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German Pages 544 Year 1993
Sprachpolitik in der Romania
Sprachpolitik in der Romania Zur Geschichte sprachpolitischen Denkens und Handelns von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart Eine Gemeinschaftsarbeit der Leipziger Forschungsgruppe „Soziolinguistik" Jenny Brumme · Gerlinde Ebert · Jürgen Erfurt Ralf Müller · Bärbel Plötner unter der Leitung von Klaus Bochmann Weitere Beiträge von Louis Guespin · Annette Kaminsky · Georg Kremnitz Grazia Melli Fioravanti · Jean-Baptiste Marcellesi Bernd Schmidt
W _G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1993
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek
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ClP-Einheitsaufnahme
Sprachpolitik der Romania : zur Geschichte sprachpolitischen Denkens und Handelns von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart / eine Gemeinschaftsarbeit der Leipziger Forschungsgruppe „Soziolinguistik" Jenny Brumme ... unter der Leitung von Klaus Bochmann. Weitere Beitr. von Louis Guespin ... - Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 ISBN 3-11-013614-7 NE: Brumme, Jenny; Bochmann, Klaus [Hrsg.]; Leipziger Forschungsgruppe Soziolinguistik
© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Vorwort
Das Thema dieses von einer Gruppe Leipziger Romanisten vorgelegten Buches ist von unverminderter Aktualität, ja: es wird in einer im Jahr der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution und des Abschlusses des Manuskripts dieses Buches nicht erahnbaren Weise von Monat zu Monat aktueller. Schon 1989 bedeutete die Beschäftigung mit einer Sprach- und Kulturpolitik der Französischen Revolution keineswegs eine antiquarische Aufarbeitung einer Facette der Französischen Revolution, die trotz aller sonstiger ereignis-, verfassungsund sozialgeschichtlicher Vollständigkeit zu wenig beleuchtet worden war. Es ging vielmehr um die Erschließung eines wesentlichen Elements jener großen historischen Bewegung der Modernisierung, die in Aufklärung und Revolution wurzelt. Der Gedanke der Einheit von Staatsnation (etat-nation) und freiheitlicher Sprache (langue de la liberte) ist eine genuine Schöpfung der Französischen Revolution. Die Zugehörigkeit zur freiheitlich und egalitär verfaßten Nation wurde erkauft durch Verzicht auf alle Arten von Unfreiheiten und Ungleichheiten. Die citoyennete war das Ziel, die Aufgabe kultureller, föderaler, religiöser Loyalitäten schien in den Augen der Revolutionäre der angemessene Preis; diesen nachzutrauern, war nicht am Platze. Die Sprache, die die citoyennete verbürgte und symbolisierte, das Französische, sollte ihrerseits auf die Höhe der — freiheitlichen und egalitären — Zeit gebracht werden: eine Sprachreform ohnegleichen, in den programmatischen Spitzen weit ins Computerzeitalter vorausweisend (Herrschaft der Analogie, Beseitigung von Vagheit), sollte ins Werk gesetzt werden. Die Uniformierung des Französischen und seine Universalisierung in der gesamten nation waren die zwei untrennbaren Seiten einer Sprachpolitik, die man sich die „jakobinische" zu nennen angewöhnt hat. Wie sehr diese Sprachpolitik Teil des Projekts der Moderne war, zeigt die Tatsache, daß die Zeitgenossen sie wieder und wieder parallelisieren mit der Uniformierung des Raumes (Metrisierung) und der Zeit, mit der Erstellung des Code Civil und der Modernisierung der Verkehrswege. Nun ist häufig von Sprachhistorikern eingewandt worden, all diese sprachpolitischen Äußerungen
VI
Vorwort
seien doch folgenlos geblieben; das Französische habe sich während und infolge der Revolution kaum geändert. Ein besonderes Verdienst der vorliegenden Arbeit ist nun, daß die Autoren zeigen, in welchem Umfang die revolutionäre Sprachprogrammatik geschichtsmächtig geworden ist, in Frankreich selbst, dann aber auch in anderen Ländern. Für Italien, Spanien und die „Frankophonie" wird der Nachweis geführt; für andere Länder wird der Weg zukünftiger Forschung aufgezeigt. Besonders interessant ist hierbei, daß die Autoren mit einem weiten Verständnis von Sprachpolitik arbeiten, das sich gerade nicht auf die gesetzesförmigen Aussagen zu Sprache beschränkt, sondern die vielfältigen Möglichkeiten der historisch Handelnden erschließt, auf Sprache Einfluß zu nehmen, und sei es nur durch die Ausbildung sprachlicher Modelle. Ein solches Konzept von Sprachpolitik ist geeignet, zwischen Sprachgeschichte und Geschichte der Sprachpolitik zu vermitteln und den oben angeführten Verdacht, beides habe nichts miteinander zu tun, einer rationalen Bearbeitung zugänglich zu machen. Ein Beitrag also zur Geschichte der Modernisierung — aber darüber hinaus ein Beitrag zu einer hochaktuellen Diskussion über den Zusammenhang von Nation und Sprachgemeinschaft. Die Perspektiven haben sich seit 1989 verschoben, für mich jedenfalls, und ich möchte vermuten, auch für die Autoren des vorliegenden Buches. 1989, als die Arbeiten zum vorliegenden Buch abgeschlossen wurden, im Jahre des Geburtstags der Revolution, den die Geschichte ganz anders beging als die offiziellen Veranstalter und auch die Revolutionshistoriker es planten, herrschte sicher die Perspektivierung auf das Gewaltmoment der revolutionären Sprachpolitik vor. Dies in zweierlei Hinsicht: einmal schien der Preis für die citoyennete zu hoch. Mußte die freiheitliche und egalitäre Verfassung den Verzicht auf alle Ungleichheiten fordern? Ist es nicht überhaupt verfehlt, kulturellen Reichtum nur unter dem Gesichtspunkt der Ungleichheit zu sehen? Lassen sich keine — föderalistischen — Alternativen zur Einheitspolitik denken? Zum anderen schien der Modus der Durchsetzung der revolutionären Sprachpolitik im 19. Jh., den die Autoren nachzeichnen, ein Moment struktureller oder besser: evolutionärer Gewalt zu enthalten. Die Idee der Einheit von Staat und Sprachgemeinschaft schien den Status dessen zu haben, was manche Soziologen „evolutionäre Errungenschaft" (evolutionary acquisition) nennen, wie Schrift, Geld und Monotheismus, und zu denen es, sind sie einmal gedacht und ins Werk gesetzt, keine Alternative gibt. Heute bei Erscheinen des Buches, drei Jahre später, haben sich die Perspektiven verändert. Der Gegensatz zum integrativen Assimila-
Vorwort
VII
tionsmodell, das die Revolution so erfolgreich in die Geschichte eingeführt hat, scheint nicht mehr ein föderatives Modell, sondern das Un-Modell der „Dissimulation" zu sein, der Verdrängung und Vernichtung des Anderen, der „ethnischen Säuberung". In diesem furchtbaren Konzept, dessen Herrschaft im Nationalsozialismus wir allzu schnell als einmaligen, gedanklich nicht einholbaren und deshalb nicht wiederholbaren Unfall der Weltgeschichte klassifiziert hatten, spielt die Idee, die — prinzipiell freiwillig gedachte — Aufgabe des Eigenen/ Anderen sei der — zumutbare Preis für eine bessere Verfassung, keine Rolle mehr. Eine dissimilierende Entität steht neben der anderen, und die rohe Gewalt der Vernichtung des Anderen läßt die oben angesprochenen Formen von Gewalt als harmlos, vielleicht sogar als wünschenswert erscheinen. Andererseits sollte auch die Ernsthaftigkeit, mit der die Franzosen nach dem Status der europäischen citoyennete fragen, zu denken geben: was ist der Gewinn der europäischen Verfaßtheit; wie ist sie überhaupt beschaffen, und muß sie mit einem ähnlichen Preis bezahlt werden wie die citoyennete in der Französischen Revolution? Vielleicht war die föderalistische Kritik am „Sprachjakobinismus" zu kurz gedacht. In der Alternative von Assimilation, wo vom Angehörigen der subalternen Kultur verlangt wird, seine Kultur einer tendenziell universalistisch an den Menschenrechten orientierten Verfassungszivilisation zu opfern, und Dissimulation, die das Andere sich nicht einverleibt, sondern es vernichtet, ist allemal die Assimilation vorzuziehen. Wenn wir also 1992 an der Intuition von 1989 festhalten wollen und das Recht auf kulturelle Eigenständigkeit verteidigen wollen, so müssen wir uns auf eine höhere Ebene begeben, d. h. vor allem einmal die Universalität der Menschenrechte und den, vielleicht in Ost und West aus verschiedenen Gründen zu gering veranschlagten Gewinn der Verpflichtung darauf anerkennen. Dies impliziert vor allem eine klare Absage an jede Form von Dissimulation und Exklusion, wie sie die Verteidiger der (Sprach-)Minderheiten vielleicht nicht immer klar genug formuliert haben. Eine National- und Sprachpolitik, die dissimulationistische Konsequenzen, ethnische Säuberungen, in Kauf nimmt, kann nicht die Alternative zum „jakobinischen" Konzept sein. Wir müssen also neue Wege suchen, die Differenz im Universellen zu denken, ihre Legitimität zu begründen, ohne andere Legitimitäten zu negieren. Allzu häufig hat man in den letzten Monaten gedankenlose Äußerungen westdeutscher Wissenschaftler gehört, häufig sogar wohlgemeint entschuldigend, unter den Bedingungen materieller Beschneidungen (Reisen, Bibliotheken) und ideologischer Festlegungen habe
VIII
Vorwort
ja in der D D R keine ernstzunehmende Forschung betrieben werden können. Dies ließe sich an vielen Beispielen widerlegen; der vorliegende Band ist eines davon. Dies gilt auch dann, wenn die eine oder andere Dokumentationslücke nachgewiesen werden sollte. Eine so anspruchsvolle und folgenreiche Frage wie die nach dem Weg der Sprachprogrammatik der Französischen Revolution durch das 19. Jh. erschließt erst langsam neue Dokumente, die bisher nicht oder unter anderen Gesichtspunkten gelesen worden sind. Allerdings lassen sich durchaus auch Spuren der Produktionsbedingungen im vorliegenden Werk finden, fruchtbare, wie ich meine. Da ist einmal die Form der Kollektivarbeit, die hier zu einem ausgewogenen Verhältnis von Gesamtkonzept und Einzelteilen führt, wie man es manchem anderen Projekt wünschen würde. Was nun die konzeptuelle Seite angeht, so ist besonders auffällig und besonders anregend das von der Gruppe praktizierte weite Verstädnis von (Sprach)-politik. Der theoretische Hintergrund ist hier Gramscis Theorie von Hegemonie und Subalternität. Klaus Bochmann, der Leiter der Forschungsgruppe, ist auch als Herausgeber der sprachtheoretischen Schriften von Gramsci hervorgetreten. Gramscis Ideen sind in der soziolinguistisch und sprachgeschichtlich aufgeschlossenen Sprachwissenschaft viel zu wenig rezipiert worden: der vorliegende Band zeigt, wie eine Anwendung auf sprachpolitische Fragestellungen aussehen könnte. Nun ist aber für den westlichen Leser, der Gramsci als marxistischen Theoretiker einordnet, nicht erkennbar, wieviel Mut es erforderte, sich gerade auf ihn, einen unorthodoxen Marxisten (wie so viele andere: Bloch, Adorno usw.) zu beziehen. Die Arbeit mit Gramscis Ideen kann also als exemplarisch für die Arbeitsweise bestimmter Intellektueller in der D D R gelten, die einerseits die Reichweite (und Grenzen) unorthodoxen maxistischen Denkens erproben wollten, damit aber auch die Grenzen des intellektuellen Risikos ausreizten und vorschoben. Das der Arbeit zugrundeliegende weite Politikverständnis kommt also sozusagen zweimal vor: inhaltlich als Objekt der Forschung, die nicht nur auf die offiziellen, sondern auch die inoffiziellen sprachpolitischen Aktivitäten perspektiviert ist: aber auch persönlich als Selbstverständnis der Autoren, die sich als politisch verstehen mußten und wollten, gerade wenn sie außerhalb der und gegen die offizielle Politik handelten. Es ist nicht möglich, über das Verhältnis von sozialen und nationalen (ethnischen) Konflikten nachzudenken, ohne sich der Tradition des unorthodoxen Marxismus (ζ. B. Otto Bauer, Gramsci) zu versichern. So ist das vorliegende Werk ein höchst relevanter Beitrag zu
Vorwort
IX
den jüngsten Entwicklungen der Weltgeschichte; in welchem Maße er relevant werden sollte, konnten die Autoren, die ihre Kritik am französischen Universalismus der Revolution natürlich auch als Kritik am Universalismus des verordneten Sozialismus intendierten, nicht wissen. Tübingen, im Mai 1992
Brigitte Schlieben-Lange
Inhaltsverzeichnis
Vorwort (Brigitte Schlieben-Lange)
V
Einleitung (Klaus Bochmann)
1
1. 1.1 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.5.1. 1.5.2. 1.5.3. 1.5.4. 1.6 2. 2.1. 2.1.1. 2.1.1.1. 2.1.1.2. 2.1.1.3. 2.1.1.3.1. 2.1.1.3.2. 2.1.1.3.3. 2.1.1.3.4.
Theorie und Methoden der Sprachpolitik und ihrer Analyse (Klaus Bochmann) Wozu brauchen wir eine Theorie der Sprachpolitik? Theorie der Sprachpolitik „tentativ" Träger und Agenten von Sprachpolitik Die Instanzen und Agenturen der Sprachpolitik Die Domänen der Sprachpolitik Sprachkonfliktbe wältigung Sprachkorpusplanung, Sprachkultur Diskursregelung Internationale Sprachpolitik/Fremdsprachenpolitik Methoden der Erforschung von Sprachpolitik . . . Sprachpolitik in der Großen Französischen Revolution und im napoleonischen Empire Sprachpolitischer Diskurs und sprachpolitische Praxis in der Revolution von 1789 - 1799 Die Bewältigung des Sprachkonflikts in der Revolution (Bärbel Plötner) Die Sprachsituation in Frankreich vor 1789 . . . . Französischsprachigkeit eines jeden Bürgers als sprachpolitische Zielstellung Einige Versuche zur Bewältigung der sprachlichen Diversität Die sprachliche Form der „Cahiers de doleances" Die Abgeordneten der Nationalversammlung gehen ans Werk Übersetzungen in die Regionalsprachen Der Symbol wert der Nationalsprache (bei den Föderationsfesten und in der Nationalversammlung)
3 3 7 16 21 26 28 39 46 51 58
63 63 63 63 65 67 68 69 73 77
XII
2.1.1.3.5. 2.1.1.4. 2.1.1.4.1. 2.1.1.4.2. 2.1.2. 2.1.2.1. 2.1.2.2. 2.1.2.3. 2.1.2.3.1. 2.1.2.3.1.1. 2.1.2.3.1.2. 2.1.2.3.2. 2.1.2.3.2.1. 2.1.2.3.2.2. 2.1.2.3.3. 2.1.2.3.4. 2.1.2.4. 2.1.3. 2.1.3.1. 2.1.3.2. 2.1.3.3. 2.1.3.4. 2.1.3.5. 2.1.3.6. 2.2. 2.2.1. 2.2.1.1. 2.2.1.2. 2.2.1.3.
Inhaltsverzeichnis
Erste bildungspolitische Konzepte Die Genese des Diskurses der Uniformität und die jakobinische Sprachpolitik Die Enquete des Abbe Gregoire Die Regionalsprachen zwischen Jakobinismus, Konterrevolution/Antirevolution und Volksbewegung: die Berichte von Barere und Gregoire Diskursregelung in der jakobinischen Sprachpolitik (Jürgen Erfurt und Ralf Müller) Zur Sprachpolitik der Jakobiner Sprachpolitik und Diskursanalyse Textanalyse Text 1: „Fete commemorative du 14 juillet" . . . . Angabe des (selbstdeklarierten) Inhalts/Gegenstands Beschreibung der Inszenierung des Inhalts Text 2: „De la fete de la raison" Angabe des (selbstdeklarierten) Inhalts/Gegenstands Beschreibung der Inszenierung des Inhalts Unterschiede in der Inszenierung des Inhalts der Texte Interpretation der Unterschiede in der Inszenierung der Texte Jakobinische Sprachpolitik in der Sprachpraxis des Journalismus Die Revolution und die Norm(en) des Französischen (Ralf Müller) ' „mettre de l'ordre dans un chaos" „Comment appeler le Roi?" „II faut jurer avec ceux qui jurent, foutre." . . . . „detruire cette aristocratie de langue" „Citoyen Meire je me prend la liberte de tecrire Cette lettre ..." „universaliser l'usage de la langue franfaise" . . . Sprachpolitik unter Napoleon Nationalsprache und Regionalsprachen zwischen 1795 und 1814 im Spiegel dreier Umfragen (Bärbel Plötner) Die Umfrage der Coquebert de Montbret (1806/ 1807) Von der Enquete Guillaume (1794) zur napoleonischen Bildungspolitik Die Umfrage der AcadSmie celtique (1805
78 81 83 89 100 100 102 105 105 105 105 109 109 109 113 115 118 125 126 128 131 133 135 137 146 146 150 157 161
Inhaltsverzeichnis
XIII
2.2.1.4. 2.2.2.
171
2.2.2.1. 2.2.2.2. 2.2.2.3. 2.2.2.4. 3.
3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4. 3.2.
3.2.1. 3.2.2. 3.2.2.1. 3.2.2.2. 3.2.2.3. 3.2.2.4. 3.2.3. 3.2.4.
4. 4.1.
4.1.1.
Ein Nachsatz Napoleonische Sprachpolitik: Versuch ihrer Rekonstruktion aus Texten des „Moniteur" (Ralf Müller) Beschreibung der sprachlichen Inszenierung der Kaiserproklamation im „Moniteur" Sinn der Inszenierung Napoleonische Sprachpolitik Der „ungetreue Erbe der Revolution" Die sprachpolitische Ausstrahlung der Französischen Revolution auf die romanischen Nachbarländer Italien im Triennio riviluzionario und in der napoleonischen Zeit (Klaus Bochmann) Die Wende in der „Sprachfrage" Die Aufklärung auf dem Prüfstand: Das Triennio rivoluzionario 1796 —1799 Sprachpolitik im napoleonischen Italien Die linguistischen Enqueten in Oberitalien . . . . Spanien: Nationalsprache und Nationalitätensprache im Spanischen Unabhängigkeitskrieg von 1808 bis 1814 (Jenny Brumme) Die politische Sprache Weitere Sprachen in der Politik Zur Sprachenfrage im 18. Jahrhundert Die Sprachenfrage aus der Sicht der Cortes von Cadiz Das Katalanische als Sprache der Politik in den katalanophonen Gebieten Das Galegische als Sprache der Politik in Galicien Bestrebungen zur Kodifizierung Grundzüge sprachpolitischer Lösungen in der ersten spanischen bürgerlichen Revolution im 19. Jahrhundert Sprachpolitik im 19. Jahrhundert Bildungsdiskurse, Bildungsreformen und Sprachpolitik im 19. Jahrhundert in Frankreich (Jürgen Erfurt) Zusammenhänge von Bildungspolitik und Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
172 174 184 186 189
191 192 192 196 203 205
212 213 219 220 222 224 231 233
236 239
239 239
XIV
4.1.2. 4.1.2.1. 4.1.2.2. 4.1.2.3. 4.1.3.
4.1.3.1. 4.1.3.2. 4.1.4. 4.1.4.1. 4.1.4.2. 4.1.5. 4.2. 4.2.1. 4.2.1.1. 4.2.1.2. 4.2.1.3. 4.2.1.4. 4.2.2.
4.2.2.1. 4.2.2.2. 4.2.2.3. 4.3.
4.3.1. 4.3.2.
4.3.3. 4.3.4.
Inhaltsverzeichnis
Die Volksschule unter der Julimonarchie (1830-1848): Aufbruch einer Institution Die Julimonarchie Das Bildungsgesetz von Guizot (1833) Lesen und Schreiben. Latein und Französisch in der Volksschule Volksbildung in der 2. Republik zwischen demokratischem Aufbegehren und jesuitischer Reaktion (1848-1851) Die 2. Republik Das Gesetz Falloux Sprachpolitik in der 3. Republik Die ersten Jahre der 3. Republik Jules Ferrys Bildungsgesetz von 1882: Einführung der Schulpflicht und einer laizistischen Schule . . . Demotisierung der Schrift und Reform der Orthographie am Ende des 19. Jahrhunderts Spanien: Regionalismus bzw. Nationalismus und Nationalitätensprachen (Jenny Brumme) Sprache und Sprachpolitik als Element regionalistischer Politik Valenti Almirall (1841 - 1 9 0 4 ) Manuel Murguia (1833 - 1 9 2 3 ) Josep Torras i Bages (1846-1916) Alfredo Branas (1859-1900) Der katalanische Nationalismus und die Sprache: Enric Prat de la Riba (1870-1917) (unter Mitarbeit von Annette Kaminsky) Das „Compendi de la Doctrina Nacionalista" (1894) „La Nacionalitat Catalana" (1906) Die Rede auf dem I. Internationalen Kongreß für Katalanische Sprache (1906) Italien: Sprache und Literatur in der Kultur des italienischen Risorgimento (Grazia Melli Fioravanti) Von der Literatursprache zur Umgangssprache Manzoni: Von der „analogen" und „europäisierenden" Sprache zur Umgangssprache der florentinischen Mittelschicht Cattaneo und die gemeinsame Nationalsprache . . Carlo Tenca und Ippolito N i e v o
242 242 244 252
259 259 260 267 267 268 274 280 281 281 285 288 291
294 294 297 298
301 301
308 318 323
Inhaltsverzeichnis
5. 5.1. 5.1.1. 5.1.1.1. 5.1.1.2. 5.1.2. 5.1.2.1. 5.1.2.2. 5.1.2.2.1. 5.1.2.2.2. 5.1.2.2.3. 5.1.2.3. 5.1.2.4. 5.1.2.5. 5.2. 5.2.1. 5.2.1.1. 5.2.1.2. 5.2.1.3. 5.2.1.4. 5.2.1.5. 5.2.1.6. 5.2.2. 5.2.2.1. 5.2.2.2. 5.2.2.3. 6. 6.1. 6.1.1.
XV
Repressive Sprachpolitik Sprachlicher Kolonialismus Frankreichs koloniale Sprachpolitik im subsaharischen Afrika unter besonderer Berücksichtigung Madagaskars (Bernd Schmidt) Zum 19. Jahrhundert Zum 20. Jahrhundert Die unidad de la lengua als Ersatz für den Verlust der spanischen Kolonien (Jenny Brumme) Politische Unabhängigkeit und sprachliche Emanzipation Versuch der Kompensation Die Real Academia Espanola Die Academias Correspondientes Philologische Arbeiten aus der Akademiebewegung Ausbruch einer Polemik Die Fronten überlappen sich: „La Espana Moderna" Polemik ohne Ende? Sprachpolitik des Faschismus Sprachpolitische Leitlinien des italienischen Faschismus (Gerlinde Ebert) Das Bildungswesen Das Ministerio di Cultura Popolare Purismus Das Verhältnis zu Dialekten und Minderheitensprachen Die Kampagne um die Anredeform Lei Sprachpolitik in den Kolonien Sprachpolitik der spanischen Falange (Jenny Brumme) Die nationale Problematik und die Nationalitätensprachen im Diskurs der Rechten (1931 — 1936) . . Die „Einheit Spaniens" und die „Einheit der Sprache" im Diskurs der Falange (1936 - 1939) Der „Kreuzzug gegen den roten Separatismus" (1939-1940)
327 327
Demokratische Alternativen in der Gegenwart Spanien (Jenny Brumme) Das Konzept der sprachlichen Normalisierung in der katalanischen Soziolinguistik
408 408
327 328 334 341 341 347 347 350 352 353 359 362 363 363 364 368 370 374 377 378 382 384 392 398
408
XVI
6.1.2. 6.1.3. 6.1.4. 6.2. 6.2.1. 6.2.1.1. 6.2.1.1.1. 6.2.1.1.2. 6.2.1.2. 6.2.1.2.1. 6.2.1.2.2. 6.2.1.3. 6.2.2. 6.2.2.1. 6.2.2.1.1. 6.2.2.1.2. 6.2.2.1.3. 6.2.2.2. 6.2.2.2.1. 6.2.2.2.2. 6.2.2.2.3. 6.2.2.2.4. 6.2.3. 6.3.
7. 7.1.
Inhaltsverzeichnis
Die sprachliche Normalisierung in der Sprachgesetzgebung und in der Sprachpraxis Sprachliche Normalisierung als Erweiterung der Anwendungsbereiche: Die Verwaltung Sprachliche Normalisierung als Normierung: Die Modernisierung der Lexik Spanien/Frankreich (Georg Kremnitz) Die Ausgangssituation für Sprachpolitik um 1980 Frankreich Zur Sprachenstatistik Sprachpolitische Entwicklungen 1945 - 1 9 8 0 . . . . Spanien Zur Sprachenstatistik Sprachpolitische Entwicklungen 1939 - 1 9 7 8 . . . . Unterschiede in den Optionen beider Staaten . . . Die Sprachpolitik der achtziger Jahre Frankreich Die Probleme Die Entwicklung der achtziger Jahre Versuch einer ersten Bilanz Spanien Die Probleme Das Beispiel Katalonien Das Beispiel Euskadi Versuch einer Bilanz Perspektiven für die Zukunft: Die europäische Integration Der Unterricht in den Regionalsprachen Frankreichs und Probleme ihrer sprachlichen Normierung (Louis Guespin und Jean-Baptiste Marcellesi)
414 418 421 426 428 428 428 430 432 432 433 435 436 436 436 439 442 445 445 449 450 452 454
456
7.2. 7.3. 7.4. 7.5.
Bibliographie Allgemeines zur Sprachpolitik und ihren sozialwissenschaftlichen Grundlagen Frankreich Italien Madagaskar Spanien/Lateinamerika
473 473 479 493 499 501
8.
Namenverzeichnis
519
Einleitung
Im vorliegenden Band versuchen wir, einen umfassenderen Theorieund Methodenansatz für die Forschung auf dem Gebiet der Sprachpolitik vorzustellen, als er allgemein üblich ist, und seine Gültigkeit anhand einiger markanter Problemfälle aus der neueren Geschichte romanischer Länder zu erproben. Der Schwerpunkt liegt auf der Sprachpolitik im bürgerlichen Zeitalter, das sich in seinen modernen Formen in ganz Europa von der Französischen Revolution an auszuprägen beginnt. Daher wurde sie zum historischen Ausgangspunkt unserer Untersuchungen gewählt, zumal erst seit 1789 die Sprachpolitik ein expliziter und unverzichtbarer Bestandteil der allgemeinen Politik wird. Wir bieten für den gewählten Zeitraum vom 1789 bis zur Gegenwart keine erschöpfende Geschichte der Sprachpolitik in einem der ausgewählten Länder. Für eine solche fehlt es nicht nur an Vorarbeiten — sie würde nach unserer Auffassung von Sprachpolitik in großen Teilen auch mit einer Sprachgeschichte des betreffenden Landes schlechthin zusammenfallen, wenn auch ergänzt durch eine zusätzliche Dimension. Eine solche auszuarbeiten, die in gewisser Hinsicht eine Überwindung der Kluft zwischen „äußerer" und „innerer" Sprachgeschichte voraussetzen würde, muß vorläufig der Zukunft überlassen bleiben. Selbst die Sprachpolitik in der Zeit der Französischen Revolution, in Frankreich selbst und in den romanischen Nachbarländern, wird nur in den Punkten behandelt, die wir im Sinne unseres Konzepts von Sprachpolitik für wesentlich hielten. 1 Das Manuskript dieses Buches hat inzwischen seine eigene Geschichte. Begonnen um 1986 als kollektives monographisches Unternehmen der soziolinguistischen Forschungsgruppe Leipziger Romanisten, in das nicht zuletzt die Ergebnisse mehrerer Dissertationen 1
Für weiterführende Fragen und Ergänzungen vgl. die Akten des Leipziger internationalen Kolloquiums „Sprachpolitik in der Französischen Revolution. Nationale und internationale Kurz- und Langzeitwirkungen" (28. September bis 1. Oktober 1988), erschienen in BRPh 1989/2, ZPSK 1 9 8 9 / 5 und W Z der Karl-Marx-Universität Leipzig, 1990/4.
2
Einleitung
eingehen sollten, begriffen wir es gleichzeitig als einen fachspezifischen Beitrag zum „neuen Denken". Die geringe sprachliche Sensibilität der DDR-Gesellschaft forderte geradezu heraus, über die Sprachwissenschaft dogmatische Denkstrukturen aufzubrechen, mit dem in jener Zeit üblichen Verfahren, Kritisches in gesellschaftlichen Randbereichen oder zwischen den Zeilen zur Sprache zu bringen, weil es anders gar nicht gedruckt wurde. Als wir im April 1989 das Manuskript in Berlin vor dem Rat für Sprachwissenschaft der D D R „verteidigten" und in der Hoffnung nach Hause fuhren, daß es nach der damals ebenfalls üblichen Verlagsfrist von 1 1/2 Jahren gedruckt vorliegen würde, ahnte natürlich niemand die kommenden Umstürze, denen nicht nur Buchmanuskripte zum Opfer fallen sollten. Schwierigkeiten des Verlages, der das Buch zu drucken beabsichtigt hatte, Schwierigkeiten unsererseits, geforderte Korrekturen, Umfangsbeschränkungen und dgl. mehr vorzunehmen, führten zur Auflösung des Vertrages. Seitdem wanderte das Manuskript von einem Verlag zum anderen, bis sich der Verlag De Gruyter in dankenswerter Weise seiner annahm. Die Leipziger romanistische Forschungsgruppe ist inzwischen in alle Winde zerstoben (und wer je davon noch in Leipzig bleiben wird, ist ungewiß). Eine gründliche Neubearbeitung war schon deshalb nicht möglich und hätte außerdem einen beträchtlichen neuerlichen Aufschub der Veröffentlichung bedeutet. So stellt sich das Buch im großen Ganzen so dar, wie es 1989 abgeschlossen worden war. Neuere Forschungsergebnisse und bibliographische Angaben sind nur zu einem kleinen Teil eingearbeitet worden. Unser Buch ist über sein fachliches Anliegen hinaus ein Zeugnis für das Denken vieler Intellektueller in der Endzeit der DDR, sein Schicksal ein Dokument der mit dem Herbst 1989 eingeleiteten Umbruchszeit (mit dem kleinen Unterschied, daß sich in diesem Fall noch einmal alles zum besten gewendet hat). Wenn das bei seiner Rezeption in der romanistischen und linguistischen Fachwelt mitbedacht werden sollte, würden wir es als Erfolg unserer Arbeit verbuchen. Leipzig, im Mai 1992
Klaus Bochmann
1.
Theorie und Methoden der Sprachpolitik und ihrer Analyse
1.1. Wozu brauchen wir eine Theorie der Sprachpolitik? Die Sprachpolitik ist seit längerem Gegenstand analytischer und perspektivisch angelegter Forschung, um die sich mehrere Disziplinen, allen voran natürlich die Linguistik, und über diese hinaus die Soziologie, die Ethnologie, die Geschichts- und die politischen Wissenschaften bemühen. Je nachdem, wie weit man den Gegenstandsbereich der Sprachpolitik faßt, und wir fassen ihn in diesem Buch ziemlich weit, hat die Thematisierung von Sprachpolitik als frühe Form der modernen sprachpolitischen Forschung eine lange Tradition. In Westeuropa kommt sie mit Alphons dem Weisen im 13. Jahrhundert (vgl. NIEDEREHE 1987, 125 ff.) und Dante im 14. Jahrhundert auf und gipfelt in den „Sprachfragen"-Diskussionen des 16. Jahrhunderts, in der Frühzeit des bürgerlichen Zeitalters also, was, wie wir sehen werden, kein Zufall ist. Der politisch motivierte Eingriff in die sprachlichen Belange von Gemeinschaften ist seitdem unter den verschiedensten Etikettierungen betrieben und beschrieben worden: als Sprachgesetzgebung, Normenfestschreibung, Entlehnungs- und Fremdwortpolitik, als Sprachkultur, Muttersprachen- und Fremdsprachenerziehung, Sprachregelung und schließlich als „Sprachpolitik" im engeren Sinne, d. h. als Statusbestimmung und systematischer Ausbau von Sprachen (Sprachplanung). Jede dieser Domänen hat von Fall zu Fall theoretische Begründungen erfahren, die als besonders konsistent hinsichtlich der sprachlichen Normengebung und -kodifizierung, der Sprachkultur und der verschiedenen Aspekte sprachlicher Bildung erscheinen mögen. 1 Ohne nun das frappante Theoriedefizit in der oftmals genera1
Insofern kann man den Herausgebern von OBST 5 nicht ohne weiteres folgen, wenn sie meinen, „die Sprachwissenschaft (habe) sich als Wissenschaft um Probleme der Sprachpolitik so gut wie nie gekümmert" (S. 3). Richtig ist aber, daß an einem theoretisch-methodologischen Gesamtentwurf für die Sprachpolitik unter Lingui-
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Theorie und Methoden der Sprachpolitik und ihrer Analyse
lisierend als Sprachpolitik ausgegebenen Sprachplanung besonders in Rechnung zu stellen, muß man doch die Versuche, eine eigentliche Theorie der Sprachpolitik aufzustellen, die die oben scheinbar wahllos zusammengestellten Aspekte politischen Eingreifens in sprachliche Verhältnisse und kommunikative Gewohnheiten vereinigt, ihre sozialen, kulturellen und sprachlichen Funktionen, Wirkungsweisen und Folgen sowie die gesellschaftlichen Triebkräfte analysiert, an den Fingern einer Hand abzählen. Wohl befragt sich bspw. die Sprachplanung über ihre Anwendungsgebiete und Etappen ( H A U G E N 1966), über beeinflussende Faktoren ( H A U G E N 1977 a; FISHMAN 1977 a) und ihre Funktionen ( N A H I R 1984). 2 Welche sozialen und/oder politischen Motivationen dahinter stehen, von welchen gesellschaftlichen Gruppen sie getragen werden, darauf wird man in diesen Arbeiten kaum befriedigende Antworten finden. Selbst der für die einbezogenen Linguisten näherliegenden Frage, in welcher Beziehung eine so begriffene Sprachpolitik zum Sprachwandel steht, nehmen sich nur wenige Sprachplaner an (ζ. B. RUBIN 1977; H A U G E N 1983). Obwohl im sprachwissenschaftlichen Denken vor dem 19. Jahrhundert die Idee des bewußten Eingreifens der Menschen in die Gestalt der Sprache fast eine Selbstverständlichkeit war, ist die Abneigung der neueren Linguistik diesem Ansinnen gegenüber geradezu notorisch gewesen. Der Gedanke einer weitgehenden oder gar völligen Eigengesetzlichkeit sprachlicher Entwicklung dominierte die Linguistik seit den Junggrammatikern und setzte sich mit dem Strukturalismus in seinen verschiedensten Abschattungen nahtlos fort. Erstaunlicherweise hat nicht einmal die „pragmatische Wende" in dieser Hinsicht einen deutlichen Sinneswandel bewirkt: als ob „die Gesellschaft" blind und unbewußt auf Sprache und Kommunikation einwirke. In der Tat sind es nur wenige Schulen und Strömungen, die die Sprachpolitik in einen größeren linguistischen und sozialwissenschaftlichen Zusammenhang zu stellen suchen, wie etwa die katalanische Soziolinguistik (vgl. VALLVERDU 1 9 8 0 ; K R E M N I T Z 1 9 7 9 ) , die französischen Soziolinguistikzentren von Montpellier (vgl. K R E M N I T Z 1 9 8 2 ) und Rouen (vgl. M A R C E L L E S I 1 9 8 6 ) und die Mitarbeiter der „Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie" ( O B S T ) . E S handelt sich hier um
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sten wenig Interesse besteht. Dazu mag beitragen, daß außerhalb der Linguistik kaum Forderungen in dieser Hinsicht erhoben werden, vgl. MARCELLESI und GUESPIN (1986, 5): „... les linguistes, peu sollicites, se sentent peu concernes". Darauf weist ζ. B. NEUSTUPNY (1983, 1) hin: „a need for an explanatory theory in language planning has been perceived", hält aber selbst nur eine Klassifikation sprachpolitischer Schritte parat, die mit Begriffen wie language correction, language treatment, communication planning u. a. umschrieben werden.
Wozu brauchen wir eine Theorie der Sprachpolitik?
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Linguisten, die bereit sind, die soziolinguistischen und kulturanalytischen Ansätze in der Sprachwissenschaft folgerichtig, d. h. in Richtung auf eine dezidierte Korrelierung linguistischer Befunde mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Einsichten, weiterzuentwickeln. Ist eine Theorie der Sprachpolitik nun wirklich notwendig, wenn doch sprachpolitische Praxis und Forschung bisher auch ohne eine explizite Theorie soziolinguistischer Observanz ausgekommen sind? Tatsächlich standen in der praktischen Sprachpolitik politische Überlegungen einerseits und linguistische Forschung andererseits zumeist beziehungslos nebeneinander und wurde ihr Verhältnis zueinander nur als Über- bzw. Unterordnung verstanden. Versuche, linguistische und sozial- bzw. politikwissenschaftliche Theorie in einem gemeinsamen interdisziplinären Modell miteinander in Beziehung zu setzen, gibt es u. W. kaum. Das hängt sowohl mit dem Erbe des Strukturalismus und seiner Trennung in eine „innere" (eigentliche) und „äußere" (nichteigentliche) Linguistik zusammen, wie überhaupt mit der Isolierung der meisten linguistischen Strömungen der Vergangenheit von den Nachbardisziplinen, als auch mit dem häufig zu beobachtenden geringen Interesse der Sozialwissenschaften und der praktischen Politik für sprachwissenschaftliche Fragen, was durchaus auch eine Folge jener Abschirmung der Linguisten vor ihren sozial- und geisteswissenschaftlichen Nachbarn bedingt sein kann. Aber selbst nach der „pragmatischen Wende" ist das Interesse der Linguistik an Sprachpolitik nicht sonderlich gestiegen. Möglicherweise gibt es sogar ein bestimmtes diffuses Interesse daran, sowohl die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Formen des politischen Eingriffs in sprachliche Verhältnisse untereinander als auch die soziale Funktionalität dieses Eingriffs und seine sprachlichen Folgen im Dunkeln zu lassen. Für die Notwendigkeit einer Theorie der Sprachpolitik sprechen also unterschiedliche, theoretische und praktische Beweggründe, die sich aus der Grenzstellung dieses Gegenstandsbereiches für Linguistik, historische, soziale, politische und Kulturwissenschaften ergeben. Die Linguistik braucht eine Theorie sprachpolitischen Handelns, weil (1) die Vielfalt sprachpolitischer Erscheinungsformen einen gemeinsamen Erklärungsrahmen erforderlich macht, der es erlaubt, die Zusammenhänge zwischen diesen, ζ. B. zwischen der Behandlung von Minderheitensprachen, dem Verhalten zur Standardnorm und den sprachlichen Aspekten der Medienpolitik, transparent zu machen und andererseits die gesellschaftlichen Ursachen und Motive solcher sprachpolitischer Handlungen zu benennen;
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(2) die Relevanz der Sprachpolitik für die Entwicklung der sprachlichkommunikativen Verhältnisse und der Sprachen als Systeme geklärt werden muß. Hat man erst einmal erkannt, wie weit der Umfang politisch motivierter Eingriffe in das sprachliche Handeln sozialer Gemeinschaften sein kann, dann wird man ermessen, wie gewichtig namentlich in modernen Gesellschaften der Anteil sprachpolitischer Entscheidungen an den Ursachen des Sprachwandels ist. Offenbar hängt der Grad der gesellschaftlichen Relevanz der Sprachpolitik vom Grad der organisatorischen Komplexität und Intensität der Kommunikationsbeziehungen in den verschiedenen Zivilisationsformen und Gesellschaftsformationen, d. h. vom Grad der Vergesellschaftung der historischen Subjekte ab. Damit wird eine Theorie der Sprachpolitik zu einem Bestandteil einer Theorie der sprachlichen Kommunikation in der Gesellschaft und einer Theorie des Sprachwandels und läßt die Frage nach dem „Verhältnis von Sprache und Gesellschaft" in einem neuen Lichte erscheinen. So etwa, wenn folgende genuin linguistische Fragen beantwortet werden (vgl. E R F U R T / M Ü L L E R 1987, 43): Wer spricht mit wem unter welchen Bedingungen in welcher Varietät? Wie verhalten sich die kommunizierenden Subjekte zu den sprachlichen Verhältnissen? Wie widerspiegeln sie diese Verhältnisse in ihren Äußerungen? Wie greifen die Subjekte mit sprachlichen Mitteln in die Partizipation anderer Subjekte an den sprachlichen Verhältnissen und in die sprachlich vermittelte Aneignung von Erfahrungen ein? Die Politik- und Sozialwissenschaften dürften aus einer Theorie der Sprachpolitik beträchtlichen Gewinn ziehen, weil (1) sie die Erkenntnis vertiefen und präzisieren könnte, daß Sprache ein entscheidendes, offenbar in seiner Bedeutung wachsendes Mittel der Organisation der modernen Gesellschaft und für die Sozialisierung der historischen Subjekte ist und dies sich auf vielfältige Weise äußert; von der Erkenntnis des bestimmenden Anteils der Sprache an der Identität des Individuums und seines Verhältnisses zur und Verhaltens in der Gesellschaft dürften Persönlichkeits-, Erziehungs- und Kulturtheorie profitieren; ( 2 ) die „repartition sociale de la parole" ( M A R C E L L E S I / G U E S P I N 1 9 8 5 , 15), die kommunikative Rollenverteilung in der Gesellschaft als Ausgangspunkt und als Ergebnis von Sprachpolitik, ein zusätzlicher Indikator für gesellschaftliche Verhältnisse ist und einer Verfeinerung des analytischen Instrumentariums der Soziologie (wie es bei B O U R D I E U 1 9 8 8 anklingt) sowie der Historiographie dienen kann;
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(3) ein aus einer sozialwissenschaftlich begründeten Theorie der Sprachpolitik abgeleiteter Apparat analytischer und methodischer Kategorien und Begriffe die Qualität der sprachpolitischen Praxis spürbar erhöhen dürfte (selbst wenn er, wie in unserem Falle, seine Argumente vorwiegend aus der Geschichte bezieht) und nicht zuletzt erlauben sollte, Initiatoren und Nutznießer sprachpolitischer Erscheinungen zu identifizieren. In diesem Sinne würde sich ζ. B. die Frage ergeben, welchen sozialen und/oder politischen Interessen bestimmte sprachpolitische Programme oder Entscheidungen objektiv entgegenkommen, ob sie folglich als emanzipatorisch oder als repressiv zu beurteilen sind usw. Zwischen den strengen Bewertungsrichtlinien für den Gebrauch der Standardnorm im französischen Schulwesen und den vergleichsweise liberaleren Regelungen in anderen Ländern bestehen Unterschiede, die nicht nur aus der Geschichte der Standardisierung bzw. der Literatursprache herrühren, sondern auch mit Interessenverschiedenheiten sozialer Natur zu tun haben. Und die manchmal grotesken Erscheinungen bei der Förderung von Sprachen, die deren Trägergemeinschaften selbst gar nicht verschriftet, standardisiert und ausgebaut haben möchten, 3 ließen sich wahrscheinlich vermeiden, wenn man alle Faktoren sinnvoller Sprachpolitik berücksichtigen würde.
1.2. Theorie der Sprachpolitik „tentativ" Aus linguistischer Sicht ist an eine vorläufige und vorsichtige, mithin „tentative" Gegenstandsbestimmung als ein Baustein zu einer Theorie der Sprachpolitik zu denken, die so weit gefaßt ist, daß möglichst alle Formen des politisch explizit oder implizit motivierten Einwirkens gesellschaftlicher Subjekte auf Sprachliches davon erfaßt werden. In diesem Sinne haben wir bereits an anderer Stelle (BOCHMANN 1987, 43) Sprachpolitik definiert als die „Regelung der kommunikativen Praxis einer sozialen Gemeinschaft durch eine Gruppe, die die sprachlich-kulturelle Hegemonie über diese ausübt bzw. anstrebt. Sprach3
Als ein Beispiel verfehlter Sprachpolitik führt CALVET (1987, 179) Guinea an, wo aufgrund der ungenügenden linguistisch-deskriptiven und sprachpolitisch-theoretischen Vorarbeiten (neben dem Fehlen materieller Voraussetzungen) die zunächst vorgesehene Entwicklung von acht Nationalsprachen sich zunächst verzögerte und dann praktisch eingestellt wurde.
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politik ist wie jede andere Art von Politik den [...] Interessen bestimmter sozialer Gruppen/Schichten/Klassen untergeordnet...". Zweifellos muß dies in mehrerer Hinsicht präzisiert und vervollständigt werden. Aus dem oben Gesagten, aber auch aus der nicht unbeabsichtigten Wahl der Bezeichnung Sprachpolitik, deren Basiswort Politik ist, geht hervor, welche Aufmerksamkeit wir dem politisch-sozialwissenschaftlichen Aspekt hierbei widmen wollen. Ob wir dabei unsere Identität als Linguisten auf den Opfertisch der Interdisziplinarität legen oder nicht, kann nicht von besonderem Interesse sein, zumal die wirklich weiterführenden Ansätze, Sprachpolitik zu identifizieren und zu analysieren, immer dank mehr oder weniger ausgedehnter Inkursionen in sozialwissenschaftliche Gefilde zustande gekommen sind. Zu klären, was Sprachpolitik ist, setzt zunächst ein bestimmtes Verständnis von Politik voraus. Unter Politik wollen wir die Gesamtheit der Handlungen gesellschaftlicher Subjekte verstehen, die auf Erhaltung, Funktionieren und ggf. auch Revolutionierung des Staates bezogen sind, d. h. der organisatorischen Strukturen, die vor allem die Ausübung der wirtschaftlichen und politischen Macht garantieren. Politik bezieht sich aber auch auf die gesellschaftlichen und privaten Organisationen, Vereinigungen und Institutionen, in denen und über die das Verhalten der Bürger zum Staat und zur Gesellschaft geregelt wird. Politisches Handeln hat den Erhalt bzw. die Reproduktion oder auch den Umsturz der gegebenen gesellschaftlichen (sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen) Verhältnisse zum letztendlichen Ziel, die, vereinfacht gesagt, Herrschaftsverhältnisse sind, also von Interessen herrschender sozialer Gruppen oder auch von einem Interessenausgleich zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen bestimmt sind. Die Dichotomie, die hier in den Bezugsgrößen politischen Handelns, „Staat" und „private (d. h. vorwiegend nichtstaatliche) Institutionen und Organisationen", erscheint, geht auf Gramscis Einteilung der Politik in Machtausübung (politische Herrschaft) und Hegemonie (intellektuelle und moralische Führung) zurück (vgl. G R A M S C I 1991, 101 ff., 117f.). Dominante soziale Gruppen bedienen sich zur Sicherung ihrer Interessen der „äußeren", unmittelbaren Machtorgane des Staates — Armee, Polizei, Justiz, Verwaltung — und des ideologischkulturellen Apparates der Konsensgewinnung, die die Akzeptanz des Staates durch die Subjekte bewirken und sie auf die Partizipation an diesem vorbereiten ( G R A M S C I 1980, 277). Von einer absoluten Gültigkeit dieser Dialektik von Macht und Hegemonie kann aber offenbar nicht die Rede sein. Historisch konkret sind es wahrscheinlich erst die unterschiedlichen Formen der bürger-
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liehen Gesellschaft, mit denen der Prozeß der allgemeinen Vergesellschaftung der Individuen, die sich in der Partizipation an den sozialen Angelegenheiten äußert, eingeleitet wird. Vorausgehende Gesellschaftsformationen leisten dies nur in dem Maße, wie sich Warenproduktion und Arbeitsteilung so entfalten, daß sie sich nicht mehr allein im lokalen Rahmen, in der dörflichen oder kommunalen Gemeinschaft, abspielen, sondern nur noch im Rahmen der Gesamtgesellschaft entwicklungsfähig sind, daher einer überregionalen Handelsund Verwaltungsorganisation — und damit zugleich einer überregionalen Sprachform — bedürfen. Die sozialen Subjekte der frühen Feudalzeit sind mehr oder weniger in ihre lokalen, wirtschaftlich selbstgenügsamen Gemeinschaften eingebunden — auch sprachlich durch Mundart und dem lokalen Leben angepaßte Texttraditionen; der Staat existiert weitgehend abgehoben von diesen und greift in der Regel nicht auf die Mehrheit der Subjekte in direkter Weise zurück. Die moderne, mit der bürgerlichen Umwälzung eingeleitete Gesellschaft dagegen setzt die Masse der Produzenten frei für die allumfassende Warenproduktion; sie entwertet die lokalen Gemeinschaftsformen und zwingt die Bevölkerungsmehrheit in die Lohnarbeit, die ihrerseits nur möglich ist, wenn die Arbeiter die eisernen Gesetze des Kapitalismus freiwillig akzeptieren, sie verinnerlichen, sozusagen zu ihrer zweiten Natur werden lassen (vgl. M A A S 1990). Die Möglichkeit von Sprachpolitik entsteht erst, wenn der Rahmen der lokalen Gemeinschaft als wichtigstes strukturierendes Element der Gesellschaft überschritten wird und „Sprache überhaupt erst gewissermaßen als technisches Moment für die gesellschaftliche Organisation erscheint, gebunden an die commis der gesellschaftlichen Geschäftsführung." Die bürgerliche Gesellschaft „bringt die Verallgemeinerung dieses technischen Verständnisses von Sprache, den Octroi einer einheitlichen (oder auch von konkurrierenden einheitlichen) Verkehrssprache(n), insbesondere die Herausbildung von Schriftsprachen, an denen alle zu partizipieren haben", hervor (MAAS 1990). Entscheidend für die Moderne ist aber „die Radikalisierung dieser technischen Modellierung von Sprache, die die Artikulationsbasis der Erfahrung der Subjekte ergreift" (ebd): Nicht nur die sprachlichen Formen, sondern auch die Inhalte von Sprache — sprachlich gebundene Erfahrung in Form von Lexembedeutungen, Argumentationsweisen, versprachlichten Themen, kommunikativem Normwissen — unterliegen nunmehr dem formenden Zugriff des Staates. Diese „positive Zivilisierungstätigkeit des Staates" ( G R A M S C I 1 9 8 0 , 276), in der die sprachliche Formung der historischen Subjekte eine bestimmende Rolle spielt, wird, wie bereits angedeutet, durch die von
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private Vereinigungen und von
(1976) in Anlehnung an den ersteren ideologische Staatsapparate genannten Institutionen und Organisationen geleistet: Schule, Kirche, Familie, politische Parteien, Gewerkschaften, Freizeitvereine, berufliche und kulturelle Vereinigungen. Ihre gemeinsame Funktion ist die Entwicklung und Verbreitung von Kultur, Alltagsbewußtsein und Ideologie sowie die Herausbildung eines gesellschaftlichen Verhaltens, was sich in globaler, wenn auch nicht ausnahmsloser Übereinstimmung mit den eigentlichen Staatsapparaten vollzieht; daher zwischen privat bei G R A M S C I und Staatsapparat bei A L T H U S S E R kein "Widerspruch bestehen muß (zumal Privates und Öffentliches in den konkreten Institutionen oft nicht zu trennen sind). Diese Instanzen sind auf Kommunikation begründet. In ihnen findet die konkrete Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Subjekten in den Dimensionen der gesamten Gesellschaft statt, eine Kommunikation, die allerdings meist nur den Anschein eines Dialogs hat, da die Herrschaftsverhältnisse letzten Endes meist die Unterordnung der Mehrheit unter die herrschende Sprache, die herrschende Norm und den herrschenden Diskurs bewirken. Partizipation an den sozialen Prozessen erweist sich oft als bloßes verbales Partizipieren, jedenfalls unter Verhältnissen, die dem Einzelnen praktische Beteiligung an der Gesellschaft nur oder vorwiegend in der produktiven Sphäre gestatten. Die relative Autonomie und die Vielgestaltigkeit dieser ideologischen Apparate geben allerdings verschiedentlich Raum für Widersprüche, Oppositionen politischer und ideologischer Natur und individuelle Alleingänge. Bis zu einem gewissen Grad können diese divergierenden Meinungen und Handlungen im Sinne einer „negativen Integration" ( G R O H 1973) abgefangen, neutralisiert oder zur Stabilisierung des Systems umfunktioniert werden, so daß eine reale Partizipation an der Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse auf breiter Basis sogar unter Einbeziehung derer stattfindet, die subjektiv das Gegenteil beabsichtigen. Sprachpolitik findet mithin ihre soziale Funktion darin, auf spezifische Weise zur Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse beizutragen, wobei die Befähigung der Individuen zur gesamtgesellschaftlichen Kommunikation sowie die Fixierung und der Transport von Ideologie im Vordergrund stehen. Wenn dies zunächst und vor allem im Interesse der Herrschenden geschieht, so müssen wir uns jedoch darüber im klaren sein, daß daran nicht nur diese selbst (meist aber ja doch über ihre Beauftragten) beteiligt sind, sondern neben einer breiten Masse von gleichgültigen Mitmachern sogar ihre Gegner einbezogen sein können. Sprachpolitik wird somit nicht nur „von GRAMSCI
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oben nach unten" betrieben, sondern wie Politik überhaupt in dem Zusammenspiel unterschiedlicher bis gegensätzlicher Interessen, Meinungen und Haltungen realisiert, aus dem sich dennoch eine bestimmte Gerichtetheit ergibt. Der von Utz M A A S (1990) vorgeschlagene Begriff der Kollusion scheint uns dieses widersprüchliche Zusammenspiel recht plastisch zu verdeutlichen. Er gewinnt seinen Sinn besonders dann, wenn die „relative Autonomie" der ideologischen Apparate und die Möglichkeiten der „negativen Integration" ins Kalkül gezogen werden. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, daß oppositionelle Gruppen eine eigene Sprachpolitik entwickeln können. Das französische Bürgertum hat sich in der Aufklärung auch sein sprachphilosophisches und -politisches Rüstzeug zur Überwindung des Ancien Regime geschaffen; analog dazu brachte die traditionelle Arbeiterbewegung mit der ihr eigenen Nationalitätenpolitik (ζ. B. im Austromarxismus) und ihrem eigenen politischen Diskurs Ansätze zu einer Alternative gegenüber bürgerlicher Sprachpolitik hervor. Markante Fälle sind auch die sprachreformerischen Programme feministischer Bewegungen, die patriarchalischen Strukturen der Gemeinsprache im frauenemanzipatorischen oder auch nur nichtsexistischen Sinne zu korrigieren (vgl. E R F U R T 1988), womit zumindest erreicht werden kann, daß die Öffentlichkeit für latente Aspekte der geschlechtsspezifischen Diskriminierung sensibilisiert wird; ebenso das Eintreten von Minderheiten und Migrantengruppen für die öffentliche Anerkennung und Förderung der ihnen eigenen Sprachen, was zumindest einen Beitrag zur Pluralisierung und Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens leisten kann. Man sollte auch nicht übersehen, daß es nicht bei jeder sprachpolitischen Aktion um einen Schritt zur Sicherung von Herrschaft gehen muß. Sprachpolitik als Komponente von Bildungs-, Kultur-, Nationalitätenpolitik usw. hat heute vor allem in Entwicklungsländern, in denen die Machtverhältnisse soziologisch nicht immer eindeutig zu bestimmen sind, die Aufgabe, die Menschen sprachlich überhaupt zur Teilhabe an modernen Formen der Kultur — Produktion, Politik, Wissenserwerb — zu befähigen. Ob eine gegen die herrschende soziale Klasse gerichtete Sprachpolitik aber deren Interessen real beeinträchtigt bzw. gefährdet oder ob sie in die herrschenden Verhältnisse integriert wird, hängt davon ab, wie sprachpolitische in erfolgreiche politisch-soziale Programme eingebunden werden. Damit wird deutlich, daß Sprachpolitik als Ensemble politisch begründeter bzw. begründbarer Eingriffe sozialer Subjekte in sprachlich-kommunikative Verhältnisse von Gemeinschaften nur im Rahmen einer allgemeinen Reproduktionstheorie, als Komponente der Repro-
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duktion der gesellschaftlichen Verhältnisse (zu denen bekanntlich die Subjekte selbst, vor allem in ihrer Gestalt als Produktivkräfte, gehören), erklärbar ist. Wie die „Eingriffe" beschaffen sind und welche spezifische Aufgabe ihnen im Reproduktionsprozeß zufällt, dazu sind in den folgenden Abschnitten einige natürlich immer noch „tentative" Überlegungen formuliert. Soviel sei vorweggenommen, daß es sich konkret um Festschreibungen und Korrekturen von Standardnormen, Aktionen zur Sprachpflege, die Ausarbeitung von Nomenklaturen und Vorschriften für Namensgebung jeder Art (Personen-, Orts-, Straßen-, Warennamen), Entscheidungen und Praktiken der Mutter- und Fremdsprachenbildung, Regelung des Gebrauchs von Dialekten und Sprachen von Minderheiten, Migrantengruppen oder kolonial abhängigen Völkern, politische und administrative Sprach- und Diskursregelungen sowie Übereinkünfte zu internationalen Verkehrs- und Verhandlungssprachen u. a. m. handelt. Einzelne Handlungen der Regelung sprachlich-kommunikativer Verhältnisse mögen gelegentlich rein praktischen, unmittelbaren, nichtpolitischen Zielen dienen. Orthographiereformen, Nomenklaturen, Sprachpflege, Dialektpflege und anderes stellen sich häufig als ideologiefreie, rein technologische oder auch ästhetische Erscheinungen sogar im Bewußtsein ihrer Initiatoren dar. Ihr politischer Stellenwert aber tritt zutage, wenn man einmal alle sprachregelnden Handlungen einer bestimmten Gemeinschaft aufeinander bezieht. Das wird besonders augenfällig am Beispiel von Staaten oder Regierungen, die eine dirigistische, öffentlich thematisierte Sprachpolitik betreiben. Die französischen Revolutionsregierungen, darunter vor allem die der Jakobiner, sind ein historischer Präzedenzfall dafür. Die Projekte und Dekrete zur Verbreitung der Nationalsprache unter allen sozialen Schichten und in allen Regionen auf dem Wege der allgemeinen Schulpflicht korrespondierte mit den Polemiken und Maßnahmen gegen die „patois" und von Nachbarländern überlappenden Sprachen der Randgebiete sowie mit dem Mißtrauen gegen allzu revolutionäre orthographische und grammatische Reformvorschläge bei gleichzeitiger Öffnung für die revolutionäre Lexik, und der Ausarbeitung einheitlicher Nomenklaturen für Maße, Gewichte und Zeitangaben entsprach auf einer anderen Ebene die strenge, auf Einheitlichkeit zielende Regelung des politischen Diskurses in Presse und öffentlicher Rede. Diese Kohärenz aller sprachregelnden Handlungen Regierender oder sprachlich öffentlich Tätiger in einem bestimmten Staatswesen erlaubt es, ja fordert es geradezu, alle diese auf den ersten Blick heterogenen Akte unter dem gemeinsamen Oberbegriff Sprachpolitik
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zusammenzufassen. Die Bezeichnungen language planning und language treatment verschleiern den Bezug zu den handelnden Subjekten und zu den Zielen der Sprachpolitik. Und um Politik handelt es sich allemal, weil mehr als nur rein sprachliche Interessen dahinterstehen können. Selbst wenn viele dieser Handlungen „hinter dem Rücken" der Subjekte und ohne explizite politische Zielvorstellungen der Handelnden wie der Betroffenen vollzogen werden, tragen sie objektiv dazu bei, politische bzw. sozialökonomische Verhältnisse zu stabilisieren oder — aus der Perspektive oppositioneller Kräfte — zu destabilisieren. Sprachpolitik dient dazu, die soziale Kommunikation so zu gestalten, daß sie die Reproduktion bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse begünstigt oder, im entgegengesetzten Falle, die Herbeiführung anderer gesellschaftlicher Verhältnisse beschleunigen hilft. Ist es nun noch sinnvoll, Sprachpolitik (Politik im Rahmen einer Sprache bzw. einer Sprachgemeinschaft) von Sprachenpolitik (Politik, die die Regelung des Verhältnisses zwischen unterschiedlichen Sprachen betrifft) zu trennen? Da es sich um eine Unterscheidung allein auf der Ebene der sprachpolitischen Praxis handelt, deren gesellschaftlicher Kausalnexus aber grundsätzlich identisch ist, kann man allein in den Domänen der Anwendung von Sprachpolitik beide Erscheinungen voneinander trennen. Wo sollte man im übrigen die Grenze ziehen zwischen der Behandlung von Minderheitensprachen (Sprachenpolitik) und von Dialekten (Sprachpolitik), zumal wenn ein Dialekt eines Tages von seinen Sprechern als Sprache deklariert wird? Die auf das Verhältnis verschiedener Sprachen zueinander bezogene Politik aus dem Gesamtkontext der Sprachpolitik herauszulösen würde bedeuten, rein deskriptiv vorzugehen, allein den Zugriff zu den Formen von Sprache und nicht zu den Inhalten (die vor allem mit der Diskursregelung betroffen werden) im Auge zu haben und sich eines umfassenden Erklärungsrahmens für die vielfältigen Formen des politisch bedingten Umgangs mit Sprache zu begeben. Wir haben es absichtlich vermieden, das Epithet bewußt oder beabsichtigt zu den Eingriffen hinzuzufügen. Die Versuchung liegt nahe, damit Sprachpolitik von einfachem Sprachwandel infolge gesellschaftlicher Evolution abzuheben. Es ist fraglich, ob eine solche Gegenüberstellung — Sprachpolitik als von den Subjekten bewußt bzw. intentional betriebener Vorgang, soziokulturell bedingter Sprachwandel als unbewußter Prozeß — sinnvoll ist; intrikat ist sie auf alle Fälle. Denn der realen politischen Dimensionen und Folgen bewußt sind sich die Handelnden auch in der allgemeinen Politik nicht immer (und nur um diese Art von Bewußtsein geht es, da Bewußtsein normalerweise allen Handlungen zugrunde liegt), was nicht zuletzt die
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Fehlentscheidungen im politischen und ökonomischen Krisenmanagement demonstrieren. Es zählt allein das Ergebnis, ob es nun intendiert war oder nicht. Insofern gehört zur Sprachpolitik nicht nur das als solche Deklarierte, sondern auch das unter der Hand sprachpolitisch wirksam Werdende: also auch der autoritäre oder attraktive politische Text oder Werbespot, der ein diskursiv-gedankliches Modell vorgibt. Wo will man ζ. B. auch die Grenze ziehen zwischen der strikten politischen Sprachregelung eines Goebbels, der täglich der Presse Anweisungen zur Benennung von Fakten und Umständen erteilte, was man ohne weiteres zur Sprachpolitik zählen würde, und den von ganz unterschiedlichen Agenturen und Blättern im demokratischen Regime in Umlauf gebrachten politischen Schlagwörtern, deren diskursbildende Wirkung auf die Sprache der Rezipienten aber nicht geringer ist und die in ähnlicher Weise zum Erhalt des politischen und sozialen Systems beitragen? Diese Existenzform von Sprachpolitik sozusagen als — häufig durchaus auch unfreiwilliges — Nebenprodukt anderer politischer oder nichtpolitischer Handlungen läßt es möglicherweise als opportun erscheinen, zwischen expliziter und impliziter Sprachpolitik zu unterscheiden. Über den gesellschaftlichen Stellenwert vorder- oder hintergründigen sprachpolitischen Handelns ist damit aber nichts gesagt. Entscheidend ist ζ. B. hinsichtlich eines öffentlich wirkenden Textes am Ende die Frage, ob er Sprachpolitik im Sinne einer sozial relevanten Lenkung sprachlichen bzw. diskursiven Verhaltens der Rezipienten transportiert oder nicht, und dies unabhängig von den primären Intentionen seines Verfassers. Ebenso wichtig ist es aber auch, sprachreformerische Ideen und Programme auf ihren politischen Gehalt hin zu prüfen, alldieweil manche puristischen Appelle weder in einen adäquaten politischen Rahmen passen noch nennenswerten Erfolg haben. Nichtsdestoweniger gehören sie zum ideellen Besitz einer Gesellschaft, aus welchem politisch instrumentalisierbare Programme zur jeweils passenden Gelegenheit ausgewählt werden können. Zweifellos muß die Frage nach der Beziehung zwischen intendierten und realisierten sprachpolitischen Ideen gestellt werden. Andererseits gibt es sprachpolitische Proklamationen, deren symbolischer Wert höher zu veranschlagen ist als ihr praktischer Erfolg. C A L V E T (1987, 156) führt dafür die Proklamierung des Malaiischen als Nationalsprache durch die Nationalistische Partei Indonesiens im Jahre 1928 an, die, ohne die nötige Macht und die Mittel dafür zu haben, damit die Existenz einer indonesischen Nation postulierte. Beispiele dafür ließen sich aber auch aus dem Repertoire der europäischen Minderheitensprachen zur Genüge anführen.
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Die politisch-soziale Determination von Sprachpolitik ist — das sollte bei aller prinzipiellen Rückführung sprachpolitischer Erscheinungen auf Interessen sozialer und politischer Gruppen nie übersehen werden — nicht kurzschlüssig als direktes Verhältnis von Ursache und Wirkung, sprachformender Aktion und politischem Erfolg aufzufassen. Die relative Autonomie kultureller und sprachlicher Phänomene ist eine Tatsache, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Der in der Arbeiterbewegung und in der Praxis „real-sozialistischer" Länder lange Zeit übliche einseitige Primat der sozialen Frage hat dazu geführt, daß Fragen der Sprache und in geringerem Umfange auch der Kultur nur in dem Maße auf Interesse stießen, wie sie sich unmittelbar politisch instrumentalisieren ließen. Wenn es in den 50er Jahren namentlich in den damals volksdemokratisch genannten Ländern Ost- und Südeuropas umfangreiche Aktivitäten gab, die Defizite in der Alphabetisierung und in der Kodifizierung und Verbreitung des sprachlichen Standards unter der Bevölkerung zu verringern, so bezogen sich diese immer nur auf die dominierenden Staatssprachen. Ausdruck der mangelnden Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der politischen Klasse für die zentrale Rolle der Sprache in der Persönlichkeitsentwicklung ist auch in der Zivilisation des Westens das Fehlen von Programmen einer Sprachkultur, die als Randgebiet gesellschaftlichen Interesses den Spezialisten überlassen wird. Dabei gibt es Aufgaben zu lösen, die bei näherem Hinsehen hochgradig politischer Natur sind: die Befähigung möglichst vieler Menschen zu einer größeren Souveränität im Umgang mit der Sprache, vor allem in der öffentlichen Kommunikation als Voraussetzung für eine effektivere Beteiligung an der Öffentlichkeit; die Herausbildung eines Alltagsbewußtseins hinsichtlich der sprachlichen Kommunikation, in dem kein Platz für Vorurteile ist (wie in der D D R etwa der Art, daß man „wirksam reden" nicht zu lernen brauche, daß es allein auf den Inhalt ankäme etc.), dafür aber die Fähigkeit zur Sprachkritik in der Öffentlichkeit; Wissen über das historische Gewordensein der eigenen Sprache als Komponente und Spiegel der Kulturgeschichte, als Voraussetzung für ein verantwortungsvolleres Verhalten gegenüber der Sprache, usw. (vgl. T E C H T M E I E R et al. 1984, 395 f.). Für diese Lücken in sozialen Entwicklungsstrategien (wo es die überhaupt noch gibt!) kann man neben den genannten Gründen auch andere anführen, wie das Scheitern der auf der Defizithypothese aufbauenden sprachkompensatorischen Bildungsprogramme. Auch historische Erfahrungen mit traditioneller Spracherziehung, die einseitig auf die Vermittlung des Standards abzielten, und noch dazu allein des schriftsprachlichen, der für alle Lebenslagen herhalten sollte, mögen
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eine Rolle dabei spielen. Das hängt gewiß auch damit zusammen, daß die Verwirklichung von Sprachpolitik in der Regel durch Intellektuelle mit ihren spezifischen sprachlich-kulturellen Traditionen erfolgt, die dazu neigen, dem „Volk" von oben herunter ihre eigenen Normen anzubieten und sich noch nicht genügend Mühe gemacht haben, die in der „Sprache des Volkes", in der Umgangssprache und den Relikten der Dialekte natürlich vorhandenen kreativen Potenzen diesem selbst bewußtzumachen und von da aus Brücken zu den (ihrerseits sicher oft reformbedürftigen) Standardnormen zu schlagen. Spracherziehung bedeutet in den meisten Ländern 4 noch ausschließlich Erziehung zur hochsprachlichen Norm, ohne Rücksicht auf dominierende Sprachgewohnheiten im Leben der zu Erziehenden. Es wäre im Gegensatz dazu eine emanzipatorische Sprachpolitik wünschenswert und durchaus auch denkbar, die der Heranbildung freier, sich ihres intellektuellen, kulturellen und sprachlichen Selbstwertes bewußter Persönlichkeiten dienen sollte, die in der Lage sind, ihren Platz in der Gesellschaft selbst zu bestimmen. Es wäre eine Sprachpolitik, die nicht von kurzschlüssigen machtpolitischen Erwägungen, gegebenen Gesellschaftsstrukturen und Traditionen der herrschenden Kultur aus, sondern in einem allgemeinen humanistischen, auf Verbreiterung und Vertiefung der Partizipation der Mehrheit an den Dingen der Gesellschaft, mithin auf mehr Demokratie abzielenden Interesse handeln würde.
1.3. Träger und Agenten von Sprachpolitik Wenn Sprachpolitik, in letzter Instanz und global, also nicht in jeder einzelnen sprachpolitischen Maßnahme gesehen, den jeweils Herrschenden dient, so müssen ihre Initiatoren und Ausführenden, wie bei jeder politischen Aktivität, nicht selbst zu den Herrschenden gehören. Sie müssen nicht einmal im Auftrag der politischen Herrschaft handeln, sondern können dies durchaus in völliger individueller Freiheit oder im guten Glauben daran tun. Die ideologischen Staatsapparate bzw. privaten Vereinigungen bieten in ihrer relativen Autonomie von der politischen Herrschaft dafür genügend Spielraum. Die Sozialisie4
M i t A u s n a h m e etwa Italiens, w o es seit den siebziger Jahren eine stärker auf Mündlichkeit aufgebaute, den Dialektgebrauch fördernde schulische Spracherziehung gibt.
Träger und Agenten von Sprachpolitik
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rung des modernen Menschen vollzieht sich als teilweise unbewußtes und unbeabsichtigtes Zusammenspiel, eben als Kollusion, von unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Interessen, in Familie, Schule, kultureller und medialer Öffentlichkeit, Kirchen, Vereinen, Organisationen, Parteien u. dgl., die die Reproduktion der sozialökonomischen Verhältnisse durch die „staatsmäßige Zurichtung" (MAAS 1980) der Individuen sichern, ohne daß dies jederzeit explizit gefordert wird. Es gilt für die sprachlichen Verhältnisse nicht einmal analog die Maxime, wonach die herrschende Ideologie die der Herrschenden ist: Die herrschende sprachliche Norm muß nicht die Varietät sein, die die herrschende soziale Gruppe selbst spricht. Im heutigen Frankreich ist das Französische der Schule und der Verwaltung nicht die Sprache der herrschenden großbürgerlichen Kreise, die eher technokratisch geprägt ist, sondern vielmehr die Sprache der Intellektuellen (vgl. M A R C E L L E S I 1976, 92ff.). Intellektuelle, allerdings im weiten, gramscianischen Sinne, 5 d. h. Wissenschaftler (darunter auch Sprachwissenschaftler), Künstler des Wortes, administrative und technologische Leitungskräfte in Wirtschaft und Verwaltung, Manager und Werbefachleute, Juristen, Mitarbeiter der Medien, Lehrer aller Ebenen des Bildungswesens, kurz: alle diejenigen, die Sprache als ihr wichtigstes Arbeitsmittel täglich gebrauchen, sind die Initiatoren und Ausführenden sprachpolitischer Programme, Forderungen und Handlungen. Utz M A A S beurteilt sprachpolitische Programme und Forderungen generell als „Ausdruck der Klassenlage der Intellektuellen in der bürgerlichen Gesellschaft" (1980, 23), die darin „Verwertungsmöglichkeiten von in kulturellen Aktivitäten investiertem Kapital" erkennen (1980, 29). Dies gilt im großen Ganzen für den Gesellschaftstyp, der sich von der Französischen Revolution an herausgebildet hat. Für die Zeiten davor ebenso wie für Gesellschaftsformationen, in denen die „Organische" Intellektuelle sind im Gegensatz zu den „vagabundierenden" oder „nichtorganischen" nach Gramsci diejenigen, die sich mit einer hegemonischen oder nach Hegemonie strebenden, aufsteigenden Klasse verbinden. Ein typischer Fall vagabundierender Intellektueller waren für ihn die Künstler, Wissenschaftler, Philosophen, Philologen u. ä., die eine hoffnungsvoll mächtige frühbürgerliche Entwicklung in Italien hervorgebracht hatte, deren intellektuelles Potential nach der am Ende des 16. Jhs. einsetzenden gesellschaftlichen Rückentwicklung in feudale Bahnen hinein brachlag und nur zu einem Teil von den zum Absolutismus tendierenden Herrscherhäusern, vor allem im Sinne historisch überholter Ideologien, genutzt werden konnte (vgl. GRAMSCI 1980, 222ff., 230ff.). Einzelne avantgardistische Leistungen, wie die eines Galilei oder Vico, standen daher im 17. Jh. ohne bedeutenden sozialen Rückhalt im Raum, was das persönliche Schicksal vor allem Galileis erklärt.
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Gesetze des Marktes nur begrenzt wirken, sind sicher auch andere Beweggründe in Anschlag zu bringen. Man kann die Entstehung sprachpolitischer Projekte, wie aus dem Vorstehenden ersichtlich geworden sein dürfte, nicht nur aus der sozialen Interessenlage der Intellektuellen heraus erklären (falls dies jemals als beabsichtigt erschien), da die „Nachfrage" danach auch unabhängig von sozialen Interessen der Intellektuellen entsteht. Die Annahme von M A A S zwingt aber dazu, die Träger und Agenten von Sprachpolitik genauer zu bestimmen, ihre Motive zu untersuchen und die Beschaffenheit sprachpolitischer Ideen und Programme aus der spezifischen Lage der Intellektuellen und ihrer Einbindung in kulturelle und wissenschaftliche Traditionen heraus zu interpretieren. Intellektuelle im weiten Sinne des Wortes sind immer und überall die Träger und Agenten von Politik überhaupt, sofern sich diese (ohne jemals ganz darauf zu verzichten) von der bloßen Gewaltanwendung löst und die Gewinnung des Konsens unter der Bevölkerungsmehrheit oder den gesellschaftstragenden Schichten der Schlüssel für die Machtausübung und -bewahrung ist. Die Existenz der Intellektuellen ist an diese Funktion gebunden, zwischen Herrschaft und Volk mit den ihr eigenen Instrumenten, Bildung, Ideologie und Kunst, zu vermitteln. In großer Zahl und allein auf ihr Wissen und ihre Tüchtigkeit bauend, können sie sich erst dann betätigen, wenn die Marktgesetze in der modernen Gesellschaft frei zur Entfaltung kommen, sie also ihr kulturelles Kapital lukrativ investieren können. Das Mäzenat, das über die Renaissance hinaus die materielle Existenz der Intellektuellen sicherte, band sie ideologisch zu eng an feudale Sponsoren und ließ ihre Zahl nicht über ein bestimmtes Maß hinauswachsen. In den Kommunen Italiens, den Handelsmetropolen Frankreichs und der Niederlande sowie in den freien Reichs- und Hansestädten Deutschlands organisierte das Bürgertum jedoch selbst schon im 14. und 15. Jh. seine „organischen Intellektuellen", die nichtsdestoweniger oft „Freiberufliche" waren und sich nicht selten in der Lage regelrechter Unternehmer (vor allem als Buchdrucker und Verleger) befanden. Die allerorten aufblühende Buchproduktion setzte eine weite Verbreitung der Lesefähigkeit voraus, die punktuell (ζ. B. in Florenz im 15./16. Jh.) schon früh hohe Prozentzahlen erreichte. Die wachsende „Nachfrage" an Lehrern, Druckern, Autoren, Übersetzern, Advokaten und Rechnungsführern bewirkte die Entstehung einer sich ständig verbreiternden sozialen Schicht freier Intellektueller. Ihre schon auf diese Weise erlangte Schlüsselstellung in der Gesellschaft wird noch größer mit der Entstehung der Medienöffentlichkeit, zunächst in Gestalt der gedruckten Literatur und des Journalismus. Überall da, wo sich die
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Intellektuellen in den Dienst des nach der politischen Macht strebenden Bürgertums stellen, sind sie schon ein redoutabler Machtfaktor, wofür Index, Inquisition und Zensur Negativbeweise sind. Wo das Bürgertum die Macht errungen hat oder sich lokal selbst regiert, wie in den freien Reichsstädten, wird es ihre Aufgabe werden, die politische Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit zum Zwecke der Gewinnung des allgemeinen Konsens der Bevölkerung mit der Macht zu organisieren. Sie sind dank ihrer Sprachkenntnisse, der Beherrschung der Literatur- oder Nationalsprache und ihrer funktionalen Varietäten als einzige dazu in der Lage. In sprachlich-kultureller Hinsicht sind die Intellektuellen relativ unabhängig von der sozialen Gruppe, deren Interessen sie wahrnehmen. Die Advokaten, Literaten, Beamten, Geistlichen usw., die sich in Frankreich zwischen 1789 und 1799 zu Wort- und Schriftführern der unterschiedlichen revolutionären Strömungen und Kräfte machen, benutzen ein Französisch, das die im 17. Jh. von der höfischen Aristokratie, la cour et la ville, geprägte Norm zur Richtschnur nahm. Sie waren wie die Aufklärer im Banne der aristokratischen Kultur des Ancien Regime großgeworden, zu der es keine akzeptable Alternative gab. Der ursprünglich aristokratische bort usage war im Verlaufe des 18. Jhs. zum Gemeingut aller Gebildeten unabhängig von ihrer sozialen Abkunft geworden. Wie die politische Alternative zum Absolutismus aus dem historischen Block von adligen Kräften und Vertretern des 3. Standes erwuchs und bürgerliches Denken zunächst von den aristokratischen Trägern der Frühaufklärung vom Schlage eines Fontenelle, La Bruyere oder Fenelon geprägt war, so auch Kultur und Sprache der Intellektuellen bürgerlichen Ursprungs von Sprache und Kultur der Aristokratie, wie das Bürgertum generell vom Prestige der aristokratischen Kultur angezogen war. In der Revolution bestand daher kein Anlaß auch für die Sprecher des 3. Standes, eine andere Varietät, etwa den Soziolekt der Pariser Kaufleute, Bankiers oder Manufakturbesitzer, zu bevorzugen. Die Versuche eines Hebert, Elemente der Volkssprache in die Presse zu bringen, wurden genauso abgelehnt wie die Vorschläge zur radikalen Reformierung der Norm durch Aufwertung volkssprachlicher Aspekte. In der Arbeiterbewegung wird man Analoges zur französischen Sprachsituation im 18. und 19. Jh. feststellen. Die „Sprache der Arbeiter" ist, sofern damit nicht das politische Vokabular der organisierten Arbeiterbewegung gemeint ist, nirgendwo zum Standard geworden, zumal die gebildeten Arbeiter überall die dominierende Sprachnorm, eigentlich die „Sprache der Bourgeoisie", angenommen haben.
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Diese sprachlich-kulturelle, durch die jeweiligen nationalen Traditionen bestimmte Sonderstellung der Intellektuellen gegenüber der Klasse, an die sie sich „organisch" anbinden, und ihre spezifische Funktion als Inhaber und Bewahrer standardisierter bzw. literarischer Sprachformen und Produzenten neologischer Entwicklungen berechtigt dazu, in ihnen die sprachlich-kulturell hegemonische Schicht zu sehen. Das setzt jedoch voraus, den Begriff des Intellektuellen in der modernen Gesellschaft noch über die gramscianische Auffassung hinaus zu erweitern, wobei vor allem die Organisatoren der materiellen Produktion und Distribution unter Einschluß der Spezialisten der Werbung und des Marketing sowie die Medienfachleute hinzuzuschlagen sind. Im Prinzip handelt es sich nach der Auffassung der soziolinguistischen Schule von Rouen, in der der Begriff geprägt worden ist, um alle diejenigen, in deren beruflicher Tätigkeit der Umgang mit der Sprache einen hauptsächlichen Anteil hat ( M A R C E L L E S I , in: Discussion 1976, 116 f.; vgl. auch M A R C E L L E S I 1976; G U E S P I N / M A R C E L LESI 1986, 23 f.; M A R C E L L E S I / B U L O T 1988). Die Einbindung der sprachlichen in die kulturelle Hegemonie ergibt sich aus der Tatsache, daß die Beherrschung, Verbreitung und Indoktrinierung sozial markierter sprachlicher Varietäten stets oder vorwiegend in kulturelle Handlungen und Prozesse (Bildung/Erziehung, Kunstbetrieb, Medienkultur, technische Kultur) eingebettet ist. Daß es sprachliche Spezialberufe (Lehrer für den Mutter- und Fremdsprachenunterricht, Übersetzer, Linguisten, Lektoren) gibt und deren Vertreter oft genug „kulturlos" sind, liegt in der Dialektik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung mit ihren Aspekten der Entfremdung begründet. Sprachlich-kulturelle Hegemonie bedeutet in der Regel nicht, politische Herrschaft auszuüben, wenn auch eine Beteiligung an der Macht nicht auszuschließen ist, namentlich in der speziellen Intellektuellenfunktion des Staatsbeamten und Politikers. Die Rolle der sprachlichkulturellen Hegemonen in der Medienöffentlichkeit kann leicht als Machtposition überschätzt werden. Tatsächlich stellt sie neben dem scheinbaren Anteil an der Macht zugleich und vielmehr eine geeignete Form der Disziplinierung der Intellektuellen dar, die auf diese Weise an die Macht gebunden und aus ihrem tendenziell „vagabundierendem", sozial ungebundenen Dasein herausgelöst werden, nicht zuletzt durch die offensichtlichen Privilegien, die sie in dieser Position genießen und die sie auch zu bewahren wissen: durch die Verteidigung ausgeklügelter Normsysteme, komplizierter Orthographien, technizistischer Vokabulare und schwer durchschaubarer oder praktikabler funktionaler Varietäten bzw. Textnormen usw.
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Als einen Vorzug des Begriffs der sprachlich-kulturell hegemonischen Schicht ist über die genannten analytischen Anstöße hinaus anzusehen, daß die in den Theorien der Sprachplanung im Mittelpunkt stehenden Techniker und Techniken auf die ihnen zukommende Position, Elemente eines Ensembles soziokultureller und politisch-sozialer Prozesse zu sein, verwiesen werden.
1.4. Die Instanzen und Agenturen der Sprachpolitik Gewöhnlich hat man zuerst allein staatlich-institutionelle Instanzen im Blick: Akademien und Sprachinstitute wie das Institut für Deutsche Sprache, wissenschaftlich-editorische Gremien wie die Dudenredaktion, Parlamente und Ministerien, die sprachpolitische Gesetze bzw. Verordnungen erlassen, staatlich-nationale und internationale Organisationen, wie die Delegation generale de la langue franfaise (bis 1989 Commissariat de la langue franfaise) beim französischen Ministerpräsidenten und der internationale Haut Conseil de la Francophonie usw. Zweifellos sind dies die wichtigsten Agenturen von Sprachpolitik, die diese explizit, in Form von Sprachgesetzgebung, Normenfestsetzungen oder Empfehlungen zum Sprachgebrauch, sprachpflegerischen Publikationen, sprachplanerischen Aktionen usw. betreiben. Sich darauf beschränken hieße jedoch die Vielfalt und gesellschaftliche Totalität sprachpolitischer Prozesse übersehen. Genaugenommen sind alle Sozialisierungsinstanzen des Menschen zugleich sprachpolitische Agenturen, da jede Sozialisierung — das ist fast ein Gemeinplatz — über Sprache vonstatten geht und von den dabei angeeigneten sprachlichen Formen und Bedeutungen sowie sprachlichen Verhaltensmustern das Ergebnis der Sozialisation selbst abhängt. Diese Erkenntnis ist in ihrer Substanz lange bekannt und weit verbreitet, weshalb auch die vom Staate getragenen Sozialisierungsinstanzen, allen voran die Schule und andere Lehranstalten, sprachlichen Fragen seit jeher große Beachtung schenken. Die Schule ist für A L T H U S S E R der wichtigste ideologische Staatsapparat (die modernen Massenmedien, ob vom Staat kontrolliert oder nicht, sind ihr aber sicherlich gleichrangig an die Seite zu setzen). Daher spielt die Schule in der Sprachpolitik der Französischen Revolution eine ebenso wichtige Rolle wie in den Reformwerken des 18. und 19. Jhs., die auf anderem als auf revolutionärem Wege den modernen bürgerlichen
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Staat vorbereiten: im Habsburger Reich unter Maria-Theresia und Joseph II. ebenso wie in den Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen und in dem vereinten Italien nach 1861. Das erklärte Ziel ist überall die Alphabetisierung in der Nationalsprache (in den Habsburger Landen auch in den Sprachen einiger Nationalitäten), deren Standardnormen damit zugleich verbreitet werden sollen. Daß die Schule gleichzeitig noch andere sprachpolitische Funktionen erfüllt, wie die Vermittlung von Regeln für das schickliche Sprachverhalten in der Öffentlichkeit, was zunächst wohl vor allem Übung in Zurückhaltung, Akzeptieren des vorgegebenen Diskurses und Respektieren der Obrigkeit, Denken in vorgegebenen Themenkreisen und Argumentationsbahnen hieß, wird von den Betroffenen selbst — Schülern und Eltern, nicht selten auch von den Lehrern — oft nicht wahrgenommen. Zu den wichtigsten unter den als sprachpolitische Agenturen wirkenden ideologischen Apparaten gehört die Familie. In der bürgerlichen Gesellschaft hat sie die Erziehungsfunktion arbeitsteilig übernommen, die zuvor ein integraler Bestandteil der Sozialisation im gemeinsamen Arbeitsprozeß des Großfamilienverbandes oder der dörflichen Gemeinschaft gewesen ist. Über Familienerziehung wurde vor dem 18./19. Jh. nie soviel geschrieben wie seitdem, und Pädagogik im allgemeinen nimmt in der Aufklärung bekanntlich eine zentrale Position ein. Der Staat delegiert einen großen Teil der sprachlichen Erziehung in die Familie. Umfragen zu Minderheitensprachen und Dialekten weisen auf die seit dem 19. Jh. zunehmende Tendenz hin, daß ihr Rückgang zugunsten einer Nationalsprache oder Standardnorm vor allem aus der Absicht der Eltern resultiert, den Kindern schon in der Familie, unter Bruch der Traditionen, diejenige Varietät beizubringen, die ihnen die Integration in die moderne Gesellschaft bzw. ihr soziales Fortkommen am ehesten ermöglicht. Diese Sozialisation „in der Sprache der verstaatlichten Subjekte" (MAAS 1980, 42) wird unwidersprochen hingenommen, obwohl sie den Eltern oft schwerfällt, da sie sich selbst zu einer ihnen weniger geläufigen Sprachform zwingen müssen, und die Kinder nicht selten in den Gegensatz zum lokalen Umfeld, zu Freunden und Nachbarn bringt, abgesehen vom häufigen Mißlingen der Adaption an die Standardvarietät. Diesem sprachpolitischen Druck unterliegen vor allem kleinbürgerliche Kreise (die sprachlich labile middle-class bei LABOV 1976, 189 ff.) sowie alle diejenigen, die nach einem höheren sozialen Status streben. Die positive Seite dieser Erscheinung, die Verbreiterung der sozialen Basis der Standardvarietät, sollte dabei natürlich nicht unterschlagen werden.
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Familie und Schule sind Instanzen der Primärsozialisation, im Erwachsenenalter wirken heute als permanenter Sozialisierungsfaktor vor allem die Massenmedien (von denen natürlich auch die Kinder geprägt werden). Vor dem Aufkommen und der massenhaften Verbreitung der elektronischen Medien beschränkt auf die Lesefähigen (oder besser: die Lesewilligen und -geübten), setzt vor allem das Fernsehen keine besondere sprachliche Kompetenz voraus, vielmehr läßt es auch bei den sprachlich weniger Vorbereiteten dank Bild und Musik ohne eigene Anstrengung eine oberflächliche Performanz entstehen. Neben den allgemeinen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer modernen, auf Massenkonsum aufgebauten Phase, in der die lokalen Lebens- und Sprachformen als unnütz gewordene, allenfalls museal konservierbare Fossilien beiseite gedrängt werden bzw. geworden sind, haben Fernsehen und Rundfunk maßgeblich zum Rückgang von Dialekten und Minderheitensprachen beigetragen. Daraus erklärt sich andererseits das Bemühen minderheitensprachlicher Gemeinschaften, eigene Rundfunk- und Fernsehprogramme oder Sendezeiten in ihrer Sprache zu erlangen, im besten Fall sogar eigene Stationen, wie es ζ. B. in Spanien mit dem katalanischen, baskischen und galegischen Fernsehen der Fall ist. Daß die Medien, und in diesem Falle in besonderem Maße auch die Presse, als mächtige sprachpolitische Instanz der politischen Sprach- bzw. Diskursregelung wirken, soll vorläufig nur erwähnt werden. In die Instanzen der Primärsozialisation sieht sich das Individuum ohne seine freie Entscheidung gestellt, den anderen ideologischen Apparaten gegenüber hat es eine gewisse, wenn auch nicht unbegrenzte Freiheit der Wahl. Es bietet sich an, das Inventar der analytischen Begriffe in dieser Hinsicht noch zu präzisieren. Die oft gestellte, in dieser Weise aber kaum befriedigend zu beantwortende Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Individuum, die sich in der Linguistik als Verhältnis von Langue und Parole wiederholt hat, gewinnt einen Sinn nur mit der Identifikation und Untersuchung der Vermittlungsinstanzen zwischen beiden Polen. So wird ζ. B. der Arbeiter von seiner sozialen Klasse nur dadurch geprägt, daß er sie in ihren sozialen Subkategorien und Interaktionsräumen konkret erlebt: in der Arbeiterfamilie, dem Wohnviertel, der Schulklasse, der Arbeitsstelle bzw. dem Team oder Kollektiv, der Freizeitgruppe und politischen oder gewerkschaftlichen Organisation. Es wäre zu fragen, ob und wie sich die heute zu beobachtende Auflösung solcher eher traditioneller Formen der Assoziation (die im übrigen in der D D R vor 1989 noch lebendiger als in der BRD waren) und die daraus
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folgende Vereinzelung der Arbeiter in ihrem Sprachverhalten niederschlägt. Die „historischen Formen der Individualität", d. h. „die Gesamtheit der sozialen Beziehungen, die (...) bestimmen, wie die Menschen durch ihre Tätigkeit und ihren Lebenslauf zu historisch-gesellschaftlich determinierten und gleichwohl einmaligen Individuen werden" ( S E V E , nach GUESPIN 1 9 8 5 b, 3 0 ) , bilden sich durch das Wirken derjenigen Gruppierungen und Situationen der Interaktion heraus, die die Persönlichkeitstheorie „Soziabilitätsstrukturen" nennt (vgl. auch GUESPIN 1985 c). Es sind „des groupements informels ou institutionnalises, doues d'une certaine duree ou s'assemblent avec une certaine regularite des individus de leur plein gre ou par contrainte" ( L E M A R C H A N D 1985, 112). Der Begriff füllt eine Lücke in der Bezeichnung der Formen der Vergesellschaftung der Subjekte und benennt speziell diejenigen, denen es sich aus freien Stücken oder sozialen Zwängen heraus zugesellt, im Gegensatz zu denen, in die es durch die Geburt eingeordnet ist (Nation, Staat, Klasse/Schicht, Familie). Soziabilität, d. h. „Geselligkeit" ohne ludische Konnotation, bzw. gesellschaftlicher Umgang oder Verkehr, tritt sowohl diffus als auch institutionalisiert auf. Die Institutionalisierung nimmt offenbar mit der Komplexität der sozialen Beziehungen zu. Mit der durch die Französische Revolution deklarierten Versammlungs- und Vereinsfreiheit ist die Institutionalisierung der Soziabilität zu einem universalen Menschenrecht erklärt worden, von dem dann auch in einem bis dahin ungekannten Ausmaß Gebrauch gemacht worden ist. Die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa im Gefolge der industriellen Revolution einsetzende Hinwendung zum modernen Kapitalismus hat die Formen der institutionalisierten Soziabilität ungemein vervielfältigt und ihren Wirkungsbereich auf große Kreise der Bevölkerung erweitert. Politische, gewerkschaftliche, religiöse, künstlerische, berufliche, karitative, mit Freizeit und Hobbypflege befaßte Organisationen, Vereine und Interessengemeinschaften sind damit zu sprachbildenden Instanzen geworden, die ihre Mitglieder und Anhänger in ihrem diskursiven Verhalten einschließlich Wortschatz und Phraseologie prägen. In welchem Umfang sie sprachpolitisch „das Geschäft der Herrschenden" betreiben, ist nicht nur aus den von Fall zu Fall erkennbaren Verbindungen mit den Herrschaftsstrukturen ablesbar. Da sie teils spontan entstehen und Eigendynamik entwickeln, teils von Vertretern der herrschenden Kreise ins Leben gerufen oder geführt werden, sind die einen „ideologische Staatsapparate" im unmittelbaren Sinne; andere sind kontestatär und können zur Destabilisierung des Systems beitragen, sofern sie nicht durch
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„negative Integration" neutralisiert werden. Positiv integriert werden mit Sicherheit die gegenüber den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen indifferenten Vereine. Wenn diese Formen der modernen Sozialisierung in ihren sprachpolitischen Wirkungen auch bisher noch wenig beschrieben worden sind, lassen sich dennoch einige Beispiele nennen. Die Clubs und Societes populaires sowie die revolutionären Feste in der Französischen Revolution sind durchaus als sprachpolitische Strukturen in Erscheinung getreten, die den zeitgenössischen politischen Diskurs mit seinen sprachlichen Besonderheiten in Umlauf brachten und die Nationalsprache verbreiten halfen. Ebenso sind in Deutschland Burschenschaften, Gesellenbünde, Arbeiterbildungsvereine, Gewerkschaften und Parteien unterschiedlichster Couleur Vehikel von Sprachpolitik gewesen. Allein die Vereinigungen, die sich ausdrücklich sprachliche Ziele auf ihre Fahnen geschrieben haben, wie Sprachgesellschaften, Dichterschulen und Schriftstellervereinigungen, Heimat- und Dialektvereine usw., sind in ihrer sprachpolitischen Funktion und Wirkung besser erforscht (vgl. unter anderem BAHNER/NEUMANN 1985, 151 ff., 2 1 2 f f . , 2 8 2 f f . ) . In den in unsere Analyse einbezogenen Gegebenheiten sind es vor allem die Führungen und Organisationen von Minderheiten, die sich vorwiegend sprachlichen Problemen stellen. Ihre Entwicklung demonstriert recht deutlich die Dynamik von Soziabilitätsstrukturen. Ursprünglich kulturellen Zielen und allein dem Erhalt des sozial eingeengten Sprachgebrauchs der Minderheitensprache verpflichtet, wofür das provenzalische Felibrige ein historischer Präzedenzfall ist (vgl. LAFONT 1982. 45 ff.), sind solche Vereinigungen in unserer Zeit oft zu radikaleren sprachpolitischen Zielstellungen gelangt. Wer in Italien oder Frankreich in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts zu den Bewegungen der Minderheiten gestoßen war, hatte sich ursprünglich wohl „nur" als Italiener bzw. Franzose mit spezieller regionaler Prägung gefühlt, bis er im Rahmen des erwachenden Regionalismus sich mehr oder weniger entschieden dazu bekannte, gleichzeitig Friulaner, Ladiner usw. bzw. Bretone, Okzitane usw. zu sein (ausführlich dazu vgl. BOCHMANN 1989). Selbst die Zugehörigkeit zu einer Nationalität kann daher in bestimmten Grenzen der Mobilität mancher Soziabilitätsstrukturen unterworfen sein.
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1.5. Die Domänen der Sprachpolitik Aus der Perspektive unseres umfassenden Verständnisses von Sprachpolitik müssen deren Domänen zwangsläufig nicht nur zahlreicher als diejenigen sein, die von den verschiedenen Richtungen der Sprachplanung und anderer Disziplinen und Praktiken postuliert werden, sondern auch anders geordnet werden. Wie kann ein klassifikatorischer Ansatz für die Bestimmung der Domänen gefunden werden, der diese nicht beziehungslos oder in Gestalt inkommensurabler Größen nebeneinanderstellt? Von unserem theoretischen Ansatz her bietet es sich an, von der allgemeinen sozialen Funktion von Sprachpolitik auszugehen, aus der sich spezielle Funktionen ausgliedern lassen. Wenn Sprachpolitik ganz allgemein dazu dient, die Reproduktion der Gesellschaft bzw. der gesellschaftlichen Verhältnisse sichern zu helfen, dann sind ihre einzelnen Domänen in der Regel jeweils einzelnen Seiten der sozialen Reproduktion unterzuordnen. Während ζ. B. die Erstellung technischer Nomenklaturen und Produktverzeichnisse der Koordinierung der materiellen Produktion, standardsprachliche Normierungen der Optimierung der sprachlichen Kommunikation in der Gesellschaft (möglicherweise aber auch der Errichtung zusätzlicher Bildungsbarrieren) dienen kann, mag die sprachliche Unterdrückung von Minderheiten dazu beitragen, den Konsens der Mehrheitsbevölkerung mit der bestehenden Herrschaft durch Nationalismus oder Rassismus zu fördern, oder mag umgekehrt die Förderung und Protektion der Sprache einer Minderheit deren Bereitschaft fördern, am Erhalt und der Entwicklung des jeweiligen Staatswesens mitzuwirken, Wählermehrheiten zu sichern, bestimmten wirtschaftlichen Großprojekten keinen Widerstand entgegenzusetzen usw. Eine allgemeingültige Theorie der Funktionen einzelner sprachpolitischer Gebiete und Maßnahmenkomplexe ist freilich schwerlich aufzustellen. Zu vielfältig und verschieden sind die Gesellschaftsformationen, die Entwicklungsetappen moderner Gesellschaftsformen allein von der Französischen Revolution an bis zur Gegenwart, kontinentale, nationale und regionale Traditionen usw., als daß man mehr als nur Verallgemeinerungen aus einzelnen Fallstudien vornehmen könnte. Die Konturen sprachpolitischer Probleme treten am schärfsten in historischen Umbruchszeiten und bei politischen Wendepunkten hervor. Wenn auch latente sprachpolitische Problemlagen, die eine permanente sprachpolitische Praxis ohne öffentliche Thematisierung
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sprachpolitischer Programme hervorbringen (ζ. B. in Gestalt des sprachlichen Liberalismus gegenüber Norm und Minderheiten in Großbritannien), die Regel sein mögen, so wird anhand von Widersprüchen und Konfliktsituationen die Tragweite sprachpolitischen Denkens und Handelns doch besonders deutlich. Solche Widersprüche wären: wenn das Streben nach Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse in einen Gegensatz zu den gegebenen Formen und Inhalten der sprachlichen Kommunikation gerät; wenn diese einzelne Elemente der Produktion, Distribution, Konsumtion oder der staatlichen Verwaltung behindern; wenn Interessen herrschender sozialer Gruppen durch die bestehende sprachliche Kommunikationsweise nicht (mehr) gesichert sind; wenn die emanzipatorischen Bestrebungen benachteiligter oder unterdrückter sozialer Gruppen an sprachliche Grenzen stoßen usw. Häufiger wird es jedoch so sein, daß man eventuellen sozialen Konflikten, die durch Probleme der sprachlichen Kommunikation ausgelöst werden könnten, mit geeigneten Maßnahmen im Sinne einer „counter-insurgency strategy" zuvorkommt. G L Ü C K und W I G G E R (1979, 8) versuchen, den allgemeinen Rahmen sprachpolitischer Aktionsfelder in einen problemorientierten Ansatz zu fassen. Auszugehen sei von Sachverhalten des Typs: „In einer sozialen gruppierung X besteht ein bewußtsein dahingehend, daß ihre erlernte kommunikationsweise im Widerspruch steht zu einer ihren bedürfnissen entsprechenden entfaltung von handlungsmöglichkeiten. Es existieren Strategien zur lösung dieses Widerspruchs." Zu hinterfragen wäre dabei, wie soziale gruppierung zu interpretieren ist. Es wird dabei wohl an eine Sprach- oder eine Kommunikationsgemeinschaft gedacht, in deren Schoß sprachpolitische Programme bspw. zur Anpassung der Standardnorm an den mehrheitlichen Sprachgebrauch oder zum Ausbau einer bisher vernachlässigten Varietät entwickelt werden. Es scheint uns aber in diesem ansonsten gültigen Ansatz der häufig vorkommende Sachverhalt außer acht gelassen, daß das angesprochene Bewußtsein von einer sprachlich-kulturell hegemonischen Schicht getragen wird, die es in entsprechende sprachpolitische Handlungen gegenüber einer sozialen Gemeinschaft umsetzt, also möglicherweise auch von außen her, ζ. B. in Handlungen zur Förderung oder Zurückdrängung einer Varietät. Generell gilt jedoch, daß Sprachpolitik überall und immer dort eingreift, wo gegebene sprachliche Handlungsnormen mit gesellschaftlichen Interessen kollidieren oder eine solche Gefahr gesehen wird. Damit ist eine, vielleicht sogar die entscheidende Ursache des Sprachwandels benannt, der dem bewußten Handeln der sozialen Subjekte offenbar mehr verdankt, als sprachsystemorientiertes Denken jemals anzunehmen wagte.
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Wenn man vermeiden will, die Domänen der Sprachpolitik nach heterogenen Merkmalen oder allein nach den sprachpolitischen Techniken und Erscheinungen der sprachlichen Form zu ordnen, dann bleiben nur die genannten sozialwissenschaftlichen Kriterien als Ausweg. Diese als Ausgangspunkt nehmen heißt nicht, den Wert linguistikbetonter Begriffe, wie Normkodifizierung, Sprachpflege, Sprachplanung, sprachlicher Ausbau, Terminologiebildung usw. grundsätzlich in Frage zu stellen. Unser Anliegen ist es vor allem, dem Dilemma wissenschaftlich unbefriedigender Klassifikationen zu entkommen und gleichzeitig den theoretischen Zusammenhang zwischen äußerlich verschiedenen Formen sprachpolitischen Handelns, die letzten Endes identische oder ähnliche Funktionen erfüllen, zu wahren. In diesem Sinne sollte man die Domänen von Sprachpolitik nach soziolinguistischen Sachverhalten gliedern, in denen sich politische Interessen durch entsprechende sprachpolitische Strategien zu realisieren suchen. Wir wollen sie unter den sprachpolitischen Begriffen Sprachkonfliktbewältigung, Sprachplanung/Sprachpflege, Diskursregelung und internationale Kommunikationsregelung/Fremdsprachenpolitik fassen und in ihren Kategorien beschreiben. 1.5.1. Sprachkonfliktbewältigung Der Sachverhalt ist der folgende: Zwischen sozialen Gruppen innerhalb eines Staates oder Staatenbundes, die sich voneinander durch Traditionen, Kultur, Herkunft und soziale Interessen unterscheiden, bestehen offene oder latente Widersprüche, die sich als Konflikt zwischen Sprachgemeinschaften äußern. Die politisch-soziale Interessenlage kann verschiedene Dimensionen aufweisen: (a) Es besteht ein staatliches Interesse, die dadurch bedingten Gefahren sozialer Konflikte zu vermindern; (b) die herrschende soziale Klasse und/oder die kulturell-sprachlich hegemonische Schicht der mehrheitlichen oder dominierenden ethnisch-sprachlichen Gemeinschaft kann andererseits daran interessiert sein, die Herrschaft über die andere(n) Gemeinschaften) zu erhalten; (c) die führenden intellektuellen Kreise der letzteren treten dagegen für den Erhalt der sprachlichen Identität ihrer Gemeinschaft ein. Ihre politischen und sozialen Motive sind unterschiedlich: Emanzipation der Gemeinschaft, soziales Aufstiegsstreben oder Beteiligung an der Macht durch Teile der Gemeinschaft. Diese soziolinguistische Sachlage ist zunächst von A R A C I L (1965) und H A U G E N (1966) als Sprachkonflikt bezeichnet worden, was dann durch N I N Y O L E S (1969) in der katalanischen Soziolinguistik verall-
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gemeinert wurde. Wir übernehmen den Begriff faute de mieux wegen seiner sprachpolitischen Suggestivkraft, obwohl er die Tatsache nicht transparent macht, daß nicht nur sprachliche Erscheinungen auf dem Spiele stehen. Andere Begriffe zur Charakterisierung der soziolinguistischen Gesamtlage treffen den Kern der Sache nicht vollständig. Diglossie und Bilinguismus sowie die von FISHMAN ( 1 9 7 1 ) vorgeschlagene Kombination beider Begriffe (die übrigens für einen universalen Gebrauch besser Polyglossie und Multilinguismus heißen sollten, vgl. BOCHMANN 1 9 8 8 b) kennzeichnen das Verhältnis zwischen Sprachen nur in den mehr technischen Dimensionen der Dichotomien A-Sprache (high variety) vs. B-Sprache (low variety) und Monolinguismus vs. Bilinguismus und lassen konkrete Funktionen von Sprachen sowie soziokulturelle Ursachen und Widersprüche in den Hintergrund treten. Auch die ideologische Instrumentalisierung des Diglossiebegriiies durch die katalanische und okzitanische Soziolinguistik hebt nur einen spezielleren Aspekt der Sprachkonfliktsituation hervor — die diskriminierte Lage der B-Sprache und ihr angeblich unvermeidlicher Sprachtod. So verwickelte Fälle wie das nach der Annexion durch Italien sprachpolitischen Repressalien ausgesetzte Südtirol sind mit dem Begriffspaar ohnehin nicht adäquat zu charakterisieren; ebensowenig die Lage im Elsaß oder auf Korsika um die Zeit der Französischen Revolution. In diesen drei Fällen sind nahezu ausschließlich gebrauchte Sprachen mit entwickelter schriftsprachlicher Tradition durch die Vertreter einer kulturell ebenbürtigen Sprache bedrängt worden, hinter der eine Staatsmacht stand, die die Diglossiesituation anstrebte, ohne sie anfänglich zu erreichen: folglich weder realer Bilinguismus noch tatsächliche Diglossie, und dennoch Sprachkonflikt. Einen diskussionswürdigen Vorschlag hat C O B A R R U B I A S ( 1 9 8 3 ) mit dem Begriff Ethoglossie gemacht, mit dem ein ganzes Bündel von soziokulturellen und soziolinguistischen Merkmalen zusammengefaßt werden soll: „the expressive power of the language, i.e. the communicative strength, determined by the number of functions a given language performs and the quality of such functions relative to the social structure of the speech community" ( 1 9 8 3 , 52). Der Ethoglossiebegriff nähert sich dem seinerzeit in der sowjetischen Soziolinguistik gebräuchlichen der Sprach situation an. In beiden ist jedoch die potentielle oder aktuelle Konfliktivität, die dem Nebeneinander von Sprachen in einer nationalen bzw. staatlichen Gemeinschaft stets innewohnt und zu sprachpolitischen Entscheidungen zwingt, nicht denotiert.
