliche Einheit« nur noch künstlich wiederherzustellen sucht: »Die Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die in dem ersten Zustande wirklich statt fand, existiert jetzt bloß idealisch; sie ist nicht mehr in ihm, sondern außer ihm; als ein Gedanke, der erst rea-
41 lisiert werden soll, nicht mehr als Tatsache seines Lebens.«18 Im Fall Josephs existiert die »Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken« nicht einmal mehr idealisch; bei ihm ist alles bloßes Produkt seiner Inszenierung: Handelnd ahmt er nach, was ihm die Fresken der Kapelle vor Augen stellen. Was Goethe im Brief an Schiller als »unerträglich« bezeichnet, trifft daher geradezu exemplarisch auf die Josephsfamilie zu. Denn sie verbindet das Ideal der Heiligen Familie unmittelbar mit ihrem alltäglichen Leben, d. h. ohne die »Idee« mit dem »Gegenstand« zu vermitteln. Dadurch bleibt das Leben dieser Familie zwar äußerlich »recht wakker brav und gut«, jedoch »ohne bedeutend zu sein.«
4. Wilhelm Meisters »Abschied aus der Familie«19
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Die in der Eingangsnovelle der Wanderjahre dargestellte ›unerträglich-sentimentalische‹ Inszenierung naiver Lebensverhältnisse markiert nicht nur den historischen Ort einer Moderne, in der der religiöse Lebenszusammenhang zerbrochen und nur noch in Akten musealer Restauration artifiziell am Leben zu erhalten ist, sondern verweist auch auf die psychische Bedeutung, die die von Joseph dargebotene ›Harmonieveranstaltung‹ für Wilhelm hat. Erst wenn man dies näher betrachtet, lassen sich wichtige Fragen beantworten: Warum beginnt Goethe seine Wanderjahre gerade mit der Josephsnovelle? Warum bettet er sie so in den Wahrnehmungshorizont Wilhelms ein, daß ein Anknüpfungspunkt zu den Lehrjahren hergestellt wird? Daß Goethe hierauf von Anfang an großen Wert legte, verdeutlicht schon der Vorabdruck der Novelle in Cottas Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1810, die dort als Wilhelm Meisters Wanderjahre. Erstes Buch angekündigt wird. Diese frühe Veröffentlichung fällt durch folgenden Einschub zwischen dem Ersten und dem Zweiten Kapitel auf: »hier folgt im Original ein Brief an Natalien, wodurch die Wanderjahre eingeleitet und an die Lehrjahre angeknüpft werden.«20 Auch wenn dieser Brief im Vorabdruck 18 19
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Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: FA/Schiller 8, S. 706–810, hier S. 734. In seinem Tagebuch notiert Goethe, der zu dieser Zeit begonnen hatte, mit Friedrich Wilhelm Riemer zusammen den überarbeiteten ersten Teil der Wanderjahre durchzusehen, unter dem 13. Dezember 1825: »Abends Professor Riemer. Wanderjahre bis: Abschied aus der Familie.« (WA III/10, S. 135) Es ist anzunehmen, daß Goethe hiermit das Eingangskapitel meint. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Erstes Buch, in: Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1810. Mit Beiträgen von Goethe, Lafontaine, Pfeffel Jean Paul Rich-
42 nicht erscheint, so daß der Eindruck einer Novelle entsteht, die keinen substantiellen Bezug zum Ende der Lehrjahre erkennen läßt, hat Goethe diesen Zusammenhang doch intendiert. Der Einschub weist darauf in Form einer markierten Leerstelle hin, die erst mehr als ein Jahrzehnt später mit der Publikation der Erstfassung der Wanderjahre inhaltlich gefüllt wurde. So lange wollte Goethe die Leser eigentlich nicht warten lassen. Denn als die Eingangsnovelle erschien, glaubte er, daß auch der Roman bald publiziert werde, wie er gegenüber seinem Verleger Cotta mehrfach bekundete.21 Doch es dauerte noch 12 Jahre bis zum Erscheinen der ersten Fassung der Wanderjahre, die dann Wilhelms Brief an Natalie enthält. Am 23. Oktober 1820 schrieb Goethe an Cotta: »Der erste Theil von Wilhelm Meisters Wanderjahren, könnte abgedruckt werden; die früher dazu bestimmten Geschichten sind eingeflochten, die unvollendeten zugerundet, neues hinzugefügt, und so möchte ein ganz lesbares Büchlein entstehen.«22 Während Goethe einige Novellen recht umstandslos in das Geschehen integrierte, wurde gerade die Eingangsgeschichte mit ihren vier Kapiteln von ihm sehr sorgfältig »eingeflochten« – und zwar so, daß sie dem ganzen Roman seine ›Tonart‹ vorgibt. Die mit dem nunmehr enthaltenen Brief Wilhelms an Natalie eingelöste Ankündigung des Vorabdrucks zeigt dies; sie verdeutlicht die enge Verbindung der Lehrjahre mit den Wanderjahren, indem sie herausstellt, daß es Wilhelm ist, der die Josephsgeschichte aufzeichnet, um sie Natalie mitzuteilen. Dadurch aber erfährt die Novelle eine figurenperspektivische Brechung: Sie sagt nicht nur etwas über das Berichtete, sondern auch über den Berichtenden aus. Nicht von ungefähr betont Wilhelm in dem Brief, den Goethe offensichtlich schon 1809 konzipiert hatte, aber erst viele Jahre später in der ersten Fassung der Wanderjahre veröffentlichte, gegenüber Natalie nachdrücklich seine Übergangssituation; dadurch wird die Welt der Wanderjahre entschieden von jener der Lehrjahre abgegrenzt:
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ter und andern. Mit Kupfern, Tübingen in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1809, S. I–XXII, hier S. VIII; ein Nachdruck lautet: Die heilige Familie Josephs. Ein Bild der Nachahmung. Von v. Göthe, in: Erholungen. Eine Sammlung neuer Erzählungen, Romane und anderer Aufsätze von August von Kotzebue, v. Göthe, Lafontaine, Jean Paul u. a. m. 1810, erstes Vierteljahr. Grätz, bey Franz Ferstl, S. 64–88. Siehe Goethes Brief an Cotta vom 20. November 1809. Goethe und Cotta. Briefwechsel, Band 1, S. 203; siehe auch Goethes Brief an Cotta vom 3. Mai 1810, ebd., S. 209. Goethe und Cotta. Briefwechsel. Band 2, Stuttgart 1979, S. 76.
43 Nun ist endlich die Höhe erreicht, die Höhe des Gebirgs, das eine mächtigere Trennung zwischen uns setzen wird, als der ganze Landraum bisher. Für mein Gefühl ist man noch immer in der Nähe seiner Lieben, so lange die Ströme von uns zu ihnen laufen. Heute kann ich mir noch einbilden, der Zweig, den ich in den Waldbach werfe, könnte füglich zu Ihr hinabschwimmen, könnte in wenigen Tagen vor Ihrem Garten landen; und so sendet unser Geist seine Bilder, das Herz seine Gefühle bequemer abwärts. Aber drüben, fürchte ich, stellt sich eine Scheidewand der Einbildungskraft und der Empfindung entgegen. (267)
Was dem Vorabdruck der Novelle nicht zu entnehmen ist, profiliert der im Roman eingeschobene Brief Wilhelms an Natalie: Wilhelm tritt in eine neue Lebenswelt ein; das vermeintliche Ziel am Ende der Lehrjahre, die Verbindung mit Natalie und Felix zur glücklichen Kleinfamilie, erweist sich als trügerisch. Er muß sich von Natalie trennen und darf keine festen Bindungen eingehen, um allzeit mobil zu bleiben. Die anonyme Autoritätsinstanz des »Vereins« (268), hinter dem sich die inzwischen zum ›Entsagungsbund‹ mutierte Turmgesellschaft der Lehrjahre verbirgt, hat ihm merkwürdige Pflichten auferlegt: Begrenzte Aufenthaltsdauer an einem Ort von höchstens drei Tagen; Entfernung von der vorigen Unterkunft um mindestens eine Meile; kein Dritter darf Begleiter werden (siehe 268), Verbot der Rückkehr zum alten Ort innerhalb eines Jahres (siehe 399); keine Gespräche über die Vergangenheit oder die Zukunft, allein Gegenwärtiges darf thematisiert werden (siehe 296); keine Klagen über das Schicksal (siehe 286). Die Begründung, die Jarno/Montan für diese kuriosen Auflagen gibt, mutet widersprüchlich an: »Du bist von der Menschenart […], die sich leicht an einen Ort, nicht leicht an eine Bestimmung gewöhnen. Allen solchen wird die unstete Lebensart vorgeschrieben, damit sie vielleicht zu einer sichern Lebensweise gelangen.« (555) »Unstete Lebensart« als Voraussetzung für eine »sichere Lebensweise«: Was paradox klingt, hat vielfältige Implikationen. Es geht dabei nicht nur um die später in Lenardos großer Auswanderungsrede proklamierte Ablösung von der traditionellen ›bodenständigen‹ Lebensform (siehe 665–673),23 sondern auch darum, daß Wilhelm sich von allen emotionalen Bindungen löst, die ihn an die Vergangenheit fesseln. Liebende Zweisamkeit wird ihm strikt untersagt. Natalie, deren ›Gewinn‹ ihm am Ende der Lehrjahre noch als ein Glück erschien, das er »mit nichts in der Welt vertauschen« wollte (FA 9, 992), verblaßt in den Wanderjahren zur stummen Adressatin seiner vier Briefe. Erst vor diesem Hintergrund läßt sich genauer klären, was die merkwürdige Szenerie um Joseph mit Wilhelm zu tun hat, inwiefern sie eine 23
Zu Einzelheiten siehe S. 199–203 der vorliegenden Arbeit.
44 Verbindung zu den Lehrjahren herstellt und warum das Geschehen um Joseph auf so eigentümliche Weise vermittelt wird. Wenn man allein den Vorabdruck ohne den ausgesparten Brief Wilhelms liest, könnte man meinen, es handle sich um den Bericht eines auktorialen Erzählers, der sich vornehmlich durch die Zwischenüberschriften als Ironiker zu erkennen gibt, ansonsten aber hinter der Präsentation des Geschehens verschwindet. Doch selbst dasjenige, was zunächst als unvermittelte mündliche Erzählung Josephs erscheinen mag, erweist sich als ein von Wilhelm an Natalie schriftlich übermittelter Bericht. Erst der Redaktor, dem die Tagebuchaufzeichnungen und Briefe Wilhelms vorliegen, verleiht ihnen durch seine Bearbeitung wieder den Anschein von Mündlichkeit. Wilhelm ist also der Autor des Erlebnisberichts, der Redaktor hingegen fungiert nur als eine Art Lektor, der durch die gewählte Novellenform den subjektiven Bezugspunkt des Geschehens zurückdrängt. Anders als im Vorabdruck wird dieser in der Buchausgabe jedoch wieder sichtbar. Hier erscheint Wilhelm – auch dies eine spätere Einfügung – als Figur, die ihre Erlebnisse aufschreibt, wie der Redaktor bemerkt: »Nochmals erfreute er sich der großen Gebirgsansicht, und zog sich sodann auf sein Zimmer zurück, wo er sogleich die Feder ergriff und einen Teil der Nacht mit Schreiben zubrachte.« (267) Das Resultat ist der Brief an Natalie, der in den Erzählzusammenhang der Novelle eingefügt wird – um den Preis ihrer Kohärenz. Warum aber zahlt Goethe diesen Preis? Offensichtlich soll dadurch das Geschehen um Joseph in die subjektive Perspektive Wilhelms gerückt werden. Auch wenn dieser zunächst als objektiver Berichterstatter erscheint, so verbindet sich doch die Tatsache, daß er Natalie von einer glücklichen Familie schreibt, mit der subjektiven Betroffenheit desjenigen, dem diese Lebensform verwehrt ist, obwohl sie ihm als Verheißung am Ende der Lehrjahre greifbar nahe schien. Entsprechend schreibt er: Daß er [Joseph der Zweite] aber glücklich genug ist, neben dem Tiere herzugehen, das die doppelt schöne Bürde trägt [die Ehefrau hält einen Säugling im Arm], daß er mit seinem Familienzug Abends in das alte Klostertor eindringen kann, daß er unzertrennlich von seiner Geliebten, von den Seinigen ist, darüber darf ich ihn wohl im stillen beneiden. Dagegen darf ich nicht einmal mein Schicksal beklagen, weil ich dir zugesagt habe zu schweigen und zu dulden, wie du es auch übernommen hast. (286)
Wilhelm artikuliert verhalten seinen Schmerz darüber, daß sich die Aussicht auf ein glückliches Familienleben, die der Schluß der Lehrjahre eröffnete, in den Wanderjahren nicht erfüllt. Das Gebot, nicht länger als drei Tage »unter Einem Dache« (268) zu bleiben, negiert das an ein Familienleben gebundene Glücksversprechen. Das Wandern, das in der Romantik
45 oft als Ablehnung philiströser Gesellschaftsnormen und als Freiraum erotischer Eskapaden gestaltet wurde,24 verhindert in den Wanderjahren gerade die erfüllte Liebesbeziehung. So widersetzt sich Goethes Altersroman dem literarischen Schematismus, demzufolge nach langen Irrfahrten der Hafen der Ehe erreicht wird, wo in harmonischer Ordnung des Privaten alle Widrigkeiten der Welt überwunden sind. Natalie, die in den Lehrjahren lang ersehnte und endlich erreichte Frau, wird verabschiedet – mit aller Entschiedenheit in der zweiten Fassung der Wanderjahre, die keine sichere Perspektive auf eine erneute Zusammenkunft eröffnet und selbst die Relikte einer visuellen Begegnung tilgt, die die erste Fassung noch enthält. In ihr schildert Wilhelm seine Begegnung mit Natalie auf eindrückliche und merkwürdige Weise. Er habe sie durch ein Fernrohr auf einem gegenüber liegenden Gipfel im Kreis mehrerer Frauen gesehen, wobei auch Natalie ihn durch ein »Sehrohr« (163) anblickte. Die Ferne wird zur Nähe und bleibt doch gewahrt, die Sehnsucht wird heftig und kann doch nicht gestillt werden, die Vereinigung mit der geliebten Frau verlockt und ist doch vom Absturz bedroht: »Indem ich mich nun auch hierum [die Kenntnis ihrer Begleitung] bemühte, und mich nach ihr um destomehr bestrebte, da drohte der Abgrund mich zu verschlingen, hätte nicht eine hülfreiche Hand mich ergriffen und zugleich der Gefahr, wie dem schönsten Glück entrissen.« (164) Nur um den Preis des Glücks erhält Wilhelm sein Leben, die Vereinigung mit Natalie ist imaginär, die Emotionalität bleibt blockiert. Zwar beteuert Wilhelm Natalie gegenüber auch in der zweiten Fassung noch einmal seine tiefe Verbundenheit, der die äußere Trennung nichts anhaben könne: »Was könnte mich von dir scheiden! von dir, der ich auf ewig geeignet bin, wenn gleich ein wundersames Geschick mich von dir trennt und mir den Himmel, dem ich so nahe stand, unerwartet zuschließt.« (267f.) Doch im Roman bleibt der »Himmel« für Wilhelm geschlossen. Natalie bricht mit ihrem Bruder nach Amerika auf (siehe 720), ob Wilhelm ihr folgen wird, ist unklar. Einstweilen erblickt er allerdings eine Lebensform, von der ihn sein »wundersames Geschick« trennt. Von ihr berichtet er Natalie, jedoch nicht um nur ein merkwürdiges Reiseerlebnis zum Besten zu geben, sondern um seine eigene Lebensqual durch die Schilderung des Ersehnten, das ihm versagt ist, zu artikulieren: So eben schließe ich eine angenehme, halb wunderbare Geschichte, die ich für dich aus dem Munde eines gar wackern Mannes aufgeschrieben habe. Wenn es nicht ganz seine Worte sind, wenn ich hie und da meine Gesinnungen, bei Ge24
Siehe hierzu Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs, Frankfurt a. M. 1979, S. 391–410.
46 legenheit der Seinigen, ausgedrückt habe, so war es bei der Verwandtschaft, die ich hier mit ihm fühlte, ganz natürlich. (286)
Das Eingangsgeschehen der Wanderjahre, das als ein von Wilhelm erlebtes und für Natalie notiertes präsentiert wird, entspricht kontrapunktisch der Eingangsszene der Lehrjahre. In beiden Fällen handelt es sich um eine arrangierte Welt, in die Wilhelm eintritt. Das eine Mal flieht er aus seiner bürgerlichen Herkunftsfamilie in das Theatermilieu Marianes, mit dem er Erotik und Unbürgerlichkeit verbindet, das andere Mal sehnt er sich nach einem stabilen Familienzusammenhang, mit dem er Harmonie und Bodenständigkeit assoziiert. Doch während der Beginn der Lehrjahre vom freudigen Aufbruch eines jungen Mannes handelt, der voller Tatendrang dem Volk ein Nationaltheater ›schenken‹ will, steht der Beginn der Wanderjahre im Zeichen der Entsagung. Wie schwer es Wilhelm allerdings fällt, seine emotionale Bindung an Natalie zu überwinden und seine Hoffnungen auf ein Familienglück mit ihr zu begraben, offenbart seine kaum gedämpfte Klage: »Laß mich mein letztes Ach zu dir hinübersenden! Laß meinen letzten Blick zu dir sich noch mit einer unwillkürlichen Träne füllen! Ich bin entschieden und entschlossen. Du sollst keine Klagen mehr von mir hören; du sollst nur hören, was dem Wanderer begegnet.« (269) Mit diesen Worten spaltet Wilhelm seine Gefühle für Natalie von sich ab, durchtrennt er mit großer Anstrengung seine emotionale Bindung an sie, um fortan der Gesellschaft als nützliches Mitglied zu dienen. Seine »unwillkürliche Träne« signalisiert indes, warum sich Wilhelm von Joseph und seiner Familie so angezogen fühlt. Er empfindet eine Faszination, die sich im Spannungsfeld von Sehnsucht und Entsagung entfaltet. Josephs Familienidylle steht nicht nur in diametralem Gegensatz zu seiner eigenen Situation, sie evoziert auch all seine unerfüllten Hoffnungen und Wünsche. Nur hier, nirgends sonst in den Wanderjahren begegnet Wilhelm einer glücklichen Familie, wie er sie am Ende der Lehrjahre noch für sich selbst greifbar nahe glaubte.25 Nicht von ungefähr identifiziert er 25
Zu den unvollständigen Familien in den Wanderjahren siehe Gerhard Schulz: Gesellschaftsbild und Romanform. Zum Deutschen in Goethes Wanderjahren, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, Tübingen 1981, S. 258–282, bes. S. 276–281; siehe auch Arthur Henkel: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Kritik und Prognose der modernen Gesellschaft, in: GJb 97 (1980), S. 82–89, bes. S. 84. Zwar schildert auch Lenardo in seinem Tagebuch die Heimindustrie der Spinner und Weber unter dem idyllisierenden Vorzeichen einer drei Generationen umfassenden Familienharmonie (siehe FA 10, S. 624). Sie ist jedoch bereits vom »überhand nehmende[n] Maschinenwesen« (FA 10, S. 713) bedroht; siehe hierzu S. 176–198 der vorliegenden Arbeit.
47 sich in seinem zweiten Brief an Natalie mit Joseph, indem er voller Wehmut und Neid auf die Familienharmonie blickt, die diesem vergönnt, ihm selbst aber verwehrt ist: »Jene Verehrung seines Weibes gleicht sie nicht derjenigen, die ich für dich empfinde? und hat nicht selbst das Zusammentreffen dieser beiden Liebenden etwas ähnliches mit dem unsrigen?« (286) Wenn Wilhelm von der Ähnlichkeit des Zusammentreffens spricht, dann spielt er auf den Überfall in den Lehrjahren an, der zur Begegnung mit Natalie führte. Wie diese ihn nach seiner Verwundung samaritergleich umsorgte, so pflegte Joseph Marie nach dem Überfall auf sie und ihren Mann.26 Doch die Parallelen auf der Handlungsebene reichen nicht besonders weit. Im Fall von Joseph wird ja Maries erster Mann getötet, so daß er nach dem obligaten Trauerjahr an dessen Stelle treten kann, während Wilhelm nur verwundet wird und Natalie lange Zeit als Sehnsuchtsgestalt vor Augen behält, bis er sie endlich in der Turmgesellschaft nach einigen Verwirrungen nur vermeintlich für sich gewinnt. Wenn aber auf der Ebene der Handlung die Divergenzen offensichtlich sind – mit welchem Recht betont Wilhelm dann gegenüber Natalie, daß »das Zusammentreffen dieser beiden Liebenden etwas ähnliches mit dem unsrigen« hat? Die Übereinstimmungen sind subtil. In beiden Fällen wird die Begegnung zwischen den Geschlechtern von verinnerlichten Bildern überformt. Bei Wilhelm ist es die Verbindung des Bildes vom kranken Königssohn mit seiner Tasso-Lektüre, die ihm Natalie nach dem Überfall zur Epiphanie werden läßt;27 26
27
Auf spiegelsymmetrische Entsprechungen zwischen den Paaren verweist Gonthier-Louis Fink, indem er die Übereinstimmungen zwischen Natalie und Joseph hervorhebt: »Beide haben nicht nur die gleiche Auffassung der Religion als aktiver Nächstenliebe, gleichen Sinn für Wohltätigkeit und die gleiche Ausrichtung auf die Gesellschaft. Nicht umsonst traten auch in Josephs Leben die gleichen Motive auf wie in dem Natalies, wobei er dann auch ihre Rolle übernahm: so wie die Amazone spielte er den Samariter, und wie bei Natalie führte dann gerade die Pflegeelternschaft zur Verbindung mit Marie, wobei der erstgeborene Sohn der jungen Witwe die gleiche Bedeutung hatte wie zuvor Felix für Natalie und Wilhelm. In beiden Fällen gründete die Liebe auf Hilfsbereitschaft.« G.-L. F.: Die Auseinandersetzung mit der Tradition in Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Recherches Germaniques 5 (1975), S. 89–142, hier S. 115f.; auf die von den Analogien verdeckten Differenzen zwischen den jeweiligen Paarkonstellationen verweisen hingegen Anneliese Klingenberg: Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, S. 42; Henriette Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 46f.; Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 215f. Zu Einzelheiten siehe Günter Saße: Wilhelm Meister als Leser Tassos, in: Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik des 18. Jahrhunderts, hrsg. von Achim Aurnhammer, Berlin, New York 1995,
48 bei Joseph sind es die Fresken in der Kapelle, durch die ihm Marie zur Erfüllung seiner bildgenerierten Wünsche wird, wie er Wilhelm berichtet: Was ich so lange gesucht, hatte ich wirklich gefunden. Es war mir als wenn ich träumte, und dann gleich wieder als ob ich aus einem Traume erwachte. Diese himmlische Gestalt, wie ich sie gleichsam in der Luft schweben und vor den grünen Bäumen sich her bewegen sah, kam mir jetzt wie ein Traum vor, der durch jene Bilder in der Kapelle sich in meiner Seele erzeugte. Bald schienen mir jene Bilder nur Träume gewesen zu sein, die sich hier in eine schöne Wirklichkeit auflös’ten. (280f.)
Doch während Wilhelm in Natalie nur die vorläufige Erfüllung seiner bildund lektüregeprägten Sehnsüchte findet, die dann von den Wanderjahren dementiert wird, verbindet sich Joseph dauerhaft mit Marie; er gründet mit ihr eine Familie und realisiert das, was Wilhelm versagt bleibt. Dieser muß statt dessen zunächst als alleinerziehender Vater, dann als einsamer Mann durch verschiedene Bereiche der sozialen Wirklichkeit wandern. Daher ist er voll Wehmut, als er gleich zu Beginn seiner Wanderschaft auf eine perfekt inszenierte Familienidylle trifft, die ihn seinen Verlust umso schmerzlicher empfinden läßt. Der Roman schildert diesen Verlust allerdings nicht als kontingentes Faktum, so als sei das zur Familienlosigkeit führende Entsagungsgebot, dem Wilhelm unterworfen ist, nur das willkürliche Verdikt einer anonymen Instanz. Er verleiht ihm vielmehr eine historische Signatur. So erklärt Lenardo in seiner großen Auswanderungsrede die auf ›Bodenständigkeit‹ gründende Welt des Herkommens für obsolet und fordert statt dessen eine auf Funktionalität und Mobilität basierende moderne Leistungsgesellschaft.28 Nur in einer abgelegenen Gebirgsregion vermag Joseph die im Roman allenthalben artikulierte Epochenzäsur zu überspielen – doch nicht mit dem ungebrochenen Selbstverständnis eines religiösen Bewußtseins, für das die überkommene Lebensform fraglose Gültigkeit besitzt, sondern mit einer sich an der Bilderwelt der Kapelle orientierenden mimetischen Haltung, die im ästhetischen Arrangement zu bewahren sucht, was im Zuge der Säkularisation bereits zerfallen ist: die Einheit von Lebensraum, Lebensform und Lebenssinn.29 In Wilhelm ruft diese künstliche
28 29
S. 370–381; siehe auch Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone, in: JbDSG 29 (1985), S. 141–206. Siehe hierzu S. 199–203 der vorliegenden Arbeit. Daß Josephs Lebensform im Sinne Schillers nicht primär als Idylle, sondern als Elegie zu verstehen ist, meint Bruce Armstrong: An idyl sad and strange. The St. Joseph the Second section and the presentation of craft work in Goethe’s
49 Sphäre »eine wundersam altertümliche Stimmung« (273) hervor, ohne daß er sich über seine Gefühle genau Rechenschaft zu geben vermag. Zwar empfindet er die Differenz zwischen der Welt, in die er eintreten muß, und der, die er vor Augen hat, aber er kann den Verlust nicht in seiner geschichtlichen Dimension ermessen. Der Kontrast zwischen der Familienidylle Josephs und der Familienlosigkeit Wilhelms sowie zwischen dem in den Lehrjahren von ihm angestrebten Lebensziel und seiner ihm in den Wanderjahren oktroyierten Lebensführung verdeutlicht, warum Goethe mit einer scheinbar zeitenthobenen und räumlich eng begrenzten ›Idylle‹ seinen Roman eröffnet, der auf vielfältige Weise moderne Beschleunigungs- und Entgrenzungsprozesse thematisiert. Gerade die Inszeniertheit dieses Daseins verweist auf eine neue Zeit, der gegenüber die Vergangenheit schon in eine mythisch anmutende Ferne entrückt ist. Neben diesem historischen Stellenwert, den die Eingangsnovelle mit ihrem musealen Arrangement markiert, spiegelt sie aber auch die psychische Desorientiertheit Wilhelms wider. Dieser wirft, bevor er sich seinen neuen Aufträgen und Aufgaben widmet, die die Welt der Wanderjahre für ihn bereithält, noch einmal den Blick zurück auf eine Existenzmöglichkeit, die ihm das Ende der Lehrjahre in der Liebe zu Natalie und dem Vatersein für Felix eröffnet hat, die er aber in der »Zeit der Einseitigkeiten« (295) nicht mehr realisieren kann. Auf diese Weise exponiert die Novelle gleich zu Beginn des Romangeschehens das Verhältnis von Zeitgeschichte und Individualgeschichte in zweierlei Hinsicht: einmal durch Joseph, der in seiner musealen Lebensinszenierung e contrario die Dominanz der Moderne bestätigt, und einmal durch Wilhelm, der das Familienleben Josephs als einen Wunschtraum erfährt, der ihm im Zeichen der Moderne versagt ist.
Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 77 (1985), S. 415–432, hier S. 426.
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III. Von der Bildung zur Ausbildung: Die Pädagogische Provinz
1. Die Ehrfurchtslehre als Sinnsurrogat Die Begegnung mit der Familie von Joseph dem Zweiten macht Wilhelm gleich zu Beginn des Romans schmerzlich bewußt, daß er aus allen sozialen und emotionalen Bindungen entlassen ist, die er am Ende der Lehrjahre zu finden glaubte. Von Familiengründung, Hausbau und Kindererziehung, die ihm dort nachdrücklich als Lebenssinn erschienen (siehe FA 9, 881), ist in den Wanderjahren keine Rede mehr; statt dessen hat er nun mit Felix heimatlos von Ort zu Ort zu wandern. Wie sehr er dabei zwischenzeitlich zum bloßen Funktionsträger geworden ist, der jede Sorge für sich selbst und für seinen Sohn hintanstellt, zeigt sich besonders deutlich an seiner Reaktion, als Lenardo ihm gegenüber den Wunsch äußert, er möge nach dem »nußbraunen Mädchen« Nachodine suchen (siehe 404). Die Differenz zu den Lehrjahren ist eklatant. Dort hatte Wilhelm es zunächst noch abgelehnt, den Markese auf dessen Deutschlandfahrt zu begleiten, da er seinen Sohn nicht zurücklassen wollte (siehe FA 9, 948). Erst unter der Bedingung, daß er seinen »Felix nicht von mir zu lassen brauche« (FA 9, 977), stimmte er dann letztlich doch zu. In den Wanderjahren hingegen ist er sofort bereit, seinen Sohn in einer Erziehungsanstalt abzugeben, um unbelastet von seinen Vaterpflichten Lenardos Bitte nachzukommen. Zwar wendet er zunächst noch ein, »der Sohn entwickle sich nirgends besser als in Gegenwart des Vaters« (405), doch opponiert er nicht weiter, als Lenardo ihm entschieden widerspricht: Keineswegs! […] dies ist ein holder väterlicher Irrtum: der Vater behält immer eine Art von despotischem Verhältnis zu dem Sohn, dessen Tugenden er nicht anerkennt und an dessen Fehlern er sich freut; deswegen die Alten schon zu sagen pflegten, der Helden Söhne werden Taugenichtse, und ich habe mich weit genug in der Welt umgesehen um hierüber in’s Klare zu kommen. (405f.)
Nach dieser apodiktisch vorgetragenen, durch die Autorität der »Alten« beglaubigten und durch eigenes Erfahrungswissen legitimierten Feststellung verweist Lenardo Wilhelm an einen alten Freund, der »von einer pädagogischen Verbindung, die ich nur für eine Art von Utopien halten konnte«
51 (406), genauere Kenntnis habe.1 Wilhelm begibt sich zu diesem, der sich als Sammler und Bewahrer alter Gebrauchsgegenstände erweist, um Näheres über die Erziehungsanstalt zu erfahren, in der er Felix abgeben soll. Gleich bei seiner Ankunft weist ihn der Sammler auf alte Gerätschaften hin, die schon Generationen gedient hätten: auf den »Teekessel«, den »Kaminschirm« und die »mächtige Zange« (410) – alles Gegenstände des alltäglichen Bedarfs, die von ihm mit einem musealen Blick betrachtet werden, der auf den Verlust jener fraglosen Praxis deutet, die Ausweis einer lebendigen Tradition ist. Ähnlich wie bei Joseph dem Zweiten ist der zur Schau gestellte Antimodernismus des Sammlers, der den ererbten Besitz zum Medium nostalgischer Gefühls- und Gemütswerte erhebt, als Reaktion gegen die Beschleunigungstendenz einer Moderne zu begreifen, deren Traditionsbruch er im ostentativen Beharren zu überspielen sucht – und so in dialektischer Umkehr gerade das bestätigt, was dementiert werden soll.2 Folglich erweist sich seine Behauptung, daß »die Beharrlichkeit auf den Besitz […] uns in manchen Fällen größte Energie« (410) gibt, als subjektive Verkennung; denn die »Beharrlichkeit« fordert umgekehrt gerade »größte Energie«, da nur mit Anstrengung festgehalten werden kann, was nicht mehr selbstverständlich gegeben ist. Wenn der Sammler dann allerdings Wilhelm die Pädagogische Provinz als Erziehungsanstalt für seinen Sohn anpreist, wird deutlich, daß sein ex1
2
Siehe auch Goethe im Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer (MA 17, S. 1019): »Was endlich die Pädagogische Provinz betrifft, so ist sie – was sich eigentlich von selbst versteht – nach Goethes eigner Aussage ein Utopien.« Adalbert Bartholomäus Kayßler stellt Goethes Pädagogische Provinz in die lange Tradition europäischer Erziehungsutopien, die auf Platons Gesellschaftstheorie zurückgehen. Nach Kayßler zeige sich die Bedeutung der Pädagogischen Provinz darin, »daß die wahre, naturgemäße Erziehung des Menschen weder von der Familie noch von der Schule, noch vom Staate zu erwarten sei, sondern daß vielmehr Staat, Schule und Familie einem höheren geistigen und freien Verein der vernünftigen Menschheit sich fügen müssen.« A. B. K.: Fragment aus Platons und Göthes Pädagogik. Einladungsschrift zu der auf den 4. 5. 6. October festgesetzten Prüfung der Schüler des Königl. Friedrichs-Gymnasiums, Breslau 1821, zitiert nach: Kommentar FA 10, S. 902f. Goethe hat diese Schrift durchaus wohlwollend zur Kenntnis genommen. Im Morgenblatt für gebildete Stände schreibt er am 21. März 1822: »Professor Kaysler zu Breslau, stellt in einer EinladungsSchrift Platos und Goethes Pädagogik gegen einander; ernst und gründlich, wie es dem Erzieher wohl geziemt.« (Kommentar FA 10, S. 855) Zum Museum als kompensatorischer »Rettungsanstalt« einer innovationsgeprägten Moderne siehe Hermann Lübbe: Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen, London 1982, S. 14.
52 ponierter Anachronismus sich auf ein inszeniertes Refugium beschränkt, während er ansonsten durchaus die von Jarno/Montan verkündeten Zeichen der Zeit erkannt hat. Mit Argumenten des zeitgenössischen Philanthropismus,3 der Zielgerichtetheit und Effizienz betont, redet er einer auf Anlage, Anleitung und Spezialisierung ausgerichteten Pädagogik das Wort: Da wo ich Sie hinweise hat man alle Tätigkeiten gesondert; geprüft werden die Zöglinge auf jedem Schritt, dabei erkennt man wo seine [sic!] Natur eigentlich hinstrebt, ob er sich gleich mit zerstreuten Wünschen bald da bald dorthin wendet. Weise Männer lassen den Knaben unter der Hand dasjenige finden was ihm gemäß ist, sie verkürzen die Umwege, durch welche der Mensch von seiner Bestimmung, nur allzugefällig, abirren mag. (413)
Damit wird gegen den produktiven Irrtum opponiert, den der Abbé in den Lehrjahren noch als Medium der Persönlichkeitsbildung nachdrücklich gerechtfertigt hatte. Durch ihn sollte Wilhelm Meister einst in das Selbstverhältnis einer reflexiven Vergegenwärtigung all seiner Fehlentscheidungen, hypertrophen Illusionen und zerstobenen Hoffnungen treten, um gerade auch aus dem, was mißlungen ist, Erkenntnisse zu gewinnen (siehe FA 9, 931). Ganz anders sieht es dagegen in der Pädagogischen Provinz aus; Selbstreflexion ist hier nicht mehr zentrales Moment der Persönlichkeitsentwicklung. Es geht vielmehr gerade darum, die Zöglinge auf ein vorgegebenes Ziel zu verpflichten und dabei »die Umwege« zu vermeiden, »durch welche der Mensch von seiner Bestimmung, nur allzu gefällig, abirren mag.« (413) Wilhelm läßt sich von den Erläuterungen des Sammlers überzeugen und begibt sich mit seinem Sohn in die Pädagogische Provinz,4 eine der 3
4
Siehe hierzu Hanno Schmitt: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn 2007, bes. S. 171–279; zur zunehmenden Praxisorientierung der Philanthropisten nach der Französischen Revolution siehe auch Gonthier-Louis Fink, der die Pädagogische Provinz vor dem Hintergrund sozio-ökonomischer Veränderungen als eine Art Ausgleichsmedium zwischen Selbst- und Fremdbestimmung sieht, das individuelle Anlagen mit pädagogischer Anleitung vermittelt. G.-L. F.: Die Pädagogik und die Forderung des Tages in Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Euphorion 93 (1999), S. 251–291, bes. S. 256–259 und S. 268f. Goethe hat sich bei seiner Konzeption der Pädagogischen Provinz vornehmlich durch Philipp Emanuel von Fellenbergs Erziehungsinstitut für höhere Söhne in Hofwyl bei Bern anregen lassen. Genauere Kenntnisse erlangte Goethe durch Gespräche (zwei Söhne Carl Augusts wurden dort 1817 bzw. 1818 aufgenommen, einer der Erzieher kommt 1817 nach Weimar, Abgesandte des Fürsten reisen nach Hofwyl und berichten Goethe darüber), durch zwei Briefe und eine
53 verschiedenen Regionen, die er im Laufe seiner Wanderschaft als ›Räume der Moderne‹ kennenlernt. Dort ist er zunächst sehr erstaunt angesichts des seltsamen Verhaltens der Zöglinge gegenüber dem Aufseher, der Wilhelm durch die Provinz führt: [A]lle Kinder, sie mochten beschäftigt sein wie sie wollten, ließen ihre Arbeit liegen und wendeten sich mit besondern, aber verschiedenen Gebärden gegen die Vorbeireitenden und es war leicht zu folgern, daß es dem Vorgesetzten galt. Die jüngsten legten die Arme kreuzweis über die Brust und blickten fröhlich gen Himmel, die mittlern hielten die Arme auf den Rücken und schauten lächelnd zur Erde, die dritten standen strack und mutig; die Arme niedergesenkt, wendeten sie den Kopf nach der rechten Seite und stellten sich in eine Reihe, anstatt daß jene vereinzelt blieben wo man sie traf. (414f.)
Auf den ersten Blick mag der Eindruck eines Dressuraktes entstehen, bei dem mit den unterschiedlichen Haltungen und Gebärden keine besondere Bedeutung verbunden ist. Doch geht es wirklich um bloße Disziplinierung? Sollen die Jünglinge frag- und gedankenlos das befolgen, was ihnen abverlangt wird? Oder herrscht in der Pädagogischen Provinz vielmehr eine nur den Außenstehenden unvertraute Zeichensprache? Felix wenigstens ahmt umstandslos das Körperritual nach, während Wilhelm informiert werden will: Als man darauf Halt machte und abstieg, wo eben mehrere Kinder nach verschiedener Weise sich aufstellten und von dem Vorgesetzten gemustert wurden, fragte Wilhelm nach der Bedeutung dieser Gebärden; Felix fiel ein und sagte munter: »was für eine Stellung hab’ ich denn einzunehmen?« »Auf alle Fälle«, versetzte der Aufseher, »zuerst die Arme über die Brust und ernsthaftfroh nach oben gesehen, ohne den Blick zu verwenden.« Er gehorchte, doch rief er bald: »dies gefällt mir nicht sonderlich, ich sehe ja nichts da droben; dauert es lange? Doch ja! rief er freudig, ein paar Habichte fliegen von Westen nach Osten; das ist wohl ein gutes Zeichen?« »Wienach du’s aufnimmst, je nachdem du dich beträgst,« versetzte jener; »jetzt mische dich unter sie, wie sie sich mischen.« Er gab ein Zeichen, die Kinder verließen ihre Stellung, ergriffen ihre Beschäftigung, oder spielten wie vorher. (415)
handschriftliche Darstellung Fellenbergs, ein Werbeblatt des Instituts und einen 1815 veröffentlichten Bericht des russischen Staatssekretärs Capo d’Istria; siehe hierzu den Kommentar FA 10, S. 1098f.; zu Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Fiktion und Realität siehe Kurt Guggisberg: Philipp Emanuel von Fellenberg und sein Erziehungsstaat, Band 2: Das Werk, Bern 1953, S. 431–434; allgemein zum »Erziehungsstaat« von Hofwyl siehe Denise Wittwer Hesse: Die Familie von Fellenberg und die Schulen von Hofwyl. Erziehungsideale, ›Häusliches Glück‹ und Unternehmertum einer bernischen Patrizierfamilie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Bern 2002, bes. S. 47–72.
54 Felix macht sich in kindlicher Unbefangenheit unwissentlich über die Rituale lustig, indem er sie mitmacht. Er glaubt, es gehe darum, am Himmel etwas zu entdecken, während die den Kindern beigebrachten Grußgebärden in Wahrheit einen verborgenen pädagogischen Sinn haben. Aber welchen? Das fragt sich auch Wilhelm, der sichtlich irritiert ist. Was er hier sieht, korrespondiert nicht mit den bisherigen Erfahrungen seiner »alltägliche[n] Lebenswelt«5. Er ist in eine fremde Sphäre eingetreten, deren Spielregeln er nicht durchschaut, und so wünscht er von seinem Begleiter Aufklärung: »Mögen und können Sie mir […] das was mich hier in Verwunderung setzt, erklären? Ich sehe wohl, daß diese Gebärden, diese Stellungen Grüße sind, womit man Sie empfängt.« »Ganz richtig,« versetzte jener, »Grüße, die mir sogleich andeuten, auf welcher Stufe der Bildung ein jeder dieser Knaben steht.« »Dürfen Sie mir aber,« versetzte Wilhelm, »die Bedeutung des Stufengangs wohl erklären? denn daß es einer sei, läßt sich wohl einsehen.« »Dies gebührt Höheren als ich bin,« antwortete jener, »so viel aber kann ich versichern, daß es nicht leere Grimassen sind, daß vielmehr den Kindern, zwar nicht die höchste, aber doch eine leitende, faßliche Bedeutung überliefert wird.« (415)
Wilhelm erfährt zunächst nur, daß es sich nicht um gewöhnliche Grüße handelt. Sind diese sonst stets Ausdruck eingespielter Routinen, Zeichen der Höflichkeit, Markierungen sozialer Unterschiede oder Signale persönlicher Zuwendung, so dokumentieren die Grußgesten in der Pädagogischen Provinz den jeweiligen Bildungsstand der Zöglinge. Dieser wird durch ein verbindliches Zeichen kodifiziert und damit zu etwas objektiv Feststellbarem gemacht. Allerdings wissen die Kinder nicht genau, was sie tun. Denn die Gebärden werden ihnen zugewiesen; sie sind nicht der von ihnen selbst gewählte Ausdruck ihrer Bildung, sondern eine von außen vorgenommene Bewertung, gleichsam eine visualisierte Zensur, der von den Pädagogen zwar eine tiefere Bedeutung beigemessen wird, die man den Zöglingen jedoch bewußt vorenthält. Der pragmatische Sinn dieser Hermetik besteht darin, daß ihnen mittels eines ›pädagogischen Tricks‹ Respekt vor einer Autorität beigebracht wird, die sich durch ihren Rückzug ins Mysteriöse unangreifbar macht, wie der Aufseher gegenüber Wilhelm ganz offen erläutert: 5
Siehe hierzu Alfred Schütz und Thomas Luckmann: »Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist.« A. S. und Th. L.: Strukturen der Lebenswelt, Neuwied, Darmstadt 1975, S. 23.
55 Außerdem hat das Geheimnis sehr große Vorteile: denn wenn man dem Menschen gleich und immer sagt, worauf alles ankommt, so denkt er, es sei nichts dahinter. Gewissen Geheimnissen, und wenn sie offenbar wären, muß man durch Verhüllen und Schweigen Achtung erweisen, denn dieses wirkt auf Scham und gute Sitten. (416)
Was sich hier zeigt, ist, negativ formuliert, ein Programm zur Entmündigung, positiv formuliert, ein Programm zur Einordnung in die Gemeinschaft. Da die Pädagogen allerdings von den Grußgebärden nicht darauf schließen können, was für ein Charakter sich hinter dieser Außenseite verbirgt, haben sie ein raffiniertes Verfahren entwickelt, um dem Innenleben ihrer Zöglinge auf die Spur zu kommen. Eigentlich sollte man meinen, daß zu den normierten Grußritualen dieser »paramilitärische[n] Institution«6 eine normierte Kleidung, eine Art Schuluniform gehört, die doch, wie es etwa der Gehilfe in den Wahlverwandtschaften hervorhebt, »einen militärischen Sinn, so wie ein knapperes strackeres Betragen« (FA 8, 444) befördern würde. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall, wie Wilhelm an beiden Tagen seines Aufenthalts bemerkt: »Ein anderer Anblick reizte, heute wie gestern, des Wanderers Neugierde; es war Mannigfaltigkeit an Farbe und Schnitt der Zöglingskleidung; hier schien kein Stufengang obzuwalten, denn solche, die verschieden grüßten, waren überein gekleidet, gleich Grüßende waren anders angezogen.« (431f.) Was sich auf den ersten Blick als Indiz einer liberalen Haltung ausnimmt, die darin besteht, den Kindern die freie Kleiderwahl zu lassen,7 erweist sich bei genauerem Hinsehen wiederum als Manifestation eines pädagogischen Kalküls. Denn die Kleidung ist für die Aufseher ein Hinweis auf die Gesinnung der Zöglinge. Die Pädagogen gehen davon aus, daß die Kinder gemäß ihrem Temperament und ihrem Charakter die Farben und Schnitte auswählen und hierdurch gleichsam ihr Inneres offenbaren: Innerhalb des Kreises unserer Vorräte an Tüchern und Verbrämungen dürfen die Zöglinge nach beliebiger Farbe greifen, so auch innerhalb einer mäßigen Beschränkung Form und Schnitt wählen; dies beobachten wir genau, denn an der Farbe läßt sich die Sinnesweise, an dem Schnitt die Lebensweise des Menschen erkennen. (432) 6 7
Thomas Degering: Das Elend der Entsagung. Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, Bonn 1982, S. 312. Dies ist die Meinung von Jutta Heinz, für die die Tatsache, daß die Anstalt Uniformen ablehnt, ein Hinweis darauf ist, daß das Leben der Zöglinge »nicht völlig normiert ist […], sondern in den einmal gezogenen Grenzen durchaus Vielfalt respektiert und Gestaltungsspielräume eröffnet.« J. H.: Narrative Kulturkonzepte. Wielands Aristipp und Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, Heidelberg 2006, S. 391.
56 Dies ist der Grund, warum die Kinder keine Uniformen tragen, da ihnen ansonsten die Möglichkeit gegeben wäre, ihre Individualität hinter der einheitlichen Kleidung zu verbergen. »Denn der Uniform sind wir durchaus abgeneigt, sie verdeckt den Charakter und entzieht die Eigenheiten der Kinder, mehr als jede andere Verstellung, dem Blicke der Vorgesetzten.« (432f.) Während die Kleidung als Medium dient, die Zöglinge auf ihr Inneres hin transparent zu machen, auch, um sie so gemäß ihrer Veranlagung beruflich besser ausbilden zu können, kristallisiert sich in den ihnen zugewiesenen Grußgebärden die gesamte Ideologie der Pädagogischen Provinz. Denn neben der Ausdrucksseite hat die Körpersemiotik auch eine Inhaltsseite, die Wilhelm von den »Höheren« jedoch erst nach kalkulierter Verzögerung mitgeteilt wird, um die Grußgebärden zu auratisieren und ihnen eine besondere Dignität zuzusprechen. Offensichtlich sind sie symbolische Handlungen, die den Zöglingen die Sinnordnung der Pädagogischen Provinz – im wahrsten Sinne des Wortes – in Fleisch und Blut übergehen lassen sollen. In diese Sinnordnung wird Wilhelm von den »Dreien […], die unsern Heiligtümern vorstehen« und »zusammen […] den Obern« bilden (419), eingeführt – Anklänge an die Trinität sind offensichtlich.8 Doch bevor ihm die tiefere Bedeutung der Gebärden erläutert wird, teilen ihm die Vorsteher der Provinz zunächst mit, was sie als das wesentliche Manko des Menschen ansehen, das es mit aller pädagogischen Anstrengung zu beheben gelte: »Wohlgeborne, gesunde Kinder,« versetzten jene, »bringen viel mit; die Natur hat jedem alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte, dieses zu ent8
Unklar bleibt, ob die »Dreie« gemeinsam den »Obern« ausmachen, oder mit diesem zusammen ein Quartett bilden. So lautet zwar die Adresse des Briefes, den Wilhelm mitbringt: »An den Obern, oder die Dreie« (FA 10, S. 414), und an anderer Stelle wird davon gesprochen, daß die Drei »zusammen […] den Obern vor[stellen]« (FA 10, S. 419); bei Wilhelms erneutem Besuch in der Pädagogischen Provinz heißt es dann jedoch, »daß der Obere sich gegenwärtig bei den Heiligtümern befinde, dort unterweise, lehre, segne, indessen die Dreie sich verteilt um sämtliche Regionen heimzusuchen.« (FA 10, S. 531) Goethe spielt hier auf die christliche Dreieinigkeitsvorstellung an, die er selbst entschieden ablehnte. So äußerte er sich am 4. Januar 1824 gegenüber Eckermann: »Ich glaubte an Gott und die Natur, und an den Sieg des Edlen über das Schlechte; aber das war den frommen Seelen nicht genug, ich sollte auch glauben, daß Drei Eins sei und Eins Drei; das aber widerstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner Seele.« (FA 39, S. 530) Siehe auch Mephistos Reaktion auf das »Hexen-Einmal-Eins«: »Es war die Art zu allen Zeiten, / Durch Drei und Eins, und Eins und Drei / Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.« Faust I, V. 2560–2562, in: FA 7.1, S. 109.
57 wickeln ist unsere Pflicht, öfters entwickelt sich’s besser von selbst. Aber eins bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei. Könnt ihr es selbst finden, so sprecht es aus.« Wilhelm bedachte sich eine kurze Zeit und schüttelte sodann den Kopf. Jene, nach einem anständigen Zaudern, riefen: »Ehrfurcht!« Wilhelm stutzte. »Ehrfurcht!« hieß es wiederholt. »Allen fehlt sie, vielleicht euch selbst.« (420)
Im Begriff der »Ehrfurcht« liegt die weltanschauliche Quintessenz der Pädagogischen Provinz.9 Offensichtlich versteht sich dies nicht von selbst, denn auch Wilhelm errät nicht, daß »Ehrfurcht« das zentrale Bedingungsmoment ist, damit man »nach allen Seiten zu ein Mensch sei.« War sein Leben in den Lehrjahren auf Selbstentfaltung ausgerichtet, so sollen die Zöglinge der Provinz umgekehrt aus dem Mittelpunkt des Welterlebens heraustreten und lernen, die externen Bedingungsmomente ihrer Existenz zu respektieren – d. h. »Ehrfurcht« vor ihnen zu haben. Diese Bedingungsmomente, denen die jeweiligen Grußgebärden zugeordnet sind, werden von den drei Vorstehern in ihrer metaphysischen, physischen und intersubjektiven Dimension näher bestimmt: Dreierlei Gebärde habt ihr gesehen, und wir überliefern eine dreifache Ehrfurcht, die wenn sie zusammenfließt und ein Ganzes bildet, erst ihre höchste Kraft und Wirkung erreicht. Das erste ist Ehrfurcht vor dem was über uns ist. Jene Gebärde, die Arme kreuzweis über die Brust, einen freudigen Blick gen Himmel, das ist was wir unmündigen Kindern auflegen und zugleich das Zeugnis von ihnen verlangen, daß ein Gott da droben sei, der sich in Eltern, Lehrern, Vorgesetzten abbildet und offenbart. (420)
Den Zöglingen soll durch den nach oben gerichteten Blick beigebracht werden, daß es eine metaphysisch legitimierte Autoritätshierarchie gibt, die Eltern, Lehrer und Vorgesetzte als Repräsentanten eines Gottes erscheinen läßt. Die zweite Ehrfurcht, der die zweite Gebärde entspricht, reflektiert sodann die physischen Bedingtheiten der Existenz: Das zweite, Ehrfurcht vor dem was unter uns ist. Die auf den Rücken gefalteten, gleichsam gebundenen Hände, der gesenkte, lächelnde Blick sagen, daß man die Erde wohl und heiter zu betrachten habe; sie gibt Gelegenheit zur Nahrung; sie gewährt unsägliche Freuden; aber unverhältnismäßige Leiden bringt sie. Wenn einer sich körperlich beschädigte, verschuldend oder unschuldig, wenn ihn andere vorsätzlich oder zufällig verletzten, wenn das irdische Willenlose ihm ein Leid zufügte, das bedenk’ er wohl: denn solche Gefahr begleitet ihn sein Leben lang. (420f.)
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Eine immanente Analyse des Goetheschen Begriffs »Ehrfurcht« findet sich bei Erich Franz: Goethe als religiöser Denker, Tübingen 1932, S. 109–150.
58 Die zweite Grußgeste soll den Zöglingen vermitteln, daß die Leidensdimension der menschlichen Existenz anzuerkennen ist. Doch mündet diese Anerkennung bezeichnenderweise nicht im christlichen Erlösungsgedanken, sondern in einer Gemeinschaftskonzeption, nach der der Einzelne nur im Verbund mit anderen den Widrigkeiten der physischen Existenz standhalten könne: Aber aus dieser Stellung befreien wir unsern Zögling baldmöglichst, sogleich wenn wir überzeugt sind, daß die Lehre dieses Grads genugsam auf ihn gewirkt habe; dann aber heißen wir ihn sich ermannen, gegen Kameraden gewendet nach ihnen sich richten. Nun steht er strack und kühn, nicht etwa selbstisch vereinzelt; nur in Verbindung mit seines Gleichen macht er Fronte gegen die Welt. Weiter wüßten wir nichts hinzuzufügen. (421)
Nur im Kollektiv, nicht aber in egoistischer Selbstbezogenheit vermag das Individuum den Widrigkeiten der Welt zu trotzen – dies ist der Sinn der dritten Ehrfurcht, die dem ›Nebenmann‹ gilt. Der Einzelne hat sich zurückzunehmen, sich in die Gemeinschaft von Gleichgesinnten ein- und unterzuordnen; nur so kann er sich im Lebenskampf behaupten. Den Schlußstein dieses Lehrgebäudes bildet dann eine vierte Ehrfurcht, die »aus diesen drei Ehrfurchten« als »oberste Ehrfurcht« entspringt: die Ehrfurcht vor sich selbst, […] so daß der Mensch zum Höchsten gelangt, was er zu erreichen fähig ist, daß er sich selbst für das Beste halten darf was Gott und Natur hervorgebracht haben, ja, daß er auf dieser Höhe verweilen kann, ohne durch Dünkel und Selbstheit wieder in’s Gemeine gezogen zu werden. (423)
Die Ehrfurchtslehre bringt dem Zögling in umfassender Weise bei, das eigene Ich im Wissen um dessen Bedingtheiten zu relativieren, ohne dabei die Selbstachtung zu verlieren. Bei aller Überzeitlichkeit, die diese Lehre insinuiert, hat sie doch eine epochenspezifische Signatur. Anstelle der überkommenen christlichen Heteronomie oder der neuzeitlichen subjektivistischen Autonomie proklamiert sie eine gemeinschaftsbezogene Loyalität – ein deutlicher Reflex des in den Wanderjahren thematisierten Modernisierungsprozesses, auf den auch der handwerklich ausgerichtete und arbeitsteilig organisierte Auswandererbund sowie der analoge Bund der Binnenkolonisatoren reagieren.10 Die Pädagogische Provinz ist ihnen funktional zugeordnet (siehe 514). Sie schafft die anthropologische Voraussetzung für diese Gemeinschaftsformen, indem sie den Einzelnen durch die Ehrfurchtslehre aus dem Mittelpunkt des Welterlebens herausrückt und ihn mittels gestischer 10
Siehe hierzu S. 212–235 der vorliegenden Arbeit.
59 Symbolisierungen in den postulierten Zusammenhalt der Gemeinschaft einfügt. Damit weicht das neuhumanistische Bildungsideal, das Wilhelm in den Lehrjahren noch in Anspruch genommen hatte, um seine individuelle Totalität auszubilden, in den Wanderjahren dem Ideal spezialisierender Ausbildung, das auf kollektive Totalität zielt. Die Lehre von den Ehrfurchten hat normative, wertbezogene und universale Aspekte. Ihre Praxis ist normativ, weil sie den Zöglingen ein bestimmtes Grußverhalten abverlangt, ihr Inhalt ist wertbezogen, weil sie vorgibt, das wahre Wesen des Menschen zu erfassen, und ihr Geltungsanspruch ist universal, weil sie die Dimensionen des Metaphysischen, des Physischen und des Sozialen umfaßt. Zugleich ist die Lehre überständisch11 – das weibliche Geschlecht bleibt allerdings ausgeschlossen.12 Aber sie ist auch totalitär, da sie keinen Raum für kritische Einwände und selbständige Reflexionen eröffnet.13 Wer ihren Geboten nicht folgt, wird zeitweilig ausgegrenzt oder gänzlich aus der Pädagogischen Provinz verwiesen (siehe 431). Ziel der Lehre ist die Herstellung eines kollektiven Bewußtseins, das den Einzelnen anhält, die externen Bedingungsmomente seiner Existenz zu respektieren, und ihn in eine »symbolische Sinnwelt« integriert, die sein Handeln und Erleben mit intersubjektiver Bedeutsamkeit auflädt.14 11
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Siehe hierzu Anneliese Klingenberg, die nachweist, daß im realgeschichtlichen Fellenbergschen Institut hingegen ständisch differenziert wurde: »In Hofwyl leben die Kinder der verschiedenen Klassen nicht nur streng voneinander geschieden – die Kinder der höheren Stände ›vermengen sich nie‹ mit den Schülern der Armenschule, wie im Prospekt ausdrücklich vermerkt wird –, sondern sie werden auch verschieden gebildet: zum Beispiel klettert, um körperliche Gewandtheit zu üben, der Arme – da Bäume überall kostenlos zu haben sind –, während der Reiche auf dem von den Eltern zu zahlenden Pferde reitet.« A. K.: Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, S. 59. Für Mädchen existiert eine kleine Ausbildungsanstalt bei Makarie, der sie bis zum zwanzigsten Lebensjahr angehören; danach treten sie »in’s tätige Leben, meistens in den Ehestand.« (FA 10, S. 387) Für Thomas Degering erweist sich die Pädagogische Provinz als eine Institution, die die Zöglinge einer strikten Disziplinierung unterwirft, um sie für die moderne Arbeitswelt zu formieren: »Daß der Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft von Anbeginn seines Lebens einem lückenlosen Lenkungs- und Kontrollsystem unterworfen ist, das ihn abrichtet und ihm seine Individualität abspricht bzw. zurichtet […], hat Goethe in dem Entwurf einer gesamtgesellschaftlichen, ja weltweiten Anstalt prognostiziert.« Th. D.: Das Elend der Entsagung, S. 312. Zur »symbolischen Sinnwelt« siehe Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissens-
60 Nur höchst vermittelt hat die Ehrfurchtslehre mit überkommenen Wertorientierungen, tradierten Weltbildern und religiösen Überzeugungen zu tun. Folglich weiß Wilhelm auch nicht, wie er den »Sinn jener sonderbaren Worte zu deuten« hat, mit denen die »Würdigen« (422) ihre Lehre erläutern – ein erneuter Hinweis darauf, wie fremd ihm diese SinnEnklave ist. Alle Aussagen bleiben zunächst vage; deutlicher werden sie erst, als die »Dreie« beginnen, ihre Lehre auf ungewöhnliche Weise bestimmten Religionen zuzuordnen.15 Diese sind jedoch nicht das Ursprünglich-Authentische, von dem sich alles Weitere ableitet; sie werden der axiomatischen Ehrfurchtslehre nicht zu deren Legitimierung vor-, sondern als deren Auratisierung nachgeordnet: Die Religion, welche auf Ehrfurcht vor dem was über uns ist, beruht, nennen wir die ethnische […]. Die zweite Religion, die sich auf jene Ehrfurcht gründet, die wir vor dem haben, was uns gleich ist, nennen wir die philosophische […]. Nun ist aber von der dritten Religion zu sprechen, gegründet auf die Ehrfurcht vor dem was unter uns ist; wir nennen sie die christliche. (422)
Die »Dreie« vollziehen definitorische Akte, die nicht ohne weiteres verständlich sind; so nennen sie die eine Religion die »ethnische«, weil sie die »glückliche Ablösung von einer niedern Furcht« (422) durch Autoritätsverhältnisse reflektiert, bezeichnen die zweite als »philosophische«, weil in ihr das Höhere mit dem Niederen zu einem »Mittelzustand« verschmolzen wird (422), und heißen die dritte die »christliche«, weil sie »Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen« lehrt (422). Deutlich wird zunächst, daß die Beschaffenheit der Welt und die Stellung des Menschen in ihr nicht mehr in einer göttlichen Ordnung gründen und Religionen nicht mehr als überzeitliche Offenbarungen gelten, denen gegenüber sich der Gläubige in
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soziologie, Frankfurt a. M. 1970, S. 104: »Die symbolische Sinnwelt bringt Ordnung in die subjektive Einstellung zur persönlichen Erfahrung. Erfahrungen, die verschiedenen Wirklichkeitssphären angehören, werden durch Einbeziehung in ein und dieselbe überwölbende Sinnwelt integriert.« Bei der Zuordnung der Ehrfurchten zu den Religionen gibt es Unstimmigkeiten: Die dritte Ehrfurcht wird mit der zweiten Religion und die zweite Religion mit der dritten Ehrfurcht verbunden; siehe hierzu das »Schema zur Lehre von der dreifachen Ehrfurcht« im Kommentar HA 8, S. 605; zu den verschiedenen Erklärungen hierfür siehe Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 334, Anm. 47; sie betont, »daß die zu erlernenden Tugenden an sich nicht hierarchisch angeordnet sind – ihre Hierarchie dient lediglich der Auratisierung der Lehre. Die Fähigkeiten Geduld, Gemeinschaftsgeist und Ausdauer ergänzen sich vielmehr. Alle drei Stufen sind zu durchlaufen, alle drei Eigenschaften zu erwerben – die Reihenfolge ist von geringerer Bedeutung.« Ebd., S. 334f.
61 frommer Demut zu verhalten habe. Sie fungieren statt dessen als beliebig verfügbare Bedeutungsarsenale, aus denen die »Dreie« Versatzstücke auswählen, um ihrer Doktrin die Aura des Sakralen zu verleihen. Die Lehre von den Ehrfurchten hat viele Literaturwissenschaftler angeregt, nach den Quellen zu forschen, aus denen Goethe schöpfte, um die ›Weltanschauung‹ der Pädagogen zu konzipieren. Und viele sind fündig geworden, haben detaillierte Nachweise geführt, auf welche historischen und religiösen Vorbilder er sich bezogen haben soll. Die Spanne reicht von den antiken Vorstellungen der Pythagoreer über die mittelalterliche Lehre des ordo caritatis und die Predigten Meister Eckharts bis hin zu kabbalistischen Gedankenfiguren, der romantischen Mystik, den Lehren der Freimaurer und vielem mehr.16 Es ist schon erstaunlich, was Goethe – den 16
Ernst Beutler sieht Übereinstimmungen mit einer Predigt Meister Eckharts. E. B.: Die vierfache Ehrfurcht, in: Modern Language Quarterly 10 (1949), S. 259–263; Otto Kohlmeyer betont den »Einfluß der romantischen Mystik« auf Goethes Ehrfurchtslehre. O. K.: Goethes Ehrfurchtserziehung unter dem Einfluß der romantischen Mystik, in: Magazin für religiöse Bildung 105 (1942), S. 104–108; Adolf Beck sieht Übereinstimmungen mit einem Lehrgedicht aus dem Kreis der Pythagoreer. A. B.: Der ›Geist der Reinheit‹ und die ›Idee des Reinen‹. Deutsches und Frühgriechisches in Goethes Humanitätsideal, in: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft N.F. 7 (1942), S. 160–169, fortgesetzt in: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft N.F. 8 (1943), S. 19–57; Harold Jantz zufolge sind über zwanzig antike Autoren für die Ehrfurchtsauffassung von Bedeutung, wobei er insbesondere auf Ciceros pietasDenken verweist. H. J.: Die Ehrfurchten in Goethes Wilhelm Meister. Ursprung und Bedeutung, in: Euphorion 48 (1954), S. 1–18; in einer umfänglichen Studie macht Friedrich Ohly auf erstaunliche Übereinstimmungen mit der sich durch das ganze Mittelalter ziehenden, auf Augustinus zurückgehenden Tradition des ordo caritatis aufmerksam, vermerkt aber gleichzeitig die säkularisierende Tendenz, da nicht mehr Gott, sondern der Mensch im Zentrum der Ehrfurchtslehre stehe. F. O.: Goethes ›Ehrfurchten‹ – ein ›ordo caritatis‹, in: Euphorion 55 (1961), S. 113–145 und S. 405–448; Rolf Christian Zimmermann verweist auf die pythagoreisch-kabbalistische Gedankenwelt, die insbesondere durch Franz von Baader auf die Zahlenmystik der Vier ausgerichtet ist. R. Ch. Z.: Franz von Baader und Goethes vier Ehrfurchten, in: GRM N.F. 14 (1964), S. 267–279; daß auch freimaurerische Gebräuche, die Goethe als Mitglied einer Freimaurerloge gut kannte, in die Ehrfurchtslehre eingeflossen sind, arbeitet Christian Johannes Wagenknecht heraus: Goethes ›Ehrfurchten‹ und die Symbolik der Loge, in: ZfdPh 84 (1965), S. 490–497; Stellungnahmen von Freimaurern zur Lehre von den Ehrfurchten finden sich bei Gotthold Deile: Goethe als Freimaurer, Berlin 1908, S. 160–165. Wie Wolf-Ulrich Klünker: Goethes Idee der Erziehung zur Ehrfurcht. Die Pädagogische Provinz in dem Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, Göttingen 1987, S. 88–116, der in einem Selbstversuch die Gebärden mit Körpereindrücken vergleicht, geht auch Jürgen Barkhoff von
62 Ergebnissen der Quellenforschung zufolge – alles an kulturellem Wissen in die Ehrfurchtslehre integriert hat. Doch anders als die quellenkundigen Literaturwissenschaftler meinen, handelt es sich dabei keineswegs um Goethes eigene Lehre.17 Er ist zwar der Autor des Romans, der ›Autor‹ der Lehre von den Ehrfurchten aber ist er nicht. Das sind vielmehr die Vorsteher der Heiligtümer, die aus überlieferten Traditionsbeständen ein Sinngebäude eklektizistisch zusammenfügen. Mit diesem Hinweis soll nun kein weiteres Quellenstudium verbunden werden. Das würde bloß zu Wiederholungen, bestenfalls zu Ergänzungen all dessen führen, was bislang Goethe zugeschrieben oder auf seine Person bezogen wurde. Anstelle der Frage nach dem Woher soll die Frage nach dem Wie und vor allem nach dem Wozu der Ehrfurchtslehre gestellt werden. Es geht also nicht darum zu zeigen, welche Traditionsstränge in die Lehre eingegangen sind, vor allem will ich sie auch nicht als Goethes weltanschauliches Credo deuten – das verbietet schon ihre figurenperspektivische Brechung. Es gilt statt dessen aufzuweisen, welche pragmatischen Funktionen der Lehre im Binnenraum der Pädagogischen Provinz zukommen. Sie konturieren sich schärfer, als Wilhelm dann im Zweiten Kapitel des Zweiten Buches »[a]n der Hand des Ältesten« den inneren Bezirk der Pädagogischen Provinz betritt und »durch ein ansehnliches Portal in eine runde oder vielmehr achteckige Halle [geführt wird], die mit Gemälden so reichlich verziert
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den mit den Gebärden einhergehenden Körpereindrücken »der Weitung und Engung« aus und verweist auf die »hermetische[] Korrespondenzlehre, nach der der Mensch als Mikrokosmos zum Ganzen des Makrokosmos in magisch-analoger Beziehung steht.« Er listet als Beleg eine Reihe von Quellen auf, die von der kabbalistischen »Zinzumlehre« über die Alchimie bis hin zu den Schriften Friedrich Christoph Oetingers reichen. J. B.: Goethes Ehrfurchtsgebärden in den Wanderjahren als Anthropologie vom Leibe her, in: Anthropologie und Literatur um 1800, hrsg. von J. B. und Eda Sagarra, München 1992, S. 161–186, hier S. 172f. Vielfach hat man in der Lehre von den Ehrfurchten Goethes eigene Religionsauffassungen gesehen; siehe z. B. Hans-Jochen Gamm, der davon spricht, daß hier von Goethe »Religion […] in einem fundamentalen Daseinsverständnis entworfen und im Aneignungsvorgang durch die junge Generation bedacht« werde. H.-J. G.: Das pädagogische Erbe Goethes. Eine Verteidigung gegen seine Verehrer, Frankfurt a. M. 1980, S. 97; für Erich Trunz handelt es sich bei den Grußgebärden um die »symbolischen Gesten der Goetheschen weltlichen Religiosität«. (Kommentar HA 8, S. 608); ähnlich auch Hans-Jürgen Schings: Art.: Religion/Religiosität, in: Goethe-Handbuch, Band 4.2, hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, Stuttgart, Weimar 1998, S. 892–898, bes. S. 896–898; siehe ebenfalls auch Peter Hofmann: Goethes Theologie, Paderborn, München, Wien u. a. 2001, S. 384–397.
63 war, daß sie den Ankömmling in Erstaunen setzte.« (424) Dort erkennt Wilhelm zwar, »daß die heiligen Bücher der Israeliten den Stoff zu diesen Bildern geliefert hatten«, und er spürt auch, daß »alles was er erblickte, einen bedeutenden Sinn haben müßte«, kann diesen aber »nicht so geschwind entziffern.« (424) Er bittet daher seinen Begleiter, ihm zu erläutern, »warum man die israelitische Geschichte vor allen anderen gewählt« (425), und bekommt daraufhin eine recht seltsame Antwort: Das israelitische Volk hat niemals viel getaugt […]; es besitzt wenig Tugenden und die meisten Fehler anderer Völker: aber an Selbstständigkeit, Festigkeit, Tapferkeit und wenn alles das nicht mehr gilt, an Zähheit sucht es seines Gleichen. Es ist das beharrlichste Volk der Erde […]. Wir haben es daher als Musterbild aufgestellt, als Hauptbild, dem die andern nur zum Rahmen dienen. (425)
Die religiöse Ikonographie wird umcodiert und funktionalisiert. Sie dient nicht mehr zur Illustration des Heilsgeschehens, und selbst die häufig mit ihr verbundene Veranschaulichung einer bestimmten Moral wird negiert; es geht allein um die Visualisierung utilitaristischer Verhaltensweisen. Gezeigt werden praktische Eigenschaften, die im Überlebenskampf nützlich sind: Selbständigkeit, Festigkeit, Tapferkeit, Zähigkeit, Beharrlichkeit. Daß diese pragmatische Überführung von Transzendenz in Immanenz einem säkularen Bildprogramm folgt, zeigt sich dadurch, daß im Fries und im Sockel die alttestamentarischen Beispiele durch mythologische Analogien ergänzt werden. Der »Älteste« führt im einzelnen aus, »daß in den Sockeln und Friesen nicht sowohl synchronistische als symphronistische Handlungen und Begebenheiten aufgeführt sind, indem unter allen Völkern gleichbedeutende und gleiches deutende Nachrichten vorkommen.« (425)18 Evi18
Den symphronistischen Zusammenklang der antik-klassischen, jüdischen und christlichen Tradition in den Heiligtümern der Pädagogischen Provinz analysiert Hans Joachim Schrimpf: Das Weltbild des späten Goethe, S. 291–298; auf Übereinstimmungen zur typologischen Geschichtsdarstellung im Faust II verweist Manfred Birk: Goethes Typologie der Epochenschwelle im vierten Akt des Faust II, in: Aufsätze zu Goethes Faust II, hrsg. von Werner Keller, Darmstadt 1991, S. 243–266. In der symphronistischen Organisation der Bildsequenzen folgen die »Oberen« einer Einsicht, die in ähnlicher Form auch Wilhelm von Humboldt um 1821 in seiner Schrift Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers formuliert hat, wenn er gegen die Auffassung, die Geschichte einzelner Personen und Ereignisse sei lehrreich, einwendet, daß es auf die formalen Strukturen ankomme, die sich in diesen Ereignissen abbilden und daher auf andere Situationen übertragbar seien. Folglich diene die Geschichte nicht mehr »durch einzelne Beispiele des zu Befolgenden, oder Verhütenden, die oft irre führen und selten belehren. Ihr wahrer und unermesslicher Nutzen ist es, mehr durch die Form,
64 dent wird, daß das Heiligtum der Pädagogischen Provinz mit seinen umfänglichen Bildergalerien nicht religiöse Wahrheiten, sondern lebenspraktische Haltungen vermitteln soll; auch fungiert es nicht als Erinnerungsraum, um der Gegenwart eine historische Tiefendimension zu verleihen.19 Das Gegenteil ist der Fall: Die Vergangenheit wird ihres Zeithorizonts beraubt, die Geschichte fungiert nur noch als exempla-Sammlung. Doch während die tradierte Formel historia magistra vitae 20 einem vorhistorischen Bewußtsein entspringt, das sich an der Heilsgeschichte orientiert, gehorcht das Bilderarrangement der Pädagogen einem Kalkül, für das Religion und Mythologie zu topischen Reservoiren werden, aus denen sie Bestandteile auswählen, um bestimmte ›Sekundärtugenden‹ zu propagieren. Die manipulative Auswahl der Bildsequenzen, ihre typologische Formierung und die Zuordnung von religiösen Elementen zur Lehre von den Ehrfurchten verdeutlichen, daß an die Stelle des göttlichen Wahrheitsanspruchs der überlieferten Religionen ein zweckorientiertes Sinnarrangement tritt.21 Besonders sichtbar wird dies, als Wilhelm durch eine Pforte in
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die an den Begebenheiten hängt, als durch sie selbst den Sinn für die Behandlung der Wirklichkeit zu beleben, und zu läutern, zu verhindern, daß er nicht in das Gebiet blosser Ideen überschweife, und ihn doch durch Ideen zu regieren […].« W. v. H.: Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers, in: Gesammelte Schriften, Band 4, hrsg. von Albert Leitzmann, S. 35–56, hier S. 40. Siehe hierzu Aleida Assmanns Unterscheidung von »Funktions-« und »Speichergedächtnis«: »Das Funktionsgedächtnis als ein gleichmäßig ausgeleuchteter Erinnerungsraum kann die Gestalt eines Thesaurus, eines Bildungskanons, eines Pantheons annehmen. Als ein verbindlicher Gegenstand des Lernens und Deutens ist es darauf angelegt, an die nächste Generation weitergegeben zu werden; ferner wird es in einer auf Wiederholung gegründeten rituellen Kommemoration befestigt, was durch entsprechende Zeiten und Kalenderdaten abgestützt wird. Das unbewohnte Speichergedächtnis bildet dagegen einen eher unsinnlichen, in seiner Totalität unübersehbaren Erinnerungsraum, dessen Verwaltung in die Hände von Spezialisten übergegangen ist. […] Als ein potentieller Erinnerungsraum, der sich um den engen Kreis des bewohnten Funktionsgedächtnisses legt, stellen ausgelagerte Wissensspeicher ein Reservoir möglicher noch nicht aktualisierter Erinnerungsanlässe und damit Chancen der Wiederanknüpfung bereit, die die Bilder von dem, was ebenso kurz wie bequem ›Vergangenheit‹ genannt wird, immer wieder verschieben.« A. A.: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 32006, S. 409. Siehe hierzu Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, bes. S. 38–66. Zur Suspendierung der Wahrheitsfrage in funktionalen Religionstheorien siehe Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung, Graz, Wien, Köln 1986, S. 219–255, hier S. 253: »Wer die Unterscheidung von ›wahrer‹ und anderer Re-
65 eine zweite Galerie tritt und dort »sogleich die Bilder der zweiten heiligen Schriften erkannte« (427), doch ohne Darstellung der Passionsgeschichte. Jesu Kreuzestod und Auferstehung, seine für das Christentum essentiellen Erlösungstaten, werden ausgeblendet; allein sein weltliches Wirken als »wahrer Philosoph« (429) kommt in den Blick. Auf diese Art spalten die »Obern« die biblische Offenbarung der Evangelien auf in einen ›weltlichen Teil‹, den sie als philosophische Religion bezeichnen, und einen ›göttlichen Teil‹, den sie mit dem Namen christliche Religion belegen (siehe 422f.). Durch diese Segmentierung in zwei unabhängige Sinnsysteme verliert die christliche Religion aber jede eigenständige Substanz. Ihre Heilsbotschaft wird zugunsten des Ziels, den Zöglingen ein praktikables Weltbild zu vermitteln, ausgeklammert, wie die pädagogische Begründung zeigt, die der Älteste für das Fehlen der Passionsgeschichte gibt: Wir sondern […] bei jedem Unterricht, bei aller Überlieferung, sehr gerne, was nur möglich zu sondern ist; denn dadurch allein kann der Begriff des Bedeutenden bei der Jugend entspringen. Das Leben mengt und mischt ohnehin alles durcheinander, und so haben wir auch hier das Leben jenes vortrefflichen Mannes ganz von dem Ende desselben abgesondert. Im Leben erscheint er als ein wahrer Philosoph. (429)
Es geht darum, durch rechte Auswahl und geschickte Anordnung von Bestandstücken der christlichen Überlieferung bei der Jugend einen »Begriff des Bedeutenden« zu wecken, der Lebenstüchtigkeit garantiert. Zu diesem pädagogischen Zweck wird auch das »Heiligtum des Schmerzes« (430) ausgegrenzt. In dieses erhalten die Zöglinge erst dann Einblick, wenn sie ins Leben entlassen werden, damit ihnen auch »jene Verehrung des Widerwärtigen, Verhaßten, Fliehenswerten« (430) bekannt wird – was auf die zweite Ehrfurcht zurückweist, die die Zöglinge vor »der Erde« haben sollen, die auch »unverhältnismäßige Leiden« (420) bringt. Die Lehre von den Ehrfurchten, kodifiziert durch ritualisierte Gebärdensprache, auratisiert durch Religionscamouflage und visualisiert durch typologische Bilderarrangements, erweist sich als eine auf Lebenspraxis ausgerichtete synkretistische Systembildung – bestimmt von der pädagogischen Absicht, den Zöglingen eine feste Orientierung zu vermitteln. Hierin besteht das eigentliche Ziel ihrer Lehre, wie der »Älteste« gegenüber Wilhelm zu verstehen gibt: ligion mit dem Unterschied korreliert, den es macht, ob die fragliche Religion lebensfördernd oder destruktiv wirke, erhebt implizit gelingendes Leben zum Kriterium der Wahrheit religiöser Orientierung, in deren Horizont es sich vollzieht.«
66 So viel sei für diesmal genug, um euch über euren Knaben zu beruhigen und völlig zu überzeugen, daß ihr ihn auf irgend eine Art, mehr oder weniger, aber doch nach wünschenswerter Weise, gebildet und auf alle Fälle nicht verworren, schwankend und unstet wieder finden sollt. (430)
Die Zöglinge sollen durch die auf der Ehrfurchtslehre basierende Ausbildung ein stabiles Verhältnis zur Welt entwickeln. Zu diesem Zweck wählen die »Dreie« einzelne Elemente aus vorhandenen Traditionsbeständen aus und kombinieren diese zu einem totalisierenden Sinngebäude, in das sie die Zöglinge nach einem genau kalkulierten pädagogischen Verfahren integrieren, welches sich an deren Entwicklungsstand und Fassungsvermögen orientiert.
2. Kunst als Medium sozialer Integration Am Ende von Wilhelm Meisters zweitägigem Aufenthalt in der Pädagogischen Provinz, bei dem er in das Erziehungsprogramm eingeweiht wird, ergeht an ihn die Einladung, »nach Verlauf eines Jahres wiederzukehren, unser allgemeines Fest zu besuchen und zu sehen, wie weit euer Sohn vorwärts gekommen.« (430) Doch es vergehen mehrere Jahre, bis Wilhelm tatsächlich wiederkommt. Zwischenzeitlich hatte er erst noch eine Reise an den Lago Maggiore unternommen22 und anschließend ein Medizinstudium absolviert.23 Jetzt erfährt er, wie es seinem Sohn ergangen ist und wird außerdem noch über weitere Einzelheiten der Erziehungspraxis unterrichtet. Mit einer Herde von Pferden kommt Felix seinem Vater entgegengesprengt: Nun geht es an ein Fragen und Erzählen, der Sohn berichtet, daß er in der ersten Prüfungszeit viel ausgestanden, sein Pferd vermißt und auf Äckern und Wiesen sich zu Fuß herumgetrieben; da er sich denn auch in dem stillen mühseligen Landleben, wie er voraus protestiert, nicht sonderlich erwiesen; das Erntefest habe ihm zwar ganz wohl, das Bestellen hinterdrein, Pflügen, Graben und Abwarten keineswegs gefallen, mit den notwendigen und nutzbaren Haustieren habe er sich zwar, doch immer lässig und unzufrieden beschäftigt, bis er denn zur lebhafteren Reiterei endlich befördert worden. Das Geschäft die Stuten und Fohlen zu hüten, sei mitunter zwar langweilig genug, indessen wenn man ein muntres Tierchen vor sich sehe, das einen vielleicht in drei vier Jahren lustig davon trüge, so sei es doch ein ganz anderes Wesen als sich mit Kälbern und Ferkeln abzugeben deren Lebenszweck dahinausgehe, wohl gefüttert und angefettet fortgeschafft zu werden. (516f.) 22 23
Siehe hierzu S. 90–112 der vorliegenden Arbeit. Siehe hierzu S. 113–138 der vorliegenden Arbeit.
67 Felix mußte sich lange Zeit mit Aufgaben beschäftigen, die ihm gar nicht behagten. Es scheint so, als hätten die Erzieher zunächst seine Anlagen und seinen Charakter falsch eingeschätzt, als sie ihn der Landwirtschaft zuwiesen und ihm erst später eine Tätigkeit gewährten, die ihm zusagte. Doch steht hinter diesem Aufschub eine pädagogische Methode. Das Arbeiten dient ja nicht der Erfüllung persönlicher Wünsche und Bedürfnisse; vielmehr gilt es, die eigene Individualität zurückzustellen, um eine Leistung für die Gemeinschaft zu erbringen. Erst als Felix dies gelernt hat, darf er sich mit den Pferden beschäftigen, allerdings nicht ausschließlich, damit »der Jüngling nicht selbst zum Tiere verwildere. Und so war ihm [Wilhelm] denn sehr lieb zu vernehmen daß gerade mit dieser gewaltsam und rauhscheinenden Bestimmung die zarteste von der Welt verknüpft sei, Sprachübung und Sprachbildung.« (517) Wilhelm ist mit dem, was seinem Sohn an pädagogischer Zuwendung widerfuhr, zufrieden. Jetzt wird der Leser mit ihm zusammen in die einzelnen Sektionen der Pädagogischen Provinz geführt; sie heben sich durch verschiedenartige Tätigkeitsfelder voneinander ab. Dort pflegt man auch die schönen Künste, die bei der Spezialausbildung zum Beruf des Künstlers eine Rolle spielen. Darüber hinaus ist besonders die Gesangskunst in der Provinz omnipräsent. Doch handelt es sich in der Pädagogischen Provinz um einen ganz anderen Gesang als in den Lehrjahren. Während dieser in der Forschung immer wieder große Aufmerksamkeit gefunden hat, blieb die Tatsache, daß auch in den Wanderjahren gesungen wird, bislang nahezu unbeachtet. Solch ›stiefmütterliche‹ Behandlung erstaunt nicht, denn die strikte Funktionalisierung des Gesangs, die sich noch dazu mit eher konventionellen Formen und Inhalten verbindet, verhindert eine besondere Aufmerksamkeit. Betrachtet man jedoch die pragmatische Bedeutung des Gesangs in den Wanderjahren genauer, so werden zentrale Aspekte seiner gegenüber den Lehrjahren veränderten Funktion sichtbar: Das individuell-emphatische Lied intensiven Selbstausdrucks, wie es in den Lehrjahren von Mignon und dem Harfner gesungen wurde,24 weicht in der Pädagogischen Provinz dem gemeinschaftlichen Gesang, der die Arbeit begleitet, die im Kollektiv verrichtet wird. Bereits während seines ersten Aufenthalts bei den Pädagogen bemerkt Wilhelm, 24
Zur romantischen Konzeption der Musik als ein authentisches und zeichentranszendierendes Medium unentfremdeten Ausdrucks siehe Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 31994, S. 74–80; Christine Lubkoll: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg i.Br. 1995, S. 60–64.
68 daß, je weiter sie [Wilhelm und Felix] in’s Land kamen, ein wohllautender Gesang ihnen immer mehr entgegen tönte. Was die Knaben auch begannen, bei welcher Arbeit man sie auch fand, immer sangen sie, und zwar schienen es Lieder jedem Geschäft besonders angemessen und in gleichen Fällen überall dieselben. Traten mehrere Kinder zusammen, so begleiteten sie sich wechselsweise; gegen Abend fanden sich auch Tanzende, deren Schritte durch Chöre belebt und geregelt wurden. (416)
Gesang und Arbeit formen eine Einheit; die Tätigkeit gibt die Art des Gesanges vor, der seinerseits die Handlungsabläufe rhythmisiert. Und nach getaner Arbeit verbindet der Gesang die Sänger, die sich zum Chor zusammenschließen, mit den Tanzenden, die sich nach ihm bewegen. Der Gesang begleitet aber nicht nur die Arbeit und stiftet eine Einheit von Musik und Bewegung; er dient erstaunlicherweise auch der Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten. Der Aufseher teilt Wilhelm Einzelheiten mit: bei uns ist der Gesang die erste Stufe der Bildung, alles andere schließt sich daran und wird dadurch vermittelt. Der einfachste Genuß, so wie die einfachste Lehre werden bei uns durch Gesang belebt und eingeprägt, ja selbst was wir überliefern von Glaubens- und Sittenbekenntnis, wird auf dem Wege des Gesanges mitgeteilt; andere Vorteile zu selbsttätigen Zwecken verschwistern sich sogleich: denn indem wir die Kinder üben, Töne, welche sie hervorbringen, mit Zeichen auf die Tafel schreiben zu lernen und nach Anlaß dieser Zeichen sodann in ihrer Kehle wieder zu finden, ferner den Text darunter zu fügen, so üben sie zugleich Hand, Ohr und Auge und gelangen schneller zum Recht- und Schönschreiben als man denkt. (417)
Mit Musik geht alles besser, vor allem das Schreiben wird weitaus schneller erlernt – so die didaktische Maxime des Aufsehers, der darüber hinaus noch die mnemotechnischen Vorteile des Gesangs hervorhebt.25 Dessen Funktion erschöpft sich jedoch nicht darin, Arbeitsabläufe zu homogenisieren, Lehrinhalte zu übermitteln und in Bezeichnungsverfahren einzuüben. Es geht um viel mehr. Der Gesang dient als gemeinschaftstiftendes Organon – nicht in dem schlichten Sinn, daß der Einzelne sich während des Singens mit anderen zum harmonischen Chorklang verbindet, son25
Auf Parallelen zu Platons Dialogen Nomoi 654ab und Politeia 401d–402a verweist Wolf-Ulrich Klünker: Goethes Idee der Erziehung zur Ehrfurcht, S. 117–120; siehe auch Franziska Schößler, die darauf hinweist, daß die »enge Verbindung von Mathematik und Musik, wie sie die Ausbildung beherrscht, […] keine neuartige Erfindung der Pädagogen dar[stellt]; sie entspricht vielmehr einer antiken Konzeption, wonach die Musik als ›mathematisches Fach‹ zusammen mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie das ›quadrivium‹ der freien Künste bildet.« F. S.: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 260.