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Zur Beschreibung des aktuellen Status der einzelnen in einer Sprachkonfliktsituation stehenden Sprachen hat die Sprachplanungstheorie eine Reihe unterschiedlicher Parameter bereitgestellt, die ein komplexes Bild vermitteln können. Um adäquate sprachpolitische Entscheidungen zum Status einer Sprache treffen zu können, müßten im Idealfall Kriterien herangezogen werden, die linguistisch-struktureller, soziolinguistischer, soziokultureller und sozioökonomischer Natur sind. Diese Heterogenität der Merkmale zur Beurteilung der sprachpolitischen Lage eines Idioms sollte kein Diskussionsgegenstand sein, sind doch soziolinguistische und soziokulturelle Merkmale oft aufs engste miteinander verzahnt. Beispielsweise ist der Standardisierungsgrad in der Regel abhängig von der sozialen Funktion einer Sprache, und umgekehrt. Die folgenden Merkmale zur Bestimmung des Status von Sprachen in einer Konfliktsituation sind nicht nur Ausgangspunkt für sprachpolitische Entscheidungen: Sie sind zumeist zugleich das Ergebnis vorausgehender sprachpolitischer Prozesse. Es handelt sich um die folgenden: (1) Grad der Autonomie des Sprachsystems und Herkunft der sprachlich-ethnischen Gemeinschaft: — Abstandsprache oder Ausbausprache (Sprache mit oder ohne strukturell signifikativen Abstand zu einer sozial übergeordneten Sprache); diese Kloss'sche Dichotomie (1978) ist von großem Nutzen für die Begründung sprachpolitischer Strategien, die sich im ersteren Falle auf die evidente Eigenständigkeit des Systems berufen können, im letzteren zusätzliche Argumente zur „soziolinguistischen Individuation", der Bewußtmachung und Manifestation symbolischer Merkmale des sprachlichen Codes, die strukturell irrelevant sein mögen, heranziehen muß (vgl. M A R C E L L E S I 1985); — dachlose oder überlappende Randsprache: die Existenz eines Nachbarstaates, in dem die betreffende Sprache von einer Mehrheit gesprochen wird, verleiht der Minderheit andere Chancen als einer dachlosen: Deutsch in Südtirol, Französisch im Aostatal und Slowenisch in Triest sind nur durch die Unterstützung der jeweiligen angrenzenden Staaten schon früh (nach dem 2. Weltkrieg) zu ihrer bevorzugten Lage unter den Minderheitensprachen Italiens gelangt; — indigene (bzw. endogene) oder exogene Sprache: vor allem in Entwicklungsländern, wo Sprachkonflikte zwischen den einheimischen und den Sprachen der ehemaligen Kolonialmächte bestehen,
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aber auch großräumige Verkehrssprachen (ζ. B. Swahili) zur Verfügung stehen; — territorial gebundene oder ungebundene (Diaspora-, Migrantensprachen). Sprachtypologische Kriterien spielen für sich genommen kaum eine Rolle in der Sprachpolitik; jedenfalls ist kein Fall bekannt, in dem der flexive, agglutinierende o. ä. Charakter einer Sprache ein Argument für oder wider ihre Förderung gewesen wäre, es sei denn, daß subjektive Urteile über die Schwierigkeiten beim Erlernen oder beim Gebrauch einer Sprache als Vorwand für ihre Ablehnung benutzt werden. (2) demographisch-geographische Dimensionen: — prozentualer Anteil an der Gesamtbevölkerung des Staates und absolute Sprecherzahl. Die Notwendigkeit der Zuschreibung bestimmter sozialer Funktionen wird oft mit dem Hinweis auf absolute und relative numerische Verhältnisse begründet. Die frühere sowjetische Sprachpolitik hatte die sozialen Funktionen der Sprachen explizit aus der Größe der Sprechergemeinschaften abgeleitet (vgl. N I K O L S K I J 1970); — kompaktes Siedlungsgebiet oder Dispersion im staatlichen Territorium. Die Sprecherzahl wird durch diesen Faktor relativiert; ein zusammenhängendes Siedlungsgebiet mit einigermaßen kompakter Bevölkerung, die die betreffende Sprache spricht, ermöglicht andere sprachpolitische Strategien als verstreut lebende Gemeinschaften. (3) ideologische Dimension: — Grad der Identifikation der betreffenden Bevölkerung mit ihrer originären Sprache. Diese erscheint in unterschiedlichen Abstufungen, deren Extreme einerseits die im „Selbsthaß" gipfelnde Ablehnung der eigenen kulturellen Tradition, der traditionellen Lebensweise und Sprache, und andererseits der Nationalismus der „verfehlten Nationen" (Korsen, Basken oder Bretonen) oder sich zu einer anderen Nation zugehörig fühlenden Volksgruppen (ζ. B. der Südtiroler) sind; — Prestige im Staat bzw. der Gesamtgesellschaft. Diese ebenfalls graduierte Erscheinung äußert sich teils als Verachtung der mehrheitlichen Bevölkerung für eine ethnische Gruppe und deren Sprache, was sich gelegentlich auch regierungspolitisch reflektiert (besonders evident bezüglich der Meinung und Politik in Deutschland gegenüber den Roma bis zum Ende des 2. Weltkrieges, in Rumänien mindestens
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Theorie und M e t h o d e n der Sprachpolitik und ihrer Analyse
noch bis Ende 1989), teils als Anerkennung eines minderheitlich gesprochenen Idioms als Symbol nationaler Identität (Irisch) oder unverzichtbare Komponente der Nationalkultur (Nationalitätensprachen im heutigen Spanien). (4) sozioökonomische Lage der sprachtragenden Gemeinschaft: — ökonomisch vernachlässigte Randzone oder prosperierendes Wirtschaftsgebiet. Minderheiten leben in Frankreich und Italien vorwiegend in Gebieten, die durch traditionelle Wirtschaftsformen und die dadurch bedingte Landflucht und Überalterung der Bevölkerung gekennzeichnet sind. In landschaftlich ansprechenden Gegenden kommen der moderne Massentourismus und das System der Zweitwohnungen Andersstämmiger (Korsika, Südfrankreich) dazu. Je mehr die Forderungen nach Anerkennung und Ausbau von Minderheitensprachen mit solchen nach wirtschaftlicher Entwicklung verbunden werden, umso größer ist nicht nur der soziale Rückhalt der jeweiligen Bewegung, sondern auch die Erfolgsaussicht ihrer sprachemanzipatorischen Programme; — Sozialstruktur: sozial relativ homogene Bevölkerung (Bauern, Fischer wie in Galicien, vorwiegend Hirten wie auf Sardinien) oder Existenz einer sprachlich und kulturell loyalen bürgerlichen Schicht mit wirtschaftlichen, politischen und sprachlich-kulturellen Sonderinteressen. Die Erfolge bei der Wiedereinführung des Katalanischen gehen zweifellos auch auf das Konto der selbstbewußten katalanischen Großbourgeoisie, während sich das Fehlen eines bodenständigen und regional verwurzelten Bürgertums in Galicien auch negativ auf die Intensität der Emanzipationsbestrebungen der Galeger auswirkt; — Emigrations- oder Immigrationsgebiet: Die demographische Schwächung ökonomisch zurückgebliebener Gebiete durch die Abwanderung der aktiven Bevölkerung verleiht den betreffenden Sprachen (die dann in der Heimatregion oft nur von Alten und ζ. T. von Kindern gesprochen werden) eine negative Ausgangsposition für Offizialisierung und Ausbau, während andererseits Einwanderungsgebiete, wie Katalonien, in ihrer Sprachpolitik auf die Existenz massiver anderssprachiger Gruppen Rücksicht nehmen müssen. (5) Grad der Standardisierung der betreffenden Sprache (nach 1968):
KLOSS
— durchweg standardisierte, für alle Sphären der Kommunikation ausgebaute Sprache;
33
Die Domänen der Sprachpolitik
— standardisierte Minderheitensprache, die für eine beschränkte Anzahl gesellschaftlich relevanter Kommunikationsbereiche ausgebaut ist; — archaische Standardsprache, die vor dem industriellen Zeitalter gebräuchlich war (außer den klassischen Sprachen der Antike auch das „wiederaufgebaute" Hebräisch); — junge Standardsprache, die für Literatur, politische Publizistik, Erziehung, Religion ausgebaut ist (im Gegensatz zu den standardisierten Minderheitensprachen werden hierunter die Sprachen der jungen Nationalstaaten verstanden, die ζ. T. mehrheitlich gesprochen werden); — nichtstandardisierte Schriftgebrauch;
Literatursprachen
mit
eingeschränktem
— präliterarische Sprachen. (6) Funktionen in der gesellschaftlichen Kommunikation bzw. Besetzung gesellschaftlicher Kommunikationsbereiche. Meist werden die Funktionen, wie ζ. B. bei STEWART (1968) oder in der sowjetischen Sprach- und Nationalitätenpolitik (vgl. D E S E R I J E V 1970, 203 f.; JACHNOW 1977, 7 4 f . ) als heterogene Größen nebeneinander gestellt. 6 Es lassen sich zwei Kriterien erkennen, die teilweise einander bedingen und in unterschiedlicher Kombination miteinander auftreten: — Geltung hinsichtlich Staat(en) und sprachlich-ethnischer Gemeins c h a f t e n ) : innerethnisch, interethnisch und interstaatlich. Die Reihenfolge ist im Prinzip hierarchisch, d. h. der interethnische Gebrauch setzt in der Regel den innerethnischen voraus, der interstaatliche den interethnischen. So wurden ein Teil der in den früheren Sowjetrepubliken nominell vorherrschenden Nationalsprachen gleichzeitig als interethnisches Kommunikationsmittel zwischen Angehörigen verschiedener Nationalitäten derselben Republik gebraucht, Russisch dagegen sowohl als Verständigungsbasis zwischen verschiedenen N a tionalitäten und gleichzeitig zwischen den Unionsrepubliken. Interethnische und -staatliche Kommunikationsmittel ohne (aktuelle) ethnische Basis (afrikanische Verkehrssprachen, Pidgins, Latein im Mittelalter und der frühen Neuzeit) sind eher die Ausnahme, 6
STEWART (1968) unterscheidet die zehn folgenden, m. E. heterogenen Funktionen: 1. official, 2. provincial, 3. wider communication, 4. international, 5. capital city, 6. group, 7. educational, 8. school subject, 9. literary, 10. religious.
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Theorie und Methoden der Sprachpolitik und ihrer Analyse
— Geltung hinsichtlich gesellschaftlicher Kommunikationsbereiche. Eine Auflistung, die nur bedingt hierarchisch ist und recht unterschiedliche Kombinationen zuläßt, sollte enthalten: (a) Alltag im intimen und lokalen Milieu; (b) Religion; (c) öffentliche Primärerziehung (Elementarstufe des Bildungswesens); (d) Mittelstufenerziehung; (e) künstlerische Literatur und allgemeine Publizistik; (f) Berufe und traditionelle Technologien; (g) Presse und elektronische Medien; (h) Verwaltung — regional und/oder staatlich; (i) Industrie, Geschäftswelt; (j) Hoch- und Fachhochschulbildung; (k) Wissenschaften, evtl. zunächst Humanwissenschaften, danach Natur- und Technikwissenschaften, Fachsprachen moderner und komplexer Technologien. In der Regel sind die Kommunikationsbereiche, in denen eine Sprache gebraucht wird, in Gruppen untereinander verbunden. Sprachen, die in der Unter- und Mittelstufe des Bildungswesens eingesetzt werden, verfügen zumeist bereits über eine eigene schriftliche Literatur, Hochschulbildung setzt den Gebrauch der Sprache in bestimmten Wissenschaften voraus usw. (7) sprachenrechtlicher Status (nach
KLOSS
1968):
— einzige offizielle Sprache, „Nationalsprache', „Staatssprache"; — kooffizielle Sprache, vor allem in (kon)föderativen Staaten, wie im früheren Jugoslawien, der Schweiz, in Belgien und der Tschechoslowakei; — regional offizielle Sprache, vor allem in autonomen Territorien: frühere Sowjetrepubliken, autonome Republiken und autonome Gebiete; Südtirol, Aostatal; Lausitzen; — staatlich geförderte Sprache ohne offiziellen Status: Spanisch in New Mexico, „langues de France" im heutigen Frankreich; — tolerierte Sprache ohne staatliche Förderung: keltische Sprachen und Einwanderersprachen in Großbritannien, Regionalsprachen in Frankreich vor 1981 (abgesehen von der geringen Wirkung der Loi Deixonne); einige Minderheitensprachen in Italien vor 1991 (Albanisch, Griechisch, Kroatisch im Mezzogiorno); — verbotene Sprachen: Minderheitensprachen unter dem italienischen Faschismus, deutschen Nationalsozialismus und spanischen Franquismus, Türkisch in Bulgarien vor 1990, Deutsch in Polen nach 1945. Welches sind die Strategien zur Bewältigung von Sprachkonflikten? In den Arbeiten zur Sprachplanung entspricht das Ensemble der Strategien zur Lösung solcher Probleme annähernd den Kategorien Language Status Planning ( K L O S S 1969), Language Policy Approach
Die Domänen der Sprachpolitik
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1970), Language Choice and Policy Formulation ( E A S T MAN 1983). Die Konfliktsituation, in der sich die betroffenen Sprachen häufig befinden, und der Umstand, daß die Lösung der Widersprüche manchmal in bloßer Repression gesucht wird, macht die Bezeichnung Sprachplanung für die Bewältigung der angedeuteten Sachverhalte ungeeignet. Die Abhängigkeit sprachpolitischen Verhaltens in Sprachkonflikten von partikulären gesellschaftlichen Interessen wurde bereits mehrfach vermerkt. Wie man sich in Konfliktsituationen dieser Art verhält, hängt aber auch mit grundsätzlichen Einstellungen zum Anderssein — zu national Fremden, zu Minderheiten jeder Art, zu Andersdenkenden und anders Handelnden — zusammen, ist also ein Element der Ethik und Maßstab ethischer Reife und damit zugleich eine Komponente von Ideologie. Die verschiedenen Strategien zur Bewältigung von Sprachkonflikten sind daher auf Ideen und Ansichten zurückzuführen, die man als sprachpolitische Ideologien bezeichnen könnte. Sie beziehen sich fraglos über den vorliegenden Gegenstand hinaus auch auf die anderen, weiter unten zu behandelnden sprachpolitischen Domänen. Sprachpolitische Ideologien sind: (1) Die assimilatorische Ideologie. Das Ziel der Assimilierung anderssprachiger Bevölkerungsgruppen und Einzelpersonen innerhalb eines Staates oder einer Nation ist typisch für die im nationalen Aufwind befindlichen Gesellschaften, bspw. die Nationalstaaten Europas vom 18. bis zum Beginn des 20. Jhs., und dies wohl ausnahmslos. Die Forderung „Eine Nation = Eine Sprache", die in der Französischen Revolution erstmals in der breiten Öffentlichkeit zur Debatte stand, korrespondiert dabei mit der von der deutschen, italienischen, rumänischen, ungarischen u. a. Nationalbewegungen vorgebrachten, wonach eine Sprache bzw. Sprachgemeinschaft in einem einheitlichen Nationalstaat zusammengeschlossen werden sollte. Diese Gleichsetzung von Nation und Sprache prägt im übrigen nicht nur die Haltung gegenüber Minderheitensprachen, sondern auch zu Dialekten. Die assimilatorische Tendenz radikalisiert sich in den europäischen Großstaaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und gipfelt in den Gewaltmaßnahmen der faschistischen Regimes des 20. Jahrhunderts gegenüber jedwedem Anderssprachigen im eigenen Land und in annektierten Gebieten (vgl. Kap. 5.2. im vorl. Bd.). Außer in das Gewand nationalistischer Ideologie kleidet sich Assimilationismus auch in das des Ökonomismus und platten Utilitarismus. Geht man von der Voraussetzung aus, daß jede sprachliche (NEUSTUPNY
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Theorie und Methoden der Sprachpolitik und ihrer Analyse
Varietät ein spezifischer, in Kultur eingebundener kollektiver Erfahrungsschatz ist, dann bedeutet das, daß der Untergang einer jeden Sprache („Sprachtod") eine nicht wieder gutzumachende Einbuße menschlichen Kulturgutes darstellt. Für ihre Sprecher bedeutet es darüber hinaus noch den Verlust der originären Identität und der über Eltern und Voreltern tradierten Welterfahrung. Es ist eine Illusion zu glauben, daß eine Sprache durch eine andere vollkommen ersetzt werden könnte; kulturell und psychisch treten dabei unweigerlich Defizite und Konflikte ein. Aus diesem Blickwinkel ist einseitiges ökonomisches Denken in der Sprachpolitik unangebracht und letzten Endes repressiv. Das schließt Ökonomie der Sprachpolitik nicht aus: jede sprachpolitische Maßnahme kann nur vor dem Hintergrund gegebener wirtschaftlicher Verhältnisse geplant werden. Bedenkt man jedoch, welche Mittel allein für die Unterdrückung rebellierender Minderheiten und die Wiedergutmachung dadurch entstandener Schäden und Ungerechtigkeiten aufgewendet werden müssen, dann erweisen sich die Argumente, die den Faktor der Wirtschaftlichkeit gegen die Förderung von Minderheitensprachen ins Feld führen, oft als recht brüchig. Assimilation kann durch dirigistische Maßnahmen, wie offene Repression, Verbote und Beschränkungen des öffentlichen Gebrauchs oder gelenkten Meinungsterror, aber auch im Rahmen eines sprachpolitischen Liberalismus bewirkt werden. Das wohl bezeichnendste Beispiel dafür ist Großbritannien, wo das Fehlen gesetzlicher Restriktionen gegen die keltischen Sprachen durch die traditionelle Intoleranz gegenüber sprachlicher Diversität kompensiert wird (vgl. W I L L I A M S 1987). 7 Assimilatorischen Tendenzen und unifizierenden Absichten leisten die sprachlich-ethnischen Gemeinschaften Vorschub, die entweder das Bewußtsein der eigenen Identität weitgehend verloren haben oder es nicht als emanzipatorisches Potential einsetzen, oder die über keine mobilisierende, militante Führung verfügen. Das trifft in besonderem M a ß e auf kolonial unterdrückte, weithin in Analphabetismus und Rückständigkeit gehaltene Völker, ebensogut aber auch auf Gemeinschaften mit „scheindialektalisierten Abstandsprachen" ( K L O S S 1978), wie Niederdeutsch, Frankoprovenzalisch und in gewissem Sinne auch
7
COBARRUBIAS ( 1 9 8 3 , 1 1 ) s c h r e i b t in A n l e h n u n g a n H E A T H / M A N D A B A C H ( 1 9 8 3 ) , d i e
Lage des Englischen in Großbritannien und den USA „... is based not only on the British custom of no legal restrictions on language, but also on an intolerance to linguistic diversity akin to that which has been prevalent throughout British history."
Die Domänen der Sprachpolitik
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Okzitanisch zu, deren soziologischer Status der des Dialekts ist. Sie sind in der Regel dazu verurteilt, eines stillen Todes zu sterben, zu erlöschen, ohne daß davon Aufhebens gemacht wird. 8 (2) Die pluralistisch-emanzipatorische Ideologie, deren beide Komponenten nicht in allen Fällen konform miteinander gehen, die sich aber in der sprachpolitischen Praxis meist nur hinsichtlich der Konsequenz unterscheiden. Die Anerkennung sprachlich-kultureller Besonderheiten („le droit a la difference", wie es in den ersten Jahren der Präsidentschaft Mitterands in Frankreich hieß, vgl. G I O R D A N 1984) und des Existenzrechts für ethnische Minderheiten geht auf zwei Quellen zurück: den Widerstand sprachlich-ethnischer Gemeinschaften gegen sprachliche Assimilation und emanzipatorische Ideologien. Es hängt zunächst einmal vom Behauptungswillen und der Kraft einer bedrängten Gemeinschaft ab, ob sie zur Kenntnis genommen wird oder nicht. Die bürgerlichen Revolutionen des 17. bis 19. Jhs. lassen erkennen, daß die staatstragenden Mehrheiten die Rechte von Minderheiten nur in dem M a ß e anerkannt haben, wie sich diese selbst durchzusetzen vermochten (vgl. BOCHMANN 1988 a). Die Anerkennung der Nationalitätensprachen im heutigen Spanien, der Minderheitensprachen in Italien und — in engeren Grenzen - der Regionalsprachen in Frankreich ist mit dem Preis passiven und aktiven, in einigen Fällen bis zum Terrorismus reichenden Widerstands erkauft worden. Emanzipatorische Ideologien gehen entweder aus supranationalen politisch-sozialen Strömungen, wie der europäischen Aufklärung oder der internationalen Arbeiterbewegung, oder aus national (istisch) en Bewegungen hervor. Im ersteren Falle wird die politische und/oder soziale Emanzipation als Voraussetzung für die nationale Befreiung angesehen, wie dies in der zeitweiligen Vernachlässigung der sprach8
In diesem Sinne meinen JANUSCHEK und SVENSSON (1979, 19 f.), ein zu enges Paradigma von Sprachpolitik sehe darin das Verbot eines Idioms und den Oktroi eines anderen, was jedoch „zu sehr an der Veränderung sprachlicher Formen und zu wenig an der Veränderung der symbolisch gebundenen Erfahrungen" orientiert sei. „Gemäß diesem engen Paradigma von Sprachpolitik' erscheinen deren negative Auswirkungen — wie Kooperationsstörungen infolge mangelnder Beherrschung des zu benutzenden Idioms und Zerstörung kultureller Identität, weil historische Texte nicht mehr tradiert werden können — als grundsätzlich behebbar, und zwar dadurch, daß das neue Idiom perfekt gelehrt und die kulturell relevanten Texte in dieses übersetzt werden. Unsere Position ist demgegenüber, daß die Unterdrückung einer Sprache in jedem Falle — also auch bei totalem Ersatz durch eine andere — Verlust oder Verzerrung individueller und kollektiver Erfahrung bedeutet." In ähnlichem Sinne äußert sich VALLVERDU (1968/1975, 31 f.) unter Berufung auf einen Appell skandinavischer Lehrer aus dem Jahre 1962.
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lich-kulturellen und der nationalen Fragen in der Arbeiterbewegung — mit wichtigen Ausnahmen: dem Austromarxismus und Lenins Nationalitätenpolitik vor ihrer stalinistischen Verzerrung — zum Ausdruck kommt. Im letzteren Falle wird die nationale (und dabei oft in erster Linie sprachliche) Befreiung als Voraussetzung für die politische und soziale Emanzipation postuliert. Eine einfache pluralistische Ideologie ohne ausgesprochene sozialemanzipatorische Komponente, wie sie sich staatlicherseits heute in Spanien, Kanada, Belgien und — seit langem — in der Schweiz realisiert, ist vor allem an einem gesetzlichen Rahmen und bestenfalls an der Sicherung der materiellen Voraussetzungen für den Gebrauch und die Entwicklung der betreffenden Sprachen interessiert. Manchmal werden dem Pluralismus dabei auch Grenzen gesetzt, indem ζ. B. eine gemeinsame „Nationalsprache" dann auch postuliert wird, wenn sich die ethnischen Komponenten des Staates mehrheitlich als distinkte Nationen begreifen. So sieht die spanische Verfassung von 1978 das Kastilische als Sprache des Staates bzw. der Nation an, während die „historischen Nationalitäten", vor allem die Katalanen und Basken, von sich aus jeweils den Anspruch erheben, eine Nation zu sein und eine dementsprechende Sprachpolitik in ihren Territorien betreiben (vgl. Kap. 6.1. und 6.2.). Dagegen sind emanzipatorische Strömungen, besonders der nationalen Art, an einer möglichst weitgehenden „Normalisierung" ihrer Sprache interessiert. Der in Kap. 6.1.3. näher erläuterte Begriff der Normalisierung umfaßt die soziale Gleichstellung und Verbreitung, die Kodifizierung und den funktionalen Ausbau von Sprachen. Wenn als Ziel dieses Prozesses zunächst oft nur die Milderung des Diglossieverhältnisses oder ein massenhafter Bilinguismus („bilinguisme de masse" nach M A R C E L L E S I , vgl. Kap. 6.3.) deklariert wird, so sind Absichten hinsichtlich einer Umkehr der Diglossie (die Α-Sprache wird zur B-Sprache und umgekehrt) oder gar die langfristige Herbeiführung der Einsprachigkeit in der bisher benachteiligten Sprache durchaus keine Seltenheit. Die assimilatorische und die pluralistische und emanzipatorische sind die beiden hauptsächlichen sprachpolitischen Ideologien. Der von L A F O N T ( 1 9 8 4 ) diglossische Ideologie genannte Komplex von Denkmustern und Verhaltensweisen, der auf sprachlich-kultureller Entfremdung bei Angehörigen benachteiligter sprachlich-ethnischer Gemeinschaften beruht, bringt außerhalb der genannten zwei Hauptmöglichkeiten keine eigene und einheitliche Sprachpolitik hervor, sondern verleiht lediglich den sprachpolitischen Strategien eine radikale Färbung, sei es als konformistische Anpassung an die übergeordnete
Domänen der Sprachpolitik
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Sprache, sei es als übersteigerte Abwehr derselben, als Streben nach Einsprachigkeit in der eigenen Sprache oder als sprachlicher Purismus. Ebenso sind die von P O O L (1973) neben Assimilation und Pluralismus angebotenen Kategorien vernacularization und internationalism in die beiden Hauptstrategien einzuordnen: Vernakularisation (Ausbau einer bisher vernakulären Sprache) unter die pluralistische und emanzipatorische Ideologie; Internationalismus (Durchsetzung einer internationalen Verkehrssprache als Sprache des Staates) kann als emanzipatorisch insofern verstanden werden, als damit der Zugang zur internationalen Information und Kommunikation erleichtert werden soll (was mit dem Englischen in Indien beabsichtigt war), kann aber auch assimilatorisch wirken (bedenkt man ζ. B. die Rolle, die Französisch in Senegal oder an der Elfenbeinküste spielt). 1.5.2. Sprachkorpusplanung, Sprachkultur Der soziolinguistische Sachverhalt, der Sprachkorpusplanung und Sprachkultur erforderlich macht, ist der Widerspruch zwischen den kommunikativen Bedürfnissen und Zielen einer Gemeinschaft und dem aktuellen Zustand der Sprache, auf die die sprachpolitische Wahl gefallen ist oder die zur Verfügung steht. Um Sprachkorpusplanung geht es, wenn eine nicht oder ungenügend kodifizierte Sprache, die außerdem lexikalisch den Anforderungen an die Kommunikation in der modernen Gesellschaft nicht genügt, entsprechend „auf-" oder „ausgebaut" werden soll, d. h. ihre Defizite in Normkodifizierung und Lexik beseitigt werden sollen. Das trifft für einheimische Sprachen in Entwicklungsländern und Minderheitensprachen in entwickelten Gebieten ebenso zu wie für alte Literatursprachen, die zielgerichtet modernisiert werden sollen (Hebräisch), sowie für dialektal stark differenzierte Minderheitensprachen, für die ein gemeinsamer Standard geschaffen wird. Sprachkultur dagegen bezeichnet Normkorrekturen an etablierten Standardsprachen und die sprachpflegerische Aktion für die Durchsetzung und Bewahrung von Normen. Da Kodifizierungen und Korrekturen von Normen immer erst nachträglich auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren, ist der eingangs genannte Widerspruch im Prinzip permanent bzw. bricht immer wieder neu auf. Die Domäne der Sprachkorpusplanung und Sprachkultur erscheint in mehrfacher Hinsicht der Sprachkonfliktbewältigung nachgeordnet. Sie ist, vereinfacht gesagt, die technische Seite der eher ideologisch oder politisch bestimmten Sprachkonfliktbewältigung. Die Korpus-
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planung — Normativisierung (Normkodifizierung) mit der Auswahl der geeigneten Varietät oder Konstruktion einer Ausgleichsnorm, Ausbau der Lexik und der funktionalen Varietäten und schließlich die soziale Verbreitung — beginnt, von vereinzelten Vorgriffen einmal abgesehen, erst dann, wenn die Entscheidung für eine Sprache gefallen ist. Ist ein relativer Abschluß (ein endgültiger ist nicht denkbar) der Normativisierung erreicht, kann Sprachkultur als „sprachkulturelle Aktivität" 9 einsetzen, deren Aufgabe es ist, „die eingetretenen Normveränderungen aufzuspüren und bewußt zu machen, die veränderte Norm zu kodifizieren und in der Gesellschaft zu propagieren und durchzusetzen" (TECHTMEIER et al. 1984, 398). Ziele und Techniken von Sprachplanung und Sprachkultur sind grundsätzlich gleich; verschieden sind allein der Zeitpunkt des Eingreifens in den Prozeß der Adaption von Normensystemen und Kodifizierungen an die sozialen Bedürfnisse sowie Tiefe und Umfang der Eingriffe. Das rechtfertigt u. E. die Zusammenfassung der beiden Bereiche von Sprachpolitik in einer Domäne. Da sich andererseits für die etablierten National- und Staatssprachen die den Sprachkonflikten zugrunde liegende Frage der Statuswahl nicht (mehr) stellt, ist Sprachkultur ein Sonderkapitel in diesem sehr komplexen Erstreckungsbereich der Sprachpolitik. Ein politisch-soziales Interesse an Sprachkorpusplanung und Sprachkultur entsteht, wenn Lücken oder Rückstände im System der sprachlichen Normen und ihrer sozialen Verbreitung den Ablauf der Produktion und Distribution, die Bildungs- und Sozialisierungsprozesse, die Kommunikation zwischen Regierung bzw. Verwaltungsapparat und Bevölkerung usw. hemmen (bzw. nach Meinung der sprachlich-hegemonischen Kreise zu hemmen scheinen), kurz: die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse (und der Machtverhältnisse im besonderen) zu beeinträchtigen drohen. Aus oppositioneller Sicht können Forderungen zur Revision sprachlicher Normen oder des Umgangs mit ihnen dann auch Strukturen der Macht in Frage stellen, ζ. B. wenn in Frankreich heute die Überbewertung der hochsprachlichen Norm und der Orthographie in der Schule (wo sie den massenhaften echec scolaire vorprogrammiere) und bei der Zulassung zu öffentlichen Ämtern als elitär und selektiv kritisiert wird.
9
Im Kontext der Sprachpolitik und im Interesse einer gewissen Griffigkeit der Termini halten wir es für geeigneter, entgegen der Empfehlung von TECHTMEIER et al. (1984, 391) Sprachkultur auch im Sinne von „sprachkultureller Aktivität" neben „Niveau des Sprachvcrhaltens" zu verwenden. Das stimmt im übrigen mit der Praxis der Urheber des Begriffes in der Prager Schule überein (vgl. HORANEK 1982).
Domänen der Sprachpolitik
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Das gilt mutatis mutandis auch für Staaten und Gesellschaftsformen, die sich noch in der Phase ihrer Konstituierung befinden: europäische Nationalstaaten vom 16. bis 19. Jahrhundert, Entwicklungsländer nach Erreichen ihrer Unabhängigkeit. Die Kodifizierungen der großen europäischen Literatursprachen, die mit der Renaissance zu einer allgemeinen Erscheinung wurden, und auch die Verschriftung einiger bis dahin wenig beachteter Sprachen (Rumänisch, Baskisch, Slovenisch, Sorbisch u. a.), gehen — oft vermittelt durch die volkskirchlichen Bestrebungen der Reformation — darauf zurück, einen für die frühbürgerliche Entwicklung notwendigen Rückhalt durch halbwegs gebildete und selbständig handelnde Bürger zu gewinnen. Ohne die Entwicklung einheimischer Schriftsprachen, die allein schon durch ihre Struktur möglichst vielen zugänglich sein sollten, sowie von administrativen, wissenschaftlichen und technischen Terminologien in den der Bevölkerungsmehrheit vertrauten Sprachen ist auch der Anschluß der Entwicklungsländer an die moderne Welt nicht gesichert. Sich ganz und gar auf eine Amts- und Kultursprache europäischer Herkunft verlassen bedeutet in der permanenten sozialen Krisenlage der Entwicklungsländer, breite Kreise der Bevölkerung auf Dauer davon auszuschließen. Teilgebiete der Sprachkorpusplanung und Sprachkultur sind: — Kodifizierung der Standardnormen in Grammatik, Lexik und Orthoepie; — Orthographie — Terminologien und Nomenklaturen der Verwaltung, Armee und Polizei, Technik und Wissenschaften; — Richtlinien für die Vergabe oder Veränderung von Orts-, Straßenund Personennamen; — Richtlinien für Produktbezeichnungen und Warennamen. Entgegen manchen landläufigen Ansichten ist diese sprachpolitische Domäne kein Experimentierfeld für linguistische Technologie, wie es ein Begriff wie language engineering suggerieren könnte. Die von H A U G E N ( 1 9 8 3 ) als selection definierte Phase, die der eigentlichen grammatischen und lexikologischen Normativisierung und funktionalstilistischen Diversifizierung vorausgeht, hängt von politischen und ideologischen Faktoren ab, für welche die in Sprachkonflikte implizierten Philologen gewiß am meisten sensibilisiert sind, die aber auch erfahrenen Sprachplanern, die das Geschehen nicht als Insider verfol-
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gen, wie z. B. J . FISHMAN, nicht entgehen. 10 Auch ist die Frage der sozialen Verbreitung (implementation) von Kodifizierungen und Terminologien keine rein technische Angelegenheit, sondern hängt davon ab, wie ernst es mit der allgemeinen Bildung aller Bevölkerungsschichten gemeint ist, welche Schichten und Kreise welche sprachlichen Kenntnisse in welchem Umfang erhalten sollen und in welchem Maße Bildungssysteme über programmatische Erklärungen hinaus tatsächlich Erfolge zeitigen. Den Selektionsentscheidungen, die die Richtungen der Sprachkorpusplanung und Sprachkultur angeben, liegen wie bei den Strategien zur Bewältigung von Sprachkonflikten Aspekte sprachpolitischer Ideologie zugrunde. Es sind dies: (1) Traditionalismus vs. Modernismus. Obwohl Modernisierung das Grundanliegen von Sprachkorpusplanung und Sprachkultur ist, wird sie teils von Traditionalismus gebremst, teils davon in ihren Formen durch Revitalisierung, Neosemantisierung oder neue Kombination überlieferter Lexeme geprägt. Gemeinschaften, die das Bewußtsein ihrer kulturellen Traditionen besonders aktiv pflegen, lassen dies auch in ihrer Sprachpolitik erkennen. Typische Beispiele dafür finden sich vor allem in den traditionsbeladenen europäischen Schriftsprachen zur Genüge: Italienisch aus der Sicht der trecentisti und classicisti des 16. bis 19. Jahrhunderts mit dem Rückgriff auf die Literatur des 14. Jahrhunderts bzw. die toskanisierende literatursprachliche Tradition; die Katarevusa mit ihren Anleihen beim Altgriechischen; selbst die heutige französische Orthographie demonstriert, wie das Festhalten an der Tradition auch zur Fessel für soziale Entwicklung und breiteste Bildung werden kann. Demgegenüber kann ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Tradition und Neuerung für die Behauptung der Identität einer Gemeinschaft, die Akzeptanz der sprachplanerischen Maßnahmen und die Verständlichkeit der neologischen Elemente entscheidend sein. FISHMAN erläutert dies anhand der Terminologie für Chemie auf einem niedrigen und mittleren Niveau der Bildung, Produktion und Konsumtion, die im modernen Hebräischen dessen „genuine oriental nature", im Hindi die Rückversicherung im Sanskrit, im Nynorsk „reines Norwegisch", im modernen Arabischen die Sprache des Korans usw. widerspiegeln soll
10
"Corpus planning, even when it is concerned with the elaboration and codification of nomenclatures, requires political/ideological/philosophical/religious sensitivity and expertise, particularly if the acceptance and implementation of corpus planning are not to be heavy-handed ex post facto impositions upon corpus planning but part and parcel of its ongoing activity from the very outset." (FISHMAN 1983, 109).
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Modernisierung muß oft ins Gewand der Tradition gekleidet sein, um sich zu legitimieren und akzeptiert zu werden. (2) Autozentrismus vs. Heterozentrismus (vgl. M A A S 1989, 3 6 4 ) : Autozentrismus ist kultur- und sprachpolitischer Ausdruck nationalen bzw. nationalistischen Denkens. Vor allem in Phasen nationalen Aufbaus und Aufschwungs äußert sich das Streben, sich vor den Einflüssen anderer Sprachen, die die nationale Identität bedrohen könnten, abzuschirmen, insbesondere dann, wenn zu deren Trägergemeinschaften ein politisches Spannungsverhältnis besteht. Der Rückgriff auf die eigenen sprachlichen Ressourcen bei der Modernisierung der Sprache, oft begleitet von puristischen Tendenzen, ist charakteristisch für Ausbausprachen, die aus der Vormundschaft einer evtl. strukturell verwandten, soziokulturell übergeordneten Sprache befreit werden sollen, wie ζ. B. Korsisch vom Italienischen, Galegisch vom Kastilischen u. a. m. Ausgesprochen autozentristisch orientiert waren die ungarischen und tschechischen Sprachreformer des 18. bzw. 19. Jahrhunderts in ihrem Drang, sich zum Zeichen ihrer nationalen Eigenständigkeit von deutschen Wortschatzelementen freizumachen. In extremen Formen äußerte sich der Fremdenhaß in Zeiten chauvinistischer Höhepunkte (vgl. auch Kap. 1.5.4. zu „Fremdwortpolitik"; Kap. 5.2.1. zum italienischen Faschismus). In Bezug auf Heterozentrismus sollte man meinen, daß es kein Volk gibt, das sich beim sprachlichen Ausbau und in der Praxis seiner Sprachkultur mehr oder weniger ausschließlich auf fremde Quellen stützt. Zeitweilig bewirkt jedoch das Prestige von „Kultursprachen" oder die Überfremdung durch eine andere, negativ konnotierte Sprache eine solche Reaktion. In diesem Sinne konnte das Lateinische als Hauptquelle für die Modernisierung der romanischen Sprachen im 15./16. Jahrhundert dienen. Dabei wirkte zweifellos auch die Überlegung mit, daß die jeweilige romanische Volkssprache nichts weiter als „verderbtes" Latein sei, daher die lateinische Entlehnung gewissermaßen als Schöpfen aus dem Eigenen und Rückkehr zu den Ursprüngen aufzufassen wäre. Ähnlichen Überlegungen folgten die rumänischen Sprachreformer des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie waren bemüht, die neugriechischen, türkischen und einen Teil der kirchenslawischen Entlehnungen, die die politische und kulturelle Abhängigkeit von Konstantinopel konnotierten, durch Elemente lateinischen, französischen oder italienischen Ursprungs zu ersetzen, die die romanische Herkunft und Verwandtschaft verdeutlichten und die moderne geistige und materielle Kultur des europäischen Westens symbolisierten. Heterozentriert war auch Frankreich unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, als der anglo-amerikanische Einfluß das Fran(FISHMAN 1 9 8 3 , 111).
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zösische zu einem „franglais" zu machen drohte, jedenfalls aus der Sicht von E T I E M B L E ( 1 9 6 4 ) . Die Reaktion darauf war die verstärkte Autozentrierung in Gestalt der Sprachdekrete, die dem Anglizismus Einhalt gebieten sollten (vgl. C H R I S T M A N N 1 9 8 6 ) . Zwischen diesen ideologischen Extremen bewegen sich in der Regel die Strategien, die die Richtung der Sprachkorpusplanung und Sprachkultur angeben, wobei zusätzliche Parameter mit weniger ausgeprägten ideologischen Dimensionen herangezogen werden müssen: ( 1 ) Distanzierung (distanciation bei M A R C E L L E S I 1 9 8 5 , diferencialismo im galegisch-kastilischen Sprachkonflikt, vgl. A L O N S O M O N T E R O 1 9 7 3 ; BOCHMANN 1 9 8 3 ) : Hervorhebung derjenigen Identitätsmerkmale, die — auch wenn strukturell nicht relevant — im Bewußtsein der Sprecher die Originalität ihrer Sprache in Abgrenzung von der soziokulturell dominierenden und strukturell verwandten oder sie stark beeinflussenden Sprache manifestieren und symbolisieren. Die galegischen Differenzialisten ζ. B. zeichnen sich dadurch aus, daß sie Neologismen, die zwangsläufig meist kastilischer Herkunft sind, ein genuin galegisches Aussehen („enxebre") verleihen, indem sie sie den lautlichen Veränderungen anpassen, die die lateinischen Erbwörter des Galegischen durchlaufen haben, selbst wenn dabei sprachgeschichtliche Prozesse vernachlässigt oder übersehen werden: kastilisch catedrätico erhält die Form cadeiradego, nach cadeira < cathedra, wobei die kastilische Entsprechung selbst eine späte Entlehnung aus dem Lateinischen ist. Im Korsischen werden, wo dies möglich ist, lexikalische Elemente aus den traditionellen Berufsterminologien zum Aufbau moderner Fachwortschätze bevorzugt, wenn damit Anklänge sowohl an Französisch als auch Italienisch vermieden werden können (vgl. SICKEL
1989).
(2) Integration: Im Gegensatz zur Distanzierung wird versucht, die Norm der betreffenden Sprache an eine andere anzunähern, um die Verständigung zu erleichtern, eine großräumige Kommunikation zu ermöglichen oder das Überleben einer kleinen Sprachgemeinschaft unter dem Dach einer größeren zu sichern. Beispiele dafür sind die in Belgien und den Niederlanden (weniger im französisch-flandrischen Westhoek) verbindliche Standardsprache ABN; die Versuche der „lusistischen" Strömung in Galicien, Orthographie, Grammatik und Lexik des Galegischen an das Portugiesische anzunähern; das Abkommen von 1985 zwischen Portugal und Brasilien über eine gemeinsame Orthographie usw. (3) Unifizierung: Haupttendenz der Sprachgemeinschaften in der Blütezeit der nationalstaatlichen Ideologie ist die Vereinheitlichung der Standardformen in regionaler und sozialer Hinsicht. Die Ge-
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schichte der europäischen Literatursprachen ist vor allem eine Geschichte ihrer allmählichen Unifizierung. Junge Schriftsprachen sind gelegentlich auch „aus der Retorte" und im Schnellverfahren entstanden, wenn der Bestand des Idioms durch dialektale Zersplitterung der Schriftsprache gefährdet war: das baskische euskera batua, das die baskische Akademie im wesentlichen im Jahre 1966 schuf, oder das Rumänisch Grischun der Bündnerromanen, das Heinrich Schmid 1 9 8 1 / 8 2 ausarbeitete (vgl. PULT 1 9 8 7 ) . Übermäßig unifizierte Sprachen leiden oft darunter, daß die Norm praktisch sehr häufig durch soziale, regionale und stilistische Variationen verletzt wird. Daher die in letzter Zeit besonders hinsichtlich des Katalanischen erhobene Forderung (die im modernen Italienisch bereits zur Praxis geworden ist), die Standardnorm als flexiblen Rahmen für eine gemäßigte Variation in regionaler, sozialer und diachronischer, die Differenzen zwischen traditioneller Schriftsprache und moderner mündlicher Umgangssprache berücksichtigender Hinsicht umzugestalten (vgl. VALLVERDU 1 9 6 8 / 1 9 7 5 ) . In der „okzitanistischen", im Prinzip unifizierenden Orthographie des Institut d'Estudis Occitans, die von der okzitanischen Literatur und dem Sprachunterricht mehrheitlich benutzt wird, kommt der (vorläufige?) Verzicht auf eine einheitliche Orthoepie und Morphologie des Okzitanischen zum Ausdruck, indem einige Grapheme jeweils unterschiedlichen lautlichen und morphologischen Gegebenheiten der Dialekte entsprechen (vgl. KREMNITZ
1974).
Die Unifizierungstendenz kann extreme Formen annehmen. Es gehört zur Tradition der französischen und deutschen Schule, Dialekteinflüsse zu bekämpfen. In Italien, wo die Dialekte die Sprachpraxis seit jeher viel stärker geprägt haben, sind sie in der Zeit des Faschismus einer ausgesprochenen Repression ausgesetzt gewesen, die vom Verbot dialektaler Stücke (es gab damals ca. 220 dialektale Theatergruppen!) und der Erwähnung der Dialekte in der Presse bis zur Zensur der Dialoge im Film, der von der neapolitanischen Szene beherrscht war, reichte (vgl. RAFFAELLI 1 9 8 3 ; 1 9 8 4 ; K L E I N 1 9 8 6 ) . (4) Purismus: Mit der Tendenz der Distanzierung inhaltlich eng verbunden, ist der Purismus (national-)ideologisch motiviert, traditionalistisch und autozentriert. Kaum eine der europäischen Sprachen ist puristischen Tendenzen entgangen. Extreme Formen sind ebenfalls wieder in Zeiten nationalistischen Denkens festzustellen, ζ. B. im notorischen Fremdworthaß des 19. Jahrhunderts in Deutschland, der vom Nationalsozialismus in relativ gemäßigten Dimensionen weitergeführt wurde, im italienischen Faschismus jedoch Blüten trieb (vgl. auch Kap. 1 . 5 . 4 . , „Fremdwortpolitik"); die „Eindeutschung" von Orts-
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namen in Ostpreußen, Brandenburg und den okkupierten slawischen Ländern durch den deutschen Faschismus; die Italianisierung tirolischer und slovenischer Orts- und Familiennamen in den zwanziger Jahren, usw. Andererseits ist auch ein positiver Symbolwert solcher Umbenennungen möglich, insbesondere in Entwicklungsländern, wo er die Distanzierung von der kolonialen Vergangenheit und die Behauptung der nationalen Identität bedeutet, wenn ζ. B. BelgischKongo in Zaire, Dahomey in Benin, Ober-Volta in Burkina Faso, Rhodesien in Simbabwe, Niederländisch-Guyana in Surinam, BritischHonduras in Belize, sowie Leopoldville und Elisabethville in Kinshasa bzw. Lubumbashi, Mazagan und Port-Lyautey in El Jadida bzw. Kenitra, Salisbury in Harare usw. umbenannt werden.
1.5.3. Diskursregelung In jeder — oberflächlich gesehen — auch sprachlich hinreichend homogenen Gesellschaft existieren bzw. bilden sich fortwährend „Sprachbarrieren" im Sinne von Störungen des gesellschaftlichen Kommunikationsverlaufes heraus, die ihre Ursachen nicht in den unter 1.5.2. benannten technischen Unzulänglichkeiten der Codes haben, sondern durch unterschiedliche, immer sprachgebundene Erfahrungen (als Oberbegriff für Sozialisierung, Bildung, Indoktrinierung, Lebenserfahrung usw.) der Subjekte bedingt sind. Auf die Subjekte wirken fortwährend unterschiedliche sprachliche Codes ein, mit denen verschiedenartige Diskursuniversa artikuliert werden. Am deutlichsten springt dies auf dem Gebiet der politischen Ideologien ins Auge: Gegensätzlichkeiten zwischen den von Parteien und Interessengruppen verbreiteten Diskursen gefährden potentiell den für die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendigen globalen Konsens. Politischer Kampf spielt sich daher großteils als „Kampf um das Wort", um die Vorherrschaft bei der Gestaltung der politischen Diskurse ab, häufiger jedoch „im Vorfeld gesellschaftlicher Konfliktaustragung" ( M A A S 1989), im Prozeß der ständigen Re-Kreation des gemeingesellschaftlichen Konsens, der auch „sehr effektiv Raum für oppositionelle Denkweisen und rebellische Gesten läßt" (ebd.). Dieses Spezifikum der politischen Diskursregelung verdunkelt häufig die politische Interessenlage. Von faschistischen, Militär- und anderen Diktaturen abgesehen, bei denen die Diskursregelung von einem Zentrum aus erfolgt, läßt die „Polyphonie" der politischen Diskurse den oft und in vielerlei Hinsicht durchaus berechtigten Eindruck vielfältiger Interessenrealisierungen im konfliktiven Verhältnis der po-
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Iitischen Diskursuniversa entstehen. Häufig läßt erst eine allgemeine Gesellschaftsanalyse erkennen, daß damit die Funktion der Systemstabilisierung im Interesse herrschender sozialer Kräfte erfüllt wird. Ein weiterer Sachverhalt wird durch die unterschiedlichen Möglichkeiten des Zugangs der sozialen Gruppen zu den gesellschaftlich relevanten Codes begründet. Dazu zählt die Regelung des Zugriffs zum Schriftcode, zum Erwerb schriftkultureller Fähigkeiten und Erfahrungen, die über die Schreibtechniken hinaus die spezifisch skripturalen Diskursformen betreffen und die Partizipation an den an Schriftlichkeit gebundenen Domänen des gesellschaftlichen Verkehrs (ganze Berufszweige, schriftliche Medien, aber auch Wahlrecht) ermöglichen. Insofern stellt die massenhafte Alphabetisierung eine Voraussetzung für das Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft dar und wird in der Tat durch die bürgerlichen Revolutionen namentlich des 18. und 19. Jhs. in Gang gesetzt. Sie ist darüber hinaus eine Grundbedingung für die soziale Reproduktion in jeder modernen Gesellschaft, die von der Einbeziehung der Bevölkerungsmehrheit in Wirtschaft und Politik lebt (oder dies zumindest vorgibt), was sich in der Vergangenheit am klarsten wohl im Gewicht der Bildungspolitik in sozialistischen Ländern (ζ. B. in Kuba) und in den Alphabetisierungskampagnen von Entwicklungsländern „mit sozialistischer Orientierung" (ζ. B. Nicaragua) manifestiert hat. Die allgemeine Volksbildung, in deren Mittelpunkt Lesen und Schreiben steht, ist eine durchaus widersprüchliche Errungenschaft: einerseits eröffnet sie jedermann die verschiedenen Möglichkeiten der Partizipation an der Gesellschaft, andererseits Verwertungsbedingungen des Kapitals; einerseits erhält die Arbeiterschaft die Möglichkeit, sich weiträumig zu bilden, sich zu organisieren und ihren eigenen Diskurs zu entwickeln und zu propagieren, andererseits wird sie mit ihrer Lesefähigkeit in den Stand versetzt, vom herrschenden Diskurs, den stärksten Medien usw. eingefangen zu werden. Diese Widersprüchlichkeit reflektiert sich gelegentlich sogar in der Trennung von Lese- und Schreibfähigkeit. Daß sie getrennt voneinander erworben und praktisch angewendet werden können, demonstriert nicht nur die antike Arbeitsteilung zwischen dem schriftkundigen Aristokraten, der sich auf Lektüre beschränkte, und dem Schreibsklaven, eine Teilung, die sich im Prinzip bis in die modernen Schreibbüros und Sekretariate hinein fortsetzt (vgl. G U M B R E C H T 1986), sondern auch die in manchen Ländern im 17. bis 19. Jh. noch praktizierte Volksschulbildung, deren Hauptziel das Lesen religiöser Texte und nur beschränkt die Schreibfähigkeit war (vgl. Kap. 4.1.).
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Die mit der Lese-Schreib-Fähigkeit verbundene Aneignung spezifischer Diskursformen der Schriftlichkeit schafft im allgemeinen auch ein neues Verhältnis zwischen der Staats- bzw. Nationalsprache, in der der Schriftgebrauch erworben wird, und den Sprachen mit geringerem Prestige, d. h. Dialekten, Sprachen von Minderheiten und Kolonialvölkern, die in ausschließlicher oder überwiegender Mündlichkeit verbleiben. Daher die oft anzutreffende Meinung, daß sich das jeweilige untergeordnete Idiom nicht für bestimmte soziale Funktionen (Literatur, Technik, Wissenschaft, Philosophie usw.) eigne. Das Bewußtsein dieser Inferiorität gegenüber den Schriftsprachen wird aber erst dann zu einem Massenphänomen, wenn der Schriftgebrauch allgemeiner verbreitet ist, vor allem mit der Einführung der Schulpflicht, und wirkt als zusätzlicher Widerspruch in Situationen des Sprachkonflikts. Ein Konfliktpotential ähnlicher Art besteht in den Zugriffsmöglichkeiten breiter Kreise zu fachsprachlichen Codes, vor allem (aber nicht nur!) dann, wenn es sich um Kommunikationsbereiche mit größerer gesellschaftlicher Reichweite handelt. So bedeutet die Ausgrenzung der Rechtssprache aus der Alltagskommunikation und ihre Professionalisierung praktisch oft eine Verdunkelung der Gesetzestexte für den juristisch nicht geschulten Bürger und hat dessen Abhängigkeit von der Rechtsbürokratie zur Folge. Die Kritik an der Rechtssprache und Reaktionen darauf, in dem Sinne, daß die juristischen Texte bürgernah gestaltet werden sollten, reicht in die Phase der aufklärerischen Reformen des 18. Jhs. zurück. So erwähnen PFEIFFER/STROUHAL/WODAK (1987, 5) die Anordnung Maria Theresias an die ungarische Administration, wonach jeder Entwurf einer behördlichen Anordnung einem Mann mit Volksschulbildung und durchschnittlicher Intelligenz, einem buta ember („dummen" bzw. „einfachen Menschen"), vorgelegt werden sollte, um sie auf ihre Allgemeinverständlichkeit hin zu testen. Der buta ember sollte den Inhalt der Anordnung frei wiedergeben können, andernfalls mußte der Entwurf revidiert werden. In ähnlicher Weise sollte in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. das Landrecht so verfaßt sein, „damit ein jeder, der einen Prozeß hat, solches selbst nachsehen und, ob er Recht oder Unrecht habe, daraus lesen könne" (zit. ebd., 7). Daß Professionalisierung und fachsprachliche Spezialisierung auf diesem immer weiter ausufernden Gebiet unvermeidlich sind, leuchtet ein; die Forderung nach Transparenz des Diskurses bleibt dennoch berechtigt. Das hier berührte Problem, das bis heute in zufriedenstellender Weise wohl nirgendwo gelöst ist, ergibt sich nur zum Teil aus dem Widerspruch zwischen dem Öffentlichkeitscharakter und gleichzeiti-
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gem, notwendigen Spezialistentum des Rechtswesens und seiner Träger, der sich in der Spannung zwischen Fachsprachlichkeit und vielfach geforderter Gemeinverständlichkeit der Texte niederschlägt. Auch die beabsichtigte Abstraktheit vieler Formulierungen in Gesetzen und Verordnungen, die der Ausdeutung einen relativ freien Spielraum läßt, ist ein Aspekt des Konfliktpotentials dieses Kommunikationsbereiches. Gewollte Opazität der Texte des Rechtswesens (neben dem Geheimnischarakter eines bestimmten Teils davon) liegt auch in den Herrschaftspraktiken, wobei nicht nur die Herrschenden selbst ein Interesse daran haben können, sondern auch die Spezialisten, die damit über ein an Privilegien geknüpftes intellektuelles Kapital verfügen, ein „sprachliches Besitztum", das sie ohne weiteres nicht aufzugeben bereit sind. Die Machtverhältnisse und sozialen Widersprüche sind auf diese Weise auch in den Grad der Transparenz der Rechtstexte eingeschrieben. Wie diese verschiedenen Bereiche (denen Beispiele über Abschirmungs- und Majorisierungstendenzen auch in der Handhabung der wissenschaftlich-technischen Fachsprachen und der Berufssprachen hinzugefügt werden könnten) zeigen, bezieht sich die Diskursregelung auf ein Ensemble von funktionalen Codes, Text- oder Diskursformen, deren Zugangsmöglichkeiten für die unterschiedlichsten sozialen Gruppen ebenso wie deren Gestalt dem Eingriff der Gesellschaft unterliegen. Am Grade der allgemeinen Zugänglichkeit und Mitgestaltung dieser Diskursformen durch die Mehrheit läßt sich unzweifelhaft auf den Grad der Demokratie in einer Gesellschaft schließen. Die Unterschiedlichkeit der Funktionen und Formen von Diskursen mit nennenswerter sozialer Tragweite bedingt die Verschiedenheit der diskursregelnden Strategien. Generell wird mit solchen sozial signifikanten Diskursen neben ihren Hauptfunktionen der Information, Präskription, Konsensbildung usw. auch die der Identifikation bzw. Integration innerhalb von Gruppen und der Ausgrenzung von Outsidern erfüllt. Bei Fachtexten einschließlich solcher mit Öffentlichkeitscharakter (ζ. B. den juristischen und administrativen) beschränkt sich das strategische Potential weitgehend auf das durch abgestufte Verwendung von Fachterminologie und/oder Allgemeinwortschatz, Abstraktheit der Formulierungen, schwierig überschaubare Syntax, intertextuelle Querverweise und fachbezogene Argumentationszusammenhänge bestimmte Spannungsfeld zwischen Transparenz und Opazität. Alternative Diskursregelungen, die den Abbau der überwiegend zu beobachtenden Opazität anvisieren und die Texte durch entsprechende sprachliche und argumentative Gestaltung auch für Laien
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verständlicher machen wollen, sind noch relativ selten (vgl. u. a. die Vorschläge bei P F E I F F E R / S T R O U H A L / W O D A K 1987). Das zentrale Feld der Diskursregelung ist natürlich der politische Diskurs, dessen Rolle bei der Reproduktion der sozialen und politischen Verhältnisse nicht zu übersehen ist. Die oft beschworene „Macht des Wortes", d. h. die Möglichkeit, das politische Denken der Bevölkerungsmehrheit durch Regelung der diskursiven Praxis „von oben her" zu beeinflussen und zu manipulieren, ist eine echte Machtposition, ein „Sprachbesitz", der Vorherrschaft begründet. Sie ist nicht schlechthin nur der politischen Ignoranz der Beherrschten geschuldet, sondern auch ihrem mangelnden diskursiven Vermögen in analytischer und in produktiver Hinsicht. B O U R D I E U macht auf die nicht genügend entwickelte Fähigkeit „der Transformation von Erfahrung in Diskurs, des unformulierten Ethos in konstituierten und konstituierenden Logos, des klassenspezifischen Gespürs, das eine Art Anpassung an und resignierte Abfindung mit den Gegebenheiten der gesellschaftlichen Ordnung beinhalten kann, in bewußte, d. h. ausdrücklich formulierte Auffassung von dieser Ordnung" aufmerksam ( B O U R D I E U 1987, 720). In dieser Lücke operiert die politische Diskursregelung: Sie bestimmt die Themen, die zu benennen sind, und die Sprache, in der das zu geschehen hat. Das ist umso folgenreicher, „als die ,Nachfrage' nach einem politischen Diskurs fast nie (zumindest was die beherrschten Klassen anbelangt) dem ,Angebot' vorhergeht. Noch nicht oder nur ansatzweise formuliert, erkennt sich jene erst, wenn sie sich — zu Recht oder Unrecht - in einer offerierten Meinung wiederfindet" (ebd.). Die Beherrschten, die politisch bewußt werden wollen, d. h. ihre Erfahrung begrifflich fassen wollen, schweben ständig in der Gefahr, „allen Formen trügerischen Erkennens" zu verfallen, „denen der herrschende Diskurs Vorschub leistet... Durch Diskreditierung zerstört die herrschende Sprache den spontanen politischen Diskurs der Beherrschten; denen bleibt nurmehr das Schweigen oder die geborgte Sprache" (722). Dieses „Schweigen" ist freilich nicht mehr allein ein sprachliches Problem, ebenso wie die Lese-Schreib-Fähigkeit längst keine Voraussetzung mehr für den Zugriff der Medien auf die einzelnen Subjekte darstellt. Deren „staatsmäßige Zurichtung" wird durch die allen zugänglichen, da keine Bildung erforderlich machenden elektronischen Massenmedien mit ihren uniformen Programmen geleistet, die ihren Zuhörern und Zuschauern mit den Diskursen der Werbung, Unterhaltung, Kriminalität, Gewalt usw., die den Rahmen auch für die politischen Sendungen und Nachrichten bilden und die Einstellung dazu prägen, einen bestimmten geistigen Horizont mit bestimmten
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versprachlichten Topoi vermitteln, von dem aus u. a. das Politische nur noch als Nebensächliches beurteilt wird. Insofern ist Diskursregelung, ganz gleich, ob von privaten oder staatlichen Medien kommend, nicht nur schlechthin eine handgreifliche Realität, sondern verläuft auch in einer trotz oberflächlicher Verschiedenheit grundsätzlich übereinstimmenden Tendenz. Die Berichterstattung über den Golfkrieg war das jüngste Beispiel sowohl für politische Sprachregelung sogar in internationalem Maßstab als auch für die makabre Verflechtung von Politik und Unterhaltung. Die Wirkung der politischen Sprache im engeren Sinne nun beruht nicht allein auf den Inhalten und den bezeichneten Topoi, sondern auch auf der (vom Textproduzenten übrigens nicht immer beabsichtigten) argumentativen und sprachlichen „Inszenierung" der Themen. Ins Auge springt gewiß zuerst die ideologisch motivierte Benennung der Gegenstände, die argumentative Verknüpfung der Topoi und die Präferenzen und Referenzen von Begründungszusammenhängen (vgl. E R F U R T / H O P F E R 1 9 8 9 ) . Weniger auffällig und nichtsdestoweniger relevant für sprachpolitische Strategien sind die gewissermaßen „normalen" Formen im Diskurs, denen man sprachpolitische Funktionen auf den ersten Blick nicht zuzuschreiben geneigt ist: Anrede- und Appellformen, Personaldeixis und Pronominalisierung, Steigerungsformen, Modalität und Zeitengebrauch usw. sowie kommunikative Prozeduren der Konsens- und Dissensbekundung, der sprachlichen Auf- und Abwertung, der Solidarisierung usw., soweit sie serieller Natur sind. Von der gängigen Sprachpolitikforschung ausgeklammert, haben diese Praktiken in der politischen Diskursanalyse und Sprachkritik bisher ihren Platz gehabt. Ihre Zugehörigkeit zur Praxis und Forschung der Sprachpolitik dürfte außer Zweifel stehen (was nichts gegen die Eigenexistenz der letztgenannten Richtungen besagen will).
1.5.4. Internationale Sprachpolitik/Fremdsprachenpolitik Sprachbarrieren, die durch die Verschiedenheit der Staats- und Nationalsprachen bedingt sind, behindern die für die internationalen wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Beziehungen und den individuellen Verkehr erforderliche Verständigung, die durch Fremdsprachenspezialisten (Dolmetscher und Übersetzer) in der sich zunehmend internationalisierenden Welt allein nicht zu bewältigen ist. Es bestehen Strategien zur Durchsetzung einer oder mehrerer Sprachen als internationale Verkehrssprachen sowie Haltungen und Verhaltensweisen gegenüber Fremdsprachen.
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Die politische Interessenlage ist dadurch charakterisiert, daß an der Durchsetzung ihrer Sprache im internationalen Verkehr die politisch und wirtschaftlich führenden Kräfte vor allem der Großmächte — aktueller wie ehemaliger — interessiert sind, zumal damit bessere Voraussetzungen bestehen, den internationalen Markt zu beherrschen oder mit Gewinn in Anspruch zu nehmen, politische Unterstützung und Ansehen im Ausland zu erlangen oder zu bewahren oder bestimmte Regionen der Welt in politischer, wirtschaftlicher, kultureller und ideologischer Botmäßigkeit zu halten. Auf der anderen Seite streben aus wohlverstandenem persönlichem Interesse große Kreise von Einzelpersonen unabhängig von jenen Gruppeninteressen nach Fremdsprachenkenntnissen bzw. wünschen eine möglichst problemarme internationale Verständigung. Das Zusammenspiel der unterschiedlichsten Motive wird am Beispiel des Englischen besonders deutlich: Sprache der wirtschaftlich, politisch und massenkulturell führenden Großmacht sowie weiterer gewichtiger Länder, wird es von immer mehr Personen in allen Teilen der Welt als „die" Weltsprache aufgefaßt, die noch dazu besonders bequem zu erlernen und zu gebrauchen sei. Wenn eine auch sprachlich reibungslose internationale Kommunikation als zusätzlicher Faktor die Reproduktion der innergesellschaftlichen Verhältnisse einzelner Länder begünstigen kann, weil sie ökonomische oder politische Vorteile für die herrschenden Kreise möglich macht, so ist heute noch ein weiteres Moment zu berücksichtigen. Das globale Interesse am Erhalt der Menschheit und der natürlichen Umwelt könnte auch in der internationalen Sprachpolitik ein Umdenken bewirken, indem die Staaten auch sprachlich „aufeinander zugehen", den sprachlichen Pluralismus als Verpflichtung zu gegenseitiger Annäherung annehmen, größere Toleranz und größeres Entgegenkommen in der Frage der international gebräuchlichen Sprachen zeigen oder sich auf politisch neutrale Verhandlungssprachen einigen. Die in der EG geübte Praxis der Anerkennung von offiziellen Sprachen und Arbeitssprachen trägt dem in bestimmten Grenzen bereits Rechnung. Die sprachpolitischen Strategien sind aus historischer Sicht die folgenden: (1) Sprachlicher Kolonialismus Die Durchsetzung oder Verbreitung der eigenen Staatssprache in Kolonien oder eroberten Territorien ist häufig mit gewaltsamen Mitteln praktiziert worden. „Sprachpolitik mit dem Schwert" durch Ausrot-
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tung oder Dezimierung fremder Völker ist seit dem Altertum bekannt: der Romanisierung Dakiens ging die weitgehende Vernichtung der Daker durch Trajans Legionäre voraus, und der Niedergang der irischen Sprache und Kultur setzte mit dem blutigen Sieg Cromwells über Irland ein. Kolonialistische Sprachpolitik äußert sich vorwiegend in der Unterdrückung einheimischer Sprachen und Zivilisationen durch das Verbot ihrer öffentlichen Benutzung sowie durch die Vernachlässigung ihrer Pflege und Erforschung, was meist mit dem ideologischen Postulat der zivilisatorischen Funktion der Kolonisatorensprache verhüllt wird (vgl. Bernd SCHMIDT, Kap. 5.1.1. im vorl. Band). Eine Variante derselben Politik besteht darin, die einheimische Sprache ausschließlich als Mittel zur erfolgreicheren sprachlichen Assimilierung oder zur Missionierung zu gebrauchen. 11 Es scheint berechtigt, auch von „neokolonialistischer Sprachpolitik" zu sprechen, sofern mit der Aufrechterhaltung sprachpolitischer Bindungen von Entwicklungsländern an die ehemalige Kolonialmacht gleichzeitig kulturelle, politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten verfolgt werden. Auch hier sind Kollusionen möglich: In der Francophonie spielen das Interesse der ehemaligen französischen Kolonien, sich sprachlich einen leichteren Zugang zum internationalen knowhow und ein engeres Verhältnis zu einem führenden Industrieland zu erhalten, mit durchaus vorhandenen Hegemoniebestrebungen führender Kreise Frankreichs zusammen. Die unidad de la lengua ist eine der frühesten Formen solchen sprachlichen Neokolonialismus; mit ihr sollte der Verlust der spanischen Kolonien in Amerika in gewisser Weise kompensiert werden (vgl. Kap. 5.1.2.). (2) Sprachexport Die Propagierung einer Sprache im Ausland, meist mit Kulturpropaganda verbunden, ist zur Sache aller halbwegs bedeutenden und national selbstbewußten Staaten geworden und wird mit Hilfe der diplomatischen Missionen, Kulturzentren, Institutionen zur Pflege bestimmter Sprachen im Ausland {Goethe-Institut, British Council, De-
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Die Charakterisierung der Unterdrückung einheimischer Minderheiten bspw. in Frankreich als sprachlicher Kolonialismus, wie sie CALVET (1974) vorgeschlagen hat, ist eher als griffige Metapher denn als objektive Bezeichnung anzusehen. Die Formen des sprachpolitischen Verhaltens sind zweifelsohne vergleichbar mit denen des klassischen Kolonialismus, jedoch sollten die Unterschiede zwischen diesem und der stiefmütterlichen Behandlung innerstaatlicher, immerhin als zur Nation gehörig anerkannter Minderheiten, deren Angehörige uneingeschränkte staatsbürgerliche Rechte genießen, nicht übersehen werden.
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legation generale de la langue franfaise, CREDIF usw.) und nationaler und internationaler Organisationen zum Studium fremder Sprachen (ζ. B. Philologenverbände) betrieben. Dieser Export von Sprache und Kultur in zivilisierten Formen unterliegt wie der sprachliche Kolonialismus den unterschiedlichsten Interessenbündelungen, deren Spektrum von humanistischen und völkerverbindenden bis zu imperialhegemonistischen Bestrebungen reicht. Die Gründung des GoetheInstituts 1932 und seine Neugründung im Jahre 1952 zielten jeweils auf eine Wiedergewinnung verlorener Positionen im internationalen Kulturleben ab, politische und offenbar auch wirtschaftliche Motive sind aber sicher mit im Spiele gewesen. (3) Internationale Kommunikationspolitik Solange es eine einheitliche Sprache des internationalen Verkehrs gegeben hat, war das Problem der Verständigung über die Sprachgrenzen hinweg eher ein individuelles. Das Latein des Mittelalters erfüllte zumindest in West- und Mitteleuropa solange die Rolle einer internationalen Verkehrs-, Verhandlungs- und Kultursprache, bis sich die nationalen Volkssprachen behaupten konnten, von denen einige in die frühere Rolle des Lateins versetzt werden sollten. Wenn Französisch in Europa die Funktion einer Sprache der Aristokratie, der Diplomatie und der Kultur bis zum 1. Weltkrieg ausüben konnte, so war diese schon im Verlaufe des 19. Jhs. durch das Englische als Sprache des britischen Kolonialreiches und Nordamerikas, des Spanischen in Südamerika, des Deutschen in Mittel- und Osteuropa angefochten. Die sprachliche Außenpropaganda der führenden Mächte wirkte sich in einem Kampf um die sprachliche Hegemonie im globalen Maßstab aus, in welchem das Englische nach Beendigung des 2. Weltkrieges einen deutlichen Vorsprung vor allen anderen erzielte. Eine gegenläufige Tendenz ist in der wachsenden Zahl der UNO- und UNESCO-Arbeitssprachen erkennbar. Auch die Sprachpraxis der KSZE, deren verbindliche Dokumente jeweils in sechs originalen Sprachvarianten (deutsch, englisch, französisch, italienisch, spanisch, russisch) vorliegen, verweist auf diese Tendenz. Es liegt auf der Hand, daß die Abfassung von international oder regional verbindlichen Schriftstücken den Staaten Vorteile bringt, in deren Sprache sie zuerst abgefaßt sind. Die EG-Richtlinien, die zuerst auf Englisch und Französisch veröffentlicht werden, können von Firmen in anderssprachigen Ländern, die über keinen eigenen Übersetzungsdienst verfügen, erst mit Verzögerungen zur Kenntnis genommen werden, was zu geschäftlichen Verlusten führen kann.
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Eine demokratische Sprachpolitik scheint auch auf internationalem Gebiet erforderlich zu sein, wenn dies auch mit höheren Kosten verbunden ist. Die Frage, in welchen Sprachen international verkehrt wird, sollte nicht mehr wie bisher von der Vormachtstellung einzelner Großmächte bestimmt werden, sondern von dem Prinzip der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Staaten und ihrer Sprachen, ungeachtet ihrer Größe und ihres weltpolitischen Gewichtes. Wie die praktische Lösung eines solchen Problems auch immer aussehen mag — es kann nicht mehr darum gehen, daß die sprachliche Form der internationalen Kommunikation den Hegemoniebestrebungen eines Landes oder einer Staatengruppe untergeordnet wird, sondern dem Fortbestand der Menschheit in der Totalität ihrer Sprachen und Kulturen, der Reproduktion des Menschengeschlechts dient. Damit würde die Funktion internationaler Sprachpolitik auf einer höheren Stufe mit der Funktion von Sprache schlechthin zusammenfallen. (4) Schaffung von Plansprachen Der einseitige Nutzen, den politische Mächte aus dem Gebrauch ihrer Sprache in der internationalen Arena ziehen, ist offenbar mehr noch als die strukturellen Unregelmäßigkeiten, die dem Fremdsprachen Lernenden Schwierigkeiten bereiten, der Beweggrund für die Entwicklung der internationalen Plansprachen Esperanto, Volapük, Ido u. a. gewesen. Es war die ausdrückliche Absicht Zamenhofs, mit Esperanto zur Völkerverständigung und der Vermeidung von Haß und Krieg beizutragen (vgl. B L A N K E 1985, 70). Angesprochen waren vor allem volkstümliche Kreise, nicht zuletzt Arbeiter, denen Esperanto durch Regelmäßigkeit und leichte Erlernbarkeit zugänglich gemacht werden sollte. Die Arbeiter-Esperanto-Bewegung hat dies bestätigt (vgl. ebd., 223). Die Polemik Gramscis gegen dessen Förderung durch die Arbeiterbewegung weist auf den Stellenwert dieser Frage in der II. Internationale bis zum 1. Weltkrieg hin (vgl. G R A M S C I 1984, 44 ff.; vgl. auch M A A S 1989, 66ff.). B L A N K E (1985, 152ff.) macht allerdings darauf aufmerksam, daß bestimmte Plansprachen {Weltdeutsch, Wede, Pidgin English, Oiropapitschn usw.) durchaus auch Bestrebungen nach Vorherrschaft unterworfen waren. Wenn die Erfolge bei der Verbreitung solcher Sprachen bis heute verhältnismäßig bescheiden sind und auch die Arbeiterbewegung ihr Interesse an den Plansprachen verloren hat, so sind dafür sowohl das erdrückende Gewicht einzelner natürlicher Sprachen im internationalen Verkehr als auch die angedeuteten Hegemoniebestrebungen einzelner Länder oder Staatengruppen verantwortlich zu machen. Es
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ist übrigens sicherlich kein Zufall, daß die in Moskau ansässige und von den dreißiger Jahren an durch Stalin beherrschte Kommunistische Internationale für Plansprachen wenig Verständnis aufbrachte. Über deren Zukunft dürfte allerdings noch nicht das letzte Wort gesprochen sein. (5) Fremdsprachenbildung Die Regelung des Fremdsprachenunterrichts ist seit der Zeit, als sich der Staat des Bildungswesens annahm, ein Politikum gewesen. Den ersten diesbezüglichen Versuch mag man in der „karolingischen Renaissance" sehen. Die von Karl dem Großen veranlaßte Gründung von Lateinschulen hatte bekanntlich die Funktion, dem volkssprachlich ausdifferenzierten und mit dem regional zerklüfteten Gebrauchslatein nicht mehr zu regierenden Reich wieder eine einheitliche Verwaltungssprache zu geben. Das Lateinstudium blieb jedoch bis in die Neuzeit hinein vorwiegend binnenorientiert: es wurde mehr als Sprache von Verwaltung, Justiz und Wissenschaft und nur nebenher als Mittel der internationalen Verständigung gelernt. In dieser Funktion eroberten sich moderne Fremdsprachen — in Deutschland vor allem Französisch und Italienisch — vom 16. Jh. an einen Platz an Universitäten, Fürstenschulen, Ritterakademien u. dgl. sowie im Privatunterricht. Solange jedoch die höhere Verwaltungslaufbahn dem Adel vorbehalten war, blieb der Fremdsprachenunterricht weitgehend dessen Privileg. Die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jhs. veränderten die Sachlage nur insofern, als dieses Privileg einer neuen sozialen Schicht zugute kam, während für die Volksmasse zunächst die Alphabetisierung in der Muttersprache im Vordergrund stand. Die Intellektuellen sicherten sich auch auf diesem Sprachgebiet ihre Verwertungsmöglichkeiten von in Bildung investiertem Kapital: War das Dolmetschen und der Sprachunterricht, von wenigen Ausnahmen abgesehen (etwa der Dragomane an der Hohen Pforte) eine vorübergehende oder nebensächliche Beschäftigung, so brachte die zunehmende Arbeitsteilung den Dolmetscher, Fremdsprachenkorrespondenten, Übersetzer, Sprachlehrer usw. hervor. Die Auswahl der staatlicherseits geförderten Fremdsprachen reflektiert die außenpolitischen Orientierungen und Abhängigkeiten des jeweiligen Staates. Die schwindende Rolle des Französischen und der Vormarsch des Englischen von der wilhelminischen Ära über die Weimarer Republik bis in die Zeit des Nationalsozialismus hängt auch mit Feindbildvorstellungen der deutschen Öffentlichkeit zusammen, wobei allerdings auch das Verhältnis zu England ein ziemlich
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zwiespältiges war. Jede Reduzierung des Fremdsprachenunterrichts auf ein bis zwei Hauptsprachen ist heute, wenn nicht ideologisch bedingt, so doch ökonomistisch und kurzschlüssig und vergrößert kulturelle, politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten. In einer Welt, deren Staaten sich zunehmend einander öffnen und die sich auf dem Wege zu einem kulturellen und politischen Pluralismus befindet, ist die Vielfalt in der Fremdsprachenbildung — zumindest auf höheren Bildungsstufen — eine Investition für die Zukunft. Fremdsprachige Verlage, Radio- und Fernsehsendungen, Fremdsprachen als Medium in Fachzeitschriften sind flankierende Elemente, die heute mehr denn je gefördert werden sollten, wobei internationale Informationsmonopole abgebaut und vertrauensbildende Maßnahmen auch in der grenzüberschreitenden Medienpolitik berücksichtigt werden können. (6) Fremdwortpolitik Der Umgang mit Entlehnungen aus fremden Sprachen ist überwiegend, aber nicht nur, binnenorientiert. Er ist seltener eigentlichen Verständlichkeitspostulaten unterworfen, die zweifellos in der aufklärerischen Sprachpraxis eines Wolff eine Rolle spielten, der die Verdeutschung philosophischer Begriffe in den Dienst der Volksaufklärung stellte. Auch die von Kemal Atatürk betriebene Politik der Ersetzung der für die weniger Gebildeten unverständlichen arabischen und persischen Lehnwörter der Schriftsprache durch türkische Neubildungen, die das Aussehen der Sprache binnen kurzem radikal veränderte, war von dem Streben nach Verständlichkeit im Rahmen der Modernisierungspläne für die türkische Gesellschaft bestimmt (vgl. C A L V E T 1987, 190). Meist ist aber der Kampf gegen das Fremdwort ein Teil der nationalen Selbstverständigung oder dient der Abwehr einer als feindlich deklarierten Kultur. Beispiele dafür lassen sich seit der Entstehung des volkssprachlichen Humanismus zur Genüge finden. Da Forderungen nach Bevorzugung einheimischer Lexik beim Aufbau oder der Übernahme neologischer Wortschätze auch immer ein Gegenüber voraussetzen, sind sie gleichzeitig auch außenorientiert. Häufig korrelieren sie mit Orientierungen in der Fremdsprachenbildung. Was in der wilhelminischen Zeit für das französische Wort und den Französischunterricht galt, wiederholte sich in Italien unter Mussolini im Hinblick auf Französisch und Englisch. Dem Anspruch auf wirtschaftliche Autarkie stand die Forderung nach sprachlicher Selbständigkeit zur Seite; die von namhaften Linguisten kreierte „glottotecnica" ersetzte Fremdwörter durch Konstruktionen aus traditionel-
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lern Sprachmaterial. Wenn Italien seit den Nachkriegs jähren im Gegensatz etwa zu maßgeblichen Kreisen der französischen "Öffentlichkeit dem massiven Eindringen des Anglo-Amerikanismus gleichgültig gegenübersteht, so läßt sich dies auch als Reaktion auf den früheren Purismus deuten.
1.6. Methoden der Erforschung von Sprachpolitik Die Vielfalt der ihrerseits in sich sehr differenzierten Domänen der Sprachpolitik macht eine Vielfalt der Methoden für ihre Erforschung möglich und notwendig, von denen viele bereits aus dem bisher Gesagten erkennbar geworden sind und die im folgenden keineswegs in ihrer Gesamtheit dargestellt werden können. Bei der Diskussion dieser Methoden ist nicht nur ein klassifikatorisches Herangehen nach den verschiedensten Tätigkeiten und Problemfeldern der Sprachpolitik denkbar, sondern auch ihr Prozeßcharakter zu berücksichtigen. Unabhängig von den Domänen würde das Geschehen in idealer Weise aus folgenden Momenten bestehen: Interessen —* Theorien —> Programme —> Maßnahmen —*• Ergebnisse —> Bewertungen Diese Kette ist insofern idealisiert, als in der sprachpolitischen Wirklichkeit einzelne Glieder fehlen können. Das betrifft besonders die Theorien und die Bewertungen. Außerdem trägt sie nur der intendierten Sprachpolitik Rechnung, nicht aber den sekundären sprachpolitischen Effekten andersgearteter Tätigkeit, und ist damit nur für einen Teil dessen gültig, was wir hier als Sprachpolitik definiert haben. Für diesen läßt sie sich aus der Sicht der Forschung sowohl von rechts nach links als auch von links nach rechts verfolgen. Hinsichtlich der aktuellen Sprachplanung und Sprachkultur ist der Prozeß ζ. B. unmittelbar in den meisten seiner Phasen beobachtbar. So hat FISHMAN (1977 a, b; 1983) den Umschlag von Programmen in Maßnahmen und deren konkrete Ergebnisse in den sprachlichen System- und Verhaltensnormen einschließlich der Evaluation durch die Sprecher anhand des Hebräischen demonstriert. In anderen Fällen ist aber nur wenig mehr als ein Element der Kette bekannt bzw. zugänglich, so daß Voraussetzungen und Vorausgegangenes aus den Ergebnissen rekonstruiert werden müssen. Die Ergebnisse lassen sich dagegen, wie aus dem folgenden ersichtlich sein wird,
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aus verschiedenen Arten von Texten erschließen. Das trifft in besonderem Maße auf die historische Sprachpolitikforschung zu, die den Charakter des vorliegenden Bandes bestimmt und deren Quellen zwangsläufig Beschränkungen unterliegen. Es handelt sich ausschließlich um schriftliches Material, das sowohl in Gestalt explizit sprachpolitischer Texte vorkommt, die unterschiedliche Stufen des sprachpolitischen Prozesses reflektieren, als auch von Texten der unterschiedlichsten Inhalte und Sorten, die insofern einen sprachpolitischen Gehalt implizieren, als sie Ergebnisse sprachpolitischer Aktivitäten zu erkennen geben: soziolinguistische Verhältnisse (welche Schichten haben das Recht, die Macht oder die Fähigkeit, in der Öffentlichkeit das Wort zu ergreifen, welche Themen sind gefragt und welche tabu, welche Begriffe werden verwendet usw.), sprachliche Einstellungen (ζ. B. zu Sprachen, Dialekten u. a. Varietäten, zu Normen, zu Themen, Begriffen und dgl.) und Muster sprachlichen Verhaltens. Zu den explizit sprachpolitischen Texten gehören: (1) sprachphilosophische und -theoretische Texte, sprachbezogene Teile von bzw. Schlußfolgerungen aus philosophischen und gesellschaftstheoretischen Texten. Obwohl Sprachphilosophie und -theorie keine absolut notwendigen Voraussetzungen für praktische Sprachpolitik darstellen — die vielen adhoc-Lösungen beweisen es — und nicht selten erst nachträglich zur Begründung sprachpolitischer Programme und Aktivitäten herangezogen oder produziert werden, muß unsere Forschung auf dieser logisch vorgängigen Stufe einsetzen bzw. jeweils zu ihr zurückkehren. Die sprachwissenschaftliche Literatur seit Dante und in besonderem Maße seit dem Aufkommen des volkssprachlichen Humanismus und der Aufklärung will größtenteils sprachpolitische Ideen und Programme theoretisch und philosophisch begründen, die auf die Entwicklung, Standardisierung und Verbreitung der Nationalsprachen hinauslaufen. Wie Philosophie und Ideologie gleichfalls auf Sprachpolitik Einfluß nehmen können, bezeugt die praktische Umsetzung der Ideen des aufklärerischen Sensualismus, hauptsächlich in der Gestalt der Doktrin der Ideologues, in der Zeit während und nach der Französischen Revolution (vgl. BUSSE/TRABANT (ed.) 1985; SCHLIEBEN-LANGE et al. (ed.) 1989). (2) sprachpolitische Programme. Das für unseren Gegenstand naheliegendste Beispiel ist die Fülle der während der Französischen Revolution entstandenen Vorschläge, Berichte und Meinungen zum Umgang mit den „patois", zur Reformierung der Lexik, Orthographie und des grammatischen Standards sowie zur Verbreitung des Französischen, auf die im vorliegenden Band eingegangen wird. Bei der Untersuchung dieses Materials kommt es darauf an festzustellen, was
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Theorie und Methoden der Sprachpolitik und ihrer Analyse
davon allgemeinen gesellschaftlichen Bedürfnissen entgegenkam und damit Aussicht auf Verwirklichung hatte und was nicht. Ob jeweils Interessen einer Bevölkerungsmehrheit entsprochen wird oder ob manche Projekte nur deshalb als abseitig abgestempelt, in den Archiven begraben oder systematisch ignoriert werden, weil sie speziellen Gruppen- oder Klasseninteressen zuwiderlaufen, ergibt sich oft nicht aus der Evidenz der Veröffentlichungen und kann nur (wenn überhaupt) durch das Studium der Archive ermittelt werden. (3) Akte der Sprachgesetzgebung und der Normenkodifizierung. Gesetze, Dekrete, Verordnungen und sonstige staatlich verbürgte und verbindliche Regelungen der sprachlichen Praxis sind ebenso wie die sprachnormierenden Texte der Umschlagplatz von Ideen und Programmen in die Praxis der Sprachpolitik. Es ist der eigentliche Gegenstand der Sprachpolitik in der traditionellen, engeren Auffassung von dieser. Die drei diskutierten Arten von Texten sollten über die Beschreibung hinaus auch auf die Frage hm untersucht werden, welche Interessen welcher sozialer Schichten oder Klassen in ihnen zum Ausdruck kommen. Sprachpolitische Implikationen enthalten die unterschiedlichsten Texte aus allen möglichen thematischen Bereichen, vorzugsweise aber solchen mit primär gesellschaftsbezogenen Themen (obwohl letzten Endes jede Art von Texten, ja sogar Kochbücher in dieser Hinsicht relevant sein können, vgl. M A A S 1 9 8 4 ) . Welche sind zu bevorzugen und was kann aus ihnen extrapoliert werden? (1) Verstöße gegen und Anpassung an Normen, die das Ergebnis sprachpolitischer Aktivitäten sind. Solche Erscheinungen lassen sich prinzipiell anhand jeder Art von Texten nachweisen. Der Reflex der Aufnahme von Kodifizierungen im Sprecherverhalten läßt auf die Effizienz der zu ihrer Propagierung berufenen Instanzen, die Realitätsnähe der Kodifizierung, die Übereinstimmung mit sozialen Bedürfnissen usw. schließen. Als Beispiel mag das von V A L L V E R D U ( 1 9 6 8 / 1975) angezeigte Dilemma der katalanischen Gegenwartsliteratur stehen, die von den schroffen Gegensätzen zwischen traditioneller literatursprachlicher Norm und modernem mündlichen Sprachgebrauch zerrissen wird und zu Neuüberlegungen zur kodifizierten Norm des modernen Katalanisch herausfordert. (2) Erfolge von oder Widerstände gegen Diskursregelung. Im Prinzip kann jeder auf die Öffentlichkeit gerichtete Text als Versuch interpretiert werden, anderen ein bestimmtes Sprachverhalten zu oktroyieren. Die Resultate werden erst aus der seriellen Untersuchung, dem Vergleich von Texten gleicher Thematik ersichtlich, die die Anpassung
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an Modelle des Diskurses oder aber auch das Ausscheren Einzelner manifestieren. Die spezifischen Untersuchungsmethoden sind die unter 1.5.3. genannten, nicht zuletzt hinsichtlich der sprachlichen Inszenierung, die im vorliegenden Kap. 2.1.2. Anwendung finden. (3) Ergebnisse der Minorisierung bzw. Zurückdrängung oder der Aufwertung von Sprachen. Nach Robert LAFONT ( 1 9 7 3 / 1 9 8 2 , 5 4 f.) läßt sich das Verhältnis zwischen dominierenden und dominierten Sprachen mit Methoden der Sprachkontaktforschung erschließen. So hat das Französische aus dem Okzitanischen seit dem 19. Jh. nur Wörter entlehnt, die eine abwertende oder folkloristische Note aufweisen: gattjade, mas, petanque usw., analog zu dem leicht lächerlichen Typus der „gens du Midi" in der Literatur. Ebenso läßt der durchweg privilegierte Stellenwert der dem Französischen entlehnten Lexeme im Okzitanischen selbst dessen Minorisierung erkennen: es sind Wörter der modernen Kultur und des allgemeineren gesellschaftlichen Lebens sowie Abstrakta, während einheimische ursprüngliche Äquivalente in Nebenbereiche des sozialen Lebens, ins Folkloristische und die negative Konnotation abgedrängt worden sind. (4) Haltungen zu Sprachen bzw. Varietäten, die aus Sprachkonfliktsituationen und den Versuchen zu ihrer Bewältigung resultieren. Besonders geeignet sind Äußerungen primärer oder sekundärer Art über Sprache (auch die Texte der Sprachgesetzgebung, der Linguistik, der Politik u. a. m.), die durch die Sprachbezeichnungen („Dialekt", „patois", „Idiom", „korrumpierte Sprache" usw.) die Einstellung zu den betreffenden Varietäten konnotieren. Im vorliegenden Band ist dies eine der Methoden zur historischen Rekonstruktion von Sprachpolitik. (5) Ein Spezialfall der angeführten Haltungen ist die von LAFONT diglossische Ideologie genannte Bewußtseinslage der Sprecher einer benachteiligten Sprache als Folge sprachlichen Identitätsverlustes oder „ethnischer Entfremdung" (LAFONT 1965-67/1982). Sie drückt sich aus in Äußerungen zur sprachlichen Identität der Art „Das beste Okzitanisch wird nicht bei uns, sondern in X gesprochen", d. h. an einem jeweils anderen Ort, Indiz für sprachliches Minderwertigkeitsgefühl; in Hinweisen über die grundlegenden dialektalen Unterschiede von einem Dorf zum anderen, was in Verbindung zu dem Verlust des sprachlichen Zusammengehörigkeitsgefühls der Sprechergemeinschaft gesehen werden kann; in Äußerungen zu den expressiven Potenzen der eigenen und der übergeordneten Sprache („Im Okzitanischen lassen sich Dinge sagen, die französisch unmöglich sind!") als deutliches Zeichen für die ungenügende Aneignung der Nationalsprache usw. Eine historische Diskursanalyse mit Bezug auf die literarischen Zeugnisse und andere Zeitdokumente bietet sich mit dieser Blickrich-
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Theorie und Methoden der Sprachpolitik und ihrer Analyse
tung an: Der ganze Prozeß der Akkulturation an die übergeordnete Sprache „wird in jeder okzitanischen Diskursproduktion und in jedem Augenblick dieser Produktion neu durchlebt. Das historische Drama artikuliert sich ,horizontal', linear auf der Erzeugerachse der individuellen Äußerung" ( L A F O N T 1 9 7 3 / 1 9 8 2 , 6 0 ) . Was hier mit Bezug zum Okzitanischen gesagt wird, kann auch auf jede andere entmündigte oder entfremdete Sprachgemeinschaft übertragen werden. Mit den letztgenannten Gegenständen und Methoden sind wir bereits in den Bereich moderner Forschung zur Sprachpolitik vorgedrungen, die über das schriftliche Zeugnis hinaus von dem in Enqueten gewonnenen mündlichen Material Gebrauch macht. Da jede soziolinguistische Feldforschung sprachpolitische Aspekte impliziert, käme ein weiteres Eingehen darauf einer Darstellung der soziolinguistischen Methoden gleich; wir können daher an dieser Stelle darauf verzichten. Die Methoden zur Erforschung von Sprachpolitik sind also zu einem sehr beträchtlichen Teil die der Diskursanalyse. Der Linguist findet sich hier immer in seinem ureigensten Arbeitsgebiet wieder, allein die Ausgangsfragen und die Folgerungen sind ohne den Rückgriff auf sozial- und politikwissenschaftliche Instrumente nicht zu formulieren.
2.
Sprachpolitik in der Großen Französischen Revolution und im napoleonischen Empire
2.1. Sprachpolitischer Diskurs und sprachpolitische Praxis in der Revolution von 1789 —1799 Die Französische Revolution gilt gemeinhin als weltgeschichtlicher Epochenumbruch. Daß ihre Bedeutung für die Geschichte der Sprachpolitik ähnlich groß ist, läßt sich aus dem Wesen von Sprachpolitik selbst ableiten: Ein historisches Ereignis, das die Massen nicht nur auf die Beine, sondern auch zur Artikulierung ihrer politischen und kulturellen Vorstellungen bringt, verändert zwangsläufig die gesamte Herrschaftspraxis, in die sich die Sprachpolitik als integrierender Bestandteil einordnet. Einen vergleichsweise tiefen Einschnitt ins sprachpolitische Denken und Handeln hat wohl nur das unmittelbar auf die Oktoberrevolution folgende Jahrhundert gekannt. Keine andere bürgerliche Revolution jedenfalls hat die Sprachfrage so umfassend und vielgestaltig thematisiert, keine hat so langwirkende Folgen für die Entwicklung der gesellschaftlichen Sprachpraxis und der Sprache^) im eigenen und in angrenzenden Ländern gehabt, wie die Revolution der Franzosen von 1789 bis 1799. Das mit dieser Epochenzäsur beginnende Zeitalter ist eines der Sprachpolitik geworden: Politik wird nicht mehr vornehmlich als bloße Gewaltanwendung gegenüber den Beherrschten, sondern in unvergleichlich höherem Maße als Lenkung ihres politischen Wollens auf die Interessenverwirklichung der Herrschenden hin verstanden und praktiziert, und Sprache somit zu einem der ersten Instrumente der Herrschaft.
2.1.1.
Die Bewältigung des Sprachkonflikts in der Revolution
2.1.1.1. Die Sprachsituation Frankreichs vor 1789 Bei der Beurteilung der französischen Sprachverhältnisse am Vorabend der Revolution fallen zunächst die Heterogenität der nationalen
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Sprachpolitik in Revolution und napoleonischem Empire
Sprachlandschaft, die ungleiche Verteilung der sozialen Funktionen auf die Sprachen und ihr unterschiedliches soziokulturelles Prestige auf. Auf den genannten drei Ebenen nimmt die Nationalsprache von vornherein eine bevorzugte Stellung ein. Schon lange vor 1789 war die territoriale Ausdehnung einzelner neben dem Französischen in Frankreich beheimateten Sprachen zurückgegangen. Die sozialen Funktionen der Regionalsprachen 1 waren bereits durch die zentralistische Sprachpolitik des Absolutismus beschnitten worden oder vor dem Prestige des Französischen zurückgewichen. Einige dieser Sprachen (Baskisch, Bretonisch) waren seit jeher aus den prestigereichen Domänen der Kommunikation ausgeschlossen. In soziokultureller Hinsicht bedeutete dies für die meisten Regionalsprachen mit Ausnahme des Deutschen im Elsaß und des Italienischen auf Korsika eine tendenzielle Abwertung als patois, obwohl das Οzitanische oder Katalanische auf gewichtige kulturelle Traditionen zurückblicken konnten. 2 Aufwertende Epitheta wie logique, ecrit, civilise bezogen sich allein auf das Französische, dem bereits die kulturell-sprachlich hegemonischen Schichten der vorrevolutionären Gesellschaft ungeteilte Anerkennung gezollt hatten. Aufklärer wie Condillac verstanden Wissenserwerb als ein in einer hochentwickelten Sprache organisiertes und an den vollen Besitz der Schrift gebundenes Phänomen, (vgl. R I C K E N 1984, 210 ff.) Während der Revolution zog gerade diese Überlegung für Sprachen, deren Gebrauch von jeher oder inzwischen auf Bereiche der Mündlichkeit reduziert war, gewichtige sprachpolitische Konsequenzen nach sich. Die Angaben zur Anzahl der Sprachträger der langues regionales variieren sowohl in den zeitgenössischen wie rückblickenden Darstellungen je nach Verfasser beträchtlich. Barere spricht im Januar 1794 von 600 000 Franzosen, die der Nationalsprache nicht mächtig seien. Gregoire hält im Junibericht desselben Jahres mindestens 6 Millionen Franzosen dagegen, die die Nationalsprache nicht beherrschten und weitere 6 Millionen, die sie nur unvollkommen meisterten. 3 Millionen Französischsprecher werden von Gregoire als im Bereich der Münd-
1
Für die Bezeichnung der neben dem Französischen stehenden Sprachen verwenden wir der Verständlichkeit halber diesen Terminus, dessen Gültigkeit aber nicht unangefochten ist. Vgl. Kap. 6.1.2. sowie BOCHMANN 1989, 21 f.
2
Vgl. zum Katalanischen die Kap. im vorliegenden Bd. und zu Okzitanien inzwischen: II miglior fabbro. Langue et litteratures occitanes, medievales et modernes en hommage a Pierre Bee. Poitiers 1991, 6 2 5 S.
Sprachpolitik in der französischen Revolution
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lichkeit allseitig kompetent, weit weniger als des Schreibens und Lesens kundig angesehen. Es zeigte sich, daß die sprachpolitischen Maßnahmen des Absolutismus „Sprachbarrieren zwischen Aristokratie, Klerus und Amtsadel in den nichtfranzösischsprachigen Provinzen einerseits und dem Dritten Stande andererseits aufgerichtet" hatten ( B O C H M A N N 1987, 18). Ein Gutteil der französischen Bevölkerung und die übergroße Mehrheit der in der Bretagne, im Elsaß, in Flandern, Okzitanien und Korsika sowie im französischen Baskenland und in Katalonien Ansässigen beherrschten nur ihre Muttersprachen. Darüber hinaus gab es in jeder Region mehr oder minder zahlreiche zweisprachige Vertreter der Oberschichten. Wie das okzitanische Beispiel zeigt, konnten dazu bereits die gebildeten und begüterten Kreise des städtischen Bürgertums zählen. Schließlich lebten in den Regionen auch Angehörige der ausschließlich französischsprachigen Eliten, die nicht selten hohe staatliche Ämter bekleideten. 3
2.1.1.2. Französischsprachigkeit eines jeden Bürgers als sprachpolitische Zielstellung Wenn in der Französischen Revolution erstmals Möglichkeiten erwogen und im Ansatz auch geschaffen wurden, den Erwerb der Sprache der Nation im Prinzip jedem Bürger zu gewährleisten, so wurde zugleich der Ausgangspunkt einer neuen Qualität in der systematischen Verdrängung der Regionalsprachen gesetzt. Die Sprachpolitik in der Revolution von 1789 bis 1799 stellte auch insofern ein Novum dar, als hier Sprachpolitik erstmals als Regierungspolitik betrieben, in der Öffentlichkeit diskutiert und im Ergebnis gesetzlich fixiert wurde (vgl. BOCHMANN 1987 a). Das Sprachenproblem gewann sofort eine neue historische Dimension, als die um ihre Hegemonie auf allen Ebenen (vgl. KOSSOK 1987), seit dem Sturm auf die Bastille aber besonders um die politischmoralische Vorherrschaft kämpfenden bürgerlichen Kräfte danach trachteten, Herrschaft, („dominio") und geistig-moralische Führung, („direzione intellettuale et morale") i. S. von Gramsci 4 , zu etablieren und zu sichern. Beide Aspekte bestimmten die Bildung eines breiten 3
4
Zur Rolle der Intendanten vgl. DELUMEAU 1969, inzwischen Histoire generale de la Bretagne et des Bretons publiee sous la direction de Y. PELLETIER, 2 Bd.e, Paris 1 9 9 0 , 7 6 1 u. 7 6 2 S. Vgl. Quaderni del Carcere, Heft 19, § 24.
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Sprachpolitik in Revolution und napoleonischem Empire
antifeudalen Blocks mit und widerspiegelten sich nachfolgend in den Kämpfen gegen restaurative feudale Kräfte wie gegen ein Ausufern der Revolution über die gesamtbürgerlichen Interessen hinaus. Dieser antifeudale Block, auf dessen Existenz sich der Ausbruch der Revolution u. a. gründete und der zumindest zeitweise die Interessen unterschiedlicher, ja kontroverser Klassen und Schichten zu bündeln ermöglichte (vgl. K O S S O K 1986, 416), konnte nur durch die Herstellung eines allgemeinen Konsens geschmiedet werden. Wenn die bürgerlichen Kräfte schon im Namen des gesamten Volkes sprechen und jene Illusion ausbreiten konnten, die Marx die heroische nannte, so mußten sie zumindest beabsichtigt haben, von der Nation verstanden zu werden, und zwar auch im wörtlichen Sinne verstanden. Das Streben nach einem gesamtnationalen Kommunikationsraum, in dem die bürgerlichen Ideen fortan ungehindert zirkulieren sollten, hing nicht nur längerfristig mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten bei der Etablierung eines nationalen Marktes zusammen (vgl. B A L I B A R / L A P O R T E 1 9 7 4 ) , sondern war auch im Kampf um die politischinstitutionelle Vorherrschaft besonders relevant. Die Problematik der Regionalsprachen innerhalb der Sprachpolitik der Französischen Revolution wird von S C H L I E B E N - L A N G E ( 1 9 8 7 , 2 6 ff.) mittels zweier Thesen in größeren Zusammenhang gestellt: (1) Die Sprachpolitik der Revolution betrifft zunächst und vor allem das Französische selbst. „Es muß der neuen Zeit angeglichen und derart verändert werden, daß es seine neue Funktion als ,langue de la liberte' und Jangue nationale'' erfüllen kann." Folglich muß sich das Französische einmal gegenüber dem Latein (vor allem als Sprache des Gottesdienstes) und zum anderen gegenüber den Regionalsprachen durchsetzen. (2) Die Erneuerung des Französischen vollzieht sich als „Teil jenes aufklärerischen Projekts der Geometrisierung aller Lebensbereiche, der Uniformierung nach naturwissenschaftlichem Vorbild, das als konstante [...] Unterströmung die französische Revolution durchläuft und so die vorrevolutionäre Spätaufklärung mit den Tendenzen der Verwissenschaftlichung und Verwaltung des Directoire und Empire verbindet". Die uniformierende Neuordnung von Raum, Zeit und Sprache ergänzen einander. Sie werden in diesem Band unter 2.1.2. und 2.1.3. näher betrachtet. Die dort diskutierten sprachtheoretischen Konzepte strahlten aber auch auf die Theoriebildung zu anderen Idiomen aus und sind namentlich für jene Regionalsprachen relevant, die nach 1789 als Dialekte des Französischen verstanden wurden.
Sprachpolitik in der französischen Revolution
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SCHLIEBEN-LANGE (ebd.) konstatiert zudem eine Akzentverschiebung auf der zeitlichen Achse der Sprachpolitik der Französischen Revolution, die auch die weitere Abfolge dieses Kapitels bestimmt: In einer ersten Phase der Revolution dominiert die Feststellung der sprachlichen Diversität verbunden mit der Erörterung von Möglichkeiten, ihr zu begegnen. In einer zweiten Phase, die nicht von ungefähr in die Zeit der Jakobinerdiktatur fällt, entsteht der Diskurs der Uniformität. Nach der Revolution erscheint die Diversität bereits als genügend marginalisiert, um lediglich museale Bedeutung zu erlangen. Die beiden erstgenannten Phasen sollen nun besonders am Beispiel der Bretagne genauer bestimmt, ihr Ineinandergreifen erörtert und wesentliche Gründe für die Akzentverschiebung verdeutlicht werden.
2.1.1.3. Einige Versuche zur Bewältigung der sprachlichen Diversität Geschichtswissenschaft und Aufklärungsforschung belegen, wie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich die Entwicklung einer neuen literarischen und politischen Öffentlichkeit in Gang k a m , in die Vertreter aller drei Stände integriert waren. In diesem Kontext entstanden antifeudale, antidespotische und antiabsolutistische Konzepte, die sich in so unterschiedlichen Texten wie den Entwürfen zu Reformplänen in der Agrarfrage, in den politischen, (sprach)philosophischen und literarischen Schriften der Aufklärung oder der vorrevolutionären Pamphletistik und Katechismenliteratur artikulierten (K. MIDDELL
1988).
Die Texte stammten aus der Feder einer in sich heterogenen Gruppe organischer Intellektueller, die sich im unmittelbaren Vorfeld der Revolution aus assimilierten traditionellen und aus den sich bei der Erarbeitung und Verbreitung antifeudaler Ideologie entwickelnden organischen Intellektuellen zusammensetzte. Zu dieser Personengruppe sollen alle Aufklärer im weitesten Sinne (die Enzyklopädisten, aber auch Voltairianer, Rousseauisten u. a.) zählen, die die Revolutionäre beeinflußten und ihrerseits die im Ancien Regime etablierten Bildungsgänge absolviert hatten. Selbst wenn einige Vertreter dieser Intellektuellen das Französische nicht als Muttersprache erlernt hatten, waren sie der Nationalsprache durch die zunehmend engere Verquickung zwischen Bildungserwerb und Aufklärung eng verbunden.
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Sprachpolitik in Revolution und napoleonischem Empire
2.1.1.3.1. Die sprachliche Form der „Cahiers de doleances" Wie verhielten sich 1788 die Exponenten des Dritten Standes bei der Abfassung ihrer Beschwerdehefte, den „Cahiers de doleances", in sprachlicher Hinsicht? In diesen Heften wurde erstmals mehr oder weniger deutlich der ideologisch vorgedachte Machtanspruch des Tiers Etat gegenüber Adel und Klerus und der Führungsanspruch der Bourgeoisie gegenüber der Nation schriftlich artikuliert, und zwar in jeder Provinz. Wie aber ging die Redaktion der „Cahiers" vonstatten, wenn 50% der Urwähler des Tiers weder alphabetisiert noch generell französischsprachig waren? Die Kritiken mußten von Schriftkundigen festgehalten und, waren sie doch an den König gerichtet, auf Französisch verfaßt werden. „Juristen und Geistliche, die die Debatten zu lenken hatten, gössen den bisweilen ungeschminkten Volkszorn gern in geschmeidigere bürgerliche Schläuche. Erst recht wurden die Beschwerden auf der zweiten (bzw. dritten) Verarbeitungsstufe, auf der sie zusammengefaßt wurden, geglättet" (MARKOV 1986,1, 50). Dies betraf nicht nur den Inhalt der „Cahiers" sondern auch ihre sprachliche Form, die in den Primärheften zwar zuweilen Unsicherheit im Gebrauch des Bon usage, nicht aber das ganze Ausmaß der sprachlichen Heterogenität Frankreichs offenlegte und die Regionalidiome fast völlig unter den Tisch kehrte.5 Inhaltlich berührten die Beschwerdehefte aller Stände die Sprach(en)frage kaum. Forderungen nach Bildung der unteren Volksschichten zielten eher auf die Überwindung von Aberglauben als auf den Ruf nach besseren Orthographiekenntnissen. Zudem traten Fragen des Bildungswesens hinter brennenderen politischen und ökonomischen Fragen zurück.6 Die „Cahiers" widerspiegeln, wie stark das sprachpolitische Erbe des Absolutismus und die Französischsprachigkeit der Aufklärung das sprachliche Verhalten aller drei Stände prägte, sofern es um Bereiche der Schriftlichkeit ging. Auch die Exponenten des Tiers (ohnehin selbst oft Angehörige eines der beiden ersten Stände) waren aufgrund ihres Bildungsweges auf das Französische als überregionale Sprache der höheren Bildung fixiert. Es hätte in ihren Augen widersinnig 5
Einige „Cahiers" wurden dennoch in Flämisch verfaßt, vgl. BOCHMANN 1989, 90. Zur
B r e t a g n e v g l . SAVINA/BERNARD
(Hrsg.)
1927;
D U R T E L L E DE SAINT-SAUVEUR
1 9 3 5 , II, 3 2 0 ff. 6
Vgl. H L F I X / 1 , 9 1 / 9 2 , inzwischen die Arbeiten von K. KAYSER.
Sprachpolitik in der französischen Revolution
69
erscheinen müssen, im Streben nach einem nationalen Konsens des Tiers und in überdies an den König gerichteten Beschwerden gerade auf Verschriftung der regionalen Muttersprachen zu beharren.
2.1.1.3.2.
Die Abgeordneten der Nationalversammlung gehen ans Werk
Die Suche nach einem gesamtnationalen Konsens gewann eine neue Dimension, als sich 1789 der Dritte Stand zur Nation erklärte und wenig später die „Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte" proklamierte. Auch wenn ausgearbeitete sprachpolitische Konzepte und Gesetze noch auf sich warten ließen, existierte bereits der Drang zur sprachlichen Einheit der Nation. Ganz im Sinne der ebenfalls seit 1789 bestehenden Vorstellung, daß die Nation durch die Revolution in eine neue geschichtliche Ära eintrete (KOSELLEK 1 9 8 8 , 6 4 ) , verbargen sich in dieser äußerlich der Sprachpolitik des Absolutismus ähnelnden Orientierung weiterführende Ziele. Das revolutionäre Herangehen an die Sprach(en)frage war insofern eine Innovation, als erstmalig an Französischsprachigkeit aller Glieder der Nation gedacht wurde. Die Sprache der Volksmassen hatte bekanntlich nicht im Blickpunkt absolutistischer Glottopolitik gestanden. Daß des Französischen nun alle teilhaftig werden und jeder in den Besitz der Sprache mit dem höchsten soziokulturellen Prestige gelangen sollte, zeigt den neuen, hier progressiven Charakter von Sprachpolitik. Die einstimmige Hinwendung zum Französischen als künftiger Nationalsprache7, die eine Zielvorstellung war, erklärt sich folgerichtig aus den Ergebnissen vorrevolutionärer Sprachpolitik, u. a. der Französischsprachigkeit der in der Assemblee nationale vereinten Abgeordneten. Entweder sie kamen ohnehin aus frankophonen Gebieten oder Orten (Städte wie Nantes oder Rennes, die etliche Deputierte entsandten, gehörten ζ. B. nicht zur bretonischsprachigen Hälfte der Provinz) oder waren franzisierte bzw. bilinguale Repräsentanten der allophonen Gebiete. Ein Blick auf die Berufsstruktur der bretonischen Abgeordneten in der Konstituante (Angaben ab 4. 8. 1789) verrät ein deutliches Übergewicht von Advokaten (30 der 44 Deputierten des 7
Die Konzeptualisierung des Begriffs langue nationale wird hier nicht untersucht. Es sei dennoch vermerkt, daß Sprache lange vor 1789 (und danach) als tragendes Element von Begriffen wie Nation, Volk, Geschichte verstanden, ihr Gebrauch aber erst seit 1789 verstärkt als Ausdruck patriotischer Gesinnung bewertet wurde.
70
Sprachpolitik in Revolution und napoleonischem Empire
Tiers) und Verwaltungsbeamten, die Französisch als Amtssprache verwendeten und vor 1789 Leseclubs oder gelehrten Gesellschaften angehört hatten. Genannt sei stellvertretend Isaac Le Chapelier, Wortführer des Club Breton und Namenspatron des gegen Partikularismus gerichteten Gesetzes zum Streik- und Koalitionsverbot vom 14. 6. 1791. Unter den 22 bretonischen Abgeordneten des Ersten Standes dominierte der niedere Klerus, der zumindest eine stärkere Bindung zum Bretonischen hatte. 8 Die Nationalsprache sollte überall im Lande und in allen sozialen Schichten und Sphären der gesellschaftlichen Kommunikation durchgesetzt werden. Einmal ging es dabei um das politisch brisante Anliegen, auch in den Provinzen in der täglichen kommunikativen Praxis das Bemühen um einen nationalen antifeudalen Konsens fortzusetzen und damit die Politik der Revolutionsführung auf ein breiteres Fundament als das der französischsprachigen Oberschichten zu stellen. Zum anderen mußten zukunftsorientierte Konzepte für die Sprachfrage entwickelt werden, die in kultur- und bildungspolitische Entscheidungen einfließen konnten. Es wurde auch über den Widerstand reflektiert, der sich der Nationalsprache entgegenstellen werde, den die Revolutionsführung zunächst kalkulieren und nachfolgend überwinden wollte. Was die erstgenannte Ebene anbelangt, so waren die weit verbreitete Regionalsprachigkeit und die damit verbundenen Barrieren in der nationalen Kommunikation auch in Paris unübersehbar. Erwartungsgemäß wurde nicht sofort darüber in der Konstituante debattiert. Vorerst blieb vieles dem Selbstlauf überlassen. Aus den Revolutionsjahren sind uns oft nur traditionsgemäß französisch verfaßte Akten überliefert, die zum realen Stellenwert der Regionalsprachen in der mündlichen Kommunikation wenig aussagen. Es ist sicher, daß in bretonischsprachigen Gebieten die heute nicht mehr greifbaren mündlichen Übersetzungen von Neuigkeiten über den Revolutionsverlauf großes Gewicht besaßen. Ohne sie wären Diskussionen auf Märkten und Plätzen, in Wirtshäusern und an anderen Knotenpunkten des öffentlichen Lebens undenkbar. Nur zweisprachige Priester, Lokalgelehrte oder Beamte konnten die aus Paris kommenden Informationen auf bretonisch weitervermitteln und kommentieren. Es ist schwer zu sagen, wann in der Revolutionsführung der Verdacht aufkam, Übersetzungen könnten mit unfreiwilligen wie gezielten Fehlinterpretationen verbunden sein. 8
Vgl.
COCHIN
1925,
KERVILER
1922,
MATRAY
i n z w i s c h e n b e s o n d e r s PELLETIER und PERIOU.
1985,
57,
225-251;
PASCAL
1983;
Sprachpolitik in der französischen Revolution
71
Eine besondere Rolle für die politische Diskussion in den Provinzen spielten die revolutionären Klubs und die Volksgesellschaften, mit denen die Pariser Abgeordneten in direkter Verbindung standen. Schon 1789/90 wurden die Mitglieder solcher Organisationen dazu angehalten oder befleißigten sich aus eigenem Antrieb, die Verbreitung des Französischen zu fördern (vgl. in Marseille Club de la rue Thubeau9). Für die Societes de la Constitution wäre zu untersuchen, wieweit sie von der Muttergesellschaft in Paris ermuntert wurden, die konzeptuelle Langzeitorientierung auf das Französische zu unterstützen und zugleich in der Sprachpraxis direkt dafür zu wirken: etwa aufzufordern, französisch zu sprechen. 1 0 Je weiter sich das Netz von Tochtergesellschaften 1790/91 verzweigte und je mehr volkstümliche Kräfte sich in den Verfassungsgesellschaften sammelten, desto deutlicher wurden die Konsequenzen dieses sozialen Gefälles für die Kommunikation. Obwohl die geistigen Köpfe vieler Gesellschaften das Französische zu fördern versuchten, wurden besonders in Okzitanien und im Elsaß ganze Versammlungen regionalsprachig durchgeführt. Gab es an verschiedenen Tagen einmal französisch-, einmal deutschsprachige Sitzungen, wird deutlich, wann die deutschen Unterschichten besonders zahlreich vertreten waren, in der Regel am arbeitsfreien Sonntag. Mit der Zeit nahmen in den dennoch ziemlich ausnahmslos französischsprachigen Akten fehlerhafte Orthographie und Syntax zu, was ebenfalls auf die volkstümlichere Herkunft der Protokollanten und deren Probleme mit der französischen Schrift schließen läßt (vgl. HARTWEG 1988). Besonders deutlich kann die Problematik der Sprachenvielfalt in Frankreich erfaßt werden, betrachtet man schriftliche regionalsprachige Texte aus der Revolutionszeit und den Umgang mit ihnen. Auch hier sind ursprünglich regionalsprachige Texte von Übersetzungen aus dem Französischen zu unterscheiden. Der politische Diskurs wurde bislang am eingehendsten untersucht. Quantitativ gesehen waren originäre regionalsprachige politische Texte patriotischen Inhalts eine marginale Erscheinung gegenüber der Flut von französischsprachigen. Man denke nur an die sprunghafte Entwicklung der Presse. Pariser Journalisten begründeten den Gebrauch des Französischen sogar aus9
10
Bei BRUN 1927 (hier 101) werden revolutionäre Klubs und Gesellschaften im Süden vorgestellt, die sich als ecole du patriotisme und Vermittler zwischen National- und Regionalsprache begreifen; HLF IX/1, 47, 64 - 70; HEINTZ 1863. Es wäre im Detail zu prüfen: Forderte der Vorsitzende jeweils zu Sitzungsbeginn zum Französischsprechen auf? Wurden größere Texte wie Zeitungen, Deklarationen, Korrespondenz übersetzt? Wurden die französischen Originale (zusätzlich?) verlesen? In welcher Sprache diskutierte man?
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Sprachpolitik in Revolution und napoleonischem Empire
drücklich mit dem Dilemma der Sprachunterschiede im Lande. Es sei keinem Leser zuzumuten, die Vielfalt der Idiome studieren zu müssen, man könne nur eine allgemein [sie] verständliche Sprache entgegenhalten, die der Gebildeten (vgl. HLF IX/1, 48). In den Provinzen zeigte sich ein bunteres Bild. Dort konnte und mußte ein Bekenntnis für oder wider die Revolution nicht notwendig in die französische Sprachform gegossen werden, obgleich auch in den Regionen die Anzahl regionalsprachiger schriftlicher Texte den französischen nicht die Waage hielt. 11 Die regionalsprachigen Texte dienten aber der Verbreitung revolutionären Ideenguts, indem sie auf breite Volksschichten einwirken konnten, besonders, wenn sie noch öffentlich verlesen wurden. Das Elsaß spielte erneut eine Sonderrolle, die sich aus der Möglichkeit des Rückgriffs auf die deutsche Literatursprache und einem ausgeprägten sprachlich-kulturellen Selbstbewußtsein der deutschsprachigen Lokalbourgeoisie erklärt. Zu Beginn der Revolution überwogen deutsche Texte im Elsaß eindeutig. Ihre Produktion riß selbst während der Terreur nie gänzlich ab. Viele Zeitungen blieben deutsch oder wurden zweisprachig (vgl. H E I N T Z 1 8 6 3 ; L E V Y 1 9 2 9 ) . In Korsika kam zu zahlreichen italienischen politischen Texten ab 1790 eine von Buonarotti herausgegebene italienische Zeitung, der 1793 weitere zwei Periodika folgten (vgl. BERNSTEIN 1949, 22). Auch in Okzitanien wurden die lokalen Dialekte in den Dienst der Revolution gestellt. Man zitierte sie nicht nur in französischen Texten, sondern verfaßte Adressen, Reden, Dialoge, Predigten und Schwüre. Man griff die reichen poetischen Traditionen des Provenzalischen auf, etwa in dem gereimten „Epitro a Madamo Chansaü" (MARTEL 1982, 57, 65 — 68). Volkstümliche Wendungen wurden gebraucht und bewußt auf gelehrte Lexik verzichtet. Einige Autoren benutzten eine an den Aussprachebesonderheiten ihres Dialekts orientierte Orthographie. Oft versuchten sie zu vermitteln zwischen der selbst nach einer Übersetzung ins Okzitanische schwer zugänglichen Diktion französischer politischer Texte und den lokalen gesprochenen Varietäten. Auch Prosatexte wurden syntaktisch nicht immer an Textmuster vergleich11
Mit der linguistischen Aufarbeitung solcher Dokumente wurde erst Ende der siebziger Jahre systematisch begonnen, zahlreiche Lokalarchive harren ihrer. Vgl. Lengas, H. 17/18, 1985; inzwischen u. a. Claude MAURON et al. (Hrsg.): Textes politiques de l'epoque revolutionnaire en langue provenfale, t. 1: Textes en prose (Discours, Adresses, Traductions). St.-Remy-de-Provence 1986; H. BOYER et al.: Le texte occitan de la periode revolutionnaire. Montpellier 1989. Eine ältere Fallstudie liegt für die Bretagne vor: BERNARD 1911 - 1913; vgl. auch PELLETIER (Hrsg.) 1990, 2, 518.
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barer französischer Texte angelehnt. Oft dokumentierten diese okzitanischen Texte die alleinige sprachliche Form, in der sich ihr Verfasser schriftlich ausdrücken konnte. In einem Lobgedicht auf die Revolution etwa bemerkte der Autor einleitend: „ Aqueou qu'a fach asquest histori / N'es pas un home litterat / A peine counoui l'escritori / Per distangua ce qu'a marqua / S'avie agut mai de counessen£o / Vous l'oourie facho en frances / Mai es proven$au de neissen£0 / Parlo que como Pan apres." („La verita desplegado per un pouet villageois" 1790, zit. nach B R U N 1927, 97.) Der Gebrauch des Okzitanischen konnte von den Verfassern entweder wie in diesem Beispiel als Behelf verstanden werden oder, in anderen Fällen, den bewußten Einsatz der Vorzügen des vertrauteren Idioms bedeuten. Auch in anderen Provinzen wären ähnliche Beispiele zu nennen. 2.1.1.3.3. Übersetzungen in die Regionalsprachen Neben den originären regionalsprachigen Texten gab es die mindestens ebenso wichtigen Übersetzungen französischer (politischer) Texte in die Regionalsprachen, die jedoch i. a. nur niedrige Auflagen erreichten. So wurde der „Almanach du Pere Gerard" ins Okzitanische 12 und Bretonische (vgl. u. a. HLF IX/1, 44 ff.) übertragen. 1792 vertrieb man im Departement des Cotes-du-Nord 3000 französische, im benachbarten Morbihan dagegen nur 43 bretonische Exemplare. Sie gingen vor allem an die Stadt- und Gemeindeverwaltungen und an die Friedensrichter des Bezirkes. Von der „Declaration de la noblesse" (bereits 10. 1. 1789) wurden 7000 französische und 3000 bretonische Exemplare in der Region verbreitet. Oft übersetzte man Schriftstücke, die von der Revolutionsführung speziell an eine bestimmte Region gerichtet waren, etwa das „Circulaire aux Bretons des environs de Quimper sur les demandes a soumettre dans l'interet du peuple". Für die Bretagne betraf dies vor allem Dokumente, die die Zivilverfassung des Klerus angingen, da sich die Region schnell in zwei Zonen gespaltet hatte, welche von der konstitutionellen bzw. eidverweigernden Priesterschaft dominiert wurden 13 . Der Aufruf von Daniel und Morvan zu den Umtrieben der Eidverweigerer des Leon wurde auf Geheiß der Behörden vom 13. 12. 1790 übersetzt und sodann in 3000 bretonischen Exemplaren auf dem Lande verteilt. 12 13
Vgl. Auszüge für 1792 bei M a u r o n et al. (Hrsg.) 1986, 1 8 0 - 2 1 1 . Vgl. Hist. Bret. 1980, 27; inzwischen Pelletier 1990, I, 1 1 0 ff. und die Studien von Periou.
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Dagegen setzten sich die schismatiques ebenfalls mit bretonischen Texten zur Wehr, etwa in einer an Bauern und Priester gerichteten Flugschrift vom 12. 2. 1791 (GAZIER 1880 und 1887). Solcherart Texte führten u. a. zu der bald in Paris erhobenen Anklage, die Regionalsprachen seien Werkzeuge der Konterrevolution (vgl. Kapitel 2.1.1.4.2.). Ein besonders relevanter Bereich der Übersetzungsliteratur waren Gesetze, Dekrete und Deklarationen der Revolutionsregierungen. Sie wurden ab 1789 grundsätzlich auf französisch verabschiedet. Man erkannte jedoch schnell, daß es für die Durchsetzung des neuen Rechts im ganzen Land angeraten war, in einem ersten Schritt die Gesetzestexte allen Bürgern sprachlich zugänglich zu machen. Am 14. 1. 1790 wurde daher die erste sprachpolitische Verordnung der Konstituante angenommen, nach der Gesetzestexte in die verschiedenen Idiome des Königreichs zu übersetzen waren. Dieses Dekret wurde zum Ausgangspunkt einer umfangreichen Übersetzungsliteratur. „Es war übrigens das letzte Mal bis zum 20. Jahrhundert, daß politische Texte in nennenswertem Umfang in den nichtfranzösischen Regionalsprachen verfaßt wurden. Die Revolution war für viele von ihnen der Höhepunkt und zugleich der Abgesang des die lokalen Bedürfnisse überschreitenden gesellschaftlichen Gebrauchs" (BOCHMANN 1981, 215). Das Übersetzungsdekret wurde in den Provinzen stürmisch begrüßt. Die Bauern seien notgedrungen unfähig, hieß es, etwas anderes als ihre Muttersprache zu verstehen. Ihr Lebenswerk habe sich ausschließlich auf die Bestellung des Bodens gerichtet. Jetzt könne man ihnen den begrüßenswerten, durch die Revolution ermöglichten Eintritt ins politische Leben nicht durch eine ihnen fremde Sprache verstellen (HLF I X / 1 , 25 ff.). Oft schwang auch der Gedanke mit, daß man durch Übersetzungen bewußten oder unfreiwilligen Fehlinterpretationen der revolutionären Gesetze und somit gegenrevolutionärer Propaganda vorgreifen könne. Eine oberflächliche Kenntnis der Gesetze wurde ohnehin als Voraussetzung für konterrevolutionäres Handeln verstanden. Gregoire führte in einer Rede vom 9. 2. 1790 die Bauernunruhen in Westfrankreich ebenso darauf zurück wie Dentzel die konterrevolutionären Ereignisse im Elsaß, um nur zwei Beispiele anzuführen (CERTEAU et al. 1975, 22). In Einzelfällen wurden für patriotische Texte allerdings auch Übersetzungen „ad usum plebis" geliefert: voller Auslassungen und Interpretationen. Verschiedene Interessenlagen von Autor und Übersetzer wurden problematisch, die Übersetzungen gerieten zum Zwischenglied, das die politischen Inhalte mitunter nur in verwässerter Form
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in die nicht französischsprachigen Kreise gelangen ließ (vgl. M A R T E L 1985, 288). 1 4 Nicht zuletzt beabsichtigte man besonders ab 1792, die Ausstrahlungskraft der Revolution im Ausländ durch Übersetzungen zu erhöhen. Sie wurden mehrfach als direkter Beitrag zur Schaffung einer Weltrepublik gewertet. Ein weiteres Übersetzungsdekret von 1792 berücksichtigte (neben dem Bretonischen) unter diesem Aspekt auch Baskisch, Kastilisch (nicht Katalanisch), Deutsch und Italienisch. In der Nationalversammlung und im Konvent war die Übersetzungsfrage der Gesetzestexte über Jahre hinweg Gegenstand von Diskussionen, in deren Mittelpunkt das für Südfrankreich zuständige Übersetzungsbüro von Dugas stand. Warnende Stimmen, die die Angelegenheit für einen schlechten Dienst am Bürger, eine Diskreditierung der Nationalsprache oder schlichtweg für sinnlos erklärten, verhallten vor 1793 ohne großes Echo. Daß die Frage überhaupt auf Regierungsebene diskutiert wurde, erklärt sich anfangs aus der politischen Relevanz des Themas, später vor allem aus den Problemen, die sich bei der Realisierung des Dekrets ergaben. Im Grunde waren die finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten für das Scheitern der Übersetzungspraxis weniger verantwortlich, als die Debatten in Paris vermuten lassen. Die Hauptprobleme waren sprachlicher Natur: (1) In der Festlegung der Zielsprachen verhielt sich das Dekret vom Januar 1792 recht vage, war doch nur von les differens idiomes du royaume die Rede. Tatsächlich sah sich niemand in der Lage, die Anzahl der Sprachen und Dialekte Frankreichs zu bestimmen und das eine vom anderen zu trennen. „Mais qui determine le nombre des idiomes qu'on parle en France? [...] Le mot idiome a done besoin d'une interpretation, et l'assemblee nationale peut seule la donner", hieß es 1791 („Observations sur plusieurs difficultes que presente le decret du 14 janvier 1790"). Dentzel vertröstete den Konvent noch 1792 auf die Studie von Gregoire, die diese Frage klären werde (vgl. 2.1.1.4.1.). (2) Ein Großteil der Zielsprachen besaß keine einheitlichen Normen, die sich im Grad der Kodifizierung mit dem Bon usage hätten messen können (SCHLIEBEN-LANGE 1983, 64 ff.; 1985, 102). Dazu kam eine beachtliche strukturelle Distanz zwischen frühen, oft abgebrochenen schriftsprachlichen Traditionen und den im 18. Jh. gesprochenen DiaH
Als zusammenfassende Untersuchung zu Studien über die teilweise okzitanische Deliberation du Conseil general de tous chefs de famille de la ville de Sisteron vgl. inzwischen Henry BOYER: Langues en conflit. [...] Paris 1991, 82 ff.
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lekten. Einige Übersetzer in Okzitanien erkannten dieses Problem und versuchten, dialektale Ausgleichsvarietäten (ζ. B. „le gascon mitoyen entre tous les jargons") zu schaffen. Als jedoch Dugas panokzitanische Schreibungen verwendete, kritisierten ihn die Befürworter lokaler Formen. Die Debatten darüber, ob man jeden Dialekt verschriften, neue Normen entwickeln oder ausbauen oder aber nur in bereits normierte, an Literaturtradition reiche Sprachen (Deutsch, Spanisch, Italienisch) übersetzen solle, führten zu keiner praktischen Lösung. Ein besonders schwieriges Beispiel war Okzitanien, wo häufig okzitanische und französische Dialekte verwechselt wurden (vgl. B O Y E R 1991, 7 3 - 1 0 2 ) . 1 5
(3) Eng verbunden mit dem Normdefizit vieler Idiome war das Fehlen wissenschaftlicher und politischer Texttraditionen. Die bretonische Literatur etwa beschränkte sich seit Jahrhunderten auf vorrangig religiöse Themen. Dieser Umstand brachte allgemein zusätzliche Unsicherheiten für juristische Texte und politische Termini mit sich. Breite Bereiche des politisch-sozialen Wortschatzes befanden sich überdies während der Revolution auch im Französischen in Umbruch 1 6 . Dagegen blieben sogar Sprachen, die wie das Okzitanische eine reiche lexikographische Tradition besaßen, im Bereich der Neologie relativ unbeweglich. (4) Zusätzlich verringerte sich die Resonanz der Übersetzungen durch ihren Verkauf an vorrangig lesekundige (also oft zweisprachige) Personen. Es blieb also unberücksichtigt, daß die eigentliche Zielgruppe der Übertragungen Adressaten waren, die in der Regel auch ihre Muttersprache nicht lesen konnten. Die Revolutionsführung erkannte diesen Umstand erst spät (SCHLIEBEN-LANGE 1981, 120) und bat die Volksgesellschaften um Unterstützung. Allerdings ist das zur Abhilfe vorgeschlagene Vorlesen von Übersetzungen nur hier und da belegt. Dagegen dekretierte die Nationalversammlung Ende 1790 bereits das öffentliche Verlesen des französischen Originals aller Gesetzestexte jeweils sonntags nach der Messe. Durch diese und weitere Umstände (ζ. B. die Kostenfrage) behindert, scheiterte die Übersetzungspraxis gänzlich, als die innen- und 15
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Vgl. zu den Begrifflichkeiten des Okzitanischen und seiner Varietäten die historischen Übersichten bei: Waltraud ROGGE: Aspekte des Sprachwissens von Jugendlichen im Bereich der französisch-okzitanischen Diglossie [...] Trier 1987, 333 S.; Barbara NOWAKOWSKI: Zur Sprache und Ideologie bei Vertretern der okzitanischen Renaissance in der Provence. Trier 1988, 471 S. Vgl. GARDY 1985, die zahlreichen Arbeiten der Forschungsgruppe von REICHARDT und SCHMITT sowie GUILHAUMOU zur Entwicklung politisch-sozialer Grundbegriffe im Französischen.
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außenpolitische Entwicklung nach 1792 zu einer wirkungsvolleren Sprachpolitik drängte. Es ist dennoch bemerkenswert, daß sich die Revolutionsführung aus pragmatischen Gründen kurzzeitig überhaupt für Übersetzungen engagiert hatte. Eine neue Konzeption der Regionalsprachen lag dem Projekt nicht zugrunde. Die lange vor 1789 verwirkte Chancengleichheit aller Idiome sollte und konnte damit nicht neu begründet werden. Die wichtigsten Ursachen dafür, daß die Übersetzungspraxis zu gegebener Zeit quasi widerspruchslos vor den unifizierenden Praktiken der Jakobiner zurücktrat, wurden aufgezeigt: Sie sind in der damals unüberschaubaren Variationsbreite der Regionalsprachen, im Normdefizit einiger unter ihnen, ihrem Mangel an wissenschaftlichen und politischen Texttraditionen und der unzureichenden Beachtung des weit verbreiteten Analphabetentums zu suchen. Sie zeigten sich nicht zuletzt auch im widerspruchsvollen Sprachbewußtsein der Betroffenen selbst. 2.1.1.3.4. Der Symbolwert der Nationalsprache (bei den Föderationsfesten und in der Nationalversammlung) Trotz der Produktion originärer und übersetzter regionalsprachiger Texte gab es in der tagtäglichen kommunikativen Praxis kein neues föderalistisches Herangehen an die Sprach(en)frage. Man findet die Bestätigung dafür, wenn man einen Blick auf kommunikative Situationen aus den ersten Jahren der Revolution wirft, die das kontinuierliche Bemühen um eine weitere Festigung der Nationalsprache erkennen lassen. Zwei Beispiele sollen dies belegen: Die Föderationsfeste von 1 7 8 9 / 9 0 und das Auftreten nicht französischsprachiger Bürger in der Nationalversammlung. Nach landesweiter Diskussion über den 14. Juli und die Deklaration der Menschenrechte bekräftigten vielerorts Exponenten des Tiers Etat (neben den Vertretern der örtlichen Garde meist der Bürgermeister und die städtischen Notabein) und der Pfarrer den Wunsch nach Einheit der Nation (OZOUF 1 9 7 6 , 4 4 - 7 6 ) . So hieß es am 15. 1. 1 7 9 0 bei der Föderation von Bretonen und Angevinern in Pontivy: „Nous declarons solennellement que, n'etant ni Bretons ni Angevins, mais Francis et citoyens du meme Empire, nous renon^ons ä tous nos privileges locaux et que nous les abjurons comme anticonstitutionnels" (OZOUF 1 9 8 4 , 3 7 ) . Die ziemlich ausnahmslos französischsprachigen Aufzeichnungen zu den Revolutionsfesten zeigen, daß die sprachliche Einheit der Nation stets mitgedacht war. Sie belegen erstens den Fortbestand der schon vor 1789 (mit Ausnahme des Elsaß)
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gängigen Praxis, mündliche regionalsprachige Kommunikation nur mit Hilfe des Französischen dokumentarisch festzuhalten. Die Niederschriften belegen zweitens den Symbolcharakter der Nationalsprache bei der offiziellen Inszenierung der Föderationsfeste mit Hilfe von Liedern (vgl. H L F I X / 1 , 71 ff.; SCHNEIDER 1988, 456 ff.), Schwüren und Reden. Nur wenige der Ansprachen wurden in den Regionalidiomen gehalten. Selbst zur Föderation in Straßburg verlas man nur französische Texte, während die Reden des Pariser Föderationsfestes 1790 für das Elsaß ins Deutsche übersetzt, gedruckt und so verbreitet wurden und auch andere elsässische Feste (ζ. B. am 25. 8. 1790 das Fest zu Ehren des Königs) deutschsprachig abliefen. In Südfrankreich befleißigten sich selbst Redner des Französischen, die es nur unvollkommen beherrschten. BRUNOT vergleicht ihr Bemühen mit dem Stammeln der noch kindlichen Nation, die gerade erst ihre Muttersprache [sie] erlerne (HLF I X / 1 , 55). Der Symbolwert des Französischen gelangte ins Bewußtsein der regionalsprachigen Volksschichten und begünstigte psychologisch ihre Bereitschaft, auf lange Sicht die Nationalsprache als das zukünftige Verständigungsmittel aller französischen Bürger anzuerkennen. Freilich besteht kein Zweifel daran, daß die Regionalidiome vielerorts zumindest während des inoffiziellen Teils der Feste allgegenwärtig waren, ihre Abwesenheit in der offiziellen Inszenierung ist beredt genug. Auch wenn überaus selten einmal ausschließlich regionalsprachige Bürger in der Nationalversammlung zu Wort kamen, betonten sie selbst zumindest ihre Wertschätzung für das Französische. So trug 1790 eine Abordnung des Marseiller Gewerbegerichts der Fischer den Deputierten der Konstituante ihr Anliegen auf Provenzalisch vor. Einleitend bedauerte der Sprecher, daß seine Freunde und er im Gegensatz zur Versammlung des Französischen nicht mächtig seien. Wie im ausschließlich französisch abgefaßten Protokoll vermerkt, dolmetschte schließlich ein bilingualer Abgeordneter aus dem Midi (BROD-PLÖTNER 1985, 30). Auch in ähnlich gelagerten Situationen fand das hohe soziokulturelle Prestige der Nationalsprache seinen Niederschlag.
2.1.1.3.5. Erste bildungspolitische Konzepte Bereits die frühen bildungspolitischen Konzepte zwischen 1789 und der Jakobinerdiktatur sind sprachpolitisch relevant. Alle Überlegungen zur Erziehung des Bürgers — gleich ob Kind oder Erwachsener — als Patriot und Freund der Revolution basierten auf der Zielvor-
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Stellung, die „Sprache der Freiheit" im gesamten nationalen Territorium auszubreiten. Diese Absicht traf zusammen „mit dem ebenfalls gänzlich neuen Versuch, die Bildungsinstitutionen anderen Trägergruppen, vor allem der Kirche, zu entziehen und beim Staat anzusiedeln. Das Ziel, das freilich erst achtzig [bis neunzig/P.] Jahre später verwirklicht wurde, war die allgemeine Schulpflicht" ( S C H L I E B E N - L A N G E 1 9 8 1 , 1 1 0 - 1 1 7 ) . Wenn Danton Brot und Erziehung als vorrangige Bedürfnisse des Volkes betrachtete, so stand dieser Gedanke ganz in der Tradition der Aufklärung, das Volk durch die Überwindung von Unwissenheit aus Unterdrückung und Unfreiheit herauszuführen. Gleichzeitig war die staatsbürgerliche Erziehung natürlich entscheidend für den Ausbau und Erhalt der Hegemonie der jeweiligen Führungskräfte der Revolution. Drei Aspekte der Schulproblematik griffen in das Schicksal der Regionalsprachen besonders ein: (1) Der erste betraf ihr Prestige. Das Überleben vieler patois in Frankreich galt als beklagenswerter Überrest feudaler Tyrannei und Zersplitterung und als Ausdruck von Aberglauben und Unwissenheit. 17 Es kontrastierte mit dem Ruf des Französischen als nationale und internationale Sprache der Politik und Kultur. So bauten etwa die Herausgeber der „Feuille villageoise" ihre Hoffnung auf große Resonanz ihres Blattes auf die nicht ganz unberechtigte Annahme, wer überhaupt lesen könne, d. h. gebildet sei, verstehe auch Französisch. Sie wollten folgerichtig ganz im Sinne der eingangs genannten Thesen von S C H L I E B E N - L A N G E dazu beitragen, es zu uniformieren und zu universalisieren. Im „Prospectus" vom 30. 9. 1790 hieß es: „Nous nous proposons de donner par forme de dictionnaire des definitions precises de tous les mots peu usites qui entrent necessairement dans la langue constitutionelle et, sans nous etendre a la grammaire fran$aise, nous aiderons a substituer un idiome plus pur, plus uniforme a tous ces differens patois qui sont un reste grossier de la tyrannie feodale et une preuve honteuse de la distance et de l'abaissement ou les Grands tenaient la multitude: La langue fran^aise parlee dans toute l'Europe est ä peine balbutiee dans plusieurs de nos provinces!" (CERTEAÜ e t a l . 1 9 7 5 , 4 8 ) .
In noch stärkerem Maße als die Presse mußten solche Argumente die Vordenker des Schulsystems bewegen. Talleyrand forderte in seinem „Rapport sur l'instruction publique" (10. 9. 1791) unmißverständlich, die kostenlose Schule solle alle Bürger zu neuen Sitten und
17
Zur negativen Konnotierung
von patois vor der Revolution vgl. BOYER 1 9 9 1 , 5 6 — 68.
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Gewohnheiten erziehen und helfen, das im Ausland renommierte Französische im Landesinneren zu verbreiten. Damit war die erste glottopolitische Entscheidung der Revolution „expressis verbis" gefällt (vgl. CALVET 1 9 7 4 , 6 7 ; F U R E T / O Z O U F 1 9 7 7 ,
113).
(2) Die Revolutionäre begriffen den Kampf gegen Unwissenheit in erster Linie als Überwindung des Analphabetentums. „Diese Vorstellung, daß Aufklärung nur über die volle Lesefähigkeit, die die Teilhabe an den frei zirkulierenden Informationen und Meinungen ermöglicht, zu erreichen ist, ist kennzeichnend für eine Endphase der Entwicklung von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit" (SCHLIEBEN-LANGE 1 9 8 1 , 118). Die Problematik der Regionalidiome zeigte sich hier besonders kraß. Die Kinder beherrschten nur die Heimsprachen, als sie die Schule betraten. In einigen Regionen war es noch im 19. Jahrhundert üblich, daß Kinder (zum Teil in der Familie) zunächst deutsch bzw. bretonisch lesen lernten, d. h. die Primärsozialisation in der Muttersprache erfolgte. 18 Der Weg zur Lese- und Schreibfähigkeit im Französischen war in bestimmten Regionen auf jeden Fall noch weiter als der (Um)weg über das Latein, der auch während und nach der Revolution noch im allgemeinen beschritten wurde und selbst für französischsprachige Kinder das Lernen erschwerte (BALIBAR 1 9 8 5 ) . So war schließlich der erreichte Grad der Alphabetisierung von Region zu Region verschieden und sollte noch 1877 im Norden Frankreichs einschließlich der schlecht alphabetisierten Bretagne und des Loiregebiets um 4 0 - 5 0 % höher als im Süden liegen. Außerdem unterschied er sich deutlich zwischen den Geschlechtern (vgl. SCHLIEBEN-LANGE 1 9 8 3 , 6 8 ) .
(3) Die Möglichkeit eines partiellen Bilinguismus im Unterricht wurde immerhin thematisiert. Kurz nach der Bildung des Comite de I'instruction publique (14. 10. 1791) beauftragte es Chenier und Lanthenas damit, gesonderte Richtlinien für den Unterricht in den regionalsprachigen Gebieten zu erarbeiten. Der nachfolgende Bericht des Girondisten Lanthenas (18. 12. 1792) berücksichtigte die politische Relevanz der Verbreitung des Französischen: „Ii faut que les interets de la Republique soient maintenant connus de tous ses membres: et ils ne peuvent l'etre comme il convient, qu'en rendant la langue nationale parfaitement familiere ä tous." Der Bericht befürwortete bereits auf lange Sicht die Ausrottung der patois als Überreste der Barbarei: „Partout ou les communications sont genees par les idiomes particuliers, qui n'ont aucune espece d'illustration et ne sont qu'un 18
In der Bretagne mußten die Kinder in der Familie laut aus bretonischen Heiligengeschichten vorlesen (BRF.KILIEN 1984, 90).
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reste de barbarie des siecles passes, on s'empressera de prendre tous les moyens necessaires pour les faire disparaitre le plus tot possible" (HLF I X / 1 , 1 3 6 ) . Lanthenas forderte aber nicht, parallel zur Förderung des Französischen in der Schule generell auf die einheimischen Sprachen zu verzichten. Er plädierte vielmehr für zweisprachigen Unterricht im Elsaß und in anderen Grenzregionen. Dies befördere auch die engere Bindung der allophonen Bevölkerung an die Revolution und erhöhe die Ausstrahlung der neuen Ideen auf die Nachbarstaaten (vgl. B U S S E 1985). Lanthenas Gesetzesvorschlag gelangte allerdings weder zur Diskussion noch zur Abstimmung: Hunger, Krieg und der Königsprozeß dürften die Gemüter Ende 1792 heftiger bewegt haben als ein- und zweisprachige Grundschulen. Es bleibt festzuhalten, daß sich seit 1789 die Revolutionsführer Gedanken um die Bildungspolitik machten, langfristig an die Verbreitung des Französischen als große Kultursprache (u. a. der Aufklärung) im Inland dachten und den Aufbau von Grundschulen ins Auge faßten, die mit Sicherheit das Französische lehren, jedoch nicht unbedingt auf die Regionalsprachen als Hilfsmittel im Unterricht verzichten sollten. Der durchaus progressive Zug revolutionärer Bildungspolitik, auch die untersten Volksschichten einbeziehen zu wollen, verschwand nach der Revolution erst einmal wieder (vgl. 2.2.1.2.), blieb aber in jakobinischer Zeit erhalten. Den Jakobinern ging es zudem verstärkt und nicht ohne politischen Hintergrund um das eingangs genannte, Aufklärung, Revolution und Empire umspannende Projekt zur Verwissenschaftlichung und Geometrisierung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche: Raum, Zeit und Sprache. Die Regionalsprachen ließ die jakobinische Schulpolitik weitgehend unberücksichtigt. 19
2.1.1.4. Die Genese des Diskurses der Uniformität und die jakobinische Sprachpolitik Man ist sich weitgehend darüber einig, daß sich die Sprachpolitik gegenüber den Regionalidiomen in der jakobinischen Ära radikalisierte, obgleich der Grad ihrer Virulenz unterschiedlich beurteilt wird. Daher gehen wir im folgenden der Frage nach, wieweit sich die Sprachpolitik der Jakobiner tatsächlich zu einer „bewußten und ag19
Vgl. seit Mitte der siebziger Jahre die zahlreichen Untersuchungen zu den livres elementaires, Grammatiken und zur Berufung von Französischlehrern, u. a. in den Zeitschriften Lengas und Mots, besonders aber B A L I B A R 1985.
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gressiven [wandelte/P.], in der es nicht um die gelungene Information über die politischen Inhalte, sondern um die Übernahme des Französischen als Form und Garant der Vernunft ging" ( S C H L I E B E N - L A N G E 1983, 136). Die unbestrittene Radikalisierung jakobinischer Sprachpolitik erklärt sich aus der Entwicklung des Jakobinismus als Ideologie und als politische Bewegung und damit nur im Gesamtkontext des politischen wie ideologischen Kampfes um die Hegemonie, der seit dem Sturm auf die Bastille bis ins 19. Jahrhundert hinein Kräfte außerhalb und innerhalb des bürgerlichen Lagers einander entgegenstellte. Die Manifestationen des sprachlichen und sprachpolitischen Jakobinismus sind differenziert zu beurteilen. Das betrifft zunächst die einzelnen Vertreter der Strömung. In den Diskursen von Barere, Gregoire, der Revolutionskommissare, der bretonischen oder katalanischen Jakobiner oder der regionalsprachigen Mitglieder von Volksgesellschaften und anderen revolutionären Organisationen zeigen sich deutliche Unterschiede. Darüber hinaus sind zeitliche Zäsuren in der Entwicklung des Jakobinismus und seiner Sprachpolitik zu setzen. Der Bruch mit der Übersetzungspraxis erfolgte ζ. B. nicht schlagartig, sondern entwickelte sich in jakobinischer Zeit. Dennoch tauchten kurz vor dem 9. Thermidor noch Übersetzungen auf. Anhand der „Enquete Gregoire" wird im folgenden (2.1.1.4.1.) darzustellen versucht, wie Girondisten und Jakobiner bereits vor 1793 gemeinsam das seit Beginn der Revolution weiter gestärkte Prestige der Nationalsprache festigen halfen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dann (2.1.1.4.2.) der Sprachpolitik zwischen Mai/Juni und dem 9. Thermidor des Jahres II (als auch Gregoire seine Schlüsse aus der Umfrage zog), die das Verhalten der Jakobiner während der Phase ihrer politischen Macht als exemplarische hegemonische Gruppe kennzeichnet. Als sie im Konvent, im Wohlfahrtsausschuß, in anderen Ausschüssen und den meisten örtlichen Verwaltungsinstitutionen dominierten, konnten sie auch sprachpolitisch durchgreifende Entscheidungen fällen. Dennoch war die Hegemonie gerade während der kurzen Phase der Jakobinerdiktatur hart umkämpft. Die Revolution war von äußerer und innerer Konterrevolution und Antirevolution bedroht, die sich jeweils darum bemühten, die Volksbewegung an sich zu binden oder wenigstens zu neutralisieren. Nur so erklärt es sich, wieso ausgerechnet in der jakobinischen Phase der Revolution, d. h. als diejenigen Teile der Bourgeoisie ans Ruder gelangten, die das Bündnis mit den Volksmassen im Rahmen bürgerlichen Interesses noch am engsten zu schließen vermochten, sprachpolitische Toleranz von zunehmend radikalerer Kampfansage
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gegen die Regionalsprachen und französischen Dialekte (der Unterschichten!) abgelöst wurde. Unter beiden genannten Aspekten soll nun nachgeprüft werden, ob und inwiefern der Diskurs der Uniformität während der Jakobinerdiktatur seinen Höhepunkt erreichte.
2.1.1.4.1. Die Enquete des Abbe Gregoire Während sich die Politiker der Konstituante noch mit den Schwierigkeiten bei der Übersetzung der Gesetzestexte plagten, nahm das Haupt der revolutionären Priesterschaft, der Abbe Henri Gregoire, eine Umfrage zu den patois in Angriff, die zum Ausgangspunkt des Diskurses der Uniformität wurde, obgleich gerade die sprachliche Diversität ihr Inhalt war. Die „Enquete" sollte nicht nur zur Lösung der Übersetzungsprobleme beitragen, sondern vor allem die Sprachenvielfalt geistig bewältigen und die Nationalsprache in allen Landesteilen verbreiten helfen. Ab August 1790 verschickte Gregoire im Auftrag der Regierung, d. h. mit Billigung der Politiker auf höchster Ebene Jahre vor der Jakobinerdiktatur, 43 Fragen an Intellektuelle in den Provinzen und an die Abgeordneten verschiedener Regionen. Der Fragenkatalog wurde zusätzlich mit Hilfe der Presse (ζ. B. durch Brissots „Le Patriote franfais") und über die jakobinischen Societes des Amis de la Constitution verbreitet. Damit wurde die Umfrage von girondistischen (Brissot) und jakobinischen (Barere, Gregoire) Kräften vorbereitet. Später beteiligten sich auch Vertreter beider politischer Lager an den Antworten. Ab Oktober/November 1790, dem Zeitpunkt der meisten Reaktionen auf die Umfrage, gingen bei Gregoire von schriftkundigen Patrioten (darunter Justiz- und Verwaltungsbeamte, Ärzte, Lehrer, Geistliche) aufgezeichnete und vielfach gemeinschaftlich entworfene Antworten ein. Ihre Analyse mündete in Gregoires am 16 Prairial An II (4. 6. 1794) im Konvent vorgetragenen „Rapport sur la necessite et les moyens d'aneantir les patois et d'universaliser l'usage de la langue fran^aise" (vgl. 2.1.1.4.2.). Der Zeitraum zwischen den von Gregoire gestellten Fragen, den Antworten und Gregoires Abschlußbericht umfaßt vier Jahre, während derer sich die Genese der Diskurses der Uniformität nachvollziehen läßt. Obwohl Gregoire 1790 eine umfassende Bestandsaufnahme der sprachlichen Gegebenheiten in Frankreich anregte, lassen bereits die Fragen die Zielrichtung des Unternehmens erkennen. Die patois sollten von den Korrespondenten in das zeitliche Spannungsfeld zwischen einer „verlorengegangenen sprachlichen Einheit in keltischer Vorzeit"
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und der künftigen sprachlichen Uniformität in Form der Nationalsprache eingeordnet werden. Sie mußten partiell beschrieben werden, besonders unter dem Aspekt ihres strukturellen Abstandes untereinander und gegenüber dem Französischen. Schließlich war gefragt, wie es in der betreffenden Region um Bildung und Tradition bestellt sei und ob und in wieweit die patois die Ausbreitung der Lumieres behinderten. Es sollte also ein möglicher Rückhalt der regionalen Idiome in der Bevölkerung (sowohl im Brauchtum als im wissenschaftlichen, literarischen und folkloristischen Erbe) ausgelotet werden, um so den Widerstand abschätzen zu können, mit dem bei der beabsichtigten Verdrängung der patois zu rechnen war. Die Fragen waren politisch-ideologisch motiviert, selbst wenn sie vorrangig wissenschaftliche Interessen ansprachen. Aus den Antworten auf die Umfrage spricht ein widerspruchsvoller Zeitgeist. Die Antworten der „Enquete" ergeben summarisch folgendes Bild (vgl. insgesamt CERTEAU et al. 1975): (1) Erstens forderte die Umfrage Angaben zur Genealogie der patois. Es ging um ihre Abstammung von alten Sprachen (besonders Keltisch, Latein und Griechisch) und die Verwandtschaft zu modernen, vor allem zum Französischen. Die Fragen widerspiegelten das seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt artikulierte sprachphilosophische Anliegen, durch die Rekonstruktion einer einheitlichen Ursprache und die Herstellung einer neuen sprächlichen Einheit im Zuge der Vervollkommnung der raison den Sündenfall in der Geschichte der Sprachen, die Tragödie des Turmbaus von Babel, zu überwinden. Gregoires Korrespondenten orientierten sich besonders an den Arbeiten von De Brosses (1765) und Court de Gebelin (1775 und 1778), die trotz gewisser Unterschiede (vgl. ebd. 88 ff.) beide das Keltische als Ursprache angesehen 20 und dazu angeregt hatten, Reste des Keltischen in den patois zu suchen und zu Reliquien aufzuwerten. Einem Bereich der Lexik galt beider besondere Aufmerksamkeit: den ihrer Meinung nach für die Rekonstruktion von Sprachverwandtschaft relevanten mots primitifs, einsilbigen (Wurzel)Wörtern, die als einfach, d. h. weder zusammengesetzt noch abgeleitet, und ursprünglich begriffen wurden. Nach Court de Gebelin wuchs die verwandtschaftliche Nähe
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Die keltische Ursprache wurde von de Brosses als abstraktes, utopisches Modell und Artefakt ohne Zeit und Ort verstanden, während Court de Gebelin sie als mit den Vorzügen einer reichen Poetizität ausgestattete Vorfahrin aller Sprachen in historischer Vorzeit ansiedelte und aus sich selbst begründete. Besonders der Gedanke der Poetizität natürlicher, früher Sprachzustände lebte in den französischen wie europäischen Philologien weiter.
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zur Ursprache proportional zum Anteil der mots primitifs an der Lexik eines Idioms. Sei er in bestimmten Dialekten sehr hoch, handle es sich um ursprüngliche Dialekte wie le bas-breton, le cornouaillais, le gallots (ebd. 93). Die Korrespondenten der „Enquete" werteten für ihre Sprachen die jeweils archaischste Form bzw. die ältesten Dialekte auf, denen in der Tendenz nach 1800 weiterhin das stärkste wissenschaftliche Interesse gezollt wurde. Das Bretonische erfuhr generell eine Aufwertung als Relikt des (Alt)keltischen. Zahlreiche Korrespondenten, die sich zu anderen Sprachen äußerten, entdeckten in ihnen aber ebenfalls einen hohen Anteil der von Gregoire erfragten mots primitifs, wie ζ. B. die Feststellung, 2000 von 4000 flämischen Wörtern seien einsilbig, belegt (ebd. 101). Zuweilen stießen Gregoires Mitarbeiter auf sprachliche Formen, deren Herkunft sie nicht lückenlos in einer regelhaften Kette abzuleiten vermochten, so daß sie als Wortwaisen oder -bastarde erschienen. Solcherart Beispiele gerieten den betreffenden patois zum Nachteil, da sie dem Ideal einer geradlinigen Abstammung von renommierten Sprachen zuwiderliefen. Die übergroße Mehrheit der Korrespondenten folgte im übrigen De Brosses, nach dessen Theorie sich Sprachen untereinander durch Veränderungen in der Qualität der Konsonanten unterschieden, Dialekte untereinander aber durch Abweichungen im vokalischen Lautstand (ebd. 97). Fragende und Befragte stellten also alte Sprachen (besonders das Keltische) und Sprachzustände in den Mittelpunkt ihres Interesses. Gleichzeitig erfolgte eine Abwertung derjenigen patois, die nach dem Kenntnisstand im ausgehenden 18. Jahrhundert keine gesicherte etymologische Provenienz von bekannten älteren Sprachen aufwiesen. Die wissenschaftliche Neugier wurde durch die Umfrage zudem nicht auf das Gesamtsystem der Regionalidiome gelenkt, sondern nur auf Elemente derselben. (2) Zweitens war die Sprachverwandtschaft zwischen den einzelnen patois und der Nationalsprache zu rekonstruieren und der Abstand zwischen patois und einer als exemplarisch verstandenen Norm des Französischen zu messen. Auf synchroner Ebenen sollten assimilitude/ dissimilitude, affinite/alteration, proximite/difference und variations, traits autres qu'en franfais beschrieben und ermittelt werden: „En quoi le patois s'eloigne-t-il le plus de l'idiome national?" In diachronischer Perspektive war nach rapprochements/eloignements (lediglich innerhalb der letzten 20 Jahre und in naher Zukunft) gefragt. Es galt auch, die Aussprachebesonderheiten der patois festzuhalten. Hier waren die Korrespondenten besonders überfordert. Sie konnten unmöglich die Vielfalt der Variationen im Bereich der Mündlichkeit
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in Regeln zu fassen, die Dialekte blieben bis zu einem gewissen Grad unbestimmbar. Gerade diese in der Untersuchung erlangte Gewißheit, daß die patois sich einer exakten Beschreibung entzogen und eine Art Unscharfe in ein System brachten, wurde als tiefe Dunkelheit empfunden, die das Licht der Lumieres störend überschattete (ebd. 108). Dieser Umstand war für die „Enquete" umso gravierender, als — wie bereits unter Punkt (1) angedeutet — eine linguistische Abklärung der Grenze zwischen Sprache und Dialekt mißlang. Betrachtet man die verwendeten Bezeichnungen für Sprache — langue, idiome, langage, dialecte, patois, jargon — , manifestiert sich, daß sie in starkem Maße an soziokulturellen Konnotationen festgemacht wurden, die die sprachpolitische Orientierung auf die sprachliche Einheit der Nation (ebd. 56 ff.) andeuten. Die Fragen von 1790 gruppierten sich um zwei Begriffspaare (MARC E L L E S I 1 9 8 8 ) . Langue wurde als Synonym zu idiome verwendet, wobei idiome (ausschließlich im Singular gebraucht) mit dem politischen Begriff der Nation in Beziehung stand. Das Paradigma zu Sprache umfaßte: langue/idiome franfais(e); idiome national; langues anciennes (celtique, latin, grec) et modernes. Patois stand als Synonym neben dialecte. Noch verbargen sich selten auf- noch abwertende Konnotationen hinter dem Gebrauch von patois, obwohl der Fragekontext Werturteile suggerierte. Jargon und langage traten in den Fragen nicht auf. Durch die enge Verbindung zwischen langue/idiome und nation wurde den Korrespondenten nahegelegt, ihre Sprache auf der Ebene von patois/dialecte anzusiedeln und so von der Nationalsprache abzugrenzen. Jedoch verunsicherte der parasynonymische Gebrauch von langue/idiome bzw. dialecte/patois Gregoires Mitarbeiter erheblich. So fragte ein flämischer Probant, ob mit patois jede andere Sprache als das Französische oder nur die Dialekte des Französischen gemeint seien. In den Antworten wurden dann die Bezeichnungen auch mit recht unterschiedlichen Bedeutungen unterlegt. Beim Gebrauch von idiome fällt hier auf, daß sich die Korrespondenten weniger entsprechend der (sprach)politischen Orientierung auf die Nation bezogen, sondern eher von einem durch ethnische Kriterien bestimmten Volkbegriff („le parier d'un peuple") ausgingen. Folglich erschienen in den Antworten Fügungen wie idiome languedocien, provenfal, bas-breton.21 Langue wurde durchaus auch für Regionalidiome gebraucht, etwa langue
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Zu Okzitanien vgl. BOYER 1991, 5 6 - 6 8 .
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wallone. Dialecte bezeichnete in der Regel territorial eng begrenzte Varietäten einer Sprache, die meist nur mündlich gebraucht wurden. Mit jargon markierten die Korrespondenten eine Varietät, die sie als degradiert betrachteten: langue/patois corrompu(e). Jargon war somit das pejorativ konnotierte, anhand der Diachronie ablesbare Ergebnis der Abweichung von einer wie immer gearteten alten sprachlichen Norm, während dialecte eher wertneutral und auf synchroner Ebene auf die territorialen Varietäten einer Sprache verwies. Diese Varietäten konnten in dem Moment ebenfalls abwertend konnotiert werden, sobald die sprachliche Varianz allgemein in Mißkredit geriet. Trotz einer Reihe von Widersprüchen beim Gebrauch der verschiedenen Begriffe zur Kennzeichnung von Sprachen bzw. Varietäten pendelte sich mit den Antworten auf die „Enquete Gregoire" in der Tendenz folgendes ein: Langue wurde meist für das Französische (oft als Synonym zu Literatur- bzw. Schriftsprache), aber auch für bestimmte Regionalsprachen verwendet. Dialecte, jargon, vielfach noch wertneutral, zunehmend jedoch pejorativ belegt, und patois, im allgemeinen mit lokal begrenzt, ländlich, mündlich konnotiert, standen für andere Regionalsprachen, deren Dialekte und die Dialekte des Französischen. Idiome galt als die einer Gemeinschaft im Gegensatz zu anderen eigene Sprache für Nationalsprache wie Regionalsprachen, ohne daß man über den Status der Gemeinschaft eine Aussage treffen mußte (vgl. S C H L I E B E N - L A N G E 1983, 134). Damit zeichnete sich bei den an der Umfrage beteiligten Patrioten die grundsätzliche Vorstellung ab, daß Sprachen schriftsprachliche Traditionen und Normen besitzen, selbst wenn diese veraltet und für die zeitgenössische Kommunikation unbrauchbar sein können, während Dialekte, Jargons und Patois nur mündlich, in einem eng begrenzten Territorium und von bestimmten sozialen Schichten (etwa der Bauernschaft eines Dorfes) gebraucht werden, nur bestimmte kommunikative Funktionen erfüllen, jedoch weder fixierte Normen besitzen noch verschriftet sind. Die von den Korrespondenten laut Fragestellung als patois zu beschreibenden Varietäten konnten von den Befragten vielfach nicht (mehr) mit dem Französischen konkurrieren, da sie auf Bereiche der Mündlichkeit beschränkt waren. Im Unterschied zu späteren sprachpolitischen Diskursen konnten sie aber noch als wie immer geartete Varietäten einer nichtfranzösischen Sprache verstanden werden. Zahlreiche Probanten aus den nichtromanischen Sprachgebieten hegten dabei keine Zweifel, während andere Beiträger bestimmte Varietäten der romanischen Regionalsprachen als Dialekte des Französischen werteten.
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(3) Drittens fragte Gregoire nach schriftlichen wissenschaftlichen und literarischen (Text)traditionen der patois, ihrem Stellenwert im religiösen und moralischen Leben der Provinz und dem Grad der Verbreitung aufklärerischen Gedankengutes. Die Korrespondenten notierten die ihnen bekannten linguistischen Studien (vor allem etymologische und grammatische) im allgemeinen sowie zu Sprache und Literatur ihres patois im besonderen (CERTEAU et al. 1975, 63 — 81). Ungefragt lieferten sie zusätzlich eine Bestandsaufnahme mündlich überlieferter regionalsprachiger Kulturtraditionen. Vielfach gerieten die sich in diesem Punkte selbst befragenden Beiträger hier in einen Zwiespalt, der sich aus ihrem eigenen Zugang und Zugehörigkeitsgefühl zur französischen Aufklärung einerseits, aber auch aus ihrer Verwurzelung in einer volkstümlichen regionalsprachigen Kultur andererseits (oder zumindest der Anerkennung ihrer Existenz) ergab. Um das sprachpolitische Anliegen, nämlich das Bildungsniveau der ländlichen Bevölkerung durch Verzicht auf ihre angestammten Sprachen und Gebrauch des Französischen zu erhöhen, im nachhinein durch die „Enquete" rechtfertigen zu können, fragte Gregoire besonders zwei Bereiche sprachlicher Tabuisierungen ab: die Lexik der Blasphemie und Obszönität. Die Korrespondenten vermerkten nur wenige regionalsprachige Ausdrücke der Gotteslästerung, führten aber umfangreiche Wortlisten aus dem Bereich der Sexualität (nicht unbedingt Obszönität) an. In den Antworten erfolgte hier eine zuweilen positive, zuweilen negative Bewertung der patois als Ausdruck einer innocence naive oder als Überrest einer grossierete native. Ferner zeigten die Beiträger für regionale Lexik aus dem Bereich des ländlichen Lebens, besonders der Arbeitswelt, ein geradezu enzyklopädisches Interesse. Wortgut des patois, hieß es, fülle Lücken in der französischen Lexik auf, solle in die Nationalsprache aufgenommen und damit in einem höheren Sinne aufgehoben werden. Eine Reihe von Vorschlägen zu ihrer Übersetzung ins Französische bzw. zur Umschreibung dieser Lexik auf französisch wurden angeführt. Zeitlich parallel zur Übersetzungspraxis vom Französischen in die Regionalsprachen (2.1.1.3.3.) angesiedelt, wird hier die sprachpolitische Langzeitorientierung der Umfrage gut sichtbar. Die Frage (Nr. 27) nach dem Zusammenhang zwischen Mentalitäten, Sitten und patois wurde von vielen Korrespondenten mißverstanden und wenig kompetent beantwortet, während die abgefragten Informationen über den Zustand des Bildungswesens und die Verbreitung revolutionären Gedankenguts auf dem Lande Gregoire die erwartete Negativbilanz und damit eine Bestätigung der bildungspolitischen Grundsätze der Jakobiner lieferten.
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Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die 1790 Gregoire gestellten Fragen die an der „Enquete" mitwirkenden Intellektuellen zwingend zu Reflexionen führten, die in ihrer Gesamtheit auf die Verringerung des soziokulturellen Prestiges der gesprochenen Regionalidiome hinausliefen. Die „Enquete" zeigt die Hinwendung zu alten Sprachzuständen und ausgewählten Ebenen des sprachlichen Systems ebenso wie eine Abwertung und Marginalisierung mündlicher Varietäten, Normen und (sprachlicher) Traditionen. Das Ergebnis der „Enquete" bestätigte in vielen Punkten die bereits in den Fragen angelegte Entmündigung der patois. Es zeigte sich aber auch die Widersprüchlichkeit der linguistischen Kenntnisse und des Sprachbewußtseins der Beiträger sowie der verschiedenen regionalen Gemeinschaften. In Einzelfällen (Elsaß, Ozitanien) deutete sich durchaus ein operatives Sprachbewußtsein der lokalen Intellektuellen an, das jedoch im Zuge der ab 1790 fortschreitenden Entwicklung des Diskurses der Uniformität auf allen gesellschaftlichen Ebenen fernerhin erstickt werden sollte. Die Ergebnisse der „Enquete" verhehlten immerhin nicht, daß die patois im gesellschaftlichen Leben besonders der ländlichen Bevölkerung — bewußt kontrapunktisch zu den Stadtbewohnern — eine wichtige Rolle spielten und nicht widerstandslos zu beseitigen sein würden. Einigen Korrespondenten erschien es ohnehin gegen die Natur, Sprachen zerstören zu wollen: „Pour les detruire, il faudrait detruire le soleil, la fraicheur des nuits, la qualite des eaux, le genre d'aliments, l'homme entier" (Antwort aus Perpignan, zit. nach ebd. 1975, 147). Doch gerade an einem neuen Menschen, Bürger, war es dem Großteil der Beiträger gelegen. Sie machten die Regionalsprachen mit dafür verantwortlich, daß die Grenzen zwischen bäuerlicher Unverbildetheit und Unbildung fließend seien. Damit waren die patois für den Fortgang der Revolution hinderlich und mußten wohl oder übel verschwinden.
2.1.1.4.2. Die Regionalsprachen zwischen Jakobinismus, Konterrevolution/Antirevolution und Volksbewegung: die Berichte von Barere und Gregoire Die Politik der Jakobiner gegenüber den regionalen Sprachen, ihre Ansichten über die Konterrevolution und ihr Kampf gegen jede Bedrohung revolutionärer Errungenschaften stehen zweifellos in einem engen Zusammenhang. Dabei erhebt sich die Frage, ob und warum die Jakobiner einstimmig (oder nicht) die patois als Werkzeuge der
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Konterrevolution betrachteten. Besonders zwei bekannte Reden geben darüber Aufschluß. Barere stellte in seinem vor dem Wohlfahrtsausschuß am 27. 1. 1794 vorgetragenen Bericht die regionalen Idiome mit den viel zitierten Worten unter Anklage: „Le federalisme et la superstition parlent basbreton; Immigration et la haine de la Republique parlent allemand; la contre-revolution parle l'italien, et le fanatisme parle basque. Cassons ces instruments de dommage et d'erreur" (CERTEAU et al. 1975, 295). Auch Gregoire verwies in seinem „Rapport" vom 4. 6. 1794, der die Ausrottung der patois forderte, auf den Zusammenhang zwischen Konterrevolution und patois: „Chez les Basques, peuple doux et brave, un grand nombre est accessible du fanatisme, parce que l'idiome est un obstacle a la propagation des lumieres. La meme chose est arrivee dans d'autres departements, ou des scelerats fondaient sur l'ignorance de notre langue le succes de leurs machinations contre-revolutionnaires. C'est surtout vers nos frontieres que les dialectes communs aux peuples des limites opposees, etablissent avec nos ennemis des relations dangereuses" (ebd. 304). Aus beiden Reden sprach eine Überzeugung, die sich unter den Revolutionskommissaren bei Inspektionsreisen in die aufständischen Gebiete und auf Kriegsschauplätzen herausgebildet hatte. Die lokalen Sprachen wurden nicht mehr nur als ein Hindernis für die Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie sowie für die patriotische Erziehung angesehen, sondern zunehmend auch als Ort eines Widerstandes sui generis, der die Ausbreitung der Konterrevolution unterstützte. Einige Regierungsbeauftragte forderten in Paris die Hilfe sprachkundiger Patrioten an, da sie bei der Ausübung ihrer Funktionen in den anderssprachigen Gebieten kaum auf das Entgegenkommen der bodenständigen Bevölkerung hoffen konnten. Einhellig konstatierten sie, sprachliche Andersartigkeit schade der Revolution, denn sie vergrößere die Anfälligkeit breiter Kreise des Volkes für konterrevolutionäre Propaganda. Vormalige Adlige und Priester zögen Nutzen aus sprachbedingter Barbarei und Ignoranz, also müsse man den Stein des Anstoßes, die Sprachen, bekämpfen, um dadurch die Feinde der Revolution zu schlagen. „C'est ce malheureux langage [breton/ B. P.] qui entrave tout" (13. 11. 1793); „la difference de langage empeche de pouvoir eclairer" (12. 5. 1794), urteilte Prieur de la Marne, und Lacoste klagte: „La contre-revolution faisait rage en allemand" (17. 11. 1793) (HLF I X / 1 , 1 7 6 - 1 7 8 ) . Durch derartige Berichte erhärtete sich im Konvent der Eindruck, die Konterrevolution spreche bretonisch oder deutsch und bediene sich dieser und anderer Regio-
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nalsprachen, um die Volksbewegung der betreffenden Provinzen zu manipulieren. Die Ereignisse schienen dergleichen Vermutungen zu bestätigen. Die Gironde war weder imstande gewesen, den Widerstand gegen das Bündnis der inneren und äußeren Konterrevolution zu organisieren, noch hatte sie den Fortgang der Revolution verhindern und dem Druck der Volksmassen standhalten können. Dies wurde besonders während und infolge der Märzkrise 1793 deutlich, als die Nachwehen des Ladensturms, schlechte Nachrichten von der Front verbunden mit den Problemen bei der Zwangsaushebung und der Beginn der VendeeAufstände zusammentrafen ( M A R K O V 1986, I, 2 8 8 - 2 9 8 ) . Tiefe Widersprüche zwischen Girondisten und Jakobinern waren in der Auseinandersetzung um Krieg oder Frieden, Monarchie oder Republik, Hunger oder Brot für das Volk aufgeklafft. In der Zeit der Jakobinerherrschaft verhärteten sich die Fronten weiter: Während die Jakobiner ein Bündnis mit den unteren Volksschichten eingingen und dadurch ihre Massenbasis stärkten, verwandelte die außenpolitische Situation Frankreich in eine belagerte Festung. Verteidigung der Republik und Fortführung der Revolution gehörten untrennbar zusammen. Der Charakter der Jakobinerdiktatur, denn zur Diktatur sollte es kommen, wurde zunehmend durch die Erfordernisse von Krieg und Bürgerkrieg bestimmt. „Die Widersprüche zwischen Gironde und Bergpartei führten in ihrer Konsequenz zum militärischen Aufbegehren von Teilen der Bourgeoisie, vor allem der südlichen Departements gegen die Revolutionsführung. Die unter dem Banner des Föderalismus unternommene Insurrektion erfaßte in einer Zeit existenzieller Bedrohung der Revolution durch ausländische Intervention und Vendee-Aufstand zwei Drittel des französischen Territoriums." ( M . M I D D E L L 1989) Die jakobinische Basis war in den betreffenden Provinzen schon im Sommer 1793 stark geschwächt. Obwohl bis Ende 1793 die Vendee-Aufstände und die föderalistische Insurrektion (ebenso wie die Erhebungen in der Bretagne und Normandie) niedergerungen und Siege im Krieg gegen die verbündeten Feudalmächte erfochten wurden, war der Jakobinerstaat zwischen dem Bürgerkrieg unter „Enrages" und Jakobinern und an der äußeren Front (an der ζ. B. Flamen und Elsässer im Norden und Osten und Katalanen und Basken in den Pyrenäen kämpften) vor eine neue Zerreißprobe gestellt, die in die Krise vom September 1793 mündete und schließlich zur Terreur führte. „La revolution est glacee", diagnostizierte Saint-Just als einer der Theoretiker des Jakobinismus (1794, vgl. 1908, II, 508).
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Das Jakobinertum, das „weder den Interessenausdruck einer homogenen Klasse noch eine Organisation im modernen Sinn" darstellte, brachte als politisch-ideologische Formation eine Ideologie hervor, die mit der „Fiktion des Tiers als Einheit entgegen seiner tatsächlichen Spaltung in Bourgeoisie und vierten Stand" einherging und mit drei auch sprachpolitisch relevanten Aspekten zusammenhängt: (1) der sozialen Basis der Jakobiner im städtischen kleinen (und mittleren) Bürgertum und seinen Intellektuellen, (2) den Versuchen der „Jakobiner mit dem Volke", die Spannweite einer bürgerlichen Revolution politisch und ökonomisch am radikalsten auszuschreiten, und (3) der Hypertrophierung der Politik in den jakobinischen Überlegungen zum Charakter des gesellschaftlichen Umbruchs, einer Verkehrung des Verhältnisses von Ökonomie (Kapitalismus) und Politik (Demokratie) (vgl. MARKOV 1982, 119ff.). In dem ab Frühherbst 1793 entwickelten Konzept der union sacree nahm die Sprache als einigendes Band der Nation einen zentralen Platz ein. Argumentationen zu Sprache und Sprachpolitik waren fest in den politisch-ideologischen Diskurs der Jakobiner integriert.22 Die jakobinische Sprachpolitik erklärt sich aus dem Charakter der durch die außenpolitische Entwicklung entscheidend mitbestimmten Jakobinerdiktatur und der jakobinischen Ideologie gleichermaßen. In diesem Kontext, jedoch ohne konkret erkennbaren Anlaß, unternahm der Wohlfahrtsausschuß im Zusammenhang mit der eiligen Entsendung der representants en mission in verschiedene, darunter auch in die regionalsprachigen Departements im Januar 1794 einen Vorstoß in der Sprach(en) frage. Zwar stimmten beim Wohlfahrts- und Erziehungsausschuß eingehende Briefe der jakobinischen Emissäre in einer Verurteilung des konterrevolutionären Wesens der Regionalidiome, besonders des Bretonischen, Deutschen, Baskischen und Italienischen überein; gemessen an der Zahl der Äußerungen gab es aber nur spärliche direkte Hinweise auf die Sprachfrage, bezüglich der Bretagne in den Briefen von Saint-Andre aus Brest, von Carrier aus Nantes oder im Bericht von Choudieu und Richard über den Vendeekrieg (vgl. RENZI 1988). Es wurden weder spektakuläre konterrevolutionäre Ereignisse gemeldet noch besondere Vorfälle bezüglich der Regionalsprachen aufgedeckt. 22
Zur Problematik der Spracheinheit und ihren Facetten (als klassifikationstheoretisches wie soziolinguistisches Problem sowie als identitätsstiftendes Moment) vgl. Hans GOEBL: Spracheinheit, unite de la langue. Bemerkungen zur Polemik des Sprach-Unitarismus. In: Föderalismus, Regionalismus und Volksgruppen recht in Europa. [...] hrsg. v. RIEDL U. VEITER, Wien 1989, 1 6 2 - 1 7 1 .
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Dennoch rankte sich Bareres Januarbericht und sein sprachpolitischer Gesetzesvorschlag — sowohl von Gregoires Anregungen zu den Grundschullehrbüchern vom 22. 1. 1794 beeinflußt als auch von Domergues „Adresse aux communes et aux societes populaires de la Republique" (Druckfassung Februar 1794) inspiriert (vgl. T R A B A N T 1981, 5; BUSSE 1985, 134) - um den zentralen Begriff der VendSe, der quasi synonymisch zu contre-revolution gebraucht wurde. Auf der einen Seite zeichnete Barere die politisch relevanten Aspekte einer glänzenden Geschichte der französischen Sprache nach und polemisierte gegen das schlechte franfais courtisan der Aristokratie. Andererseits verurteilte er die Regionalsprachen mit den oben zitierten Worten. Schließlich wandte er sich gegen Sprachen, die mit dem Französischen hinsichtlich ihres Prestiges als Kultursprachen konkurrierten (Deutsch, Italienisch, Spanisch, Englisch) und für ihn „ideologische Feinde" der Nationalsprache waren 2 3 . Aus dieser Argumentation entwickelte sich der Vorschlag, mit der Entsendung von instituteurs de la langue frangaise in die Provinzen der Gefahr einer neuen Vendee vorzubeugen. Die Sprachfrage war somit zu einem wichtigen Moment des Kampfes gegen jede antijakobinische Bewegung geworden, wohl weil einige Jakobiner die eigentlichen Widersprüche noch als Folgen von Mißverständnissen deuteten. Betrachtet man die von Barere verwendeten Bezeichnungen für die einzelnen Sprachen (vgl. auch MARCELLESI 1988), so ergibt sich ein Bild, das den Fragen der „Enquete Gregoire" ähnelt, aber stilistisch reicher variiert. Langue, langage und idiome dienen zur Kennzeichnung des Französischen, aber auch anderer anerkannter Sprachen, sogar einschließlich des Baskischen. Idiome und langage sind durch den Kontext entweder positiv oder negativ konnotiert: l'idiome de 1'instruction publique = Französisch vs. l'idiome grossier mit distributioneller Äquivalenz zu jargons barbares. Für jargons und patois erlaubt der Kontext in Bareres Bericht keinen Bezug auf bestimmte Regionalsprachen. Es gibt lediglich eine Anspielung darauf, daß zwei Jahre lang in diesenm Idiomen Texte produziert worden seien. Hier war an die Übersetzungspraxis der Gesetzestexte gedacht. Dialecte tritt nicht auf. Folgt man der Hypothese von M A R C E L L E S I (ebd.), so klammerte Barere dialecte aus, da er damit die Bedeutung von Varietäten ein und derselben Sprache, die von verschiedenen Völkern gesprochen werden, verband und diesen Fall für die aus einem Volk bestehende französische Nation ausschloß. 23
Flämisch und Katalanisch wurden weder bei Barere noch bei Domergue erwähnt und erst später bei einer Erweiterung des Gesetzes von Barere berücksichtigt.
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Während der Diskussion um Bareres Gesetzesvorschlag, in den Gregoire auch Okzitanien und die französischen Dialektgebiete eingeschlossen wissen wollte, machte Barere vor dem Wohlfahrtsausschuß seine Haltung nochmals deutlich. Es ging ihm „nicht um eine allgemeine sprachliche Uniformierung des Landes, sondern — zur Verhinderung einer neuen, durch Unkenntnis der Gesetze entstehenden Vendee — um die Herstellung einer minimalen Verständigungsbasis zwischen Gesetzgeber und Volk" ( T R A B A N T 1981, 75). Er zielte auf passive, vor allem schriftliche Beherrschung des Französischen und bestenfalls auf partielle Zweisprachigkeit. Insofern war Bareres Bericht im Vergleich zu Gregoire 1794 politisch wie linguistisch realistischer, wog er doch zwischen dem Gewicht der Nationalsprache für die Sicherung der revolutionären Errungenschaften und der Bedeutung der kurzfristig nicht auszurottenden Regionalidiome für die kommunikative Praxis ab und focht er nicht für alle Regionalsprachen die Statuszuweisung als Sprache an. Es war ein Vorschlag für eine nicht zu weitgreifende, schneller tagespolitischen Erfolg versprechende Lösung. Dagegen zeigen Gregoires Haltung in der Diskussion mit Barere im Januar und sein Bericht vom Juni 1794, daß der jakobinische Diskurs keineswegs ein monolithisches Ganzes war und durchaus von Individualitäten mit unterschiedlichen Überzeugungen getragen wurde. Gregoires Beiträge deuten zudem darauf hin, wie sich zwischen Januar und Juni die Revolution insgesamt und mit ihr die jakobinische Sprachpolitik radikalisierte, als der revolutionäre Terror seinen Höhepunkt erreichte, die Massenbasis der Jakobiner und damit ihr politischer Entscheidungsspielraum dahinschmolz und ihre Stellung als hegemonische Gruppe erschüttert wurde. Gregoire faßte die Ergebnisse der „Enquete" von 1790 so zusammen, daß sie sich als Legitimation in sein sprachpolitisches Konzept des Jakobinismus einfügten. Mit ihm (wie auch mit dem Kult des höchsten Wesens, ebenfalls im Juni 1794 eingeführt) sollte die ideologische Sublimierung der „abbröckelnden politisch-materiellen Verankerung der Revolution" ( K O S S O K 1986, 422) unterstützt werden. Die eindeutig ideologisch gefärbte Zusammenschau der Ergebnisse der „Enquete" führte nicht nur zu ungenaueren Zahlenangaben über die Sprecher von Regionalidiomen, sondern vor allem zu weniger präzis belegten und rational begründeten Feststellungen als bei Barere. Die Bezeichnungen für Sprachen und Dialekte fügen sich in Gregoires Rapport im Vergleich zur vorangegangen und nachfolgenden Entwicklung zu einem besonders krassen Bild: Bipolar angeordnet stehen sich in Frankreich nur Sprache, langue, und Nicht-Sprache, patois, gegenüber ( M A R C E L -
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1988). Mit langue meint Gregoire fast ausschließlich die Nationalund Staatssprache sowie die schriftsprachliche Norm des Bon usage. Idiome und langage sind kontextuell positiv oder negativ konnotiert, je nachdem, von welcher Varietät die Rede ist. Auf der Gegenseite von langue finden auf dem breiten Rücken der Bezeichnung patois, synonymisch zu jargon und dialecte gebraucht und auf die Anzahl von 30 bemessen, fast alle Regionalsprachen (Baskisch, Bretonisch, Flämisch, Korsisch = italien de Corse, Okzitanisch) mit ihren dialektalen Varietäten (ζ. B. „limousin", „provenfal"), die Dialekte des Französischen (etwa „normand") und Kreolisch ihren Platz. Alle diese Idiome werden als Werkzeuge ganz verschiedener gegenrevolutionärer Bestrebungen auf eine Ebene gestellt und abgeurteilt: man müsse sie ausrotten („aneantir", „extirper"). Wieso nun spielte das Postulat, einige bzw. alle Regionalsprachen leisteten der Konterrevolution Vorschub, indem sie zum Abdriften großer Teile der Provinzbevölkerung ins antijakobinische Lager beitrügen, eine so zentrale Rolle in den Reflexionen von Barere und Gregoire? Welche Funktionen übernahmen diese Idiome tatsächlich in der Auseinandersetzung der verschiedenen bürgerlichen und feudalen Kräfte um die Hegemonie in der Revolution? Hier sollte man zunächst zwischen verschiedenen Bewegungen unterscheiden, die sich zu bestimmten Zeitpunkten und unter verschiedenen Aspekten dem Fortschreiten der Revolution entgegenstellten. (1) Zunächst wäre nach dem Wesen der Konterrevolution im engeren Sinne, im Unterschied zu einer volkstümlicheren Antirevolution, zu fragen. Historischen Studien folgend (vgl. M . M I D D E L L 1989 24 ), verstehen wir hier unter Konterrevolution die Gesamtheit aller politischen Dispositionen, Strategien und Aktionen, die mit Hilfe der vormals privilegierten Vertreter der französischen Nation die Vorwärtsbewegung der Revolution aufzuhalten und umzukehren beabsichtigten. Die Konterrevolution war um ihren harten Kern, den Royalismus, gruppiert und versuchte, jedwedes Terrain zu besetzen, das den Führungskräften der Revolution entglitt. „La contre-revolution ne se trouve finalement que vers les sommets de la societe, au niveau de la politique" ( M A Z A U R I C 1987). In der Sprachfrage bedeutete dies, daß die Anführer der Konterrevolution als frankophone Erben und Nutznießer der Sprachpolitik des Absolutismus Positionen verpflichtet waren, die sich etwa in Rivarols „Discours sur l'universalite du fran^ais" widerspiegeln und schon vor LESI
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Vgl. die Vorarbeiten von GODECHOT 1961 und DUPUY, besonders das Kolloquium zur Konterrevolution, Rennes 1986.
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1789 eine Minorisierung der Regionalsprachen begünstigt hatten. Die Konterrevolution entwickelte im Dienste der vormaligen sozial dominierenden und politisch herrschenden Eliten des Ancien Regime Argumentationen, deren Zusammenfassung zu einer einheitlichen Theorie zwar mißlang 25 , mit denen sie aber versuchte, sich Gehör zu verschaffen und zu maskieren. Zwar sind nicht viele konterrevolutionäre regionalsprachige Texte — ζ. B. Aufrufe und Liedgut — überliefert, aber es gab sie und nicht zu knapp, will man den Berichten von Jakobinern glauben (HLF IX/1, 177). Dennoch muß unterstrichen werden, daß sich die diskursive Praxis der Führungskräfte der Konterrevolution vorwiegend auf französisch abspielte (M. M I D D E L L 1989), während die Regionalsprachen zur Manipulation besonders der bäuerlichen Bevölkerung eingesetzt wurden. Die von La Rouerie 1790 gegründete Association bretonne zielte ζ. B. auf die Restauration politischer, ökonomischer und religiöser Freiheiten und Privilegien der Provinz, hatte ein französischsprachiges Statut und war allenfalls keltomanischen Traditionen verbunden. Die Verschwörung, die von dieser Association ausging, spielte sich vorwiegend im französischsprachigen Pays gallo und nicht in der Bretagne bretonnante ab und diente in erster Linie der Vorbereitung von Anführern und dem Aufbau von Organisationsstrukturen für die Bauernerhebungen ab 1793 (Hist. Bret. 1980, 28 ff.; P E L L E T I E R (Hrsg.) 1990, I, 111 — 115). Daß letztere jedoch (auch mit Hilfe des manipulatorischen Einsatzes des Bretonischen) eine gewisse Massenbasis erreichten, hing weder vorrangig mit der Bretonischsprachigkeit der Bauern noch mit einer grundlegenden Übereinstimmung ihrer Interessen mit denen der Konterrevolution zusammen, sondern mit einem andersgearteten Phänomen, der Antirevolution. ( 2 ) Wir fassen unter dem Terminus Antirevolution i. S. von LUCAS (1985) das heterogene, von den Jakobinern gleichfalls und undifferenziert als contre-revolution bezeichnete Ensemble gegen die Revolutionsregierung gerichteter, aber nicht konterrevolutionärer Bewegungen im oben beschriebenen Sinne. „Die Antirevolution ist zugleich breiter und weniger spezifiziert, mitunter weit entfernt von den politischen Absichten der Konterrevolution, die sie sogar häufig überhaupt nicht berücksichtigt" ( M A Z A U R I C 1987). Sie war das Sammelbecken für viele Menschen, die sich als Vertreter verschiedener sozialer Schichten und eingebunden in unterschiedliche regionale, kulturelle und 25
Dies bestätigt für den Zusammenhang von Konterrevolution und (geschlossener) konterrevolutionärer Sprachtheorie im Gefolge der Revolution indirekt auch RUCK E N 1988.
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religiöse Soziabilitätsstrukturen spätestens ab 1792 desillusioniert von der Revolution abwandten. Besonders der revolutionäre Terror der jakobinischen Ära erlaubte es vielen ursprünglichen Befürwortern der Revolution nicht, in den abstrakten Dimensionen des modernen, lai'zisierten, von den städtischen Oberschichten der Bourgeoisie beherrschten Staates ihre Ideale von 1789 wiederzuerkennen und drängte sie in die antijakobinische Opposition. Die Unnachgiebigkeit der Jakobiner am Vorabend des 9. Thermidor gab ihnen einen Vorgeschmack von politischer Intoleranz (bis hin zur Negation des Rechts auf u. a. sprachlich-kulturelles Anderssein), die nach der Revolution kein generelles Ende nahm 26 . Losgelöst voneinander funktionieren als Erklärungsmuster für die bretonische Chouannerie27 aber ζ. B. weder die Feststellung unterschiedlicher Interessenlagen von Bauern und Bourgeois noch der Hinweis auf religions-, kultur-, sprach- und mentalitätsgeschichtliche Besonderheiten noch die Betonung eines Zusammenhangs mit royalistischen Bestrebungen. Zwar gab es Unterstützung von Seiten des Provinzadels, unbestritten ist auch die Rolle der eidverweigernden Priesterschaft, die viele Bauern und deren Frauen mit Hilfe des Bretonischen für die Verteidigung von Seigneur, König und Gott gewann (vgl. TACKETT 1987; 1988, 581, 605). Die Chouannerie basierte aber nicht auf einem ausgearbeiteten politischen Konzept eines integralen Royalismus, der die Restauration des Ancien Regime in all seinen feudalen Strukturen beabsichtigt hätte. Sie trug dagegen wesentliche Züge einer spontanen Rebellion, für deren Abwehr die bretonische Sprache bestimmt nicht der geeignetste Angriffspunkt war. Umgekehrt mußte einen Bretonen, welcher Sprache er sich auch bediente, Carriers Eifer entrüsten, der verlautbarte: „Nous ferons un cimetiere de la
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MAZAURIC 1984, 203 erklärt diese Tatsache aus dem Klassencharakter der bürgerlichen Revolution. Sie schuf aber andererseits auch die Voraussetzungen für die bürgerliche Demokratie, welche sich in Frankreich allerdings mit der Sprach(en)frage auch im 19. und 20. Jahrhundert schwer tat (vgl. aus anderer Sicht Noel LAINE: Le droit a la parole. Rennes 1992). Es sei nicht unerwähnt, daß die Nationalitätenpolitik der sozialistischen Staaten neue Zentralismen nicht verhinderte und selbst das sprachlich-kulturelle Konfliktpotential nicht abbaute, was sich nach 1989 an neu aufwallenden Nationalismen zeigt und unter die größten Herausforderungen des letzten Jahrzehnts des 20. Jhs. zählen dürfte, wenn es erneut um das Zusammenspiel von Demokratie und Nationalismus geht.
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Erste Welle 1793 - 95, zweite Juni 1795 - 1 7 9 6 , dritte 1796 bis September 1797, dann langsam abflauend bis zum Konkordat 1801 und vereinzelte Aktionen bis 1804.
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Sprachpolitik in Revolution und napoleonischem Empire
France plutot que de ne pas la regenerer a notre maniere et ne manquer le but que nous nous sommes propose." 28 Jede Manifestation der Antirevolution, ob im Midi, in Savoyen, in Piemont oder andernorts müßte gesondert betrachtet werden. Aber insgesamt bleibt festzustellen, daß der Ausnahmecharakter zweier ihrer Bewegungen (in der Vendee und in Lyon, wo die von volkstümlichen Kräften beherrschten Sektionen die Macht der Jakobiner so entschieden ablehnten, daß sie dem Aufruhr freien Lauf ließen und sogar mit dem Royalismus und dem Ausland zusammengingen, vgl. M A Z A U R I C 1987), die Entstehung des jakobinischen und sansculottischen (auch sprachpolitischen) Radikalismus beförderten, mit dessen Hilfe die Insurrektionen niedergeworfen wurden. Die Antirevolution hatte besonders durch diese beiden vehementen Fälle (bei denen weder in der Vendee noch in Lyon eine nichtfranzösische Sprache eine Hauptrolle spielte) unter den jakobinischen Führungskräften zu einer Überbewertung von Minderheiten und Randgruppen der Gesellschaft geführt und ein generell negatives Urteil gegenüber den regionalsprachigen Bevölkerungsschichten hervorgebracht. Es war, als ob die Zuweisung des Konflikts an marginale Gruppen die massive Unzufriedenheit in der Bevölkerung verkleinern könne. Dies geschah, weil die der politischen Konterrevolution unbestritten dienstbare, jedoch nicht auf sie zu reduzierende Antirevolution von den Pariser Jakobinern nicht mehr in ihrem Sinne kanalisiert werden konnte. Im Gegenzug erzeugte der sprachpolitische Radikalismus der Jakobiner Spannungen zwischen den lokalen Fraktionen des Jakobinismus selbst. Einmal befanden sich die Jakobiner bestimmter Regionen bereits im Sommer 1793, als die Jakobinerdiktatur errichtet wurde, in einer schwierigen Situation. So hatten ζ. B. die örtlichen Verwaltungsbeamten im Morbihan oder in Ille-et-Vilaine im Zusammenhang mit der Zivilverfassung des Klerus seit 1791 härtere Maßnahmen gegen die Eidverweigerer ergriffen, als von Paris gefordert worden waren. Dies führte im streng katholischen Westfrankreich und nicht zuletzt in der Bretagne dazu, daß der niedere, bretonischsprachige Klerus, der in den Cahiers de doleances eine fortschrittliche Haltung zur Reformierung der etablierten Kirche und zugunsten der ärmeren Volksschichten artikuliert hatte, schnell in die Opposition und Emi28
Zit. nach PELLETIER (Hrsg.) 1990, 123. Carrier war representant en mission in Nantes, w o während der Terreur 3000 Personen erschossen, viele ertränkt, weitere 3000 gefangen und insgesamt ca. 8000—13 000 Menschen verfolgt wurden, was selbst Robespierre erschreckte, so daß er Carrier nach Paris zurückbeorderte.
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gration getrieben wurde. Große Teile des bretonischen Klerus waren für spätere Eidesforderungen (1793 und 1794) völlig unempfänglich, selbst wenn sie den Verfassungseid von 1791 noch geleistet hatten. So waren die Fronten bereits zu Beginn der Jakobinerdiktatur stärker als anderswo verhärtet, und die lokalen Jakobiner befanden sich in einer denkbar ungünstigen Lage, die durch die radikale Sprachpolitik in Paris noch verschlechtert wurde. Zum anderen wehrten sich kurz vor und nach dem Sturz von Robespierre vielerorts Jakobiner gegen die vereinfachende Anklage aller Regionalsprachen als Werkzeuge der contre-revolution, obwohl sie eine langzeitige Orientierung auf die Nationalsprache billigten. So schrieben Vertreter der Societe des Amis de la Constitution de Ribeauville im Elsaß am 2. 8. 1794 an den Konvent: „Les infames fanatiques de la Vendee et les traitres lyonnais et Toulonnais et les Marseillais insenses federalistes ne parlaient-ils pas fran£ais, ceux-la? [Die Existenz des Okzitanischen wird wohlweislich übergangen./P.] Et suffit-il de parier Allemand pour etre contre-revolutionnaire? Les fideles habitans du haut et bas-Rhin, qui sont morts les armes a la main [...] en etaient-ils, et en sommes-nous moins bons republicans parce que nous parlons encore en partie 1'allemand?" (HLF IX/1, 256) Die immer schärfere, letztlich gegen alle Regionalsprachen, ihre Dialekte und die Dialekte des Französischen gerichtete offizielle jakobinische Sprachpolitik hatte diesen Idiomen undifferenziert eine konstitutive Rolle in Konterrevolution und Antirevolution zugeschrieben. Trotz berechtigter Hinweise auf ihren Gebrauch im Dienste gegenrevolutionärer Strömungen wurde das sprachliche Moment von den Jakobinern bei weitem überschätzt und zugleich benutzt, die eigentlichen Widersprüche zu verdecken. Die immer drastischeren jakobinischen Antworten auf die Sprach(en)frage lieferten eine aus heutiger Sicht weder linguistisch noch historisch haltbare Erklärung für die tiefer liegenden, vielfältigen Ursachen antijakobinischer politischer und volkstümlicher Bewegungen. Außerdem schadete dieser Radikalismus auch den Jakobinern in den regionalsprachigen Provinzen. Daß die radikale Sprachpolitik nicht im beabsichtigten Sinne greifen konnte und die Jakobiner dies selbst wußten, beweist indirekt die Tatsache, daß Robespierres „Sur l'Etre supreme" allen Direktiven zum Trotz ins Bretonische übersetzt wurde. Das aggressivste sprachpolitische Gesetz des Jakobinismus, das am 2. Thermidor An II (20. 7. 1794) noch eine Woche vor dem Sturz von Robespierre jedweden mündlichen und schriftlichen öffentlichen Ge-
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brauch der Regionalsprachen verbot 29 , scheint ein letzter Ausdruck von Hilflosigkeit zu sein, die in der Geschichte zuweilen jene befällt, die ihre Macht den eigenen Händen entgleiten spüren und doch nicht die Grenzen ihrer Doktrin überwinden können. Das Gesetz wurde bereits am 5. 9. 1794 wieder aufgehoben. Mit der Interpretation der sprachlichen Heterogenität Frankreichs als einfache Opposition zwischen Nationalsprache und patois, die die Pariser Führung der Jakobiner im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen innere und äußere Reaktion aufgebaut hatte und die symptomatisch im „Rapport Gregoire" 1794 zum Ausdruck kam, arbeitete die jakobinische Sprachpolitik als Regierungspolitik bereits der bürgerlichen Eingrenzung und dem mit dem 9. Thermidor einsetzenden Krebsgang der Revolution in die Hände, da das Bürgertum seine Macht auch fernerhin in einem u. a. sprachlich einheitlichen Nationalstaat zu entwickeln gedachte. Das Französische stand an der Schwelle jenes Jahrhunderts, in dem es von Chateaubriand bis Zola die Weltliteratur mitbestimmte. Die Regionalsprachen wurden aus der kommunikativen Praxis weiter zurückgedrängt, doch sie blieben ein Ausdruck kultureller und regionaler Identität, für deren allmähliche Bewußtwerdung bei den Betroffenen im nachhinein auch die radikale Sprachpolitik der Jakobiner indirekt Vorschub geleistet hatte. 2.1.2.
Diskursregelung in der jakobinischen Sprachpolitik
2.1.2.1. Zur Sprachpolitik der Jakobiner Ist von jakobinischer Sprachpolitik die Rede, dann wäre in zeitlicher Hinsicht zunächst an die Herrschaft der Jakobiner in den Jahren 1793/94 zu denken. Es spricht jedoch einiges dafür, ihre Anfänge schon eher, etwa im August 1792, anzusetzen. Auf die Periodisierung der Sprachpolitik in der Französischen Revolution wird im weiteren noch einzugehen sein. Ihrem Wesen nach ist jakobinische Sprachpolitik vor allem auf die Ausprägung von Uniformität (vgl. B R U N O T 1 9 6 7 , SCHLIEBEN-LANGE 1987) gerichtet, d. h. auf die Vereinheitlichung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, von Raum- und Zeitmaßen und auch der Sprache. Die in den ersten Jahren der Revolution konstatierte sprachliche diversite und die damit einhergehende Übersetzungspolitik in 29
Die früheren jakobinischen Gesetze und Orientierungen hatten kaum Bereiche der Mündlichkeit angetastet, vgl. BOYER 1991, 82.
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die verschiedenen Idiome Frankreichs werden von den Jakobinern in eine Sprachpolitik überführt, in der unter dem das gesellschaftliche Leben prägenden nationalen Einheits- und Vereinheitlichungsgedanken (uniformite) die Forderung nach einer allen Ansprüchen des modernen staatlichen, wirtschaftlichen und intellektuellen Lebens genügenden Nationalsprache in den Vordergrund rückt. Ein wesentlicher Aspekt dieses Prozesses ist die diastratische und diatopische Expansion des Französischen. Die Sprachpolitik der Jakobiner äußert sich einerseits in den Bestrebungen nach einer vereinheitlichenden Reform der Orthographie und Orthoepie, nach einer neuen Elementargrammatik, einer neuen Wortschatzbeschreibung und Lexikographie wie auch in Entwürfen zur Beseitigung des Analphabetentums. Andererseits materialisieren sich die sprachpolitischen Verhältnisse im Diskurs der Jakobiner selbst. Uniformite der sprachlichen Formen wird im Zusammenhang mit der politischen Praxis in einen politisch-ideologischen Diskurs der Entwicklung eines nationalen Konsenses und der Verherrlichung der revolutionären Ereignisse transportiert. Die sprachliche und kommunikative Praxis der Jakobiner in ihrer Stellung als politisch dominierende Partei legt in dieser Phase die sprachpolitischen Verhältnisse fest: Ihr Diskurs bestimmt die sprachliche Form der Massenkommunikation, aus der vormals konkurrierende Diskurse weitgehend verdrängt sind. Die sprachlichen Verhältnisse während der Jakobinerdiktatur sind von dem Wechselspiel zwischen repressiver Kontrolle der Sprachpraxis und der ideologischen Sublimierung der öffentlichen Rede geprägt (vgl. E R F U R T 1989 a, E R F U R T / M Ü L L E R 1989). Am Beispiel der Norm für öffentliche politische Äußerungen wird diese Wechselbeziehung deutlich: In einem „transfert de legitimite" ( B A L I B A R 1985, 132) hatte die Revolutionsbourgeoisie das offizielle Französisch des Ancien Regime für die Propagierung ihrer eigenen Politik übernommen. Daneben gab es hier und da Versuche, Elemente der Volkssprache, die im wesentlichen auf die Lexik beschränkt blieben, in die Sprache der Politik zu integrieren. Das bekannteste Beispiel aus der Presse ist Heberts „Pere Duchesne". Über Jahre hinweg wurden beide Strategien nebeneinander oder auch gegeneinander praktiziert. Erst unter der Jakobinerdiktatur geriet Heberts Stil zunehmend in Widerspruch zur kultivierten Sprache, die einzig der Größe des revolutionären Frankreich angemessen sein sollte. Heberts Verweigerung endete tödlich. Wo immer die tieferen Ursachen für seine Hinrichtung im März 1794 liegen mögen, das Todesurteil wurde damit begründet, daß Hebert die republikanische Sprache besudelt habe. Die jakobinische Sprachpolitik geht folglich in drei Domänen auf:
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a) in der Austragung eines Sprachkonflikts bei der Durchsetzung der Nationalsprache gegenüber den Minderheitensprachen Frankreichs; b) in der Sphäre von Sprachplanung und Sprachkultur des Französischen und c) in der Regelung des eigenen Diskurses wie der öffentlichen Rede überhaupt.
2.1.2.2. Sprachpolitik und Diskursanalyse Die Sprachpolitik in der Französischen Revolution wurde bislang vorwiegend unter dem Aspekt der territorialen und sozialen Ausbreitung des Französischen und der damit einhergehenden Minorisierung der Minderheitensprachen behandelt. Die Datenbasis für diese Problematik besteht im wesentlichen aus Dokumenten zur Sprachgesetzgebung, aus Projekten zur Reform von Orthographie, Grammatik usw., wie die Revolution sie in großer Zahl hervorbrachte sowie aus Äußerungen von Zeitgenossen über Sprache und Kommunikation. Einsichten in die sprachpolitische Praxis der Revolutionszeit werden bis heute im wesentlichen aus der soziolinguistischen Interpretation dieser Daten gewonnen. Ohne die Berechtigung eines solchen Vorgehens bestreiten zu wollen, will uns scheinen, daß die Rekonstruktion von Sprachpolitik aus Texten des politischen Alltags, wie sie hier versuchsweise erfolgt, ein unverzichtbarer Bestandteil sprachpolitischer Forschung sein muß, um die Erkenntnisse über die Sprachpolitik zu verifizieren und gegebenenfalls anzureichern. Genau zu diesem Zweck ist es erforderlich, anhand von Texten aus der alltäglichen Kommunikation zu prüfen, welche Veränderungen zu registrieren sind. Die Ergebnisse, die aus dem Vergleich der Inszenierungen von Texten gewonnen werden, sind ein wichtiger Anhaltspunkt für das Erkennen von sprachpolitischen Entwicklungen. Es soll also nicht nur darum gehen, Aussagen über die Sprachpolitik einer sozialen Gruppe in ihren ideologischen Zusammenhängen zu beschreiben, sondern es müßte vorrangig in der alltagssprachlichen Kommunikation nach den Spuren und Konsequenzen der Absichten ihrer Initiatoren gesucht werden. Fragt man danach, wie sprachpolitische Eingriffe erforscht und an welchen Kriterien ihre Wirkung gemessen wird, so erfolgt im allgemeinen der Hinweis auf quantitative Methoden. Quantitativ heißt, daß statistisch ermittelbare Daten über die Zahl von Sprechern einer Varietät oder einer Minderheitensprache und über das Sprachbe-
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wußtsein einer Gemeinschaft oder aber über den Umfang von Entlehnungen aus anderen Sprachen oder über die Produktivität von eigenen Bildungsmustern im Prozeß der sprachlichen Normalisierung usw. ins Verhältnis zu Daten vor oder nach sprachpolitischen Eingriffen gesetzt werden. Einzelne Disziplinen wie die Dialektologie und Sprachgeographie und die Minderheitenforschung haben inzwischen ein ausgefeiltes Methodeninstrumentarium für die Datenerhebung und Datenauswertung entwickelt. Werden diese Daten dann mit den jeweiligen im Sinne von Sprachpolitik wirkenden Maßnahmen in Beziehung gesetzt, lassen sich „Aufwand-Nutzen-Kalkulationen" veranschlagen. Zumindest aber kann etwas ausgesagt werden darüber, wie sich die sprachlichen Verhältnisse in oder zwischen Gemeinschaften von Sprechern unterschiedlicher Sprachen oder Varietäten entwickelt haben bzw. wie in die Partizipation anderer Subjekte an den sprachlichen Verhältnissen eingegriffen wird. Mit dem Aufkommen der Diskursanalyse und insbesondere mit den von der Ethnomethodologie beeinflußten Richtungen wurde die an sich schon alte Kontroverse um quantitative vs. qualitative Methoden erneut belebt. Unser Vorhaben, methodenkritisch in die Erforschung von sprachpolitischen Zusammenhängen einzugreifen, verlangt gerade wegen des von uns gewählten diskursanalytischen Ansatzes weiteres Nachdenken über die Analyserelevanz einer qualitativen Bestimmung. Im Prozeß der Textanalyse richten wir die Aufmerksamkeit darauf, die Qualitäten der Texte zu benennen, diese Qualitäten zu vergleichen und die so ermittelten Unterschiede in ihrer sprachpolitischen Relevanz zu interpretieren. Oder anders: Es gilt herauszufinden, welche Eigenschaften der alltäglichen Kommunikation, die gewissermaßen als das Normale, das Unauffällige wahrgenommen werden, sprachpolitisch bedeutsam sind. Die Antikerezeption in den Texten der ersten Revolutions)ahre ist dabei genauso von Bedeutung wie der Gebrauch des Superlativs, der sakralen Stilformen und Lexik im Sinne der ideologischen Sublimierung in den Texten der Jakobiner, weil mit diesen sprachlichen Formen jeweils musterhaft der Spielraum für die politische Kommunikation markiert wird. Dabei wäre über das Verhältnis zur Geschichtswissenschaft nachzudenken. Die ausschließliche Beschränkung auf den Text und auf die linguistischen Methoden der historischen Textanalyse, unabhängig und in Abgrenzung von historiographischen Methoden und Erkenntnissen, wie sie in der ideengeschichtlich orientierten Lexikanalyse proklamiert wird, ist für unseren Forschungsansatz nicht zweckmäßig. Die Aufdeckung der gesellschaftspolitischen Brisanz dessen, was ge-
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sagt wird (und was nicht) und wie das geschieht, legt die Zusammenarbeit von Linguisten und Historikern nahe. Andererseits kann der Historiker, für den (schriftliche) Texte ebenfalls eine wichtige Untersuchungsgrundlage darstellen, vom linguistischen Zugang zu den Texten profitieren. Sprachpolitik anhand der Analyse von sprachlich-kommunikativen Strukturen und Einheiten in alltagssprachlichen Texten zu rekonstruieren, verlangt die textbezogene deskriptive Untersuchung der sprachlichen Formen und nachfolgend, im Vergleich, die Interpretation der herausgefundenen Unterschiede in der Inszenierung der Texte. Für die Analyse empfiehlt sich ein mehrstufiges Vorgehen in der Art, wie es U. M A A S (1984) für die Diskursanalyse vorstellte, das hier aber gemäß den Bedürfnissen der sprachpolitischen Forschung modifiziert wird. Die Stufen der Analyse sind: a) Angabe des (selbstdeklarierten) Inhalts/Gegenstandes des Textes. b) Beschreibung der Inszenierung des Inhalts, d. h. sprachliche „Oberflächenanalyse"; Wortwahl, spezifische Terminologie; Modus der Inszenierung: Imperativisch, empfehlend, präskriptiv-normierend usw. Analytisch herausgearbeitet werden in Weiterführung von a) einerseits die Textkomposition und die thematischen Einheiten und Strukturen (thematische Punkte und Themaprogression, Temporaldeixis, Lokaldeixis u. a.) und andererseits die interaktionalen Strukturen (Appellstrukturen, Personaldeixis und Strukturen der Personalität, metakommunikative Einheiten, Aspekte der Konsensund Dissensbildung, der Bearbeitung von Widersprüchen in den interpersonalen Beziehungen, Solidarisierungen usw.). c) Beschreibung des Sinns der Inszenierung. d) Auffinden der Unterschiede in der Inszenierung, die auf den Wandel der sprachlichen Verhältnisse in der Gesellschaft und die Beziehung des Autors zu diesen Verhältnissen hindeuten. e) Interpretation der Wandlungsprozesse in der Inszenierung des Inhalts in ihrer sprachpolitischen Dimension. Rekonstruktion der Sprachpolitik der jeweiligen Institution oder der kommunizierenden politischen Subjekte. Für die Untersuchung wurden zwei längere Artikel aus der von Prudhomme herausgegebenen Wochenzeitschrift „Revolutions de Paris", die von Juli 1789 bis Februar 1794 erschien, ausgewählt. In beiden Artikeln wird über ein Revolutionsfest berichtet: im ersten, aus Nr. 158, 14.— 21. 7. 1792, über das Fest zum 3. Jahrestag des Sturms auf die Bastille — „Fete commemorative du 14 juillet" (97 — 106); im zweiten, aus Nr. 215, 13. —20. 11. 1793, über das „Fest der Vernunft" - „De la fete de la raison" ( 2 1 0 - 2 1 8 ) . Der erste Text
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erschien vor der historisch bedeutsamen Zäsur der Errichtung der Jakobinerdiktatur im Mai/Juni 1793, der zweite nach wenigen Monaten der jakobinischen Herrschaft. Die Texte weisen wesentliche strukturelle und textkompositorische Gemeinsamkeiten zu jeweils anderen Texten im Umfeld der beiden Revolutionsfeste auf, was hier nicht im Detail belegt werden kann. Sie sind nicht signiert; es muß angenommen werden, daß Prudhomme, falls nicht er selbst, sondern einer seiner Mitarbeiter sie geschrieben hat, zumindest bereit war, sich mit ihnen zu identifizieren. Prudhommes Zeitschrift „Revolutions de Paris" galt als journalistisch anspruchsvoll; ihre Artikel sind meist tiefgründige Analysen der aktuellen Ereignisse.