69 dern in dem konzeptionellen Sinn, daß er sich als Subjekt der Weltwahrnehmung überwindet, um zum Teil eines Ganzen zu werden, dem er funktional zugeordnet ist. Eingeübt wird dies z. B. durch ein Spiel woran sich die Knaben in der Feierstunde diesmal ergetzten. Ein allgemeiner Chorgesang erscholl, wozu jedes Glied eines weiten Kreises freudig, klar und tüchtig an seinem Teile zustimmte, den Winken des Regelnden gehorchend. Dieser überraschte jedoch öfters die Singenden, indem er durch ein Zeichen den Chorgesang aufhob und irgend einen einzelnen Teilnehmenden, ihn mit dem Stäbchen berührend, aufforderte sogleich allein ein schickliches Lied dem verhallenden Ton, dem vorschwebenden Sinne anzupassen. Schon zeigten die meisten viel Gewandtheit, einige, denen das Kunststück mißlang, gaben ihr Pfand willig hin, ohne gerade ausgelacht zu werden. (418)
Das Spiel, das die Knaben eifrig und mit Freude betreiben, erinnert an das Verfahren der hypólepsis im Rhapsodenwettkampf der Antike, bei dem »der nächste Rhapsode genau dort in der Rezitation des Homertextes fortfahren muß, wo sein Vorgänger aufgehört hat.«26 Doch geht es hier nicht um die Konkurrenz von Gedächtnisleistungen, auch nicht primär darum, den Zöglingen beizubringen, den »Winken des Regelnden zu gehorchen«; statt dessen handelt es sich um ein subtiles pädagogisches Verfahren mit dem Ziel, die Singenden mit der Gemeinschaft dadurch zu vermitteln, daß sie das Lied »dem verhallenden Ton, dem vorschwebenden Sinne anpassen« und auf diese Weise lernen, sich normgerecht zu verhalten, auch wenn der Vormund nicht anwesend ist. Aus dem »außengeleiteten« soll der »innengeleitete« Mensch27 werden, dem die sozialen Ordnungsgebote habituell sind. Anders als bei Mignon und dem Harfner in den Lehrjahren gründet der Gesang in der Pädagogischen Provinz daher nicht in der subjektiven Stimmung; kein inneres Leid oder sehnsüchtiges Verlangen drückt sich in ihm aus; vielmehr sollen die Zöglinge durch ihn geradezu entindividualisiert und zu einer homogenen Gruppe zusammengeschlossen werden.28 26 27 28
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 282. Zu dieser Unterscheidung siehe David Riesman: Die einsame Masse, Reinbek bei Hamburg 1956, S. 175–201. Goethe, der sich bei seiner Konzeption der Pädagogischen Provinz bekanntlich durch Emanuel Fellenbergs Erziehungsinstitut für Söhne höherer Stände in Hofwyl bei Bern hat anregen lassen (siehe S. 52, Anm. 4 der vorliegenden Arbeit), greift insbesondere auch auf dessen Einstellung zum Gesang zurück. Von ihr berichtet Capo d’Istria: »M. de Fellenberg considère la musique vocale comme un moyen d’éducation, comme une ressource auxilière précieuse pour adoucir le caractère et les passions, pour mettre de l’ensemble entre les pensées et les sentiments, pour fortifier l’amour de l’ordre et du beau, pour animer l’in-
70 Während in allen Bereichen der Provinz der Gesang als »psychosoziales Organisationsmittel«29 eingesetzt wird, gibt es aber auch einen Bezirk, in dem gezielt Instrumentalmusiker ausgebildet werden. Wie bei der Ausbildung aller Künstler kommt es den Pädagogen auch bei derjenigen der Musiker allerdings nicht auf herausragende Fähigkeiten, sondern auf handwerkliche Fertigkeiten an; die Technik ist akkurat zu beherrschen: Würde der Musiker einem Schüler vergönnen wild auf den Saiten herumzugreifen, oder sich gar Intervalle nach eigner Lust und Belieben zu erfinden? Hier wird auffallend, daß nichts der Willkür des Lernenden zu überlassen sei; das Element worin er wirken soll, ist entschieden gegeben, das Werkzeug das er zu handhaben hat, ist ihm eingehändigt, sogar die Art und Weise wie er sich dessen bedienen soll, ich meine den Fingerwechsel, findet er vorgeschrieben, damit ein Glied dem andern aus dem Wege gehe und seinem Nachfolger den rechten Weg bereite; durch welches gesetzliche Zusammenwirken denn zuletzt allein das Unmögliche möglich wird. (521f.)
29
stinct qui attache l’homme à son pays, et pour élever vers le ciel son imagination et ses vœux […] Les chants nobles élèvent le cœur et le réjouissent. Je trouve qu’ils inspirent de bonnes pensées qu’on avait jamais eues sans cela.« Zitiert nach Otto Kohlmeyer: Die Pädagogische Provinz in Wilhelm Meisters Wanderjahren. Ein Beitrag zur Pädagogik Goethes, Langensalza 1923, S. 66; Anneliese Klingenberg verweist darauf, daß in dem im Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrten Informationsblatt Vorläufige Nachricht über die Erziehungsanstalt für die höheren Stände zu Hofwyl bei Bern in der Schweiz eine Passage »offenbar von Goethe selbst dick mit Farbstift unterstrichen ist«, die davon handelt, daß die »objektiven Normen für die ästhetische Erziehung […] in Tönen wohl, in den Farben und Formen aber nicht vorhanden seien.« A. K.: Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, S. 58f.; auf die von Zelter ausgehende breite zeitgenössische Debatte über Stellung und Zweck der Musik in der Pädagogik, an der auch Goethe und Schiller beteiligt waren, mit der Folge, daß Humboldt die Gründung einer Musikbehörde durchsetzte, verweist Wilfried Gruhn: Geschichte der Musikerziehung. Eine Kultur- und Sozialgeschichte vom Gesangunterricht der Aufklärungspädagogik zu ästhetisch-kultureller Bildung, Darmstadt 1993, S. 34–39; siehe auch Bettina Hey’l: Goethes und Zelters Reflexionen über die menschliche Stimme, in: JbDSG 40 (1996), S. 181–209, bes. S. 187f. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Band 1, Heidelberg 32004, S. 350: »Während die Kunst in der Genie-Ästhetik als autonom und primär zweckfrei, wenn auch nicht wirkungslos gilt, da sie wesentlich von ihrem Ursprung her begriffen wird, ist sie nun ganz und gar zweckgerichtet. Sie repräsentiert nicht Sinn an sich, sondern wird einem übergeordneten Sinn dienstbar gemacht. Die Kunst erhält ihre Legitimation nur aus diesem außerkünstlerischen Sinnhorizont. Daß die wichtigsten Partien über Kunst und Künstler gerade in den Kapiteln über die pädagogische Provinz stehen, heißt: Kunst ist Mittel der Erziehung – der Erziehung zur Gemeinschaft. Sie dient als psychosoziales Organisationsmittel.«
71 Das Bild des Fingersatzes veranschaulicht das pädagogische Konzept. An die Stelle subjektiver Willkür hat die Befolgung objektiver Regeln zu treten; nicht kreative Originalität ist gefordert, sondern reproduktiver Gehorsam. Die Erzieher haben hierfür eine raffinierte Didaktik der Musikerausbildung entwickelt, welche die Zöglinge zugleich an die Bedingungen gesellschaftlicher Arbeitsteilung gewöhnt. Eingeübt wird sie mittels eines Verfahrens, bei dem auf die Lehrzeit einsamen Übens in weit auseinander liegenden »vereinzelten Hütten« (519) die Praxis gemeinsamen Wirkens in Form einer Orchesteraufführung folgt, die einem erstaunlichen Arrangement gehorcht: Eben als der Gast [Wilhelm] herantrat, ward eine mächtige Symphonie aller Instrumente aufgeführt, deren vollständige Kraft und Zartheit er bewundern mußte. Dem geräumig erbauten Orchester stand ein kleineres zur Seite, welches zu besonderer Betrachtung Anlaß gab; auf demselben befanden sich jüngere und ältere Schüler, jeder hielt sein Instrument bereit ohne zu spielen; es waren diejenigen die noch nicht vermochten, oder nicht wagten mit in’s Ganze zu greifen. Mit Anteil bemerkte man wie sie gleichsam auf dem Sprunge standen, und hörte rühmen: ein solches Fest gehe selten vorüber, ohne daß ein oder das andere Talent sich plötzlich entwickele. (519f.)
Die Zusammenführung der einzelnen Fertigkeiten zur orchestralen Einheit erweist sich als didaktisches Mittel zum Zweck der Integration.30 Wenn dabei von »dem einen oder anderen Talent« gesprochen wird, das sich plötzlich entwickle, so ist damit gerade nicht die exzeptionelle Begabung gemeint, die sich über die anderen erhebt, sondern umgekehrt die Fähigkeit, sich dem »Ganzen« so an- und einzupassen, daß die »Symphonie aller Instrumente« im aufeinander abgestimmten Spiel perfekt erklingt. Damit wird das Ideal einer kollektiven Harmonie aufgerufen, in die sich der einzelne Musiker einfügt, um von ihr her seine Bestimmung zu erfahren. Die Gemeinschaft der Musizierenden repräsentiert so in spezifischer Weise die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft der Moderne. Nicht zufällig spricht Jarno/Montan schon gleich zu Beginn des Romans metaphorisch vom »tüchtigen Violinisten«, der sich »im Orchester« (295) zu bewähren habe, um Wilhelm den Zusammenhang von Teil und Ganzem, Einordnung und Anpassung als Signum der arbeitsteiligen Produk30
Siehe hierzu auch Aristoteles, der im achten Buch (1339a–1342b) seiner Politik neben dem reinen Unterhaltungsaspekt zwei spezifische Funktionen der Musik betont: Zum einen die kathartische Wirkung der Abfuhr von schädlichen Affekten und zum anderen die pädagogische Wirkung der Disziplinierung. Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Band 9: Politik. Teil 4: Über die beste Verfassung, hrsg. von Hellmut Flashar, Darmstadt 2005, S. 52–61.
72 tionsweise der Moderne zu verdeutlichen: »Übe dich zum tüchtigen Violinisten und sei versichert, der Kapellmeister wird dir deinen Platz im Orchester mit Gunst anweisen. Mache ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde.« (295) Neben Musikern werden in der Pädagogischen Provinz unter anderem auch Zöglinge in der Dichtkunst ausgebildet, »und zwar von der lyrischen Seite.« (520) Vor dem Hintergrund der hier herrschenden antisubjektivistischen Ausrichtung scheint dies zunächst verwunderlich, gilt doch die Lyrik seit dem Sturm und Drang als Organon der Subjektivität. Aber es geht nicht darum, daß die Eleven in Gedichten ihr Inneres entäußern, vielmehr sollen sie anhand eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Lyrik und Musik integrative Selbstrelativierung lernen: Hier komme alles darauf an daß beide Künste [Lyrik und Musik], jede für sich und aus sich selbst, dann aber gegen und miteinander entwickelt werden. Die Schüler lernen eine wie die andre in ihrer Bedingtheit kennen; sodann wird gelehrt wie sie sich wechselsweise bedingen und sich sodann wieder wechselseitig befreien. Der poetischen Rhythmik stellt der Tonkünstler Takteinteilung und Taktbewegung entgegen. Hier zeigt sich aber bald die Herrschaft der Musik über die Poesie; denn wenn diese, wie billig und notwendig, ihre Quantitäten immer so rein als möglich im Sinne hat, so sind für den Musiker wenig Sylben entschieden lang oder kurz; nach Belieben zerstört dieser das gewissenhafteste Verfahren des Rhythmikers, ja verwandelt sogar Prosa in Gesang, wo dann die wunderbarsten Möglichkeiten hervortreten, und der Poet würde sich gar bald vernichtet fühlen, wüßte er nicht, von seiner Seite, durch lyrische Zartheit und Kühnheit, dem Musiker Ehrfurcht einzuflößen und neue Gefühle, bald in sanftester Folge, bald durch die raschesten Übergänge, hervorzurufen. (520)
Weder Musiker noch Lyriker dürfen sich absolut setzen; sie haben sich im Widerspiel der Gesetzmäßigkeiten ihrer Künste gegenseitig zu relativieren. Zunächst prägt die Musik mit ihrer »Takteinteilung und Taktbewegung« die »poetische Rhythmik«, so daß die Melodie anfangs die Poesie zu dominieren scheint, da der Musiker nicht dem Metrum des Lyrikers folgt. Doch auch die Lyrik modifiziert das musikalische Gesetz, indem sie durch die »lyrische Zartheit und Kühnheit« dem Musiker »Ehrfurcht« einzuflößen vermag. Keine Gattung ist frei von den Zwängen der anderen, beide sind wechselseitig zu vermitteln, nur so entsteht das sangbare Lied. Wiederum wird deutlich, wie sehr es in der Pädagogischen Provinz – selbst bei der Künstlerausbildung – um die Beachtung von Bedingtheiten geht, wie sehr jeder Unbedingtheitsanspruch, sei es der des Poeten oder der des Komponisten, zurückzunehmen ist zugunsten der Integration in ein übergeordnetes Ganzes, dem sich Wollen und Können zuzuordnen
73 haben. Folglich werden die Künstler nicht im Zeichen autonomer Kreativität ausgebildet, wie es die Geniezeit proklamierte, vielmehr werden sie gemäß den Vorgaben einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft zu Spezialisten handwerklicher Kunstfertigkeit formiert. Gegen die seit dem Sturm und Drang herrschende Idee der angeborenen, rational nicht zu ergründenden Schöpferkraft des großen Künstlers, der seine Werke als Ausdruck unvergleichlicher Individualität hervorbringt, wird jetzt eine künstlerische Technik gesetzt, die im Zusammenspiel vieler ihr Ziel hat. Dabei wird sogar der Begriff des Genies im Sinne handwerklicher Kunstbeherrschung umcodiert: Was uns aber zu strengen Forderungen, zu entschiedenen Gesetzen am meisten berechtigt, ist: daß gerade das Genie, das angeborne Talent sie am ersten begreift, ihnen den willigsten Gehorsam leistet. Nur das Halbvermögen wünschte gern seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen, und seine falschen Griffe, unter Vorwand einer unbezwinglichen Originalität und Selbstständigkeit, zu beschönigen. Das lassen wir aber nicht gelten, sondern hüten unsere Schüler vor allen Mißtritten, wodurch ein großer Teil des Lebens, ja manchmal das ganze Leben verwirrt und zerpflückt wird. (522)
Hier spricht Goethe ein Stück weit in eigener Sache.31 Die polemische Stoßrichtung ist deutlich: Vor dem Hintergrund seiner gemeinsam mit Schiller entworfenen Dilettantismuskritik32 läßt er die Pädagogen gegen 31
32
Siehe hierzu Goethes kritische Äußerungen im 19. Buch von Dichtung und Wahrheit zum Genietreiben der Sturm-und-Drang-Zeit: »Das Wort Genie ward eine allgemeine Losung, und weil man es so oft aussprechen hörte, so dachte man auch, das was es bedeuten sollte, sei gewöhnlich vorhanden. Da nun aber jedermann Genie von anderen zu fordern berechtigt war, so glaubte er es auch endlich selbst besitzen zu müssen. Es war noch lange hin bis zu der Zeit wo ausgesprochen werden konnte, daß Genie diejenige Kraft des Menschen sei, welche durch Handeln und Tun, Gesetze und Regel gibt, damals manifestierte sichs nur indem es die vorhandenen Gesetze überschritt, die eingeführten Regeln umwarf und sich für grenzenlos erklärte. Daher war es leicht genialisch zu sein, und nichts natürlicher, als daß der Mißbrauch in Wort und Tat alle geregelte Menschen aufrief, sich einem solchen Unwesen zu widersetzen.« (FA 14, S. 822f.) Siehe Goethe/Schiller: [Über den Dilettantismus], in: FA 18, S. 739–786; allgemein hierzu siehe Hans Rudolf Vaget, der darauf hinweist, daß Goethe nach seiner Rückkehr aus Italien an die Stelle des allein seiner autonomen Kreativität verpflichteten Genies den sich durch Beherrschung der Kunstgesetzmäßigkeiten auszeichnenden Meister setzt. H. R. V.: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik, München 1971, S. 68: »Als das Begrenzende des Stilbegriffs schließlich müssen wir die Disziplinierung der subjektiven Schöpferkraft verstehen, die sich der Gesetzlichkeit der Gegenstände unterordnen soll. Damit ist in Goethes Künstler-
74 die zur bloßen Emphase erstarrte Genie-Konzeption die Bedeutung allgemeiner Regeln und Gesetze betonen, denen sich das individuelle Gestaltungsverlangen zu fügen habe.33 Das Genie legitimiert sich demnach nicht mehr durch »unbezwingliche Originalität und Selbständigkeit«, sondern ist tradierten Gattungsgeboten verpflichtet: »Es bequemt sich zum Respekt, sogar vor dem was man konventionell nennen könnte: denn was ist dieses anders, als daß die vorzüglichsten Menschen übereinkamen, das Notwendige, das Unerläßliche für das Beste zu halten; und gereicht es nicht überall zum Glück?« (522) Nicht Innovation, sondern Kooperation ist das, was die Erzieher ihren Zöglingen beibringen möchten. Diese Reduktion des Subjektiven und die komplementäre Betonung des Sozialen als Ausdruck der Integration in übergeordnete Ordnungen läßt sich als Zeichen einer Moderne verstehen, die nach dem Spezialisten verlangt, der im Prozeß arbeitsteiliger Abläufe eine bestimmte Aufgabe erfüllt. Insofern hat die ablehnende Haltung der Pädagogen gegenüber aller dilettantischen ›Originalität‹ Gründe, die auf gesellschaftliche Veränderungen der Zeit verweisen. Bei Goethe selbst, der diese Haltung grundsätzlich teilt, ist sie hingegen vornehmlich als Kritik an der seit der Genie-Zeit immer wieder formulierten Konzeption einer sich über alle Bedingtheiten erhaben dünkenden Subjektivität zu verstehen. Bereits viele Werke des Sturm und Drang reflektierten kritisch, wie der bindungslose Einzelne, der nur aus sich heraus Ziel und Zweck seines Handelns bestimmt, alle familialen und sozialen Bezüge negiert. Die beiden Brüder aus Schillers Räubern etwa sind solche Protagonisten, die sich über die Gebote der Moral hinwegsetzen und dabei sich und andere zugrunde richten. Aber auch der Liebesenthusiast Ferdinand aus Kabale und Liebe erweist sich in seiner Selbstbezogenheit als unfähig, die sozialen, psychischen und religiösen Bedingtheiten Luises zu akzeptieren, und ermordet sie schließlich, weil sie sich nicht dem idealen Vorstellungskreis seines Liebesabsolutismus fügt. Zuvor schon hatte Goethe im Werther vorgeführt, wie das Subjekt zugrunde geht, das sich nicht mit den Normen und Regeln der Gesellschaft und der zwischenmenschlichen Beziehungen zu vermitteln weiß. Subjektivität um den Preis der Intersubjektivität ist nicht lebensfähig; in den Lehrjahren wird dies an Mignon und dem Harfner verdeutlicht, weniger drastisch aber auch an Wilhelm Meister
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typologie der Meister gleichsam offiziell und theoretisch begründet an die Stelle des Genies getreten.« Zur »Wendung gegen Genialität und Originalität« in den Wanderjahren siehe Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens, Band 1, S. 344–353.
75 selbst, dessen kompensatorische Einbildungskraft ihn immer wieder die Gegebenheiten der Realität verkennen läßt. Die Wanderjahre entwerfen nun, in gewisser Übereinstimmung mit Goethes auch ansonsten vollzogener Revision der Genie-Ästhetik,34 vor allem aber eingebunden in den zeitgeschichtlichen Kontext, das Gegenprogramm: Intersubjektivität um den Preis der Subjektivität. So betonen die Erzieher der Pädagogischen Provinz nachdrücklich, daß sich der Einzelne in vorgegebene Strukturen zu integrieren hat, und zugleich haben sie dafür eine avancierte Didaktik entwickelt, die garantiert, daß der Zögling keinen narzißtischen Omnipotenzphantasien verfällt, die notwendigerweise zur Verkennung und Mißachtung der Mitmenschen und zur Selbstzerstörung des Ichs führen würden. In dieser Perspektive lassen sich die Erziehungsbemühungen der Pädagogischen Provinz genauer bestimmen: Die Zöglinge sollen sich in einen auf Nützlichkeit hin orientierten gesellschaftlichen Zusammenhang einordnen. Gerade im Bereich der Bildhauerei wird dies auffällig praktiziert. Hier schafft nicht einer aus sich heraus ein einzigartiges Skulpturensemble, dem er den Stempel seiner Subjektivität aufprägt, sondern Spezialisten realisieren in gemeinschaftlicher Arbeit jeweils Teilaspekte. Wilhelm kommt in einen »großen, von oben glücklich erleuchteten Saal«, in dem er das Modell »eine[r] kolossale[n] Gruppe« »männlicher und weiblicher Kraftgestalten« sieht, die »jenes herrliche Gefecht zwischen Heldenjünglingen und Amazonen, wo Haß und Feindseligkeit zuletzt sich in wechselseitig-trauligen Beistand auflös’t« (525), darstellt. Der Kommentar der Frankfurter Ausgabe nennt als mögliches Vorbild ein Motiv aus dem Umkreis der Ilias, das auf einem von Winckelmann beschriebenen Sarkophag im römischen Museo Pio-Clemente abgebildet ist.35 Entscheidend ist aber nicht die Referenz, sondern das in dieser Passage herausgestellte Übergangsgeschehen von »Haß und Feindseligkeit« zu »wechselseitigtraulige[m] Beistand«. Das Was des Dargestellten – die Überführung von 34
35
Goethe hat nicht nur in vielen seiner literarischen Werke, angefangen bei seiner genie-kritischen Hymne Wandrers Sturmlied bis hin zu seinen Faust-Dramen, sondern auch in vielen seiner expositorischen Texte gegen hybride Selbstüberschätzung, die an die Stelle des erprobten Könnens das bloße Wollen setzen, Stellung bezogen. Noch in seinem letzten Brief an Wilhelm von Humboldt vom 17. März 1832 betont er das Zusammenspiel von angeborenen Fähigkeiten und erworbenen Fertigkeiten: »Je früher der Mensch gewahr wird daß es ein Handwerk, daß es eine Kunst gibt, die ihm zur geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen verhelfen, desto glücklicher ist er.« (WA IV/49, S. 281) Siehe Kommentar FA 10, S. 1135.
76 Konfrontation in Kooperation – dient hier dem Wie der Herstellung als Leitlinie. Die einzelnen Kunstschüler sollen sich nicht in wechselseitiger Konkurrenz zu übertrumpfen suchen, um sich als singuläre Könner auszuzeichnen, sondern sich als ›Teamarbeiter‹ verstehen, die gemeinsam ein Kunstwerk hervorbringen. Nicht Originalität, die auf schöpferischer Subjektivität gründet, ist gefragt, sondern Kollektivität, die spezifische Fähigkeiten in sich integriert. Die Aufgabe der angehenden Künstler ist es folglich, in aufeinander abgestimmtem Vorgehen einzelne Teilleistungen zu vollbringen: In einem weiten Umfang saßen und standen bildende Künstler, jeder nach seiner Weise beschäftigt; der Maler an seiner Staffelei, der Zeichner am Reißbrett; einige modellierten rund, einige flach erhoben; ja sogar Baumeister entwarfen den Untersatz, worauf künftig ein solches Kunstwerk gestellt werden sollte. Jeder Teilnehmende verfuhr nach seiner Weise bei der Nachbildung. (525)
Die Beschreibung könnte den Eindruck einer üblichen Ausbildungspraxis hervorrufen, bei der die Schüler nach einem gemeinsamen Modell ihre individuellen Gestaltungen formen. Doch schon der Hinweis auf die Baumeister, die den Untersatz für das Kunstwerk entwerfen, verweist darauf, daß es um ein gemeinsam herzustellendes Werk geht, dem die Zöglinge in kooperativer Arbeit verpflichtet sind, damit am Ende ein Bildhauer ihre Beiträge zum Gemeinschaftskunstwerk zusammenzufügen vermag: Nur ein Einziger hatte die ganze Gruppe in kleinerem Maßstabe wiederholt, und er schien das Modell wirklich in gewissen Bewegungen und Gliederbezug übertroffen zu haben. Nun offenbarte sich, dies sei der Meister des Modelles, der dasselbe vor der Ausführung in Marmor hier einer nicht beurteilenden, sondern praktischen Prüfung unterwarf, und so alles was jeder seiner Mitarbeiter, nach eigner Weise und Denkart, daran gesehen, beibehalten, oder verändert, genau beobachtend bei nochmaligem Durchdenken zu eignem Vorteil anzuwenden wußte; dergestalt daß zuletzt, wenn das hohe Werk in Marmor gearbeitet dastehen wird, obgleich nur von Einem unternommen, angelegt und ausgeführt, es doch allen anzugehören scheinen möge. (526)
Der »Meister des Modelles«, der es einer »praktischen Prüfung« unterwirft, führt am Ende zusammen, was die Kunstadepten jeweils an Verbesserungsvorschlägen erarbeitet haben; so entsteht ein gemeinschaftliches Produkt als Summe von Einzelleistungen. Der Abstand zum KünstlerCredo, das Goethe in seiner Winckelmann-Schrift von 1805 artikulierte, könnte größer kaum sein. Dort heißt es, der »auf den Gipfel der Natur« gestellte Künstler sehe sich selbst als eine »ganze Natur an«, die »abermals einen Gipfel hervorzubringen« habe. Um dies zu vollbringen,
77 steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft, und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt, das neben seinen übrigen Taten und Werken einen glänzenden Platz einnimmt. Ist es einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die höchste hervor: denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig entwickelt, so nimmt es alles herrliche, verehrungs- und liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst. (FA 19, 184)
Mit dieser Auffassung von einem exzeptionellen Künstler, der sich selbst in seiner Vollkommenheit steigert, um das Kunstwerk als Manifestation einer »idealen Wirklichkeit« zum Medium menschlicher ›Erhebung‹ zu formen, hat das in der Pädagogischen Provinz befolgte kunstdidaktische Programm einer praxisbezogenen Ausbildung nichts mehr zu tun. Ebenso weit entfernt von dem einst von Heinrich Meyer in Übereinstimmung mit Goethe ausgearbeiteten Konzept ästhetisch-sittlicher Bildung,36 geht es hier auch nicht etwa darum, den Schönheitssinn des Menschen zu wecken, um seine Tugend zu steigern, sondern lediglich darum, den Einzelnen mittels der Kunst einem kollektiven Leistungszusammenhang einzufügen, der ihn als fungiblen Teil eines Ganzen bestimmt. Nachdem Wilhelm durch die verschiedenen Künstlerbezirke der Pädagogischen Provinz geführt wurde und dabei erfahren hat, wie die Zöglinge über alle Gattungsgrenzen hinaus Arbeitsteilung und Kooperation lernen, hat er am Ende noch eine ihn besonders bewegende Frage. Sie hängt mit seiner in den Lehrjahren geschilderten Vergangenheit zusammen: ich sehe hier ist gar klüglich für alles gesorgt was im Leben wünschenswert sein mag; entdeckt mir aber auch: welche Region kann eine gleiche Sorgfalt für dramatische Poesie aufweisen und wo könnte ich mich darüber belehren? Ich sah mich unter allen euren Gebäuden um und finde keines das zu einem solchen Zweck bestimmt sein könnte. (528)
Nun könnte man zunächst vermuten, daß in der Pädagogischen Provinz gerade die dramatische Kunst besonders gepflegt werde, da sie als Ensemblespiel den Geboten der Kooperation untersteht. Wilhelm Meister wurde 36
Siehe Meyers in den Propyläen veröffentlichte vierteilige Abhandlung Ueber Lehranstalten, zu Gunsten der bildenden Künste, die er unter die Prämisse stellt: »Innerlich fühlen wir uns überzeugt, daß Sinn und Liebe für das Schöne dem Menschen die höchste Ausbildung gewähren, sein Gemüth sanfter und heiterer stimmen, das Herz zarten Genüssen aufschließen und ihn dem Guten überhaupt näher bringen.« In: Propyläen. Eine periodische Schrift, hrsg. von Johann Wolfgang von Goethe. Einführung und Anhang von Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Reprint Stuttgart 1965, S. 542–563; S. 679–709; S. 765–777; S. 965–972, hier S. 542.
78 dieser Umstand einst schmerzlich bewußt, als er in den Lehrjahren die Notwendigkeit theatraler Interaktion ignorierte (siehe FA 9, 380) und sich erst bei den Vorbereitungen für seine große Hamlet-Aufführung intensiv mit der Frage beschäftigte, wie die einzelnen Schauspieler gemeinsam zu agieren haben (siehe FA 9, 670–674). Doch die Vermutung, Theaterspielen könnte gerade in der Pädagogischen Provinz als besonders geeignetes didaktisches Medium dienen, um kooperatives Verhalten einzuüben, geht fehl: Verhehlen dürfen wir nicht auf diese Anfrage, daß in unserer ganzen Provinz dergleichen nicht anzutreffen sei: denn das Drama setzt eine müßige Menge, vielleicht gar einen Pöbel voraus, dergleichen sich bei uns nicht findet; denn solches Gelichter wird, wenn es nicht selbst sich unwillig entfernt, über die Grenze gebracht. Seid jedoch gewiß, daß bei unserer allgemein wirkenden Anstalt auch ein so wichtiger Punkt wohl überlegt worden; keine Region aber wollte sich finden, überall trat ein bedeutendes Bedenken ein. Wer unter unsern Zöglingen sollte sich leicht entschließen, mit erlogener Heiterkeit, oder geheucheltem Schmerz, ein unwahres, dem Augenblick nicht angehöriges Gefühl in der Maße [sic!] zu erregen, um dadurch ein immer mißliches Gefallen abwechselnd hervorzubringen? Solche Gaukeleien fanden wir durchaus gefährlich und konnten sie mit unserm ernsten Zweck nicht vereinen. (528f.)
Vor dem Hintergrund des allwaltenden Nützlichkeitsethos plädieren die Erzieher dafür, die dramatische Dichtung auszuschließen – mit einschlägigen Argumenten, wie sie Rousseaus Lettre à d’Alembert sur les spectacles (1758) bündelt. Doch jenseits der Intention der Pädagogen wird damit zugleich etwas über Wilhelm ausgesagt. Mit der Abweisung des Theaterspielens werden auch wesentliche Momente seiner eigenen Vergangenheit verworfen, in der er sich auf der Bühne als »öffentliche Person« (FA 9, 659) darstellen wollte, um seine bürgerliche Herkunft zu kompensieren. Indem sich Wilhelm nun genötigt sieht, den Erziehern beizupflichten, negiert er einen prägenden Teil seiner Biographie: Wilhelm sah mit einem tiefen Seufzer vor sich nieder, denn alles auf einmal vergegenwärtigte sich ihm was er auf und an den Brettern genossen und gelitten hatte; er segnete die frommen Männer, welche ihren Zöglingen solche Pein zu ersparen gewußt, und aus Überzeugung und Grundsatz jene Gefahren aus ihrem Kreise gebannt. (529f.)
Es mag der Eindruck entstehen, als lehne hier Goethe selbst – vielleicht aufgrund seiner negativen Erfahrungen als Intendant des Weimarer Hoftheaters –37 das Theater ab. Doch es handelt sich nicht um Goethes Ein37
Goethe hatte drei Jahre vor Abfassung dieser Passagen voller Unwillen die Leitung des Weimarer Hoftheaters am 13. April 1817 niedergelegt; siehe auch seine Tagebuch-Notizen vom 9. November, 13. und 15. Dezember 1820, in: WA III/7, S. 246, 258f.
79 stellung, sondern um die der Erzieher der Pädagogischen Provinz,38 die schon im Roman keineswegs ohne Widerspruch bleibt. Denn ganz so leicht trennt sich Wilhelm dann doch nicht von diesem Stadium seiner Vergangenheit; die Emotionen fügen sich nicht seiner rationalen Einsicht, ein Anflug von Ärger steigt in ihm auf: Wilhelm hörte dies [die Kritik am Theater] mit Geduld, doch nur mit halber Überzeugung, vielleicht mit einigem Verdruß: denn so wunderlich ist der Mensch gesinnt, daß er von dem Unwert irgend eines geliebten Gegenstandes zwar überzeugt sein, sich von ihm abwenden, sogar ihn verwünschen kann, aber ihn doch nicht von andern auf gleiche Weise behandelt wissen will. (530)
Und auch der Redaktor schaltet sich an dieser Stelle plötzlich kritisch ein: Mag doch der Redakteur dieser Bogen hier selbst gestehen: daß er mit einigem Unwillen diese wunderliche Stelle durchgehen läßt. Hat er nicht auch in vielfachem Sinn mehr Leben und Kräfte als billig dem Theater zugewendet? und könnte man ihn wohl überzeugen, daß dies ein unverzeihlicher Irrtum, eine fruchtlose Bemühung gewesen? (530)
Doch bei allen emotionalen Vorbehalten Wilhelms und des Redaktors wird deutlich, daß in den unter dem Vorzeichen von Nützlichkeit, Effizienz und Funktionalität stehenden Zeiten der Moderne die schönen Künste ihre in der klassisch-romantischen Epoche exponierte, auf Zweckfreiheit gründende Dignität verloren haben. So wenigstens zeichnet der Roman in vielfältigen Brechungen ihren reduzierten Stellenwert nach – doch keineswegs, wie Hans Joachim Schrimpf annimmt, als literarische Gestaltung der »Kunstphilosophie des späten Goethe«,39 vielmehr als poetische Diagnose des ›Endes der Kunst‹, das zur selben Zeit – unter je verschiedenen Gesichtspunkten – auch von Hegel und Heine verkündet wurde. Sieht Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik das ›Ende der Kunst‹40 gekommen, weil spätestens mit seiner eigenen Philosophie »[d]er 38
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Goethe selbst reagierte auf die ihm brieflich mitgeteilte Kritik am Verdikt der Erzieher gegen die Schauspielkunst mit dem Hinweis, daß »auf jene griesgrämigen Pädagogen keineswegs zu achten ist; der wahre Schauspieler hat einen zu großen Vorsprung, als daß ihn solche Grillenfänger sobald einholen sollten.« (WA IV/35, S. 95); siehe auch die entsprechende Lesart in: WA IV/35, S. 332. Hans Joachim Schrimpf: Das Weltbild des späten Goethe, S. 203. Die vielfach Hegel zugeschriebene Wendung vom ›Ende der Kunst‹ findet sich in dieser Formulierung nicht in seinen ästhetischen Schriften. Doch gibt es entsprechende Überlegungen in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, in: G. W. F. H.: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl H. Michel, Band 13, Frankfurt a. M. 1970, S. 22–25.
80 Gedanke und die Reflexion […] die schöne Kunst überflügelt«41 hätten, so behauptet Heine in seiner Romantischen Schule den Niedergang der von ihm mit Goethes Lebenszeit assoziierten »Kunstperiode«42 aus anderen Gründen: Während in ihr die empirische Realität marginalisiert worden sei, »um die Kunst selbst als das Höchste zu proklamieren«, will Heine sich den »Ansprüchen jener ersten wirklichen Welt, welcher doch der Vorrang gebührt«, stellen.43 Als Autor der Wanderjahre hat sich Goethe selbst jedoch – entgegen der Heineschen Unterstellung, daß seine Werke allesamt Produkte rein idealistischer Kunst seien – eben diesen »Ansprüchen« gestellt. Allerdings dient der Roman nicht, wie Heine es von der ›neuen‹ Kunst verlangte, der Kritik sozialer Mißstände, sondern der Diagnose gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, die auf dem Gebiet der Kunst zur Verabschiedung der Autonomieästhetik führen. Goethes Intention ist hierbei allerdings weder affirmativ noch kritisch, sondern primär diagnostisch zu verstehen, auch wenn er selbst – zumindest im Bereich der bildenden Kunst – bis zu seinem Lebensende an der Autonomieästhetik festhielt.44
3. Die Unterordnung der theoretischen Erkenntnis unter das praktische Wissen Nicht nur die Kunst fungiert als Paradigma, um die Instrumentalisierung des einstmals als zweckfrei Erachteten literarisch in Szene zu setzen. Analoges trifft auf die Naturwissenschaften, speziell die Geologie zu, wie die Kontroverse um die Theorien der Erdentstehung am Ende von Wilhelms Aufenthalt in der Pädagogischen Provinz zeigt, die keineswegs nur dazu dient, eine herrschende geologische Debatte fiktional zu gestalten, um dem Roman wissenschaftliche Aktualität zu verleihen. Zu Beginn wird mit dem Bergfest, an dem Wilhelm teilnimmt, eine Szenerie entfaltet, die 41 42
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Hegel: Ebd., S. 24. Siehe Heine: Französische Maler, in: H. H.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Band 12.1, bearb. von Jean-René Derré und Christiane Giesen, Hamburg 1980, S. 9–62, hier S. 47: »Meine alte Prophezeyung von dem Ende der Kunstperiode, die bey der Wiege Goethes anfing und bey seinem Sarge aufhören wird, scheint ihrer Erfüllung nahe zu seyn.« Heine: Die romantische Schule, in: H. H.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Band 8.1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule, hrsg. und bearb. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1979, S. 121–249, hier S. 153. Siehe hierzu S. 256–261 der vorliegenden Arbeit.
81 einen ganz anderen Eindruck entstehen läßt – den einer harmonischen Versammlung, durch die sich die Gemeinschaft ihrer Identität versichert. Von überallher strömen in der Nacht Menschen mit Lichtern in den Händen zusammen und erzeugen so den Anschein von »Feuerbäche[n]«, die sich »zum Flammensee um einen wohlerleuchteten Inselraum […] ergossen.« (532) Mitten in diesem Illuminationsspektakel trifft Wilhelm nach Jahren überraschend Jarno/Montan wieder. Beide setzen sich zu einer Gruppe von Bergleuten, die einen lebhaften Disput austragen: es war von Gebirgen, Gängen und Lagern, von Gangarten und Metallen der Gegend ausführlich die Rede. Sodann aber verlor das Gespräch sich gar bald in’s Allgemeine und da war von nichts Geringerem die Rede als von Erschaffung und Entstehung der Welt. Hier aber blieb die Unterhaltung nicht lange friedlich, vielmehr verwickelte sich sogleich ein lebhafter Streit. (533)
Gestritten wird mit einschlägigen Mustern zur Erklärung der Erdentstehung. Offensichtlich hat Goethe dabei auf seinen breiten geologischen Wissensfundus zurückgegriffen und diesen auf verschiedene Parteien verteilt, um im fiktiven Rahmen des Festes eine wissenschaftliche Kontroverse in nuce zu reproduzieren. »Mehrere wollten unsere Erdgestaltung aus einer nach und nach sich senkenden abnehmenden Wasserbedeckung herleiten« (533); gegen diese Position der sogenannten Neptunisten, wie sie in der Zeit von Lorenz Oken und Abraham Gottlob Werner vertreten und auch von Goethe selbst präferiert wurde, wenden sich die Plutonisten, die »erst glühen und schmelzen, auch durchaus ein Feuer obwalten« (533) lassen wollen – eine Forschungsrichtung, für die in Deutschland vor allem Christian Leopold von Buch und Alexander von Humboldt standen.45 Der geologische Disput auf dem Bergfest beschränkt sich jedoch nicht auf die beiden widerstreitenden Grundhypothesen der Erdentstehung, sondern differenziert sich weiter aus. So vertritt eine andere Gruppe die Meinung, mächtige in dem Schoß der Erde schon völlig fertig gewordene Gebilde seien, mittels unwiderstehlich elastischer Gewalten, durch die Erdrinde hindurch in die Höhe getrieben und zugleich in diesem Tumulte manche Teile derselben weit über Nachbarschaft und Ferne umher gestreut und zersplittert worden. (533f.)46 45
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In der Klassischen Walpurgisnacht wird eine analoge Kontroverse zwischen dem Neptunisten Thales und dem Vulkanisten Anaxagoras ausgefochten (Faust II, V. 7851–7872); ähnlich auch in dem geognostischen Dialog zwischen Mephisto und Faust im vierten Akt. (Faust II, V. 10075–10121) Siehe hierzu Eckermanns Wiedergabe von Goethes Ausführungen am 13. Februar 1829: »Herr von Buch […] hat ein neues Werk herausgegeben, das gleich im Titel eine Hypothese enthält. Seine Schrift soll von Granitblöcken handeln, die
82 Dagegen wenden einige Teilnehmer der Unterhaltung ein, daß »gar manche Zustände dieser Erdoberfläche würden nie zu erklären sein, wofern man nicht größere und kleinere Gebirgsstrecken aus der Atmosphäre herunterfallen und weite breite Landschaften durch sie bedeckt werden lasse.« (534) Gegen diese Meteoritentheorie, die zur damaligen Zeit der Mineraloge Johann Ludwig Heim vertrat und über die sich Goethe in einem Brief an Christian Gottfried Nees von Esenbeck vom März 1820 mokierte,47 opponieren dann wiederum die Glazialisten, die Goethe eigene Ansichten vertreten läßt,48 wenn sie »einen Zeitraum grimmiger Kälte zu Hülfe rufen und aus den höchsten Gebirgszügen, auf weit in’s Land hingesenkten Gletschern, gleichsam Rutschwege für schwere Ursteinmassen bereitet, und diese auf glatter Bahn, fern und ferner hinausgeschoben, im Geiste sehen.« (534) Es mutet seltsam an, daß Goethe sein breites geologisches Wissen um die verschiedenen Erdentstehungstheorien49 im Roman nicht nur als Kontroverse Revue passieren, sondern fast in einer Katastrophe enden läßt: »Da nun übrigens die Glut des Weines stark mit einwirkte, so hätte das herrliche Fest beinahe mit tödlichen Händeln abgeschlossen.« (534) Daß die Bergleute diese Auseinandersetzung mit einem solch existentiellen Ernst austragen, mag sicherlich auch auf ihren exzessiven Alkoholgenuß
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hier und dort umherliegen, man weiß nicht wie und woher. Da aber Herr v. Buch die Hypothese im Schilde führt, daß solche Granitblöcke durch etwas Gewaltsames von Innen hervorgeworfen und zersprengt worden, so deutet er dieses gleich im Titel an, indem er schon dort von zerstreuten Granitblöcken redet, wo denn der Schritt zur Zerstreuung sehr nahe liegt, und dem arglosen Leser die Schlinge des Irrtums über den Kopf gezogen wird, er weiß nicht wie.« (FA 39, S. 307) Goethe an Nees von Esenbeck, Brief vom 12. März 1820: »Unser guter Heim ließ Fichtelgebirg und Thüringer Wald, Petersburg und Harz vom Himmel fallen, beim Vulkanisten war und ist es etwas Leichtes dergleichen Massen aus der Tiefe herauszubefördern. Was mag in beiden Fällen nicht durcheinandergepurzelt seyn; und wer möchte sich mit einer solchen Polterkammer nur noch abgeben?« (WA IV/32, S. 191) Siehe Goethes Handschrift vom Herbst 1829: [Gespräch über die Bewegung von Granitblöcken durch Gletscher] in: FA 25, S. 646f; zu dieser Zeit verfaßte Goethe die entsprechenden geologischen Passagen der Wanderjahre. Goethe scheint ausweislich eines dialogisch gehaltenen Paralipomenon zeitweilig beabsichtigt zu haben, die Debatte noch ausführlicher zu gestalten. Siehe hierzu den Kommentar HA 8, S. 633; generell zu Goethes Beschäftigung mit geologischen Problemen siehe Wolf von Engelhardt: Goethe und die Geologie, in: Ein unteilbares Ganzes. Goethe: Kunst und Wissenschaft, hrsg. von Günter Schnitzler und Gottfried Schramm, Freiburg i.Br. 1997, S. 245–273.
83 zurückzuführen sein. Doch verbirgt sich hinter der Oberfläche des Geschehens ein fundamentaler zeitdiagnostischer Aussagegehalt, der von Goethes eigentümlicher Darstellung vorerst verdeckt wird. Ihm gilt es im folgenden nachzuspüren.50 Zunächst ist zu konstatieren, daß Goethe als Person in diesem Streit durchaus mit einer der Parteien sympathisiert. Nicht durchgängig entschieden und durchaus auch vermittelnden Lösungen zugeneigt,51 war er letztlich ein Verfechter des Neptunismus, wie besonders die Tag- und Jahres-Hefte zu 1820 dokumentieren: Für ihn vollzog sich der allmähliche Entstehungsprozeß der Erde durch kontinuierliche Ablagerungsvorgänge »ganz naturgemäß«, wohingegen er voller Widerwillen die »gewaltsamen Erklärungen« der Vulkanisten zur Kenntnis nahm, die mit »reichlichen Erdbeben, Vulkanen, Wasserfluthen und anderen Titanischen Ereignissen« (FA 17, 304) argumentierten. Die vulkanistische Wende Christian Leopold von Buchs und Alexander von Humboldts, Schüler des Neptunisten Abraham Gottlob Werner, vermochte er nicht mitzumachen, wie seine Zeilen auf Werners Tod dokumentieren: Kaum wendete der edle Werner den Rücken, Zerstört man das Poseidaonische Reich, Wenn alle sich vor Hephästos bücken, Ich kann es nicht sogleich. (FA 2, 679)
Zwar verursachte Alexander von Humboldts Abhandlung Ueber den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in verschiedenen Erdstrichen (1823), in der er einen entschiedenen vulkanistischen Standpunkt einnimmt, bei Goethe eine große Irritation.52 Doch auch wenn er sekundäre vulkanische Pro50
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Thomas Zabka verweist recht pauschal auf die geologische Kontroverse in den Wanderjahren. Th. Z.: Ordnung, Willkür und die ›wahre Vermittlerin‹. Goethes ästhetische Integration von Natur- und Gesellschaftsidee, in: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hrsg. von Peter Matussek, München 1998, S. 157–177, bes. S. 169–172. So beschreibt Goethe im zweiten Band seiner Italienischen Reise die am 6. März 1787 auf dem Vesuv beobachteten Eigentümlichkeiten von Lavaformationen, indem er zum einen die aus »Glutströmen« entstandenen »erstarrten Massen« gut neptunistisch mit »über einander getriebenen Eisschollen« vergleicht, zum anderen aber auf »große Blöcke«, verweist, die eruptiv hervorgetrieben, »einer Urgebirgsart völlig ähnlich sehen.« (FA 15.1, S. 210f.) Siehe hierzu auch Goethes wohl im Herbst 1789 verfaßten Versuch: Vergleichs Vorschläge die Vulkanier und Neptunier über die Entstehung des Basalts zu vereinigen, in dem er die Hypothesen der streitenden Parteien zu vermitteln sucht. (siehe FA 25, S. 511–513) Siehe hierzu Goethes Entwurf einer Rezension von Alexander von Humboldts Schrift vom 16. März 1823, in der er bekundet: »Die Verlegenheit kann vielleicht
84 zesse durchaus einräumte, so hielt er an dem »Unglauben in betreff des Hebens und Drängens Aufwälzens und Quetschens (Refoulement) Schleuderns und Schmeißens«53 bis an sein Lebensende fest, wie der Brief an Zelter vom 5. Oktober 1831 bezeugt: Daß sich die Himalaja-Gebirge auf 25000’ aus dem Boden gehoben und doch so starr und stolz als wäre nichts geschehen in den Himmel ragen, steht außer den Gränzen meines Kopfes, in den düstern Regionen, wo die Transsubstantiation pp. hauset, und mein Cerebralsystem müßte ganz umorganisirt werden – was doch schade wäre – wenn sich Räume für diese Wunder finden sollten. (WA IV/49, 106)54
Mit ironischem Unterton verweist Goethe darauf, wie sehr die Lehre von den eruptiven Vorgängen seiner Grundüberzeugung ›organischer‹ Entwicklungen im Physischen und Gesellschaftlichen widerspricht. Daher könnte man erwarten, daß der im Roman häufig als Programmverkünder auftretende Geologe Jarno/Montan bei dem Streitgespräch zwischen Vulkanisten und Neptunisten die Partei seines Autors ergreift. Doch der Leser hört keine dezidierte Meinung von ihm, obwohl er der Auseinandersetzung vom Anfang bis zum Ende beiwohnt. Wilhelms Reaktionen hingegen werden ausführlich geschildert: Ganz verwirrt und verdüstert ward es unserm Freund zu Mute, welcher noch von Alters her den Geist, der über den Wassern schwebte, und die hohe Flut, welche funfzehn Ellen über den höchsten Gebirge gestanden, im stillen Sinne hegte, und dem unter diesen seltsamen Reden die so wohl geordnete, bewachsene, belebte Welt vor seiner Einbildungskraft chaotisch zusammenzustürzen schien. (534f.)
Wilhelms biblisch gegründetes Weltbild wird erschüttert, die kontroversen Erdentstehungstheorien lassen ihm tradierte Sinngewißheiten fragwürdig werden. Warum aber hält sich Jarno/Montan zurück, obwohl er es doch nach seinem langen Studium des Gebirges versteht, dessen »Spalten
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nicht größer gedacht werden, als die in der sich gegenwärtig ein funfzigjähriger Schüler und treuer Anhänger der sowohl gegründet scheinenden, als über die ganze Welt verbreiteten Wernerischen Lehre finden muß, wenn er aus seiner ruhigen Überzeugung aufgeschreckt von allen Seiten das Gegenteil derselben zu vernehmen hat.« (FA 25, S. 610–612, hier S. 610) Goethe: Handschriftliche Rezension zur zweiten Auflage von Karl Friedrich von Klödens Buch Ueber die Gestalt und die Urgeschichte der Erde, Berlin 21829; FA 25, S. 648–650, hier S. 649. Siehe auch Goethes Brief vom 1. Dezember 1831 an Wilhelm von Humboldt, wo er von dessen Bruder Alexander von Humboldt sagt, daß dessen »Ansicht der geologischen Gegenstände aufzunehmen und darnach zu operiren meinem Cerebralsystem ganz unmöglich wird.« (WA IV/49, S. 165)
85 und Risse als Buchstaben« (292) zu lesen?55 Weiß er es nicht besser – oder weiß er es so viel besser, daß er sich gar nicht auf den Streit einlassen will? Wilhelm jedenfalls wundert sich und fragt Jarno/Montan anderntags: gestern konnt’ ich dich nicht begreifen, denn unter allen den wunderlichen Dingen und Reden hofft’ ich endlich deine Meinung und deine Entscheidung zu hören, an dessen Statt warst du bald auf dieser bald auf jener Seite, und suchtest immer die Meinung desjenigen der da sprach zu verstärken. (535)
Jarno/Montan weicht einer Erklärung aus, flüchtet sich in Gemeinplätze und entzieht sich dann Wilhelms Ansinnen mit der Bemerkung: »wenn man einmal weiß, worauf alles ankommt, hört man auf gesprächig zu sein« (535), um dann noch die recht unkonkrete Maxime anzufügen: »Denken und Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller Weisheit, von jeher anerkannt, von jeher geübt, nicht eingesehen von einem jeden.« (535f.) Eine zureichende Begründung dessen, warum Jarno/Montan bei diesem geologischen Streit als Fachmann keine Stellung bezogen hat, ist das sicherlich nicht. Erst als beiden von überall her der Bergmannsgruß »Glück auf!« (536) entgegenschallt und Jarno/Montan gegenüber Wilhelm daraufhin äußert: »Ich möchte wohl […] ihnen manchmal zurufen: Sinn auf! denn Sinn ist mehr als Glück« (536), deutet sich eine Erklärung für sein indifferentes Verhalten an – doch ganz anders, als man zunächst vermuten könnte. Denn wenn Jarno/Montan dem »derben Glück auf!« der Bergleute entgegenhält: »Sinn ist mehr als Glück« (536), so meint er damit nicht etwa den ›Bezugssinn‹ als einen spezifischen Verknüpfungsmodus, der punktuellen Ereignissen ihren Stellenwert in einem übergeordneten Ganzen zuweist, sondern schlicht den ›Richtungssinn‹ als vorgängige Planung, die auf praktischem Wissen beruht. Anstatt darüber zu spekulieren, wie die Erdgestalt entstanden ist, gelte es, geologische Kenntnisse zu erwerben, um erfolgsorientiert vorgehen zu können: Man strebt leidenschaftlich nach den Metallen die es [das Gebirge] enthält. Nun habe ich mir auch das Vorkommen derselben aufzuklären gesucht, und es ist mir gelungen. Das Glück tut’s nicht allein, sondern der Sinn, der das Glück herbeiruft, um es zu regeln. Wie diese Gebirge hier entstanden sind, weiß ich nicht, will’s auch nicht wissen; aber ich trachte täglich, ihnen ihre Eigentümlichkeit abzugewinnen. Auf Blei und Silber ist man erpicht […] ich weiß es zu entdekken. (536)
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Siehe hierzu auch Goethes 1806 verfaßte Notiz zur Bildung der Erde: »So scheinen auch die nackten Gebirge, Steinritzen und Brüche dem natürlichen Auge etwas Unerfreuliches zu haben. Dem Auge des, der Kenntnis besitzt offenbaren sie das Innre.« (FA 25, S. 527–539, hier S. 532)
86 Nüchternheit weicht der vermeintlichen Emphase, wenn Jarno/Montan seinen Spruch »Sinn ist mehr als Glück« präzisiert zu: ›Sinn regelt das Glück.‹ An die Stelle des Suchens ›auf gut Glück‹ habe das Finden zu treten, das im Wechselspiel von »Denken und Tun« dem Programm angewandter Wissenschaft verpflichtet ist. Diese aber ist primär am Nutzen, nicht an ›nutzlosen‹ Entstehungsfragen orientiert. Jetzt erst wird deutlich, warum Goethe die erbitterte Kontroverse zwischen Neptunisten und Vulkanisten in Zwietracht münden läßt. Denn nur vor diesem Hintergrund vermag er zu profilieren, weshalb Jarno/Montan in ironischer Distanz verharrt, indem er allen und damit keinem Recht gibt. Ihn interessiert nicht, »wie diese Gebirge hier entstanden sind«, sondern wie man an ihre Bodenschätze gelangt. Bei ihm, der nach Goethes Typologie von Naturwissenschaftlern der »Nutzende« wäre,56 hat die Kategorie des Sinns, die in der Pädagogischen Provinz noch auf Weltorientierung zielt, als Richtungssinn ihre utilitaristische Schwundstufe erreicht. Nun könnte man vermuten, daß seine langjährige intensive Erforschung des Gebirges Jarno/Montan in die Lage versetzt, zielgenaue Exploration zu betreiben. Doch reicht seine Fähigkeit, »Spalten und Risse als Buchstaben« (292) zu lesen, nicht aus, um zu erkennen, wo sich die Bodenschätze befinden. Gegenüber dem Astronomen, der im Umfeld Makaries agiert, räumte er bei Gelegenheit ein, daß ihm »bei seinen gebirgischen und bergmännischen Untersuchungen« (728) eine Person hilft, welche ganz wundersame Eigenschaften und einen ganz eigenen Bezug auf alles habe was man Gestein, Mineral, ja sogar was man überhaupt Element nennen könnte. Sie fühle nicht bloß eine gewisse Einwirkung der unterirdischen fließenden Wasser, metallischer Lager und Gänge, so wie die Steinkohlen und was dergleichen in Massen beisammen sein möchte, sondern, was wunderbarer sei, sie befinde sich anders und wieder anders sobald sie nur den Boden wechsele. (728)
Goethe, der hier Phänomene des Erz- und Wasserfühlens gestaltet, greift offensichtlich die zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbreiteten Spekulationen zum Galvanismus des ihm gut bekannten Naturphilosophen und Phy56
Goethe hat um 1795 in seinen Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen eine vierstufige Skala entworfen, um Umgangsweisen mit der Natur zu klassifizieren. In der Notiz [Ordnung des Unternehmens] nennt er die verschiedenen Typen von Naturkundlern: »Nutzende, Wissende, Anschauende und Umfassende« und erläutert dann zuerst den Nutzenden: »Die Nutzenden, Nutzen-Suchenden, -Fordernden sind die ersten, die das Feld der Wissenschaft gleichsam umreißen, das Praktische ergreifen; das Bewußtsein durch Erfahrung gibt ihnen Sicherheit das Bedürfnis eine gewisse Breite.« (FA 24, S. 350–357, hier S. 351)
87 sikers Johann Wilhelm Ritter57 auf, der insbesondere in seiner Theorie des Siderismus der Frage nachgeht, »was Grund der Wirkung unter der Erde befindlichen Metalle, Erze, Kohlen-Wasserquellen usw., auf über ihnen befindliche erregbare organische Körper, und weiter dann auf Menschen hoher Sensibilität und Reizbarkeit, seyn könne«, und zu dem Ergebnis gelangt, daß als einzige Ursache die »Electricitätserregung« in Frage komme.58 Goethe las Ritters Abhandlung über den Siderismus am 24. und 25. März 1808 (siehe WA III/3, 324) und schrieb kurz danach am 31. März 1808 an Friedrich Heinrich Jacobi: Ritters neue Beyträge zum Galvanismus habe ich mit viel Antheil durchlaufen und studire das Heft nun ernstlicher. […] Indessen ist die Schrift wenn man sie nicht academisch sondern menschlich und wissenschaftlich nimmt, höchst interessant und in mehr als einem Sinne fördernd. (WA IV/20, 38f.)59
Und noch in der Zeit einer erneuten intensiven Beschäftigung mit den Wanderjahren äußert Goethe am 7. Oktober 1827 gegenüber Eckermann: »Wir haben Alle etwas von elektrischen und magnetischen Kräften in uns, und üben, wie der Magnet selber, eine anziehende und abstoßende Gewalt aus.« (FA 39, 634) Goethe spielt hier nicht nur auf Ritters Untersuchungen zum Galvanismus an, sondern auch auf Franz Anton Mesmers Ausführungen zum »tierischen Magnetismus«, der »einen Komplex psychophysischer Phänomene bezeichnet, zu denen hauptsächlich Somnambulismus 57
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Goethe, der mit Johann Wilhelm Ritter während seines Aufenthalts in Jena vom 20. September bis zum 3. Oktober 1800 ins Gespräch über Galvanismus kam, schreibt über diese Begegnung am 28. September 1800 an Schiller: Ritter sei »eine Erscheinung zum Erstaunen, ein wahrer Wissenshimmel auf Erden.« (WA IV/15, S. 123) In Weimar machte Goethe am 23. und 25. Februar und am 3. April 1801 mit Ritter Experimente zum Galvanismus und zur Farbenlehre; siehe hierzu Goethes Eintragungen im Tagebuch in: WA III/3, S. 7 und S. 11, und in den Tag- und Jahresheften 1801, in: FA 17, S. 73. Johann Wilhelm Ritter: Der Siderismus oder Neue Beyträge zur näheren Kenntniss des Galvanismus und der Resultate seiner Untersuchung, Tübingen 1808, S. 71f.; Ritter publizierte in dieser von ihm eigens gegründeten Schriftenreihe, die allerdings über den ersten Band nicht hinauskam, die Versuche, die er mit dem italienischen Erz- und Wasserforscher Francesco Campetti unternahm; zu Einzelheiten siehe Walter D. Wetzels: Johann Wilhelm Ritter. Physik im Wirkungsfeld der deutschen Romantik, Berlin, New York 1973, bes. S. 48–53; Safia Azzouni verweist darauf, daß Goethes Gesteinsfühlerin »zweifellos ein weiblicher Campetti« sei. S. A.: Kunst als praktische Wissenschaft. Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre und die Hefte Zur Morphologie, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 229. Zu Einzelheiten siehe Carl von Klinckowstroem: Goethe und Ritter, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 8 (1921), S. 135–151, bes. S. 141f.
88 und Erz- und Wasserfühlen gezählt werden.«60 Doch auch wenn Goethe durchaus an den Anziehungsphänomenen zwischen Organischem und Anorganischem interessiert war, blieb er zeitlebens skeptisch.61 Umso mehr muß es verwundern, daß er Jahrzehnte, nachdem sich der Mesmerismus und der Siderismus als Reflexe des anachronistisch gewordenen naturphilosophischen Wissensparadigmas erwiesen hatten,62 in seinem Roman, der so entschieden die Moderne thematisiert, eine Gesteinsfühlerin auftreten läßt. Soll hierdurch der Einspruch der Vormoderne gegen die Moderne zur Geltung gebracht werden? Oder soll gar verdeutlicht werden, daß die auf Naturbeherrschung ausgerichtete rationale Welterfassung keineswegs ein der Hermetik und Magie verpflichtetes Welterleben obsolet gemacht hat? Wenn Goethe mit der ›terrestrischen Frau‹ noch einmal auf die überkommene Sympathielehre anspielt,63 so doch ganz anders als in den Wahl60
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Michael Holtermann: ›Thierischer Magnetismus‹ in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, in: JbDSG 37 (1993), S. 164–197, hier S. 164; zu Goethes Verhältnis zum Mesmerismus siehe auch Klaus H. Kiefer: Goethe und der Magnetismus. Grenzphänomene des naturwissenschaftlichen Verständnisses, in: Philosophia naturalis 20 (1983), S. 264–311; siehe ebenfalls K. H. K.: Goethe und der Mesmerismus, in: Freiburger Universitätsblätter 25 (1986), H. 93, S. 55–74; Jürgen Barkhoff: Tag- und Nachtseiten des animalischen Magnetismus. Zur Polarität von Wissenschaft und Dichtung bei Goethe, in: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hrsg. von Peter Matussek, München 1998, S. 75–100; Katharine Weder: Sympathetische Verbindung. Zum Magnetismus in der Natur zwischen Körpern und Seelen bei Goethe, in: Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte, hrsg. von HansJürgen Schrader und K. W., Tübingen 2004, S. 147–171. Siehe zum Beispiel seinen Brief vom 23. Juli 1820 an Nees von Esenbeck: »Wenn ich bedenke, daß, in meinen lebhaftesten Jahren, Gaßner und Mesmer großes Aufsehen machten und lebhafte Wirkung verbreiteten; daß ich Freund von Lavatern war, der auf dieses Naturwunder religiosen Werth legte; so kommt es mir manchmal gar seltsam vor, daß ich nicht angezogen ward, sondern mich gerade verhielt wie einer, der neben einem Flusse hergeht, ohne daß ihn die Lust zu baden ankäme. Es muß denn also doch naturgemäß gewesen seyn, denn sonst hätt es nicht bis in’s Alter fortgedauert.« (WA IV/33, S. 124f.) Siehe hierzu Kant, der kurz und bündig von dem »Betrug [spricht], den die Bauchredner, die Gaßnere, die Mesmerianer u.d.g. vermeinte Schwarzkünstler verübten.« I. K.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke, Band 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1966, S. 397–690, S. 441. Zum Stellenwert der Pendelexperimente Ritters als Nachweis eines Zusammenhangs zwischen dem Mikrokosmos des menschlichen Organismus und dem Makrokosmos der Planetenbewegungen siehe Walter D. Wetzels: Johann Wilhelm Ritters Physik im Wirkungsfeld der deutschen Romantik, S. 51–53.
89 verwandtschaften, in denen Ottilie mit solchen Sensibilitäten ausgestattet ist.64 Denn jetzt wird das, was einstmals Zeichen ganzheitlicher Naturerfassung war und als Antithese zur analytischen Segmentierung der Natur fungierte, zum bloßen Instrument der ›Naturausbeutung‹ funktionalisiert. Die Gesteinsfühlerin ist folglich keineswegs bloß »eine reine Vergleichsoder Kontrastfigur, die erzählerisch in Beziehung zu Makarie gesetzt ist«65, ansonsten aber keine weitere Funktion erfüllen würde. Wie wichtig sie vielmehr allein schon für Jarno/Montan ist, zeigt der Kommentar des Redaktors zu Jarnos mit dem größten Anschein von Ehrlichkeit gegebenen Beteuerung, »jene wunderbare Person […] sei schon mit den ersten Wanderern in die weite Ferne gezogen.« (737) Der Redaktor bestreitet dies; doch nicht etwa, weil er die Bedeutung der Gesteinsfühlerin für Jarno/ Montan in Frage stellt, sondern weil er – im Gegenteil – darum weiß, daß ihre Hilfe für jenen von unschätzbarem Wert ist: Ihre »vorzeitige Abreise [müßte] dem aufmerksamen Menschenkenner durchaus […] unwahrscheinlich dünken. Denn wie wollte Montan und Seinesgleichen eine so bereite Wünschelrute von der Seite gelassen haben?« (737) Als schließlich eine arbeitsame junge Frau auftaucht, die in allen Feldarbeiten außerordentlich geschickt ist und die Fähigkeit besitzt, »von irgend einem Punkte aus wo sie gestanden, immer ein oder das andere rein ausfließende Wasser zu finden« (738), vermutet der Redaktor zu Recht, daß es sich bei ihr um die Gesteinsfühlerin handelt. Als ›lebender Seismograph‹ wird sie Jarno/ Montan zum Hilfsmittel für die von ihm beabsichtigte Ausbeutung der Bodenschätze in Amerika. Er »hat die dortige Bergfülle an Blei, Kupfer, Eisen und Steinkohlen dergestalt vor Augen, daß er alle sein Wissen und Können manchmal nur für ängstlich tastendes Versuchen erklären möchte, um erst dort in eine reiche belohnende Ernte mutig einzugreifen.« (726) Zum Glück begleitet ihn seine »Wünschelrute«, die die Bodenschätze körperlich spürt. Offensichtlich ist der ›Verzweckungszusammenhang‹ der utilitaristischen Moderne so total, daß selbst magische Fähigkeiten, die einst das sympathetische Einvernehmen von Natur und Mensch symbolisierten, zum Mittel einer auf konkreten Nutzen ausgerichteten Exploration werden.
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Siehe hierzu Jeremy Adler: »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes Wahlverwandtschaften und die Chemie seiner Zeit, München 1987, S. 169–174. Safia Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 230.
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IV. »Die Sehnsucht verschwindet im Tun und Wirken«1: 1 Wilhelm Meisters Reise an den Lago Maggiore
1. Die Überwindung der Sehnsucht durch ihre ästhetische Transformation Jarno/Montan, der sich beim Streit der Bergleute in der Pädagogischen Provinz als Anhänger angewandter Wissenschaft zu erkennen gibt, hat Wilhelm schon gleich zu Beginn seiner Wanderschaft aufgefordert, Medizin zu studieren, damit er sich »als ein nützliches als ein nötiges Glied der Gesellschaft« (556) erweise – wie Wilhelm im Rückblick auf seine erfolgreiche Ausbildung zum Wundarzt Natalie gegenüber bekundet. Doch um seine Ausbildung überhaupt absolvieren zu können, muß er von dem ihm auferlegten Mobilitätsgebot befreit werden. Und so bittet er Jarno/Montan, »sich bei den Verbündeten dahin [zu] verwenden, daß die lästigste aller Lebensbedingungen, nicht länger als drei Tage an einem Orte zu verweilen, baldigst aufgehoben und ihm vergönnt werde, sich zu Erreichung seines Zweckes da oder dort, wie es ihm belieben möge, aufzuhalten.« (299) Doch beginnt Wilhelm sein Studium nicht sofort, da er vorab noch einen Suchauftrag für Lenardo zu erledigen hat.2 Auch benötigt er die Zustimmung des Abbés, der offensichtlich die Vollmacht der Turmgesellschaft besitzt, sein Wandergebot aufzuheben. In seinem Brief, in dem er ihn hierum bittet, bezieht sich Wilhelm auf Jarno/Montans frühere Intervention: Was mich betrifft, so kann ich, nach fortdauernder tätiger Selbstprüfung, mein durch Montan vorlängst angebrachtes Gesuch nunmehr nur noch ernstlicher wiederholen; der Wunsch meine Wanderjahre mit mehr Fassung und Stetigkeit zu vollenden wird immer dringender. In sicherer Hoffnung man würde meinen Vorstellungen Raum geben, habe ich mich durchaus vorbereitet und meine Einrichtung getroffen. Nach Vollendung des Geschäfts zu Gunsten meines edlen Freundes [Lenardos] werde ich nun wohl meinen fernern Lebensgang unter den schon ausgesprochenen Bedingungen getrost antreten dürfen. Sobald ich auch noch eine fromme Wallfahrt zurückgelegt, gedenke ich in *** einzutreffen. (496) 1 2
FA 10, S. 512f. Siehe hierzu S. 159–168 der vorliegenden Arbeit.
91 Was ist das für eine »fromme Wallfahrt«, die Wilhelm zuvor noch zurücklegen will? Auf den ersten Blick erscheint alles ganz beiläufig. Bevor er sein Studium aufnimmt, möchte er noch ein paar Tage Ferien machen, und aus diesem Grund reist er an den Lago Maggiore. Doch Wilhelm geht es um wesentlich mehr als um eine bloße Vergnügungsreise, bevor der Ernst des Lebens beginnt. Schon die auf den Brief folgende Äußerung des Redaktors, daß Wilhelm »vor Beginn eines neuen Lebensganges, so manches abzuschließen« (496) gedenke, verweist auf den bedeutenden Stellenwert seiner Reise. Erstaunlich ist, was Wilhelm »abzuschließen« gedenkt. Zwar ragen die Lehrjahre sonst nur ganz sporadisch in die Wanderjahre hinein, so daß sich mit guten Gründen davon sprechen läßt, es handle sich hier nicht um einen Fortsetzungsroman, sondern um zwei Romane mit geringen Überschneidungen im Personal und mit diametralen Gegensätzen in der Form; an dieser Stelle aber sind beide Romane eng verkettet. Der Verlust Mignons, antithetische Leitfigur der Lehrjahre,3 die dort im Umkreis der Turmgesellschaft zugrunde geht und in den pompös zelebrierten Exequien den »Schein des Lebens« (FA 9, 958) erhält, hat sich Wilhelm so tief eingeprägt, daß er den Ort ihrer Herkunft4 aufsuchen will, bevor er sich endgültig der Welt der Nützlichkeit verschreibt. Von diesem Ort erlangte er bereits in den Lehrjahren nähere Kenntnis durch den Abbé, der die ihm vom Markese erzählte Kindheitsgeschichte Mignons aufgeschrieben und im Kreis der Turmgesellschaft vorgelesen hatte (siehe FA 9, 961–975). Mehrfach wurde Wilhelm anschließend aufgefordert, Mignons Heimat zu besuchen: Zunächst vom Markese, der ihn bat, mit ihm und Felix dorthin zu reisen, um die ihm zugedachte Erbschaft in Empfang zu nehmen (siehe FA 9, 976), dann von Therese, die dieses Ansinnen nachdrücklich bekräf3
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Siehe hierzu Günter Saße: Die Sozialisation des Fremden. Mignon oder: Das Kommensurable des Inkommensurablen in Wilhelm Meisters Lehrjahren, in: Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, Band 11, hrsg. von Yoshinori Shichiji, München 1991, S. 103–113. Lange vor der Abfassung der Wanderjahre notierte Goethe im Hinblick auf die Lehrjahre im Tagebuch für Charlotte von Stein: »Ich war lang willens Verona oder Vicenz dem Mignon zum Vaterland zu geben. Aber es ist ohne allen Zweifel Vicenz, ich muß auch darum einige Tage länger hier bleiben.« (FA 30, S. 70) Warum Goethe später den Lago Maggiore gewählt hat, bleibt offen. Er selbst war höchstwahrscheinlich nie dort, hat sich aber durch Aquarelle des Malers Georg Melchior Kraus und durch die Lektüre von Johann Georg Keyßlers Reiseberichten: Neueste Reisen durch Deutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen, Hannover 31776, kundig gemacht; siehe hierzu auch den Kommentar FA 10, S. 1127f.
92 tigte: »Folgen Sie diesem sonderbaren Ruf, und indem Sie sich um den Markese doppelt verdient machen, eilen Sie einem schönen Lande entgegen, das Ihre Einbildungskraft und Ihr Herz mehr als Einmal [sic!] an sich gezogen hat.« (FA 9, 976) Selbst nachdem Wilhelms Verbindung mit Natalie angebahnt war, wurde noch einmal von Mignons Heimat als Reiseziel gesprochen – so als sollte die Hochzeitsreise dorthin führen: »Nun geschwind, versetzte Friedrich, wie sieht’s mit den Zeremonien aus? die lassen sich an den Fingern herzählen, ihr müßt reisen, die Einladung des Markese kommt euch herrlich zu statten.« (FA 9, 991f.) Doch erst in den Wanderjahren folgt Wilhelm der mehrfach an ihn herangetragenen Aufforderung und reist an den Lago Maggiore – allerdings ohne Felix und Natalie. Die Reise, die er in den Lehrjahren nicht angetreten hatte, erhält in den Wanderjahren einen neuen Stellenwert. Jetzt geht es um Wilhelms existentielle Umorientierung.5 Dabei ist es die Inkarnation der 5
Goethe selbst hat den Weg Wilhelms nach Italien imaginativ vorbereitet, so daß dieser gleichsam stellvertretend für ihn die Reise macht. Der biographische Bezug einer Stellvertretung – gerade auch im Hinblick auf die existentielle Valenz – deutet sich vielfach an. So berichtet Goethe in Dichtung und Wahrheit mit erstaunlichen Anklängen an die dritte Strophe von Mignons Italien-Lied, wie er auf seiner ersten Schweizer Reise (1775) von seinem Reisegefährten, dem Maler Jakob Ludwig Passavant, aufgefordert wird, mit ihm nach Italien zu wandern. Er entzieht sich aber der Verlockung und kehrt in den Norden zurück (siehe FA 14, 810ff.). Goethe hat diese Situation von Verlockung in den Süden und Umkehr in den Norden als »Scheidepunkt« (ebd., S. 809) in seiner Zeichnung Scheide Blick nach Italien vom Gotthard d. 22. Juni 1775 festgehalten. Siehe: Corpus der Goethezeichnungen, bearb. von Gerhard Femmel, Band 1, Leipzig 1958, Nr. 120; auch auf der zweiten Schweizer Reise (1779) mit Herzog Carl August scheint Goethe eine geradezu »abergläubische Furcht davor« gehabt zu haben, »den Boden Italiens zu betreten.« (Nicholas Boyle, Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, Band 1: 1749–1790, München 1995, S. 359; siehe auch Goethes Brief an Charlotte von Stein vom 13. November 1779, WA IV/4, S. 120) Als sich die Frage stellte, ob die Reisegesellschaft »den ihnen von [Horace Bénédict de] Saussure empfohlenen Weg über den Simplon hinunter nach Italien und von dort über den Lago Maggiore zurück zum Gotthard« nehmen oder »ihren Weg bis hinaus zur Rhônequelle fortsetzen und dort versuchen [solle], über den Furkapaß direkt zum Gotthard zu gelangen«, entschied sich Goethe für die zweite Möglichkeit (ebd., S. 358). Möglicherweise hatte der Lago Maggiore für Goethe einen besonderen ›symbolischen‹ Wert, der die Route über den See heikel gemacht haben könnte. Gegen diese Deutung, die von einer inneren Blockade Goethes ausgeht, sprechen allerdings Überlegungen von Waldemar von Wasielewski, der zwei Gründe für seine Vermutung anführt, daß Goethe auf seiner Rückreise aus Italien um den 20. Mai 1788 einen Abstecher von Mailand an den Lago Maggiore gemacht habe: Zum einen sei er – wenn man eine durchschnittliche Postkutschengeschwindigkeit annehme – früher in Mailand angekommen, nämlich am 18. Mai
93 Sehnsucht schlechthin, Mignon,6 auf die sich sein ganzes Interesse richtet. Als androgynes Geschöpf hatte sie sich in den Lehrjahren allen gesellschaftlichen Normen entzogen; sie starb bezeichnenderweise genau in dem Augenblick, als sie in die Turmgesellschaft sozial integriert werden sollte. Welche Bedeutung aber hat nun die tote Mignon für Wilhelm? Was verbindet ihn mit ihr, welchen Sinn hat die Reise in ihre Heimat, wie erlebt er diese, und wie wird sein Aufenthalt dort gestaltet? Mit Mignon – so die zu explizierende These – wird ein unbewältigter psychischer Komplex des Protagonisten noch einmal ins Spiel gebracht. Das Geschehen am Lago Maggiore ist wesentlich von Malerei und Gesang geprägt – zwei Kunstformen, die ein junger Mann praktiziert, der ebenfalls in Mignons Heimat gereist ist. Er erscheint als Wilhelms Alter ego:7
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1788, wohingegen er gegenüber dem Herzog seine Ankunft (warum auch immer) auf den 22. datiert habe, so daß er vier Tage für den Ausflug zum Lago Maggiore gehabt hätte. Zum anderen sei zu dieser Zeit Vollmond gewesen, was sich in der letzten fiktiven Vollmondnacht spiegle, die Wilhelm und seine Begleitung auf der Isola Bella verbringen. Daraus zieht Wasielewski den Schluß, daß Goethe Biographisches in die Gestaltung der Lago Maggiore-Szene hat einfließen lassen: »Als Goethe dies Kapitel gestaltete, verwebten sich in beziehungs- und ahnungsvoller Weise Mignon und ihr sehnsuchtsvolles, unerfülltes Dasein mit der eigenen Erinnerung an Italien und die langversunkene Herrlichkeit jener Abschiedstage und Mondnächte an dem frühlingsschönen großen See.« W. v. W.: War Goethe am Lago maggiore? Zugleich ein kleiner Beitrag zum Wilhelm Meister, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 9 (1922), S. 182–198, hier S. 194. Selbst wenn sich nicht sicher sagen läßt, ob Goethe tatsächlich am Lago Maggiore war, so zeigt sich doch, daß er für ihn eine besondere Bedeutsamkeit hatte – ebenso wie für Wilhelm, mag diese im Roman auch eine spezifisch andere sein als für Goethe selbst. Siehe hierzu die Äußerung des Arztes über Mignon: »Die sonderbare Natur des guten Kindes […] besteht beinah nur aus einer tiefen Sehnsucht.« (FA 9, S. 901) Auf biographische Anklänge sei hingewiesen: Für Goethe selbst war bekanntlich das Malen von großer Bedeutsamkeit. Auf seiner ersten Harzreise entwirft er im Brief vom 6. und 7. Dezember 1777 an Charlotte von Stein von sich das Bild eines herumziehenden Malers: »Mir ists eine sonderbaare Empfindung, unbekannt in der Welt herumzuziehen, es ist mir als wenn ich mein Verhältniss zu den Menschen und den Sachen weit wahrer fühlte. Ich heiße Weber, bin ein Mahler.« (WA IV/3, S. 192) In Italien hat sich Goethe unter dem Pseudonym eines pittore Filippo Möller bemüht, in seinen Bildern Kunstwerke und Landschaften festzuhalten. Neben Goethes Selbstidentifikation als Maler ergibt sich eine weitere lebensgeschichtliche Parallele: Wie Wilhelm wurde auch Goethe auf seinen Reisen häufiger von Malern begleitet, so u. a. von Jakob Ludwig Passavant, Johann Heinrich Wilhelm Tischbein und Christoph Heinrich Kniep. In einer kleinen Studie verweist Hans-Joachim Weitz auf Gabriel Lory d.J.
94 Beide schicken sich gar bald in einander, vertrauen sich wechselseitig Neigungen, Absichten, Vorsätze; und nun wird offenbar, daß der treffliche Künstler, der aquarellierte Landschaften mit geistreicher, wohlgezeichneter und ausgeführter Staffage zu schmücken weiß, leidenschaftlich eingenommen sei von Mignons Schicksalen, Gestalt und Wesen. (497)
Wie von ungefähr gesellt sich der Maler zu Wilhelm; sein ganzes Bestreben ist darauf gerichtet, Mignons Kindheitsgeschichte in Bildern festzuhalten. Mit ihnen fügt der Maler ein weiteres Glied zu der Transformationskette hinzu, die die ungebundene Lebendigkeit Mignons in die gebundene Form eines ästhetischen Arrangements bringt. In den Lehrjahren ordnen die Exequien die Tote einem durchkalkulierten Zeremoniell ein; die Erzählung des Markese und deren Niederschrift durch den Abbé unterwerfen ihr Leben anschließend einer narrativen Ordnung. In den Wanderjahren sind es dann Gemälde, welche die sprachlich vermittelte Kindheitsgeschichte Mignons und ihr Italien-Lied mit sinnlichen Natureindrücken verbinden. Unterstützt von Wilhelm, dessen Erinnerungen an Mignon die Darstellungen des Malers anregen, fließen in den Bildern Landschaftseindrücke und Lebensaugenblicke Mignons zusammen. Auf diese Weise wird sie, die sich allen gesellschaftlichen Disziplinierungsmaßnahmen entzog, in arrangierten Kunsträumen als ästhetisierte Erinnerung aufbewahrt: »Auf mehreren Blättern war Mignon im Vordergrunde, wie sie leibte und lebte, vorgestellt, indem Wilhelm der glücklichen Einbildungskraft des Freundes durch genaue Beschreibung nachzuhelfen und das allgemeiner Gedachte in’s Engere der Persönlichkeit einzufassen wußte.« (497) Unter den vielen Bildern, die der Maler von Mignon malt, wird eines besonders hervorgehoben und detailliert beschrieben: Ein Bild aber tat sich vor allen hervor, welches der Künstler auf der Herreise, noch eh’ er Wilhelmen begegnet, mit allen Charakterzügen sich angeeignet hatte. Mitten im rauhen Gebirg glänzt der anmutige Scheinknabe, von Sturzfelsen umgeben, von Wasserfällen besprüht, mitten in einer schwer zu beschreibenden Horde […]. Auch ließ der Künstler mit klugdichtendem Wahrheitssinne eine Höhle merklich werden, die man als Naturwerkstatt mächtiger Krystalle, oder als Aufenthalt einer fabelhaft-furchtbaren Drachenbrut ansprechen konnte. (498)
Mignons Italien-Lied, dessen dritte Strophe hier zum Bild gerinnt, fungiert zugleich als dessen Interpretament. »Als Aufenthalt einer fabelhaftfurchtbaren Drachenbrut« ist die Bildszenerie ja nur deshalb »anzuspre(1786–1846) als Vorbild für den fiktiven Maler: H.-J. W.: Ein Schweizer Maler bei Goethe, hrsg. von Kunsthaus Zürich und Kunstmuseum Bern, Zürich, Bern 1978, bes. S. 14f.