2.1.2.3.
Textanalyse
2.1.2.3.1.
Text 1: „Fete commemorative du 14 juillet"
2.1.2.3.1.1. Angabe des (selbstdeklarierten) Inhalts/Gegenstands Der Autor Prudhomme (?) schreibt aus der Sicht eines Beobachters über das Revolutionsfest zum 3. Jahrestag des Sturms auf die Bastille, das am 14. Juli 1792 mit einem Festumzug zwischen den Tuilerien und dem Champs de Mars stattfand. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen der am Fest teilnehmenden Personen — der König und sein Gefolge, die Deputierten, die Zuschauer und Föderierten — in ihrem Verhältnis untereinander und zum Arrangement des Festes. Der Autor konstatiert, daß sich das Volk und die Deputierten zu wenig ihrer selbst besonnen hätten; er kritisiert aus Sorge um den Fortgang der Revolution den geringen revolutionären Enthusiasmus und das Verhaftetsein des Volkes in den Formen und Riten des Ancien Regime.
2.1.2.3.1.2. Beschreibung der Inszenierung des Inhalts a) Textkomposition und thematische Einheiten Der Autor beginnt seinen Bericht mit einem „Themasatz" (97/1 — 5), der die Enttäuschung darüber andeutet, daß sich seine mit dem Revolutionsfest verbundenen Hoffnungen nicht erfüllt haben. Dieser Satz markiert den Widerspruch zwischen den revolutionären Ideen der partisans der Revolution („de genereux projets d'une part", 97) und den nach drei Jahren Revolution noch immer präsenten Riten des Ancien Regime („comme jadis aux fetes d'etiquette de la cour",
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ebd.). Von diesem Themasatz wird klammerartig ein Bogen geschlagen zum letzten Abschnitt des Textes (106/12 — 24), in dem wegen des Unvermögens Frankreichs, als führende Nation Europas eine Vorbildrolle wahrzunehmen, das Gefühl der Enttäuschung artikuliert wird: „...nous avouerons n'avoir pas trouve ce degre d'energie que nous aurions desire rencontrer chez une nation qui se propose de faire les destinees de l'Europe" (106). Innerhalb dieses Rahmens entwickelt der Autor seine Beschreibung des Festes. In überwiegend berichtenden Passagen (z.B. 97/6 — 98/14, 102/1 —103/9) mit Verben in der 3. Person im passe simple, mit den Personalpronomen il, ils, on, die die Sicht des Beobachters kennzeichnen sollen, werden die Personenkonstellationen in Oppositionen, Inklusionen, Exklusionen aufgebaut (z.B. „le monarque", „le roi", „Louis XVI" — „le peuple", „les citoyens", „les federes", „les sansculottes des departements") und Details aus dem Festarrangement aufgeführt. Ihnen folgen überwiegend kommentierende Passagen mit Verben im imparfait, passe compose, present und futur und den Pronomen il, ils, on, nous, vous mit Erklärungen, Aufrufen und Bekenntnissen des Autors zum Verlauf des Festes, über die Zuschauer, den König usw. Gegenüber den berichtenden Passagen, in denen die Präsenz des Autors zwar schon durch die Auswahl der beschriebenen Ereignisse, sprachlich aber auch über die Verwendung von Modalverben, Adverbien, metakommunikativen Einheiten u. ä. (vgl. „Louis XVI voulut eviter apparemment...", 98) in wertender, relativierender, einschränkender und explizierender Funktion aufzuspüren ist, wird in den kommentierenden Äußerungen die gesellschaftliche Funktion des Journalisten als (er)mahnend-fordernder, die Bewegung analysierender Vorkämpfer der Revolution deutlich; er ist im nous de modestie direkt präsent, oder er geht in einem kollektiven nous auf; in jedem Fall jedoch will er korrigierend und wegweisend in das politische Geschehen und das revolutionäre Verhalten eingreifen (vgl. „Mais le peuple n'eut pas besoin d'une decoration pour se rappeler ces deux epoques...", 99/6ff.; „La patrie est en danger, & vous perdez vos momens a vous promener sous les fenetres de ceux qui...", 100/21 ff.). Aussagen zu einzelnen thematischen Punkten, insbesondere zum Handeln des Königs und anderer Aristokraten sowie zum zu wenig selbstbesonnenen Handeln der Zuschauer des Festes (vgl. 99/39 ff.) erhalten dadurch, daß sie Vergleichen des Autors standhalten müssen, hohes ironisches, spöttisches bis sarkastisches Wertungspotential (vgl. „Marie-Antoinette etoit ä sa fenetre, comme toute autre bourgeoise" 101/6 f., d. h., er behandelt die Königin als gewöhnliche Bürgerin; „Le roi se rendit le premier ... digne plutöt d'un despote d'Asie que du
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chef d'un peuple libre", 97/6 — 98/2, d.h., er vergleicht den König respektlos mit einem asiatischen Despoten). In der thematischen Binnenstruktur wechseln sich Aussagen über das „Volk" mit Appellen an das revolutionäre Bewußtsein der (am Revolutionsfest beteiligten) Franzosen ab. Im Text wird der Widerspruch ausgetragen zwischen dem von den „Regisseuren" des Festes dem König eingeräumten zentralen Platz, der dazu konformen „Geisteshaltung" von nicht wenigen Zuschauern, die dem königlichen Kult unkritisch nachhängen (vgl. „nous avons vu des gens en extase", 99/40), sowie der gänzlich antiroyalistischen Haltung des Autors, der hier schon die spätere Suspendierung des Königs (August 1792) im Wort antizipiert: „Sans la presence de Louis XVI, il n'y auroit point eu de confusion..." (99/21, u. a. Passagen). Hinsichtlich der Lexik ist der Text erwartungsgemäß als Text der Revolutionszeit markiert. Der gängige Revolutionswortschatz wie citoyen, despotisme, fanatisme, fraterniser findet sich darin wieder. b) Interaktionale Strukturen Der Text weist eine Fülle sprachlicher Einheiten auf, die belegen, wie der Autor versucht, bewußt in die politische Konstellation seiner Zeit einzugreifen. Dazu gehören insbesondere: — Anrede- und Appellformen: „Citoyens, ne vous imaginez pas etre libres ou dignes de l'etre, tant q u e . . . " (100/42f.) — die Personaldeixis: nous, on, notre, nos, les notres, vous, vos, il, ils u. a. — Bezeichnungen von Personen oder Personengruppen: „l'epouse du roi", „les autres citoyennes de l'empire" (101/3 f.) Der Autor selbst ist im Text im sogenannten nous de modestie präsent („nous avons vu", „nous avons entendu" — 99/40 f.) und in sprachlichen Einheiten, die die Funktion der Äußerung („Nous ferons la meme reproche aux deputes ...", 100/27) oder deren Geltungsanspruch signalisieren. Dazu gehören Modalverben wie paraitre, Modaladverbien wie apparemment sowie metakommunikative Wendungen wie „en sorte qu'il est tres-possible q u e . . . " (102/4). Über diese und andere sprachliche Einheiten werden folgende interaktionale Beziehungen hergestellt: — Dissens zwischen Autor und politischem Gegner („le roi"/„la cour") — Identifizierung des Autors mit den bewußt revolutionären Kräften („nous") — Dissens zwischen König und Volk
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— Mobilisierung des Volkes im Interesse einer Vertiefung der Revolution. Den Dissens zum König und seinem politisch-sozialen Umfeld stellt der Journalist über abwertende Bezeichnungen her („comme un despote d'Asie", 98/1; „les intrigans les plus bas", 100/31 f.), beschränkt sich aber nicht darauf. Der Schreiber hat seine Stellung als Untertan längst verlassen und arbeitet auf nichts Geringeres hin als auf den Ausschluß des nominell immer noch als Staatsoberhaupt fungierenden Königs aus der nationalen Gemeinschaft der Franzosen („Sans la presence de Louis XVI, il n'y auroit point eu de confusion; ...", 99/ 21 f.; „... la constitution fran^aise seroit done detestable, si eile avoit le malheur de deplaire a Louis X V I , . . . ? " , 100/6ff.). Dabei geht es primär gar nicht mehr um eine Auseinandersetzung mit dem Monarchen als politischem Gegner; diese geschieht eher beiläufig und ist im Grunde längst abgeschlossen. Im Text wird ausschließlich über den König gesprochen („il"), an keiner Stelle zu ihm — und wäre es nur, um die rhetorische Wirksamkeit der Vorwürfe zu steigern. Die Inszenierung eines Dialogs zwischen Autor und Leser bleibt den potentiellen Verbündeten als den eigentlichen Adressaten des Textes vorbehalten. Ihr geht die Kritik des Autors am Verhalten des Volkes voraus, das dem König zujubelt, als er den Eid auf die Verfassung leistet („des gens en extase", 99/40). Im anschließenden imaginären Dialog übernimmt der Journalist im Namen einer revolutionären Vorhut die Rolle des väterlichen Mahners, der über die Vorgabe von Identifikationsangeboten und über Appelle an das Gewissen, die Selbstachtung und das Selbstbewußtsein des Volkes sowie seiner gewählten Vertreter auf Konsensbildung und Mobilisierung aller antimonarchistischen Kräfte hinarbeitet. Der folgende Textauszug verdeutlicht diese interaktionale Grundstruktur: „A vous ( = bourgeois imbeciles) entendre, il ( = le roi) semble vous faire une grace en daignant toucher l'autel de la patrie, confondu parmi nous, qui aurions du peut-etre en interdire l'acces a un monarque inhospitalier qui nous ferme la porte de ses jardins &c nous refuse passage ä travers son chateau" (100/9ff.). Der Autor verhehlt nicht seinen Zorn über das Verhalten der immer noch promonarchistisch eingestellten Teile des Volkes („bourgeois imbecilles"). Er versucht, die nach wie vor bestehenden Bindungen zwischen dem Volk und seinem König aufzulösen, indem er an das unpopuläre Verhalten des Königs bei anderer Gelegenheit erinnert („un monarque inhospitalier"). Im nous wird eine gesellschaftliche Kraft aufgezeigt, die bereits erwägt, die gesellschaftliche Hierarchie umzukehren („interdire l'acces ä un monarque inhospitalier"), und
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die den Kern für den Zusammenschluß aller antimonarchistischen und somit revolutionären Kräfte bildet. In dem inszenierten Dialog kommen auch die Kritisierten zu Wort („Mais, dira-t-on,...", 101/5); an der Antwort wird indessen deutlich, daß im Verhältnis Revolutions]ournalist —Volk der Journalist der Belehrende, der Zweifel an der Richtigkeit seiner „Lehren" nicht duldet, und das Volk der Belehrte ist: „En ce cas, repondrons-nous, c'est la nation qui a tort."
2.1.2.3.2.
Text 2: „De la fete de la raison"
2.1.2.3.2.1. Angabe des (selbstdeklarierten) Inhalts/Gegenstands Den Inhalt des Textes zusammenzufassen ist schwierig, weil nicht ohne weiteres zu erkennen ist, was eigentlich sein Kerngedanke ist. Auf jeden Fall handelt es sich um einen Lobgesang des Autors auf die Vernunft — in seinen Augen zu jener Zeit die bedeutendste Errungenschaft der Revolution, mit der sich die französische Revolution über die Revolution in (allen) anderen Ländern erheben würde. Die Vernunft gebiete es, die religiösen Kulte nicht länger zu dulden. In diesem Sinne hätte die Commune von Paris ihre „fete de la raison" veranstaltet. Noch bedeutender als dieses Fest sei allerdings, daß die Kirchen all ihre Gold- und Silberschätze ablieferten und dem Staat als Devisenreserve zur Verfügung stellten. Der Autor deckt in diesem Zusammenhang auf, daß Unbedachtheit und Nachlässigkeit bei der Sequestration zu Betrug und Verlust von Geldreserven geführt hätten.
2.1.2.3.2.2. Beschreibung der Inszenierung des Inhalts
a) Textkomposition
und thematische
Einheiten
Der Text besteht thematisch aus drei Teilen, die untereinander durch ihren Bezug auf die raison einen Zusammenhalt erfahren. Von raison als quasi-philosophischer Kategorie ist im ersten Teil ( 2 1 0 214/Zeile 17) die Rede, von der fete de la raison im zweiten Teil (214 — 216/30) und schließlich von einer eher lebenspraktischen raison, von Vernunft im Umgang mit den Staatsfinanzen, im dritten Teil (216/ 31-218). Der Artikel beginnt mit einer geradezu pathetischen Anrufung der Vernunft: „Graces immortelles soient rendues ä la raison!". Der Lobgesang auf die Vernunft wird in den ersten Sätzen grammatisch durch
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mehrere mis-en-relief-Konstruktionen vom Typ „c'est eile qui..." unterstrichen und schließlich in der Konstruktion „c'est a la raison enfin que nous devons..." mit dem Ausdruck des kollektiven Wir, d. h. der Identifikation (aller) mit dem Prinzip der Vernunft, zusammengeführt. Begrifflich ist die Vernunft Errungenschaft (Vernunft als Resultat der Revolution) und Triebkraft (die Vernunft vereitele Komplotte; sie erhält die Freiheit und Gleichheit usw. — vgl. 210/5 ff.) der Revolution. Vernunft wird vom Autor für die französische Revolution und für Frankreich vereinnahmt. Sie drückte sich im Kampf gegen die Religion und den Klerus aus. Frankreichs historische Größe gegenüber allen anderen Ländern und Revolutionen beweise sich darin, daß Religion und Klerus beseitigt würden. Die Geistlichen, die (potentiellen) Feinde der Revolution (vgl. 211/25 ff.), müßten zur Verfassung bekehrt werden und ihrem Glauben abschwören. Der antiklerikale Status der raison wird als Ideal stilisiert. Sie gibt eine tragfähige Leitidee für einen antiklerikalen gesellschaftlichen Konsens ab, der einen Totalitätsanspruch in Raum, Zeit und Gesellschaft zementiert. Sprachliche Formen dieser Totalität erstrecken sich insbesondere auf die Personal-, Temporal- und Lokaldeixis, auf die Komparation (Superlative) und die lexikalisch-semantische Überhöhung des sprechenden Subjekts. Die mit diesem Text angestrebte Vorgabe eines gesellschaftlichen Konsens drückt sich neben der Verwendung der nows-Formen im Mehrfach-Gebrauch von cbacun (211/46, 212/18) und von tous (212/ 30) aus; auch on erfüllt diese Funktion. Temporale Bezüge der Hypostasierung der Gegenwart werden durch den Gebrauch von jamais (212/34, 43, 215/13, 217/1) und von Einheiten wie „trop long-tems attendu" (214/18) erzeugt. Die Antike, wenige Jahre zuvor noch das Ideal der revolutionären Bewegung, erscheint im Lichte der raison in der Gegenwart nur noch als „mömeries grecques a latines" (214/40); in Raum und Zeit stellt sich die französische Revolution über alle anderen: Frankreich komme es zu, sein Glück zu verewigen (vgl. 211/ 12 f.). Die Verwendung von Superlativen in der Sprachpraxis des Autors ergänzt diese Auflistung: „une des plus belles / seances / qu'on eut jamais" (212/34) „le plus beau don" (213/46) „Mais une marche plus brillante encore, une fete plus imposante, est celle qui se continue depuis plus de quinze jours..." (216/31 ff.). In ihrem Zusammenwirken ergeben diese Formen ein Bild der Absolutheit oder Totalität, über die hinaus es sprachlich kaum noch
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eine Steigerung geben kann. Die Verknüpfung dieser beiden Teile auf der thematischen Ebene (vgl. 214/18 — 22) deutet direkt auf die Funktion des berichtenden Teils in diesem Text hin: die Beschreibung von Details aus der Festinszenierung muß gelesen werden als anschauliche, für die Lebenspraxis des Volkes gültige Explikation des vorher ausgearbeiteten rawon-Verständnisses, als zeit- und revolutionsgemäße symbolische Artikulation von Formen der Identifikation mit den Inhalten der jakobinischen Politik. Es wird die volkstümliche und lebensnahe Dramaturgie des Festes gepriesen, dessen Formen in den Rang des Erhabenen transportiert werden. Lexikalisch-stilistisch wird dieser Text von einem seltsamen Widerspruch getragen. Der Thematisierung von Natürlichkeit, von volkstümlichen und lebensverbundenen Formen des Festarrangements steht eine sakrale, den Ewigkeits-, Unsterblichkeits- und Totalitätsglauben ausdrückende, eine stilistisch anspruchsvolle, gewählte Lexik gegenüber. Außer den erwähnten Einheiten jamais und chacun sind dies u. a.: graces immortelles (210/1), immortaliser (210/12), eterniser (211/13), l'etre supreme (211/46), ce sacrifice (213/2), inebranlable (210/17), fort des principes (213/2), un regard de bienfaisance (211/16), cette grande & eternelle victoire (215/20), le seul temple, le seul autel veritablement digne (212/3), un scbisme (211/7), le sacerdoce (211/ 16), l'amour de la gloire (213/1), l'univers (210/14). Auch die „Entchristlichungskampagne" hatte ihren spezifischen Wortschatz: se depretriser (212/33), se depiscopiser (213/33), se decatholiser (216/41), les pretres refractaires & assermentes (211/28), les pretres constitutionnels (211/31); es ist die Rede von „une satisfaction nouvelle dans l'ame de ceux qui avoient ainsi renonce a leur etat, ä leurs anciennes habitudes" (213/10 — 13). Die im Text dominierenden grammatischen Zeitformen sind passe simple, imparfait, passe compose und das (historische) present. Von besonderer Bedeutung ist indessen, daß in einigen Aussagen das Futur (213/24, 26, 27) steht. Der Autor bedient sich des Futurs, wenn ein für die Gegenwart bereits proklamierter Zustand doch noch nicht im vollen Maße erreicht ist; d. h., seine Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen schwächt er ab, indem er sie in eine in die Zukunft verlegte positive Formulierung kleidet, ζ. B.: „... quel bonheur egaler a celui des franfais? ... ils s'aimeront, ils vivront tranquilles & paisibles sous I'ceil de l'Etre-Supreme" ( 2 1 3 / 2 4 - 2 7 ) . Der dritte thematische Teil wird über eine qualitative Graduierung mit dem Vorhergehenden verknüpft. Es ist von einem Fest die Rede,
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das noch bedeutender und strahlender sei als das „Fest der Vernunft" („une marche plus brillante encore, une fete plus imposante, est...", 216/31 —33). Gemeint ist die Ablieferung der Gold- und Silberschätze der Kirchen und deren Verwaltung durch die jakobinischen Finanzorgane. Die Argumentation des Autors verläuft nach dem bekannten Muster: Verspottung des Klerus, seiner Kulte und des Aberglaubens einerseits und Verherrlichung des Patriotismus und der revolutionären Tugenden Frankreichs andererseits. In diese Polarität der Argumentation stößt der Autor mit einer schwerwiegenden Kritik an den Verantwortlichen der Sequestration der Wertgegenstände, die allerdings vorsichtig und gegenüber den staatlichen Autoritäten immer noch wohlwollend formuliert ist. Angegriffen werden Finanzbeamte und Beauftragte der assemblee constitutante & de la legislative (218/ 13) wegen ihrer Börsenspekulation und Schiebergeschäfte. Hinter der captatio benevolentiae an den Konvent und die Commune von Paris verbirgt sich herbe Kritik an den unzulänglichen Maßnahmen (vgl. 218/5-45). b) Interaktionale Beziehungen Als Indiz für die Herstellung sprachlich-kommunikativer Interaktion zwischen dem Autor und den Rezipienten des Textes können folgende sprachliche Einheiten angesehen werden: — Personenbezeichnungen: „le citoyen Gobel" (212/23); „les pretres" - die Personaldeixis nous, on, notre, nos, cbacun, il, ils — metakommunikative "Wendungen, die den Verbindlichkeitsgrad von Äußerungen verdeutlichen: „il n'y a pas lieu d'en douter" (213/22 f.) - Appellformen: „prenons y garde" (217/47). Die alles beherrschende Beziehung zwischen den politischen Subjekten des November 1793 — den Autor selbst nicht ausgenommen — ist die Einheit aller revolutionär, patriotisch und antiklerikal gesinnten Franzosen. Sie wird im Text auf verschiedene Weise nachdrücklich beschworen; alle anderen Beziehungen sind ihr untergeordnet. Unter den Bedingungen des erreichten nationalen Konsens sind alle abstrakten wie konkreten Werte Gemeingut der Gesellschaft; notre raison, notre volonte, nos idees, nos mceurs, notre revolution, notre amour pour les liberies, notre sol, nos pieces republicaines usw. Das Gemeinschaftsgefühl reicht bis zur kollektiven Abgrenzung von den Unvollkommenheiten der Vergangenheit („notre debonnaire credulite"). Der Autor tritt als Individuum nicht ausdrücklich in Erscheinung. Seine Äußerungen erfolgen im Namen eines kollektiven nous und werden nicht selten mit einer Verbindlichkeit vorgebracht, die
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Zweifel oder Bedenken ausschließen: „Soyons-en bien convaincus" (213/32). Die Beschreibung von Gemütszuständen muß durch ihren Totalitätsanspruch geradezu wie eine Anordnung auf den Leser wirken: „chacun fut honteux d'avoir..." (212/28). Das gleiche gilt für metakommunikative Wendungen, die eindeutig vorgeben, wie aktuelle politische Gegebenheiten zu beurteilen sind: „ce qui doit le plus etonner, n'est pas q u e . . . , mais q u e . . . " (214/13ff.). Aus der solidarischen Gemeinschaft der Bürger des revolutionären Frankreich wird lediglich der Klerus ausgeschlossen, dem die Schuld für alle Niederlagen der Vergangenheit zugeschrieben wird: „Suivons encore la revolution dans ses quatre annees; n'est-ce pas aux pretres que nous devons le fameux camp de Jales, les malheurs de Nimes & tous les desastres du M i d i , . . . " (211/35 ff.). In der Gegenwart kann er dennoch Aufnahme in die nationale Gesellschaft finden, unter der Bedingung, daß er dem christlichen Aberglauben abschwört und sich zur Verfassung bekennt. Ein solcher Schritt wird als geradezu zwingend notwendig dargestellt: „Ce grand exemple [gemeint ist die Entchristianisierung der Gemeinde Ris - J.E./R.M.] ne pouvait pas rester sans effet:..." (212/16). Die Verbrüderung von Angehörigen unterschiedlicher Konfessionen wird in diesem Zusammenhang nachdrücklich gutgeheißen: „Ce fut un beau moment que celui ou deux membres de la convention, ... l'un eveque catholique, l'autre ministre protestant, s'embrasserent a la tribune" (213/13 ff.). Die Gewißheit, daß dieses Beispiel überall und von allen befolgt werden wird, muß wohl auch als Warnung an diejenigen verstanden werden, die sich der Entchristianisierung bislang entziehen: „Ah! si, comme il n'y a pas lieu d'en douter, cet exemple se propage jusqu'aux extremites de la republiq u e . . . " (213/22 ff.). Das Bekenntnis des Autors zum Einheitsgedanken ist nicht nur als Appell an den Leser zu verstehen. Es erfüllt innerhalb des Textes die Funktion, Kritik anbringen zu können, ohne damit den gesellschaftlichen Konsens in Frage zu stellen. Wo der Autor nicht umhin kann, warnend auf Versäumnisse in der aktuellen Politik hinzuweisen, ist diese Kritik durch das vorangehende Bekenntnis zur revolutionären union ideologisch legitimiert. Durch die Verwendung des Imperativs der 1. Person Plural („prenons y garde", 217/48) vermeidet es der Autor auch hier, sich als einzelner zu exponieren.
2.1.2.3.3. Unterschiede in der Inszenierung des Inhalts der Texte Nach der Analyse der beiden Texte liegen die wesentlichen Unterschiede in ihrer Inszenierung offen: Im Vergleich der Texte ergibt sich naturgemäß ein ganzes Bündel von Vergleichsmöglichkeiten und mög-
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liehen Unterschieden, von denen indessen nicht alle für eine Analyse von Sprachpolitik bedeutsam sind. Mit dem Blick auf das Verhältnis der kommunizierenden Subjekte zu den sprachlichen Verhältnissen und insbesondere auf den Eingriff der kommunizierenden Subjekte in die Partizipation anderer Subjekte an den sprachlichen Verhältnissen (vgl. die Fragestellungen im Abschnitt 2) müssen uns vorrangig die in der Inszenierung der Texte angelegten Unterschiede interessieren. Von Interesse sind sie, weil sie Indikatoren für das Verhalten der kommunizierenden Subjekte zu den sprachlich-gesellschaftlichen Verhältnissen sind. Sie geben Auskunft über die bewußte, gleichartige oder modifizierende Reproduktion, von Formen der Sprachpraxis, von Redemustern und von sprachlich-kommunikativen Normen durch die kommunizierenden Subjekte oder Institutionen. In dieser Hinsicht markante Unterschiede zwischen den Texten werden unter den nachstehenden Kriterien zusammengefaßt: 1) Funktion und Stellung des Autors in der Inszenierung Text 1 — beobachtet und analysiert die Gesellschaft — geht der Bewegung voran und kritisiert die Aktivitäten anderer — ist Organisator im Prozeß der Meinungsbildung — vermittelt Wissen über soziale Interessen und bezieht andere in die Koordination der Wissensbestände und Ausprägungen von Wertungen ein
Text 2 - ordnet sich einer Kollektivität unter und spricht in ihrem Namen und in ihrem Auftrag — die Gesellschaftsanalyse ist nicht mehr sein Hauptanliegen, sondern er propagiert einen (auf seine Existenz nicht überprüfbaren) angenommenen Konsens
2) Verhalten des Autors zu den sprachlich- kommunikativen Verhältnissen (Normen, „Mustern") a) Kritik üben und Zweifel artikulieren: Text 1 — erfolgt durch indirektes Ansprechen von Sachverhalten und Personen — mit Ironie und Sarkasmus
Text 2 — es bedarf sprachlich-kommunikativer Verfahren, die die Kritik nicht als solche, sondern in abgeschwächter, teils verhüllter Form erscheinen lassen (Futurformen); Etikettierung des Credos und des Bekenntnisses zu den bestehenden Verhältnissen, um von dieser gewissermaßen vergesellschafteten Position aus, d. h. über verschiedene argumentative Zwischenschritte, Kritik vortragen zu können. — Kritik ist nur auf einzelne Erscheinungen innerhalb eines sonst funktionierenden Systems von Handlungen und Werten gerichtet.
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Sprachpolitik in der französischen Revolution b) Versprachlichung seiner Identität und von Personalität — Zugriff zu direkten und indirekten Personalitätsstrukturen
— Personalität geht in einer Kollektivität oder sogar Totalität auf — Personalität ist eigentlich nicht gefragt, der Autor tritt zurück
c) Inskription der ideologischen Verhältn
im Text
— Versprachlichung von revolutionären Idealen zur Orientierung und Aktivierung der Adressaten
— Verarbeitung des Totalitäts-, Ewigkeits- und Unsterblichkeitsglaubens u. a. mit sakraler Lexik, sog. indefiniten Begleitern („chacun", „tous") im Sinne einer Vereinnahmung aller für den vorgegebenen Konsens und dem diesbezüglichen Handeln
3) Eingriff des Autors in die sprachlich vermittelte Aneignung von Erfahrung -
-
Autor greift bei einer Pluralität von Meinungen in den Erkenntnisprozeß über die gesellschaftlichen Interessen der am Revolutionsfest Beteiligten ein (lexikalisch-semantische Polaritäten, Metaphorik, Ironie etc.) setzt sich mit der Argumentation der Gegner auseinander
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Autor legitimiert die Diktatur der Jakobiner an der Idee der Vernunft und dem „Höchsten Wesen"; Ausbau des gesellschaftlichen Konsens mittels Ausgrenzung und Vereinnahmung von sozialen Minderheiten (Klerus); Zugriff zu religiöser Lexik im jakobinischen Diskurs im Dienste der Entchristianisierungskampagne
2.1.2.3.4. Interpretation der Unterschiede in der Inszenierung der Texte Erste Anhaltspunkte für die Erklärung der Unterschiede in der Textinszenierung finden sich in der Biographie des Eigentümers, Herausgebers und Mitautors der „Revolutions de Paris". Nachdem Prudhomme sich über Jahre hinweg mit seinen Publikationen im Einklang mit den konsequentesten revolutionären Gruppierungen wußte — sie an Radikalität oft noch übertreffend - , änderte sich seine Stellung als Revolutions journalist, als er im Entscheidungskampf zwischen Jakobinern und Girondisten eine vermittelnde Rolle einnahm (vgl. CUNOW 1912, 313 ff.). Im Juni 1793 wurde er zweimal für kurze Zeit inhaftiert, im Juli erschien sein Blatt unregelmäßig und von August bis Ende Oktober gar nicht. In der Nr. 212, (28. 10. 93), die über diesen Zeitraum zusammenfassend berichtete, gibt er gesundheitliche Gründe für die Unterbrechung an: „Une sante extenuee par un travail penible depuis quatre ans, & plusieurs maladies ont ete la cause principale de la suspension de mon journal".
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Die Zeitschrift erschien weiter — mit den oben genannten Veränderungen in der Textinszenierung —, stellte aber schon kurze Zeit später (28. 2. 94) mit der Nr. 225 endgültig ihr Erscheinen ein — wiederum unter Angabe von gesundheitlichen Gründen und unter nachdrücklicher Betonung der persönlichen Verdienste Prudhommes: „J'ai jure de ne cesser mes ,Revolutions de Paris' que lorsque mon pays seroit libre: j'ai tenu parole. Mon pays est libre, puisque les Fran$ais ont jure la liberte, l'egalite, l'indivisibilite". Dagegen ist in Prudhommes 1797 erschienener „Histoire generale et impartiale des erreurs, des fautes et des crimes (!) commis pendant la Revolution franfaise" zu lesen: „J'ai plaide la cause des principes, de la justice et de l'humanite jusqu'au moment ou moi-meme j'ai ete enleve de mon arsenal typographique, et traine en prison le 2 juin 1793. [...] J'ai garde un silence obstine depuis le commencement du gouvernement revolutionnaire. Je ne rougirai meme pas de declarer, dans les six derniers N os de ma Collection, il y a quelques articles que ma conscience m'oblige de desavouer. Ne pouvant plus continuer mon journal sans me deshonorer, je dis dans mon N° 225 ... (s. o.)". Prudhommes Rechtfertigungsversuch ist Ausdruck dafür, wie durch das Zusammenspiel von politischer und sprachlich-kommunikativer Praxis das Verhalten einzelner in zwingender Weise reguliert wird. Der Text vom Juli 1792 läßt einen Autor erkennen, der sich als unabhängiger Beobachter und Mahner in öffentlichen Angelegenheiten begriff, der nicht schlechthin Chronist war, sondern seine Zeit „mitschrieb": „La naissance du journal [gemeint sind die ,Revolutions' - J . E . / R . M . ] " , schreibt R E T A T (1985, 142), „coincide avec celle d'une ere nouvelle; sa vocation est de la mesurer et de la scander." Im Kampf um die öffentliche Meinung strebte der Revolutionsjournalist danach, den Lesern seine Sicht auf die revolutionären Ereignisse aufzuzwingen. Er handelte mit sichtlichem politischem Engagement, ohne bereits im engeren Sinne „parteigebunden" zu sein. Die Stellung des Journalisten, die Funktion des politischen Journalismus überhaupt änderten sich im Gefolge der Errichtung der Jakobinerdiktatur. J. G U I L H A U M O U (1985) beschreibt, wie sich im Umfeld der Fete de l'union vom 10. 8. 93 die auch an unserem Text zu beachtende personale Struktur wandelte: das nous (der Autor im Namen einer revolutionären Vorhut) und das vous (die revolutionären Volksmassen) verschmolzen zu einem nous unitaire. Die Aufgabe des Journalisten bestand fortan in der Beschwörung dieser Einheit. Der Autor geht nicht mehr der Bewegung voran, er ist ganz in ihr aufgegangen und spricht im Namen aller zu allen. Erst
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von dieser Position aus war es legitim, auch warnend auf Mißstände hinzuweisen. Bei diesem Modus der Textinszenierung handelt es sich um die der revolutionären Diktatur der Jakobiner angemessene Form des politischen Diskurses im Spannungsfeld von revolutionärer union und terreur. Offenbar war das im Text bekräftigte Gemeinschaftsgefühl - im Sinne der Marxschen „heroischen Illusion" (vgl. K O S S O K 1 9 8 6 ) — zumindest zum hier in Frage stehenden Zeitpunkt, tief in den revolutionären Massen verwurzelt. In der Geschichtswissenschaft wird allerdings auch zu bedenken gegeben, daß mit der Verengung der jakobinischen Herrschaft die Notwendigkeit zu deren ideologischer Sublimierung wuchs ( K O S S O K 1 9 8 6 , 4 2 1 ) . Was im Falle der „Revolutions de Paris" den Ausschlag für den Wechsel in der Diskursstrategie gegeben hat, ob wohldurchdachter Opportunismus oder tatsächliche Identifizierung mit den proklamierten Idealen, kann hier nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Tatsache ist, daß sich der Umschwung nicht konfliktfrei vollzog. Der Herausgeber Prudhomme, der lange Zeit unbestritten zur revolutionären Vorhut gehörte, konnte den Übergang zur Jakobinerdiktatur nicht mehr mitvollziehen. Gezwungenermaßen paßte er sich den neuen Normen für die Inszenierung journalistischer Texte an, da er — aus welchen Gründen auch immer (politisches Engagement, Dabeisein-Wollen, ökonomische Interessen...??) — die Herausgabe der Zeitschrift fortsetzen wollte. Sein Beispiel zeigt aber auch, daß das Zusammenspiel der politischen Hegemonieverhältnisse mit den sprachlich-kommunikativen Verhältnissen nicht in einseitig determinierender Weise gesehen werden darf. Der Anpassung an die veränderte sprachpolitische Situation wohnte im vorliegenden Fall zumindest ein Moment der Reflexion inne. Der Autor war sich der neuen Lage durchaus bewußt, wenn er in der Nr. 216 (ebenfalls vom November 1793) äußert: „Nos legislateurs ont bien senti que dans les circonstances oü nous nous trouvons,... il ne falloit pas permettre a tout le monde indistinctement... de tenir toutes sortes de langages." In anderen Fällen dürfte sich der Wandel in der Textinszenierung bruchlos vollzogen haben, etwa wenn die Autoren unmittelbar in die revolutionären Ereignisse verwickelt waren und die Veränderungen in der Sprachpolitik als die folgerichtige Konsequenz ihres eigenen (politischen) Handelns begriffen. Im Einzelfall ist es kaum möglich, dieses Bedingungsgefüge aufzuhellen.
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2.1.2.4. Jakobinische Sprachpolitik in der Sprachpraxis des Journalismus Die Regelung der sprachlichen Inszenierung einer politischen Praxis ist im Unterschied etwa zur Politik gegenüber den Minderheitensprachen weniger eine bewußt betriebene Sprachpolitik, sondern eher eine Sprachpolitik, die sich „hinter dem Rücken" der politischen Subjekte durchsetzt. Die vergleichende Analyse diskursiver Praktiken erfordert daher die Einbeziehung von Faktoren, die von den Handelnden in erster Linie als politische Akte verstanden wurden, die aber — ungewollt — auch eine sprachpolitische Dimension haben. Sprachpolitisch bedeutsam in diesem Sinne war der Appell des Staatsrats vom 5. Juli 1788 an alle „savants et personnes instruites", ihre Vorschläge zur Lösung der Finanzkrise zu unterbreiten. Erstmals im Ancien Regime konnten sich damit antimonarchistische Kräfte legal öffentlich äußern — tatsächlich wurde in der überwiegenden Mehrheit der diesem Aufruf folgenden Veröffentlichungen (ca. 90%; vgl. B E L L A N GER u. a. 1969, 410) die Politik des Königs kritisiert. Spätere Versuche, den Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung wieder einzudämmen, ζ. B. im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Sitzungen der Generalstände, blieben weitgehend erfolglos. Das Ancien Regime verfügte am Vorabend der Revolution nicht mehr über die Macht, Reglementierungen mit (auch) sprachpolitischem Charakter durchzusetzen. Nachdem sich bereits in der Aufklärung Kräfte zu Wort gemeldet hatten, die von den offiziell zugelassenen Meinungen abwichen, und nachdem in den „Cahiers de doleances" nicht mehr nur untertänige Bitten, sondern auch selbstbewußte Forderungen an den Monarchen gerichtet worden waren, verlor die absolutistische Monarchie nun auch ihr Publikationsprivileg in jener Sphäre, in der am unmittelbarsten über Politik kommuniziert wird — in der periodischen Presse. Die Zeit von Juli 1789 bis August 1792 war hinsichtlich der Sprache der politischen Presse von sprachpolitischem Liberalismus bestimmt, der in der Übersetzungspolitik sein regionalsprachiges Korrelat fand. Die Beziehungen zwischen politischen Parteien und politischen Sprechern blieben zunächst lose und veränderlich. Im Bereich der Presse zeigte sich das an einer hohen Zahl von Zeitungsneugründungen (die Neugründungen allein des Jahres 1789 übertreffen die Steigerung im Jahrzehnt von 1 7 7 0 - 1 7 7 9 - R E T A T 1988, 155) und an der Kurzlebigkeit der meisten von ihnen: Von den für 1789 ermittelten 135 Zeitungsgründungen in Paris bezeichnet R E T A T (ebd.) 89 als sehr kurzlebig, 15 als kurzlebig (länger als 2 Monate erschienen und min-
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destens 20 Ausgaben) und nur 31 als langlebig. Erst allmählich fanden die politischen Gruppierungen ihre „legitimen" politischen Sprecher. Der Artikel aus den „Revolutions de Paris" vom Juli 1792 belegt, wie nachdrücklich in dieser Zeit um Parteigänger geworben und der politische Gegner bekämpft wurde. In der politischen Unentschiedenheit der Revolution bis zum Sommer 1792 verfügte noch keine Kraft über die Macht, korrigierend in die Pluralität politischer Diskurse einzugreifen. Der Ausschluß konkurrierender Meinungen konnte im Grunde nur über die Wirksamkeit der eigenen sprachlichen Darstellungen erfolgen. Nach dem 10. August 1792 stellen die meisten royalistisch eingestellten Blätter ihr Erscheinen ein, ohne daß mit der Gefangennahme des Königs ein Verbot der ihm nahestehenden Presse einhergegangen wäre. (Ein solches erfolgte erst im Dezember 1792 und wurde im März 1793 im Dekret über die Pressedelikte bekräftigt.) Ausschlaggebend für das abrupte Ende der monarchistischen Presse war das Bewußtsein von der Endgültigkeit der erlittenen Niederlage und die Furcht vor der politischen Abrechnung: tatsächlich wurden eine Reihe von Journalisten verhaftet und die Ausrüstung ihrer Druckereien republikanischen Zeitungen übereignet (vgl. B E L L A N G E R U. a. 1969, 502 f.). Die Ausschaltung einer politischen Kraft zog unweigerlich und unmittelbar ihren Ausschluß aus der öffentlichen Kommunikation nach sich, ohne daß es erst einer speziellen gesetzlichen Verordnung bedurfte. In dieser Weise endete dann Anfang Juni 1793 auch die Presse der Gironde (ebd., 503 f.). Die Machtübernahme durch die Jakobiner bedeutete schließlich die völlige Aufhebung der relativen Autonomie der kommunikativen Verhältnisse gegenüber den politisch hegemonischen Kräften. Das Selbstverständnis der Revolutionsjournalisten als unabhängige Beobachter und Mahner in politischen Angelegenheiten war den Bedingungen des Kampfes der Jakobiner um die Macht angemessen; dagegen schlossen die Kampfbedingungen der Jakobiner an der Macht (Notwendigkeit der Mobilisierung aller Franzosen, innere und äußere Bedrohung) aus, daß sich neben dem jakobinischen Diskurs zur Beschwörung der revolutionären Einheit des ganzen Volkes oppositionelle oder auch nur unabhängige Kräfte artikulierten. Es wäre indessen verfehlt, den jakobinischen Diskurs auf seinen Zwangscharakter reduzieren zu wollen. Wir betrachten diesen Diskurs als das folgerichtige Ergebnis revolutionärer Politik und als ein Mittel zur Sicherung dieser Politik. Er entsprach zunächst dem Enthusiasmus der Massen und hatte eine mobilisierende Wirkung im Sinne einer Vertiefung der Revolution.
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Die sprachpolitische Situation änderte sich, als im Frühjahr 1794 die Begeisterung verflog, als „die Revolution erstarrte" (Saint-Just): „Was sprang dabei für den gemeinen Mann schon heraus? Noch mehr großartige Reden, neue schöne Worte und undurchschaubare Gesetze?" (MARKOV 1982, 4 2 6 ) .
Als die einmal etablierte diskursive Praxis ihre Wirkung nicht mehr aus sich selbst heraus bezog, wurde sie gewaltsam aufrechterhalten. Die sprachlichen Muster des jakobinischen Diskurses „erstarrten" und waren nur noch Makulatur für die breiter werdenden Risse im „antifeudalen Block". Jakobinische Sprachpolitik fand ihre extremste Zuspitzung im Einsatz der Guillotine (Hinrichtung der Journalisten Desmoulins und Hebert im Frühjahr 1794).
Anhang (zu 2.1.2. Diskursregelung in der jakobinischen Sprachpolitik) Text Nr. 1: aus «Revolutions de Paris», Nr. 158, 1 4 . - 2 1 . Juli 1792, S. 9 7 - 1 0 6 (97) Fete commemorative du 14 juillet Ii y avoit bien de genereux projets d'une part, bien de coupables esperances de l'autre, pour le jour de la fete du 14 juillet 1792; ni les uns ni les autres n'ont ete realises: tout s'y passa a peu pres comme jadis aux fetes d'etiquette de la cour. Le roi se rendit le premier au lieu de la ceremonie, (98) avec une escorte, digne plutot d'un despote d'Asie que du chef d'un peuple libre; il se dedommagea bien du licenciment de sa garde: au lieu de 1800 hommes armes, il etoit accompagne de 5 a 6000. Ses ministres, comme autant de valets de pied, etoient aux portieres du carosse de leur maitre. Ii s'enferma dans l'ecole militaire jusqu'a l'instant du serment, au lieu de se joindre a l'assemblee nationale &c de sortir ensemble des Tuileries pour aller a pied a l'autel federatif. Mais le monarque, qui herisse sa demeure de grilles & de baionnettes, n'est pas homme a marcher environne des citoyens. Louis XVI voulut eviter apparemment d'avoir tout le long de la route la gauche du president du corps legislatif. (...) (99) ^ Dans maints endroits du champ federatif, au moment du serment, nous avons vu des gens en extase; nous avons entendu des voix
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41 s'ecrier: «Le voyez-vous! le voyez-vous! le voila qui met la main sur 42 l'evangile national; le voila qui agite son chapeau en Pair; je le (100) 1 reconnais bien a son cordon rouge. C'est lui-meme, c'est Louis XVI, 2 c'est bien le roi. Nous seroit-il rendu? Puisse-t-il cette fois etre sin3 cere»! 4 Et que vous importe, bourgeois imbeciles? quel si grand prix attachez5 vous done au suffrage d'un individu? Tout seroit done perdu; la 6 constitution fran$oise seroit done detestable, si eile avoit le malheur 7 de deplaire a Louis XVI, s'il se refusoit a prononcer ces trois mots: 8 «Je le jure»? A vous entendre, il semble vous faire une grace en 9 daignant toucher l'autel de la patrie, confondu parmi nous, qui aurions 10 du peut-etre en interdire 1'acces a un monarque inhospitalier qui nous 11 ferme la porte de ses jardins, & nous refuse passage a travers son 12 chateau. 13 Volontaires des departemens, qui etes alles vous plaindre a l'assemblee 14 nationale des mauvais traitemens qu'on vous fit essuyer dans les 15 Tuileries, le lendemain meme de la federation; le corps legislatif passa 16 a l'ordre du jour sur vos plaintes, Sc fit bien. Qu'alliez vous faire la? 17 D'apres tout ce que vous savez de ceux qui habitent ce chateau, la 18 curiosite devoit-elle vous exposer a vous trouver face a face de 19 Medicis-Antoinette? La patrie est en danger, & vous perdez vos 20 momens a vous promener sous les fenetres de ceux qui ont mis la 21 patrie dans le danger ou eile est. Le mepris et l'indignation n'ont 22 point detourne vos pas de ce foyer impur de contre-revolution! 23 Nous ferons le meme reproche aux deputes, qui, pour abreger leur 24 chemin, se hasardent de traverser le jardin des Tuileries; eh! messieurs, 25 prenez le plus long, plutot que d'honorer de votre presence un lieu 26 hante par les courtisans les plus vils, par les intrigans les plus bas, 27 par ce que la France a produit de plus corrompu & de plus malfaisant. 28
(...)
29 Mais retournons au champ de la federation, & disons: Citoyens, ne 30 vous imaginez pas etre libres, ou dignes de l'etre, tant que, dans nos 31 solennites nationales, la pre1 2 3 4 5 6
(101) sence du chef du pouvoir executif fera plus de sensation que celle du premier huissier de l'assemblee nationale, tant que l'epouse du roi aura une place marquee audessus des autres citoyennes de l'empire. Mais, dira-t-on, cette observation porte a faux, si eile tombe sur la fete derniere. Marie-Antoinette etoit a sa fenetre, comme toute autre bourgeoise.
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En ce cas, repondrons-nous, c'est la nation qui a tort. Pourquoi a-telle adjuge au pouvoir executif, dans le nombre de ses dependances, un palais qui paroit appartenir au champ federatif, 8c devoit etre reserve pour y donner l'hospitalite aux envoyes des nations voisines, quand elles auront reconnu notre souverainete? (...)
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C'est la premiere fois que le peuple s'avise de porter parmi les objets de son culte une presse d'imprimerie. II manquoit une charrue. Une charrue, une presse & une pique! quelle grande Ιεςοη donnee au monde! un peuple agricole, instruit & arme, est libre, en depit de tous les despotes de la terre coalises pour le rendre esclave. (...)
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(105) On remarqua beaucoup trop de femmes de ce genre, dont plusieurs etoient completement armees. La sage antiquite nous represente bien quelquefois Pallas debout & une pique a la main; mais les femmes de la Grece &C de Rome avoient le bon esprit de ne sacrifier aux autels de Minerve que quand leur patronne y etoit representee assise &C tenant une quenouille. (...)
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(106) Ainsi se passa le troisieme anniversaire du 14 juillet. Vu les circonstances, la surveille du jour ou la patrie fut declaree etre en danger, & en la presence des principaux auteurs de ce danger, dans un concours de monde aussi prodigieux, &C qui, ce semble, devroit etre susceptible d'enthousiasme, nous avouerons n'avoir pas trouve ce degre d'energie que nous aurions desire rencontrer chez une nation qui se propose de faire les destinees de l'Europe. Nous attendions davantage de la journee du 14 juillet 1792; nous y avons vu une fete belle, paisible, fraternelle, mais qui ne fut caracterisee par aucun grand trait capable d'en imposer aux ennemis nombreux de notre liberte.
Text Nr. 2: aus «Revolutions de Paris», N r . 215, 1 3 . - 2 0 . 11. 1793, S. 2 1 0 - 2 1 8
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(210) De la fete de la raison Graces immortelles soient rendues a la raison! C'est elle qui a fait germer les principes depuis long-temps dans les tetes pensantes, & qui a fraye la route a la revolution de 1789; c'est elle qui a etabli 1'egalite sur les debris du trone, a la journee du 10 aoüt; c'est elle qui a dejoue les complots des federalistes, &c maintenu la liberte &
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l'egalite, en maintenant l'indivisibilite de la republique. C'est a la raison enfin que nous devons l'epurement de nos moeurs, la rectification de nos idees. &c tous les sages decrets, toutes les belles institutions qui ont immortalise quatre annees de revolution. Mais un grand triomphe manquoit encore a la religion & a la liberte, un triomphe sans lequel tous leurs brillans edifices n'etoient assis que sur du sable. L'univers, depuis qu'on a ecrit son histoire, a eprouve d'importantes revolutions morales & politiques. D'ou vient qu'aucune de ces revolutions n'a pu rendre la liberte inebranlable comme le roc. Les grecs, dans toutes les contrees qui formoient leur pays ont chasse les tyrans: le gouvernement republicain les a parcourues toutes. (...) (211)
(...) Heureuse Amerique, elle ne connoit aucun culte dominant ni public! Les pretres ne sont rien aux yeux de son gouvernement, & s'il lui reste encore quelque pas a faire, du moins eile a franchi deja un espace immense. II appartenoit a la France, d'encherir sur tous ces modeles pour eterniser son bonheur; tant que le regne des pretres eüt dure, sa revolution n'eüt ete qu'un ouvrage ephemere, a-peu-pres semblable a la revolution du Brabant, dont nous avons ete temoins. Le sacerdoce de quelque culte que ce soit est comme une araignee, en vain vous brisez a droite, ä gauche & a plusieurs reprises les toiles ou elle veut enchainer sa proie, de nouveaux pieges succedent aux premiers; ... (212)
(...) Le citoyen Gobel alia done, accompagne de ses grands vicaires, abjurer, au sein de la convention, toutes les heresies que les pretres avoient prechees depuis dix-huit cents ans contre la loi, & contre la religion naturelle. Son discours electrisa toutes les ames. Chacun fut honteux d'avoir ajoute foi a tant d'impostures bizarres & visiblement absurdes; on fut bien plus honteux de les avoir enseignees, & tous les pretres de la convention (& il y en avoit beaucoup) abjurerent leurs erreurs, eurent l'honneur, quoique tardif, de se depretriser, de se depiscopiser. Cette seance fut une des plus belles que 1'on eut jamais. Elle porta le dernier coup au fanatisme, cet implacable ennemi de la liberte, &c elle le porta sans effort, sans violence, avec un enthousiasme, pour ainsi dire, reflechi qui n'appartient point aux passions, a l'imagination, mais a la raison qui rentre dans son domaine usurpe, & qui s'applaudit elle raeme du bonheur qu'elle procure aux humains. Dans toutes les assemblees nationales qui se sont succedees jusqu'a ce jour, on n'a jamais vu qu'une seule scene aussi touchante, ... (...)
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(213)
20 21 22 23 24 25 26 27
Plusieurs fois le meme spectacle s'est renouvelle a la commune, ou des rabins, des ministres &c des pretres se sont pareillement rencontres ensemble. Ah! si, comme il n'y a pas lieu d'en douter, cet exemple se propage jusqu'aux extremites de la republique, quel bonheur egalera celui des franfais? Rendus aux idees saines de la nature, ils s'aimeront, ils vivront tranquilles & paisibles sous l'oeil de TEtre-Supreme; ils seront heureux, en ne se prescrivant que des devoirs imposes par la nature, ... (...)
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Pour celebrer ce triomphe de la raison, trop longtems attendu, le departement & la commune de Paris statuerent qu'il y auroit trois jours apres, c'est-a-dire, le decadi suivant, une fete patriotique. Dans la ci-devant eglise metropolitaine de Paris, un peuple immense s'y rendit. On y avoit eleve un temple d'une architecture simple, majestueuse, sur la facade duquel on lisoit ces mots: a la philosophie; on avoit orne l'entree de ce temple des bustes des philosophes qui ont le plus contribue a Pavenement de la revolution actuelle, par leurs Iumieres. (...)
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Cette ceremonie n'avoit rien qui ressemblät a ces momeries grecques & latines; aussi alloit-elle directement a 1'ame. Les instrumens ne rugissoit point comme les serpens des eglises. Une musique republicaine, placee au pied de la montagne, executoit, en langue vulgaire, l'hymne que le peuple entendoit d'autant mieux, qu'il exprimoit des verites naturelles & non des louanges mystiques & chimeriques. Pendant cette musique majestueuse, on voyoit deux rangees de jeunes filles, vetues de blanc
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& couronnees de chene, descendre & traverser la montagne, un flambeau a la main, puis, remonter dans la meme direction sur la montagne. La liberte, representee par une belle femme, sortoit alors du temple de la philosophie, &c venoit sur un siege de verdure, recevoir les hommages des republicains &C des republicaines, qui chantoient une hymne en son honneur, en lui tendant les bras. (...) (216)
Mais une marche plus brillante encore, une fete plus imposante, est celle qui se continue depuis plus de quinze jours, & qui ne sera terminee sans doute de sitot, c'est cette offrande unanime de tout 1'or, de toute l'argenterie, de tous les ornamens des eglises. Chaque section
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se fait un honneur d'aller deposer sur l'autel de la patrie les depouilles opimes de la superstition, & la convention ne sait ce qu'elle a le plus a admirer, ou la magnificence des dons ou le zele du patriotisme. Les communes voisines de Paris, grossissent a l'envie ce beau cortege, & deja tout le departement de Paris est decatholise. (...)
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La Convention & la commune ont bien senti la necessite de conserver ce depot intact jusqu'a la paix, jusqu'a I'epoque de l'emission du numeraire; elles ont entoure les agens de la monnoie d'une foule de surveilleurs & d'hommes choisis; elles ont multiplie les precautions; mais, selon nous, la premiere des precautions 8c la plus sure, de toutes, .est de changer tous les principaux agens de la monnoie. Ce sont ces hommes qui s'entendoient avec les comites des finances de l'assemblee Constituante & de la legislative, pour soutenir 1'agiotage; ce sont eux qui en antidatant les louis & les ecus, en ont fourni une mine entiere a la cour, qui les faisoit passer aux emigres; ce sont eux qui, non-seulement depuis l'etablissement de la republique, mais merae depuis la mort du tyran, ont frappe encore des pieces a son image, pour en eterniser le souvenir, & pour preparer la voie a la contrerevolution. Nous savons bien que les mesures revolutionnaires epouvantent de tels hommes, & que le bien qu'ils ne font par probite, ils le font par terreur; ... (...)
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...; songeons aussi qu'il ne suffit pas que ces agens ne volent point, qu'il faut etre sür encore que toutes leurs operations s'executent dans la reforme des monnoies, avec cette exactitude, cette precision rigoureuse qui doit faire, de notre systeme monetaire, le regulateur de tous les systemes de I'Europe, & le passe peut-il nous donner de la securite pour 1'avenir? Que la raison enfin preside a l'emploi de ce metal, comme eile a preside a son enlevement.
(218)
2.1.3. Die Revolution und die Norm(en) des Französischen Hat die Revolution das Französische und die seinen Gebrauch regelnden Normen spürbar verändert? Folgt man den sprachpolitischen Deklarationen dieser Epoche, dann müßte die Frage bejaht werden: Sie lassen das Vorhaben erkennen, die Sprache auf allen Ebenen zu „revolutionieren" 3 0 und sie als langue de la liberie allen Bürgern 30
So fordert es GREGOIRE (1794, 2 1 2 ) ; dazu ausführlicher im Abschnitt 2 . 1 . 3 . 6 .
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zugänglich zu machen. Der konservative Sprachkritiker La Harpe sah denn auch in den Wörtern der Revolutionszeit eine Monstrosität 3 1 und bemühte sich um die Wiederherstellung von Ordnung. Mit dem Vorsatz, „Ordnung zu schaffen", waren aber auch die Revolutionäre von 1789 angetreten 32 , und die Sprache war von der allgemeinen Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ausgenommen. Wenn im folgenden tatsächliche oder angestrebte Veränderungen des Französischen in der Revolution erörtert werden, so wird dabei ein weiter Normbegiff zugrunde gelegt, der nicht allein auf grammatische Richtigkeit fixiert ist, sondern auch berücksichtigt, daß in bestimmten Situationen bestimmte Dinge zu sagen (bzw. nicht zu sagen) sind und daß die sprachlich-kommunikativen Normen in einer Wechselbeziehung mit den sozialen Normen stehen. 33
2.1.3.1. „mettre de l'ordre dans un chaos" Auf den ersten Blick mutet das Ordnungsstreben überraschend an. Frankreich konnte im ausgehenden 18. Jahrhundert bereits auf eine lange Tradition bei der Normierung und Kodifizierung des Französischen zurückblicken. Dank der Bemühungen von Schriftstellern, Grammatikern und normierenden Institutionen um den Bon usage war das Französische (auch jenseits der Grenzen Frankreichs) zu einem mustergültigen Kommunikationsinstrument geworden — nicht zuletzt dadurch, daß es nicht nur die Sprache des Hofes, sondern auch die der Aufklärung war. Insofern kann von „Chaos" keine Rede sein. Tatsächlich erfuhren die stabileren Ebenen des Sprachsystems nur geringe Veränderungen. Im phonetischen Bereich wird in diesem Zusammenhang meist darauf verwiesen, daß die Aussprache des Diphthongs /ob/ als /wa/ nunmehr zur Norm wurde, wie offenbar auch einige Veränderungen in der Syntax der Revolution zugeschrieben werden können ( B A L I B A R / L A P O R T E 1974, 171 ff.).
31
„la revolution, du moment ou les Jacobins s'en sont empares, a ete une conspiration publique, formee par des monstres contre la nature humaine, sous tous les aspects possibles, et voila le premier phenomene: tous les autres en ont ete la suite et analogues au premier. Les mots comme les choses ont ete des monstruosites. J'appelle monstruosite tout ce qui n'avait aucun exemple dans les faits connus jusque-la" (LA HARPE 1 7 9 7 , 18).
32
Vgl. BRUNOT 1937 (IX/1), 75: „mettre de l'ordre dans un chaos".
33
Im Sinne von HÄRTUNG 1984.
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Wesentlich umfangreicher sind die Auswirkungen der Revolution auf den Wortschatz. Zahlreiche Neubildungen, vor allem im politischideologischen und im administrativen Bereich, wurden notwendig.34 Bei der Bildung von Neologismen sollte nun in der Tat „Ordnung" geschaffen werden, wenn etwa Gregoire (1794, 214) fordert: „faire disparoitre toutes les anomalies resultantes soit des verbes irreguliers ou defectifs, soit des exceptions aux regies generales." In sprachpolitischer Hinsicht noch brisanter war der Streit um den abus des mots, der auch schon ein zentrales Thema in der Sprachdiskussion der Aufklärung gewesen war. Die einander bekämpfenden politischen Gruppierungen strebten danach, jeweils ihre Ideen in die vagen Bedeutungen der Wörter einzuschreiben und dem Gegner Wortmißbrauch nachzuweisen. Die Diskussion um die justesse des mots fand nicht nur in Wörterbüchern und Sprachzeitschriften statt, sondern auch in Parlamentsreden und in der politischen Presse. Für die Normproblematik ist der Streit um Wörter und Sachen auch in folgender Hinsicht interessant: Gestritten wurde vor allem um die Bedeutung von Wörtern aus der Sphäre der Politik, die folglich überwiegend aus dem Standardregister stammten. Neue Wörter wurden in der Regel nicht dem Substandard entliehen, sondern normgerecht, unter strikter Befolgung der Analogie gebildet. Der Wortschatz der Volkssprache stand bei der Diskussion um Wortbedeutungen und deren Fixierung in den Wörterbüchern der Revolutionszeit (vgl. S C H L I E B E N - L A N G E 1 9 8 5 ) im Grunde nicht zur Diskussion. Das klassische Normfranzösisch bildete weiterhin (wie schon im Ändert Regime) eine Sprachbarriere: — Es hatte in den Regionen des Landes unterschiedliche Verbreitung gefunden (vgl. dazu die Ausführungen im Abschnitt 2.1.1.). — Es wurde von entscheidenden Akteuren der revolutionären Bewegung, den nichtprivilegierten Angehörigen des Dritten Standes in Stadt und Land, nicht oder nur unvollkommen beherrscht. — Die alten sozialen Ungleichheiten waren in die alte hochsprachliche Varietät eingeschrieben, womit diese zwangsläufig in einen Widerspruch zur proklamierten Gleichheit aller Bürger geraten mußte. Unter den beiden letztgenannten Gesichtspunkten soll hier die Problematik „Revolution und sprachlich-kommunikative Normen" diskutiert werden: „il fallait imperativement regier les rapports entre la nation et ses representants, choisir comment s'adresser au peuple et
34
Beispiele unter anderem bei SERGIJEWSKI (1979, 210 ff.).
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le gagner a la bonne cause, et, en fonction des transformations sociales qu'on voulait operer, decider de la place qui revenait a l'art de parier dans les projets d'education" ( S E R M A I N 1 9 8 6 , 1 4 7 ) . 2.1.3.2. „Comment appeler le Roi?" Die Veränderung der Höflichkeits- und Anredeformen gehört zu den offensichtlichsten Auswirkungen der Revolution auf die Sprache. Keine andere Normveränderung führte den Zeitgenossen die Tiefe und Radikalität der vor sich gehenden Umwälzungen deutlicher vor Augen. Die lebhafte öffentliche Diskussion dieser Veränderungen (vgl. Anhang zu 2.1.2., Texte I —III) wurde unmittelbar mit den entscheidenden politischen Fragestellungen verknüpft: mit der Zurückweisung des königlichen Anspruchs auf göttliche Gnade (1/28 ff.), mit dem Übergang der Souveränität vom Monarchen auf die Nation (1/38 f., 46 ff.) und mit der Herstellung der Menschen- und Bürgerrechte (24 f.). Gefordert wurde die Abschaffung der alten sinnentleerten Formeln im Umgang mit dem König (1/28 f.); die alten sprachlichen Rituale wurden als Ausdruck nicht mehr zeitgemäßer Servilität (1/31) und geistiger Sklaverei (1/41) gewertet. Zu den Bürgern müsse man nunmehr wie zu freien und vernünftigen Menschen sprechen (1/33 f.). Die neuen Anrede- und Höflichkeitsformen müssen als Element eines allgemeinen Uniformierungsprojekts im revolutionären Frankreich verstanden werden. Ebenso wie Raum und Zeit (vgl. S C H L I E B E N L A N G E 1 9 8 7 ) wurden auch die sozialen Beziehungen und die Formen ihrer Versprachlichung nach 1789 einer uniformierenden Neuordnung unterworfen. Der König verlor im Bewußtsein der Zeitgenossen seine Rolle als „gütiger Vater" (bon pere) aller Franzosen; die ehemaligen Untertanen organisierten auf der Grundlage der fraternite ihre sozialen und kommunikativen Beziehungen neu (vgl. H U N T 1 9 8 8 ) . Begonnen hatte der Verfall der sprachpolitischen Autorität des Monarchen schon vor dem Juli 1789. Er wird besonders deutlich an Kommunikationsereignissen, die mit den ungelösten Problemen des Ancien Regime (drohender Staatsbankrott, Agrarkrise usw.) zusammenhingen: — Am 5. Juli 1788 erließ der Staatsrat einen Aufruf des Königs, in dem dieser alle Gebildeten bittet, ihre Vorschläge zur Lösung der Finanzkrise zu unterbreiten: „Sa majeste invite [...] tous les savans et personnes instruites de son royaume [...] a adresser a Μ. le Garde des Sceaux tous les renseignements et memoires sur les objets contenus au present arret." In 90% der daraufhin veröf-
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fentlichten Streitschriften wurde die Politik des absolutistischen Staates kritisiert (vgl. BELLANGER u.a. 1 9 6 9 , 408ff.). — Im „Reglement general" vom 2 4 . 1 . 1 7 8 9 wünscht der Monarch, daß ein jeder ihm seine Beschwerden mitteile: „Sa majeste a desire que ... chacun fut assure de faire parvenir jusqu'a Elle ses vceux et ses reclamations." Die entsprechenden Antworten in den „Cahiers de doleances" reichten von unterwürfigen Bitten bis zu apodiktischen Forderungen. Adressat der Beschwerden war nicht mehr allein der König, sondern auch die Abgeordneten der Ständeversammlung, die damit neben ersterem als eine zu Veränderungen fähige und befugte Kraft angesehen wurden (vgl. SLAKTA 1 9 7 1 ; ZIMMERMANN
1981).
— Nach dem Ballhausschwur wurde dem Monarchen nicht nur offen widersprochen, sondern auch wider seine Befehle gehandelt. In der Sitzung vom 23. 6. wies Graf Mirabeau im Namen der Abgeordneten des Dritten Standes die vom königlichen Zeremonienmeister überbrachte Forderung zurück, auseinanderzugehen: „Messieurs, vous avez entendu les ordres du roi? — Nous sommes ici par la volonte du peuple et nous n'en sortirons que par la force des bai'onnettes." 35 Die in der Folge rasch fortschreitende Auflösung der alten sprachlichkommunikativen Beziehungen zwischen dem König und den Bürgern läßt sich auch aus der sprachlichen Behandlung der Person Ludwig XVI. in der politischen Presse ablesen, die zu den wichtigsten Verbreitungsinstanzen für sprachliche Normen der Revolutionszeit gezählt werden muß. So ist in der Berichterstattung über die offiziellen Feierlichkeiten zum 3. Jahrestag der Revolution im konservativen „Journal de Paris" (Ausgabe vom 15. 7. 1792) noch respektvoll von „le Roi, la Reine, le Prince royal, leur famille & leur suite" die Rede; in den radikalen „Revolutions de Paris" hingegen kommt der bürgerlich-konstitutionelle Charakter der Revolution in den respektlosen Bezeichnungen „chef du pouvoir executif" für Ludwig und „l'epouse du roi" für Marie-Antoinette zum Ausdruck. Weiterhin wird im „Journal de Paris" die begeisterte Zustimmung des ganzen Volkes zum königlichen Verfassungseid herausgestellt („le serment constitutionnel aux acclamations de tout le Peuple"), womit die traditionelle Bindung zwischen Volk und König („l'attachement pour le roi") neu gestärkt werden soll, während der zeitgleiche Artikel aus den „Revolutions de Paris" gerade darauf abzielt, den Dissens zwischen König 35
Vgl. BALIBAR (1985 b, 117f.); dort auch zu den Varianten bei der schriftlichen Überlieferung der Episode.
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und Volk zu vertiefen: „Et que vous importe, bourgeois imbecilles? Quel si grand prix attachez vous done au suffrage d'un individu? Tout seroit done perdu; la constitution fran$oise seroit done detestable, si eile avoit le malheur de deplaire a Louis XVI, s'il se refusoit a prononcer ces trois mot: J e le jure'?" Mit den neuen sprachlichen Umgangsformen geben diejenigen, die sich ihrer bedienen, zu verstehen, daß Ludwig nicht mehr als Herrscher über Frankreich und die Franzosen angesehen wird, sondern nur noch als Oberhaupt der Familie Capet (vgl. Anhang, 11/61), vergleichbar jedem anderen bürgerlichen Familienvater. Parallel zur allmählichen Verdrängung des Königs aus dem Zentrum der gesellschaftlichen Kommunikation (er befiehlt nicht mehr, sondern wünscht und bittet; ihm wird widersprochen, er wird respektlos angesprochen und bezeichnet und schließlich aus der nationalen Kommunikationsgemeinschaft ausgegrenzt) ändert sich der Charakter der sprachlich-kommunikativen Beziehungen zwischen den Bürgern. Es entwickeln sich neue sprachliche Konventionen, die Bestandteil einer tiefgreifenden Umgestaltung der sozialen Normen, Sitten und Gebräuche sind. Von den sechs Forderungen der „Annales patriotiques" für eine revolutionäre Höflichkeit (Anhang, Text II) sind drei unmittelbar an die sprachliche Praxis gebunden: Die Glückwünsche zum neuen Jahr, das künftig am 14. Juli beginnen soll, sollen mündlich und in persönlicher Form ausgesprochen werden (1°); umständliche Floskeln sollen aus dem Schriftverkehr verbannt werden (4°), besonders dann, wenn sie an die überwundene Unterwürfigkeit erinnern („votre tres humble et tres obeissant serviteur"; II/84); angestrebt werden stattdessen einfache Formen („bonjour"; 11/85) und Ausdrücke der fraternite („je suis votre concitoyen, votre frere, votre ami, votre camarade"; 11/85 f.), denen nach eigener Wahl Bekundungen der Zuneigung und der Wertschätzung hinzugefügt werden können (11/87f.). Als ebenso überholt wie die alte sprachliche Etikette wird das Hutziehen (2°), das Verneigen (3°) und das Auftragen von Puder und Pommade (6°) angesehen. Die Einbeziehung der Bürger in öffentliche Angelegenheiten (11/92 ff.) läßt für Vorzimmergewohnheiten des Hofes und der Minister (11/95 ff.) keinen Platz mehr. Später kommt der Ersatz der Anrede Monsieur durch citoyen36 und das allgemeine Duzen hinzu (Anhang, Text III). „La revolution dans les moeurs et dans les usages commen9a par la devalorisation du terme monsieur devenu desormais pejoratif. Ce ne fut pas chose aisee que de deshabituer les patriotes, meme les plus convaincus, de son emploi. II se maintient dans la presse jusqu'au 10 aout 1792. Dans le langage prive meme longtemps apres;
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Die wirklichen wie die angestrebten Veränderungn der sprachlichen Umgangsformen sowie die zu ihrer Begründung herangezogenen Argumente lassen erkennen, daß die Normen sich vor allem dort ändern, wo die sozialen Beziehungen versprachlicht werden (Anrede, Höflichkeit, Begrüßung u. dgl. m.). Die asymmetrischen Beziehungen zwischen den Kommunikationspartnern (Unterwürfigkeit, Gehorsam) werden durch symmetrische 37 ersetzt (Gleichheit, Brüderlichkeit). Aber weder die sprachlichen Formen zum Ausdruck egalitärer Beziehungen noch die Texte, in denen diese Formen beschrieben oder gefordert werden, lassen auf eine Abkehr von den Regeln des Bon usage schließen.
2.1.3.3. „Ii faut jurer avec ceux qui jurent, foutre." Die Beeinflussung der öffentlichung Meinung stieß in der Revolution auf folgenden Widerspruch: Die Sprecher der revolutionären Kräfte hatten in den colleges und in den Priesterseminaren eine solide sprachliche Bildung genossen (vgl. BALIBAR 1985, 97), die sich auch in ihren Reden und Schriften niederschlug, während ihre Adressaten — potentiell die gesamte Nation (vgl. SPANGENBERG 1981, 18 f.) - größtenteils über unzureichende sprachliche Voraussetzungen verfügten. Zwar wird für Paris eine relativ hohe Lesefähigkeit von 60 bis 75% veranschlagt (SCHLIEBEN-LANGE 1983, 70), die aber in funktionaler Hinsicht eingeschränkt war. Und nicht immer waren es die lesefähigen Pariser, die sich zu revolutionären Aktionen aufgerufen fühlten. Eine Folge dieses Sprach- und Bildungsgefälles war die für Revolutionszeiten typische Zunahme oraler und semi-oraler Kommunikationssituationen. 38 Schließlich sollte auch in Rechnung gestellt werden, daß in der brisanten Nähe von „Diskussion und Aktion" (ebd., 67) selbst bei unvollständigem Textverständnis revolutionäre Losungen mobilisierend wirkten. Verschiedene Publizisten der Revolutionszeit unternahmen auch den Versuch, die Diskrepanzen zwischen der französischen Hochsprache,
37 38
mais en public il constituait des lors une injure grave. Par contre, le terme citoyen appele a le remplacer, bien qu'utilise avec affectation dans les discours civiques et dans la correspondance officielle, etait tolere difficilement dans les rapports prives et interprete souvent comme une preuve de mauvaise education et une marque de familiarite deplacee" (WALTER 1948, 376, Anm. 1). Zu symmetrischen und asymmetrischen Gesprächen vgl. TECHTMEIER (1984, 58 f.). Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Revolution vgl. SCHLIEBEN-LANGE 1 9 8 3 .
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die ihre eigene Sozialisation mitgeprägt hatte, und der Sprache des Volkes durch die Aufnahme volkssprachlicher Elemente in den revolutionären Diskurs zu überbrücken, um diesem gewissermaßen eine demokratische Legitimation zu verleihen. Das bekannteste Beispiel dafür ist Heberts „Pere Duchesne". Hebert, der Sohn eines Goldschmieds, hatte in Alen^on das college besucht und sich dann mit Gelegenheitsarbeiten in der Provinz und in Paris durchgeschlagen. 39 Der Abstand zwischen seiner eigentlichen Sprache und der seiner Zielgruppe geht aus folgenden Worten hervor: „Moi aussi je sais parier latin; mais ma langue naturelle est celle de la sans-culotterie" (zit. bei BALIBAR 1 9 8 5 , 1 3 9 ) . Das im Anhang wiedergegebene Textbeispiel (Text IV) führt sprachliche Auffälligkeiten des „Pere Duchesne" vor Augen. Es handelt sich dabei vor allem um (1) Flüche: „Millions de foutre", „foutre", „tonnere de Dieu"; (2) bildhafte, großenteils volkssprachliche Ausdrücke: „perdre les moustaches", „mettre les pouces aux calotins", „se laisser manger la laine sur le dos", „jouer ä la main chaude", „les loups du bois ne se mangent point", „faire la pluie et le beau temps", „avoir les oeufs dans le meme panier", „rogner les ongles des gros fermiers", „donner ä quelqu'un des os a ronger", „faire vendange sous le Pont-Neuf"; (3) lexikalische Elemente aus Volkssprache und Argot: „capons", „petits marmots", „ce bougre de tripotage". In einer Affiche zu seiner Verhaftung im Mai 1793 begründet Hebert die gehäufte Verwendung „sanskulottischer" Ausdrücke damit, daß er sich vor allem jenen Teilen des Volkes verständlich machen wollte, die bisher von der öffentlichen Kommunikation ausgeschlossen waren: „Le juge: Α quelle intention avez-vous fait ces feuilles abominables? Hebert: Dans l'intention d'eclairer cette portion interessante du peuple que Messieurs les beaux esprits ont toujours dedaignee et pour laquelle ils n'ont jamais ecrit; j'ai cru qu'en parlant le langage le plus approche de la nature, en jurant meme avec ceux qui jurent, je pourrais apprendre d'importantes verites ä d'honnetes citoyens qui n'ont besoin que d'un peu d'instruction pour s'elever aux plus hautes vertus et defendre leurs droits" (zit. bei GUILHAUMOU 1 9 8 6 , 151). Bei der heutigen Beurteilung Heberts wird darauf verwiesen, daß die bewußt inszenierten Normverstöße der Sprache eine dem revolutionären Umwälzungsprozeß angemessene Dynamik verliehen (BALIBAR 1 9 8 5 , 1 3 7 ) . 39
Näheres zu Hebert unter anderem bei WALTER 1946.
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Auffällig ist weiterhin die deutlich ausgeprägte Appellstruktur des Textes, vor allem in der syntaktischen Struktur „Que + verbe (subjonctif)": „que tous les republicains mettent done leur tete dans un bonnet, qu'ils s'entendent aussi bien que les capons qui cabalent pour les affamer!" ( I V / 1 2 4 - 1 3 3 ; weiterhin: 1 4 2 - 1 4 5 , 1 6 5 - 1 7 5 ) . J. GUILHAUMOU sieht in der sprachlichen Inszenierung des „Pere Duchesne" eine Fortführung dramatischer Formen des mittelalterlichen Volkstheaters ( 1 9 8 6 , 1 5 0 ) . R. BALIBAR ( 1 9 8 5 , 1 3 7 ) ordnet Hebert jenen Wortführern der Revolution zu, die politische Propaganda im Ton der Farce, als Gaukler („bateleur") betrieben, im Unterschied zu jenen, die sich als Prediger („predicateur") an die offizielle Sprache hielten. Die Ernsthaftigkeit bei der Erörterung gesellschaftlicher Probleme kann indessen auch ersteren nicht abgesprochen werden. Davon zeugt nicht zuletzt, daß die Syntax in der burlesken Inszenierung ebenso wenig angetastet wird wie in der seriösen. Die foutre des „Pere Duchesne" stehen in deutlichem Kontrast zur Komplexität und Wohlgeformtheit der Syntax, die nur das Ergebnis traditioneller sprachlicher Bildung sein konnte.
2.1.3.4.
„detruire cette aristocratie de langage"
Der Widerspruch zwischen dem elitären Charakter der alten Norm des Französischen und dem Erfordernis, alle sozialen Schichten in die Politik einzubeziehen, bestand in der Revolution nicht nur als praktisches Problem, für dessen Lösung im Kampf um die „öffentliche Meinung" unterschiedliche Wege begangen wurden. Den weitreichendsten Versuch, die normierenden Institutionen des Anden Regime durch zeitgemäßere, demokratischere Formen zu ersetzen, unternahm der grammairien-patriote Urbain Domergue. Seine Konzeption zielte darauf ab, den usage unter Mitwirkung aller Betroffenen neu festzuschreiben. Der richtige Sprachgebrauch war bei Vaugelas „la fa^on de parier de la plus saine partie de la cour conformement a la fafon d'ecrire de la plus saine partie des auteurs du temps" (zit. bei A U R O U X 1 9 8 6 , 263). Daran hatten auch die Enzyklopädie-Grammatiker nicht gerüttelt. In der „Encyclopedie" und später in der „Encyclopedie Methodique" vertrat Beauzee den Standpunkt:: „Ii [...] est raisonnable que la Cour, protectrice de la Nation, ait, dans le langage national, une autorite preponderate" (ebd., 265). Domergue verfolgte mit der Gründung seiner Societe des amateurs de la langue franfoise (31. 10. 1791 —März 1792) und dem Publika-
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tionsorgan „Journal de la langue frar^oise ( 1 . 1 . 9 1 — 2 4 . 3 . 9 2 ) das Ziel einer „regeneration de la langue", die in einem „dictionnaire vraiment philosophique" fixiert werden sollte. Die Entscheidung über den richtigen Sprachgebrauch — so heißt es im „Prospectus" der Gesellschaft 40 weiter — sollte nicht mehr allein einem Gremium von 40 Personen überlassen werden, sondern einer repräsentativen Vertretung aller Schichten der Bevölkerung: „fondons la republique des lettres, & que dans notre societe des amateurs de la langue, tous soient egaux en droits: l'homme, la femme; l'academicien, le simple litterateur; l'habitant de la capitale, celui des departemens, le correspondant franfois, le correspondant etranger." Domergue stellte sich die Sprachdiskussion parallel zu den politischen Institutionen der Republik, entsprechend den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie, vor. Dieser Plan ist vor allem ideengeschichtlich interessant. In der Praxis scheiterte er wie auch spätere Versuche (vgl. D O U G N A C 1986), da die Gesellschaften Domergues weder über eine Exekutive noch über die sprachpolitische Autorität verfügten, um ihre Entscheidungen durchzusetzen (vgl. A U R O U X 1986, 272). Domergues Normkonzept läuft nicht auf die Akzeptierung der sozial bedingten Sprachvariation hinaus; es zielt vielmehr darauf ab, eine neue Norm demokratisch festzulegen und sie allen Bürgern zugänglich zu machen. Die Verantwortung für diese bildungspolitische Aufgabe sollte den communes und den societes populaires zufallen. Im Unterschied zu Domergue plädierte Barere für die Anerkennung der Gleichheit sozial unterschiedlich determinierter Sprachstile. Er forderte: „detruire cette aristocratie de langage qui semble etablir une nation polie au milieu d'une nation barbare" (zit. bei BUSSE 1986, 351 f.). Barere stimmte darin mit der sprachlichen Praxis eines Hebert und mit den sprachpolitischen Vorstellungen Robespierres überein, der im April 1794 äußerte: „Un homme qui dit des verites a la tribune, füt-ce dans le langage le plus grossier, doit etre entendu tranquillement [...]. II n'y a rien de plus contraire aux interets du peuple et a l'egalite, que cette difficulte sur le langage. C'est un abus des personnes qui se pretendent bien elevees; [...] Qu'on y parle (sc. ä la tribune) un langage moins fleuri, peu importe, pourvu qu'on y parle celui du patriotisme: faites en sorte que le sans-culotte qui a re$u de la nature un sens droit, et dont l'äme remplie d'energie, puisse nous faire part de ses opinions sans eprouver de difficultes, tant qu'il ne s'ecartera 40
Der „Prospectus" der Gesellschaft von 1791/92 ist bei DOUGNAC (1986, 313 ff.) wiedergegeben.
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pas des principes, et sans etre expose aux huees de l'aristocratie des gens bien nes. L'egalite n'est veritablement etablie que quand les citoyens peuvent etre entendus favorablement sans avoir re^u une education elevee" (ebd., 353). Und dennoch: In ihrer eigenen Sprachpraxis benutzten die Revolutionspolitiker überwiegend die Sprache ihrer Sozialisation, den Bon usage, von dem ihre Adressaten, die Masse der Franzosen, weitgehend ausgeschlossen waren. In der zweiten Phase der Revolution blieb auch für volkssprachliche Experimente kein Platz mehr, sie wurden sogar als schädlich angesehen (vgl. 2.1.3.6.).
2.1.3.5. „Citoyen Meire je me prend la liberte de tecrire Cette lettre..." Die bisherigen Ausführungen hatten vorwiegend das Sprachverhalten der klassisch geschulten Publizisten und Redner der Revolutionszeit zum Gegenstand und könnten den Eindruck erwecken, daß die Masse der vor der Revolution von höherer Bildung, Schriftkultur und Rhetorik ausgeschlossenen Franzosen während der Revolution nur als Publikum für erstere fungierten: als Zeitungsleser, als Zielgruppe des gesprochenen, geschriebenen (oder gesungenen) Diskurses der Revolutionsfeste, 41 als Adressaten von Gesetzestexten und Parlamentsreden, deren Inhalt ihnen gegebenenfalls in der Vorlesesituation erklärt werden konnte. Darüber hinaus wurden die politischen Akteure aus den nur wenig alphabetisierten Schichten zwangsläufig auch selbst in der Öffentlichkeit sprachlich aktiv: als politisch Verantwortliche oder Diskussionsteilnehmer in Klubs, Revolutionskomitees, Volksgesellschaften und Sektionen (vgl. BALIBAR/LAPORTE 1974, 153 ff.) oder als in irgendeiner Weise von den revolutionären Ereignissen Betroffene, die sich mit ihren persönlichen Anliegen an die zuständigen Stellen der revolutionären Exekutive wandten. Der entgegen allen anderslautenden Deklarationen nach wie vor bestehende Zwang zur Hochsprache in der Öffentlichkeit konfrontierte diese Sprecher mit einer Norm, die sie sich in der Kürze der Zeit nur unvollständig aneignen konnten. Die Zeugnisse aus dem Schriftverkehr der politisch Verantwortlichen mit den übergeordneten Instanzen (Anhang, Text V) und die Eingaben „Constamment porteuse d'un discours, innocent ou non, la fete revolutionnaire donne a ses proclamations des visages multiples: parle (le discours), chante, ecrit aussi: et Ton a souligne le role essentiel des pancartes et banderoles dans cette pedagogie populaire" (VOVELLE 1985, 166).
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von Bürgern (Text VI) lassen die genaue Befolgung der neuen kommunikativen Normen erkennen, wozu die unvollkommene Beherrschung der (alten) sprachlichen Normen in deutlichem Kontrast steht. Bezüglich der kommunikativen Normen fällt vor allem die strikte Befolgung des nouveau style auf: — bei der Datumsangabe: „4e floreal Lan 2e" (V/193 f.), „le 2 termidor 1794 lan segon de la Republique une indivisible" (VI/ 218 f.) — bei der Verwendung der politischen Schlagwörter und Losungen am Anfang und am Ende der Briefe: „Liberte, Egalite, Unite/Mort aux rebelles" (V/192f.), „Vive la montagne et la republique" (V/ 214) — in den Anredeformen: „Guillot a Ses freres et amis" (V/195) — beim Duzen: „je me prend la liberte de tecrire Cette lettre" (VI/ 220). In Zeiten wie der Französischen Revolution — zumal in der politischen Radikalisierung der republikanischen und erst recht der jakobinischen Phase — muß die Respektierung der kommunikativen Normen als ein Bekenntnis zu politischer Konformität mit der Revolutionsregierung angesehen werden, wie auch umgekehrt die wissentliche Verletzung dieser Normen einer Bekundung politischer Feindseligkeit gleichkam. 4 2 In den hier erwähnten Schriftstücken wird das politische Bekenntnis zumeist noch dem eigentlichen Anliegen des Schreibers ausdrücklich vorangestellt, wobei nicht selten die „von oben gekommenen sprachlichen Modelle" 4 3 unvollkommen imitiert werden (vgl. V/197-203). Die auffälligen Abweichungen von der sprachlichen Norm im engeren Sinne (orthographische Fehler, Verletzung der Grammatikalität usw.) sollen hier nicht näher untersucht werden (vgl. dazu BRANCAROSOFF 1989), zumal anzunehmen ist, daß die individuelle Streuung dieser „Fehler" beträchtlich ist. Sie sollen lediglich illustrieren, daß die Revolution zwar zeitweilig die Partizipation breiter Schichten der Bevölkerung an der schriftlichen Kommunikation ermöglichte, diesen 42
43
Ein Beispiel dafür gibt LANDAUER (1985, 288, Anm. 2): „Als der König auf ein Verhör im Konvent wartete, hörte der Abgeordnete Treilhard, wie Malesherbes Ludwig XVI. mit Sire und Majestät anredete, und stellte ihn darüber heftig zur Rede; was ihn so kühn mache? M. antwortete: ,Verachtung gegen euch und Verachtung des Lebens' [...]". „Ce fran^ais des bas degres des appareils, imitant des modeles venus d'en-haut sous la brusque pression des evenements, nous parait aujourd'hui relativement maladroit, ou ,incorrect' [...] tandis que certains des modeles nous paraissent d'un pedantisme desuet" (BALIBAR 1985 b, 146).
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aber die Aneignung der schriftsprachlichen Norm weitgehend verwehrt blieb. Lösungsmöglichkeiten deuten sich hier erst in der zweiten Phase der Revolution an und auch dort nur programmatisch (vgl. 2.1.3.6.).
Abschließend eine Bemerkung zur Bewertung der zahlreichen Zeugnisse einer „restringierten Schriftpraxis" (vgl. S T E M P E L / W E B E R 1 9 7 4 ) , die die Revolution hinterlassen hat: In einem Land wie Frankreich, das für bestimmte Kommunikationsbereiche und soziale Schichten eine in ganz Europa als vorbildlich geltende Sprachkultur entwickelt hatte, war gesellschaftliche Anerkennung auch an die Beherrschung des „richtigen Sprachgebrauchs" gebunden: „Ii ne faut qu'un mauvais mot pour faire mepriser une personne". Für die Zeit der Jakobinerherrschaft mochte dieses Diktum Vaugelas' (zit. bei G O S S E N 1 9 7 6 , 1 3 ) außer Kraft gesetzt sein. Die im vorangehenden Abschnitt wiedergegebene Äußerung Robespierres zeigt, daß die „inhaltliche" Normgerechtheit (die Sprache des Patriotismus) im Verein mit der Respektierung der kommunikativen Normen höher bewertet wurde als orthographische und grammatische Richtigkeit. Die gewöhnlich mit den eingeschränkten Sprachfertigkeiten einhergehende soziale Diskriminierung wurde durch die politischen Machtverhältnisse zeitweilig verhindert. Aber bereits wenige Jahre später genügt der Verweis darauf, daß die Revolutionäre fehlerhaft sprachen, die Stile vermischten und ihre kommunikativen Rollen nur unvollständig beherrschten, diese Personen moralisch zu verurteilen ( v g l . LÜDI
1986).
2.1.3.6. „universaliser l'usage de la langue fran^aise" Nach den vorübergehenden Unsicherheiten bei der Bestimmung der Norm des Französischen in den Jahren 1789 — 93 zog allmählich wieder Ruhe in die Sprache ein. Nur eine gepflegte, einheitlich verwendete Sprache schien geeignet, das Gedankengut der Revolution zu propagieren und ihre Taten zu verherrlichen. 44 Davon abweichender Sprachgebrauch wurde mit einem politisch-moralischen Verdikt belegt. 45 In einem „transfert de legitimite et de prestige" (vgl. B A L I B A R „Nur eine anständige, gepflegte Sprache ist der hervorragenden Gefühle eines Republikaners würdig" (GREGOIRE: Bericht über die Inschriften an öffentlichen Denkmälern vom 11.1.1794; dt. bei SCHEINFUSS 1973, 41 - 4 9 ; Zitat S. 46). „Laßt uns große Dinge tun, dann wird sich unsere Sprache immer auf unser Niveau — auf unsere Höhe heben.
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1985, 132) hatte sich die Revolutionsbourgeoisie der Hochsprache — an deren Fixierung sie vor der Revolution ohnehin schon mitgewirkt hatte — versichert, sie ihren Bedürfnissen angepaßt und sie — parallel zur Ausschaltung der politischen Gegner — als einzig legitime Sprache („langue republicaine", „langue de la liberte") gelten lassen. Diese sprachpolitische Konstellation erklärt auch die auf den ersten Blick paradoxe Verurteilung der Sprache des Königs und Heberts als gleichermaßen grossier.46 Langfristig wurde die Überwindung der „Sprachbarrieren" nicht über eine Aufwertung der volkssprachlichen Varietät gesucht, wie Barere es gefordert hatte, sondern über die partielle Verbreitung der herrschenden Norm. Das Französische bedurfte dazu einer durchgehenden „Revolutionierung" nach Kriterien der uniformite (vgl. SCHLIEBEN-LANGE 1 9 8 7 ) und einer „Elementarisierung", um es allen sozialen Schichten zugänglich zu machen. Hierbei setzte sich die von Beginn der Revolution an bestehende Tendenz fort, das Sprachproblem als ein Bildungsproblem zu lösen. Die Vereinheitlichung sollte nach Gregoire alle Ebenen der Sprache betreffen (vgl. SCHLIEBEN-LANGE 1 9 8 8 ) . So hält er es zwar nicht für angebracht, die Orthographie der gesprochenen Sprache anzupassen, zu „schreiben, wie man spricht", einige „rectifications utiles" seien aber dennoch möglich. Er fordert eine neue Grammatik und ein neues Wörterbuch, die er beide als Bestandteil einer politischen Konzeption ansieht. Die Anomalie in der Wortbildung soll der Analogie weichen. Gregoire fordert schließlich die Beseitigung der Ungleichheit der Stile, welche die sozialen Ungleichheiten festschreibe. Da er aber ein erklärter Gegner sprachlicher Volkstümelei ist, kann die von ihm angestrebte Gleichheit nur als Abschaffung der nicht normgerechten Aber die Dichter, die Talent und Können in sich vereinen, müssen einen Wall gegen den Überfluß an Pamphleten aufrichten, in denen die Grobheit, fast hätte ich gesagt, die Gemeinheit des Stils der Gefühlsroheit den Rang abläuft. Sie müssen gegen die ehrgeizige Leere ankämpfen, die ohne Achtung für den Geschmack und das Ohr alle Genres und Stile durcheinanderwerfend, soviel Frechheit entwickelt, um die Bühne zu beherrschen. Sie müssen gegen die Angewohnheit schmutziger Reden zu Felde ziehen, die bereits eine ganze Anzahl Frauen angesteckt hat. Wie soll man nicht an die Liederlichkeit ihrer Sitten glauben, wenn ihre Reden zeigen, daß sie sogar die äußeren Zeichen des Anstandes, der jede Tugend verschönt, abgeworfen haben? Diese Erniedrigung der Sprache, des Geschmacks und der Moral ist wahrhaft konterrevolutionär; denn sie führt dazu, uns in den Augen des Auslandes zu verleumden" (ebd., 45 f.). 46
„Le style grossier est celui de Capet et d'Hebert; le langage d'un tyran et d'un contre-revolutionnaire doit-il souiller des bouches republicaines?" (aus einer Adresse des Konvents vom Juni 1794; zit. bei BALIBAR 1 9 8 5 b , 138).
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Varietäten interpretiert werden, die somit die Vernichtung der patois ergänzt. G R E G O I R E ( 1 7 9 4 , 2 0 8 ff.) nennt auch Möglichkeiten für die Diffusion der Norm: — republikanische und patriotische Schriften geringen Umfangs, die dem Landbewohner in einer einfachen Sprache nützliche Kenntnisse aus Meteorologie, Ackerbau und Physik vermitteln — gute Zeitungen und Magazine für Kinder und Jugendliche — die Bevorzugung der dialogischen und anekdotischen Darstellung gegenüber der gelehrten Abhandlung — revolutionäre Lieder — „moralische" Schauspiele — die (polizeilich überwachte!) Berichtigung der Aufschriften auf Ladenschildern und von Straßennamen — vor der Eheschließung der Nachweis, daß die Partner in der Nationalsprache lesen, schreiben und sprechen können (Gregoire stellt diese Fähigkeiten ausdrücklich der Beherrschung des Waffenhandwerks gleich!). Die Schule wird als Ort der Verbreitung der Nationalsprache in Gregoires Rapport vom Juni 1794 nicht genannt. Das Problem der Grundschulen war aber Gegenstand zahlreicher Erörterungen in den revolutionären Körperschaften: Von 1791 bis 1799 wurden 25 verschiedene Projekte zum Schulsystem vorgestellt (vgl. B A L I B A R 1 9 8 5 b, 201). Gregoire behandelte diese Problematik in einem Bericht vom Januar 1794, nach dessen Anhörung der Konvent einen Schulbuchwettbewerb ausschrieb („Projet d'un ensemble complet de livres elementaires"). Die in den Sektionen 3 und 4 („methodes pour apprendre ä lire et a ecrire", „notions sur la grammaire fransaise") in der Folge eingegangenen Schulbuchentwürfe wurden von V E C C H I O ( 1 9 8 6 ) erschlossen und einer ersten Analyse unterzogen. Sie vermittelt wichtige Einblicke in den sprachpolitischen Hintergrund der Verbreitung des Normfranzösischen: (1) Die Alphabetisierung zielt programmatisch auf die Überwindung der sozialen Ungleichheit, sie soll allen Bürgern die Möglichkeit geben, am politischen Leben der Republik teilzunehmen: „celui qui neglige d'apprendre a ecrire et a s'instruire de ses droits et de ses devoirs merite d'etre esclave et comme tel il ne peut habiter la Republique fran^aise" (ebd., 104). Während über das Erziehungszze/ weitgehend Einigkeit bestand, erwies sich das Suchen nach einer geeigneten Bildungsmethode als weitaus schwieriger: „Parmi les livres republicains qui ont paru, j'ai vu des livres propres ä faire germer dans l'ame de la jeunesse le
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patriotisme et le republicanisme, mais peu propres a montrer a lire repidement" (ebd.). (2) Bezüglich der Orthographie wird gefordert: „il faudrait rendre l'orthographe conforme a la prononciation" (ebd., 106). Man sah in der „antiken und barbarischen" Schreibweise ein unnötiges Hindernis für die Spracherlernung in den „ecoles primaires". Die Gegner einer Orthographiereform gaben indessen zu bedenken, daß damit der Zugang des Volkes zu den Reichtümern der traditionellen Schriftkultur versperrt werden. (3) In gewisser Weise berührt die Politisierung der Sprachdiskussion in der Revolution auch die Grammatik. Nicht in dem Sinne, daß sich die Konstruktionsregeln für Sätze ändern, sondern vielmehr hinsichtlich der Inskription der politischen Verhältnisse in die Syntax. So hat J . G U I L H A U M O U (1986 a) anhand von Antoine Tournons „Grammaire des sans-culottes" gezeigt, wie sich in dessen Beispielsätzen die Redesituation der revolutionären Versammlungen widerspiegelt. Die Beispiele folgen dem Muster SN (Le citoyen) + V (parier) SN (Le republicain) + V (demander). Die Schulbuchausschreibung nimmt im Oktober 1795 einen verblüffenden Ausgang: Zur nationalen Grammatik werden Lhomonds „Elemens de la grammaire fran^aise" aus dem Jahre 1780 (!) erklärt. Es herrscht wieder Ordnung!
Anhang (zu 2.1.3. Die Revolution und die Norm(en) des Französischen) Text 1: „Annales patriotiques", 11. 10. 1789 Comment appeler le roi? On se plaint a l'Assemblee nationale, on se plaint dans Paris; tous les citoyens eclaires sont surpris et indignes de ce que la formule des arrets du Conseil et des declarations du Roi conserve encore aujourd'hui la pretention d'un droit divin, par ces mots: „Louis, par la grace de Dieu, notre certaine science, pleine puissance, car tel est notre plaisir." Ii faut pourtant que les ministres perdent cette habitude servile et choquante, et qu'ils apprennent, une fois pour toutes que ce sont les Nations qui ont fait les Rois, et non les Rois qui ont fait les Nations. [...] Ii faut done nous parier comme ä des hommes libres et raisonnables, et dire simplement: „Louis, Roi de France", etc. au
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lieu de „Louis, par la grace de Dieu, Roi de France", etc. Effacer la „certaine science" et la „pleine puissance"; car la certaine science n'appartient qu'ä Dieu, et la pleine puissance qu'aux Nations dont la souverainete absolue ne peut etre revoquee en doute. Et au lieu de dire „car tel est notre plaisir" dire CAR T E L L E E S T LA LOI. Qu'espere-t-on, en conservant l'ancienne formule? croit-on ramener les esprits aux anciennes opinions d'esclavage et de servitude? Ce serait une intention bien criminelle de la part de ministres ou des commis qui emploiraient ces formules. Mais c'est peut-etre ignorance de leur part. Eh bien! les voila avertis: nous leur apprenons done que ces formules anciennes ne peuvent plus s'accomoder avec la declaration des droits de l'Homme et du Citoyen, et avec la souverainete absolue des Nations; et qu'elles tendent a violer ces droits et cette souverainete pour en imposer a la credulite des hommes, ce que nous devons empecher de toute la puissance de notre raison et de l'opinion publique. Cette grace de Dieu, cette certaine science, ce bon plaisir, mots vides de sens et par consequent indignes d'un Roi honnete-homme et du Chef d'un Peuple libre; [...]. Qu'on ne fasse done plus usage de ces mots si Γοη veut desarmer notre defiance. C'en est fait, la lumiere de la raison universelle a frappe tous les yeux; et le langage de la tyrannie et des charlatans est apprecie a sa juste valeur (aus: WALTER 1948, 374 ff.). Text II: „Annales patriotiques", 13. 7. 1790 Politesse revolutionäre Ii y aura juste demain un an que nous etions encore, avant six heures du soir, sous le joug honteux de la famille Capet [...], et que cette famille nous appelait sujets rebelles, populace, canaille, quoiqu'en general nous sussions mieux lire et ecrire que les pretendus dieux de Versailles ... Depuis ce temps-la, l'auguste et majestueux senat de la nation a reforme une partie des lois; c'est aux citoyens courageux, eclaires et pleins de caractere, a reformer aujourd'hui les mceurs et les usages. Je suis d'avis, avec plusieurs patriotes, [...] 1° que le 14 juillet soit substitue au premier janvier, pour les felicitations de bonne annee, et que ces felicitations se fassent en personne et non en cartes ou billets, et sur les places publiques ou dans les cafes, en prononsant ces mots: „Dieu vous conserve et foudroie toutes les bastilles et tous les tyrans comme en 1789." 2° Que nous n'otions jamais le chapeau que quand nous aurons trop chaud a la tete, ou que nous voudrons parier a une assemblee, ce qui annoncera que nous avons une motion a faire.
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3° Que nous perdions l'habitude des inclinations qui ne sont autre chose que des plis de l'esclavage restes dans les reins des Fran9ais, et qu'on peut effacer avec un peu d'attention. 4° Que ces phrases triviales et insignifiantes: „j'ai, j'aurais, j'ai eu l'honneur, vous me ferez l'honneur", soient bannies absolument du style epistolaire ou de la conversation. 5° Que la finale des lettres ainsi que des adieux vocaux qui se terminent ordinairement par la tres plate et tres insignifiante periode: „votre tres humble et tres obeissant serviteur", se terminent simplement par un bonjour, ou bien par ces mots: „je suis votre concitoyen, votre frere, votre ami, votre camarade", avec les termes d'affection, d'estime ou de respect que Ton voudra y joindre, et 6° Qu'au lieu de cette poudre et de cette pommade qui genent la transpiration du cerveau et forment un empois degoütant sur la tete et autour des oreilles, on ait soin de bien laver ses cheveux tous les jours, et de les couper en rond, ou de les attacher proprement derriere la tete. Aujourd'hui que tous les Fran$ais sont occupes des affaires publiques et qu'ils se gouvernent et se defendent eux-memes, ont-ils le temps de faire des toilettes et de se parfumer? Ces soins etaient necessaires, peut-etre, quand il fallait aller ramper dans les antichambres des catins de la cour et des ministres; mais aujourd'hui que les francs-patriotes ont six pieds de plus que les catins des ministres de la cour, qu'ont ils besoin de cet etalage factice et mignard? Iis n'ont qu'a tenir la tete haute et le corps droit, et les ministres baisseront les yeux (aus: WALTER 1948, 376ff.). Text III: „Le Republicain", 15 brumaire an II Le tutoiement (Auszug) [...] Une republique est une grande societe d'amis; il faut done que Ton s'y tutoie. Si quelqu'un verse le sarcasme sur cet usage, mefiezvous en: e'est qu'il etait corrompu sous l'ancien regime, c'est qu'il s'en est servi pour tromper la bonne foi; en provoquant la prostitution, c'est un moyen de plus pour reconnaitre nos ennemis. Ii n'a pas le coeur sain, celui a qui il en coüte de tutoyer son frere; le moindre de ses vices, c'est l'orgueil. Le comite executif, et plusieurs autres administrations, ont arrete de tutoyer: elles ont bien fait (aus: WALTER 1948, 403 f.). Text IV: „Pere Duchesne", n° 345, Februar 1794 Millions de foutre, mon sang bouillonne de voir ainsi le peuple balotte par les fripons et les traitres! £ a finira, foutre! Nous avons des lois,
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elles seront executees ou j'y perdrai mes moustaches, tonnerre de Dieu! Quoi done: nous avons foutu la chasse aux nobles, nous avons fait mettre les pouces aux calotins, nous avons raccourci le dernier de nos tyrans, quoi? le sans-culotte a ebranle tous les trones des despotes et les marchands nous nous feraient la loi? Nous nous laisserions manger la laine sur le dos par une poignee de coquins qui rentreront cent pied sous terre quand nous voudrons leur montrer les dents? Eh bien, foutre, que tous les republicains mettent done leur tete dans un bonnet, qu'ils s'entendent aussi bien que les capons qui cabalent pour les affamer! Q u e 1'avare fermier qui refuse de vendre ses denrees au maximum soit denonce; que le manufacturier qui fabrique de mauvaises etoffes, que le marchand qui vend a faux poids et qui altere la qualite de ses marchandises, soient punis comme la loi le veut! Surtout, que les riches qui mettent le feu a toutes les denrees, soient pourchasses et daubes comme ils le meritent; que tous les accapareurs, grands comme petits, jouent a la main chaude, et bientot 1'abondance se retablira. Mais, foutre, pour arriver a ce but, il faut que les administrations ne soient plus composees que de veritables sans-culottes, car si on souffre des accapareurs dans les municipalites et dans les comites revolutionnaires, la loi sera toujours meprisee. Je touche du bout du doigt la cause de tous nos maux. Q u i voyons-nous a la tete de la plupart des municipalites? De riches fermiers, de gros marchands. Les loups du bois ne se mangent point, et ceux-la qui sont juges et parties malgre nous, a notre barbe et a notre nez, feront toujours la pluie et le beau temps. Q u e Ton commence done par balayer toutes les autorites constituees, qu'on fasse sortir le restant des immondices de l'ancien regime. Pour tuer d'un seul coup l'aristocratie fermiere et marchande, que Ton divise toutes les grandes terres en petites metairies. Elles en seront mieux cultivees, et, foutre, nous n'aurons pas tous nos oeufs dans le meme panier. Le bon sans-culotte qui n'aura que quelques arpents a labourer, se contentera de vivre libre et heureux; il n'aura d'autre ambition que celle de nourrir et d'elever ses petits marmots; il n'enterrera pas son ble mais travaillera mieux son champ pour qu'il en produise davantage; comme les gros fermiers il ne tuera pas ses vaches, mais il en elevera un plus grand nombre pour avoir plus de lait, de fromage et de beurre; il ne detruira pas sa basse-cour, il la regardera au contraire comme la premiere richesse, et il s'empressera, pour jouir de son produit, d'echanger ses poules et ses chapons avec les etoffes dont il a besoin. Voila, foutre, je le repete, le seul moyen de rogner les ongles des gros fermiers, et de reprimer leur aristocratie.
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Si, en meme temps, on ne vend les domaines nationaux qu'en petites portions, si on met en culture tous les pares des emigres, si des vignes et des arbres fruitiers remplacent les sapins et les cypres des jardins anglais, si la pomme de terre croit dans les larges allees des parterres, si des gazons inutiles sont changes en paturages, nous aurons des subsistances a revendre, et jamais nous n'eprouverons la disette. Pour faire cesser ce bougre de tripotage des agioteurs et la cupidite des marchands, que Ton double, que Ton triple l'armee revolutionnaire, foutre. Qu'il en soit envoye de forts detachements dans tous les departements; e'est le seul moyen d'etablir le maximum. Que les tetes des affameurs du peuple tombent comme Celles des traitres et des conspirateurs! Que le boucher qui traite les sans-culottes comme ses chiens, et qui ne leur donne que des os a ronger, lorsqu'il reserve l'aloyau pour les grosses pratiques, soit raccourci comme un ennemi de la sans-culotterie! Que le marchand de vin, qui fait vendange sous le Pont-Neuf et qui empoisonne les republicans joyeux, soit traite de meme. Je ne parle pas des boulangers, car, Dieu soit loue, nous avons trouve un bon moyen de les mettre au pas. Le grand garde-manger est bien garni, et le trafic des pains de quatre livres ne recommencera pas de si tot. Braves sans-culottes, prenez done patience et ne vous rebutez pas. Vous avez des lois qui feront votre bonheur quand elles seront executees. Mettez votre confiance dans la Convention qui s'occupe avant toutes choses de vos subsistances. Malgre tous les brigands couronnees, malgre tous les coups de chien des ennemis de l'interieur, eile a trouve le moyen d'alimenter et de tenir sur pied douze cents mille hommes. Elle verra bientöt tous les tyrans de l'Europe a ses pieds, et eile ne pourra pas mettre a la raison les marchands et les accapareurs? N'avons-nous pas vingt millions de bras pour faire respecter ses decrets? Ii suffit de sa volonte pour vous reduire en poudre. Le jour de la vengeance est arrive, eile sera terrible, foutre (aus: W A L T E R 1 9 4 8 , 3 4 4 ff.). Text V; aubagne 4e floreal de Lan 2e de L.RU.et ible
Liberte, Egalite, Unite Mort aux rebelles
Guillot a Ses freres et amis les officiers Municipaux de Marseille, Salut Organe de la loi, directeur de la police, vous connoissant tous bons republicains 8t citoyens qui aimez que lordre regne, dans la grande
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population de Iillustre Marseille, vous qui avez detruit le fanatisme En aneantissant toute ses eglises qui ne servissoient qu'a la charlatannerie des Soi disant homme Sacre, vous avez fait abattre tous les signes de ce fanatisme qui nous devoroit, et qui nous inquiete encor par des ignorants ou des malveillants. Moi etant en Comission dans les petites communes de notre ressort, j'ai requis les municipaux de proclamer a Son de trompe que toutes les femmes qui porteroient des croix a leurs colliers ou autre signe fanatique, ou sans cocarde, elles seroient regardees comme suspectes et huit jours de prison comme la loi l'ordonne [...] II faut que ces Signes disparoissent je compte Sur votre zele, et j'espere que vous n'hesiterez pas a vous rendre a mon veu, vu que la chose est urgente, pour consolider encore mieux La raison qui nous eclaire, et La liberie qui guide nos pas; faites cette proclamation et vous verrez qu'elle aura Son entier effet; et alors ga ira ga tiendra malgres Les fanatique Vive la montagne et La republique Salut et fraternite Guillot Sans cullote Text VI: au camp de frime morte le 2 termidor 1794 lan segon de la Republique une indivisible Citoyen Meire je me prend la liberte detecrire Cette lettre pour que tu ai la Bonte de me faire passe un Certifica de Civisme Comme quoi je me suis enrole a Marseille dans le sixieme Bataillon de Bouche du Rhone parce que je te dirais que jai envoyez un Certifica a ma maire et el ma envoyez dire quel ne pouvoit pas jouir de la gratification que la nation accordre au Meire quel on de enfant au service de la Republique sest un Certifica de moy quil manque (marque?) Comme quoi je me suis enrole sur le Certifica tu lui metra le Citoyen le noble natif de Dijon distric de Dijon Departement de la Cote dor agez de vingt un ant aussi je teprie de me lenvoyez le pluto possible et Ci tuveu de preuve Comme quoi je me suis enrole dans le Bton tu faira appellez le Citoyen mercier peruquier (?) Cet a Cette Boutique que jete lorsque je me suis enrole Salut fraternite nicola le noble mon adresse est ala premiere Compagnie de grenadier de la Cent unieme demye Brigade par nice au Camp de frime morte.
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2.2.
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2.2.1. Nationalsprache und Regionalsprachen zwischen 1795 und 1814 im Spiegel dreier Umfragen Die sprachpolitischen Grundsätze der Jakobiner treffen sich trotz aller internen Widersprüche im Diskurs einer mehr oder minder streng gefaßten Uniformität. Nichtsdestoweniger zeigte sich nach dem 9. Thermidor der Fortbestand sprachlicher Diversität oder, anders gesagt, der geringe praktische Erfolg der jakobinischen Sprachpolitik. Es soll nun der Frage nachgegangen werden, wie sich das Verhältnis zu den Regionalsprachen vor dem neuen gesellschaftlichen Hintergrund zwischen Direktorium, Konsulat und Erstem Kaiserreich gestaltete und welche Konsequenzen damit für die nichtfranzösischen Idiome verbunden waren. Weder Konsulat noch Kaiserreich hinterließen sprachpolitische Gesetze oder Verordnungen, die eine unmittelbare Fortsetzung der jakobinischen Glottopolitik mit Hilfe juristischer Mittel erkennen lassen (vgl. ALCOUFFE/BRUMMERT 1985). Im Gegenteil war kurz vor Robe-
spierres Sturz das Gesetz vom 2. Thermidor des Jahres II, ein Verbot des mündlichen und schriftlichen Gebrauchs der Regionalsprachen, aufgehoben worden. Die Nachwirkungen jakobinischer Sprachpolitik auf lange Sicht sind dennoch so deutlich, daß vom Fehlen rigoroser Gesetzestexte zwischen 1794/95 und 1814 nicht voreilig geschlossen werden darf, die Sprachpolitik der Jakobiner sei nichts als toter Buchstabe geblieben und habe nach dem 9. Thermidor einer allgemeinen Liberalisierung Platz gemacht (vgl. MERLE 1985). In der Verfassung des Konsulats wurde das Ende der Revolution proklamiert. Gleichzeitig verstanden sich die neuen Machthaber als rechtmäßige Erben der ursprünglichen Grundsätze der Revolution. Es ging um eine fortschreitende Entwicklung innerhalb der neuen Ordnung und der neuen Zeit. 4 7
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Nach dem Staatsstreich vom 18. Brumaire (9. 11. 1799) trat Napoleon als erster Konsul an die Spitze der Regierung. „Frankreich wünscht etwas Großes und Dauerhaftes. Die Labilität hat es zugrunde gerichtet, es ruft die Beständigkeit an [...] Es wünscht als seine Vertreter friedliche Konservative, nicht turbulente Neuerer. Es möchte endlich die Frucht von zehn Jahren Opfer ernten.", kommentierte der „Moniteur" vom 14. 11. 1799. In der Verfassung vom Dezember 1799 hieß es: „Bürger, die Revolution ist den Grundsätzen, von denen sie ihren Ausgang nahm, fest verbunden, sie ist beendet." [zit. nach SEIFERT 1989, 56]
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Man hielt an der wirtschaftlich bedeutsamen Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten fest, die 1791 erarbeitet worden war und sich nach 1798 auch international durchzusetzen begann. 4 8 Die politischadministrative Durchgliederung des Raums wurde im Vergleich zur Bildung von Departements von 1790 nach dem 17. 12. 1800 noch deutlich weitergetrieben, als das Präfektursystem eingeführt wurde. 4 9 Der Bürger geriet auch zum sprachlich strenger „verwalteten" Menschen (MARKOV 1 9 8 4 , 2 4 0 ) .
Sogar der republikanische Kalender, der seit dem Dekret des Nationalkonvents „Sur l'ere de la Republique" in Kraft war und die Monatseinteilung des Jahres ebenso veränderte wie die in zehn Unterabschnitte gegliederten Tagesabläufe, blieb nominell bis zum 2. 9. 1805 erhalten. Dieser parallel zum Beginn fortschreitender Entchrristianisierung entstandene Kalender blieb vielleicht der radikalste Ausdruck des bereits erwähnten revolutionären Strebens nach Uniformierung, Geometrisierung und Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche. Nach dem 9. Thermidor des Jahres II hatten einige Royalisten den republikanischen Kalender attackiert (vgl. Lanjuinais Broschüre gegen den „Kalender der Tyrannen"). Doch seine Nichtbeachtung wurde noch im September 1799 durch das „Gesetz vom 23 Fructidor An VI" unter Strafe gestellt, obwohl sich zunehmend zeigte, daß seine Ein-
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Besonders die Ideologen, die sich sehr um die Schaffung wissenschaftlicher Terminologien bemühten (vgl. OESTERREICHER 1986, 106), diskutierten in ihrer Zeitschrift auch die Bezeichnungen für die neuen Maße und Gewichte. Vgl. als typisches Beispiel den Brief von Miliin an die Autoren der „Decade philosophique, litteraire et politique" (Nr. 25, Bd. IV, 10 Nivose An III, S. 1 2 - 1 6 ) . Die Neuordnung des Raumes wurde bereits 1789 in Angriff genommen, im Winter 1789/90 heftig debattiert und am 15. 2. 1790 gesetzlich verankert. Nach Thourets Vorschlag zur Schaffung von 80 Departements gleichen Umfangs vollzog sich das Aushandeln „eines Kompromisses zwischen geometrischer Neuordnung und Durchsetzung menschlicher Maße [...], zwischen völliger Gleichförmigkeit bzw. historischer Diversität." (SCHLIEBEN-LANGE 1987, 31) Das Argument der Regionalsprachen bemäntelte in der Debatte um Verwaltungsgrenzen oft wirtschaftliche oder religiöse Interessen. Vielfach wurde die Sprachfrage auf die Ebene der Distrikte abgeschoben. Nur dort sei der Verwaltungsalltag mit dem Idiom der unteren Volkschichten konfrontiert (vgl. HLF I X / 1 , 76). Die neuen Departements hoben jedoch keine (ohnehin inexistente) Deckungsgleichheit zwischen Verwaltungsstrukturen und Sprachlandschaften auf. Neue Grenzen hielten vielfach an historisch Gewachsenem fest (SOBOUL 1975, 47). Französisch blieb Verwaltungssprache. Auf lange Sicht brach die Neuordnung des Raums jedoch kleine, in sich geschlossene Kommunikationsgemeinschaften. Für die Lexik hatte die Schaffung der Departements eine unmittelbare Folge: die alten Provinznamen verschwanden aus der Verwaltungssprache.
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haltung unterschwellig auf starken "Widerstand bei der Bevölkerung stieß und sich nie vollkommen durchgesetzt hatte. Besonders abgelehnt wurden der Tagesrhythmus und die Ersetzung des Sonntags durch den Decadi (vgl. M E I N Z E R 1988). Napoleon trennte sich nach dem Konkordat durch das Gesetz „Sur l'organisation des cultes" vom 8. 4. 1802 zunächst von der dekadischen Woche und führte die christlichen Feiertage wieder ein. Erst 1805 wurde die Frage des Maß- und Gewichtssystems gesetzlich von der Kalenderreform getrennt und schließlich das Paradoxon eines Kaiserreichs mit republikanischem Kalender beseitigt (vgl. SEIFERT 1989). Politisch strebten Konsulat und Empire einen Ausgleich der Kräfte an. Napoleon stützte sich auf die bereits zum überwiegenden Teil frankophonen aufstrebenden Mittelschichten, die den neuen Eliten angehörten. Die neuen Eliten, die sich aus der Revolutionszeit in Konsulat und Empire hinüberretteten oder gerade entstanden, verfochten die Universalisierung der Nationalsprache. Oft hielten ihre Vertreter am republikanischen Mythos der Gleichheit der Sprache fest (vgl. M A R K O V 1 9 8 4 ; B U L O T 1 9 8 8 ) . Napoleons Politik mußte aber auch die Interessen der vormaligen Eliten berücksichtigen. Die teilweise wieder in ihre alten Rechte eingesetzten aristokratischen und klerikalen Oberschichten waren sprachlich vor allem mit dem Französischen und dem Latein, darüber hinaus zumeist mit der Geschichte der regionalen Kulturen, jedoch nicht unbedingt den regionalen Sprachen verbunden. Napoleone Buonapartes Entwicklung zu Napoleon Premier hatte hinsichtlich seines eigenen Namens exemplarischen Charakter. Obwohl ihm das Französische zeitlebens Schwierigkeiten bereitete, entschied sich der gebürtige Korse für die Sprache der sprachlich-hegemonischen Schichten Frankreichs, zu denen nach 1804 die alten und neuen Eliten zählten. Das Korsische der Unterschichten auf der Heimatinsel hatte für den Sohn eines Kleinadligen niemals eine Rolle gespielt. Abgesehen von einigen Briefen an die Familie gibt es auch kaum Texte in italienischer Sprache aus Napoleons Feder. Als aufmerksamer Leser von Rousseau war er schnell in den Bann der Sprache der Aufklärung geraten. In seinen Schriften über Korsika wird das Korsische weder erwähnt noch die Sprachfrage mehr als gestreift (vgl. HLF I X / I , 486; B R O D - P L Ö T N E R 1985, 80 ff.). Vereinzelte Äußerungen des Kaisers zu nichtfranzösischen Sprachen lassen politische Hintergründe durchschimmern: 1808 versprach er den Basken während der Konferenz von Bayonne, deren sprachlich-kulturelle Identität gegen den spanischen Absolutismus und im Sinne einer gesamtbaskischen Verfassung zu unterstützen. Er kam auf diese Frage nie zurück. Auch
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die Elsässer erinnern sich einer Bemerkung Napoleons gegenüber einigen Generalen, denen die sprachliche Sonderstellung des Elsaß aufgefallen war. Der Kaiser sagte: „Laissez-les parier allemand pourvu qu'ils sabrent en fran^ais." (Zit. nach SERANT 1 9 6 5 , 2 6 1 . ) Man findet schwerlich explizite Äußerungen Napoleons hinsichtlich einer aus strategischen Gründen mehr oder minder forcierten Franzisierung eroberter Länder (vgl. Kap. 3) oder Anweisungen für eine zentralistische Sprachpolitik für Frankreich im Inneren der vorrevolutionären Grenzen. An den zitierten Äußerungen des Kaisers wird allenfalls sein Pragmatismus in der Sprachfrage sichtbar. Mit anderen Worten fehlen zwischen 1799 und 1814 also nicht nur sprachpolitische Gesetze, sondern auch im Diskurs des Kaisers selbst bleiben die sprachpolitischen Intentionen der hegemonischen Schichten verdeckt. Dennoch hat es sie gegeben. Die aufstrebenden Schichten (besonders des Bürgertums) versuchten ihre Macht zwischen 1799 und 1804 und verstärkt bis 1814 mit Hilfe eines zunehmend strengeren politischen und administrativen Zentralismus zu etablieren und auszubauen. Sie stellten sich gegen eine Zersplitterung von Produktionsmitteln und Besitz. Es bleibt die Frage, ob die Sprachenvielfalt als ebenfalls unerwünschte Zersplitterung der Bevölkerung empfunden wurde und inwieweit es berechtigt ist, überhaupt von einer zentralistischen napoleonischen Sprachpolitik zu sprechen. Dieser Frage soll nun anhand von drei Beispielen aus dem Bereich der vielfältigen Umfragen und Erhebungen nachgegangen werden, die zwischen 1795 und 1814 in Frankreich angestellt wurden und die Sprach (en) frage direkt oder indirekt aufwarfen. Vorangestellt sei daher ein Wort zur Entwicklung der Statistik als geistige Disziplin. Sie hatte während der Aufklärung bereits einen deutlichen Aufschwung erfahren und erreichte nach 1789 erste Höhepunkte. Es sei nur an die „Enquete" von Gregoire erinnert. Aber erst nach dem 9. Thermidor und besonders seit dem 18. Brumaire schritt die Entwicklung der Statistik sprunghaft voran und berührte nun besonders eine für unser Thema relevantes Terrain: die Jahre 1795 bis 1804 werden für Frankreich als das goldene Zeitalter der „Statistik der Regionen" angesehen (PERROT
1977).
Zu Beginn des Konsulats wurde ein an das Innenministerium angegliedertes Bureau de la Statistique gegründet.50 Es sollte alle natürlichen und kulturellen Ressourcen Frankreichs statistisch erfassen und 50
Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs wurde das Bureau aufgelöst und seine Arbeiten führte ζ. T. die Societe Royale des Antiquaires de France, Nachfolgeeinrichtung der Academie celtique, fort.
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als Orientierungshilfe für politische Entscheidungen fungieren. Bereits 1801 forderte das Bureau von den Präfekten rückwirkend ab 1789 eine Analyse der demographischen und ökonomischen Situation des Landes an, die dann bis 1803 fortgeführt werden sollte. Besonders das Wirtschafts- und Innenministerium versprachen sich davon Anhaltspunkte für den Aufbau einer militär-bürokratischen Staatsmaschinerie und einer starken Wirtschaft, die die Permanenz des Krieges stützen konnte. Vor diesem Hintergrund kann weder die (sprach)politisch-ideologische Bedeutung und Funktion verschiedenster Enqueten noch die politische Dimension des Agierens aller daran Beteiligten übersehen werden, selbst wenn dieser Mechanismus dem Einzelnen nicht bewußt gewesen sein kann. Die Regierung des Konsulats beabsichtigte jedenfalls, auf der Grundlage detaillierter Kenntnisse über die gesellschaftlichen Verhältnisse die Zügel wieder fest in den Griff zu bekommen, die das Direktorium hatte schleifen lassen (vgl. B U L O T 1988). Wie bereits erwähnt, blieb die übersichtlich gegliederte Verwaltung (Bezirk, Kreis, Gemeinde), die die Revolution hinterlassen hatte, erhalten. Jedoch wurde später ihre Wirkungsweise neu definiert: „nicht als örtliche oder regionale Selbstverwaltung, sondern als präzise arbeitendes, von einer Hand aufgezogenes Uhrwerk. Herausgestellt wurde [...] die Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Staatssouveränität, personifiziert in der Allmacht Napoleon Bonapartes [...] Das Verwaltungsschema war kompromißlos von oben nach unten durchgegliedert" (MARKOV 1984, 234), vom Präfekten über den Unterpräfekten bis zum Bürgermeister. Die Präfekten wurden vom ersten Konsul, später vom Kaiser ernannt. Ab 1804 setzte Napoleon sogar Bürgermeister („les empereurs au petit pied") von Gemeinden mit über 5000 Einwohnern persönlich ein (vgl. HLF IX/I, 523; M I S T L E R (Hrsg.) 1986, I, 143). Sie sollten die Staatsmacht am Platze und nicht das Lokalinteresse rund um den Kirchturm verkörpern (MARKOV 1984, 243), und die Umfragen werden zeigen, ob sie auch sprachpolitisch im Interesse der Zentralmacht reagierten. Die Verwaltungsbeamten als Vertreter der sprachlich-kulturell hegemonischen Schichten spielten schließlich eine Schlüsselrolle in dem sich bald weit verzweigenden Netz des Berichtswesens.
2.2.1.1. Die Umfrage der Coquebert de Montbret (1806/1807) Die Umfrage von 1806/07 betraf die Sprachverhältnisse in Frankreich direkt und mutet zunächst eher unpolitisch an. Sie wurde im Auftrag des Innenministeriums durch das Bureau de la Statistique initiiert.
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Mit ihr verbinden sich die Namen eines linguistisch interessierten Staatsmannes und eines Gelehrten, von Vater (Charles) und Sohn (Eugene) Coquebert de Montbret. 51 Die Enquete wurde durch ein Rundschreiben an die Präfekten herangetragen, welche weitere Beamte in die Arbeit einbezogen. Das Ergebnis faßten die Coquebert de Montbret in einem 1831 edierten Buch zusammen. Es erhebt sich die Frage nach dem Stellenwert dieser Enquete innerhalb der Sprachpolitik des Kaiserreichs, obwohl weder in der Ankündigung des Projekts noch in dem Zirkular sprachpolitische Zielstellungen formuliert waren. Die Präfekten waren lediglich aufgefordert, Berichte über die in ihrem Zuständigkeitsbereich gebräuchlichen dialectes und jeweils „une version par dialecte populaire du departement de la Parabole de l'Enfant prodigue, teile qu'elle se trouve dans l'Evangile de Saint-Luc Ch. X V " einzureichen (LEVASSEUR 1 9 8 5 , zit. nach BULOT 1988). Außerdem sollten sie die territoriale Verbreitung der Idiome ermitteln und die AnzaTil der Sprachträger bestimmen. Ziel des Unternehmens war laut E. Coquebert de Montbret ein rein wissenschaftliches Anliegen, das auf den Fortbestand enzyklopädischen Interesses bei Gelehrten des Kaiserreichs schließen läßt: „Le travail servira la grammaire generale, l'histoire etymologique des langues, l'histoire des migrations de peuples, la geographie ancienne et du Moyen Age." (HLF IX/1, 528) Man könnte zunächst diachronische Untersuchungen im Zentrum der Umfrage vermuten. Dies würde jedoch dem stark von den Ideologen bestimmten Zeitgeist, in dem die Historizität der Sprache keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielte, widersprechen (vgl. insgesamt BUSSE/TRABANT (Hrsg.) 1986, darin: OESTERREICHER S. 108; HASSLER 1984). Für die Coquebert de Montbret blieb die Beachtung des Historischen, sofern sie überhaupt angestrebt wurde (etwa i. S. der Geschichte der Sprachvariation des Französischen) eher ein uneingelöster programmatischer Anspruch. Es klingt auch an, daß mit Hilfe von Sprachgeschichte
51
Charles Coquebert de Montbret, genannt M. Gallois, Sohn eines Aristokraten, begann seine diplomatische Laufbahn im Ancien Regime als Konsul in Hamburg und Dublin. Während der Revolution betrieb er im Auftrag des Wohlfahrtsausschusses die Einführung des metrischen Systems. Nach dem 9. Thermidor unterrichtete er physikalische Geographie und Mineralogie. Nach dem 18. Brumaire gehörte er dem Staatsrat und als Verantwortlicher für statistische Erhebungen dem Innenministerium an. Nach Beendigung diplomatischer Missionen im Ausland 1815 in den Ruhestand versetzt, arbeitete er an einer unvollendet gebliebenen Studie zur physikalischen und ökonomischen Geographie Europas. Er war der staatliche Beauftragte für die angesprochene Enquete. Sein Sohn Eugene wirkte als Philologe federführend bei der Auswertung der Umfrage 1831.
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lediglich globalere Zusammenhänge (etwa der Siedlungsgeschichte) illustriert werden sollten. Die Verbindungen der Coquebert de Montbret zur deutschen Philologie, z.B. zu Humboldt, sensibilisierten sie weniger für die Historizität der Sprache als für das Problem sprachlicher Varianz auf synchroner Ebene. Immerhin faßten sie die Sammlung der Übersetzungen des biblischen Gleichnisses als Beitrag zur Geschichte der Dialekte des Französischen auf (vgl. 1831, Kapitelüberschrift S. 432). Die Vernetzungen zwischen der sprachpolitischen Dimension der Umfrage der Coquebert de Montbret und dem Entwicklungsstand der französischen und europäischen Sprachtheorie um 1800 sind vielschichtig und nicht widerspruchsfrei. Dennoch wird deutlich, daß die Umfrage im Ansatz zu einer Analyse der sprachlichen Verhältnisse Frankreichs auf synchroner Ebene führte, die um die Jahrhundertwende beispielgebend war. Ähnlich wie in der „Enquete Gregoire" wurden auch 1806/07 detailliert Abweichungen (z.B. Aussprachebesonderheiten) zwischen Sprachen und Varietäten erfaßt. Die für Frankreich ermittelten Idiome wurden in der Ankündigung des Bandes von 1831 von E. Coquebert de Montbret mittels eines aufschlußreichen Bezeichnungsregisters beschrieben. Er unterschied idiomes principaux = langues meres von dialectes secondaires. Als langue galten neben dem Französischen Deutsch, Flämisch, Baskisch, Bretonisch und Italienisch (vgl. HLF IX/ 1, 527). Im Vorwort 1831 (S. III) heißt es, die Übersetzungen ins Bretonische und Baskische zeigten, daß es sich nicht um Dialekte des Französischen, sondern um richtige Sprachen handle, die vom Französischen nicht weniger unterschieden seien als etwa das Deutsche oder Russische. Die romanischen Regionalsprachen wurden als dialectes secondaires bzw. patois analogues au franfais der Nationalsprache zugeschlagen, ebenso das Korsische dem Italienischen. Damit war zwar die von Gregoire entwickelte einfache Opposition langue = franfais vs. nonlangue = patois (für alle französischen Dialekte und alle Regionalsprachen, vgl. Kap. 2.1.) abgeschwächt, das Katalanische und Okzitanische bewahrten jedoch den mittlerweile zunehmend abwertend konnotierten Status des patois. Den bei den Coquerbet de Montbret gewählten Sprachbezeichnungen lag die Wiederaufnahme alter Argumentationen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit (ζ. B. Sprachverfall, Sprachmischung) zugrunde, die typisch für die Zeit der Ideologen ist (vgl. O E S T E R R E I C H E R 1986, 109) und durch das Streben nach Perfektionierung und Uniformierung des Französischen ergänzt wird. In dem Sammelband von 1831 präsentierten die Coquebert de Mont-
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bret aber auch einen Artikel von Jaubert, der den Titel „Recherches historiques sur la langue catalane" trägt. Gerade die heiklen terminologischen Fragen waren somit nicht unter Autoren und Herausgebern abgestimmt. Laut Untertitel von Coquebert de Montbret 1831 wurden rund einhundert Fassungen des Gleichnisses vom verlorenen Sohn zusammengetragen: „en cent idiomes ou patois differens, presque tous en France". Ein Beispiel soll zeigen, was sich hinter dieser verschwommenen Angabe verbergen konnte. Die Bretonen schickten eine Übersetzung im leonesischen Dialekt, die Le Gonidec 52 besorgte, sowie eine von Le Brigant 53 im Dialekt von Treguier. In diesem Falle hatte sich (vgl. Vorwort 1831) die Academie celtique (vgl. 2.2.1.3.) ins Geschehen eingeschaltet. Ein brieflich vom Innenminister an Le Gonidec gerichteter Aufruf war 1808 in den Memoiren der Academie abgedruckt worden. Zwei von vier Hauptdialekten des Bretonischen wurden schon beim Einreichen der Gleichnisse nicht berücksichtigt. 1831 druckte Coquebert de Montbret lediglich die Le Gonidecsche Übersetzung ab, fügte der Sammlung jedoch je eine Fassung in Kymrisch, Irländisch, Schottisch und Gälisch bei. Damit waren nun außerhalb Frankreichs gebräuchliche keltische Sprachen in dem Band vertreten (vgl. TANGUY 1977,1, 273). (Übrigens wurden auch ausländische Wissenschaftler in das Unternehmen einbezogen. Die baskische Fassung des Gleichnisses folgt einer Übersetzung von Humboldt.) Allein das bretonische Beispiel deutet mehrere Probleme an. Zunächst fällt der Sammeleifer auf, den die Umfrage entfachte und der nicht an Frankreichs Staatsgrenzen halt machte. Im Landesinneren konnte die sprachliche Varianz jedoch nur lückenhaft verschriftet werden. Bedingt durch einen Mangel an schriftsprachlichen Traditionen verschiedener Idiome gelang es den Korrespondenten auch 1806/ 07 nicht, ein vollständiges Bild der regionalen Varietäten zu zeichnen. Sie mußten zwischen vorhandenen Normen auswählen oder sich gegebenenfalls für eine eigenständige Fixierung des Gesprochenen entscheiden. „La parole populaire est en fait restituee plutot que communiquee." (BULOT 1988) Das an anderen Stellen der Umfrage deutliche Bemühen um schriftliche Fixierung mündlich überlieferter Varietäten erlaubt wohl einen allgemeineren Rückschluß auf die Sprachpolitik des Kaiserreichs. Es 52 53
Zu Le Gonidec und seiner Academie vgl. Kap. 2.2.1.3. Jacques Le Brigant, Vf. der „Elements succincts de la langue des Celtes-Gomerites ou Bretons [...]" 1779, zählte zu den radikalsten Keltomanen des 18. Jahrhunderts. Vgl. LAMBERT 1 9 7 6 / 7 7 , 2 3 7 , 2 6 6 .
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ging keineswegs um ein neues Konzept des sprachlichen Föderalismus oder eine generelle Abkehr von Uniformierungs- und Universalisierungsabsichten. Angestrebt wurde die museale Archivierung verschiedener Idiome ungeachtet ihrer Rolle in der zeitgenössischen kommunikativen Praxis. Die Regionalsprachen galten als soweit „im Rahmen einer als gesichert angesehenen Uniformität" marginalisiert, daß sie ein interessantes Forschungsobjekt darstellten (SCHLIEBEN-LANGE 1987, 32). Es galt ein zunehmend schneller verschwindendes nationalgeschichtliches Erbe wissenschaftlich zu fixieren. Nicht das Überleben gesprochener Varietäten sollte gesichert, sondern ein historischer Zustand erfaßt und für die Zukunft ins kollektive Bewußtsein gehoben werden 5 4 . Es war daher kein Widerspruch, sodann auf die Macht der Zeit zu vertrauen, die die patois verschwinden werden lasse (vgl. BULOT 1988). Gleichzeitig erfolgte aber eine Abkehr von den repressiven Maßnahmen der Jakobinerzeit. Unter Hinweis auf das abschrekkende Beispiel Belgiens und die vergeblichen Versuche Josephs II. in Ungarn (und indirekt auf die Jakobiner) hieß es in dem Band von 1831: „Cependant il ne faut pas croire que l'aneantissement des dialectes ou patois soit aussi prochain qu'on pourrait se l'imaginer. On ne peut l'esperer que de la marche du temps, des progres de l'instruction primaire, et de l'empire lent, mais aussure, de l'instruction. C'est en vain qu'on esperait häter cette revolution par des mesures administratives et surtout par la contrainte" (S. 23). Damit kam die Arbeit der Coquebert de Montbret (1806 — 1831) dennoch den sprachpolitischen Intentionen der frankophonen Oberschichten entgegen und ließ sich in diesem Sinne zur Instrumentalisierung von Sprachpolitik verwenden. Die aristokratischen alten Eliten, zu denen die Herausgeber selbst zählten, wurden durch das Ergebnis der Umfrage zufriedengestellt, weil sich ihre Verbundenheit mit den Regionalidiomen ohnehin im kulturhistorischen bzw. sprachwissenschaftlichen Interesse an den Regionalsprachen erschöpfte (ζ. B. nach 1830 La Villemarque). Es stand nur bedingt im Widerspruch zu sprachpolitischen Tendenzen hin zur stärkeren Verbreitung des Französischen, zur weiteren Festigung des soziokulturellen Prestiges der Nationalsprache und einem mehr oder minder puristischen Konzept ihrer Entwicklung (vgl. 2.2.2), mit denen sich alte wie neue Eliten des Kaiserreichs identifizieren konnten. 54
Dieses Herangehen an die Sprache erinnert an die seit dem 9. Thermidor eingeleiteten Maßnahmen zum Schutze von Kulturgütern, die vom vandalisme revolutionnaire verschont geblieben waren. Auch sie gewannen einen neuen, nunmehr musealen Wert.
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Die in der Enquete erfaßten sprachgeographischen Daten bilden in ihrer Gesamtheit den bedeutendsten französischen Sprachatlas des beginnenden 19. Jahrhunderts. Die dazugehörigen Karten wurden übrigens außerhalb des Bandes von 1831 im „Annuaire des Longitudes" veröffentlicht. 55 Die in dem Band von 1831 gelieferten Angaben zu Sprecherzahlen (durch die Herausgeber aufgerechnet für Frankreich in den Grenzen von 1830) erweisen sich auch unter sprachpolitischem Aspekt als nicht neutral. Zum einen sind es auf der Umfrage von 1806 und der Bevölkerungsentwicklung basierende Hochrechnungen (S. 13 —16), deren Stimmigkeit hier nicht überprüft werden kann und von den Editoren selbst problematisiert wurde. Immerhin versuchten sie, den regionalen Bevölkerungszuwachs auf die Sprecherzahlen in den Regionen umzulegen. Zum anderen ergibt sich die Relativität der Angaben aus dem Prinzip der Erfassung. Unter 3 1 3 5 1 5 4 5 französischen Bürgern (1830) verzeichnet Coquebert „Essai sur la geographie de la langue fran$aise" (S. 8 - 2 9 ) 177 950 Flämisch-, 1 1 4 0 0 0 0 Deutsch-, 1 1 5 0 0 0 0 Bretonisch-, 118 000 Baskisch-, 185 079 Italienischsprecher sowie 29 180516 Personen, die Französisch in allen seinen „Dialekten und Patois" verwendeten. Okzitanen und Katalanen wurden nicht einzeln erfaßt und (wie die Korsen) anderen Gruppen zugeschlagen. Die Trennungslinie zwischen der langue d'otl und langue d'oc wurde sogar ausdrücklich als dialektale Gliederung des Französischen begriffen (S. 21). Außerdem gab es keine Angaben zu bilingualen Sprechern. So traf das Kriterium der Regionalsprachigkeit nach der Rechnung der Coquebert de Montbret letztendlich für einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung zu: für nur 8,4%. Hier haben wir die marginale Rolle der museumsreifen Regionalsprachen oder, anders gesagt, eine Darstellung der Sprachenverteilung aus dem Blickwinkel fest etablierter sprachlich-kultureller Hegemonie. Außerdem gaben die Verwaltungsbeamten aufschlußreiche Erklärungen für die wirtschaftlichen Hintergründe der Funktionsverteilung von Französisch und Regionalsprachen im städtischen oder ländlichen Bereich. Der Präfekt von Loire-Inferieure vermerkte etwa: „On ne parle breton que dans la commune de Batz et quelques hameaux voisins, encore n'est-ce que parce que leur commerce de sei avec la cote de Morbihan qui le τεςοΐί leur a rendu son usage en quelque sorte necessaire, car ailleurs la langue fran^aise va jusqu'a la Vilaine." 55
Vgl. die Karten bei H L F I X / 1 , 5 3 1 — 5 9 7 . Sie machen das Vordringen der Nationalsprache im Vergleich zu früheren Jahrhunderten deutlich.
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(HLF IX/1, 540) Neuerdings werde in Batz zunehmend französisch gesprochen, in den umliegenden Dörfern aber weiterhin das Bretonische verwendet. Auch Derrin (Präfekt des Finistere) teilte mit: „Dans toutes les communes du departement on parle les deux langues; mais le fran^ais domine dans les villes et le breton dans les campagnes." (HLF IX/1, 540) Die Korrespondenten blieben also nicht bei der Beschreibung von Varietäten, bei Übersetzungen und geographischen wie quantitativen Angaben stehen. Sie vervollständigten ihren Diskurs durch Reflexionen über die Sprachträger der Varietäten sowie die soziokulturelle und politisch-ökonomische Funktion der regionalen Kommunikationsmittel bzw. der Nationalsprache. Diese Tatsache ist nicht loszulösen vom generellen Wirken der Verwaltungsbeamten in der Sprachpolitik. Als Wegbereiter und Verfechter der staatlichen Zentralisierung beeinflußten gerade sie wesentlich den Zuschnitt diglossischer Situationen in den Regionen. Sie hatten die Nationalsprache in der Verwaltung wie in anderen Sphären des öffentlichen Lebens durchzusetzen. Sie wachten über die Französischsprachigkeit im staatlichen Schulwesen. Nicht zufällig setzte Napoleon Präfekten wie andere Beamte bevorzugt in Regionen ein, zu denen sie keine persönliche Bindung durch die eigene Herkunft hatten. Für eine zentralistische Sprachpolitik brachte dieser Umstand einen wichtigen Nebeneffekt hervor. Die den Verwaltungsbeamten in der Regel nicht zugänglichen Regionalidiome bereiteten ihnen Schwierigkeiten. Julien (Präfekt des Morbihan) klagte: „Le peuple que j'ai ä administrer a des mceurs si eloignees de Celles que me sont familieres", daß er schlußfolgern müsse, das Bretonische habe zu verschwinden (HLF I X / 1 , 497; S E R A N T 1965, 39). Der Präfekt des Departement Bouches-du-Rhone stritt für die Durchsetzung des Französischen in der Schule (BRUN 1927, 138). Ein Unterpräfekt des Baskenlandes tadelte sprachbedingte Ignoranz und kulturelle Rückständigkeit seiner Region (STEPHENS 1979). Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Sie umreißen den Erfahrungshorizont der Präfekten, der in der Umfrage der Coquebert de Montbret als Bewertungsrahmen angenommen werden darf, selbst wenn nicht ausdrücklich evaluative Äußerungen gefordert waren. Die Beamten reagierten von selbst zuverlässig zugunsten der sprachlichen Uniformierung, ohne daß sprachpolitische Gesetze notwendig gewesen wären. Insgesamt erweist sich die zunächst politisch neutral anmutende Umfrage der Coquebert de Montbret somit als durchaus einem zentralistischen sprachpolitischen Konzept des Kaiserreichs zugehörig, wovon die Bezeichnungen der behandelten sprachlichen Varietäten ebenso zeugen wie die Einbindung der Darstellung in die zeitgenössische Sprachtheorie und in den Verwaltungsalltag.
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2.2.1.2. Von der Enquete Guillaume (1794) zur napoleonischen Bildungspolitik Das Comite d'instruction publique56 setzte nach dem Sturz von Robespierre seine Arbeit unbeirrt mit Hilfe von Gregoire, Lakanal u. a. fort, die vor und während der Jakobinerdiktatur auch in diesem Bereich gewirkt hatten. Der Wettbewerb zu den livres elementaires, zunächst offiziell im Juni 1794 beendet, wurde schon ab September fortgesetzt. Die Organisation des öffentlichen Schulwesens blieb weiterhin das zentrale Problem und bestimmte beispielsweise die Sitzungen des Lycee des Arts.57 Unmittelbar nach dem 9. Thermidor An II wurde im Konvent auch eine Umfrage zu den Grundschulen auf dem Lande angeregt. Ab November 1794 5 8 erbat die „Enquete Guillaume" von den örtlichen Verwaltungsinstanzen besondere Informationen zur Lage in den regionalsprachigen Gebieten. Obwohl die Ergebnisse dieser Umfrage nur unvollständig erhalten blieben, zeigen sie deutlich das Scheitern der jakobinischen Vorhaben im Bereich des Grundschulwesens. Angedeutet hatte sich diese Bilanz bereits in den Schwierigkeiten, die bei der Berufung der instituteurs de la langue franfaise aufgetreten waren (vgl. B A R E R E 1794 und die Erweiterung des Dekrets auf Katalonien am 18. 2. 1794, HLF IX/1, 184). Von 557 durch Guillaume befragten Distriktsdirektorien antworteten nur 350. In 227 Berichten fehlten Angaben zur Anzahl der Schulen. Nur in 32 Antworten war von „ecoles organisees a peu pres completement" die Rede, 41 Distrikte meldeten „ecoles organisees en partie". Meist war von „wenigen" oder „keinen" Grundschulen die Rede. Beispielsweise lautete der Grundtenor in den vier bretonischen Departements „point d'ecoles". 5 9 Abgesehen von den unmittelbaren Folgen des Krieges und der finanziellen Misere (die Geldquellen des Bildungswesens zu Zeiten des 56
57 58 59
Unmittelbar vor dem 9. Thermidor lag die Verantwortung für Volksbildung beim Wohlfahrtsausschuß, danach wurde sie wieder dem Comite übertragen, dessen Vorsitz Lakanal übernahm. HLF IX/1, 299. Vgl. Sitzung vom 10. Fructidor An II (27. 8. 1794) 12 Brumaire An III (2. 11. 1794) „Cotes-du-Nord: Saint-Brieuc: aucun renseignement, Dinan: peu d'ecoles, Instituteurs ineptes, Pontrieux: 16 ecoles sur 47, Loudeac: point de renseignement; Finistere: Quimper: point d'ecole, Carhaix: Landerneau: Ille-et-Vilaine: PortMalo: quelques ecoles, Redon: point de renseignement, Bain: —, Vitre: point d'ecoles; Morbihan: Roche-des-Trois (Rochefort-en-Terre): point d'ecoles. Hennebont: - , Pontivy: - , Le Faouet: - , Plomerel: - ." HLF IX/1, 301 ff.; CALVET 1974, 169.
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Ändert Regime waren versiegt), scheiterte die jakobinische Schulpolitik in den Regionen besonders am Mangel an zweisprachigen Lehrern und am Prinzip der Französischsprachigkeit der Schule. Das Dekret Bouquier (19. 12. 1793, vgl. BUSSE 1985, 129) hatte mit Ausnahme des Elsaß für alle Regionen Französisch als Unterrichtsgegenstand wie -spräche festgelegt. Im Bericht von Lakanal (9. Brumaire An III, 30. 10. 1794) bzw. in dem gleichzeitig verabschiedeten Gesetz zu den Ecoles normales, die Lehrer ausbilden sollten, wurde die Frage der Regionalsprachen nicht aufgeworfen. Ganz im Geiste der Ideologen, die sich hier sehr engagierten, akzentuierte die Lehrerausbildung das Studium des Französischen ( O E S T E R R E I C H E R 1986, 106). Angehende Lehrer sollten lt. Absatz VIII des Gesetzes kompetent sein, lecture und ecriture60 gemäß den in den livres elementaires benutzten Methoden zu vermitteln („La Decade philosophique", H. 20, 20. Brumaire An III, Bd. 3, 308, vgl. CALVET 1 9 7 4 ,
169).
Fünf Tage nach der Schließung des Jakobinerclubs wurde von Lakanal ein weiteres Dekret zur Grundschule zur Diskussion gestellt (BRUN 1927, 95). Hier hieß es im Kapitel IV: „[...] on enseignera aux eleves, 1° a lire et a ecrire, [...], 4° des elemens de Ia langue fran^aise, soit parlee, soit ecrite [...]. L'enseignement sera fait en langue franς3ΐ86; l'idiome du pays ne pourra etre employe que comme moyen auxiliaire." (La Decade philosophique, H. 22, 10. Frimaire An III, Bd. 3, 436). Gesprochenes und geschriebenes Französisch blieb also Lehrgegenstand und Unterrichtssprache, die Verwendung der Regionalidiome wurde jedoch wenigstens als methodisches Hilfsmittel überdacht. Allerdings sollten daraus keine Rückschlüsse auf eine gewachsene Chancengleichheit aller Kinder, die das nachthermidorianische Schulwesen durchliefen, gezogen werden. Eher das Gegenteil scheint in der Folge der Fall gewesen zu sein, wenn man bedenkt, daß die Schulpolitik des Kaiserreichs schließlich auf die staatliche Unterstützung all jener Bildungsebenen hinauslief, die vorrangig der Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse dienten und die Führungskräfte der Nation entwickeln halfen. Regionalsprachige Kinder wurden im gesamten Bildungsgang von der Grundschule bis zur Universität besonders stark benachteiligt:
60
Daß die französische Grundschule in Wirklichkeit noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein entgegen Lakanals Forderungen und im Unterschied zu höheren Schulen wie den Ecoles normales bei der Vermittlung der lecture stehenblieb, wird in Kapitel 3.1. des vorliegenden Bandes problematisiert.
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Während des I er Empire trat das Interesse an den Volksschulen insgesamt hinter einer kontinuierlichen Förderung der mittleren und höheren Bildungsebenen zurück, dienten diese doch vorrangig der Reproduktion der (Groß) bourgeoisie. Sie blieben vielfach in öffentlicher Hand, während insgesamt die Zahl privater Schulen wieder anstieg. Der Ausbau des mittleren und höheren Bildungswesens gründete sich auf das Dekret Fourcroy von 1802. Parallel zur generell verstärkten staatlichen Zentralisierung wurden Ecoles secondaries, Lycees und Colleges aufgebaut. Gleichsam die Norm der höheren Lehranstalten, die dann auch das Bild in den Regionen bestimmten, bildeten die staatlichen Lyzeen. In der Bretagne wurden 1802 in Rennes, 1803 in Nantes und Pontivy (vgl. Histoire de la Bretagne 1984, IV, 52) Lyzeen gegründet. Sie lösten die Ecoles centrales der Republik ab, deren Zuschnitt besonders von den Ideologen geprägt worden war und nunmehr als zu liberal und modernistisch galt (HLF IX/1, 423). Die Lyzeen sollten wieder „klassische Allgemeinbildung" vermitteln. Man hielt aber an dem hohen Stellenwert der Französischausbildung fest, den die Ideologen in den Zentralschulen vorgeprägt hatten. 61 Das Kaiserreich setzte auf eine „sorgfältig überwachte Elitezüchtung im Sinne des Verbündnisses von Besitz und Bildung" (MARKOV 1984, 127). Die Absolventen der Lyzeen gelangten dann an die Hochschulen, deren Netz dichter gespannt wurde (in der Bretagne vgl. die Gründung der Faculte de Rennes 1808). 62 Das Universitätsgesetz vom 10. 5. 1806 begründete ein Hochschulsystem, das den Intentionen des Kaisers entsprach. „Die Universität von Frankreich bildete eine Marschkolonne gleich anderen im militärisch gestrafften Staat", in dem Lehre und Studium streng reglementiert waren (MARKOV 1984, 128). Napoleon galt selbst als begeisterter Verehrer der in Universite de France umbenannten Sorbonne. Jeder Bildungsgang auf mittlerer und höherer Ebene basierte ausschließlich auf der Französischsprachigkeit von Lehrenden und Lernenden. „Aristokratischen, kirchlichen und regionalen Einflüssen — zumindest im Prinzip — entzogen", blieb der Bildungsweg auch mit Hilfe der sprachlichen Barrieren „faktisch den Kindern der gehobenen Schichten vorbehalten, auf die er zugeschnitten war" (ebd.), einer sich 61
Der Erwerb der Schrift vollzog sich dabei im allgemeinen noch über den Umweg des Lateins, was die Schwierigkeiten in regionalsprachigen Gebieten noch erhöhte,
62
Zur Gesamtstatistik vgl. H L F I X / 1 , 50 ff., 433 ff.; zur Situation in Südfrankreich BRUN 1927; zu den rechtlichen Grundlagen MISTLER (Hrsg.) 1968, I, 373 ff.
v g l . PLÖTNER 1 9 8 9 .
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vorrangig aus sich selbst rekrutierenden frankophonen Elite. Sie sollte keinem regionalen Kulturkreis enger verbunden, sondern möglichst kontrollierbar und in sich austauschbar sein. Nur in Ausnahmefällen, z.B. im Elsaß 63 , stellte man Überlegungen an, die Regionalsprachen in die Bildung einzubeziehen. Eine der Grundvoraussetzungen sozialer Mobilität hieß korrekte Beherrschung der Nationalsprache. Zahlungskräftige Eltern konnten ihre Kinder auch Privatschulen anvertrauen, in denen der französischen Grammatik besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde (vgl. B R U N 1 9 2 7 , 1 3 2 ) . Die regionalsprachigen Unterschichten zogen auch hier den Kürzeren. Für die Grundschule des Kaiserreichs wurden erst spät ( 1 8 1 1 ) Organisationsformen erarbeitet. Die Anzahl dieser Schulen war und blieb gering und i. a. auf den städtischen Bereich beschränkt. Oft fehlten Lehrer, die vorhandenen waren nicht selten inkompetent. Zudem litt die staatliche Grundschule unter Geldknappheit, obgleich Napoleon den Kreis der Bildungswürdigen schon auf ein Minimum reduzierte und dadurch die Kosten senkte. 64 Der Kaiser hielt Schulbildung für Mädchen für ebenso unangemessen wie für alle Jungen, deren soziale Herkunft keine Hoffnung auf eine berufliche Karriere versprach ( M I S T L E R (Hrsg.) 1 9 6 8 , 3 7 2 ) . Insbesondere auf dem Lande gelangte ein beträchtlicher Teil der ohnehin wenigen Grundschulen wieder in private Hand oder unter kirchliche Obhut. Hier gab es zwar bessere Bedingungen als in der vernachlässigten staatlichen Grundschule. Sie waren aber dennoch eher beklagenswert (SERANT 1965, 95). Das Kaiserreich blieb dem Grundsatz treu, regionalsprachige Kinder beim Schuleintritt sofort mit der Nationalsprache zu konfrontieren und die Heimsprachen und -dialekte zu verpönen: „Le fran$ais sera seul en usage a l'ecole. L'adjoint exercera ses eleves a la prononciation fran^aise et corrigera les locutions vicieuses [...] les professeurs sont particulierement charges de veiller a ce que les eleves [...] ne se servent jamais de l'idiome local dans leurs conversations habituelles, ni pen63
Die elsässischen Eliten argumentierten, Dreisprachigkeit in der Ausbildung (frz., dt., lat.) sichere dem Staat Einnahmen (ausländische Studenten, Handelsverbindungen). Auch sei eine Mittlerposition zwischen großen Kulturkreisen immer nützlich. Der Bürger könne nur in seiner Welt dem Staat gedeihlich dienen. In bestimmten Berufen, etwa der Medizin, sei das Deutsche unerläßlich. H L F I X / 1 , 439, 512.
64
Bereits 1802 wurde die finanzielle Verantwortung für die Grundschulen auf die Gemeinden bzw. die Familien abgewälzt. Lehrer wurden vom Schulgeld ihrer Schützlinge bezahlt. In Südfrankreich hatten 1808 noch 50% der Dörfer keine Grundschule. Vgl. BRUN 1927, 131.
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dant leurs exercices de recreation." (Departement de Vaucluse, zit. nach BRUN 1 9 2 7 , 1 3 1 ) . Vereinzelt wurde bereits das im gesamten 19. Jahrhundert gefürchtete symbole im Unterricht verwendet, ein (manchmal um den Hals zu hängendes) Zeichen, das regionale Sprache und Kultur herabwürdigte. "Wurden Kinder dabei ertappt, bretonisch oder katalanisch zu sprechen, erhielten sie das Zeichen. Des gleichen Vergehens bezichtigte Mitschüler lösten sie ab. Der Letzte am Tage durfte nachsitzen oder wurde anders gedemütigt. Soziale Minderwertigkeitsgefühle, Schmerz und Entfremdung von der Muttersprache stellten sich bei den Schülern und deren Eltern ein. Daher begrüßten die Eltern schließlich jede Möglichkeit, die den Kindern den Zutritt zur Nationalsprache eröffnete, um die Chancen für einen sozialen Aufstieg der Kinder zu vergrößern. Die eben skizzierten, auf den verschiedenen Bildungsebenen anzutreffenden Aspekte des napoleonischen Schulwesens deuten an, wie stark Kinder aus den unteren Volksschichten i. a. und noch zusätzlich die regionalsprachigen unter ihnen benachteiligt waren. Ein Großteil besaß nicht einmal die Möglichkeit, eine Grundschule zu besuchen. Das Analphabetentum wurde zwischen 1800 und 1814 kaum abgebaut. Die Regionalidiome erfuhren auf allen Ebenen des Bildungswesens eine zunehmende soziokulturelle Abwertung, mit Ausnahme des Deutschen und Italienischen, die in bestimmten Regionen mit Hilfe der regionalen Oberschichten zusätzlich zur Nationalsprache einen gewissen Platz im Bildungswesen behielten. Breite Bevölkerungsschichten dieser Gebiete waren allerdings nur der elsässischen bzw. korsischen Dialekte mächtig und blieben von daher sowohl von der regionalen wie nationalen Kultursprache ausgeschlossen.
2.2.1.3. Die Umfrage der Academie
celtique
(1805)
Die dritte der hier aus dem Untersuchungszeitraum ausgewählten Umfragen soll an einem signifikanten Beispiel den Umgang mit der Geschichte der Regionalsprachen im Ersten Kaiserreich erhellen. Die Academie celtique wurde am 9. Germinal An XIII (30. 3. 1805) gegründet. Cambry, Johanneau, Mangourit, Lavallee, Lenoir und Volney65 hatten neun Monate lang Überlegungen zum Anliegen der 65
Jacques Cambry befaßte sich als Distriktspräsident von Quimperle mit einem Katalog der Kunstgegenstände, die dem vandalisme revolutionnaire entgangen waren, wurde aber bekannt durch seine darauf fußende Reisebeschreibung des
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neuen gelehrten Gesellschaft angestellt, das die drei erstgenannten Gründungsmitglieder auch in ihren Eröffnungsreden darstellten und Lavallee im Vorwort des 1. Bandes der „Memoires de l'Academie celtique" 1807 zusammenfaßte. Auch in Anlehnung an keltomanische Vorleistungen aus vergangenen Jahrhunderten ging es grundsätzlich darum, die Kelten als Stammväter der französischen Nation zu rehabilitieren und Traditionslinien von den Anfängen keltischer Siedlungsgeschichte bis zum ruhmreichen Kaiserreich nachzuzeichnen (vgl. LAVALLEE 1807, 1). Um diese keltische Vorgeschichte sollte der Mythos der großen Nation aufgebaut werden, der Napoleon als Waffenträger der Oberschichten dazu diente, die hegemonialen Ansprüche Frankreichs in Europa ideologisch zu legitimieren. In diesem Sinne — also offenkundig nicht ohne tagespolitischen Bezug — rief Lavallee dazu auf, den erst unlängst zu Recht erworbenen Ruhm Frankreichs durch „le noble orgueil d'une gloire heritee" zu vervollständigen (ebd., 2). Dieses Ziel gründete auf dem spätestens seit dem 16. Jahrhundert umstrittenen Postulat, Frankreich sei der alleinige und rechtmäßige Erbe der Kelten. Die Debatte um diese These erreichte ihren ersten Höhepunkt im 16. Jahrhundert, als unter Fran$ois I er der Erlaß von Villier-Cotterets für die Ausbreitung des Französischen als Sprache der staatlichen Gerichtsbarkeit sorgte und mit Du Beilay sowie den Schriftstellern der Pleiade eine Blütezeit grammatischer und schöngeistiger Literatur anbrach. Gleichzeitig werteten Postel oder Bodin die das romanisierte Gallien erobernden Franken als in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrte Kelten, während z.B. Paradin für die
Finistere, die auch im Ausland in Übersetzungen zirkulierte. Er wurde 1803 Präfekt (Oise) und verlegte unter Mitwirkung von Johanneau 1805 eine Studie zur keltischen Geschichte „Memoire celtiques" [...]. Eloi Johanneau betrieb als Lehrer keltologische Studien, die jedoch meist unvollendet blieben. Er hatte La Tour d'Auvergnes Bibliothek geerbt und galt als sehr beschlagen. Ab Mai 1805 fungierte er als ständiger Sekretär der Keltischen Akademie. Er veröffentlichte 1818 etymologische Studien. Joseph Lavallee, ebenfalls Vf. einer bretonischen Reisebeschreibung, aber eher bekannt als Museumsfachmann und Alterspräsident der Academie celtique, engagierte sich auch für die geschichtliche Rehabilitierung der Kelten. Alexandre Lenoir war der Verwalter des Musee des Monumens fratifais und Schlüsselfigur der neuen Museen. Er stellte der Akademie in seinem Museum Räumlichkeiten zur Verfügung und wurde einer ihrer Präsidenten. Mangourit, zeitweilig Sekretär der Akademie, verband sein Wirken als Verwaltungsbeamter und Diplomat mit einem starken Interesse für das Druidentum und keltische Geschichte. Christian Francois de Volney gehörte sowohl zum Kreis der Ideologen als auch zur Academie celtique. Seine Erfahrungen als Philologe dürften für die Akademie besonders anregend gewesen sein.
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germanische Abstammung der Gallier stritt. Rhenanus und Ramus ordneten Germanen und Kelten zumindest unterschiedlichen Kulturkreisen zu. Der Streit um den angedeuteten historischen Kunstgriff, die Franken durch keltische Abstammung in die glänzende Geschichte Galliens einzubinden, setzte sich über Jahrhunderte fort und wallte verschiedentlich stärker auf. Leibniz intensivierte ihn zusätzlich durch die Annahme, die keltischen Sprachen seien das geeignetste Mittel, die europäische Sprachgeschichte zu erforschen. Im 18. Jahrhundert vervielfältigten sich die Fragen: Waren die Franken Kelten oder Germanen? Wann gelangten die Bretonen auf die armorikanische Halbinsel? Welche Zusammenhänge bestanden zwischen der Bretagne, der Normandie und der französischen Krone? 66 Begründeten die feudale (fränkische) Aristokratie und die galloromanischen roturiers zwei verschiedene Rassen? 67 War das Keltische die Ursprache? Wie sah es aus und welchen Idiomen ähnelte es? Welche Spuren hinterließ es im Französischen und Deutschen? Nicht nur in Deutschland (von Eccardus bis Adelung), sondern besonders in Frankreich wurde das 18. Jahrhundert eine Epoche der Keltophilie (vgl. auch De Brosses und Court de Gebelin 68 ) und der mehr (La Tour d'Auvergne) oder minder moderaten (Le Brigant) 6 9 Keltomanie, die 1760 durch Macphersons Ossiantexte besonderen Aufschwung erhielt und um eine weitere Frage kreiste: Konnte es sein, daß nur die Schotten einen Ossian besaßen, oder waren die ältesten Texte der anderen keltischen Idiome nur noch nicht aufgefunden? Den Höhepunkt der französischen Keltomanie stellte das Werk von La Tour d'Auvergne 70 dar, dessen „Origines gauloises" von 1783 be-
66
Vgl. d i e A r b e i t e n v o n D u M O L I N E T , AUBERT UND LOBINEAU.
67
Die Debatte um den doppelten Rassenbegriff von Boulainvillers wurde besonders von Sieyes im Nachdenken über den dritten Stand kritisiert, Sieyes griff aber dafür auf die Positionen von Bodin und Postel zurück. Sie werteten das Altkeltische (mit gewissen Unterschieden) als Ursprache und betonten seine Bedeutung für die französische Sprachgeschichte. Die Korrespondenten der Enquete Gregoire griffen vielfach auf beider Thesen zurück. Auch die Theorie des Keltomanen Pezron, der einen hohen Anteil einsilbiger Lexik einer Sprache als Zeichen ihrer Nähe zu den ältesten, natürlichen Sprachzuständen gewertet hatte, beeinflußte Gregoires Korrespondenten stark, vgl. CERTEAU et al. 1975.
68
69 70
Vgl. Anm. 55. Der legendäre Ruf des Philologen Theophile M a l o Corret de La Tour D'Auvergne (1743 — 1800) wurde noch dadurch aufgewertet, daß er als Offizier der französischen Revolutionsarmee gefallen war.
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reits 1801 eine dritte Auflage erreichten. Die darin formulierten Ziele nahmen das Programm der Academie celtique teilweise voraus. 71 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts argumentierten die Begründer der Academie celtique zunächst gegen eine Überbewertung des lateinischgriechischen Altertums in ihrer Meinung nach veralteten Geschichtsdarstellungen. 72 Als ein wichtiger Grund der Vernachlässigung keltischer Traditionen in der traditionellen Geschichtsschreibung wurde ihre relativ spät einsetzende schriftsprachliche Überlieferung angeführt. „Vos travaux [...] auront bientot fait connoitre les causes de la longue obscurite derriere laquelle le peuple ancien des Celtes disparoit presqu'entierement. II n'ecrivoit pas son histoire. Les Grecs et les Romains tenterent de la faire oublier. [...] L'histoire des Celtes ne se trouve point dans un recueil particulier, eile est ecrite a la tete de l'histoire." (CAMBRY 1805, 2 1 - 2 4 ) Die keltische Geschichte müsse endlich mit Hilfe direkter Zeugnisse und Sekundärquellen erschlossen werden. Es sei, so Johanneau, eine Unterlassungssünde vormaliger Regierungen Frankreichs, die Romanität der französischen Geschichte über ihre Keltizität gestellt zu haben. 73 Um so leichter hätten sich andere Länder wie England und Indien des keltischen Erbes bemächtigen können. Der springende Punkt war also auch ein aktuell politischer: eine Geschichte des Kaiserreichs als Geschichte der Kelten. Auch Cambry ließ keinen Zweifel an den politisch und wirtschaftlich untermauerten Zielen der Academie: „Son but est premierement d'examiner, de reproduire l'histoire et les monumens des Celtes, des Gaulois, des Francs, qui ne forment, sous differens noms, qu'un merae peuple." (1805, 22) Halten wir zunächst fest, daß es der gelehrten Gesellschaft um mehr als Sprach- und Literaturgeschichte ging, und noch dazu auf dem politisch „... demontrer les rapports physiques et moraux des Bretons d'Amorique avec les anciens Gaulois, etablier l'identite de la langue et de ces deux peuples, sur la conformite qui regne entre le bas-breton et la langue en usage dans les diverses contrees de l'Europe et de l'Asie ou les Gaulois porterent les armes victorieuses et formerent des etablissements" ... zit. nach TANGUY 1977, I, 269. „Les Grecs et les Romains, en cessant d'occuper le theatre du monde, ne cesserent pas pour cela de nuire a la renommee des Celtes. [...] L'airain brise, ou se lisent encore, dans Lyon, les paroles de Claude, attachera notre attention, et cent fois peut-etre nous nous assimes indifferente sur le domin ou se precha la sagesse des nations." LAVALLEE 1807, 1 1 - 1 3 . „Jusqu'ici nos academies et nos ecoles n'ont retenti que des Grecs et Romains [...] II est enfin temps de songer a la langue et aux antiquites des peuples moins celebres dont nous descendons [...] Ii est honteux [...] d'etre dans sa patrie comme dans un pays inconnu [...] C'est certes un defaut de notre ancienne education publique, et c'est un reproche a faire a l'ancien gouvernement." JOHANNEAU 1805, 38.
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überaus aktuellen Terrain der Stellung Frankreichs in Europa. Die Academie geriet denn auch mit dem Ende des Kaiserreichs in Mißkredit. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten wurden aber von ihrer Nachfolgeeinrichtung, der Societe des Antiquaires de France, zunächst relativ unbehindert fortgesetzt. Aber die Academie celtique war nicht einfach ein Sammelbecken für verspätete Keltomanen oder verfrühte französische Regionalisten oder Nationalisten. 74 Ihr Wirken offenbart einen Großteil der Widersprüchlichkeiten und tatsächlichen Probleme bei der wissenschaftlichen Behandlung der Problematik französischer Regionalsprachen. Es wurde nicht nur ein wissenschaftlicher Anspruch erhoben, sondern auch ernsthaft nach neuen Methoden gesucht. In diesem Sinne setzte diese Akademie sogar einige Meilensteine für die Entwicklung der Sprachtheorie in Frankreich, ganz besonders hinsichtlich der Sprachgeschichte. C A M B R Y (1805, 22) umriß das linguistische Anliegen der Gesellschaft von antiquaires, als die sich die Mitglieder empfanden, mit den Worten, man wolle „rechercher les etymologies de toutes les langues de l'Europe, & c. a l'aide du Celto-Breton, du Gallois, de la langue Erse conservee dans les montagnes de l'Irlande." Neben Monumenten aus Stein und Überlieferungen zur Mentalitätsgeschichte sollten auch vor allem sprachliche Zeugnisse gesammelt und untersucht werden. Galt das Keltische in der Academie auch nicht mehr als die Ursprache schlechthin, so doch als eine der ältesten Idiome Europas, dessen Zweige auf viele europäische Sprachen ausgestrahlt hatten. Keltische Etymologien in der Lexik verschiedener Sprachen sollten aufgedeckt und die Genealogie der europäischen Sprachen beschrieben werden. Ähnliches galt ebenfalls für die französische Literaturgeschichte, deren im Norden und Nordwesten angesiedelten Zeugnisse noch schwer erklärbar waren. Die Keltische Akademie stellte somit zum Beginn des 19. Jahrhunderts einen der Knotenpunkte der sprach- und literaturgeschichtlichen Diskussion dar (neben anderen etwa im Kreis der Sanskritisten in Paris oder innerhalb der sogenannten deutschen Bewegung), wovon nicht zuletzt Jacob Grimms Mitgliedschaft in der Academie celtique (ab 1811, nachdem seit 1805 Beziehungen zur Akademie bestanden hatten) zeugt. 75 74
75
Vgl. inzwischen: Chantal GRELL: Gaulois, Romains et Germains: l'heritage des Lumieres. In: Camille JULLIAN, l'histoire de la Gaule etr le nationalisme fran^ais. Actes du colloque organise a Lyon le 6 decembre 1988. Lyon: P.U.L. 1991. Vgl. Bärbel PLÖTNER: La correspondance entre J. Grimm et T h . H. de la Villemarque. In: La Bretagne linguistique, CRBC, Univ. de Brest, H. 1 9 8 9 - 1 9 9 0 , Brest 1992, 4 6 - 8 0 .
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Vielfach wurde französische Literaturgeschichte (insbesondere auch des französischen Nordens) diskutiert, ζ. B. in Roqueforts Arbeiten zu Marie de France. Allgemeine Geschichte und besonders die keltischfranzösische standen in Vordergrund der Aktivitäten. Das Sammeln sprachlicher Zeugnisse sollte zu ihrem Behufe erfolgen und sich auf alle französischen Regionen richten. Regionale (Sprach)geschichte mußte die Vorgeschichte der nationalen liefern.76 Wie bereits angedeutet, ging es wiederum um ihre museale Konservierung. Auch hier wurde von bekannten Ideologen und Mitgliedern der Keltischen Akademie wie Volney und Denina (französische) Sprachgeschichte nur zur Illustration von allgemeiner Geschichte benutzt. Jacob Grimm dürfte dies nicht befriedigt haben. 77 Eine Regionalsprache, das Bretonische, rückte aber besonders ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Academie celtique. Als einzige auf dem europäischen Kontinent erhaltene keltische Sprache avancierte es vielfach vom Nachfahren des Altkeltischen zu seinem nahesten Verwandten, jetzt Kelto-Bretonisch genannt. „Ajoutons que s'il est encore en France une contree ou l'on parle une langue etrangere a tous les dialectes presens et passes, inusitee chez les peuples vivans et eteins, et dont le type soit echappe aux recherches de tous les savans, et que dans cette langue ne se trouvent non-seulement tous les mots dissemines dans toutes les langues les plus antipathiques, mais encore les racines, les etymologies, les composees et les derives de ces memes mots, n'est-il pas evident que cette langue n'est autre que celle de ce peuple de l'antiquite, dont la vaste emigration a seme dans tant d'idiomes, ces expressions dont la confraternite tous etonne, et que c'est dans les lieux ou cette langue primitive se parle encore dans toute son integrite, qu'il faut placer le point de depart de ce peuple? Ainsi done la langue vient au secours des monumens, pour affirmer que les Gaules furent la premiere patrie des Celtes." (LAVALLEE 1807, 18-19).
Adelungs „Mithridates", in dem erstmals von einer Gruppe keltischer Sprachen die Rede war, begann erst 1806 zu erscheinen. Als die Academie celtique ein Jahr zuvor gegründet wurde, gab es nicht einmal diesen Anhaltspunkt. Die deutsche historisch-vergleichende Sprachwissenschaft steckte ohnehin noch in den Kinderschuhen und mit ihr 76
77
Vgl. Bernard TANGUY: Des celtomanes aux bretonistes: les idees et les hommes. In: Histoire litteraire et culturelle de la Bretagne. Hrsg. v. J. BALCOU U. Y. Le Gallo, Bd. 2, Paris/Genf 1982, 2 9 3 - 3 3 4 . Vgl. inzwischen: Bernhard LAUER/Bärbel P L Ö T N E R : Jakob Grimm und die keltische Akademie (erscheint 1992).
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die moderne vergleichende Keltologie. Die gesamte französische wie europäische Diskussion des 19. Jahrhunderts war in starkem Maße von den Auseinandersetzungen um das Alter sowie um Verwandtschaftsverhältnisse der keltischen Idiome untereinander und zu anderen Sprachen gekennzeichnet. Die Academie celtique entspricht einem wichtigen Ausgangspunkt dieser Debatte. Bereits im Gründungs jähr der Akademie forderte sie die gebildete Öffentlichkeit auf, an der Rekonstruktion keltischer Geschichte mitzuwirken und sich an einer (sprach)geschichtlichen Umfrage zu beteiligen. Dieses dritte aus der Vielzahl der Enqueten zwischen 1795 und 1815 ausgewählte Beispiel wurde von einer Kommission vorbereitet, der u. a. Cambry, Johanneau, Denina, Dulaure und Mentelle 78 angehörten, mithin Vertreter der sprachlich-kulturell hegemonischen Schichten: Verwaltungsbeamte, Geographen, Polygraphen und Philologen. Keineswegs waren sie alle Intellektuelle bretonischen Ursprungs, sondern der gesamtfranzösischen Kultur verpflichtet. Das „Questionnaire", ein in vier Rubriken gegliederter Katalog von 51 Fragen, erschien in den „Memoires" und wurde 1807/08 zusätzlich über die Präfekten an Verwaltungsbeamte herangetragen. 79 In dieser Hinsicht glich die Umfrage einem Beispiel unter vielen. Hinsichtlich ihres Grades an Offizialität unterschied sie sich jedoch von anderen Erhebungen aus der Zeit des Kaiserreichs. Die Fragen wurden von einer gelehrten Gesellschaft und nicht von staatlichen Stellen vorgelegt. Dies erweckte eher den Anschein von Neutralität, der jedoch insofern trügt, als schließlich Verwaltungsbeamte um Mithilfe gebeten wurden und der Innenminister gegenüber der Academie celtique sein reges Interesse an der Enquete bekundete. In einem an Le Gonidec gerichteten und in den „Memoires" (Bd. 2, 1808) publizierten Brief stellte er sogar ausdrücklich eine Verbindung zu der von 78
Charles Denina, zunächst Lehrer in Turin, lebte seit 1804 in Paris, veröffentlichte im gleichen Jahr sein bekanntestes philologisches Werk, „La clef des langues", und 1805 die Studie „Tableau historique, statistique et moral de la Haute-Italie et des Alpes qui l'entourent". E. Mentelle war Geograph. Während der Revolution hatte er neue Methoden des Geographieunterrichts erarbeitet sowie 1791 und 1795 je ein Buch dazu veröffentlicht. J. A. Dulaure, ehemaliger Abgeordneter des Konvents und Gegner der Terreur, gelangte nach dem 9. Thermidor in den Staatsdienst, arrangierte sich aber nie mit dem Kaiserreich und wurde als Königsmörder während der Restauration des Landes verwiesen. Er verfaßte zahlreiche historische und geographische Schriften und wirkte als politischer Publizist. Er veröffentlichte regelmäßig in den „Memoires" der Keltischen Akademie und arbeitete parallel zu deren „Questionnaire" an anderen statistischen Erhebungen, die ζ. T. im Widerspruch zu denen der Akademie standen. Vgl. OZOUF 1984.
79
Vgl. auch die ethnologischen Arbeiten von Nicole BELMONT ZU dieser Umfrage.
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der Regierung initiierten Umfrage der Coquebert de Montbret her {vgl. TANGUY 1 9 7 7 , I, 2 7 2 ) . Dennoch konnte in dieser inoffiziellen Umfrage leichter nach sprachlichen Realitäten gefragt und eine sprachpolitische Zielvorstellung unausgesprochen belassen werden. Es fällt auf, daß die Mehrzahl der Fragen des „Questionnaire" im Präsens und nur wenige, die auf überholte Sitten anspielten, in Vergangenheitsformen gestellt wurden. Eine politische Stoßrichtung wie zur Zeit der Jakobiner (die Ausrottung der usages und patois) wurde nicht direkt deutlich. Inhaltlich zeigte das „Questionnaire" durchaus Parallelen zu anderen Umfragen, wobei es stärker ethnologisch ausgerichtet war. 80 Erfragt wurden sprachliche und nichtsprachliche monuments antiques, Spiele, Märchen, Ortsheilige, Hexen und Heilpraktiken, aber auch Informationen zu Festen oder zum Regionalspezifischen im menschlichen Leben von der Wiege bis zur Bahre. Fragen nach literarischen und nichtliterarischen Texttraditionen standen neben allgemeineren Besonderheiten der Provinz. Der Aberglaube als Hindernis jeglicher Aufklärung war wie bereits in den Enqueten aus der Zeit der Revolution eine zentrale Kategorie des „Questionnaire". Der Frageraster orientierte sich an Gregoires Schrift „Promenade dans les Vosges" (1789) und dem Fragekatalog seiner Enquete (vgl. OZOUF 1984, 356), ohne jedoch vorab einen Wertungsrahmen zu übernehmen. Nach Situationen des Alltags (Ernährung, Kleidung, Tätigkeiten) wurde allerdings nicht gefragt, womit von vornherein keine Reflexion über die Rolle der Regionalidiome in der kommunikativen Praxis ausgelöst wurde. Nur vereinzelt beachteten die Antworten, die ab 1809 publiziert und in der Academie besprochen wurden, auf Anregung Dulaures mündliche Texttraditionen. So war der sprachliche Alltag in den Regionalidiomen erneut unberücksichtigt geblieben. Selbst zu den ursprünglich angestrebten historisch-vergleichenden Studien kam es nur vereinzelt. Als Jacob Grimm an Johanneau schrieb, für wie wichtig er die vergleichende Methode halte und in diesem Zusammenhang seine Erwartungen hinsichtlich der Umfrage äußerte, wurde er abgewiesen (OZOUF 1984, 374). In Frankreich war der Boden für ein Verständnis der deutschen Positionen offenbar noch nicht bereitet. Auch die Umfrage der Keltischen Akademie, die im Vergleich zu anderen aus der gleichen Zeit am deutlichsten sprachgeschichtlich auf les anciens monuments ausgerichtet und dem Bereich der Münd80
Auf den wichtigen Stellenwert der Umfrage in der Geschichte der Ethnologie und Dulaures Konzept zur Mythologie kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. OZOUF 1984, 3 6 7 - 3 7 1 .
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lichkeit zumindest nicht ganz verschlossen war, erbrachte also keine Ergebnisse in Richtung einer Revalorisierung der gesprochenen Regionalidiome, sondern vertiefte lediglich das nationalhistorische Interesse an ihnen. An den Arbeiten des bekanntesten Grammatikers und Lexikographen der Academie celtique, Le Gonidec 8 1 , wird noch ein weiteres Problem deutlich. Auch ihm ging es wie seiner Akademie im allgemeinen um die Erforschung des Altkeltischen und somit die genannte im Kaiserreich ideologisch relevante Fragestellung. Er knüpfte zum Teil an keltomanische Vorleistungen an, indem er die Sprache der Kelten mit l'idiome armorique, dit bas-breton oder le celto-breton gleichsetzte. 82 Bereits insofern waren seine Arbeiten wichtig für den sich nach 1815 und verstärkt nach 1830 entwickelnden bretonischen Regionalismus. Vor allem aber wurde Le Gonidec zum sogenannten Gesetzgeber der bretonischen Sprache: zum reizer ar brezoneg. In der von ihm verfaßten bretonischen Grammatik, den französisch-kelto-bretonischen Wörterbüchern und seinen Übersetzungen ins Bretonische (ζ. B. übersetzte er die Bibel) entwickelte er streng normative Regeln einer bretonischen Schriftsprache. Er erhob den seiner Meinung nach „konservativsten, korrektesten und methodischsten" bretonischen Dialekt von Leon zum Standard und wertete die anderen Dialekte als unregelmäßig ab. 8 3 Damit wurde ein bis ins 20. Jahrhundert andauernder 81
J. F. Μ. Μ. A. Le Gonidec (1775- 1838), gebürtiger Bretone, aber als Adoptivsohn eines Kleinadligen französischsprachig erzogen, besuchte das College in Treguier. Dort erlebte er den Beginn der Revolution. Wegen seiner Verbindungen zur eidverweigernden Priesterschaft wurde er 1793/94 arretiert. Eine aktive Teilnahme an der Chouannerie 1794/96 ist nicht fest verbürgt. Erst seit dem 20. Lebensjahr beschäftigte sich Le Gonidec mit dem Bretonischen, während er zwischen 1804 und 1812 als Angestellter der Marine in Paris und 1812—1818 u.a. in Hamburg (seit dem 4. 7. 1811 Departement des Bouches de l'Elbe) weilte. Zwischen 1818 und 1832 war er als Beamter u. a. in Angouleme tätig, ehe er nochmals nach Paris übersiedelte und dort 1838 starb. Er war Philologe und Ethnologe und der geistige Kopf der Academie celtique sowie ihrer Nachfolgeeinrichtung, der Societe des Antiquaires de France. Vgl. besonders die Biographie von D U J A R D I N , 1949 sowie zahlreiche Arbeiten von TANGUY, G O U R V I L und und G U I O M A R .
82
Dennoch kann von einer einfachen Fortsetzung keltomanischen Denkens nicht die Rede sein, wie Überblicksdarstellungen zuweilen vermuten lassen (HLF IX/1, 487; SERANT 1 9 6 5 ; HAARMANN 1 9 7 2 , 3 2 6 ; E G G S 1 9 8 0 , 6 4 ) . Vgl. umfassende Studien zu den Wurzeln des Regionalismus und Differenzen zwischen Keltomanie, der Keltischen Akademie, La Villemarque und La Borderie von TANGUY, G O U R V I L und
83
Im Unterschied zu Gregoire de Rostrenens wichtigem bretonischen Wörterbuch von 1738 fehlten bei Le Gonidec Belege aus verschiedenen bretonischen Dialekten. Auch die in seiner Grammatik präsentierten Beispiele beschränkten sich auf das Leon.
GUIOMAR.
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Orthographiestreit der Bretonen ausgelöst. Bereits zu Lebzeiten von Le Gonidec kam es (nicht nur aus politischen und religiösen Gründen) zu starken Auseinandersetzungen um seine Norm. Sie galt in der bretonischsprachigen Bretagne (auch angesichts anderer Kodifizierungsversuche 84 ) als unverständlich weit entfernt von den gesprochenen Dialekten und stieß besonders im Klerus auf Widerstand. 85 Andererseits begrüßten später besonders die Intellektuellen im Umkreis von La Villemarque, dem Herausgeber der ersten bretonischen Volksliedersammlung (1839), das Konstrukt einer einheitlichen klassischen Norm des Bretonischen. Auf ihrer Grundlage sind mündliche Traditionen verschriftet worden. 86 Obwohl sich Le Gonidec im Vorwort seines Wörterbuches (1821) selbst gegen eine Abwertung des Bretonischen als jargon wandte, trug sein streng normatives Konzept und dessen Annahme durch einen wichtigen Teil (nicht nur der bretonischen) Intellektuellen indirekt zur weiteren Minorisierung der gesprochenen Dialekte bei. Bemerkenswert und vorwärtsweisend waren Le Gonidecs Erkenntnisse zur Mutation der bretonischen weiblichen Substantive sowie die seinerzeit beispielhafte Analyse des Verbparadigmas. Zahlreiche etymologische Studien veröffentlichte er in den „Memoires" der Academie celtique und „Bulletins" der Societe des Antiquaires. Auch die Grammatik sollte allein wissenschaftlichen Zwecken dienen und war nicht vorrangig als beschreibendes Nachschlagewerk oder Lehrbuch gedacht. 87 Nationalhistorische und -philologisches Interesse standen im Vordergrund, wenn auch der Durchbruch zur historisch-vergleichenden Methode noch nicht erfolgte. Gerade unter den Wegbereitern der modernen vergleichenden Keltologie fanden Le Gonidecs Arbeiten jedoch internationale Anerkennung, besonders bei Jacob Grimm, der sich als Keltologe in der zweiten Jahrhunderthälfte vor allem durch den Beweis der Keltizität der marcellinischen Formeln verdient 84
Z u anderen Versuchen der Kodifizierung der bretonischen Schriftsprache im 19. Jh. vgl. vor allem die Arbeiten von LE BERRE und LE DU.
85
LAMBERT 1 9 7 6 / 7 7 , 2 4 3 ; TANGUY 1 9 7 7 , I, 1 5 1 ff.
86
Theodore Hersart de la Villemarque ( 1 7 8 5 - 1 8 6 3 ) gab weiterhin 1 8 4 7 - 1 8 5 0 Le Gonidecs Grammatik sowie das Wörterbuch neu heraus. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze und Studien zur bretonischen Sprachgeschichte. Vgl. 'die A r b e i t e n v o n GOURVIL, GUIOMAR u n d LAURENT.
87
„Mon but, en faisant paroltre la Grammaire Celto-Bretonne n'a point ete de montrer la Langue dans tel ou tel dialecte particulier, ni meme de la montrer aux Bretons en general, l'usage habituel leur suffit sans doute. Le desir seul de presenter quelques elemens utiles aux recherches aussi curieuses que savantes de l'Academie celtique, m'a determine a mettre au jour le fruit de mont travail." LE GONIDEC 1807, Vorwort XI.
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machte. 88 Auch Zeuss' „Grammatica celtica" (1853) konnte an die theoretischen Vorleistungen der Academie celtique anknüpfen. Den kontinuierlich während des Kaiserreichs zunehmenden Verlust des soziokulturellen Prestiges des Bretonischen (sowie der anderen französischen Regionalsprachen) wehrte somit auch die keltische Akademie mit der von ihr angestrebten Pflege des keltischen Erbes nicht ab.
2.2.1.4. Ein Nachsatz Aus der Analyse der drei behandelten Beispiele von Umfragen, die zwischen 1795 und 1814 erhoben wurden und die Frage des Verhältnisses zwischen National- und Regionalsprache(n) thematisierten — die Umfrage der Coquebert de Montbret, die Enquete Guillaume und das „Questionnaire" der Keltischen Akademie — läßt sich zunächst folgender Schluß ziehen: Obwohl nur drei Umfragen als Stichproben ausgewählt und lediglich am Beispiel des Bretonischen stellvertretend für andere Regionalsprachen näher betrachtet wurden, zeigte sich der zwar verdeckte, doch unvermindert zentralistische Grundtenor der französischen Sprachpolitik zwischen 1795 und 1814. In der Zeit zwischen Direktorium, Konsulat und Kaiserreich wurden zwar keine spektakulären sprachpolitischen Gesetze verabschiedet, aber an staatlichen Eingriffen auf dem Gebiet des Umgangs mit der Sprachenvielfalt auf französischem Territorum fehlte es nicht. Sie zeigten sich besonders in der Bildungspolitik und wurden vom Zentralismus im Verwaltungsalltag ergänzt. Einflüsse der französischen (und mithin in der Nationalsprache befehlenden und die sprachliche Uniformierung vorantreibenden) Armee blieben in diesem Kapitel ebenso ausgespart wie Fragen nach der Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft und deren Auswirkungen auf die Sprachlandschaften. In den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war der wirtschaftliche Druck zur sprachlichen Uniformierung auch noch weniger relevant. Dafür wurde schon unmittelbar nach 1800 auf der Ebene der Entwicklung der Geisteswissenschaften, insbesondere im Bereich der 88
Grimm rezensierte die Le Gonidecsche Grammatik und diskutierte in seinem Briefwechsel mit La Villemarque prinzipielle Fragen zur Neuauflage des Le Gonidecschen Wörterbuchs. Vgl. LAUER/PLÖTNER (Unter Mitarbeit von LAURENT): J a c o b Grimm und Th. H. de la Villemarque. Ein Briefwechsel aus der Frühzeit der modernen Keltologie. In: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft, Kassel, Bd. 1 , 1 9 9 1 , S. 1 7 83.
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philologischen wie historischen Disziplinen, der kontinuierlich fortschreitenden Marginalisierung der Regionalsprachen vorgearbeitet. Während sie klarer wissenschaftlich zu fixieren und zum Teil geschichtlich zu rehabilitieren gesucht wurden, entwickelten sie sich zu musealen Objekten, deren Schicksal in der kommunikativen Praxis des Provinzalltags auch die Welt der ohnehin frankophonen Gelehrten wenig bekümmerte. Lediglich Zwangsmaßnahmen zu Durchsetzung der Nationalsprache waren „nur" im Bildungswesen angedacht, sonst aber erst einmal außer Kraft gesetzt worden. Von mehr oder weniger Bedauern begleitet oder sogar voller Genugtuung über den unaufhaltsamen Aufstieg der aufklärerischen Kraft der Nationalsprache erwartet, schien das Verschwinden der Regionalidiome als natürliche und folgerichtige Entwicklung hin zur Moderne. Der im Bereich der Sprachen, Literaturen und Kulturgeschichten existierende Konfliktherd, der im späteren 19. Jahrhundert immer stärker Spannungen zwischen den Regionen und der französischen Nation (sowie zwischen den europäischen Nationen) anheizte 89 , schwelte zwischen 1795 und 1814 noch unterschwellig. Daß er alles andere als erloschen war, sollte sich nach 1830 und besonders nach den gescheiterten Revolutionen von 1848 in der zweiten Jahrhunderthälfte zeigen.
2.2.2. Napoleonische Sprachpolitik: Versuch ihrer Rekonstruktion aus Texten des „Moniteur" „Es herrscht wieder Ruhe in der Sprache!" So etwa könnte man nach den bisher bekannten Fakten die Sprachpolitik der Napoleonzeit charakterisieren: Die Minderheitensprachen, deren Schicksal die Gemüter in der Revolution so sehr erregt hatte, waren für lange Zeit ins Museum bzw. in die Sphäre lokalen Alltags verwiesen worden (vgl. 2.2.1.), und hinsichtlich des Französischen stand vor der Wörterbuchkommission des Jahres I X nicht zufällig die Aufgabe, „de faire rentrer dans l'ordre la langue f r a ^ a i s e " ( G O S S E N 1976, 17). Als gegen die Ordnung gerichtet galten vor allem die zahlreichen Revolutionsneologismen. Selbst Mercier, der wohl fanatischste Anhänger lexika89
Vgl. inzwischen: Jean-Yves GUIOMAR: Le nationalisme face a la democratic. In: Une histoire de la democratic en Europe. Sous la direction de Antoine de Baelue. Paris: Ed.s Le Monde 1991, 5 2 - 6 5 ; Bärbel PLÖTNER: Langue, litterature et identites nationale et regionale. Jacob Grimm entre PAllemagne, la France et la Bretagne. In: Philogoques, Paris: Ed.s de la M S H , 1992.
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lischer Erneuerung, so respektlos er sich gegenüber den nachrevolutionären Autoritäten und namentlich gegenüber Napoleon selbst verhielt, übernahm in seine 1801 veröffentlichte „Neologie" „nur 17 von den 367 Stichworten, die 1798 sogar ein dem neuen ,Dictionnaire de PAcademie' angefügtes ,Supplement, contenant les mots nouveaux en usage depuis la revolution' enthielt" ( R I C K E N 1978, 90). Es ging darum, so L A F A R G U E , „aus der Sprache wie auch der Philosophie, der Religion und den Umgangsformen jede Spur der Revolution zu tilgen" (zit. bei SERGIJEWSKI 1979, 225). Trotz der erklärten Abscheu vor der Revolution und ihrem Sprachgebrauch ist aber gerade hier Kontinuität in der Sprachpolitik zu konstatieren; erinnert sei an Gregoires Forderung nach Abschaffung der patois und nach einer kultivierten Sprache für die öffentliche Kommunikation. Napoleons Beitrag zur Wiederherstellung von Ordnung in der Sprache beschränkte sich keineswegs darauf, daß er 1796 das korsische u in seinem Namen strich, und es war gewiß nicht seine Sache, Ratschläge in Orthographie und Grammatik zu erteilen. Um so höher muß dagegen sein persönlicher Anteil an der sprachlichen „Inszenierung" seiner Politik veranschlagt werden. Seinen Biographen zufolge besaß Napoleon ein feines Gespür für den geeigneten Zeitpunkt, für Inhalt und Form von öffentlichen Äußerungen, wobei er sich des Instruments der politischen Presse meisterhaft zu bedienen wußte. Vor allem gilt das für den „Moniteur", „das Sprachrohr des Meisters: die Zeitung, mit deren Hilfe er die öffentliche Meinung führt, worin er Berichte lanciert, polemisiert, droht, schilt, schmeichelt, streichelt, urteilt und verurteilt" ( P R E S S E R 1977, 216). Anhand von „Moniteur"-Texten soll im folgenden rekonstruiert werden, in welcher Weise zur Napoleonzeit Diskursregelung betrieben wurde, um Konsens in politischen Angelegenheiten herzustellen. Ausgewählt wurde dafür ein historisches Ereignis, von dem anzunehmen ist, daß es eine geschickte Einflußnahme auf die öffentliche Meinung zur Voraussetzung hatte: die im Mai 1804 erfolgte Ernennung Napoleon Bonapartes zum Kaiser der Franzosen. Immerhin dürfte die Revolution, zu deren hervorstechendsten Merkmalen ihre antimonarchistische, in eine Republik mündende Stoßrichtung gehört hatte, zum damaligen Zeitpunkt im Bewußtsein der Zeitgenossen noch durchaus lebendig gewesen sein. Waren die citoyens ohne weiteres bereit, wieder Untertanen einer absoluten Macht zu werden? In der Geschichtswissenschaft werden diese Fragen dahingehend beantwortet, daß nach jahrelanger politischer Instabilität eine starke Exekutive erforderlich war, um wirtschaftliche Prosperität und militärische Expansion zu
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sichern — um den Preis der Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten. Für die Erforschung der sprachpolitischen Verhältnisse der Napoleonzeit sind aus der sprachlichen Inszenierung der Kaiserproklamation in folgender Hinsicht Aufschlüsse zu erwarten: — Welche Textmuster, argumentativen Verknüpfungen, Begründungszusammenhänge usw. werden vorgegeben? Welche lexikalischen, grammatischen und stilistischen Mittel werden mit welchen Intentionen verwendet? — Wie werden offensichtliche Widersprüche, ζ. B. zwischen den Idealen der revolutionären Vergangenheit (egalite, fraternite) und der angestrebten hierarchischen Ordnung zwischen einem absoluten Herrscher und gehorsamen Untertanen sprachlich verarbeitet? — Mit welchen Mitteln erfolgt die Herstellung von politischem Konsens und Dissens? — Welche gesellschaftlichen Gruppen sind mit welchem Anteil und mit welchem Gewicht an der Kommunikation beteiligt? Welche Gruppen sind ausgeschlossen? — Welche interaktionalen Beziehungen werden zwischen den kommunizierenden Subjekten hergestellt? Über die sprachlich vermittelten Eingriffe in die kommunikative Praxis hinaus ist weiterhin danach zu fragen, mit welchen außersprachlichen (politischen) Mitteln die Wirksamkeit des offiziellen Diskurses der napoleonischen Herrschaft gewährleistet wird. Schließlich bietet es sich an, die sprachpolitische Praxis im Journalismus beim Übergang vom Konsulat zum Empire mit der der Revolutionszeit zu vergleichen, in der die Grundlagen für einen massenwirksamen journalistischen Kommunikationsprozeß überhaupt erst geschaffen wurden.
2.2.2.1. Beschreibung der sprachlichen Inszenierung der Kaiserproklamation im „Moniteur"
a) Analyse der sprachlichen
„Oberfläche"
Der „Moniteur" berichtet am 19. Mai 1804 über eine Sitzung des Senats, auf der beschlossen wurde, Napoleon Bonaparte, bis dahin Erster Konsul der Französischen Republik, den Kaisertitel zu verleihen und über die sich anschließende Audienz bei Napoleon, in der dieser offiziell von dem Beschluß in Kenntnis gesetzt wird. Die Rede des Konsuls Cambaceres über den Inhalt des Senatsbeschlusses und seine Begründung sowie die zustimmende Antwort Napoleons werden im
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Wortlaut wiedergegeben. Die sprachliche Inszenierung der Kaiserproklamation beschränkt sich aber nicht auf die Berichterstattung vom 19. 5. Die an diesem Tag veröffentlichten Texte sind Bestandteil einer journalistischen Kampagne, die sich bis Mitte Februar 1804 zurückverfolgen läßt und die Ende Mai desselben Jahres einen vorläufigen Abschluß findet. Die wesentlichen Schritte dieser Kampagne sind: — die Meldung über die Aufdeckung einer geplanten Verschwörung gegen den Ersten Konsul (16. 2.) — der Bericht des Justizministers über die Hintergründe der Verschwörung; die Verschwörer seien von England ausgehaltene Banditen ohne Rückhalt in der französischen Bevölkerung (18. 2.) — die Wiedergabe von Reden der höchsten Vertreter des Staates, in denen Abscheu über das Attentat und Freude über die Unversehrtheit des Ersten Konsuls zum Ausdruck gebracht werden (19. 2.) — der Abdruck gleichlautender Glückwunschadressen von Präfekten, Beamten, Militärs, kirchlichen Würdenträgern usw., in denen immer eindringlicher an Napoleon appelliert wird, die Institutionen seiner Machtausübung zu festigen (22. 2 . - 2 5 . 4.) — die Veröffentlichung des Antrags des Tribunen Curee, Napoleon zum Kaiser der Franzosen zu ernennen (1. 5.) — die Berichterstattung über die Verleihung des Kaisertitels durch den Senat (19. 5.) — die Bekanntgabe der Modalitäten für eine Volksabstimmung zur Frage der Erblichkeit der Kaiserwürde in der Familie Bonaparte (22. 5.) _ — die Veröffentlichung der umfangreichen Anklageschrift gegen die Verantwortlichen der im Februar aufgedeckten Verschwörung (30. 5., Supplement, S. 1 1 2 9 - 1 1 5 6 ) . In den beiden folgenden Abschnitten wird zunächst die thematische Progression von der Aufdeckung des Attentats zur Verleihung der Kaiserwürde beschrieben, anschließend wird untersucht, welche sprachlich-interaktionalen Beziehungen zwischen den Repräsentanten der Staatsmacht und den Bürgern über die „Moniteur"-Texte hergestellt werden. b) Thematische Struktur Die genannten Texte können, unabhängig von ihrer Textsortenzugehörigkeit und ihrem Platz im journalistischen Arrangement, als ein Makrotext mit der folgenden thematischen Gliederung gelesen werden: Die Bürger des Jahres 1804 würden sich vor allem nach Ruhe sehnen („repos, ce premier des biens"; 19. 2.). Sie wollten endlich in
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Gesetzlichkeit {„dans la regle et l'ordre presents par la loi") die Früchte der Revolution („la jouissance des resultats avantageux de la revolution") und der militärischen Siege Napoleons („les fruits glorieux de sa victoire"; 29. 2.) genießen. Das fehlgeschlagene Attentat auf den Ersten Konsul habe ihnen zu Bewußtsein gebracht, daß nur dieser in der Lage sei, dem Land Ruhe und Ordnung zu erhalten; jeder Anschlag auf ihn sei ein Anschlag auf das Wohl jedes einzelnen und das der ganzen Nation („une conjuration qui mena9ait l'Etat et sa personne"; 19. 2.). Dieser Zusammenhang wird, wie auch die anderen Grundgedanken der Kaiser-Inszenierung, vielfach wiederholt: — „votre sürete qui est celle meme de la Patrie", — „toute la France, eile ne voit son salut que dans vous" — „vos perils qui deviennent pour chacun des perils personnels" (19. 2.) — „les dangers de la Patrie inseparables de sa personne" — „les destinees de la France, desormais inseparables du heros qui Γ a sauvee" (22. 3.). Frankreich könne nur dann beruhigt in die Zukunft blicken, wenn Napoleon die Institutionen seiner Machtausübung weiter ausbaue: „eile [toute la France] ne peut se fier a l'avenir qu'en voyant croitre le germe des institutions que vous avez preparees" (19. 2.). Wie diese Institutionen beschaffen sein müßten, bleibt vorerst offen. Ausgeschlossen werden nachdrücklich — der Royalismus bourbonischer Prägung („cette maison que nous proscrivimes en 1792 [...] qui a ete la cause generale des troubles et des desastres qui ont dechires notre Patrie"; 1. 5.) — ein System der Gewaltenteilung („le systeme perfide des contrepoids") auf konstitutioneller Grundlage („l'assemblee Constituante commit la faute de ne point amener dans un nouvel ordre de choses une nouvelle dynastie"; ebd.) — die personelle Zersplitterung der Macht in einer Regierung wie dem Direktorium („vaine esperance! On reunit inutilement les chefs des differentes factions"; ebd.) Ein großer Gedanke wird gebraucht: „Ii est digne de vous, C I T O Y E N PREMIER CONSUL, de reconcilier, par une grande pensee, l'avenir avec le present, et de faire enfin reposer sur des bases eprouvees, le sort d'un peuple..." (25. 4.). Das historische Vorbild wird schließlich in der Kaiserwürde Karls des Großen gefunden: „Charlemagne avait gouverne la France en homme qui etait superieur en beaucoup a son siecle; au milieu de l'ignorance universelle, il avait montre un genie universel; tout a la fois profond legislateur, grand homme d'Etat et conquerant infati-
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gable" (1. 5.)· Damit ist der würdige Rahmen für Napoleons Alleinherrschaft gefunden („Que NAPOLEON BONAPARTE, actuellement PREMIER CONSUL, soit declare empereur"; 1. 5.). Um das Land nach dessen Tod nicht erneut Machtkämpfen auszusetzen, soll die Kaiserwürde in der Familie Bonaparte erblich sein („Que la dignite imperiale soit declaree hereditaire dans sa famille", ebd.). Mit der „Moniteur"-Inszenierung entsteht ein gewaltsam vereinfachtes Bild von den politischen Verhältnissen der Napoleonzeit. Alles Störende bleibt ungenannt und wird auf Grund der Monopolstellung des Blattes in der öffentlichen Kommunikation auch an anderer Stelle nicht gesagt. Ein besonders krasses Beispiel für die Regelung dessen, was gesagt bzw. gefragt werden kann und was nicht, ist die wenige Tage nach der Verleihung des Kaisertitels inszenierte Volksabstimmung: „Ii sera ouvert [des] registres sur lesquels les Fran^ais seront appeles a consigner leur vceu sur la proposition suivante: ,Le Peuple veut l'heredite de la dignite Imperiale dans la descendance directe, naturelle, legitime et adoptive, de NAPOLEON BONAPARTE, [...] ainsi qu'il est regie par le senatus-consulte du 28 floreal an 1 2 ' " (22. 5.). Dazu der Napoleon-Biograph J . P R E S S E R (1977, 2 0 3 ) : „Es wurde eine Volksabstimmung organisiert, vor allem bemerkenswert wegen der Fragen, die nicht gestellt wurden. Nicht erbeten wurde das Urteil des Volkes bezüglich der Einrichtung des Kaisertums selbst. Die freien Bürger wurden von einem Tag auf den anderen zu Untertanen, ohne um ihre Zustimmung gebeten worden zu sein. Ebensowenig wurde ihr Urteil eingeholt bezüglich der Auswahl gerade dieses Mannes für die neue Würde. Das Plebiszit wurde nur ausgeschrieben hinsichtlich der Erblichkeit, eine Frage, die gegenüber den zuvor genannten ohne Bedeutung war." Dem bleibt eigentlich nur das Ergebnis der Abstimmung hinzuzufügen: 2959 891 Franzosen stimmten mit Ja, etwas mehr als 2500 mit Nein. Die Auswahl der Fakten und ihre Anordnung im „Moniteur" führen zwangsläufig zu der Einsicht, daß die Franzosen gar nicht anders können, als Napoleon den Kaisertitel zu verleihen: „citoyens tribuns, pouvons-nous hesiter a nous rendre l'interprete du vceu du Peuple frangais, en votant l'etablissement d'une nouvelle dynastie" (6.5.). In den Begründungen der Kaiserproklamation wird immer wieder die zwingende Folgerichtigkeit dieses Schrittes hervorgehoben: „Ii serait dSraisonnable de ne pas profiter des lefons que l'histoire et Γ experience nous ont laissees sur la nature du gouvernement qui
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convient le mieux a notre situation, a nos habitudes, a nos moeurs et a l'etendue de notre territoire. Les orateurs qui ont parle sur cette question, vous ont demontre, avec toute la force du raisonnement et des faits de l'histoire, que c'etait le gouvernement d'un seul et hereditaire:" (6. 5.). Wegen ihrer Bedeutsamkeit können die Aussagen zur Rolle des Ersten Konsuls gar nicht oft genug wiederholt werden: „SIRE, nous elevons, nous distinguons une famille, pour que toutes les autres demeurent dans l'egalite. On ne saurait trop le redire; c'est afin de la racheter, cette egalite primitive, que la France s'etait armee en 1789, c'est afin de la conserver, qu'apres trois lustres ecoules, la France nous nomme EMPEREUR, et rend ce titre hereditaire" (28. 5.). Für Zweifel bleibt unter diesen Umständen kein Platz. In den Ausführungen des „Moniteur" dominieren apodiktische Behauptungen bzw. wird die Richtigkeit von Behauptungen durch metakommunikative Wendungen („sans doute", „a la verite", „il est incontestable que", „on sait que", „il est impossible que", „evidemment", „il est evident que", „n'en doutons pas" usw.) und durch rhetorische Fragen zu verstehen gegeben: „Quel serait le Fra^ais, quel serait surtout le membre des premieres autorites qui ne se trouverait suffisamment honore du beau titre de citoyen? [...] et n'est-ce pas, nous le repetons encore, pour maintenir ces precieux avantages de la revolution, que nous voulons consolider le gouvernement qui seul peut nous les garantir? N'avons-nous pas demontre qu'ils seraient perdus sans retour si par suite de troubles inevitables d'un gouvernement faible et precaire, nous etions encore precipites dans une anarchie dont il est trop certain que nous ne pourrions sortir que pour retomber dans les bras du despotisme? Croit-on qu'un autre gouvernement que celui qui doit son elevation et qui devra son affermissement a l'ordre de choses qui nous a procure ces avantages, serait aussi interesse a les conserver, et que celui-ci voudra risquer de detruire la premiere base de son existence? il est impossible de le presumer; comment peuton done meconnaitre le veritable objet de notre voeu?" (6. 5.) Einwände werden nur pro forma erhoben: „Mais, dit-on, l'unite et l'heredite du Gouvernement ne sont rien moins qu'un gage de stabilite; car l'Empire romain ne dura moins que la Republique. Cette assertion [...] est un paradoxe qui n'a pas besoin d'etre refute" (ebd.). Pathos und Euphorie in der journalistischen Darstellung machen kritische Fragen überflüssig. Besonders auffällig äußert sich der allgemeine Gefühlsüberschwang, wenn die Rede auf die Person Bonapartes kommt: „Jamais creation d'une dynastie ne fut faite en faveur d'un guerrier plus grand par ses exploits. [...] Une administration dont la sagesse est eprouvee depuis quatre ans, I'usage modere d'une
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grande autorite dont le PREMIER CONSUL n'abusa jamais, le retablissement de l'ordre le plus exact dans les finances, tout nous garantit de la part du magistrat que nos vceux appellent a la premiere dignite de l'univers, le gouvernement le plus propre a faire la gloire et le bonheur de la France" (ebd.). Dem neuen Kaiser werden genau jene Attribute zugeschrieben, die auch Karl den Großen ausgezeichnet haben sollen (vgl. obiges Zitat): Universalität, staatsmännische Weisheit und Erfolg bei kriegerischen Eroberungen. In ähnlicher Weise wird durch Übereinstimmungen im Sprachgebrauch nicht nur die historische Größe Charlemagnes für die Gegenwart vereinnahmt, sondern auch die glorreiche Epoche der Revolution. In der Revolution hätten 30 Millionen Franzosen einmütig und mit einer Stimme gesprochen („30 millions de Fran£ais", „par une volonte unanime", „d'une voix"; 6. 5.), Vokabeln, die dem „Moniteur"-Leser von der Reaktion des Volkes auf den gescheiterten Anschlag gegen Napoleon geläufig sind: „renverser un Gouvernement soutenu par l'affection de trente millions de citoyens c'etait une täche a-la-fois au-dessus des forces de l'Angleterre et de Celles de l'Europe" (18. 2.); „Heureuse la nation qui, apres tant de troubles et d'incertitudes, trouve dans son sein un homme digne d'apaiser la tempete des passions, de concilier tous les interets et de reunir toutes les voix" (19.5.)! Die auf wenige Fakten reduzierte Darstellung der Wirklichkeit spiegelt sich auch in Schlagwortgebrauch wider. Zu nennen wäre hier beispielsweise die auf England und die Engländer bezogene wiederholte Verwendung des Adjektivs perfide und seiner Nominalisierung („la perfidie britannique", „la perfidie du gouvernement anglais", „les perfides ennemis", „le perfide Anglais" „la perfide Angleterre"). Mit den Semen wortbrüchig und verräterisch erinnert perfide an die England vorgeworfene Verletzung des Friedensvertrags von Amiens. Der Kontrast zwischen der Hinterhältigkeit Englands und dem Genie Napoleons kommt auch in der symbolischen Antonymie epee/poignards zum Ausdruck: „Cette nation perfide n'a pu vaincre par l'epee le peuple a qui le genie restaurateur d'un grand-homme sert d'egide; eile a eu recours aux poignards" (22. 3.). Eine weitere sinnkonstituierende Polarität der „Moniteur"-Texte ist die von repos (mit dem Assoziationsnetz tranquillite, stabilite, securite, bonheur, paix interieure, ordre usw.) und trouble {anarchie, chaos, guerre civile, violence, tumultes, dissentions, confusion, discordes civiles). Dem Leser wird unmißverständlich bedeutet: Wer nicht möchte, daß das Land erneut in Chaos und Anarchie gestürzt wird, der muß auch Ja zu Napoleon sagen.