95 chen«, weil die Erinnerung an die Verszeile »In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut« (FA 9, 503) die Leerstelle des Bildes imaginativ aufzufüllen vermag. Gedicht und Gemälde ergänzen sich: Was dieses als sinnlichen Eindruck präsentiert, vervollständigt die durch das Gedicht stimulierte Phantasie, welche ihrerseits schon die Bildkomposition gespeist hatte. Doch die Wirkung des Italien-Liedes aus den Lehrjahren reicht noch weiter. Bereits die ›unmittelbare‹ Landschaftswahrnehmung der Protagonisten wird durch Mignons Lied semantisch aufgeladen; dessen erste Strophe überlagert den Sinneseindruck mnemonisch. So verleiht die Bedeutsamkeit des Liedes dem Wahrgenommenen erst seinen besonderen Erlebniswert. Die Reminiszenz überformt die Gegenwart und taucht sie in das Licht der Verklärung: Der Maler und Wilhelm »konnten […] sich eines traurigen Lächelns nicht enthalten, wenn sie, unter Zypressen gelagert, den Lorbeer aufsteigen, den Granatapfel sich röten, Orangen und Zitronen in Blüte sich entfalten und Früchte zugleich aus dem dunklen Laube hervorglühend erblickten.« (499) Das oxymorale »traurige Lächeln« spiegelt die Ambivalenz von Identifikation und Distanz, die den emotionalen Bezug der beiden zu der erinnerten Mignon bestimmt. Die im Licht des Italien-Liedes wahrgenommene schöne Natur macht ihnen den Verlust Mignons als Sinnbild unverstellter Subjektivität zwar schmerzlich bewußt, doch wird die persönliche Betroffenheit im aktuellen Erleben des Naturschönen zugleich aufgehoben, zur bloß nostalgischen Reminiszenz depotenziert. Die Überführung von Mignons naturhafter Lebendigkeit in die künstliche Ordnung ästhetischer Gebilde, die mit den Bildern des Malers in den Wanderjahren zum Abschluß kommt, beginnt, wie angedeutet, bereits in den Lehrjahren. Dort wird anhand von Mignons Lied der Widerspruch zwischen ihrem subjektiven Ausdruck und dessen intersubjektiver Kodifizierung durch Wilhelm herausgestellt. Denn diese erweist sich als ein artifizielles Arrangement, das die unbändige Sehnsuchtsevokation Mignons einer genau kalkulierten Sprachfügung unterwirft. Wie sehr die Schrift das zur Ordnung ruft, was sich allen Normierungen zu entziehen sucht, kennzeichnet der Erzähler der Lehrjahre nachdrücklich. Zunächst betont er, wie sich Mignons Liedvortrag zu einer bruchlosen Einheit von Empfindung, Stimme und Ausdruck formiert: Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer, das: kennst du es wohl? drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus, in dem: dahin! dahin! lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr: Laß uns ziehn! wußte sie, bei jeder Wiederholung, dergestalt
96 zu modifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war. (FA 9, 504)
In der Art, wie Mignon ihr Lied artikuliert, offenbart sie ihr Innerstes. Jenseits ihres kognitiven Begreifens, das das Ziel der Sehnsucht nicht kennt, gewinnt diese einen Ausdruck, der sich jedem diskursiven Zugriff entzieht. So hat Wilhelm alle Mühe, das Gehörte zu verstehen; fremd mutet es an. Der Erzähler verdeutlicht daraufhin, wie sich Wilhelm Mignons Lied aneignet. Er bringt es in eine geregelte Sprache und opfert damit die inkommensurable Subjektivität des von Mignon Ausgedrückten. Doch indem Wilhelm Mignons Seelenausdruck dadurch normalisiert, daß er ihn der Ordnung einer Form unterwirft und so zum reproduzierbaren Werk macht, nimmt er ihm seine eigentümliche sinnliche Qualität: Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend, und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden. (FA 9, 504)
Mignons Gesang sperrt sich gegen eine Einordnung in die Intersubjektivität sprachlicher Zusammenhänge. Wilhelm hingegen versucht, die Gefühle Mignons kommunizierbar zu machen. Er kleidet sie in ein artistisches Kunstgewand und formt dadurch ihre sich über alle gesellschaftlichen Rollenzwänge hinweg offenbarende, die Individuation übersteigende Verschmelzungssehnsucht zu einem kunstvollen Gebilde, das ihr Leiden ästhetisiert. Formvollendet erscheint das Gedicht, voll rhetorischer Figuren und durchkalkuliert bis zum letzten Punkt. Seine Regelmäßigkeit ist auffallend. Als vers commun kommt es daher; ein fünfhebiger Jambus mit Zäsur nach der zweiten Hebung prägt das metrische Schema. Die Strophen sind analog gebaut, die Verse durch Wiederholungen und Parallelfügungen in eine syntaktische Ordnung gebracht, die in jeder Strophe mit einer Frage beginnt und in der fünften Zeile mit dem nach Bestätigung verlangenden Appell »Kennst du es / ihn wohl?« endet. Eine genau plazierte Lücke markiert das Ende von Vers 5 und den Beginn von Vers 6. Doch die Leerstelle – ausgespart für das antwortende Du – wird nicht gefüllt, der Appell nicht beantwortet, Schweigen tritt ein. Das Ziel wird nicht genannt, Wilhelm vermutet lediglich: »Es muß wohl Italien gemeint sein.« (FA 9, 504) Diese Konkretion aber greift zu kurz; Mignon evoziert ihr Ziel als einen Erlösungsraum, dem sie gemeinsam mit dem totalisierten Ge-
97 genüber, das zugleich ›Geliebter‹, ›Beschützer‹ und ›Vater‹ ist, sehnsuchtsvoll zustreben will. Die durchkomponierte Ordnung des Gedichts widerspricht dem, was über das von Mignon Vorgetragene gesagt wird. Es ist in einer Wilhelm nicht recht verständlichen Sprache gesungen, die er zunächst ins Deutsche übersetzen muß; er erst macht die »gebrochene Sprache übereinstimmend, und das Unzusammenhängende verbunden.« (FA 9, 504) Wilhelm also ist der eigentliche ›Dichter‹, der dem Form gibt, was sich den Geboten lyrischen Sprechens entzieht – mit dem Ergebnis, daß die »kindliche Unschuld des Ausdrucks« (FA 9, 504) unter dem Diktat kalkulierter Wiederholungen und paralleler Satzfügungen verschwindet. In Wilhelms Übersetzung und Formung wird der alle sprachlichen Ordnungen übersteigende Sehnsuchtsimpuls Mignons zum sprachlichen Kunstwerk, das durch seine Form bannt, was es an leidvoller Erlösungshoffnung ausdrückt. Es stellt die Sehnsucht still, die aus allen irdischen Bedingtheiten herausstrebt, indem es sie artifiziell reguliert. Nicht von ungefähr nennt Wilhelm Mignons Seelensprache ein »Liedchen« (FA 9, 504) und fragt sie, woher sie es habe, so als würde sie bloß überkommene Dichtung rezitieren. Doch Mignon artikuliert ihre unaussprechliche Existenznot im Gesang. Wilhelm dagegen übersetzt ihren Sehnsuchtsausdruck in die Sprache der Poesie, macht ihn zu einem »Liedchen« und stellt ihn damit unter die Ordnung der Reproduzierbarkeit. So wird aus unverwechselbarer Ausdrucksenergie ein wiederholbares Artefakt. In solcher Kunstform erst taugt das Lied zur nostalgischen Wunschformel, die in den Wanderjahren dann die italienische Landschaft mit ihren Metaphern überzieht. In der Lago Maggiore-Episode setzt der Maler die mediale Transformation Mignons fort, indem er das Lied, das Wilhelm einst durch artistische Formung von seiner Sängerin gelöst und so zum reproduzierbaren Gebilde gemacht hatte, in ein Gemälde überführt. Die in der dritten Strophe des Gedichts evozierte unheimliche Gebirgslandschaft, durch die der Weg in ein unentfremdetes Dasein führt, gestaltet er zu einer pittoresken Szenerie, die vom Sturmfelsen über die Wasserfälle bis zur Höhle die Details des Gedichts auf wirkungsvolle Weise arrangiert.8 An die Stelle der unbezwinglichen Sehnsucht Mignons, die nach einem Leben jenseits ge8
Siehe auch Hannelore Schlaffer, die die Überführung des Gedichts ins Bild wie folgt charakterisiert: »Der sinnliche Eindruck des Gemäldes löscht die Erinnerung an das Lied Mignons nahezu aus. Wo im Lied von der glücklichen ersten Strophe bis zur letzten Mignons Unglück wächst, denkt der Maler nur an eine Steigerung der Effekte seiner Kunst.« H. S.: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980, S. 21.
98 sellschaftlicher Normierungen strebt, tritt die Kunst, die ästhetisiert, was als ungeregelte Wunschprojektion die vorgegebenen Ordnungen zu sprengen droht. So wird Mignons Leben in den Wanderjahren endgültig in Kunst aufgelöst; der Maler überführt es in eine effektsichere Bildkomposition, die sich aus optischen Eindrücken und lyrischen Reminiszenzen speist. An die Stelle der Sehnsucht nach dem ganz Anderen, wie sie Mignon in ihrem Gesang ausdrückte, tritt dergestalt eine Kunst, die das Inkommensurable kommensurabel macht und das, was nur um den Preis aller eingespielten Sicherheiten unmittelbar zu erleben wäre, dem Betrachter als ästhetischen Genuß vermittelt. Der Redaktor artikuliert diese der Kunst zugewiesene Bannkraft in einer allgemeinen Sentenz, wenn er bemerkt: »indem die Natur das offenbare Geheimnis ihrer Schönheit entfaltete, mußte man nach Kunst als der würdigsten Auslegerin unbezwingliche Sehnsucht empfinden.« (499f.) Allerdings verdeutlicht der Kontext, daß hier der Kunst nicht etwa die Funktion zugeschrieben wird, in der Erscheinung das Wesen der Natur transparent zu machen – so wie es Goethe in einem Aphorismus postuliert, der fast wörtlich mit der im Roman exponierten Sentenz von der »Kunst als der würdigsten Auslegerin« der schönen Natur übereinstimmt. So heißt es in den Maximen und Reflexionen: »Wem die Natur ihr offenbares Geheimniß zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.« (FA 13, 24) Goethe formuliert hier seine klassizistische Kunstdoktrin, wie er sie z. B. auch in seinem Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (1789) entfaltet, in dem er betont, daß der »Styl« auf den »tiefsten Grundfesten der Erkenntnis« beruht, »auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.« (FA 18, 227) Nach Goethe hat der ›echte‹ Künstler zwar von der wahrnehmbaren Wirklichkeit auszugehen, diese aber nicht bloß – wie im minderen Fall der »einfachen Nachahmung« – in ihrer Oberflächenerscheinung abzubilden, sondern vielmehr die ihr zugrundeliegenden Gestaltprinzipien zu erfassen und durch seine künstlerische Formung zur Anschauung zu bringen. Ganz anders geht hingegen der Maler am Lago Maggiore vor. An die Stelle einer ästhetischen Hermeneutik, die das Geheimnis der Natur würdig auslegt, tritt bei ihm die von Goethe so genannte »Manier«, in welcher die sich in der Darstellungsweise manifestierende Subjektivität des Künstlers die Objektivität der Phänomene überlagert. So reproduziert der Manierist einerseits nicht präzise die Außenwelt (»einfache Nachahmung«), andererseits vermag er aber auch nicht im Realen das Ideale zu gestalten (»Styl«), sondern »er erfindet sich selbst eine Weise, macht sich
99 selbst eine ›Sprache‹, um das, was er mit der Seele ergriffen, wieder nach seiner Art auszudrücken.« (FA 18, 226) Mit seiner »Seele« aber hat der Maler die Natur im Lichte von Mignons Schicksal »ergriffen«; seine Bilder erinnern nicht von ungefähr an jene »Nachbildungen Italienischer Gegenden«, wie sie Wilhelm selbst einst »verdächtig« (499) waren: »der Himmel schien ihm [Wilhelm] zu blau, der violette Ton reizender Fernen zwar höchst lieblich doch unwahr und das mancherlei frische Grün doch gar zu bunt.« (499) Angeregt vom Wissen um Mignons Biographie, stimuliert durch ihr Italien-Lied und ergänzt durch Wilhelms Hinweise, funktionalisiert der Maler die Landschaftseindrücke zur Staffage, in die er sein Bild von Mignon so einfügt, daß diese zu einem Kunstrequisit wird, das jeden existentiellen Appell im effektheischenden Arrangement der Bildkomposition verliert. Aus ihr, die in ihrem Unbedingtheitsanspruch alle sozialen Grenzen transzendierte, wird ein Artefakt zur Erzeugung mehrfach vermittelter Sehnsuchtsimpulse, die das Leben selbst nicht tangieren. Auf diese Weise wird Mignons Leiden an den Bedingtheiten des Daseins zum ästhetischen »Genuß« (499) ihres Leidens transformiert: »wer hätte sich nicht des merkwürdigen, ausgeführten Bildes erfreut?« (498), fragt der Redaktor und verweist so darauf, daß jeder identifikatorische Nachvollzug vom Schein einer Kunst blockiert wird, die noch der tiefsten Existenznot ihr artifizielles Pathos abgewinnt. Was die Malerei als stillgestellte Sehnsucht leistet, scheint auf den ersten Blick der Gesang des Malers wieder aufzuheben. Doch ganz ähnlich wie mit seinen Bildern evoziert der Maler auch mit seinem Gesang die Sehnsucht nur, um sie zugleich zu kanalisieren. Als »neuer Orpheus« (500) vermag er zwar nicht – wie sein mythisches Vorbild – Natur und Götter magisch zu bezaubern, wohl aber den ganzen Kreis der Zuhörer in seinen Bann zu ziehen: Ganz anders war nunmehr See und Ufer belebt, Boot und Kahn buhlten um ihre Nachbarschaft, selbst Fracht- und Marktschiffe verweilten in ihrer Nähe, Reihen von Menschen zogen am Strande nach und die Landenden sahen sich sogleich von einer frohsinnigen Menge umgeben; die Scheidenden segnete jedermann, zufrieden doch sehnsuchtsvoll. (500)
Gesang und Sehnsucht gehen eine innige Verbindung ein. Doch wird durch den Gesang die Sehnsucht gerade nicht nachhaltig geweckt, sondern in paradoxaler Weise zugleich ›befriedigt‹ – es heißt ja bezeichnenderweise, der Gesang lasse jedermann, »zufrieden [meine Herv.] doch sehnsuchtsvoll« zurück. Auch hier greifen also die Sicherungsinstanzen einer künstlerischen Inszenierung. An die Stelle der Bildkomposition tritt dabei
100 die Ordnung der Vortragssituation, die die sehnsüchtige »Klage« im Überspielen der Entfernung »lieblich« erklingen läßt: Kaum war der Sänger in sein Schiff gesprungen, das sich eiligst vom Ufer entfernte, als er nach der Laute griff und jenen wundersam-klagenden Gesang den die Venezianischen Schiffer von Land zu See, von See zu Land erschallen lassen, lieblich anzustimmen begann. Geübt genug zu solchem Vortrag, der ihm diesmal eigens zart und ausdrucksvoll gelang, verstärkte er, verhältnismäßig zur wachsenden Entfernung, den Ton, so daß man am Ufer immer die gleiche Nähe des Scheidenden zu hören glaubte. (502)9
Die angepasste Lautstärke der Stimme stellt »die gleiche Nähe des Scheidenden« künstlich her. Und die Lieder, die der Maler singt und über den »jodelnden, allgemeinen Sehnsuchtston« hinaus zu »heiterer, zierlicher Andringlichkeit« (503) moduliert, vermeiden jeden identifikatorischen Nachvollzug, wie ihn die Lieder des Harfners und Mignons hervorrufen würden: Da wollte denn manchmal ein und das andere der Lieder, die wir geliebten Personen der Lehrjahre schuldig sind, über den Saiten, über den Lippen schweben; doch enthielt er sich, aus wohlmeinender Schonung, deren er selbst bedurfte, und schwärmte vielmehr in fremden Bildern und Gefühlen umher, zum Gewinn seines Vortrags, der sich nur um desto einschmeichelnder vernehmen ließ. (503)
Nur »fremde Gefühle und Bilder« erlauben solch »einschmeichelnden« Vortrag; denn hier hemmt die Fremdheit des Gesungenen die suggestive Kraft, die das Innerste zu erschüttern vermöchte. Doch am Ende des Aufenthalts am Lago Maggiore vergißt der Maler die »früher[] wohlbedachte[] Schonung« (510) nicht nur gegen sich und Wilhelm, sondern auch gegen Hilarie und die schöne Witwe – den beiden Frauen, die aus den erotischen Verstrickungen der Binnenerzählung Der Mann von funfzig Jahren in das Entsagungsgeschehen der Rahmenhandlung getreten sind. Bislang hatte 9
Wenn Goethe hier von dem »wundersam-klagenden Gesang« der venezianischen Schiffer spricht, so fließen Erinnerungen an seine Italienreise ein. So beschreibt er in seiner Italienischen Reise unter dem Datum vom 6. Oktober 1786 den »famosen Gesang der Schiffer«: »Mit einer durchdringenden Stimme, – das Volk schätzt Stärke vor allem, – sitzt er [der Sänger] am Ufer einer Insel, eines Kanals, auf einer Barke, und läßt sein Lied schallen so weit er kann, über den stillen Spiegel verbreitet sich’s. In der Ferne vernimmt es ein anderer, der die Melodie kennt, die Worte versteht, und mit dem folgenden Verse antwortet; hierauf erwidert der Erste, und so ist einer immer das Echo des anderen. Der Gesang währt Nächte durch, unterhält sie ohne zu ermüden. Je ferner sie also von einander sind, desto reizender kann das Lied werden; wenn der Hörer alsdann zwischen beiden steht, so ist er am rechten Flecke.« (FA 15.1, S. 90f.)
101 der Maler Mignons Italien-Lied in seinen Bildern ästhetisch ›bewältigt‹ und die Sehnsuchtsgesänge der Lehrjahre bewußt vermieden. Doch im »Vorgefühl des Scheidens« (510) ignoriert er alle Sicherungsinstanzen und ruft bei sich und den anderen die bislang unterdrückten Affekte hervor: Leidenschaftlich über die Grenze gerissen, mit sehnsüchtigem Griff die wohlklingenden Saiten aufregend, begann er anzustimmen: Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n, Im dunklen Laub – – – – – (510)
Mit fünf Gedankenstrichen endet der Versuch des Malers, Mignons Lied zu singen. Die Transformationskette, die Mignons authentischen Sehnsuchtsausdruck ins kunstvolle Lied überführte und durch bildkünstlerische Übersetzung konservierte, zerreißt. Doch der Maler singt nur die ersten anderthalb Verse; dann folgt der Affektaufruhr – ein Hinweis darauf, daß er in Mignons Gesang die unaussprechliche Sehnsucht erfährt, die sie selbst jenseits des Ausgesagten ausdrückte. Er erfährt sich als einer, der über »die Grenze« seiner Affektkontrolle gerissen wird. Aber auch die Reaktionen der drei Begleiter auf den Gesang des Malers sind merkwürdig. Insbesondere Hilarie und die schöne Witwe reagieren zutiefst erschüttert, als fiele sie eine Elementargewalt an, ein Sirenengesang, gegen dessen verführerische Kraft sie sich nur mit äußerster Gewalt wehren können. Dabei entfalten sie in der Ambivalenz von Ergriffenheit und Abwehr ein seltsames Schauspiel: Hilarie stand erschüttert auf und entfernte sich, die Stirne verschleiernd; unsere schöne Witwe bewegte, ablehnend, eine Hand gegen den Sänger, indem sie mit der andern Wilhelm’s Arm ergriff. Hilarien folgte der wirklich verworrene Jüngling, Wilhelmen zog die mehr besonnene Freundin hinter beiden drein. Und als sie nun alle viere im hohen Mondschein sich gegenüber standen, war die allgemeine Rührung nicht mehr zu verhehlen. Die Frauen warfen sich einander in die Arme, die Männer umhals’ten sich und Luna ward Zeuge der edelsten, keuschesten Tränen. (510f.)
So wird im Roman der Moment höchster Gefühlsintensität geschildert. Es ist eine Situation am lockenden Abgrund, gegen den man sichernden Abstand gewinnen muß. Die abwehrenden Reaktionen sind eindeutig; dem Sog eines rauschhaften Affektaufruhrs widerstehen die vier nur mit Mühe, indem sie sich angestrengt fortbewegen und erst in sicherer Entfernung »unter seltsamen Gefühlen und Wünschen, denen doch die Hoffnung schon abgeschnitten war« (511), zur Besinnung kommen und sich trennen. In diese Abweisung der durch Mignon und ihr Lied aufgerufenen Wünsche wird der Maler intensiv einbezogen. Er ist ohnehin der am meisten Gefährdete. Ihn hatte sein eigener Gesang »über die Grenze gerissen«,
102 während Wilhelm, Hilarie und die schöne Witwe »sich schon, willig oder unwillig, zu den Entsagenden« (501) zählten – die Eingangsnovelle der Wanderjahre und Der Mann von funfzig Jahren zeigen, daß diese drei schon gelernt haben, ihre Gefühle zu regulieren, so daß für sie »nicht das Schwerste zu besorgen« (501) ist. Der Maler hingegen hat die Verlockungen der Unbedingtheit noch nicht gänzlich überwunden. Zwar wünschte er – bereits ›entsagungskonform‹ – die Sehnsuchtsgestalt Mignon ästhetisch zu konservieren, aber schließlich überwältigt ihn die Sehnsucht doch, so daß er den Anfang ihres Italienliedes anstimmt – bis ihn die anderen ganz in den Kreis der Entsagenden einschließen: Nun fühlte sich unser Künstler, welchen der Freund mit sich riß, unter dem hehren Himmel, in der ernstlieblichen Nachtstunde, eingeweiht in alle Schmerzen des ersten Grades der Entsagenden, welchen jene Freunde schon überstanden hatten, nun aber sich in Gefahr sahen abermals schmerzlich geprüft zu werden. (511)
Für alle hat dies einen hohen Preis. Nachdrücklich betont der Redaktor den Verlust, der mit dem Entsagungsprogramm verbunden ist, wenn er vom anschließenden »Abschied aus diesem Paradiese« (511) spricht. Die von Anfang an durch nostalgische Erinnerungen, ästhetisierende Überformungen und emotionale Befindlichkeiten vielfach vermittelte Wahrnehmung der Realität in der Lago Maggiore-Episode ändert sich daraufhin schlagartig: Nun war das Paradies wie durch einen Zauberschlag für die Freunde zur völligen Wüste gewandelt; und gewiß hätten sie selbst gelächelt, wäre ihnen in dem Augenblick klar geworden, wie ungerecht-undankbar sie sich auf einmal gegen eine so schöne, so merkwürdige Umgebung verhielten. Kein selbstsüchtiger Hypochondrist würde so scharf und scheelsüchtig den Verfall der Gebäude, die Vernachlässigung der Mauern, das Verwittern der Türme, den Grasüberzug der Gänge, das Aussterben der Bäume, das vermoosende Vermodern der Kunstgrotten, und was noch alles dergleichen zu bemerken wäre, gerügt und gescholten haben. (511f.)
Die Verschiebung vom ästhetischen Genuß zum kritischen Blick läßt überall Verfall und Renovierungsbedarf erscheinen, wo vorher Schönheit und Genuß lockten. Wilhelms »fromme Wallfahrt«, mit der er »vor Beginn eines neuen Lebensganges […] so manches abzuschließen gedachte« (496), ist nun beendet. Die mit Mignon verbundene Sehnsucht nach einer Existenz jenseits gesellschaftlicher Zwänge ist endgültig überwunden, auch wenn ein ironischer Unterton in der Feststellung der Renovierungsbedürftigkeiten mitschwingt. Er signalisiert, daß das Nützlichkeitsdenken – hier wie auch sonst oft im Roman – nicht zuletzt kompensatorisch fun-
103 giert, um schmerzliche Verlusterfahrungen abzuweisen. Dieses Nützlichkeitsdenken prägt sich Wilhelm durch eine Art von Katharsis ein, indem seine Sehnsucht zunächst gesteigert und dann ästhetisch neutralisiert wird.10 Im darauffolgenden Brief Lenardos an Wilhelm wird nicht von ungefähr das Entsagungsprogramm mit Entschiedenheit formuliert: »Tun ohne Reden muß jetzt unsre Losung sein.« (512) Und der Abbé entbindet Wilhelm in einem weiteren Brief von aller »Beschränktheit« (514) des Wandergebotes und stimmt nachdrücklich seinem Wunsch zu, nützlich zu sein: »[M]öchten Sie sich zum notwendigsten Glied unsrer Kette bilden.« (515)
2. Zum Erzählverfahren der Lago Maggiore-Episode Der auf der Handlungsebene vom Maler repräsentierten Kunstkonzeption, die die Sehnsucht in den Rahmen der Kunst bannt, zeigt sich auch der Redaktor als Erzähler der Lago Maggiore-Episode verpflichtet. So ordnet er – gemäß der Archivfiktion des Romans – die Briefe von Lenardo und dem Abbé an Wilhelm zusammen mit den beiden Briefen, die Wilhelm ihnen am Anfang schreibt, so an, daß sie einen Rahmen bilden, der das Geschehen am Lago Maggiore wie ein Kunstwerk von der pragmatischen Welt der Nützlichkeit abgrenzt. An dieser Abgrenzung war Goethe sehr gelegen, wie seine Schemata verdeutlichen. Sie stellen die Entwürfe der Briefe Wilhelms an Lenardo und den Abbé und die auf sie antwortenden Briefe Lenardos und des Abbés an Wilhelm zunächst in paralleler Anordnung dar, und erst nach einigem Probieren gestaltet Goethe sie zum Rahmen der Lago Maggiore-Episode aus.11 Der Unterschied zur ersten Fassung des Romans von 1821 ist eklatant. Dort ist von Wilhelms Absicht, Wundarzt zu werden, nicht die Rede; entsprechend fehlen die vier Briefe, in denen es um die Befreiung vom Wandergebot geht. Davon, daß er »vor Beginn eines neuen Lebensganges […] 10
11
Speziell im Hinblick auf die erotisch eingefärbte Situation der vier Protagonisten auf der Isola Bella siehe Emil Staiger: »Der Aufenthalt auf der Insel im Lago maggiore gewinnt die Bedeutung einer Katharsis des dunklen Gefühls. Es bricht hervor, entfaltet seine gefährliche Macht und wird gereinigt, aufgehoben in einem Ganzen, das keine Erschütterung mehr bedroht.« E. S.: Goethe, Band 3, S. 157. Goethe hatte den Brief Wilhelms an den Abbé zunächst für das achte Kapitel des zweiten Teils des Romans vorgesehen, außerdem verfaßte er zu diesem Brief mehrere Entwürfe – ebenfalls ein Hinweis darauf, wie wichtig er ihm war; siehe hierzu Kommentar FA 10, S. 818–822.
104 so manches abzuschließen gedachte« (496), findet sich folglich ebenfalls kein Wort. Wilhelm will dort noch nicht mit der Sehnsucht »abschließen«, sondern einfach zwei attraktive Frauen treffen. Hersilies Mitteilung veranlaßt ihn, am Lago Maggiore die schöne Witwe und Hilarie aufzusuchen. Erst in der zweiten Fassung des Romans taucht Wilhelm in die vom ItalienLied evozierte Welt der Verheißung ein, um den tief in ihm verborgenen Einspruch gegen die Welt der Nützlichkeit zu überwinden. Er hat endgültig Abschied zu nehmen von dem Wunsch nach einem Leben, das nicht den Bedingungen der Entsagung untersteht; er muß die Sehnsucht hinter sich lassen, um für das nützliche »Tun« frei zu werden. Und ist er erst tätig, so verschwindet die Sehnsucht endgültig – dies das briefliche Versprechen Lenardos: »Die Sehnsucht verschwindet im Tun und Wirken.« (512f.) Die Kunst spielt bei solcher Überführung in die utilitaristische Existenz eine wichtige Rolle. Sie vermittelt das, was nicht unmittelbar werden darf: die über alle Bedingtheiten der conditio humana hinausstrebende unbedingte Sehnsucht, welche – wie das Schicksal Mignons zeigt – tödlich endet, weil sie sich nicht gesellschaftlich zu vermitteln weiß. Doch durch die ästhetische Gestaltung verliert sie ihr Gefahrenpotential und wird genießbar. Nicht von ungefähr erhält der Maler den Auftrag, die Bilder, auf denen Mignon erscheint, Natalie zu überreichen, »um sie, durch die schönen landschaftlichen Bilder, in Gegenden zu versetzen die sie vielleicht sobald nicht betreten sollte.« (512) Hierbei geht es nicht etwa nur darum, ihr die Gegend am Lago Maggiore zu vergegenwärtigen, weil es in der projektierten Welt der Moderne keine schöne Natur mehr gibt.12 Vielmehr sollen die Auswanderer die vom Maler künstlich arrangierten Paradiese als ›Sehnsuchtskonserven‹ mit nach Übersee nehmen, um sich die dort auf sie wartenden Zwänge des Pragmatismus mittels des ästhetischen Scheins erträglich zu machen, indem sie ihre Sehnsucht zumindest im visuellen Genuß ›befriedigen‹ können. So dienen die Werke des Malers zur Bindung und Abfuhr dieses ›schädlichen‹ Affekts, der zwar tief im Menschen verwurzelt ist, auf diesem Weg jedoch gebändigt werden kann. Sie erweisen sich mithin für den Bund der Entsagenden insofern als nützlich, als ihre Betrachtung verhindert, daß die der pünktlichen Pflichterfüllung im Weg stehende Sehnsucht nach einer glückhaften Existenz jenseits gesellschaftlicher 12
So die These von Thomas Degering: »Der Maler malt die Natur, in der Mignon gelebt hat, weil die kommende Natur so aussieht, wie es der Abbé in Fortsetzung der Verwandlung des ›Paradieses‹ ›zur völligen Wüste‹ schreibt. Künstliche schöne Natur hängen sich die Entsagenden ins Zimmer – denn um sie herum gibt’s nur Güter, Kanäle, Werkstätten.« Th. D.: Das Elend der Entsagung, S. 286.
105 Zwänge im alltäglichen Leben hervorbricht. Denn die Gemälde erregen zwar die Sehnsucht, aber nur, um sie in kathartischer Dialektik sogleich wieder stillzustellen: »sehnsuchtsvoll« sollen die Rezipienten gemacht werden und doch »zufrieden« (500) zurückbleiben, damit sie sich umso ungestörter ihren praktischen Pflichten zuwenden können. So bleibt vom Ersehnten nurmehr dessen ästhetischer Schatten, der sich zunehmend verflüchtigt, je länger die Ableitungskette wird. Die Lago Maggiore-Episode forciert die Transformation des unmittelbaren Gefühls in die Mittelbarkeit der Kunst aufs Höchste. In den Lehrjahren werden zunächst Mignons Kindheitserlebnisse vom Markese erzählt und vom Abbé aufgeschrieben; ihre Seelenaussprache verarbeitet Wilhelm zum reproduzierbaren »Liedchen« (FA 9, 504). In den Wanderjahren verschmilzt dann beides mit der Naturkulisse im gemalten Bild. Als endlich auf der Isola Bella »drei volle himmlische Tage« (505) für Wilhelm und die schöne Witwe, den Maler und Hilarie anbrechen sollen, würdigt eine generalisierende Kunstrezension das Œuvre des Malers. Vor die sich andrängende Erotik wird die ästhetische Reflexion geschoben, die zudeckt, was nicht an die Oberfläche (auch des Textes) dringen darf. Lang und breit zitiert wird »das Urteil eines Kenners, der bei jenen fraglichen sowohl, als gleichen und ähnlichen Arbeiten, mehrere Jahre nachher, bewundernd verweilte.« (506) Es handelt sich um eine in den Roman integrierte ausführliche Bemerkung Heinrich Meyers über Landschaftsmalerei,13 die das besondere Kunstwerk zum Typus erhebt und ihm so seine Unvergleichlichkeit nimmt (siehe 506f.). Diese kunstwissenschaftliche Analyse steht am Ende einer Ableitungskette, die den unmittelbaren Gefühlsausdruck Mignons immer weiter vermittelt. Ihr folgt schließlich noch ein Exkurs des Redaktors, der das Wort »Wildheuer« mit philologischer Akribie erläutert (siehe 507f.).14 13 14
Siehe Kommentar FA 10, S. 1130. Goethes Quelle wird in den kommentierten Ausgaben nicht angegeben. Das Grimmsche Wörterbuch weist darauf hin, daß der Ausdruck »durch Göthe und Schiller zu allgemeiner verbreitung gebracht« wurde. (Art.: Wildheu – wildheuer, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 14.2, bearb. von Ludwig Sütterlin, Leipzig 1960; Neudruck München 1984, Band 30, Sp. 94.) Das Wort erscheint in Johann Jacob Scheuchzers Beschreibung der Natur-Geschichten Des Schweizerlands, die Schiller als Quelle für seinen Wilhelm Tell benutzt hatte: »Wildheüeren.« »Dises sein arme Leuhte / welche weder Wiesen / noch Alpen haben / ihr weniges Vieh damit zu ernehren / und deßwegen das Heü (von dem sie den Nammen bekommen) müssen samlen in der Wilde / in hohen / gächstotzigen Ohrten / dahin die Eigenthums-Herren nicht einmahl getrauen / ihr Vieh zu treiben.« J. J. S.: Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlands. Erster bis Dritter Theil. Zürich 1706–1708, Band 3, Zürich 1708, S. 15f.
106 Das Spiel der Medien ist erstaunlich genug: seelisches Empfinden und unvergleichlicher Ausdruck in Mignons Liedvortrag, rhetorisierte Sprache und tradierte Gedichtform in Wilhelms Rekonstruktion, narrative Vermittlung von Mignons Lebensgeschichte durch die Erzählungen des Markese, ihre schriftliche Fixierung durch den Abbé, dann deren ästhetische Gestaltung in den Visualisierungen des Malers. Es folgen typisierende Beschreibungen und wertende Urteile in den referierten Ausführungen des Kunstwissenschaftlers, bis ganz am Ende präzise Beschreibung und Einzelkommentar des Redaktors stehen. Größer könnte die Spannweite nicht sein: Vom unmittelbaren Empfinden zur Worterklärung; der philologische ›Kältepol‹ ist erreicht. Nicht nur die Leser, auch die vier Protagonisten der Lago Maggiore-Episode werden solchen Vermittlungszusammenhängen zunehmend unterworfen und dem Gebot der Entsagung unterstellt. Der Sehnsuchtsausdruck Mignons, den Wilhelm zu einem artifiziellen Gebilde formte, erscheint nur noch als abgebrochenes Zitat, gegen dessen im Gesang des Malers entfaltete Suggestion man sich entschieden wehrt, bis die nostalgische Schwärmerei der Ernüchterung weicht. Die Kunst öffnet keinen Handlungsraum erfüllten Lebens, sondern bewältigt und konserviert Möglichkeiten unentfremdeter Existenz, damit das Leben unter den Bedingungen der Entsagung den Geboten der Nützlichkeit folgen kann. Mit Hilfe der von Goethe gern verwendeten Spiegelmetaphorik läßt sich der Prozeß von Bewältigung und Konservierung verdeutlichen, dem Mignon unterworfen wird – ein Prozeß, der die Lehrjahre und Wanderjahre subtil miteinander verknüpft und zugleich einen Einblick in die poetologische Konzeption der Lago Maggiore-Episode erlaubt. Die Forschung hat immer wieder recht pauschal auf Goethes Brief vom 27. September 1827 an Carl Jakob Ludwig Iken verwiesen, um das Verhältnis einzelner Erzählpassagen der Wanderjahre zueinander plausibel zu machen: Auch wegen anderer dunkler Stellen in früheren und späteren Gedichten möchte ich Folgendes zu bedenken geben: Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direct mittheilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren. (WA IV/43, 83)
Goethe äußert sich hier generell zu seiner Darstellungsweise der »sich gleichsam in einander abspiegelnden Gebilde«, um das indirekte Erzählverfahren zu kennzeichnen, das auf der Differenz zwischen einer exoterischen und esoterischen Bedeutungsebene beruht. Dies will ich im Hinblick auf die Lago Maggiore-Episode enger fassen – und zwar aus zwei Gründen: Zum einen ist dadurch die Kunstproblematik präziser zu bestimmen,
107 und zum anderen expliziert Goethe diese Erzähltechnik in einer Weise, die erstaunliche Übereinstimmungen des Romangeschehens mit autobiographischen Verarbeitungsmustern erkennen läßt. Ausgangspunkt von Goethes Überlegungen zu den »einander abspiegelnden Gebilden« sind physikalische Phänomene, die er auf psychische Abläufe überträgt. Es handelt sich um Farberscheinungen, die durch Spiegelexperimente erschlossen werden. Goethe stellt sie in seinen Abhandlungen Elemente der entoptischen Farben und Entoptische Farben vor.15 Angeregt hatten ihn die farbphysikalischen Untersuchungen von Thomas Seebeck, wie er an Carl Ludwig von Knebel am 1. Mai 1816 schreibt: Von Seebeck hör ich öfters, er ist sehr thätig und die Anerkennung im Auslande muß günstig auf ihn wirken. Ich folge seinen letzten Entdeckungen und habe sie immer vor Augen. Sie sind gleichsam der Punct aufs i zu meiner Farbenlehre. Erleb ich, diese Phänomene mit jenen zu verknüpfen, so wird es für den Geist eine schöne Anschauung geben. (WA IV/27, 1)
Seebeck hatte die von ihm so genannten »entoptischen Farben« von den »katoptrischen« und »epoptischen« unterschieden; jene zeigen sich nicht an der Oberfläche der Gegenstände, sondern entstehen im Inneren durchsichtiger Minerale. Von diesen Farben war Goethe fasziniert, er machte allerlei Experimente, um ihre Eigentümlichkeiten zu erfassen. Seine Versuchsanordnung besteht aus zwei einander gegenüberliegenden Spiegeln, zwischen denen ein Mineral plaziert wird. In Abhängigkeit vom Winkel der beiden Spiegel zueinander und der Art des Minerals entstehen dabei unterschiedliche »entoptische« Farbeffekte. Goethe folgert daraus, daß sich die durch »wiederholte Spiegelungen« aufscheinenden Farben »nach dem allgemeinen, längst bekannten, noch aber nicht durchaus anerkannten, ewigen Gesetz der Erscheinungen in und an dem Trüben [entwikkeln].« (FA 25, 693)16 Die Spiegelversuche dienen Goethe nicht nur zu naturwissenschaftlichem Erkenntnisgewinn, sie fungieren für ihn zugleich als Gleichnisse der menschlichen Existenz. So lautet die zweite Strophe des Gedichts Entoptische Farben. An Julien:
15 16
Die Texte sind abgedruckt in: FA 25, S. 676–680 und S. 682–728. Einen Bericht Thomas Seebecks über die Geschichte der entoptischen Farben hat Goethe eigenen Texten zur Farbenlehre nach 1810 vorangestellt (siehe FA 25, S. 664–670). Zu Goethes Klassifizierung der Farben siehe FA 25, S. 683; zur Versuchsanordnung im einzelnen FA 25, S. 685f., S. 693–702, S. 705f.
108 Spiegel hüben, Spiegel drüben, Doppelstellung, auserlesen; Und dazwischen ruht im Trüben Als Crystall das Erdewesen. (FA 2, 505)17
In seiner Notiz Wiederholte Spiegelungen (FA 17, 370f.) überträgt Goethe nun das Phänomen entoptischer Spiegelungen auf die Konstruktion unterschiedlicher Verarbeitungsstadien seines Verhältnisses zu Friederike Brion: »Um über die Nachrichten von Seesenheim meine Gedanken kürzlich auszusprechen muß ich mich eines allgemein-physischen, im Besondern aber aus der Entoptik hergenommenen Symbols bedienen; es wird hier von ›wiederholten Spiegelungen‹ die Rede seyn.« (FA 17, 370) Anstoß für Goethes Ausführungen ist ein kleiner Reisebericht, den ihm August Ferdinand Naeke unter dem Titel Wallfahrt nach Sesenheim zukommen läßt – bezeichnenderweise spricht Wilhelm ebenfalls von einer »Wallfahrt« (496). Goethe wird durch diesen Bericht an seine Zeit mit Friederike Brion erinnert. Zunächst weist Nees von Esenbeck Goethe am 9. Januar 1823 auf diesen Bericht hin: Der Professor Näke hat eine Ferienreise nach Straßburg gemacht, es war uns aber schon vernehmlich geworden, daß es eigentlich eine Art von Wallfahrt war; er wollte Drusenheim und Sesenheim sehen. […] Ich habe nichts hinzuzuwünschen, als daß Euer Excellenz bei Durchlesung des Hefts neben der frischen Erinnerung an eine schöne Lebensepoche die Reinheit der Gesinnung, aus der sowohl die Reise als der Reisebericht entsprungen sind, so vor Augen schweben möge, wie sie in dem Herzen des Berichterstatters lebte.18 17
18
Zu Einzelheiten siehe Dorothea Hölscher-Lohmeyer: Zur Adressatin und zum Gedicht: Entoptische Farben, in: Genio huius loci. Dank an Leiva Petersen, hrsg. von Dorothea Kuhn und Bernhard Zeller, Wien, Köln, Graz 1982, S. 235–258; D. H.-L.: ›Entoptische Farben‹. Gedicht zwischen Biographie und Experiment, in: Etudes Germaniques 38 (1983), S. 56–72; Maria Behre: Übersetzung als Doppelspiegelung. Goethes Gedicht Entoptische Farben, in: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, hrsg. von Ulrich Stadler, Stuttgart, Weimar 1996, S. 368–381; zu Goethes naturwissenschaftlichen Spiegelexperimenten im einzelnen siehe Rupprecht Matthaei: Art.: Entoptik / Entoptische Farben, in: Goethe-Handbuch, Band 1, hrsg. von Alfred Zastrau, Stuttgart 21961, Sp. 2182–2194; auf die psychologische und intersubjektive Übertragung des experimentellen Spiegelungsverfahrens verweist Walter Brednow: Spiegel, Doppelspiegel und Spiegelungen – eine ›wunderliche Symbolik‹ Goethes, Berlin 1976, bes. S. 24–26; unter dem Gesichtspunkt des symbolischen Sprechens, das zwischen dem Geheimnis des Subjekts und dem Offenbaren des Objekts oszilliert, stellt Ralf Konersmann Goethes Spiegelmetaphorik dar. R. K.: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts, Frankfurt a. M. 1991, S. 177–235, bes. S. 220–224. Der Brief von Nees von Esenbeck ist abgedruckt in: Goethe’s Naturwissenschaftliche Correspondenz, Band 2: 1812–1832, hrsg. von Frantisek T. Bratranek, Leipzig 1874, S. 40.
109 Der Wunsch Nees von Esenbecks geht in Erfüllung. Goethe vermerkt in seinem Tagebuch an den beiden Tagen nach Erhalt des Briefes »Erinnerungen an Sessenheim [sic!]« und »Ingleichen die Erinnerung an Sesenheim.« (WA III/9, 4f.) Zwei Wochen später findet sich unter dem 24. Januar 1823 die Notiz: »Auch über physische und sittliche Spiegelung.« (WA III/9, 9) Die Aufzeichnungen, die dann mittels des Begriffs »wiederholte Spiegelungen« einen Zusammenhang zwischen den Erinnerungen an Sesenheim und den entoptischen Farbphänomenen herstellen, datieren vom 28. Januar 1823. Goethe verweist auf sie in einem Brief an Nees von Esenbeck: »Für Herrn Naeke sende nächstens ein besonderes Blatt, welches von der wunderlichen Symbolik zeugen mag, in die wir bey langem Leben und beharrlichem Arbeiten am Ende verschlungen werden.« (2. Februar 1823; WA IV/36, 300) Auf diesem Blatt listet Goethe unter gezielter Verwendung von Begriffen seiner Licht-Experimente insgesamt neun Stadien seines Friederiken-Erlebnisses auf. Durch Abspiegelung des »jugendlich selige[n] Wahnleben[s]« mit Friederike (1), entsteht im »Jüngling« ein »lieblich und freundlich hin und her« wogendes Bild (2), das nach langer Zeit (in Dichtung und Wahrheit) ausgesprochen und dadurch »abermals abgespiegelt« wird (3). Dieses literarische »Nachbild« wirkt auf einen anderen (August Ferdinand Naeke), der »davon einen tiefen Eindruck« empfängt (4) und in der Folge das Bedürfnis entwickelt, »alles was von Vergangenheit noch heranzuzaubern wäre zu verwirklichen« (5), woraufhin er sich »an Ort und Stelle« (nach Sesenheim) begibt, um sich die »Örtlichkeit wenigstens anzueignen« (6). Dort trifft er einen »weiteren theilnehmende[n] unterrichtete[n] Mann« (Friedrich Schweppenhäuser), »in welchem das Bild [Friederikes] sich gleichfalls eingedrückt hat« (7). Für beide entsteht daraus die Möglichkeit, »aus Trümmern von Daseyn und Ueberlieferung sich eine Zweyte Gegenwart zu verschaffen und ›Friedericken von Ehmals‹ in ihrer ganzen Liebenswürdigkeit zu lieben« (8). Durch Naekes Bericht kann sie »nun, ohngeachtet alles irdischen Dazwischentretens, sich auch wieder in der Seele des alten Liebhabers [Goethes] nochmals abspiegeln« (9). Goethe schließt seine Gedanken, indem er betont, »daß wiederholte sittliche Spiegelungen das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem höheren Leben empor steigern.« (FA 17, 370f.) Die strukturellen Übereinstimmungen mit den Stadien von Wilhelms Mignon-Erlebnissen sind frappant; es scheint so, als hätten die Spiegelexperimente das bestimmende Organisationsprinzip abgegeben, nach dem Goethe nicht nur seine »Gedanken« über Naekes Nachrichten von Sesen-
110 heim, sondern auch Wilhelms Erlebnisse gestaltet hat.19 Bei allen Differenzen im Hinblick auf Personenkonstellation und Vermitteltheit der Erlebnisse läßt sich ein analoger Spiegelungsvorgang konstatieren: Von tiefer Ergriffenheit Wilhelms, dem sich Mignon als ›inneres‹ Bild eingeprägt hat (1), vom Fortleben dieses Bildes in seinem Inneren (2), von der Artikulation des Bildes (in Wilhelms Formierung des Italien-Liedes) (3), vom daraus folgenden tiefen Eindruck eines anderen (des Malers) (4), in dem der Trieb entsteht, »die Vergangenheit heranzuzaubern« (5), und der sich ebenfalls »an Ort und Stelle« (an den Lago Maggiore) begibt (6), wo er im Unterschied zum Aufsatz nicht mit einem dritten »unterrichteten Mann« zusammentrifft, sondern mit demjenigen, in welchem sich das Bild ursprünglich eingedrückt hatte (Wilhelm) (7), sowie von der »Zweyte[n] Gegenwart« »aus Trümmern von Daseyn und Überlieferung« der ›Mignon von ehemals‹ (8) und von einer erneuten Abspiegelung des alten Bildes in Wilhelms Seele (9) – von all dem ist auch im Hinblick auf die Phasen der Lago Maggiore-Episode zu sprechen, in denen Wilhelm sein Mignon-Erlebnis verarbeitet. Während Goethe am Leitfaden der »entoptischen« Erscheinungen einen biographisch verankerten Bewältigungsprozeß inszeniert,20 gestaltet er im Roman einen narrativ organisierten Geschehenszusammenhang. Doch anders als im autobiographischen Kontext fungiert der Gang »wiederholter Spiegelungen« im fiktionalen Text nicht als Medium der ›Steigerung‹, sondern markiert den Verlust, den die Überwindung der durch Mignon repräsentierten Sehnsucht verursacht. Zugleich verdeutlicht der Roman, wie der Wunsch nach einer den Nützlichkeitspostulaten entzogenen Existenz im Akt ästhetisierender Anstrengung überwunden werden kann, und daß, wenn dies nicht gelingt, nur noch die psycho-physische Abwehr verbleibt. Mit ihr reagieren die Protagonisten auf das ganz am Ende der Lago Maggiore-Episode gestaltete Stadium »wiederholter Spiegelun19
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Goethe hat den Aufsatz Wiederholte Spiegelungen 1823 verfaßt, zwei Jahre nach dem Erscheinen der ersten Fassung der Wanderjahre, die die Lago Maggiore-Episode schon enthalten, allerdings ohne formale Einordnung in die Entsagungsthematik. Goethe hat wiederholt darauf hingewiesen, daß seine Dichtung ihm zur Bewältigung psychischer Krisen diente. Bekannt ist seine Äußerung im 13. Buch von Dichtung und Wahrheit über die therapeutische Funktion des Werther (siehe FA 14, S. 639); allgemein schreibt Goethe, daß es ihm bei der literarischen Gestaltung darum gehe, »dasjenige was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen.« (FA 14, S. 309)
111 gen«, das die in Mignons Italien-Lied aufgehobenen Gefühle schmerzlich revoziert. Der Faszination ihrer »Zweyten Gegenwart« können sich die vier Protagonisten voll inneren Aufruhrs nur mit entschiedenen Fluchtbewegungen erwehren – um einen hohen Preis: »Nun war das Paradies wie durch einen Zauberschlag für die Freunde zur völligen Wüste gewandelt« (511): ›Entzauberung‹ der Welt als Konsequenz des von den Repräsentanten des Entsagungsbundes proklamierten Nützlichkeitsideals. Die mit Mignon aufgerufene Verheißung eines erfüllten Daseins hat in den Akten »wiederholter Spiegelungen« ihre lockende Kraft endgültig verloren. In den Handwerkerbünden und der ihnen zuarbeitenden Pädagogischen Provinz lebt man anders – nicht mehr voller Sehnsucht, sondern voller Tatendrang. In Hegels Terminologie könnte man von einem Sieg der »Prosa der Verhältnisse« über die »Poesie des Herzens« sprechen.21 Doch die Lago Maggiore-Episode der Wanderjahre verdeutlicht noch mehr: Die Kunst bewahrt im Zeitalter der Nützlichkeit die Sehnsüchte des Menschen nach zweckfreier ästhetischer Existenz auf und bewältigt sie zugleich. Dies verdeutlicht sie auf höchst kunstvolle Weise, indem sie im Wechselspiel von Form und Inhalt zeigt, wie die Kunst in Akten »wiederholter Spiegelungen« Unmittelbarkeit durch Formung tilgt. Inhaltlich vollzieht sich diese Formung als ästhetische Bewältigung des Mignon-Faszinosums, kompositorisch als Einrahmung, gestaltet durch die vier spiegelsymmetrischen Briefe, die die Sphäre der ästhetischen Existenz gegen die Welt der Brauchbarkeit abgrenzen. So wird nicht nur auf der Ebene des Dargestellten, sondern auch auf der Ebene der Darstellung die Kunst zum Absorptionsmedium dysfunktionaler Affekte. Dabei wird die Grenze strikt gezogen; der Abschied aus dem »Paradies« ist endgültig. Die romantische Hoffnung auf seine Erneuerung ist einer elegischen Wehmut gewichen, die nur durch Tätigkeit überwunden werden kann. Das der Idee vom goldenen Zeitalter zugrundeliegende triadische 21
Hegel bestimmt in seiner Ästhetik den »Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse« als den Grundkonflikt des modernen Romans, als dessen Paradigma er Goethes Lehrjahre ansieht. Dieser Konflikt werde dadurch gelöst, daß »die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebenden Charaktere […] mit ihren Verhältnissen sich aussöhnen«, dabei aber zugleich – in diametralem Gegensatz zu den illusionslosen Diagnosen der Wanderjahre – »von dem, was sie wirken und vollbringen, die prosaische Gestalt abstreifen und dadurch eine der Schönheit und Kunst verwandte und befreundete Wirklichkeit an die Stelle der vorgefundenen Prosa setzen.« G. W. F. H.: Vorlesungen über die Ästhetik, in: Werke in 20 Bänden, Band 15, Frankfurt a. M. 1970, S. 393.
112 Geschichtsbild einer ursprünglichen Einheit, der darauffolgenden Entzweiung und der Wiedergewinnung dieser Einheit im Modus der Poetisierung der Welt (Novalis) weicht der Einsicht in den unumkehrbaren Modernisierungsprozeß, durch den Vergangenheit und Zukunft den prognostischen Zusammenhang ihrer figuralen Zuordnung verlieren – gemäß den Geboten, die den Entsagenden auferlegt sind: »Nun aber gehörte zu den sonderbaren Verpflichtungen der Entsagenden auch die: daß sie, zusammentreffend, weder vom Vergangenen noch Künftigen sprechen durften, nur das Gegenwärtige sollte sie beschäftigen.« (296) Die Sehnsucht, die in nostalgischer Verklärung Bilder des Paradieses aufsteigen läßt, weicht zweckhaftem Handeln, das überall Verbesserungsbedürftiges sieht. Gefragt ist der Handwerker; dem Künstler obliegt nur eine untergeordnete Aufgabe – dies die nüchterne Diagnose einer Moderne, die an die Stelle der frühromantischen Utopie einer Einheit von Kunst und Leben die Planung von Urbanisierungsunternehmen setzt: den Auswandererbund und die Binnenkolonisatoren.
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V. Vom schönen Körper zum nützlichen Muskelpräparat: Wilhelm Meisters Weg zum Beruf des Wundarztes
1. Wilhelm Meisters Pubertätstrauma als Motivation seiner Berufswahl Die Lago Maggiore-Episode bildet die entscheidende Zäsur in Wilhelms Lebensgang, sofern ihr ›kathartisches‹ Geschehen ihn dazu befähigt, seiner Sehnsucht nach einem Dasein jenseits gesellschaftlicher Normierungen endgültig zu entsagen. Damit schafft sie die psychische Voraussetzung für seine Ausbildung zum Wundarzt. Allerdings wird Wilhelms Berufswahl schon früher thematisiert. In unterschiedlichen Episoden1 schildert der Roman Stationen auf seinem Weg zum Wundarztberuf. So findet bereits kurz nach Beginn des Romans ein Gespräch zwischen Wilhelm und Jarno/Montan statt, in dem sich dieser entschieden gegen die allseitige Bildung wendet, statt dessen für eine ›einseitige‹ Ausbildung plädiert und Wilhelm schließlich davon überzeugen kann, daß es nötig sei, einen nützlichen Beruf zu ergreifen. Anknüpfungspunkt für Jarno/Montans Überzeugungsstrategie ist der Umstand, daß Wilhelm […] etwas aus dem Busen [herauszog], das halb wie eine Brieftasche, halb wie ein Besteck aussah, und von Montan als ein altbekanntes angesprochen wurde. Unser Freund leugnete nicht, daß er es als eine Art von Fetisch bei sich trage, in dem Aberglauben, sein Schicksal hange gewissermaßen von dessen Besitz ab. (299)
Der Leser erwartet nähere Informationen, doch der Redaktor vertröstet ihn auf später: Was es aber gewesen, dürfen wir an dieser Stelle dem Leser noch nicht vertrauen, so viel aber müssen wir sagen, daß hieran sich ein Gespräch anknüpfte, dessen Resultate sich endlich dahin ergaben, daß Wilhelm bekannte: wie er schon längst geneigt sei einem gewissen besondern Geschäft, einer ganz eigentlich nützlichen Kunst sich zu widmen. (299)
1
Siehe FA 10, S. 295–299; S. 496; S. 514f.; dann vor allem S. 553–556; S. 600–612 und S. 744f.
114 Die Äußerung des Redaktors wirft mehrere Fragen auf: Warum darf er dem Leser nicht sagen, was es mit dieser »Art von Fetisch«2 auf sich hat? Woher weiß er vom Gesprächsinhalt, »dessen Resultate« er nur lapidar anspricht? Und wieso ist Wilhelm »schon längst geneigt«, sich einer »nützlichen Kunst« zu widmen, wo doch weder die Lehrjahre noch der Beginn der Wanderjahre irgendwelche Hinweise darauf enthalten? Der Leser wird auf eine lange Geduldprobe gestellt; erst über 250 Seiten später (553–556) erfährt er genaueres über den Inhalt des Gesprächs, und zwar in einem Brief Wilhelms an Natalie. Dieser Brief – so die Fiktion – muß ins Archiv gekommen sein und dem Redaktor als Informationsquelle zur Verfügung stehen; nur so läßt sich sein Wissen erklären. Doch weshalb das Wundarztbesteck für Wilhelm eine so große Bedeutung besitzt, wird erst deutlich, wenn man auf die Lehrjahre zurückblickt. Nach dem Überfall, bei dem Wilhelm verwundet wurde, versorgte ihn dort »ein Mann von untersetzter Gestalt«, den man »an dem Kästchen, das er in der Hand hatte, und an der ledernen Tasche mit Instrumenten […] bald für einen Wundarzt [erkannte].« (FA 9, 589) Zugleich erschien ihm dabei Natalie in projektiver Überformung durch seine einstige Tasso-Lektüre als »schöne Amazone«, die ihn samaritergleich mit ihrem Mantel bedeckte und dann wieder verschwand. Nachdem Wilhelm in den Lehrjahren noch zweimal durch das »Band, das von der Tasche herunter hing« (FA 9, 805 u. 926), lebhaft an seine damalige Situation und die Begegnung mit Natalie erinnert wurde, kaufte er dem Sohn des Arztes die Tasche mit dem Chirurgenbesteck ab und führte es, wie er Natalie dann in den Wanderjahren berichtet, »immer mit mir, freilich zu keinem Gebrauch, aber desto sicherer zu tröstlicher Erinnerung: Es war Zeuge des Augenblicks wo mein Glück begann, zu dem ich erst durch großen Umweg gelangen sollte.« (554) Wilhelm spielt mit dem Hinweis auf den »großen Umweg« auf die verworrenen Beziehungssituationen am Ende der Lehrjahre an. Nachdem er dort nach langem Zögern Felix als seinen Sohn anerkannt hatte, war er überzeugt, in der biederen, ordentlichen und arbeitsamen Therese eine geeignete Ehefrau gefunden zu haben. Nach einigem Hin und Her stellte sich indes heraus, daß Lothario, der einst von der Eheschließung mit ihr zurückgetreten war, sie nun doch wieder heiraten wollte. Wilhelm wurde durch diese Heiratskonfusion sehr verunsichert und geriet vollends aus 2
Über Goethes Verwendung von Fetisch und Idol siehe Hartmut Böhme: Fetisch und Idol. Die Temporalität von Erinnerungsformen in Goethes Wilhelm Meister, Faust und Der Sammler und die Seinigen, in: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hrsg. von Peter Matussek, München 1998, S. 178–201, bes. S. 179–183.
115 dem seelischen Gleichgewicht, als er dann noch Natalie traf, die ihm seit dem Überfall als Sehnsuchtsfigur vor dem inneren Auge gestanden hatte. Erst durch Friedrichs Vermittlung wurde er mit ihr verbunden, fand dabei aber nur vermeintlich sein »Glück«. Denn zur Heirat kam es am Ende der Lehrjahre nicht; in den Wanderjahren muß er sich mit dem Chirurgenbesteck als Liebeszeichen und Vergewisserungsemblem einer zukünftigen Verbindung begnügen. Jarno/Montan nimmt es ihm jedoch, zwar nicht faktisch, aber symbolisch, indem er es zum Appell der Nützlichkeit umcodiert: Ich habe nichts dagegen, daß man sich einen solchen Fetisch aufstellt, zur Erinnerung an manches unerwartete Gute, an bedeutende Folgen eines gleichgültigen Umstandes, es hebt uns empor als etwas das auf ein Unbegreifliches deutet, erquickt uns in Verlegenheiten und ermutigt unsere Hoffnungen; aber schöner wäre es, wenn du dich durch jene Werkzeuge hättest anreizen lassen, auch ihren Gebrauch zu verstehen und dasjenige zu leisten was sie stumm von dir fordern. (554)
Wilhelms emotionale Bindung an das von ihm zum »Fetisch« erhobene Wundarztbesteck transformiert Jarno/Montan zur sozialen Verpflichtung. Was zählt, ist nicht die subjektive Befindlichkeit, sondern die gesellschaftliche Pflicht. In den Lehrjahren hatte Wilhelm noch entschieden gegen diese Wertorientierung opponiert, die den Menschen durch seine Aufgaben und nicht durch seine Ansprüche bestimmt, da in einem solchen »Wesen keine Harmonie sei, noch sein dürfe, weil er [der Mensch], um sich auf Eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß.« (FA 9, 659) In den Wanderjahren hingegen wird das einst von ihm Verurteilte zur unabweislichen Forderung einer Zeit, die den Einzelnen als funktionales Glied des gesellschaftlichen Ganzen definiert. Unter dem Druck dieser allenthalben von den Vertretern des Auswandererbundes proklamierten Nützlichkeitsdoktrin (siehe 556, 632, 667) erinnert sich Wilhelm an ein vergessenes Kindheitserlebnis, das seinen schon früh geweckten, doch durch den Theaterenthusiasmus verdrängten Berufswunsch, Wundarzt zu werden, motivierte.3 Was der Redaktor bei 3
Zur Verknüpfung der Lehr- und Wanderjahre unter dem Aspekt des Berufswunsches »Wundarzt« siehe Walter Müller-Seidel: Dichtung und Medizin in Goethes Denken. Über Wilhelm Meister und seine Ausbildung zum Wundarzt, in: Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Otto Pöggeler, hrsg. von Hans-Jürgen Gawoll und Christoph Jamme, München 1994, S. 107–137; W. M.-S. deutet Wilhelms Wahl des Wundarztberufes dabei jedoch in kaum nachvollziehbarer Weise als »Steigerung [des Dichterischen] bis hinauf zur höchsten Form.« (S. 125f.)
116 der Wiedergabe des Gesprächs zwischen Jarno/Montan und Wilhelm nur vage mit den Worten andeutete, »daß Wilhelm bekannte: wie er schon längst geneigt sei einem gewissen besondern Geschäft, einer ganz eigentlich nützlichen Kunst sich zu widmen« (299), wird in Wilhelms viertem Brief an Natalie konkretisiert. In ihm schildert er einen lange verdrängten Unglücksfall, bei dem fünf Knaben ertrunken waren, die man durch richtige ärztliche Behandlung hätte retten können. Danach habe er den – in den Lehrjahren allerdings an keiner Stelle erwähnten – Entschluß gefaßt, Arzt zu werden: »In meinem jugendlichen Eifer nahm ich mir daher im Stillen vor, ich wollte keine Gelegenheit versäumen, alles zu lernen was in solchem Falle nötig wäre, besonders das Aderlassen und was dergleichen Dinge mehr waren.« (552)4 Daß ein Jüngling angesichts eines solchen Unglücksfalles den Wunsch hegt, medizinische Kenntnisse zu erwerben, um in ähnlichen Fällen künftig helfen zu können, sodann jedoch in den Wirrnissen der ersten Mannesjahre diese Absicht vergißt, um sie erst nach allerlei Ablenkungen und Desorientierungen erneut zu fassen, ist an sich unspektakulär. Erstaunlich ist allerdings, wie Wilhelm im letzten Brief, den er in den Wanderjahren an Natalie schreibt, seine Berufswahl legitimiert. Er erzählt eine Geschichte, und er erzählt sie erst, nachdem er eine tiefsitzende innere Hemmung überwunden hat. Mehrere Anläufe muß er unternehmen, um Natalie die Motive seiner Berufswahl zu verdeutlichen. »Schon Tage geh’ ich umher und kann die Feder anzusetzen mich nicht entschließen« (540) – so beginnt er seinen Brief,5 um daraufhin mehrere handlungslogische Muster durchzuspielen, die kausale oder genealogische Zwangsläufigkeiten bei der Berufswahl postulieren. Doch dann gesteht er, daß es dies »auch nicht ist was ich sagen wollte.« (542) Was aber will Wilhelm sagen, und warum kann er es nicht ohne weiteres sagen?6 Arthur Henkels Erklärung, die 4
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Daß Wilhelm mit dem Aderlaß eine schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts überholte Therapie anspricht, ist hier unerheblich. Es geht Goethe ja lediglich darum, Wilhelms Motiv zur lange verdrängten Berufswahl auf ein traumatisches Kindheitserlebnis zurückzuführen; siehe hierzu Henriette Herwig: Heilkundiges in Goethes Wilhelm Meister, in: Literatur und Medizin, hrsg. von Peter Stulz, Frank Nager und Peter Schulz, Zürich 2005, S. 13–22, bes. S. 13. Christian Mittermüller verweist in diesem Zusammenhang auf die kommunikative Distanz, »die Wilhelms Kontakt zur Geliebten auf das Medium der Schrift beschränkt und damit jede Form von erotischer Körperlichkeit ausschließt.« Ch. M.: Sprachskepsis und Poetologie, S. 196. Manfred Karnick beurteilt den Briefeingang als poetologische Reflexion auf den »merkwürdigen Zwiespalt zwischen Mitteilungsbedürfnis und Mitteilungs-
117 schlechte Reputation der Wundärzte lasse Wilhelm zögern, seinen Berufswunsch zu offenbaren,7 trifft nicht zu. Denn anders als Henkel meint, war das Ansehen des Wundarztes seit der Wende zum neunzehnten Jahrhundert schon beträchtlich gestiegen, insbesondere seitdem durch eine Modifikation der Prüfungs- und Zulassungsbedingungen die Differenz zwischen akademischen Ärzten mit geringen therapeutischen Fähigkeiten und praktischen Wundärzten ohne rechte wissenschaftliche Ausbildung zunehmend schwand.8 Auch die Vermutung, Wilhelms Berufswahl widerspreche den Plänen des »Vereins« oder zumindest den Wünschen seiner abwesenden Braut, geht fehl. Ganz im Gegenteil: Wilhelm folgt mit seiner Absicht, Arzt zu werden, geradezu der Nützlichkeitsdoktrin des Auswandererbundes, außerdem entspricht er damit auch dem karitativen Ethos Natalies. Von daher ist zu vermuten, daß das, was Wilhelm ihr mitteilen will, mehr enthält als lediglich die philanthropischen Gründe seiner Berufswahl. Andernfalls wäre die starke emotionale Blockade, die er nur unter großer Anstrengung zu überwinden vermag, nicht zu erklären. Zunächst fällt auf, daß Wilhelm im Brief an Natalie nur einen Knaben ins Zentrum seiner Erzählung rückt und ihn allein mit Namen nennt, obwohl insgesamt fünf Kinder bei jenem Unfall umgekommen sind. Deutlich wird, daß die Erinnerung an den Fischerknaben Adolph von besonderer Bedeutung für Wilhelm ist. Er berichtet Natalie, wie er während eines Pfingstausfluges mit seinen Eltern den etwas älteren Jüngling ken-
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hemmung, der auch beim späten Goethe selbst und auch in seiner Herausgeberrolle in den Wanderjahren so oft und so charakteristisch hervortritt.« M. K.: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Kunst des Mittelbaren, S. 158. Siehe Arthur Henkel: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman, Tübingen 21964, S. 39. Allgemein siehe hierzu Claudia Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußens, Göttingen 1985, S. 45–50. Zum Verhältnis Goethes zur zeitgenössischen Medizin siehe Andreas B. Wachsmuth: Goethe und die Medizin, in: A. B. W.: Geeinte Zwienatur. Aufsätze zu Goethes naturwissenschaftlichem Denken, Berlin, Weimar 1966, S. 290–298, bes. S. 295; Frank Nager: Der heilkundige Dichter. Goethe und die Medizin, Zürich, München 31992; Manfred Wenzel: Goethe und die Medizin. Selbstzeugnisse und Dokumente, Frankfurt a. M., Leipzig 1992; Walter Müller-Seidel: Dichtung und Medizin in Goethes Denken, S. 127f.; Henriette Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 224f. Goethe selbst unterhielt freundschaftlichen Umgang mit mehreren Wundärzten. So war er mit Nicolaus Meyer befreundet, der 1800 seine Ausbildung als Wundarzt und Geburtshelfer beendete und mit einer Arbeit über vergleichende Anatomie promovierte; siehe hierzu: Goethes Bremer Freund Dr. Nicolaus Meyer. Briefwechsel mit Goethe und dem Weimarer Kreise, hrsg. von Hans Kasten, Bremen 1926.
118 nengelernt und mit ihm in einem nahegelegenen Fluß gebadet hat. Noch im Abstand vieler Jahre schimmert Wilhelms affektive Ergriffenheit von jener Situation durch. Als der Fischersohn sich nackt auszog und ins Wasser ging, wurde ihm, wie er berichtet, ganz wunderlich zu Mute […]. Grashupfer tanzten um mich her, Ameisen krabbelten heran, bunte Käfer hingen an den Zweigen und goldschimmernde Sonnenjungfern, wie er sie genannt hatte, schwebten und schwankten geisterartig zu meinen Füßen, eben als jener einen großen Krebs zwischen Wurzeln hervorholend ihn lustig aufzeigte, um ihn gleich wieder an den alten Ort zu bevorstehendem Fange geschickt zu verbergen. Es war umher so warm und so feucht, man [meine Herv.] sehnte sich aus der Sonne in den Schatten, aus der Schattenkühle hinab in’s kühlere Wasser. Da war es denn ihm leicht mich hinunter zu locken, eine nicht oft wiederholte Einladung fand ich unwiderstehlich und war, mit einiger Furcht vor den Eltern, wozu sich die Scheu vor dem unbekannten Elemente gesellte, in ganz wunderlicher Bewegung. (544f.)
Zwar anonymisiert sich Wilhelm zum »man«, tut so, als sei es ihm damals nur darum gegangen, seinen erhitzten Körper abzukühlen; doch es war seine innere Erregung, die ihn in jenem Augenblick die äußere Natur gleichsam magisch belebt erfahren und zugleich nach erotischer Erfüllung verlangen ließ. Er meint mehr als er sagt, wenn er von seiner »Scheu vor dem unbekannten Elemente« (545) spricht, das nicht nur das Wasser, sondern zugleich auch das ›unbekannte Element‹ der erwachenden Sexualität bezeichnet. Wilhelms Schilderung, die eine emotionale Atmosphäre evoziert, in der Licht und Schatten, feuchte Schwüle und kühles Wasser ein betörendes Fluidum formen, steigert sich zur Darstellung erotischer Glückserfüllung: Als sich der Fischerknabe aus dem Wasser heraushob, sich aufrichtete im höheren Sonnenschein sich abzutrocknen, glaubt’ ich meine Augen von einer dreifachen Sonne geblendet, so schön war die menschliche Gestalt von der ich nie einen Begriff gehabt. Er schien mich mit gleicher Aufmerksamkeit zu betrachten. Schnell angekleidet standen wir uns noch immer unverhüllt gegeneinander, unsere Gemüter zogen sich an und unter den feurigsten Küssen schwuren wir eine ewige Freundschaft. (545)
Das erfrischende Wasser, die belebte Natur und die erotisierte Stimmung – all dies faszinierte Wilhelm in jener aufgeladenen Situation über die Maßen, ließ ihn die Schönheit der menschlichen Gestalt als Epiphanie wahrnehmen, die im Glanz »einer dreifachen Sonne« die Grenzen seiner bisherigen Empfindungswelt sprengt. Zwar schwören sich die Jünglinge »ewige Freundschaft« und nicht Liebe, aber die sexuelle Lust durchbricht die Schranken homoerotischer Tabus und kulminiert in »feurigsten Küssen« – bezeichnenderweise jedoch erst, nachdem die äußere Sicherung der Kleider den »unverhüllten« Körper vor das innere Auge verschiebt.
119 Auf der konzeptionellen Ebene des Romans – jenseits von Wilhelms Bewußtsein – spielt Goethe hiermit auf das fundamentale Paradigma der klassizistischen Ästhetik an. Denn wenn von einer »dreifachen Sonne« gesprochen wird, so ist damit neben dem realen Himmelskörper und der ›zweiten Sonne‹ des schönen Körpers schließlich auch die in diesem sich manifestierende Idee des Schönen als ›dritte Sonne‹ gemeint.9 Damit bezieht sich Goethe auf den von ihm adaptierten ästhetischen Platonismus Winckelmanns, wie dieser ihn in seinen Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke formuliert hat. Dort heißt es an zentraler Stelle: Diese häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der Natur [des schönen menschlichen Körpers] veranlasseten die Griechischen Künstler noch weiter zu gehen: sie fiengen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten […] zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben solten; ihr Urbild war eine blos im Verstande entworfene geistige Natur.10
Diese »geistige Natur« als idealische Schönheit des menschlichen Körpers nimmt offenkundig auch der junge Wilhelm wahr, indem er den nackten Körper des Fischerknaben Adolph »im höheren Sonnenschein« erblickt. So erscheint ihm gleichsam das Göttliche in Menschengestalt – gemäß Winckelmanns Diktum: »Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur; die Idealische Schönheit die erhabenen Züge: von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche.«11 Die für Wilhelms ästhetisch-platonisches Erlebnis konstitutive Homoerotik stellt dabei ebenfalls eine Reminiszenz an Winckelmann dar. Der Anblick des idealisch schönen Körpers und das homoerotische Begehren bilden bei Wilhelm eine Einheit, wie sie Goethe entsprechend auch in seiner Programmschrift Winckelmann und sein Jahrhundert hervorhebt. Ausgehend von dem hohen Stellenwert, den »die Freundschaft unter Personen männlichen Geschlechtes« unter den »Alten« hatte (FA 19, 182), schreibt Goethe Winckelmann einen antiken Charakter zu, da dieser »oft in Verhältnis mit schönen Jünglingen« (FA 19, 184) stand: »Zu einer Freundschaft dieser Art fühlte W[inckelmann] sich geboren, derselben nicht allein fähig, sondern auch im höchsten Grade bedürftig.« (FA 19, 182) Goethe betont hier, wie wichtig für diese ›Freundschaft‹ »die Forderung des sinnlich Schönen 9
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Siehe auch Goethes Brief an Carl August vom 25. Januar 1788, in dem ebenfalls die »Menschengestalt« mit dem »Glanz der Sonne« assoziiert wird. (WA IV/8, S. 329) Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, in: J. J. W.: Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe, hrsg. von Walther Rehm, Berlin 1968, S. 27–59, hier S. 34. Ebd., S. 35.
120 und das sinnliche Schöne selbst [sei]: denn das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch.« (FA 19, 183) Ähnlich wie in Wilhelms Jugenderinnerung, die dergestalt auf Goethes Winckelmann-Rezeption verweist, werden Ästhetisches und Erotisches auch in der 1796 verfaßten Vorgeschichte Werthers, die den Titel Briefe aus der Schweiz. Erste Abteilung (FA 8, 594–609) trägt, miteinander verknüpft: Ich [Werther] veranlaßte Ferdinanden zu baden im See; wie herrlich ist mein junger Freund gebildet! welch ein Ebenmaß aller Teile! welch eine Fülle der Form, welch ein Glanz der Jugend, welch ein Gewinn für mich, meine Einbildungskraft mit diesem vollkommenen Muster der menschlichen Natur bereichert zu haben! (FA 8, 605)
Doch Werther wahrt in den Briefen aus der Schweiz gerade noch die Distanz;12 die erotisch-ästhetische Faszination kulminiert bei ihm und Ferdinand nicht – wie beim jungen Wilhelm und dem Fischerknaben Adolph – in »feurigsten Küssen«. In Wilhelm Meisters Jugenderinnerung läßt Goethe dann zur ›kritischen Masse‹ zusammenschießen, was Werther, wenn auch mit Mühe, getrennt hält. Zwar spricht Wilhelm in seinem Brief an Natalie von »Freundschaft«; doch handelt es sich unzweifelhaft um erotisches Begehren, wie sein Verhalten dem Fischerknaben gegenüber erhellt, das jede verbale Camouflage durchbricht, hinter der Wilhelm die Homoerotik zu verbergen sucht.13 Der Fortgang des Briefes verdeutlicht dies unmißverständlich. Wilhelms Schrift gehorcht zwar auf der Ausdrucksebene den gesellschaftlichen Beziehungsregeln, die Inhaltsebene aber ratifiziert sie nicht. So nennt er – wie es sich gehört – »Liebe«, was er nach dem Bad mit den Fischerknaben mit einem »schön[en], blond[en], sanftmütig[en]« (546) jungen Mädchen erlebt hat. Mit ihr spazierte er bedürfnislos durch einen gepflegten Garten; er faßte sie an der Hand und bewunderte das ausgeklügelte Blumenarrangement. In dieser brieflichen Schilderung rich12
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Zu Einzelheiten siehe Günter Saße: Woran leidet Werther? Zum Zwiespalt zwischen idealistischer Schwärmerei und sinnlichem Begehren, in: GJb 116 (1999), S. 245–258, bes. S. 247–249. Aus psychoanalytischer Sicht beleuchtet Kurt R. Eissler die homoerotische Situation, die er allerdings allzu kurzschlüssig mit Goethe selbst verbindet. K. R. E.: Goethe. Eine psychoanalytische Studie. 1775–1786, Band 2, hrsg. von Rüdiger Scholz, Basel, Frankfurt a. M. 21986, S. 1594: »Das Zögern, mit dem Goethe Wilhelm in seinem Brief vorankommen läßt, das auffällige Räuspern und Stottern, bevor die Episode zu erzählen begonnen wird, das alles stammt meiner Ansicht nach aus Goethes eigener Hemmung, über etwas zu berichten, was ein wirkliches Erlebnis gewesen sein muß, das mehr oder weniger Wilhelms Geschichte zugrunde lag.«
121 tet Wilhelm alles nach festen Ordnungen ein: Die Abfolge der Gewächse folgt dem Ablauf der Jahreszeiten, und der Rose ist die Lilie, dem erotischen Topos14 derjenige der geschlechtlichen Reinheit15, beigesellt: »[…] näher aber knospete schon die Hoffnung vielblumiger Lilienstengel gar weislich zwischen Rosen verteilt.« (546) Doch ist die Darstellung einer domestizierten Natur nur dem Versuch des Briefschreibers geschuldet, seine einstige homoerotische Gefühlsaufwallung durch die Suggestion wohltemperierter Empfindungen zu überspielen. Allerdings hält Wilhelm dies nicht durch und offenbart, wie er kurz nach seiner Begegnung mit dem Mädchen in »unmäßige[r] Forderung vertraulicher Zuneigung« (547) auf Adolphs Wiederkehr wartete.16 Nach langem Harren, während dessen er »zum erstenmal einen leidenschaftlichen Schmerz, doppelt und vielfach« (547) empfand, mußte er zu seinem Entsetzen erfahren, daß der Fischerknabe zusammen mit vier anderen Kindern zwischenzeitlich ertrunken war. Als Wilhelm dann vor dem aufgebahrten Leichnam stand, erschütterte ihn die enge Verquickung von Eros und Thanatos zutiefst. Plötzlich trat an die Stelle der Faszination durch den nackten warmen Körper das Entsetzen angesichts der nackten kalten Leiche. Wilhelm versuchte, sie wieder zum Leben zu erwecken: Ich hatte etwas von Reiben gehört das in solchem Falle hülfreich sein sollte, ich rieb meine Tränen ein und belog mich mit der Wärme, die ich erregte. In der Verwirrung dacht’ ich ihm Atem einzublasen, aber die Perlenreihen seiner Zähne waren fest verschlossen, die Lippen auf denen der Abschiedskuß noch zu ruhen schien, versagten auch das leiseste Zeichen der Erwiderung. An menschlicher Hülfe verzweifelnd wandt’ ich mich zum Gebet, ich flehte, ich betete, es war mir als wenn ich in diesem Augenblicke Wunder tun müßte, die noch inwohnende Seele hervorzurufen, die noch in der Nähe schwebende wieder hineinzulocken. (549)
Wilhelm hat diese schmerzvolle Erfahrung über viele Jahre verdrängt. Der abrupte Wechsel vom homoerotischen Begehren des ›idealisch schönen‹ Körpers zur qualvollen Erschütterung durch den Anblick des starren Leichnams blockierte seine Mitteilung so sehr, daß er erst unter dem Druck, seinen Berufswunsch zu legitimieren, das Erlebnis mühsam schil14 15 16
Goethe ruft ihn in seinem Heidenröslein auf und schließt sich damit an eine Tradition an, die von Ovid über Petrarca bis hin zum Volkslied reicht. Die Lilie als »Zeuge eines reinen Verhältnisses« (283) wird bereits im Eingangskapitel des Romans im Abschnitt Der Lilienstengel thematisiert. Siehe hingegen Hans Rudolf Vaget, der die Lilie als Zeichen der Überwindung des Eros deutet. H. R. V.: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 156.
122 dern kann.17 Noch die Art, wie er danach in seinem Brief fortfährt, verdeutlicht sein Bemühen, das traumatische Erlebnis ins Beiläufige zu ziehen. Wilhelm schwenkt ins Anekdotische, berichtet in forcierter Ausführlichkeit von dem Gebaren einer skurrilen Tante, von ihrem Geiz und ihren Intrigen – deutliche Hinweise darauf, daß er selbst Jahre später unfähig ist, sich die psychischen Folgen dieses Ereignisses bewußt zu machen. Doch zog er schon damals die lebensgeschichtliche Konsequenz: Als der junge Wilhelm hörte, die Ertrunkenen hätten durch Aderlaß gerettet werden können, nahm er sich vor, die entsprechenden Kenntnisse zu erwerben – eine Absicht, die allerdings für lange Zeit von seiner »theatralischen Sendung« überdeckt blieb, bis Jarno/Montan sie in den Wanderjahren endlich aus der Latenz in einen festen Entschluß überführt. Indem Wilhelm im Brief an Natalie sein Jugenderlebnis zum entscheidenden Motiv für seine Berufswahl erhebt, sublimiert er sein einstiges homoerotisches Begehren zur ethischen Gesinnung. Am Ende ist er stolz auf seine medizinischen Kenntnisse, auch darauf, Natalies jetzt wert zu sein: »Genug! bei dem großen Unternehmen, dem ihr entgegen geht, werd’ ich als ein nützliches als ein nötiges Glied der Gesellschaft erscheinen und euren Wegen, mit einer gewissen Sicherheit, mich anschließen; mit einigem Stolze, denn es ist ein löblicher Stolz euer wert zu sein.« (556) Ein »nützliches« und »nötiges Glied der Gesellschaft« wird Wilhelm nun gerade deshalb, weil er sich nicht zu einem ›philosophischen Arzt‹ ausbilden läßt,18 sondern zum Wundarzt, so wie es Jarno/Montan mit Nachdruck von ihm verlangte: Es sei nichts mehr der Mühe wert […] zu lernen und zu leisten, als dem Gesunden zu helfen, wenn er durch irgend einen Zufall verletzt sei; durch einsichtige 17
18
Auf das durch die Verschränkung von Homoerotik und Tod ausgelöste Pubertätstrauma und seine Folgen verweist Yahya A. Elsaghe: Wilhelm Meisters letzter Brief. Homosexualität und Nekrophilie bei Goethe. Mit einem Auszug aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Forum Homosexualität und Literatur 24 (1995), S. 5–36; siehe hierzu auch Henriette Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 230–243. Goethe kannte die zeitgenössische Diätetik der akademischen Ärzte und Anthropologen des 18. Jahrhunderts genau; siehe hierzu Irmgard Egger: Diätetik und Askese. Zur Dialektik der Aufklärung in Goethes Romanen, München 2001, bes. S. 112–116; zum psychomedizinischen Kreis der Halleschen Ärzte, die im 18. Jahrhundert Philosophie und Arzneikunst unter dem Vorzeichen des »ganzen Menschen« zu verbinden suchten, siehe den Sammelband: »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, hrsg. von Carsten Zelle, Tübingen 2001.
123 Behandlung stelle sich die Natur leicht wieder her, die Kranken müsse man den Ärzten überlassen, niemand aber bedürfe eines Wundarztes mehr als der Gesunde. (555)
Daß Jarno/Montan Wilhelms Entscheidung, Wundarzt für die Gesunden zu werden, so sehr lobt, indem er eine Differenz zu den übrigen Ärzten, die für die Kranken zuständig seien, herstellt, mutet zunächst merkwürdig an. Vor dem Hintergrund der in den Wanderjahren vielfach proklamierten Nützlichkeitsdoktrin ist es jedoch plausibel, daß der Wundarzt den »Ärzten« übergeordnet wird. Denn er soll sich um diejenigen kümmern, die einen Unfall hatten und durch geschickte Behandlung wieder zu heilen sind, so daß sie weiterhin ihre gesellschaftlichen Aufgaben erfüllen können.19 Die akademischen Ärzte hingegen seien für die Kranken zuständig, die keine Aussicht auf Wiederherstellung ihrer Gesundheit haben und so nicht mehr als nützliche Mitglieder der Gesellschaft fungieren können. Entsprechend äußert sich der »gute, alte, kleine Arzt« (FA 9, 812) der Lehrjahre, der sich der Seelentherapie verpflichtet fühlt, resignativ im Hinblick auf Mignons Siechtum: »Wo wir nicht helfen können, sind wir doch schuldig zu lindern.« (FA 9, 905) Hierauf aber kommt es in den Handwerkerbünden, in denen es nur um die Wiederherstellung der Arbeitskraft geht, nicht mehr an. Doch erschöpft sich das Romangeschehen nicht in den Plädoyers für eine utilitaristische Berufsethik. Wilhelms Begründung für die Wahl des Wundarztberufes, mit der er in der deutenden Rückschau seines Briefes an Natalie die Verlockungen durch den ›schönen Körper‹ zugunsten der Verpflichtung für den ›beschädigten Körper‹ abwehrt, erfährt vom (vorläufigen) Schluß der Wanderjahre mit der Rettung des eigenen Sohnes seine 19
Thomas Degering pointiert, daß der »Wundarzt als der Reperateur [sic!] der beschädigten Arbeitskraft« nur für die Gesunden da sei, die sich bei der Arbeit verletzt haben. Th. D.: Das Elend der Entsagung, S. 203; die Aufgabe des Wundarztes steht im Kontrast zu dem Arztbild, das Christoph Wilhelm Hufeland, der Leibarzt Goethes, in seiner Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1796), zeichnet. Er nimmt die inneren und äußeren Bedingungen für ein langes Leben in den Blick und betrachtet das Arzt-Patient-Verhältnis gerade auch unter psychischen Aspekten. Auf die psychotherapeutische Dimension der in den Lehrjahren dargestellten ärztlichen Tätigkeit, besonders im Hinblick auf Mignon, verweist in kritischer Perspektive Rudolf Käser: Einbalsamierte Jugend. Bemerkungen zur narrativen Funktion medizinischer Diskurse in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Jugend – Ein romantisches Konzept?, hrsg. von Günter Oesterle, Würzburg 1997, S. 225–256; ausführlicher und fokussiert auf die Wanderjahre siehe R. K.: Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur, München 1998, S. 39–95.
124 höchste Legitimation. Dieser hat noch nicht gelernt zu entsagen. Die Disziplinierungsmaßnahmen in der Pädagogischen Provinz konnten ihm seine Leidenschaft für Hersilie nicht austreiben; und so stürzt er vor lauter Liebesungestüm in einen Fluß und droht zu ertrinken. Doch sein Vater ist zur Stelle. Was Wilhelm einst beim Unfall der Knaben noch nicht vermochte, das vermag er jetzt aufgrund seiner mittlerweile absolvierten Wundarztausbildung: Wilhelm griff sogleich nach der Lanzette, die Ader des Arms zu öffnen, das Blut sprang reichlich hervor und mit der schlängelnd anspielenden Welle vermischt folgte es gekreiselt dem Strome nach. Das Leben kehrte wieder; kaum hatte der liebevolle Wundarzt nur Zeit die Binde zu befestigen, als der Jüngling sich schon mutvoll auf seine Füße stellte, Wilhelmen scharf ansah und rief: »Wenn ich leben soll, so sei es mit dir!« Mit diesen Worten fiel er dem erkennenden und erkannten Retter um den Hals und weinte bitterlich. So standen sie fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder die sich auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen. (744f.)
Wilhelm wird als »liebevoller Wundarzt« gleichsam zur Schöpfergestalt, die dem Sohn das »Leben« zurückgibt, ihn »auf ’s neue« als »herrlich Ebenbild Gottes« (744) erschafft. Seine Tätigkeit erweist sich, wie Jarno/Montan im Gespräch mit Wilhelm einst hervorhob, als das »göttlichste[] aller Geschäfte.« (555) Denn dies bestehe darin, »ohne Wunder zu heilen und ohne Worte Wunder zu tun.« (555f.) Angespielt wird hiermit auf die göttliche Wundertat, die durch Worte heilt. Doch kein magischer Bezug, der die Gesetze der Natur aufhebt, sondern allein fachliches Können, das sie respektiert, vermöge zu heilen. Das Wissen des Arztes, das er sich durch eifriges Studium erwirbt, tritt an die Stelle beschwörender Worte, mit denen der Anspruch erhoben wird, Kranke könnten – gottgleich – durch bloßes Handauflegen geheilt werden. Statt dessen geht es um die Kenntnis der Heilkunst, die sich im fachmännischen Gebrauch der Instrumente erweist. Auffällig sind überdies die kontrastiven Korrespondenzen dieser Schlußpassage zum Ende von Lessings Emilia Galotti. Auch hier gibt ein Vater seinem Kind »zum zweiten Male das Leben« (V/7). Doch während Odoardo seine Tochter erdolcht, um ihre »anatomische Unschuld« zu bewahren, wie Ludwig Börne sarkastisch bemerkt,20 agiert Wilhelm als kundiger Arzt, der seinen Sohn durch einen geschickten Schnitt am Leben er20
Ludwig Börne: Emilia Galotti von Lessing, in: Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland, hrsg. von Horst Steinmetz, Frankfurt a. M., Bonn 1969, S. 246–248, hier S. 247.