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In Verbindung mit dem Ruf nach Ruhe und Ordnung ist — vielleicht etwas weniger laut — auch vom Eigentum und den Eigentümern die Rede: „quel autre gouvernement que le gouvernement hereditaire d'un seul [...] pourrait proteger la fortune d'un si grand nombre de citoyens devenus proprietaires de domaines que la contre-revolution leur arracherait" (6.5.); „...la tranquillite a laquelle nous sommes accoutumes depuis le 18 brumaire. Tous les delits politiques etaient pardonnes. Chacun jouissait pour soi-meme et pour ses proprietes d'une securite d'autent plus douce, qu'on en avait ete prive plus long-tems" (ebd.). Die stark vereinfachte Darstellung der Wirklichkeit im „Moniteur" wird indessen immer als das Ganze ausgegeben. Zum bereits genannten Anspruch auf absolute Wahrheit kommt die Postulierung eines Totalitätsanspruchs in Raum, Zeit und Gesellschaft hinzu. Sprachliche Indizien dafür sind die nicht mehr steigerüngsfähigen Formen in der Temporal-, Lokal- und Personaldeixis („Nous avons desire que ce lien sacre s'etendit eternellement au sang de Bonaparte"; 28.5.; „le premier Empire du Monde", „la premiere dignite de l'Univers", „votre genie createur embrasse tout et n'oublie new", „de toutes parts", „tous", „chacun" u. dgl. m.). c) Interaktionale Beziehungen „A dater du 7 nivöse an 8, les Actes du Gouvernement et des Autorites constituees, contenues dans le MONITEUR, sont officiels." Mit diesen Worten wird im Zeitungskopf täglich daran erinnert, daß der „Moniteur" im Konsulat und im Empire führende Tageszeitung und amtliches Regierungsblatt in einem ist. Die Regierungspolitik wird den Lesern gewöhnlich durch den kommentarlosen Abdruck von Politikerreden, Gesetzestexten und Verordnungen sowie durch unpersönlich gehaltene Meldungen und Nachrichten verkündet. In der offiziellen journalistischen Kommunikation kommt den Bürgern die Rolle des kollektiven Destinators von politischen Texten mit Direktivcharakter zu. Sie sind die Ausführenden einer Politik, von deren Beratung sie ausgeschlossen sind; die Regierung behält sich zudem die Entscheidung vor, in welchem Maße sie der Öffentlichkeit Auskunft über ihre Politik gibt: „Nos deliberations sont essentiellement secretes, et, dans les matieres politiques, nous avons pour maxime de ne laisser transpirer que ce que le Gouvernement peut juger convenable de communiquer a l'Europe" (6. 5.). Bei der Vorbereitung der Kaiserproklamation kommen ausnahmsweise auch die Regierten zu Wort. Der „Moniteur" inszeniert eine Kommunikation zwischen Regierung und Bürgern, in der durch die
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einmütige Zustimmung zur angestrebten politischen Ordnung Einigkeit und Harmonie demonstriert wird. Die Staatsmacht wird in Napoleon personifiziert, an den sich die Franzosen als Staatsbürger (nicht als Privatpersonen) wenden. In einer würdigen sprachlichen Form („dans les termes les plus formeis"; 19. 2.) bekunden sie ihm ihre Liebe, Dankbarkeit und Verehrung („notre amour, notre reconnaissance, notre respect et notre entier devouement"; 22. 3.). Die Adressen, in denen der Erste Konsul zu seiner Errettung beglückwünscht wird, spiegeln die gesellschaftlichen Hierarchieverhältnisse genau wieder. Zuerst kommen die Vertreter der höchsten Machtorgane zu Wort (senat, corps legislatif, tribunat), die im Namen aller Franzosen sprechen: „Les premiers corps de l'Etat vous portent aujourd'hui les temoignages d'un devouement que vous exprimerait toute la nation si eile pouvait se rassembler autour de vous" (19.2.). Anschließend äußern sich die Staatsdiener der nachgeordneten Ebenen, die in ihren Adressen die Hauptgedanken der vorangegangenen Reden (Freude über die Unversehrtheit des Ersten Konsuls, Abscheu gegen die perfiden Engländer und ihre ehrlosen Komplizen auf französischer Seite) unverändert übernehmen und dabei jeweils im Namen der Gesamtheit ihrer Untergebenen sprechen. So am 20. 2. der „prefet de la Seine", am 22. 2. der „Etat-major general", am 23. 2. der „conseil municipal de la ville d'Orleans" und der „prefet, le secretaire general de prefecture du departement du Loiret", am 24. 2.: — „les membres de l'Institut national" — „les officiers de la Garde" — „le chef de l'etat-major-general de la flottille nationale" — „le 5e regiment des dragons" — „la division des grenadiers de la reserve" — „le commandant du 6 e regiment des Cuirassiers" — „le prefet d'Eure et Loire" — „le prefet de la Meuse" und am 25. 2.: — „le clerge de Paris" — „l'archeveque de Paris" — „l'eveque d'Orleans" — „la division de cavalerie legere" — „les militaires invalides a l'Hotel national" — „le prefet du Nord, Seine et Marne, d'Indre et Loire" — „le conseil municipal de Sedan" — „le maire de Sedan"
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— „les president, juges, commissaire du Gouvernement [...] de l'arrondissement de Montreuil-sur-Mer" — „les membres du tribunal d'appel seant a Caen" — „le tribunal civil de l'arrondissement de Caen, departement du Calvados". Die Auflistung ließe sich für die folgenden Wochen — bis Ende April — fortsetzen. „Wer, auf welche Weise auch immer, vom Ersten Konsul abhängig war und es bald vom Kaiser sein sollte," so der bereits zitierte Historiker J . PRESSER, „tat dies so laut und so schrill wie möglich kund" (1977, 203). Die Ergebenheitsbekundungen für den Ersten Konsul sind so einheitlich formuliert, daß hier und da ein Hinweis auf ihre Authentizität und ihr spontanes Zustandekommen angebracht scheint. „J'ai l'honneur de vous soumettre ces adresses; elles sont spontanees, et presentent l'expression des sentimens de leur äme", kommentiert am 22. 2. ein General die Schreiben seiner Offiziere und Soldaten. Zur Harmonie in den interaktionalen Beziehungen gehört es, daß über die Zeitung keine direkten Aufforderungen der Regierung an die Bürger ergehen, aus denen geschlußfolgert werden könnte, daß die offizielle Politik mit Zwang durchgesetzt würde. Aufforderungen mit Drohcharakter finden sich allenfalls in verhüllter Form, wie ζ. B. im Futur des folgenden Prädikats: „Les citoyens s'empresseront de denoncer les maisons oii ils soup^onneraient qu'ils [die noch flüchtigen Verschwörer - R.M.] pourraient etre caches" (29. 2.). Eine direkte Aufforderung zu politischem Gehorsam wird nur vom Erzbischof von Rouen — eingebettet in den religiösen Diskurs — ausgesprochen. Cambaceres beansprucht für den irdischen Herrscher dieselbe Gläubigkeit, Unantastbarkeit und Widerspruchslosigkeit wie sie Gott in der christlichen Religion zukommt: „Ouvrez les livrds saints, monumens venerables ou se trouvent consignees les lois de cette religion divine; vous y verrez, que les chefs des gouvernemens sont les oints du seigneur, et qu'il est defendu de leur toucher; qu'on ne doit jamais parier contre les dieux de la terre, ni medire de celui qui est le chef du peuple; qu'il est ordonne de Yhonorer, comme il est ordonne de craindre Dieu; qu'on est oblige d'obeir ä ses maitres, fussent-ils meme durs et facheux; qu'on est averti par le grand apotre, de prier pour eux et pour tous ceux qui sont eleves en dignite; qu'il est tres-expressement enjoint par J. C. meme, de rendre ä Cesar ce qui est ä Cesar; qu'on ne peut etre dispense de regarder toute puissance legitime, comme venant de Dieu; qu'enfin, il est necessaire de se soumettre ä l'autorite existante dans un pays, non-seulement par la
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crainte du chätiment, mais aussi par un devoir de conscience"
(29. 2.
— Hervorhebungen im Original!). Im weltlichen Diskurs erfolgt die Aufforderung zu staatsbürgerlichem Gehorsam durch die Übertragung des Vater-Kind-Verhältnisses auf das Leben im Staatsverband. Napoleon hat, nach seinen eigenen Worten, schon lange auf die Annehmlichkeiten des Privatlebens verzichtet („J'ai renonce depuis long-temps aux douceurs de la condition privee"; 19. 2.). Er übernimmt die Rolle des gütigen Vaters aller Franzosen („un tendre pere accueillant avec bonte ses enfans qui s'empressent autour de lui"; 17. 4.). Frankreich biete das Bild einer einigen Familie („l'image d'une seule famille"; ebd.). Die Kriegsversehrten nennen ihren obersten Feldherrn ihren „general et pere" (22. 2.). Die Verschwörer werden als Vatermörder bezeichnet („infames parricides"; 22. 3.). Mit der Übernahme der Vaterrolle durch Napoleon entsteht eine asymmetrische Sozialbeziehung (Unterordnung, Gehorsam, aber auch Schutz und Geborgenheit), die sich auch in den kommunikativen Beziehungen widerspiegelt: Die Kinder hören auf den Vater, widersprechen nicht, wenden sich respektvoll mit Bitten und Wünschen an ihn. Wie in der Analyse der thematischen Struktur bereits angedeutet, kommt die Absicht, alle Bürger für den vorgegebenen Konsens bezüglich der Rolle Napoleons zu vereinnahmen, auch in dem in der Personaldeixis manifestierten Totalitätsanspruch zum Ausdruck:
— „des citoyens de tout age, de tout sexe, de tout etat" (22. 3.) — „TOMS les Franfais
demandent un premier magistrat" (28. 5.)
— „Tous vous admirent", „il ny a aucun qui ne vous dit", „Tous
les citoyens vivront en paix"; „Tous les yeux se sont ouverts sur les dangers" (6. 5.). Parallel dazu werden die Napoleongegner mit jenen sprachlich-kommunikativen Verfahren und Argumenten aus der nationalen (Kommunikations-) Gemeinschaft der Franzosen ausgegrenzt, die immer dann ins Spiel kommen, wenn die nationale Einheit gegen äußere Bedrohung beschworen wird: — sie seien eine unbedeutende Minderheit von Unruhestiftern („quelques fanatiques partisans d'une democratie qui ne peut nous convenir", „quelques perturbateurs de l'ordre public"; 6. 5.) ohne Rückhalt in der Bevölkerung („[ils] cherchaient en vain des partisans que la moderation du Gouvernement et des lois leur avait enleves"; 18. 2.); — sie würden ideologisch und materiell vom feindlichen Ausland ausgehalten („agens de Pennemi", „a la solde de l'Angleterre"; 18. 2.; „degoütant de l'or des Anglais"; 29. 2.; nicht zufällig ver-
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teidigt sich der Verschwörer Pichegru bei seiner Verhaftung mit einer vorzugsweise in England praktizierten Sportart: „il a boxe un quart d'heure avec les gendarmes"; ebd.) — ihr politischer Standpunkt, der nicht näher erläutert wird, stehe im Widerspruch zur vernünftigen Haltung der regierungstreuen Mehrheit („Nous ne faisons done qu'exprimer le desir bien reflechi et bien prononce de tout ce qu'il y a d'hommes eclaires dans la Republique"; 6. 5.) — sie hätten das Recht auf Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft verwirkt („Vas, nous ne te reconnaissons plus, [...] cesse d'etre Francis"; 29. 2.).
2.2.2.2. Sinn der Inszenierung Nüchtern besehen bestand zwischen dem Wunsch der Bürger, endlich in Ruhe die Vorzüge der veränderten Besitz- und Eigentumsverhältnisse auszukosten, und Napoleons persönlichem Ehrgeiz, Kaiser zu werden, durchaus kein Widerspruch. Aber eine sachlich-nüchterne Erörterung wäre dem Anlaß der Kaiserproklamation nicht angemessen gewesen und hätte auch kaum zu der jahrelangen Gewöhnung an großartige Reden nach antikem Vorbild gepaßt. Der tiefere Grund für den pompösen Stil der „Moniteur"-Texte mochte aber folgender gewesen sein: Nur ein reichliches Jahrzehnt nach dem Sturz des Königs ließ sich die Einrichtung einer kaiserlichen Monarchie, mit der erklärtermaßen das Vermächtnis der Revolutionäre von 1789 erfüllt werden sollte, nur durch einen bisweilen recht willkürlichen Umgang mit den Tatsachen legitimieren. Einer kritischen Prüfung konnte die offizielle Argumentation nicht standhalten, und das brauchte sie auch nicht. Mit der Inszenierung der Kaiserproklamation sollte vielmehr eine Situation allgemeiner Euphorie geschaffen werden, in der kritische Fragen nicht gehört oder gar nicht erst gestellt werden konnten. Man möchte auch hier dem Napoleon-Biographen J. PRESSER beipflichten, der schreibt, daß Napoleon „die öffentliche Meinung wohl hat betäuben, aber nicht meistern können" (1977,194). Der angehende Kaiser drückt das so aus: „Eine Regierung wie die unsrige muß, um sich zu festigen, blenden und in Erstaunen setzen" (zit. bei M A R K O V / SOBOUL 1977, 426). Vor allem in zwei Punkten war Druck auf die öffentliche Meinung erforderlich: — Es mußte deutlich gemacht werden, daß mit der Errichtung einer neuen Dynastie keine Rückkehr zur verhaßten monarchistischen Ordnung von vor 1789 erfolgte.
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— Es durfte kein Zweifel daran gelassen werden, daß mit der angestrebten Ordnung zwar den Geschäftsinteressen der neuen Besitzbürger am besten gedient war, daß diese Interessen aber vorläufig den Erfordernissen der Staatsräson, d. h. dem andauernden Kriegszustand, untergeordnet waren. Dem „Moniteur" zufolge brauchen die Bürger des Jahres 1804 nicht das Gefühl zu haben, die Ideale von 1789 zu verraten. Schließlich sollen sie sich nicht einem neuen Tyrannen unterwerfen; im Gegenteil: Sie wünschen in freier Selbstbestimmung die Veränderung der staatlichen Exekutive: „Ii est d'ailleurs incontestable que le systeme de Punite et de l'heredite du pouvoir executif est dans le voeu de la nation [...] Ce fut, comme on Γ a deja dit, le voeu de l'Assemblee Constituante, composee de tant d'hommes recommendables par leurs lumieres et leur patriotisme, auxquels on ne reprochera pas, sans doute, d'avoir manque d'idees liberales, puisqu'ils proclamerent les premiers le principe inalienable de la souverainete du peuple[...] C'etait aussi le voeu de tous les amis de la revolution en 1789 [...] Nous ne faisons done qu'exprimer le desir bien reflechi de tout ce qu'il y a d'hommes eclaires dans la Republique" (6. 5.). Der Sprachhandlungstyp wünschen ist hier mit Bedacht gewählt und wird nicht zufällig so demonstrativ herausgestellt („un voeu qui est celui de toute la nation", 1. 5.; „le tribunat, en se rendant l'interprete du voeu national"; „les institutions dont le maintien et le perfectionnement sont l'objet de nos voeux", 6. 5.). Mit der interaktionalen Beziehung „X [die Nation] wünscht von Y [Napoleon]" erfolgt in scheinbar harmloser Form ein massiver Eingriff in die sprachlichkommunikativen Verhältnisse der Zeit. Zwar gehört zu den konstitutiven Bedingungen von Wunsch-Handlungen, daß diese freiwillig erfolgen und daß natürlicherweise nur Nützliches, Erfreuliches usw. gewünscht wird; es gehört aber auch dazu, daß das Angestrebte eben nur gewünscht und nicht etwa gefordert werden kann. Das gilt für die Beziehungen zwischen den Bürgern und Napoleon ebenso wie für die Vertreter der höchsten Staatsorgane und dem Staatsoberhaupt („Le voeu du senat, CITOYEN PREMIER CONSUL, est que...", 19. 2.). Wenn die Bürger von Napoleon wünschen, daß er ihre Bedürfnisse (Ruhe, Ordnung, Schutz des Eigentums usw.) befriedigt, gestehen sie damit ein bzw. soll ihnen die „Moniteur"-Inszenierung zu Bewußtsein bringen, daß es nicht in ihrer Macht liegt, diese Wünsche selber zu verwirklichen, sondern sie dabei auf einen „starken Mann" angewiesen sind (vgl. Petit R O B E R T , voeu 5°: Demande, requete [...] faite par qui n'a pas autorite de, ou pouvoir pour la satisfaire). Es geht aber
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Sprachpolitik in Revolution und napoleonischem Empire
um mehr als um die Anerkennung der überlegenen Autorität Napoleons, die dieser ja mit einigem Recht für sich beanspruchen konnte. In der angestrebten autokratischen Monarchie werden die citoyens von neuem zu Untertanen. Zwischen ihnen und dem Herrscher besteht kein gewöhnliches, auf Überlegenheit, Verdienst oder Stellung beruhendes Hierarchieverhältnis, vielmehr bevormundet und entmündigt der Imperator die Nation. In der Herstellung eines asymmetrischen Vater-Kind-Verhältnisses ist das offensichtlich, es läßt sich aber auch daran ablesen, daß jene, um deren Interessen es eigentlich geht, gar nicht zu Wort kommen: Nicht eine der zahllosen Zuschriften, die mit „X, Geschäftsmann" unterzeichnet wäre. Die Geschäftsleute haben im „Moniteur" keine eigene Stimme. Dazu Marx (MEW 2, 130 f.): „Er [Napoleon] befriedigte bis zur vollen Sättigung den Egoismus der französischen Nationalität, aber er verlangte auch das Opfer der bürgerlichen Geschäfte, [des] Genusses, Reichtums etc., sooft es der politische Zweck der Eroberung erheischte. [...] Seine Verachtung der industriellen· hommes d'affaires war die Ergänzung zu seiner Verachtung der Ideologen." Aber, so M A R K O V (1982, 332): „Bevormundung durch den barschen Artilleristen mochte zu ertragen sein, solange er neue Märkte freischoß." Eingeholt wird im „Moniteur" lediglich die Zustimmung der Militärs, der Beamten und der Geistlichen. Deren Rolle aber wird hinlänglich deutlich, wenn Marx Bonaparte selbst zu Wort kommen läßt, der nach dem 18. Brumaire sagte: „Mit meinen Präfekten, Gendarmen und Geistlichen kann ich mit Frankreich machen, was ich will" (ebd.).
2.2.2.3. Napoleonische Sprachpolitik Bereits in der Verbannung, bezeichnete Napoleon die „Moniteur"Texte als „die offiziellen Urkunden, mit deren Hilfe die weisen Leute, die wahren Talente, die Geschichte schreiben werden" (zit. bei P R E S SER 1977, 216). Die von ihm verfaßten, initiierten oder zumindest gebilligten Texte geben ein idealisiertes Bild von den gesellschaftlichen Verhältnissen der Napoleonära. Sie bilden die gesellschaftlichen Verhältnisse so ab, wie die Untertanen (und spätere Generationen) sie nach dem Willen des Herrschers sehen sollen. Bei der Interpretation der diskursanalytisch gewonnenen Daten müssen daher unterschiedliche Ebenen in Rechnung gestellt werden: das mit der sprachlichen Inszenierung vorgegebene Modell; das Verhältnis des Modells zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und schließlich das sprachpolitische
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Instrumentarium, mit dem die Diffusion des Modells gesichert wird. In diesem Sinne kann die sprachliche Inszenierung der napoleonischen Politik im „Moniteur" wie folgt interpretiert werden: a) das Modell Mit dem napoleonischen Diskurs werden die sprachlich-kommunikativen Verhältnisse beim Übergang vom Konsulat zum Empire in folgender Weise geregelt: Die gesellschaftliche Kommunikation ist nach zentralistischen Grundsätzen organisiert; mit öffentlichen Äußerungen wird ein Totalitätsanspruch erhoben, Widersprüche werden harmonisiert und die Gegenwart glorifiziert. Zentralismus: Entsprechend den Hierarchieverhältnissen im politischen System der Gesellschaft geben die Bürger nacheinander, von „oben" nach „unten" ihre Zustimmung zu einer Politik, an deren Ausarbeitung sie nicht beteiligt waren. Dabei werden die sprachlichen Muster der jeweils höheren Ebene reproduziert: die Behauptung der schicksalhaften Rolle Napoleons für das Wohl jedes einzelnen und das der ganzen Nation, die Verurteilung der Feinde Frankreichs, der Wunsch nach einer Festigung der Institutionen der Machtausübung. Totalität·. Napoleon und die Mitglieder der Regierung wenden sich mit ihren öffentlichen Äußerungen immer an alle Franzosen. Umgekehrt schließen die Regierungsmitglieder und nachfolgende Amtsinhaber in ihren Adressen an das Staatsoberhaupt alle Bürger bzw. die Gesamtheit ihrer jeweiligen Unterstellten ein. Der Anspruch, alle Bürger in das neue System zu integrieren, wird ebenso absolut vorgetragen wie der Ausschluß der Napoleongegner aus der nationalen (Kommunikations-)Gemeinschaft. Mit den „Moniteur"-Texten wird ein uneingeschränkter Wahrheitsanspruch erhoben; Zweifel werden nachdrücklich ausgeschlossen. Harmonisierung: Der asymmetrische Charakter der Kommunikationsbeziehungen zwischen den Franzosen und ihrem Staatsoberhaupt nimmt mit der Errichtung einer kaiserlichen Monarchie weiter zu, wird aber durch die patriarchalische Form dieser Beziehungen, die neben Widerspruchslosigkeit und Unterordnung auch Schutz und Geborgenheit einschließt, harmonisiert. Aufforderungen zu politischem Gehorsam ergehen nur in indirekter oder verhüllter Form. Napoleon formuliert seine Machtansprüche nicht persönlich; er stimmt den Wünschen der nach ihm höchsten Politiker zu, die sich ihrerseits auf die von allen Franzosen geäußerten Wünsche berufen. Glorifizierung: Kompensiert wird die „Entmündigung" der künftigen kaiserlichen Untertanen durch die Beschwörung der Größe Frankreichs, an der alle Bürger teilhaben. Begriffe, die für alltägliche,
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Sprachpolitik in Revolution und napoleonischem Empire
unheroische Bedürfnisse und Werte stehen (repos, securite, propriete), werden durch ihre Koordinierung mit positiv konnotierten Begriffen (gloire) ins Erhabene transponiert. Die Napoleongestalt wird mit Attributen versehen, die seine Gleichstellung mit der historisch unumstrittenen Gestalt Karls des Großen suggeriert. h) die Wirklichkeit Die Festigung der Machtpositionen Napoleons kam den Interessen weiter Teile der französischen Bevölkerung entgegen: „Den langfristigen Operationen der kapitalistischen Geschäftswelt war mit einer fortwährend schaukelnden Regierung und unabsehbarer Kriegsverlängerung, die gar schon wieder Zwangsanleihen begleiteten, schlecht gedient. Nach zehn Jahren der Unruhe und halsbrecherischer Spekulationen drängte es sie zur Investition in eine sanierte Wirtschaft. Sie rief nach dem ,wirklichen', dem ,Ordnungsfaktor' Staat. Seine Massenbasis bildeten die drei Millionen Parzellenbauern. Diese sperrten sich gegen eine Wiederkehr von Feudallasten oder des Zehnten und hingen insofern der neuen Ordnung an. Sie mißbilligten indessen ebenfalls städtische ,Unruhestifter', die sie bisweilen mit konterrevolutionären Banden und Banditenunwesen auf dem flachen Land in einen Topf warfen. Ihnen war diejenige Regierung recht, die ihnen erlaubte, ihren endlich befreiten Acker in Frieden möglichst unbelästigt zu bestellen und nicht, wie unter dem Direktorium, von nicht abreißenden Veränderungen geschüttelt zu werden. Auch sie warteten auf den ,starken M a n n ' " ( M A R K O V / S O B O U L 1977, 422f.). Insofern ist anzunehmen, daß die Franzosen mit der Akzeptierung eines bonapartistischen Ausnahmeregimes auch bereitwillig die von der offiziellen Presse vorgegebenen sprachlichen Muster hinnahmen. Der politische Konsens tragender Schichten der französischen Gesellschaft war eine entscheidende Voraussetzung für die Wirksamkeit des napoleonischen Diskurses. Daß dieser Konsens indessen nicht uneingeschränkt bestand, wird daran deutlich, daß die vom „Moniteur" verbreiteten Texte nicht nur „aus sich selbst heraus" wirkten, sondern mit einer repressiven Pressepolitik einhergingen. c) das sprachpolitische Instrumentarium Die Presse der Napoleonzeit unterlag einer strengen politischen Kontrolle (vgl. z . B . B E L L A N G E R u.a. 1969, 549ff.): So verbot ein Dekret vom 17. 1. 1800, zwei Monate nach dem Staatsstreich vom 18. Brumaire, 60 politische Zeitungen im Departement Seine. Nur 13 blieben übrig. Die Arbeit der Presse wurde von einem mit weitreichenden Vollmachten ausgestatteten Pressebüro überwacht. Napoleon
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persönlich wies 1803 an: „Toute nouvelle desavantageuse pour la France, les journalistes doivent la mettre en quarantaine, parce qu'ils doivent la supposer dictee par les Anglais" (ebd., 553). In den Archiven des „Moniteur" fanden sich zahlreiche Artikel, die Napoleon selbst verfaßt hatte, ohne daß seine Autorschaft aus der Veröffentlichung hervorging.
2.2.2.4. Der „ungetreue Erbe der Revolution" Trifft dieses politisch begründete Urteil von M A R K O V / S O B O U L ( 1 9 7 7 , 425 f.) über Napoleon, den „Exjakobiner im Purpur" auch auf die napoleonische Sprachpolitik zu? Auf den ersten Blick scheint sich die sprachpolitische Praxis der Napoleonära kaum von der der Jakobiner an der Macht zu unterscheiden: ein gewaltsam aufrechterhaltener Einheitsdiskurs in der Presse, der die Größe Frankreichs beschwört und mit dem der Anspruch erhoben wird, für alle und zu allen zu sprechen. Die Frage nach dem Erbe der Revolution ließe sich dann so beantworten, daß sich die Mittel zur Durchsetzung der jeweiligen Sprachpolitik zwar glichen — wie überhaupt sprachpolitischer Dirigismus jeglicher Provenienz zu seiner Sicherung auf ein begrenztes, wiederkehrendes Inventar von (politischen) Mitteln zurückzugreifen scheint —, während die damit verfolgten Ziele sich deutlich voneinander unterschieden: hier die Sublimierung der Revolution im Interesse der Verteidigung ihrer demokratischen Errungenschaften, dort die Legitimierung einer neuen Dynastie zur Wahrung der ökonomischen Interessen einer Bourgeoisie, die auf ihre einstigen revolutionären Ideale verzichten konnte. Anliegen unserer Analyse war es aber, Sprachpolitik mit linguistischen Mitteln im engeren Sinne, ohne vordergründigen Rekurs auf die Erkenntnisse von Nachbardisziplinen (vor allem der Geschichtswissenschaft) zu rekonstruieren. Vergleicht man die Zeitungstexte der jakobinischen Periode (Kap. 2.1.2.) mit den „Moniteur"-Texten, so wird deutlich, daß die Unterschiedlichkeit der politisch-ideologischen und der sprachlichen Verhältnisse der Jahre 1793/94 und 1804 tatsächlich in die Texte inskribiert ist und über die Diskursanalyse offengelegt werden kann. Unterschiedlich ist vor allem das Verhältnis der kommunizierenden Subjekte zueinander. Zwar sind jakobinischer und napoleonischer Diskurs gleichermaßen unifizierend, doch wird in den „Revolutions de Paris" eine Gleichheit vorgegeben, die für alle gilt („nous", „tous"), während im „Moniteur" der Napoleonzeit die Rückkehr zu hierarchischen, wenn auch patriarchalisch bemäntelten Beziehungen („pere" — „en-
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Sprachpolitik in Revolution und napoleonischem Empire
fants") erfolgt (vgl. dazu auch Kap. 2.1.3.1.). Die Unterschiede lassen sich auch an der Koordinierung politischer Schlagworte ablesen. Die vom „Moniteur" am 6. 5. 1805 wiedergegebenen politischen Reden enthalten die Losungen „loi, liberie, egalite" und „liberte, egalite, propriete". Ganz offensichtlich hat die fraternite der Revolutionszeit gesellschaftlichen Beziehungen Platz gemacht, die vom Eigentum und seinem gesetzlichen Schutz diktiert werden. Ebenso bezeichnend ist die Verwendung des re/?os-Begriffs. Da die angestrebte Ruhe nichts Revolutionäres an sich hat, wird sie in eine Reihe mit positiv konnotierten Begriffen gestellt, mit denen sie im Grunde genommen semantisch unverträglich ist: „C'est notre independance, notre gloire, notre repos que l'on voulait detruire". Es handelt sich, wie ausdrücklich vermerkt wird, um eine glorreiche Ruhe („un repos glorieux"; 6. 5.). Mit der Aufwertung des repos-Begriffs wird eine ungebrochene Entwicklungslinie zwischen Revolution und Empire vorgetäuscht: „En un mot, tout ce que le peuple avait voulu en 1789 a ete retabli" (ebd.). Der napoleonische Diskurs erhält damit ein demagogisches Moment, das der jakobinische Diskurs nicht kannte und das einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden ausmacht. Der jakobinische Diskurs findet seinen Platz in der „heroischen Illusion" der Revolutionsepoche, die nicht einfach alltägliche Täuschung oder bloßer Betrug war, sondern „eine weltgeschichtliche Selbsttäuschung aller die Revolution prägenden Klassen" (KOSSOK 1986, 418). Eben daraus bezieht der jakobinische Diskurs eine sprachliche und „moralische" Integrität, die der napoleonische Diskurs nicht beanspruchen kann. „Le tems des illusions politiques est passe", heißt es im „Moniteur" vom 6. Mai 1804. In der Publizistik der Napoleonzeit erfolgte die Täuschung der Massen bewußt, wofür das aus der Revolution hervorgegangene sprachpolitische Instrument einer massenwirksamen Presse eine ideale Voraussetzung bot.
3. Die sprachpolitische Ausstrahlung der Französischen Revolution auf die romanischen Nachbarländer
Die beflügelnde, auslösende und formgebende Wirkung der Französischen Revolution auf die bürgerlich-revolutionären Bewegungen anderer Länder an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die KOSSOK (1987 a, 7) dazu veranlaßt hat, sie als „Leitrevolution" der bürgerlichen Revolutionen jenes Zeitraums zu bezeichnen, ist ein außerordentlich facettenreicher Vorgang gewesen. Wenn dabei Beziehungen und Beeinflussungen auf den Gebieten der politischen Ideen und Praktiken, der Literatur, bildende Künste und Musik, des Bildungswesens, der Medien usw. von Frankreich nach so gut wie allen Ländern Europas (und Amerikas) feststellbar sind, so dürfte es angesichts der fundamentalen Rolle, die die Sprachpolitik von 1789 an bei der Errichtung der bürgerlichen Herrschaft und der Einrichtung des modernen Staates spielt, auf der Hand liegen, daß es auch sprachpolitische Ausstrahlungen Frankreichs auf das Ausland gegeben hat. Daß diese in jedem Falle anders verarbeitet werden, daß sie eigene nationale Denktraditionen teils überlagern, teils ergänzen oder mit ihnen in Widerstreit geraten, daß sie von den andersgearteten Realitäten manchmal einfach widerlegt werden und in anderen Fällen wiederum glänzende Bestätigung erfahren, liegt sicher in der Dialektik der Rezeption zwischennationaler „Einflüsse" begründet. Das komplexe und vielschichtige Erscheinungsbild, das sprachpolitische Fragen in den revolutionären Bewegungen Europas an der Schwelle des 19. Jahrhunderts — mit oder ohne nachweisbarem Bezug zu den französischen Vorgängen — bieten, bestätigt jedenfalls erneut, daß ohne die Instrumentalisierung der Sprache zum Zwecke der Konsenssicherung und der Effektivierung der staatlich-administrativen und wirtschaftlichen Strukturen die Ablösung der feudal-ständischen Gesellschaft und absolutistischen Machtstrukturen nicht möglich war. Im folgenden wird die Sprachpolitik in Italien und Spanien betrachtet werden, den großen Nachbarländern, deren Geschichte neben der
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
Deutschlands wohl am meisten von der Französischen Revolution geprägt worden ist. Wie in Frankreich wird dabei der Akzent auf der politischen Diskursregelung und auf den Strategien zur Bewältigung der Sprachkonflikte liegen, während Fragen der Standardisierung und Sprachkultur nur angeschnitten werden, sofern sie politisch relevant werden, was in Italien in ungleich höherem Maße als in Spanien gilt.
3.1.
Italien im Triennio rivoluzionario napoleonischen Zeit
und in der
3.1.1. Die Wende in der „Sprachfrage" Vom 16. Jahrhundert an ist die Questione della lingua eine ständige Begleiterin der italienischen Kulturgeschichte. An der Frage, welchen sprachlichen Modellen — welchen vorbildhaften Autoren und welchen regionalen Varietäten — die Literatur folgen solle, ist kaum einer der namhaften Schriftsteller, Philosophen oder Historiker seit der Renaissance vorbeigegangen, ohne sich in die manchmal recht heftige Polemik einzuschalten. In dieser langen, bis nahe an die Gegenwart heranreichenden Auseinandersetzung spielt die revolutionäre Ära im Gefolge der Französischen Revolution die Rolle einer Umbruchszeit. Aus einer vorwiegend literarisch-ästhetischen Frage erwächst ein allgemeineres gesellschaftliches und politisches Problem; aus dem Streit um Tradition oder Neuerung in der sprachlichen Gestaltung der Literatur erwächst das Ringen um die einheitliche, moderne Nationalsprache und ihre Verbreitung in allen sozialen Schichten und in allen Regionen Italiens. Gewiß war die Wende durch die italienische Aufklärung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorbereitet worden, nicht zuletzt auch in Übereinstimmung oder Auseinandersetzung mit Positionen der französischen Aufklärung in Fragen der Sprachtheorie und -philosophie, was die frappanten Parallelen in der Sprachdiskussion Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts in beiden Ländern wenigstens teilweise erklärt (vgl. dazu F O L E N A 1965, 399f.). Die Jahre zwischen 1796 und 1814 aber haben völlig neue Akzente gesetzt: Unmittelbare Anforderungen einer sozialen Praxis, die zuerst durch revolutionäre Veränderungen und dann durch die Organisierung der napoleonischen Staaten bürgerlich-moderner Observanz geprägt war, haben die
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und in der napoleonischen Zeit
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Sprachfrage ihres akademisch-künstlerischen Charakters entkleidet und zu einem eminent politischen Thema gemacht. GRAMSCIS vielzitiertes Wort, demzufolge jedesmal, wenn sich in Italien die Sprachfrage stellt, sich dahinter eine politisch-soziale Frage verberge, ist eine nur allzu evidente Wahrheit für jene Zeit, die den Mittelpunkt unseres Interesses bilden soll (und die — da zwischen Aufklärung und Romantik als Kristallisationspunkten der Sprachfrage stehend — bisher wenig unter diesem Gesichtspunkt erforscht worden ist), da der Zusammenhang zwischen sprachlichen und politischen Fragen damals in bisher unbekanntem Maße jedermann klar und deutlich vor Augen trat. Was hatte die italienische Aufklärung dafür an Vorleistungen erbracht? Erstens ist ein allmähliches Abrücken einer wachsenden Schar von Schriftstellern von der klassizistischen Ästhetik zu beobachten, die die Sprache der großen Autoren des Tre- und Cinquecento mehr oder weniger einseitig als Vorbild für die Literatursprache anerkannte. Verbunden ist dies mit der Öffnung der Literatur für stilistische und lexikalische Einflüsse vor allem aus Frankreich und England. Eine vorsichtige Synthese der unterschiedlichen nationalen und internationalen Modelle empfahl bereits 1 7 5 2 Algarotti (vgl. C E S E R A N I / D E FEDERICIS 1 9 8 1 / 6 , 4 4 6 - 4 4 8 ) , während sich die Autoren der Zeitschrift „Caffe" 1764 auf spektakuläre Weise vom traditionalistischen Wörterbuch der Crusca-Akademie verabschiedeten und die völlige Freiheit der literarischen Sprache proklamierten (ebd., 4 4 9 - 4 5 2 ) . Zweitens treten neue Textsorten in den Gesichtskreis der Schriftsteller, die neue Lexik und andere Gestaltungsmittel erforderlich machen. Geschichte, Philosophie, Ökonomie und Finanzen werden auch in Italien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierende Themenbereiche, die dem wissenschaftlichen Terminus und dem alltagssprachlichen Wort den Weg in die Literatur bahnen. Im „Dizionario universale critico-enciclopedico della lingua italiana", das Francesco ALBERTI di Villanova aus Nizza 1797 veröffentlicht, sind daher auch Technizismen aus Wissenschaft und Berufen enthalten (vgl. VITALE 1978, 222), während andererseits das gesunkene Prestige des Crasctf-Wörterbuchs in der Auflösung der Accademia della Crusca und ihrer Eingliederung in die Accademia Fiorentina durch Leopold von Toskana im Jahre 1783 zum Ausdruck kommt. Drittens ist ein kritisches Bewußtsein der Tatsache erwacht, daß das Italienische trotz dieser Fortschritte noch längst keine Sprache ist, die den kommunikativen Bedürfnissen einer effektiv organisierten Gesellschaft genügte, da nur wenige Gebildete sie beherrschten. In
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
einer überraschend modernen Sichtweise greift der Neapolitaner Antonio Genovesi, der übrigens als einer der ersten Universitätslehrer Italiens seine Vorlesungen zur politischen Ökonomie auf Italienisch statt auf Latein hielt, das Thema in seinem 1753 veröffentlichten „Discorso sopra il vero fine delle lettere e delle scienze" auf. Anregungen Vicos und Joh. David Michaelis' aufnehmend (vgl. Lo PIPARO 1984), sieht er die Entwicklung der sozialen Kommunikation als Weg zur Herausbildung jenes senso comune, der die im Volke verallgemeinerte Vernunft darstelle und zu dessen ständiger Weiterentwicklung die Gebildeten und alle Volksschichten und Berufe in gemeinsamer Aktion berufen seien. Von da aus leiten sich alle Einzelaspekte des Sprachproblems ab: neben der theoretischen Problematik der individuellen und sozialen Vielgestaltigkeit der Sprache auf der Grundlage unterschiedlicher Erfahrung (im Sinne des Sensualismus) und der damit in Zusammenhang zu bringenden Frage nach der Macht und dem Mißbrauch der Wörter vor allem die praktische Forderung nach Alphabetisierung und Bildung des Volkes und der Ruf nach einer Intellektualität, den ben parlanti, die sich zum Sprecher des ganzen corpo sociale macht und aus der sozialen Praxis heraus in der Sprache des Volkes die für den Fortgang der Gesellschaft notwendigen Schlüsse formuliert. Der Typ dieses neuen Intellektuellen nimmt in Carlo Deninas 1776 erschienenen Schrift „Bibliopea ο sia l'arte di compor libri" in der Person des allseitig gebildeten Staatsbeamten Gestalt an, der Bildung und soziale Kommunikation zu organisieren habe, wofür jedoch eine geographisch einheitliche und stilistisch neutrale Verwaltungssprache vonnöten sei (vgl. F O R M I G A R I 1984, 65 — 73). Auch Cesarotti postuliert im „Saggio sulla filosofia delle lingue" (1785) „la nazione stessa, il maggior numero dei parlanti" als Schöpfer und Schiedsrichter der Nationalsprache — endgültige Absage an den elitären Typus des humanistischen Renaissancegelehrten und Angabe der Richtung, in die eine bürgerliche Sprachplanung gehen sollte. L o P I P A R O (1984) macht darauf aufmerksam, daß die Orientierung auf die Volksmehrheit sich mit der von Adam Smith' „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" eröffneten neuen Sicht der politischen Ökonomie auf die Produzenten, namentlich auf die durch die französischen Physiokraten in den Mittelpunkt gerückten landwirtschaftlichen Erzeuger überkreuzte. Genovesis „Discorso" ordnet sich schon äußerlich - er stellt eine Einleitung zu den „Ragionamenti sopra i mezzi necessari per far rifiorire l'agricultura" von Ubaldo Montelatici dar - in diesen Gedankengang ein. Eine produktive Landwirtschaft als Hauptquelle nationalen Reichtums könne nur durch die entsprechende Bildung der Landwirte gewährleistet werden.
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Die Misere der Agrikultur im Königreich Neapel bringt er daher auch direkt mit der vorherrschenden rhetorisch-humanistischen Kultur in Verbindung. Daraus wird die Forderung nach Lese- und Schreibfähigkeit und praktischer wirtschaftlicher Bildung für alle Volksschichten abgeleitet: „Ma sarebbe egli tanto difficile che / . . . / a' ragazzi insieme col catechismo della religione e della morale, si facesse anche apprendere una brieve istituzione di agricoltura, di commerzio e d'altre arti? / . . . / Che vi fossero delle accademie, nelle quali insieme cogli artisti e contadini intervenissero de' matematici e de' fisici, i quali dessero loro le utili lezioni?" (nach Lo P I P A R O 1984, 239). Deutlicher lassen sich die sozialstrategischen Hintergründe eines sprachpolitischen Programms bürgerlicher Observanz kaum aussprechen. Sprache und Bildung sollen unmittelbar in den Dienst der Produktivität gestellt, die halbwegs gebildeten Produzenten zu tragenden Kräften der neuen Gesellschaft werden. Genovesis bildungspolitische Vorstellungen sind schulbildend in ganz Italien gewesen. Auf Sizilien konzipiert und organisiert De Cosmi von 1786 bzw. 1788 an ein System von Volksschulen, das in der unteren und mittleren Stufe völlig auf Latein verzichtete und neben Lesen, Schreiben und Rechnen auch Kenntnisse aus Landwirtschaft, Handwerk und Handel vermittelte (vgl. Lo P I P A R O 1984). In Venedig stellen G. M . Ortes (in den „Riflessioni sugli oggetti apprensibili, sui costumi e sulle cognizioni umane per rapporto alle lingue", 1775) und in Piemont die filopatridi Galeani Napione und Valperga Di Caluso das Werk des Neapolitaners zur Diskussion. Ganz im Sinne De Cosmis fordert Gasparo Gozzi 1770 in Venedig dazu auf, Latein aus den Volksschulen zu verbannen; die Nation brauche „scienze meccaniche e che parlino in vernacolo, (di) una Teologia nazionale pura, e da tutti Ieggibile, (d') un codice di leggi semplice e chiaro" (vgl. DEL N E G R O 1984, 261). Etwa zur selben Zeit werden in der Lombardei (1786/87) und im Staate Venedig (1790) mit der Einführung der „Allgemeinen Schulordnung" Maria Theresias die Grundlagen einer Volksschule gelegt, die auf muttersprachlicher Bildung beruht. Es stellt sich somit heraus, daß in dem politisch zersplitterten und ökonomisch wie sozial zurückgebliebenen Italien schon vor den revolutionären Umbrüchen am Ende des 18. Jahrhunderts sprachpolitische Strategien des Bürgertums im Verein mit nationalsprachlich basierten Schulreformen aufgeklärter Monarchen entwickelt worden waren, die in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Tragweite der sprachund bildungspolitischen Theorie und Praxis in Frankreich um einiges voraus waren. Das Fehlen einer sozial und geographisch homogenen Nationalsprache wirkte gewissermaßen als Katalysator dafür, die mit
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
der Herstellung eines Konsens der bürgerlich-liberalen Kreise mit der Gesamtbevölkerung sowie eines einheitlichen nationalen Kommunikations- und Produktionsraumes zusammenhängenden Fragen offener und klarer zu stellen, als es anderen Orts der Fall gewesen war.
3.1.2. Die Aufklärung auf dem Prüfstand: Das Triennio rivoluzionario 1796 —1799 Die im Gefolge der Italienfeldzüge Frankreichs unter dem Direktorium entstandenen Republiken weisen erhebliche Unterschiede untereinander auf: während die Cisalpinische Republik, die die längste Lebensdauer hatte ( 1 7 9 6 - 9 9 ) , hauptsächlich von gemäßigten Kreisen beherrscht war, dominierten in den drei Monaten, in denen die Partenopäische Republik bestand, die Jakobiner. In Mailand wie in Neapel, in Bologna wie in Rom — überall stellte sich den Führern und Verwaltern der neuen Ordnung von Anbeginn an aber dieselbe Frage: Wie sollten sie es anstellen, sich der Unterstützung der unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung in der Stadt und auf dem Lande dauerhaft zu versichern? Mehr als in Frankreich hing das Schicksal der neuen Regimes, auf französische Bajonette gestützt und von einer dünnen Schicht Intellektueller und Bürger getragen, davon ab, wie sie die politisch ungebildete und unter der ideologischen Fuchtel des Klerus stehende Masse der städtischen und ländlichen Unterschichten an sich binden konnten. Dieser Aufgabe stellten sich die revolutionstragenden Kräfte in unterschiedlicher Weise, und ihr Erfolg hing in nicht unbeträchtlichem Maße auch von sprachlichen Fragen ab. 1 Es sollte sich zeigen, daß das Werk eines Genovesi und seiner Schüler nicht ausgereicht hatte, die sprachlich-kulturellen Barrieren zu überwinden, die zwischen Intellektuellen und Volk immer noch bestanden. Die revolutionären Führer, in der Mehrzahl junge Intellektuelle, konnten zunächst der Versuchung nicht widerstehen, mit ihren rhetorischen Fähigkeiten und ihrer klassischen Bildung zu glänzen, womit sie vielerorts einfach über die Köpfe der plebejischen Massen hinweg redeten. In der Rückschau auf die neapolitanische Revolution nennt Vincenzo Cuoco eben diese sprachlich-rhetorisch-kulturelle Ferne vom Volke, die abstrakte Sprache, das Hantieren mit Begriffen wie Freiheit, Gleichheit, Tyrannei, und die den französischen Jakobinern nachgeahmten Anspielungen 1
Vgl. dazu jetzt die umfassende Arbeit von Erasmo Leso (LF.SO 1991), die aus den in der Einleitung genannten Gründen hier nicht mehr berücksichtigt werden konnte.
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auf die römische Antike - die Brutusse, Antoniusse, Caesaren — unter den Ursachen für das Scheitern des Unternehmens. Das Ergebnis war ein totales Unverständnis auf Seiten des mit diesen Denkmustern in keiner Weise vertrauten Publikums: „A traverso la pompa delle parole, si travedeva il declamatore, si scopriva l'impegno di convincere, che nelle menti de' piu si confonde sempre con l'impegno di ingannare; e cosi le idee esaltate di grandezza destarono il riso, le idee esaltate di liberta produssero il disordine" (nach: FORMIGARI 1984, 74f.). Cuocos Revolutionskritik ist eine Kritik am blinden Vertrauen in die Kraft der Sprache. Es sind die Argumente der „filologia dei mercatanti", mit denen er die Ursachen für das Scheitern der jakobinischen Propaganda bloßlegt. Die Ideen der Jakobiner waren nicht nur abstrakt und fremd, sie waren auch nicht von realen Veränderungen begleitet, anhand derer das Volk sie begriffen und akzeptiert hätte: „se un'autorita, che il popolo credeva legittima e nazionale, invece di parlargli un astruso linguaggio che esso non intendeva, gli avesse procurato de' beni reali, e liberato lo avesse da que' mali che soffriva; forse [...] noi non piangeremmo ora sui miseri avanzi di una patria desolata e degna di una sorte migliore" (nach: SAPEGNO 1 9 5 4 , I I I , 5 ) .
Ein mächtiges Hindernis für die Verständigung zwischen Revolutionären und Volk war zweifellos auch die Distanz zwischen den Soziolekten: zwischen dem Italienisch der Gebildeten und Adligen und dem Dialekt der Volksschichten. Für die im Banne der Aufklärung stehenden neapolitanischen Jakobiner, die auch ihren De Cosmi kannten und den Dialekt mit Rückständigkeit gleichsetzten, erschien es zunächst als eine Selbstverständlichkeit, die nunmehr zu cittadini gewordenen lazzari würdig, d. h. „in lingua" anzusprechen. Den Dialekt zu gebrauchen hätte ja bedeutet, auf die Varietät zurückzugreifen, die Absolutismus und Klerikalismus dem Volk zugeteilt hatten. Das durchweg enttäuschende Ergebnis dieser Praxis und die Konfrontation mit einer klerikal-absolutistischen Propaganda, die sich erfolgreich des Dialekts bediente, bewirkte dann auch einen Wechsel der sprachpolitischen Methoden, wenn er auch meist zu spät kam. Er manifestiert sich in Neapel in der von SGRILLI ( 1 9 7 6 ) und L E S O ( 1 9 7 7 ) erwähnten Initiative der revolutionären Führerin Eleonora Fonseca Pimentel, den Dialekt zur politischen Propaganda einzusetzen. Ihr Aufruf erging vor allem an die patriotischen Priester, „i quali han giä la pratica della persuasiva popolare", für den Teil des Volkes, der plebe zu nennen sei, die Reden in einer angemessenen Sprache, „proporzionata alia costei intelligenza, e ben anche nel costei linguaggio" zu halten (FONSECA 1 7 9 9 a, 4 5 4 ) . Der „Amico dell'uomo e de lo
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patriota" begann in der Tat, im neapolitanischen Dialekt zu veröffentlichen (vgl. F O N S E C A 1799b, 455). Mit der einfachen Übertragung hochsprachlicher Texte in einen Dialekt war es nicht getan. Die Topoi und Argumentationsformen des literatursprachlichen Textes mußten durch solche ersetzt werden, die den dialektal gebundenen Erfahrungen des Volkes entsprachen. Solange die plebe nicht Popolo sei und entsprechend denke, müsse il Popolo mit ihm wie plebe sprechen, hatte Eleonora Fonseca Pimentel (ebd.) gefordert. Was auf diesem Wege an Texten produziert wurde, ist uns nicht bekannt. Mit der Masse der konterrevolutionären, populistischen Schriften und Spottverse im Dialekt konnten die Jakobiner der Partenopäischen Republik ohnehin nicht konkurrieren. Dafür sind erfolgreichere Versuche aus der Toskana, der Lombardei und Piemont überliefert, die Dialekte für die Revolutionspropaganda zu benutzen. Ist in diesen Fällen der Dialekt nur als Notbehelf zum Transport von Ideologie, als Durchgangsstadium auf dem Wege zu einer vorwiegend hochsprachlichen Diskursproduktion oder gar als mögliche Alternative zur Hochsprache behandelt bzw. angesehen worden? Es scheint, daß — regional unterschiedlich — an alle drei Möglichkeiten gedacht worden ist. Eine intensive Produktion politischer Dichtung im Mailänder Dialekt aus der Zeit des Triennio und der napoleonischen Ära erschließt sich aus den Veröffentlichungen D E C A S T R O S (1879; 1880). Sie geht quer durch alle sozialen Schichten und politischen Gruppen der Stadt hindurch, der Dialektgebrauch ist also politisch-sozial nicht einseitig festzulegen. Schon nach Ausbruch der Revolution in Frankreich sind Verse im Umlauf, die zunächst aber alle aus dem konservativen Lager stammen und oft durchaus nicht anonym sind. So zog Carpani, Nachfolger Metastasios im Amt des Hofdichters, in satirischen Versen (wie „Se descriv chi de passada el bordell ch'ha faa i Franzes" von 1793) gegen die Parole der Gleichheit, die niemals zu realisieren sei und gegen alle diejenigen zu Felde, die — wie Pietro Verri, Beccaria und selbst Parini — in Italien der Subversion Vorschub leisteten. In einem „Discors in rima e lingua milanesa" greift derselbe Verfasser auch Voltaire, den „grand'infamm", und Rousseaus „dottrina diabolica che fa paura" an (vgl. D E C A S T R O 1879, 33). Ein anderer antifranzösischer Polemist ist Graf Francesco Pertusati, ein konservativ-religiöser Fanatiker und Feind des Jansenismus, der ernsthaft-moralisierende Dichtungen im Mailänder Dialekt verfaßte. Parini selbst hat sich in seinem Sonett „El magon di dam de Milan per i baronad de Franza" ironisch über die Damenmode geäußert, die
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trotz der Terreur am französischen Vorbild festhielt; für „ista bela liberta, de mett insema de nun nobilta, e de nun dam, tut quant i mascalzon" (ebd., 42 f.) wollte er kein Verständnis aufbringen. Es ist nicht zu übersehen, daß diese Produkte die Topoi und Argumentationen der „hohen" Dichtung übernehmen und in einen gewollt volkstümlichen sprachlichen Rahmen einsetzen. Autoren und Adressaten der in der Hauptsache als Flugschriften kursierenden Verse sind relativ deutlich zu klassifizieren: „Organische Intellektuelle" der alten Ordnung wenden sich an ein halbwegs gebildetes bürgerliches Publikum, dessen wichtigstes Kommunikationsmittel zwar der Dialekt ist, das immerhin aber mit Rousseau und Voltaire etwas anzufangen weiß und gleichzeitig für etablierte Werte wie „la fed, la vita, la robba (!) e l'onestaa" (Carpani) zu haben ist. Dies mag für die jakobinische Dichtung, die von 1796 an in der Cisalpinischen Republik entsteht, abgesehen von der politischen Couleur der Verfasser, nicht wesentlich anders sein, jedoch sind neue Akzente nicht zu übersehen. Den Bürgern, die mit dem Einzug der Franzosen die Geschäfte der Stadt in die Hände nahmen und damals oft generalisierend Jakobiner genannt wurden, obwohl eigentliche Jakobiner in der Minderheit waren und auch ziemlich schnell an den Rand des politischen Geschehens verdrängt wurden, kam der Zeitfaktor zu Hilfe. Die neue Ordnung, die nach dem Vorbild des Directoire politisch organisiert wurde, demonstrierte den Wandel sogleich mit dem Austausch der Symbole: Der Freiheitsbaum und die Carmagnole tauchten auf, die Gestalt der Freiheit wurde ins Wappen aufgenommen, die Anrede tu verallgemeinert, Straßen, Plätze und Stadttore umbenannt, der französische Revolutionskalender übernommen. Die unausbleibliche Revolutionierung der politischen, administrativen und juristischen Lexik ist dabei von umso nachhaltigerer Wirkung gewesen, je größer die Lebensdauer der bürgerlichen Staatsgebilde war. In Mailand ebenso wie in allen anderen kurzlebigen Republiken, die später unter Napoleon in ähnlichen Formen des sozialen und politischen Lebens fortexistierten, wurde der Grundstein nicht nur für den modernen politischen, administrativen und juristischen Wortschatz gelegt, der erstmals einheitlich für Italien war und durch die Einbeziehung breiterer Kreise in die politische Szene auch über die bisherigen Träger dieser Lexik hinaus Verbreitung fand (vgl. M I G L I O R I N I 1961; L E S O 1977; F I O R E L L I 1984). Es vertiefte sich auch das Bewußtsein von der politischen Virtualität der Sprache. In diesem Kontext nimmt es nicht wunder, daß sich auch die Revolution der wirkungsvollsten Sprach- und Textformen zu bemächtigen versuchte. So fand in Mailand eine besondere Verbreitung die
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bosinada, die auch gesungen werden konnte. Die Funktion der bosin giacomitt, der jakobinischen Lieder, bestand darin, die neuen Institutionen zu präsentieren und zu benennen, ζ. B. die guardia nazionale und die lombardische Legion („Bosinada in lod de la Legion"), zum Beitritt in die Miliz aufzufordern („Invid alia Milizia"), zu den revolutionären Festen einzuladen {„Invid al popol per la festa") usw. Wenn diese Form unzweifelhaft zur Verbreitung und zum allmählichen Verstehen solcher Schlüsselwörter wie libertä, fratellanza, equalitä, virtü u. dgl. beitrug, so schien eine andere Form, die des Dialogs, noch wirkungsvoller zu sein, da sie über die Setzung von Behauptungen hinaus, auf die sich die bosinade beschränken mußten, in der fiktiven Rede und Gegenrede die Entwicklung von Argumentationsketten ermöglichte. In diesem Sinne verfaßte Gerolamo Costa, einer der gefeiertsten Dialektdfchter jener Jahre, einen Dialog zwischen Merlino milanese und Zanetto veneziano, „Ii trionfo democratico", in welchem der letztere davon überzeugt wird, nach Venedig zurückzukehren und dort zum Triumph der Revolution beizutragen. Diese Produktion reiht sich ein in die von L E S O (1977) analysierten Versuche, vor allem mit der Form des Dialogs eine volksnahe Rhetorik zu entwickeln. Von Luigi Martini ζ. B. stammen die 1799 in Pisa erschienenen „Dialoghi fra un curato di campagna e un contadino suo popolano relativi al nuovo ordine politico della Toscana". Der Verfasser machte bereits im Vorwort sein Anliegen deutlich, auch die ihrer politischen Ignoranz wegen für konterrevolutionäre Einflüsterungen besonders anfälligen Bauern mit der Propaganda zu erreichen, sie politisch zu bilden, indem ihnen vor allem die politischen Begriffe in den ihnen zugänglichen und verständlichen Termini erklärt werden sollten. Die Dialoge sind eine solche Einführung in die politische Sprache für alle diejenigen, die die Hochsprache nicht verstehen, „per chille che non ntennono lo Toscanese e che nfra l'allegrizze stanno come l'asene mmezzo a Ii suone", wie es im Titel eines „Parlata" genannten Dialogs von Sergio Fasano heißt (vgl. L E S O 1977, 154f.). Mit dem Dialekt wurde aber überall nur ein kleiner Teil der republikanischen Propaganda abgewickelt, der weitaus größte Teil war der Literatursprache vorbehalten. In ihr sind die wichtigsten Auseinandersetzungen mit der Begriffswelt des alten Regimes abgefaßt. So war ζ. B. erforderlich, der klerikalen Agitation entgegenzutreten. Man muß dabei in Betracht ziehen, daß die Kirche seit dem Konzil von Trient Dialekte und regional verbreitete Sprachen für die Katechese verwendete und somit über die besten Erfahrungen einer Propaganda im Volk verfügte. Die von ihr gebrauchten Formen, Bilder und Begriffe konnten den Jakobinern als Schlüssel zum Universum
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volkstümlicher Erfahrungen und Werte dienen. Der Gedanke lag nahe, Gott und die Heiligen einfach durch die Ideale der neuen Zeit zu ersetzen und so den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Diese Überlegung muß jedenfalls den Verfassern der im Stile katechetischer Literatur gehaltenen Schriften für den Volksgebrauch geleitet haben, als sie ζ. B. ein „Pater noster patriotico", ein „Credo patriotico" und „Le Tredici opere della misericordia patriotiche" verfaßten (vgl. D E C A S T R O 1879, 126). Einen propagandistischen Wert hatte auch der „Saggio di vocabulario democratico", den Giuseppe Compagnoni (der später das Hauptwerk der „Ideologues", Destutt de Tracys „Elements d'ideologie", ins Italienische übersetzen sollte) 1798 im „Monitore Cisalpino" veröffentlichte. Auch die „Nozioni democratiche per uso delle scuole normali" aus Mailand (o. J., vgl. DE C A S T R O 130) verfolgten diskursregelnde Ziele. Das Verhältnis von Dialekt und Hochsprache läßt besonders in Mailand erkennen, daß hier trotz aller Traditionen der Dialektdichtung die lokale Varietät nur als zeitweilig brauchbares Instrument der Propaganda angesehen wurde und eine Strategie zur Erweiterung der Anwendungssphären des Dialekts nicht vorhanden war. Die Zeitungen waren durchweg auf Italienisch gehalten und an die gehobeneren Stände adressiert, die fliegenden Blätter und bosinade in meneghin dagegen mehr für die Unterschichten bestimmt. Allenfalls war der Dialekt für die mittleren und höheren Schichten ein Mittel der Satire. Es gibt u. W. nur eine Region in Italien, in der das einheimische Idiom als Alternative zur italienischen Literatursprache und nicht nur als Instrument der bürgerlichen Diskursregelung gedacht worden ist: Piemont. Nicht zufällig ist das auch die einzige Sprachlandschaft, in der die Ersetzung der italienischen Amtssprache durch Französisch nach der Annexion Piemonts durch Frankreich ernstzunehmende Verteidiger fand. Auch in Sizilien hätte sich ein sprachlicher Sonderweg angeboten, da ein sprachliches Selbstbewußtsein etwa in der Form der Accademia letter aria di lingua siciliana und des sprachlichen Ausbauprojekts Giovanni Gentiles von 1795 durchaus vorhanden war (vgl. VECCHIO 1988). Da hier aber keinerlei politische Instrumentalisierung des Dialekts gefragt war, zumal die Revolution an der Insel vorbeiging, blieben solche Ansätze marginal. Die Besonderheit Piemonts hängt zweifellos mit der schwächeren Position des Italienischen im Sabaudenstaat zusammen, der seit jeher auch französischsprachiges Gebiet umfaßte. Während dort seit dem 16. Jahrhundert Französisch die Amtssprache war, hatte in Piemont diesen Status das Italienische inne, wenn auch auf den Schriftverkehr
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beschränkt, während Piemontesisch auch noch im 17. und 18. Jahrhundert Umgangssprache auch des einheimischen Bürgertums und breiterer Kreise des Adels bis an den Turiner Hof geblieben war. Im Grunde genommen war Piemont an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einsprachig piemontesisch, von einer hauchdünnen aristokratischen Schicht abgesehen. Gianrenzo C L I V I O hat mehrfach (1976; 1984) auf die Äußerungen eines ausgeprägten piemontesischen Sprachbewußtseins im 18. Jahrhundert aufmerksam gemacht, das in den Versuchen Maurizio Pipinos gipfelte, mit seiner „Gramatica piemontesa" und seiner Anthologie „Poesie piemontesi" von 1783 eine piemontesische Standardnorm zu schaffen. Pipino war von der Gleichwertigkeit seiner Sprache mit dem Italienischen überzeugt und konnte sich dabei auf den soziologischen Fakt berufen, daß Piemontesisch selbst am Hofe gesprochen wurde. Das scheint übrigens Carlo Denina, der das Thema in „La clef des langues" (Berlin 1803) wiederaufnimmt, schon nicht mehr bestätigen zu können: Seiner Meinung nach hätte das Piemontesische die Chance, eine illustre Sprache zu werden, eben dadurch verpaßt, daß es nicht rechtzeitig gepflegt und vom Hofe übernommen worden sei ( D E N I N A 1803, II/59f.). Offenbar liegt zwischen Pipino und Denina eine Zeitspanne, in der sich die Sprachverhältnisse in den führenden Kreisen Piemonts wesentlich geändert hatten. Gleichviel: Piemontesisch war in seinem Verbreitungsgebiet im 18. Jahrhundert noch ein mehr oder weniger ernsthafter Konkurrent des Italienischen, vergleichbar in seiner Lage bestenfalls mit dem auch in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts noch als Amtssprache gebrauchten Venezianischen in Venedig (vgl. V I A N E L L O 1957). In diesem Kontext ist das Werk des bedeutendsten piemontesischen Dichters Edoardo Ignazio Calvo (1773 - 1 8 0 4 ) zu nennen, dessen „jakobinische" Teile C L I V I O der Vergessenheit entrissen hat. Außer einigen medizinischen Veröffentlichungen hat der jung verstorbene Turiner Arzt sein gesamtes poetisches Werk, das vor allem aus politischen und antiklerikalisch-aufklärerischen Dichtungen besteht, auf Piemontesisch verfaßt. Sowohl die in der Revolutionszeit als auch die nach 1800 verfaßten Werke heben sich von den zeitgenössischen Dialektdichtungen politischer Observanz anderer Regionen und anderer piemontesischer Verfasser dadurch ab, daß sie ganz und gar der volkstümlichen Sprachfiguren und Wertvorstellungen entbehren, wie sie zeitgenössische Dialoge, Katechismen, bosinade usw. aufwiesen. Es sind keine vordergründig erzieherischen Instrumente, die ein plebejisches Publikum an den Diskurs der Revolution heranführen sollen, sondern ernsthafte literarische Produkte, die als solche verstanden
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werden sollten und nach CLIVIOS Urteil ( 1 9 7 6 , 1 6 7 ) unter dem Einfluß PIPINOS neben ihrer propagandistischen Mission auch dem Ziel dienten, die Stellung des Piemontesischen als Sprache der Dichtung zu befestigen. Das läßt zumindest der Spott erkennen, den Calvo in seiner „Canson" auf die italienische Literatursprache ausgießt. Calvos „Passaport d'ij aristocrat" kennzeichnet seinen Verfasser als revolutionären Liberalen, als patriot republican, für den CLIVIOS Charakterisierung als „Jakobiner" wohl als Zugeständnis an den Sprachgebrauch des Triennio aufgefaßt werden muß. Die Topoi seines Gedichts sind auf einem Abstraktionsniveau angesiedelt, das wenig Verwandtschaft mit den weiter oben genannten, fürs Volk bestimmten Genres erkennen läßt: neben aristocrat, tiran, assassin auch sangh impur, dritt dl'Om e dla Natura, regno d'uguaglianza u. a. (vgl. C A L V O 1 9 8 1 , 260f.). Auch die anderen „jakobinischen" Dichtungen Calvos enthalten Begriffe und phraseologische Einheiten, die man als gemeinsames Gut -der verschiedenen revolutionären Strömungen Frankreichs kennt und die auf halbwegs gebildete Anhänger der Revolution als Adressaten hinweisen: „popol ch'l'e sovran", „ij borzoe con ij paisan", „soma tuti uguaj", „soma frej", „viver liber indipendent", „drit die gent" usw. (vgl. CLIVIO 1 9 7 6 , 1 7 2 f.). Mit seinen piemontesischen Dichtungen stand Calvo ziemlich einsam da. Die meisten Revolutionsanhänger seiner Region schrieben italienisch, einige auch französisch und waren gegen die schriftliche Verwendung des Dialekts eingestellt. Nur wenige jakobinische Veröffentlichungen auf Piemontesisch liegen neben denen Calvos vor (vgl. C L I V I O 1 9 7 6 , 1 7 3 f.). Dennoch läßt sein „Fall" erkennen, daß Piemont auch für andere sprachpolitische Entscheidungen als für Italienisch offen war. 3.1.3. Sprachpolitik im napoleonischen Italien In den vom napoleonischen Empire abhängigen Königreichen Italiens ist ungeachtet anderer sprachlicher Gegebenheiten im Prinzip dieselbe Sprachpolitik wie in Frankreich verfolgt worden: (1) eine gesellschaftliche Diskursregelung, die neben der Uniformität des politischen Diskurses eine Angleichung der administrativen, juristischen und militärischen Lexik an die französische anstrebte; (2) der Versuch einer sprachlichen Vereinheitlichung ganz Italiens, wofür sowohl die nationale Literatursprache als auch Französisch als gesamtitalienische Amtssprache in Frage kamen; (3) der Versuch einer Bewältigung des Problems der sprachlichen Diversität, d. h. hier der Vorherrschaft der
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Dialekte gegenüber der Literatursprache, wozu Enqueten im Stile der Montbretschen durchgeführt wurden (vgl. dazu 3.1.4.). Die Angleichung der Sprache der Öffentlichkeit und der Verwaltung an das französische Modell hatte bereits mit den siegreichen Italienfeldzügen der Franzosen eingesetzt, als die Verwaltungen überall nach dem Muster der Republik und später des Empire umgestaltet wurden. Das war äußerlich schon in den Bezeichnungen für die Verwaltungseinheiten erkennbar, in den dipartimenti, distretti, cantoni und comuni, denen jeweils prefetti, viceprefetti, cancellieri del censo und — je nach Größe der comuni — podesta oder sindaci vorstanden. Die umfangreichste und nachhaltigste Veränderung hat sich wahrscheinlich aber in der juristischen Terminologie vollzogen. Die wichtigsten Gesetzbücher — des politischen, zivilen, Handels-, Untersuchungsund des Strafrechts — wurden zwischen 1804 und 1810 ins Italienische übertragen und im Regno Italico, im Königreich Neapel und in Lucca eingeführt. In den übrigen italienischen Gebieten wurden sie zumindest verlegt und verbreitet (vgl. F I O R E L L I 1984, 131). Der traditionelle, regional unterschiedliche Rechtswortschatz wurde damit hinfällig. An seine Stelle trat die französisch geprägte, moderne Rechtsterminologie, die auch die Zeit der Restauration überlebte — ζ. B. durch ihre ungebrochene Weiterverwendung in den von Österreich für seine italienischen Provinzen ausgearbeiteten Gesetzbüchern — und die überholte und regional zersplitterte Lexik des Alten Regimes ersetzte. Frankreich nahm sich auch der Aufgabe an, das politisch im wohlverstandenen französischen Interesse nicht vereinigte Italien sprachlich zumindest „stückweise" zu vereinheitlichen. Schon früher (1798) hatte es Versuche zumindest in der Cisalpinischen Republik gegeben, anstelle von Latein nun Französisch als Unterrichtsfach von der Mittelstufe an zu lehren, „almeno cinque lezioni per ogni decade" (nach FASANO 1974, 71), was die heftige Reaktion Foscolos hervorrief. Der Gran Consiglio stellte im März 1798 sogar zur Diskussion, ob Italienisch oder Französisch die Kommandosprache der Nationalgarde sein sollte (vgl. ebda., 70 — 73). Eine Fremdsprachenpolitik, die im Vorgriff auf Napoleon den expansionistischen Tendenzen des Directoire entsprach. Unter Napoleon nun wurde in den Gebieten, die dem Empire angegliedert waren — das betraf etwa ein Drittel Italiens, mit Ligurien, Piemont, Latium mit Rom, Toskana, Umbrien und die ehemaligen Kleinstaaten Piacenza, Parma, Lucca und Novara — Französisch als Amtssprache eingeführt. Italienisch wurde als Zweitsprache für eine Übergangszeit zugelassen, in der sich die Beamten sprachlich umzustellen hatten (vgl. F I O R E L L I 1984, 131). Diese im übrigen auch für die annektierten deutschen und niederländischen Departements analog
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geltende Regelung verliert manches von ihrem unerhörten Beigeschmack, wenn man sich vor Augen führt, daß sich eine solche Sprachpolitik in Korsika letzten Endes dann doch noch ohne nennenswerten Widerstand durchgesetzt hat und auch in Belgien noch nach der Unabhängigkeit die Sprachsituation in den vlämischen Gebieten bestimmte (vgl. D E P R E Z / W Y N A N T S 1 9 8 9 ) . Napoleon hatte zu seinen Lebzeiten schließlich dafür auch namhafte italienische Intellektuelle gewinnen können, wie Carlo Denina, der für die Vorherrschaft des Französischen in Piemont jedoch auch auf die oben angedeuteten sprachlichen Traditionen dieses Gebietes verweisen konnte (vgl. DENINA 1 8 0 4 ) . In den italienischen Satellitenstaaten, die Napoleon als formal eigenständig beließ, setzte er Italienisch als einheitliche Amtssprache durch, wie es in einem Dekret zur „conservazione e unificazione della lingua italiana" heißt (Atti dell'Acc. della Crusca 1809 — 10, 97F.).
Dieser Schritt traf sich nun — sicher ungewollt — mit einer kulturellen Tendenz, die zunächst als konservativ erscheinen mußte: dem Neoklassizismus mit seiner Forderung nach erneuter Besinnung auf die Kulturtradition der Renaissance und ihre sprachliche Grundlage, die Literatursprache sowie die griechisch-lateinischen Studien, die in einer Zeit der politischen Zerrissenheit und des kulturellen und moralischen Verfalls als die einzigen beständigen Werte gelten konnten. Ein nationales Anliegen also, das aus der Kritik am triennio erwächst und noch einmal das nun expliziter als unitaristisch und independentistisch definierte nationale Streben auf das Gebiet der literarischkulturellen Auseinandersetzung verlegt (vgl. C A R D I N I 1 9 7 3 , S. VI ff.).
3.1.4.
Die linguistischen Enqueten in Oberitalien
Einen Bestandteil napoleonischer Sprachpolitik in Italien bildete die statistische und archivarische Erfassung der Dialekte und Mundarten. In allen dem Empire angegliederten Departments und allen Satellitenstaaten sind statistische und deskriptive Erhebungen durchgeführt worden, die in erster Linie auf die statistische Erfassung der Bevölkerung und der wirtschaftlichen Ressourcen gerichtet waren, was für die straffe Verwaltung dieser Territorien und ihre Ausbeutung für die Kriegsführung zweifellos von vorrangiger Bedeutung war. Nicht unwichtig war es jedoch auch, die Bewußtseinslage, die geistigen und folkloristischen Traditionen und nicht zuletzt auch die sprachlichen Besonderheiten der verschiedenen Gebiete im Interesse ihrer besten Beherrschung zu kennen. Die linguistischen bzw. folkloristischen En-
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queten, die in Frankreich von Coquebert de Montbret und der Academie Celtique durchgeführt wurden, dienten trotz ihrer rein gelehrten Absichten letzten Endes auch politischen Zielen. Umfragen der im Kap. 2.2.1.1. beschriebenen Art sind auch in Italien veranstaltet worden. Überliefert sind wesentliche Teile von Ergebnissen einer im Regno Italico in den Jahren 1810 und 1811 angelaufenen Umfrage, die G. T A S S O N I (1973) veröffentlicht hat, sowie einige Antworttexte der Coquebert'schen Enquete zu den piemontesischen Departements des Empire, die in der Bibliotheque Municipale von Rouen aufbewahrt werden. Es war bisher nicht bekannt, daß zwischen den Aktionen der Coqueberts in Frankreich und denen in Italien ein unmittelbarer Zusammenhang bestand: Im Fonds Coquebert de Montbret der BM de Rouen (MSS 489, f. 492) befindet sich ein Briefentwurf des französischen Enqueteurs vom 9. September 1810 an den Außenminister des Regno Italico, Graf Marescalchi, in welchem diesem sowie dem Innenminister Graf Vaccari und dem Staatsrat Scopoli für ihre Bemühungen gedankt wird, Informationen über die Sprachgrenzen zwischen Italienisch und Deutsch bzw. Slawisch sowie Textproben des Gleichnisses vom verlorenen Sohn in verschiedenen Sprachen bzw. Dialekten geliefert zu haben. Giovanni Scopoli (1774 — 1854), Generaldirektor für das Bildungswesen im Innenministerium seit 1809, war in der Tat der Organisator einer umfassenden Befragungsaktion, die im März 1809 einsetzte und zuletzt alle dipartimenti des Regno erfaßte. Zunächst ging es ihm offenbar nur um die von Coquebert de Montbret erbetenen Angaben, wie aus seinem Brief vom 16. März 1810 an die Präfekten der Departements Adige und Passariano (Südtirol bzw. Istrien) hervorging (vgl. T A S S O N I 1973, 27). Die Ergebnisse mögen ihn dazu angeregt haben, die Untersuchung nicht nur auf die anderen Teile des Regno auszudehnen, sondern das ganze Panorama der Volkskultur zu erfassen. So entstanden drei Fragebögen, die über die Präfekten nacheinander an die Lehrerschaft der Departements versandt wurden: — am 17. April 1811 an die Zeichenlehrer mit sechs Fragen zu den Volkstrachten mit dazugehörigen Zeichnungen; — am 15. Mai 1811 an die professori delle lettere mit folgenden drei Fragenkomplexen: (1) zu den Bräuchen bei Feiertagen und Festen (Geburten bzw. Taufe, Hochzeit, Totenfeiern) und zu Äußerungen des Aberglaubens; (2) zu den jahreszeitlich bedingten Arbeiten, Bekundungen von Freude und zur Volksdichtung; (3) zu den Dialekten: „Finalmente sui caratteri particolari e modi che distinguono i dialetti degli abitanti i diversi Comuni di codesto dipartamento";
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— am 20. Mai 1811 erneut an die Zeichenlehrer mit der Bitte um Beschreibung und Zeichnungen zur bäuerlichen Architektur (vgl. TASSONI 1 9 7 3 ,
31).
Das sprachliche Interesse ist somit nur eines unter anderen. Scopoli war nicht so sehr an sprachwissenschaftlichen Fragen interessiert wie die Coqueberts de Montbret; sein Vorbild war TASSONI zufolge vielmehr das vornehmlich volkskundliche Befragungsprojekt der Academie Celtique von 1805. Der vielseitig gebildete und interessierte Scopoli steht mit seinem Vorhaben wie die französische Institution in jener Strömung, die sich in der Vorwegnahme romantischer Orientierungen der nationalen Geschichte und ganzheitlichen Anthropologie des Volkes zuwendet. Praktische Erfordernisse seiner Arbeit, das Bildungswesen des Regno nach besten Kräften zu vervollkommnen, mögen ihren Anteil an seiner Aktion haben — die Kenntnis der Formen des Aberglaubens konnte für die aufklärerische Erziehung von Nutzen sein, die der Dialekte für die bessere Vermittlung der Nationalsprache. Ob beabsichtigt oder nicht — die linguistischen Partien aus den Antworten seiner beiden Umfragen bekräftigen in ihrer differenzierten Haltung zu den Dialekten die widersprüchliche Sprachpolitik des napoleonischen Königreichs Italien. Wie in den Sprachdiskussionen und Enquete-Ergebnissen, die zwischen 1789 und 1814 in Frankreich stattfanden, ist auch in den italienischen Materialien die Fächerung der Bezeichnungen für Sprache und Varietäten aufschlußreich für die Einstellungen der Berichterstatter — neben den Lehrern wurden von den Präfekten auch Bürgermeister von dörflichen Gemeinden und Priester herangezogen — und implizit auch für die Akzeptanz sprachpolitischer Haltungen der Regierung. Vergleichshalber ziehen wir im folgenden auch die Ergebnisse der Coquebertschen Enquete zu Piemont mit heran. Im annektierten Piemont beherrscht die französische, patoisfeindliche Gesinnung auch den Gebrauch der Bezeichnungen. Die vom Kaiser eingesetzten Beamten, darunter auch Italiener, die sich vorwiegend auf Französisch ausdrücken, unterscheiden deutlich zwischen langue — „la langue fran$aise", „la langue italienne" — und dialecte, dem neutralen Terminus für non-langue: „le dialecte Piemontais", wofür auch idiome dank seiner unbestimmten Bedeutung häufig als Synonym herangezogen wird: „Pidiome vaudois des montagnes", „Pidiome piemontais, Vercellais" usw. Mit patois und jargon werden natürlich negative Urteile konnotiert („patois genois", „jargon Vaudois, Piemontais" usw.). In expliziter Form bestätigt sich dies in der folgenden Bemerkung über das Piemontesische: „Le dialecte Piemontais ne peut absolument etre regarde que comme un patois bien qu'on
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ait voulu l'asservir a des regies et a des principes en faisant une grammaire et un dictionnaire. La langue italienne servait raeme a l'ancien gouv[ernemen]t pour la publication des actes et quoiqu'il se soit parle a la Cour, le Dialecte Piemontais ne peut etre vu que comme le langage populaire." (Bibl. Mun. Rouen, MSS Montbret 433). Regellosigkeit — „asservir" möchte sie sozusagen zu einer naturgegebenen Eigenschaft des Piemontesischen erklären — und subalterner Charakter („langage populaire") genügen offenbar für die Etikettierung als patois. In einer anderen Zuschrift, die mit „Osservazione sulla Poesia Piemontese" überschrieben ist, werden in Ermangelung eines italienischen Äquivalents für patois die Konnotationen aus den Epitheta — „il dialetto volgare Piemontese", „nostro Volgar Dialetto" — bezogen. Hier wird nun noch die Struktur des piemonteis dafür verantwortlich gemacht, daß sie wohl für alltägliche, einfache und „natürliche" Themen der Literatur eigne, nicht aber für epische und tragische: „Tuttavia esaminandosi bene la natura delle frasi del Dialetto, la desinenza de' vocaboli, si conosce apertamente che l'idioma Piemontese difficilmente si puo adattare alia materia Eroica, per ridurla a poema epico, ο tragico; e percio finora non si e uscita alcun esempio alia pubblica luce. Si leggano le poesie del padre Isler e molte altre del benemerito dottor Pipino, e tutte si vedranno scritte sopra argomenti bassi, e comuni, semplici, e naturali. Si deve percio supporre che mal riuscirebbe per esempio la traduzione dell'Illiade e dell'Eneide nel nostro Volgar Dialetto, perche sembra non atto a sostenere tutto quel complesso di fasti e circostanze eroiche, che le une succedono all'altre e perche mancante di quelle voci gravi e focuose, che si richiedono per tal genere di poesia." (ebd.). Die Argumente der Regellosigkeit und der strukturellen Schwäche zusammen mit dem der vorwiegend volkstümlichen Verwendung kamen zweifellos der sprachpolitischen Entscheidung zugute, das Französische als Amtssprache in den annektierten piemontesischen Departements durchzusetzen. Folgerichtig finden sich in den Zuschriften daher auch Bemerkungen, in denen — teilweise noch mit dem Argument des starken französischen Einflusses auf den Dialekt unterlegt — die Leichtigkeit betont wird, mit welcher die Einwohner die französische Sprache verstünden und erlernten. Der erstgenannte Bericht über das Departement Stura schließt mit der Feststellung, derzufolge „l'experience fait connaitre que les habitants apprennent tres aisement et avec facilite la phrase et la prononciation fran^aises." Über Sesia heißt es: „Les Habitans du Dept. entendent presque tous le frangais et quoique dans les communes rurales il y ait peu de personnes capables de l'Ecrire et de le parier, la conn[aissan]ce des lois, arretes
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et reglemens ne se donne qu'en fran^ais" (ebd.). Die Enqueten geben somit auch Auskunft über die Akzeptanz sprachpolitischer Entscheidungen. Die Zuschriften zur Scopoli-Umfrage lassen im Gegensatz dazu ein anderes Verhältnis zu den lokalen Varietäten erkennen. Gewiß wird auch hier lingua vorwiegend auf das Italienische, die Nationalsprache mit der fragwürdigen Existenz, bezogen. Aber auch das Friaulische — „la lingua friulana" bzw. „furlana" — und selbst „la cosidetta lingua lombarda" oder „la lingua veneziana" werden mit der Bezeichnung belegt, die sprachideologisch weniger fixiert ist als langue in Frankreich. Noch unbestimmter sind linguaggio und idioma. Ersteres erscheint einerseits als Synonym für dialetto, wenn ζ. B. das Venezianische („questo linguaggio") in weitere „dialetti" eingeteilt wird (TASSONI 1973, 184), oder vom „linguaggio milanese" (ebd., 131) gesprochen wird. Andererseits ist der Terminus soziologisch markiert, wenn ζ. B. von einer Handwerkersprache in Bormio (ebd., 139), einer Bauernspracbe („il linguaggio dei contadini" = „dialetto contadino", ebd., 209) oder einem „linguaggio plebeo" (ebd., 467) die Rede ist. Schließlich ist es sogar ein Synonym zu lingua: „Ii dialetto [von Mantua] ... si allontana dal compiuto linguaggio italiano . . . " (ebd., 158). Mit patrio idioma (ebd., 131) wird der Comasker Dialekt ebenso wie das Slowenische („l'idioma illirico", ebd., 245) bezeichnet. Bemerkenswert ist aber vor allem, daß dialetto in negativ ebenso wie in positiv bewertenden Kontexten erscheinen kann. Neben „dialetto rozzo", „[dialetti] molto guasti" und der häufigen Definition der Dialekte als „italiano corrotto" gibt es das neutrale „dialetto nazionale" (ebd., 139) und stehen besonders für das Brescianische und das Venezianische Kennzeichnungen, wie „il nostro dialetto e bellissimo" bzw. „il notissimo bei dialetto veneziano" (TASSONI 1973, 243 ff.). Solche enthousiastischen Bekundungen sind natürlich in erster Linie aus der sprachlichen Tradition der italienischen Regionen und weniger aus aktuellen ideologischen Verhältnissen herzuleiten. Sie stellen auf jeden Fall aber ein Potential sprachpolitischer Denkweisen dar, das Alternativen zu sprachlichen Uniformierungstendenzen möglich machte. Das geht mit besonderer Deutlichkeit aus den expliziten Äußerungen zu den Sprachen und Varietäten Oberitaliens hervor. Neben den Charakterisierungen einzelner Dialekte als „corrotto", „rozzo", durch „pronuncia viziosa" mehr oder weniger den „buone leggi della lingua italiana" angenähert, werden einzelne Mundarten lebhaft verteidigt. Zu Brescia heißt es: „Ii dialetto conviene moltissimo alla energia, alia fierezza degli abitanti. Tronco, stringato, prezzato; e se
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le lingue quanto piu forte esprimono tanto sono migliori, il nostro dialetto E bellissimo ..." (TASSONI 1973, 152). Zum Bergamaskischen liest man: „Quanti incolti e affatto rozzi dialetti non hanno altri luoghi dell'Italia, e della Lombardia in ispecialita? [...] Se poi rozzo e, come rozzo e pur quello di tante altre italiche contrade, il dialetto dei Bergamaschi, niuno potra pero negare ch'essi non siano forniti, al pari di qualunque altra gente, di acutezza d'ingegno e di ottimi talenti ognor pronti a svilupparsi ove opportuno favorevole occasione si presenti" (ebd., 144). Am besten wird das Venezianische, „il notissimo bei dialetto veneziano", beurteilt: „Si adatta ad ogni argomento facilmente. Tuona maestoso nel Foro colla stessa facilita con cui scherza graziosamente nelle gioviali conversazioni. Essendo italiano nella sua essenza, ricorda spesso le grazie del linguaggio greco, da cui tolse anche non poche parole: e preciso nei racconti, grave nella discussione e sembra fatto per ornare di eleganti e spontanei fiori la poesia" (184). Man fragt sich angesichts eines solchen Plädoyers nur noch, welchen Platz der Verfasser der Nationalsprache einzuräumen gedachte. Entscheidend für die Art der Argumente war freilich die berufliche bzw. politische Position der Schreiber: in den letztgenannten Fällen handelt es sich um Gymnasialprofessoren, die als Dichter, wie Cesare Arici aus Brescia, oder als Gelehrte, so Prosdocimo Zabeo aus Venedig, eng mit der lokalen Kultur und Mundart verbunden waren. Im Gegensatz dazu zeigen die Äußerungen des Vizepräfekts des Distrikts Natisone wenig Verständnis für die sprachliche Loyalität der Slowenen: „Questo dialetto caratteristico e conservato da questi abitanti con una venerazione quasi superstiziosa ereditata dai propri antichi padri ed alimentata dall'interesse e influenza dei loro parrochi e vicari curati, di maniera che essi credono constantemente che non si possa conversare, parlare a Dio ne trattare Ii propri affari, con una lingua diversa" (ebd., 245). Der Staatsbeamte läßt nicht nur sein zentralistisches, „jakobinisches" sprachpolitisches Credo durchblicken, sondern nimmt auch spätere nationalistische Haltungen zu den Minderheiten vorweg. Die Bewertungen der Dialekte orientieren sich in fast allen Fällen an der italienischen Hochsprache, die meist sogar als Ausgangspunkt für die durch Verderbnis entstandenen Dialekte angesehen wird. So sei Brescianisch „un toscano raccorciato ed accentato molto" (ebd., 152), der venezianische Dialekt „il piu bello di tutti quelli che nacquero dalla corruzione della lingua italiana" (ebd., 184), die Veroneser verkürzen die Wörter, „ma in quel modo pero che anche dalle buone leggi della lingua e permesso" (ebd., 216). Sprachphilosophisches
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Bildungsgut der Zeit fließt in die Vergleiche ein: „I modi non mi sembrano molto gentili, ma in generale essi sono italiani colla sintassi naturalissima, seguendo l'ordine con cui generansi le idee" (ebd., 139). Eine sprachpolitische Maßnahme wird in einem Falle (Gorgonzola) mit dem Vergleich mit der Hochsprache verbunden, die nicht nur zentralstaatlich-jakobinisches Denken verrät, sondern auch das Frauenproblem anspricht: „I dialetti degli abitanti variano secondo il paese, e sono molto guasti e lontani dalla purita toscana. Le scuole normali sarebbero l'unico rimedio. Ma bisognerebbe che fossero estese da per tutto, e aperte non solo ai fanciulli, ma anche alle fanciulle, giacche bisogna dire che il sesso femminile nella campagna finora fu sempre trascurato, e cio contribuisce assai alia corruzione del linguaggio" (ebd., 102). Es nimmt aber angesichts der französischen Sprachpolitik in Italien nicht wunder, daß nicht selten auch die Nähe zum Französischen als Qualitätskriterium angeführt wird. Negative Abweichungen der folgenden Art sind selten: „In mold paesi del lago di Como vicini a Gravedona, dove gli uomini vanno per traffichi nella Francia hanno introdotto moltissime parole francesi; e cosi a poco a poco confuso e oscurato il patrio idioma" (ebd., 131). Der brescianische Berichterstatter betont dagegen nicht ohne lokalpatriotische Selbstgefälligkeit die Ähnlichkeit zwischen seinem Dialekt und dem Französischen: „L'ou e l'eu francese qui si dicono naturalissimi e molte parole si pronunciano come se fossimo francesi veri: gile, feu, euf, tous, etc. Questo importa che la lingua francese non solo fra le persone educate ma fra il volgo ancora, e s'intende e si parla; e noi bresciani senza jattanza la parliamo meglio d'ogni altro popolo d'Italia, tranne i Piemontesi" (ebd., 152). Die Zeit zwischen dem Beginn des triennio rivoluzionario und dem Ende der napoleonischen Ära ist für die italienische Sprachgeschichte, wie aus dem vorstehenden Kapitel ersichtlich geworden sein dürfte, in besonderer Weise bedeutsam gewesen: weniger durch die sprachwissenschaftliche Diskussion als vielmehr durch die sprachpolitische Praxis und ihre gelegentlichen reflektorischen Niederschläge. Die im Rahmen der Aufklärungsreformen begonnene Überführung der Sprachfrage aus dem literarischen Raum in den der sprachpolitischen Praxis hat sich in diesen achtzehn Jahren durch die Gewalt der politischen Ereignisse ungemein beschleunigt. Erstmals war breiteren Kreisen der politischen Klasse und der Intellektuellen deutlich geworden, wie hinderlich das Fehlen einer einheitlichen und allgemein verbreiteten Standardsprache für die Verwirklichung von zukunfts-
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
orientierten Gesellschaftsprojekten war. Die Sprachfrage des 19. Jhs. nimmt in diesen entscheidenden Jahren ihren Anfang. Alle später verfochtenen Lösungsversuche — die Durchsetzung einer Hochsprache von oben im Sinne Manzonis ebenso wie Cattaneos und Ascolis Postulat einer von allen Regionen Italiens getragenen, durch den Beitrag aller konstituierten Nationalsprache — waren damals in der Diskussion. Ein immer schwächer werdendes Echo fanden allerdings die Appelle, den Dialekten einen auch noch so bescheidenen Platz in den prestigereichen Domänen der gesellschaftlichen Kommunikation zuzuweisen. Diese Appelle gingen im Vor- und Nachfeld der Einigung Italiens unter. Eines bleibt abschließend festzustellen: Die Weichen für die uniformistische Lösung des italienischen Sprachproblems sind zwischen 1796 und 1814 gestellt worden, als sich diese Lösung bereits als diejenige anbot, die von den meisten als die günstigste für die Konstituierung des italienischen Nationalstaates angesehen wurde.
3.2. Spanien: Nationalsprache und Nationalitätensprache im Spanischen Unabhängigkeitskrieg von 1808 bis 1814
Ebenso wie für andere Länder (ζ. B. Italien, Deutschland) hat die Französische Revolution für die revolutionären Ereignisse im 19. Jahrhundert in Spanien die Funktion einer Leitrevolution (vgl. KOSSOK 1987 a, 7) übernommen. Wenn mit ihr neue sprachpolitische Lösungen gefunden bzw. Sprachpolitik einen bis dahin nicht gekannten Stellenwert erhielt (vgl. 2.1.), muß danach gefragt werden, ob und wie sich diese Komponente in der Politik der führenden Kräfte der spanischen bürgerlichen Revolutionen (1808-1814, 1820 — 1823, 1833-1843, 1854-1856, 1868-1874) niederschlug, ob und wie sich ihr politisches Handeln daran orientierte. Am Beispiel des Unabhängigkeitskrieges wird die Leitwirkung sowohl auf der Ebene der Diskursregelung, insbesondere bei der Durchsetzung eines bestimmten politischen Vokabulars und beim Kampf um die Besetzung von politischen Begriffen, untersucht, als auch auf der Ebene der Regelung des Verhältnisses zwischen der Staats- oder Nationalsprache und Minderheiten- oder Nationalitätensprachen.
Spanien: Nationalsprache und Nationalitätensprache
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3.2.1. Die politische Sprache Die sprachpolitische Leitwirkung der Französischen Revolution verdeutlicht sich zunächst in den Veränderungen, die die spanische Sprache selbst und hier zu allererst die politische Sprache erfuhr. Die Ereignisse und Ideen der Französischen Revolution bildeten für das politische Handeln der verschiedenen Kräftegruppierungen an der Wende zum 19. Jahrhundert und bei der Formierung der politischen Lager während des Unabhängigkeitskrieges den entscheidenden Bezugspunkt. Das äußert sich weniger in Stellungnahmen zu den Vorgängen in Frankreich, die unter Karl IV. (1788 — 1808) einer strengen Zensur unterlagen. So wandte sich der Dichter Jose Vargas Ponce (1760— 1821) in seiner Schrift „Declamacion contra los abusos introducidos en el Castellano" (1793) gegen den französischen Einfluß, vermied jedoch jeglichen Bezug zu den aktuellen Ereignissen im Nachbarland. Und Antonio de Capmany y de Montpalau (1742 — 1813) erklärte im Vorwort zu seinem „Nuevo Diccionario frances — espanol" (1805), daß er die Revolutionswörter ausgespart habe, weil sie weder zur Sprache noch zum „konstanten System der Nation" gehörten und nur vorübergehende Veränderungen seien (vgl. H A S S L E R 1990, 171 ff.). — Das Verhältnis zur Französischen Revolution läßt sich vielmehr am Gebrauch einer bestimmten Lexik, von bestimmten Wortbedeutungen, Textmustern usw. bestimmen, mit denen die politische Meinung der Volksmassen beeinflußt werden sollte. Es geht also darum, Sprachpolitik aus der Sprachpraxis der einzelnen politischen Gruppierungen zu rekonstruieren und sie in Bezug zu setzen zur Sprachpolitik der Französischen Revolution. Für den hier betrachteten Unabhängigkeitskrieg war kennzeichnend, daß mit den bürgerlichen Liberalen eine politische Kraft antrat, die den Versuch unternahm, die „entscheidenden ökonomischen, sozialen und institutionellen Grundlagen des feudal-absolutistischen Systems" (KOSSOK 1982, 151) zu beseitigen und die politische Führung zu übernehmen. Die Konstituierung des politischen Diskurses der Liberalen läßt sich im wesentlichen auf diese sieben Jahre eingrenzen. Die Pressefreiheit, die de facto seit Beginn der Revolution herrschte und die am 5. 11. 1810 von den Cortes dekretiert wurde, bot erstmals die Möglichkeit, in massenwirksamerer Form als bisher eine von den absolutistischen Positionen differierende Meinung vorzutragen. Ihr folgte am 22. 2. 1813 das Dekret über die Abschaffung der Inquisition. Die Institutionalisierung des Diskurses der Liberalen erfolgte vorrangig in den Cortes (Verfassung von Cadiz, Dekrete, Parlamentsdebatten), in denen die Liberalen bis zu den Neuwahlen vom 1. 10. 1813
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
die Mehrheit bildeten, und in der Presse, vor allem in der der Region um Cadiz, da hier das bürgerliche Element dominierte (vgl. K O S S O K 1982, 149). Eine führende Rolle spielten Periodika wie „La Abeja Espanola", „El Diario Mercantil", „El Redactor General", „El Robespierre Espanol" und „El Semanario Patriotico". Genauso wie in der ersten Etappe der Französischen Revolution ( 1 4 . 7 . 1 7 8 9 — 18. 8. 1792) wurde damit der diskursive Spielraum der Absolutisten eingeengt, aber nicht vernichtet. Die Liberalen brachten zur Durchsetzung und Begründung ihres Hegemonieanspruchs Themen in die politische Diskussion ein, die schon die Aufklärung und die Französische Revolution beherrscht hatten, was von der Verbreitung ihres Sprachgebrauchs begleitet war. Die Debatten in den Cortes, die von den Periodika und in anderen Publikationen aufgegriffen wurden, sind von dem Versuch der Liberalen gekennzeichnet, eine bestimmte Lexik, Wortbedeutungen, phraseologische Wendungen, Textmuster usw. durchzusetzen. Das läßt sich anhand der Entwicklung von Wortfeldern wie libertad, igualdad,
felicidad,
propriedad,
patria, nacion, luz/luces usw. nachvollziehen.
Ein Teil des Vokabulars, der Bedeutungen usw. war bereits mit den Schriften der spanischen Aufklärer eingeführt, geprägt und verbreitet
worden (ζ. B. luces, tinieblas, ilustrar, iluminar, tolerancia, cultura, utilidad, felicidad-, vgl. L A P E S A 1 9 6 6 - 1 9 6 7 sowie 1986, 428 ff.). Schon hier erfuhren einige Wörter und Wortfelder Umdeutungen, die sie vom Sprachgebrauch der französischen Aufklärung abhoben. So erhielt der Begriff civilizacion, der 1756 von Mirabeau Pere in dem heute geläufigen Sinn erstmals benutzt wurde, eine pejorative Konnotation, was auf das gesamte Wortfeld und andere damit verbundene Begriffe ausstrahlte (z.B. cultura; vgl. K R A U S S 1972a, 265ff.). Dennoch war der Gebrauch dieser Neologismen auf eine relativ schmale Schicht von Intellektuellen beschränkt geblieben, und erst die politische Öffnung Spaniens nach 1808 trug zu einer weiteren Verbreitung und zu ihrer Fixierung im politischen Sprachgebrauch bei, auch in den Nationalitätensprachen (vgl. 3.4.2.). Die Prägung der Neologismen liberales und serviles spiegelt die politischen Auseinandersetzungen und die Polarisierung in den Cortes in Vertreter fortschrittlichen bzw. revolutionären Gedankenguts einerseits und in Verfechter des Absolutismus andererseits wider. Sie ermöglichten, die jeweils propagierten politischen Inhalte zu markieren, politische Handlungen sprachlich effektiv zu kennzeichnen und schnell in ein bipolares System einzuordnen. Während der Diskussion um die Pressefreiheit im Oktober 1810 gaben sich diejenigen, die für die libertad de imprenta eintraten, die Bezeichnung liberales (vgl.
Spanien: Nationalsprache und Nationalitätensprache
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In den Parlamentsdebatten hatten die Gegner des Absolutismus häufigen Gebrauch von libertad gemacht. Sie verteidigten die Freiheit (libertad de trabajo, libertad del LLORENS
1958,
53;
SEOANE 1 9 6 8 ,
158).
hombre, libertad del ciudadano usw.) als Voraussetzung für die Ent-
wicklung der wirtschaftlichen und politischen Herrschaft der Bourgeoisie. Dabei beriefen sie sich auf die ideas oder principios liberales (vgl. SEOANE 1 9 6 8 , 1 5 7 ff.), so daß sie sich schließlich selbst mit dem substantivierten Adjektiv, das bereits in Frankreich in den politischen Wortschatz eingegangen war, benannten. 2 Daß sich liberales schnell im Sprachgebrauch durchsetzte, belegt, daß die Liberalen das Thema der Freiheit als Gegenstand ihres politischen Handelns effektiv in den Kampf um die sprachliche Hegemonie, um die Aufteilung der politischen Ausdrucksmöglichkeiten eingebracht hatten. Sie besetzten das Wortfeld libertad/liberal für sich und entzogen es dem sprachlichen 3 Zugriff der Gegenpartei . Ebenso zeigt der Umgang mit dem Neologismus los serviles, daß die Liberalen eine Position erobert hatten, aus der sie in den Diskurs des politischen Gegners eingreifen konnten. Serviles wurde von ihnen als Bezeichnung für die Absolutisten geprägt und war stark pejorativ konnotiert. Die Liberalen verwiesen damit direkt auf das politische Handeln ihres Gegners und kennzeichneten seine Position und seinen Sprachgebrauch durch die assoziative Verknüpfung von servil mit Wortfeldern wie servidumbre, esclavitud,
opresion, tirania,
despotismo4.
Zur direkten Konfrontation beider Lager im Kampf um die Durchsetzung eines bestimmten politischen Vokabulars kam es in der Verfassungsdiskussion. Die politische Positionsbestimmung verband sich mit dem Streit um ein einzelnes Wort, wie in Artikel 3 bei der
2
3
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So erklärte das „Semanario Patriotico" (29. 8. 1811) das Wort liberales mit „defensores de la Constitution y de la libertad"; und auch im Artikel „Definition de las voces liberal y servil" (14. 2. 1814) des „Diario Mercantil" ist zu lesen: „El liberal es ... el amigo de que el ciudadano goce de aquella justa libertad que solo le sujeta a la razon ... el liberal es defensor de la libertad". Freiheit wurde ebenfalls im Sinne der Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft („libertad nacional", „libertad de la Patria", „la libertad espanola", „nuestra libertad" usw.) gebraucht. Das Wort steht für ein Thema, das beide Seiten propagierten — mit einem gemeinsamen Wortfeld. Dem „Semanario Patriotico" (29. 8. 1811) zufolge erklärt sich die Besonderheit aus dem Kampf der Absolutisten für die servidumbre und aus der Häufigkeit des Lexems servil!servidumbre in ihrem Diskurs. Bei der Durchsetzung der Bezeichnung spielte neben der Analogiewirkung des Begriffspaares auch die Schlagkraft des wortspielerischen Einfalls von Eugenio Tapia (1776 — 1860) eine Rolle, der in einem Gedicht „ser-vil" (gemeines, niederträchtiges Wesen) schrieb.
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
Definition der soberania national oder soberania del pueblo5. Die Liberalen verteidigten im Adverb esencialmente die Idee, daß die Souveränität unübertragbar, unteilbar, unbeschränkbar und unverjährbar und dem Volk wesenseigen sei (vgl. ebd., 55 ff.), womit sie die Position und den Sprachgebrauch der Französischen Revolution anerkannten 6 . Für die Absolutisten wohnte die Souveränität ursprünglich dem Volk inne, wurde aber von ihm vollständig und unwiderruflich dem Monarchen übertragen. Sie wollten esencialmente durch radicalmente (zu ratz) und originariamente ersetzt wissen und bezeichneten den König weiterhin als soberano (ebd., 61 f.). Während die Volkssouveränität für die Absolutisten eine Übergangslösung bis zur Rückkehr Ferdinands VII. (1808 — 1833) darstellte, waren die Liberalen bestrebt, sie rechtlich zu verankern und davon ausgehend die politische Struktur Spaniens zu reformieren. Die Liberalen wachten über die von ihnen erfochtene offizielle Terminologie, was zwei Dekrete belegen, die „Orden para que en los papeles de oficio usen las autoridades del lenguage adoptado en la Constitucion" vom 12. 8. 1812 und die „Orden que la Regencia se sujete en un todo al lenguage de la Constitucion" vom 8. 10. 1812. Den Ausschlag dafür hatte die Benutzung der Bezeichnung dominios de las Indias seitens des Kriegsministeriums gegeben. Die am 15. 10. 1810 proklamierte rechtliche Gleichstellung der Kolonien sollte auch sprachlich manifest werden in Espana ultramarina (Espana Americana, provincias espanolas de America, provincias ultramarinas). Das andere Mal hatte der Regentschaftsrat statt gefes poltticos das alte jueces politicos verwendet und damit gegen die im Zuge der Gewaltenteilung eingeführten neuen Bezeichnungen für verschiedene Ämter verstoßen. In dieselbe Richtung zielen Dekrete, die bestimmte Gedenktage 7 festlegen, sowie ein Dekret zur Umbenennung der Plätze, an denen in den Städten die Verfassung verkündet worden war, in „Plaza de la Constitucion" (14. 8. 1812) 8 .
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Verfassung von Cadiz, Artikel 3 besagt: „La soberania reside esencialmente en la Nacion, y por lo mismo pertenece a esta exclusivamente el derecho de establecer sus leyes fundamentales". Artikel 3 der „Declaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789 legt fest: „Le principe de toute souverainete reside essentiellement dans la nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d'autorite qui n'en emane expressement". Als Gedenktage wurden von den Cortes festgelegt: der 2. 5. als „Dia de la conmemoracion de los difuntos, primeros martires de la libertad espanola en Madrid" (Dekrete vom 2. 5., 18. 5. 1811, 29. 1. 1812), der 24. 9. als „Aniversario de la publicacion de la Constitucion politica de la M o n a r q u i a " (Dekret vom 15. 3. 1813). Die sprachregulierenden Ambitionen der Cortes richteten sich daneben auf die
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Die Liberalen versuchten einerseits, revolutionäres Gedankengut und das entsprechende Vokabular, das auf Prägungen aus der Aufklärung und der Französischen Revolution zurückging, zu verbreiten. Andererseits waren sie gezwungen, der Diskreditierung der Revolution durch den Absolutismus, der allgemeinen Ablehnung der jakobinischen Position sowie Bedürfnissen der Feindbildgestaltung im Kampf gegen die Franzosen Rechnung zu tragen. Immer wieder beklagten sie, daß ihnen damit auch bestimmte Begriffe, Wortfelder usw. entzogen seien. Das „Semanario Patriotico" (25. 5. 1809) konstatierte
ζ. B., daß libertad Synonym geworden sei von desorden und igualdad
von anarquia (wenngleich sich schließlich deren positive Bewertung durchsetzte), und bemerkte zu constitution: „la palabra ... lleva consigo la idea de las atrocidades con que la acompafiaron los franceses en el tiempo de su desastrada revolution" (5. 9. 1811). Die Zentraljunta begründete ihre Entscheidung, auf das Wort zu verzichten, damit, daß sie weder das Handeln noch den Sprachgebrauch der Franzosen imitieren wolle (vgl. SEOANE 1968, 102). Eine pejorative Konnotation erhielten revolucionario und moderno durch den syn-
onymischen Gebrauch mit jacobino, hereje, impio, ateo!ateista, cismätico, jansenista, francmason (ebd., 47, 172, 185, 194) in den An-
griffen der Absolutisten auf die Liberalen. Um sich gegen den Vorwurf der Frankophilie bzw. gegen die Beschuldigung, die Maximen der Französischen Revolution und Napoleons zu befolgen, zu schützen bzw. zu verteidigen, entwickelten die Liberalen die diskursive Strategie, sich bei der Durchsetzung ihrer Ideen auf mittelalterliche Traditionen, regionale Rechte u. ä. zu berufen. Das entsprach ihrem Revolutionsverständnis, das eine radikalbürgerliche Hegemonie wie die der Jakobiner ausschloß. Deutlich wird das am Wortfeld von revolution/innovacion, das im Diskurs der Liberalen tabu ist. Wenn sie es dennoch gebrauchen, so um die Vorgabe von Textmustern, mit denen die Arbeit der verschiedenen Institutionen vereinheitlicht und im Sinne der Gewaltenteilung neu geregelt werden sollte. So sind den Dekreten vom 27. 10. 1812 und vom 13. 4. 1813 die Modelle für die Formulare zur Ernennung von Justizbeamten (Decretos 1987, 696 — 704) und zur Ausstellung der „Cartas de Naturaleza" und „Cartas de Ciudadano" (ebd., 852—855) beigefügt. In Artikel 155 der Verfassung und im Dekret vom 12. 4. 1813 wurden die Kopf- und Schlußformeln für die Verabschiedung von Gesetzen durch den König bzw. den Regentschaftsrat festgeschrieben. — Bemerkenswert sind auch die Bestrebungen zur Demokratisierung der Sprache, die sich in der Diskussion um die Abschaffung von Anredeformen, Grußformeln und Titeln widerspiegelt, die Ungleichheit ausdrücken (ζ. B. Magestad, Alteza, Excelencia, Senoria llustrisima; verbigracia, α los reales pies de Vuestra Magestad, los vasallos de Vuestra Magestad).
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
Unterschiede zu den französischen Ereignissen herauszustellen. Ihr Programm sei nicht von der Idee der revolution getragen, sondern der renovation, restauracion, restitution (ebd., 187). Sie wollen nicht umstürzen {alterar), sondern reformieren (reformar; ebd., 103). Deshalb griffen sie ζ. B. bei der Bezeichnung des neugeschaffenen Parlaments (zunächst Congreso national, cuerpo legislativo, Constituante) auf den alten Namen der Cortes zurück, obwohl diese wenig mit den mittelalterlichen gemein hatten. Andere Bezeichnungen wurden wiederum mit der Begründung zurückgewiesen, daß man sich vom Sprachgebrauch der Franzosen abgrenzen müsse (ebd., 100). Dieser Topos dominierte bereits in der spanischen Aufklärung. Wenn Marx die Verfassung von Cadiz als „eine Reproduktion der alten Fueros ..., jedoch im Lichte der französischen Revolution gesehen und der modernen Gesellschaft angepaßt" (MEW, Bd. 10, 467) bezeichnete, so erfaßte er damit exemplarisch die beiden grundlegenden diskursiven Strategien der bürgerlichen Liberalen. Den rechten Verbündeten im antinapoleonischen Lager (proabsolutistische Restaurationspartei9) unterbreiteten sie ein Kompromißangebot, das auf die Revolution als Rückbesinnung auf alte Traditionen, als Modernisierung des Absolutismus hinauslief, nicht aber auf eine radikal-bürgerliche Hegemonie jakobinischen Charakters. Vor den linken Verbündeten (bürgerlich-demokratische Linke) verschleierte der Kampf um die „Revolutionierung" der Sprache dagegen den Unwillen, die Revolution weiterzuführen und zu vertiefen. Das wurde besonders in der letzten Phase der Revolution (März —Mai 1814) deutlich, als es darauf ankam, die auf der sprachlichen Ebene erfochtenen Erfolge durch die praktische Umsetzung zu untermauern: „Auf der Isla de Leon - Ideen ohne Taten, im übrigen Spanien — Taten ohne Ideen" (ebd., 458). Der „revolucion de nombres" folgte keine „revolucion de cosas" 10 . Dieser Zug der Sprachpolitik der fortschrittlichen Kräfte ist wahrscheinlich auch für die nachfolgenden Revolutionen kennzeich-
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KOSSOK unterscheidet vier politisch-soziale Klassenkomponenten im Unabhängigkeitskrieg: 1. pro französisches Lager: a) die „Josefinos"; 2. antifranzösisches Lager: b) die proabsolutistische Restaurationspartei, c) das liberal-adlige und großbürgerliche Z e n t r u m und d) die bürgerlich-demokratische Linke (1982, 146ff.).