125 hält. Auf diese Weise wird der Vater, der sein Pubertätstrauma produktiv bewältigt hat, zum »erkennenden und erkannten Retter« (745) seines Sohnes, der nach seinem Sturz ärztlich versorgt, wieder bekleidet und so in den »gesellig anständigsten Zustand« (745) zurückversetzt wird. Endet bei Emilia Galotti der erotische Aufruhr mit der Flucht aus dem Leben, so bei Felix mit der Rückkehr in die soziale Gemeinschaft. Mit dem am Schluß aufgerufenen mythischen Bild des Dioskurenpaares Kastor und Pollux wird das durch Hersilie triangulierte Verhältnis von Vater und Sohn in liebevolle Zuwendung transformiert, die der mit Tod assoziierten erotischen Liebe im Zeichen einer dem Leben verpflichteten brüderlichen Liebe entsagt.
2. Die Überführung der bildenden Kunst in die plastische Anatomie Wilhelm hat, anders als sein dramatisches Pendant Faust, das »Mißverhältnis […] zwischen Wollen und Vollbringen« (FA 19, 642) überwunden, das Goethe in seinem Essay Shakespeare und kein Ende! als zentrales Thema moderner Dichtung bestimmt. Den Eros, der ihn beim Anblick des schönen Fischerknaben einst über die Grenzen der gesellschaftlich sanktionierten Verhaltensnormen hinaustrieb, hat er mittlerweile zum ethischen Tun des Wundarztes sublimiert, der sich dem Verletzten helfend zuwendet (siehe 600). Dies aber verdeutlicht zugleich, welchen besonderen Stellenwert Wilhelms Jugenderinnerung im Kontext der Kunstthematik des Romans besitzt. Mit ihr wird das klassizistische Motiv des erotischen Blicks auf die idealisch schöne menschliche Gestalt noch einmal aufgerufen – doch nur in rückwärtsgewandter Perspektive, um es in der Erzählgegenwart der Wanderjahre als obsolet zu erweisen. Das Paradigma der ›alten‹ Ästhetik klingt lediglich noch einmal an, um damit die ›zeitgemäße‹ naturwissenschaftliche Betrachtungsweise des menschlichen Körpers zu kontrastieren, wie sie im weiteren Romangeschehen durch die plastische Anatomie repräsentiert wird. In dieser Hinsicht weist der Tod, den der schöne Fischerknabe im Wasser findet, symbolisch auf den Untergang des idealisch schönen Körpers als Gegenstand der Kunst voraus.21 Wilhelm deutet den 21
Siehe auch Thomas Degering, der bemerkt: »Wenn der Knabe Adolph stirbt […], so ist damit der Tod der Welt gemeint, die in Wilhelms Jugenderlebnis entfaltet und zu Grabe getragen wird.« Th. D.: Das Elend der Entsagung, S. 203. Zu präzisieren bleibt allerdings, daß dies die »Welt« der klassizistischen Ästhetik ist, die im schönen – nackten – Menschenkörper das Göttliche erblickt.
126 Tod Adolphs zwar als den Grund seines Wunsches, als Wundarzt den schönen Leib zu erhalten. Seine medizinische Ausbildung mittels der plastischen Anatomie zeigt indes, daß er einen Weg beschreitet, der vom klassizistischen Konzept einer erotisch-ästhetischen Wahrnehmung des schönen Körpers unwiderruflich wegführt – hin zu einem medizinischfunktionalen Körperkonzept, in dessen Folge auch die Kunst des Bildhauers ihren paradigmatischen Status einbüßt und durch das Handwerk des plastischen Anatomen ersetzt wird, wie im folgenden ausgeführt wird. Am Schluß seines letzten Briefes an Natalie verspricht Wilhelm, sie über sein Studium genauer zu informieren: »Hier nun bin ich geneigt zu enden, zunächst aber sollst du umständlich erfahren wie ich die Erlaubnis, an bestimmten Orten mich länger aufhalten zu dürfen, benutzt habe, wie ich in das Geschäft, wozu ich immer eine stille Neigung empfunden, mich gar bald zu fügen, mich darin auszubilden wußte.« (556) Doch Wilhelm löst sein Natalie gegebenes Versprechen nicht ein; er berichtet nur über eine spezielle Ausbildungssequenz seines Medizinstudiums, und dies nicht einmal ihr, sondern Lenardo und Friedrich. Zunächst versucht Wilhelm dabei, seine Theaterlaufbahn zum Propädeutikum seiner medizinischen Ausbildung umzudeuten und seinen bisherigen Lebenslauf so als teleologisch bestimmt erscheinen zu lassen: Auf eine sonderbare Weise, welche niemand erraten würde, war ich schon in Kenntnis der menschlichen Gestalt weit vorgeschritten und zwar während meiner theatralischen Laufbahn; alles genau besehen spielt denn doch der körperliche Mensch da die Hauptrolle, ein schöner Mann, eine schöne Frau! […] Der losere Zustand, in dem eine solche Gesellschaft lebt, macht ihre Genossen mehr mit der eigentlichen Schönheit der unverhüllten Glieder bekannt als irgend ein anderes Verhältnis; […] und auf diese Weise war ich vorbereitet genug, dem anatomischen Vortrag der die äußern Teile näher kennen lehrte eine folgerechte Aufmerksamkeit zu schenken. (600f.)
Wilhelm erinnert sich an die »Schönheit der unverhüllten Glieder«, suggeriert jedoch, daß ihn schon damals vor allem deren Bauplan interessiert habe. Doch die Suggestion überdeckt allenfalls die Assoziation von Erotik und Ästhetik, die weiterhin bestehen bleibt. Nicht von ungefähr ist der Ausgangspunkt von Wilhelms Bericht wiederum – wie schon in der Fischerknaben-Episode – seine Betroffenheit angesichts körperlicher Schönheit. Doch während jene Erzählsequenz den von Wilhelm selbst erlebten und erlittenen Umschlag vom Begehren des schönen Körpers zum Entsetzen vor der starren Leiche umfaßt, handelt es sich jetzt nur noch um eine Imagination von Schönheit, Liebe und Tod im Fremdbezug. In distanzierender Er-Form, welche die Bearbeitung des Redaktors erkennen
127 läßt, wird über Wilhelms erste Sektionsaufgabe berichtet, nicht ohne vorherige Schilderung der Herkunft der Leiche: Ein sehr schönes Mädchen, verwirrt durch unglückliche Liebe, hatte den Tod im Wasser gesucht und gefunden; die Anatomie bemächtigte sich derselbigen […]. Wilhelm, der als nächster Aspirant gleichfalls berufen wurde, fand vor dem Sitze den man ihm anwies, auf einem saubern Brette, reinlich zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die Hülle wegnahm lag der schönste weibliche Arm zu erblicken, der sich wohl jemals um den Hals eines Jünglings geschlungen hatte. Er hielt sein Besteck in der Hand und getraute sich nicht es zu eröffnen, er stand und getraute nicht niederzusitzen. Der Widerwille dieses herrliche Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen stritt mit der Anforderung, welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat und welcher sämtliche Umhersitzende Genüge leisteten. (602)
Die anderen Kommilitonen sezieren problemlos die ihnen vorgelegten Leichenteile; allein Wilhelm schaudert zurück. Er kann sich beim Anblick des »schönsten weiblichen Arms« nicht vom Lebens- und Liebeszusammenhang lösen, den seine Imagination entfaltet und fällt auf das Trauma seiner Pubertätszeit zurück. Das Ineinanderspiel von Erlebtem und Gehörtem formiert sich bei ihm zur subjektiven Betroffenheit, wodurch »alle Wißbegierde vor dem Gefühl der Menschlichkeit ausgelöscht« (608) wird. So vermag er nicht, was »sämtliche Umhersitzende« des Anatomiekurses wie selbstverständlich können. Er kann dem Frauenarm nicht als bloßem Untersuchungsobjekt gegenübertreten, da dieser in ihm die lange verdrängte Assoziation von Schönheit, Liebe und Tod wieder wachruft.22 Der Fortgang des Romans zeigt, wie Wilhelms psychische Traumatisierung in gesellschaftskonformes Tun überführt wird. Dies geschieht auf der Abstraktionsebene von Körperbildern, indem antike Statuen, die den schönen Körper darstellen, in Muskelpräparate transformiert werden, an denen man anatomische Studien treiben kann. Der Erzählzusammenhang inszeniert diese Transformation von Erotik und Ästhetik in Ethik und Nützlichkeit auf der Handlungsebene als einen praktischen Vorgang, der 22
Goethe hingegen hat sich bereits während seiner Straßburger Zeit durch häufige Besuche der Anatomie abgehärtet, um sich von seiner Empfindlichkeit gegenüber dem »widerwärtigsten Anblick« (FA 14, S. 408) zu befreien – so seine Formulierung in Dichtung und Wahrheit. Offensichtlich hat diese Abhärtungskur zum Erfolg geführt, wie sein Brief vom 4. November 1781 an den Herzog Carl August zeigt: »Mir hat er [Justus Christian Loder, Professor für Anatomie in Jena] in diesen 8 Tagen […] Osteologie und Müologie durch demonstrirt. Zwey Unglückliche waren uns eben zum Glück gestorben die wir denn auch ziemlich abgeschält und ihnen von dem sündigen Fleische geholfen haben.« (WA IV/5, S. 211)
128 seine psychische Signatur und seine kulturgeschichtliche Signifikanz hinter einer technokratischen Fassade verbirgt. Ein Fremder tritt an Wilhelm heran und bietet ihm die Möglichkeit, seine anatomischen Studien an künstlichen Modellen anstelle von Leichenteilen zu betreiben. Zu diesem Zweck hat er alle Teile des menschlichen Körpers so genau nachgebildet, daß dieser in anatomischen Übungen wie ein Puzzle zusammenzusetzen ist – eine Tätigkeit, die Wilhelm alsbald mit Eifer betreibt (siehe 604f.). Seine Betroffenheit ist im Wissen um die Künstlichkeit der Körperteile, die »von Holz geschnitzt« (605) sind, ausgelöscht. An die Stelle des mitleidsvollen Blicks, der in der zu sezierenden Leiche verflossenes Leben zu sehen genötigt wird, tritt so der wißbegierige Blick, den allein die Anatomie des menschlichen Körpers interessiert. In aller Ausführlichkeit berichtet Wilhelm Lenardo und Friedrich über die Motivation des Bildhauers, künstliche Modelle für anatomische Studien herzustellen. Während Wilhelms Widerwille gegen das Sezieren von Leichen psychisch bedingt ist, äußert der plastische Anatom ethische Bedenken gegen die »wirkliche Zergliederung« des menschlichen Körpers, die »immer etwas Kannibalisches« (606) habe, und verweist darüber hinaus auf den grassierenden Raub von Leichen, die zu guten Preisen für Sektionszwecke verkauft würden; selbst Morde sollen vorgekommen sein (611) – was den historischen Tatsachen zu Beginn des 19. Jahrhunderts entspricht, auf die der Roman anspielt.23 Die plastische Anatomie verspricht hier Abhilfe.24 Goethe selbst hat dies ernst gemeint, wie seine kurz vor dem Tod verfaßte Denkschrift Plastische Anatomie nachdrücklich dokumentiert.25 Sein Ziel war es, die Behörden vom didaktischen Nutzen der künstlichen anatomischen Modelle zu überzeugen.26 Er verwies dabei auf die entsprechenden Passagen seines Romans und hob insbesondere hervor, daß der 23
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25 26
Siehe Moritz Baßler: Goethe und die Bodysnatcher. Ein Kommentar zum Anatomie-Kapitel in den Wanderjahren, in: Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Gotthart Wunberg zum 65. Geburtstag, hrsg. von M. B., Christoph Brecht und Dirk Niefanger, Tübingen 1997, S. 181–197. Auf Goethes ambivalentes Verhältnis zur Anatomie verweisen Heike Kleindienst: Ästhetisierte Anatomie aus Wachs. Ursprung – Genese – Integration, Marburg 1989, bes. S. 90–95; Ulrike Enke und Manfred Wenzel: ›Wissbegierde‹ contra ›Menschlichkeit‹. Goethes ambivalentes Verhältnis zur Anatomie in seiner Dichtung und Biographie, in: GJb 115 (1998), S. 155–170. Abgedruckt ist Goethes Denkschrift in: FA 24, S. 843–850. Entsprechend hat Goethe noch kurz vor seinem Tod versucht, den bedeutenden klassizistischen Bildhauer Christian Daniel Rauch für die von ihm zur »Weltangelegenheit« erhobene plastische Anatomie zu gewinnen. Siehe hierzu seinen Brief an Rauch vom 20. Februar 1832, in: WA IV/49, S. 242f.
129 Mangel an Leichen für Sektionszwecke, der viele Verbrechen provoziert habe, wie die beigelegten Zeitungsausschnitte dokumentieren sollten, durch künstliche anatomische Präparate zu beheben sei. Mit Schreiben vom 23. Februar 1832 lehnten die preußischen Behörden allerdings Goethes Vorschlag mit dem Argument ab: »An Leichen haben wir einen großen Überfluß.«27 Auch wenn Goethes medizindidaktisches Unterfangen nicht in der Realität, sondern lediglich in der »Halbfiktion« (FA 24, 843) des AnatomieKapitels zum Erfolg führt – der Export plastischer Präparate nach Übersee hat am Ende der Wanderjahre bereits begonnen (siehe 608) –, so ist der fiktionale Raum doch mehr als bloß ein widerstandsfreier Ort für Projekte, gegen welche sich die damalige Administration sperrte. Die plastische Anatomie stellt etwas Signifikanteres dar als nur ein probates Mittel, um das ›kannibalische‹ Sezieren zu vermeiden oder dem Leichenraub vorzubeugen; sie ist vor allem Ausdruck des auch sonst vielfach vom Roman thematisierten Paradigmenwechsels, der Nützlichkeit an die Stelle von Schönheit setzt.28 Das zeigt die Verwendung von Werken der Bildhauerkunst für die Herstellung von Muskelpräparaten besonders eindrücklich. Vor diesem Hintergrund wird erst verständlich, weshalb der plastische Anatom zunächst als ein Mann eingeführt wird, in dessen Haus alles »ganz gut zu dem Gewerb eines Bildhauers« paßt; so führt er Wilhelm in einen Raum, der »ringsumher mit Hoch- und Flachgebilden, mit größeren und kleineren Figuren, Büsten und wohl auch einzelnen Gliedern der schönsten Gestalten geziert war.« (603) Bei diesen »schönsten Gestalten« handelt es sich jedoch keineswegs um für die Schulung des künstlerischen Blicks aufbewahrte Anschauungsobjekte, sondern sie werden – so merkwürdig dies auf den ersten Blick scheint – zur Herstellung von anatomischen Präparaten genutzt. Damit erweist sich die »große Kluft zwischen diesen künstlerischen Arbeiten und den wissenschaftlichen Bestrebun27 28
Kommentar FA 24, S. 1238. Keineswegs ist die plastische Anatomie – wie Irmgard Egger annimmt – Ausdruck eines grundsätzlichen Respekts vor dem unzerstückbaren Leichnam, der nicht funktionalisiert werden dürfe. I. E.: »Verbinden mehr als Trennen«. Goethe und die plastische Anatomie, in: GRM 51 (2001), S. 45–53. Sie ist lediglich der Ausdruck einer Achtung vor ›unschuldigen‹ Leichnamen. Dies zeigt die »frische Aussicht«, die der Bildhauer Wilhelm eröffnet, indem er betont, daß man in Übersee verstorbene Gefängnisinsassen bedenkenlos sezieren könne, da »deren Zerstückelung unser menschliches Gefühl nicht verletze.« (FA 10, S. 608) Dies sei sogar nötig, damit das anatomische Wissen immer wieder aufgefrischt werden könne.
130 gen« (603), welche Wilhelm bemerkt, als eine nur scheinbare, da der Gebrauchswert der schönen Skulpturen für die plastische Anatomie zutage tritt, zu deren Zwecken sie als Mittel fungieren. Nach einem »merkwürdige[n]« Gespräch über das »Verhältnis [der plastischen Anatomie] zur bildenden Kunst« (607) führt der Meister seinem Schüler Wilhelm vor, welch nützlichen Gebrauch er von den Werken der bildenden Kunst »rückwärts« zu machen versteht: »Der Meister hatte einen schönen Sturz [den Torso] eines antiken Jünglings in eine bildsame Masse abgegossen und suchte nun mit Einsicht die ideelle Gestalt von der Epiderm zu entblößen und das schöne Lebendige in ein reales Muskelpräparat zu verwandeln.« (607) Dieses Verfahren weicht signifikant von der damals üblichen Herstellungsweise von medizinischen Wachspräparaten ab. Goethe hat diese wahrscheinlich 1788 während seines mehrtägigen Aufenthalts in Florenz kennengelernt, als er in dem 1775 dort gegründeten Imperial Regio Museo di Fisica e Storia Naturale (später La Specola genannt) die entsprechenden Wachsmodelle studierte.29 In seiner Denkschrift Plastische Anatomie verweist Goethe auf den hohen Kaufpreis sowie auf die »Zerbrechlichkeit« solcher Wachsmodelle (siehe FA 24, 845) und fordert insbesondere, das Berliner Ministerium solle Anatomen, Bildhauer und Gipser nach Florenz schicken, »wo Wissenschaften, Künste, Geschmack und Technik vollkommen einheimisch« sind (FA 24, 843), damit sie sich an der dortigen Sammlung von Wachsmodellen zu plastischen Anatomen schulen mögen.30 Wachsmodelle werden im 18. und 19. Jahrhundert folgendermaßen hergestellt: Man fertigt zunächst vom sezierten Leichnam einen Gipsabdruck an, der dann »als Form für die Wachsmoulage [dient]. Die Darstellung
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Es handelt sich nur um eine Vermutung, da Belege fehlen; Goethes Aufzeichnungen zur Italienischen Reise brechen mit dem Verlassen Roms ab. Siehe hierzu Irmgard Egger: Diätetik und Askese, S. 37. Summarisch berichtet er im Brief an Carl August vom 6. Mai 1788 von seinem Aufenthalt in Florenz: »Ich habe fast alles gesehen, was Florenz an Kunstsachen enthält und man könnte wohl mit großem Nutzen einige Zeit hier verweilen.« (WA IV/8, S. 371) Allerdings vermerkt er in seinem Tagebuch vom 4. Dezember 1829 eine Unterhaltung mit Friedrich von Müller: »Gespräch über einiges Italiänische; besonders auch über die Florentiner Wachspräparate, wovon derselbe auch einen Catalog mit Preisen mitgebracht hatte.« (WA III/12, S. 161f.) Siehe auch die in der Encyclopaedia Anatomica (mit Beiträgen von Monika von Düring, Georges Didi-Huberman und Marta Poggesi, Köln, London 1999) abgebildeten Wachsmodelle aus der Florentiner Sammlung Museo la Specola. 1805 hat Goethe Franz Heinrich Martens große Sammlung von medizinischen Wachspräparaten der Universität Jena zugeführt.
131 eines geöffneten, zerteilten oder gehäuteten Körpers beruht also immer auf dem materiellen Kontakt mit dem Leichnam.«31 In den Wanderjahren wird ähnlich verfahren, allerdings mit einer entscheidenden Veränderung: Der antike Torso ersetzt den geöffneten Leichnam. Diese Modifikation zeichnet sich durch eine eigentümlich gedoppelte Bedeutsamkeit aus. Einerseits entspricht sie Goethes eigenem Klassizismus, andererseits verabschiedet sie diesen zugleich unter dem Vorzeichen der utilitaristischen Moderne. Das vom plastischen Anatomen angewandte Verfahren verweist insofern auf die Goethesche Kunsttheorie, als ihm, wie Moritz Baßler zu Recht anmerkt, »die Vorstellung zugrunde[liegt], in der Oberfläche der künstlerischen Plastik sei eben der gesamte ›Begriff‹ des Körpers mit allen anatomischen Details […] bereits enthalten.«32 Denn nur unter der Voraussetzung, daß der antike Bildhauer nicht bloß die Naturerscheinung des Menschen oberflächlich nachgeahmt, sondern in produktiver Tiefenschau deren Begriff und Idee gestaltet hat, ist es ja überhaupt – zumindest in der Fiktion des Romans – möglich, ausgehend von dessen Kunstwerk, »rückwärts zu arbeiten« und »die ideelle Gestalt von der Epiderm zu entblößen« (607),33 wie es der plastische Anatom tut. Entsprechend stellt Goethe in seiner Einleitung in die Propyläen die These auf, daß ein Künstler sowohl in die Tiefe der Gegenstände, als in die Tiefe seines eignen Gemüts zu dringen vermag, um in seinen Werken […] wetteifernd mit der Natur, etwas geistisch-organisches hervorzubringen, und seinem Kunstwerk einen solchen Gehalt, eine solche Form zu geben, wodurch es natürlich zugleich und übernatürlich erscheint. (FA 18, 461f.)
Damit verbindet Goethe die Forderung, daß sich der Künstler eine »allgemeine Kenntnis der organischen Natur« (FA 18, 462) zu verschaffen habe, 31
32 33
Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 60; ausführlicher Marta Poggesi: Die Wachsfigurensammlung des Museums La Specola in Florenz, in: Encyclopaedia Anatomica, S. 28–43; siehe auch Heike Kleindienst: Ästhetisierte Anatomie aus Wachs, S. 61–69; Manfred Skopec: Anatomie in Wachs, in: Anatomie als Kunst. Anatomische Wachsmodelle des 18. Jahrhunderts im Josephinum in Wien, hrsg. von M. S. und Helmut Gröger, Wien 2002, S. 31–73. Moritz Baßler: Goethe und die Bodysnatcher, S. 188. Ein Paralipomenon aus dem Jahre 1828 zu Wilhelms anatomischer Ausbildung akzentuiert Details und setzt voraus, daß die Oberfläche des Marmors gleichsam eine Haut sei, die das Körperinnere verberge: »Auffallend schöne Uebung die Brust oder irgend ein Glied einer antiken Statue so von der Epiderm zu entblößen, so daß nur die Anatomie der Muskeln und Sehnen übrig bleibt.« (Kommentar FA 10, S. 825)
132 die als propädeutische Grundlage seiner eigentlichen Tätigkeit dienen soll. Insbesondere lasse sich die äußere Schönheit der menschlichen Gestalt nicht darstellen, ohne auch das darunter verborgene Innere ihres Gliederbaus genau zu kennen. So formuliert Goethe in der Einleitung in die Propyläen weiter: Der Mensch ist der höchste, ja der eigentliche Gegenstand bildender Kunst! Um ihn zu verstehen, um sich aus dem Labyrinthe seines Baues herauszuwikkeln, ist eine allgemeine Kenntnis der organischen Natur unerläßlich. […] Die menschliche Gestalt kann nicht bloß durch das Beschauen ihrer Oberfläche begriffen werden, man muß ihr Inneres entblößen, ihre Teile sondern, die Verbindungen derselben bemerken, die Verschiedenheiten kennen, sich von Wirkung und Gegenwirkung unterrichten, das Verborgne, Ruhende, das Fundament der Erscheinung sich einprägen, wenn man dasjenige wirklich schauen und nachahmen will, was sich, als ein schönes ungetrenntes Ganze, in lebendigen Wellen, vor unserm Auge bewegt. (FA 18, 462)
Erklärlich wird von daher, weshalb der Meister der plastischen Anatomie in den Wanderjahren ausgerechnet mit antiken Statuen operiert. Als paradigmatische Kunstwerke, so die zugrundeliegende Prämisse, enthalten gerade die griechischen Plastiken jene Tiefendimension, die es erst erlaube, das darin gleichsam vorhandene Innere freizulegen. Durch die beschriebene Methode des Meisters, »rückwärts zu arbeiten«, wird auf diese Weise – zumindest auf der Ebene der Romanhandlung – ›bestätigt‹, was die kunsttheoretische Grundüberzeugung Goethes behauptet: daß nämlich der Künstler der Antike in umgekehrter Richtung ›vorwärts‹ gearbeitet, d. h. das Innere im Äußeren, das Organische in der schönen Oberfläche mitgestaltet habe. Unter dem Vorzeichen der Nützlichkeit wandelt sich aber im Anatomie-Kapitel die Valenz der antiken Skulptur. So basiert die vom Anatomen vorgenommene Richtungsänderung des Produktionsprozesses einerseits zwar auf einem Postulat von Goethes klassizistischem Verständnis der bildenden Kunst, erteilt diesem andererseits aber zugleich eine radikale Absage, insofern die plastische Anatomie nun selbst an die Stelle der plastischen Kunst tritt. Denn anders als Goethe in seinen expositorischen Schriften zur Kunsttheorie immer wieder fordert, dient in den Wanderjahren das anatomische Wissen nicht mehr als Mittel zur selbstzweckhaften Produktion und Rezeption der schönen Kunst, sondern es wird nunmehr umgekehrt zum Mittel für die serielle Herstellung von medizinischen Präparaten. Das von Goethe in seiner Propyläen-Schrift emphatisch hervorgehobene Ineinanderspiel von Natürlichem und Übernatürlichem verliert auf diese Weise seine metaphysische Aura. In der plastischen Anatomie formt der Bildhauer nicht mehr die Gesetzlichkeit und Harmonie
133 der Natur, um auf etwas ›Höheres‹ zu verweisen, sondern modelliert im rein physischen Bezug das Körperinnere. Derart wird aus der durch Einheit, Ganzheit und Proportioniertheit ausgezeichneten idealen Gestalt der griechischen Plastik »als der dem Menschen gemäßesten Verkörperung der Gottheit« (WA IV/25, 274) – wie Goethe am 20. April 1815 an Karl Joseph Hieronymus Windischmann schreibt – das zum Lernmaterial für Medizinstudenten bestimmte Muskelpräparat. An die Stelle von Winckelmanns ästhetischem Platonismus, dem sich Goethe selbst seit den achtziger Jahren verbunden fühlte, rückt im Roman der medizinische Utilitarismus, für den die künstlerische Gestaltung jeden metaphysischen Bezug verliert; sie fungiert allein noch als Mittel zum Zweck didaktischer Veranschaulichung. Dagegen spricht nur auf den ersten Blick, daß der zum Organpräparator konvertierte Bildhauer Wilhelm mit den sentenzhaften Worten darauf hinweist, »daß Aufbauen mehr belehrt als Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das Getötete noch weiter töten.« (604) Man könnte zunächst vielleicht meinen, Goethe selbst bediene sich hier eines Sprachrohrs, um seine Aversion gegen die Verabsolutierung analytischer Weltzergliederung und seine Affinität zu einer synthetisierenden Vorgehensweise zu artikulieren.34 Umso größer ist aber das Erstaunen, sobald man bemerkt, daß es sich schlicht um ein didaktisches Prinzip handelt, das lediglich dem anatomischen Kenntniserwerb dient. Der Adept hat zu lernen, »künstlich von Holz« geschnitzte »Knochenteile« (605) zu einem Skelett zu verbinden, um sein medizinisches Wissen zu erweitern. Jene Emphase, die davon spricht, daß die plastische Anatomie »im Gegensatz zur herkömmlichen Anatomie als Kunst des Verbindens und damit des Lebens«35 erscheine, überträgt vorschnell auf Goethes eigene Integra34
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Siehe z. B. Goethes Aufsatz Analyse und Synthese, in: FA 25, S. 83–86, hier S. 84: »Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt, und sich vor der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen, wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der Wissenschaft.« Siehe ebenfalls Goethes Aufsatz Morphologie. Die Absicht eingeleitet, in: FA 24, S. 391–395. Safia Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft, S. 100; siehe hierzu auch Sandra Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2002, S. 183: »Erst mit Hilfe der Plastischen Anatomie läßt sich der menschliche Körper vergegenwärtigen; die Wundarznei wird sittlich und nützlich ausübbar.« Zu einer recht merkwürdigen Deutung des Anatomie-Kapitels gelangt Irmela Marei Krüger-Fürhoff, für die es »jene Passage der Wanderjahre [darstellt], in der ein letztes Mal nicht der ganze, sondern der durch Sektion ver-
134 tionsbemühungen, was von den Romanfiguren als ein bloßes Lernverfahren gemeint ist. Unter Anleitung des Meisters erwirbt Wilhelm anatomisches Wissen, doch keineswegs als Voraussetzung ästhetischer, sondern ärztlicher Tätigkeit. So wird der Marmor, der bei Goethe in Italien den Eindruck höchster Lebendigkeit der antiken Skulptur hervorrief,36 in den Wanderjahren konsequent durch eine plastische Masse ersetzt, aus der sich herausmodellieren läßt, was die äußere Hülle verbirgt. Sie ist hier nicht mehr der schöne Schein, der auf Höheres verweist, sondern die undurchsichtige Epidermis, die den Blick auf das Zusammenspiel der Muskeln behindert. Dieses aber gilt es zu erkennen, um bei physischen Funktionsstörungen helfen zu können. Damit aber ist die Trias von Ästhetik, Erotik und Antike, wie Goethe sie besonders eindrucksvoll in der fünften Römischen Elegie gestaltet hat, und wie sie in der Fischerknaben-Episode noch einmal momenthaft aufscheint, endgültig zerbrochen. Das gefeierte Wechselspiel von Geist und Leib, in dem sich ästhetische Anschauung und körperliches Liebesglück verbinden, weicht dem wissenschaftlichen Blick. Goethe selbst fordert zwar in seinen Ausführungen zur bildenden Kunst immer wieder, daß der Künstler auch die verborgenen Teile des menschlichen Körpers zu kennen habe; doch dies ist für ihn nur Bedingung ästhetischer Gestaltung: Der Künstler müsse die menschliche Ge-
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sehrte Körper als erotisches Phantasma zu Wort kommt.« I. M. K.-F.: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals, Göttingen 2001, S. 111. So fühlte sich auch Goethe selbst von der Marmorstatue des Apoll von Belvedere nicht nur durch ihre Form, sondern auch durch ihren marmornen Glanz über alle Maße entzückt. Ihm war, als würde er in Italien die Plastik zum ersten Male sehen. Zwar kannte er den Gipsabdruck schon seit seinen Besuchen des Mannheimer Antikensaales in den Jahren 1769 und 1771, doch erst der Anblick des Originals in Rom entflammte seinen Enthusiasmus: »Denn so viel ich auch Abgüße gesehn habe, selbst ein gutes Bruststück besitze; so glaubt man doch die Statue nie gesehn zu haben.« (FA 30, S. 156) Unter dem 25. Dezember 1786 legt er sich in der Italienischen Reise Rechenschaft über den Grund seiner Faszination ab: »Der Marmor ist ein seltsames Material, deswegen ist Apoll von Belvedere im Urbilde so grenzenlos erfreulich, denn der höchste Hauch des lebendigen, jünglingsfreien, ewig jungen Wesens, verschwindet gleich im besten Gips-Abguß.« (FA 15.1, S. 161) Ganz ähnlich heißt es im Brief an Charlotte von Stein vom 20./23. Dezember 1786: »Von gewißen Gegenständen kann man sich gar keinen Begriff machen ohne sie gesehen, in Marmor gesehen zu haben, der Apoll von Belvedere übersteigt alles denckbare, und der höchste Hauch des lebendigen, jünglingsfreyen, ewigjungen Wesens verschwindet gleich im besten Gypsabguß.« (WA IV/8, S. 100)
135 stalt »zuletzt wieder als ein Ganzes betrachten« (FA 18, 463), denn nur so könne er die Schönheit im Sichtbaren gestalten. Der analytische Blick, der in die Tiefe dringt und den inneren Körperbau erfaßt, ist daher nur der Weg, der in der »Vollendung des Anschauens« (FA 18, 463) sein Ziel hat. Dies gilt ebenfalls für die ästhetische Rezeption. Entsprechend verweist Goethe in einer Notiz vom 10. Januar 1788 über seinen Zweiten Römischen Aufenthalt auf die propädeutische Funktion, die das anatomische Wissen für sein Kunsterleben erfülle: »Meine fleißige Vorbereitung im Studio der ganzen Natur, besonders die Osteologie, hilft mir starke Schritte machen. Jetzt seh’ ich, jetzt genieß’ ich erst das Höchste was uns vom Altertum übrig blieb, die Statuen.« (FA 15.1, 512)37 An dieser Auffassung von den Statuen als dem »Höchsten« der antiken Kunst hält Goethe als Kunsttheoretiker und Kunstpädagoge bis zu seinem Tode fest. Von der Propyläen-Ästhetik über die Weimarer Preisaufgaben (1799–1805) bis hin zum Buch über Philipp Hackert (1811) und den ersten beiden Teilen der Italienischen Reise (1816/17), aber auch noch später sieht Goethe in der griechischen Skulptur das Paradigma für die künstlerisch gestalteten Gesetze der Schönheit.38 Vor dem Hintergrund seiner 37
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Siehe auch Goethes Notizen vom 20. Januar und 23. August 1787: »Auf Anatomie bin ich so ziemlich vorbereitet, und ich habe mir die Kenntnis des menschlichen Körpers, bis auf einen gewissen Grad nicht ohne Mühe erworben. Hier wird man durch die ewige Betrachtung der Statuen immerfort, aber auf eine höhere Weise hingewiesen. Bei unserer medizinisch-chirurgischen Anatomie, kommt es bloß darauf an, den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl ein kümmerlicher Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts heißen, wenn sie nicht zugleich eine edle, schöne Form darbieten.« (FA 15.1, S. 175) Siehe auch Goethes Brief an Carl August vom 25. Januar 1788: »Die Menschengestalt zog nunmehr meine Blicke auf sich und wie ich vorher, gleichsam von dem Glanz der Sonne, meine Augen von ihr weggewendet, so konnte ich nun mit Entzükken sie betrachten und auf ihr verweilen. Ich begab mich in die Schule, lernte den Kopf mit seinen Theilen zeichnen und nun fing ich erst an die Antiken zu verstehen. […] Mit dem ersten Januar stieg ich vom Angesicht aufs Schlüsselbein, verbreiterte mich auf die Brust und so weiter, alles von innen heraus, den Knochen Bau, die Muskeln wohl studiert und überlegt, dann die Antiken Formen betrachtet, mit der Natur verglichen und das karackteristische sich wohl eingeprägt.« (WA IV/8, S. 329) Ernst Osterkamp weist daraufhin, daß Goethe sich selbst niemals »von seinem klassizistischen Kunstprogramm distanziert [hat]. Bis in seine letzten Jahre hat Goethe an seinem in Italien ausgebildeten Geschmacksideal festgehalten, nach dem allein die Natur, die Antike und die am Vorbild der Natur wie der Antike orientierte Malerei Raffaels dem modernen Künstler zum Muster dienen können.« E. O.: »Aus dem Gesichtspunkt reiner Menschlichkeit«. Goethes Preisauf-
136 klassizistischen Auffassung der bildenden Kunst ist für ihn sogar die zeitgenössische romantische Kunst »nichts anderes […] als nur ein ›Übergang‹ zu einer neuen Kunstblüte, die sich wieder über ›klassischem Boden‹ erheben werde.«39 Als Autor der Wanderjahre indes läßt Goethe seinen plastischen Anatomen eine andere Haltung gegenüber der bildenden Kunst einnehmen – nicht aus freien Stücken, sondern weil dieser genötigt wird, auf die ›neue Zeit‹ zu reagieren, der es nicht mehr um Idealität, sondern um Brauchbarkeit geht. Dadurch aber erhält die Kunst einen veränderten Stellenwert. Der Meister der plastischen Anatomie verdeutlicht diesen Paradigmenwechsel Wilhelm gegenüber mit dem Hinweis, daß seine Zeitgenossen keinen Sinn mehr für die in der Skulptur sich offenbarende Göttlichkeit der menschlichen Gestalt hätten – eine Auffassung, der er zwar selbst noch in Übereinstimmung mit dem von Hegel auf den Begriff gebrachten klassizistischen Kunstideal40 anhängt, das er aber wegen der veränderten Gegebenheiten nicht mehr in die Praxis umzusetzen vermag: der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch, der Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim als sie den unförmlichen widerwärtigen Ton zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen wußten; solche göttlichen Gedanken muß er hegen, dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in der Natur? Aber vom Jahrhundert kann man dies nicht verlangen, ohne Feigenblätter und Tierfelle kommt es nicht aus, und das ist noch viel zu wenig. Kaum hatte ich etwas gelernt so verlangten sie von mir würdige Männer in Schlafröcken und weiten Ärmeln und zahllosen Falten; da wendete ich mich rückwärts und da ich das was ich verstand nicht einmal zum Ausdruck des Schönen anwenden durfte, so wählte ich nützlich zu sein, und auch dies ist von Bedeutung. (607)
Mit diesen Worten analysiert der plastische Anatom seine Gegenwart allerdings nicht besonders präzise. Daß sich sein klassizistisches Schönheits-Ideal als obsolet erweist, hat einen tieferen Grund als die bloße Prüderie und das Repräsentationsbedürfnis seiner Zeitgenossen: nämlich die generelle Ablösung des Paradigmas zweckfreier Schönheit durch das ge-
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gaben für bildende Künstler 1799–1805, in: Goethe und die Kunst, hrsg. von Sabine Schulze, Stuttgart 1994, S. 310–322, hier S. 321. Ernst Osterkamp: Die Geburt der Romantik aus dem Geiste des Klassizismus. Goethe als Mentor der Maler seiner Zeit, in: GJb 112 (1995), S. 135–148, hier S. 146. Hegel führt in seiner Ästhetik aus: »Unter den besonderen Künsten ist daher die Skulptur vor allen geeignet, das klassische Ideal in seinem einfachen Beisichsein darzustellen, in welchem mehr die allgemeine Göttlichkeit als der besondere Charakter zum Vorschein kommen soll.« G. W. F. H.: Werke in 20 Bänden, Band 14, Frankfurt a. M. 1970, S. 87.
137 sellschaftlicher Nützlichkeit. Darauf verweist der ehemalige Bildhauer – zumindest beiläufig – aber doch selbst, indem er sagt: »da ich das was ich verstand nicht einmal zum Ausdruck des Schönen anwenden durfte, so wählte ich nützlich zu sein, und auch dies ist von Bedeutung.« (607) Dies ist freilich zwangsweise mit einer Verabschiedung der Kunst zugunsten des Handwerks verbunden; und so wird aus dem Künstler, der den menschlichen Körper als Inkarnation der göttlichen Schöpfungsidee zu gestalten suchte, ein Kunsthandwerker, der sich an vorgegebenen Zwekken orientiert.41 Das einzige, was ihm dabei von seiner Kunst bleibt, ist eine verschönernde Funktion bei der Herstellung der Muskelpräparate, die »ohne eine solche Ideal-Nachhülfe abstoßend und unerfreulich wären« (FA 24, 844), wie Goethe in seinem Memorandum Plastische Anatomie ausführt.42 Indessen versucht der plastische Anatom diese Reduktion seiner Kunst zum bloßen Kunsthandwerk zu camouflieren, indem er sich und Wilhelm einredet, »daß es eben schön sei zu bemerken, wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die Waage halten […], so daß die Kunst nicht sinken kann ohne in löbliches Handwerk überzugehen, das Handwerk sich nicht steigern kann ohne kunstreich zu werden.« (607f.) Doch verdeutlicht das Anatomie-Kapitel, daß es hier keineswegs um eine wechselseitige Balance von Kunst und Handwerk geht; vielmehr ›überwiegt‹ gerade das ›steigende‹ Handwerk in der vom Roman herausgestellten Welt der Moderne die ›sinkende‹ Kunst. Goethe selbst hingegen, der zeitlebens das Winckelmannsche Kunstideal vertrat, befindet sich damit offensichtlich im Widerspruch zum Personal seines Romans. Das aber macht gerade dessen zeitdiagnostische Qualität aus. Denn wenn in ihm die Ablösung einer auf der Zweckfreiheit der Kunst basierenden Ästhetik durch ihre Instrumentalisierung thematisiert wird, so manifestiert sich darin nicht etwa Goethes eigene Ansicht; 41
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Siehe auch Franziska Schößler, die die kulturhistorische Bedeutung des Anatomie-Kapitels in der Transformation des Schönen in das Nützliche bestimmt, wenn sie konstatiert: »Das Handwerk tritt also dezidiert an die Stelle der Kunst, das Muskelpräparat an die des schönen Körpers.« F. S.: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 322f. Zu den mit der Verschönerung abschließenden Arbeitsschritten bei der Herstellung anatomischer Wachsplastiken siehe Manfred Skopec: Anatomie in Wachs, S. 63: »Bevor eine lebensgroße Anatomiefigur vollendet werden konnte, mußte die kunstanatomische Ikonographie entschieden sein. Nachdem die anatomischen Vorarbeiten, die ›anatomia practica‹, und die Nachbesserungen zur ›anatomia plastica‹ geführt hatten, sollten die das Wachsmodell ästhetisierenden Momente, die mit Hilfe der künstlerischen Schöpfungskraft verwirklicht werden konnten, zur letzten Phase, der ›anatomia aesthetica‹ führen.«
138 vielmehr eröffnet sich dadurch ein Reflexionsraum zwischen dem, was Goethe als Autor seines Romans literarisch gestaltet, und dem, was er als Grundüberzeugung in vielen expositorischen Texten zur Kunsttheorie formuliert. Beide Diskursstränge geraten in Spannung zueinander. Während Goethe selbst auf dem Gebiet der bildenden Kunst dem Klassizismus verbunden bleibt, reflektiert er in seinem Roman mit zeitdiagnostischer Hellsichtigkeit die Prozesse einer Moderne, für die die Kunst nur noch von Interesse ist, sofern sie gesellschaftlich-nützliche Funktionen erfüllt.
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VI. Die funktionale Integration des ›Esoterischen‹ in das ›Exoterische‹: Die ambivalente Figur der Makarie
1. Makarie als hermeneutisches Problem Auf seinem Weg durch die unterschiedlichen Wirklichkeitsräume der Wanderjahre, die in je spezifischer Weise den Übergangsprozeß von der traditionalen zur modernen Gesellschaft reflektieren, gelangt Wilhelm mit Felix im Zehnten Kapitel des Ersten Buches zu Makarie, die auf den ersten Blick einer ganz anderen Sphäre anzugehören scheint. Bereits der Ort und die Art von Makaries erstem Auftritt erzeugen eine sakrale Aura: Hinter »einer hohen Mauer die einen weiten Bezirk zu umschließen schien«, liegt wie in einem heiligen Hain »ein altes Gebäude […] zwischen uralten Stämmen von Buchen und Eichen«; über Tor und Pforte, Hausflure und Treppen, geleitet von einer »Beschließerin«, kommen Vater und Sohn in einen »Saal«; dort begrüßen sie »ein jüngeres Frauenzimmer und ein ältlicher Mann«, die ihnen das Erscheinen Makaries ankündigen, woraufhin sich »ein grüner Vorhang [aufzieht], und eine ältliche wunderwürdige Dame […] auf einem Lehnsessel von zwei jungen hübschen Mädchen hereingeschoben« (378f.) wird. Makarie spricht zu Wilhelm so erhellend über ihre Familie, daß er sie »wie verklärt vor seiner Seele« wahrnimmt; ihm ist, als habe sie »die Schale losgelös’t und den gesunden Kern veredelt und belebt.« (379) Nach einem sich daran anschließenden Gespräch über Mathematik, dessen Wiedergabe der Redaktor seinen Lesern aber nicht zumuten möchte (siehe 381f.), wird Wilhelms Erlebnis auf der schloßeigenen Sternwarte geschildert. Bei der nächtlichen Sternenschau, zu der ihn der Astronom Makaries eingeladen hat, erträgt er den Anblick des »Himmelsgewölbe[s]« nicht; er hält sich »beide Augen zu« (382) und gerät in ein stummes Selbstgespräch.1 Darin fragt er nach der Stellung des Menschen »gegen das 1
Siehe hierzu auch Barbara Hunfeld, die feststellt: »Daß Goethe seinen Betrachter den Kontakt mit dem Außerhalb kappen läßt, betont das Konzept der Kosmos-Schau als reflexive Innensicht.« B. H.: Der Blick ins All. Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter, Tübingen 2004, S. 166.
140 Unendliche«, reflektiert auf sein Inneres und kommt zu dem Schluß, daß sich sein eigener »Mittelpunkt« offenbare, insofern »eine wohlwollende, wohltätige Wirkung von ihm ausgeht und von ihm Zeugnis gibt.« (383) Indem Wilhelm die kosmische Ordnung mit seinem ethischen Handeln verbindet, mag der Eindruck entstehen, es werde auf Kants bekannte Rede vom »bestirnte[n] Himmel über mir und [dem] moralische[n] Gesetz in mir« angespielt.2 Doch was als reflexiver Übergang von der äußeren Naturordnung zu den inneren Geboten sittlichen Handelns erscheint, mündet in einen utilitaristischen Appell. Angesichts der Gestirne, die den Menschen im »gesetzmäßigen Gang, Tag und Stunde« (383) bezeichnen, richtet Wilhelm an sich selbst die Frage: »Wie verhältst du dich zu Tag und Stunde« (383),3 um sich dann damit zu rechtfertigen, daß er die Harmonie zwischen Lenardo, dem Neffen Makaries, und seinen Angehörigen wiederherzustellen gedenke.4 Das Ethische ist hiermit nicht mehr, wie bei Kant, absoluter Selbstzweck, sondern nur noch als nützliche Tätigkeit legitim. Nachdem für Wilhelm die zyklische Zeit des Kosmos zum Reflexionsmedium für seine soziale Zeit geworden ist, über die er seine Stellung in der Gesellschaft zu bestimmen sucht,5 legt er sich für einige Stunden zum Schlafen nieder und hat einen merkwürdigen Traum, der die auratische Erscheinung Makaries mit einer kosmisch inspirierten Meditation verbindet. Von ihm berichtet er dem Astronomen: Ich lag sanft, aber tief eingeschlafen, da fand ich mich in den gestrigen Saal versetzt, aber allein. Der grüne Vorhang ging auf, Makariens Sessel bewegte sich hervor, von selbst wie ein belebtes Wesen; er glänzte golden, ihre Kleider schienen priesterlich, ihr Anblick leuchtete sanft; ich war im Begriff mich niederzuwerfen. Wolken entwickelten sich um ihre Füße, steigend hoben sie flügelartig die heilige Gestalt empor, an der Stelle ihres herrlichen Angesichtes sah ich zuletzt, zwischen sich teilendem Gewölk, einen Stern blinken, der immer aufwärts getragen wurde und durch das eröffnete Deckengewölb sich mit dem ganzen Sternhimmel vereinigte, der sich immer zu verbreiten und alles zu umschließen schien. (386) 2 3
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Kant: Kritik der praktischen Vernunft. A 289, in: I. K.: Werke in sechs Bänden, Band 4, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1966, S. 101–302, hier S. 300. Im Hinblick auf das allwaltende Tätigkeitsideal der Auswanderergesellschaft formuliert Thomas Degering: »Jetzt erscheinen Wilhelm die Gestirne als überirdische, übersinnliche Uhren, die darüber wachen, ob ›in jedem Moment‹ ›etwas getan‹ wird – sie ›bezeichnen Tag und Stunde‹ und sind so gleichsam die himmlischen Aufseher der Arbeitsnormerfüllung.« Th. D.: Das Elend der Entsagung, S. 245f. Siehe hierzu S. 159–168 der vorliegenden Arbeit. Zu Einzelheiten siehe Hans Dietrich Irmscher: Wilhelm Meister auf der Sternwarte, in: GJb 110 (1993), S. 275–296, bes. S. 287f.
141 Die von Wilhelm geträumte Apotheose und Sternentransformation Makaries6 – psychologisch motiviert durch die assoziative Verbindung seiner Selbstnegation angesichts des Alls mit der Aura von Makaries Erscheinung – weckt seine Neugier, was es mit Makarie auf sich habe, besonders nachdem er in ihrem Archiv noch ein verschlossenes Fach mit der Inschrift »Makariens Eigenheiten« (389) entdeckt hatte. Makaries Vertraute Angela gibt daraufhin einige Auskünfte. Im einzelnen führt sie aus, wie jene auf höchst ungewöhnliche Weise den gesamten Weltraum zu erkunden vermöge. Was der Astronom durch Messen und Berechnen erkennt, mache sie sich durch sympathetisches Erspüren zu eigen; ihr seien »die Verhältnisse unsres Sonnensystems von Anfang an, erst ruhend, sodann sich nach und nach entwickelnd, fernerhin sich immer deutlicher belebend, gründlich eingeboren.« (390) Makarie birgt den Kosmos jedoch nicht allein in Form einer idea innata in sich, sondern sie nimmt darüber hinaus – und hier ist der rationale Nachvollzug vollends blockiert – selbst einen Ort im stellaren Gefüge ein. Zu diesem Schluß kommt zumindest der Astronom, der sich Makaries kosmische Erfahrungen einst »auf das genaueste vortragen« ließ. Er »stellte Berechnungen an und folgerte daraus, daß sie nicht sowohl das ganze Sonnensystem in sich trage, sondern daß sie sich vielmehr geistig als ein integrierender Teil darin bewege.« (391) Makarie bildet demnach einen Teil des Kosmos, zugleich bildet jener aber auch einen Teil von ihr. Die Kuriosität dieses reziproken Verhältnisses erreicht schließlich ihren Höhepunkt, wenn der Redaktor ein Blatt aus seinem Archiv publik macht, demzufolge Makarie »seit ihrer Kindheit um die Sonne [wandelt], und zwar, wie nun entdeckt ist, in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußeren Regionen hinkreisend.« (734) Ihr interplanetarischer Flug gehe am Mars vorbei und nähere sich »der Bahn des Jupiter«: Offenbar hatte sie eine Zeit lang diesen Planeten, es wäre schwer zu sagen in welcher Entfernung, mit Staunen in seiner ungeheuren Herrlichkeit betrachtet, und das Spiel seiner Monde um ihn her geschaut; hernach aber ihn auf die wunderseltsamste Weise als abnehmenden Mond gesehen, und zwar umgewendet wie uns der wachsende Mond erscheint. Daraus wurde geschlossen, daß sie ihn von der Seite sehe und wirklich im Begriff sei, über dessen Bahn hinauszuschreiten und in dem unendlichen Raum dem Saturn entgegen zu streben. (736f.)
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Siehe hierzu Diethelm Brüggemann: Makarie und Mercurius. Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre als hermetischer Roman, Bern, Berlin, Brüssel u. a. 1999, S. 41–65.
142 Daß Goethe in seinem Roman, der die zeitgenössische Realität so präzise reflektiert, in diesem Fall alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit außer acht läßt, weckt die hermeneutische Neugier. Was mag ihn bewogen haben, eine solch wundersame Figur für die zweite Fassung seines Romans zu modellieren, während er in der ersten Fassung nur eine ›normale‹ namenlose »Tante« im Briefwechsel ihrer Angehörigen in Erscheinung treten ließ?7 Über Makarie als eine der seltsamsten Figuren im umfänglichen Personenarsenal des Dichters haben sich bereits Goethes Zeitgenossen gewundert. Riemer beispielsweise bittet beinahe schon um Nachsicht für den von ihm bewunderten Autor: Weil aber G. gern durch Bilder das Mögliche und das Unmögliche verwirklichen mag, so muß man es schon gelten lassen und keinen philologischen Feldzug dagegen unternehmen. Wenn man sich ferner über die Macaria mokirt und sie absurd und ich weiß nicht was findet; so möge hier zuvörderst G’s. Bemerkung gelten: »Es ist mit Meinungen, die man wagt, wie mit Steinen, die man im Brette bewegt; sie können geschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet, das gewonnen wird.« Sodann sage man sich im Stillen: »Weiß man doch eben nicht, was er sich dachte, der Schalk!«8
Offensichtlich ist nicht so einfach zu ermitteln, was sich der »Schalk« Goethe dachte, als er die Makarie-Passagen noch kurz vor Drucklegung in die zweite Fassung des Romans integrierte. Welches »Spiel« hat er damit »eingeleitet«? Hat er es dadurch, daß er Makarie zum ›Bauernopfer‹ machte, schließlich auch »gewonnen«, und wenn ja, was mag ein solcher Sieg im Kontext des Romans eigentlich bedeuten? Riemer selbst zieht sich mit zwei Goethe-Zitaten aus der Affäre.9 Viele Interpreten haben es sich jedoch nicht nehmen lassen, eine fixierende Bestimmung Makaries zu wagen – was zu den unterschiedlichsten Zuschreibungen geführt hat. Für Georg-Karl Bauer etwa repräsentiert Makarie ein Postulat von Leibniz, wonach »die weiterlebende Seele einen körperhaften Träger, eine Art Ätherleib« benötige;10 Arthur Henkel hingegen sieht in ihr die menschli7
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Erstmals beschäftigte Goethe sich 1825 genauer mit dieser Figur, die im »Einzelschema zum 10. Kapitel des ersten Buchs« den Namen Makarie erhält; siehe Kommentar FA 10, S. 812. Friedrich Wilhelm Riemer: Mittheilungen über Goethe. Aus mündlichen und schriftlichen, gedruckten und ungedruckten Quellen, Band 2, Berlin 1841, S. 615f. Riemer zitiert in seiner Bemerkung Goethe mit einer seiner Maximen und Reflexionen (siehe FA 13, S. 115) und mit einer Zeile aus dessen Venezianischen Epigrammen (siehe FA 1, S. 456). Georg-Karl Bauer: Makarie, in: GRM 25 (1937), S. 178–197, hier S. 185.
143 che »Vollkommenheit als höchste Stufe der Entsagung«11; Hans Joachim Schrimpf gilt sie als »dichterisch-mythische Verwirklichung der reinen Theoria, auf die als ihre tragende Mitte alle Wissenschaft, alle Praxis des menschlichen Daseins gegründet bleibt«12; Oskar Seidlin bestimmt sie als »Mutter aller Weisheit, sie, die aus unserer Welt hinaufreicht in die Gefilde kosmischer Ordnung«13; Albert Fuchs spricht ihr »jene höchste Aufnahmefähigkeit« zu, »die sie für die zeit-räumlichen und geistigen Offenbarungen einer andern Welt empfänglich macht und derart steigert, daß sie mit Selbstverständlichkeit in diesen Sphären wohnt«14; Erich Trunz konstatiert, sie sei »[d]as Höchste, was Goethe an menschlicher Steigerung dargestellt hat«15; Hannelore Schlaffer wiederum deutet sie als Personifikation einer »Astropoesis«, die gegen die ›Prosa der Verhältnisse‹ opponiere, indem sie »den Weg zurück von der Technik und Wissenschaft zur Kunst [geht], um endlich selbst nichts zu sein als Kunstgebilde und Geschöpf«16; für Ernst Loeb symbolisiert diese Figur die gemeinschaftsstiftende Liebe, die mit der Selbstliebe von Faust kontrastiere17; und für Ehrhard Bahr nimmt sie im »Bereich des irdischen Lebens« »die Position der ›Liebe … von oben‹ ein, die hier nicht in christ-katholischer, sondern kosmischer Form auftritt.«18 All diesen affirmativen Lesarten ist gemeinsam, daß sie Makarie als isoliertes Phänomen betrachten. Erst die jüngere Forschung wirft einen kritischen Blick auf sie, indem sie ihre Funktion für den Auswandererbund herausstellt. Am schärfsten opponiert Thomas Degering gegen die Annahme, Goethe habe mit Makarie eine Idealgestalt entworfen. Statt dessen versucht er den Nachweis zu erbringen, daß sie eine Betrügerin sei, ein »vom [Auswanderer-]Bund kaltblütig ausgenutzter Hokuspokus […], 11 12 13
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Arthur Henkel: Entsagung, S. 149; ähnlich Hans Reiss: Goethes Romane, Bern, München 1963, S. 246f. Hans Joachim Schrimpf: Das Weltbild des späten Goethe, S. 314. Oskar Seidlin: Melusine in der Spiegelung der Wanderjahre, in: Aspekte der Goethezeit, hrsg. von Stanley A. Corngold, Michael Curschmann und Theodore J. Ziolkowski, Göttingen 1977, S. 146–162, hier S. 160. Albert Fuchs: Makarie, in: A. F.: Goethe-Studien, Berlin 1968, S. 97–117, hier S. 108. Kommentar HA 8, S. 588. Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister, S. 192. So Ernst Loeb: Makarie und Faust. Eine Betrachtung zu Goethes Altersdenken, in: ZfDPh 88 (1969), S. 583–597, hier S. 587f. Ehrhard Bahr: Die Ironie im Spätwerk Goethes: »…diese sehr ernsten Scherze…«. Studien zum West-östlichen Divan, zu den Wanderjahren und zu Faust II, Berlin 1972, S. 128.
144 gedacht und eingesetzt zur wirkungsvollen Domestizierung der Entsagenden.«19 Etwas moderater und komplexer argumentiert Franziska Schößler, wenn auch sie eine solche doppelte Wertigkeit Makaries herausstellt: Einerseits könne sie der »modernen Gesellschaft zugeordnet werden«, andererseits fungiere sie als der »lediglich theatralische Mittelpunkt einer Gemeinschaft […], die jegliche Form von Transzendenz verloren hat«, ihres Anscheins aber doch zur Legitimation bedürfe.20 Makaries Bedeutung ist zwar ambivalent, doch nicht in der von Degering und Schößler behaupteten Weise. Um diese Bedeutung zu erfassen, darf Makarie weder isoliert noch bloß funktional betrachtet werden. Nur in Verbindung beider Perspektiven läßt sich zeigen, daß und wie die – keineswegs bloß theatralisch inszenierte – ›esoterische‹ Dimension ihrer Existenz mit deren ›exoterischer‹ Dimension zusammenhängt. Als eine völlig unwahrscheinliche Figur sprengt Makarie das auf Wahrscheinlichkeit gegründete übrige Romangeschehen. Doch in welchem Verhältnis steht hier das Unwahrscheinliche zum Wahrscheinlichen, das ›Esoterische‹ zum ›Exoterischen‹? Zuallererst muß man sich wundern, daß Goethe überhaupt eine derart seltsame Figur in die ›entzauberte‹ Welt seines Romans integriert hat. In den Wanderjahren geht es schließlich vornehmlich um die mimetische Reflexion gesellschaftlicher Umbrüche: Die Lebensform des Ganzen Hauses wird vom Agrarkapitalismus ersetzt (Bezirk des Oheims); an die Stelle der Familie tritt als Erziehungsinstanz die Institution (Pädagogische Provinz); die von Mobilität bestimmte Leistungsethik verdrängt die an den Boden gebundene Subsistenzwirtschaft (Lenardos Auswanderungsrede); das Postulat arbeitsteiligen Spezialistentums suspendiert das Ideal einer ganzheitlichen Entfaltung der Persönlichkeit (Handwerkerbünde); die universale Bildung wird durch die Berufsausbildung abgelöst (Wilhelm Meister als Wundarzt). In diese ›entzauberte Welt‹ tritt nun die ›Zaubergestalt‹ der Makarie, die buchstäblich von einem anderen Stern zu kommen scheint.21 Wollte Goethe durch die Einführung dieser Figur auf ›esoterische‹ Tendenzen seiner Zeit anspielen,22 um darauf hinzuweisen, daß es »mehr Ding’ im Himmel und auf Erden [gibt] / als unsre Schulweis19 20 21
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Thomas Degering: Das Elend der Entsagung, S. 248. Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 344. Siehe hierzu auch Goethes früheren Plan eines Romans über das Weltall, den er in Briefen an Charlotte von Stein vom 9. und 10. September 1780 und 7. Dezember 1781 kurz erwähnt, aber nicht realisiert hat; siehe WA IV/4, S. 287 und WA IV/4, S. 232. Siehe hierzu Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin 2008, bes. S. 393–400.
145 heit sich träumen läßt«? (Hamlet, I/5) Mehrfach wurde in diesem Zusammenhang auf die sogenannte Seherin von Prevorst (die somnambule Neurasthenikerin Friederike Hauffe, 1801–1829) als reale Vorbildgestalt hingewiesen, deren Visionen Justinus Kerner festgehalten hat.23 Goethe selbst äußerte sich nach Fertigstellung der Wanderjahre jedoch kritisch zu Kerners Seherin: Ich habe mich immer von Jugend auf vor diesen Dingen gehütet, sie nur parallel an mir vorüberlaufen lassen. Zwar zweifle ich nicht, daß diese wundersamen Kräfte in der Natur des Menschen liegen, ja, sie müssen darin liegen; aber man ruft sie auf falsche, oft frevelhafte Weise hervor. Wo ich nicht klar sehen, nicht mit Bestimmtheit wirken kann, da ist ein Kreis, für den ich nicht berufen bin. Ich habe nie eine Somnambule gesehen. (FA 38, 228)
Auch wenn Goethe nicht an den »wundersamen Kräften in der Natur des Menschen« zweifelt, beklagt er doch die sich auf sie berufende Scharlatanerie. Dennoch hat er mit Makarie eine Figur geschaffen, die prima vista dem Muster des romantischen Okkultismus entspricht. Wie aber ist die Affinität dieser Figur zur Sternenwelt einzuschätzen? Erscheint es im Roman wirklich als eine objektive Tatsache, daß Makarie einerseits das Universum in sich repräsentiert und andererseits auf ihrer planetarischen ›Himmelfahrt‹ einen Teil desselben bildet, oder verdeutlicht der Erzählzu23
Siehe Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere, zwei Bände, Stuttgart, Tübingen 1829; Neudruck Stuttgart 1958, hrsg. von Joachim Bodamer. Zum affirmierend-admirierenden Vergleich siehe Friedrich Lienhard: Makarie und die Seherin von Prevorst, in: F. L.: Der Meister der Menschheit. Beiträge zur Beseelung der Gegenwart, Band 1: Die Abstammung aus dem Licht, Stuttgart 1919, S. 193–216; Albert Fuchs: Makarie, in: A. F.: Goethe-Studien, S. 105f.; Roger Godard: Macarie ou l’anti-Grand Cophte, in: Goethe, hrsg. von Gonthier-Louis Fink, Paris 1980, S. 241–257; Gonthier-Louis Fink: Les mille et une lectures du ›conte‹ de Goethe. Bilan de la critique, in: ebd., S. 37–71; Bettina Gruber behauptet, die zeitliche Abfolge spreche für keine Anregung, da die ›Seherin‹ Friederike Hauffe ihren ›Sonnenkreis‹ erst im Herbst 1827 entwarf, während Goethe schon im Mai 1827 seine Arbeit so gut wie abgeschlossen habe; siehe B. G.: Die Seherin von Prevorst. Romantischer Okkultismus als Religion, Wissenschaft und Literatur, Paderborn, München, Wien u. a. 2000, S. 167. Bettina Gruber ist entgegenzuhalten, daß Goethe zwar am 24. Mai 1827 an Zelter schrieb: »Der zweyte Theil der Wanderjahre ist abgeschlossen« (WA IV/42, S. 189), aber noch am 19. April 1828 in sein Tagebuch notierte: »Makarie Vorschritt.« (WA III/11, S. 207) Siehe auch den Kommentar HA 8, S. 593, der darauf verweist, daß Goethe noch kurz vor Drucklegung des Romans alles daran setzt, die entsprechenden Passagen, die Makaries »Verhältnis zum Sonnensystem« betreffen, in ihn zu integrieren.
146 sammenhang im Gegenteil, daß es sich hier nur um die Wahnvorstellungen einer Somnambulen handelt? Zunächst spricht einiges für letzteres. Immerhin verweist bereits der Redaktor mit Vorbehalt auf das Archivblatt, welches Makarien betrifft und die besondere Eigenschaft die ihrem Geiste erteilt ward. Leider ist dieser Aufsatz erst lange Zeit, nachdem der Inhalt mitgeteilt worden, aus dem Gedächtnis geschrieben und nicht, wie es in einem so merkwürdigen Fall wünschenswert wäre, für ganz authentisch anzusehen. (733)
So wie der Redaktor die heikle Überlieferungslage bezüglich der kosmischen Beziehung Makaries betont, versieht auch deren Vertraute Angela ihre Mitteilung, daß »Makarien die Verhältnisse unsres Sonnensystems […] eingeboren« sind, mit der Einschränkung »wie es scheinen will.« (390)24 Und Makaries Verwandte deuten deren ›Trancezustände‹ sogar ausdrücklich als pathologische Erscheinungen: »Diese geheimen Anschauungen, die entzückenden Gesichte sind es die bei den Ihrigen als Krankheit gelten, wodurch sie augenblicklich gehindert sei an der Welt und ihren Interessen Teil zu nehmen.« (391; ähnlich auch 735) Doch so einfach, wie die Angehörigen meinen, die als »Verständige und Vernünftige« (391) alles negieren, was sich ihrem Bild der Wirklichkeit nicht fügt, macht es der Roman seinen Lesern nicht. Denn zugleich erscheint Makaries ›planetarisches Wesen‹ durchaus auch als objektive Tatsache. Als Beglaubigungsinstanz fungiert der Astronom, der sich zugleich als Mathematiker und Philosoph, später dann auch noch als Arzt ausweist.25 Von Berufs wegen skeptisch, glaubt er zunächst an »Täuschung« 24
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Siehe hierzu Christian Mittermüller, der die narrativen Relativierungen als Momente der Irrealisierung herausstellt: »Die mit Makaries kosmischen Ganzheitsvisionen verbundene Sinnstiftung gewinnt durch den relativierenden und lückenhaften narrativen Präsentationsmodus, der jede definitive Festlegung vermeidet, innerhalb der Wanderjahre einen utopisch-irrealen Charakter.« Ch. M.: Sprachskepsis und Poetologie, S. 207. Die Kombination Astronom, Arzt und Mathematiker verweist auf die Tradition der gelehrten Ärzte, die neben ihrem Fachstudium auch Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik zu studieren hatten, um den Zusammenhang des Mikrokosmos mit dem Makrokosmos erfassen zu können; siehe hierzu Hannes Kästner: Der Arzt und die Kosmographie. Beobachtungen über Aufnahme und Vermittlung neuer geographischer Kenntnisse in der deutschen Frührenaissance und der Reformationszeit, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, hrsg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Stuttgart 1984, S. 504–531; im Rückgriff auf Wilhelm Förster verweist Eduard Spranger darauf, daß Franz Xaver von Zach (1754–1832) die Vorbildgestalt für den Astronomen im Roman gewesen sei. E. S.:
147 (735), wenn Makarie den Lauf der Gestirne prognostiziert. Er unterstellt, sie benutze früher erworbene astronomische Kenntnisse, um als intuitives Wissen auszugeben, was doch nur Ergebnis »eines versteckten Calculs« (736) sei. Nachdem er ihre Angaben genau überprüft hat, kommt er indes zu dem Schluß, daß Makarie tatsächlich mittels ihres Körpers den Stand der Gestirne zu erspüren vermag, den er allenfalls berechnen kann. Er »wunderte sich besonders über die neusten mit dem gegenseitigen Stande der Himmelslichter übereintreffenden Angaben, und rief endlich aus: nun warum sollte Gott und die Natur nicht auch eine lebendige Armillarsphäre, ein geistiges Räderwerk erschaffen und einrichten.« (736)26 In Makariens Archiv, einer Aphorismensammlung, die der Romanfiktion zufolge aus Gesprächsnotizen besteht, die sich Angela in Makariens Gegenwart gemacht hat – tatsächlich aber, wie auch die andere Aphorismensammlung Betrachtungen im Sinne der Wanderer, von Eckermann aus Notaten Goethes zusammengestellt wurde27 –, findet sich eine entsprechende Reflexion. In ihr wird gegen die instrumentelle Zurichtung der Natur auf eine wahrnehmungsgebundene Phänomenologie verwiesen: Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann; und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann dadurch beschränken und beweisen will. (760)
Den im Roman Makarie zugewiesenen Gedanken, daß der natürliche Wahrnehmungsapparat des Menschen das vorzüglichste aller Erkenntnisinstrumente bildet, hat Goethe wortgleich auch in seinen Maximen und Reflexionen vertreten (siehe FA 24, 391) und überhaupt immer wieder akzentuiert, indem er den subjektiven Bezug der Objekterkenntnis gegen deren szientistische Reduktion hervorhob. Gegen die apersonale Erfassung von objektiv gültigen Naturgesetzen stellt er die phänomenologische Beschreibung eines subjektgeprägten Naturerlebens. Es gehe darum, wie er in seinem Aufsatz Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort
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Die sittliche Astrologie der Makarie in Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: E. S.: Goethes Weltanschauung. Reden und Aufsätze, Wiesbaden 1946, S. 192–206. Der Astronom spielt mit seinem Ausruf auf ein »altes astronomisches Demonstrationsgerät zur Messung und Darstellung von Stundenwinkel und Deklination der Gestirne« an. (Kommentar FA 10, S. 1243) Zu Einzelheiten siehe den Kommentar FA 10, S. 996f.; zur Kontroverse um den Stellenwert der beiden Aphorismensammlungen siehe Karl Viëtor: Goethe’s Gedicht auf Schiller’s Schädel, S. 169–172.
148 formuliert, »auszusprechen, wie ich die Natur anschaue, zugleich aber gewissermaßen mich selbst, mein Inneres, meine Art zu sein […] zu offenbaren.« (FA 24, 595) Deshalb polemisiert Goethe in vielen seiner wissenschaftstheoretischen Schriften gegen die moderne Naturwissenschaft, die das Subjekt auszuklammern sucht, indem sie auf experimentell belegte sowie exakt zu verifizierende Erkenntnisse abzielt.28 Zwar erkennt er die Leistung einer nomothetischen Wissenschaft an, die im analytischen Zugriff auf die Natur partielles Wissen erzeugt; zugleich aber thematisiert er den damit verbundenen Verlust an Ganzheitserfahrung: Wenn wir Naturgegenstände, besonders aber die lebendigen, dergestalt gewahr werden, daß wir uns eine Einsicht in den Zusammenhang ihres Wesens und Wirkens zu verschaffen wünschen, so glauben wir zu einer solchen Kenntnis am besten durch Trennung der Teile gelangen zu können; wie denn auch wirklich dieser Weg uns sehr weit zu führen geeignet ist. […] Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben. (FA 24, 391)
Gegen die Vorteile der Analyse betont Goethe den Nachteil der mangelnden Synthese; gegen die Verdinglichung einer in Teilaspekte zerlegten Natur macht er den Zusammenhang des Lebendigen geltend. Als dessen Personifikation erscheint Makarie, insofern sie als eine Figur gestaltet ist, die sich mit ihrem Vermögen, das Universum als Teil von sich selbst intuitiv nachzuvollziehen, dem rationalen Zugriff verweigert. Dadurch, daß sie sich der Außenwelt nicht rechnend, experimentierend und analysierend nähert, übersteigt sie den ›verdinglichenden‹, abstrahierenden Zugriff der modernen analytischen Wissenschaften und sprengt alle Grenzen positivistischen Denkens. Im Gegensatz zur Partialisierung der Natur in diverse Wissensfelder, die mit spezifischen Methoden erforscht werden, erfährt sie ›am eigenen Leib‹ eine Ganzheit, die sich als Korrespondenzverhältnis von Innen und Außen, Mensch und Kosmos manifestiert. In der Gestaltung Makaries hat Goethe seine Einheits- und Ganzheitsvorstellungen fiktional ins Extrem getrieben – nicht nur, was den Kosmos als unbegrenzten Erfahrungsraum, sondern auch, was den Körper als Me28
Beispielhaft hierfür ist Goethes Auseinandersetzung mit Newton und dessen Verfahren, von den sinnlichen Eindrücken der Natur zu abstrahieren, sie in Teilbereiche aufzulösen und auf ihre mathematisch faßbare Dimension zu reduzieren; siehe hierzu Hans Joachim Schrimpf: Über die geschichtliche Bedeutung von Goethes Newton-Polemik und Romantik-Kritik, in: H. J. S.: Der Schriftsteller als öffentliche Person. Von Lessing bis Hochhuth. Beiträge zur deutschen Literatur, Berlin 1977, S. 126–143, bes. S. 127–136.
149 dium vorreflexiver Erkenntnis betrifft. Der Astronom tritt hierbei als externer Beobachter auf, der Makaries intuitive Schau der Sternenwelt durch seine Berechnungen bestätigt. Er verifiziert eine Einsicht, die nicht wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern leibgebundener Erfahrung entspringt. So wird die rationale Wissenschaft depotenziert, da sie nur nachrechnet, was zuvor in unmittelbarer ›Schau‹ erfaßt wurde. Während Makarie eine symbiotische Einheit mit dem Weltall bildet, so daß zwischen sie und die Ordnung des Universums kein vermittelndes Kalkül tritt, bleibt der Mathematiker – wie Goethe in Ferneres über Mathematik und Mathematiker bemerkt – »angewiesen aufs Quantitative, auf alles was sich durch Zahl und Maß bestimmen läßt, und also gewissermaßen auf das äußerlich erkennbare Universum.« (FA 25, 87)29 Dementsprechend bringt der Astronom auf Formeln, was sich seiner lebendigen Anschauung entzieht; zugleich bestätigt seine rationale Erkenntnis, was die an das Alltagswissen gebundenen Mitmenschen als Wahn und Krankheit Makaries abtun. Indem Goethe die Diagnose pathologischer Abweichung dadurch verwehrt, daß er den Astronomen als Beglaubigungsinstanz einführt, nötigt er den Leser, sich weitergehende Gedanken zu machen. Ich möchte dies im folgenden in mehrere Richtungen tun. Zunächst gehe ich den Traditionen nach, die Goethe für die Konzeption der Makarie aufruft, danach zeige ich, wie diese Traditionen in die Gestaltung der Figur Eingang finden, um sodann deren Stellenwert im Kontext der vom Roman reflektierten Moderne zu erfassen. Zur Plausibilisierung meines Gedankengangs nehme ich mit der Gesteinsfühlerin noch eine Gestalt in den Blick, die Makarie komplementär zugeordnet ist.
2. Die kosmologische Konzeption der Makarie-Figur In seiner Gestaltung der Makarie greift Goethe insbesondere auf die alte Mikrokosmos-Makrokosmos-Lehre zurück. Die Vorstellung, daß der Mensch in einem sympathetischen Verhältnis zum Universum steht, entwickeln bereits die Denker der Antike: Von den ionischen Naturphiloso29
Für Goethe kann die Mathematik zwar die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos erfassen, aber der formelhaften Erkenntnis entspricht kein »lebendige[s] Anschaun der Natur.« (FA 24, S. 392) Denn, wie es in der Farbenlehre heißt: Formeln »verwandlen das Lebendige in ein Totes; sie töten das innre Leben, um von außen ein unzulängliches heranzubringen.« (FA 23.1, S. 245) Zur kritischen Haltung gegenüber der Mathematik in den Wanderjahren siehe auch die Aphorismen Nr. 166–170 aus den Betrachtungen im Sinne der Wanderer. (FA 10, S. 582f.)
150 phen, den Pythagoräern und Empedokles über Platons kosmologische Spekulationen im Timaios reicht sie bis zu Lukrez und den Neuplatonikern.30 Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kehrt der antike Gedanke wieder, daß alle Dinge im Universum in einem harmonischen Bezug zueinander stehen und übereinander wechselseitig Aufschluß geben. So heißt es z. B. in der Occulta Philosophia (1533) von Agrippa von Nettesheim: Das Untere ist mit dem Oberen gegenseitig so verbunden, daß der Einfluß vom Endpunkte des Letzteren, von der ersten Ursache aus, bis zum Untersten sich erstreckt, wie bei einer angespannten Saite, die, wenn man ein Ende derselben berührt, plötzlich ihrer ganzen Länge nach erzittert, indem die Berührung auch am andern Ende widerhallt. Wird daher etwas Unteres in Bewegung gesetzt, so wird es auch das Obere, dem es entspricht, wie die Saiten an einer wohlgestimmten Zither.31
Neben der neuplatonischen Tradition32 und dem später damit verbundenen hermetischen Gedankengut der alchemistischen Medizin,33 der theosophischen Bibelauslegung Swedenborgs34 und den im 18. Jahrhundert 30
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Zu Einzelheiten siehe Adolf Meyer, der die Lehre vom Mikro- und Makrokosmos in der Einleitung zu seiner historischen Untersuchung wie folgt definiert: »Die Lehre von der Welt im Kleinen und von der Welt im Grossen, von der kleinen und grossen Welt in dem Sinne, dass der Mensch in den Zuständen, Verhältnissen, Bedingungen seiner Existenz die Zustände, Verhältnisse, Bedingungen des Weltganzen darstelle, ein Abbild der Welt, ein Auszug und abgekürzter Ausdruck des Alls, die Welt im Kleinen sei, und umgekehrt, dass die grosse Welt, das Weltganze aufzufassen wäre als ein Abbild des Menschen, als ein belebtes, mit einer Seele ausgestattetes Wesen, als ein menschlicher Organismus im Grossen, als ein vergrösserter Mensch.« A. M.: Wesen und Geschichte der Theorie vom Mikro- und Makrokosmos, Bern 1900, S. 1. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: De Occulta Philosophia (1533). Geheime Philosophie oder Magie, in: Die magischen Schriften, hrsg. von Kurt Benesch, Wiesbaden 21985, S. 9–588, hier S. 83f. Zur Tradition des Florentiner Neuplatonismus siehe Wolf-Dieter MüllerJahncke: Von Ficino zu Agrippa. Der Magia-Begriff des Renaissance-Humanismus im Überblick, in: Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt, hrsg. von Antoine Faivre und Rolf Christian Zimmermann, Berlin 1979, S. 24–51; Werner Beierwaltes: Neuplatonisches Denken als Substanz der Renaissance, in: Magia naturalis und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft. Symposion der Leibniz-Gesellschaft, Hannover 14. und 15. November 1975, Redaktion: Albert Heinekamp und Dieter Mettler, Wiesbaden 1978, S. 1–16. Siehe hierzu Diethelm Brüggemann, der die Bedeutung von Goethes alchimistischen Kenntnissen für die Gestaltung der Makarie-Figur herausstellt. D. B.: Makarie und Mercurius, S. 44–58. Über Emanuel Swedenborgs Geisterlehre Arcana Coelestia (1749–56) schreibt Goethe in einem Brief vom 14. November 1781 an Lavater: »Ich bin geneigter
151 weit verbreiteten kosmischen Spekulationen über planetarische Palingenesie35 enthält auch die romantisch-spekulative Naturphilosophie Aspekte, die in die Gestalt der Makarie Eingang gefunden haben. So propagiert der populärste Vertreter dieser Richtung, Gotthilf Heinrich Schubert, in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) einen intuitiven Zugang zur Schöpfung. Nicht der Mensch, der der Welt als rationales Wesen gegenübersteht, sondern derjenige, der in somnambulen Ausnahmezuständen die eigene Person mit der überall wirksamen Lebensseele verbindet, ist für ihn jene Instanz, die die Harmonie der Welt zu erfassen vermag. Zwar hat Goethe, der mit Schubert 1807 bei seiner Kur in Karlsbad ins Gespräch kam,36 dessen Ansichten nicht gebilligt, jedoch keines-
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als iemand noch eine Welt außer der Sichtbaren zu glauben und ich habe Dichtungs- und Lebenskraft genug, sogar mein eigenes beschränktes Selbst zu einem Schwedenborgischen Geisteruniversum erweitert zu fühlen.« (WA IV/5, S. 214) Daß Goethe seit seinen Studien der hermetischen Literatur um 1769 im Klettenberg-Zirkel von naturmystischen Vorstellungen geprägt bleibt, weist Rolf Christian Zimmermann detailliert nach; siehe R. Ch. Z.: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Band 1: Elemente und Fundamente, München 1969, S. 48f. Zu Einzelheiten siehe Karl S. Guthke: Der Mythos der Neuzeit. Das Thema der Mehrheit der Welten in der Literatur- und Geistesgeschichte von der kopernikanischen Wende bis zur Science-Fiction, Bern, München 1983, S. 227–247; Goethe nimmt im Gespräch mit Kanzler von Müller auf die Vorstellung einer planetarischen Palingenesie nicht ohne Selbstironie Bezug, wenn er anmerkt, er habe sich »so einige [Sterne] ausersehen«, auf denen er nach seinem Verscheiden seine »Späße noch fortzutreiben gedenke.« F. v. M.: Unterhaltungen mit Goethe, hrsg. von Ernst Grumach, Weimar 1956, S. 51. Siehe hierzu Goethes Eintragungen im Tagebuch vom 6. und 7. August 1807, in: WA III/3, S. 253f.; siehe auch Goethes Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer vom 8. Dezember 1808, in dem er über Schubert sagt, er gehöre zu den »MollTöne[n] der Natur; das Heilige spräche sich aber auch in Dur-Tönen aus.« Goethes Gespräche, hrsg. von Wolfgang Herwig, Band 2, S. 392. Besonders kritisch äußert er sich zu Schubert in einem Gespräch mit Sulpiz Boisserée vom 4. August 1815: »So der Schubert, der erbärmliche, mit seinem hübschen Talent, hübschen aperçus usw., spielt nun mit dem Tode, sucht sein Heil in der Verwesung – da er freilich selbst schon halb verwest ist und das heißt buchstäblich die Schwindsucht hat. Da möchte man des Teufels werden; es ist aber gut, ich lasse sie machen, es geht zu Grunde, und das ist recht.« Ebd., S. 1036. Schubert hingegen berichtet, daß Goethe sich äußerst interessiert an seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft und dabei insbesondere an seinen astronomischen Überlegungen gezeigt habe: »Ich habe ihm täglich demonstriren müßen, der alte große Greis hat begierig um Alles gefragt, sich nicht geschämt wo ihm noch etwas Unbekanntes war.« Gotthilf Heinrich Schubert in seinen Briefen. Ein Lebensbild, hrsg. von Gottlieb Nathanael Bonwetsch, Stuttgart 1918, S. 149.
152 wegs in Abrede gestellt, daß sich die tieferen Zusammenhänge der Welt dem Zugriff des sezierenden Verstandes entzögen. In dieser Auffassung stimmt er in vielen Punkten mit dem romantischen Analogiedenken überein.37 Dessen Basis besteht in dem Axiom einer Einheit von Natur und Geist. Physik und Metaphysik befinden sich hier folglich nicht im Widerspruch, sondern im Korrespondenzverhältnis. Entsprechend heißt es etwa in Schellings Ideen zu einer Philosophie der Natur: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sey, auflösen.«38 So wie Innen und Außen, Geist und Materie einander entsprechen, stehen auch Teil und Ganzes in einem Analogieverhältnis. Das Ganze erscheint als Beziehungskomplex, der die Teile untereinander verknüpft und in einen übergeordneten Zusammenhang einbindet. Das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem wird dabei häufig mit Hilfe jenes tradierten Gedankens formuliert, demzufolge der Mensch als Mikrokosmos den Makrokosmos in sich enthalte, der wiederum, wie Novalis sagt, ein »Macroandropos«39 sei; entsprechend merkt der Romantiker auch in einem seiner Blüthenstaub37
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Eine Schlüsselrolle kommt der Analogie insbesondere in den philosophischen Überlegungen Friedrich Schlegels zu, was dessen Philosophische Lehrjahre ebenso zeigen wie der Abschnitt Lehre von der Analogie aus seinen Kölner Philosophischen Vorlesungen der Jahre 1805–1806; Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Band 18: Philosophische Lehrjahre (1796–1806), nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828. Erster Teil. Mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Ernst Behler, München, Paderborn, Wien 1963, S. 1–501, hier S. 213 (Nr. 213): »Die Analogie ist das Princip für die Char.[akteristik] des Universums.« Siehe auch ebd., S. 296f. (Nr. 1221) und S. 313 (Nr. 1436 und Nr. 1446). Entsprechende Passagen finden sich auch in Band 13: Philosophische Vorlesungen (1800–1807). Zweiter Teil. Mit Einleitung und Kommentar hrsg. von JeanJacques Anstett, München, Paderborn, Wien 1964, S. 314–317; siehe allerdings auch Goethes kritisch-relativierenden Aphorismus Nr. 115 aus den Betrachtungen im Sinne der Wanderer: »Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles in’s Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet.« (FA 10, S. 575) Schelling: Einleitung zu: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797), in: F. W. J. S.: Ausgewählte Werke, Band 4: Schriften von 1794–1798, Darmstadt 1980, S. 333–380, hier S. 380. Novalis: Das allgemeine Brouillon, in: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Band 3: Das philosophische Werk II, Darmstadt 1968, S. 207–478, hier S. 316 (Nr. 407).
153 Fragmente an: »Wir träumen von Reisen durch das Weltall – Ist denn das Weltall nicht in uns?«40 Und an anderer Stelle führt er aus: Unser Körper ist ein Theil der Welt – Glied ist besser gesagt: Es drückt schon die Selbstständigkeit, die Analogie mit dem Ganzen – kurz den Begriff des Microcosmus aus. Diesem Gliede muß das Ganze entsprechen. So viel Sinne, so viel Modi des Universums – das Universum völlig ein Analogon des menschlichen Wesens in Leib – Seele und Geist. Diese Abbreviatur, jenes Elongatur derselben Substanz.41
Gegen die sezierende Rationalität, die den Gesamtzusammenhang der Welt analytisch auflöst, opponiert so ein Ganzheitsgedanke, der Korrespondenzbeziehungen zwischen dem Kleinsten und dem Größten, dem Psychischen und Physischen, der Seele und dem Kosmos postuliert. Es gehe darum, jene harmonische Einheit zwischen Mensch und Welt aufzudecken, die die moderne Naturwissenschaft mit ihren analytischen Methoden und ihren mathematischen Kalkülen verstellt habe. Geprägt ist diese Sicht von der Grundüberzeugung eines durchgängigen geistig-organischen Zusammenhangs des Universums, den es wieder sichtbar zu machen gelte. Solche Vorstellungen einer All-Einheit von Mensch und Kosmos, in der sich jede Trennung in Spiegelungsverhältnissen auflöst, haben in Makarie Gestalt gewonnen. Sie, die alle Grenzen zwischen Subjekt und Objekt transzendiert, indem sie die Gesetze des Universums ›verinnerlicht‹ hat und sich in diesem zugleich als ein »integrierender Teil« (391) bewegt, überwindet durch ihre Einkehr in die Harmonie des Alls das principium individuationis, das dem neuzeitlichen Individuum immer wieder als Leiden an der Differenz zugewiesen wird. So erscheint Makarie als Antithese zur modernen Wissenschaftspraxis, die zugunsten eines objektivistischen Detailwissens den subjektiven Bezug der Erkenntnis eliminiert und darüber hinaus den Zusammenhang des Ganzen aus den Augen verliert. Neben Makarie, die das kosmische Weltwissen im wörtlichen Sinne verkörpert, tritt als Begleiterin Jarno/Montans die Gesteinsfühlerin auf, die »eine gewisse Einwirkung der unterirdisch fließenden Wasser, metallischer Lager und Gänge, so wie der Steinkohlen und was dergleichen in Massen beisammen sein möchte« (728), körperlich zu empfinden vermag.42 So wie 40 41 42
Novalis: Vermischte Bemerkungen und Blüthenstaub, in: ebd., Band 2: Das philosophische Werk I, Darmstadt 1965, S. 399–470, hier S. 417f. (Nr. 16). Novalis: [Studien zur bildenden Kunst], in: ebd., S. 648–651, hier S. 650f. (Nr. 485). Siehe hierzu S. 80–89 der vorliegenden Arbeit.