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M a r x legte den inneren Widerspruch offen, d. h. den Widerspruch, daß die liberale Bourgeoisie z w a r ein an den Prinzipien von 1 7 8 9 orientiertes theoretisches R e f o r m werk verlangte, ohne jedoch fähig zu sein, den realen Prozeß im Lande zu steuern (vgl. Kossok 1987 b, 33). Interessanterweise charakterisierte „ L a Abeja E s p a n o l a " (27. 6. 1813) die Sprachpolitik der Cortes ganz ähnlich als „Revolucion de nombres y no de c o s a s " (Artikelüberschrift), d. h. die sprachlichen Veränderungen lediglich als Anleihen auf die realen.
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nend. Obwohl sich ein modernes politisches Vokabular etablierte, blieb es durch das Scheitern der Versuche, die politische Herrschaft der Bourgeoisie durchzusetzen und den Adel zu entmachten, ohne anhaltende Auffüllung durch politische Realitäten.
3.2.2. Weitere Sprachen in der Politik Der Spanische Unabhängigkeitskrieg beeinflußte nicht nur die Entwicklung der politischen Sprache des liberalen Bürgertums, sondern leitete auch einen Umbruch im Verhältnis von Nationalsprache und Nationalitätensprache ein. In den nicht-spanischsprachigen Gebieten — so in Katalonien (Principat de Catalunya), in Valencia (Reialme de Valencia), auf den Balearischen Inseln und in Galicien 11 — wurden vermehrt bzw. (im letzteren Fall) erstmals wieder katalanische und galegische politische Texte für die Öffentlichkeit verfaßt. Sie tragen primär persuasiven Charakter. Ein Großteil ist politische Literatur im eigentlichen Sinne: Zeitungsartikel, Flugschriften, Manifeste und offene Briefe. Andere basieren auf Genres der Volksliteratur (vgl. M A R C O 1977), die aufgrund des Vorrangs politischer Themen in der gesellschaftlichen Kommunikation in dieser Zeit politisiert wurde: Romanzen, kurze Theaterstücke (sainetes) und Dialoge (col-loquis). Es hat somit auf der einen Seite den Anschein, als ob damit die sprachpolitische Leitlinie der Französischen Revolution negiert, als ob in Spanien die zentralistische Sprachpolitik zur Unifizierung des Französischen und seiner Universalisierung gegenüber den Minderheitensprachen Frankreichs umgekehrt wurde. Der Spanische Unabhängigkeitskrieg scheint die politische Dezentralisierung und Wiederentdekkung der sprachlichen Diversität — nach Art eines Katalysators (so BARREIRO FERNANDEZ 1982) — einzuleiten. Auf der anderen Seite sind bewußte sprachpolitische Entscheidungen zugunsten der Nationalitätensprachen — Katalonien ausgenommen (vgl. 3.2.2.3.) — selten bzw. überhaupt nicht nachweisbar. Ihre Einführung in die politische Sprache — eine als „hoch" und „öffentlich", also prestigereich, bewertete Kommunikationssphäre — durchbricht zwar die diglossische Funktionsaufteilung. Danach blieben die Minderheitensprachen auf mündliche, nichtöffentliche und vor allem nichtoffizielle Bereiche 12 11 12
Untersuchungen zum Baskenland müssen ausgespart werden. Das Katalanische wurde zumindest in Katalonien und wahrscheinlich auf den Balearen weiterhin häufig als Schriftsprache und höher bewerteten Bereichen ζ. B. notariellen Urkunden — verwendet. Es wurde jedoch als die „niedere" Varietät betrachtet.
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und die (überwiegend mündliche) Volksliteratur beschränkt. Doch läßt gerade der Charakter der Texte keine bewußte Umkehrung des sprachlichen Uniformismus vermuten. 3.2.2.1. Zur Sprachenfrage im 18. Jahrhundert Dem Ausbruch des Krieges folgte in der ersten Phase die Dezentralisierung des Landes, während der sich innerhalb weniger Tage eine Reihe von regionalen und lokalen Juntas konstituierte. Das schnelle Auseinanderfallen der staatlichen Einheit erklärt sich aus dem Wesen des spanischen absolutistischen Staates, der „den Charakter eines regional differenzierten multinationalen Phänomens behalten und gefestigt" hatte ( K O S S O K / P E R E Z 1 9 8 7 , 1 8 6 ) und dessen Zentralisierung sich auf die politisch-institutionelle Sphäre reduzierte. Die sprachliche Unifizierung, die der Absolutismus seit den Gesetzen der Nueva Planta von 1716 (für Katalonien; für Valencia und die Balearen bereits 1707 bzw. 1715) verstärkt anstrebte, hatte die „horizontale und selektive Kastilisierung" zur Folge, die sich als „sprachlicher Bruch entlang der Klassengrenzen" abzeichnete ( N I N Y O L E S 1 9 7 9 a, 8 8 ) . Während die Volksmassen und das Bürgertum meistens die Nationalitätensprache benutzten, waren die oberen Klassen und Schichten zum Gebrauch des Spanischen übergegangen. Der Absolutismus hatte also auch das Spanische nur auf der politisch-institutionellen Ebene durchsetzen können und damit einen latenten Sprachkonflikt in den nichtspanischsprachigen Regionen geschaffen 13 . Für die Aufklärer stand der Ausbau des Spanischen und seine Verteidigung und Durchsetzung gegenüber dem Latein und Französischen im Mittelpunkt ihrer sprachpolitischen Überlegungen und Aktivitäten. Sie nahmen die variedad und somit die sprachliche Diversität stets in Bezug auf den Gesamtstaat wahr (vgl. HINA 1 9 7 8 , 28 f.), den sie zunehmend als Nationalstaat moderner Prägung begriffen (vgl. A R B O S 1 9 8 6 ) . Die Sprachenvielfalt erweckte ihr Interesse vor allem bei der Behandlung bildungspolitischer Fragen. Beim Nachdenken über allgemeine Bildung, die die unteren Klassen einbezog, 13
Zur Durchsetzung des Spanischen als offizieller Staatssprache vgl. vor allem LÜDTKE 1 9 8 9 ; M A R C E T I SALOM 1 9 8 7 , B d . 1, 3 1 6 ff.; F E R R E R I GIRONES 1 9 8 6 , 3 3 - 6 0 .
Im
Gegensatz zu KAILUWEIT (1992, 108 — 111) wird für den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ein latenter Sprachkonflikt angenommen, d. h. es sind die Bedingungen gegeben, unter denen er in einer veränderten sozialen Konstellation in der bürgerlichen Gesellschaft aufbrechen kann (zur Definition vgl. KREMNITZ 1979, 42).
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mußten sie auf das Sprachproblem stoßen: Der Unterricht sollte nicht mehr in einer Fremdsprache (Latein oder in den nichtspanischsprachigen Regionen auch Spanisch) erfolgen, sondern in der Muttersprache. So schätzte der Frühaufklärer Fray Martin Sarmiento (1695 — 1772) in seinem „Onomastico Etimologico de la Lengua Gallega" Nebrijas Grammatik, die für den Lateinunterricht von galegischen Kindern verwandt wurde, als ungenügend ein. Sie gebe die Erläuterungen in einer Sprache, die die Kinder nicht verstehen, so daß sie die Fremdsprache nicht erlernen. Es scheint ihm unvertretbar, daß die Lehrer („unos forasteros") nicht die Muttersprache der Kinder beherrschen (vgl. VAZQUEZ CUESTA 1 9 8 0 , 7 1 4 ) . Viele Aufklärer sahen in der Unterweisung der Muttersprache die Möglichkeit, den Zugang zur Staatssprache zu erleichtern. In Katalonien wies Baldiri Rexach (1703 — 1781) in den „Instruccions per l'ensenyan^a dels minyons" ( 1 7 4 9 ) darauf hin, daß die Schüler zunächst das Katalanische beherrschen müßten, bevor sie sich dem Spanischen zuwenden könnten (vgl. HINA 1 9 7 8 , 4 4 ; COMAS 1 9 8 0 , 5 0 5 ) . Für Gaspar Melchor Jovellanos ( 1 7 4 4 — 1 8 1 1 ) stand die Durchsetzung des Spanischen als einheitliche Nationalsprache letztendlich außer Frage (vgl. 3 . 2 . 2 . 2 . ) . Dennoch trat er in der Abhandlung „Sobre educacion publica, ο sea tratado teorico-practico de ensefianza, con aplicacion a las escuelas de ninos" für die Benutzung des „Mallorquinischen" 14 im Unterricht ein: „Siendo la que primero aprenden, la que hablan en su primera edad, aquella en que hablamos siempre con el pueblo, y en que este pueblo recibe toda su instruccion ..." (JOVELLANOS 1 9 6 3 , 2 4 5 ) .
Auch die Autoren des „Diccionario Catalan — castellano — latin" (1803 — 1805), Joaquin Esteve, Jose Belvitges und Antonio Jugla y Font, hoben den Nutzen von Spanischkenntnissen für den sozialen Aufstieg hervor. Dazu müsse aber auch die Muttersprache gut be14
Mit dem Niedergang der katalanischen Literatur als Folge der Bildung eines spanischen Gesamtstaates ging langsam das Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit der Sprachgemeinschaft verloren. Seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts wurde in Valencia bereits unter Lemosinisch die frühere gemeinsame Sprache verstanden und den neueren Sprachen, die eigentlich Dialekte des Katalanischen sind, gegenübergestellt: dem Katalanischen (d. h. Sprache Kataloniens), dem Valencianischen und Mallorquinischen (vgl. FERRANDO FRANCES 1980, 86). In vielen Fällen ist dieses mangelnde Bewußtsein ein Zeichen diglossischen Sprachbewußtseins (das Spanische wird als die „höhere", das Katalanische als die „niedere" Sprache angesehen). — Im 18. Jahrhundert und später gab es durch die Bezeichnung Lemosinisch heftige Kontroversen über die Herkunft, Verwandtschaft und Bewertung des Katalanischen (vgl. NEU-ALTENHEIMER/SCHLIEBEN-LANGE 1 9 8 6 ; RAFANELL 1991).
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
herrscht werden (vgl. HIN A 1978, 53 f.). Ähnliche Wertschätzung wurde dem Spanischen im „Diario de Barcelona" (1792—1808) entgegengebracht; solide Kenntnisse und die Verbreitung eines von Barbarismen freien Sprachgebrauchs zählten zu den Forderungen (vgl. J O R B A 1979, 44ff.). Die Überlegungen der Aufklärer deuten also auf einen Sprachkonflikt, der solange latent war, wie die Machtstrukturen, die mit einer entsprechenden Funktionsverteilung der Sprachen verbunden waren, stabil blieben. Stärker als in Frankreich haftete die sprachliche Diversität im Bewußtsein, die durchaus die Bewahrung und Pflege der Nationalitätensprachen einbezog (vgl. P E N S A D O 1960, 109 f.; C O M A S 1980, 505ff.). Vorrang genoß die Verbreitung der Nationalsprache und damit die Überwindung der Sprachvielfalt (vgl. L Ä Z A R O C A R R E T E R 1949, 174 f.; 1971, Bd. 2, 5 f.) nicht nur als Zeichen der nationalen Zusammengehörigkeit, sondern auch als Zugang zur Bildung und einer größeren Öffentlichkeit sowie als Bestätigung der Emanzipation gegenüber dem prestigeträchtigen Latein oder Französischen. Entsprechend den pädagogischen Überlegungen sollte das Spanische jedoch über die jeweilige Muttersprache erlernt werden. Für diesen Weg optierten die meisten Aufklärer. Wenngleich — ohne die Konsequenzen abzusehen — eine Politik der Assimilierung vorgeschlagen wurde, sollten durch diese nicht die Nationalitätensprachen ausgerottet werden (vgl. L Ü D T K E 1989, 273).
3.2.2.2. Die Sprachenfrage aus der Sicht der Cortes von Cadiz Der Phase der Dezentralisierung der politischen und militärischen Gewalt (Mai — September 1808) folgten Versuche, die Revolution zu kanalisieren und die politische Macht zu zentralisieren. Am 25. 9. 1808 trat in Aranjuez die Zentral)unta zusammen, die die Regierungsgewalt am 28. 1. 1810 dem Regentschaftsrat übertrug. Am 24. 9. konstituierten sich auf der Isla de Leon die Allgemeinen und Außerordentlichen Cortes, die am 24. 2. 1811 nach Cadiz übersiedelten. Sie setzten in allen sprachpolitischen Fragen die Politik zur Uniformierung der spanischen Sprache fort, wie sie für den Absolutismus — besonders unter Karl III. (1759 —1788) — kennzeichnend war und auch von den meisten Aufklärern im Sinne der Emanzipation des Spanischen angestrebt wurde. In der am 19. 3. 1812 verkündeten liberalen Verfassung von Cadiz, die unter dem Einfluß der ersten Verfassung der Französischen Revolution von 1791 entstand, spielt die Sprachfrage keine Rolle. Das
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Spanische wird an keiner Stelle als die offizielle Sprache des Staates festgelegt, weshalb man annehmen kann, daß das Sprachproblem als gelöst bzw. als inexistent betrachtet wurde. Ziel der Liberalen war die Schaffung eines einheitlichen Nationalstaates mit einer Nationalsprache. Das deutet ζ. B. Artikel 11 der Verfassung an, worin eine angemessenere Untergliederung des spanischen Territoriums in administrative Einheiten angekündigt wird. Damit war offensichtlich eine Einteilung in Provinzen gemeint, wie sie nach 1833 nach dem Vorbild der französischen Departementbildung vorgenommen wurde. Auf die Unifizierung zielen auch die Festlegungen der Verfassung zum Bildungswesen (vgl. Abschnitt IX, Artikel 366 — 371: „De la instruccion publica"). Die Liberalisierung und Öffnung des Bildungswesens für alle Bürger sollten auf der Grundlage eines einheitlichen Bildungsplans erfolgen, der sehr wahrscheinlich den Gebrauch des Spanischen implizierte. Dies wird im „Proyecto sobre el Arreglo General de la Ensenanza Publica" von 1813 deutlich, das jedoch nach der Rückkehr von Ferdinand VII. und der Annullierung der Verfassung am 4. 5. 1814 nicht mehr angenommen wurde (vgl. Hist. educ. Esp., Bd. 2, 16). Von der Durchsetzung einer einheitlichen Nationalsprache werden auch die Überlegungen von Manuel Jose Quintana (1772—1857) im „Informe de la Junta creada por la Regencia para proponer los medios de proceder al arreglo de los diversos ramos de Instruccion Publica" (1813) bestimmt. Er kritisiert darin den Gebrauch des Lateins, das inzwischen völlig verfallen sei, und fordert die Benutzung des Spanischen in allen Bereichen. Für die Schulen verlangt er eine einheitliche Konzeption, einheitliche Methoden und die Lehre einer Sprache 1 5 . Damit greift er auf Vorstellungen zurück, die Jovellanos in seinen „Bases para la formacion de un Plan General de Instruccion Publica" (16. 11. 1809) dargelegt hatte. Dieser maß dem Studium der spanischen Sprache eine herausragende Rolle bei der Heranbildung einer aufgeklärten Jugend und für den Ausbau der Sprache bei (vgl. JOVELLANOS 1963, 271). Das Spanische solle das Latein ablösen, weil einzig die Muttersprache das natürliche Instrument zur Aneignung von Bildung sei 16 . Beim Erwerb des Lesens und Schreibens („Primeras Letras") müsse auf eine korrekte Aussprache geachtet werden. Natürliche und
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„Debe pues ser una la doctrina en neustras escuelas, y unos los metodos de su ensenanza, a que es consiguiente que sea tambien una la lengua en que se ensene, y que esta sea la lengua castellana" (LUZURIAGA 1917, 94). Bei Quintana: „La lengua nativa es el instrumento mas facil y mas a proposito para comunicar uno sus ideas ... (ebd., 95).
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aus der elterlichen Erziehung resultierende Aussprachefehler müßten korrigiert werden 1 7 . Hier überging Jovellanos — Gegensatz zu seinen Mallorquiner Überlegungen (vgl. 3.2.2.1.) — die Tatsache, daß ein Teil der spanischen Bevölkerung andere Sprachen als Muttersprache erlernte, und wies der Schule von vornherein die Funktion zu, die nichtspanischsprachigen Kinder zu kastilisieren. Obwohl nur in wenigen Cortesdebatten das Sprachproblem direkt angeschnitten wurde, kann man annehmen, daß es zumindest unterschwellig präsent war. Bekannt ist lediglich die Äußerung des Abgeordneten Nicolas Garcia Page, die immerhin auf eine Schrifttradition in den Nationalitätensprachen Bezug nimmt: Am 16. 10. 1813 forderte er den Regentschaftsrat auf, von den Schriftstellern den Gebrauch des Spanischen zu verlangen; Ziel müsse die Kenntnis der Sprache in allen Klassen sein (vgl. FERRER I GIRONES 1986, 62). Und der Liberale Antonio Puigblanch (eigentlich Puig i Blanch, 1795 — 1840; vgl. 5.1.2.2.3.) schrieb aus Cadiz, daß die Katalanen ihre Provinzsprache im Zuge der Vereinheitlichung der Körperschaften der Nation und der Angleichung des kulturellen Niveaus aufgeben müßten (vgl. M o RAN Ι OCERINJAUREGUI 1989, 666). - Im Unterschied zu Frankreich wurde also das Sprachproblem in der Zentralregierung nie entschieden thematisiert. Anders als während der Französischen Revolution, wo der Politik der uniformite eine Phase der Übersetzungspolitik voranging (vgl. SCHLIEBEN-LANGE 1987 b, 27) hat für die Zentralregierung in Spanien die Sprachenfrage im Sinne der Anerkennung oder der Auslöschung der sprachlichen Diversität nie eine Rolle gespielt.
3.2.2.3. Das Katalanische als Sprache der Politik in den katalanophonen Gebieten Die Wiederbelebung des Katalanischen als Sprache, über die den katalanophonen Bevölkerungskreisen politische Inhalte, Handlungsmuster und Wertungen vermittelt und vorgegeben wurden, die im Unabhängigkeitskrieg zur Lösung der nationalen und sozialen Frage von Bedeutung waren, vollzog sich in den drei katalanischen Regionen in unterschiedlicher Weise und wurde sowohl von liberalen als auch von absolutistischen Kräften getragen. Stärker als die Balearen und 17
Bei der Vermittlung von Grammatikkenntnissen geht es Quintana um korrektes Sprechen und Schreiben des Spanischen: „Lo que un muchacho puede adelantar en esta parte es corregir los malos habitos de pronunciacion y de fräse adquiridos en su educacion domestica, ο propios de la provincia en que ha nacido" (ebd., 100).
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Valencia war Katalonien bereits während der Guerra Gran (1793 — 1795) von Ereignissen der Französischen Revolution beeinflußt worden. 1793 beschäftigte sich der französische Nationalkonvent mit Katalonien (vgl. SOLDEVILA 1 9 7 9 , 1 5 4 ) , hoben die Abgeordneten Edouard J.-B. Milhaud ( 1 7 6 6 — 1 8 3 3 ) und Soubrany sowie der aus dem Roussillon stammende Delcasso den „Patriotismus" 18 der Katalanen hervor (vgl. PUIG Ι O L I V E R 1 9 8 3 , 1 0 ) . Vor Ende Juli 1 7 9 4 wurden im Comite de Salut public verschiedene Projekte für das Principat diskutiert, u. a. die Errichtung einer republique-soeur (vgl. A R D I T / B A L C E L L S / S A L E S 1 9 8 0 , 1 5 1 ) . General Dugommier ( 1 7 3 8 - 1 7 9 4 ; eigentlich Jacques F. Coquille) äußerte die Hoffnung, daß sich Frankreich jene Katalanen, die Spanien feindlich gegenüberstünden, geneigt machen könnte und dabei die Hilfe der afrancesados erhalten würde (vgl. SOLDEVILA 1 9 7 4 , 2 4 6 2 ) . Die Kräfte des katalanischen Bürgertums und der Intellektuellen, die sich an Frankreich orientierten und sich eine Ablösung vom spanischen Zentralstaat versprachen, waren jedoch in der Minderheit. Eine antirevolutionäre und antifranzösische Haltung dominierte, wie eine Vielzahl von katalanischen Texten dokumentiert (vgl. e b d . , 2 4 5 8 f.).
a) Die Sprachpolitik der antifranzösischen Verbündeten Nach der Besetzung Kataloniens im März 1808 kam es zu ersten Revolten gegen die Franzosen und afrancesados. In verschiedenen Städten konstituierten sich lokale Juntas; am 18. 6. 1808 wurde die Junta Superior gebildet. Die katalanischen Erfolge in der Schlacht von Bruc (6. 6. 1808) gaben den antinapoleonischen Kräften Auftrieb. Bruc wurde vielfach zur Quelle poetischer Inspiration, wie in der „Can^o nova que es treta contra Malaparte" 19 . Die Romanze weist die drei Eckpfeiler in der Argumentation der antinapoleonischen Kräfte aus: die Verteidigung des Christentums, des Vaterlands und des rechtmäßigen Königs („sempre constant ha estat/per obehir al Monarca/ab gran fidelitat"; zit. nach SOLDEVILA 1 9 7 4 , 2 4 8 1 ) . Kennzeichnend für das Wirken der antifranzösischen Verbündeten in Katalonien war die Entstehung einer volkstümlichen politischen Literatur, die zum größten Teil in katalanischer Sprache geschrieben war und gewöhnlich
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Die Franzosen faßten unter dem Patriotismus der Katalanen vor allem die partikularistischen Interessen der Region, die sie auszunutzen suchten. Diese waren allerdings nicht so stark, wie sie annahmen. — Für die Katalanen bedeutete Patriotismus in erster Linie Engagement für Spanien (also für Katalonien als eine Region im spanischen Staat) und Verteidigung der katholischen Religion. Malaparte: wortspielerisch zu Bonaparte.
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über Flugblätter und nur selten über Periodika verbreitet wurde ( M A R C O 1977, 505). Viele der Romanzen, Lieder usw. wurden mündlich verbreitet (u. a. durch öffentliches Vorlesen oder Vortragen). Dem Katalanischen kam also noch eine wesentlich größere Rolle in der politischen Kommunikation zu, als heute anhand der überlieferten schriftlichen Texte nachgewiesen werden kann. Die Liberalen nutzten zur Verbreitung ihrer Ideen vor allem die Dialogform (converses oder col-loquis), wie die „Gespräche zwischen Bernat und Baldiri" (ebd., 528 ff.) oder das „Coloqui entre un Rector y un Pages anomenat Macari, Son Parroquias sobre la Constitucio y Decreto de Corte" von 1814 bezeugen (ebd., 533 ff.). Viele Dialoge sind ähnlich dem Katechismus als Frage-Antwort-Katalog aufgebaut, in welchem wichtige politische Grundbegriffe und Ereignisse erläutert werden. So bildet die Frage Macaris, was denn die Verfassung überhaupt sei, den Aufhänger, um grundlegende Züge der liberalen Politik — angefangen bei den Grundprinzipien („llibertat, propietat, igualtat ...") bis hin zur Bildungspolitik und Pressefreiheit — für Bauern verständlich zu erklären. Der Pfarrer antwortet mit Vergleichen, die auf Dinge bzw. Wertvorstellungen verweisen, die den Bauern geläufig sind. In den Fragen Macaris wird eine Reihe von Gegenargumenten aufgegriffen, die die Liberalen abwehren müssen, wobei sich die Argumentation ihren allgemeinen Diskursstrategien unterordnet (vgl. 3.2.1.). Beispielsweise werden die Verfassung, das Prinzip der Volkssouveränität oder der Gewaltenteilung auf alte spanische oder katalanische Traditionen zurückgeführt20. Ziel der Argumentation ist, die Bauern als potentielle Verbündete zu gewinnen und in die Lage zu versetzen, selbst zu argumentieren21. b) Die Sprachpolitik der französischen Okkupanten Eine Besonderheit stellte die Sprachpolitik der Franzosen während der Besetzung Kataloniens dar. Aus strategischen Gründen verfügte Napoleon am 8. 2. 1810 die Bildung von Regierungsbezirken für die Regionen Katalonien, Aragon, Navarra und Biskaya, deren Generalgouverneure, Polizei, Justiz und Finanzverwaltung ihm direkt unterstanden (vgl. M E R C A D E R I R I B A 1978, 96ff.). Um die Stellung Kataloniens als einer Art Hispanischer Mark zu festigen, versuchte Mar20
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„la Constitucio que veus/es la recopilacio/d'unas Heys, que ja teniam/de sigles anteriors" (MARCO 1977, 532f.). Am Schluß sagt Macari „ja quedo ben convensut": „m'en vaig corrent a dirho/als Mossos que tinch al tr0s,/y'ls contare, fil per randa,/qu'es la Constitucio" (ebd., 544).
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schall Augereau (1757-1816; Januar —Mai 1810), gewisse antikastilische Tendenzen in der katalanischen Bourgeoisie auszunutzen. Offenbar war das aber eine Fehleinschätzung (vgl. KAILUWEIT 1 9 9 1 , 2 9 7 ) . In seinem Aufruf an die Katalanen vom 20. 2. 1810 (veröffentlicht am 19. 3.) beschwor er die Ereignisse aus der katalanischen Vergangenheit, die eine profranzösische Haltung begründen konnten (ζ. B. die Aufstände gegen die spanische Krone von 1640 —1652 und 1701 — 1714). Auf Rat des afrancesado Tomas Puig (1771 — 1835), der die Politik der französischen Besatzer zeitweise beeinflussen konnte 22 , wurde der Aufruf ins Katalanische und nicht ins Spanische übersetzt. In seinem „Projet d'un Plan d'Organisation Politique de la Catalogne" vom 24. 2. 1810 schlug er die Herausgabe einer französisch-katalanischen Zeitschrift vor, über die die katalanische Öffentlichkeit im Sinne profranzösischer Bestrebungen beeinflußt werden sollte (MERCADER Ι RIBA 1978, 115). Vom 22. 3. bis zum 12. 8. 1 8 1 0 erschien das „Diario de Barcelona", das sich wenig später „Diari de Barcelona y del Govern de Cataluna" nannte, zweisprachig (französisch/katalanisch) 23 . Da die französischen Okkupanten konstatieren mußten, daß sie für die unteren Klassen und Schichten die Kenntnis des Spanischen nicht voraussetzen konnten, schenkten sie den Ratschlägen von Puig zunächst Gehör. In seinem Bericht vom 25. 3. 1810 vermerkte der Polizeichef, daß lediglich die Gebildeten, die Beamten in Justiz und Verwaltung und die Grundbesitzer spanisch sprechen, daß man aber sonst nichts verstehen könne, weil die übrigen Leute nur das patois benutzen (vgl. MERCADER I RIBA 1 9 7 8 , 128). - Die Förderung des Katalanischen bedeutet keine Abkehr von der zentralistischen Sprachpolitik, wie sie in Umkehrung jakobinischer Konzepte während des Ersten Kaiserreichs fortgeführt wurden. Sie war in erster Linie eine Taktik Napoleons bzw. der französischen Besatzer, die eine antikastilische Haltung in Teilen der katalanischen Bourgeoisie auszunutzen 22
Tomas Puig i Puig unterstützte die Franzosen intensiv während der Besetzung des Principat. Er stammte aus einer reichen Familie, wurde Anwalt, lernte Frankreich und England kennen, las die französischen und spanischen Aufklärer, beherrschte sehr gut das Französische und war ein Bewunderer Napoleons. Unter Marschall Augereau, in dessen Gunst er stand, wurde er Stadtrichter von Figueres und wenig später von Girona. Am 21. 10. 1810 wurde er zum Präsidenten des Berufungsgerichts Kataloniens ernannt (vgl. MERCADER I RIBA 1978, 8 4 - 9 6 ) .
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Der Übergang zur Verwendung des Katalanischen als Zeitungssprache usw. vollzog sich anscheinend ohne Schwierigkeiten, was auf eine vorhandene Schreibkompetenz und -gewohnheit hindeutet (KAILUWEIT 1991, 298ff.). Allerdings waren solche einschneidenden Veränderungen grundsätzlich auch in einer Sprache wie dem Galegischen möglich (vgl. 3.2.2.4.), deren Schreibtradition im 15. Jahrhundert abbrach. Die Hemmschwelle muß somit tatsächlich im Sprachbewußtsein liegen.
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suchte, um Katalonien aus dem spanischen Staat herauszulösen. Sie stieß jedoch im antinapoleonischen Lager dadurch, daß sich wohl die Mehrzahl der Katalanen sowohl mit ihrer Sprache als auch mit dem Spanischen identifizierten und das nicht als Konflikt empfanden (vgl. KAILUWEIT 1991, 302ff.), auf taube Ohren und blieb letztlich ohne Erfolg. Unter Marschall Macdonald ( 1 7 6 5 - 1 8 4 0 ; Mai 1 8 1 0 - O k t o b e r 1811) war Puig weiterhin bestrebt, das Interesse der Franzosen an der Förderung des Katalanischen zu erhalten, konnte sich aber nicht mehr durchsetzen. In seinem Bericht vom 31. 5. 1810 mahnte er Macdonald eindringlich: „Dans cette province, l'on ne parle que l'idiome Catalan et point du tout la langue espagnole" (zit. nach CUCURULL 1 9 7 5 , Bd. 1, 329). Auch ihm riet Puig, eine französisch-katalanische Zeitschrift herauszugeben. Am 24. 6. 1810 begann Puig mit der Edition der katalanischen „Gazeta del Corregiment de Girona", von der wahrscheinlich nur zwei Nummern erschienen (MERCADER I RIBA 1 9 7 8 , 1 4 4 ) . Am 26. 1. 1812 deklarierte Napoleon die Teilung des Principat in die Departements Ter, Segre, Montserrat und Boques de l'Ebre und machte somit die Annexion offenkundig (MERCADER ι RIBA 1978, 207). Damit verbunden war die Einsetzung von Präfekten, Unterpräfekten für die Arrondissements und Bürgermeistern (meres, von franz. maires) für die Gemeinden, wodurch die Verwaltung in die Kontrolle von französischen Beamten übergehen sollte (ebd., 210ff.). Gleichzeitig begannen die Vorbereitungen zur Publikation und Einführung des Code Napoleon, was Diskussionen darüber auslöste, ob er ins Spanische oder ins Katalanische zu übertragen sei. Die unter französischer Aufsicht gebildete Kommission von Juristen, der u. a. Puig als Präsident des Berufungsgerichts angehörte, entschied sich jedoch mit neun zu eins Stimmen für das Spanische 24 . Die Argumente belegen die ungleiche Funktionsverteilung zwischen beiden Sprachen: Es sei die offizielle Sprache seit Philipp V. (1701 — 1746), die Sprache des Bildungswesens, der Justiz, der Wissenschaft und Literatur, und es verfüge über eine bindende Kodifikation. Das Katalanische würde dagegen nicht sehr geschätzt, sei im schriftlichen Gebrauch nicht üblich, verfüge über keine Kodifikation und sei dialektal zersplittert (vgl. MERCADER I RIBA 1978, 236f.). Ebenso wie in Katalonien entstand in Valencia während des Krieges Propagandaliteratur in katalanischer Sprache, über die vor allem die
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Der Bericht der Kommission ist ediert bei KAILUWEIT 1991, 3 2 5 - 3 3 2 .
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Liberalen ihre politischen Ziele den Massen nahebrachten (vgl. SANCHIS GUARNER 1982, 15). Dazu wurden überwiegend Genres der Volksliteratur (besonders col-loquis, Satiren, Romanzen), auf die der Gebrauch des valencianischen Dialekts reduziert war (vgl. M A R C E T I SALOM 1987, Bd. 1, 378 ff.), umfunktioniert. Im Gegensatz zum Principat faßten die französischen Besatzer die Förderung des Katalanischen nicht ins Auge. Um hohe Kriegstribute einzutreiben, brauchten sie die Unterstützung des Adels. Da dieser das Katalanische schon im 16. Jahrhundert aufgegeben hatte, stand für die Franzosen die Verwendung des Spanischen zur Erzielung von Konsens außer Frage (vgl. FUSTER 1985, 163). Mit der neuen Einteilung nach dem französischen Präfektursystem (1810) wurde das Land Valencia in sechs Departements aufgesplittert. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurden mit dieser Reform, durch die der afrancesado Juan Antonio Llorente ( 1 7 5 6 - 1 8 2 3 ) die 1789 von Floridabianca ( 1 7 2 8 - 1 8 0 8 ) sehr unausgewogene Provinzeinteilung Spaniens korrigieren wollte, die traditionellen Grenzen des Landes verletzt (vgl. SANCHIS GUARNER 1976, 102 ff.). Auf den Balearen bedienten sich zuerst proabsolutistische Kräfte der Nationalitätensprache. Im Krieg nahmen die unter dem Schutz der englischen Flotte stehenden Inseln tausende Flüchtlinge auf, die dort ihre politischen Aktivitäten entfalteten. Während es zuvor ein Wochenblatt gab, erschienen 1810 etwa 20 Periodika (vgl. F E R R E R 1978). In die Kämpfe zwischen Liberalen und Absolutisten griff besonders die erste katalanische Zeitschrift, das „Diari de Buja" (23. 8. 1 8 1 2 - 2 2 . 9. 1813 in 34 Nummern 25 ), wirksam ein. Ihr Herausgeber, der Trinitarier Miquel Ferrer i Bau^ä (1770—1857), versuchte, über das „Mallorquinische" (vgl. Anm. 14) die liberalen Zeitungen „Aurora Patriotica Mallorquina" und „La Antorcha" anzugreifen und reaktionäres Gedankengut effektiv zu verbreiten. Wie gut das gelang, kann man am Entschluß der Liberalen ermessen, daraufhin während des Trienio liberal (1820 — 1823) ihre Presse ebenfalls katalanisch zu publizieren (vgl. F E R R E R 1974). Nach den Aussagen von Ferrer i B a ^ ä richtete sich das „Diari de Buja" an die unteren und schriftunkundigen Schichten (FERRER 1978, 49). Dazu legt er sich die Maske des Bauern an und macht sein „Ich" zu dem einer Figur, wogegen es in anderen Periodika immer für den Autor steht. Die Maske macht es ebenfalls möglich, daß sein „Wir" 25
Die Zeitschrift wechselte zweimal den Namen in „Lluna Patriotica Mallorquina" und „Nou Diari de Buja". Sie erreichte eine Auflagenhöhe von 300 Exemplaren, die höchste Mallorcas; vgl. genaue Beschreibung bei FERRER 1985.
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das Volk bereits umschließt, während die liberalen Zeitschriften vom Volk in der 3. P. Sg. sprechen und es erst durch die direkte Anrede in der 2. P. Sg. hereinholen müssen. Eine Vielzahl sprachlicher und literarischer Mittel dient dazu, den Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Aussagen zu inszenieren und beim Adressaten zu festigen. Sie sind zumeist der Volksliteratur entlehnt, so vor allem Sprichwörter und Sentenzen 2 6 , Volksweisheiten, Romanzen, Parabeln und Gleichnisse (vgl. F E R R E R 1985, 159). Sie vermitteln sozusagen auch auf der interaktionalen Ebene „unumstößliche Wahrheiten" der Bauernschläue und des Volksempfindens. Den von den Liberalen eingeengten diskursiven Spielraum (vgl. 3.2.1.) erweitert sich der Autor des „Diari de Buja" vor allem mit Hilfe von Ironie und Sarkasmus. So kann er die pejorative Bezeichnung servil umwerten und ohne Schaden auf sich selbst beziehen: „Si sa nostra terra mos tira, si sa Hey de Deu mos obbliga, si no mes volem lo que es conforme a sa relligio y a sa raho, som servtls, ό tenim uns sers vüs" (28. 3. 1813, 4). Die Aufwertung der eigenen Position ist an die Abwertung der des Gegners geknüpft 2 7 . Auch in den ironischen Vergleichen greift Ferrer i Bau£a auf Bilder aus der bäuerlichen Lebenswelt zurück: „Servtls son es qui havent fet cosas grans, no escanyan com sa gallina qui ha fet s'ou" (ebd.). So liegt der „Katalanisierung" dieses Presseorgans keine sprachpolitische Option zugrunde, sondern eine Angleichung an seinen Charakter: Volksliteratur — der journalistische Aspekt bleibt eher untergeordnet — muß in der Volkssprache verfaßt werden 2 8 .
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Bspw. „Fora vicis es com qui dir fora francesos. Si teniu formatja ...? com no voleu ratas?" („Diari de Buja", 28. 3. 1813, 2), „Qui brevetja de patriotic es com un qui se gloria de ser bo" (ebd., 3), „Mentres hey ha vida, hey ha esperanza" (ebd.), „Val mes un sayo mal tayat que romandre sensa roba" (ebd., 5), „Lo millor sempre es millor" (1. 4. 1813, 9). Vgl. bspw. die Abwertung von liberal: „«Que vol dir lliberäl? Generös, bisarro, qui fa be a tothom encara que no tengan molta necessitat" („Diari de Buja", 28. 3. 1813, 4). „Liberal vol dir un qui no fa cas de res, qui en no ser sa caritat a un pobre, sa llimosne a un frare, ό es deumas a la Iglesia, no plan res; antes be no fa cas de dar sa familia a Napoladron, sa patria a n'es francesos, ni s'anima a n'el dimoni. Αχό es lliberalidat" (1. 4. 1813). Die Apologie des „Mallorquinischen" hat im „Diari de Buja" die Funktion, die beiden bekämpften spanischsprachigen Periodika als „fremd" und damit feindlich abzuqualifizieren (vgl. FERRER 1 9 8 5 , 165 f.).
Spanien: Nationalsprache und Nationalitätensprache
231
3.2.2.4. Das Galegische als Sprache der Politik in Galicien Seit den Bauernaufständen im 15. Jahrhundert („Guerra Irmandina") war der Unabhängigkeitskrieg die erste Bewegung, an der sich die galegische Bauernschaft umfassend beteiligte (vgl. B A R R E I R O F E R N ANDEZ 1982, 36). Die Spaltung der Gesellschaft in Klassen war in Galicien — vielleicht schärfer als in anderen Regionen mit vergleichbarer Sprachsituation — durch den sprachlichen Bruch (vgl. 3.2.2.1.) untersetzt. Problematisch wurde diese Situation erst in dem Moment, in dem zwischen den spanischsprachigen Klassen und Schichten und den galegisch sprechenden Bauern politischer Konsens hergestellt werden sollte. In Galicien ergab sich diese Notwendigkeit erstmals — im Gegensatz zum Principat und zu Valencia — während der Volkserhebung im Mai 1808, der Vertreibung der französischen Okkupanten (Januar —Juni 1809) und der nachfolgenden Verteidigung gegen neue Angriffe. Wollten Liberale wie Absolutisten die Bauernschaft zum Kampf gegen die französischen Eindringlinge aufrufen, die Massen lenken, über den Krieg informieren und sie mit ihren politischen Absichten vertraut machen, mußten sie auch auf deren Sprache zurückgreifen. Erste galegische Artikel in verschiedenen Periodika, deren Zahl während des Krieges sprunghaft anstieg (vgl. V A Z Q U E Z C U E S T A 1 9 8 0 , 722f.), manifestieren die Absicht, politische Probleme den Bauern (u. a. durch Vorlesen) nahezubringen. Vermutlich hat der Rückgriff auf das Galegische daneben wie ein Katalysator auf die — erst später einsetzende — Entwicklung eines eigenen Sprachbewußtseins gewirkt (vgl. 4.2.). In der Mehrzahl wurden die Texte, die stark appellativen Charakter tragen, von Liberalen verfaßt und waren an den Erfordernissen der mündlichen Kommunikation orientiert (ζ. B. Appellformen, kurze, übersichtliche Sätze, einfache Darlegung der Argumente; vgl. CARBALLO C A L E R O 1975, 32 ff.). Ein Beispiel ist die Romanze „Un labrador que foi sarxento os soldados do novo alistamento" von einem unbekannten Autor aus dem Jahre 1808. Darin wendet sich ein älterer Mann bäuerlicher Herkunft 29 an seine jüngeren Landsleute, um sie zum Kampf gegen die Franzosen aufzurufen. Er richtet sich direkt an 29
Carballo Calero kennzeichnet den Anonymus als: „persoa de algunhas letras, que sabe medir e rimar os versos segundo as leies da preceptiva, e conece ο uso do hiperbaton e do cabalgamento" (1975, 31). Es könne sich um einen Kleriker, Schreiber oder Hidalgo handeln, der in Kontakt mit Bauern lebt und ihre Sprache kennt.
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
die Bauern (2. P. PI., Imperativformen) und verwendet das identitätsstiftende Possessivum meu sowie Koseformen („meus queridos", „meus Garridos", „meus rulos"; vgl. IGLESIA 1886, 205 — 207), die zugleich den volkstümlich-mündlichen Charakter des Gedichts verstärken. Der Liberale Ramon Gonzalez Senra (vgl. CARBALLO CALERO 1975, 55) nahm das Dekret der Cortes zum Anlaß, das die Dörfer zur selbständigen Wahl ihrer Richter berechtigte, um sich mit einem Brief („Carta recomendada") an die „Gaceta Marcial y Politica de Santiago" (5. 2. 1812) zu wenden (vgl. „Prosa galega" 1976, 17ff.). Auch hier ist nicht der wiederholt angesprochene „Senor Emprantador da Gazeta de Santiago" der Adressat, sondern die Bauernschaft. Der Autor identifiziert sich mit ihr (vgl. Alternation 1. P. Sg./l. P. PL), gehört ihr aber wahrscheinlich nicht an (vgl. Gebrauch der Schrift, literarische Mittel). Der Aufbau der Argumentation folgt der Opposition Bauern/ Großgrundbesitzer, die als Gegner 30 dargestellt werden (vgl. Opposition 1. P. Sg. bzw. P1./3. P. PI.). Sie trägt der Erfahrung des Autors Rechnung, daß seine Adressaten keine Bildung 31 besitzen. Die Gedankenführung ist deshalb durch Übersichtlichkeit, einfache Sprache und Wortwahl, Elemente des gesprochenen Galegisch (ζ. B. „escravitud", „repubrica"), ausführliche Erklärungen, einen hohen Grad an Redundanz und durch Stilfiguren gekennzeichnet, die auf Vorgänge und Dinge des bäuerlichen Lebens referieren. Ebenso wie in den katalanischsprachigen Gebieten erklärt sich die Verwendung der Nationalitätensprache in politischen Texten aus den politisch-militärischen Erfordernissen des Unabhängigkeitskrieges in Galicien: Durch die Beteiligung der Bauern an der politischen und militärischen Auseinandersetzung wurden die im Kampf gegen den äußeren Feind und um die Macht führenden Kräfte mit dem Sprachproblem konfrontiert. Ein Teil von ihnen stellte sein sprachliches Handeln — zunächst kurzfristig — darauf ein. Während des Revolutionszyklus im 19. Jahrhundert spielten das Bedürfnis und die Notwendigkeit, mehr oder weniger intensiv mit den Volksmassen zu sprechen, periodisch wieder eine Rolle. Sie könnten tatsächlich —
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Ihr Handeln wird mißbilligt: „os senores nos trataban como animalias". Sie werden stigmatisiert als „aves de rapina" oder „tartarafia que andaba encima de nos" (vgl. „Prosa galega" 1976, 18). Der Autor gibt vor, ungebildet zu sein — ein literarisches Mittel, das letztendlich die These einer bewußt volkstümlichen Gestaltung stützt: „Eu non sei falar con retronicas, porque non andiven na escola dos xasuitas" (ebd., 17).
Spanien: Nationalsprache und Nationalitätensprache
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neben anderen Faktoren — die Bewußtseinsbildung befördert und zur Negation der sprachpolitischen Leitlinie der Französischen Revolution beigetragen haben.
3.2.3. Bestrebungen zur Kodifizierung Angesichts der mehr oder minder deutlichen Veränderungen im Gefüge der politischen Kommunikation in den einzelnen Regionen muß auch der Frage nachgegangen werden, ob der Gebrauch der Nationalitätensprachen in einer prestigereichen Sphäre die Sensibilisierung der Intellektuellen für die Kodifizierung befördert hat. Für Galicien und Valencia sind direkte Auswirkungen nicht nachweisbar. In Galicien setzten erst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts erste Bemühungen zur Beschreibung und Normierung ein 3 2 . In Valencia sind seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sporadische sprachpflegerische Versuche zu verzeichnen (vgl. FUSTER I ORTELLS 1 9 8 9 , 28 ff.) — wie bei Carles Ros i Hebera (1703 — 1773) oder Manuel Joaquin Sanelo (1760 — 1827); sie stehen aber nicht in Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitskrieg. Die Kodifizierungsbestrebungen auf Mallorca und im Principat lassen dagegen eine Sensibilisierung durch die Veränderungen im Kommunikationsgefüge plausibel erscheinen. So erklärt Antoni M . Cervera (1779 — 1838) in der „Nueva ortografia de la lengua mallorquina, explicada en espafiol para su mäs fäcil inteligencia" (1812), er habe ein schriftlich fixiertes Regelwerk für die Aussprache und Schreibweise des „Mallorquinischen" vermißt und deshalb eine Orthographie ausgearbeitet (vgl. MASSOT I MUNTANER 1 9 8 5 , 39f.). Die Verwendung im „Diari de Buja" zieht die implizite Erstellung eines orthographischen Systems nach sich, für das entweder Miquel Ferrer, sein Verleger oder Korrektoren verantwortlich zeichnen (vgl. F E R R E R 1 9 8 5 , 168 ff.). In Katalonien liegt mit der 1813 veröffentlichten „Gramatica i apologia de Ia llengua cathalana" von Josep Pau Ballot i Torres
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Die ersten galegischen Grammatiken sind die von Francisco Miras, „Compendio de gramatica gallega-castellana" (Santiago 1864), und Juan A. Saco Arce (1835 — 1881), „Gramatica gallega" (Lugo 1868). Es folgten die Wörterbücher von Francisco Javier Rodriguez (gest. 1854), „Diccionario gallego-castellano" (La Coruna 1863), Juan Cuveiro Pifiol (1821 — 1906), „Diccionario gallego" (Madrid 1876), und M a r cial Valladares Nunez (1821 — 1903), „Diccionario gallego-castellano" (Santiago 1 8 8 4 ; vgl. LORENZO 1 9 8 6 , 2 0 ) .
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
(1747—1821) ein erster Versuch zur Kodifizierung der Sprache vor 33 . Darin wehrt sich der Autor gegen den Vorwurf, das Katalanische sei ein Patois 34 , weil es keine Kodifikation besitze (BALLOT 1814, 265) und entwickelt folgende sprachpolitische Überlegungen: — Förderung des Katalanischen als Sprache in Ablehnung seiner Bezeichnung als Dialekt oder gerga (ebd., X X I X , 259) und als authentisches Kommunikationsmittel einer historischen Sprachgemeinschaft. An die Junta de Gobern del Comers de Catalunya gewandt (sie förderte das Projekt finanziell), fordert er, nicht nur Industrie und Handwerk zu unterstützen, sondern auch die Literatur und die Muttersprache (ebd., IX). — Stützung und Förderung ihres Gebrauchs in allen Kommunikationssphären. Bailot erinnert daran, daß das Katalanische in allen Bereichen verwendbar ist und über einen differenzierten Wortschatz verfügt (1814, 264f.). — Kodifizierung des Katalanischen. Für die Schaffung einer einheitlichen Norm orientiert sich Ballot an den Autoren des 17. Jahrhunderts und nicht am korrumpierten gesprochenen Katalanisch seiner Zeit (1814, 262). — Sprachpflege (Reinhaltung und Vervollkommnung), Ausbau des Wortschatzes und der Stilregister usw. (ebd., 266). Bailots Programm hat seit dem 19. Jahrhundert, von den Vertretern der Renaixenfa angefangen, viel Aufmerksamkeit erhalten (vgl. NEUA L T E N H E I M E R 1987 — 1989, 268 f.). Immer wieder wurde es als ein erster (bewußter) Schritt hin zur Emanzipation des Katalanischen aufgefaßt 35 . So hätten dafür sowohl der veränderte Status des Kata33
Die Beschäftigung Ballots mit dem Katalanischen spielt in seinem Leben eine untergeordnete Rolle. Der Autor einer spanischen Grammatik (1796) setzte sich zusammen mit dem Bischof Josep Climent (1706 — 1781) im Anschluß an die „Real Cedula" (1768) für die Lehre des Spanischen als Vorstufe zum Lateinstudium ein (vgl. SEGARRA 1987, 5 ff.). In der spanischen Grammatik betont er u. a., daß dieses Vorgehen dem pädagogischen Prinzip des Voranschreitens vom Einfachen zum Schwierigen entspreche (BALLOT 1845, Prolog). Seine Auffassung stimmt also vollkommen mit der der meisten Aufklärer überein (vgl. 3.2.2.1.).
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Bailot hatte sich bereits im Rahmen der Orthographiediskussionen von 1796 im „Diario de Barcelona" gegen diesen Vorwurf gewehrt. Die Bewertung dieser wohl ein Konfliktbewußtsein ausdrückenden Haltung ist außerordentlich umstritten: Während ζ. B. NEU-ALTENHEIMER/SCHLIEBEN-LANGE die Sprachdiskussion in Frankreich als mögliche Ursache erwägen (vgl. 1986, 206 f.), warnt KAILUWEIT vor einer Überbewertung (vgl. 1992, 122 f.).
35
Adressaten der Darstellung sind nicht die Schichten, in denen das Katalanische im Alltag unentbehrlich und einziges Kommunikationsmittel ist, sondern die Intellektuellen („amats compatricis, sabis y literats"; BALLOT 1814, 266) und das Bürgertum, also diejenigen, die sich sowohl des Spanischen wie des Katalanischen schriftlich bedienten.
Spanien: Nationalsprache und Nationalitätensprache
235
lanischen unter der französischen Besatzung als auch die wachsende Öffnung Kataloniens im Zuge der Industrialisierung Impulse gegeben (vgl. ebd., 270). Die gleichgültige Reaktion der Katalanen auf die Sprachpolitik der Franzosen im Principat lassen jedoch an der Stichhaltigkeit ersterer Hypothese zweifeln: Die Mehrzahl besaß kein Konfliktbewußtsein und identifizierte sich mit beiden Sprachen unter eindeutiger Funktionstrennung (vgl. KAILUWEIT 1 9 9 1 , 3 1 6 ff.). Auch Ballot hat dieses diglossische Bewußtsein, das zwischen Spanisch als Staats-(oder National-)sprache und Katalanisch als Muttersprache — oder „Katalanisch als Sprache der Seele, Spanisch als Sprache des Geistes" (KAILUWEIT 1 9 9 1 , 3 2 1 ) - unterscheidet. In der Grammatik steht dem Wissen, daß der Gebrauch des Spanischen als Nationalsprache („perque es llengua del regne; BALLOT 1 8 1 4 , 2 6 8 ) für jeden „wahrhaften Spanier" verbindlich ist, die affektive Bindung an die Muttersprache 36 gegenüber. Wie zweideutig letzterer Begriff bei Ballot ist, belegt die „Gramatica de la lengua castellana dirigida a las escuelas", in der er das Spanische ebenfalls als lengua materna und lengua propia bezeichnet. Allerdings fallen hier lengua propia de la nacion und Muttersprache zusammen ( 1 8 4 5 ) . So kann zwar geschärftes 37 , jedoch einen akuten Konflikt noch nicht reflektierendes Sprachbewußtsein angenommen werden (vgl. HINA 1 9 7 8 , 5 5 f.). Gegen eine unmittelbare Verknüpfung der Sprachpolitik im Unabhängigkeitskrieg und der Grammatik von 1813 spricht auch die Wissenstradition, in der sich Ballot bewegt. Die Argumentation, die er in seinem Brief an die Junta de Comercio (IV —XI), im Vorwort (XV-XXVIII) und im Nachsatz („Amats compatricis", 2 5 9 - 2 6 9 ) aufbaut, steht in der gelehrten Tradition der Beschäftigung mit den Volkssprachen, wie sie von der Renaissance über die Aufklärung in seine Zeit reicht (vgl. BAHNER 1 9 5 6 und 1 9 7 7 ) . Dabei hatte die Verteidigung des Katalanischen bereits im 18. Jahrhundert eine Reihe von Intellektuellen beschäftigt, so Antoni de Bastero ( 1 6 7 5 — 1 7 3 7 ) , Baldiri Rexach oder Antonio de Capmany (vgl. NEU-ALTENHEIMER 1 9 8 9 ; COMAS 1 9 8 0 , 507ff.). Bailots Grammatik ist vor allem auch als Replik auf Capmanys Lehre von der Eloqüencia (vgl. N E U - A L T E N 36
37
Die Muttersprache ist „porta de nostra anima" und „la que havem apres de nostres mares" (ebd., XIII, XXV). Der emanzipatorische Diskurs ist in zwei Argumentationssträngen auszumachen: Zum einen sucht Bailot die Eigenständigkeit des Katalanischen als romanische Sprache aus der geschichtlichen Entwicklung nachzuweisen, zum anderen beharrt er auf dem Systemcharakter des Katalanischen. Er zieht dazu die Funktionen der Sprache heran, und zwar die, Muttersprache und multifunktionales Kommunikationsmittel zu sein (vgl. N E U - A L T E N H E I M E R 1 9 8 7 - 1 9 8 9 , 271).
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
1987) anzusehen — und besonders seine Charakterisierung des Katalanischen als „fast tote" Sprache 38 (vgl. NEU-ALTENHEIMER 1987 — 1989, 195 ff.). — Darüber hinaus mahnen die Verschiebungen im Kommunikationsgefüge während des Unabhängigkeitskrieges — die kaum auf verstärkte Reflektion zurückzuführen sind, sondern eher den tagespolitischen Anforderungen gehorchen — eine vorsichtige Interpretation des emanzipatorischen Gestus der Grammatik an. HEIMER
3.2.4. Grundzüge sprachpolitischer Lösungen in der ersten spanischen bürgerlichen Revolution im 19. Jahrhundert Aus den bisherigen Untersuchungen können folgende Grundzüge sprachpolitischer Lösungen herausgeschält werden, die von den um die politische Führung und sprachliche Hegemonie ringenden Kräften in der ersten spanischen bürgerlichen Revolution im 19. Jahrhundert vorgelegt wurden: a) Wie in den Versuchen zur Lösung der sozialen und Machtfrage in der Revolution von 1 8 0 8 - 1814 zeichnen sich auch im Herangehen an sprachpolitische Fragen zwei gegenläufige Tendenzen ab. Zum einen neigten die bürgerlichen Liberalen dazu, ähnliche sprachpolitische Lösungen anzustreben wie die in der Französischen Revolution gefundenen. Zum anderen hält die Tendenz an, sich vom französischen Modell abzugrenzen. b) Eine Leitwirkung der Französischen Revolution zeigt sich zunächst in der Herausbildung des Diskurses der bürgerlichen Liberalen und in der Formulierung ihres Hegemonieanspruchs. Sie wird deutlich im Streben der Liberalen nach Popularisierung ihres politischen Diskurses, in der Verbreitung ihrer politischen Auffassungen unter den am Kampf beteiligten Volksmassen (vgl. die Institutionalisierung in der Presse, in Flugschriften, durch das öffentliche Vorlesen bzw. Kommentieren von politischen Nachrichten usw.). Mit der Propagierung des revolutionären Gedankenguts, von Themen, die schon die Aufklärung und die Französische Revolution beherrscht hatten, ging die Verbreitung ihres Sprachgebrauchs einher. In wichtigen strategischen Dokumenten, so der Verfassung von Cadiz, setzten sie im großen und ganzen die politische Lexik, Wortbedeutungen usw. durch, die den Hegemonieanspruch des Bürgertums vortrugen und ihrem an der Revolution von 1789 orientierten Revolutionsverständnis entsprachen.
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Ballots Urteil ist: „si no es llengua morta, a lo menos es mortificada" (1814, 263).
Spanien: Nationalsprache und Nationalitätensprache
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c) Ähnliche sprachpolitische Lösungen wie die der Französischen Revolution liegen im Willen der liberalen Zentralregierung vor, das Spanische als Nationalsprache im gesamten Staat zu verbreiten. Es geht den Liberalen einerseits um den Gebrauch einer einheitlichen politischen Terminologie in den offiziellen Dokumenten und um die sprachliche Vereinheitlichung des Schriftverkehrs zwischen den staatlichen Institutionen. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten zur Unifizierung des Französischen. Weiterhin zielte besonders ihre Bildungspolitik darauf ab, die Nationalsprache gegen das Latein und die Nationalitätensprachen durchzusetzen. Ebenso wie in Frankreich beinhaltete die Demokratisierung des Bildungswesens, seine Öffnung für alle Klassen und Schichten, perspektivisch die sprachliche Assimilation der unteren Klassen und Schichten. Die Bemühungen der Liberalen treffen sich hier — stärker als bei der Unifizierung — mit denen zur Universalisierung des Französischen. d) Eine Brechung der sprachpolitischen Leitlinie — oder eine distanzierende Abkehr — äußert sich im Diskurs der Liberalen mit der Entwicklung einer Strategie, mit deren Hilfe sie die Herkunft von politischen Konzepten aus der Französischen Revolution bzw. der Jakobiner zu verschleiern suchten und die ihrem Revlutionsverständnis Rechnung trug. So beriefen sie sich bei der Begründung bzw. Verteidigung einer Reihe von politischen Forderungen auf landeseigene mittelalterliche Traditionen und regionale Rechte. Damit verbunden waren die Ablehnung eines Teils des politischen Sprachgebrauchs aus der Französischen Revolution, Bedeutungsveränderungen und die Wiederaufnahme von traditionellen Bezeichnungen. e) Ebenso gebrochen wird die sprachpolitische Leitlinie der Französischen Revolution im — zwangsweisen — Rückgriff der um die Führung ringenden Kräfte in den nichtspanischsprachigen Regionen, ihre politischen Auffassungen in der jeweiligen Nationalitätensprache den Volksmassen nahezubringen. Sie entsprachen damit einer elementaren Bedingung zur Erlangung von Konsens bei Klassen und Schichten, die nur die Nationalitätensprache beherrschten. Dieses Verhalten kann noch nicht als Indiz für eine Umkehrung der zentralistischen Lösung des bis dahin kaum als solches reflektierten Sprachproblems gewertet werden. Auf das Sprachbewußtsein in Galicien, Valencia und auf den Balearen kann der (schriftliche) Gebrauch in einer als „hoch" bewerteten Kommunikationssphäre höchstens die Wirkung eines Katalysators gehabt haben. In Katalonien selbst können stärkere Veränderungen angenommen werden, wenngleich die Reaktion der Katalanen auf die französische Sprachpolitik dem zu widersprechen scheint. Dabei haben die nachfolgenden Revolutionen wahrscheinlich
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Die sprachpolitische Ausstrahlung der Revolution
die Katalysatorfunktion - in Zusammenhang mit den sozialen Verschiebungen — vertieft. Um diese Hypothese zu erhärten, müssen verstärkt Untersuchungen zu Rolle und Gebrauch des Katalanischen im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vor allem zu den Textsorten) vorgenommen werden. f) Angesichts der bisherigen Ergebnisse, die lediglich eine katalysatorische Funktion auf die Entwicklung des Sprachbewußtseins in den Regionen plausibel machen, bedeutet(n) der (die) Kodifizierungsversuch(e) wohl noch keine Brechung einer sprachpolitischen Leitlinie der Französischen Revolution. Die bewußte Abkehr setzt anscheinend erst mit dem politischen Regionalismus ein.
4.
Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
4.1.
Bildungsdiskurse, Bildungsreformen und Sprachpolitik im 19. Jahrhundert in Frankreich
4.1.1. Zusammenhänge von Bildungspolitik und Sprachpolitik im 19. Jahrhundert Mit den Problemen im Umkreis von Bildungspolitik und des (Mutter-) Sprach(en)erwerbs soll ein Aspekt von Sprachpolitik angesprochen werden, der in den bisherigen Ausführungen noch keine Rolle spielte, der aber zentrale sprachpolitische Bedeutung im 19. Jahrhundert, auch jenseits der Grenzen Frankreichs, erlangte. Von sprachpolitischer Bedeutung ist die systematische Unterweisung in der Muttersprache, die das Hauptanliegen der französischen Grund- oder Volksschule darstellte, vor allem deshalb, weil damit — erstmals in der französischen Geschichte überhaupt — die mit der Schriftlichkeit verbundenen Kultur- und Sozialtechniken für die Masse der Landeskinder zugänglich werden. Im Ancien Regime war der Umgang mit der Schrift auf wenige Berufsstände und soziale Gruppen beschränkt: auf die Drucker und Korrektoren, die Schriftsteller und Gelehrten, die Sekretäre, den Klerus, die Unternehmer und vielleicht noch auf wenige Betuchte. Indessen ermöglichte der Aufbau eines breit organisierten staatlichen Volksschulwesens, das in Frankreich nach 1833 entsteht, den Kindern von Bauern, Arbeitern, Handwerkern u. a., die das Gros der Analphabeten stellten, schriftkulturelle Fähigkeiten zu erwerben. In der Folge wurde das bis dahin die Volkskultur mitbestimmende Analphabetentum allmählich zurückgedrängt. Die Verbreitung schriftsprachlicher Fähigkeiten in der französischen Volksschule bildet folglich einen wesentlichen Aspekt sprachpolitischer Betrachtung. Zugleich trägt die Schule unversehens zur Akkumulation von sozialem Konfliktstoff bei: Das Französische war Schulsprache auch in Gebieten Frankreichs, in welchen französisch oft nur von einer Minderheit gesprochen wurde; für die Kinder des Volkes hingegen war es in
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Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
diesen Gebieten eine Fremdsprache. Wie Schulunterricht überhaupt, reproduzierte der Unterricht in Lesen, Schreiben, Orthographie und Grammatik die Normen und die Ziele, die der Volksschule seitens der staatlichen und kirchlichen Behörden auferlegt wurden. Auseinandersetzungen um die politisch-soziale Ordnung in Frankreich, an denen das 19. Jahrhundert reich war, hatten dann meist auch vordergründig oder hinterrücks eine bildungs- und sprachpolitische Dimension. Dies zu erhellen, ist Anliegen der weiteren Ausführungen. Die ersten bedeutenden Impulse für die französische Grundschule gingen von der Französischen Revolution aus. Mit der Verfassung von 1791 wird der Aufbau eines öffentlichen Bildungswesens und die unentgeltliche Ausbildung für alle Bürger verfügt. Die Erklärung der Menschenrechte von 1793 ist nicht minder anspruchsvoll. Sie erklärt die Bildung zu einem notwendigen Grundbedürfnis aller Menschen, das von der Gesellschaft nach bestem Vermögen und im Dienste der Vernunft entwickelt werden muß. Ein Dekret vom 12. Dezember 1792 fordert die Vermittlung von elementaren Kenntnissen in der Grundschule, die des Französischen an vorderster Stelle eingeschlossen. Wie die Berichte des Abbe Gregoire und von Barere an den Konvent im Jahre 1794 bestätigen, waren nur etwa 3 Millionen citoyens des Französischen in Wort und Schrift mächtig. Was die Revolution für das öffentliche Grundschulwesen leisten konnte, war allerdings kaum mehr als die Grundzüge eines Bildungswesens zu entwerfen, das anders orientiert war als die konfessionelle oder die private Bildung einer gesellschaftlichen Elite. Den Gesetzen von Jules Ferry in den Jahren 1881/82 bleibt es vorbehalten, schließlich auch den obligatorischen und kostenlosen Grundschulunterricht einzuführen. Was hat sich in diesen neun Jahrzehnten von der Französischen Revolution bis zu der Reform von 1882 an sprachpolitisch Bedeutsamem ereignet? Während zur Zeit der Französischen Revolution mehr als zwei Drittel aller Franzosen Analphabeten waren oder Französisch nicht zur Muttersprache hatten, kann zum Ende des 19. Jahrhunderts die bemerkenswerte Tatsache konstatiert werden, daß das Analphabetentum weitgehend beseitigt ist. Damit erfüllte sich eine Idee der revolutionären Bourgeoisie aus der Französischen Revolution, die ein objektives Interesse an der sozialen Ausbreitung der Nationalsprache hatte. Doch wissen wir, daß sich die Interessen der Bourgeoisie im 19. Jahrhundert beträchtlich veränderten und daß die Ideen der Revolution sukzessive von den neuen ökonomisch-sozialen Beziehungen und Interessen überdeckt wurden. Für Guizot, Minister für Bildung in der Julimonarchie (1830—1848), galten die Ideen der Revolution
Bildungspolitik im 19. J a h r h u n d e r t in Frankreich
241
zunächst noch als Meßlatte. In der Bildungsreform von 1850 dominierte dann die auf Sicherung der Macht gerichtete administrative Geschäftigkeit, der Geist der Neuregelung von Verwaltungskompetenzen und die Favorisierung des Kirchenpatronats. Die revolutionären Ideale waren aus dem Bewußtsein der Herrschenden verschwunden. Die Forderung nach einer Volksschule erlangt vom ersten Drittel des 19. Jahrhunderts an einen neuen Stellenwert im Schnittpunkt verschiedener gesellschaftlicher Entwicklungen. Dazu gehören: a) die ζ. T. radikale Veränderung der Produktionsverhältnisse, der Produktionsweise und der Sozialstruktur in Frankreich im Verlauf des 19. Jahrhunderts sowie die Herausbildung der Arbeiterschaft, in deren Reihen die allgemeine und berufliche Bildung objektiv eine wachsende Bedeutung erlangen mußte; b) die Institutionalisierung des Grundschulwesens im Gefolge der Bildungsreformen von 1833 unter Guizot, von 1850 unter Falloux und 1882 unter Ferry sowie die heftigen Debatten im Widerstreit von konfessionellen, republikanischen, konservativen und sozialistischen Bildungsideen; die Säkularisation der Grundschulen nach 1882; c) die Wahrnehmung des Sprachproblemes als soziales und politisches Problem in den verschiedenen sozialen Klassen und Schichten; die Reformierung der Methoden des Spracherwerbs; die Beschneidung des Volksschulwissens auf Moralbewußtsein und repetitive sprachpraktische Techniken. In sprachpolitischer Hinsicht rangiert im 19. Jahrhundert ein Sachverhalt vor allen anderen: Die Aneignung der Nationalsprache durch nahezu alle Angehörigen der französischen Nation in der Volksschule. Zu den Sekundärschulen, d. h. den Lyzeen und Gymnasien sowie zu den Universitäten hatten nach wie vor nur die sozial Privilegierten Zugang. Als Institutionen hatten diese Bildungsstätten vermittelt — über die Ausbildung von Lehrern - Einfluß auf die soziale Verbreitung schriftkultureller Verhältnisse. Hingegen besteht die Bedeutung der Grundschule gerade darin, daß sie für breite Kreise des Volkes den Zugang zur Schriftkultur eröffnet. Als These sei daher formuliert, daß sich im 19. Jahrhundert der Übergang von einer quasi semiliteraten Situation der französischen Gesellschaft, die von einer hohen Bildung und Schriftkultur relativ weniger Franzosen aus Klerus, Adel und Bürgertum einerseits und einer primär oralen Kultur des Volkes andererseits geprägt war, zu einer literaten Gesellschaft vollzieht. Zum Ende des 19. Jahrhunderts besitzen fast alle Franzosen zumindest Lektürefähigkeiten und elementare Schreibfähigkeiten, die sie zur Partizipation an den schriftkulturellen Verhältnissen fähig werden
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Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
lassen. Dieser Wandel ist geprägt von der Demotisierung der Schrift, d . h . ihrem allgemeinen Verfügbarwerden (vgl. U . M A A S 1 9 8 5 ) . Die Demotisierung der Schrift ist nicht schlechthin eine Frage der Alphabetisierung: „sie ist eine Frage des Ausmaßes, in dem den Menschen die schriftlichen Möglichkeiten zur Bearbeitung ihrer widersprüchlichen Erfahrungen an die Hand gegeben wird" (ebd., S. 57). In sprachpolitische Fragestellungen übersetzt, heißt das: — Welches Wissen über die Sprache und die Gesellschaft und welche sprachpraktischen Fähigkeiten werden dem Volke durch die Institutionen des Staates und der Kirche zugestanden? — Zu welchen Techniken der Sprachpraxis und des Bildungserwerbs werden die Schüler in den Grundschulen befähigt? — Welche sprachlichen und sprachpolitischen Konflikte brechen mit der seit der Französischen Revolution praktizierten Bildungspolitik im Verlaufe des 19. Jahrhunderts auf? Gegenstand der Analyse sind die Texte der Bildungsreformen von 1833, 1850 und 1882 und die Diskurse verschiedener politischer Subjekte in den gesellschaftlichen Umbruchphasen nach der Julirevolution von 1830 bzw. unter der Julimonarchie (1830—1848), nach der Februarrevolution von 1848 bzw. in der 2. Republik (1848 — 1851) sowie schließlich in den ersten Jahren der 3. Republik, insbesondere in den Jahren 1878 bis 1886. Herauszufinden ist, wie sich die sprachlichen Verhältnisse im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Wandel der Gesellschaftsstruktur entwickeln und in welchem M a ß e sich diese Veränderungen außer in der sozialen Verbreitung der Schriftkultur auch in der Sprachpraxis und der Praxis des Spracherwerbs niederschlagen.
4.1.2.
Die Volksschule unter der Julimonarchie ( 1 8 3 0 - 1 8 4 8 ) : Aufbruch einer Institution
4.1.2.1. Die Julimonarchie Die Julirevolution im Jahre 1830 beendete die Herrschaft der Bourbonen-Dynastie, die von 1589 bis 1793 und zuletzt in der Restaurationszeit von 1814 bis 1830 an der M a c h t war. „Von nun an werden die Bankiers herrschen", prophezeite der liberale Bankier Laffitte, als er nach dem Sieg der Revolution den Herzog von Orleans und späteren Monarchen zum Pariser Rathaus begleitete. Als König Louis-Philippe steht dieser bis 1848 an der Spitze der Julimonarchie, einer konstitutionellen Monarchie, in der die Finanzaristokratie ihr Herrschaftsge-
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schäft verrichtete. „Bankiers, Börsenkönige, Eisenbahnkönige, Besitzer von Kohlen- und Erzbergwerken und Waldungen, ein Teil des mit ihnen ralliierten Grundeigentums — die sogenannte Finanzaristokratie" (K.MARX, in: M E W Bd 7., S. 12), also nicht die französische Bourgeoisie als ganze, sondern nur eine ihrer Fraktionen, diktierte in den Kammern die Gesetze, vergab Staatsstellen und verfügte über die öffentlichen Gewalten. In Opposition zu ihr befanden sich die industrielle Bourgeoisie, die kleine Bourgeoisie in all ihren Abstufungen, Intellektuelle, die Bauernklasse und die Arbeiter, die vollständig von der politischen Macht ausgeschlossen waren. Innerhalb der Bourgeoisie rivalisierten zwei dynastisch-monarchische Richtungen. Aus der Restaurationszeit herüber kamen die Legitimisten, die Anhänger des älteren legitimen Zweiges der Bourbonen-Dynastie. Sie vertraten die Interessen des erblichen Grundbesitzes. Während der Julimonarchie herrschten indessen die Orleanisten, die Anhänger der Dynastie Orleans, einer Nebenlinie der Bourbonen. Sie vertraten die Interessen der Finanzaristokratie und der industriellen Großbourgeoisie. Während der 2. Republik (1848 — 1851) bilden die beiden monarchistischen Fraktionen den Kern der vereinigten konservativen „Partei der Ordnung". Als ihr Widerpart gruppierten sich um die Zeitung „Le National" die Bourgeoisrepublikaner, die sich vor allem in den vierziger Jahren aus der Industriebourgeoisie und liberalen Intellektuellen rekrutierten. Unter der Julimonarchie erhält die französische Wirtschaft beträchtlichen Aufschwung. Das öffentliche Leben gewinnt an Dynamik, das intellektuelle und künstlerische Leben an Vielfalt. Im Pressewesen ermöglichen Neuerungen die Herstellung von großen Auflagen bei gleichzeitiger Senkung des Einzelpreises einer Zeitung auf die Hälfte. Bis dahin kostete ein Abonnement so viel wie ein gut bezahlter Pariser Arbeiter oder ein Schulmeister auf dem Lande monatlich verdiente (vgl. R. BALIBAR 1985, 278). Von 1836 bis 1847 steigt die tägliche Auflage der Pariser Tageszeitungen von 80000 auf 180000 Exemplare (ebd.). „La Presse", eine der preisgünstigen Zeitungen, führt 1836 „le roman coupe en tranches", den Fortsetzungsroman, ein. Balzacs Roman „La vieille fille" ist der erste, der auf diese Weise gedruckt wird. „Le Capitaine Paul", ebenfalls von Balzac, wird 1838 ein großer Erfolg für die Zeitungsverleger. Auch A. Dumas Erfolgsromane „Die drei Musketiere" und „Der Graf von Monte Christo" entstehen in dieser Zeit und erscheinen 1844 als Fortsetzungsromane im „Siecle". Mitte der vierziger Jahre bringen George Sand und Honore Balzac das Bild des Bauern und Landarbeiters in die französische Literatur ein: 1844 erscheint „Les paysans" von Balzac und 1846 „La mare au diable"
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von G. Sand. In beiden Romanen wird mit dem Kursivsatz eine Drucktechnik praktiziert, die auf das Problem von Nationalsprache und Varietäten aufmerksam macht. Kursiv wird die Personensprache, hier vor allem die der Bauern, gesetzt, die sich damit allein schon optisch von der Nationalsprache abhebt. Die Differenz zwischen dem nationalsprachlichen Bon usage und den volkssprachlichen Varietäten dringt in das Bewußtsein der Zeitgenossen; sie wird zum künstlerischen Gestaltungsmittel. Zugleich erschüttert sie den Glauben an die Existenz nur einer sprachlichen Norm. Dialekt und Umgangssprache gehen als Elemente romantischer Sprachauffassung in die Literatur ein und wirken nachhaltig auf die Norm des Französischen. So wie sich die Literatur neue gesellschaftliche Bereiche erschließt, fängt sie zugleich das sprachliche Kolorit von sozialen Gruppen ein. Ihr Wortschatz wird literarisiert; dialektale Eigenheiten in Phonetik, Lexik und Syntax werden literaturfähig gemacht. Sie bleiben nicht länger aus der schriftsprachlichen Kultur ausgegrenzt. Der Verbreitung der Nationalsprache widmet die Julimonarchie nachdrücklich Aufmerksamkeit. Die Kenntnis der Orthographie wird gewissermaßen zu einer Staatsaffäre. 1832 nämlich fordert ein Dekret von allen Beamten des Staates die Kenntnis der Orthographie. Die republikanische Sprache könne nicht die Einheit der Nation herstellen, wenn die Grammatik und die Orthographie nicht auf einen Kode fixiert seien (vgl. R . BALIBAR 1 9 8 5 ,
264).
Eine der wenigen bedeutenden Leistungen der Julimonarchie auf sozialem und bildungspolitischem Gebiet war das Bildungsgesetz von 1833.
4.1.2.2. Das Bildungsgesetz von Guizot (1833) 1 I. In der Sitzung vom 2. Januar 1833 bringt der Minister für Bildungswesen, F. Guizot, ein Projekt in die Diskussion des Abgeordnetenhauses ein, das am 28. Juni 1833 zum Gesetz über das Grundschulwesen („Loi sur l'instruction primaire", vgl. M . G R E A R D 1891, vol. 2, 1 — 26) erhoben wird. Die Artikel 1 bis 3 formulieren Wesen und Gegenstand des Grundschulwesens. Verfügt wird die Gründung einer elementaren und einer erweiterten Grundschule. Die elementare Grundschule soll die moralische und religiöse Erziehung, Lesen, Schreiben, die Grundlagen der französischen Sprache, Rechnen und 1
Methodisch folgt die Textanalyse dem im Abschnitt 2.1.2., „Jakobinische Sprachpolitik" vorgestellten Muster.
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das System der Maße und Gewichte vermitteln. Die erweiterte Grundschule umfaßt zusätzlich Geometrie, Geographie und Naturwissenschaften im Zuschnitt auf lebenspraktische Bedürfnisse, dazu Geschichte und Geographie Frankreichs und das Singen. Laut Artikel 2 wird es den Familienvätern anheim gestellt, über die Teilnahme ihrer Kinder am Religionsunterricht zu entscheiden. Schließlich wird in Artikel 3 festgeschrieben, daß die Grundschulen privaten oder öffentlichen Charakters sind. Im weiteren werden dann die Festlegungen zu den privaten (Artikel 4 — 7) und zu den öffentlichen Grundschulen (Artikel 8 —16) getroffen. Danach soll jede Gemeinde mindestens eine öffentliche elementare Grundschule unterhalten. Für die Schüler jener Eltern, die das Schulgeld nicht aufbringen können, wird kostenloser Schulbesuch in Aussicht gestellt. Aufgeführt werden die Grundsätze für die Entlohnung der Lehrer und die Finanzierung der Schulen durch die Gemeinden und den Staat. Besonderes Gewicht wird der Kontrolle über die Einhaltung des Gesetzes zugemessen. Die Artikel 17 — 25 legen die Zusammensetzung, Aufgaben und Befugnisse der Kontrollkommissionen für die Grundschulen fest. Auch hier manifestiert sich der Wille, die Kirche aus ihrer Rolle als traditionellen Bildungspatron und als dominierende Bildungsinstitution zu verdrängen. Zwar ist der Pfarrer Mitglied der Kontrollkommission der Gemeinde und des Arrondissements, aber er ist es nur neben den Beamten des Staates und den Vertretern der Einwohnerschaft. II. Die sprachliche Inszenierung des Bildungsgesetzes von 1833 ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Die Diktion ist überwiegend einfach, geradlinig und ohne schwerfällige Konstruktionen, wie sie in juristischen Texten oft anzutreffen sind. Nur in wenigen Passagen schlagen fachsprachliche Gepflogenheiten in Lexik und Syntax durch. Artikel 6 zum Beispiel ist wie folgt abgefaßt: „Quiconque aura ouvert une Ecole primaire en contravention a l'article 5, ou sans avoir satisfait aux conditions prescrites par l'article 4 de la presente loi, sera poursuivi devant le tribunal correctionnel du lieu du delit, et condamne a une amende de cinquante a cents francs: l'Ecole sera fermee. En cas de recidive, le delinquant sera condamne a un emprisonnement de quinze ä trente j o u r s . . . " . Intertextuelle und intratextuelle Verweise, juristischer Fachwortschatz und komplizierte Satzsyntax, die in diesem Zitat anklingen, sind ansonsten nicht anzutreffen. Mit seinen 4 Teilen und insgesamt nur 25 meist knapp gefaßten Artikeln inszeniert der Text das Grundanliegen einer neuen Institution. Für Frankreich stellt die Institution eines breit angelegten Volksschulwesens ein Novum dar. Auf Erfahrungen kann sich der Gesetzgeber nicht stützen. Daher rangieren die Zweckbestimmung und die Aufgaben der staatlichen
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Behörden vor jeder Reglementierung oder Kompetenzzuweisung genauso wie vor der Formulierung von einschränkenden Klauseln oder von Sonderfällen. Wichtig ist vorerst nur, daß der Rahmen dieser Institution abgesteckt wird. Dabei sieht sich der Gesetzgeber offenbar mangels Erfahrung in Formulierungsnöten. Wie für Gesetzestexte üblich, dominieren Festlegungen und Anweisungen. In der französischen juristischen Fachsprache werden diese sprachlichen Handlungen normalerweise durch die Formen des Futur simple und Futur anterieure und gegebenenfalls im Präsens ausgedrückt. Im Artikel 1 heißt es z.B.: „L'instruction primaire elementaire comprend necessairement l'instruction morale et religieuse, la lecture, l'ecriture, les elements de la langue fran^aise et du c a l c u l . . . " . Im Artikel 2, und ebenfalls in vorausschauender Perspektive, heißt es dann: „Le voeu des peres de famille sera toujours consulte et suivi en ce qui concerne la participation de leurs enfants ä l'instruction religieuse". Geradezu untypisch für französische Gesetzestexte — der Vergleich mit den Gesetzestexten der späteren Bildungsreformen wird das bestätigen — sind Formulierungen appellativen Charakters, die mit Ermessensfragen gekoppelt sind. Ebenfalls im Artikel 1 lesen wir: „Selon les besoins et les ressources des localites, l'instruction primaire pourra recevoir les developpements qui seront juges convenables". Daß in den Text Vagheit und Appell inskribiert sind, ist ein Ausdruck des Modernisierungselans, mit dem die Bildungsreform in die Wege geleitet und für die zukünftigen Bedürfnisse der kapitalistischen Entwicklung offengehalten werden soll. Modernisierungselan bedeutet schlechthin, das kulturelle Niveau der Zeitgenossen den ökonomischen und sozialen Erfordernissen anzupassen oder, mit den Worten Guizots: „Le grand probleme des societes modernes est le gouvernement des esprits". Dazu mußten genügend gebildete Lehrer, für deren Unterhalt sich der Staat verantwortlich fühlt, ausreichend Schulen, Vorschriften für die örtlichen Behörden und vor allem Geld zur Finanzierung des Unterrichts vorhanden sein. Mehr noch: Der Modernisierungselan der Bourgeoisie mußte in die Zwänge des Gelderwerbs der Arbeiter- und Bauernfamilien eingreifen und traditionelle Geschlechterrollen aufbrechen. Bis zur Einführung des obligatorischen Schulbesuchs mit dem Gesetz von Jules Ferry (1881) bleiben der saisonweise, auf die Wintermonate beschränkte Schulbesuch auf dem Lande, der weit geringere Prozentsatz von Mädchen gegenüber Jungen, die starke regionale Differenzierung im Schulwesen sowie der Zwang zur Kinderarbeit in den Industriezentren die gravierenden sozialen Probleme der französischen Volksschule. 1833 überschaut der Gesetzgeber auch noch nicht die Unwägbarkeiten seines Vorhabens. Er mahnt die Ge-
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meinden, gleich welcher Größe, in die Modernisierung einzustimmen; er verpflichtet sie jedoch nicht dazu: „Art. 9 — Toute commune est tenue, soit par eile meme, soit en se reunissant a une ou plusieurs communes voisines, d'entretenir au moins une Ecole primaire elementaire". Schon in der für die Restaurationszeit bedeutsamen Verordnung über die öffentliche Bildung vom 29. Februar 1816 wird in derselben auffordernden Diktion: jede Gemeinde „est tenue" — ist angehalten — eine Schule zu gründen, die staatliche Initiative in die Verwaltungskompetenz der Gemeinden verschoben und so dem Willen oder Unvermögen der örtlichen Autoritäten ausgeliefert. Unter der Restauration bedeutete diese Formulierung, daß nur geringe staatliche Gelder für die Grundschulen aufgebracht wurden. Bis 1828 waren es jährlich lediglich 5 0 0 0 0 Francs. Guizot hingegen kündigt 1833 jährlich 1 Million Francs an. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht ahnen, daß die permanente Finanznot der Julimonarchie nicht nur seine ehrgeizigen Pläne einschränken, sondern sogar eine wesentliche Ursache ihres Untergangs werden wird. Es spricht einiges dafür, daß die an sich usuelle Praxis des Gebrauchs von Futurformen in juristischen Texten gerade 1833 von besonderer Bedeutung ist. Sie konnotiert den Gründungselan genauso wie die Einsicht, daß der Fortschritt der bürgerlichen Ordnung nicht mit einem Volk von Analphabeten zu erreichen ist. Bezeichnenderweise „verstößt" nämlich der Gesetzestext von 1850 (in: H . D E B E A U C H A M P 1882, vol. 2, 85 —106) gegen diese Regel des Futurgebrauchs. Fast durchgängig stehen die Verbformen im Präsens, gerinnt die vorausschauende Logik des Gesetzgebers, der mittlerweile dazu übergegangen ist, den bürokratischen Apparat zu mobilisieren und den inneren Verkehr dieser Institution zu regeln, in grammatischen Konstruktionen aus Hilfsverb im Präsens und Partizip, Modalverb und Infinitiv bzw. nur in schlichten Indikativformen des Präsens: Art. 24: „L'enseignement primaire est donne gratuitement a tous les enfants dont les families sont hors d'etat de le payer"; Art. 27: „Tout instituteur ... doit prealablement declarer son i n t e n t i o n . . . " ; Art. 21: „L'inspection des Ecoles publiques s'excerce conformement aux reglements deliberes par le Conseil superieure". Guizots sprachliche Inszenierung des Gesetzestextes von 1833 ist noch unter einem weiteren Aspekt aufschlußreich. Analysiert man, welche Personen und Körperschaften in den Text inskribiert und mit dem Text angesprochen werden, so zeigt sich einerseits ein relativ dichtes Netz von Verwaltungsbehörden und administrativer Verant-
wortlichkeit: le maire, le sous-prefet, le dSpartement,
le ministre
le conseil general, la
de Γ instruction
publique
commune,
usw. Ihre Pflichten
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sind gegenüber dem Ministerium wie gegenüber den örtlich einzurichtenden Schulen klar formuliert. Andererseits werden, gewissermaßen am unteren Ende der staatlichen Verwaltungshierarchie, die Lehrer genannt, die — auch das ist ein Novum — jetzt als Staatsbeamte einen Schwur auf die Monarchie zu leisten haben: „Je jure fidelite au Roi des Fran^ais, obeissance a la charte constitutionelle et aux lois du Royaume" (zitiert nach: M . GREARD 1 8 9 1 , vol. 2 , 18, Fußnote 1). Ihnen schreibt das Gesetz eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung des Grundschulgesetzes vor. Eher beiläufig erwähnt das Gesetz dagegen die Schüler und die Familien, die per Dekret von den Bildungsanstrengungen des Guizot-Ministeriums betroffen sind. Nicht definiert wird, Kinder welchen Alters und Geschlechts als Schüler zu verstehen sind, auch nicht, wie verbindlich der Besuch der Grundschule ist und über welche Zeit er sich erstreckt. So ist lediglich in den Artikeln 12 und 14 ganz unspezifiziert von les eleves die Rede. In den Artikeln 14 und 21 wird noch von jenen Kindern gesprochen, deren Eltern außerstande sind, die Schulgebühren zu bezahlen und denen deshalb kostenloser Schulbesuch zu gewähren sei. Es sind dies Anhaltspunkte dafür, daß in den Text in erster Linie der Wille eingearbeitet ist, eine Institution zu schaffen, die landesweit elementare Bildung mit Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und der französischen Sprache vermittelt. Bildungsminister Guizot hatte sich 1833 in einer Enquete von 490 Inspektoren von den enormen Lücken im Grundschulwesen überzeugt. 1832 waren mehr als 10400 von insgesamt etwa 30000 Gemeinden gänzlich ohne eine Schule. In den Städten und größeren Gemeinden mit einer Schule war diese aber fast ausschließlich den bourgeoisen Kreisen vorbehalten. 1837 wird sich die Zahl der Gemeinden ohne eine Schule auf 5600 verringern, 1847 weiter auf ca. 3200 und 1863 auf 818 (vgl. Statistique de l'enseignement primaire, 1 8 8 0 , vol 2, LVII; A. PROST 1 9 6 8 , 9 7 ) . Die elementare Volksschulbildung lag bis 1830 zu einem beträchtlichen Teil in den Händen der katholischen Brüdergemeinden, wurde von den freres des ecoles chretiennes in konfessionellen Bildungsanstalten 2 gewährt. 2
P. ZIND (1969, vol. 1, 78 ff.) legt dar, daß die „Bildungs-Brüdergemeinden" - „les congregations des freres enseignants" - , die im 18. Jahrhundert wesentlichen Anteil an der Volksbildung hatten, nach der Revolution stark zerrüttet waren. Noch am aktivsten waren „Les freres de M. de la Salle", von denen 1803 30 Geistliche in 9 Schulen ca. 1600 Schüler 1805 60 Geistliche in 15 Schulen ca. 3 0 0 0 Schüler 1810 160 Geistliche in 43 Schulen ca. 8400 Schüler 1815 310 Geistliche in 89 Schulen ca. 18200 Schüler ausbildeten. Zwischen 1816 und 1825 entstehen in ganz Frankreich Brüdergemein-
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III. Aus der sprachlichen Inszenierung des Gesetzestextes ist nicht ohne weiteres ihr unter der „Oberfläche" verborgener Sinn zu entschlüsseln. Wird dieser Text im Zusammenhang mit der Begründung des Gesetzesprojekts durch Guizot vom 23. Juni 1833, mit den Begleitschreiben Guizots an die Präfekten und an die Lehrer vom 4. Juli 1833 (in: M . GREARD 1891, vol. 2, 1 9 - 2 6 ) und vor allem mit dem Erlaß des Königlichen Rates für öffentliche Bildung vom 25. April 1834 (in: ebd., 123 ff.) gelesen, so gewinnt die Sinnzuschreibung in sprachpolitischer Perspektive in zweifacher Hinsicht an Konturen: a) in der Akzentuierung moralischer und religiöser Erziehung und ihren Konsequenzen für die sprachlichen Verhältnisse in der Institution Volksschule b) als Reflex des Modernisierungselans der Bourgeoisie im Erwerb bzw. der partiellen Verweigerung lebenspraktischer Fähigkeiten des Volkes einschließlich der Erwerbstechniken für das Französische. Vordergründig drückt sich der bourgeoise Modernisierungselan in der Organisation einer Bildungsinstitution aus, die ihre sprachpolitische Bedeutung ganz allgemein in der Verminderung des Analphabetentums haben wird. Im weiteren wird darauf noch detaillierter einzugehen sein. Als Fortsetzung der Uniformitätsbestrebungen der Französischen Revolution schreibt das Gesetz auch für jene Gebiete Frankreichs die Lehre des Französischen vor, in denen es nicht die Muttersprache der Bewohner ist. Doch noch ist das Sprachbewußtsein in Frankreich nicht soweit ausgeprägt, daß schon das Potential für die späteren Sprachkonflikte zu erahnen wäre. Die bürgerlichen Revolutionäre zu Ende des 18. Jahrhunderts hatten die intellektuellen Vorleistungen für die Bildungs- und Sprachpolitik der modernen Gesellschaft erbracht, die Weichen künftiger Sprachpolitik gestellt und punktuell in die sprachlichen Verhältnisse eingegriffen. Die Finanz- und Industriebourgeoisie unter der Julimonarchie orientiert sich dagegen weit ausgeprägter an ihren ökonomischen und politischen Interessen als an den bürgerlich-unitären Idealen der Französischen Revolution. So scheint Industrie 1833 ein durchweg positiv konnotierter Schlüsselbegriff zu sein, den Guizot metonymisch selbst
den, wie ζ. B. Les freres de la doctrine chretienne de Strasbourg, Les congregations de Lyon, Les freres de Saint-Joseph de la Somme, Les freres de I'instruction chretienne im Westen Frankreichs, deren Unterricht für die Armen kostenlos war. Zwischen 1824 und 1850 werden keine neuen Kongregationen gegründet. Zu ihren konfessionell geprägten Schulen hatten, wenn auch beschränkt, Bauern- und Arbeiterkinder Zugang.
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für die schulische Erziehung verwenden kann: „la Profession d'instituteur de la jeunesse est, sous un certain rapport, une Industrie et a ce titre doit etre pleinement libre" (in: M . GREARD 1891, vol. 2, 5). Wie schon zuvor, gilt auch 1833 die Sprache als ein Instrument nationalstaatlicher Einheit, doch kündet sich schon in den ersten Jahren nach der Julirevolution ein qualitativ neuer Bezugsrahmen für die Sprachdiskussion der Bourgeoisie an. Lesen, Schreiben und die französische Sprache, Rechnen, Geographie und Geschichte sind wesentliche Teile des herrschaftssichernden Konzepts „moralischer und religiöser Erziehung" des Volkes. Artikel 1 des Gesetzes schreibt diese Beziehung für die politische Praxis fest. Bildung wird durch die Julimonarchie im Sinne kapitalistischer Reproduktion und für die Machtverhältnisse in der konstitutionellen Monarchie instrumentalisiert. „developper l'intelligence, propager les lumieres, c'est assurer l'empire et la monarchie constitutionelle" — erklärt Guizot den Lehrern des Landes im Rundschreiben vom 4. Juli 1833 (ebd., 22). Höchstes Ziel der Bildung sei es, auf dem Wege der Vernunft gesellschaftliche Stabilität zu erreichen. Für den Geschichtsprofessor und Bildungsminister Guizot ist Vernunft — „la raison" — als Topos der Aufklärung und der Revolution selbst 1833 noch als Prinzip staatlicher Moral geeignet. Die Volksmassen sollen „la voix de la raison" und die „raisonnablen" Prinzipien begreifen, die die Basis der konstitutionellen Monarchie seien (vgl. ebd.). Seine Argumentation ist indes nicht unumstritten. Den Konservativen ist sie verdächtig liberal, gar antiklerikal. Mit Artikel 2 des Bildungsgesetzes hatte Guizot bereits die Verbindung von Unterricht und religiöser Erziehung zur Disposition gestellt („Le voeu des Peres de famille sera toujours consulte et suivi en ce qui concerne la participation de leurs enfants ä l'instruction religieuse"), und in seiner Begründung des Gesetzes hatte er die ausschließliche Erziehung des Volkes durch den Klerus strikt abgelehnt. Kaum 9 Monate später schlägt dann der Königliche Rat für öffentliche Bildung einen gänzlich anderen Ton an. In seinem Erlaß über den Status, die Lehrinhalte und organisatorischen Rahmenbedingungen der elementaren Grundschule schreibt er nun der religiösen Erziehung der Volksschüler den zentralen Platz im Unterricht zu. Er favorisiert religiöse Frömmelei, macht sie zum A(lpha) und O(mega) der Grundschule. Zugleich unterschlägt er Artikel 2 des Bildungsgesetzes, wonach dem Vater die Entscheidung über die Teilnahme am Religionsunterricht obliegt. Gemäß diesem Erlaß besteht die elementare Grundschule aus drei Klassenstufen: „Toute ecole elementaire sera partagee en trois divisions principales" (Art. 3). Für alle drei gelte, jede Unterrichtsstunde
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mit einem Gebet zu beginnen und zu beenden. Täglich müßten Stellen aus der Heiligen Schrift erlernt, samstags das Evangelium für den folgenden Sonntag rezitiert und an Sonn- und Feiertagen die Gottesdienste besucht werden. Lesetexte und Schreibübungen, die Vorträge und die Erläuterungen des Lehrers müßten ganz der Aufgabe verpflichtet sein, die Seele der Schüler mit Gefühlen und Prinzipien zur Bewahrung der guten Sitten zu erfüllen und ihnen Gottesfurcht und die Liebe Gottes anzuerziehen (vgl. Art. 4). Daneben werden den einzelnen Klassenstufen besondere Aufgaben erteilt. Die sechs- bis achtjährigen Schüler der ersten Division müßten neben dem lauten Lesen von religiösen Texten besonders das Aufsagen von Gebeten üben (Art. 5). Die Acht- bis Zehnjährigen der zweiten Division müßten in das Alte und Neue Testament eingeführt werden. Übungen im Lesen, Schreiben und Rechnen sollen weitergeführt und mit dem schriftlichen Rechnen und der französischen Grammatik begonnen werden (vgl. Art. 6). Schließlich die Schüler der dritten Klassenstufe: Sie sollen in die christliche Lehre eindringen und setzen die Übungen im Lesen, Schreiben, Rechnen und der französischen Sprache fort. Außerdem erhalten sie Kenntnisse in Geographie und allgemeiner Geschichte, in Geschichte und Geographie Frankreichs, im Singen und Zeichnen (vgl. Art. 7). Die Ausrichtung der staatlichen Grundschule auf die religiöse und moralische Erziehung der Schüler und die Unterordnung des Kenntnisund Fähigkeitserwerbs unter die christliche Doktrin haben weitreichende sprachpolitische Konsequenzen. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Julimonarchie über die Vermittlung sprachlicher Fähigkeiten Herrschaftssicherung betreibt. Augenfällig ist zum einen die unvergleichlich höhere Bewertung des Lesens als vorwiegend rezeptiver sozialer Technik gegenüber dem Schreiben, das die Möglichkeit zu erweiterter sozialer Aktivität bietet. 3 Für die dritte Klassenstufe wird als ein Bestandteil des Französischunterrichts die composition, d. h das Schreiben von Aufsätzen, erwähnt, nicht aber das Abfassen alltagspraktischer Texte wie Briefe, Anträge, Gesuche, Klageschriften usw., die für ein ausgesprochen zentralistisch regiertes Land von großer Wichtigkeit wären. Gewissermaßen analog zur ungleichen Verteilung sprachlicher Grundtätigkeiten und -fähigkeiten stehen zweitens die sprachlichen und mnemotechnischen Handlungen, die die Schüler im Unterricht praktizierten: Rezitieren, lautes Nachsprechen, Vortragen 3
Damit steht der französische Volksschulunterricht des 19. Jahrhunderts in der Tradition früherer elementarer Schulbildung, die immer die Lektürebefähigung favorisiert hat. Vgl. dazu U. MAAS 1985, 1986.
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oder Vorlesen, Auswendiglernen von Bibelstellen und deren Repetition. Auch hierbei liegt der Akzent auf Fähigkeiten zur einfachen sprachlichen Reproduktion. Die sprachliche Beherrschung unterschiedlicher sprachlicher Situationen wurde im Lehrprogramm nicht berücksichtigt. Und drittens sind die sprachlichen Fähigkeiten überwiegend an religiöse Erziehungs- und Bildungsinhalte geknüpft, die die Volksschüler auf einen Kirchturmhorizont und auf Untertanengeist festlegen. Dafür hat Guizot eine politische Begründung zur Hand. Mehr oder andere Bildung wäre nicht nur kostspielig, sondern vor allem eine Gefahr für den Machtapparat: „il faut mettre une partie si considerable de nos compatriotes en etat d'arriver a un certain developpement intellectuel, sans leur imposer la necessite de recourir a l'instruction secondaire, si chere, et je ne crains pas de le dire, car je parle devant des hommes d'Etat qui comprendront ma pensee, si chere ä la fois et si perilleuse" (in: M . GREARD 1891, vol. 2, 4).