154 Makarie den sympathetischen Bezug zum Kosmos repräsentiert, steht sie für den Bezug zum Erdinneren. An beiden Figuren entfaltet sich der Allzusammenhang einer Welt, der sie nicht als Erkennende gegenüberstehen, sondern als Fühlende angehören. Während Goethe für die Konzeption der Makarie auf das bis zur Romantik wirksame Analogiedenken zurückgreift, konzipiert er die Gesteinsfühlerin vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Magnetismuslehre und der in diesem Zusammenhang vielfach angestellten Pendelexperimente. Anders als Faust, der durch seine Makrokosmosvision desillusioniert wird und mit seiner Erdgeistbeschwörung kläglich scheitert, offenbaren sich der magischen Welterfassung beider Gestalten die Eigentümlichkeiten des Himmels und der Erde. Wird Makarie in diesem Zusammenhang als »lebendige Armillarsphäre« (736), bezeichnet, so heißt es analog von der Gesteinsfühlerin, sie sei eine menschliche »Wünschelrute« (536). Der Körper als subrationales Medium universaler Welterfassung – mit dieser Konzeption ragen in die Welt der Moderne tradierte Vorstellungen eines Weltentwurfs hinein, der den Menschen in einen sympathetischen Bezug zum umfassenden Ganzen stellt. Mit Makarie und der Gesteinsfühlerin scheint noch einmal ein bis in die Antike zurückreichendes holistisches Weltbild als Gegenentwurf zu einer Moderne auf, deren Partialisierungen keine umfassende Sinnerfahrung mehr ermöglichen. Goethe hat hiergegen mit seinen beiden Figuren kosmologische und terrestrische Szenarien gestaltet, die das in der Moderne zersplitterte Teilwissen in sich aufheben. Doch hat er beide Gestalten nicht naiv als Antipoden zur ›entzauberten‹ Welt des durch Spezialisierung, Nützlichkeit und Effizienz bestimmten Romangeschehens konzipiert. Sie sind ja nicht bloß die personifizierten Antithesen der modernen Welt, die sie ausgrenzt, sondern sie agieren auch in dieser Welt.
3. Makarie als Psycho- und Sozialtherapeutin Wie aber – so ist zu fragen – wird die ›esoterische‹ Sinndimension, die beide Gestalten verkörpern, zum Faktor im Handlungsgefüge eines Romans, der unter dem Signum der Moderne steht? Die kurzgefaßte Antwort lautet: Dadurch, daß die ›esoterische‹ Dimension für die ›exoterische‹ genutzt wird. Zwar hat Goethe in einem Brief an Christoph Wilhelm Hufeland vom 5. September 1817, in dem er zu den Praktiken des Mesmerismus Stellung bezieht, generell betont, er könne »überhaupt nicht billigen […], daß die Sache aus dem heilsamen Esoterischen in das allzubreite
155 Exoterische geführt worden, woran jedoch alle Wissenschaften in unserm communicativen Jahrhundert zu leiden haben.« (WA IV/28, 243f.) Was Goethe im Hinblick auf die öffentliche Zurschaustellung des Geheimnisvollen kritisiert, das praktizieren seine beiden Romanfiguren in modifizierter Weise unter den Bedingungen der utilitaristischen Moderne. Sie wenden das ›Esoterische‹ ins ›Exoterische‹, doch nicht, um das Geheimnisvolle vor den Augen ihrer Mitmenschen als Spektakel zu inszenieren, sondern um mit ihren Fähigkeiten, die sich dem rationalen Nachvollzug entziehen, Nutzen zu stiften. Bei der Wünschelrutengängerin ist dies ganz offensichtlich: Sie vermag mit ihrem Körper Bodenschätze aufzuspüren – eine Fähigkeit, die Jarno/Montan für deren Exploration nutzt. Auf diese Weise instrumentalisiert er die ›esoterische‹ Gesteinsfühlerin für eine ›exoterische‹ Anwendung.43 Auch Makarie besitzt neben ihrer ›esoterischen‹ eine ›exoterische‹ Seite. Im Auswandererbund agiert sie auf zwischenmenschlicher Ebene als alte Tante im Kreis ihrer Verwandten, schreibt Briefe, ist ihrem Neffen Lenardo emotional zutiefst verbunden, stiftet Eintracht, wo Verwirrung und Zwietracht herrschen und bedient sich hierzu des physiognomischen Blicks, der es ihr ermöglicht, »die innere Natur eines jeden durch die ihn umgebende individuelle Maske« (379) zu erkennen. Sie fungiert als »Beichtiger aller bedrängten Seelen, aller derer die sich selbst verloren haben, sich wieder zu finden wünschten und nicht wissen wo.« (493) Auf diese Weise wird im Roman neben der geheimnisvollen kosmischen Dimension Makaries, die die Angehörigen als pathologisch ansehen, eine psycho- und sozialtherapeutische Funktion dargestellt, die den Mitmenschen hilfreich ist. So hält sie nach allen emotionalen Verstrickungen am Ende der Novelle Der Mann von funfzig Jahren den Beteiligten zunächst einen »sittlichmagischen Spiegel« (493) vor, der diese mit sich und den ihnen verborgenen Motiven bekannt macht, um sie so zu Selbsterkenntnis und sozialem Wohlverhalten zu führen. Wie dies im einzelnen geschieht, demonstriert der Roman in extenso an Lydie. Die Lehrjahre hatten sie als eine Hysterikerin dargestellt, die von ihrer Liebe zu Lothario nicht lassen konnte; mittels einer infamen Intrige, in der Wilhelm als »Werkzeug« (FA 9, 815) diente, wurde sie damals von ih43
Anders als Heinz Schlaffer, der allgemein bei Goethe zwischen einer ›esoterischen‹ und einer ›exoterischen‹ Seite unterscheidet, akzentuiere ich die beiden Seiten im folgenden nicht als offensichtliche Oberfläche und verborgene Tiefe des Werks, sondern als die im Roman selbst dargestellte Doppeldimension von Makarie und der Gesteinsfühlerin. Siehe H. S.: Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen, in: GJb 95 (1978), S. 212–226.
156 rem Geliebten entfernt. Jarno bot ihr daraufhin seine Hand an; auf den Einwand Natalies, es sei »ein gefährlicher Versuch, sich ein Mädchen zuzueignen, in dem Augenblicke, da sie aus Liebe zu einem andern verzweifelt«, entgegnete er: »Ich habe es gewagt […], sie wird unter einer gewissen Bedingung mein.« (FA 9, 947) Um welche Bedingung es sich dabei handelt, lassen die Lehrjahre offen, auch wird dort nirgends eine Hochzeitsfeier erwähnt. Und so muß es den Leser überraschen, daß sie gegen Ende der Wanderjahre bereits verheiratet sind, da sich Jarno/Montan doch bislang als Einzelgänger allein seiner geologischen Forschung widmete. Der Redaktor weiß um den Überraschungseffekt, wenn er den neuen Tatbestand recht lapidar mitteilt: Hier nun müssen wir vertraulich eröffnen: daß Montan Lydien von ihrer frühen Jugend an geliebt, daß der einnehmendere Lothario sie ihm entführt, er aber ihr und dem Freunde treu geblieben und sie sich endlich, vielleicht zu nicht geringer Verwunderung unserer früheren Leser, als Gattin zugeeignet habe. (726)
Doch haben sich bei Lydie bislang die von der zeitgenössischen Doktrin der Liebesheirat geforderten Gefühle für Jarno, über den sie einst bemerkte, er habe »kein Gemüt« (FA 9, 839), noch nicht eingestellt. Erst muß Makarie ihre affektiven Blockaden lösen, damit sie sich ihrem Ehemann auch emotional zuwenden kann. Das geschieht höchst zeremoniell. Zunächst fallen Philine und Lydie Makarie zu Füßen, die unbekümmerte Philine steht sogleich wieder heiter auf, während Lydie, die in den Lehrjahren Lothario verfallen war, erst durch intensive Zuwendung von ihrer emotionalen Verstrickung befreit wird: Lydie lag von der linken Seite her der Heiligen mit dem Gesicht auf dem Schoße, weinte bitterlich und konnte kein Wort sprechen; Makarie, ihre Tränen auffassend, klopfte ihr auf die Schulter als beschwichtigend, dann küßte sie ihr Haupt zwischen den gescheitelten Haaren, wie es vor ihr lag, brünstig und wiederholt in frommer Absicht. Lydie richtete sich auf, erst auf ihre Kniee, dann auf die Füße und schaute zu ihrer Wohltäterin mit reiner Heiterkeit. »Wie geschieht mir!« sagte sie, »wie ist mir! Der schwere lästige Druck, der mir, wo nicht alle Besinnung doch alles Überlegen raubte, er ist auf einmal von meinem Haupte weggehoben, ich kann nun frei in die Höhe sehen, meine Gedanken in die Höhe richten und«, setzte sie nach tiefem Atemholen hinzu, »ich glaube mein Herz will nach.« (725)
Der situative Kontext läßt keinen Zweifel an dem, was es mit Lydies zunächst seltsam klingender Formulierung »mein Herz will nach« auf sich hat. Die Gefühle, die sich bislang gegenüber ihrem Ehemann Jarno/Montan nicht einstellen wollten, weil sie sich noch immer an Lothario gebunden fühlte, kommen jetzt den mit einer Heirat verbundenen normativen
157 Erwartungen nach. Daß hierin das Ziel der von Makarie durchgeführten ›Kurztherapie‹ besteht, verdeutlicht das vorab getroffene Arrangement. Der Erfolg zeigt sich genau in dem Moment, als Lydie ihre Herzensbewegung bekundet: In diesem Augenblicke eröffnete sich die Türe und Montan trat herein, wie öfters der allzulang erwartete plötzlich und unverhofft erscheint. Lydie schritt munter auf ihn zu, umarmte ihn freudig, und indem sie ihn vor Makarien führte, rief sie aus: »er soll erfahren was er dieser Göttlichen schuldig ist und sich mit mir dankend niederwerfen.« (725f.)
Jarno/Montan weiß um seine Schuldigkeit, reagiert zuerst »mit edler Verbeugung gegen die würdige Dame« und wendet sich dann Lydie zu: »Es ist das erstemal, daß du mir offen und liebevoll entgegen kommst, das erstemal daß du mich an’s Herz drückst, ob ich es gleich längst verdiente.« (726) Offensichtlich ist Makarie auch diesmal gelungen, was sie auch sonst vermag: Wiederum hat sie »irgend einem Unglücklichen sein rein schönes Innere gewiesen und ihn auf einmal erst mit sich selbst befriedigt und zu einem neuen Leben aufgefordert«. (493) Die Liebe zwischen Jarno/Montan und Lydie, die bislang durch deren emotionale Bindung an Lothario blokkiert war, hat Makarie durch die ›magische‹ Kraft ihrer Zuwendung ›zur Ordnung der Ehe gerufen‹. Sie formt Emotionalität nach dem Muster gesellschaftlicher Bedingtheiten und schließt so die Kluft zwischen individuellem Begehren und sozialen Geboten. Was der Roman positiv darstellt, läßt sich als Beitrag zum Entsagungsprogramm des Auswandererbundes verstehen. Makarie vermag Lydies Gefühle in die gesellschaftliche Ordnung einzufügen, indem sie zur ehelichen Liebe zu Jarno/Montan transformiert, was bislang nonkonforme Leidenschaft gegenüber Lothario war. Auf diese Weise sichert sie die Übereinstimmung der Person mit sich und der Gesellschaft, indem sie verhindert, »dass inneres Fühlen und äußeres Handeln, personale und soziale Identität auseinander fallen.«44 Doch es geht hierbei nicht darum – wie Henriette Herwig ausführt – »denen, um die sie sich bemüht, den Übergang vom sozialen Rollenspiel zur Selbstbestimmung der Person« zu erleichtern, sondern umgekehrt darum, die Integration ins soziale Rollenspiel zu bewerkstelligen. Sollte allerdings die Kluft zwischen den äu44
Henriette Herwig: Die Makarien-Figur in Goethes Wanderjahren: Allegorie der Versöhnung neuzeitlicher Naturwissenschaft mit der Naturphilosophie der Renaissance, in: Von Schillers Räubern zu Shelleys Frankenstein. Wissenschaft und Literatur im Dialog um 1800, hrsg. von Dietrich von Engelhardt und Hans Wißkirchen, Stuttgart 2006, S. 41–56, hier S. 45.
158 ßeren Geboten und den inneren Empfindungen zu groß sein, greift Makarie auch ganz handfest ein. So macht sie nach der Lektüre von Lenardos Tagebuch, dem sie dessen affektive Bindung an Nachodine/Susanne entnimmt, diese rasch zu ihrer Vertrauten und entfernt sie so von ihm, damit er sich weiterhin seinen Aufgaben im Auswandererbund widmen kann. Sowohl Makarie als auch die Gesteinsfühlerin sind mit der ›exoterischen‹ Seite ihres Wesens funktional in die moderne Romanwelt eingebunden. Makarie fungiert als Psycho- und Sozialtherapeutin, die die Affekte gesellschaftskonform macht, und die Gesteinsfühlerin dient als Explorationsinstrument zur Erkundung von Bodenschätzen. Dergestalt wird ›esoterisches‹ Wissen, das in die Welt der Nützlichkeit hineinragt, einem Pragmatismus unterworfen, der an die Stelle des Sinns die Funktion setzt. Die ›Entzauberung der Welt‹, die der Roman als Kennzeichen der Moderne thematisiert, wird damit auf subtile Weise totalisiert. Goethe ruft zwar in seinen beiden ›esoterischen‹ Figuren noch einmal die hermetische Tradition eines magischen Weltbildes auf und erweckt dadurch den Eindruck, der Roman entfalte angesichts der sich im Zeichen rationaler Verfügungsgewalt vollziehenden Weltbemächtigung noch einmal eine »Kritik der Moderne in Bildern der Vormoderne.«45 Doch der Eindruck täuscht, insofern er richtig und falsch zugleich ist. Richtig ist er, da Goethe mit seinen beiden Romanfiguren an tradierte Vorstellungen anknüpft, die sich zu seiner Zeit als Antidot moderner Naturwissenschaften noch einmal Geltung zu verschaffen suchten, bevor sie ins Abseits des Okkultismus gerieten;46 falsch ist er jedoch, da er die Integrationskraft der Moderne unterschätzt, die unter dem Diktat der Nützlichkeit selbst das noch zum Mittel für ihre Zwecke macht, was sich als Widerspruch gegen alle szientistischen Reduktionen darstellt.
45
46
Hartmut Böhme: Lebendige Natur. Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe, in: DVjs 60 (1986), S. 249–272, hier S. 271; ähnlich argumentiert auch Henriette Herwig, für die Makarie »die Mahnung an die bedrohte Totalität einer untergehenden Welt [ist], in der die Entsprechung von Gott, Mensch und Natur, Makrokosmos und Mikrokosmos, noch sinnstiftend gewirkt hat.« H. H.: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 393. Siehe hierzu Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 51991, S. 485: »Die Entwicklung der Natur- und medizinischen Wissenschaften in Deutschland wurde […] für zwei bis drei Jahrzehnte überlagert und eigentümlich fixiert von der sogenannten Naturphilosophie der Hegel und Schelling und der romantischen Naturforscher wie Oken und Steffens oder Hofmann. Sie ist schon kurz darauf in Verruf geraten als unwissenschaftlich, spekulativ, phantastisch.«
159
VII. Die »Verflechtung des streng-trocknen Technischen mit ästhetisch-sentimentalen Ereignissen«1: 1 Lenardos Überwindung emotionaler Verstrickungen durch planende Vernunft
1.
Lenardos traumatisches Erlebnis mit dem »nußbraunen Mädchen«
Der Titelheld steht in den Wanderjahren nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens. Während in den Lehrjahren noch alle Ereignisse auf Wilhelm Meister bezogen waren, der seinen ›Bildungsweg‹ im Widerspiel von Innenwelt und Außenwelt zu gehen hatte, verschiebt sich in den Wanderjahren der thematische Schwerpunkt auf die unterschiedlichen Wirklichkeitsräume, die durch Wilhelms Wanderung zwar aufgerufen werden, aber nicht mehr auf ihn hin zentriert sind. Er ist gleichsam nur noch ein Wahrnehmungsmedium, durch das diverse Bereiche der Realität erscheinen. Komplementär hierzu demonstriert Goethe in mehreren Erzählsequenzen, wie Wilhelm seiner Innerlichkeit ›beraubt‹ wird und eine funktionale Rolle zu spielen hat. So beginnt der Roman schon damit, daß er angesichts einer Inszenierung der Heiligen Familie seine am Ende der Lehrjahre gewonnene Vorstellung vom Glück einer kleinfamilialen Bindung an Natalie und Felix verabschiedet. Kurz darauf gibt er seinen Sohn in der Pädagogischen Provinz ab, weil er einen Suchauftrag übernommen hat, und negiert so sein in den Lehrjahren vom Abbé als Ausweis der Mündigkeit gefeiertes Dasein als Vater. Und als er dann vor Beginn seines Medizinstudiums an den Lago Maggiore reist, geht es ihm darum, seine an Mignon gebundene Sehnsucht nach einem Dasein jenseits gesellschaftlicher Zwänge zu überwinden. Gleichsam ›entinnerlicht‹ unterstellt er sich daraufhin zunehmend äußeren Geboten und folgt der zu Beginn des Romans von Jarno/Montan verkündeten Maxime: »Mache ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde.« (295) Die Lücke, die der ›funktionalisierte‹ Wilhelm hinterläßt, füllt der Roman mit Lenardo. Dessen Lebensgeschichte kontrastiert und spiegelt zugleich diejenige Wilhelms. Während dieser sich in den Lehrjahren zunächst den ökonomischen Imperativen seines Vaters und seines Freundes Wer1
WA IV/45, S. 128.
160 ner entzog, um sich der außerbürgerlichen Sphäre der Poesie und des Theaters zuzuwenden, hat Lenardo hierfür keinerlei Sinn; er ist allein dem Technischen und Handwerklichen zugetan (siehe 391 und 614f). Als Adliger überschreitet er mit seinen Bedürfnissen die Standesgrenzen nach unten, während Wilhelm sich umgekehrt als Bürger zur Sphäre des Adels hingezogen fühlte, in der er den ersehnten Glanz eines öffentlichen Lebens erblickte, den ihm das Theater verleihen sollte. So stehen Wilhelms frühere Affinitäten zur Welt des schönen Scheins denen Lenardos zur Welt des Machbaren gegenüber. Doch bei allen Charakterunterschieden weisen die Lebenswege der beiden erstaunliche Parallelen auf. Ähnlich wie Wilhelm durch die Begegnung mit Natalie einst zutiefst geprägt wurde, hinterläßt auch bei Lenardo die Begegnung mit dem »nußbraunen Mädchen« kurz vor seinem Aufbruch zur Grand Tour einen bleibenden Eindruck. Beide geben sich, bevor es zur Wiederbegegnung mit der jeweiligen Frau kommt, einem von ökonomischen Sorgen freien Dasein hin: Wilhelm dem Theaterspielen, Lenardo dem Bildungstourismus. Danach geraten beide in utilitaristische Verhältnisse, Wilhelm wird am Ende der Lehrjahre Mitglied der reformorientierten Turmgesellschaft, Lenardo steigt in den Wanderjahren zu einem Leiter des Auswandererbundes auf; beide finden am Schluß die gesuchte Frau wieder, und beide müssen schließlich entsagen. So wird im Fall Wilhelms wie in dem Lenardos die von den Romanen mit Nachdruck aufgebaute Erwartung eines Eheglücks nicht erfüllt. Wilhelm zieht in den Wanderjahren zunächst als alleinerziehender Vater mit Felix durchs Gebirge und absolviert dann seine Wundarztausbildung, während Natalie schon nach Amerika abgereist ist. Auch Lenardo scheint sich zunächst mit dem nußbraunen Mädchen Nachodine, das später dann Susanne genannt wird, zu verbinden; doch im allgemeinen Versöhnungsgeschehen spricht deren sterbender Vater nur vom »himmlische[n] Band«, das beide wie »Bruder und Schwester« (717) vereinen soll. Da Makarie dies verhindert, indem sie Nachodine die Stelle ihrer Vertrauten zuweist und sie so von Lenardo entfernt, kommt es außerdem (noch) nicht zur Eheschließung. Was sich als Liebesgeschichte voller Hindernisse darstellt,2 deren glückliches Ende sich nur ankündigt, um dann dementiert zu werden, ist freilich 2
Henriette Herwig meint, daß mit der überaus komplexen Lenardo-Handlung eine im Vergleich zu den übrigen Textpartien doch recht eingängig präsentierte Liebesgeschichte vorliegt: Lenardos »Jagd nach dem nußbraunen Mädchen ist das letzte, was in den Wanderjahren noch an einen konventionell erzählten, regelgerechten Roman erinnert. Nur dieser Erzählstrang gibt dem Leser der Rahmenhandlung noch einen ›romantischen Faden‹ an die Hand, der ihn auch an-
161 nur die eine Seite des Lenardo-Nachodine-Erzählstrangs.3 Die andere entfaltet den Problemkreis von öffentlicher Wirksamkeit, ökonomischer Notwendigkeit und arbeitsteiliger Funktionalität. Dabei geht Entsagung im Privaten mit Wirksamkeit in der Gemeinschaft einher. Lenardo löst sich aus seinen emotionalen Verstrickungen, indem er sie durch Tätigkeit verdrängt; so wird er innerlich frei für seine Führungsaufgaben im Auswandererbund. Ähnlich wie Wilhelm folgt also auch er der Maxime Jarno/ Montans: »Seelenleiden, in die wir durch Unglück oder eigne Fehler geraten, sie zu heilen vermag der Verstand nichts, die Vernunft wenig, die Zeit viel, entschlossne Tätigkeit hingegen alles.« (554) Goethe hat diese doppelte Sinnschicht mit ihren Interferenzen und Überlagerungen allerdings nicht von Anfang an konzipiert. Alles sieht danach aus, als hätte er die Erzählung von einer »Leidenschaft aus Gewissen« (733), wie sie später in Makaries Umfeld genannt wird, zunächst nur als eindimensionale Geschichte eines verwirrten Herzens gestalten wollen. Das verdeutlicht ein Blick auf die Genese der später in Cottas Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1816 als Teilabdruck publizierten Novelle Das nußbraune Mädchen. Im Tagebuch vom 4. August 1807 notiert Goethe: »Einleitung der Geschichte der Inen in Briefform« (WA III/3, 253) – eine Anspielung auf Lenardos Verwechslung Nachodines mit Valerine, die er und Wilhelm irrtümlicherweise als das nußbraune Mädchen aufsuchen. Zwei Jahre später geht Goethe noch einmal hierauf ein, wenn er am 19. November 1809 von der »Novelle der Namensverwechslung« (WA III/4, 79) spricht. Wiederum ein dreiviertel Jahr später vermerkt er am 1. Juni 1810 im Tagebuch: »Schema des Nußbraunen Mädchens« (WA III/4, 128), und zwei Tage danach heißt es: »Wanderjahre. Lenardo’s Bekenntnisse« (WA III/4 129) – ein Hinweis auf die Stelle, an der dieser Wilhelm von seinem traumatischen Erlebnis mit dem nußbraunen Mädchen berichtet. Nach fünf Jahren schickt Goethe die erste Hälfte der Erzählung am 27. März 1815 an Cotta, der sie im Herbst 1815 veröffentlicht. Und sechs Jahre darauf wird sie mit geringfügigen Modifikationen unter der Zwischenüberschrift Das nußbraune Mädchen in die erste Fassung der Wanderjahre integriert. 3
3
gesichts der pädagogischen, religionsgeschichtlichen, geologischen, medizinischen und ökonomischen Diskurse die Spannung auf den Ausgang nicht verlieren läßt.« H. H.: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 136. Auf den Bezug zur englischen Ballade des 16. Jahrhunderts The Not-Browne Mayd verweist Gertrud Lehnert-Rodiek: »Das nußbraune Mädchen« in Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, in: GJb 102 (1985), S. 171–183, hier S. 176–180; siehe ebenfalls Henriette Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 160–163.
162 Der Leser erfährt dort vom verworrenen Beginn einer Liebesgeschichte, die sich unter den Vorzeichen von unterlassener Hilfeleistung, schlechtem Gewissen und Sehnsucht nach Entlastung entfaltet und hierbei die Erwartung eines glücklichen Endes weckt. Das Geschehen um Lenardo und Nachodine setzt mit einem epistolarischen Verwirrspiel ein. Wie in einem polyperspektivischen Briefroman werden zwischen Lenardo, seiner Tante (die erst in der zweiten Fassung den Namen Makarie erhält) und deren Nichten Juliette und Hersilie Briefe gewechselt, die Wilhelm zu lesen bekommt und dann mit einem Begleitbrief weiter an Natalie schickt, die auf diese Weise über die vielfach aufgefächerten kommunikativen Beziehungen informiert wird. Angestoßen wird der Briefwechsel durch ein Schreiben Lenardos, mit dem er sein langjähriges Schweigen bricht. Zwar hatte er während seiner Kavalierstour durch Europa mit seinen Verwandten auf ungewöhnliche Weise Kontakt gehalten, indem er ihnen von den verschiedenen Stationen seiner Reise landestypische Souvenirs schickte, aus denen die Empfänger schließen konnten, wo er sich gerade befand, doch stößt diese einseitige ›dingliche‹ Kommunikation keineswegs auf die Zustimmung seiner Tante: »Endlich, liebe Kinder, ein Brief von dem dreijährigen Schweiger. Was doch die wunderlichen Menschen wunderlich sind! Er glaubt seine Waren und Zeichen seien so gut als ein einziges gutes Wort, das der Freund dem Freunde sagen oder schreiben kann.« (62)4 Die Ansprüche, die Lenardo dann erhebt, sind erstaunlich. Jahrelang hatte er kein Wort von sich hören lassen, jetzt, wo er zurückkehren will, sollen die Verwandten ihn über die Verhältnisse bei ihnen informieren, genaueres will er allerdings nur über eine einzige Person wissen. Wie beiläufig fragt er in einer »Nachschrift«: »Was ist mit Valerinen geworden? der Tochter des Pachters, den unser Onkel kurz vor meiner Abreise, zwar mit Recht, aber doch dünkt mich mit ziemlicher Härte austrieb.« (62) Hersilie ist empört über die Arroganz ihres Cousins, der so viele Umstände wegen seiner Rückkehr macht, und wundert sich über dessen seltsame Wißbegierde: »Sagen Sie mir, was will der Vetter in seiner Nachschrift mit Valerinen? Diese Frage ist mir doppelt aufgefallen. Es ist die einzige Person, 4
Da Goethe in der zweiten Fassung seines Romans die Novelle mit einigen Modifikationen versehen hat, die bereits auf die Fortsetzung verweisen, es mir jedoch zunächst nur um die erste Konzeption der Novelle geht und ich erst in einem zweiten Schritt zeigen will, wie diese mit Lenardos Tagebuch fortgesetzt wird, zitiere ich die Novelle im folgenden nach der ersten Fassung der Wanderjahre unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text (abgedruckt in: FA 10, S. 9–259). Sie weicht nur unerheblich von dem Vorabdruck im Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1816 ab.
163 die er mit Namen nennt. Wir andern sind ihm Nichten, Tanten, Geschäftsträger; keine Personen, sondern Rubriken.« (64) Hersilie ist nicht nur über die Differenzen zwischen der unpersönlichen Anrede der engeren Verwandtschaft und der persönlichen Nennung einer in ihren Augen eher flüchtigen Bekannten erstaunt, sondern auch von der falschen Zuordnung irritiert: Nun aber, liebe Tante, ist das noch nicht alles. Wie er sich der blonden Schönheit so genau erinnern und sie mit der Tochter des liederlichen Pachters, einer wilden Hummel von Brünette, verwechseln kann, die Nachodine hieß und die wer weiß wohin geraten ist, das bleibt mir völlig unbegreiflich und intrigiert mich ganz besonders. (65)
Unklar bleiben die Zusammenhänge vorerst auch dem neugierig gewordenen Leser, der ein Gespräch zwischen Wilhelm und Lenardo verfolgt, das ihm Auskunft über dessen seltsames Gebaren verspricht. Darin gerät das, was durch Lenardos Nachschrift und die kritischen Repliken Hersilies als höchst bedeutsame ›Beiläufigkeit‹ exponiert wird, in den Fokus der Aufmerksamkeit. Zunächst fragt Lenardo Wilhelm: »Hat Ihnen die Tante nicht am Schluß noch anempfohlen mir eine unbedeutend scheinende Sache zu berichten?« (66), und Wilhelm antwortet, »daß [Valerinen] glücklich verheiratet sei und sich in einem wünschenswerten Zustand befinde« (66); daraufhin äußert Lenardo erleichtert: »Sie wälzen mir einen Stein vom Herzen […]. Ich gehe nun gern nach Hause zurück, weil ich nicht fürchten muß, daß die Erinnerung an dieses Mädchen mir an Ort und Stelle zum Vorwurf gereiche.« (66) Die Neugier des Lesers wächst. Was mag Lenardo dem Mädchen angetan haben, daß er sich so lange nicht heimzukehren traute, bis er sich erst durch Wilhelms Auskunft, Valerine lebe in glücklichen Verhältnissen, entlastet fühlt – nicht ahnend, daß eine Namensverwechslung vorliegt und es sich gar nicht um das nußbraune Mädchen handelt? Erst nach diesem Irrtum vermag Lenardo zu erzählen, »was eigentlich keine Geschichte ist« und »keineswegs ein Liebesverhältnis.« (67) Sollte der Leser erwartet haben, es werde das in der damaligen Zeit vielfach variierte Motiv der verführten Unschuld aus der Perspektive des reuigen Verführers in Szene gesetzt, so wird er eines Besseren belehrt. Die Geschichte, die Lenardo Wilhelm erzählt, handelt von Adelsprivilegien, unterlassener Hilfeleistung und traumatischer Fixierung. Den Ausgangspunkt markiert Lenardos Bildungsreise, die sein Oheim dadurch finanzierte, daß er bei seinen Pächtern Schulden eintreiben ließ. Während der Reisevorbereitungen kommt eine Pächterstochter auf Lenardo zu, die er im nachhinein fälschlicherweise mit dem Namen Valerine belegt, die aber in Wirklichkeit das nußbraune Mädchen namens Nacho-
164 dine ist; sie fleht ihn an, er möge sich dafür einsetzen, daß ihr Vater, der unfähig ist, die Pacht aufzubringen, nicht von seinem Land vertrieben werde. Was auf den ersten Blick dem üblichen Schema der Standeskritik folgt, entspricht – genau besehen – einem differenzierteren Muster. Entfaltet wird ein Zusammenspiel von Adelsprivilegien und agrarkapitalistischer Gesinnung. Einerseits wird Lenardos Grand Tour durch Europa auf Kosten der abhängigen Landbevölkerung ermöglicht, andererseits vertreibt der Oheim den Pächter nicht ohne Ansehen der Person von seinem Land, um die nötigen Finanzmittel aufzutreiben, sondern weil ihm dieser nicht ordentlich genug gewirtschaftet hat. Gemäß seinem Leitspruch »Besitz und Gemeingut« (328) praktiziert der Oheim einen auf Effizienz und Produktivität gegründeten Agrarkapitalismus,5 in dem Besitzvermehrung gleichgesetzt wird mit der Steigerung des Gemeinwohls6 – so, wie es häufig Adam Smith’ Lehre von der ›unsichtbaren Hand‹ zugeschrieben wird.7 5
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Goethe mag sich bei der Darstellung des agrarkapitalistisch organisierten Mustergutes des Oheims auf die Konzepte des von ihm geschätzten Begründers der »rationellen Landwirtschaft« Albrecht Thaer gestützt haben. Goethe verfaßte für diesen am 7. März 1824 aus Anlaß von dessen fünfzigjährigem Wirken das Festgedicht: Zu Thaers Jubelfest, dem vierzehnten Mai 1824, in: FA 2, S. 601f. Er hat sein Gedicht über den Landwirtschaftsreformer in einem Brief an Zelter vom 11. März 1824 selbst kommentiert und zur dritten Strophe angemerkt: »Er [Thaer] nimmt die englische Landwirthschaft wahr und die ganz einfache Maxime: daß bey größerer Thätigkeit und verstandsgemäßer Umwendung des Bodens weit höherer Vortheil als bey dem bisherigen Schlendrian zu gewinnen sey.« (WA IV/38, S. 74) Siehe auch die entsprechende Definition der agrarkapitalistischen Landwirtschaft bei Albrecht Thaer selbst: »Die Landwirtschaft ist ein Gewerbe, welches zum Zweck hat, durch Produktion […] vegetabilischer und tierischer Substanzen Gewinn zu erzeugen oder Geld zu erwerben. Je höher dieser Gewinn nachhaltig ist, desto vollständiger wird dieser Zweck erfüllt. Die vollkommene Landwirtschaft ist also die, welche den möglichst höchsten, nachhaltigen Gewinn, nach Verhältnis des Vermögens, der Kräfte und der Umstände, aus ihrem Betrieb zieht. Nicht die mögliche höchste Produktion, sondern der höchste reine Gewinn […] ist Zweck des Landwirts […] selbst in Hinsicht auf das allgemeine Beste.« A. Th.: Grundsätze der rationellen Landwirthschaft, Band 1, Berlin 1809, S. 3. Siehe hierzu Gustav Radbruch: Goethe. Wilhelm Meisters sozialistische Sendung, in: G. R.: Gestalten und Gedanken. Zehn Studien, Stuttgart 21954, S. 84–111, hier S. 91: »Der Oheim nützt also andern, indem er zunächst sich selber nützt, […] seine soziale Auffassung des Privateigentums beruht auf dem liberalistischen Gedanken von der prästabilierten Harmonie des Eigennutzes mit dem Gemeinnutz.« Siehe Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776. Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, übersetzt von Horst Claus Recktenwald,
165 Von daher ist es für den Oheim selbstverständlich, Nachodines Vater, der zwar fromm, aber nicht tüchtig ist, die Pacht aufzukündigen. Eine Fürsorgepflicht des Landadels, wie sie ehemals für die erbuntertänigen Bauern bestand, existiert in seinen Augen nicht mehr. Für den Oheim zählt allein die produktive Nutzung des Bodens; kann einer das nicht leisten und die ihm abverlangten Zinszahlungen nicht aufbringen, wird er im Bedarfsfall vertrieben – dies läßt sich als Hinweis auf die auch in der Landwirtschaft umgreifende Ökonomisierung lesen, in der sich die traditionellen Formen der Subsistenzsicherung zugunsten moderner Gewinnmaximierung aufgelöst haben. Was am Schicksal des Pächters sichtbar wird, ist folglich mehr als nur die mitleidlose Attitüde eines privilegierten Adligen, der bedenkenlos seine Luxusbedürfnisse zu Lasten der Armen durchsetzt; es demonstriert darüber hinaus die Auflösung der alten Agrargesellschaft zugunsten einer wettbewerbsorientierten landwirtschaftlichen Güterproduktion, die keine Ineffizienz zuläßt. Lenardo ist allerdings nicht aus dem gleichen ›utilitaristischen Holz‹ geschnitzt wie sein Onkel. Bei ihm zerstört das demütige Flehen Nachodines die Barriere zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Herrschenden und Beherrschten. Er wird mit einem Menschen konfrontiert, der das gesellschaftliche Leistungsgebot als individuelles Leid erfährt. So vermag er die Standesdifferenz nicht mehr als abstrakten Schutzwall aufrechtzuerhalten, nachdem sich ihm das nußbraune Mädchen flehend zu Füßen geworfen und seine Hand geküßt hat. Freilich versucht er noch, diese DeMünchen 112005, S. 371. Smith plädiert allerdings keineswegs für eine sich selbst regulierende kapitalistische Wirtschaftsordnung als Garant allseitigen Glückes, sondern primär nur für wirtschaftliches Wachstum durch individuelles Besitzstreben. Eine einschlägige Stelle der in Goethes Besitz befindlichen Kurzfassung, die sein ökonomischer Gewährsmann Georg Friedrich Sartorius hergestellt hat, lautet: »Wenn jeder Einzelne nun also sein Einkommen zu vermehren strebt, das Ganze aber aus allen Einzelnen besteht, so wird dadurch der allgemeine Nationalreichthum zunehmen müssen.« G. F. S.: Von den Elementen des National-Reichthums und von der Staatswirtschaft nach Adam Smith. Zum Gebrauche bey akademischen Vorlesungen und beym Privat-Studio, Göttingen 21806, hier S. 133. Gegen die Auffassung eines vom Konkurrenzprinzip gestifteten Zusammenhangs von privater Besitzvermehrung und Förderung des öffentlichen Wohls bezog Sartorius später Stellung, insbesondere nachdem er die sozialen Folgen in England wahrgenommen hatte; siehe G. F. S.: Ueber die Gefahren, welche Deutschland bedrohen und die Mittel, ihnen mit Glück zu begegnen, Göttingen 1820; Goethe besaß neben der Smithschen Kurzfassung auch dieses Werk; siehe hierzu Hans Ruppert: Goethes Bibliothek. Katalog, Nr. 2966, S. 435 und Nr. 2903, S. 427; zu Einzelheiten siehe auch Bernd Mahl: Goethes ökonomisches Wissen, S. 400–444.
166 mutsgeste abzuwehren und Nachodine mit dem Versprechen abzuspeisen: »ich will das Mögliche tun; beruhige dich, mein Kind!« (69f.), worauf die Pächterstochter allerdings antwortet: »Tun Sie das Unmögliche!« (70) Damit gerät er in eine ›emotionale Falle‹: Was von ihm als gönnerhafte Geste der Abwehr einer Zudringlichen gemeint war, entwickelt sich zur persönlichen Verpflichtung, die das Mädchen ihm auferlegt, indem sie ihn unter das Gebot unbedingter Mitmenschlichkeit stellt. Zunächst allerdings verdrängt er die moralische Pflicht; im Trubel des Reiseaufbruchs »verwischte jenes Bild der dringend Bittenden.« (70) Zwar erwähnt er noch gegenüber dem Geschäftsträger die Not des »frommen Pachter[s]« (70), läßt sich aber mit den Worten abfertigen: »was Sie nötig haben, um sich hier loszumachen, beläuft sich weit höher als wir glaubten.« (70) Dauerhaft kann Lenardo das Geschehen jedoch nicht verdrängen, das Bewußtsein seiner Schuld kehrt immer wieder: So oft ich einsam, so oft ich unbeschäftigt war, trat mir jenes Bild des flehenden Mädchens, mit der ganzen Umgebung, mit jedem Baum und Strauch, dem Platz wo sie knieete, dem Weg den ich einschlug mich von ihr zu entfernen, das Ganze zusammen wie ein frisches Bild vor die Seele. Es war ein unauslöschlicher Eindruck, der wohl von andern Bildern und Teilnahmen beschattet, verdeckt, aber niemals vertilgt werden konnte. (71)
Am Ende bekennt Lenardo: »[M]ir schien mein Unterlassen ein Handeln zu ihrem Verderben, eine Förderung ihres traurigen Schicksals.« (72) Als ›Seelenballast‹ schleppt er die Erinnerung an die unterlassene Hilfeleistung mit sich herum; sie droht all seine Tatkraft zu lähmen. Daß dies so ist, obwohl er sich keinerlei juristische Schuld oder gesellschaftliche Verfehlung vorzuwerfen hat, sondern im Gegenteil gerade gesetzestreu und standesgerecht agierte, macht deutlich, daß er nicht mehr wie selbstverständlich Teil der gesellschaftlichen Ordnung ist. Er erfährt ja im Anderen den Mitmenschen, dem es in seiner Not zu helfen gilt, und sieht in ihm nicht den Angehörigen eines niederen Standes, über den man rücksichtslos hinweggehen darf. Lenardos traumatische Fixierung auf das Bild des im Stich gelassenen Mädchens löst sich – zumindest vorläufig – erst auf, als er die Nachricht bekommt, der vertriebenen Pächterstochter gehe es gut. Er ist zutiefst erleichtert, will sich aber noch selbst überzeugen und reitet mit Wilhelm zu ihr, um dann allerdings seinen auf der Namensverwechslung beruhenden Irrtum erkennen zu müssen: »Sie war es nicht, es war das nußbraune Mädchen nicht, vielmehr gerade das Gegenteil; zwar auch eine schöne schlanke Gestalt, aber blond, mit allen Vorteilen, die Blondinen eigen sind.« (76) Lenardos Hoffnung, der Wohlstand der Pächterstochter werde
167 seine Schuld tilgen, erfüllt sich nicht. Als dann Valerine bei Gelegenheit das nußbraune Mädchen erwähnt, kehrt das Bild jener Bittenden zurück, mit einer solchen Gewalt, daß ihm das Weitere ganz unerträglich fiel, als Valerine, mit warmem Anteil, die Auspfändung des frommen Pachters, seine Resignation und seinen Auszug erzählte, und wie er sich auf seine Tochter gelehnt, die ein kleines Bündel getragen. Lenardo glaubte zu versinken. (77f.)
Noch einmal muß Lenardo nachdrücklich erfahren, daß seine Adelsprivilegien und sein Luxus auf Kosten von Unterprivilegierten erkauft sind, die ins Elend gestürzt wurden. Wilhelm wird in diesem Zusammenhang von ihm gebeten, das nußbraune Mädchen zu suchen: »Nehmen Sie es über sich Nachodinen aufzusuchen und mir Nachricht von ihr zu geben.« (78) Lenardo will unbedingt wissen, wie es der Pächterstochter ergeht, um sein Gewissen zu beruhigen, und Wilhelm, den er beauftragt, die womöglich Elende ausfindig zu machen, gibt daraufhin seinen Sohn in der Pädagogischen Provinz ab, um sich auf die Suche zu begeben. Offensichtlich ist er in den Wanderjahren so sehr seiner Individualität und seines ›Eigensinns‹ beraubt, daß er ganz in seiner Funktionalität aufgeht, zwar noch einige praktische Bedenken äußert, dann aber dem Suchauftrag unter der Bedingung zustimmt, Lenardo müsse sich mit der Information begnügen, daß Nachodine glücklich oder er in der Lage sei, »ihr Glück zu befördern«. (79) Erstaunlich ist allerdings, mit welchem Nachdruck Wilhelm Lenardo davon abhalten will, Nachodine selbst aufzusuchen; er beschwört ihn geradezu bei allem was Ihnen wert und heilig ist, sich und den Ihrigen und mir, dem neuerworbenen Freund, zu Liebe, keine Annäherung, es sei unter welchem Vorwand es wolle, zu jener Vermißten sich zu erlauben; von mir nicht zu verlangen, daß ich den Ort und die Stelle, wo ich sie finde, die Gegend, wo ich sie lasse, näher bezeichne oder gar ausspreche: Sie glauben meinem Wort, daß es ihr wohlgeht und sind losgesprochen und beruhigt. (79)
Warum dieser Nachdruck von Wilhelm, der ansonsten doch recht zurückhaltend agiert, sich sogar ohne Bedenken und Widerstand fremdem Willen unterwirft?8 Seine vage Begründung, er wolle verhindern, daß der 8
Klaus-Detlef Müller verweist auf das Problem einer möglichen Mesalliance: »Wilhelm nimmt den Auftrag nur an, indem er gleichzeitig von Lenardo Entsagung fordert, denn nach seinen Erfahrungen kann eine die Standesgrenzen überschreitende Liebesgeschichte, die er vorausahnt, nicht glücklich enden und bedingt deshalb einen vorgängigen Verzicht.« K.-D. M.: Lenardos Tagebuch, S. 287. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß Goethe schon in den Lehrjahren –
168 Freund in »Unglück und Verwirrung« (80) gerate, reizt mehr die Neugier des Lesers, als daß sie Wilhelms nachdrückliches Gebot, Lenardo möge einer Begegnung mit Nachodine entsagen, zu plausibilisieren vermag. Lenardo gibt denn auch kein eindeutiges Versprechen, er antwortet nur: »Ich hoffe […], wenn ich das Mädchen glücklich weiß, bin ich sie los.« (80)
2. Lenardos Tagebuch als Fortsetzung der Novelle Mit den Worten: »Die Freunde schieden, jeder nach seiner Seite.« (80) endet der in die erste Fassung der Wanderjahre übernommene Teilabdruck in Cottas Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1816 und setzt so das Signal, daß noch eine Fortsetzung folgen soll, in der herauskommt, ob Nachodine glücklich ist, ob Lenardo sie dadurch wirklich »los« wird, ob er sie nicht doch noch aufsucht, was es eigentlich genau mit der Beziehung zwischen Nachodine und Lenardo auf sich hat und warum Wilhelm so entschieden von einer Begegnung abrät. Dabei deutet sich an, daß die Lenardo-Nachodine-Geschichte nicht dem eingespielten Muster von Schuld und Sühne, Abweisung und Annäherung, schlechtem Gewissen und gutem Ausgang folgt. Offensichtlich beabsichtigte Goethe von Anfang an etwas anderes; was genau das sein sollte, scheint ihm zunächst selbst allerdings noch nicht ganz klar vor Augen gestanden zu haben. So schreibt er an Cotta in seinem Brief vom 27. März 1815, den er dem ersten Teil der Erzählung Das nußbraune Mädchen beifügt: Ferner hab’ ich die Hälfte einer Novelle beygelegt, sie sollte auch einen Theil der Wanderjahre Wilhelm Meisters ausmachen; mögen Sie solche in dem DamenCalender abdrucken lassen, so werde ich aufgeregt werden, Fortsetzung und Schluß zu schreiben, welche schon mehrere Jahre vorbereitet sind, zu deren Ausführung ich aber nicht habe gelangen können.9
Aus diesen Bemerkungen Goethes geht hervor, daß er schon seit längerem an einem zweiten Teil der Novelle gearbeitet hatte, den er bislang jedoch noch nicht fertigstellen konnte, und daß er sich von dem durch die Publikation des ersten Teils hervorgerufenen Fortsetzungszwang selbst nötigen lassen wollte, zum Abschluß zu kommen. Offensichtlich tat er sich aber außerordentlich schwer, diese Novelle fertig zu stellen; statt dessen schickte er kurz nach der Publikation des ersten Teils des Nußbraunen
9
entgegen Schillers Wunsch nach Begründung – recht nonchalant mit Mesalliancen umging; siehe Schillers Brief vom 5. Juli 1796, in: FA/Schiller 12, S. 187. Goethe und Cotta. Briefwechsel, Band 1, S. 274.
169 Mädchens als neuen Almanachbeitrag den ersten Teil der Neuen Melusine, während Cotta noch immer auf den zweiten Teil des Nußbraunen Mädchens wartete. Am 13. Mai 1817 schrieb er daraufhin an Goethe: Euer Exzellenz / erlauben mir, mit dem Ordnen des Manuscripts zum Damen Calender beschäftiget, die dringende Bitte, disem Institut von Ihrer Muse auch dißmal etwas zu gönnen – / noch ligt bei denen hiezu gehörenden Papieren der Umschlag mit der Überschrift: Das nußbraune Mädchen für den Damen Calender. Die Fortsetzung könte erst übers Jahr erfolgen – /diese Fortsetzung zu erhalten wäre freilich der sehnlichste Wunsch und Bitte.10
Goethe antwortet Cotta 14 Tage später, schickt ihm aber nicht den zweiten Teil des Nußbraunen Mädchens, auch nicht den der Neuen Melusine, sondern mit hinhaltenden Worten den ersten Teil des Mannes von funfzig Jahren: EW. Wohlgeboren / erinnern mich an eine alte Schuld, die ich Ihnen und manchen zarten Herzen abzutragen versäumt habe. Noch diese Tage erinnern mich Jenaische Freundinnen an das nußbraune Mädchen, und ich ward aufgeregt, die früheren Entwürfe wieder vorzunehmen. Für dies Jahr leider zu spät. Habe ich nun dem Damenkalender schon zwey Räthsel anvertraut, so folgt hier das dritte, vielleicht daß es nun mit Auflösung und Abschluß geschwinder geht.11
»Geschwinder« ging es allerdings nur mit der Neuen Melusine, deren zweiten Teil Goethe noch für das Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1819 fertigstellte, während das Nußbraune Mädchen wie auch Der Mann von funfzig Jahren nicht mehr als Vorabdruck vollendet wurden. Wolfgang Bunzel vermutet, daß Goethe hiermit einer wohlkalkulierten Verkaufsstrategie nachging, um die Neugier der Leser auf seinen geplanten Roman zu fördern: »Goethe hatte kein Interesse am vollständigen Abdruck seiner Erzählungen, weil er die Aufmerksamkeit des Publikums möglichst nachhaltig wach halten wollte. Davon versprach er sich eine Bereitschaft zur Aufnahme seines ansonsten eher spröden Romans.«12 Die Vermutung, Goethe habe aus verkaufsstrategischen Gründen die Fortsetzungen seiner beiden Novellen zurückgehalten, ist jedoch schwer nach10 11 12
Ebd., Band 2, S. 42f. Brief vom 27. Mai 1817, in: ebd., S. 44. Wolfgang Bunzel: »Das ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen.« Die Vorabdrucke einzelner Abschnitte aus Goethes Wanderjahren in Cottas Taschenbuch für Damen, in: JbFDH (1992), S. 36–68, hier S. 58; siehe auch W. B.: Poetik und Publikation, S. 208: »Goethe [hatte] es von vornherein nicht auf einen einzelnen Abdruck, sondern auf eine ganze Folge von Vorabveröffentlichungen angelegt […]. Er ließ deshalb gezielt nur das Fragment einer Erzählung erscheinen, weil er so die Neugierde des Publikums am wirksamsten erregen und zugleich im nächsten Jahrgang des Damenkalenders erneut auf die Wanderjahre aufmerksam machen konnte.«
170 vollziehbar, vor allem wenn man bedenkt, daß der Roman erst fünf Jahre nach dem Vorabdruck des ersten Teils des Nußbraunen Mädchens und vier Jahre nach dem des ersten Teils des Mannes von funfzig Jahren erschien. Zu unterstellen, Goethe sei davon ausgegangen, die Neugier seiner Leser so sehr erregen zu können, daß diese sich nach mehreren Jahren auf den Roman ›stürzen‹ würden, um zu sehen, wie die beiden Novellen weitergehen, erscheint insbesondere auch deshalb wenig plausibel, weil die jeweils zweiten Teile der beiden Geschichten überhaupt nicht für den ersten Teil der Wanderjahre, sondern für den ursprünglich geplanten zweiten Teil vorgesehen waren, der dann allerdings nie erschien. Statt dessen erweiterte Goethe den Roman grundlegend mit der Fassung von 1829 und brachte darin auch die Erzählungen zum Abschluß. Näherliegend ist also die Vermutung, daß er einfach große Schwierigkeiten mit den jeweiligen Schlüssen hatte. Auch wenn Goethe offensichtlich zunächst noch nicht genau wußte, wie die Erzählungen im einzelnen zu beenden waren, markierte er doch ein paar Vorgaben für die Fortsetzung im avisierten zweiten Teil, als er den Cottaschen Teilabdruck mit kleinen Abweichungen unter der Überschrift Das nußbraune Mädchen in die erste Fassung der Wanderjahre von 1821 integrierte.13 So findet sich dort ein Brief Hersilies an Wilhelm, aus dem hervorgeht, daß Lenardo über das Wohlergehen des nußbraunen Mädchens informiert ist, sich aber noch selbst von ihren Lebensverhältnissen überzeugen will: »Sie ist, sagen Sie, glücklich, durch eigene Tätigkeit und Verdienst glücklich; nun aber möchte er wissen wie? wann? und wo?« (104) Als Wilhelm Lenardo dann nach langer Zeit beim Auswandererbund wiedertrifft, erzählt dieser ihm mit vorwurfsvollem Unterton, wie er sich selbst auf die Suche nach Nachodine gemacht und sie gefunden habe: Sie hatten das nußbraune Mädchen gefunden, mir aber die Kenntnis ihres Aufenthalts versagt. Deshalb will ich Sie nicht tadeln; aber was half ’s? zur Entdekkung ward ich leidenschaftlich hingetrieben, und trotz Ihrer klugen Sorgfalt kam ich doch auf die Spur. Sie haben die gute Schöne selbst gesehen, ihren Zustand genau kennen gelernt und ihn doch nicht richtig beurteilt. Nur der Liebende fühlt und entdeckt was die Geliebte wünscht und bedarf, er weiß es ihr aus dem tiefsten Herzen heraus zu empfinden. (216)
13
Hierzu siehe Ernst Friedrich von Monroy: »Es erweist sich jedoch, daß der so überschriebene Abschnitt sich handlungsmäßig auf Vorhergehendes und Folgendes so vielfach und wesentlich bezieht, daß die Grenzen, wo die Novelle aufhört und der Rahmen beginnt, verschwimmen.« E. F. v. M.: Zur Form der Novelle in Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: GRM 31 (1943), S. 1–19, hier S. 10.
171 Lenardos Äußerungen legen die Vermutung nahe, Goethe habe anfänglich die Geschichte einer Liebe mit Hindernissen schreiben wollen – mit dem erlösenden Happy End im geplanten Fortsetzungsteil der Wanderjahre, der die Auflösung in Form eines Tagebuches bringen sollte, das Lenardo Wilhelm am Ende der ersten Fassung der ursprünglich auf zwei Teile angelegten Wanderjahre mit dem Hinweis übergibt, ihm könne er alles weitere entnehmen (siehe 216). Doch der angekündigte zweite Teil der Wanderjahre erscheint nicht, obwohl Goethe laut Notiz vom 26. Januar 1821 schon vor der Publikation des ersten Teils die »nothwendigen Fortsetzungen durchgedacht und schematisirt« hatte (WA III/8, 11)14 und am gleichen Tag noch an der »Fortsetzung« des Nußbraunen Mädchens arbeitete; tags darauf vermerkte er: »Die Technik zum nußbraunen Mädchen in’s Tagebuch vertheilt.« (WA III/8, 11) Danach finden sich nur noch sporadische Hinweise auf seine Beschäftigung mit der Thematik. So erwähnt er drei Jahre später im Tagebuch vom 26. Mai 1824, daß er die »Fortsetzung des nußbraunen Mädchens« (WA III/9, 222) vorangetrieben habe, und am nächsten Tag notiert er: »Fortgeschrieben an Lenardos Tagebuch.« (WA III/9, 222) Offensichtlich versuchte Goethe in dieser Zeit, die bislang unvollständig gebliebene Novelle Das nußbraune Mädchen zusammen mit Lenardos Tagebuch zu einer umgreifenden Geschichte zu verbinden. Welche Rolle er dabei allerdings der »Technik« zuwies, die er »zum nußbraunen Mädchen in’s Tagebuch vertheilt« hat, bleibt zunächst rätselhaft – hat sie doch auf den ersten Blick gar nichts mit Lenardos emotionalen Verstrickungen zu tun. Was Goethe hier genau unter »Technik« versteht, wird ebenfalls erst klar, wenn man in der zweiten Fassung der Wanderjahre von 1829 mit Erstaunen registriert, daß Lenardos Tagebuch über weite Strecken eine akribische Beschreibung des Spinnens und Webens enthält, deren Verhältnis zur Geschichte von Lenardo und Nachodine sich keineswegs unmittelbar erschließt. Doch ging es Goethe gerade um die – wie er es in einem Brief an Carl Wilhelm Göttling vom 17. Januar 1829 nennt – »Verflechtung des streng-trocknen Technischen mit ästhetisch-sentimentalen Ereignissen« (WA IV/45, 128), deren Wechselbeziehung ihn seit Jahrzehnten immer wieder beschäftigt hatte. So arbeitete er seit 1807 (siehe WA III/3, 253) an der »Novelle der Namensverwechslung« (WA III/4, 79), und seit 1810 lagen ihm die später dann in der zweiten Fassung der Wanderjahre in Lenardos Tagebuch fast wörtlich übernommenen Ausführun14
Siehe auch Goethes Tagebuchnotiz vom 10. November 1820: »Wanderjahre von Fol. 48–100 in’s Reine gebracht und sodann weiter fortgefahren. Das nußbraune Mädchen 2. Theil, überhaupt das Ganze vorgenommen.« (WA III/7, S. 246)
172 gen Heinrich Meyers über das Spinnen und Weben vor. Offensichtlich ist es ihm also erst nach fast zwei Jahrzehnten gelungen, die Geschichte vom nußbraunen Mädchen mit Lenardos Tagebuch weiterzuführen und den darin enthaltenen Technikbericht Meyers mit dem emotionalen Trauma Lenardos zu »verflechten«. Dafür mußte Goethe zunächst das Geschehen nicht nur in eine Gebirgsregion verlegen, wie sie auch von Meyer erwähnt wird, sondern auch motivieren, warum Lenardo dort hingelangt. Zugleich hatte er zu zeigen, wie Nachodine in diesem Bereich wirkt und wie sich beide zueinander verhalten. Allerdings hatte Goethe 1825 seine Absicht aufgegeben, einen Fortsetzungsband zu verfassen; statt dessen konzipierte er seinen Roman völlig neu. So vermerkt sein Tagebuch vom 29. Juni 1825: »Die Wanderjahre neu schematisirt.« (WA III/10, 73) und am nächsten Tag: »Ich überlegte und schematisirte weiter an den Wanderjahren.« (WA III/10, 73) Insbesondere seit dem Winter 1828/2915 arbeitete Goethe dann entschieden an der Neukonzeption des Romans – mit deutlicherer Akzentuierung des Entsagungsethos vor dem Hintergrund einer profilierten Modernisierungsproblematik. Am auffälligsten ist, daß er das in der ersten Fassung thematisierte Wandern in der zweiten Fassung zum Auswandern modifiziert – und damit den Roman in einen ganz neuen Horizont stellt. In der ersten Fassung der Wanderjahre hingegen wird das Auswandern noch dezidiert verurteilt. Der Redaktor referiert hier die Meinung des Entsagungsbundes: Das Auswandern geschieht in betrüglicher Hoffnung eines bessern Zustandes, doch sie wird beim erfolgenden Einwandern gar oft enttäuscht, weil man sich, wohin man auch gelange, immer wieder in einer bedingten Welt befindet und, wenn man auch nicht zu einer abermaligen Auswanderung genötigt wird, dennoch den Wunsch darnach im Stillen zu hegen geneigt ist. Wir haben uns daher verbündet auf alles Auswandern Verzicht zu tun und uns dem Wandern zu ergeben. Hier kehrt man nicht dem Vaterlande auf immer den Rücken, sondern man hofft, auch auf dem größten Umweg, wieder dahin zu gelangen; reicher, verständiger, geschickter, besser, und was aus einem solchen Lebenswandel Vorteilhaftes hervorgehen mag. (199)
Offensichtlich hängt der Entsagungsbund in der ersten Fassung der Wanderjahre noch dem Modell der wandernden Handwerkergesellen an, die 15
Zu Goethes intensiver Beschäftigung mit den Wanderjahren vom 13. September 1828 bis zum 11. Februar 1829 siehe Erich Trunz, der allerdings vornehmlich Goethes Wortgebrauch »Hauptgeschäft« analysiert, den dieser nicht nur für die Arbeit an Faust II, sondern auch für die an den Wanderjahren reserviert hat. E. T.: Die Wanderjahre als »Hauptgeschäft« im Winterhalbjahr 1828/29, in: Studien zu Goethes Alterswerken, hrsg. von E. T., Frankfurt a. M. 1971, S. 99–121.
173 ausziehen, um ihre Fähigkeiten zu verbessern und ihre Kenntnisse zu erweitern, damit sie daraufhin in die Herkunftswelt zurückkehren und das in der Fremde Gelernte zum Vorteil der heimischen Gemeinschaft anwenden können. In der zweiten Fassung der Wanderjahre verändert sich die Thematik; es geht nicht mehr um lernendes Wandern, sondern um kolonisierendes Auswandern – zum einen in dünn besiedelte Gebiete Europas, zum anderen in das noch nicht urbanisierte Amerika.16 Goethes Interesse für Amerika seit Beginn der zwanziger Jahre mag ein äußerer Anlaß dafür sein, daß er die Auswanderungsthematik in der zweiten Fassung so entschieden gestaltet.17 Nachdem er schon in Dichtung und Wahrheit das Thema aus autobiographischem Anlaß aufgreift – Lili Schönemann habe mit ihm nach Amerika auswandern wollen18 –, wird sein Interesse insbesondere durch die Amerikareise des Herzogs Karl Bernhard zu SachsenWeimar-Eisenach stimuliert, wie sein Tagebucheintrag vom 31. August 1826 (WA III/10, 236) und sein Logengedicht auf dessen Rückkehr (Das Segel steigt !, FA 2, 814f.) belegen.19 Auch sein Gedicht Amerika du hast es bes16
17
18
19
Generell zur Auswanderungsthematik bei Goethe, die Reflex einer Epochenerfahrung ist, siehe Walter Müller-Seidel: Auswanderungen in Goethes dichterischer Welt. Zur Geschichte einer sozialen Frage, in: JbWGV 81–83 (1977–1979), S. 159–183. Wenn Arne Eppers schreibt: »Goethe fasziniert an der Neuen Welt, daß sie neu ist, daß sie Raum bietet, um mit Lebensformen zu experimentieren, die in Europa nicht oder nicht mehr vorstellbar sind – Amerika als ein unbeschriebenes Blatt«, so ist anzumerken, daß Goethe diese Amerika-Faszination im Roman figurenspezifisch bricht, indem er Lenardo und die Turmgesellschaft neue Lebensformen in Übersee konzipieren läßt. A. E.: Miteinander im Nebeneinander. Gemeinschaft und Gesellschaft in Goethes Wilhelm Meister-Romanen, Tübingen 2003, S. 153f. Goethe rekapituliert dort die Geschehnisse wie folgt: »Wohlwollende hatten mir vertraut, Lili habe geäußert, indem alle die Hindernisse unsrer Verbindung ihr vorgetragen worden: sie unternehme wohl aus Neigung zu mir alle dermaligen Zustände und Verhältnisse aufzugeben und mit nach Amerika zu gehen. Amerika war damals vielleicht noch mehr als jetzt das Eldorado derjenigen die in ihrer augenblicklichen Lage sich bedrängt fanden.« (FA 14, S. 830) Goethe las das Reisetagebuch des Herzogs Karl Bernhard, der 1826 von einer einjährigen Reise durch Nordamerika zurückkehrte, als er die zweite Fassung der Wanderjahre konzipierte: Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu SachsenWeimar-Eisenach durch Nord-Amerika in den Jahren 1825 und 1826, Teil I und II, hrsg. von Heinrich Luden, Weimar 1828; Goethe vermerkte hierzu im Tagebuch vom 31. August 1826: »Das Mundum der Wanderjahre completirt. Herzog Bernhard von seiner Reise im allgemeinen vorlegend.« (WA III/10, S. 236) Siehe auch Goethes Brief an Wilhelm von Humboldt vom 22. Oktober 1826, in dem er nicht nur von seiner Lektüre des herzoglichen Reisetagebuchs berichtet, son-
174 ser (FA 2, 739) sowie seine Lektüre von Amerika-Literatur, unter anderem von Alexander von Humboldts Reiseberichten (Mai 1821, Februar 1827) und von Ludwig Galls Auswanderungsbericht,20 darüber hinaus die vielen Gespräche mit Besuchern aus Amerika verweisen auf seine intensive Beschäftigung mit der Neuen Welt. In der zweiten Fassung fließt dieses über Personen vermittelte und durch zeitgenössische Darstellungen angeregte Interesse in den Roman ein. Während hier der Oheim aus Amerika zurückgekehrt ist, um in Europa seinen agrarkapitalistischen Betrieb nach modernen Grundsätzen zu reformieren, sehnt sich Lenardo umgekehrt nach diesem Kontinent – in der Hoffnung, er könne dort selbstbestimmt schalten und walten. Um dies zu motivieren, hat Goethe das Charakterbild Lenardos gegenüber der ersten Fassung der Wanderjahre entschiedener profiliert. Dies zeigen schon die einschlägigen Entwürfe. So findet sich in einem vermutlich zu Beginn des Jahres 1825 angefertigten Einzelschema, das sich auf die Jugendgeschichte Lenardos bezieht, der Hinweis: »Erste Andeutung der vorgeseh-
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dern auch davon, daß er »beschäftigt sey, die aufgelösten Wanderjahre, in ihren alten und neuen Theilen, als zwey Bände zusammenzufassen und zu vereinigen.« (WA IV/41, S. 204) In seinem Reisetagebuch berichtet Karl Bernhard von den Ansiedlungen Johann Georg Rapps sowie von der New Harmony Robert Owens, aus denen Goethe Anregungen für den amerikanischen Siedlungsplan erhielt; siehe hierzu Anneliese Klingenberg: Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, S. 115–121; auf »strukturelle Ähnlichkeiten« zwischen Karl Bernhards Text und Goethes Roman verweist Waltraud Maierhofer: Perspektivenwechsel. Zu Wilhelm Meisters Wanderjahren und dem amerikanischen Reisetagebuch Bernhards von Sachsen-Weimar-Eisenach, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 5 (1995), S. 508–522; allgemein zu Goethes Amerikabild siehe Ernst Beutler: Von der Ilm zum Susquehanna. Goethe und Amerika in ihren Wechselbeziehungen, in: E. B.: Essays um Goethe, Frankfurt a. M. 1995, S. 797–846; siehe auch Johannes Urzidil: Das Glück der Gegenwart. Goethes Amerikabild, Zürich 1958; Victor Lange: Goethes Amerikabild. Wirklichkeit und Vision, in: Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt – Nordamerika – USA. Festschrift für Wolfgang Paulsen, hrsg. von Sigrid Bauschinger, Stuttgart 1975, S. 63–74; Peter Boerner: Amerika, du hast es besser?, in: Germanistik aus interkultureller Perspektive, hrsg. von Adrien Finck und Gertrud Gréciano, Straßburg 1988, S. 227–238; zum ambivalenten Amerikabild in den Wanderjahren und zu Goethes zwiespältiger Haltung gegenüber Amerika siehe Wynfrid Kriegleder: Wilhelm Meisters Amerika. Das Bild der Vereinigten Staaten in den Wanderjahren, in: JbWGV 95 (1991), S. 15–31. Ludwig Gall: Meine Auswanderung nach den Vereinigten-Staaten in NordAmerika im Frühjahr 1819 und meine Rückkehr nach der Heimath im Winter 1820. Erster und zweiter Theil, Trier 1822; siehe hierzu Goethes Besprechung in: WA I/41.2, S. 296f.
175 nen Auswanderung« sowie die Lenardo zugewiesene Notiz: »Ich sehne mich nach anfänglichen Zuständen, meine Einbildungskraft sucht sie über dem Meer«21 – eine Äußerung, die Goethe in zwei weiteren, drei Jahre später angefertigten Konzepten fast wörtlich wiederholt (siehe WA I/25.2, 226 und 227). Eingang finden diese Notizen in den Roman bei dem gemeinsamen Ritt Lenardos und Wilhelms, den Goethe ins Elfte Kapitel der Fassung von 1829 einfügt, nachdem beide die fälschlicherweise für das nußbraune Mädchen gehaltene Valerine besucht haben. Als sie an einer wohleingerichteten, jedoch vom Erben, der sich nicht ins ›gemachte Nest‹ setzen wollte, nicht bewohnten Villa vorbeireiten, führt dies zu einem Gespräch zwischen Wilhelm und Lenardo über dessen Sehnsucht nach »uranfänglichen Zuständen« (407), die er in Amerika zu finden hofft – eine Äußerung, die Wilhelm veranlaßt, ihm ein Empfehlungsschreiben für den Auswandererbund mitzugeben (siehe 407f.). Wie schon in der ersten Fassung fordert Wilhelm Lenardo nach der Personenverwechslung auch diesmal nachdrücklich auf, »dieses weibliche Wesen, das Ihnen so teuer zu stehen kommt, nicht wieder zu sehen, sich zu begnügen, wenn ich Ihnen melde, daß es ihr wohl geht.« (408) Und wie dort verabschiedet sich Lenardo von Wilhelm mit den Worten: »Ich hoffe […], wenn ich das Mädchen glücklich weiß, bin ich sie los.« (409) Doch anders als in der ersten Fassung, in der Lenardo Wilhelm nur allgemein vorwirft, die Lebensumstände Nachodines nicht zutreffend geschildert zu haben, wird in der zweiten Fassung Wilhelms Bericht über ihren glücklichen Zustand ausführlich wiedergegeben: Endlich, teuerster Freund, kann ich sagen sie ist gefunden und zu Ihrer Beruhigung darf ich hinzu setzen, in einer Lage wo für das gute Wesen nichts weiter zu wünschen übrig bleibt. […] Häuslicher Zustand auf Frömmigkeit gegründet, durch Fleiß und Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im glücklichsten Verhältnis der Pflichten zu den Fähigkeiten und Kräften. Um sie her bewegt sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im reinsten anfänglichsten Sinne. (495)
Mehr als diese Hinweise gibt Wilhelm jedoch auch in der zweiten Fassung nicht, nirgends deutet er an, wo Lenardo Nachodine finden könnte. Und nochmals fordert er seinen Freund mit Nachdruck auf, jeder weiteren »Nachforschung« zu »entsagen« (495). Das hat Gründe: Zum einen verweist dies auf die pragmatische Dimension des Entsagungsethos. Nichts mehr darf Lenardo an sein Trauma erinnern; befreit von seinen Schuldgefühlen soll er sich mit ganzer Kraft dem amerikanischen Siedlungsunter21
Kommentar FA 10, S. 813.
176 nehmen widmen,22 das er mittlerweile gemeinsam mit Friedrich und dem Amtmann leitet. Zum anderen hätte Goethe Lenardos Tagebuch mit seinen projektiven Überhöhungen, moralischen Entlastungen und erotischen Verzichtleistungen nicht, worauf es ihm gerade ankam, als Widerspiel von technokratischen Aufzeichnungen, affektiven Reaktionen und ökonomischen Determinationen gestalten können, hätte er ihn von Anfang an wissen lassen, wo Nachodine sich aufhält. Dies ist näher auszuführen. Zwar ist ›emotionale Entsagung‹ das Ziel, das Wilhelm für Lenardo anstrebt, auf daß – wie Wilhelm an den Abbé schreibt – »dieser vorzügliche junge Mann in euren Kreis zu ununterbrochenem bedeutendem Wirken verschlungen werde, da, wie ich hoffe, sein Inneres beruhigt ist.« (496) Doch die von ihm hierfür gewählte Methode des Begegnungsverbots erweist sich als ungeeignet. Lenardo will sein Lebenstrauma psychisch bewältigen; er kann es nicht einfach abtun, nachdem Wilhelm ihm die erfreulichen Lebensumstände Nachodines geschildert hat. Das Tagebuch, das er Wilhelm überreicht, zeugt auf subtile Weise von dem Bestreben, sich von seiner Schuld zu befreien. Wenn Lenardo dessen Übergabe mit den Worten kommentiert: »Doch wir bespiegeln ja uns immer selbst in allem was wir hervorbrachten« (616), so sagt er hiermit mehr als er meint. Während er bewußt nur auf sein technisches Interesse anspielt, äußert er zugleich unbewußt, daß das Wie seiner Darstellung das dargestellte Was ins Licht seines Entsühnungswunsches taucht.
3. Die Ästhetisierung der Lebensform der Spinner und Weber als ›Entschuldungsstrategie‹ Lenardos Zunächst sieht alles bloß danach aus, als fröne Lenardo im Übermaß seiner Gewohnheit, »alles aufzuzeichnen, es mit Figuren auszustatten und so, nicht ohne Aussicht auf künftige Anwendung, meine Zeit löblich und erfreulich zuzubringen.« (616) So findet sich in seinem Tagebuch folgende Passage:
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Siehe hierzu auch Goethes gegen Ende November 1828 verfaßten Entwurf: »Wilhelm wiederholt seine Bitte, der Freund möge es bey dieser allgemeinen Schilderung belassen, solche allenfalls in Gedanken ausmalen aber dem großen Lebensgeschäfte auf eine würdige Weise zu widmen suchen.« (Kommentar FA 10, S. 819)
177 Rechts gedreht Garn gehen 25 bis 30 auf ein Pfund, links gedreht 60 bis 80, vielleicht auch 90. Der Umgang des Haspels wird ungefähr sieben Viertel Ellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke fleißige Spinnerin behauptete 4 auch 5 Schneller, das wären 5000 Umgänge, also 8 bis 9000 Ellen Garn täglich am Rad zu spinnen. (622)
Goethe hat diese Ausführungen fast wörtlich von Heinrich Meyer übernommen. Bei diesem heißt es entsprechend: Recht gedrehet Garn gehen 25–30 auf ein Pfund. Links gedrehet 60, 80, ja auch 90, Schneller Briefgarn 120 und noch mehr. Der Umgang des Haspels wird etwa ZA 87⁄4 Ellen oder etwas mehr betragen und eine fleißige Spinnerin kann 4 auch 5 Schneller d. i. 5000 Umgänge also 8 bis 9000 Ellen Garn täglich am Rad spinnen.23
Daß ein so nüchterner Sachbericht Eingang in einen Roman findet, ist schon erstaunlich genug. Daß er darin aber sogar als Eintragung in ein Tagebuch ausgegeben wird, erscheint vollends merkwürdig – fungiert das Tagebuch doch gemeinhin als ›Bekenntnisort‹, an dem man innerste Gefühle und Gedanken, subjektive Erlebnisse und Einschätzungen artikuliert, um Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Und während ein Tagebuch sich üblicherweise durch eine längere Zeitfolge und Offenheit der Form, durch Subjektivität der Sehweise und thematische Vielfalt auszeichnet,24 verhält es sich mit Lenardos diarischen Aufzeichnungen ganz anders. Man hat sich nun nicht allein darüber gewundert, daß Goethe solch detaillierte Ausführungen zur Herstellung von Garnen und Stoffen in seinen Roman einfügte, sondern auch kritisiert, daß ihm deren Integration nicht gelungen sei. Die handbuchartige Sachprosa erscheine wie ein »Fremdkörper im Romantext«.25 Hiergegen wurde eingewendet, es sei Goethe 23 24
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Kommentar FA 10, S. 881. Siehe hierzu Sibylle Schönborn: Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999, S. 195–222 und S. 262–276. Ehrhard Bahr: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden (1821/1829), in: Goethes Erzählwerk. Interpretationen, hrsg. von Paul Michael Lützeler und James E. McLeod, Stuttgart 1985, S. 363–395, hier S. 370; eine ähnliche Kritik findet sich schon bei dem Jungdeutschen Theodor Mundt, der in seiner Rezension des Romans insbesondere moniert, daß Goethe den Sachtext über die Spinner und Weber eingefügt hat: »Die ins Detail gehenden Mitteilungen über das Webergeschäft, welche sich der wißbegierige Lenardo machen läßt, und die in aller Empirie hingestellt werden, [gehören] nicht in ein Gedicht.« Zitiert nach: Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre, hrsg. von Klaus F. Gille, S. 133–143, hier S. 138.
178 sehr wohl gelungen, den Sachtext durch komplexe Ästhetisierung in den Roman zu integrieren.26 Auch wurde häufiger moniert, er übernehme ja weitgehend nur das, was Meyer ihm vorgelegt habe. Doch dies reicht als Begründung nicht aus. Es ging Goethe um mehr als um die bloße Reproduktion einer realen Beschreibung in einem fiktiven Tagebuch. Nicht von ungefähr hat er sich über zwei Jahrzehnte immer wieder bemüht, das Spinnen und Weben mit Lenardos emotionalen Verstrickungen zu vermitteln.27 Schon früh hatte er von Meyer die einschlägigen Informationen bekommen. Für sie hatte er sich am 13. April 1810 überschwenglich bedankt: Vor allen Dingen also seyn Sie mir schönstens gegrüßt und gelobt für die fortgesetzte technische Beschreibung. Ich brenne vor Ungeduld mich damit bekannt zu machen, und das was ich mir dabey vorgesetzt, auszuführen. Ich hoffe es soll uns zu besonderer Vergnüglichkeit gedeihen. (WA IV/21, 228)
Drei Wochen später, am 3. Mai 1810, schreibt Goethe wiederum an Meyer: »Ich habe diese Tage nach Ihrer Anleitung die Baumwolle gut studirt, und suche nun einen hinlänglichen realen Zettel zu einem poetischen Ein26
27
Siehe hierzu Benedikt Jeßing: Konstruktion und Eingedenken, S. 39–65, der die im Tagebuch dargestellte Stoffproduktion als poetologische Metapher für die Produktion des komplexen Textgewebes des gesamten Romans deutet: »Die Veränderungen, die Goethe an Meyers Text vornimmt, sind intentional: Einerseits binden sie den Text ein in die Geschehenszusammenhänge des Romans, andererseits öffnen sie ihn auf einen mehrdeutigen Verweisungszusammenhang. Innerhalb des Tagebuch-Textes wertet die Literarisierung des sachlicher darstellenden Textes die einzelnen Details der handwerklich-ökonomischen Organisation der Textilindustrie auf: Sie bekommen ›uneigentliche‹ Bedeutung unterschiedlichen Abstraktionsgrades. Innerhalb des Gesamttextes der Wanderjahre läßt sich der Darstellung der Gewebeproduktion eine noch abstraktere, gleichsam autoreflexive Bezeichnungsfunktion zuschreiben.« B. J.: Konstruktion und Eingedenken, S. 38–65, hier S. 38; ähnlich auch Hans Staub: Der Weber und sein Text, in: Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser, hrsg. von Gerhard Buhr, Friedrich A. Kittler und Horst Turk, Würzburg 1990, S. 533–553, bes. S. 537–542; siehe ebenfalls Klaus-Detlef Müller, der die Techniken herausarbeitet, mit denen Goethe Lenardos Sachprosa poetisch in den Roman integriert: »Von grundsätzlicher Bedeutung scheint vor allem zu sein, daß die Integration vorliegender Schriftlichkeitsformen in den Roman nicht im Sinne einer Umformung geschieht, sondern als doppelte oder mehrfache Strukturierung, die die Einzelkomplexe polyfunktional macht. […] Der funktionale und erzählerische Zusammenhang der Teile ist, einem […] Verständnis von ästhetischer Ganzheit folgend, weit enger, als es auf den ersten Blick scheint. In diesem Sinne ist der Eindruck des Ungeformten trügerisch.« K.-D. M.: Lenardos Tagebuch, S. 299. Goethe schreibt hierzu am 17. Januar 1829 an Carl Wilhelm Göttling, er habe »auf diese Capitel« viel »Sorgfalt und Mühe […] gewendet.« (WA IV/45, S. 128)
179 schlag vorzubereiten.« (WA IV/21, 272) Und zehn Jahre danach hat er am 10. November 1820 im Gespräch mit Meyer noch einmal »die Spinnerund Weber-Wirthschaft in der Schweiz« (WA III/7, 246) erörtert; drei Tage darauf vermerkt er im Tagebuch: »Gegen Abend Hofrath Meyer; mit demselben den Decours des Spinnens und Webens durchgesprochen.« (WA III/7, 248) Als Goethe dann 1829 die zweite Fassung der Wanderjahre publiziert, enthält sie größere Passagen aus Meyers Bericht; sie sind fast wörtlich in das Tagebuch Lenardos integriert worden. Offensichtlich hatte ihm Meyer »einen hinlänglich realen Zettel« geliefert. Doch inwiefern Goethe ihn Jahrzehnte später zu »einem poetischen Einschlag« zu nutzen vermochte, ist erörterungsbedürftig. Deutlich ist jedenfalls, daß er nun begründete, warum Lenardo sein Tagebuch mit technischen Aufzeichnungen füllt. Als dieser es Wilhelm mit den Worten übergibt, es sei nicht »gerade angenehm zu lesen« (616), verweist er auf seinen »Trieb zum Technischen« (614), aufgrund dessen er sich »angewöhnt [habe] alles aufzuzeichnen« (616), was ihm bei seiner Wanderung durchs Gebirge als besonders nützlich erschien, da er die dort gewonnenen Informationen für die Auswanderergesellschaft verwerten wolle: »Diese Neigung, diese ausgebildete Gabe benutzt’ ich nun auf ’s beste bei dem wichtigen Auftrag den mir die Gesellschaft gab, den Zustand der Gebirgsbewohner zu untersuchen und die brauchbaren Wanderlustigen mit in unsern Zug aufzunehmen.« (616) Offensichtlich hat Goethe Lenardos Charakterdisposition und das Nützlichkeitspostulat des Auswandererbundes zu einem Motivationskern zusammengeschlossen, um zu verdeutlichen, warum Lenardo seine detailreichen Aufzeichnungen macht, die nicht nur die Garnproduktion quantifizieren, sondern sie auch fast in Form einer ›Gebrauchsanweisung‹ schildern: Die Spinnende sitzt vor dem Rade, nicht zu hoch; mehrere hielten dasselbe mit über einander gelegten Füßen in festem Stande, andere nur mit dem rechten Fuß, den linken zurücksetzend. Mit der rechten Hand dreht sie die Scheibe und langt aus so weit und so hoch sie nur reichen kann, wodurch schöne Bewegungen entstehen und eine schlanke Gestalt sich durch zierliche Wendung des Körpers und runde Fülle der Arme gar vorteilhaft auszeichnet; die Richtung besonders der letzten Spinnweise gewährt einen sehr malerischen Kontrast, so daß unsere schönsten Damen an wahrem Reiz und Anmut zu verlieren nicht fürchten dürften, wenn sie einmal anstatt der Gitarre das Spinnrad handhaben wollten. (620)
Die Beschreibung scheint einen literarischen ›Überschuß‹ zu erhalten, so als habe nicht der nüchterne Blick eines technisch Interessierten, sondern das Schönheitsempfinden eines ästhetisch Affizierten die Wahrnehmung
180 geleitet. Doch dies geht nicht etwa, wie man meinen könnte, auf Goethes Suche nach einem »poetischen Einschlag« zurück, sondern auf Meyer, dessen Schilderung Goethe auch hier fast wörtlich übernimmt. Bei Meyer heißt es: Die Spinnerin sitzt nun vor dem Rad nicht zu hoch und gewöhnlich mit übereinandergelegten Füßen um das Rad damit feststehend zu erhalten oder sie hält das Rad nur mit dem rechten Fuß, den linken zurückgesetzt, mit der rechten Hand dreht sie die Scheibe, mit der Rechten [sic!] weitet sie den Faden und langt aus so hoch und weit sie nur kann, wodurch schöne Bewegungen entstehen und eine schlanke Gestalt sich besonders vortheilhaft zeigt; auch gewährt die Richtung der Arme einen sehr mahlerischen Contrast so daß unsere schönsten Damen an wahrem Reitz und Anmuth nicht besorgen dürften etwas zu verlieren wenn sie einmahl anstatt der Guittarre das Spinnrad handhaben wollten.28
Mehrfach schon ist bemerkt worden, daß die Arbeit der Spinner und Weber keineswegs so »völlig unsentimental« dargestellt ist, wie Erich Trunz’ Kommentar zu den Wanderjahren behauptet;29 hiergegen wurde auf ihre deutliche Ästhetisierung verwiesen. So schreibt Adolf Muschg: »Das Spinnengerät wird zwar peinlich genau beschrieben, aber nicht als Maschine wahrgenommen. Es dient nur der Ästhetik des Fleißes.«30 Was Muschg pauschal konstatiert, sucht Benedikt Jeßing im einzelnen herauszuarbeiten; er meint, daß Goethe den Bericht von Heinrich Meyer modifiziert und hierbei »charakteristische Änderungen und Ästhetisierungen des ›Quasi-Sachtextes‹« vorgenommen habe,31 was allerdings kaum zutrifft, da Goethe ja nur Meyers Vorgaben folgt. Zu Recht weist Klaus-Detlef Müller darauf hin, daß trotz der weitgehenden Übernahme freilich »schon die Wiedergabe im Rahmen eines Tagebuchs […] eine perspektivische Veränderung im Sinne der Wiedergabe von Erlebtem«32 bedingt, und Franziska Schößler konkretisiert dies, indem sie zeigt, daß es nicht Goethe selbst ist, der die Welt der Spinner und Weber gemäß Meyers Bericht ästhetisiert, 28 29 30
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Kommentar FA 10, S. 880f. Kommentar HA 8, S. 648. Adolf Muschg: ›Bis zum Durchsichtigen gebildet‹. Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: A. M.: Goethe als Emigrant. Auf der Suche nach dem Grünen bei einem alten Dichter, Frankfurt a. M. 1986, S. 105–143, hier S. 112. Benedikt Jeßing: Konstruktion und Eingedenken, S. 38. Klaus-Detlef Müller: Lenardos Tagebuch, S. 291; siehe hierzu auch André Gilg: Wilhelm Meisters Wanderjahre und ihre Symbole, Zürich 1954, S. 144: »Während Meyers Schilderung allgemein gehalten ist […], erscheint in Goethes Wiedergabe das Allgemeine zu einem einzelnen Erlebnis gewandelt, welches dem wandernden Lenardo in einer bestimmten Zeit und an einem besonderen, lebendig beschriebenen Ort zuteil wird.«
181 sondern Lenardo, in dessen Tagebuch sie »Spuren subjektiver Stilisierung«33 bemerkt. Man könnte der Auffassung sein, Goethe habe diese ›Selbstbespiegelung‹ Lenardos als eine anthropologische Universalie nicht weiter motiviert – gemäß der Auffassung, daß der Mensch die Wirklichkeit immer subjektiv überforme, wie er in seinem Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Object und Subject ausführt: »Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in Bezug auf sich selbst, und mit Recht.« (FA 25, 26) Doch was für den Menschen generell gelten mag, hat Goethe bei Lenardo spezifisch begründet. In der Forschungsliteratur bleibt allerdings unerörtert, warum dieser das Leben der Spinner und Weber so eigentümlich wahrnimmt. Zwar betont Ehrhard Bahr, daß »Lenardo sich und den anderen sein Suchen und Sehnen hinter dem Tatsachenstil«34 verheimlicht, und macht damit deutlich, daß dieser immer noch in seinem NachodineTrauma befangen ist. Nicht beachtet wird jedoch, daß er sich ja keineswegs nur technische Details notiert, sondern die ganze Hausindustrie im Gebirge als bruchlose Idylle beschreibt – als vormoderne Welt, in der noch die Einheit des Ganzen Hauses herrscht, ähnlich wie im Bezirk von Joseph dem Zweiten.35 Aus Lenardos Aufzeichnungen geht hervor, daß Leben und Arbeiten hier nicht getrennt sind, Produktion und Komsumption eine Einheit bilden, die Generationsabfolge ein harmonisches Ganzes darstellt und sich ein Produktionsprozeß entfaltet, in den von den Großeltern über die Eltern bis zu den Kindern alle nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten integriert sind. Entsprechend verrichtet in dem Dorf, das Lenardo am zweiten Tag seines Aufenthalts im Gebirge besucht, der »alte Großvater, am Ofen sitzend« die »leichte Arbeit« des Spulens, »nämlich das Garn am Rade auf Rohrspulen zu winden«, während »ein Enkel […] neben ihm [steht] und begierig« ist, dies zu lernen, und »der Vater die Spulen, um zu zetteln, auf einen mit Querstäben abgeteilten Rahmen« steckt. (624) 33 34 35
Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 280. Ehrhard Bahr: Die Ironie im Spätwerk Goethes, S. 116. Auf Parallelen und Unterschiede zwischen dem Bezirk von Joseph dem Zweiten und der Welt der Spinner und Weber verweist Anneliese Klingenberg: Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, S. 76: »[In] beiden Bezirken wird noch auf vorindustrielle Weise produziert, die dementsprechende Ideologie wird in beiden Bezirken als veraltet gekennzeichnet, doch während die Familie des Zimmermanns nach Wilhelms Abreise in ihrer mittelalterlichen Lebensform verbleibt […], so zieht sein [Wilhelms], noch mehr aber Lenardos Besuch die Spinner und Weber des Gebirges bewußt und planmäßig in die Entwicklung des ganzen Landes hinein.«
182 Tätigkeit und Fähigkeit, Familienstruktur und Arbeitsorganisation bilden in Lenardos Schilderung eine vollkommene Harmonie, so als herrsche hier eine natürliche Ordnung, in der der Mensch mit sich, seinen Aktivitäten und den Mitmenschen gänzlich übereinstimmt. Die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, zwischen Arbeitszeit und Freizeit ist in der Tat noch nicht vollzogen. Ebenfalls herrscht noch nicht die damit einhergehende bürgerliche Geschlechterordnung, in der der Mann die ökonomische Basis der Familie sichert und die Frau im Binnenraum der Familie agiert. Alle sind gemäß ihren Kräften und Fähigkeiten auf unterschiedliche Weise an der Produktion beteiligt. Die Lebensform der Spinner und Weber erscheint Lenardo daher als Manifestation einer prästabilierten Harmonie, als ein »naturwüchsige[r] Zustand, der sich durch die harmonische Übereinstimmung von Arbeits- und Lebensform im beschränkten, selbstgenügsamen Zirkel von Bedürfnis und Befriedigung auszeichnet.«36 Lenardos Schilderung im Tagebuch erinnert an jene Epoche geselliger Bildung, die Goethe als ›idyllische‹ apostrophiert. Über sie schreibt er 1831 in einem kleinen Text mit dem Titel Epochen geselliger Bildung: In einer, mehr oder weniger rohen Masse, entstehen enge Kreise; die Verhältnisse sind die intimsten, man vertraut nur dem Freunde, man singt nur der Geliebten, alles hat ein häusliches Familienansehn. Die Zirkel schließen sich ab nach außen und müssen es tun, weil sie in dem rohen Elemente ihre Existenz zu sichern haben. Sie halten daher auch mit Vorliebe auf die Muttersprache, man nennt mit Recht diese Epoche die Idyllische. (FA 22, 554)
Warum aber läßt Goethe Lenardo die Welt der Spinner und Weber als glückhafte Sphäre erscheinen, obwohl er selbst durchaus das Elend der Spinner und Weber seiner Zeit kannte?37 Er hatte genau die Verhältnisse 36
37
Gerhard Wild: Goethes Versöhnungsbilder. Eine geschichtsphilosophische Untersuchung zu Goethes späten Werken, Stuttgart 1991, S. 90; siehe auch Hans Joachim Schrimpf: Das Weltbild des späten Goethe, S. 185: »Hier ist Arbeit noch im reinsten Sinne Ausdruck des Menschen in seiner ungebrochenen Einheit und Ganzheit. Sie bedeutet nicht rationelle Produktion im Sinne entlohnten Machens, erschöpft sich auch nicht in der Herbeischaffung der Mittel zur Befriedigung des täglichen Bedürfnisses, sondern in ihr kommt der Mensch zur Betätigung seiner mannigfaltigen seelisch-geistig-körperlichen Kräfte und zur Erfüllung seines Daseins als Mensch.« Ähnlich Jutta Heinz: Narrative Kulturkonzepte, S. 347: »Bei den Handwerkern im Gebirge handelt es sich offensichtlich noch um relativ unentfremdete Arbeit, die die persönlichen Talente und Fähigkeiten zum Vorschein bringt und in vielerlei Hinsicht als befriedigend erfahren werden kann.« Als Goethe im Herbst 1797 seine dritte Reise in die Schweiz unternahm, beschäftigte er sich auch mit der Schweizer Heimindustrie; siehe hierzu die am
183 der aufständischen Strumpfwirker in Apolda registriert, mit denen er sich bei seinem dortigen Aufenthalt im März 1779 näher beschäftigt hatte. Am 5. März 1779 notiert er im Tagebuch: »Apolda. Amtsrath. Strumpfw. liegen an 100 Stühlen still seit der neujahrs messe. Manuf. Coll. hilft nichts. – Armer Anfang solcher Leute leben aus der Hand in Mund der Verleger hängt ihnen erst den Stuhl auf, heurathen leicht.« (WA III/1, 82) Einen Tag später klagt er gegenüber Charlotte von Stein: »Hier will das Drama [Iphigenie auf Tauris] gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolde hungerte.« (WA IV/4, 18) Und während Goethe Lenardo ins Tagebuch notieren läßt, es sei »etwas Geschäftiges, unbeschreiblich Belebtes, Häusliches, Friedliches in dem ganzen Zustand einer solchen Weberstube« (629), schildert er in scharfem Kontrast hierzu die Verhältnisse der Wuppertaler Hausindustrie: Die Menschen leben dort »in mehr oder weniger beschränkten häuslichen Zuständen, Allem ausgesetzt, was der Mensch als Mensch im Sittlichen, im Leidenschaftlichen und im Körperlichen zu erdulden hat. Daher im Durchschnitte viele kranke und gedrückte Gemüther unter denselben zu finden sind.«38 Anders als Lenardo in seinem Tagebuch stellt Goethe hier die miserablen Verhältnisse heraus, unter denen die Heimarbeiter vielfach zu leiden hatten. Ohne Alternativen waren sie in der Regel abhängig von Verlegern, die sie häufig bis zum Existenzminimum ausbeuteten; immer wieder wurden die Abnahmepreise ihrer Erzeugnisse gedrückt, mußten sie Wucherzinsen bezahlen, um Geld für das Notdürftigste zu bekommen und gerieten dadurch zunehmend in eine ›Schuldenfalle‹, aus der sie oft nicht mehr herauskamen.39 Auch wenn die Verhältnisse der Spinner und Weber in Goethes Roman tatsächlich nicht so elend sind – schließlich unterstellt sich Nachodine als Verlegerin ethischen Fürsorgepflichten (siehe 714) –, so überformt Lenardo die Gebirgswelt doch zur zeitenthobenen Idylle. Soll hier noch einmal das Kontrastbild einer vergangenen Welt entfaltet
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6. April 1888 in Rapperswil gehaltene, enthusiastische Rede von Friedrich Bertheau: Göthe und seine Beziehungen zur schweizerischen Baumwoll-Industrie, Wetzikon 1888; in den Jahren 1810 und 1811 besichtigte Goethe die Webereimanufakturen in Böhmen und Sachsen. So Goethe in seiner Rezension zu: Blicke ins Reich der Gnade. Sammlung evangelischer Predigten von Friedrich Wilhelm Krummacher, Pfarrer zu Gemarke, Elberfeld 1828, in: FA 22, S. 838–839, hier S. 838. Zu Einzelheiten siehe Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 21989, S. 96f.
184 werden, vor dem die Moderne sich als Niedergang konturiert? Das würde dem Duktus des Romans widersprechen, der die anbrechende neue Zeit ja keineswegs pauschal verurteilt, sondern diagnostisch zu erfassen sucht. Da es allerdings nicht Goethe, sondern Lenardo ist, der diese Gegebenheiten schildert, muß man auf ihn und seine Motivation achten. Warum betrachtet er die Welt der Spinner und Weber mit ästhetisierendem Blick? Wir haben es bei ihm ja nicht mit einer indifferenten Erzählinstanz zu tun, die nur wiedergibt, was in der Realität zu beobachten ist, sondern mit einem Tagebuchschreiber, der seiner Subjektivität Raum läßt. Sicher hat Meyer mit seiner Vorlage, die Goethe mit wenigen Modifikationen wörtlich übernahm, jener idyllisierenden Sicht vorgearbeitet. Daß Lenardo die Gebirgswelt dann ebenfalls als harmonische Einheit von Schönheit und Nützlichkeit wahrnimmt, hat Goethe freilich sorgfältig als Figurenperspektive gekennzeichnet. Wie Meyer ihm als sprachregulierende Instanz diente, so fungiert Wilhelm für Lenardo als blickregulierende Instanz. Um ihn von seinen Gewissensqualen zu befreien, hatte Wilhelm ihm einst geschrieben: Häuslicher Zustand auf Frömmigkeit gegründet, durch Fleiß und Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im glücklichsten Verhältnis der Pflichten zu den Fähigkeiten und Kräften. Um sie [Nachodine] her bewegt sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im reinsten anfänglichsten Sinne; hier ist Beschränktheit und Wirkung in die Ferne, Umsicht und Mäßigung, Unschuld und Tätigkeit. (495)
Genau diese Zeilen kommen Lenardo wieder ins Gedächtnis, als er unter den Spinnern und Webern weilt. In seinem Tagebucheintrag vom »Donnerstag, den 18. September« zitiert er sie wörtlich (siehe 630). Der Redaktor leitet sie mit den Bemerkungen ein: Die Worte, die er so oft gelesen, die Zeilen, die er mehrmals angeschaut, stellten sich wieder seinem innern Sinne dar. Und wie eine Lieblings-Melodie ehe wir uns versehen auf einmal dem tiefsten Gehör leise hervortritt, so wiederholte sich jene zarte Mitteilung in der stillen sich selbst angehörigen Seele. (629f.)
Offensichtlich ist Lenardos Blick auf die Verhältnisse der Spinner und Weber durch Wilhelms Schilderung vorgeprägt; dies verweist auf den Grund seiner Ästhetisierung der Gebirgswelt. Denn Lenardo hat seine Traumatisierung keineswegs überwunden; er will Nachodine aufsuchen, selbst nachdem Wilhelm ihm heftig hiervon abgeraten hatte. Um ihn zu beruhigen und sich selbst zu überzeugen, schrieb Lenardo ihm einst: »die Sehnsucht verschwindet im Tun und Wirken. Sie haben mich – und hier nicht weiter; wo genug zu schaffen ist, bleibt kein Raum für Betrachtung.«
185 (512f.) Doch Lenardos sentenzhafte Autosuggestion greift nicht. Seine Sehnsucht ist bei allen Aktivitäten für den Auswandererbund nicht verschwunden. Sie wurde lediglich aus der sprachlichen Ordnung verbannt, bleibt unterhalb der Schwelle des Ausgesagten jedoch virulent und wird in der Aposiopese »Sie haben mich – und hier nicht weiter« (513) subtil angedeutet. Lenardo ruft sich selbst zur Räson. Offensichtlich erinnert er sich an Wilhelms nachdrücklichen Wunsch, er möge sich mit der Auskunft, daß es Nachodine gut gehe, zufriedengeben und sich ganz seinen Führungsaufgaben im Auswandererbund widmen. Doch jetzt, wo er in dessen Auftrag im Gebirge unterwegs ist, um geeignete Handwerker für die überseeische Unternehmung zu finden, kommt ihm Wilhelms Beschreibung der Lebensumstände Nachodines wörtlich wieder in den Sinn; und entsprechend überformt er das, was er sieht, zu eben der harmonischen Welt, die ihm brieflich annonciert wurde – bestimmt von seinem Bedürfnis, die Verhältnisse, in denen er Nachodine vermutet, als glückhaft zu erfahren, um sich so von seiner Schuld freizusprechen.40 Wilhelms Brief läßt Lenardo die vermeintlich heile Welt der Spinner und Weber gleichsam mit einer Leerstelle wahrnehmen, so als warte er nur darauf, daß sich Nachodine als der Mittelpunkt personifiziert, um den »sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im reinsten anfänglichsten Sinne« (630) dreht: »›Paßt doch‹, sprach er zu sich selbst, ›diese allgemein lakonische Beschreibung ganz und gar auf den Zustand der mich hier umgibt. Ist nicht auch hier Friede, Frömmigkeit, ununterbrochene Tätigkeit?‹« (630) Nun läßt sich der Handlungsverlauf rekonstruieren. Wilhelm informiert Lenardo über das glückliche Leben des nußbraunen Mädchens; Lenardo geht selbst ins Gebirge, um Auswanderer zu rekrutieren, erinnert sich dabei an Wilhelms Beschreibung, projiziert sie auf die Verhältnisse, die er wahrnimmt, und stellt sich vor, daß Nachodine hier lebt. Dem liegt eine spezifische Psycho-Logik zugrunde: Lenardo verklärt die Welt, in der er die Pächterstochter vermutet, um sein Schuldbewußtsein abzuweisen. Als Lenardo dann Nachodine, die sich jetzt Susanne nennt, als Verlegerin der Spinner und Weber trifft und bemerkt, wie umsichtig und tatkräftig sie die Heimindustrie befördert, scheint sich alles harmonisch aufzulösen. So wenigstens gestaltet er in seinem Tagebuch die Wiederbegegnung mit ihr – als Aussöhnung mit der Vergangenheit. Sein Leben, das bislang durch Un40
Franziska Schößler deutet Lenardos ästhetische Wahrnehmung des Weberhandwerks dagegen als »Idyllisierung«, die in seiner adligen Herkunft begründet liege. F. S.: Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre, S. 280f.
186 stimmigkeiten, Unbestimmtheiten und Schuldgefühle geprägt war, erfährt eine plötzliche Läuterung; das Partielle fügt sich zum Ganzen, das Abgebrochene erscheint im Zusammenhang. So spricht Lenardo nicht zufällig von »der Anerkennung einer wunderbaren Lebensfolge und was alles Warmes und Schönes dabei in uns entwickelt werden mag.« (708) Zum Indiz dafür, daß er von seiner Schuld ›befreit‹ ist, wird ihm die Wiederbegegnung mit dem einst vom Oheim vertriebenen Pächter. Bislang war dieser aufgrund eines Schlaganfalls gelähmt und sprachunfähig. Doch kaum taucht Lenardo auf, ist er geheilt, kann sogar »auf einmal wieder gehen« und ruft aus: »O Gott […] der Junker Lenardo! er ist’s, er ist es selbst! […] Wie glücklich, glücklich!« (708) Das Zusammentreffen mit dem alten Pächter entfaltet sich für Lenardo als psychisches Heilsgeschehen, das sich an jenem physisch realisiert und so das subjektive Empfinden durch ein objektives ›Wunder‹ beglaubigt. Fast kommt es dann noch zur Heirat zwischen Lenardo und Nachodine/Susanne – zumindest läuft zunächst alles hierauf zu. Er, der sie die »Gute-Schöne nennen« würde, »insofern es von mir abhinge« (711), sieht in ihr die Verkörperung des griechischen Ideals der Kalokagathia, das Ethisches und Ästhetisches unter dem Aspekt der Vollkommenheit vereint.41 Ihm ergeht es ähnlich wie einst Wilhelm Meister in den Lehrjahren. Auch dieser traf nach langem Irren und Suchen seine Sehnsuchtsgestalt Natalie, die sich nach Schillers Ideal einer bruchlosen Übereinstimmung von Wollen und Sollen als »schöne Seele« erwies. Und Wilhelm stand am Ende des Romans ebenfalls kurz vor der Hochzeit mit ihr. Entsprechend deutet zunächst auch alles darauf hin, daß Lenardo und Nachodine/Susanne heiraten. Ihr Bräutigam ist tot, wie Lenardo will auch sie nach Amerika auswandern, und als der Gehilfe ihr die Hand zum Verlöbnis reichen will, spricht ihr Verhalten eine deutliche Sprache: »Er reichte 41
Siehe hierzu Peter Horwath: Zur Namengebung des »nußbraunen Mädchens« in Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: GJb 89 (1972), S. 297–304, bes. S. 303f.; Horwaths These, daß der Namenswechsel »mit den Stufen des Hineinwachsens in höhere Kreise in Verbindung stehe« (S. 297), kann entgegengehalten werden, daß alle Aufwertung doch zugleich mit der Austreibung der Individualität verbunden ist. Nachodine/Susanne wird ja von Lenardo nicht mehr als unverwechselbare Person, sondern nur noch als Repräsentantin eines ethisch-ästhetischen Wertsystems wahrgenommen; siehe hierzu Henriette Herwig, die kritisch anmerkt, daß Nachodine das, »was sie an Abstraktion gewinnt, […] an Konkretion« verliert (H. H.: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 159), dabei allerdings nicht bedenkt, daß es sich hier um eine Zuschreibung Lenardos handelt, der selbst seine subjektive Perspektive betont, wenn er sagt: »insofern es von mir abhinge.« (FA 10, S. 711)
187 sie hin, stand fest und sicher da, die beiden andern [Lenardo und Nachodine/Susanne] wichen überrascht, unwillkürlich zurück.« (719) Doch bei aller verborgenen Zuneigung und trotz identischer Lebenspläne kommt es anders als erwartet. Wie Wilhelm Natalie entsagen muß, obgleich das Ende der Lehrjahre den Gedanken an eine Eheschließung so nachdrücklich evozierte, daß viele Interpreten meinen, sie sei tatsächlich vollzogen, kommt es auch zwischen Lenardo und Nachodine/Susanne nicht zur Hochzeit – ganz im Sinne Wilhelms, der zuvor schon alles getan hatte, um eine Verbindung Lenardos mit dem nußbraunen Mädchen zu verhindern, damit dieser dem Auswandererbund seine volle Tatkraft zur Verfügung stellen könne. Zunächst hatte er ihm den Aufenthaltsort Nachodines/Susannes zu verheimlichen gesucht, dann wollte er deren Heirat mit ihrem kurz darauf allerdings verstorbenen Bräutigam beschleunigen (siehe 706), und zuletzt hatte er ein »Blatt« hinterlassen, mit dem er die existentielle, kognitive und ethische Bedingtheit des Menschen betont, dabei mahnt, die »Pflicht des Tages« zu erfüllen und sich erst danach »in freier Stunde« den Sinnzusammenhang des Daseins voller »Ehrfurcht« (710) zu vergegenwärtigen.42 Noch bevor Lenardo diese Notizen Wilhelms gelesen hat, fühlt er sich schon allein dadurch, daß er dessen Handschrift erkennt, »auf einmal zu der schroffen Wirklichkeit einer zerstreuten Alltäglichkeit zurückgeführt« (708f.) – ein Eindruck, den nicht nur die Botschaft des Blattes, sondern ebenso das weitere Geschehen bestätigt, das verdeutlicht, wie Lenardos persönliches Glücksstreben und die Anforderungen der von ihm übernommenen Aufgabe nicht zur Übereinstimmung zu bringen sind, sondern daß das eine dem anderen untergeordnet werden muß. Es sieht also nur auf den ersten Blick so aus, als liefe alles auf eine Heirat als glückliches Ende zu. So stiftet der Vater auf seinem Sterbebett ja keine Verbindung zwischen Lenardo und Nachodine/Susanne im Zeichen erotischer Erfüllung, sondern im Zeichen »himmlischer« Liebe, die alle Sexualität ausschließt (siehe 717f.). Und schließlich löst dann Makarie das Problem gleichsam ›administrativ‹, nachdem sie den zweiten Teil des Tagebuchs zu lesen bekommen hatte, damit sie »gewisse Verwicklungen, deren darin gedacht worden, durch Geist und Liebe schlichten und bedenkliche Verknüpfungen auflösen solle.« (631) So wird auch erklärlich, warum Wilhelm das Tagebuch nicht im Ganzen zu lesen bekommt, sondern zunächst nur den ersten Teil, der sich mit den Spinnern und Webern beschäftigt, und erst nach geraumer Zeit den zweiten, der Lenardos Wie42
Zu Einzelheiten siehe Bernd Peschken: Das ›Blatt‹ in den Wanderjahren, in: GJb 27 (1965), S. 205–230.
188 derbegegnung mit Nachodine/Susanne zum Thema hat.43 Zwischenzeitlich konnte Makarie aufgrund der Information, die sie dem zweiten Teil entnahm, wie auch sonst als Beziehungstherapeutin agieren44 und wiederum für emotionale ›Ordnung‹ sorgen: Nachodine/Susannes Auswanderungspläne werden durchkreuzt; sie wird von Lenardo getrennt und erhält die Stelle der Vertrauten von Makarie, die bislang Angela innehatte; diese heiratet Werners Mitarbeiter, der sich durch besondere Rechenkünste auszeichnet und daher nützliche Fähigkeiten in die Gemeinschaft einzubringen vermag (siehe 730f.). Lenardos private Geschichte emotionaler Verstrickungen und Traumatisierungen kommt durch Makaries entschlossenes Eingreifen an ein Ende. Nun ist er nicht mehr »versunken, verschlungen, in das wunderlichste Verlangen, in eine unwiderstehliche Begierde« (614), wie er Wilhelm mitgeteilt hatte, als er ihm sein Tagebuch übergab, sondern vermag sich seinen Führungsaufgaben im Auswandererbund zu widmen.
4. Das »überhand nehmende Maschinenwesen«45 als Dementi des schönen Scheins
45
Lenardos Tagebuch ist nicht nur Zeugnis einer emotionalen Bewältigung, die schließlich in ›Entsagung‹ mündet, sondern auch Dokument sozio-ökonomischer Veränderungen. Diese negieren Lenardos Projektionen umfassender Harmonie, deren integratives Zentrum er in Nachodine/Susanne vermutet. Zunächst jedoch erweckt nicht nur die ästhetisierende Überblendung des Tagebuchs, sondern auch dessen formale Anlage einen ganz anderen Eindruck. In seinem auf eine Woche zusammengedrängten Bericht über die Herstellung des Gewebes (die in Wirklichkeit viel länger dauert), folgt Lenardo dem Muster der Genesis.46 Es hat den Anschein, als 43
44 45 46
Siehe hierzu auch Klaus-Detlef Müller, der auf die Differenzen zum ersten Teil des Tagebuchs hinweist: »Der Bericht über die letzten drei Tage der Reise (Freitag bis Sonntag) ist erheblich ausführlicher, betrifft aber die Vorgänge der Baumwollindustrie nur noch am Rande: das Tagebuch gewinnt seine subjektive Dimension durch die breite Schilderung des emotionalen Betroffenseins bei der Wiederbegegnung mit dem ›nußbraunen Mädchen‹.« K.-D. M.: Lenardos Tagebuch, S. 293. Siehe S. 154–158 der vorliegenden Arbeit. FA 10, S. 713. Siehe hierzu Heinrich Detering: Goethe, Lenardos Tagebuch, in: Johann Wolfgang Goethe. Romane und theoretische Schriften, hrsg. von Bernd Hamacher und
189 würde er auf seiner Wanderung in der Abfolge der Tage von Montag bis Samstag den Schöpfungsbericht im Kleinen wiederholen. So wird am Montag von der Herstellung von Garn aus Baumwolle gesprochen (siehe 620f.), am Dienstag ist dann vom Leimen und Zetteln des Garns die Rede (siehe 624), am Mittwoch wird Lenardo Zeuge des Aufwindens und Webens (siehe 627f.), am Donnerstag schildert er das Dämmen des Gewebes (siehe 629), und schließlich berichtet er, wie am Freitag und Samstag der fertige Stoff von den Weberinnen aus dem Gebirge zum Verleger gebracht wird, der ihn von Fäden und Knoten befreit und für den Verkauf präpariert (siehe 710f.). Dem Produktionsprozeß, in dem aus der rohen Baumwolle das feine Gewebe wird, korrespondiert Lenardos Weg von der schroffen Gebirgswelt in eine immer lieblichere Landschaft. Er beginnt in der »unerfreulich[en]« (618), kargen Höhe des Gebirges – »keine Vegetation belebte Fels und Gerölle« (618) –, führt anschließend durch Regionen mit »einzeln und dann mehr gesellig [hervortretenden] Fichten, Lärchen und Birken« (618), wo »dazwischen sodann zerstreute ländliche Wohnungen, freilich von der kärglichsten Sorte« (618f.) angesiedelt sind, und endet »in einem ruhigen, nicht allzuweiten, flachen Tale, dessen eine felsige Seite von Wellen des klarsten Sees leicht bespült sich widerspiegelte.« (698) Dort gibt es »anständig gebaute Häuser, um welche ein besserer, sorgfältig gepflegter Boden, bei sonniger Lage, einiges Gartenwesen begünstigte.« (698) Entsprechend scheint am Sonntag die Harmonie perfekt zu sein und die Vollendung des Werks – dem Modell der Genesis gemäß – in Ruhe genossen werden zu können. Offensichtlich hatte Goethe einen solchen Abschluß zunächst auch geplant. So finden sich in dem Einzelschema zu Lenardos Tagebuch, das er vor dem Erscheinen der ersten Fassung der Wanderjahre entworfen hatte, unter »Sonntag den 21.« die Stichworte: »Gottesdienst. / Unterhaltung / Irgend ein Fest.«47 In der zweiten Fassung der Wanderjahre wird dieser harmonische Ausklang der Woche allerdings nur noch kurz erwähnt, um sogleich konterkariert zu werden. Der Sonntag erscheint nicht mehr als ›Tag des Herrn‹, an dem man der Vollendung der Schöpfung gedenkt, er steht vielmehr im Zeichen der Apokalypse. Zunächst hat es zwar noch den An-
47
Rüdiger Nutt-Kofoth, Darmstadt 2007, S. 127–140, hier S. 131: »Lenardos Tagebuch protokolliert eine Arbeitswoche als Schöpfungswoche, projiziert die profane Zeit auf ein sakrales Urmuster, als dessen quasi-kultische Repräsentation sie nun erscheint: sinnvoll gerundet und vollkommen.« Siehe auch Benedikt Jeßing: Konstruktion und Eingedenken, S. 69. Kommentar FA 10, S. 826.
190 schein, als würde Lenardo in seinem Tagebuch den Übergang von der Baumwolle zum Gewebe als einen sich immer wiederholenden Arbeitsablauf schildern. Doch die Tage der Spinner und Weber sind gezählt; nichts wird so bleiben, wie es bislang war. Am Sonntag artikuliert Nachodine/ Susanne die Vision des Untergangs: Was mich aber drückt ist doch eine Handelssorge, leider nicht für den Augenblick, nein! für alle Zukunft. Das überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen. […] noch schwebt Ihnen das hübsche frohe Leben vor das Sie diese Tage her dort gesehen, wovon Ihnen die geputzte Menge allseits andringend gestern das erfreulichste Zeugnis gab; denken Sie wie das nach und nach zusammensinken, absterben, die Öde, durch Jahrhunderte belebt und bevölkert, wieder in ihre uralte Einsamkeit zurückfallen werde. (713)
Nachodine/Susanne verdeutlicht Lenardo, wie fragil die Existenzgrundlage der Bergbewohner bereits geworden ist. Die technischen Veränderungen bedrohen eine Lebensform, die in den Augen Lenardos bislang zwar als naturwüchsig erschien, sich vor dem Hintergrund des aufkommenden Industriezeitalters aber als geschichtlich überholt erweist. Während Joseph der Zweite die Welt der Vormoderne im inszenierten Spiel noch nachzuahmen vermag, weil er in einer räumlichen Enklave lebt, seine Existenzform mithin nur noch als museales Imitat Bestand hat, haben die in überregionale Handelsnetze eingebundenen Spinner und Weber keine Möglichkeit, dem Konkurrenzdruck industrieller Fertigung zu entgehen. Offensichtlich hat Lenardo in seiner Sehnsucht nach »uranfänglichen Zuständen« (407) und in seinem Bedürfnis nach ›Entschuldung‹ die Brüchigkeiten dieser Lebensform bislang ausgeblendet. Daß Goethe ganz bewußt herausstellen wollte, wie sehr Lenardo die bedrohliche Situation der Spinner und Weber ignoriert, um das harmonische Bild entfalten zu können, das ihn von seinen Schuldgefühlen befreien soll, verdeutlicht ein Blick auf die Veränderung der Kapitelkonzeption. Im Entwurf vom 28. November 1828 schreibt Lenardo an Wilhelm, er gehe ins Gebirge, um den Bewohnern mit Rat und Tat zu helfen: »Man höre dort sey so viele Noth, so viele Lust zum auswandern und doch könnten die rechten Mittel und Wege nicht gefunden werden, ihre Vereinigung mache das alles möglich.« (820f.) In diesem Entwurf hat Lenardo also schon Kenntnis von der elenden Lage der Gebirgsbewohner, bevor er zu ihnen aufbricht, um ihnen die »rechten Mittel und Wege« zum Auswandern aufzuzeigen. Im Roman hingegen tilgt Goethe aus wohlerwogenen Gründen im entsprechenden Brief Lenardos an Wilhelm die im Entwurf enthaltene Passage. Denn
191 hätte Lenardo schon vorab dieses Wissen, dann könnte er nicht mehr so ohne weiteres, voreingenommen durch Wilhelms briefliche Mitteilung von den glückhaften Lebensumständen Nachodines/Susannes, die ihm für lange Zeit wie ein narrativer Filter vor dem inneren Auge steht, die Welt der Bergbewohner mit ästhetisierendem Blick zur Idylle verklären. Zwar wird Lenardo auch im Roman gleich zu Beginn von den Bewohnern informiert, sie seien nicht wegen des entfernten Krieges beunruhigt, sondern »in Sorge wegen einer andern drohenden Gefahr; denn es war nicht zu leugnen, das Maschinenwesen vermehre sich immer im Lande und bedrohe die arbeitsamen Hände nach und nach mit Untätigkeit. Doch ließen sich allerlei Trost- und Hoffnungsgründe beibringen.« (619) Was für »Trost- und Hoffnungsgründe« das sind, führt Lenardo in seinem Tagebuch allerdings nicht weiter aus; statt dessen geht er sofort zu einem neuen Thema über, ohne die Problematik zu erörtern, die das »Maschinenwesen« mit sich bringt. So verdeutlicht nicht nur der Entwurf, sondern auch Lenardos Ignoranz angesichts der Informationen über die Bedrohung, wie wichtig es Goethe war, seinen Protagonisten erst am Ende der Woche mit der unheilvollen Zukunft der Bergbewohner zu konfrontieren. Die kleine Episode um den Geschirrfasser, die Lenardo in seinem Tagebuch schildert, macht dies besonders deutlich. Anders als den Garnboten, der sich schon in Meyers Bericht findet, hat Goethe ihn frei erfunden. Er, der für die Instandsetzung der Webstühle zuständig ist und sich durch besondere technische Fertigkeiten auszeichnet (siehe 626), wird von Lenardo gefragt, »ob er sich nicht mit einer bedeutenden Gesellschaft verbinden und den Versuch machen wolle über’s Meer auszuwandern.« (630) Doch der Geschirrfasser lehnt ab – mit Worten, die Lenardos idyllisierende Wahrnehmung der Lebensumstände im Gebirge zu bekräftigen scheinen: Jener entschuldigte sich, gleichfalls heiter beteurend, daß es ihm hier wohl gehe, daß er noch Besseres erwarte; in dieser Landesart sei er geboren, darin gewöhnt, weit und breit bekannt und überall vertraulich aufgenommen. Überhaupt werde man in diesen Tälern keine Neigung zur Auswanderung finden, keine Not ängstige sie und ein Gebirg halte seine Leute fest. (630f.)
Lenardo kann noch nicht wissen, daß der Geschirrfasser mit ›gespaltener Zunge‹ spricht, wenn dieser das Wohlergehen der Gebirgsbewohner hervorhebt. Denn er verschweigt, daß er als technischer Spezialist vom »Maschinenwesen« zu profitieren gedenkt, indem er die dadurch in Not geratenen Spinner und Weber als Arbeiter in der Fabrik einsetzen will, die er gerade errichtet. Erst drei Tage später, am Sonntag, notiert Lenardo in seinem Tagebuch, was ihm der Gehilfe Nachodine/Susannes über die Pläne
192 des Geschirrfassers berichtet: »Der künstliche, werktätige Schelm hat sich in’s obere Tal gewendet, dort legt er Maschinen an, du wirst ihn alle Nahrung an sich ziehen sehen.« (719) Vor diesem Hintergrund erweist sich der Hinweis des Geschirrfassers, »daß er noch Besseres erwarte« (631) als Indiz eines ökonomischen Kalküls. Das ›Bessere‹ für ihn ist das ›Schlechtere‹ für die Spinner und Weber, die sich bei ihm als Arbeiter verdingen müssen, um zu überleben.48 Nachodine/Susanne allerdings will es ihm nicht gleichtun; für sie ist der Gedanke, vom Elend der Gebirgsbewohner zu profitieren, inakzeptabel: Ich weiß recht gut daß man in der Nähe mit dem Gedanken umgeht selbst Maschinen zu errichten und die Nahrung der Menge an sich zu reißen. Ich kann niemanden verdenken, daß er sich für seinen eigenen Nächsten hält; aber ich käme mir verächtlich vor, sollt’ ich diese guten Menschen plündern und sie zuletzt arm und hülflos wandern sehen; und wandern müssen sie früh oder spat. (714)
Von »heitere[r] Aussicht auf die nächste Zeit und die Zukunft« (495), von der Wilhelm einst Lenardo schrieb, um ihn über Nachodine/Susannes Schicksal zu beruhigen, kann folglich keine Rede sein. Darauf verweist schon Goethes Notiz zum Grundschema des dritten Bandes, mit dem er die Einteilung des Romans für die Ausgabe letzter Hand in drei Bänden skizzierte: »Das Schicksal der Guten / Schönen kommt ernstlich / zur Sprache / Zweyte Hälfte des Tage- / buchs von Leonardos Reise.«49 Was dabei »ernstlich / zur Sprache« kommt, ist nicht allein Nachodine/ Susannes persönlicher Werdegang, sondern ebenso ihr ökonomisches Dilemma. Deutlich wird, daß die privaten Lebensverhältnisse in technische Entwicklungen eingebunden sind, die mit Veränderungen der Produktionsbedingungen einhergehen – was zur Folge hat, daß sich die Beziehungen der Menschen zueinander neu organisieren. Nachodine/Susanne wei48
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Siehe hierzu die Überlegungen Friedrich Justin Bertuchs, der 1782 in seinem Aufsatz Wie versorgt ein kleiner Staat am besten seine Armen und steuert der Betteley? Ein möglicher Versuch, Leipzig, Dessau 1782 (Nachdruck der anonym erschienenen Schrift, hrsg. vom Stadtmuseum Weimar, Weimar 1978, S. 9f.), die Armut als Mittel zur Rekrutierung disponibler Arbeitskräfte herausstellt; allgemein zur ambivalenten Haltung Goethes gegenüber der kommerziellen Orientierung Bertuchs, die ihren Niederschlag in der Konzeption der Figur Werner aus den Lehrjahren gefunden habe, siehe Heinrich Macher: Goethe und Bertuch. Der Dichter und der ›homo oeconomicus‹ im klassischen Weimar, in: Friedrich Justin Bertuch (1747–1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar, hrsg. von Gerhard R. Kaiser und Siegfried Seifert, Tübingen 2000, S. 55–77. Kommentar FA 10, S. 810.
193 gert sich zwar, »diese guten Menschen [zu] plündern« (714), plant aber »aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen« (713), wo sie selbst maschinell zu produzieren gedenkt, weil dort die neue Technik keine ansässige Heimindustrie vernichten würde und so »für Pflicht und Recht gelten könnte, was hier ein Verbrechen wäre.« (714) Im Roman wird also nicht generell Stellung für oder gegen das aufkommende »Maschinenwesen« bezogen, vielmehr »ein doppelter Weg« (713) des möglichen Umgangs mit ihm aufgezeigt: Entweder man nutzt die technischen Innovationen und zerstört damit tradierte Lebensformen, ermöglicht aber zugleich einigen wenigen, von den Vorteilen der neuen Produktionsweise zu profitieren, oder man produziert in Übersee und stiftet dort Nutzen, da in diesem Fall das Maschinenwesen keine überkommenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse bedroht.50 Nachodine/Susanne weiß, daß sie den Prozeß der Industrialisierung nicht aufzuhalten vermag – daß, wie es in den Betrachtungen im Sinne der Wanderer heißt, die »Dampfmaschinen [nicht] zu dämpfen« sind. (563) Doch auch wenn sie die unheilvollen Konsequenzen für die Gebirgsbewohner erkennt, befördert sie sie indirekt, wenn auch nicht willentlich, am Ende sogar noch selbst. Denn sie realisiert ihre Auswanderungspläne nicht, in die sie die Gebirgsbewohner miteinbeziehen wollte, sondern nimmt die Stelle von Makaries Vertrauter an und übergibt dem Gehilfen, dessen Heiratsangebot sie ausgeschlagen hatte, ihren Besitz, um sich emotional zu entlasten. Dieser aber heiratet die zweite Tochter jener arbeitsamen Familie und wird Schwager des Schirrfassers. Hiedurch wird die vollkommene Einrichtung einer neuen Fabrikation durch Lokal und Zusammenwirkung möglich, und die Bewohner des arbeitslustigen Tales werden auf eine andere lebhaftere Weise beschäftigt. (731)
Ob diese »andere lebhaftere Weise« einer Industriearbeit, die die Menschen aus ihren tradierten Lebenszusammenhängen löst und als Verein-
50
Siehe hierzu auch die Ausführungen von Georg Friedrich Sartorius, dem langjährigen Gesprächs- und Briefpartner Goethes in volkswirtschaftlichen Angelegenheiten, der in seiner Goethe übersandten Schrift Über die Gefahren, welche Deutschland bedrohen, und die Mittel ihnen mit Glück zu begegnen, Göttingen 1820, die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft skeptisch beurteilt und die Auswanderungsproblematik anspricht, wenn er darüber räsoniert, daß »die Vervollkommnung der Maschinerie und der Gewerbe […] zur Bevölkerung anderer Weltteile« führt. (S. 45)
194 zelte den maschinendiktierten Arbeitsabläufen unterwirft, froh stimmt, mag dahingestellt bleiben – der Redaktor, der hier die Stimme erhebt, suggeriert dies zumindest.51 Franziska Schößler beschreibt zutreffend, wie Lenardos Tagebuch aus zwei verschiedenen Perspektiven wahrgenommen werden kann: aus der persönlichen Perspektive Lenardos – als eine am Ende dementierte restaurative Vision – und aus der Perspektive wirtschaftlicher Vorgänge – als Übergangsphase zur industriellen Produktion.52 Doch beide Perspektiven sind einander nicht diametral entgegengesetzt, sondern psycho-logisch miteinander verbunden. Lenardo will, angeleitet durch die interessengebundene Schilderung Wilhelms, die Welt der Spinner und Weber als Idylle wahrnehmen, um sein traumatisches Erlebnis zu bewältigen und dadurch frei zu werden für einen Neubeginn; zugleich aber vermag er diese verklärende Perspektive nicht aufrechtzuerhalten. Gerade am Sonntag kann er seine bisher dem Genesis-Modell verpflichteten Tagebuchaufzeichnungen nicht mehr diesem Schema unterwerfen. An die Stelle des wohlgefälligen Blicks auf den harmonischen Einklang von Welt, Mensch und Arbeit tritt die apokalyptische Vision, die Nachodine/Susanne angesichts des aufkommenden Industriezeitalters artikuliert. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund erweist sich das Geschehen in der Gebirgsregion, die Lenardo als eine vollkommene Welt erfahren will, als Kontrafaktur des biblischen Schöpfungsmodells – als ›Zerstörungsgeschichte‹. Was Nachodine/ Susanne im Bild des Gewitters als Untergangsszenario entfaltet, ist Zeichen einer Modernisierung, die dem Einzelnen zwar wie ein unaufhaltsames Naturgeschehen gegenübertritt,53 tatsächlich aber Produkt einer hi51
52 53
Wie sehr im Roman die technikgeschichtliche Perspektivierung ironisch unterlaufen wird, zeigt jene Situation, in der nicht das »Maschinenwesen« (FA 10, S. 713), sondern der Sexualtrieb zur Errichtung einer »Fabrikation« (FA 10, S. 731) führt. Denn zahlreiche Männer, die auf den Aufbruch warten, haben ortsansässige Töchter geschwängert, müssen daraufhin heiraten und sich nach Arbeit umsehen. Einer der Vorgesetzten des Bundes, der Amtmann, sieht seine Chance und unterbreitet den Handwerkern ein Angebot: Er »machte ihnen einen solchen bürgerlichen Unfall als ein Glück begreiflich, und da es wirklich ein Glück war daß gerade die in diesem Sinne brauchbarsten Handwerker das Los getroffen hatte, so hielt es nicht schwer die Einleitung zu einer Möbelfabrik zu machen, die ohne weitläufigen Raum und ohne große Umstände nur Geschicklichkeit und hinreichendes Material verlangt.« (FA 10, S. 739) Siehe Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 291. Darauf, daß geschichtliche Umwälzungen zu Goethes Zeiten häufig in Bildern von Naturkatastrophen gefaßt wurden, verweist Hans-Wolf Jäger: Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz, Stuttgart 1971, S. 20–34.
195 storischen Veränderung ist, in der Effizienz zum höchsten Wert avanciert, dem sich alles produktive Verhalten zu fügen hat. Indem Goethe zeigt, wie und warum Lenardo die Realität zum schönen Schein verklärt, macht er zugleich implizit auf das von ihm Ausgeblendete aufmerksam, bis dann am Sonntag auch Lenardos Blick explizit frei wird für die Prozesse der auf Gewinnmaximierung angelegten ökonomischen Rationalität. Damit aber weichen die Evokationen einer heilen Welt der Wahrnehmung einer höchst prekären Existenzform. Deutlich wird überdies auch, daß das Hausgewerbe der Spinner und Weber keinen hermetisch abgeschlossenen Raum darstellt, sondern in weltweite Vernetzungen eingebunden ist, von denen es abhängt. Die Baumwolle stammt aus Übersee, wird über Triest ins Gebirge geliefert, das fertige Gewebe wird in die Stadt geschickt, wo es weiterverarbeitet wird und von woher die Bergbewohner ihre kleinen Luxusartikel beziehen (siehe 700–702). Diese vielfältig vernetzte Welt gehört in ihren konkreten Lebensvollzügen zwar noch der Vormoderne an, befindet sich aber aufgrund ihrer abstrakten Verflechtung in überregionale Handelssysteme und aufgrund der arbeitsteiligen Produktionsweise – gesponnen und gewebt wird im Gebirge ja an verschiedenen Orten – bereits an der Schwelle zur Moderne, was der idyllisierende Blick Lenardos ausblendet. Schon der komplexe Zusammenhang der Handelsbeziehungen deutet darauf hin, daß die Heimindustrie keineswegs so autark ist, wie es für Lenardo zunächst noch den Anschein hat. Die vermeintlich »uranfänglichen Zustände« (407) der Spinner und Weber sind ihrerseits schon Resultat eines sozio-ökonomischen Entwicklungsprozesses, der zur Industrialisierung führt. Die Geschichtswissenschaft bezeichnet diese Entwicklung als Protoindustrialisierung; sie fungierte im zunftfreien ländlichen Raum als eine der wichtigsten Übergangsformen zur Industrialisierung.54 Anders 54
Für Goethes Roman siehe Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 285–291; Werner Sombart erblickt in der Geschichte der Hausindustrie die Genese des Kapitalismus: »Hausindustrie entsteht überall dann und überall da, wann und wo die Verkehrsverhältnisse die kapitalistische Organisation […] gestatten.« W. S.: Art.: Hausindustrie, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band 4, Jena 1892, S. 418–441, hier S. 419; zu Einzelheiten siehe Peter Kriedte, Hans Medick und Jürgen Schlumbohm: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977; darin: Peter Kriedte: Genesis, Agrarischer Kontext und Weltmarktbedingungen, S. 36–89; Hans Medick: Die proto-industrielle Familienwirtschaft, S. 90–154. Siehe auch H. M.: Zur strukturellen Funktion von Haushalt und Familie im Übergang von der traditionellen
196 als im altständischen Handwerk, für das das Prinzip der ›Nahrung‹ galt, das sich also nicht der konkurrenzorientierten Gewinnmaximierung, sondern der Existenzsicherung verpflichtet fühlte, war das sich außerhalb der städtischen Zunftordnung ansiedelnde Handwerk dem wachstumsorientierten Unternehmertum unterworfen, gerade auch deshalb, weil wegen der Not auf dem Lande und der saisonbedingten Arbeiten der Zwang zur hausindustriellen Produktion besonders groß war. Hierbei war die protoindustrielle Familie, anders als die auf Besitzerhaltung und Vererbung ausgerichtete vollbäuerliche Familie durch den Verleger in ein übergreifendes Produktionsnetz eingebunden;55 sie hatte keine Verfügungsgewalt über das Endprodukt, auch die Zwischenprodukte durchliefen in einer längeren Zirkulationsspanne als Warenkapital mehrere Stationen, bis sie den Endverbraucher erreichten. Lenardos Tagebuch thematisiert diesen Zusammenhang zwar als harmonischen Abfolgeprozeß nach dem Muster organischen Wachstums, bei dem vom Baumwollsamen bis zum fertigen Gewebe ein Schritt notwendig auf den anderen folgt und dergestalt zur Entfaltung kommt, was schon am Anfang keimhaft angelegt war. Doch der so erzeugte Schein des Naturhaften schwindet mit dem Aufkommen des »Maschinenwesens«. Der sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer stärker durchsetzende mechanische Webstuhl zerstört die im Hausgewerbe noch vorhandene Einheit von Produktion und Konsumption und damit den Zusammenhalt der Generationen. Dieser Vorgang kennzeichnet nicht bloß eine der vielen sozio-ökonomischen Veränderungen, denen die Menschheit im Lauf ihrer Geschichte immer wieder unterworfen war, er markiert vielmehr eine der wenigen qualitativen Zäsuren. Die Zerstörung der Heimindustrie verweist auf den Beginn des Industriezeitalters, das in Form der Protoindustrialisierung gerade auch beim ländlichen Gewerbe seinen Ausgang nahm. Aus dieser Perspektive kann man Lenardos Tagebuch – auf der konzeptionellen Ebene – als mikrohistorische Analyse einer Umbruchszeit lesen, in der sich die Familie als Erzeuger- und Gebrauchsgemeinschaft auflöst. Sie
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Agrargesellschaft zum industriellen Kapitalismus: die proto-industrielle Familienwirtschaft, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hrsg. von Werner Conze, Stuttgart 1976, S. 254–282; speziell zur Protoindustrialisierung in der Schweiz siehe Rudolf Braun: Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriß einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1984, S. 110–142. Siehe hierzu Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 1, S. 100.
197 wird ersetzt durch den lohnabhängigen Arbeiter, der dem Diktat maschineller Produktion unterworfen ist – mit allen Konsequenzen der Entfremdung, wie sie Hegel zur gleichen Zeit darstellt. Nach seiner Einschätzung wird der Mensch durch die Abstraction der Arbeit mechanischer, abgestumpfter, geistloser. – Das Geistige, diß erfüllte selbstbewußte Leben wird ein leeres Thun […]. Er kann einige Arbeit als Maschine freylassen, um so formaler wird sein eignes Thun […]. Es werden also eine Menge zu den ganz abstumpfenden ungesunden und unsichern und die Geschiklichkeit beschränkenden Fabrik-Manufaktur-Arbeiten – Bergwerken u.s.f. verdammt […] und diese ganze Menge ist der Armut, die sich nicht helfen kann, preisgegeben.56
Was Hegel als geistige Depravation aus technologischem Zwang analysiert, wird später als Prozeß der Unterwerfung des Menschen charakterisiert, wenn Marx die Entwicklung von der Produktion im Manufakturbetrieb, in dem der »Prozeß dem Arbeiter angeeignet« wird, zur industriellen Fertigung in Fabriken beleuchtet, bei der »dies subjektive Prinzip […] für die maschinenartige Produktion«57 wegfällt: »Der kooperative Charakter des Arbeitsprozesses wird jetzt also durch die Natur des Arbeitsmittels selbst diktierte technische Notwendigkeit.«58 Goethe thematisiert in seinem Roman die epochale Zäsur des beginnenden Industriezeitalters; er zieht allerdings nicht in extenso die historische Linie weiter bis zu einer Fabrikarbeit, in der die vorgegebenen Fertigungsabläufe dem Menschen oktroyiert werden. Vielmehr gestaltet er vornehmlich die Suche nach neuen Integrationskonzepten in Form von Handwerkerbünden. Allerdings stellt er dabei den sozio-ökonomischen Veränderungsprozeß nicht als abstraktes Geschehen dar, sondern entfaltet ihn im Medium von Individualgeschichten, in denen es auch um Traumatisierungen, Ästhetisierungen und Verdrängungen geht. In diesem Geschehen überwindet Lenardo seine Seelenqualen gerade nicht in der Liebesgemeinschaft mit Nachodine/Susanne, sondern indem er »die Angelegenheit nicht berührt« (732), sich statt dessen dem vom Vater der Geliebten ausgehenden Versöhnungsgeschehen überläßt, seinen ›enterotisierenden‹ Segen entgegennimmt und Nachodine/Susannes Eheweigerung 56
57 58
Hegel: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/06), in: G. W. F. H.: Gesammelte Werke, Band 8: Jenaer Systementwürfe III, hrsg. von Rolf-Peter Horstmann, Hamburg 1976, S. 243f. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: K. M. und Friedrich Engels: Werke, Band 23, Berlin 1962, S. 401. Ebd., S. 407.
198 akzeptiert59 – was der Redaktor mit den Worten kommentiert: »Dabei konnte man vermuten daß er in jenen Unternehmungen [des Auswandererbundes] hauptsächlich gestärkt sei durch den Gedanken, sie dereinst, wenn er Fuß gefaßt, hinüber zu berufen, wo nicht gar selbst abzuholen.« (733) So wird die persönliche Beziehung der öffentlichen Wirksamkeit als deren Stimulans zugeordnet.
59
Positiv bestimmt diese Verdrängung Stefan Blessin: Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne, Paderborn, Wien, Zürich 1996, S. 310–318, hier S. 312: »Das tätig-zuwartende Schweigen Lenardos ist das Gegenteil der von dem Faktor ebenso kalkuliert wie tückisch in Gang gesetzten Maschinerie. Es stellt eine überlegende Form des instrumentellen Handelns dar.«
199
VIII. »Etwas muß getan sein in jedem Moment«1: Der funktionale Mensch im amerikanischen und europäischen Siedlungsprojekt
1.
1
Mobilität als Signum der Moderne: Lenardos Auswanderungsrede
Während sich Lenardo für lange Zeit emotional dem filigranen zwischenmenschlichen Geflecht überließ, gilt seine Handlungsenergie als ›Entsagender‹ der Auswanderergesellschaft. Die Spaltung ist offensichtlich: hier die Psyche, die sich der instrumentellen Vernunft entzieht, dort die Wirklichkeit praktischen Handelns, die sich planend entwerfen läßt. Damit aber wird der Rationalitätsdiskurs der Aufklärung vom Seelendiskurs der Empfindsamkeit getrennt, Innenwelt und Außenwelt werden als zwei unterschiedliche Bereiche mit kontradiktorischen Haltungen verbunden: der ›kontemplativen‹ und der ›aktiven‹. Die Unverfügbarkeit der Affekte und der Verfügungswille der Ratio sind hierbei dialektisch aufeinander bezogen: Gerade weil Lenardo ganz auf seine instrumentelle Vernunft setzt, die die Welt unter dem Gesichtspunkt der Machbarkeit bestimmt, erfährt er im zwischenmenschlichen Bereich die emotionale Sphäre als das Andere der Vernunft, das sich planendem Zugriff entzieht.2 Er, der alles in den Griff bekommen will, begreift nicht, inwiefern Emotionen von ihm Besitz ergriffen haben; und so spaltet er sich auf in eine emotionale Existenz, die er überwinden möchte, und in eine technokratische, die ihm, wie er meint, gemäß sei. So unterdrückt Lenardo die eine Seite, um als Leiter des Auswandererbundes möglichst viele der in einem Gasthaus versam1 2
FA 10, S. 687. Allgemein hierzu siehe Hartmut und Gernot Böhme, die in historischer Perspektive die Kosten des vernunftzentrierten Fortschritts herausstellen: »Indem Vernunft sich als Maß des Menschen setzt, bestimmt sie die Unvernunft als das Anormale. […] Die Demarkierungsprozesse setzen das, als was Vernunft sich nicht versteht, als das Inferiore, das in Regie, an die Kandare oder unter Verschluß genommen werden muß. Wo Vernunft das, was sie nicht ist, sich nicht aneignen kann […], schlägt direkte Beherrschung in Ausgrenzung und Verdrängung um.« H. B. und G. B.: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 21992, S. 17.
200 melten Handwerker (siehe 587f.) durch eine genau kalkulierte Rede in Aufbruchstimmung zu versetzen. Die Situation drängt zur Entscheidung: Der höchst bedeutende Tag war angebrochen, heute sollten die ersten Schritte zur allgemeinen Fortwanderung eingeleitet werden, heut’ sollte sich’s entscheiden wer denn wirklich in die Welt hinaus gehen, oder wer lieber diesseits, auf dem zusammenhangenden Boden der alten Erde, verweilen und sein Glück versuchen wolle. (664)
Ziel von Lenardos Rede ist es, den Anwesenden ihre Ängste vor dem Aufbruch in die Neue Welt zu nehmen. Erstaunlicherweise beginnt er jedoch zunächst mit einem Lob der Seßhaftigkeit, redet »von dem hohen Wert des Grundbesitzes« und betont, die Menschen seien genötigt, ihn als das Erste, das Beste, anzusehen, was dem Menschen werden könne. Finden wir nun, bei näherer Ansicht, Eltern- und Kinderliebe, innige Verbindung der Flur- und Stadtgenossen, somit auch das allgemeine patriotische Gefühl unmittelbar auf den Boden gegründet, dann erscheint uns jenes Ergreifen und Behaupten des Raumes, im Großen und Kleinen immer bedeutender und ehrwürdiger. Ja, so hat es die Natur gewollt! Ein Mensch, auf der Scholle geboren, wird ihr durch Gewohnheit angehörig, beide verwachsen miteinander, und sogleich knüpfen sich die schönsten Bande. (665)
Obwohl Lenardo zu Auswanderung und Neubeginn aufrufen will, feiert er die auf lokale Gebundenheit gegründete altständische Ordnung als gleichsam natürliche Gegebenheit menschlichen Daseins. Doch nur auf den ersten Blick scheint er eine traditionale Gesellschaftsordnung zu verfechten, die sich über Herkommen und Grundbesitz bestimmt. Doch wenn er an die Wertvorstellungen der Anwesenden anknüpft, sichert er zunächst nur den Beziehungsaspekt seiner Rede, um im folgenden seine Zuhörer unmerklich aus ihrem ›vormodernen‹ Wertesystem in das einer Moderne zu überführen, in der allein Mobilität und Leistung zählen. Was tatsächlich eine epochale Zäsur ist, vermittelt er den Handwerkern als bloße Fortführung und Weiterentwicklung einer dem Menschen eigentümlichen Wesensverfassung. Mit einem schlichten »und doch« überspielt er alle qualitativen Differenzen und suggeriert, es gebe eine Kontinuität im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft: Und doch darf man sagen: wenn das was der Mensch besitzt von großem Wert ist, so muß man demjenigen was er tut und leistet noch einen größern zuschreiben. Wir mögen daher bei völligem Überschauen den Grundbesitz als einen kleineren Teil der uns verliehenen Güter betrachten. Die meisten und höchsten derselben bestehen aber eigentlich im Beweglichen, und in demjenigen was durch’s bewegte Leben gewonnen wird. (665f.)
Deutlich wird, daß das Lob des Grundbesitzes nur als rhetorisches ›Sprungbrett‹ dient, um zu dem überzugehen, was er als noch bedeutender dar-
201 stellt, was aber – genau genommen – etwas ganz anderes ist als die ›bodenständige‹, auf dem Herkunftsprinzip beruhende Ordnung, nämlich die auf den besonderen Fähigkeiten des Einzelnen basierende moderne Leistungsgesellschaft. Lenardo vollzieht unter der Hand eine ›Umwertung aller Werte‹, indem er nicht mehr den Grundbesitz, sondern die Arbeit als Quelle des Reichtums bestimmt, wie dies seit Adam Smith als Lehrmeinung der ›Ökonomisten‹ gilt, die eine ›bürgerliche Ordnung‹ propagieren, in der – wenigstens der Systematik nach – den geburtsständischen Privilegien die Legitimation entzogen ist.3 Lenardo entfaltet vor den Handwerkern einen Begriff von Arbeit, der sich aus den traditionellen Vorstellungen als Mühsal, notwendiges Übel, gottgegebene Pflicht oder gar Sündenstrafe löst und zum Inbegriff einer modernen Gesellschaft avanciert, in welcher der Einzelne traditionale Fixierungen und überkommene Strukturen überwindet, um sich einen sei3
Zur zentralen Bedeutung der produktiven im Gegensatz zur unproduktiven Arbeit im Wirtschaftsgeschehen siehe Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen, S. 272: »Es gibt eine Art von Arbeit, die den Wert eines Gegenstandes, auf den sie verwandt wird, erhöht, und es gibt eine andere, die diese Wirkung nicht hat. Jene kann als produktive bezeichnet werden, da sie einen Wert hervorbringt, diese hingegen als unproduktiv. So vermehrt ein Fabrikarbeiter den Wert des Rohmaterials, das er bearbeitet, im allgemeinen um den Wert des eigenen Lebensunterhalts und um den Gewinn seines Unternehmens.« Auf Bezüge zum Arbeitsbegriff bei Justus Möser und Adam Smith verweist Gonthier-Louis Fink im Kommentar MA 17, S. 1189. Zu Goethes Beziehung zu Möser und dessen Arbeitsbegriff siehe Bernd Mahl: Goethes ökonomisches Wissen, S. 245–285, bes. S. 253–264. Die Gedanken von Adam Smith lernte Goethe genauer über Georg Sartorius kennen, der 1796 ein Handbuch der Staatswirthschaft zum Gebrauche bey akademischen Vorlesungen nach Adam Smith’s Grundsätzen veröffentlichte, in dem er dessen Lehren in stark gekürzter Form vorstellte. Bernd Mahl schreibt dazu: »Diese Schrift muß Goethe bekannt gewesen sein, ehe er die zweite Auflage unter einem nunmehr veränderten Titel durch eine Postsendung aus Göttingen erhielt.« B. M.: Goethes ökonomisches Wissen, S. 401; die zweite, 1806 in Göttingen erschienene Auflage trägt den Titel Von den Elementen des National-Reichthums und von der Staatswirthschaft nach Adam Smith. Zum Gebrauche bey akademischen Vorlesungen und beym Privat-Studio; zum jahrzehntelangen engen Verhältnis von Goethe zu Sartorius siehe Bernd Mahl: Goethes ökonomisches Wissen, S. 400–443; siehe auch: Goethes Briefwechsel mit Georg und Caroline Sartorius (von 1801–1825). Mit fünfzehn Goethe-Briefen und vielen anderen Dokumenten aus der Goethezeit, hrsg. von Else von Monroy, Weimar 1931. Den Wechsel vom Wert des (Grund-)Besitzes zu dem der Arbeit als Epochenzäsur akzentuiert Gonthier-Louis Fink: Die Auseinandersetzung mit der Tradition in Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Recherches Germaniques 5 (1975), S. 89–142, hier S. 129; siehe auch Stefan Blessin: Goethes Romane, S. 376f.
202 nen Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechenden Platz in der Gesellschaft zu erarbeiten.4 Folgerichtig erhebt Lenardo die Mobilität zur bestimmenden Größe des menschlichen Lebens. Anstelle von gewachsenen Bindungen, die dem Menschen Identität über Herkunft, lokale Verankerung, Gewohnheit und religiöse Zugehörigkeit vermitteln, propagiert er eine leistungsorientierte Haltung, die nicht die individuelle Person, sondern den brauchbaren Funktionsträger ins Zentrum stellt. Um jedoch zu kaschieren, daß er hier ein gänzlich neues Menschenbild entwirft, präsentiert Lenardo das Wandern als anthropologische Universalie, die durch alle Zeiten hindurch das Leben der Menschen bestimmt habe. Von neuhumanistischen, auf individuelle Vervollkommnung ausgerichteten Vorstellungen findet sich hierbei freilich keine Spur, viel weniger noch von der religiösen Idee einer Wanderung durchs irdische Jammertal hin zur jenseitigen Glückseligkeit, und auch das romantische Schema einer durch Wanderschaft in Erfüllung zu überführenden Verheißung kommt nirgends zum Tragen. Statt dessen offeriert Lenardo seinen Zuhörern eine recht beliebige Sammlung von Beispielen nicht dauerhaft ortsansässiger Menschengruppen. Das Spektrum reicht von Nomaden und wißbegierigen Jünglingen über Naturforscher, Handwerker und Kaufleute bis hin zu Soldaten, Künstlern und Herrschern (siehe 666–671). Offensichtlich geht es Lenardo bei seiner Aufzählung nicht um Differenzierung und Systematisierung, sondern darum, die Versammelten glauben zu machen, sie würden mit der Auswanderung lediglich einem zeitlos gültigen Verhaltensmuster folgen. Doch alle Gruppen, die er zum Beleg seiner ›Anthropologie des Wanderns‹ anführt, sind letztlich lokale Gemeinschaften, die nur von Zeit zu Zeit Reisen unternehmen, um immer wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren, wo ihre Identität gründet. Keineswegs verlassen sie ihre Herkunftswelt endgültig, um sich in gänzlich neue Arbeits- und Lebenszusammenhänge zu integrieren. Indem Lenardo behauptet, Wandern sei eine übergeschichtliche Konstante, die sich bei allen tüchtigen Leuten finde, redet er zunächst einem unspezifischen Tätigkeitspostulat das Wort: Der Mensch habe nicht träge im Gegebenen zu verharren, sondern sich aktiv zu behaupten. In solcher Allgemeinheit, die Lenardo durch weit hergeholte und nicht besonders zutreffende Beispiele 4
So stellt schon 1849 Ferdinand Gregorovius heraus, daß Goethe in seinem Roman »die arbeitende Klasse selbst zu einer intelligenten erhebt.« F. G.: Goethes Wilhelm Meister in seinen sozialistischen Elementen entwickelt. Auszug abgedruckt in: Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre, hrsg. von Klaus F. Gille, S. 159–163, hier S. 160.
203 illustriert, mag es ein Merkmal des allgemeinen Überlebenskampfes sein, daß Menschen zu allen Zeiten wandern, um ihr Wissen zu vermehren, ihre Kenntnisse zu verbessern und ihre Existenz zu sichern. Aufgrund solcher Pauschalität kann Lenardo seine Rede nahezu wortgleich auch in der ersten Fassung der Wanderjahre halten, in der das Auswandern noch als bloße »Grille« bezeichnet wird, gespeist aus der »betrübliche[n] Hoffnung eines bessern Zustandes.« (199) Dort fungiert seine Rede lediglich als unspezifisches Plädoyer für Neugier, Wissenserwerb und wirtschaftlichen Tätigkeitsdrang im Rahmen einer vorgegebenen Gesellschaftsordnung; die Menschen haben zu wandern, um sich in der Fremde zu behaupten und dann zurückzukehren, und zwar »reicher, verständiger, geschickter, besser, und was aus einem solchen Lebenswandel Vorteilhaftes hervorgehen mag.« (199) Lenardos große Wanderrede, mit der die erste Fassung der Wanderjahre endet, bekommt in der zweiten Fassung, obwohl Goethe den Wortlaut beibehält, aufgrund ihres veränderten Kontextes einen anderen Stellenwert. Lenardo hält sie jetzt vor einer Versammlung von Handwerkern, um diese für einen radikalen Neubeginn zu gewinnen. Es handelt sich also nicht mehr um ein bloßes Plädoyer für Kenntnisvermehrung und Erwerbssicherung durch die Mobilität ›dynamischer‹ Menschen, es ist auch kein Plädoyer für eine geographische ›Diversifikation‹ des Besitzes, wie sie die Mitglieder der Turmgesellschaft in den Lehrjahren mit dem Hinweis auf eine drohende »Staatsrevolution« praktizierten, indem sie sich mit ihren »Besitztümern« auf verschiedene Länder verteilten (FA 9, 945).5 Es geht vielmehr darum, die angestammte Lebenswelt aufzugeben, um nach vorgegebenen Plänen neue Gemeinschaftsordnungen zu errichten. Die Handwerker, deren Existenz von der aufkommenden Maschinentechnik bedroht ist, sind gezwungen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren, um ihr Auskommen zu sichern.
2. Der Gesang als Manipulationsmedium Doch zunächst sieht alles danach aus, als handle es sich bei den Handwerkern gar nicht um von Not gepeinigte Auswanderer, sondern um von Freude stimulierte Sänger. Wilhelm kommt im Ersten Kapitel des Dritten 5
Auf den realgeschichtlichen Hintergrund der Französischen Revolution für die Lehrjahre verweist Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik, Kronberg i.Ts. 1977, S. 180–184.
204 Buches in ihre Herberge, weiß nicht genau, wo er ist, und wird vom Wirt nur ganz allgemein informiert (siehe 587f.). Wie schon in der Pädagogischen Provinz wird auch hier bei jeder Gelegenheit gesungen.6 Bereits Wilhelms erste Begegnung mit einigen Mitgliedern des Auswandererbundes verblüfft: Eben wollte der Vogt sich entfernen, als ein Gesang die Treppe herauf scholl; zwei hübsche junge Männer kamen singend heran, denen jener durch ein einfaches Zeichen zu verstehen gab, der Gast sei aufgenommen. Ihren Gesang nicht unterbrechend begrüßten sie ihn freundlich, duettierten gar anmutig und man konnte sehr leicht bemerken, daß sie völlig eingeübt und ihrer Kunst Meister seien. (588f.)
Die Irritation wird im Verlauf von Wilhelms Aufenthalt bei den Auswanderern noch zunehmen. Zunächst allerdings fängt alles ganz harmlos an. Die beiden Sänger fragen ihn, »ob ihm nicht auch manchmal ein Lied bei seinen Fußwanderungen einfalle und das er so vor sich hin singe.« (589) Wilhelm bejaht die Frage und händigt ihnen daraufhin »ein Blatt aus seiner Schreibtafel« (589) aus, auf welchem sich eine Liedstrophe aufgezeichnet findet. Es handelt sich um die erste Strophe des schon in die erste Fassung der Wanderjahre von 1821 aufgenommenen und von Goethe bei anderen Gelegenheiten separat und in modifizierter Weise publizierten Wanderlieds.7 6
7
Anklänge an die Praktiken der Freimaurer, die bei ihren Zusammenkünften ebenfalls sangen, sind offensichtlich. Goethe selbst hat in Weimar für die dortige Freimaurerloge Liedtexte verfaßt und für deren Vertonung gesorgt. So schreibt er am 20. Juli 1781 an den Komponisten Johann Christoph Kayser: »Da Sie den Geist meiner Maurerey kennen; so werden Sie begreifen was für einen Zweck ich mit vorstehendem Liede habe, und mit mehreren, die nachkommen sollen. Ich wünsche daß es eine Melodie in Ihrer Seele aufregen möge, es würde mich zu mehreren ermuntern.« (WA IV/5, S. 173) Unter diesem Titel hat Goethe das Gedicht in seine Ausgabe letzter Hand übernommen (siehe FA 2, S. 480f.); in dem Abdruck Zu Goethes Geburtstage, Weimar, den 28. August 1826 wird nicht nur die im Roman folgende zweite Strophe weggelassen, sondern überdies – ganz konträr zur Mobilitätsdoktrin der Wanderjahre – eine weitere Strophe hinzugefügt, die das Glück der Seßhaftigkeit in anakreontischer Manier feiert: »Doch was heißt in solchen Stunden, / Sich im Freien umzuschaun? / Wer ein heimisch Glück gefunden, / Warum sucht er dort im Blau’n? / Glücklich wer bei uns geblieben, / In der Treue sich gefällt! / Wo wir trinken, wo wir lieben, / Da ist reiche freie Welt.« (Kommentar FA 2, S. 1066) Unter der Überschrift »Entsagende Poesie« behandelt Arthur Henkel: Entsagung, S. 97–100, mehr beiläufig die Stellung dieses Liedes im Roman. Eine paraphrasierende, Vers für Vers vorgehende Interpretation des Wanderliedes ohne zureichende Aufmerksamkeit auf den narrativen Kontext gibt Bruno Schmidlin: Das Motiv des Wanderns bei Goethe, Winterthur 1963, S. 61–68; eine größere Untersuchung zum Wanderliedtopos um 1800, die eine Forschungslücke schließt,
205 Was dann mit Wilhelms Lied geschieht, ist merkwürdig. Zunächst wird es ihm in einem subtilen Verfahren ›enteignet‹, um danach, mit weiteren Strophen versehen, zum Medium der Kollektivierung und Disziplinierung zu werden. Dabei könnte die Spannweite zwischen dem Ausgangs- und Endpunkt des Transformationsprozesses, den das Lied durchläuft, größer nicht sein. Für Wilhelm drückt die Strophe zu Beginn die glückhafte Übereinstimmung von Innenwelt und Außenwelt aus; zum Schluß, nachdem es in mehreren Stufen instrumentalisiert wurde, fügt das Lied die Auswanderer zu Marschkolonnen zusammen. Die Liedstrophe, die Wilhelm den beiden Handwerkern mitteilt, lautet: Von dem Berge zu den Hügeln, Niederab das Tal entlang, Da erklingt es wie von Flügeln, Da bewegt sich’s wie Gesang; Und dem unbedingten Triebe Folget Freude, folget Rat; Und dein Streben, sei’s in Liebe, Und dein Leben sei die Tat. (589)
Die Verse kommen schlicht daher, dem romantischen Formtyp des Wanderliedes verpflichtet. Das feste Schema des Kreuzreims, der stetige Wechsel von weiblicher und männlicher Kadenz, die alternierenden vierhebigen Trochäen und die festen Sinneinheiten, welche durch Satzzeichen gegliedert sind – all dies trägt zur Sangbarkeit des Liedes bei, dessen metrische Regulierung die Bewegung strukturiert, die sein Inhalt zugleich thematisiert. Nicht von ungefähr äußert Wilhelm denn auch, daß er sich »bei’m Wandern jedes Mal im Takt bewege« (589), woraus dann solch ein Lied entstehe, das als Ausdruck des seelischen Inneren der äußeren Körperbewegung entspreche. Wilhelms Wanderlied thematisiert selbstreferenziell genau diese Einheit von Wanderschaft und Gesang. In synästhetischer Verschränkung von Klang und Bewegung entfaltet sich ein strömendes Gefälle, das alles mit einschließt. Auf die vorwärtsdrängende Emphase, die im Ineinanderspiel von Klangwelten und Bewegungsenergien den Landschaftsraum erfüllt, folgt das delectare (die »Freude«), zugleich aber auch das prodesse (der »Rat«). Am Ende steht so der Aufruf zu einem von liebevollem Streben bestimmten nützlich-tätigen Leben. indem sie den sozialgeschichtlichen Ort des Übergangs von der Vormoderne zur Moderne und die Selbstreflexivität dieses Genres in den Blick nimmt, findet sich bei Heinrich Bosse und Harald Neumeyer: »Da blüht der Winter schön«. Musensohn und ›Wanderlied‹ um 1800, Freiburg i.Br. 1995, bes. S. 17–46 und S. 68–88.
206 Auf diese Weise vollzieht das Lied in der Abfolge seiner Verse den Übergang von der eudämonistischen in die utilitaristische Dimension und antizipiert bereits den mehrstufigen Prozeß seiner Funktionalisierung, dem es dann im Auswandererbund unterworfen wird. Es verweist auf Wilhelms Internalisierung des Nützlichkeitsgebots der modernen Leistungsgesellschaft; mit seiner Aufforderung zu einer mobilen Existenz der »Tat« im Schlußvers wendet sich das Lied ja vor allem an Wilhelm als seinen eigenen ›Sänger‹, der sich hier als ›lyrisches Du‹ selbst anspricht und den utilitaristischen »Rat« gibt. So erscheint seine Wanderliedstrophe als Medium der Selbstverpflichtung zu tätigem Dasein. Von daher aber bezeichnet der »geheime Genius« oder »singende Dämon« (589), auf welchen sich Wilhelm den Handwerkern gegenüber beruft, wenn er sagt, daß dieser ihm oft »etwas Rhythmisches vorzuflüstern« und »leise Töne« (589) vernehmlich zu machen scheint, keineswegs die »angeborne Kraft und Eigenheit«8 eines genialen Künstlerindividuums. Der Genius, der Wilhelm sein Wanderlied ›vorflüsterte‹, erweist sich vielmehr als die verinnerlichte Autoritätsinstanz des Entsagungsbundes, die sein Selbstverständnis in den Wanderjahren bestimmt. Doch artikuliert Wilhelm in seinem Lied die Forderung nach spezialisierter Integration in die am Nutzen orientierte Gemeinschaft der Tätigen nicht ohne moralische Einschränkung. Vielmehr verknüpfen die Schlußverse den selbstadressierten Appell zum tätigen Leben mit der Verpflichtung zu einem ›liebevollen Streben‹: Gefordert wird eine Synthese von »Tat« und »Liebe«. Damit ist allerdings nicht die von den Entsagenden perhorreszierte erotische Liebe gemeint, sondern jene ethische Liebe, der auch Wilhelms Berufswahl entspricht, mit der er persönlich mehr bezweckt, als nur beschädigte Arbeitskräfte wiederherzustellen, damit der Produktionsprozeß weitergehen kann, wie es Jarno/Montan proklamiert (siehe 555). Das bestätigt vor allem auch die am Ende des Romans erfolgende Rettung von Felix, bei der im mythischen Bild des Dioskurenpaares Kastor und Pollux nicht zufällig die ›Brüderlichkeit‹ zwischen dem »liebevolle[n] Wundarzt« (745) und seinem Sohn betont wird. Der schleichende ›Enteignungsprozeß‹ von Wilhelms Lied, der sich sehr subtil vollzieht, beginnt nun damit, daß es die beiden Handwerker, denen er es in schriftlicher Form überreicht hat, sogleich anstimmen. Zunächst mutiert das einfache Lied zu einem »freudige[n] dem Wanderschritt angemessene[n] Zweigesang« (589) und scheint auf diese Weise erst seine 8
So Goethes Erläuterung des Ausdrucks », Dämon« im Selbstkommentar zu seinem Altersgedicht Urworte. Orphisch, in: WA I/41.1, S. 216.
207 volle Wirkung zu entfalten, so daß »Wilhelm glaubte nie etwas so Anmutiges, Herz und Sinn Erhebendes vernommen zu haben.« (590) Diese melodische Formung der Strophe macht bereits auf die Funktion des Gesangs bei den Auswanderern aufmerksam. Nicht anders als in der Pädagogischen Provinz dient offenkundig auch hier das gemeinschaftliche Singen dazu, in kollektives Handeln einzuüben, wie es die arbeitsteilige Gesellschaft verlangt. Das signalisiert besonders der situative Kontext, wenn Goethe vier weitere Handwerker hinzukommen läßt, die sofort in den Gesang einfallen. Aus dem einzelnen Sänger wird ein Gesangssextett, das bei Wilhelm den Eindruck hervorruft, als würde »eine vollständige Wandergesellschaft über Berg und Tal« (590) dahinschreiten; an die Stelle individuellen Gesangs ist Chorgesang als Medium von Gemeinschaftsbildung getreten. Doch erschöpft sich die Funktion des Gesangs bei den Auswanderern nicht hierin; sie umfaßt darüber hinaus – ähnlich wie in der Pädagogischen Provinz – die rhythmische Koordinierung von Bewegungsabläufen. Sinnfällig wird dies, als der Lastenträger St. Christoph, dessen Name säkularisiertes Programm ist, den Chorgesang verlangsamt. Er stimmt zuletzt ein, nötigt die anderen jedoch, das seiner Tätigkeit angemessene ›schleppende‹ Tempo einzuhalten: Ferner konnte man denn auch gar bald bemerken, daß er [St. Christoph] das Tempo zu einem langsameren Schritt herniederziehe und die Übrigen nötige sich ihm zu fügen. Als man zuletzt geschlossen und sich genugsam befriedigt hatte, warfen ihm die andern vor, als wenn er getrachtet habe sie irre zu machen. »Keineswegs«, rief er aus, »ihr seid es die ihr mich irre zu machen gedenkt, aus meinem Schritt wollt ihr mich bringen, der gemäßigt und sicher sein muß, wenn ich mit meiner Bürde bergauf bergab schreite und doch zuletzt zur bestimmten Stunde eintreffen und euch befriedigen soll.« (590)
Deutlich wird: In den Wanderjahren, in denen Wanderschaft zielgerichtete Mobilität und nicht mehr »abenteuerlich in die weite Welt« (671) schweifende Bewegung bedeutet, ist auch das Wanderlied nicht mehr zweckfreier Ausdruck ungebundener Subjektivität, sondern Marsch- und Arbeitslied, das den tätigen Kolonisatoren den Takt vorgibt.9 Hierbei verändert sich 9
Siehe hierzu auch Franziska Schößler: Mechanische Uhr und Sonnenwende – Zeit und Gesellschaft in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Recherches Germaniques 27 (1997), S. 75–92, bes. S. 80f.; allgemein zum ›Arbeitslied‹ siehe Joseph Schopp, der zwischen »echte[m]« und »unechte[m]« Arbeitslied unterscheidet, wobei er unter letzterem ein »zur Arbeit gesungenes und schon vorhanden gewesenes Volkslied [versteht], das dem rhythmischen Arbeitsgang angepaßt werden kann.« J. S.: Das deutsche Arbeitslied, Heidelberg 1935, S. 2.
208 das Verhältnis von Körper, Bewegung und Musik. An die Stelle zwangloser ›Wanderseligkeit‹, die Körperlichkeit in den durch Musik stimulierten Bewegungen lustvoll erfahren läßt, tritt der termingebundene Zwang, der den Körper zu einem ausführenden Organ macht, dem sich der Gesang als psychophysisches Stimulans unterordnet. Besonders auffällig wird diese Dominanz des Arbeitsethos durch die semantische Modifikation der Schlußverse von Wilhelms Lied, die St. Christoph dann noch vornimmt: Der Saal schütterte und bedeutend war es, daß er den Refrain an seinem Teile sogleich verändert und zwar dergestalt sang: Du im Leben nichts verschiebe; Sei dein Leben Tat um Tat! (590)
St. Christoph will von Wilhelms Wunsch nach einem ›Streben in Liebe‹, das die Tätigkeit reguliert, nichts wissen; er verabsolutiert den Tätigkeitsappell. So wird aus dem Aufruf zu einem ›Streben in Liebe‹ und einem ›Leben der Tat‹ bei ihm die Aufforderung zu rastloser Tätigkeit. Im termingebundenen Arbeitsleben St. Christophs – laut Thomas Degering der »Prototyp des arbeitenden Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft«10 – bleibt für ein Handeln, das nicht ausschließlich ökonomischen Zwängen gehorcht, keine Zeit. Gemäß den Effizienzgeboten des Auswandererbundes nutzt der Lastenträger Wilhelms Lied, um ein radikales Arbeitsethos zu artikulieren, für das die ununterbrochene Folge von Tat auf Tat den einzigen Wert darstellt. Damit wird das von Wilhelm eingeforderte Handeln aus Liebe zugunsten eines nur noch nützlichen Tuns verabschiedet. Mit der Auflösung ethischen Handelns in merkantile Nützlichkeit ist der Weg, den das Wanderlied im Auswandererbund durchläuft, aber keineswegs beendet. Am nächsten Abend wird Wilhelm bei einer Versammlung der Handwerker Zeuge einer sonderbaren Szene. In ihr wird der Transformationsprozeß seines Liedes noch weiter fortgesetzt. Nachdem auf Lenardos Zeichen zwei »Sänger« (594) erneut Wilhelms Wanderstrophe – wieder in ihrem ursprünglichen Wortlaut – vorgetragen haben, erheben sich plötzlich »zwei andere Sänger ungestüm« und tragen »mit ernster Heftigkeit« (594) eine Art Antistrophe dazu vor: Denn die Bande sind zerrissen, Das Vertrauen ist verletzt; Kann ich sagen, kann ich wissen, Welchem Zufall ausgesetzt Ich nun scheiden, ich nun wandern, Wie die Witwe trauervoll, 10
Thomas Degering: Das Elend der Entsagung, S. 77.
209 Statt dem Einen, mit dem Andern Fort und Fort mich wenden soll! (594)
Auf der dritten Transformationsstufe wird das Wanderlied zum Medium leidvoller Klage. Dem Ich, das sich in dieser Antistrophe ausspricht, erscheint das Wandern nicht als hoffnungsfroher Aufbruch in ein Gelobtes Land, auch nicht als pflichtbewußt auszuführende Tätigkeit, sondern als tiefes Leid; Verlusterfahrung und Trennungsschmerz verbinden sich mit der Aussicht auf eine ungewisse Zukunft. Das in der Antistrophe ausgedrückte Leid artikuliert die emotionale Realität der Handwerker, die jedes Gefühl von Sicherheit verloren haben. Das ›verletzte Vertrauen‹ zersetzt ihr überkommenes Selbstverständnis, sie fühlen sich isoliert und fremd. Ihr Zugehörigkeitsgefühl zu gewohnten Lebensformen ist zerstört; an deren Stelle tritt eine ungewisse Zukunft, die sie ängstigt. Familie, Gemeinschaft, Religion, Tradition – alles, was den Menschen bislang Sicherheit in Erleben und Handeln garantierte, löst sich auf. Aus dem Vertrauten werden sie in die Fremde getrieben; sie haben sich neu zu behaupten, ohne auf bislang naturwüchsig erscheinende Beziehungen zurückgreifen zu können. Daß sie auf diese Übergangssituation angstvoll reagieren, versteht sich von selbst. Auf den ersten Blick scheint es von daher so, als würden die beiden ›Protestsänger‹ gegen die geplante Auswanderung vehement opponieren. Doch das Geschehen ist hintergründiger. Es handelt sich keineswegs um einen spontanen Protest, sondern um eine von Lenardo geschickt eingesetzte ›kathartische Inszenierung‹ mit genau kalkulierter Wirkungsabsicht. Dabei wird – ähnlich wie es der Maler in der Lago Maggiore-Episode mit seinen Gemälden und Gesängen tat – die Kunst instrumentalisiert, um ›gefährliche‹ Emotionen zu evozieren und zugleich zu kanalisieren, damit sie später nicht jenseits der Ordnung des Ästhetischen hervorbrechen. Zwar wirkt es zunächst so, als würden alle Anwesenden von dem als Lied artikulierten Gefühlsaufruhr ergriffen, insofern sich nun ein immer größer werdender Chor formiert, der das Klagelied der beiden Vorsänger auf eigentümliche Weise aufnimmt: Der Chor, in diese Strophe einfallend, ward immer zahlreicher, immer mächtiger, und doch konnte man die Stimme des heiligen Christoph, vom untern Ende der Tafel her, gar bald unterscheiden. Beinahe furchtbar schwoll zuletzt die Trauer; ein unmutiger Mut brachte, bei Gewandtheit der Sänger, etwas Fugenhaftes in das Ganze, daß es unserm Freunde [Wilhelm] wie schauderhaft auffiel. (594f.)
Daß es sich hierbei – entgegen dem ersten Eindruck Wilhelms – jedoch nicht etwa um eine authentische Artikulation der individuellen Zukunftsängste der Handwerker handelt, die als Klage oder gar als Protest gegen
210 das Auswanderungsunternehmen gemeint ist, verdeutlicht bereits das artifizielle Arrangement der Sänger, die mit ihrer »Gewandtheit […] etwas Fugenhaftes in das Ganze« bringen, das geradezu einstudiert anmutet. Auch wird der kollektive Aufruhr keineswegs auktorial beglaubigt, sondern der Erzähler konstatiert lediglich aus der personalen Perspektive Wilhelms den Anschein einer alle erfassenden Trauer sowie einer daraus resultierenden Gefährdung von Lenardos Projekt: Wirklich schienen alle völlig gleichen Sinnes zu sein und ihr eignes Schicksal eben kurz vor dem Aufbruche zu betrauern. Die wundersamsten Wiederholungen, das öftere Wiederaufleben eines beinahe ermattenden Gesanges schien zuletzt dem Bande selbst gefährlich; Lenardo stand auf und alle setzten sich sogleich nieder, den Hymnus unterbrechend. (594f.; meine Herv.)
Doch es ›scheint‹ nur so: Zwar werden die latenten Emotionen der Handwerker in die lyrische Artikulation von Schmerzen überführt, doch eben nur im vorgegebenen Rahmen eines ästhetischen Arrangements, das formal bannt, was real nicht manifest werden darf. Das »Band« ist nicht wirklich gefährdet, sofern es Lenardo gelingt, die widerstrebenden Gefühle den Formgeboten einer Gesangsinszenierung zu unterwerfen. Von daher verstummen die nur in der ästhetischen Simulation aufbegehrenden Sänger auf sein Zeichen denn auch augenblicklich und setzen sich wieder hin, um ihren »Vorgesetzten« (593) sprechen zu lassen. Dieser gibt ihnen zu verstehen, wozu er sie den Klagegesang anstimmen ließ. Er möchte, »daß ihr euch das Schicksal das uns allen bevorsteht immer vergegenwärtigt, um zu demselben jede Stunde bereit zu sein.« (595) So dient gerade die gesangliche Vergegenwärtigung der Leidensdimension des Auswanderns dazu, sich »immerfort [zu] ermuntern und [zu] ermahnen mit den heiteren Worten: gedenke zu wandern!«, welche Lenardo dem memento mori »lebensmüde[r] bejahrte[r] Männer« (595) entgegenstellt. Nachdem er diese ›Wanderparole‹ ausgegeben hat, stimmen auf seine Anweisung die vier Handwerker – von denen zunächst zwei die aus Wilhelms Feder stammende Strophe, die anderen beiden die Klagestrophe gesungen hatten – nun gemeinsam eine dritte Strophe an, die schließlich wiederum vom ganzen Chor aufgenommen wird: Bleibe nicht am Boden heften, Frisch gewagt und frisch hinaus, Kopf und Arm mit heitern Kräften Überall sind sie zu Haus: Wo wir uns der Sonne freuen, Sind wir jede Sorge los: Daß wir uns in ihr zerstreuen, Darum ist die Welt so groß. (595)
211 ›Gemeinsam sind wir stark‹ – so die implizite, an die dritte Ehrfurcht der Pädagogen (siehe 421) erinnernde Botschaft, die das ›lyrische Wir‹ der letzten Strophe verkündet. Die von Lenardo beauftragten Sänger entfalten im affektstimulierenden Gesang den Konformitätsdruck einer gleichgesinnten Haltung. Im Aufruf zu Mobilität und Optimismus soll sich ein Kollektivbewußtsein formieren, in dem der kurz zuvor evozierte Trennungsschmerz wieder aufgehoben wird – genau wie die zweite Ehrfurcht der Pädagogen in der dritten (siehe 420f.). In homogenisiertem Ausdruck und gesangsregulierter Marschbewegung verlassen die Handwerker schließlich den Versammlungsort; der disziplinierte ›freudige‹ Auszug in geschlossenen Reihen deutet auf die bevorstehende Auswanderung hin, deren Takt und Stimmung hier eingeübt werden: »Bei dem wiederholenden Chorgesange stand Lenardo auf und mit ihm alle; sein Wink setzte die ganze Tischgesellschaft in singende Bewegung; die unteren zogen, St. Christoph voran, paarweis zum Saale hinaus, und der angestimmte Wandergesang ward immer heiterer und freier.« (595f.) Evident wird, daß und wie Lenardo von Anfang an die ›Psychoregie‹ geführt hat: Durch die Evokation der Zukunftsangst in der Proteststrophe ist dieser ›schädliche‹ Affekt gezielt ins Ästhetische verschoben und die Gemeinschaft der Handwerker somit von ihm ›gereinigt‹ worden. Aus dem selbstbezüglichen Wanderlied Wilhelms wird in der analysierten Episode ein auf das Kollektiv der Auswanderer bezogenes Marschlied. Dabei durchläuft das Lied einen mehrstufigen Transformationsprozeß. War es zunächst Ausdruck für Wilhelms ethisch fundiertes Tätigkeitsideal (1), so wurde es anschließend zum Medium der Vergemeinschaftung (2) und der Rhythmisierung von Arbeitsbewegungen (3), diente weiterhin der Verabsolutierung des utilitaristischen Tätigkeitspostulats (4), um schließlich von Lenardo zur ästhetischen Bannung von Verlusterfahrungen (5) und zur Stiftung eines kollektiven Aufbruchsoptimismus (6) instrumentalisiert zu werden. Im Laufe dieses Transformationsprozesses wird die Gefahr gebannt, daß die Auswanderer im Trennungsschmerz verharren und Resignation an die Stelle der Mobilität tritt. Die Verlustängste sind schließlich ausgelöscht, die Stimmung ist »heiter«, im Aufbruch in die Neue Welt wird der Ballast des Herkommens abgeworfen – mittels des Gesangs, der zum Instrument einer ›Zwangskollektivierung‹ wird. Später läßt Lenardo nach seiner Rede zum Lob des Auswanderns erneut die dritte Strophe des Liedes anstimmen, um eine optimistische Aufbruchsstimmung zu erzeugen, und gibt damit das Signal zum endgültigen Aufbruch nach Amerika: »Unter dem Schlußgesange richtete sich ein großer Teil der Anwesenden rasch empor und zog paarweise geordnet mit weit
212 umherklingendem Schalle den Saal hinaus.« (673) Die einzelnen Strophen des Wanderliedes fungieren im Roman dergestalt als Katalysatoren einer Dynamik, die die gefühlsbestimmte Subjektzentrierung zugunsten der tatbestimmten Gemeinschaftsorientierung auflöst. Dabei erweist sich der Gesang – wie bei den Pädagogen so auch bei den Auswanderern – als ein probates Mittel, den Einzelnen auf subtile Weise psychisch so zu formen, daß er sich als Teil eines übergeordneten Ganzen erfährt.
3. Die Gemeinschaftskonzeption des Auswandererbundes Die erste Fassung der Wanderjahre endet mit dem Aufbruchslied, das an Lenardos Wanderrede anschließt (siehe 259). In der zweiten Fassung übernimmt Goethe Wanderrede und Aufbruchslied ohne Veränderung; doch endet mit ihnen nicht der Roman, sondern nur das Neunte Kapitel. Ihm folgt zu Beginn des Zehnten Kapitels der Hinweis, daß die »unter dem Schlußgesange« (673) hinausziehenden Handwerker bereit sind, nach Amerika auszuwandern. Dadurch aber, daß durch den veränderten Kontext bei gleichem Wortlaut aus der Wanderrede der ersten Fassung die Auswanderungsrede der zweiten Fassung wird, bekommt deren Semantik nicht nur eine andere pragmatische Funktion, sondern auch einen anderen historischen Stellenwert. An die Stelle zurückkehrenden Wanderns tritt zielgerichtetes Auswandern vor dem Hintergrund des aufkommenden »Maschinenwesens« (713); jetzt geht es darum, wie auf den Verlust traditioneller Gewißheiten zu reagieren ist. Bezeichnend hierfür ist die eigentümliche Übertragung des lateinischen Mottos, das den Auswanderern über der Tür des Wirtshauses ständig als Inschrift »in goldnen Buchstaben« (588) vor Augen steht: »Ubi homines sunt modi sunt«. (588) Statt es den Handwerkern wörtlich zu übersetzen: ›Wo Menschen sind, sind (verschiedene) Lebensweisen‹, wird ihnen auf »Deutsch erklär[t], daß wo Menschen in Gesellschaft zusammen treten, sogleich die Art und Weise wie sie zusammen sein und bleiben mögen, sich ausbilde.« (588) Während der lateinische Spruch besagt, daß je nach lokaler Gebundenheit unterschiedliche Gemeinschaftsformen existieren, wird den Handwerkern suggeriert, daß neue Vergemeinschaftungen sogleich auch mit neuen Organisationsstrukturen einhergehen. Diese aber bilden sich bei den Auswanderern keineswegs von selbst, vielmehr sind sie Produkt eines Planungskalküls. So aber werden die alten Regelungsinstanzen von Tradition, Autorität, Glaube und Sitte, in die die Menschen mit verläßlicher Selbstverständlichkeit eingebunden waren, durch die historische Dyna-
213 mik einer Rationalität zersetzt, die sich dem Gebot erfolgsorientierten Handelns unterwirft. Denn jene »die Sicherheit des Einzelnen« begründende »Hausfrömmigkeit« der alten Ordnung reiche – so der Abbé in einem Brief an Wilhelm – »nicht mehr hin, wir müssen den Begriff einer Weltfrömmigkeit fassen, unsre redlich menschlichen Gesinnungen in einen praktischen Bezug in’s Weite setzen, und nicht nur unsre Nächsten fördern, sondern zugleich die ganze Menschheit mitnehmen.« (514) Dem, was der Abbé hier reichlich diffus äußert, läßt sich zumindest entnehmen, daß die auf persönlichen Bindungen beruhende lokale Gemeinschaft obsolet geworden ist; an ihre Stelle tritt eine abstrakte Weltgemeinschaft, in der die Gewißheiten des Erlebens und Handelns nicht mehr in einer überkommenen Lebenswelt gründen. Das hat eine doppelte Konsequenz: Herausgelöst aus den unbefragten Selbstverständlichkeiten der Tradition emanzipiert sich zum einen die planende Vernunft, welche für die amerikanischen und europäischen Kolonisatoren zweckrationale Arbeitsorganisationen entwirft und hiermit unter dem Primat der Zukunftsgestaltung einen »Führungswechsel der Zeithorizonte«11 bewirkt: Die Gegenwart wird nicht mehr als Ergebnis einer vergangenen Entwicklung betrachtet, sondern von der Zukunft her unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderbarkeit gesehen. Zum anderen entspricht dem eine neue Anthropologie. Der auf das Auswandern verpflichtete Mensch hat sich aus seiner ständischen Gruppierung zu lösen und zum kenntnisreichen Einzelnen zu entwickeln. Diese Neuakzentuierung ist freilich nicht so zu verstehen, als würde das unverwechselbare Individuum mit seinem Anspruch auf Selbstentfaltung den Forderungen der Gesellschaft entgegengestellt; vielmehr läuft sie darauf hinaus, daß sich der Einzelne auf neue Weise als fungibles Mitglied der Gemeinschaft zu legitimieren hat. Anders als im Neuhumanismus, der allseitige Bildung forderte,12 geht es hier darum, nur soviel zu können und zu wissen, wie es die jeweilige Tätigkeit erfordert. Folglich, so Lenardo, ist »unsere Gesellschaft […] darauf gegründet, daß jeder in seinem Maße, 11
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Niklas Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, hrsg. von Hans Michael Baumgartner und Jörn Rüsen, Frankfurt a. M. 1976, S. 337–387, hier S. 370. Zur neuhumanistischen Bildungskonzeption, ihrem wirkungsvollen Vertreter Wilhelm von Humboldt und ihren Vorläufern und Folgen siehe Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 96–159; siehe auch Rudolf Vierhaus: Art.: Bildung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 1, hrsg. von Otto Brunner, Reinhart Koselleck und Werner Conze, Stuttgart 1994, S. 508–551.
214 nach seinen Zwecken aufgeklärt werde« (671), und dies nicht etwa, weil hier Persönlichkeitsbildung als leitende Idee zugrunde liegt, sondern weil soziale Brauchbarkeit alleiniger Maßstab ist. Statt von den Lebensverhältnissen her, in die der Mensch hineingeboren wird, bestimmt sich diese aus den Arbeitsverhältnissen, in denen er eine spezielle Leistung zu erbringen vermag. Daher müsse der Einzelne lernen, »sich ohne dauernden äußeren Bezug zu denken, er suche das Folgerechte nicht an den Umständen, sondern in sich selbst, dort wird er’s finden, mit Liebe hegen und pflegen. Er wird sich ausbilden und einrichten daß er überall zu Hause sei.« (672) Was auf den ersten Blick die Worte Wilhelm Meisters in den Lehrjahren zu bestätigen scheint: »mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht« (FA 9, 657), stellt sich nach genauerer Betrachtung des Kontextes und des Tenors von Lenardos Rede anders dar: Der Mensch hat sich nicht etwa aus allen familialen, ständischen und zünftigen Bestimmungen zu lösen, um für sich selbst zum Zentrum der Welt zu werden; er hat sich statt dessen zum nützlichen Mitglied der Gesellschaft »aus[zu]bilden und ein[zu]richten.« Gefordert wird das, was der Soziologe Richard Sennett den flexiblen Menschen nennt, ein Mensch, der sich in vorgegebene Arbeitsabfolgen einzupassen weiß.13 Ein solcher Mensch interessiert nur insoweit, als er sich im Funktionszusammenhang der Gesellschaft »dem Notwendigsten widmet« (672), ganz ohne »das Höhere, Zartere« (672) anzustreben und sich dabei selbstbezüglich zu verkapseln. Es geht um soziale Integration, funktionale Produktion und hierarchische Organisation: Doch was der Mensch auch ergreife und handhabe, der Einzelne ist sich nicht hinreichend, Gesellschaft bleibt eines wackern Mannes höchstes Bedürfnis. Alle brauchbaren Menschen sollen in Bezug unter einander stehen, wie sich der Bauherr nach dem Architekten und dieser nach Maurer und Zimmermann umsieht. (672)
Mit diesem Plädoyer für den mobilen Spezialisten betont Lenardo die entscheidende Differenz zur ›bodenständigen‹ Gesellschaft. Leistung dominiert Abkunft und Besitz – das markiert den Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft.14 Nicht weil der Mensch in einen be13 14
Siehe Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. Siehe hierzu auch Carl August Varnhagen von Enses kritische Diagnose: »Zur Besiegung des nächsten größten europäischen Weltübels, des aus dunkleren Jahrhunderten auf uns vererbten, muß aller materielle Besitz unverhältnißmäßig leiden. Grund und Boden, rohe Produkte, müssen übermäßig tief im Preise fallen. Selbst das weniger materielle Gold muß, je größer das Kapital, desto mehr
215 stimmten Stand hineingeboren wurde, findet er seinen mehr oder minder vorgegebenen Platz, der ihm Rechte, Pflichten und Anerkennung verschafft, sondern weil er aufgrund bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten in einer funktional ausdifferenzierten Sozialordnung besondere Aufgaben im arbeitsteiligen Verbund mit anderen zu erfüllen vermag. So interessieren die Handwerker nurmehr als Funktionsträger, nicht als Personen. Dies verleiht ihnen als notwendigen Gliedern eines arbeitsteiligen Ganzen Sicherheit. Gegenüber den überkommenen Lebenswelten, die dem Prozeß der Industrialisierung nicht standhalten, formiert sich der Auswandererbund als eine Interessengemeinschaft unter utilitaristischen Gesichtspunkten, um sich gegenüber den veränderten Zeitumständen progressiv zu behaupten. Anders als Joseph der Zweite, der sich vor dem Prozeß der Modernisierung in ein idyllisches Refugium zurückzieht, sollen die Auswanderer unter dem rationalistischen Kalkül funktionaler Arbeitsabläufe eine Gemeinschaftsexistenz führen, in der Gefühle gegenüber der Vernunft zurücktreten: »[W]as wir auch sinnen und vorhaben geschehe nicht aus Leidenschaft, noch aus irgend einer andern Nötigung, sondern aus einer dem besten Rat entsprechenden Überzeugung.« (667) Kein kollektives Gedächtnis15 verbindet mehr Vergangenheit und Gegenwart mit der Zukunft; Spezialwissen fügt statt dessen die Einzelnen einem Arbeitszusammenhang ein, der einer Rationalität der Effizienzsteigerung erinnerungslos unterworfen ist. Folglich erhebt Lenardo Nützlichkeit zum entscheidenden Kriterium gesellschaftlicher Zugehörigkeit: Man hat gesagt und wiederholt: »wo mir’s wohlgeht ist mein Vaterland!« doch wäre dieser tröstliche Spruch noch besser ausgedrückt, wenn es hieße: »wo ich
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seinen Werth dadurch verlieren, daß es nicht sicher und nur mit sehr geringem Vortheil unter zu bringen ist. Das Reale hingegen, welches man auch das Ideale nennt, Fleiß, Regsamkeit, Industrie, Kunst, Talent, Erfindungskraft, bewegliche Geistigkeit, müssen für lange Zeit ein unverhältnismäßiges und alles Bestehende störendes Uebergewicht über Grund und Boden, rohe Produkte und Kapitale gewinnen.« C. A. V. v. E.: Ueber Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Goethe und seine Kritiker, hrsg. von Oscar Fambach, S. 252–270, hier S. 256. Siehe hierzu Maurice Halbwachs, der darunter jene zeitübergreifenden Traditionszusammenhänge versteht, die durch Erinnerung, Uminterpretation, Kommunikation und Symbolisierung die Vergangenheit über die Gegenwart mit der Zukunft zu einem Kontinuum verbinden. M. H.: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1985; zur Unterscheidung von kulturellem Gedächtnis, das der Auswahl nach Relevanzgesichtspunkten folgt und auf Merkzeichen angewiesen ist, um über lange Zeiträume zu funktionieren, und dem kommunikativen oder Alltagsgedächtnis, welches Ereignisse mündlich über eine kurze Generationsfolge tradiert, siehe Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 48–66.
216 nütze ist mein Vaterland!« Zu Hause kann einer unnütz sein, ohne daß es eben sogleich bemerkt wird; außen in der Welt ist der Unnütze gar bald offenbar. Wenn ich nun sage: »trachte jeder überall sich und andern zu nutzen«, so ist dies nicht etwa Lehre noch Rat, sondern der Ausspruch des Lebens selbst. (667)
Anders als in der vormodernen Gesellschaft, in der der Einzelne durchaus herausragende Leistungen zu vollbringen vermochte, hierbei allerdings an den normativ geprägten Lebensraum mit seinen anerkannten Hierarchien der Werte und Personen gebunden blieb, ist der von Lenardo proklamierte ›neue‹ Mensch in einem grundsätzlichen Sinn gesellschaftsfern – nicht etwa weil er sozial unabhängig wäre, sondern weil er genötigt ist, sich ins Spektrum der arbeitsteiligen Gesellschaft aufgrund spezieller Fähigkeiten allererst einzufügen.16 Was Lenardo in seiner Rede von den Auswanderungswilligen fordert, stellt Hegel vor dem kontrastiven Hintergrund des von ihm modellierten ›heroischen Zeitalters‹ der Homerischen Epoche als Verlust personaler Ganzheit und Integrität heraus. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik beklagt er – wie viele seiner Zeitgenossen – den Funktionalismus im zwischenmenschlichen Bereich: »Sodann muß der einzelne Mensch, um sich in seiner Einzelheit zu erhalten, sich vielfach zum Mittel für andere machen, ihren beschränkten Zwecken dienen, und setzt die anderen, um seine eigenen engen Interessen zu befriedigen, ebenfalls zu bloßen Mitteln herab.«17 Den von Hegel bedauerten enthumanisierenden Funktionalismus profiliert Lenardo in seinem Plädoyer für den brauchbaren Menschen hingegen als Forderung einer Epoche, die das Subjekt nicht als unverwechselbares Individuum bestimmt, sondern als austauschbaren Spezialisten, der sich in der »Zeit der Einseitigkeiten« (295) durch sein Können unentbehrlich macht. Das trifft in gewisser Weise auch auf Lenardo selbst zu, nachdem er seine emotionalen Verstrickungen weitgehend überwunden hat. So entindividualisiert er sich, indem er sich über die Funktionsbezeichnung »Band« (632) nicht nur seines Eigennamens entledigt, sondern sich über jene Bezeichnung sogar als Kollektivsubjekt mit Friedrich und dem Amtmann, den anderen Leitern des Auswandererbundes, zusammenschließt. 16
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Siehe hierzu Niklas Luhmann, der zeigt, wie sich Individualität im Übergang von der Vormoderne zur Moderne nicht mehr über vorgegebene Ordnungsmuster, sondern über die Integration in gesellschaftlich ausdifferenzierte Handlungssysteme bestimmt. N. L.: Individuum, Individualität, Individualismus, in: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 3, Frankfurt a. M. 1989, S. 149–258. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Band 13, S. 197.
217 Sie werden Wilhelm pauschal als »das Band« (592) angekündigt, was diesen in höchstem Maße verwundert: »Einen oder mehrere Vorgesetzte durch ein Neutrum anzukündigen, kam ihm allzubedenklich vor.« (593) Lenardos Titel, seine Maximen und seine Praxis zeigen, wie sehr er Tendenzen eines historischen Wandels repräsentiert, den viele Zeitgenossen Goethes beklagen – am einprägsamsten Schiller in einer berühmten Passage des sechsten seiner Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in der er die Partialisierung und Funktionalisierung des modernen Menschen als Verlust an humaner Ganzheit anprangert: Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.18
Doch anders als Schiller, der glaubt, Ganzheit und Einheit ließen sich auf dem ästhetischen Weg – wenn auch als Ausnahmezustand – wiederherstellen, schlägt Lenardo den sozialen Weg ein, indem er Ganzheit und Einheit nicht mehr als Kategorien der Individualität bestimmt, sondern als Charakteristika einer Gemeinschaft, die sich unabhängig von spezifischen staatlichen Ordnungen und religiösen Geboten formiert: Zwei Pflichten sodann haben wir auf ’s strengste übernommen: jeden Gottesdienst in Ehren zu halten, denn sie sind alle mehr oder weniger im Credo verfaßt; ferner alle Regierungsformen gleichfalls gelten zu lassen und, da sie sämtlich eine zweckmäßige Tätigkeit fördern und befördern, innerhalb einer jeden uns, auf wie lange es auch sei, nach ihrem Willen und Wunsch zu bemühen. (672f.)
Ob Goethe sich hier selbst Einhalt gebot, indem er die Frage nach der Staatsform nicht weiter thematisiert, oder ob Lenardo nur ein Gemeinwesen planen kann, wenn inkalkulable Herrschaftsfragen ausgeklammert bleiben, mag dahingestellt sein. Vielleicht aber wollte Goethe auch die in seiner Zeit intensiv propagierte Idee eines Nationalstaates ausblenden, indem er Lenardo ideologische Formierungen durch soziale Regularien unterlaufen ließ.19 Erstaunlich bleibt jedoch, daß »in einer Zeit, in der die ge18 19
Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: FA/Schiller 8, S. 556–676, hier S. 572f. Siehe hierzu Hans Mayer, der betont, daß in Lenardos Plänen von Patriotismus keine Rede sei, und dies zu einer Zeit, »da alle progressiven bürgerlichen Tendenzen in Deutschland […] darauf hinarbeiteten, jenes wirtschaftlich-politischideologische Ordnungssystem, wenn möglich mit klar fixierter Hauptstadt, auch in Deutschland zu errichten.« H. M.: Goethe, hrsg. von Inge Jens, Frankfurt a. M. 1999, S. 145.
218 samte politische Erörterung von den Forderungen der Verfassung und des Rechtsstaates, von dem Streit der Monarchie und der Republik, des Liberalismus und der Demokratie erfüllt war«,20 Lenardo die Frage nach der Verfassungsform der amerikanischen Siedlung unbeantwortet läßt, so als komme es allein auf die neue Anthropologie des nützlichen Menschen an, der sich funktionalen Geboten zu unterwerfen hat. Friedrich präzisiert später im Gespräch mit Wilhelm die internen Formierungsgebote der Gemeinschaft, die Lenardo in seiner Rede nicht näher ausgeführt hat. Im Elften Kapitel des Dritten Buches finden beide nach den vielen Vorbereitungsaktivitäten der Auswanderer und Binnenkolonisatoren einmal »Raum und Ruhe zu stiller Unterhaltung.« (686) Hier teilt Friedrich – einst der quirlige Nichtsnutz der Lehrjahre, jetzt dank seines »glückliche[n] Talent[s] des Auffassens und Festhaltens« (674) der Stenograph des Auswandererbundes – Wilhelm den amerikanischen Siedlungsplan »im allgemeinen« (686) mit.21 Offensichtlich ist hiervon ein (fiktives) Gesprächsprotokoll angefertigt worden; denn der Redaktor, der sich als »Sammler und Ordner dieser Papiere« (690) zu erkennen gibt, referiert nur »die Quintessenz dessen was verhandelt wurde« (686) und verweist außerdem noch darauf, daß er sich »mit andern Anordnungen zurück[hält], welche unter der Gesellschaft selbst noch als Probleme zirkulieren.« (690) Zunächst bezieht sich das Gespräch auf »das, was Menschen eigentlich zusammenhält: auf Religion und Sitte.« (686) Was hierüber ausgesagt wird, mutet seltsam an. Denn im zweckrational organisierten Auswandererbund wird die Religion zwar zugelassen, doch gilt sie nicht mehr als metaphysi20 21
Gustav Radbruch: Goethe. Wilhelm Meisters sozialistische Sendung, S. 103. Auf das Vorbild von Robert Owens Kolonieentwurf New Harmony verweist Karl John Richard Arndt: The Harmony Society and Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Comparative Literature X (1958), Nr. 3, S. 193–202. Darauf, daß Goethe – anders als die Führer des Auswandererbundes – gegenüber aller Planbarkeit von gerechten Gesellschaftsordnungen skeptisch blieb, deutet seine kritische Haltung gegenüber den frühsozialistischen Utopien der Saint-Simonisten hin. So attestiert er in seinem Brief an Zelter vom 28. Juni 1831 den führenden Mitgliedern der »Réligion Simonienne« zwar einen scharfen diagnostischen Blick, bezweifelt allerdings die Realisierbarkeit ihrer Entwürfe: »An der Spitze dieser Secte stehen sehr gescheite Leute, sie kennen die Mängel unserer Zeit genau und verstehen auch das Wünschenswerthe vorzutragen; wie sie sich aber anmaßen wollen, das Unwesen zu beseitigen und das Wünschenswerthe zu befördern, so hinkt sie überall. Die Narren bilden sich ein, die Vorsehung verständig spielen zu wollen, und versichern, jeder solle nach seinem Verdienst belohnt werden, wenn er sich mit Leib und Seele, Haut und Haar an sie anschließt und sich mit ihnen vereinigt.« (WA IV/48, S. 258f.)
219 sche Sinngarantie, die dem Gläubigen die Gewißheit verleiht, daß all sein Tun einen jenseitigen Bezugspunkt habe, und ihm darüber hinaus das Gefühl vermittelt, mit anderen Gläubigen in gemeinsamer Wertorientierung verbunden zu sein. Statt dessen soll sie einer quasi-stoizistischen Lebenshaltung dienen, die es dem Einzelnen ermöglicht, die Widrigkeiten seines Arbeitslebens zu ertragen: »Daß der Mensch in’s Unvermeidliche sich füge, darauf dringen alle Religionen, jede sucht auf ihre Weise mit dieser Aufgabe fertig zu werden.« (686) So helfe die christliche Religion »durch Glaube, Liebe, Hoffnung gar anmutig nach; daraus entsteht denn die Geduld, ein süßes Gefühl, welch eine schätzbare Gabe das Dasein bleibe, auch wenn ihm, anstatt des gewünschten Genusses, das widerwärtigste Leiden aufgebürdet wird.« (686) Wie schon die Lehre von den Ehrfurchten, die den Zöglingen in der Pädagogischen Provinz durch körpersprachliche Rituale im wahrsten Sinn des Wortes in Fleisch und Blut übergehen soll, als pseudoreligiöse Bewältigungsstrategie fungiert,22 so wird auch im Gemeinschaftskonzept des Auswandererbundes jeder transzendente Bezug des Christentums gekappt; es erscheint nur noch als Schwundstufe in Form von Durchhalteexerzitien. Während hierfür in der Pädagogischen Provinz allerdings das Schicksal des jüdischen Volkes noch zum »Musterbild« (425) erhoben wird, nicht wegen seiner Moral – schließlich habe es »niemals viel getaugt« (425) –, sondern weil es im Laufe seiner leidvollen Geschichte ein Beispiel »an Selbstständigkeit, Festigkeit, Tapferkeit und wenn alles das nicht mehr gilt, an Zähheit« (425) erbracht habe, werden die Juden aus dem Auswandererbund ausgeschlossen, weil sie »Ursprung und Herkommen« (687) der christlichen Demutskultur leugnen.23 In der Neuen Welt kommt es ja nicht nur auf jenen Widerstandswillen an, den das jüdische Volk bewies, indem es seine Identität ohne territoriale Bindung über Jahrtausende wahren konnte und so Lenardos Mobilitätsdoktrin gleichsam urbildlich verkörpert (siehe 668), sondern vor allem auch darauf, daß sich der Einzelne seines ›Eigensinns‹ entledige, um im ›Gemeinsinn‹ aufzugehen. Hierzu formuliert die kurzgefaßte Sittenlehre der Auswanderer lapidar: »Mäßigung im Willkürlichen, Emsigkeit im Notwen22 23
Siehe hierzu S. 50–66 der vorliegenden Arbeit. Diese Passage kann keineswegs als Hinweis auf Goethes vermeintlichen Antisemitismus gelesen werden, wie in der älteren Forschung oft angenommen wurde, da es sich ja lediglich um eine Figurenaussage handelt. Siehe kritisch zu diesen Unterstellungen Günter Hartung: Goethe und die Juden, in: Weimarer Beiträge 40 (1994), S. 398–416; vgl. auch Adolf Muschg: War Goethe Antisemit?, in: A. M.: Der Schein trügt nicht. Über Goethe, Frankfurt a. M., Leipzig 2004, S. 33–55, bes. S. 33–35.
220 digen« (687) – was nichts anderes heißt, als daß die Kolonisatoren ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse zugunsten gemeinschaftsbezogener Tätigkeiten zurückzustellen haben. Entsprechend kreisen denn auch alle folgenden Ausführungen um diese beiden Fragen: Wie kann verhindert werden, daß sich der Einzelne dem Konformitätsdruck der Gemeinschaft entzieht, und wie kann seine fortgesetzte Leistung gesichert werden? Polizei und Zeitmesser werden als die hierfür geeigneten Instrumente angeführt: So denken wir nicht an Justiz, aber wohl an Polizei. Ihr Grundsatz wird kräftig ausgesprochen: niemand soll dem andern unbequem sein; wer sich unbequem erweis’t wird beseitigt, bis er begreift wie man sich anstellt um geduldet zu werden. Ist etwas Lebloses, Unvernünftiges in dem Falle, so wird dies gleichmäßig bei Seite gebracht. (688)
Das ist kein law and order-Programm, wie Walter Beller meint,24 sondern nur ein order-Programm. Denn an die Stelle der Gerichte, bei denen der Bürger sein Recht einklagen kann, tritt die Verpflichtung zur Kooperation, welche nach zeitgenössischem Verständnis die Polizei zu sichern hat.25 So wird die Gemeinschaft dem Individuum übergeordnet, und wer sich nicht fügt, wird vorübergehend »beseitigt«, d. h. ›abgesondert‹, oder erhält eine empfindliche Geldstrafe: Wir haben läßliche Gesetze um nach und nach strenger werden zu können, unsre Strafen bestehen vorerst in Absonderung von der bürgerlichen Gesellschaft, gelinder, entschiedener, kürzer und länger nach Befund. Wächs’t nach und nach der Besitz der Staatsbürger, so zwackt man ihnen auch davon ab, weniger oder mehr, wie sie verdienen daß man ihnen von dieser Seite wehe tue. (689f.)
Diese Strafandrohungen dienen dazu, den Einzelnen derart in das autoritative Gefüge des Gemeinwesens zu integrieren, daß er dem zweiten Gebot der Auswanderer-Ethik: »Emsigkeit im Notwendigen« (687), rückhaltlos Folge leistet. Auf rastlose Tätigkeit kommt es an – so die zentrale Maxime, die Friedrich verkündet: »Etwas muß getan sein in jedem Moment, und wie wollt’ es geschehen, achtete man nicht auf das Werk wie auf die Stunde?« (687) Es geht folglich nicht allein um das herzustellende 24 25
Siehe Walter Beller: Goethes Wilhelm Meister Romane. Bildung für eine Moderne, Hannover 1995, S. 269. Siehe hierzu Goethes Aphorismenpaar [Recht und Schicklichkeit ]: »Es gibt zwey friedliche Gewalten: das Recht und die Schicklichkeit.« // »Das Recht dringt auf Schuldigkeit, die Policey auf ’s Geziemende. Das Recht ist abwägend und entscheidend, die Policey überschauend und gebietend. Das Recht bezieht sich auf den Einzelnen, die Policey auf die Gesammtheit.« (FA 13, S. 144)
221 Werk, sondern auch darum, in welcher Zeiteinheit es jeweils hergestellt wird. Produktivität wird zum Telos einer Verhaltensweise, die den Geboten von Disziplin und Effizienz untersteht. Hierdurch zeichnet sich jene asketische und rationalistische Lebensführung aus, die Max Weber in seiner Protestantischen Ethik als Voraussetzung des Kapitalismus bestimmt hat.26 Wenn ›Zeit‹ im Produktionsprozeß als Kostenfaktor bestimmt wird, der sich im Preis der hergestellten Ware niederschlägt, muß alle Anstrengung darauf gerichtet werden, die Arbeitsabläufe zu optimieren, die Arbeitsschritte zu segmentieren und die Arbeitsleistung zu kontrollieren. Offensichtlich läßt Goethe Gedanken Benjamin Franklins in seine Konzeption des Auswanderungsprojekts einfließen, wenn er die kapitalistische Triade von Arbeit, Zeit und Geld evoziert, die den konkurrenzorientierten Tauschwert des Produkts bestimmt.27 26
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Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: M. W.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, S. 17–206, hier S. 183: »Wir suchen uns […] speziell die Punkte zu verdeutlichen, in welchen die puritanische Auffassung des Berufs und die Forderung asketischer Lebensführung direkt die Entwicklung des kapitalistischen Lebensstils beeinflussen mußte. Mit voller Gewalt wendet sich die Askese […] vor allem gegen eins: das unbefangene Genießen des Daseins und dessen, was es an Freuden zu bieten hat.« Entsprechend formuliert er auch im Hinblick auf die Wanderjahre und Faust II: »Der Gedanke, daß die moderne Berufsarbeit ein ›asketisches‹ Gepräge trage, ist ja auch nicht neu. Daß die Beschränkung auf Facharbeit, mit dem Verzicht auf die faustische Allseitigkeit des Menschentums, welchen sie bedingt, in der heutigen Welt Voraussetzung wertvollen Handelns überhaupt ist, daß also ›Tat‹ und ›Entsagung‹ einander heute unabwendbar bedingen: dies asketische Grundmotiv des bürgerlichen Lebensstils – wenn er eben Stil und nicht Stillosigkeit sein will – hat auf der Höhe seiner Lebensweisheit, in den Wanderjahren und in dem Lebensabschluß, den er seinem Faust gab, auch Goethe uns lehren wollen.« (S. 203) Auf Parallelen zwischen Max Webers Modernisierungstheorien und Goethes Bild der Modernisierung in den Wanderjahren und Faust II verweist Richard Meier: Gesellschaftliche Modernisierung in Goethes Alterswerken Wilhelm Meisters Wanderjahre und Faust II, Freiburg i.Br. 2002, S. 237–247. Der Kommentar der Hamburger Ausgabe weist darauf hin, daß Goethe während der Fertigstellung der betreffenden Passagen der Wanderjahre, die sein Manuskript auf den 15. Januar 1829 datiert, Franklins Autobiographie mit ihrem später dann von Max Weber zitierten Satz »Bedenke, daß die Zeit Geld ist« (M. W.: Protestantische Ethik, S. 31) studiert hat: »Da es [das Manuskript] erst zu diesem Zeitpunkt fertig wurde, sind Anregungen durch Franklins Autobiographie möglich, welche Goethe laut Tagebuch zwischen dem 30. Dezember 1828 und 18. Januar 1829 ganz gelesen hat.« (Kommentar HA 8, S. 661) Zur Wertschätzung der Zeit heißt es unter Punkt 6 von Benjamin Franklins Artikel des religiösen Glaubens und Handelns: »Verliere keine Zeit, beschäftige dich immer mit etwas Nützlichem!« Zitiert nach Kommentar FA 10, S. 1235.
222 Auch wenn die Tendenzen zu einem marktwirtschaftlichen Kapitalismus, auf die in den Lehrjahren hauptsächlich mit der Figur Werner angespielt wird, in den Wanderjahren nicht weiter in den Blick kommen, da die Auswanderer sich als autonome Gemeinschaft formieren wollen, charakterisieren deren Regularien doch Verhältnisse, die Spezialisierung und Funktionalisierung einer strikten Zeitökonomie unterwerfen und dem Gebot nützlicher Tätigkeit unterstellen.28 Doch während diese im zeitgenössischen Arbeitsdiskurs ansonsten – wie etwa bei Fichte – auf das Ziel der Muße hin orientiert war, also auf die Zeit, die man für selbstbestimmtes Tun gewinnt, nachdem man seinen Lebensunterhalt gesichert hat,29 wird bei den Auswanderern nirgends von ›Freizeit‹ gesprochen.30 Alles Tun untersteht Effizienzgeboten, die den Akzent nicht auf selbstzweckhaftes Gelingen, sondern auf die aufgewendete Zeit legen. Vor diesem Hintergrund sind die Pläne zur Visualisierung objektiv meßbarer Zeiteinheiten zu verstehen, die sich vom subjektiven Empfinden (innere Zeit) und von biologischen Abfolgen (Naturzeit) ablösen, um sich dem Prinzip der vergleichbaren Produktivität zu unterstellen – mittels einer merkwürdigen Einrichtung, von der Friedrich berichtet: Die Uhren sind bei uns vervielfältigt und deuten sämtlich mit Zeiger und Schlag die Viertelstunden an, und um solche Zeichen möglichst zu vervielfälti28
29 30
Zur Rationalisierung der Zeit im Prozeß der Industrialisierung siehe Jürgen P. Rinderspacher: Gesellschaft ohne Zeit. Individuelle Zeitverwendung und soziale Organisation der Arbeit, Frankfurt a. M., New York 1985, S. 55–87; Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 31985, S. 382–391. Zu Einzelheiten siehe Werner Conze: Art.: Arbeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 1, S. 154–215, bes. S. 184–188. Siehe hierzu auch die ›Sonntagsregel‹ im Bezirk des Oheims. Dort wird nicht die Arbeit der Muße als deren Ermöglichungsgrund zugeordnet, auch dient der ›Tag des Herrn‹ nicht etwa der religiösen Erbauung, vielmehr wird umgekehrt die Muße der Arbeit als eine zur Wiederherstellung psychischer und physischer Leistungsfähigkeit bestimmte Zeitspanne untergeordnet. Juliette berichtet über das, was am Sonntag zu tun ist: »Der Mensch ist ein beschränktes Wesen, unsere Beschränkung zu überdenken ist der Sonntag gewidmet. Sind es körperliche Leiden, die wir im Lebenstaumel der Woche vielleicht gering achteten, so müssen wir am Anfang der neuen alsobald den Arzt aufsuchen; ist unsere Beschränkung ökonomisch und sonst bürgerlich, so sind unsere Beamten verpflichtet ihre Sitzungen zu halten; ist es geistig, sittlich, was uns verdüstert, so haben wir uns an einen Freund, an einen Wohldenkenden zu wenden, dessen Rat, dessen Einwirkungen zu erbitten: genug, es ist das Gesetz, daß niemand eine Angelegenheit, die ihn beunruhigt oder quält, in die neue Woche hinüber nehmen dürfe.« (FA 10, S. 345)
223 gen geben die in unserem Lande errichteten Telegraphen, wenn sie sonst nicht beschäftigt sind, den Lauf der Stunden bei Tag und bei Nacht an, und zwar durch eine sehr geistreiche Vorrichtung. (687)31
Mit diesen für alle sichtbaren Uhren, die »sozial normierte Geschehensabläufe mit gleichmäßig wiederkehrenden Ablaufmustern« garantieren,32 wird ein verbindlicher Maßstab aufgestellt, an dem sich Leistungen messen lassen. Das aber bedeutet: Leistung verliert ihren persönlichen Bezug, die segmentierten und reproduzierbaren Arbeitsschritte werden vergleichbar. Wenn Friedrich seine Ausführungen mit der Bemerkung beschließt: »Die Hauptsache bleibt nur immer daß wir die Vorteile der Kultur mit hinüber nehmen und die Nachteile zurücklassen« (690), so verweist dies einmal mehr auf die spezifische Modernität einer Gemeinschaftskonzeption, in der das Überkommene seine fraglose Selbstverständlichkeit verloren hat. Man wählt aus, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Effizienz. So werden – in eigentümlicher Zusammenstellung – »Branntweinschenken und Lesebibliotheken« (690) verboten, da beide nach Meinung der Auswanderergesellschaft Müßiggang und Schlendrian zur Folge haben: »[W]ie wir uns aber gegen Flaschen und Bücher verhalten will ich lieber nicht eröffnen: dergleichen Dinge wollen getan sein, wenn man sie beurteilen soll.« (690) Dagegen ist es für alle Mitglieder des Auswandererbundes Pflicht, »Lesen, Schreiben, Rechnen« (688) zu lernen, insofern dies als Voraussetzung nützlichen Tuns gilt.
4. »Die strenge Kunst [muß] der freien zum Muster dienen«33: Die Unterordnung der Kunst unter 33 das Handwerk in Odoards Binnenkolonie Neben dem amerikanischen Siedlungsplan wird den Handwerkern noch ein anderes Modell der Vergemeinschaftung offeriert. Während der Abschlußveranstaltung im Gasthaus tritt ein »Mann von einnehmendem Wesen« (665) in den Kreis der Versammelten, wartet bis Lenardo seine Rede 31
32 33
Angespielt wird hier auf den zu Goethes Zeit »verbreiteten Chappeschen Telegraphen, der aus Signalmasten mit verstellbaren Armen bestand und von Mast zu Mast die Signale weitergab.« (Kommentar HA 8, S. 664) Norbert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, hrsg. von Michael Schröter, Frankfurt a. M. 21985, S. VII. FA 10, S. 694.
224 beendet hat und »ein großer Teil der Anwesenden […] paarweise geordnet« (673) unter Marschgesang den Saal verläßt, um dann den Zurückgebliebenen sein binneneuropäisches Siedlungsprojekt anzupreisen: Diese hier in Ruhe verbliebenen, dem Anblick nach sämtlich wackern Männer geben schon durch ein solches Verharren deutlich Wunsch und Absicht zu erkennen, dem vaterländischen Grund und Boden auch fernerhin angehören zu wollen. Sie sind mir alle freundlich gegrüßt, denn ich darf erklären: daß ich ihnen sämtlich, wie sie sich hier ankündigen, ein hinreichendes Tagewerk, auf mehrere Jahre, anzubieten im Fall bin. (673f.)
Bevor der Fremde, dessen Name Odoard lautet, sein Angebot im einzelnen unterbreitet, wird zunächst eine Novelle mit dem Titel Nicht zu weit zwischengeschaltet. Sie handelt von den emotionalen Verwirrungen und den tiefen Enttäuschungen des Protagonisten, der aufgrund von Hofintrigen in die Provinz versetzt wird und dort mit seiner Frau Albertine ein bürgerliches Leben im Kreis der Kleinfamilie zu führen gedenkt. Doch vermag er nicht, seine Frau, welche bislang »nur in größern Zirkeln ihre Existenz fand« (680), mit dem Leben abseits des Hofes und der Rolle als Mutter und Ehefrau zu versöhnen. Sie sucht sich daraufhin »Surrogate ihrer bisherigen Glückseligkeit« (680), vernachlässigt die Familie, wird von ihrem Liebhaber betrogen und läßt ihren Ehemann, der mit den Kindern zusammen eine liebevolle Geburtstagsfeier für sie auszurichten gedenkt, vergeblich warten; die Ehekatastrophe deutet sich an, wird aber nicht mehr dargestellt. Wie schon mit Lenardo tritt mit Odoard wiederum eine Person auf, deren öffentliche Wirksamkeit als Kompensation persönlicher Verstrickungen erscheint.34 Und wiederum werden diese in novellistischer Form geschildert – diesmal in einer multiperspektivisch gebrochenen Erzählung,35 34
35
Siehe Karl Schlechta: Goethes Wilhelm Meister, Frankfurt a. M. 1985, S. 180f: »An der Ordnung im Kleinen, im Persönlichen ist Odoardo gescheitert; nun fühlt er sich fähig – oder verzweifelt genug – für ein umfassendes Tun.« Ähnlich konstatiert Henriette Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 349: »Die Rigidität, Pedanterie und Kompromißlosigkeit seiner Rede deutet nach Freud auf ein unbewältigtes Trauma und damit auf Verdrängung hin. […] Odoard hat sich zum Zwangscharakter entwickelt und reicht die Rigidität eines Normensystems, an dem er selbst zerbrochen ist, in veränderter Gestalt an seine Untergebenen weiter. Sein Reformprojekt schleppt die Spuren dessen mit, was es überwinden will.« In ihrem Kommentar zu den Wanderjahren unterscheiden Gerhard Neumann und Hans-Georg Dewitz sechs Erzählinstanzen: den Autor, den Erzähler, den Protokollanten Friedrich, den »›sozialen‹ Diskurs«, »die gute Alte« und Odoard selbst. (Kommentar FA 10, S. 1223f.) Gonthier-Louis Fink differenziert die polyperspektivische Brechung etwas anders: Die »Aufsplitterung der Erzählper-
225 mit der der Redaktor, sich »die Rechte des epischen Dichters […] anmaßend« (676), auf der Grundlage von Friedrichs Notizen (siehe 674) das Ehezerwürfnis Odoards präsentiert. Nachdem dieses als »der menschliche Grund […], worauf das Ganze [seiner öffentlichen Aktivitäten] eigentlich beruhe« (674), höchst artifiziell entfaltet wurde, tritt Odoard – losgelöst aus seinen zwar durch Aktivität gebannten, keineswegs aber psychisch bewältigten emotionalen Verstrickungen – als Leiter des innereuropäischen Kolonisationsprojekts auf. Was ihm im Privaten nicht gelang: eine bürgerliche Familienharmonie zu stiften, in der sich Mann, Frau und Kinder in komplementärer Rollenzuweisung zu einem stimmigen Gefüge verbinden, das soll ihm jetzt die Organisation der Binnenkolonie ersetzen – eine auf perfekter Regelbefolgung gründende Gemeinschaftsform, in der jeder den ihm zugewiesenen Platz einnimmt. Jetzt soll der genau durchdachte Siedlungsplan verwirklicht werden, der alles individuelle Wollen und emotionale Wünschen rigidem Sollen unterwirft. Nachdrücklich wirbt Odoard für sein Projekt bei jenen Handwerkern, die »lieber diesseits, auf dem zusammenhangenden Boden der alten Erde, verweilen und [ihr] Glück versuchen wolle[n].« (664) Er bietet ihnen an, ihm in die von ihm verwaltete Provinz zu folgen, um dort an seinem großen Reformvorhaben mitzuwirken. Auch in diesem Fall verursacht die aufkommende Moderne grundsätzliche Veränderungen im Verhältnis der Menschen zu sich selbst und zueinander – diesmal, weil sich für bestimmte Landstriche die Spielräume rationaler Handlungsmöglichkeiten vergrößert haben. Lange Zeit vermochte Odoard nicht, seine Absichten durchzusetzen; die Macht- und Besitzverhältnisse, die überkommenen Gewohnheiten und die herrschende Ständeordnung schränkten seine Gestaltungsmöglichkeiten ein. Doch endlich gelingt es ihm, die vorgesetzten Fürsten und Minister […] von der Redlichkeit und Nützlichkeit unsrer Vorschläge [zu] überzeug[en]; denn es gehört freilich mehr dazu, seinen Vorteil im Großen als im Kleinen zu übersehen. Hier zeigt uns immer die Notwendigkeit was wir zu tun und zu lassen haben, und da ist es denn schon genug, wenn wir diesen Maßstab an’s Gegenwärtige legen; dort aber sollen wir eine Zukunft erschaffen, und wenn auch ein durchdringender Geist den Plan dazu fände, wie kann er hoffen, andere darin einstimmen zu sehen? (692)
spektive« geht von Odoards fragmentarischer Mitteilung aus, Friedrich zeichnet die Erzählung sodann »aus dem Gedächtnis« auf, schließlich gestaltet der Redaktor »diese schon zweifach gebrochene, subjektive Vermittlung«, indem er sie kommentierend und multipersonal vervielfältigt. (Kommentar MA 17, S. 1192)
226 Odoard hingegen hofft nicht vergeblich, er vermag seinen Plan allmählich durchzusetzen: Jüngere Beamte wurden in der Nachbarschaft angestellt, sie hegten gleiche Gesinnungen, aber freilich nur im Allgemeinen wohlwollend, und pflichteten nach und nach meinen Planen zu allseitiger Verbindung um so eher bei, als mich das Los traf, die größeren Aufopferungen zuzugestehen, ohne daß gerade jemand merkte, auch der größere Vorteil neige sich auf meine Seite. (692)36
Auf den ersten Blick erscheinen Lenardos und Odoards Unternehmungen diametral entgegengesetzt: Dem Auswandern, das dem Gebot der Mobilität in eine unbekannte Ferne folgt, steht das ›Einwandern‹ gegenüber, das vom Wunsch bestimmt ist, »dem vaterländischen Grund und Boden auch fernerhin angehören zu wollen.« (673)37 Doch bei allen äußerlichen Unterschieden sind beide Unternehmungen durch qualitative Veränderungen sämtlicher eingespielter Lebensverhältnisse gekennzeichnet, wie sie durch das »überhand nehmende Maschinenwesen« (713) hervorgerufen wurden. Die hierauf reagierenden neuen Formen der Vergemeinschaftung werden nur anders präsentiert: offensiv durch Lenardo, defensiv durch Odoard; denn sie richten sich an unterschiedliche Personenkreise: einerseits an die Auswanderungsbereiten, andererseits an die Beharrenwollenden. So nutzt Odoard das Sicherheitsbedürfnis der zögerlichen Handwerker, die vor einer Überfahrt ins Ungewisse zurückschrecken, um ihnen zu suggerieren, ihr ›Einwandern‹ in eine dünnbesiedelte Provinz sei kein Aufbruch in die Fremde, sondern ein Beharren in vertrauten Verhältnissen. Nicht von ungefähr händigt er ihnen »ein gedrucktes Blatt« (695) aus, »wovon sie, nach einer bekannten Melodie, mäßig munter ein zutrauliches Lied sangen.« (695) »Zutraulich« ist das Lied zum einen, weil es »einer bekannten Melodie« folgt, und zum andern, weil sein Text die Sicherheiten autoritärer Führung mit dem Versprechen friedvollen Glücks verbindet. Er verheißt den aus ihrer herkömmlichen Welt Fortziehenden ein »festes Vaterland« unter Leitung eines »Führer[s]« (696). Ihm haben die Sänger in enthusiastischer Zuwendung, gemäß der ihnen zweimal vorgeschriebenen 36
37
Auf Ähnlichkeiten mit den Ansiedlungsplänen Preußens, Österreichs und Rußlands im 18. Jahrhundert verweist Erich Trunz; siehe hierzu Kommentar HA 8, S. 665f.; im Kommentar FA 10, S. 1237 wird darüber hinaus erwähnt, daß Goethe das Buch von August Gottlieb Meißner: Leben Franz Balthasars von Brenkenhof (Leipzig 1782) besaß, das die Kolonisierungs- und Urbanisierungsaktivitäten der Titelgestalt im Netze-Distrikt schildert. Zu den Unterschieden zwischen den Auswanderern und den ›Einwanderern‹ siehe Richard Meier: Gesellschaftliche Modernisierung in Goethes Alterswerken, S. 118–124; Arne Eppers: Miteinander im Nebeneinander, S. 183–208.
227 Strophenschlüsse, zuzujubeln: »Heil dem Führer!« bzw. in persönlicher Apostrophe: »Heil dir Führer!« (696) Was aus heutiger Sicht unheilvolle Assoziationen weckt,38 läßt aus damaliger Sicht die Bibel anklingen, erinnert an Moses, der sein Volk ins Gelobte Land führt. Im Unterschied zum Gesang im Auswandererbund initiiert das Lied hier die Ablösung von der alten Heimat nicht dadurch, daß es ein globales Aufbruchspathos stimuliert, sondern dadurch, daß es eine heimelige Ankunftsidylle imaginiert. Der »Führer« verspricht sie den ›Entwurzelten‹ mittels des rhetorischen Überzeugungslieds: Du verteilest Kraft und Bürde Und erwägst es ganz genau, Gibst dem Alten Ruh’ und Würde, Jünglingen Geschäft und Frau. Wechselseitiges Vertrauen Wird ein reinlich Häuschen bauen, Schließen Hof und Gartenzaun, Auch der Nachbarschaft vertrau’n. (696)
Entfaltet wird das patriarchale Gefüge eines omnipotenten »Führers«, der fürsorglich alles so regelt, daß sich eine Welt voller Harmonie entfaltet. Doch was der Gesang aussagt, ist nicht das, was die Handwerker wirklich erwartet. Seine Funktion besteht ja nicht etwa darin, ihnen ihre künftigen Aufgaben zu beschreiben, sondern darin, ihnen den ›Eigenwillen‹ zu nehmen und sie unter den ›Führerwillen‹ zu stellen, indem sie durch das »zutrauliche Lied« (695) selbst ›zutraulich‹ werden sollen. Dies ist nicht allein durch den optimistischen Gehalt des Textes, sondern auch durch seine formale Anlage intendiert. Sie löst mit ihren vierhebigen Trochäen, dem regelmäßigen Wechsel von je zwei Kreuz- und Paarreimen und den alternierenden Kadenzen jeden potentiellen affektiven Widerstand im monotonen Gleichklang auf. Wenn Odoard nun die einzelnen Handwerke aufzählt und ausführt, wie sie in planvoller Zusammenarbeit »den Bau in die Höhe richten und nach und nach zur Wohnbarkeit befördern« (693), so ist dies nicht nur und nicht 38
In seiner Festrede zum 50jährigen Jubiläum der Goethe-Gesellschaft im Jahre 1935 hat ihr damaliger Präsident Julius Petersen bezeichnenderweise diese Verse angeführt. J. P.: Goetheverehrung in fünf Jahrzehnten. [Festrede anläßlich des 50jährigen Bestehens der Goethe-Gesellschaft in Weimar am 27. August 1935]; abgedruckt in: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil IV (1918–1982), hrsg., eingeleitet und kommentiert von Karl Robert Mandelkow, München 1984, S. 172–175, hier S. 174.
228 einmal primär inhaltlich zu verstehen: Zuerst finden die »Steinmetze« Erwähnung (693), die die Grundsteine legen, dann die »Maurer«, der »Zimmermann«, die »Dachdecker«, bis schließlich beim Innenausbau Tischler, Glaser und Schlosser zum Zuge kommen, woraufhin zu guter Letzt noch der »Tüncher« berücksichtigt wird, der »dem Ganzen in- und auswendig einen gefälligen Schein« (694) verleiht. Bemängelt Henriette Herwig, daß in dieser »Berufsgesellschaft […] keine Gelehrten, keine Politiker und Diplomaten, keine Künstler, keine Verwaltungsbeamten, keine Kaufleute, keine Bauern und keine Frauen vorkommen,«39 dann hat sie damit zwar zum Teil Recht – Künstler werden sogar explizit ausgeschlossen –, zugleich verkennt sie jedoch den Status von Odoards Rede; mit seiner Aufzählung der Handwerkerabfolge geht es ihm ja nicht darum, einen abgerundeten Gesellschaftsentwurf zu präsentieren. Vielmehr dient ihm der Hausbau lediglich als Exempel für einen arbeitsteiligen Handwerkerbund, in dem die Einzelnen als Spezialisten in funktionale Zusammenhänge eingegliedert und einem hierarchischen Aufbau »von Lehrling, Gesell und Meister« (694) unterworfen sind.40 Während die Organisationspläne der Auswanderergemeinschaft vornehmlich um die Fragen von »Religion und Sitte« (686) kreisen und Effizienz in den Mittelpunkt der Überlegungen rücken, stellt Odoard also den Gesichtspunkt hierarchischer Funktionalität ins Zentrum.41 Sie soll den Verlust traditioneller Bindungen durch autoritär organisierte Arbeitszusammenhänge kompensieren, in denen der Einzelne als Glied einer großen Kette zu fungieren hat. Von einer argumentativen Darlegung dessen, was geplant ist, so daß die Handwerker nachvollziehen könnten, was ihnen widerfahren wird, findet sich jedoch keine Spur. Sie haben sich lediglich unterzuordnen und dem »Führer« zu vertrauen, der schon weiß, wie die einzelnen Aufgaben zu verteilen sind, damit der übergeordnete Zweck erreicht werden kann, der sich der Einsicht der Tätigen entzieht: »Denn es 39 40
41
Henriette Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 344. Auf Parallelen zum Freimaurertum verweist Manfred Windfuhr: Universalismus oder Spezialisierung? Zum Tätigkeitsideal in Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: M. W.: Erfahrung und Erfindung. Interpretationen zum deutschen Roman vom Barock bis zur Moderne, Heidelberg 1993, S. 89–102, bes. S. 92. Odoards Konzept der Handwerkerbünde steht im diametralen Gegensatz zu John Ruskins romantischem Plädoyer für den durch Freiheit und Individualität bestimmten Handwerker, den er in einer rückwärtsgewandten Utopie zu rehabilitieren sucht; siehe hierzu Richard Sennett: Handwerk, Berlin 2008, S. 146–158; insgesamt geht es Richard Sennett in seiner Studie darum, das »Animal laborans vor der Verachtung zu retten.« (S. 379)
229 gehört freilich mehr dazu, seinen Vorteil im Großen als im Kleinen zu übersehen.« (692) Die Handwerker können höchstens im Kleinen überschauen, was nützlich ist; allein der »Führer« der Binnenkolonisatoren vermag auch im Großen zu überblicken, wie die Mittel eingesetzt werden müssen, um das angestrebte Ziel zu erreichen. So werden die Handwerker nur als Ausführende, nicht aber als Denkende in Anspruch genommen: Ihre »Hand« soll »eine Natur für sich sein, ihre eignen Gedanken, ihren eignen Willen haben, und das kann sie nicht auf vielerlei Weise.« (695) Der Kopf ist auszuschalten – es zählt allein die tätige Hand, die von einem Plan gesteuert wird, dessen Rationalität sich den Arbeitern entzieht. Abweichender Eigensinn, spielerischer Unernst und individuelles Vervollkommnungsstreben sind in diesem disziplinierenden Arbeitskosmos Störfaktoren, die eliminiert werden müssen. Denn »ein einziges Glied, das in einer großen Kette bricht, vernichtet das Ganze. Bei großen Unternehmungen wie bei großen Gefahren muß der Leichtsinn verbannt sein.« (694) Offenbar gehört für Odoard zu solchem »Leichtsinn« auch die Kunst; denn anders als die Amerika-Auswanderer, die zumindest noch ein paar Künstler aus der Pädagogischen Provinz mitnehmen (siehe 514), hat Odoard für sie keinerlei Verwendung.42 Statt dessen stellt er den Handwerkern in Aussicht, ihrerseits zu Künstlern ernannt zu werden, und das sogar im eigentlichen, weil »strengen« Sinn: »Sobald wir jenen bezeichneten Boden betreten, werden die Handwerke zugleich für Künste erklärt und durch die Bezeichnung ›strenge Künste‹ von den ›freien‹ entschieden getrennt und abgesondert.« (693) Dabei müsse die strenge Kunst der freien zum Muster dienen und sie zu beschämen trachten. Sehen wir die sogenannten freien Künste an, die doch eigentlich in einem höhern Sinne zu nehmen und zu nennen sind, so findet man, daß es ganz gleichgültig ist, ob sie gut oder schlecht betrieben werden. Die schlechteste Statue steht auf ihren Füßen wie die beste, eine gemalte Figur schreitet mit verzeichneten Füßen gar munter vorwärts, ihre mißgestalteten Arme greifen gar kräftig zu, die Figuren stehen nicht auf dem richtigen Plan und der Boden fällt deswegen nicht zusammen. […] Und doch hat jede Kunst ihre innern Gesetze, deren Nichtbeobachtung aber der Menschheit keinen Schaden bringt; dagegen
42
Darauf, daß sich die negative Einstellung zu bestimmten Kunstformen von Platons Politeia über Campanellas Civitas solis bis hin zu Thomas Morus’ Utopia erstreckt, verweisen Theodor Verweyen und Gunther Witting: Zum deskriptiven Gehalt des Utopiebegriffs. Dargelegt anhand von Grimmelshausens Simplicissimus und Goethes Meister-Romanen, in: GRM N.F. 43 (1993), S. 399–416, hier S. 410f. Allerdings bedenken sie den sozialen Stellenwert der jeweiligen Kunstkritik nicht zureichend.
230 die strengen Künste dürfen sich nichts erlauben. Den freien Künstler darf man loben, man kann an seinen Vorzügen Gefallen finden, wenn gleich seine Arbeit bei näherer Untersuchung nicht Stich hält. (694f.)
In der älteren Forschung hat man in diesen Ausführungen Odoards die Quintessenz von Goethes Altersästhetik gesehen, die in Revision früherer Positionen die Kunst ans Handwerk zurückbinde. So meint etwa Hans Joachim Schrimpf, es handle sich um einen Ausdruck der »Überwindung einer durch die Klassik immerhin möglich gewordenen abgelösten ästhetischen Bildungs- und Persönlichkeitskultur,«43 wie sie der späte Goethe vollzogen haben soll. Eine solche Auffassung übersieht aber nicht nur den situativen Kontext und die figurenperspektivische Brechung dieser Aussagen, sondern blendet überdies auch ihre Ungereimtheiten ab, die die signifikanten Differenzen zwischen Goethes und Odoards Kunstkonzeption deutlich machen. Zwar läßt Goethe Odoard in der Tat zentrale Auffassungen seiner eigenen Kunsttheorie aufnehmen, jedoch so, daß dieser sie in seiner ganz pragmatischen, in sich inkonsistenten Argumentation auf eigentümliche Weise marginalisiert und schließlich sogar völlig negiert. Wie sich dieses Widerspiel von Affirmation, Depotenzierung und Konterkarierung im einzelnen darstellt, bedarf der genaueren Analyse, die zunächst verdeutlicht, wie Goethe in Odoards Rede seine eigene Kunstkonzeption aufscheinen läßt, um dann zu zeigen, wie sie für diesen obsolet wird, weil er die Kunst am Maßstab der Nützlichkeit bemißt. Zunächst spielt Odoard auf das Konzept der Kunstautonomie an, wenn er darauf hinweist, daß die »freien Künste« gegenüber der von ihm intendierten Bedeutung dieses Ausdrucks »eigentlich in einem höheren Sinne zu nehmen und zu nennen sind.« Er meint damit offenkundig den hohen Stellenwert einer Kunstschönheit, die jenseits aller Zwecke ihren Wert in sich hat. Hiermit ruft Odoard die Wertorientierung Goethes auf, der schon in den Gesprächen mit Karl Philipp Moritz während seines Aufenthalts in Italien 1786–88 das Schöne entschieden vom Nützlichen abgegrenzt hatte. Die Ergebnisse dieser Verständigung mit Moritz finden sich in seinem Aufsatz Über die bildende Nachahmung des Schönen, den er im Juli 1789 im Teutschen Merkur publizierte (siehe WA I/47, 84–90). Darin referiert er zustimmend Moritz’ Begründung dafür, daß das Schöne in striktem Gegensatz zum Nützlichen steht: Unter Nutzen denken wir uns die Beziehung eines Dinges, als Theil betrachtet, auf einen Zusammenhang eines Dinges, das wir uns als ein Ganzes denken. Was nicht nützlich zu sein braucht, muß nothwendig ein für sich bestehendes 43
Hans Joachim Schrimpf: Das Weltbild des späten Goethe, S. 189.
231 Ganzes sein und seine Beziehung in sich haben; allein um schön genannt zu werden, muß es in unsern Sinn fallen oder von unserer Einbildungskraft umfaßt werden können. (WA I/47, 85)
Wenn Goethe Moritz’ Ansicht von der immanenten Ganzheit des Schönen teilt, das keinem vorgegebenem Zweck als bloßes Mittel zugeordnet sei, sondern selbstzweckhaft allein dem ästhetischen Wohlgefallen diene, so postuliert er damit, es sei »ein Vorrecht des Schönen, daß es nicht nützlich zu sein braucht.« (WA I/47, 85) Dieser etablierten Wertschätzung stimmt Odoard zwar zu, wenn er vordergründig vom »höheren Sinne« der Kunstfreiheit spricht – doch nur, um sie mit seinem einschränkenden »eigentlich« zu dementieren. Denn gerade das, was für Goethe den ›Vorzug‹ des Kunstschönen ausmacht – »daß es nicht nützlich zu sein braucht« –, wird von Odoard unter der Hand zu dessen ›Nachteil‹ umgemünzt. Daraus leitet er seinen – Goethes Wertschätzung umkehrenden – ›niederen Sinn‹ der künstlerischen ›Freiheit‹ ab. In den schönen Künsten, so Odoards Argumentation, könne ja nach Belieben dilettiert werden, gerade weil ihre Werke keinen Nutzen haben – ganz anders als bei den Produkten des Handwerks, bei denen Pfuscherei sogleich auffalle, da sie fatale Folgen im Gebrauch zeitige. Obwohl Odoard in diesem Zusammenhang konzediert, daß selbst die freie Kunst »ihre innern Gesetze« hat, unterläuft er doch gleich darauf auch diese Auffassung. Bevor das gezeigt werden kann, ist kurz zu erörtern, welchen hohen Stellenwert Goethe selbst den »inneren Gesetzen« der Kunst zuschreibt. Mit deren Akzentuierung betont er einen weiteren Aspekt der Kunstautonomie, der über die bloße Zweckfreiheit hinausgeht und vor dem Hintergrund seiner vielfältigen Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Natur zu verstehen ist. Dieses erscheint bei Goethe insofern als ein paradoxales Verhältnis, als er Übereinstimmung und Differenz von Kunst und Natur zugleich herausstellt. So heißt es etwa in seiner Abhandlung Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (1789), die Natur sei »von der Kunst durch eine ungeheure Kluft getrennt.« (FA 18, 461) Dennoch bestehe die Aufgabe des echten Künstlers darin, »wetteifernd mit der Natur, etwas geistig-organisches hervorzubringen, und seinem Kunstwerk einen solchen Gehalt, eine solche Form zu geben, wodurch es natürlich zugleich und übernatürlich erscheint.« (FA 18, 462) Hierbei könnten – und dies ist für den Gegensatz zu Odoards Argumentation entscheidend – die ›äußeren‹ Gesetze der Natur partiell auch mißachtet werden, ohne daß doch die ›inneren‹ Gesetze der Kunst verletzt würden. Dies verdeutlicht das Beispiel, anhand dessen Goethe im Gespräch vom 18. April 1827 Eckermann gegenüber das Verhältnis von Kunst und Natur erläutert. An-
232 läßlich der allen physikalischen Gesetzmäßigkeiten widersprechenden Gestaltung, mit der Rubens auf einem Landschaftsgemälde »das Licht von zwei entgegengesetzten Seiten« einfallen läßt,44 bemerkt Goethe: Das ist eben der Punkt […]. Das ist es, wodurch Rubens sich groß erweiset und an den Tag legt, daß er mit freiem Geiste über der Natur steht und sie seinen höheren Zwecken gemäß traktiert. Das doppelte Licht ist allerdings gewaltsam, und Sie können immerhin sagen, es sei gegen die Natur. Allein, wenn es gegen die Natur ist, so sage ich zugleich, es sei höher als die Natur, so sage ich, es sei der kühne Griff des Meisters, wodurch er auf geniale Weise an den Tag legt, daß die Kunst der natürlichen Notwendigkeit nicht durchaus unterworfen ist, sondern ihre eigenen Gesetze hat. (FA 39, 603)
Was Goethe gegen Ende seines Lebens im Gespräch mit Eckermann äußert, ist keineswegs nur als Ausdruck einer späten Einsicht zu verstehen, sondern entspricht einer ästhetischen Grundüberzeugung, wie er sie schon drei Jahrzehnte zuvor gegen Diderot artikulierte. Anläßlich seiner kommentierenden Übersetzung von dessen Essais sur la Peinture 45 räumte er zwar ein, daß der Künstler von der Natur »die Schönheit der Proportion« lernen solle (FA 18, 567); doch habe dies keineswegs in der Weise sklavischer Nachahmung zu geschehen. Die Kunst habe gegenüber der Natur nämlich »ihre eigene Tiefe, ihre eigene Gewalt; sie fixiert die höchsten Momente dieser oberflächlichen Erscheinungen [der Natur], indem sie [die Kunst] das Gesetzliche darin anerkennt, die Vollkommenheit der zweckmäßigen Proportion, den Gipfel der Schönheit.« (FA 18, 567) Wenn Goethe dem Künstler hier einerseits untersagt, Gesetzmäßigkeiten der Natur zu mißachten, so betont er andererseits doch zugleich die relative Unabhängigkeit der Kunst. Dem Künstler obliege es, mit seinem Werk eine »zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete« (FA 18, 568) zu schaffen, deren »innere Gesetze« sie als »übernatürlich, aber nicht außernatürlich« (FA 18, 506) ausweisen. In den Wanderjahren nun läßt Goethe Odoard mit dessen Hinweis auf die »innern Gesetze« der »freien Kunst« hierauf zurückgreifen; dennoch markieren dessen nähere Ausführungen den schärfsten Gegensatz zu Goethes vielfach vorgetragener Auffassung vom hohen Stellenwert einer Kunst, die in ihrer höheren Wahrheit die Wirklichkeit der Natur über44
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Es handelt sich um Rubens’ Gemälde Ländliche Umgebung von Mecheln, das Goethe Eckermann im Kupferstich von Schelte Adams Bolswert vorgelegt hat; abgebildet findet sich dieser im Kommentar FA 39, Abb. 11. Goethe publizierte sie unter dem Titel Diderots Versuch über die Malerei im zweiten Heft des ersten Bandes und im ersten Heft des zweiten Bandes der Propyläen von 1799; abgedruckt in: FA 18, S. 559–608.
233 steige. Zwar deutet Odoard – augenscheinlich in Übereinstimmung mit Goethe – zunächst noch an, daß die Beachtung oder Nichtbeachtung der »innern Gesetze« der Kunst darüber entscheide, »ob sie gut oder schlecht betrieben« wird; doch stellt es einen eklatanten Widerspruch zu Goethes Auffassung sowie zu Odoards eigener wertungsästhetischer Prämisse dar, wenn dieser abschließend erklärt, daß man einen »freien Künstler loben« könne, obwohl »seine Arbeit bei näherer Untersuchung nicht Stich hält.« (695) Denn jetzt hat er unter der Hand das Bezugsfeld verändert. Mag Odoard immerhin suggerieren, es handle sich bei dieser »näheren Untersuchung« um eine, welche überprüft, ob die inneren Kunstgesetze befolgt worden sind, so wird bei genauerem Hinsehen doch deutlich, daß er damit etwas ganz anderes meint: Während Goethe festhält, daß der Künstler »die Natur im Einzelnen treu und fromm nachbilden« müsse, etwa »in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen und Muskeln […] nichts willkürlich ändern« dürfe, und allein »in den höheren Regionen des künstlerischen Verfahrens […] ein freieres Spiel« habe (FA 39, 603), denkt Odoard ausschließlich an eine »Untersuchung«, die prüft, ob das Kunstwerk »die Natur im Einzelnen treu und fromm« nachbildet, d. h. den Gesetzen der Natur entspricht, denen das Handwerk im Gegensatz zur Kunst schlechthin unterworfen ist. Evident wird dies anhand der Beispiele, die er anführt: »verzeichnete Füße« und »mißgestaltete Arme«. So nivelliert Odoard letztlich in selbstwidersprüchlicher Manier das zuvor von ihm aufgerufene Konzept ›innerer‹ Kunstgesetze, indem er diese kurzschlüssig mit den ›äußeren‹ Naturgesetzen identifiziert und damit unterstellt, ein Kunstwerk könne trotz deren Nichtbeachtung gelobt werden – was der Auffassung Goethes diametral entgegensteht, wonach die innere Gesetzmäßigkeit das eigentliche Qualitätskriterium des autonomen Kunstwerkes darstellt, das lediglich »in den höheren Regionen« läßlich mit den Gesetzen der Natur verfahren dürfe. Damit zeigt sich, daß Odoards Ausführungen, anders als es zunächst scheinen könnte, keineswegs für eine am Vorbild des Handwerks orientierte Regelhaftigkeit in der Kunstausübung plädieren, wie sie mit Goethes Begriff der ›Meisterschaft‹ gemeint ist.46 Zeichnet sich für Goethe der Meister dadurch aus, daß er sowohl die äußeren Gesetze der Natur wie die inneren der Kunst beachtet, so gilt umgekehrt für den Dilettanten, daß seine Produktionen ohne jede Gesetzlichkeit seien. So beklagt sich Goe-
46
Siehe hierzu auch Hans Rudolf Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft, bes. S. 35–41 und S. 68f.
234 the im Brief an Zelter vom 8. März 1824 über den herrschenden Mangel an allgemein verbindlichen Regeln in bildender Kunst und Dichtung, wie es sie doch in der Musik gebe: »[L]eider aber hat Poesie und Bildkunst kein anerkanntes Fundament wie die eure [die Tonkunst]; die absurdeste Empirie erscheint überall, Künstler und Liebhaber sind gleich unstatthaft, der eine macht, der andere urtheilt ohne Vernunft.« (WA IV/38, 69) Auch wenn Odoards Forderung, das Handwerk solle der Kunst »zum Muster dienen«, losgelöst vom weiteren Argumentationsgang im Sinne dieser Goetheschen Forderung nach strenger Kunstgesetzlichkeit gefaßt werden könnte, wurde durch die Analyse seiner Rede doch deutlich, daß es Odoard gar nicht darum geht, die Künste auf objektive Regeln zu verpflichten, sondern darum, sie zugunsten des Handwerks gänzlich abzuschaffen. Eine ähnliche Absicht wie Odoard verfolgt auch der Abbé, wenn er in einem Paralipomenon gegenüber Wilhelm bekundet: Technische Thätigkeit befördern, heißt fördern was alle thun können[.] Die Künste hingegen sind individualisirende Thätigkeiten, Ausbreitung der Künste bewirkt Pfuscherey oder wenn sie sich erhalten wollen müssen sie zuletzt in Technik übergehen und dann bleiben sie immer lobenswürdig, wenn ein höherer Sinn der Handfertigkeit unterliegt.47
Auch wenn Goethe diese Passage nicht in seinen Roman übernimmt, so verdeutlicht dort das Verhalten des Abbés, daß es ihm ebenfalls letztlich darum geht, die Künste ins Handwerk zu überführen. Er markiert ihren schon numerisch geringen Stellenwert, wenn er berichtet, daß Lothario eine »Reise zu den Pädagogen […] unternommen [hat] um sich tüchtige Künstler, nur sehr wenige, zu erbitten.« (514) Auf den ersten Blick könnte man noch mutmaßen, daß sich Quantität und Qualität umgekehrt proportional zueinander verhalten, wenn der Abbé in Anspielung auf die Bergpredigt (Mt. 5,13) fortfährt: »Die Künste sind das Salz der Erde; wie dieses zu den Speisen, so verhalten sich jene zu der Technik.« (514) Doch der dadurch geweckte Eindruck einer Hochschätzung der Kunst, die die Technik erst zu ihrer wahren Bestimmung führe, täuscht; denn der Abbé fährt – die Gefahr des ›Versalzens‹ betonend – fort: »Wir nehmen von der Kunst nicht mehr auf als nur daß das Handwerk nicht abgeschmackt werde.« (514) Wie auch an anderen Stellen der Wanderjahre 48 wird der Kunst hier 47 48
Kommentar FA 10, S. 821. So heißt es z. B. von den Verzierungstätigkeiten des Zimmermanns Joseph des Zweiten, sie bestünden in dem »Einkerben der Balken«, dem »Einschneiden von gewissen einfachen Formen« und dem »Rotmalen einiger Vertiefungen, wodurch ein hölzernes Berghaus den so lustigen Anblick gewährt.« (FA 10, S. 277)
235 eine nur dekorative Funktion zugestanden; sie dient der Verschönerung des Nützlichen und wird damit zum bloßen Kunsthandwerk entwertet.49 Goethe selbst hingegen hatte schon drei Jahrzehnte zuvor in seinem unveröffentlichten Aufsatz über Kunst und Handwerk (1797) beklagt, daß die Kunst zunehmend der maschinellen Reproduktion unterworfen werde, seit »man in den neueren Zeiten das Maschinen- und Fabrikwesen zu dem höchsten Grad hinaufgetrieben hat und mit schönen, zierlichen, gefälligen vergänglichen Dingen durch den Handel die ganze Welt überschwemmt.« Zu befürchten sei, daß »der hochgetriebene Mechanismus, das verfeinerte Handwerk und Fabrikenwesen der Kunst ihren völligen Untergang bereite.« (WA I/47, 58) Während Goethe deshalb dem Künstler den Rückgriff auf vormoderne Herstellungsverfahren empfiehlt, weil nur so die »wahre Kunst und das wahr erregte Kunstgefühl« (WA I/47, 58) hervorzubringen seien, läßt er in den Wanderjahren die Konsequenzen einer Kunst im »Zeitalter [ihrer] technischen Reproduzierbarkeit«50 in voller Radikalität hervortreten. Für Odoard kommt sie sogar nicht einmal mehr – wie noch für den Abbé – als Ergebnis technischer Fähigkeiten in den Blick, sondern bloß noch als belanglose Spielerei, an die man keinerlei Ansprüche auf Regelhaftigkeit zu stellen braucht. Mit seiner Herabwürdigung der Kunst verdeutlicht er, worauf es in dem neu zu gründenden Gemeinwesen ausschließlich ankommt: auf Solidität, Akkuratesse und Praktikabilität.51 49
50
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Dieses Kunsthandwerk entspricht Hegels Begriff der ›dienenden Kunst‹, die er gegenüber der ›freien Kunst‹ als niedere Form deklariert und als Gegenstand der Ästhetik ausschließt: »[S]o ist es allerdings der Fall, daß die Kunst als ein flüchtiges Spiel gebraucht werden kann, dem Vergnügen und der Unterhaltung zu dienen, unsere Umgebung zu verzieren, dem Äußeren der Lebensverhältnisse Gefälligkeit zu geben und durch Schmuck andere Gegenstände herauszuheben. In dieser Weise ist sie in der Tat nicht unabhängige, nicht freie, sondern dienende Kunst.« G. W. F. H.: Vorlesungen über die Ästhetik, Band 13, S. 20. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: W. B.: Gesammelte Schriften, Band I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, S. 431–469 und S. 471–508; der Sache nach hat Goethe den von Benjamin konstruierten Gegensatz von ästhetischer Aura und technischer Reproduzierbarkeit, den dieser aufgrund technischer Innovationen für das beginnende 20. Jahrhundert annimmt, schon mehr als ein Jahrhundert früher hervorgehoben. Siehe hierzu Arne Eppers: Miteinander im Nebeneinander, S. 194: »Wer sich auf Odoards Programm einläßt, wird zwar scheinbar von einem Handwerker zu einem Künstler befördert, in Wirklichkeit jedoch von einem Handwerker zu einem Werkzeug instrumentalisiert, einem Werkzeug zur Verwirklichung von Odoards monomaner Vision.«
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5. Die Kolonisationsprojekte als zeitdiagnostische Paradigmen Die Marginalisierung der Kunst in den beiden Siedlungsgemeinschaften ist Ausweis einer im Zeichen der Nützlichkeit vollzogenen allumfassenden Modernisierung.52 »Wo ich nütze ist mein Vaterland!« (667) – so lautet Lenardos Credo, mit dem er alteingesessene Verhältnisse und überkommene Bindungen für obsolet erklärt. An deren Stelle tritt der mobile Einzelne, freilich nicht als Individuum mit unverwechselbaren Eigenschaften, sondern als Leistungsträger mit spezifischen Fähigkeiten. Über sie hat er sich als Glied in eine Kette arbeitsteiliger Herstellungsabläufe zu integrieren, die im effizienten Kräfteeinsatz ihren Ausgangspunkt und im herzustellenden Produkt ihr Ziel hat. So entstehen neue Vergemeinschaftungsformen, die sich nicht mehr über ererbte Privilegien, tradierte Gewohnheiten und religiöse Gewißheiten, sondern über partialisierte Fähigkeiten und Kenntnisse in einem funktionierenden Zusammenspiel formieren, das strengen Geboten der Zeitökonomie folgt. Damit aber verschiebt sich in den Wanderjahren gegenüber den Lehrjahren die Legitimationsinstanz des Daseins. Während einst die Turmgesellschaft um Lothario den Besitz vor revolutionären Unruhen zu sichern suchte, indem sie ihr adliges Steuerprivileg zur Disposition stellte, um sich mit dem Hinweis auf das Gemeinwohl rechtfertigen zu können,53 verändern sich für die Gemeinschaftsformationen der Wanderjahre die Bezugspunkte. Nicht mehr der Grundbesitz ist die Meßgröße, sondern die Leistung dient zur Bestimmung eines instrumentalisierten Daseins. Wie ist der historische Ort der Siedlungsgemeinschaften und der ihnen als Rekrutierungsbasis zugeordneten Pädagogischen Provinz unter dem Gesichtspunkt der Moderne genauer zu fassen?54 Die in diesen Organisa52
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Siehe hierzu auch Schiller: »Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden Markt des Jahrhunderts.« F. S.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: FA/Schiller 8, S. 559. Bevor Lothario erklärt, daß die »Sicherheit des Besitzes« nur durch Steuerabgaben erhalten werden könne, gesteht er Werner: »Mir kommt kein Besitz ganz rechtmäßig, ganz rein vor, als der dem Staate seinen schuldigen Teil abträgt.« (FA 9, S. 886) Als regressive Utopie, die gegen die aufkommende Moderne des »Maschinenwesens« mit dem Plädoyer für das überkommene Zunftwesen antwortet, deutet das Amerika-Projekt Anneliese Klingenberg: Goethes Roman Wilhelm Meisters Wan-
237 tionen durchgängig ausgeübte Dominanz der Gemeinschaft über den Einzelnen reflektiert ideologisch den Modernisierungsprozeß. So reagieren die Handwerkerbünde auf die beginnende Industrialisierung, indem sie den hierdurch hervorgerufenen Abhängigkeiten von technischen Arbeitsabläufen, die die Einzelnen voneinander isolieren, Entwürfe funktionaler Vergemeinschaftungsformen entgegenstellen. Denn nicht persönliche Beziehungen, sondern produktbezogene Verhältnisse organisieren hier den auf Arbeitsteilung und hierarchischen Strukturen gründenden Zusammenhalt der Menschen. Insofern spiegeln die Siedlungsunternehmen und die Pädagogische Provinz die in jener Zeit vielfach artikulierten Entfremdungserfahrungen nicht resignativ als Klage, sondern konstruktiv als Konzept. Indem sie das tun, halten sie jedoch nicht am Wert einer unveräußerlichen Individualität fest, die unter das Gebot der Selbstvervollkommnung gestellt wird; vielmehr zeigen sie, daß in der utilitaristischen Moderne das Menschenbild eines selbstbestimmten Subjekts, von dem sie ihren Ausgang nahm, obsolet geworden ist. Der Wilhelm Meister der Lehrjahre verläßt die Welt des Herkommens, um sich als Person zu vervollkommnen; dagegen wird der Wilhelm Meister der Wanderjahre, der von sich abzusehen und sich nützlich zu machen weiß, zum Protagonisten einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Diese Akzentverschiebung vom Individuum zum Sozialverband deutet sich schon am Schluß der Lehrjahre an, als Jarno Wilhelm aus dessen Lehrbrief vorliest: Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen, und bringt sie wieder hervor. […] Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert, so machen beide zusammen erst einen Menschen aus. Das Nützliche befördert sich selbst, denn die Menge bringt es hervor, und alle könnens nicht entbehren; das Schöne muß befördert werden, denn wenige stellens dar, und viele bedürfens. (FA 9, 932f.)
Was Jarno hier als bloße Lehrbuchweisheit verkündet, die den Unwillen Wilhelms hervorruft, der sich nicht unter Gemeinplätze subsumieren lasderjahre oder die Entsagenden, S. 50: »Mit aller Zähigkeit hielt der alte Goethe der Wanderjahre an seinem anthropozentrischen Weltbild, dem Menschen ›in der Mitte‹ der Welt, fest […]. Vor die Alternative gestellt, eine beherrschbare, gesetzmäßig evolutionäre Entwicklung anzunehmen oder notwendige, aber doch nicht durchschaubare sprunghafte Vorwärtsbewegungen zu akzeptieren, entschied Goethe sich für das erste, weil zu dieser Zeit, d. h. in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, ihm nur dies sinnvolle Aktivität des Menschen zuzulassen schien.«
238 sen will, verliert unter dem Vorzeichen technologischer Innovation und arbeitsteiliger Organisation seinen holistischen Anspruch und seine ästhetische Valenz. Postuliert wird in den Wanderjahren nicht mehr das Ganze der Menschheit, zu dem sich die Einzelnen in einer Synthese von Schönheit und Nützlichkeit zusammenzuschließen haben. Statt dessen werden autoritär geführte, hierarchisch organisierte und effizient produzierende Handwerkerbünde als Reaktionsmöglichkeiten auf gesellschaftliche Desintegrationsprozesse entworfen.55 Nun sind freilich Ironiesignale zu vernehmen, die verdeutlichen, daß Goethe nicht mit solchen ›inhumanen‹ Vorstellungen sympathisiert. Wilhelm Voßkamp führt hierfür die Passage an, in der es heißt: »Branntweinschenken und Lesebibliotheken werden bei uns nicht geduldet; wie wir uns aber gegen Flaschen und Bücher verhalten will ich lieber nicht eröffnen: dergleichen Dinge wollen getan sein, wenn man sie beurteilen soll.« (690) Ob nun gerade diese Stelle, insbesondere aber das von Voßkamp hervorgehobene »autokratische […] Modell der europäischen Binnenwanderung unter Führung des mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Odoardo die deutlichste Distanz«56 markieren, mag dahingestellt bleiben. Für Goethes Vorbehalt etwa gegenüber der als Disziplinierungsanstalt konzipierten Pädagogischen Provinz, in der alle auf Pfiff zu reagieren haben (siehe 518), könnte man jedenfalls noch anführen, daß der dort 55
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Adolf Muschg vermeint hier sogar, einen »Hauch von Gulag« zu verspüren. A. M.: ›Bis zum Durchsichtigen gebildet‹, S. 114; ähnlich Rolf Grimminger: Löcher in der Ordnung der Dinge. Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre, in: R. G.: Die Ordnung, das Chaos und die Kunst. Für eine neue Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1990, S. 201–244, hier S. 236: »Eine Welt, in der nur instrumentelles Handeln nach mechanisch befolgten Richtlinien zugelassen wird, droht zum Arbeitslager zu verkommen, sie wird nicht nur inhuman, sondern auch sinnlos eng.« Entsprechend fragt auch Hans Rudolf Vaget: »Welche Überzeugungskraft darf man heute einer ausdrücklich als alternativ konzipierten neuen Kommune zutrauen, in der Recht und Würde des Individuums allein unter dem Schutz der Polizei stehen, in der Juden nicht geduldet werden, in der die Uhren alle Viertelstunden über den Telegraphen zur Arbeit mahnen und in der der Mensch allein als nützliches ›nötiges‹ Glied des Ganzen seinen Platz findet – und ›beseitigt‹ wird, wenn er dazu nicht taugt?« H. R. V.: Johann Wolfgang Goethe. Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829), S. 158. Wilhelm Voßkamp: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Band 3, hrsg. von W. V., Stuttgart 1982, S. 227–249, hier S. 240f. Zu Goethes Distanz gegenüber perfektionierten poetischen Ordnungs- und Staatsvorstellungen und allgemein zur Ironie des alten Goethe siehe Ehrhard Bahr: Die Ironie im Spätwerk Goethes, S. 88–130.
239 internierte Felix am Ende des Romans keineswegs seine Spontaneität und sein Ungestüm verloren hat. Doch bedarf es nicht eigens solcher Hinweise, um Goethe vor den in seinem Roman von literarischen Figuren entfalteten Utopien in Schutz zu nehmen. Es handelt sich bei diesen Projekten ja nicht um anzustrebende Realisierungsangebote Goethes, sondern um zeitdiagnostische Paradigmen, die Konsequenzen moderner Arbeitswelten durchspielen. Daher mögen zwar »narrative Strategien der Distanzierung«57 auf Goethes Vorbehalte gegen die Siedlungspläne hindeuten, nicht aber darauf, daß hier nur beiläufige Gedankenspiele vorliegen. Lenardo und Odoard jedenfalls meinen es ernst mit ihnen.58 Und auch Goethe tut sie nicht als phantastische Ausgeburten von Personen ab, die ihre emotionalen Verstrickungen durch öffentliche Aktivitäten zu kompensieren trachten. Vielmehr erprobt er im experimentellen Raum literarischer Fiktionen Vergemeinschaftungsvarianten der Moderne, die unter autoritärem Vorzeichen neue Formen sozialer Integration anbieten – nicht als rückwärtsgewandte museale Idylle wie bei Joseph dem Zweiten, sondern auf der Höhe einer Zeit, in der alles produktive Tun des Menschen einer rigiden Arbeitsethik unterworfen ist. Diese aber verdeutlicht, daß die auf Selbstentfaltung des Individuums ausgerichtete neuhumanistische Anthropologie angesichts des beginnenden Industriezeitalters eine bloße Illusion ist, die unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung zerstiebt. In einer seiner Maximen und Reflexionen pointiert Goethe diese Diskrepanz zwischen Postulat und Realität: »Fehler der sogenannten Aufklärung: daß sie Menschen Vielseitigkeit giebt deren einseitige Lage man nicht ändern kann.« (FA 13, 96)
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Theodor Verweyen und Gunther Witting: Zum deskriptiven Gehalt des Utopiebegriffs, S. 411. Siehe hierzu auch die grundsätzlichen Überlegungen von Volker Neuhaus, der darauf hinweist, daß »alle Teile des Romans […] in Eigenverantwortung der verschiedensten Personen erzählt [werden], ohne eine übergeordnete auktoriale Verantwortung. Die einzelnen Perspektiven ergänzen sich, verstärken sich oder heben sich auf. Aus allen spricht der Autor, und in keiner seiner Figuren bekommen wir ihn zu fassen, daß wir sagen können: Das ist die Meinung Goethes.« V. N.: Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren, S. 25.
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IX. Die ästhetische Reflexion der Moderne in den Wilhelm Meister-Romanen
1.
Der Selbstbehauptungsversuch moderner Subjektivität in den Lehrjahren
In einem Gespräch mit Eckermann äußert sich der fast fünfundsiebzigjährige Goethe am 25. Februar 1824 über den politischen Erfahrungsgehalt seines langen Lebens: Ich habe den großen Vorteil, […] daß ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der französischen Revolution, und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hiedurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen. (FA 39, 91)
Erstaunlich ist nicht, daß Goethe in dieser Bemerkung auf eine ganze Anzahl historischer Ereignisse hinweist, um seine einzigartige Zeitzeugenschaft hervorzuheben, sondern vielmehr die Tatsache, daß diese nur höchst indirekt in sein Wilhelm Meister-Projekt eingegangen ist, das ihn zeitlebens beschäftigt hat. Obwohl die Lehrjahre im Vorfeld der Französischen Revolution spielen – was durch den Hinweis angedeutet wird, daß Lothario im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hat (siehe FA 9, 807f.) –, reflektiert der Roman das epochale Großereignis nur vermittelt über die sozialreformerischen Überlegungen der Turmgesellschaft und ihre geographische Diversifikationsstrategie für »den einzigen Fall, daß eine Staatsrevolution den einen oder den andern von seinen Besitztümern völlig vertriebe.« (FA 9, 945)1
1
Zu Einzelheiten siehe Terence James Reed: Revolution und Rücknahme. Wilhelm Meisters Lehrjahre im Kontext der Französischen Revolution, in: GJb 107 (1990), S. 27–43.
241 Und auch sonst stellt Goethe die Französische Revolution in seinem literarischen Œuvre nur indirekt dar – sei es, indem er das Schicksal der Emigranten thematisiert (Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, 1795; Hermann und Dorothea, 1797), das korrupte Verhalten von Adligen in einem Duodezfürstentum satirisch entlarvt (Der Groß-Cophta, 1791), jakobinische Tendenzen in einem deutschen Kleinstaat persifliert (Der Bürgergeneral, 1793), das individuelle Schicksal einer unehelichen Tochter mit der Auflösung des Ancien Régime verknüpft (Die natürliche Tochter, 1803) oder indem er die turbulenten Verwerfungen der gesellschaftlichen Ordnung auf höchst verschlüsselte Weise durch Vulkanwelten und Pygmäentyrannei (Faust II) in Szene setzt. Offensichtlich hat sich Goethe gescheut, in direkter Darstellung »dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen.« (WA II/11, 61) Und auch die Wanderjahre, die vor dem Horizont der Napoleonischen Zeit und der folgenden Ereignisse angesiedelt sind, lassen eindeutige Referenzen auf geschichtliche Begebenheiten und politische Entwicklungen vermissen. So mag man die Meister-Romane auf den ersten Blick als Beleg dafür heranziehen, daß Goethe ein »große[s] Zeitablehnungsgenie« sei, wie Heine ihn 1830 nannte.2 Doch taugen die Romane nur dann für einen solchen Beleg, wenn man auf einem konkreten Zeitbezug beharrt und womöglich darüber hinaus erwartet, Dichtung habe sich für die Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen einzusetzen. Die Lehr- und Wanderjahre dokumentieren Goethes Zeitzeugenschaft dagegen in einem fundamentaleren Sinn, indem sie geschichtliche Modifikationen der Ich-Welt-Dichotomie vor dem Hintergrund sozio-kultureller Umbrüche reflektieren. So entfalten die Lehrjahre die Problematik der Individualität im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, indem sie die Konsequenzen für den Einzelnen thematisieren, der aus der ständischen Ordnung heraustritt, die ihm bislang Lebensentwürfe, Sinnorientierungen und Gefühlsdispositionen vorgegeben hatte. Von nun an muß er seinen Platz im komplexer werdenden Sozialgefüge selbst suchen. Doch dieses bestimmt Identität immer nur partiell, da das Individuum in die sich zunehmend funktional ausdifferenzierende Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Aufgabenfeldern auf vielfältige Weise eingebunden ist. Mit der damit einhergehenden Pluralisierung der Subjektivität durch unterschiedliche Rollenzuweisungen wächst das Bedürfnis nach einem Ich-Bewußtsein, das die heterogenen 2
Heine an Varnhagen von Ense, Brief vom 28. Februar 1830, in: H. H.: Briefe in sechs Bänden, Band 1, hrsg. von Friedrich Hirth, Mainz 1948, S. 299.
242 Anforderungen zu integrieren vermag. Von der äußeren Lebenswirklichkeit pluraler Funktionalität verschiebt sich der Fokus auf das Innere, das zum identitätsstiftenden Wesenskern erhoben wird. Die Individualität des Helden, der sich als unvergleichlich zu bestimmen sucht, wird zum Thema von Goethes Lehrjahren. Wilhelm Meister repräsentiert den modernen Bürger, der sich aus überkommenen Bindungen befreit und, auf sich selbst gestellt, seinen Platz im Sozialgefüge finden will. Für ihn haben sich die Sinngarantien der tradierten Gesellschaftsform aufgelöst – und so muß er sich auf den Weg machen, um zu dem zu werden, der er zu sein glaubt. Entsprechend reagiert er auf den Appell seines Jugendfreundes Werner, sich dem Gelderwerb zu widmen, mit einem Plädoyer für Selbstentfaltung: »Daß ich dir’s mit Einem Worte sage, mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht« (FA 9, 657), um noch hinzuzufügen: »Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung.« (FA 9, 659) Wenn Wilhelm von Individualität (»mich selbst«), Totalität (»ganz wie ich da bin«) und Perfektibilität (»harmonische Ausbildung meiner Natur«) spricht, so artikuliert er damit zwar expressis verbis zentrale Grundsätze des neuhumanistischen Bildungsideals, keineswegs aber internalisierte Maximen oder tiefsitzende Überzeugungen. Denn seine Selbstcharakterisierung erweist sich als situationsbedingt. Werner hat ihn mit seinem philiströsen Lob der ökonomischen Existenz provoziert; und vom »heimlichen Geist des Widerspruchs mit Heftigkeit auf die entgegen gesetzte Seite getrieben,« (FA 9, 656) entscheidet sich Wilhelm für die theatralische Existenz – mit einer Begründung, die selbst voller Widersprüche ist und deprimierende Erfahrungen auf einem Grafenschloß abblendet (siehe FA 9, 657–660). Orientiert am höfischen Ideal repräsentativer Öffentlichkeit, möchte Wilhelm auf dem Theater den Glanz erfahren, der dem Adel aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung zukommt. Doch bei aller objektiven Ironie, die verdeutlicht, wie sehr sich zwischen dem, was Wilhelm explizit sagt, unbewußt meint und situativ erfährt, ein widerspruchsvolles Spannungsfeld auftut, zeigen gerade die Ungereimtheiten, wie sehr er sich in Spannung zu einer gesellschaftlichen Ordnung befindet, die ihm nicht mehr die vorgängige Übereinstimmung von Reden, Handeln und Empfinden sichert. Konfusionen, Desillusionierungen, Selbstüberlastungen und Depressionen sind die Folge. Das gilt auch nach Wilhelms Eintritt in die Turmgesellschaft, durch den der ›Künstlerroman‹ in den ›Gesellschaftsroman‹ überführt wird. Zwar wird er hier den intersubjektiven Geboten eines Lehrbriefes unterworfen, durch
243 ein Freisprechungsritual zum Bürger erklärt und in Folge der Anerkenntnis seiner Vaterschaft mündig gesprochen, doch der aufgebaute Erwartungshorizont einer Harmonie von Ich und Welt als Telos von Wilhelms Lebensweg erfährt keine Bestätigung. Statt dessen häufen die Lehrjahre gegen Ende »muthwillig Additionsfehler« auf »Additionsfehler« (WA IV/11, 123), wie Goethe am 9. Juli 1796 gegenüber Schiller äußert. Wilhelms Erziehungsbemühungen, seine Heiratsabsichten und ökonomischen Pläne werden immer wieder konterkariert: Fremder Wille und oktroyierte Anweisungen durchkreuzen seine vernünftigen Absichten; die Gefühle folgen nicht seinen Einsichten; sein Bemühen, für Felix ein guter Vater zu sein, vermag er im Wirrwarr der Ereignisse nicht umzusetzen. An die Stelle von Sinngewißheit, Handlungssicherheit und Selbstbestimmung, den Zeichen gelungener Emanzipation, treten Sinnkrisen, Handlungsunsicherheiten und Fremdbestimmungen – Indizien vollständiger existentieller Desorientierung. Statt der imaginierten Einheit von Wollen und Sollen, Können und Dürfen findet er nur eine Welt voller Widersprüche vor. Und selbst die Schlußworte Friedrichs, der Wilhelm mit Saul vergleicht, »der ausging seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand« (FA 9, 992), erweisen sich nur vermeintlich als Ratifizierung eines glücklichen Romanendes in Erwartung des Ehebundes mit Natalie; denn die biblische Anspielung auf den Melancholiker und Selbstmörder Saul wirkt subversiv. Die Wilhelms Lebensweg prägenden Spannungen zwischen Herkommen und Selbstbestimmung, gesellschaftlicher Ordnung und individueller Veranlagung, subjektiven Wünschen und objektiven Zwängen lösen sich nicht auf, es kommt zu keinem harmonischen Ausgleich. Gerade bei den gemeinhin als ›Bildungsroman‹ angesehenen Lehrjahren findet Goethe sein erzählerisch-erfinderisches Vergnügen darin, jede Teleologie zu unterlaufen und den mannigfachen Widersprüchlichkeiten des Lebens nachzuspüren. Das Individuelle und das Allgemeine sind nicht bruchlos ineinander zu überführen, es bleibt die Unverfügbarkeit von Lust und Leid – dies die Erkenntnis einiger »verständige[r] geistreiche[r], lebhafte[r] Menschen«, die wissen, daß »die Summe unsrer Existenz durch Vernunft dividiert, niemals rein aufgehe, sondern daß immer ein wunderlicher Bruch übrig bleibe.« (FA 9, 634) Dieser wird für Wilhelm erfahrbar, als Jarno ihm Passagen aus einem Lehrbrief vorliest, der ihn als Individuum unter der Fülle seiner Sentenzen ›auflösen‹ will, u. a. mit der auf das Ethos der Wanderjahre vorausdeutenden Feststellung: »Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt.« (FA 9, 932) Doch Wilhelm opponiert gegen die Subsumtion seiner
244 Individualität unter allgemeine Aussagen und ruft Jarno, als dieser ihm den zweiten Teil des Lehrbriefes verkünden will, empört zu: »Ich bitte Sie […], lesen Sie mir von diesen wunderlichen Worten nichts mehr! Diese Phrasen haben mich schon verwirrt genug gemacht.« (FA 9, 930f.) Die Turmgesellschaft, die mit ihren Maximen das Allgemeine über das Individuelle stellt, bietet Wilhelm in den Lehrjahren keine sinnfällige Interpretation seines Daseins. Er fühlt sich durch die heterogenen Sinnsprüche, die ihn unterwerfen wollen, in seiner einzigartigen Persönlichkeit verkannt.
2. Die Funktionalisierung des Individuums in den Wanderjahren Mit der Akzentuierung des Individuellen im Widerspiel zum Allgemeinen haben die Lehrjahre Teil an dem sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts vehement vollziehenden Paradigmenwechsel von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft – nicht nur weil ihr Titelheld auf der Unvergleichlichkeit seiner Lebensgeschichte beharrt, sondern auch, weil der Roman zugleich das Spannungsfeld thematisiert, das sich auftut zwischen den AllAussagen, die das Individuelle im Exemplarischen aufzuheben suchen, und dem Widerständigen des unverfügbaren Lebens, das anderes und mehr ist als das, was Sentenzen und Reflexionen zu postulieren vermögen. Insoweit reflektieren Wilhelm Meisters Lehrjahre Eigentümlichkeiten einer auf Selbstbestimmung ausgerichteten modernen Subjektivität, die zwischen dem Allgemeinen ihrer begrifflichen Erfassung und dem Besonderen ihrer jeweiligen Existenz changiert. Ganz anders entfalten demgegenüber die Wanderjahre das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem, und zwar schon dadurch, daß sie die Titelfigur nicht mehr als Zentralgestalt exponieren, auf die hin das Geschehen zentriert und von der her es perspektiviert wird. Die Totalität, die Wilhelm einst in den Lehrjahren für sich beanspruchte, kommt jetzt nicht mehr ihm, sondern dem sozialen Ganzen zu, als dessen nützliches Glied er zu fungieren hat. Auf diese Weise fügt er sich als Mitglied in die arbeitsteilige Leistungsgesellschaft ein, in der die Individualität des Einzelnen von seiner Funktionalität absorbiert wird. In den Lehrjahren hatte Wilhelm in seinem emphatischen Rechtfertigungsbrief an Werner gerade dies als Kennzeichen der Entfremdung beklagt (siehe FA 9, 658) und dabei seinen Wunsch, Schauspieler zu werden, in einer widersprüchlichen Verbindung von Selbstentfaltungs- und Selbstdarstellungsimpulsen artikuliert (siehe FA 9, 657–660). In den Wanderjahren hingegen wird von ihm die Verbind-
245 lichkeit gemeinschaftlichen Tuns der Unverbindlichkeit selbstzentrierten Wollens übergeordnet – ein Vorgang, der durch einen doppelten Verlust gekennzeichnet ist: den der Schönheit, die frei von Nützlichkeitszwängen ist, und den der Erotik, die gesellschaftliche Tabus durchbricht. Wilhelm Meister verblaßt als individuelle Figur, seine personale Identität tritt zurück. An die Stelle eines individualpsychologischen Erzählkonzepts, das die innere Lebensgeschichte des Helden als subjektive Projektion inszeniert, tritt ein sozialdiagnostisches, das den Einzelnen mit transpersonalen Ordnungskonzepten vermittelt. So wird Wilhelm, der in den Lehrjahren noch im Zentrum der Romanhandlung stand, zum Reflexionsmedium verschiedener Gemeinschaftsentwürfe, die in unterschiedlichen Konstellationen Erscheinungsweisen einer funktional ausgerichteten Moderne repräsentieren. Diese Verschiebung vom ›Subjektiven‹ zum ›Objektiven‹ wurde schon früh festgestellt. Friedrich Karl Julius Schütz etwa bemerkt in seiner umfänglichen Abhandlung aus dem Jahr 1823, in der er die ›falschen‹ Wanderjahre Pustkuchens mit den ›echten‹ Goethes vergleicht und dabei dessen Werk deutlich abwertet, zu Recht, daß Wilhelm Meister nicht mehr die dominante Figur des Romans ist: »Unter all den zahlreichen Wanderern, mit denen er [Wilhelm Meister] zusammentrifft«, ist der Held »der Unbedeutendste; und man begreift nicht, wie sein Name allein auf das Titelblatt gekommen ist.«3 Doch Schütz hätte genauer lesen sollen; denn es folgt ja noch der durch ein oder angehängte Titelzusatz Die Entsagenden. Die beiden Titelteile entfalten jedoch kein Spannungsfeld zwischen dem durch einen Eigennamen charakterisierten Individuum und dem durch eine Eigenschaft charakterisierten Kollektiv. Angespielt und vom Romangeschehen dann komplex ausgestaltet wird vielmehr, wie jenes sich diesem zuordnet. Während sonst seit dem späten 18. Jahrhundert vielfach beklagt wird, daß der Mensch unter den Bedingungen der arbeitsteiligen Moderne als Persönlichkeit aus dem Blick gerät, indem er auf seine Funktion reduziert wird, entzieht sich Goethe mit seinem Altersroman den dieser Klage zugrundeliegenden Paradigmen von Totalität, Ganzheit und Harmonie, auf die der Wilhelm Meister der Lehrjahre im Brief an Werner noch zurückgegriffen hatte, um seine Entscheidung für eine theatralische Existenz zu rechtfertigen. Die Wanderjahre entfalten nicht unter dem Vorzeichen einer kulturanthropologischen Negation, sondern unter dem einer kritischen Diagnose Szenarien der Moderne, in der der Einzelne seiner Einzigartigkeit zu ›entsagen‹ hat, um zum Funktionsglied einer arbeitsteiligen Gesellschaft zu werden. 3
Friedrich Karl Julius Schütz: Göthe und Pustkuchen, S. 41.
246 Das ist auf den ersten Blick erstaunlich. Denn bei vielen Gelegenheiten hat Goethe die sich durch Unvergleichlichkeit auszeichnende Individualität, die gerade nicht in ihrer Funktionalität aufgeht, als höchsten Wert herausgestellt. So lauten die beiden letzten Zeilen der ersten Strophe seines Gedichts Urworte. Orphisch: »Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.« (FA 2, 501) Diese bedeute – wie Goethe selbst die der Strophe beigegebene Überschrift »AIMN, Dämon« kommentiert – »die nothwendige, bei der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begränzte Individualität der Person, das Charakteristische, wodurch sich der Einzelne von jedem andern bei noch so großer Ähnlichkeit unterscheidet.« (WA I/41.1, 216) Zwar verweisen die folgenden Strophen auf modifizierende Wirkungen äußerer Einflußfaktoren, doch behält die individuelle Anlage als entelechiehafte Wesenseigentümlichkeit ihre bestimmende Kraft.4 Verwunderlich ist, daß in den Wanderjahren die »Individualität der Person« nachdrücklich reduziert wird – bis hin zu der skurrilen Tendenz, Figuren derart zu depersonalisieren, daß sie vollständig mit ihren Fertigkeiten identifiziert werden. Entsprechend taucht die sinnenfrohe Philine aus den Lehrjahren in den Wanderjahren unvermutet als hocheffiziente Schneiderin auf: »ohne Maß zu nehmen schneidet sie aus dem Ganzen [des Tuchs] und weiß dabei alle Flecken und Gehren [Lappen] dergestalt zu nutzen, daß großer Vorteil daraus entsteht, und das alles ohne Papiermaß.« (613) Die einstmals hysterische Lydie mutiert wie aus dem Nichts zur Näherin, die »reinlich näht wie keine, Stich für Stich wie Perlen, wie gestickt.« (614) Aus dem schalkhaften Friedrich der Lehrjahre wird der Protokollant des Auswandererbundes, dessen Aufzeichnungen dem Redaktor als Archivmaterial vorliegen; Werners Gehilfe wird als »zweibeinige Rechenmaschine« (613) bezeichnet; und der Barbier Rotmantel, der von seinen Erlebnissen nur in Novellen-Form erzählen darf, ist bei der Arbeit einem strikten Schweigegebot unterworfen (siehe 632f.). Sie alle gehen so vollständig in ihrer Funktion auf, daß sie dem von Friedrich verkündeten »Grundgesetz« des Auswandererbundes: »in irgendeinem Fache muß einer vollkommen sein, wenn er Anspruch auf Mitgenossenschaft machen will« (613), geradezu karikaturhaft genügen. Während bei mehreren Figuren der Wanderjahre begründungslos Emotionalität durch Funktionalität ersetzt wird, haben dagegen Wilhelm, Lenardo und Odoard, aber auch Randfiguren, wie die beiden Frauen, die 4
Zu Einzelheiten siehe Jochen Schmidt: Goethes Altersgedicht Urworte. Orphisch. Grenzerfahrung und Entgrenzung, Heidelberg 2006, bes. S. 17–19.
247 aus der Novelle Der Mann von funfzig Jahren ›heraustreten‹ und sich in der Lago Maggiore-Episode Wilhelm und dem Maler zugesellen, eine Vorgeschichte affektiver Verstrickungen, die sie erst überwinden müssen, um zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu werden. Auf diese Weise wird das, was der Mensch einst als emotionales Wesen war, in das überführt, was er jetzt als rationelles Wesen vollbringt. Während der Wilhelm der Lehrjahre in seinem Brief an Werner noch beklagte, daß der Bürger nur etwas leiste und hierbei sein Selbst aus den Augen verliere, geht Jarno/Montan in den Wanderjahren so weit, Leistung und Selbst miteinander zu identifizieren: »Was der Mensch leisten soll, muß sich als ein zweites Selbst von ihm ablösen, und wie könnte das möglich sein, wäre sein erstes Selbst nicht ganz davon durchdrungen.« (295) Die Leistung wird als Teil der Person externalisiert, zu seinem »zweiten Selbst« gemacht, das dem »ersten Selbst« entspringt, dieses aber überholt und schließlich vollständig repräsentiert. Gegenüber zeitgenössischen Entfremdungstheorien, die einen qualitativen Unterschied zwischen Funktion und Person statuieren und dabei den Menschen als ein Individuum bestimmen, das immer mehr ist als das, was es vollbringt, negiert Jarno/Montan diese Differenz; er definiert den Menschen nicht als ein eigenständiges Subjekt diesseits aller Fähigkeiten, sondern lediglich als deren Organ. Mit der Unterordnung der Individualität unter die Funktionalität verabschieden die Programmverkünder der Wanderjahre die im 18. Jahrhundert seit Herder vielfach propagierten Leitvorstellungen von Autonomie und Selbstbestimmung,5 die sich als Reflex von Entfremdungs- und Verdinglichungserfahrungen konturierten. Denn Goethe verweigert sich mit seinem Altersroman einer am Ideal individueller Totalität orientierten modernitätskritischen Klage und analysiert die veränderten sozio-ökonomischen Verhältnisse als Bedingungsgrößen menschlicher Existenz. Schon wenn Jarno/Montan gleich zu Beginn der Wanderjahre verkündet: »Ja es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten« (295), wird jene vermeintliche anthro5
Zu Herder als demjenigen, der die über Bildung zu entfaltende Einzigartigkeit der Person auf vielfache Weise hervorhebe und damit als der erste »Theoretiker […] eines spezifisch deutschen ›Bildungsbegriffs‹« (S. 119) zu bezeichnen ist, bemerkt Georg Bollenbeck relativierend: »Im Unterschied zur Theoriegeschichte kennt die historische Semantik keine großen Denker und Begründer, wohl aber wirkungsvolle Stichwortgeber.« G. B.: Bildung und Kultur, S. 71; zu Goethes kritischer Sicht auf zeitgenössische Individualitätskonzepte siehe Dirk Kemper: ›ineffabile‹. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne, München 2004; Stefan Keppler: Grenzen des Ich. Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen, Berlin, New York 2006.
248 pologische Universalie, die jedem Menschen einen Wesenskern zuschreibt, der im Wechselspiel von Innenwelt und Außenwelt nach Vollendung strebt, für obsolet erklärt. Nicht Entfaltung des Selbst, sondern dessen Beschränkung auf eine spezielle Fähigkeit ist das Postulat einer Moderne,6 die unter den Geboten der Arbeitsteilung, Effizienzsteigerung und Beschleunigung, nicht aber unter der Prämisse einer ›Persönlichkeitsbildung auf Umwegen‹ steht. In kritischer Beleuchtung reflektiert diesen Wandel ein Aphorismenpaar aus den Betrachtungen im Sinne der Wanderer, das die Eigentümlichkeit »unserer Zeit, die nichts reif werden läßt«, darin sieht, »daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeis’t«, und daß »die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen«, dazu führt, daß »alles veloziferisch« sei. (563, Nr. 39 u. 40) Mit dieser auf den italienischen Ausdruck velocifero für ›Schnellpost‹ verweisenden Wortbildung, die im Deutschen Assoziationen an Luzifer hervorruft, charakterisiert Goethe eine Zeit, in der die – wie er in einem Brief an Zelter vom 6. Juni 1825 anmerkt – »Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Communication [es] sind […], worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.« (WA IV/ 39, 216) Was die Aphorismen – keineswegs affirmativ »im Sinne der Wanderer« – pointieren und Goethe im zitierten Brief kulturkritisch anmerkt, entfalten die Wanderjahre in unterschiedlichen Szenarien. Sie verdeutlichen, daß die in den Lehrjahren noch von Wilhelm kompensatorisch in Anspruch genommene alteuropäische Adelskultur, welche die ganze Person durch ihre formvollendete Selbstdarstellung bestimmt (siehe FA 9, 657f.), ebenso obsolet geworden ist wie die ebenfalls einst von ihm reklamierte bürgerlich-empfindsame Wendung nach Innen, mit der er der als äußerlich denunzierten Repräsentationswelt des Adels die Gemütswerte ›echter‹ Emotionalität entgegenhält (siehe FA 9, 573f.). Statt dessen wird die berufliche Spezialisierung, die Wilhelm Meister in den Lehrjahren einst beklagte (siehe FA 9, 618), als zeitgemäß ausgewiesen. Es gilt das, was einer kann, nicht das, was einer ist. Über seine Kenntnisse und Fähigkeiten hat sich der Einzelne mit der Gesellschaft zu vermitteln – doch nicht wie 6
Mit guten Gründen beginnt das berühmteste und wirkungsvollste Buch der nationalökonomischen Literatur, Adam Smith’ An Inquiry into the Nature and Causes of the wealth of Nations, völlig abrupt mit der apodiktischen Feststellung: »Die Arbeitsteilung dürfte die produktiven Kräfte der Arbeit mehr als alles andere fördern und verbessern.« A. S.: Der Wohlstand der Nationen, S. 9.
249 Faust im zweiten Teil des Dramas als ein usurpatorisches Subjekt, das in seinem Selbstübersteigerungsdrang alles und jeden seinem Verfügungsanspruch zu unterwerfen sucht, sondern als ein Funktionsträger, der weiß, daß er in einer arbeitsteiligen Gesellschaft auf andere angewiesen ist.
3. Der Preis der Entsagung Allerdings hat die Anerkennung einer sich immer stärker ausdifferenzierenden modernen Gesellschaft, der man sich als Spezialist ein- und unterzuordnen hat, ihren Preis. So müssen die Protagonisten der Wanderjahre auf persönliches Glück verzichten, um sich statt dessen in die Zweckzusammenhänge der mobilen Leistungsgesellschaft zu integrieren. Mit dem Gebot der Selbstrücknahme und der Forderung nach Ein- und Unterordnung wird in gewisser Weise ein Gegenprogramm zur destruktiven Hybris Fausts entfaltet, der mit seinem in Wahn umschlagenden megalomanischen Projekt, »die Erde mit sich selbst [zu] versöhn[en]« (Faust II, V. 11541), sich und andere zerstört. Sein unermüdliches Streben, das aller Altersresignation ›entsagt‹, ist jedoch nicht nur Kennzeichen einer verblendeten Selbstüberhöhung, die die existentiellen Bedingtheiten des Daseins ignoriert, sondern zugleich auch Ausweis einer ungebrochenen Vitalität. Dagegen plädieren die Wanderjahre für »Entsagung«, indem sie jede hochgespannte Subjektivität als potentielle Gefährdung der Gemeinschaft zurückweisen. Entsagung bedeutet hier Beschränkung um den Preis des vollgültigen Lebens, Reduktion des Menschen auf seine Fähigkeiten. Besonders eklatant zeigt sich dies am Werdegang Wilhelm Meisters, der den epochalen gesellschaftlichen Wandel als Individualgeschichte widerspiegelt – gemäß der Maxime aus Goethes Nachlaß: »Die Menschen sind als Organe ihres Jahrhunderts anzusehen, die sich meist unbewußt bewegen.« (FA 13, 82)7 Hatte Wilhelm in den Lehrjahren zu7
Entsprechend hatte Goethe auch schon im Vorwort zu Dichtung und Wahrheit sein »halb poetische[s], halb historische[s]« Programm legitimiert und hervorgehoben, daß das scheinbar monolithisch entworfene Lebensbild nur in Verbindung mit dem politisch-historischen Horizont verstanden werden könne und daß das Individuelle und Private »in die weite Welt gerückt« werden müsse: »[D]ie ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs, die auf mich wie auf die ganze Masse der Gleichzeitigen den größten Einfluß gehabt, mußten vorzüglich beachtet werden. Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie,
250 nächst noch dem Ideal des uomo universale angehangen oder es zumindest als Rechtfertigungsformel genutzt, so mußte er bereits gegen Ende des Romans erfahren, daß Hoffnung auf Selbstentfaltung eine Illusion ist. Denn die Wirklichkeit erwies sich ihm nicht als ›wohlwollender‹ Lebensraum, in dem sich keimhafte Anlagen der Persönlichkeit zu entwickeln vermögen, vielmehr als eine Machtapparatur, durchzogen von Geboten und Verboten, bestimmt von Normen und Zwängen, die den Einzelnen von Außen so formieren, daß alle seine Absichten und Wünsche durchkreuzt werden.8 Auf dem »Blatt«, das Wilhelm in den Wanderjahren bei
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wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.« (FA 14, S. 13f.) Zu Beginn des 16. Buches von Dichtung und Wahrheit heißt es: »Unser physisches sowohl als geselliges Leben, Sitten, Gewohnheiten, Weltklugheit, Philosophie, Religion, ja so manches zufällige Ereignis, alles ruft uns zu daß wir entsagen sollen; so manches was uns innerlich eigenst angehört sollen wir nicht nach außen hervorbilden, was wir von außen zu Ergänzung unsres Wesens bedürfen, wird uns entzogen, dagegen aber so vieles aufgedrungen das uns so fremd als lästig ist. Man beraubt uns des mühsam Erworbenen, des freundlich Gestatteten, und ehe wir hierüber recht ins Klare sind finden wir uns genötigt unsere Persönlichkeit erst stückweis und dann völlig aufzugeben. Dabei ist es aber hergebracht daß man denjenigen nicht achtet der sich deshalb ungebärdig stellt, vielmehr soll man, je bittrer der Kelch ist, eine desto süßere Miene machen, damit ja der gelassene Zuschauer nicht durch irgend eine Grimasse beleidigt werde.« (FA 14, S. 729) Auch in einer Novelle aus den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten thematisiert Goethe die Entsagungsproblematik; die junge schöne Frau eines älteren Händlers, der sich auf Seereise befindet, lernt hier durch einen Prokurator, mit dem sie ein Verhältnis eingehen will, »daß außer der Neigung noch etwas in uns ist, das ihr das Gleichgewicht halten kann, daß wir fähig sind, jedem gewohnten Gut zu entsagen und selbst unsere heißesten Wünsche von uns zu entfernen.« (FA 9, S. 1038–1057, hier S. 1056) Ebenfalls thematisiert Goethe – nicht ohne Ironie – in der ›Ferdinand-Novelle‹ aus den Unterhaltungen das Problem einer Erziehung zur Entsagung »aus dem Stegreife.« (Siehe FA 9, S. 1059–1080, bes. S. 1079f.) Im Hinblick auf Goethes Roman entkonkretisiert Arthur Henkel den Entsagungsbegriff durch dessen Sakralisierung. So sieht er in der Haltung der Entsagung »weniger eine Reihe von bewußt vollzogenen Akten des Verzichts oder eine von außen gebietende Forderung als vielmehr eine höhere Weise des Selbstverständnisses, die freie Anerkennung der wahren Lage des gebildeten, seiner Stellung im Kosmos gewahrgewordenen Ich.« A. H.: Entsagung, S. 28f. Auf den biographischen Hintergrund von Goethes Konzept der
251 Nachodine/Susanne hinterläßt, formuliert er diese Einsicht als Resultat seines bisherigen Lebensganges: Jeder Mensch findet sich von den frühsten Momenten seines Lebens an, erst unbewußt, dann halb-, endlich ganz bewußt, immerfort bedingt, begrenzt in seiner Stellung. Weil aber niemand Zweck und Ziel seines Daseins kennt, vielmehr das Geheimnis desselben von höchster Hand verborgen wird, so tastet er nur, greift zu, läßt fahren, steht stille, bewegt sich, zaudert und übereilt sich, und auf wie mancherlei Weise denn alle Irrtümer entstehen, die uns verwirren. (709)
Bereits am Ende der Lehrjahre konnte Wilhelm in seinem Leben keine planende Vernunft mehr erkennen; die Zufälle und Widrigkeiten des Daseins vermochte er nicht im nachhinein als notwendige Durchgangsstufen einer linear verlaufenden Biographie umzuinterpretieren: »Er konnte nicht, was ihn umgab, weder ergreifen noch lassen, alles erinnerte ihn an alles, er übersah den ganzen Ring seines Lebens, nur lag er leider zerbrochen vor ihm, und schien sich auf ewig nicht schließen zu wollen.« (FA 9, 951f.) In den Wanderjahren wird nun das widersprüchliche Geschehen affektiver Turbulenzen und zwischenmenschlicher Konfusionen in die Binnengeschichten ›eingesperrt‹. Im Rahmengeschehen hingegen tritt an die Stelle subjektiven Wollens, das bei Wilhelm im Widerspiel von Selbstüberschätzung und Verzweiflung gegen Ende der Lehrjahre zu resignativen Schüben führt, die Dynamik sozialgeschichtlicher Prozesse. Sie verlangt vom Einzelnen, sich einzuordnen und anzupassen, sich nützlich zu machen und am Ethos des Gemeinwohls zu orientieren. Wer sich nicht fügt, wird ausgegrenzt. Das gilt nicht nur für die Unbotmäßigen im amerikanischen Siedlungsplan, die ›wegzuschaffen‹ sind, sondern auch für die Bedürfnisse und Sehnsüchte des Individuums, die es von sich abspalten und bewältigen muß. Entsprechend ist Wilhelms Integration in die Gesellschaft zugleich eine Geschichte des Verlustes. Sie fängt schon in den Lehrjahren an, hat dort ihren ersten Höhepunkt darin, daß Mignon in der Ordnungswelt der Turmgesellschaft keinen Platz findet; sie setzt sich dann fort in den Wanderjahren, in denen er Natalie nur noch schreiben darf, und kulminiert schließlich in Wilhelms Reise an den Lago Maggiore, wo er von der durch Mignon inkarnierten Sehnsucht Abschied nimmt, um sich danach der Ausbildung zum Beruf des Wundarztes zu widmen. Selbst seine Entsagung verweisen Melitta Gerhard: Ursache und Bedeutung von Goethes ›Entsagung‹, in: JbFDH (1981), S. 110–115; Mauro Ponzi: Zur Entstehung des Goetheschen Motivs der ›Entsagung‹, in: Zeitschrift für Germanistik 7 (1986), Heft 2, S. 150–159; Rolf Christian Zimmermann: Goethes Humanität und Fausts Apotheose. Zur Problematik der religiösen Dimension von Goethes Faust, in: GJb 115 (1998), S. 125–146, bes. S. 129.
252 Vaterrolle, die ihm der Abbé in den Lehrjahren so jubilatorisch zugesprochen hatte (siehe FA 9, 876), wird in den Wanderjahren negiert, indem Wilhelm schon zu deren Beginn seinen Sohn in der Pädagogischen Provinz abgibt. Er rettet ihn allerdings am Ende vor dem Tod durch Ertrinken – Zeichen dafür, daß seine Geschichte der Entsagung auch eine Geschichte ethischen Tuns ist. Doch nicht nur für Wilhelm treten an die Stelle individueller Lebensentwürfe autoritative Verfügungen. Während er einem seltsamen Wandergebot untersteht und einen Suchauftrag für Lenardo zu erledigen hat, werden die Jünglinge in der Pädagogischen Provinz Grußritualen und Arbeitsdisziplinierungen unterworfen; der Auswandererbund formiert seine Akteure mittels eines Gesangs, der jedes individuelle Wollen zugunsten vorgegebener Zwecke suspendiert und als Marschlied die Bewegungen normiert; im agrarkapitalistisch ausgerichteten und funktional organisierten Bezirk des Oheims sind die Tagesabläufe und der Wochenrhythmus genau geregelt – selbst der Sonntag dient nicht mehr der religiösen Erbauung, sondern lediglich der Wiederherstellung der Arbeitskraft. An die Stelle der Muße tritt Effizienz; die Zeit wird segmentiert, die Herstellungsprozesse werden homogenisiert; Irrtümer und Umwege verbietet die Arbeitsökonomie; ›bodenständiges‹ Verharren wird von Mobilitätsforderungen verurteilt; im Vordergrund steht nicht mehr der schöne, sondern der beschädigte Körper, der wieder arbeitstüchtig zu machen ist – entsprechend überführt die plastische Anatomie den ästhetischen Diskurs in den medizinischen; das rationelle Kalkül zersetzt Traditionsverbundenheit. All dies zeichnet die vom Roman in verschiedenen Szenarien entfaltete, durch Differenzierung und Spezialisierung charakterisierte arbeitsteilige Gesellschaft der Moderne aus. Deren Nützlichkeitsdogma nehmen die dargestellten neuen Vergemeinschaftungsformen auf, transformieren dabei allerdings die technokratische Ausrichtung der zeitgenössischen Industrialisierung, die sich an der Effizienz maschinendiktierter Arbeitsabläufe orientiert, in die überschaubare Dimension handwerklicher Zusammenschlüsse. So werden dem »überhand nehmenden Maschinenwesen« (713), das die überkommene Heimindustrie zu zerstören droht, in den Wanderjahren die funktionalen Kooperative des Auswandererbundes und der Binnenkolonisatoren entgegengesetzt, in denen die einzelnen Handwerker aufgrund ihrer jeweiligen Brauchbarkeit ›aufgehoben‹ sind. Auf diese Weise aber wird in den Wanderjahren – anders als in Faust II – den desaströsen Konsequenzen neuzeitlicher Entwicklungen, die personale, lokale und familiale Integritäten aufzulösen drohen, die Alternative einer gemeinschaftsorientierten Lebensform gegenübergestellt, die den
253 Einzelnen als »nötiges Glied« (556) einer Kette bestimmt, ihn damit als Subjekt zwar depotenziert, zugleich aber als Teil eines übergeordneten Ganzen aufwertet. Doch reproduziert sich der Einzelne nicht ohne Entsagung im Ganzen, und das Ganze setzt sich nicht ohne Zwang gegen den Einzelnen durch, wie z. B. Friedrichs Bericht über die Organisationsform der amerikanischen Siedlungsunternehmung zeigt, die von einem strikten Polizeiregime bestimmt ist, oder wie es Odoards Projekt der Binnenkolonisation verdeutlicht, das hierarchisch-autoritär strukturiert ist. Indem sich gemeinschaftsorientiertes Handeln als Kompensation von individuellen Leiderfahrungen erweist, hat es auch eine psychische Grundierung – Wilhelms Fischerknabenerlebnis, Lenardos Nachodine-Trauma und Odoards Ehezerwürfnis sprechen eine deutliche Sprache. Die seelischen Verletzungen, die sie erfahren haben, werden durch Reduktion der Innenwelt zugunsten der Außenwelt abgewiesen – wenn auch nicht überwunden. Der Epochenumbruch, der Totalität nicht mehr auf das Individuum, sondern auf Zweckbündnisse bezieht, wird so auch hinsichtlich seiner psychischen Leidensdimension transparent. Doch bei allen figurenperspektivischen Brechungen, die die Gemeinschaftskonzeptionen der Auswanderer, der Binnenkolonisatoren und der Pädagogischen Provinz charakterisieren – und auch bei allem ironischen Vorbehalt Goethes, den man von manchen der dargestellten Überspanntheiten und Skurrilitäten ablesen kann: als Sozialräume kalkulierter Funktionalität reflektieren sie reaktiv die desintegrativen Energien eines sozioökonomischen Wandels, der alle eingespielten Loyalitäts- und Abhängigkeitsbeziehungen suspendiert. Gerade bei den Spinnern und Webern im Gebirge wird deutlich, wie der technische Wandel die Menschen des beginnenden Industriezeitalters zwingt, ihren vertrauten Lebensraum mit seinen familialen und religiösen Bindungen zu verlassen, um in eine neue, unbekannte Welt einzutreten, der sie bloß noch über ihre Funktion zugeordnet sind. In ihr formieren nicht mehr Traditionen und Glaubensgewißheiten, Blutsbande und Gewohnheiten, Machtstrukturen und Gehorsamsgebote den sozialen Zusammenhalt, sondern die von den Aufgaben her bestimmten funktionalen Ordnungen, die den Einzelnen zum Faktor des gemeinschaftlichen Zwecks machen. In diese neue Arbeitswelt, die sich durch Spezialisierung, Hierarchisierung und Produktorientierung auszeichnet, wird man nicht hineingeboren, sondern aufgrund bestimmter Fähigkeiten und Kenntnisse integriert. »Niemand tritt in unsern Kreis, als wer gewisse Talente aufzuweisen hat, die zum Nutzen oder Vergnügen einer jeden Gesellschaft dienen würden.« (632) Heimat ist nicht da, wo man aufgewachsen ist, sondern da, wo man
254 eine Aufgabe erfüllt: »Wo ich nütze, ist mein Vaterland!« (667). So werden Nationalität, Religionszugehörigkeit und Standeszugehörigkeit zugunsten eines Leistungsbegriffes verabschiedet, der jede geschichtliche Dimension verliert. Die vier im Roman dargestellten gesellschaftlichen Räume der utilitaristischen Moderne: der agrarkapitalistisch organisierte Bezirk des Oheims, die entindividualisierende Erziehungswelt der Pädagogischen Provinz, das durch Leistung und Disziplin bestimmte amerikanische Siedlungskonzept Lenardos und Odoards Entwurf einer hierarchischen, arbeitsteiligen Binnenkolonisation, haben freilich nicht – wie in der älteren Forschung häufig angenommen – den Charakter von Sozialutopien mit einem von Goethe ernst gemeinten Verwirklichungsanspruch, vielmehr reflektieren sie auf unterschiedliche Weise Tendenzen einer Zeit, die alle tradierten Sozialverbände auflöst. Wilhelm Voßkamp spricht in diesem Zusammenhang von einer »distanzierte[n] Darstellung unterschiedlicher sozialutopischer Entwürfe,«9 die – so wäre hinzuzufügen – den Epochenumbruch partiell im integrativen Gegenentwurf spiegeln, indem sie zwar mit ihren Geboten der Funktionalisierung und arbeitsteiligen Spezialisierung zentrale Elemente der Moderne aufgreifen, dabei jedoch zugleich den Verlust überkommener Sicherheiten im Handeln und Erleben dadurch zu vermeiden suchen, daß sie an deren Stelle die Gemeinschaft handwerklicher Bünde setzen. So haben die Auswanderer einerseits zwar ihre lokalen Traditionen, eingespielten Verhaltensweisen und überschaubaren Gemeinschaftsordnungen aufzugeben, andererseits werden sie jedoch Teil einer rational geplanten, funktional gegliederten, administrativ organisierten und totalitär überwachten Gruppierung, in die sie nicht allmählich hineinwachsen, sondern nach Maßgabe einer instrumentellen Rationalität eingefügt werden. Kein kollektives Gedächtnis, das die Vergangenheit mit der Gegenwart zusammenschließt, stiftet Einheit, kein tradiertes Brauchtum macht sie erfahrbar, und keine religiöse Überzeugung sichert übergeordneten Sinn. Auch organisieren nicht persönliche Beziehungen, sondern vorgegebene Strukturen den Zusammenhalt der Menschen, bestimmt von den Zwekken einer Produktion, der sich der Einzelne kraft seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten zuzuordnen hat. Konsequent werden von daher in den Wanderjahren ›Entfaltungsgeschichten‹ durch ›Entsagungsgeschichten‹ ersetzt, in denen gezeigt wird, wie die Bedürfnisse und Ansprüche des Einzelnen zugunsten der gesellschaftlichen Forderung nach Nützlichkeit zurückzu9
Wilhelm Voßkamp: Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 241.
255 nehmen sind. Der programmatische Appell Lenardos lautet: »Trachte jeder überall sich und andern zu nutzen.« (667) Das aber bedeutet die Ausgrenzung jener Emotionalität, die der Roman in seinen novellistischen Passagen darstellt. Sie enthalten die ›Verwirrungen des Herzens‹, welche als »Sand im Getriebe«10 der Brauchbarkeit wirken könnten. Sie sind von der Erzählgegenwart durch die Konstruktion narrativer Erinnerungsräume und damit durch Ausschluß aus dem epischen Kontinuum des Entsagungsgeschehens abgegrenzt. Die Welt der Affekte und zwischenmenschlichen Probleme ist dem pragmatischen Kontext der Erzählwirklichkeit lediglich in Form von Vorgeschichten der Entsagenden zugeordnet. So fungieren die Erzähleinlagen in den Wanderjahren gleichsam als narratives ›Mausoleum‹ einer Subjektivität, die sich noch nicht den funktionalen Gesetzmäßigkeiten fügt, sondern von Affekten, Zwängen, Geschlechterkonflikten, Lebenskrisen und Normbrüchen bestimmt ist. Im Spannungsfeld zwischen der Rationalität des Modernitätsgeschehens und der Emotionalität der novellenartigen Passagen entfaltet sich auf diese Weise ein Menschenbild, das die verschiedenen Dimensionen der Existenz nicht mehr zur Deckung zu bringen vermag. Entweder werden sie wie im Falle Wilhelms, Lenardos und Odoards, die ihre einstigen emotionalen Verwirrungen durch den Pragmatismus nützlicher Aufgaben kompensieren oder wenigstens neutralisieren, in eine zeitliche Abfolge gebracht, oder sie werden – wie in den Novellen Die pilgernde Törin und Wer ist der Verräter – als literarische Einlagen gleichsam ins ›Kästchen‹ eingeschlossen und damit als bloße Erinnerung an eine Subjektivität, die sich rationaler Kontrolle entzieht, narrativ gebannt. Doch die Wanderjahre reflektieren das Gebot der Entsagung nicht nur explizit auf der Ebene der Rahmenhandlung und implizit auf der Ebene ihrer novellistischen Individualgeschichten, indem diese teleologisch auf die Überwindung der Subjektivität hinauslaufen und so das Andere der Vernunft zur Ordnung strikter Erzählformen rufen; vielmehr ist auch die formale Gesamtorganisation des Romans durch ›Entsagung‹ gekennzeichnet. An die Stelle eines souverän über das Erzählte verfügenden auktorialen Erzählers tritt ein Redaktor, der einen Erzählzusammenhang aus archivierten Texten nurmehr mühsam zu rekonstruieren sucht.11 So wird mit der insze10 11
Henriette Herwig: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 17. So spricht Ehrhard Bahr von einer »Poetik der Entsagung«, indem er darauf hinweist, daß der »allwissende auktoriale Erzähler der Lehrjahre […] durch den fiktiven ›Redakteur‹ der Wanderjahre ersetzt« wird. E. B.: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden, S. 379. Allerdings ist anzumerken, daß der Redaktor nicht bewußt auf erzählerisches Integrationsvermögen verzichtet, sondern
256 nierten Abdankung von Auktorialität die Instanz des Erzählers als Einheitsgarant der erzählten Welt suspendiert. Seine Funktion übernimmt die Redaktorfigur, die die Geschichten subjektiver Befindlichkeiten und objektiver Gegebenheiten nicht mehr zu einem homogenen Werk formt, sondern unterschiedliche Texte mehrerer (fiktiver) ›Erzeuger‹ lediglich lektoriert, arrangiert und stilisiert. Dabei wird – anders als in den Lehrjahren – die Fülle der diskursiv verfaßten Szenarien nicht in der narrativen Linearität einer Individualgeschichte exponiert. Statt dessen entfaltet der Roman mittels unterschiedlicher Textsorten, die von Novellen, Tagebüchern, Briefen und Sachprosa bis hin zu Aphorismen, Schwänken, Märchen und Gedichten reichen, Wirklichkeitsräume, die sich wechselseitig reflektieren.
4. Kunstkonzeption und Autorintention Goethe gestaltet in seinen Wanderjahren den Übergangsprozeß von der traditionalen zur modernen Gesellschaft auf vielfältige Weise. Er thematisiert nicht nur die Aufhebung von Individualität in Kollektivität und die Überführung von dysfunktionaler Emotionalität in funktionale Rationalität, sondern verdeutlicht überdies auch einen Paradigmenwechsel im Bereich der Kunst. Anders als in der klassisch-romantischen Epoche bedeutet sie in der vom Roman diagnostizierten Moderne nicht mehr die Objektivierung des Subjektiven, gilt sie nicht mehr als Manifestation eines einzigartigen Künstlers, der gleich der schaffenden Natur ein Werk aus sich hervorbringt, auch repräsentiert sie nicht mehr die Idee des Göttlichen in der Gestaltung des Schönen, sondern sie wird dem Handwerk zuund untergeordnet. Dies tritt besonders deutlich zutage, wenn Odoard ausführt, daß an die Stelle der durch Autonomie bestimmten »freien Kunst« (694) die durch Heteronomie bestimmte »strenge Kunst« (695), d. h. für ihn: das Handwerk, zu treten habe. Wie sehr die Kunst in der modernen Welt die sie einstmals programmatisch auszeichnende »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«12 verloren hat, demonstrieren die Wanderjahre aus verschiedenen Blickwinkeln. So dient sie unter dem Nützlichkeitsdiktat in Form des Gesangs als gemeinschaftstiftendes Integrationsmedium, als
12
Goethe ihm dieses nicht zukommen läßt. Statt von einer »Poetik der Entsagung« wäre im Hinblick auf den Redaktor folglich eher von einer ›Poetik des Versagens‹ zu sprechen. Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band 5: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, S. 232–620, hier S. 307.
257 Mittel der Didaktik und der Rhythmisierung von Arbeitsabläufen sowie der Kanalisierung ›schädlicher‹ Affekte. In Form der Bildhauerkunst fungiert sie als Instrument für die Einübung in Teamarbeit, für die Herstellung anatomischer Präparate und als Stimulans repräsentativer Erbaulichkeit, damit »die ganze Volksgemeine in und an ihren Werken sich veredelt fühle« (523); und in ihrer ästhetischen Schwundstufe ist sie bloßes Dekor, auf »daß das Handwerk nicht abgeschmackt werde.« (514) Besonders eklatant manifestiert sich die Dominanz eines Pragmatismus, der alle Dimensionen menschlichen Daseins durchdringt, auch im Feld des Religiösen. War der christliche Glaube bislang Ausdruck einer metaphysischen Sinngewißheit, die alles Irdische im Zeichen himmlischen Heils relativierte, so wird er bei Joseph dem Zweiten als auratisches Reservoir der Selbstinszenierung und in der Pädagogischen Provinz als artifizielles Konstrukt der Ehrfurchtslehre instrumentalisiert. Und selbst Makarie, die auf den ersten Blick als Figuration kosmologischer Harmonie-Vorstellungen erscheint, agiert unter den Geboten der Nützlichkeit als stabilisierende Psycho- und Sozialtherapeutin. Nun wäre es freilich ein Fehlschluß, die vom Roman über redaktionelle Bearbeitungen und in figurenperspektivischen Brechungen entfalteten Szenarien als Manifestation Goethescher ›Weisheitslehren‹ zu verstehen.13 Denn wenn sich in den Wanderjahren angesichts einer »Zeit der Einseitigkeiten« (295) das neuhumanistische Postulat der Selbstentfaltung als bloßes Phantasma entpuppt und das Paradigma der klassizistischen Ästhetik im Funktionszusammenhang der Moderne obsolet geworden ist, so heißt das ja nicht, daß Goethe diese Tendenzen begrüßt – vielmehr diagnostiziert er einen epochalen Umbruch. Wie früh Goethe ihn erkannte, zeigt eine Passage, die er zu Beginn seiner Italienreise nach der Besichtigung der Werftanlagen Venedigs am 5. Oktober 1786 in seinem Tagebuch notierte: Auf diese Reise hoff ich will ich mein Gemüth über die schönen Künste beruhigen, ihr heilig Bild mir recht in die Seele prägen und zum stillen Genuß bewahren. Dann aber mich zu den Handwerckern wenden, und wenn ich zurückkomme, Chymie und Mechanik studiren. Denn die Zeit des Schönen ist vorüber, nur die Noth und das strenge Bedürfniß erfordern unsre Tage. (WA III/1, 266)
Die Feststellung, daß die »Zeit des Schönen« vorüber sei, hat Goethe nicht in der späteren Verarbeitung seiner Notate zur Italienischen Reise aufgenom13
Zu den affirmativen Lesarten der Wanderjahre siehe Arthur Henkel: Entsagung, S. 142–165; Erich Trunz: Kommentar HA 8, S. 527–554; Hans Joachim Schrimpf: Das Weltbild des späten Goethe, S. 251–324.
258 men; gleichwohl bleibt sie ihm zeitlebens als zeitgeschichtliche Diagnose präsent, welche die später von Hegel und Heine aufgestellte These vom ›Ende der Kunst‹ vorwegnimmt. In seinem Altersroman gestaltet er dann die sozio-ökonomischen Umbrüche, die zur Marginalisierung der Kunst führen. Damit aber reflektieren die Wanderjahre auf eine viel fundamentalere Weise das Verhältnis von geschichtlichen Transformationsprozessen und künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten als die Ausführungen von Heine und Hegel. Für Heine galt es, sich von der für ihn übermächtigen Gestalt Goethes abzugrenzen, indem er ihn mit einer wirklichkeitsflüchtigen ›Kunstperiode‹ verband, der er artistische Selbstbezüglichkeit unterstellte, wo es doch auf die wirklichkeitsverbessernde Kraft der Literatur ankäme.14 Doch angesichts der Seichtheit vieler zeitgenössischer Tendenzschriftsteller verteidigt Heine später wiederum das Postulat der Kunstautonomie, um dann allerdings gegen Ende seines Lebens in poetologischen Gedichten wie dem Apollogott15 den Kunstbetrieb schließlich wieder resignativ dem bloßen Amüsement zuzuweisen.16 Während Heines variantenreiches Verhältnis zum Stellenwert der Kunst biographisch gebrochen bleibt, konstatiert Hegel ganz apodiktisch, die Kunst sei im geschichtlichen Entwicklungsgang des ›Geistes‹ »nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.« Denn »da sich in ihr nur die sinnliche Erscheinung der Idee«17 manifestiere, die Philosophie diese aber 14
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So schreibt Heine in der Romantischen Schule: »Indem die Goetheaner von solcher Ansicht [der Kunstautonomie] ausgehen, betrachten sie die Kunst als eine unabhängige zweite Welt, die sie so hoch stellen, daß alles Treiben der Menschen, ihre Religion und ihre Moral, wechselnd und wandelbar, unter ihr hin sich bewegt. Ich kann aber dieser Ansicht nicht unbedingt huldigen; die Goetheaner ließen sich dadurch verleiten die Kunst selbst als das Höchste zu proklamieren, und von den Ansprüchen jener ersten wirklichen Welt, welcher doch der Vorrang gebührt, sich abzuwenden.« H. H.: Die Romantische Schule, in: H. H.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Band 8.1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule, hrsg. und bearb. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1979, S. 121–249, hier S. 152f. Heine: Der Apollogott, in: H. H.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Band 3.1, bearb. von Frauke Barteld und Alberto Destro, Hamburg 1992, S. 32–36. Zu Einzelheiten siehe Jochen Schmidt: Heines Geschichtskonstruktion, das »Ende der Kunstperiode« und das Ende der Kunst, in: ZfdPh 127 (2008), S. 499–515. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Band 13, S. 25. Zu Hegels geschichtsphilosophischer Perspektivierung der so bei ihm nicht zu findenden Rede vom ›Ende der Kunst‹ siehe Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt a. M. 2002.
259 auf den Begriff zu bringen wisse, sei die Kunst bloß eine überwundene Zwischenetappe der Repräsentation des ›Absoluten‹. Ganz anders hingegen diagnostiziert Goethe in seinem Roman das ›Ende der Kunst‹ vor dem Hintergrund des allwaltenden Utilitarismus einer Moderne, die Autonomie nur als Moment von Heteronomie zuläßt. Die in den Wanderjahren dargestellte Funktionalisierung der Kunst widerspricht indessen Goethes eigenem Kunstverständnis. Er wußte zwar um die Marginalisierung der Kunst angesichts der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse, zugleich aber blieb für ihn als Person die humanistisch-ästhetische Kultur zeitlebens bestimmender Maßstab seines Daseins, auch wenn er sich zunehmend naturwissenschaftlichen Problemen widmete. Vor allem in der Kunsttheorie hielt Goethe stets an seiner in der Einleitung in die Propyläen (1798) formulierten Forderung fest, die bildenden Künste sollten sich »so wenig als möglich vom klassischen Boden entfernen.« (FA 18, 458) Doch auch wenn Goethe – im Wissen um die eigene Unzeitgemäßheit –18 auf dem Gebiet der bildenden Kunst an seiner idealistischen Ästhetik festhielt, erweist er sich auf dem Gebiet der Literatur gerade mit seiner nüchternen Diagnose der ›kunstfeindlichen‹ Moderne in den Wanderjahren als ein ›avantgardistischer‹ Autor, der als Begründer des modernen Romans gelten kann, wie Hermann Broch treffend bemerkt.19 Was hinsichtlich der auf der Handlungsebene der Wanderjahre entfalteten Kunstkonzeption evident ist, insofern diese ja besonders prononciert von derjenigen Goethes abweicht, läßt sich generalisieren: Goethe ist zwar der Urheber seines Romans; er vertritt jedoch nicht selbst die darin verkündeten Anschauungen und Praktiken, sondern gestaltet sie unter 18
19
Goethe schreibt angesichts der alles ergreifenden Beschleunigung, die »leichtfassende praktische Menschen« verlange, am 6. Juni 1825 an seinen langjährigen Vertrauten Carl Friedrich Zelter: »Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten seyn einer Epoche die sobald nicht wiederkehrt.« (WA IV/39, S. 216) Siehe Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart, in: H. B.: Schriften zur Literatur I: Kritik, Kommentierte Werkausgabe, Band 9.1, hrsg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1975, S. 63–91; Broch attestiert den Wanderjahren – wie auch dem Faust II – eine »vorauseilende Realität«, indem er den Roman als »Totalitätskunstwerk« (S. 65) zum Vorläufer von Joyces Ulysses erklärt: »Und es ist jene Totalität des Daseins, die ihn [Goethe] zu ganz neuen Ausdrucksformen drängte, und die in den Wanderjahren den Grundstein der neuen Dichtung, des neuen Romans, legte. Aber es ist auch die ihr adäquate Totalität der Form, d. h. die völlige Beherrschung sämtlicher ästhetischer Ausdrucksmittel, untergeordnet der Universalität des Inhalts, wie sie im Faust alle Formen des Theatralischen sprengte.« (S. 87)
260 dem Vorzeichen einer literarischen Zeitdiagnose. Daher verweigert sich sein Werk den etablierten Wertmaßstäben einer Zivilisationskritik, ebenso wie denen des entgegengesetzten Fortschrittsdenkens, indem es nicht die anthropologischen Dimensionen der Entfremdung bzw. der Vervollkommnung zum Gradmesser menschlichen Daseins erhebt. So werden die analysierten und prognostizierten mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen, kulturellen Transformationen und ökonomischen Veränderungen weder verurteilt noch befürwortet, sondern im multiperspektivisch-offenen Textarrangement auf komplexe Weise exponiert. Dies geschieht nicht nur, indem widersprüchliche Aussagen und divergierende Positionen miteinander konfrontiert werden, sondern auch dadurch, daß der Handlungszusammenhang der Wanderjahre verdeutlicht, wie sich mit der Instrumentalisierung des Individuums vielfache Verlusterfahrungen und Traumatisierungen verbinden. Doch offeriert Goethe mit seiner poetischen Reflexion der geschichtlichen Realität keine Vorschläge zur Lösung der Probleme, die der Epochenumbruch mit sich bringt. Er begnügt sich vielmehr damit, überhaupt erst die Problemfelder kenntlich zu machen – gemäß der poetologischen Maxime aus Makariens Archiv: »Es gibt Steine des Anstoßes über die ein jeder Wanderer stolpern muß. Der Poet aber deutet auf die Stelle hin.« (746) Das ›poetische Hindeuten‹ geschieht gerade auch mittels ironischer Vorbehalte, die den Leser nicht zu fragloser Identifikation mit dem Dargestellten einladen, sondern zu kritischem Nachdenken nötigen. Auch wenn sich die Wanderjahre in ihrer programmatischen Sinnschicht gegen den emphatischen Selbstverwirklichungsanspruch des Individuums wenden und statt dessen die zeitgeschichtlich vermittelten Implikationen sozialer Existenz ins Zentrum rücken, erschöpfen sie sich keineswegs in solcher Affirmation des Nützlichkeitsdenkens. Sie lassen sich mithin nicht auf das explizit in ihnen gehaltene Plädoyer für Rationalisierung, Spezialisierung und Domestizierung reduzieren, aber auch nicht auf ein implizites, durch ironische Distanzierung markiertes Plädoyer dagegen. Es geht Goethe mit den Wanderjahren weder darum, dem Prozeß der Moderne ›den Prozeß zu machen‹, noch darum, sich ihm einfach anzuschließen. Entsprechend wird es in den Betrachtungen im Sinne der Wanderer einerseits zwar als Gefahr angesehen, blindlings »im Zeitstrom mitzuschwimmen« (562), andererseits aber auch der Einsicht Rechnung getragen, daß »die Dampfmaschinen [nicht] zu dämpfen sind.« (563) Dies gibt Goethes eigene Intention als Autor der Wanderjahre wieder: In einem eigentümlichen Widerspiel von Distanz und Akzeptanz verdeutlicht er Verschiebungen, Umkodierungen und Substitutionsprozesse innerhalb der verschiedenen
261 Diskursfelder von Kunst, Religion, Medizin, Ökonomie und Pädagogik, die sich zu einem Gefüge von Machtdispositiven formieren, welche die gesellschaftlichen Interaktionen steuern. Der späte Goethe weiß, daß im Leben zwar manche Probleme gelöst werden können, nicht aber durch Dichtung; sie hat lediglich die Probleme kenntlich zu machen. Und dazu gehört auch, daß alle fiktional präsentierten Problemlösungen zugleich ihre ironische Relativierung mitliefern. Entsprechend schreibt er gegen Ende seines Lebens an Graf Caspar von Sternberg am 19. September 1826: Der Mensch gesteht überall Probleme zu und kann doch keines ruhen und liegen lassen; und dieß ist auch ganz recht, denn sonst würde die Forschung aufhören; aber mit dem Positiven [gemeint ist die definitive Problemlösung] muß man es nicht so ernsthaft nehmen, sondern sich durch Ironie darüber erheben und ihm dadurch die Eigenschaft des Problems erhalten; denn sonst wird man bey jedem geschichtlichen Rückblick confus und ärgerlich über sich selbst. (WA IV/41, 169)
Indem Goethe die im Roman gestalteten Modelle sozialen Verhaltens auch in ihren Überspitzungen und ›Einseitigkeiten‹ markiert, signalisiert er, daß sie letztlich keine erfolgversprechenden Reaktionen auf geschichtliche Verwerfungen sind, sondern gerade in ihrer Fragwürdigkeit die Frage bewahren, auf die sie vorgeben, eine Antwort zu sein. Die Frage aber lautet, wie sich für den Einzelnen, für den die Tradition ihre Bindekraft verloren hat, neue Formen der sozialen Integration finden lassen. Daß dies nur um den Preis der ›Entsagung‹ möglich ist, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Zivilisationsprozeß einer Moderne, die Nützlichkeit zur obersten Maxime erhebt. In Abwandlung von Hegels berühmtem Satz aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie (1821), nach der es die Philosophie sei, die »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«,20 könnte man mit gewissem Recht sagen, daß Goethes Wanderjahre ›ihre Zeit in Szenarien erfassen‹ – doch wäre zu präzisieren, daß es sich nicht um eine schlichte Mimesis von Vorgegebenem handelt, sondern um ein Spiel mit Problemlösungsangeboten, die im Modus der Ironie das Problem erfahren lassen, das sie zu lösen beanspruchen.
20
Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Werke in 20 Bänden, Band 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 26.
262
X. Bibliographie
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2. Verzeichnis der Abkürzungen DVjs GJb GRM JbDSG JbFDH JbWGV PMLA ZfdPh
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Goethe-Jahrbuch (1880–1913, 1972ff.) Germanisch-Romanische Monatsschrift Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins Publications of the Modern Language Association of America Zeitschrift für deutsche Philologie
263
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279
XI. Personenregister
Adler, Jeremy 89 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 150 Anstett, Jean-Jacques 152 Aristoteles 71 Armstrong, Bruce 48 Arndt, Karl John Richard 218 Assmann, Aleida 64 Assmann, Jan 69, 215 Augustinus, Aurelius 61 Aurnhammer, Achim 47 Azzouni, Safia 87, 89, 133 Baader, Franz von 61 Bahr, Ehrhard 20, 27, 143, 177, 181, 238, 255 Barkhoff, Jürgen 61, 88 Barteld, Frauke 258 Barthes, Roland 20 Baßler, Moritz 128, 131 Bastian, Hans-Jürgen 32, 35 Bauer, Georg-Karl 142 Baumgartner, Hans Michael 213 Bauschinger, Sigrid 174 Beck, Adolf 61 Beckerath, Erwin von 31 Behler, Ernst 152 Behre, Maria 108 Beierwaltes, Werner 150 Beller, Walter 220 Benesch, Kurt 150 Benjamin, Walter 235 Bente, Hermann 31 Benthien, Claudia 131 Berger, Peter L. 59 Bersier, Gabrielle 33, 35 Bertheau, Friedrich 183 Bertuch, Friedrich Justin 192
Beutler, Ernst 61, 174 Biedermann, Flodoard Freiherr von 5 Birk, Manfred 63 Blessin, Stefan 198, 201 Boccaccio, Giovanni 22 Bodamer, Joachim 145 Boerner, Peter 174 Böhme, Gernot 199 Böhme, Hartmut 114, 158, 199 Boisserée, Sulpiz 6, 7, 26, 151 Bollenbeck, Georg 14, 213, 247 Bolswert, Schelte Adams 232 Bonwetsch, Gottlieb Nathanael 151 Borchmeyer, Dieter 2, 203 Börne, Ludwig 124 Bosse, Heinrich 205 Bourdon, Sébastien 33 Boyle, Nicholas 92 Brandes, Peter 35 Bratranek, Frantisek T. 108 Braun, Rudolf 196 Braunfels, Wolfgang 38 Brecht, Christoph 128 Brednow, Walter 108 Brinkmann, Carl 31 Brinkmann, Richard 46 Brion, Friederike 108, 109 Broch, Hermann 259 Brüggemann, Diethelm 141, 150 Brunner, Otto 31, 213 Buch, Christian Leopold von 81, 83 Buhr, Gerhard 178 Bunzel, Wolfgang 6, 169 Campanella, Tommaso 229 Campetti, Francesco 87
280 Carl August, Herzog zu SachsenWeimar-Eisenach 52, 92, 119, 127, 130, 135 Catholy, Eckehard 15 Cicero, Marcus Tullius 61 Conze, Werner 196, 213, 222 Corngold, Stanley A. 143 Cotta, Johann Friedrich 5, 6, 7, 23, 25, 42, 161, 168, 169 Curschmann, Michael 143 Dahlhaus, Carl 67 Dahnke, Hans-Dietrich 62 Degering, Thomas 55, 59, 104, 123, 125, 140, 143, 144, 208 Deile, Gotthold 61 Derré, Jean-René 80 Destro, Alberto 258 Detering, Heinrich 188 Dewitz, Hans-Georg 7, 224 Diderot, Denis 232 Didi-Huberman, Georges 130 Düring, Monika von 130 Eckermann, Johann Peter 7, 16, 56, 81, 87, 147, 231, 232, 240 Eckhart von Hochheim »Meister Eckhart« 61 Egger, Irmgard 122, 129, 130 Egner, Erich 31 Eigler, Friederike 29 Eissler, Kurt R. 120 Elias, Norbert 223 Elsaghe, Yahya A. 122 Empedokles 150 Emrich, Wilhelm 35 Engelhardt, Dietrich von 157 Engelhardt, Wolf von 82 Engels, Friedrich 197 Enke, Ulrike 128 Eppers, Arne 173, 226, 235 Erlemann, Hildegard 34 Faivre, Antoine 150 Fambach, Oscar 25, 215 Feise, Ernst 1 Fellenberg, Philipp Emanuel von 17, 52, 53, 69
Femmel, Gerhard 92 Fichte, Johann Gottlieb 222 Finck, Adrien 174 Fink, Gonthier-Louis 19, 47, 52, 145, 201, 224 Flashar, Hellmut 71 Förster, Wilhelm 146 Franklin, Benjamin 17, 221 Franz, ErichFranz, Erich 57 Friedenthal, Richard 26 Fuchs, Albert 143, 145 Gall, Heinrich Ludwig Lambert 17, 174 Gamm, Hans-Jochen 62 Gaßner, Johann Joseph 88 Gawoll, Hans-Jürgen 115 Gerhard, Melitta 251 Gerhard, Ute 21 Geulen, Eva 258 Giddens, Anthony 11 Gidion, Heidi 26 Giesen, Christiane 80 Gilg, André 180 Gille, Klaus F. 6, 177, 202 Godard, Roger 145 Göttling, Carl Wilhelm 171, 178 Gréciano, Gertrud 174 Gregorovius, Ferdinand 202 Grenzmann, Ludger 146 Grimm, Jacob 105 Grimm, Wilhelm 105 Grimminger, Rolf 238 Gröger, Helmut 131 Gruber, Bettina 145 Gruhn, Wilfried 70 Grumach, Ernst 151 Guggisberg, Kurt 53 Gumbrecht, Hans Ulrich 9 Gundolf, Friedrich 26 Guthke, Karl Siegfried 151 Hackert, Jakob Philipp 135 Hahn, Alois 12 Halbwachs, Maurice 215 Hamacher, Bernd 188 Hartung, Günter 219 Hauffe, Friederike 145 Haupt, Gertrud 32
281 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 79, 80, 111, 136, 158, 197, 216, 235, 258, 261 Heim, Johann Ludwig 82 Heine, Heinrich 79, 80, 241, 258 Heinekamp, Albert 150 Heinz, Jutta 55, 182 Hellmann, Winfried 15 Henkel, Arthur 46, 116, 117, 142, 143, 204, 250, 257 Herder, Johann Gottfried 247 Herwig, Henriette 13, 14, 37, 39, 47, 116, 117, 122, 157, 158, 161, 186, 224, 228, 255 Herwig, Wolfgang 5, 151 Herzog, Reinhart 8 Hesse, Hermann 23 Hey’l, Bettina 70 Himmel, Hellmuth 1 Hirth, Friedrich 241 Hofmann, August Wilhelm von 158 Hofmann, Peter 62 Hölscher-Lohmeyer, Dorothea 108 Holtermann, Michael 88 Horstmann, Rolf-Peter 197 Horwath, Peter 186 Huerkamp, Claudia 117 Hufeland, Christoph Wilhelm 123, 154 Humboldt, Alexander von 81, 83, 84, 174 Humboldt, Wilhelm von 63, 70, 75, 84, 173, 213 Hunfeld, Barbara 139 Iken, Carl Jakob Ludwig 106 Immermann, Karl 7 Irmscher, Hans Dietrich 140 Istria, Capo d' 53, 69 Jacobi, Friedrich Heinrich 87 Jäger, Hans-Wolf 194 Jäger, Michael 10 Jamme, Christoph 115 Jannidis, Fotis 14, 20 Jantz, Harold 61 Jens, Inge 217 Jeßing, Benedikt 19, 20, 178, 180, 189 Jolles, Charlotte 27 Joyce, James 259
Kaiser, Gerhard 178 Kaiser, Gerhard R. 192 Kant, Immanuel 88, 140, 256 Karl Bernhard, Herzog zu SachsenWeimar-Eisenach 17, 173, 174 Karnick, Manfred 18, 25, 116 Käser, Rudolf 123 Kasten, Hans 117 Kaster, Gabriela 38 Kästner, Hannes 146 Kayser, Johann Christoph 204 Kayßler, Adalbert Bartholomäus 51 Keller, Werner 63 Kemper, Dirk 247 Keppler, Stefan 247 Kerner, Justinus Andreas Christian 145 Keudell, Elise von 32 Keyßler, Johann Georg 91 Kiefer, Klaus H. 88 Kim, Hee-Ju 2 Kirschbaum, Engelbert 38 Kittler, Friedrich Adolf 178 Klausnitzer, Ralf 144 Kleindienst, Heike 128, 131 Klettenberg, Susanna Katharina von 151 Klinckowstroem, Carl von 87 Klingenberg, Anneliese 15, 37, 47, 59, 70, 174, 181, 236 Klöden, Karl Friedrich von 84 Klünker, Wolf-Ulrich 61, 68 Knebel, Carl Ludwig von 2, 107 Kniep, Christoph Heinrich 93 Kohlmeyer, Otto 61, 70 Konersmann, Ralf 108 Körner, Christian Gottfried 2 Korsak, Julian 9 Koselleck, Reinhart 8, 9, 64, 213 Kraus, Georg Melchior 91 Kriedte, Peter 195 Kriegleder, Wynfrid 174 Krüger-Fürhoff, Irmela Marei 133 Krummacher, Friedrich Wilhelm 183 Kuhn, Dorothea 5, 108 Lange, Victor 174 Lauer, Gerhard 20 Lavater, Johann Kaspar 88, 150 Lehnert-Rodiek, Gertrud 161
282 Leibniz, Gottfried Wilhelm 142 Leitzmann, Albert 64 Lessing, Gotthold Ephraim 124 Lienhard, Friedrich 145 Link, Jürgen 21 Link-Heer, Ursula 9 Loder, Justus Christian 127 Loeb, Ernst 143 Löhneysen, Wolfgang Freiherr von 77 Lory, Gabriel d. J. 93 Lübbe, Hermann 51, 64 Lubkoll, Christine 67 Luckmann, Thomas 12, 54, 59 Luden, Heinrich 173 Luhmann, Niklas 8, 213, 216 Lukács, Georg 22 Lukrez »Titus Lucretius Carus« 150 Lützeler, Paul Michael 26, 177, 259 Macher, Heinrich 192 Mahl, Bernd 16, 165, 201 Mähl, Hans-Joachim 152 Maierhofer, Waltraud 174 Mandelkow, Karl Robert 6, 7, 227 Mann, Erika 23 Mann, Thomas 23 Marquard, Odo 12 Marten, Franz Heinrich 130 Martinez, Matias 20 Marx, Karl 197 Matthaei, Rupprecht 108 Matussek, Peter 83, 88, 114 Mautner, Heinrich 1 Mayer, Hans 217 McLeod, James E. 177 Medick, Hans 195 Meier, Richard 221, 226 Meißner, August Gottlieb 226 Mesmer, Franz Anton 87, 88 Metscher, Thomas 15 Mettler, Dieter 150 Meyer, Adolf 150 Meyer, Johann Heinrich 5, 17, 32, 77, 105, 172, 177, 178, 179, 180, 184, 191 Meyer, Nicolaus 117 Michel, Karl H. 79 Mittermüller, Christian 30, 37, 116, 146
Moldenhauer, Eva 79 Monroy, Else von 201 Monroy, Ernst Friedrich von 170 Moritz, Karl Philipp 2, 230 Morus, Thomas 229 Möser, Justus 201 Müller, Friedrich von »Kanzler« 25, 26, 130, 151 Müller, Klaus-Detlef 19, 20, 167, 178, 180, 188 Müller-Jahncke, Wolf-Dieter 150 Müller-Seidel, Walter 115, 117, 173 Mundt, Theodor 17, 28, 177 Muschg, Adolf 180, 180, 219, 238 Naeke, August Ferdinand 108, 109 Nager, Frank 116, 117 Napoleon I. Bonaparte 8 Nees von Esenbeck, Christian Gottfried 82, 88, 108, 109 Neuhaus, Volker 19, 239 Neumann, Gerhard 7, 224 Neumeyer, Harald 205 Newton, Isaac 148 Niefanger, Dirk 128 Nipperdey, Thomas 158 Novalis »Friedrich von Hardenberg« 112, 152, 153 Nünning, Ansgar 21 Nutt-Kofoth, Rüdiger 189 Odyniec, Antoni Edward 9 Oesterle, Günter 123 Oetinger, Friedrich Christoph 62 Ohly, Friedrich 61 Oken, Lorenz 81, 158 Osterkamp, Ernst 135, 136 Otto, Regine 62 Ovid »Publius Ovidius Naso« 121 Owen, Robert 174, 218 Parr, Rolf 21 Passavant, Jakob Ludwig 92, 93 Paulsen, Wolfgang 174 Peschken, Bernd 187 Petersen, Julius 227 Petersen, Leiva 108 Petrarca, Francesco 121
283 Pfister-Burghalter, Margarete 38 Pikulik, Lothar 45 Platon 51, 68, 150, 229 Pöggeler, Otto 115 Poggesi, Marta 130, 131 Ponzi, Mauro 251 Pott, Sandra 133 Pustkuchen, Johann Friedrich Wilhelm 6, 7, 23, 245 Radbruch, Gustav 164, 218 Raffael »Raffaelo Santi« 135 Rapp, Johann Georg 174 Rauch, Christian Daniel 128 Recktenwald, Horst Claus 164 Reed, Terence James 240 Rehm, Walther 119 Reiss, Hans 143 Riemer, Friedrich Wilhelm 5, 41, 51, 142, 151 Riesman, David 69 Rinderspacher, Jürgen P. 222 Ritter, Johann Wilhelm 87 Rochlitz, Johann Friedrich 24 Rothe, Wolfgang 9 Rousseau, Jean-Jacques 78 Rubens, Peter Paul 232 Ruppert, Hans 15, 165 Rüsen, Jörn 213 Ruskin, John 228 Sagarra, Eda 62 Sagave, Pierre-Paul 15 Samuel, Richard 152 Sartorius, Caroline 201 Sartorius, Georg Friedrich 165, 193, 201 Saße, Günter 2, 47, 91, 120 Sauerland, Karol 35 Saussure, Horace Bénédict de 92 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 152, 158 Scheuchzer, Johann Jacob 105 Schiller, Friedrich 2, 3, 4, 40, 41, 48, 70, 73, 74, 87, 105, 168, 186, 217, 236, 243 Schings, Hans-Jürgen 29, 48, 62 Schlaffer, Hannelore 36, 97, 143
Schlaffer, Heinz 36, 155 Schlechta, Karl 224 Schlegel, Friedrich 152 Schluchter, Wolfgang 11 Schlumbohm, Jürgen 195 Schmidlin, Bruno 204 Schmidt, Jochen 74, 246, 258 Schmidt, Peter 2 Schmitt, Hanno 52 Schneider, Steffen 18 Schnitzler, Günter 82 Scholz, Rüdiger 120 Schönborn, Sibylle 177 Schönemann, Lili 173 Schopp, Joseph 207 Schößler, Franziska 30, 47, 60, 68, 137, 144, 180, 181, 185, 194, 195, 207 Schrader, Hans-Jürgen 88 Schramm, Gottfried 82 Schrimpf, Hans Joachim 32, 63, 79, 143, 148, 182, 230, 257 Schröter, Corona Elisabeth Wilhelmine 1 Schröter, Michael 223 Schubert, Gotthilf Heinrich 151 Schultheß, Barbara 2 Schulz, Gerhard 46, 152 Schulz, Peter 116 Schulze, Sabine 136 Schütz, Alfred 54 Schütz, Friedrich Karl Julius 23, 245 Schweppenhäuser, Friedrich 109 Schweppenhäuser, Hermann 235 Seckendorf, Karl Siegmund von 1 Seebeck, Thomas 107 Segeberg, Harro 16 Seidlin, Oskar 143 Seifert, Siegfried 192 Sennett, Richard 10, 214, 228 Shichiji, Yoshinori 91 Skopec, Manfred 131 Smith, Adam 17, 164, 165, 201, 248 Sombart, Werner 195 Spranger, Eduard 146 Stackmann, Karl 146 Stadler, Ulrich 108 Staiger, Emil 23, 103 Staub, Hans 178
284 Steffens, Henrik 158 Stein, Charlotte von 1, 5, 91, 92, 93, 134, 144, 183 Steinmetz, Horst 124 Sternberg, Casper Graf von 261 Stierle, Karlheinz 12 Stulz, Peter 116 Sütterlin, Ludwig 105 Swedenborg, Emanuel 150, 151 Szondi, Peter 21 Thaer, Albrecht 17, 164 Thunecke, Jörg 27 Tiedemann, Rolf 235 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 93 Titzmann, Michael 21 Trunz, Erich 25, 32, 62, 143, 172, 180, 226, 257 Turk, Horst 178 Unger, Johann Friedrich 2 Urzidil, Johannes 174 Vaget, Hans Rudolf 26, 73, 121, 233, 238 Varnhagen von Ense, Carl August 25, 214, 241 Verweyen, Theodor 229, 239 Vierhaus, Rudolf 213 Viëtor, Karl 1, 147 Voßkamp, Wilhelm 2, 238, 254 Wachsmuth, Andreas B. 117 Wagenknecht, Christian Johannes 61 Wasielewski, Waldemar von 92, 93 Weber, Max 11, 221 Weder, Katharine 88
Wehler, Hans-Ulrich 183, 196 Weischedel, Wilhelm 88, 140, 256 Weitz, Hans-Joachim 93 Wendorff, Rudolf 222 Wenzel, Manfred 117, 128 Wergin, Ulrich 35 Werner, Abraham Gottlob 81, 83, 84 Wetzels, Walter D. 87, 88 Wieland, Christoph Martin 1 Wild, Gerhard 182 Winckelmann, Johann Joachim 75, 119, 120, 133, 137 Windfuhr, Manfred 80, 228, 258 Windischmann, Karl Joseph Hieronymus 133 Winko, Simone 20 Wißkirchen, Hans 157 Witte, Bernd 2 Witting, Gunther 229, 239 Wittwer Hesse, Denise 53 Wolf, Norbert Christian 18 Wolf, Thomas 7 Wunberg, Gotthart 128 Zabka, Thomas 83 Zach, Franz Xaver von 146 Zastrau, Alfred 15, 108 Zauper, Joseph Stanislaus 26 Zelle, Carsten 122 Zeller, Bernhard 108 Zelter, Carl Friedrich 9, 24, 70, 84, 145, 164, 218, 234, 248, 259 Ziegler, Klaus 15 Zimmermann, Rolf Christian 61, 150, 151, 251 Ziolkowski, Theodore J. 143
285
Danksagung
Ohne die recherchierende, lektorierende und verifizierende Unterstützung durch meine beiden studentischen Hilfskräfte Andreas Metzner und Sebastian Treyz, die dort, wo ich zu lax war, genauer hinschauten und mir etliche Anregungen gaben, aber auch ohne die insistierend-produktive Kritik meines Mitarbeiters Sebastian Kaufmann, der kraft seiner Beobachtungsenergie vorschnellen Schlüssen immer wieder Einhalt gebot, wäre die vorliegende Studie hinter ihrem Gegenstand – der seine Leser ja keineswegs mit offenen Armen empfängt – deutlich zurückgeblieben. Den Kollegen Jochen Schmidt, Carl Pietzcker und Klaus Mönig danke ich darüber hinaus für ihre Entschiedenheit, mit der sie so mancher Stilblüte den Kopf abschlugen, auch dafür, daß sie immer wieder die Verben gegen die Substantive in Stellung brachten. Das Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) ermöglichte es mir, für ein Semester dem Trubel des alltäglichen Hochschuldaseins zu entgehen, meine Thesen zu erproben und meine Nachdenklichkeit zu steigern; hierfür bin ich ebenfalls dankbar.