4.1.2.3. Lesen und Schreiben. Latein und Französisch in der Volksschule Hat das Gesetz von Guizot (1833) die Rahmenbedingungen für die französische staatliche Volksschule vorgezeichnet, so regelt der Erlaß des Königlichen Rates für Volksbildung vom April 1834 in groben Zügen die Interna des Schulbetriebs: Die Klassenstufen, die Bildungsund Erziehungsziele, die Fächer und ihre Verteilung auf die Klassenstufen, die Ausstattung der Schulen mit Unterrichtsmitteln und Lehrmaterialien, den Ablauf des Unterrichts u. a. m. Als die Hauptaufgabe der Schule ist die Erziehung guter Christen festgeschrieben; „moralische und religiöse Erziehung" ist dabei sowohl erstes und eigenständiges Unterrichtsfach in allen drei Klassenstufen wie auch Bestandteil der sonstigen Fächer. Gemäß Artikel 8 werden die Verteilung und die Inhalte der anderen Fächer festgelegt, darunter auch für Lesen, Schreiben und französische Sprache. Das Lesen und das Schreiben in den einzelnen Klassenstufen ist nicht mit differenzierten Zielstellungen verbunden. Es heißt lediglich, daß das Fach Lesen nacheinander „l'alphabet et le syllabaire, la lecture courante, la lecture des manuscrits et du latin" (vgl. in: M . GREARD 1891, vol. 2, 123) umfassen soll. Zum Schreiben heißt es: Diese Übung findet nacheinander auf Schiefer, an der Tafel und auf Papier in den drei Schriftarten statt. Und zum Französischen vermerkt der Erlaß, daß in der 1. Klassenstufe Übungen zur korrekten Aussprache und des Gedächtnisses, in der 2. Klassenstufe Übungen zur französischen Gram-
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matik und Orthographie und in der 3. Klassenstufe Kenntnisse der syntaktischen Regeln, die anhand von grammatischen und logischen Analysen und in Aufsätzen geübt werden sollen, vorzusehen sind (vgl. ebd.). Aus diesen Bestimmungen ist zu entnehmen, daß das Schreiben in erster Linie als Entwicklung einer schriftbezogenen Feinmotorik konzipiert war, um beispielsweise seinen Namenszug auf verschiedene Schriftträger setzen zu können. Sie ist die natürliche Voraussetzung dafür, um Schrift, in Schriftarten konventionalisiert, reproduzieren zu können und das Fixieren von Sprache zu ermöglichen. So gesehen führt der Schreibunterricht zunächst nur zu Abschreibefähigkeiten, zum Kopieren von Texten, nicht aber zur orthographischen Fixierung von Rede, von Lautfolgen, wofür die Fähigkeit zur grammatischen Gliederung nach Wörtern erforderlich ist. Der Unterricht im Lesen hat seinen Sinn in der Entwicklung von Fähigkeiten zum Erlesen von Texten. Texte erlesen zu können, verlangt Kenntnisse der Buchstaben, d. h. der graphischen Repräsentation von Lauten, Kenntnisse über die wechselseitige Zuordnung von Graphie und Lautung genauso wie Kenntnisse über die Techniken zum Erlesen von Silben und Wörtern (hier natürlich bezogen auf Buchstabenschriften). Die französische Volksschule stellte sich dieser Aufgabe und fand sich damit unweigerlich in einer Diskussionstradition über Alphabetisierungsprobleme wieder, die bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts geführt wurde, nun aber um andersartige sprachpolitische Akzente angereichert war. Sie resultieren im wesentlichen 1) aus den Schwierigkeiten bei der Umsetzung des französischen Lautsystems in eine Orthographie bzw. der Graphie in eine Orthoepie, 2) aus der regionalen (dialektalen) Variation des Französischen und ihren Folgen für den Erwerb von Orthographie und Orthoepie, 3) aus der Vermittlung des Französischen auch in nicht-frankophonen Gebieten und 4) aus der gesellschaftlichen Funktion der neuen Bildungsinstitution. Daß die Schüler der elementaren Grundschule lecture du latin zu betreiben hatten, daß sie auch noch lange nach 1834 das Lesen an lateinischen Texten übten und ihre syllabaires, d. h. die Silbentafeln, auf dem Lateinischen basierten, läßt den Eindruck entstehen, als habe das Latein die Rolle einer „Alphabetisierungssprache" innegehabt. D. h., daß anhand des Lateins, genauer, anhand lateinischer Buchstaben, Silben und Wörter das Buchstabieren, Silbenbilden und Erlesen von Wörtern erlernt und damit die Technik für das Lesen französischer Texte erworben wurde. Das Latein selbst war indessen nicht Ziel der Bildungsanstrengungen; es sollte nicht Kommunikationsmittel sein, wenngleich die Schüler mit
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lateinischen Texten umzugehen hatten, diese in der Liturgie rezitieren und zu rituellen Zeremonien zu gebrauchen lernten. Zu einem Umweg werden die Übungen an lateinischen Texten erst, als neue Wege der Pädagogik einen Ausweg aus der seit Rousseau bemängelten Praxis des Schriftsprachenerwerbs versprachen. Im Widerstreit von „alten Methoden" und „neuen Methoden" wird dieses Problem die Muttersprachenpädagogik lange beschäftigen. Der Kern dieses Problems ist der folgende: Die neuen Methoden des Erwerbs von Lesefähigkeiten unterscheiden sich von den alten durch die Anwendung des „phonischen/phonographischen Prinzips", das vor allem in der deutschen Schulpädagogik von Ende des 17. Jahrhunderts/ Anfang des 18. Jahrhunderts an mit Erfolg praktiziert wurde. Die neuen Methoden sehen vor, die Buchstaben, wenn sie einzeln genannt werden, lautlich soweit wie möglich der Lautung in Lautkombinationen anzunähern. Statt der bisherigen alten Buchstabierweise be, de, e f f e , emme, enne, erre usw. soll be, de, fe, re buchstabiert werden. Desweiteren sollen auch Kombinationen aus mehreren Buchstaben als einfache Laute ausgesprochen werden, wie ph, ch, gn usw. für die konsonantischen Kombinationen, an, in, on, un, ou usw. für die Vokale. Der Übergang von be zu be, tS zu te, d. h. von der alten zur neuen Methode des Buchstabierens ist scheinbar nur ein kleiner, aber es dauerte immerhin über 100 Jahre, bis er als Möglichkeit zur Optimierung des Lesenlernens/-lehrens erkannt war. Und es dauerte weit mehr als 100 Jahre, bis er sich in Frankreich allgemein durchgesetzt hatte. Μ . I. Carre erwähnt 1889, daß die alte Methode im Westen Frankreichs, insbesondere in den kongregationistischen Knabenschulen, noch immer bevorzugt wird (vgl. S. 6). Wohl als erster in Frankreich behandelte Ch. Demia um die Mitte des 17. Jahrhunderts dieses Problem. In den „Reglemens pour les ecoles de la ville et diocese de Lyon" rediges par Ch. Demia, Lyon, o. J . , widmet er das 2. Kapitel der Methode, wie das Lesen zu lehren sei. Begonnen wurde mit lateinischen Vokalen und Konsonanten wie e, i, o, d, m, n, die nach diversen Ausspracheübungen und bei Zuordnung zum Schriftbild zu Silben wie do, mi, ne zusammengezogen wurden und schließlich ein Wort wie domine ergaben. Erst nachdem die Schüler das Prinzip der Silben- und Wortbildung, das Buchstabieren und das Lesen erlernt hatten, wurden sie mit den Problemen der Zuordnung von Graphie und Aussprache französischer Laute, Silben und Wörter vertraut gemacht (vgl. J . GUILLAUME, 1882, 1534f.). Ähnlich den Vorstellungen Demias in Lyon wirkt fast zeitgleich die Ecole paroissiale in Paris. Von ihr erschien ein Lehrbuch mit dem Titel „Ecole paroissiale" par I. D. B., pretre, in dem für das
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Erlernen des Lesens folgende Abfolge vorgeschlagen wurde: „...il faut: 1. enseigner aux petits enfants a connoitre les lettres; 2. a les assembler, pour en faire des syllabes; 3. a epeler les syllabes, pour en faire des periodes latines: puis a bien lire en fran^ois" (zitiert nach J . G U I L L A U M E 1882,1536). Und als Begründung dieses Vorgehens heißt es an anderer Stelle: „la lecture fran$oise est bien plus difficile a prononcer que la latine" (ebd.) Die Grammatiker von Port-Royal illustrieren die besagte Schwierigkeit beim Erlernen des Lesens des Französischen an einem Beispiel: Wird einem Kind das französische Wort bon buchstabiert, das aus den drei Buchstaben b, ο, η besteht, dann spricht man das b als „be", das ο als den Vokal „o" und das η als „enne" aus. Wie soll nun, so Port-Royal, das Kind begreifen, daß diese Laute, zu einer Einheit zusammengezogen, das Wort „bon" ergeben sollen? Neben Py-Poulain Delaunay ist J.-B. de la Salle einer der großen Reformatoren des Sprachunterrichts. Für ihn ist das Lesen des Lateinischen im Gegensatz zu den Methoden in den konfessionellen Schulen ganz dem Erlernen des Französischen untergeordnet und kaum mehr als Beiwerk. Bei ihm finden wir auch das Wort syllabaire. Dabei handelt es sich um ein Lehrbuch, in dem alle Arten von französischen Silben aufgelistet sind: „un livre rempli de toutes sortes des syllabes fran£aises a 2, 3, 4, 5, 6, 7 lettres et de quelques mots pour faciliter la prononciation des syllabes" (ebd., 1537). Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein erweisen sich diese Lehrtafeln als praktisches Unterrichtsmittel. Für das 18. Jahrhundert verzeichnet J . Guillaume eine Vielzahl von Leselehrbüchern, die in ihrer Mehrzahl auf dem synthetischen oder syllabischen Prinzip — von Buchstaben über Silben zum Wort — basieren. Einige ihrer Autoren plädieren auch dafür, Lesen und Schreiben gleichzeitig zu vermitteln, nach der sogenannten ecriture-lecture-Methode. Delaunay ist einer ihrer Verfechter. Während und nach der Französischen Revolution häufen sich systematische Versuche, die ecriture-lecture-Methode auszuarbeiten und zu praktizieren (vgl. S. VECCHIO 1986). Daneben geschieht etwas anderes, das davon zeugt, daß sich das Problem der Methoden im Sprachunterricht — zunächst fern von einer sprachpolitischen Reflexion — tatsächlich zu einem von sprachpolitischer Bedeutung entwickelt. Es wird die Notwendigkeit artikuliert, in den Volksschulen und für die Volksschulen einen regelmäßigen und methodisch durchdachten Leseunterricht einzuführen. Jahre zuvor hatte bereits J . J . Rousseau in seiner Kritik der Methoden zum Lesenlernen diese Notwendigkeit konstatiert. Alle bisherigen Methoden des Leseerwerbs wären für Eltern bestimmt gewesen, die ihren Kindern Leseunterricht
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erteilen (lassen) konnten. Versäumt wurde, so Rousseau, „l'enseignement routinier" — den gewöhnlichen Unterricht — der Schulen zu verbessern und zu reformieren. Versuche, die Methoden zum Erwerb von Lesefähigkeiten auch im öffentlichen Schulwesen zu erproben, wären eher die Ausnahme und hätten ihre praktische Untauglichkeit ans Licht gebracht (vgl. J . Guillaume 1882, 1541). In der Revolution lebt Rousseaus Kritik wieder auf. Von Franfois de Neufchateau, zeitweiliger Innenminister im Direktorium, wird sie im Vorwort seines Buches „Methodes pratiques de lecture" aus dem Jahre VII aufgenommen und mit neuen Akzenten weitergeführt. Seine These, für das Volk brauche man andere Methoden als für die Reichen, ist weniger intellektuell begründet als vielmehr von den praktischen Erfordernissen in der Grundschule und des Unterrichts von vielen Schülern gleichzeitig diktiert. „Les methodes decrites [...] ne sont guere applicables qu'aux educations privees. Leurs auteurs n'avaient en vue que les enfants des grands, et n'avaient pas songe au peuple [...] Les methodes faciles pour enseigner ä lire aux nobles et aux riches ne pouvaient pas remplir le but que je me proposals de mettre un simple instituteur a portee de montrer les elements de la lecture a beaucoup d'enfants des deux sexes, d'une maniere non coüteuse et qui put convenir aux campagnes comme aux cites" (zitiert nach J. G U I L L A U M E , ebd., 1543). Fran£ois de Neufchäteaus Leistung besteht im Entwurf einer Methode, nach der der Lehrer zunächst die Aussprache und die Graphie der Zeichen für Vokale, Konsonanten, Nasale und Silben unterrichten, dann das Buchstabieren und schließlich auch die unregelmäßige Aussprache von Lautkombinationen inklusive die stummen Konsonanten behandeln konnte. Seine Methode des Lesenlernens von Buchstabenkombinationen, von Wörtern und von Texten stellte einen beträchtlichen Fortschritt für den Grundschulunterricht dar. Zwar konnte dieses Reformprojekt nach dem Staatsstreich Napoleons vom 18. Brumaire in die Grundschulen zunächst nicht eingeführt werden. Geltung erlangt es jedoch als ideelle Vorleistung für die Bildungsanstrengungen in den 30er und 40er Jahren, als der politische Wille zur Förderung der Volksschule ihre institutionellen Voraussetzungen schuf. Als die Bildungsreform unter der Julimonarchie eingeleitet wurde, bestanden de facto die methodischen Voraussetzungen, um nicht über den Umweg des Lateins das Lesen französischer Texte zu lehren. Insofern befindet sich die Verordnung des Königlichen Rates für öffentliche Bildung vom 25. 4. 1834, die noch Leseübungen an lateinischen Texten vorschreibt, nicht auf der Höhe der Zeit. Der Anfang einer Didaktik des Schreibens geht vor allem auf Charles-Fran$ois Lhomond zurück, dessen „Elemens de la grammaire
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fran^oise" (1780) das bedeutendste Schulbuch für den Anfangsunterricht in Orthographie und Grammatik bis über Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus ist. Die Bibliotheque Nationale de Paris besitzt 760 verschiedene Ausgaben dieser Grammatik, was den Erfolg und die Nachwirkung dieses kleinen, einfachen und klaren Buches von nur 8 9 Seiten einigermaßen deutlich werden läßt (vgl. A. CHERVEL 1 9 7 7 , 63). Llomonds Absicht war es, die wesentlichen grammatischen Regeln darzustellen, deren Kenntnis erforderlich ist, um den größten Teil der orthographischen Schwierigkeiten des Französischen beherrschen zu lernen. Er gliedert sein Buch in 10 Kapitel, je eines für eine Wortart bzw. für einen Teil der Rede: Nomen, Artikel, Adjektiv, Pronomen, Verb, Partizip, Präposition, Adverb, Konjunktion und Interjektion. Sein Hauptaugenmerk liegt auf knappen Erläuterungen zu jedem Redeteil sowie auf Übungen, aus welchen die paradigmatischen — ζ. B. die Konjugationen der Verben einschließlich der schwierigen Fälle — und syntagmatischen Zusammenhänge der Orthographie, wie ζ. B. die Wortgrenzen und Konkordanzen bei Pluralformen in einem Syntagma, ermittelt werden können. Mit dem Aufbau der Volksschule wächst die Produktion von Grammatiken rasch an. A. Chervel nennt für das Jahr 1840 25 Lehrwerke zur Orthographie und Grammatik des Französischen sowie weitere 12, die überwiegend für die Hand des Lehrers bestimmt waren: Übungsbücher, Kommentare, Handbücher etc. (vgl. ebd. 289f.). Darunter befindet sich auch die Grammatik von Noel und Chapsal aus dem Jahre 1823, die in den folgenden 70 Jahren mehr als 80 Auflagen haben und damit das einflußreichste — wenngleich nicht unumstrittene — Schulbuch der französischen Grammatik und Orthographie im 19. Jahrhundert sein wird. Die „Nouvelle grammaire fran^aise" von Francois-Joseph Noel (1755 —1841) und Charles-Pierre Chapsal (1788 — 1858) verdankt ihre große Verbreitung dem Umstand, daß sie sehr genau den Bedürfnissen der Grundschule entsprach. Sie ist mit ihren 200 Seiten umfangreicher konzipiert als Lhomonds Grammatik. Sie orientiert sich wesentlich an Grammatikkonzepten der „Ideologen", jener einflußreichen sprachphilosophischen Strömung vom Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, auf die viele neue Erkenntnisse in der Grammatikschreibung zurückgehen. In wichtigen syntaktischen und morphologischen Fragen wie etwa den Beziehungen von Subjekt und Verb, von Subjekt und Attribut, der Interpunktion und der Satzbildung bietet sie präziser formulierte Regeln als die Grammatik von Lhomond oder die von Larive und Fleury. Sicher ist ihre rasche Verbreitung nicht losgelöst zu betrachten von der einflußreichen Position Noels als „inspecteur general de l'Instruction publique"
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(von 1802 bis zu seinem Tode) und vom gleichermaßen ausgeprägten Geschäftssinn der beiden Autoren (vgl. A. C H E R V E L 1 9 7 7 , 1 0 1 ) . Verdienstvoll sind aber auf jeden Fall die methodisch klug aufgebauten Übungsteile zu jedem Kapitel. Damit verändert dieses Buch zugleich die Sichtweise auf das, was eine Grammatik leisten kann: während sie bis dahin überwiegend einen Ort der Reflexion über Sprache darstellte, war nun der Typ einer „Lern- und Übungsgrammatik" geboren. Um die Gunst der Lehrer, der Schulbehörden und der Schriftkundigen werben nach 1834 eine kaum überschaubare Menge von Lehrbüchern und Lehrmethoden, die allesamt den Anspruch einlösen wollen, für die Lehre in der Grundschule geeignet zu sein. Sie werden ein serielles Phänomen, ähnlich wie die Orthographiereformprojekte während der Französischen Revolution. Beide Male ging es um Vereinfachung der Systeme und die Erleichterung ihres Erwerbs. Beide Male war die Partizipation breiter Kreise der Gesellschaft an den sprachlichen Verhältnissen erklärtes Ziel und die Erhöhung der ökonomischen Effizienz das Motiv ihrer Verfasser. Zur Revolutionszeit priesen sich die neuen Orthographien mit Vorzügen für den Druck an und versprachen höheren Absatz. Unter der Julimonarchie werden die Effizienzerwägungen weiter gesteckt und weniger direkt mit Um- oder Absatzquoten korreliert. Das neue Schlagwort heißt Stabilität. Stabilität im politischen Geschäft, anstelle der Aufstände der Volksmassen von 1830 in Paris, 1831 und 1834 in Lyon, 1832 wieder in Paris. Stabilität im ökonomischen Geschäft, das hieß, die Reproduktion erweitert betreiben und die Volksmassen in den Modernisierungselan der Bourgeoisie einbinden zu können. In dem Maße, wie der Sprachund Bildungserwerb aus den Stuben der Privatlehrer und der familiären Vermittlung über die Generationen hinweg heraustritt und zu einer Notwendigkeit der neuen bürgerlichen Reproduktionsbedingungen wird, drängt sich auch die Notwendigkeit eines effizienten, massenwirksamen und doch kostenarmen Bildungswesens auf. Die Leseund Schreibfähigkeiten des Volkes entwickeln sich zu einem komplexen gesellschaftspolitischen Problem, um das die politischen Kräfte streiten. Ablesbar wird dieser Kampf um die Hegemonie an seiner Inskription in die Texte. 1833/34 sind es die Auseinandersetzungen zwischen den relativ liberalen Ideologen der auf Modernisierung setzenden Finanzaristokratie und der Industriebourgeoisie einerseits und den konservativ-klerikalen Vertretern der bourbonisch-Iegitimistischen Aristokratie andererseits. Gegenstand dieser Auseinandersetzung ist die Fixierung des Schriftsprachenerwerbs in der Volksschule auf Inhalte und Techniken religiös verbrämten Gehorsams.
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4.1.3.
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Volksbildung in der 2. Republik zwischen demokratischem Aufbegehren und jesuitischer Reaktion (1848 — 1851)
4.1.3.1. Die 2. Republik Für die Klassenkämpfe in Frankreich zwischen der Februarrevolution von 1848 und dem Staatsstreich Louis Bonapartes am 2. Dezember 1851 analysiert ein Zeitgenosse, Karl Marx, drei Hauptperioden: Erstens die Februarperiode, die vom Sturz des Bürgerkönigs Louis Philippe am 24. Februar 1848 bis zum 4. Mai 1848, dem Zusammentritt der konstituierenden Versammlung, reicht. „Ihr Charakter sprach sich offiziell darin aus, daß die von ihr improvisierte Regierung sich selbst für provisorisch erklärte, und wie die Regierung gab alles, was in dieser Periode angeregt, versucht, ausgesprochen wurde, sich für nur provisorisch aus. [...] Während das Pariser Proletariat noch in dem Augenblick der großen Perspektive, die sich ihm eröffnet hatte, schwelgte und sich in ernstgemeinten Diskussionen über die sozialen Probleme erging, hatten sich die alten Mächte der Gesellschaft gruppiert, gesammelt, besonnen und fanden eine unerwartete Stütze an der Masse der Nation, der Bauern und Kleinbürger, die alle auf einmal auf die politische Bühne stürzten, nachdem die Barrieren der Julimonarchie gefällt waren" (in: M E W Bd. 8, 120 f.) Die zweite Periode vom 4. Mai 1848 bis Ende Mai 1849 ist die Periode der Konstituierung, der Begründung der bürgerlichen Republik. „Sie war ein lebendiger Protest gegen die Zumutungen der Februartage und sollte die Resultate der Revolution auf den bürgerlichen Maßstab zurückführen" (ebd., 121). Die Forderungen des Pariser Proletariats werden von der konstituierenden Versammlung als utopische Flausen zurückgewiesen, worauf es mit der Juniinsurrektion antwortet, „dem kolossalsten Ereignis in der Geschichte der europäischen Bürgerkriege. Die bürgerliche Republik siegte. Auf ihrer Seite stand die Finanzaristokratie, die industrielle Bourgeoisie, der Mittelstand, die Kleinbürger, die Armee, das als Mobilgarde organisierte Lumpenproletariat, die geistigen Kapazitäten, die Pfaffen und die Landbevölkerung. Auf der Seite des Pariser Proletariats stand niemand als es selbst" (ebd., 121 f.). Die dritte Periode setzt ein, als am 28. Mai 1849 die gesetzgebende Versammlung zusammentritt. Die Lebensdauer der konstitutionellen oder parlamentarischen Republik geht zu Ende, als am 2. Dezember 1851 Louis Bonaparte die Macht per Staatsstreich an sich reißt. Durch alle Perioden hindurch, geprägt von den jeweils dominierenden politischen Ideen, ziehen sich die Diskurse um Bildung und
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Unterricht. Sie gerinnen in Gesetzentwürfen, die als Projekte rasch der Vergessenheit preisgegeben werden, bis schließlich 1850 „in der heiligen Phalanx der Ordnung" (ebd., 123) das Schulwesen der Geistlichkeit ausgeliefert wird. Die Debatten und Projekte zur Volksschule sind Zeitzeugen reinsten Zuschnitts für die Ideen und Kräftekonstellationen in den Perioden der 2. Republik. So gewaltsam, wie die breite Formation der proletarischen Partei von der kleinbürgerlichen demokratischen Partei im April, Mai und Juni 1848 fallengelassen, die demokratische Partei von den Bourgeoisierepublikanern abgeschüttelt und die wiederum von der Ordnungspartei, die ihrerseits vom 18. Brumaire des Louis Bonaparte an auf die bewaffnete Gewalt setzt, ausgeschaltet wird (vgl. ebd., 136), so rigoros werden auch die Diskussionen um die Gesetzesprojekte über die Volksschule beendet und durch neue konservativere Entwürfe ersetzt. Carnots demokratische Gesetzesvorlage vom Frühjahr/Sommer 1848 muß einem republikanischen Entwurf weichen, der weit weniger Kindern aus Bauern- und Arbeiterfamilien den Besuch der Volksschule erlaubt hätte. 4 Dieses Projekt wiederum weicht dem von Alfred de Falloux, dem späteren Unterrichtsgesetz von 1850, von dem Marx sagt, daß mit ihm „die Ordnungspartei die Bewußtlosigkeit und die gewaltsame Verdummung Frankreichs als ihre Lebensbedingung unter dem Regime des allgemeinen Wahlrechts proklamierte" (in: M E W Bd. 7, 86). Unter Federführung des Unterrichtsministers der Jahre 1848/49, A. de Falloux, erarbeitet, löst das Schulgesetz vom 15. März 1850 das Bildungsgesetz Guizots aus dem Jahre 1833 ab.
4.1.3.2. Das Gesetz Falloux I. Nur 3 Wochen der parlamentarischen Republik vergehen, bis am 18. Juni 1849 Alfred de Falloux, der konservativ-legitimistische Bildungsminister in den Jahren 1848/49, den Entwurf eines Bildungsgesetzes vorlegt. „Freiheit des Unterrichts" — „liberte d'enseignement" 5 , wie es die Verfassung vorschreibt, sollte das Schnittmaß des neuerlichen Projekts sein. Seine vordringliche Aufgabe, so Falloux, bestehe in der Konstituierung einer Körperschaft, die den privaten Bildungssektor überwacht und den staatlichen Bildungssektor leitet: „de sur-
4
Vgl. Rapport presente par Μ. Barthelemy Saint-Hilaire vom 15. Dezember 1848, in: M . G R E A R D 1 8 9 1 , v o l . 3 ,
5
63-98.
Vgl. Expose de motifs, in: Moniteur du 22 juin 1849, p. 2129.
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veiller les etablissements prives, de diriger les etablissements publics" 6 . Der hauptsächliche Inhalt des Gesetzesentwurfs ist die Regelung der administrativen Rahmenbedingungen, der Kontrollmechanismen und Zulassungsbestimmungen für Schulen und Lehrer des Grundschulniveaus („l'enseignement primaire") einschließlich flankierender Institutionen wie der Erwachsenenschulen, der Berufsschulen und der Kindergärten („les salles d'asile") sowie, als ein Desiderat vorheriger novellarischer Anstrengungen, des Sekundarunterrichts („l'instruction secondaire") in den Lyzeen und Gymnasien. Am 15. März 1850 wurde das Projekt von der Nationalversammlung zum Unterrichtsgesetz („Loi relative a l'enseignement" vgl. H . de BEAUCHAMP 1 8 8 2 , vol. 2 , 85 - 1 0 6 ) erhoben. II. Die sprachliche Inszenierung des Gesetzestextes verrät die ordnende Geschäftigkeit der Gesetzesmacher. Modernisierungselan wie im Jahre 1833 ist nicht mehr zu spüren. Das Volksschulwesen hat sich unter der staatlichen Autorität der Julimonarchie etabliert. Es hat den Februarsturm und die Juniinsurrektion von 1848 nicht verhindern helfen können. Reglementierung und Festigung der Staatsgewalt stehen auf der Tagesordnung, Neuverteilung von Autorität, ein vereinheitlichender Entwurf für die Grund- und Sekundarstufe. Das Gesetz hat daher vieles vorzuschreiben, auf 4 Abschnitte verteilt in 85 Artikeln von teilweise beträchtlicher Länge 7 . Für die sprachpolitische Diskussion dieses Gesetzes sollen einige Aspekte besonders herausgehoben werden. Dazu zählen die Bildungsinhalte, der Zugang zur Schule, insbesondere die Problematik von Schulgeld und Schulpflicht sowie Fragen der Administration. Im Artikel 23 wird mit Einschränkungen aufgenommen, was 1833 im Artikel 1 stand: „Der Unterricht in der Grundschule umfaßt die moralische und religiöse Erziehung, Lesen, Schreiben, Grundlagen der französischen Sprache, Rechnen und das System der Gewichte und Maße. Fakultativ können hinzutreten: Arithmetik, Geschichte, Geographie und naturwissenschaftliche Begriffe, Grundwissen der Landwirtschaft, der Industrie und der Hygiene, Höhen- und Flächenvermessung, Singen und Gymnastik" 8 . War im Gesetz von 1833 noch die Möglichkeit eines erweiterten Grundschulunterrichts („l'enseignement primaire superieur") vorgesehen, so waren 1 8 4 9 / 5 0 nicht nur gele-
6 7
8
Ebd. Vgl. die kommentierte Ausgabe von H . DE BEAUCHAMP, vol. 2, 1882, 85 - 1 0 5 . Bezeichnenderweise erwähnt das Gesetz zuerst die Autoritäten, die über das Bildungswesen zu befinden haben, wobei der Klerus eine dominierende Rolle spielt. Ebd. S. 91.
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gentliche Vorurteile in den Gemeinden selbst, sondern vor allem das Mißtrauen und die Bedenken gegenüber höher Gebildeten in den ländlichen Gemeinden genug Grund für die staatlichen Autoritäten, den erweiterten Grundschulunterricht aus dem Gesetz zu streichen. Artikel 24 legt fest, daß der Volksschulunterricht für diejenigen Kinder kostenlos ist, deren Eltern außerstande seien, die Gebühren zu bezahlen. Ein Novum sind die Bestimmungen der Artikel 48 bis 51 für die Mädchenschulen. Jede Gemeinde von 800 Einwohnern an sollte, so sie über die Mittel verfügt, eine Mädchenschule unterhalten, in der dieselben Fächer wie in den Knabenschulen zuzüglich Nadelarbeit zu unterrichten seien. Auf die weitere Senkung der Analphabetenrate wird sich diese Festlegung in empfehlender Diktion spürbar auswirken. Diesen Paragraphen gehen die Artikel 1 bis 22 voran. Darin werden — auf einem Viertel der Gesetzestextes insgesamt — die Zusammensetzung und die Aufgaben des Conseil superieur de l'instruction publique, der in jedem Departement zu gründenden Conseils academiques sowie die Bestimmungen über die Inspektion der Schulen festgelegt. Allem Anschein nach drückt sich darin das Hauptanliegen des Gesetzes aus. Sonderbarerweise rangieren nämlich die Bestimmungen zur Inspektion und Kontrolle vor den Bestimmungen zu dem Objekt, welches der Inspektion und Kontrolle unterzogen werden soll. Wichtig ist dem Gesetzgeber offensichtlich die Gründung einer obersten Aufsichtsbehörde, dem Conseil superieur de /'instruction publique, dem weitere Behörden nachgeordnet sind. Der Klerus ist in diesen Räten maßgeblich vertreten. Dem conseil superieur gehören der Minister, einige Beamte des Staates und der Universitäten sowie 4 Erzbischöfe oder Bischöfe, 2 Pastoren und ein Vertreter des israelitischen Konsistoriums an. Auf niederer Stufe, d. h. in den „akademischen Räten" der Departements, wiederholt sich diese Zusammensetzung: neben dem Rektor, einem Inspektor der Akademie und dem Präfekten gehören dieser Aufsichtsbehörde der Bischof und ein vom Bischof ernannter katholischer Geistlicher, ein protestantischer und ein israelitischer Geistlicher sowie zwei Repräsentanten des Appellationshofes und 4 weitere Mitglieder an. Ihre Aufgaben schwanken zwischen Obligation und potentieller Mitbestimmung: der „Conseil superieur" kann aufgefordert werden, seine Meinung zu Gesetzesprojekten, Regelungen und Verordnungen zu sagen. Äußern muß er sich hingegen zu Prüfungsregelungen und -fragen, zu Lehrprogrammen und Inhalten von Lehrbüchern sowie zur Überwachung der öffentlichen Schulen (vgl. Artikel 5). An der sprachlichen Gestaltung des Textes fällt die Wahl der grammatischen Zeiten und Aktionsarten auf. Anders als im Gesetzestext von 1833 ist die Mehrzahl der Artikel im Indikativ Präsens Passiv
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abgefaßt, vgl. Art. 1: „Le Conseil superieur de l'instruction publique est compose comme il suit". Formen des Präsens Aktiv wie im Artikel 14: „Le Conseil academique donne son avis" oder auch das Futur Aktiv: „Les departements fourniront un local pour le service de l'administration academique" kommen selten vor. Anders als im Gesetz von 1833 stehen die Verbformen im Futur tatsächlich nur in jenen Artikeln, die künftige Zustände betreffen und in der Gegenwart noch inexistent sind. Davon heben sich die Formen des Präsens Aktiv und Passiv ab. Sie stehen einerseits nachgeordnet zu Artikeln, in denen mit Futurformen künftige Sachverhalte geregelt werden. Sie haben somit eine in die Zukunft weisende Bedeutung, sie inszenieren aber zugleich die Festlegung der Geschäftsgrundlage und der administrativen Handhabung, vgl. Art. 7 und 8: Art. 7 „Ii sera etabli une Academie dans chaque departement"; Art. 8 „Chaque Academie est administree par un recteur". Häufiger sind jedoch die Fälle, in denen sich die Präsensformen auf bereits vorhandene Sachverhalte beziehen und Allgemeingültigkeit versprachlichen, vgl.: Art. 25 „Tout fran£ais, äge de vingt et un an accomplis, peut exercer dans toute la France la profession d'instituteur primaire". Von Bedeutung ist auch ein lexikalischer Wandel. Wurde 1833 zwischen ecoles publiques und ecoles privees unterschieden, so sorgte der Gesetzgeber 1850 dafür, daß statt der privaten Schulen nun von freien Schulen oder von freien Kindergärten — „ecoles libres" und „salles d'asile libres" - gesprochen wird. Die Forderung, daß gemäß der Verfassung das Bildungswesen frei sein müsse, bedeutete in der bildungspolitischen Praxis von 1850 die Begünstigung der freien, d. h. vor allem der konfessionellen Schulen und die Erweiterung des Einflusses der Kirche auf die Bildungsinhalte. III. Die regierungsamtliche Zeitung „Moniteur" der Jahre 1849/50 dokumentiert heftige und langwierige Debatten um den Gesetzesentwurf von A. de Falloux. Am 15. März 1850 wird das Projekt mit einer Mehrheit von 299 gegen 237 Stimmen zum Unterrichtsgesetz erhoben. Falloux selbst erlebte die Annahme seines Entwurfs nicht mehr in der Funktion des Unterrichtsministers. Am 1. November 1849 hatte Louis Napoleon den orleanistischen Ministerpräsidenten Barrot samt Ministerium aus dem Amt gejagt, um im Namen der Ordnungspartei die republikanische Nationalversammlung zu sprengen; er entließ das Ministerium, um seinen eigenen Namen von der Nationalversammlung der Ordnungspartei unabhängig zu erklären (vgl. K. MARX, in: M E W Bd. 8, 149 f.). Widersacher im Streit um die Volksbildung waren in dieser Periode die liberalen Bourgeois, die Vertreter der Universitäten, die Republikaner, die liberalen Apostel des Voltairianismus
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einerseits und die Kleriker und die aus Legitimisten und Orleanisten bestehende Partei der Ordnung andererseits. Letztere waren es, die dem Bildungsgesetz Gestalt verliehen und ihre Interessen in den Text einschrieben. Die Dominanz von Klerus und Religion in den Aufsichtsräten der Volksschule ist eine Seite des Gesetzes. Damit verbunden ist die Überwachung von Schulen und Schulmeistern (vgl. Art. 1 — 22, 67, 68) im Namen von Ordnung und Freiheit im Kampf gegen alles vermeintlich Sozialistische. Das dritte Moment ist schließlich die vom Gesetz begünstigte Reproduktion des sozialen Antagonismus, die weitgehende Konservierung der Bildungsverhältnisse in der Nation, indem die Bourgeoisie die Verantwortung für die Bildung als einer der bürgerlichen Freiheiten vom Staat weg in die Familien delegierte. „Sie begreift, daß alle sogenannten bürgerlichen Freiheiten und Fortschrittsorgane ihre Klassenherrschaft zugleich an der gesellschaftlichen Grundlage und an der politischen Spitze angriffen und bedrohten, also sozialistisch geworden waren" (K. MARX, in: M E W Bd. 8, 153). Die Aufwertung der Familie ist dabei in ihren ideologischen Bezügen zu betrachten. Die „Partei der Ordnung" hatte seit ihrem Kreuzzug gegen die Juniinsurrektion die Stichworte „Eigentum, Familie, Religion, Ordnung" als Parole unter ihr Heer ausgeteilt (vgl. ebd., 123). Sie hat diese Begriffe instrumentalisiert, wo es darum ging, die Volksmassen zu disziplinieren. Vermittelt über die Bildungspolitik zeichnen sich einschneidende sprachpolitische Konsequenzen dieser strategischen Orientierung ab, als im Umfeld der Reformprojekte der 2. Republik über gratuite, d. h. den kostenlosen Schulbesuch, obligation, die Schulpflicht, und instruction religieuse, die religiöse Erziehung gestritten wurde. Aus der ersten Periode der 2. Republik datiert der Entwurf eines neuen demokratischen Unterrichtsgesetzes, das der Unterrichtsminister der provisorischen Regierung, Hippolyte Carnot, am 1. Juni 1848 vorlegte und das wenig später von höchster Stelle aus zu Fall gebracht wurde. Carnots Entwurf war von den Ideen seiner Zeit inspiriert, genauso wie es die folgenden Projekte auch waren. Für ihn waren es die der sozialen Republik: kostenloser Volksschulunterricht, Schulpflicht für alle, Abschaffung des „Moral-Zertifikats" für Lehrer, das 1847 als Maßnahme zur Disziplinierung der Lehrer eingeführt wurde, keine Kirchenvertreter in den Räten und Kommissionen, Trennung von Schule und Religionsunterricht, Besinnung auf die Ideale der Revolution von 1789 9 . Für die Bourgeoisrepublikaner und mehr noch 9
Artikel 1 des „Projet de loi sur l'enseignement primaire" von H . Carnot sieht vor: „l'enseignement primaire comprend:
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für die „Partei der Ordnung" mußten das revolutionäre Flausen sein, die schleunigst ausgeräumt werden mußten. Eine Kommission der Nationalversammlung unter Leitung des Abgeordneten Barthelemy Saint-Hilaire wird eingesetzt, um Carnots Entwurf zur Grundschule in die Pflicht zu nehmen. Saint-Hilaires Bericht an die Nationalversammlung vom 15. Dezember 1848 1 0 enthält das Bekenntnis zur Notwendigkeit der Volksschule: „la republique n'a pas d'interet plus eher ni plus grave que celui de l'instruction primaire" (in: G R E A R D vol. 3, 1891, 63). Er stützt es moralisch und politisch, beides mit den Topoi der republikanischen Bourgeoisie: Freiheit, Ordnung, Bildung für alle Klassen, besonders in einem Land, dessen Regierung auf dem allgemeinen Wahlrecht basiert (vgl. ebd.). Carnots Verständnis von Freiheit des Unterrichts, Schulgeldfreiheit und obligatorischem Volksschulunterricht provoziert zu Gegenentwürfen. Statt gratuite propagiert die Kommission ein System aus semi-gratuite, das den Armen das Schulgeld erlassen und den Reichen die Pflicht zur Kostenbeteiligung auferlegen soll. Die Argumentation zu diesem Vorschlag klingt zunächst nicht unschlüssig. Für die „armen Klassen" stellt die Arbeit des Kindes ein Kapital dar, auf das die Familie verzichten müßte, wenn das Kind der Schulpflicht gehorcht. Es wäre dies Last genug, die nicht weiter durch Schulgeld erhöht werden solle. Im übrigen könne der Staat mit dieser Regelung den Kongregationsschulen Konkurrenz bieten, die traditionell kein Schulgeld erhoben, und somit zur Freiheit der Bildung beitragen. Im weiteren folgt die Kommission jedoch ganz der konservativen Bildungsideologie, die mit der Identifizierung von Moral und Religion, der moralischen Verantwortung der Familie, dem Opfergedanken und der Forderung nach Schulgeld bis in die siebziger Jahre dominiert. Gegen die absolute Schulgeldfreiheit sprächen einerseits die Kosten, die dem Staat entstehen würden, und andererseits die heilige Pflicht der Familie, für die Erziehung in der Kindheit einzustehen, „memes au prix des plus penibles sacrifices" (ebd. 68). Solcherart Opfer würden die Gefühlsbindungen in der Familie festigen
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1. La lecture, l'ecriture, les elements de la langue fran^aise, le systeme metrique ... 2. La connaissance de devoirs et des droits de l'homme et du citoyen; le developpement des sentiments de liberie, d'egalite, de fraternite. 3. Les preeeptes elementaires de l'hygiene et les exercises utiles au developpement physique. L'enseignement religieux est donne par les ministres des differents cultes", in: M. GREARD, 1874, 1 7 - 2 5 . Der Bericht wurde am 15. Dezember verfaßt, er trägt das Datum vom 8. April 1849 und wurde im „Moniteur" (erst) am 21.4.1849 publiziert.
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und das heilige Leben der Familien garantieren. Kostenloser Schulbesuch verkehre sich überdies wahrscheinlich rasch gegen die eigentlichen Ziele, da man Dinge, die man nicht bezahlt, auch weniger achten würde (ebd.). Unter diesen Voraussetzungen, d.h. nach Ablehnung des Prinzips der gratuite und Einführung einer semi-gratuite, fällt es der Kommission nicht schwer, Carnots Forderung nach Schulpflicht zuzustimmen. Dagegen spräche lediglich, daß mit solch einer Festlegung die Entscheidungsfreit der Familienväter beschnitten würde. Im Wesen enthält die Argumentation Saint-Hilaires alle Grundbegriffe, die im Zeitgeist des konservativen Lagers Platz gefunden hatten: Eigentum, Freiheit, Familie, Religion und Ordnung. Bis zum Gesetzesentwurf von Falloux bedarf es noch der Machtergreifung der „Partei der Ordnung" und der Niederlage der von Ledru-Rollin geführten sozial-demokratischen Koalition aus Kleinbürgern und Arbeitern, der Montagne in der Nationalversammlung, im Juni 1849. Von diesem Moment an war der Weg zu durchgreifender Reglementierung des öffentlichen Lebens, zur Überwachung der Bildungsinstitutionen, zur Konservierung des Jesuitentums geebnet. Das Unterrichtsgesetz vom 15. März 1850 wurde mit dem Reglement vom 17. August 1851 in Vorschriften für den schulpraktischen Alltag übersetzt und die Vormundschaft der Kirchen über die Volksschule zementiert. In bezug auf den Unterricht sind sie ähnlich den Ausführungsbestimmungen aus dem Jahre 1834. Beträchtlich erweitert sind hingegen die Forderungen an die Lehrer (Artikel 2 — 5), die nicht nur einfache Christen, sondern „Apostel der Religion" sein müßten. In sprachpolitischer Hinsicht wurden mit diesen Bestimmungen alle Probleme des Gesetzes von Guizot (1833) fortgeschrieben: a) Reduzierung des Umgangs mit der Schriftsprache auf den Erwerb von Lesefähigkeiten, b) Limitierung mnemotechnischer Fähigkeiten und des sprachlichen Handelns auf einfache Reproduktion, c) Beschneidung des Welt- und Sprachwissens auf einen Kirchturmhorizont, d) obligatorischer Französischunterricht auch für die Schüler, deren Muttersprache nicht das Französische war. Zum Ende der 2. Republik lag damit ein Gesetz vor, das für etwa 65 000 Volksschulen galt, in denen ca. 80 000 Schulmeister und Schuluntermeister 3,6 Millionen Schülerinnen und Schüler ausbildeten (vgl. P. Z I N D 1971, 25). Das Lehrerpersonal wurde Anfang des Jahres 1850 durch die Entlassung von zunächst 1200 sogenannten roten Lehrern „gereinigt" (vgl. Moniteur universel, 9. 1. 1850, 88), weil sie die politischen Schlagwörter Hippolyte Carnots vom Februar/März 1848 im
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Munde führten und sich an sozialistischer Agitation beteiligt hätten. Insgesamt werden es 4 0 0 0 Lehrer sein, die im Kesseltreiben gegen alles Sozialistische ihren Dienst quittieren müssen (vgl. A. P R O S T 1 9 6 8 , 178). Im wachsenden Maße wird die Volksschule nicht schlechthin eine durch Staat und Kirche geführte Institution zur Sicherung ihrer Hegemonie, sondern zeitweilig auch ein Teil des Repressionsapparates, in dem die Herrschaftstechniken auch mit der Ausbildung in der Muttersprache bzw. im Französischen korreliert werden. Es ist gewiß kein Zufall, daß Charles-Francois Lhomonds Elementargrammatik, die „Elemens de la grammaire fran^oise", um 1850 noch einmal reißenden Absatz findet. Denn gerade diese Minimalgrammatik traf den Nerv der zeitgenössischen Sprachdidaktik. Die knappen Ausführungen eigneten sich zum Auswendiglernen und zum Rezitieren, ganz ähnlich also dem, wie die Kinder die kanonischen Sätze aus Religion und Moral herzubeten hatten. Zur vollen Geltung kommt das Gesetz in der Zeit des 2. Kaiserreichs unter Napoleon III. Positiv wird sich auswirken, daß es die Gründung von Mädchenschulen vorschreibt. Wenngleich mit starken regionalen Unterschieden, so verringert sich die Zahl der weiblichen Analphabeten spürbar (vgl. F. FÜRET/J. OZOUF, vol. 1, 2 0 4 - 2 0 6 ) . Allerdings basieren die Erhebungen zu einem guten Teil auf der Auszählung von Unterschriften auf den Heiratsurkunden und sagen somit wenig über die realen Fähigkeiten der Frauen im Umgang mit der Schrift aus. Unterschiede ergeben sich zwischen Frauen mit Lesefähigkeiten und solchen, die über Lese- und Schreibfähigkeiten verfügten. Die höchsten Werte liegen um 1870 auf dem Lande bei 40% lesekundigen Frauen in einem Alter von über 20 Jahren, wobei F U R E T / O Z O U F den Landesdurchschnitt mit 12% angeben (vgl. ebd.).
4.1.4.
Sprachpolitik in der 3. Republik
4.1.4.1. Die ersten Jahre der 3. Republik Als 1875 die 3. Republik ( 1 8 7 0 - 1 9 4 0 ) ihre Verfassung erhielt, wird die Gefahr einer monarchistischen Restauration gebannt und allmählich der Weg für die Reformen der gemäßigten Republikaner geebnet. Die Wahlen von 1877 beweisen, daß die Masse der Landbevölkerung republikanisch geworden war. Noch immer belasteten die Reparationszahlungen nach dem verlorenen deutsch-französischen Krieg die französische Wirtschaft schwer. Industrie und Landwirtschaft bestanden zum überwiegenden Teil aus Kleinbetrieben, die auf die moderne
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Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
kapitalistische Großproduktion noch nicht umgestellt waren. Auf 4 Millionen Bauernwirtschaften, das sind über 70% der Höfe, entfielen nicht mehr als 6,5 Mio. ha Land. Parzellenwirtschaft und die Belastung mit Hypotheken bestimmten für die kleine Landwirtschaft das Schicksal des Siechtums. Trotz beträchtlicher Zuwachsraten in der Industrie blieb die Industrieproduktion zunehmend hinter der britischen, deutschen und amerikanischen Konkurrenz zurück. Das Hauptmerkmal der französischen Wirtschaft in dieser Zeit war die besonders rasche Entwicklung des Finanzkapitals bei gleichzeitiger Schwächung des Industriekapitals. Für die mächtige französische Finanzoligarchie bestand das Hauptgeschäft im Kapitalexport. 1881 setzt dazu flankierend die Kolonialexpansion in Afrika (FranzösischKongo, Tunesien, Elfenbeinküste, Dahome, Madagaskar u. a.) und Asien (Indochina) ein. Die innenpolitische Entwicklung im Jahrzehnt nach der Pariser Kommune war voller Spannungen. 1879 errang jene Partei die Macht, die sich im Kampf um die Republik unter anderem durch ihre Forderungen nach Trennung von Staat und Kirche sowie nach progressiver Einkommenssteuer große Popularität erworben hatte. Die Republikaner um Gambetta, Ferry und Grevy erklärten demonstrativ den 14. Juli, den Tag des Sturms auf die Bastille, zum Nationalfeiertag und bekundeten somit — nach dem 1871er Schock — ihr wiedererlangtes Selbstvertrauen in revolutionäre Traditionen ihrer Klasse. Nach der Niederlage der Pariser Kommune begann Mitte der siebziger Jahre ein erneuter Aufschwung der Arbeiterbewegung. Unter der Führung von Jules Guesde und Paul Lafargue entstand 1880 die Sozialistische Partei, die sich jedoch schon bald in die marxistische Strömung — die Guesdisten - und die kleinbürgerliche Strömung — die Possibilisten — spaltete. Zwischen 1880 und 1885 wurde in der französischen Innenpolitik ein ganzes Paket von Freiheiten und Reformen durchgesetzt, darunter die des Volksbildungswesens: 1881 wurde der Schulbesuch für alle Kinder unentgeltlich und 1882 die Schulpflicht eingeführt.
4.1.4.2. Jules Ferrys Bildungsgesetz von 1882: Einführung der Schulpflicht und einer laizistischen Schule I. Die historisch bedeutendste Aussage des Schulgesetzes vom 2 8 . März 1 8 8 2 (in: M. GREARD 1 8 9 1 , vol. 5 , 4 1 7 - 4 3 0 ) besteht darin, daß es den Besuch der Grundschule für die 6—13jährigen beiderlei Geschlechts für obligatorisch erklärt und die Grundschule als eine
Bildungspolitik im 19. Jahrhundert in Frankreich
269
laizistische Institution definiert. Damit entfällt weitgehend die Reglementierung der Rolle von Kirche und Religion. Die Hauptaufgabe der Schule ist damit nicht mehr die „moralische und religiöse Erziehung", sondern von nun an die„moralische und staatsbürgerliche Erziehung" — „l'instruction morale et civique" (Art. 1). Die Bildungsinhalte erstrecken sich auf: Lesen, Schreiben, französische Sprache und neuerdings auch französische Literatur, Geographie und Geschichte im besonderen Zuschnitt auf die französische Gesellschaft, erstmalig auch Grundbegriffe des Rechts, der politischen Ökonomie und militärische Übungen für die Jungen, daneben, wie bisher, naturwissenschaftliches und landwirtschaftliches Wissen, Hygiene, Zeichnen, Singen, Sport und Nadelarbeit für die Mädchen. Für blinde und taubstumme Kinder verweist der Gesetzestext auf ein besonderes Reglement. Neu und aufschlußreich ist weiterhin die Bestätigung des Grundschulbesuchs durch ein Zeugnis, das die Schüler nach abgelegtem Examen erhalten (Art. 6). Auf die Einhaltung der Schulpflicht drängt der Gesetzgeber durch Androhung verschiedener Formen der Disziplinierung und Bestrafung von Eltern und Kindern. II. Der Text enthält im Vergleich zu den vorherigen Unterrichtsgesetzen viele lexikalische und thematische Neuerungen: Es heißt „l'instruction morale et civique" und nicht mehr „l'instruction morale et religieuse". Besonders akzentuiert wird das Nationale: Das Adjektiv französisch bzw. das Nomen la France taucht in verschiedenen Zusammenhängen auf: „la langue et les elements de la litterature franς3Ϊ56α (Art. 1); „la geographie, particulierement celle de la France" (ebd.); „I'histoire, particulierement celle de la France" (ebd.). Eingeführt werden: „pour les gar$ons, les exercices militaires" (Art. 1); „l'instruction primaire aux enfants sourds-muets et aux aveugles" (Art. 4). Eine hohe Frequenz haben die Einheiten Venfant/les enfants und les eleves; andererseits werden administrative Körperschaften wie la Commission scolaire und le Conseil municipal lediglich im Art. 5 aufgeführt. Mit den beiden früheren Gesetzestexten verglichen, wird der Wandel deutlich, den Jules Ferry durchsetzte: Erhöhung der Aufmerksamkeit für die Schulkinder, Reduzierung des bürokratischen Apparats, Ausgliederung der Volksschule aus dem Herrschaftsbereich der Kirche bei gleichzeitiger Akzentuierung als hegemonischer Institution. Intertextuelle Beziehungen werden durch Verweise auf andere Texte hergestellt: „Conformement aux articles 479, 480 et suivants du Code penal" (Art. 14); „L'article 23 de la loi du 15 mars 1850 est abroge" (Art. 1); „La Caisse des Ecoles, instituee par l'article 15 de la loi du 10 avril 1867" (Art. 17).
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Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
Der Text ist relativ kurz. In nur 18 Artikeln wird der juristische Rahmen für eine laizistische Volksschule und die allgemeine Schulpflicht errichtet. Die Einführung der Schulpflicht verlangt zugleich auch die Klärung der Rechtslage bei Verstößen gegen dieses Gesetz. Daher sind mehrere Artikel den Sanktionen vorbehalten. III. Im Unterschied zu den Gesetzen von 1833 und 1850 sind Anfang der achtziger Jahre mit Jules Ferry, Paul Bert u. a. gemäßigte Republikaner am Werk. Sie versagten sich der klerikalen Bevormundung und erarbeiteten einen Gesetzestext, in dem die praktischen Bedürfnisse modernen bürgerlichen Lebens in einem expandierenden Kapitalismus eingeschrieben sind. Sie setzen auf eine staatsbürgerlich gebildete patriotische Jugend, die militärisch ertüchtigt und haushälterisch geschult ist und über Grundkenntnisse der kapitalistischen Produktionsweise verfügt. Ferrys Anstrengungen galten neben der Entbürokratisierung des Bildungswesens vor allem der Trennung von Schule und Kirche. Von 1878 an hatten die Liberalen la la'icite — die Weltlichkeit — auf ihre Fahnen geschrieben; Ferry hingegen spricht von la neutralite der Schule, meinte damit wohl aber dasselbe. In sprachpolitischer Hinsicht besteht der Sinn des Textes im folgenden: Er stellt erstens die entscheidende gesetzgeberische Handlung dar, die zur weitgehenden Reduzierung des Analphabetentums in Frankreich hinführt. Am Ende des 19. Jahrhunderts verfügte bereits ein hoher Prozentsatz der Franzosen über die Fähigkeit zur Lektüre französischsprachiger Texte und — wenn auch in unterschiedlichem Grade — über Fertigkeiten der Schriftpraxis. Damit wird nun auch die Partizipation von Arbeitern und Bauern an den schriftsprachlichen Verhältnissen möglich, was einer kulturellen Revolution gleichkommt und die theoretische Auseinandersetzung in der proletarischen Bewegung befördert. Die soziale Ausbreitung der französischen Sprache hat eine Kehrseite. Für die nichtfrancophonen Gebiete bedeutete das Gesetz die Alphabetisierung der Bevölkerung in einer Fremdsprache. Allerdings sind Primärdaten nicht ausreichend vorhanden und die von F. FÜRET/ J . OZOUF (1977) vorgelegten bildungssoziologischen Angaben nicht aussagekräftig genug, um ein genaues Bild der Schwierigkeiten und Erfolge des Schriftsprachenerwerbs in Okzitanien, in der Bretagne, im Elsaß, auf Korsika usw. zu zeichnen. Lediglich wenige Zahlen sollen die Problematik andeuten. Nach R. BALIBAR (1985a, 266) sprachen 1863 von 3 7 5 1 0 Gemeinden Frankreichs 8381 nicht französisch. Diese Zahl dürfte sich bis in die achtziger Jahre kaum verringert haben. Was sich jedoch wesentlich verringerte, das war die Zahl der Gemeinden ohne eine — französischsprachige! — Schule: 1847 waren
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es ca. 3200, 1863 noch 818 und 1877 noch 312 (vgl. Statistique II, 1880, S.VIII). Daran läßt sich zumindest näherungsweise ablesen, welches Ausmaß die Französierung der nichtfranzösischen Gebiete angenommen hat. Der systematische Erwerb des Französischen in der Schule vollzog sich regional stark differenziert. Das Gefälle nach Westen hin und im Zentralmassiv ist offensichtlich. Vor allem die bretonischen Departements Finisterre, Morbihan und Cotes du Nord fallen 1 8 7 6 - 7 7 gegenüber dem Landesdurchschnitt weit ab. Wenn 1876 in der Bretagne kaum mehr als 45% der 5 — 15jährigen — im Vergleich zu 75% im Landesdurchschnitt — in die Schule inskribiert waren (vgl. Statistique 1880, S. LXVIII), so dürfte der reale Schulbesuch in dieser Region noch weit geringer gewesen sein und kaum 25 — 30% überschritten haben. Landesweit lag der reale Schulbesuch bei etwa 56% (vgl. ebd., S. LXVII). Eine der Ursachen für den geringen Schulbesuch ist aller Wahrscheinlichkeit nach die Sprachpolitik der französischen Regierung und gründet sich auf die Differenz von bretonischsprachigem Alltag und französischsprachiger Bildungsinstitution. War nach 1850 der Umgang mit der Schriftsprache von solchen mnemotechnischen Sprachhandlungen wie dem Auswendiglernen liturgischer Texte und Frage-Antwort-Handlungen nach Art des Katechismus geprägt und reichte der Wortschatz kaum zu mehr als zum Lesen und dem Nacherzählen biblischer Geschichten, so bringt die weltliche Orientierung von Ferrys Bildungspolitik grundsätzliche Änderung in Richtung auf ein modernes Wissen. Ein Blick in die Schulbücher der achtziger und neunziger Jahre verdeutlicht die pädagogische und sprachpolitische Umsetzung von Ferrys bildungspolitischer Initiative. Sie zeigt sich erstens in der Neuorientierung der pädagogischen Prinzipien des Sprachunterrichts, zweitens in der thematischen und sprachlichen Neugestaltung der Lehrbuchtexte und drittens in den sprachlich-normativen Bestrebungen. Diese drei Bereiche sollen im weiteren kurz dargestellt werden. Sie gruppieren sich um die Frage: Was für ein Französisch wird ab Anfang der achtziger Jahre den Kindern von Bauern, Arbeitern und Handwerkern in der französischen Volksschule gelehrt? R. Balibar (1985 a) hebt in ihrer Studie zum „fran$ais enseigne" hervor, daß in der Grundschule der achtziger Jahre der Lehrstoff, und darin eingeschlossen auch das Französische, in Form von schriftlicher und häufig dialogisch aufbereiteten Erzählungen präsentiert wurde. Selbst für den Sprachunterricht galt dieses Prinzip von den ersten Lektionen an. Die Behandlung der Laute und Wörter in den ersten Lese- und Schreiblektionen folgte dabei diesem Muster, wobei das Mündliche, der Dialog, die Matrize für das Schriftliche war. Die
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offizielle Pädagogik setzte auf den Dialog und die Erzählung als Methoden des Spracherwerbs und rechtfertigten diese mit einer irgendwie definierten Psychologie des Kindes und Philosophie der menschlichen Natur. Anders als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Schwerpunkt nicht mehr nur auf Lektürefähigkeiten und Frage-Antwort-Handlungen der Katechese gelegt, sondern verschiedene sprachliche Tätigkeiten — Lesen und Schreiben, Nachsprechen und Erzählen, Fragen und Antworten u. a. — gleichzeitig vermittelt. Im Vorwort des von Jost, Broenig und Humbert verfaßten Schulbuchs „Lectures pratiques" (Hachette), das 1889 in 80 der 86 Departements neben anderen Lehrbüchern verwendet wurde, heißt es ganz in diesem Sinne: „L'etude des premiers elements de la langue fran^aise commencera en meme temps, et marchera de front avec les premiers exercices de lecture, d'ecriture, d'elocution et de redaction" (zitiert nach R. B A L I B A R 1985 a, 262). In einem anderen, immerhin in 76 Departements verbreiteten Schulbuch von Guyau „Lectures courantes, Annees enfantine, preparatoire, premiere annee" (Colin) wird der Erzählmethode als Sammelbegriff für Erzählen, Berichten, Nacherzählen, Erzählung und Bericht eine Schlüsselstellung im (Schrift-)Sprach(-en-)erwerb eingeräumt. Nach Guyau sollte der Sprachunterricht genauso angelegt sein wie die moralische Erziehung, wenn man zu den Kindern spricht. Danach formulierte er seine Devise: „Raconter la science" — „Wissenschaft erzählen" oder besser: Wissenschaft erzählend vermitteln. Selbst aus heutiger Perspektive überrascht der enzyklopädische Charakter der Lehrbuchtexte, an denen die 7 —9jährigen sowohl ihre Kenntnisse über die Sprache als auch ihr Weltverständnis erwarben. Die Mehrzahl der Texte war thematisch im ländlichen Milieu angesiedelt, erzählten von der Arbeit auf dem Felde und in der Werkstatt, wobei ein technisches Vokabular verwendet wurde, das den Städtern häufig fremd war. Die Kinder der Landarbeiter und Bauern ihrerseits kommunizierten in einer Sprache, die wiederum nicht in den auf die Durchsetzung der Norm des Französischen bedachten Schulbüchern figurierte. Die Diskussion über das in der Schule zu lehrende Französisch war also keineswegs abgeschlossen. Sprachwissen und sprachliche Fertigkeiten auf der einen Seite, enzyklopädisches Wissen auf der anderen. Aus der Sicht der republikanischen Pädagogik mußte vor allem die kerikal profilierte Volksschule des 2. Kaiserreichs überwunden werden. Deutliche Spuren hinterließ die neue Bildungsstrategie Ferrys in den Übungen zur französischen Grammatik, insbesondere in der Entwicklung von Fähigkeiten in der Orthographie und der Komposition von Texten. Das für
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die Zeit um 1880 repräsentative Grammatik- und Übungsbuch 11 ist das von Larive und Fleury: „Grammaire et Exercices" (Colin). 1888 wurde es in 80 Departements eingesetzt (vgl. ebd., 271). Es hatte einen festen Platz in einem Unterricht, der gleichzeitig theoretisch und praktisch angelegt war. Die in dem Buch formulierten Regeln werden weder als heilige Formeln dargestellt noch als mechanisch abzuarbeitende Muster aufbereitet, sondern sie sind als Regeln geschrieben, die aus der Sprachpraxis hergeleitet und an ihr illustriert werden. Regel und Beispiel sowie der Umgang mit ihr in der Übung bilden eine Einheit. Die normative Praxis zum Schriftfranzösischen im Schulsystem hatte vor allem ein politisches Ideal zum Ziel. Sie verkörperte eine Sprachpolitik, die nicht nur die Scheidung der Gesellschaft in Analphabeten und Alphabeten überwinden wollte, sondern, mehr noch, dem Ideal nach republikanischer Gleichheit, d. h. nach gleichen sprachlichen Fähigkeiten aller Franzosen verpflichtet war. Die normative Praxis in Ferrys Schulen will die Reproduktion des Klassenantagonismus im Bildungswesen und in der Praxis des Französischen überwinden, wobei die Zeit der Monarchie als Schreckgespenst herhalten muß. Im Gefolge der allgemeinen Schulpflicht von 1882 sollen alle Franzosen schriftsprachliche Fähigkeiten erwerben. Jeder konnte somit an den schriftsprachlichen Verhältnissen in dem Maße teilhaben, wie er sich Fähigkeiten der Orthographie und der Textkomposition angeeignet hatte. Doch wie sollte sich das Kind einer Arbeiter- oder Bauernfamilie in drei Jahren Schulzeit den B O N USAGE aneignen können? Spätestens bei dieser Frage entpuppt sich die Idee der Gleichheit als eine Illusion, über die auch die Zeitgenossen zunehmend Klarheit erlangten. Daher orientierte die republikanische Sprachpädagogik auf eine „Grammatikographie des Minimums". Den Grundbestand bil-
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Zu den am meisten gebrauchten Lehrbüchern der französischen Sprache im Anfangsunterricht gehörten: Jost/Broenig/Humbert: Lectures pratiques, Hachette, in 8 0 Departements; Guyau: Lectures courantes. Annees enfantine, preparatoire, premiere annee, Colin, in 76 Departements; Larive/Fleury: Grammaire et exercices, Colin, in 80 Departements; G. Bruno: Le Tour de la France par deux enfants. „Devoir et Patrie". Livre de lecture courante (Cours moyen), Belin, in 73 Departements. G. Bruno: Le premier livre de lecture et d'instruction pour l'enfant, Belin, in 7 6 Departements. Vgl. dazu R. BALIBAR 1985 a, 2 6 0 f., die die Angaben aus „Livres scolaires en usage dans les Ecoles Primaires Publiques", Paris, Imprimerie Nationale, 1889 entnimmt.
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deten die wesentlichen Teile der Rede, die in Regeln gefaßt wurden und womit zugleich das methodische Programm vorgezeichnet war: die „elementare Methode" für die Elemente der französischen Grammatik. Eine begrenzte Zahl „einfacher" Regeln bildete den Kernbestand grammatikalischer Kenntnisse, die über das Schulsystem für alle französischen Kinder obligatorisch wurden. Das Resultat war eine „Grammatik der Grundschule" — „la Grammaire de l'Ecole Primaire fran^aise", die noch bis 1960 gelehrt werden wird (vgl. ebd., 275). Ihre wesentliche Funktion war die Durchsetzung eines normativen Bewußtseins für die Alltagssprache und insbesondere für den schriftlichen Verkehr. Ihr Hauptinhalt und gleichzeitig die Hauptaufgabe der Lehrer war die Vermittlung der Orthographie des Französischen.
4.1.5. Demotisierung der Schrift und Reform der Orthographie am Ende des 19. Jahrhunderts Hand in Hand mit der sozialen Ausbreitung und dem allgemeinen Verfügbarwerden der Schriftkultur — ihrer Demotisierung (vgl. U . M A A S 1985, 1986) - dringen die sprachpolitischen Debatten vor allem in drei Diskussionskontexten ins öffentliche Bewußtsein ein: mit der Auseinandersetzung um die Vereinfachung der Orthographie, mit der Diskussion über die Möglichkeit einer Universalsprache in den Zirkeln der 1. und 2. Internationalen Arbeiterassoziation und mit dem Bemühen von Jean Jaures und anderer Intellektueller um die Anerkennung regional verbreiteter Sprachen wie das Okzitanische oder Baskische als dem Französischen funktional vergleichbare Sprachen. Diese drei sprachpolitischen Sachverhalte stehen in enger Beziehung zur nationalen Frage. Die wiederum stellt sich freilich für die proletarische Bewegung in den Zirkeln der 1. und 2. Internationale anders dar als für den Sozialisten Jean Jaures, und bei ihm wiederum anders als für den liberalen Republikaner Jules Ferry. Die Französische Revolution inspirierte im ganzen Lande gebildete citoyens, Orthographiesysteme zu entwerfen, die die große Differenz zwischen Lautung und Graphie im Französischen überwinden und zu einer phonographischen Orthographie führen sollten. „Ii faudrait encore rendre l'orthographe conforme a la prononciation" — heißt es in einem anonym verfaßten Entwurf aus dem Jahre II (vgl. S. VECCHIO 1 9 8 6 , 1 0 6 ) . Derartige Projekte werden in der Revolution ein serielles Phänomen, ohne daß zu jener Zeit besonders wegen der großen Zahl von Dialektsprechern auch nur annähernd die Möglichkeit bestanden hätte, eine phonographische Orthographie als gemein-
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verbindlich einzuführen. Bis heute, wo das Problem des Illettrismus, d.h. die Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben trotz mehrjährigen Schulbesuchs, als eine bildungspolitische Niederlage des französischen Schulwesens erkannt ist, ist die Diskussion um eine Reform der Orthographie auch mit den neuerlichen „rectifications de l'orthographe" von 1990 (vgl. „Journal officiel de la Republique f r a ^ a i s e " , Nr. 100, 6. Dezember 1990; vgl. u. a. Ν. C A T A C H / L . P E T I T J E A N / M . T O U R N I E R (Hrsg.) 1991) nicht abgeschlossen. Seit die Diskussion um die französische Orthographie am Ende des 19. Jahrhunderts erneut aufkam und mit großer Vehemenz geführt wurde, bewegt sie sich zwischen zwei Polen: zwischen einer auf radikale Vereinfachung des Orthographiesystems gerichteten und das Bildungsmonopol der Oberschicht antastenden Argumentationslinie und einer konservativen, welche Veränderungen der Orthographie konsequent ablehnt. Zwischen diesen Polen findet der usage seine Verfechter, sei es in Form des Toleranzerlasses vom 28. Dezember 1976 (vgl. H O L T U S 1979) oder in der Anerkennung dessen, was sich trotz traumatischer Erfahrungen vieler Franzosen mit dem Orthographieunterricht doch durchsetzt. Seit zwei Jahrhunderten haftet der Orthographiereformdiskussion der Beigeschmack von „Don-Quichotismus" an, denn sie wurde meist nur von einzelnen Personen und nur selten, wie am Ende des 19. Jahrhunderts, von einer gesellschaftsweiten und dennoch erfolglosen Bewegung gegen die Institutionen der Macht und den Konsens der Herrschenden geführt. Wie aus den vorherigen Ausführungen deutlich geworden sein dürfte, erfolgte die Demotisierung der Schrift im 19. Jahrhundert gesellschaftspolitisch wie sprachlich in stark normativen und vom Klerikalismus geprägten Bahnen. Den Klerikalismus können die liberalen Republikaner um Ferry in den staatlichen Volksschulen zurückdrängen. An der normativen Ausrichtung des Sprachunterrichts halten sie fest. „Orthographe et redaction" - Orthographie und schriftlicher Ausdruck — sind für sie der Schwerpunkt dessen, was später grammatisation der Franzosen genannt (vgl. R . B A L I B A R 1985 a) und etwa seit Mitte der 50er Jahre mit dem Neologismus alphabetisation bezeichnet wird. Heute kann sich die Forschung zum Schriftsprachenerwerb auf eine Vielzahl von Fibeln und Lehrbüchern der unterschiedlichen Lehrmethoden stützen und ein genaues Bild davon vermitteln, was und wie gelernt wurde. Doch zu rekonstruieren, welche Schwierigkeiten die Schulkinder beim Erwerb der Schriftsprache hatten und wie die orthographischen und Ausdrucksfähigkeiten am Ende der Grundschule entwickelt waren, ist angesichts der schlechten Dokumentenlage so
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gut wie unmöglich. R. BALIBAR (1985 a, 259) hält eine Rekonstruktion für ausgeschlossen, da weder Schulhefte der Kinder noch aussagekräftige Aufzeichnungen von Lehrern aus der Zeit vor 1880 gesammelt worden sind. Eine gewisse Spur in Richtung auf Schreibschwierigkeiten der Grundschüler legen allerdings die nach 1830 in Mode kommenden „cacographischen" Übungsbücher wie das von Charles-Constant Letellier, „Nouvelle cacographie", aus, welches zwischen 1811 und 1854 stattliche 36 Auflagen erfährt. Dem Benutzer werden darin — nicht selten allerdings reichlich phantasievoll — orthographisch fehlerhafte Sequenzen geboten, die er zu korrigieren eingeladen ist. Den Übungen nach zu urteilen, gehörten zu den häufigen orthographischen Fehler solche, die durch Agglutination von Subjekt- oder Objektpronomen und Verb, von Artikel und Nomen oder von Präposition oder Konjunktion mit dem folgenden Wort bedingt sind. Einige Beispiele, zitiert nach A. CHERVEL (1977, 57): „eile sest engage", „vous mavez prete", „leglize", „lauteur", „des quon nous annonse", „les circonstance dun evenemant". Daß die Orthographie das Hauptfeld der sprachlichen Exerzitien darstellte und den Schülern beträchtliche Schwierigkeiten bereitet haben mußte, bezeugen in der 3. Republik die vehementen sprachpolitischen Debatten über eine Reform der Rechtschreibung. Wenngleich das gesamte 19. Jahrhundert über Ideen zu einer Orthographiereform präsent waren, so geht doch der wesentliche Anstoß für die „bataille de Torthographe" (R. BALIBAR 1985) vom Ende des 19. Jahrhunderts auf die Diskussion in den aus Arbeitern, Handwerkern und Intellektuellen bestehenden Zirkel der 1. Internationale zurück. Der Kongreß von Lausanne im September 1867 betrachtet die Orthographie als ein soziales Problem ersten Ranges (vgl. dazu N . CATACH 1 9 8 5 , U . MAAS 1 9 8 6 ; G . DUVEAU 1 9 4 7 ) , das die B i l d u n g
des Volkes behindere. In seinem Grundsatzreferat stellte der Repräsentant der Konföderation der romanischen Schweiz und einer der Aktivisten der 1. Internationale, James Guillaume, den Zusammenhang zwischen den Schriftfragen, der Entwicklung einer internationalen Verkehrssprache und den auf die Bildung zugeschnittenen Herrschaftstechniken her (vgl. dazu U. MAAS 1986, der sich auf J . FREYMOND 1962, Bd. 1, 1 3 8 - 1 4 2 stützt). Die Reform der Orthographie sprach er dabei ausdrücklich unter dem Ideal der Phonographie an. Das Grundprinzip — für jeden Laut ein Zeichen; für dieselben Laute dieselben Zeichen — stellte alternativ zur praktizierten Orthographie und den Widersprüchlichkeiten der französischen eine Kampfansage an die geltenden sprachlichen und sozialen Normen dar, die der Entfaltung der breiten Elementarbildung entgegenstanden. Es ge-
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hört zu den vordringlichen Anliegen der Internationale, den Kampf gegen alles zu führen, was die Proletarier trennt. Sprachbarrieren sind eines der Probleme, die den Zusammenschluß behindern: national wie international. Die Vielheit der Sprachen als solche erkennt die Internationale natürlich an. Ihr ging es nicht darum, „ein System der universellen Schrift" zu schaffen, das der besonderen Natur einer Sprache Gewalt antun würde. In dem M a ß e , wie sie aber „in einem emphatischen Bekenntnis zur Internationalist die Vielheit der Nationalsprachen als trennendes Herrschaftsmittel der staatlich organisierten Herrschaft des Kapitals bestimmt", wird „die internationale Verkehrssprache ein genuines Anliegen der Arbeiterbewegung" (U. MAAS ebd., 282). Auf dem Kongreß von Lausanne 1867 wird im Anschluß an den Bericht von J . Guillaume und im Ergebnis der Diskussion eine Resolution verabschiedet, die die Vorstellungen zur Orthographiereform wie zur Universalsprache zusammenfaßt: „Le congres est d'avis qu'une langue universelle et une reforme de l'orthographe serait un bienfait et contribueraient puissamment a l'unite des peuples et a la fraternite des nations" (zitiert nach J . FREYMOND 1962, Bd. 1, 231). Unter den Delegierten der französischen Sektion gingen die Meinungen zur Orthographiereform und zur Universalsprache auseinander. Proudhonisten wie Tolain und Chemale versagen sich diesen Ideen und weisen die Sprachdiskussion in die Kompetenz von professionellen Grammatikern. Andere, wie der Intellektuelle Paul Robin, engagieren sich für eine Volksemanzipation und begrüßen in einem Anflug von Populismus den Wunsch der Arbeiter nach „une orthographe rationelle et meme une langue universelle" (zitiert nach G. DUVEAU 1947, 116). So, wie in den 70er und 80er Jahren das Schreibenlernen in Frankreich gesellschaftlich verallgemeinert wird, verlagert sich — was scheinbar paradox ist — die Orthographiediskussion zunehmend in den Diskurs der Intellektuellen. Sie ergreift die zeitgenössische Sprachwissenschaft — G . P a r i s , 1 2 A. Darmesteter, P. Passy, O . Greard u . v . a . sprechen sich für eine Reform aus —, die Literaten und die intellektuellen Gesellschaften (vgl. dazu N. CATACH 1985). Zeitschriften wie „La Phalange", „Le Journal des Instituteurs", „L'Ecole nouvelle", „Le Progres Pedagogique" publizieren Artikel in
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Gaston Paris, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einflußreichste französische Philologe, forderte wie viele andere nachdrücklich eine Orthographiereform. In „La grammaire et l'orthographe" (1894) begründet er die Forderung damit, daß sich die Orthographie dem starken Wandel der Sprache im Laufe der Jahrhunderte so gut wie nicht angepaßt habe. Vgl. „Melanges linguistiques", Paris 1909. 423 f.
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reformierter Orthographie. Diese Zeitschriften markieren auch den Ort, wo sich das soziale Konfliktpotential angestaut hatte und wohin die Zeitungsartikel in einer neuen Orthographie als die intellektuellpopulistische Reaktion auf ein starres soziales Normengefüge zurückwirken sollten: in das Spannungsverhältnis der Verbreitung des Französischen in den Volksschulen, d. h. in die Arbeit der Lehrer und bezogen auf die Schwierigkeiten der Schüler beim Erlernen der Schriftsprache. 1889 erinnert eine überaus respektvoll gehaltene Petition von 7 0 0 0 meist Intellektuellen an die Academie franfaise an deren „traditions reformatrices" (vgl. N . CATACH 1 9 8 5 , 2 3 9 ) , um sie zu einer Reform der Orthographie zu bewegen. Nur sie allein könne das Maß der Neuregelung bestimmen, heißt es in der Petition. Einen anderen Weg als den der Petition schlägt die oberste Schulbehörde ein. Auf Anregung von Ferdinand Buisson, dem Direktor des französischen Volksschulwesens und Herausgeber des großen „Dictionnaire de pedagogie et d'instruction primaire" (1882 ff.), wird 1891 in einem ministeriellen Rundschreiben an die Lehrer und Aufsichtsbehörden die „Idee der Toleranz" bei orthographischen Spitzfindigkeiten und Streitfällen in die Diskussion geworfen, die schließlich 1900 und 1901 den Kerngedanken der beiden Toleranzerlasse bildet (vgl. G. H O L T U S 1 9 7 9 , C . SCHMITT 1 9 7 7 ) . Doch ändern sollte sich nichts - bis heute. Den Sieg in dieser „bataille de l'orthographe" trugen die Konservativen davon. Darunter, als Verbündete oder auch nur dem ökonomischen Kalkül folgend, die Druckereiunternehmer, die Schwierigkeiten beim Absatz ihrer Produkte in Frankreich wie im Ausland befürchteten. Die Toleranzerlasse von 1900 und 1901 wurden nicht in Kraft gesetzt. Zwar billigte die Academie franfaise zahlreiche Vorschläge zur Vereinfachung der Orthographie (vgl. dazu die Liste in N. CATACH 1985, 247), doch praktiziert wurden sie nicht. Das Problem des Schriftsprachenerwerbs stellt sich bis heute in unverminderter Schärfe. Angesichts von mehreren Millionen „neuer Analphabeten", der sogenannten illettres, bleibt die Demotisierung der Schriftsprache ein sprachpolitisches Problem ersten Ranges. Wenn eingangs dieses Abschnitts die Sprachpolitik zu Ende des 19. Jahrhunderts in einen Zusammenhang mit der nationalen Frage gestellt wurde — wie es übrigens für Frankreich schon seit der Ordonnanz von Villers-Cotterets von 1539 der Fall ist —, so wird diese Beziehung zur Zeit der 3. Republik insbesondere an der Sondierung des nationalitätenpolitischen Problems in der 2. Internationale ersichtlich. Das Ringen um ein auf der Höhe der politischen Desiderata befindliches Verständnis der Beziehung von Nationalem und Internationalem, von Volk und Vaterland, von proletarischer Kultur
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und sozialistischer Bildung des Volkes wird in bemerkenswerter Weise am Werk von Jean Jaures ablesbar, der nicht nur leidenschaftlich für die Verhinderung des 1. Weltkrieges kämpfte, sondern einen theoretisch anspruchsvollen Beitrag zur nationalen Frage in Frankreich leistete. Mit Jaures stand ein Intellektueller an der Spitze der französischen Sozialisten, der in der literarischen Kultur Südfrankreichs zu Hause war und selbst an der neuokzitanischen literarischen Bewegung des Felibrige teilgenommen hatte. Vor allem aber hatte er seine politische Sozialisation in den lokalen Kämpfen der südfranzösischen Minenarbeiter und besonders beim großen Streik im Jahre 1892 unweit von Albi erfahren. Das Okzitanische war für ihn — wie U . M A A S (1989, 142ff.) zeigt — „kein Ausdruck einer reaktionären sozialen Position, sondern er wurde selbst durch den Sozialismus der okzitanisch sprechenden Minenarbeiter erst zu seiner eigenen politischen Position gebracht: Er lernte auf diese Weise [...] die regionale Kultur als Ressource im emanzipatorischen Kampf kennen". In seinen Artikeln in der in Toulouse erscheinenden Zeitung „La Depeche" und später in „Le Temps" setzt er sich mit der regionalen Kultur in ihrer doppelten Frontstellung sowohl gegenüber den nostalgisch verklärten und die Vergangenheit beschwörenden Felibrigezirkeln wie gegenüber der jakobinisch-republikanischen Tradition, die alle nichtnationale, d. h. nichtfranzösische Kultur abwertet, auseinander. „Für Jaures ist das Okzitanische Bestandteil der modernen Verhältnisse in Frankreich, ist die Beschäftigung mit ihm gerade durch die kulturelle Umwälzung bestimmt, die seit der Französischen Revolution eine allgemeine Volksbildung bzw. Alphabetisierung eingeleitet hat. Das Okzitanische ist keine Alternative zur Nationalsprache, vielmehr erfüllt es komplementär zu den Aufgaben der Nationalsprache seine Funktion in der Region. Diese Funktion ist aber für ihn eine durchaus nationale. Die unmittelbare Verankerung im Lokalen, die er emphatisch für sich als Liebe zu seiner Muttersprache Okzitanisch reklamiert, bedeutet eben ein sich Zuhausefühlen in der Nation, in deren Geschichte" (ebd.). Erst in jüngster Zeit wurden diese in den gängigen Jaures-Werkausgaben nicht enthaltenen Artikel aus „La Depeche" gründlich untersucht (vgl. U. BRUMMERT 1987) und so der Beitrag von Jean Jaures zu einer analytischen Klärung der nationalen Konstitution der Arbeiterklasse innerhalb der nationalen Grenzen ermittelt. Jaures' pädagogisches Credo — er war Studienrat im Carmaux unweit von Albi und lehrte zeitweilig Moralphilosophie an der Universität Toulouse — sah etwa ab 1909 den muttersprachlichen Unterricht und die Lehre der Regional- bzw. Minderheitensprache als wesentliche Komponente der Volksbildung vor. Dreh- und Angelpunkt seiner Bildungskonzeption
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Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
ist die komparatistische Methode, die er sowohl auf klassenspezifische sprachliche Praktiken wie auf die Lehre des Französischen und gleichzeitig der Regionalsprache bezieht. Vergleichender Sprachunterricht basiert zunächst auf der Anerkennung des Okzitanischen als einer Sprache und nicht auf abwertender Behandlung als ein Dialekt oder patois des Französischen, den es den Schülern auszutreiben gilt. Zweitens müsse sich der Sprachunterricht auf die Vorkenntnisse der Kinder einstellen, die beim Eintritt in die Schule ihre Regionalsprache sprechen und somit über eine Matrix für den Erwerb des Französischen verfügen. Beide Sprachen im Vergleich würden die Schüler zum besseren Verständnis der eigen wie der anderen Kultur, zur Analyse der Kulturen, zu einem schärferen Verstand wie zum besseren Verständnis der nationalen Geschichte führen (vgl. U. B R U M M E R T 1987, 603 ff.). Mit dieser Konzeption steht er in der sprachphilosophischen Tradition, die von Herder begründet, von den Schlegels, von W. v. Humboldt oder französischen Orientalisten weitergeführt und eben auch das Grundanliegen der Komparatisten wie Rasmus Rask und F. Bopp darstellten. Das Werk von Jean Jaures drückt den Willen aus, die nationalen Traditionen für den Aufbau einer modernen Gesellschaft produktiv zu nutzen. Nicht die kulturelle Entwurzelung des Volkes steht im Mittelpunkt seiner Bildungskonzeption, sondern die Entfaltung eines weiten Horizonts, wie es seine Mahnung „Ii est temps de dire: Elargissez l'homme" (zitiert nach U. BRUMMERT, ebd., 816) zum Ausdruck bringt.
4.2. Spanien: Regionalismus bzw. Nationalismus und Nationalitätensprachen Auf der Grundlage eher kulturell ausgerichteter Emanzipationsbestrebungen entstanden in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts — wenngleich mit unterschiedlichen Voraussetzungen, unterschiedlicher Prägung und Relevanz - in Katalonien und Galicien politische Bewegungen 13 , die eine Dezentralisierung Spaniens und die Anerkennung 13
Zu den Quellen, Vorläufern und zur politisch-sozialen Struktur des Katalanismus v g l . A R D I T / B A L C E L L S / S A L E S 1 9 8 0 , BRUNN 1 9 7 8 a u n d 1 9 7 8 b s o w i e ΗΓΝΑ 1 9 7 8 ; z u m G a l e g u i s m u s v g l . B A R R E I R O FERNANDEZ 1 9 8 2 , B d . 1 u n d 2 , BOCHMANN 1 9 8 4 s o w i e
FERNANDEZ PULPEIRO 1981 u. a. — Der baskische Regionalismus und Nationalismus konnte hier keine Berücksichtigung finden.
Spanien: Regionalismus bzw. Nationalismus und Nationalitätensprachen
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der regionalen Eigenheiten forderten. Sie wurden von einer mehr oder weniger breiten Schicht von Intellektuellen und Politikern getragen sowie in Katalonien von Teilen des Bürgertums. Mit dem Aufkommen des Regionalismus trat auch die Beschäftigung mit den Nationalitätensprachen in eine neue Phase. Da grundlegende Positionen anhand verschiedener sprachpolitischer Lösungsvorschläge und maßgeblich anhand des sprachpolitischen Modells der Französischen Revolution erarbeitet wurden, sollen hier Forderungen aus Schriften von den Vertretern der Bewegung rekonstruiert werden, die den Regionalismus theoretisch begründeten und politisch organisierten. Dabei geht es primär um die in den Texten enthaltenen metasprachlichen Äußerungen, aber auch um ihre kontextuelle Einbettung, die auf die Propagierung eines bestimmten Vokabulars im Diskurs des Regionalismus und späteren Nationalismus schließen läßt. Es wurden sowohl Vertreter des liberalen wie des konservativen Flügels ausgewählt, um eine gewisse Spannbreite zu gewährleisten und den Vergleich zu ermöglichen.
4.2.1.
Sprache und Sprachpolitik als Element regionalistischer Politik
4.2.1.1. Valenti Almirall ( 1 8 4 1 - 1 9 0 4 ) Fünf Jahre nach dem Ende der Revolution von 1868 —1874 gründete Almirall die erste Tageszeitung in katalanischer Sprache, „El Diari Catalä" ( 1 8 7 9 - 1 8 8 1 ) . 1880 erreichte er, daß sich die unterschiedlichen regionalistischen Kräftegruppierungen zum 1. Katalanistenkongreß zusammenfanden. Wenngleich die Wiederbelebung und Pflege der eigenen Sprache in der literarisch, kulturell und philologisch ausgerichteten Renaixenfa verankert war, hatte bis dahin noch keine politische Kraft den Sprachkonflikt als solchen reflektiert und seine Lösung als Teil des politischen Konflikts mit Kastilien zum Ziel der eigenen Politik gemacht. Zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte wurde das Sprachproblem erst auf dem „I. Congres Catalanista" (vgl. B R U M M E 1991), zu dem Valenti Almirall vom „Diari Catala" aus aufgerufen hatte. Wie die Protokolle belegen (vgl. F I G U E R E S 1985), wurde auf dem Kongreß ausschließlich katalanisch geredet, und das war - Almirall hob das hervor (vgl. ebd., 92) - nicht selbstverständlich. Einige Redner beklagen explizit, daß sie wenig Übung in der öffentlichen Rede auf katalanisch haben (vgl. ebd., 127, 237, 243).
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Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
Die fehlende Normierung, die die eigene Sprache neben anderen minderwertig erscheinen ließ, wurde auf dem Kongreß als ein zentrales Problem aufgegriffen. Bereits auf der vierten Sitzung, am 16. Oktober 1880, schlug eine Gruppe von Teilnehmern vor, über die Schaffung einer Sprachakademie zu beraten. Die Bases, die am 3. November 1880 verabschiedet wurden, ordnen sich damit zum erstenmal in der Geschichte der Wiederbelebung der katalanischen Sprachen in ein (kultur-)politisches Programm einer bestimmten sozialen Kraft ein. Sie bilden einen Punkt, über den die verschiedenen Parteien übereinkommen konnten, ebenso wie die Ablehnung des Madrider Vorschlags, das Zivilrecht zu vereinheitlichen. In der Diskussion wurden jedoch auch andere Vorschläge unterbreitet. So sprachen sich die Unitaristen gegen die Pflege der Sprache aus, weil sie glaubten, daß im Zuge des Fortschritts alle Sprachen verschmelzen würden (vgl. ebd., 238) oder daß man die Nationalsprachen durch eine Universalsprache ersetzen müßte (ebd., 135). Auf der Ebene der Diskursregelung sind solche Äußerungen an den Gebrauch eines bestimmten Vokabulars und bestimmter Bedeutungen gebunden, in das die jeweiligen politischen Ideen gekleidet werden. Almirall versucht, den Begriff des catalanisme — eine Neubildung, die das Erkennen des sozialen bzw. politisch-ökonomischen Konflikts reflektiert — an bürgerlich-liberalen Positionen festzumachen. Für seine Parteigänger heißt er „progres i millora de Catalunya" (vgl. ebd., 65, 93 f.). Die Konservativen möchten den Begriff nicht politisch belegt wissen, sondern rein kulturell verstehen (vgl. ebd., 110, 113). Insbesondere wird der Versuch, Almiralls Standpunkt durchzusetzen, dadurch gestört, daß auch die Unitaristen in „seinen" Worten sprechen. Ebenso wie er berufen sie sich auf die llibertat und igualtat, ciencia und justicia (vgl., ebd., 238, 242), befürworten aber einen einheitlichen Nationalstaat (mit einer Sprache), entsprechend dem Erbe der Französischen Revolution. Um sich gegen sie abzugrenzen, erklärt Almirall u. a. die Vereinheitlichung des Zivilrechts in Frankreich als ein Ergebnis der Umstände, der Bedrohung durch das reaktionäre Europa (vgl. ebd., 189). In diesem Zusammenhang beginnt auch der Begriff der nacio zu schwanken, der seit den Cortes von Cadiz (1810—1813) in Anlehnung an den französischen Sprachgebrauch synonym zu Estat verwendet wurde, d. h. eine politisch autonome Entität auf einheitlicher Rechtsgrundlage (vgl. F E R N A N D E Z L A GUNILLA 1983, 24; 1985, 105). Während Almirall und andere Liberale noch daran festhalten, sprechen die Unitaristen von nacions homogeneas (vgl. F I G U E R E S 1985, 221) und nacions heterogeneas (ebd., 223).
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Das 1882 gegründete Centre Catalä, eine erste politische Organisation, richtete 1883 den 2. Katalanistenkongreß aus, auf dem man übereinkam, daß sich kein Katalane in einer von Madrid aus geleiteten Partei betätigen solle. Mit dem „Memorial de Greuges" 1 4 ( 1 8 8 5 ) , an dessen Ausarbeitung Almirall maßgeblich beteiligt war, entstand erstmals eine Aktionsplattform von katalanischem Industriebürgertum, Politikern und Intellektuellen gegen die Freihandelspolitik Madrids und die Bestrebungen zur Vereinheitlichung des Zivilrechts (vgl. A R D I T / B A L C E L L S / S A L E S 1 9 8 0 , 3 5 9 f.). Sprachliche Rechte werden nicht explizit reklamiert; Sprache wird aber neben eigenen Institutionen, Traditionen und einer eigenen Geschichte als distinktives Element für Rassen oder Volksgruppen angesehen („Memorial de Greuges" 1885, 36). In ihr zeige sich der Charakter der Völker: bei den Kastiliern — die Herrschsucht und Tendenz zur Vereinheitlichung, die sich sprachlich in der fehlenden dialektalen Gliederung, in den geringen Unterschieden zwischen Volks- und Literatursprache (ebd., 39) und in der Verdrängung der „Regionalsprachen" aus dem offiziellen Schriftverkehr, der Schule und Kirche manifestiere (ebd., 58). Spanien habe keine Nationalsprache, sondern lediglich ein Ensemble von im spanischen Staat (hier synonym zu Nation) benutzten Sprachen, womit zugleich negativ und implizit im Rahmen der angestrebten Harmonisierung der unterschiedlichen Interessen eine sprachpolitische Forderung, die Gleichstellung aller Sprachen im Staat, benannt ist. Stärker als im „Memorial de Greuges" bildet Sprache in „Lo Catalanisme: Motius que'l llegitiman, fonaments cientifichs i solucions practiques" ( 1 8 8 6 ) , das den politischen Katalanismus auf der Grundlage liberaler und progressiver Ideen begründet 15 , ein grundlegendes Element bei der Legitimierung regionalistischer Forderungen. Verschiedenheit der Sprache deutet auf unterschiedliche Charaktere hin und damit auf die Existenz verschiedener Völker, wenngleich bei deren Formierung gemeinsame ökonomische und politische Interessen die bedeutendere Rolle spielten. In Spanien, wo anhand von sprachlichen und ethnischen Merkmalen drei oder vier Nationen unterschieden werden könnten ( A L M I R A L L 1 9 7 9 , 3 0 ) , verkenne der zentralistische Staatsaufbau unter Vorherrschaft Kastiliens diese Unterschiede, woraus ein Widerspruch erwachse, der den Niedergang Spaniens verursacht habe: „l'oposicio entre la naturalesa i l'organitzacio de Testat ha sigut i segueix sens dubte essent la causa principal de la postracio 14
15
Das Memorandum ist spanisch abgefaßt und trägt den Titel „Memoria en defensa de los intereses morales y materiales de Cataluna". Vgl. die Kapitel „La llibertat" und „La igualtat" (ALMIRALL 1979, 1 1 9 - 1 3 9 ) .
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a que han arribat les varies regions que formen la nacio espanyola" (ebd., 32). Dabei sei die Zentralisierung das Ergebnis der kastilischen Herrschsucht, des synthetisch-generalisierenden Geistes der Kastilier, der sich ζ. B. in der spanischen Sprache nach innen in ihrer geringen dialektalen und sozialen Gliederung widerspiegele (ebd., 44f.). Nach außen reflektiere er sich im Willen der Kastilier, anderen Völkern ihre Sprache aufzuzwingen und nur sie in allen öffentlichen Bereichen als einzige offizielle zu dulden (ebd., 81 ff.). Einen Ausweg sieht Almirall in der Neuordnung Spaniens in einem Staatenbund, dessen Aufbau sich besonders an den USA und Österreich-Ungarn orientieren solle (1979, 220ff., 251). Die Sprachgesetzgebung könne in Artikel 19 der Verfassung von 1867 der kaiserlichen und königlichen Doppelmonarchie, welcher für alle Sprachen das Recht auf ihren Gebrauch in der Schule und in allen öffentlichen Bereichen zuerkennt, ein Modell finden. Wenngleich damit der Föderalismus eine Neuauflage erfährt, vermeidet Almirall den Begriff und verwendet an dessen Stelle particularisme, weil federalisme pejorativ konnotiert und synonym zum „Radikalismus" des Partido Republicano Federal (1868) und dessen Versagen in der Revolution von 1 8 6 8 - 1 8 7 4 geworden sei (1979, 156) 1 6 . Spezifizierend zu Partikularismus werden regionalisme und catalanisme17 gebraucht. Nach 1 8 dem Grad der Realisierung von Freiheit unterscheidet Almirall zwischen unio19 (synonym zur freien Assoziation), unitat und uniformitat, wobei die letzteren in zunehmendem Maße Zwang verkörpern. Aus der Ablehnung jeglichen auf Zwang beruhenden Zusammenschlusses in einem Vielvölkerstaat erklärt sich Almiralls abweisende Haltung gegenüber einer Bindung an Frankreich, die historisch mehrfach nachweisbar als Alternative zum spanischen Zentralismus gesucht wurde. Wenngleich Almirall einer Reihe von Idealen der 16
Im „Diari Catala" tragen federalisme (vgl. ALMIRALL
17
18
Regionalismus bedeutet „sentiments simpatics a lo regional en general" und Katalanismus „aficio, carinyo, preferencia a lo c a t a l a " (ALMIRALL 1979, 102). Freiheit ist zweifellos einer der Schlüsselbegriffe bei Almirall, jedoch auch einer der schillerndsten, der unbedingt einer näheren Analyse bedarf. Bei der Zielbestimmung für den Partikularismus ist für Almirall besonders die Bedeutungskomponente „Individualität " wichtig: „La llibertat es un desig, un sentiment imposat a l'home per sa propia naturalesa. Des del moment que l'home pot fer us de ses facultats intel.lectuals, te idea de sa propia personalitat, i vol disposar d'ella" (ALMIRALL 1979,
19
und weitere Begriffe noch andere Bedeutung
1984).
120).
Im „Memorial de Greuges" wird union definiert als: „producto expontaneo de la voluntad de las entidades que se unen" (1885, 82).
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Französischen Revolution bei der Konzipierung seines Gesellschaftsmodells verpflichtet bleibt, weist er einen Nationalstaat nach dem Muster Frankreichs strikt zurück, denn die Französische Revolution habe die absolute Macht des Königs lediglich durch die der Bürokratie ersetzt 20 . Das eigentlich aus „vier oder fünf Nationen" bestehende Frankreich sei die Inkarnation des Unitarismus und des Willens zur sprachlichen Vereinheitlichung unter dem Motto „un sol poder, una sola llengua, una sola Ilei" (1979, 147). Es ist anzunehmen, daß aus dieser Haltung, die sowohl Ideen der Französischen Revolution und der spanischen Liberalen verpflichtet ist, als sich auch zu jakobinischen und linken Positionen abgrenzt, semantische Ambiguitäten von Wörtern wie nacio, poble und Uibertat resultieren. So erscheint nacio zum Teil synonym zu poble (oder auch ταςα), wenn die ethnische Vielfalt in einem Staat beschrieben werden soll. Demgegenüber steht der weitaus häufigere Gebrauch von nacio (zuweilen auch nacionalitat) in dem Sinne, wie ihn die Cortes von Cadiz fixierten. Nacio ist hier also synonym mit Estat. Als Selbstbezeichnung gebraucht Almirall Catalunya oder lo nostre poble, der in der pronominalen Struktur des Textes (nosaltres — ells) Castella oder lo poble castella gegenübersteht.
4.2.1.2. Manuel Murguia ( 1 8 3 3 - 1 9 2 3 ) Für Galicien erhob Murguia zum ersten Mal den Anspruch, eine Nation zu sein. Wie Almirall entwarf er eine auf die Region orientierte Politik aus der liberal-demokratischen Perspektive. Seine sprachpolitischen Überlegungen bewegen sich im Rahmen der diglossischen Ideologie, lassen aber mit den Jahren eine langsame, dennoch nicht konsequente Abkehr davon erkennen. Im Schulbuch „La primera luz" (1860), das am 26.4.1860 zum offiziellen Schultext für Galicien erklärt wurde, kennzeichnet Murguia das Galegische als Dialekt, aus dem das Spanische hervorgegangen sei und der seinen Ursprung in dem von keltischen Sprachen beeinflußten Latein habe ( M U R G U I A 1974, 158 f.). Er fordert auf, sich nicht darüber zu mokieren, sondern die
20
Einerseits äußert sich Almirall gerade bei der Einschätzung des Unabhängigkeitskrieges ( 1 8 0 8 - 1 8 1 4 ) begeistert über die eindringenden Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution (ALMIRALL 1979, 68ff.). Andererseits spart er nicht mit Kritik an der Revolution und ihren Folgen: „la (revolucio, J.B.) francesa, exaltada pels somnis d'igualtat i d'uniformitat, no ha lograt res mes que sotreure a les nacions d'una tirania per a fer-les caure en una altra" (ebd., 231).
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Sprache der Vorväter zu lieben und zu ehren: Ein Volk, das seine Sprache vergesse, verliere seine Würde. In einer Polemik mit dem Philosophieprofessor Juan Sieiro (1835 — 1893), der den Untergang der Dialekte und ihre Auflösung in der Nationalsprache behauptete, hält M U R G U I A jenem die regionale Entwicklung in Frankreich entgegen, das er als das unifizierteste und zentralisierteste Land bezeichnet. Die Wiederbelebung der Regionen und ihrer Sprachen gehe auf die seit der Antike bekannte Maxime zurück: „donde hay lengua diversa hay diversa nacionalidad" (1879, 251). Das letzte, was ein Volk verlieren dürfe, sei seine Sprache, und die Galeger hätten die Pflicht, ihren Dialekt zu pflegen und als Literatursprache zu gebrauchen, damit man seinen Wert erkenne (ebd., 252). Bereits 1885 zog Murguia eine erste Bilanz über die literarische Wiederbelebung der Sprache, die ihn zugleich zu weiteren sprachpolitischen Betrachtungen anregte. Mehrfach in „Los Precursores" wehrt er Angriffe gegen den Gebrauch des Galegischen ab. Dabei ist für ihn wichtig, nicht nur die Regionalsprache zu gebrauchen, sondern eine eigene „Provinz"literatur zu schaffen, die das Leben und die Gefühle des Volkes wiedergibt ( M U R G U I A 1976, 141). Diese könne sowohl in der lengua de la nacion als auch in der lengua de la provincia geschrieben werden (vgl. ebd., 143) 21 . So habe Eduardo Pondal (1835 — 1917) zwar ein nationales Thema, das der Eroberung Amerikas, in seinem Poem „Os Eoas" — „poema espanol, escrito en gallego" (ebd., 148) — aufgegriffen. Doch werde der Rückgriff auf das Galego, so Murguia, dadurch gerechtfertigt, daß der Dichter zur Bearbeitung dieses schwierigen Themas die ihm nähere Sprache benutzt22. Die Regionalsprache birgt einen emotional ungleich höheren Wert als das Spanische, so wenn Murguia die Sprache bei Rosalia de Castro (1837-1885) „aquel dulcisimo dialecto que habia hablado en su ninez" (ebd., 189) nennt. 21
22
Der Zwiespalt, der sich in diesen Ausführungen auftut und der eine unproblematische Sicht auf den Sprachkonflikt andeutet, spiegelt sich in der Sprachpraxis von Murguia selbst wider. Seine (Haupt-)Werke sind in spanischer Sprache abgefaßt, der er offensichtlich einzig und allein den Status einer Wissenschaftssprache zuerkannte (vgl. CARBALLO CALERO 1975, 417 f.). Murguia scheint damit ein Exempel für die Verinnerlichung diglossischen Bewußtseins zu sein. „No hay una completa disparidad en celebrar aquellos memorables hechos en una lengua que no es la nacional? No, en verdad. Puesto que el poeta emprendio este trabajo ageno por completo al espiritu que anima sus demas obras, permitidle que en cambio haga a su pais el honor de escribirlo en la lengua que le es propia" (MURGUIA 1976, 151). Umgekehrt kann auch ein Werk in der Nationalsprache Teil der Regionalliteratur sein (vgl. ebd., 143).
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Zugleich ist der Gebrauch der Regionalsprache auch ein Zeichen der Ablehnung der mehrfach kritisierten Zentralisierung des modernen Staates. Die Sprache begründet u. a. die Eigenständigkeit der Region bis hin zur Bildung eines Staates: „estas pequenas agrupaciones..., que teniendo una historia, una ley, una lengua y una raza, conservan todavia todos los elementos constitutivos de un estado" (ebd., 190). Kategorisch fügt Murguia zum Galegischen, das er teils als dialecto, teils als lengua bezeichnet, hinzu: „El gallego no es dialecto del castellano, sino idioma. Si se le quiere considerar como tal dialecto, forzoso se hace decir que lo es del portugues" (ebd.). Als Sprache müsse das Galego auch eine entsprechende Pflege erfahren (vgl. ebd., 191). Murguia lobt deshalb u.a. an Pondal die Arbeit am Ausdruck (ebd., 148) und an Rosalia Castro die Reinheit, „lo castizo de su lenguaje" (ebd., 189) 23 . Auf dem Dichterwettstreit in Pontevedra wiederholt er seine Forderung und unterstreicht: „Las lenguas son las verdaderas banderas nacionales" (1886, 21 f.). Ein eigenständiges Konzept, in dem er deutsche (Herder, Fichte) und italienische Quellen (P. S. Mancini) verarbeitete (vgl. MÄiz 1984, 239ff.), legte er im dritten Band der „Historia de Galicia" (1888) vor und vertiefte es in späteren Arbeiten. Zusammen mit Faktoren wie Rasse 2 4 , Geschichte, Bewußtsein, Territorium und Charakter (vgl. MÄiz 1984, 248) gehört Sprache darin zu den grundlegenden Elementen bei der Nationbildung. Für Galicien folgert er: „Galicia tiene territorio perfectamente delimitado, raza, lengua distinta, historia y condiciones especiales creadas gracias a esa misma diversidad ... Constituye, pues, una Nacion, porque tiene todos los caracteres propios de una nacionalidad" (Murguia 20. 4. 1899). Angesichts der sprachlichen, ethnischen usw. Diversität könne sich Spanien keinesfalls als einheitliche und unteilbare Nation bezeichnen. Vielmehr sei es ein Staat, der sich aus verschiedenen Nationen zusammensetze (ebd., 268). Nacion, das durch das gemeinsame Adjektiv
23
24
„Hasta entonces nadie habia hablado nuestra lengua con mas pureza ni mejor acierto" (ebd., 189). Besonders in der „Historia de Galicia" entwickelte Murguia die Vorstellung, daß vor allem der keltische Anteil die Galeger bzw. den Norden der Iberischen Halbinsel von den Kastiliern und Andalusiern bzw. dem Süden untprscheide. Erstere verkörperten die arische, letztere die semitische Rasse. Beide sind durch Oppositionen gekennzeichnet, die aus Kritik am Zentralismus und damit an der semitischen Rasse erwachsen — so europäisch / afrikanisch., frei / autoritär, Fortschritt / Dekadenz, Moderne / Vergangenheit (vgl. MÄiz 1984, 273 ff.). Der keltische Mythos fand rasche Verbreitung und großen Anklang und wurde poetisch zuerst von Eduardo Pondal gestaltet.
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nacional häufig synonym ist mit nacionalidad, dürfe nicht — wie seit der Französischen Revolution üblich — mit Estado gleichgesetzt werden, weshalb Spanien stets als „Estado espanol", „pais" oder seltener „patria comun" bezeichnet wird (vgl. MÄIZ 1984, 242). In Anlehnung an Fichte wies Murguia in seiner Festrede auf den Blumenspielen von 1891, zu denen er erstmals in der Öffentlichkeit Galegisch sprach, die Sprache als wichtigstes distinktives Element für eine Nation aus: „o gallego, en fin, que e ο que nos da direito a enteira posesion da terra en que fomos nados, que nos di que, pois somos un pobo distinto, debemos selo... Lengoa distinta — di ο aforismo politico — acusa distinta nacionalidade" („Prosa galega" 1976, 110 f.) In den Autonomien, in denen der spanische Staat neu organisiert werden soll und die die Anerkennung der Nationalitäten als „Estados nacionaes incompletos" (ebd., 115) bedeuten würden, soll die Bewahrung und der offizielle Gebrauch der eigenen Sprache garantiert sein. Die Begründung der galegischen Nationalität mit Hilfe des sprachlichen Kriteriums durch Murguia blieb angesichts der prekären Sprachsituation Galiciens nicht unwidersprochen. Eine Reihe von Autoren, darunter Emilia Pardo Bazan (1851 —1921), sah das Galegische als einen ruralen Dialekt an, keinesfalls aber als Sprache (vgl. B R U M M E 1989). Auch Murguia konstatierte die Verdrängung aus prestigereichen Bereichen. Für ihn ist das Galegische dennoch eine Sprache, was seine Geschichte belege. Seine Eigenständigkeit werde besonders durch den keltischen Einfluß gestützt. Darüber hinaus sei es in Portugal offizielle bzw. Nationalsprache geworden und kehre auch in Galicien zum Leben zurück, indem es eine moderne, den Volksgeist ausdrückende Literatur hervorbringe („Prosa galega" 1976, 113). Ausbau, Pflege und Studium der Nationalitätensprache ordnen sich deshalb in das Ringen um nationale Anerkennung ein.
4.2.1.3. Josep Torras i Bages ( 1 8 4 6 - 1 9 1 6 ) Der Bischof von Vic, Torras i Bages, wurde in den neunziger Jahren zum wichtigsten Sprecher des katholischen konservativen Katalanismus 25 . Seine in der Zeitschrift „La Veu de Montserrat" ( 1 8 7 8 - 1 9 0 0 ) 25
1887 kam es zur Spaltung des Katalanismus; der konservative Flügel bildete die Lliga de Catalunya, an die sich der katholische Partikularismus anschloß. 1888 überreichte die Liga der Regentin Maria Cristina (1885 —1902) eine Botschaft, in der sie für die katalanische Nation eine Autonomie im spanischen Staat und die Offizialisierung des Katalanischen verlangte (vgl. CUCURULL 1975, Bd. 3, 114).
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veröffentlichten Artikel zur Rolle der Kirche für den Regionalismus und vor allem sein "Werk „La tradicio catalana" (1892) übten auf die katalanische Bewegung und ihre führenden Vertreter, z. B. Prat de la Riba, eine enorme Wirkung aus, durch die die zunehmend konservative Ausrichtung des Katalanismus 26 in Anlehnung an neuscholastische Auffassungen 27 gefördert wurde. Aus der Sicht von Torras i Bages ist der Regionalismus im Wesen der Kirche bereits angelegt (1981, 37) und muß von ihr getragen werden, weil er die natürliche, angestammte, von Gott gegebene Lebensform der Menschen — die Familie und die Region als komplementäre Einheit — als Basis des gesellschaftlichen Lebens wiedereinzusetzen: Damit versuche der Regionalismus, christliche Moralvorstellungen für ein harmonisches Zusammenleben der Menschen zu verwirklichen. Die Kritik von Torras i Bages richtet sich gegen den Uniformismus des bürgerlichen Staates (1981, 21 ff.) 2 8 . In Spanien hätten sich Torras i Bages zufolge zuerst die Cortes von Cadiz über die Existenz verschiedener Regionen oder Nationen, deren Sprachen, Traditionen'und Gesetze hinweggesetzt, wobei die „idea de la uniformitat" auch von allen folgenden Verfassungen der Liberalen fortgeführt worden sei, am deutlichsten mit der Einteilung Spaniens in 49 Verwaltungsbezirke (vgl. T O R R A S I BAGES 1981, 90). Die bürgerliche Revolution 29 zerstöre, je besser sie das Prinzip der Gleichheit durchzusetzen vermag, die natürlichen Organisationsformen, die Regionen, und setze an deren Stelle die abstrakte Idee des Vaterlandes oder der Nation (ebd., 63, 106). Nationen könnten aber nur ethnische Gemeinschaften bilden, in denen die sozialen Beziehungen harmonisch und stabil, also durch die Übereinstimmung der Interessen aller Bürger gekennzeichnet sind (ebd., 30), was für Katalonien, nicht aber für Spanien zutreffe. Der 26
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Zum gegenrevolutionären Konzept von Torras i Bages vgl. Hina 1978, 173; 1990, 216-227. Besonderen Einfluß hatten die Enzykliken von Papst Leo XIII. (1878 — 1903), in denen er soziale, kirchliche, dogmatische u. a. Fragen behandelte. „Aeterni patris" (1879) erklärte Thomas von Aquino zum maßgebenden Theologen und Philosophen („Doctor ecclesiae") und beförderte das Studium der Scholastik. „Rerum novarum" (1891) beeinflußte stark die katholische Soziallehre. Nach Meinung von Torras i Bages wurde der Uniformismus in Frankreich geboren, mit der Enzyklopädie (1981, 21), mit Rousseaus „Gesellschaftsvertrag" und der „Erklärung der Menschenrechte" (ebd., 93). Reuolucio steht hier nicht schlechthin für das Ereignis, die gesellschaftliche Umwälzung oder die Französische Revolution, sondern für jede fortschrittliche Ideologie bzw. bürgerliche Gesellschaftskonzeption; „I en parla de revolucio no s'entengui solament el fet material que rega la terra de sang humana, sino principalment el maligne esperit que L'anima" (TORRAS I BAGES 1981, 84).
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Liberalismus 30 ist deshalb für Torras i Bages mit dem Regionalismus gänzlich unvereinbar: „son entre si com l'aigua i el foc" (1981, 96). Nicht nur der moralische Verfall, sondern auch die Verdrängung der Regionalsprachen gehe auf das Konto des liberalen Staates, der seit den Cortes von Cadiz in allen öffentlichen Bereichen, z.B. im Bildungswesen und in der Rechtsprechung, nur das Spanische dulde und die anderen Sprachen verfolge (ebd., 55, 68, 91). Die Sprache aber kennzeichne ein Volk, eine Nation und sei zugleich Ursprung und Zeichen des Göttlichen, denn Gott lebe in jeder von ihnen (ebd., 47). Um mit Gott zu sprechen, müsse die Muttersprache benutzt werden. Sie ist die Sprache der Affekte und des Intellekts und das natürliche Medium der göttlichen Gnade. Die Muttersprache müsse die Sprache des Katechismus, der Predigt und der Beichte sein (vgl. ebd., 4 6 - 5 7 ) . Torras i Bages verurteilt den Gebrauch des Spanischen, weil das Volk diese Sprache nicht verstehe und den Inhalt somit nicht begreifen und verinnerlichen könne, wodurch schließlich seine Gläubigkeit erschüttert werde: „aixi la conseqüencia... es... un refredament de la pietat, la superficialitat de la devocio i un debilitament de la vida interior" (1981, 55). Ebenso wie der Regionalismus wird damit die Emanzipation des Katalanischen eng mit der Festigung des Katholizismus verknüpft. In den „Consideracions sociologiques sobre el regionalisme" (1893), das die Ideen der „Tradicio Catalana" für die Jugend in geraffter und leicht verständlicher Form erläutert, nennt T O R R A S I BAGES den Unitarismus die Antithese des Regionalismus (1934, 13). Entsprechend der ideologischen Stoßrichtung dieser Schrift werden der Sozialismus als „darrera conseqüencia de l'uniformisme ο igualitarisme" (ebd., 16) und der Jakobinismus als „uniformisme en sa forma aguda" eingeführt: „una mateixa llei sobre tothom, encara que destrueixi la persona humana en ses facultats i aspiracions mes altes" (ebd., 20). Beide verstoßen gegen die von ihnen propagierten Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Regionalismus dagegen sei die Rückkehr zu natürlichen Lebensformen und zur christlichen Moral und beruhe auf Grundwerten wie Religion, Eigentum und Familie (ebd., 82 f.).
30
Synonym dazu sind uniformisme, und sensualisme.
unitarisme,
cesarisme,
jacobinisme,
centralisme
Spanien: Regionalismus bzw. Nationalismus und Nationalitätensprachen
291
4.2.1.4. Alfredo Branas (1859-1900) Eine besonders nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung der Regionalbewegungen in Spanien und auf deren politisch-ideologische Führer, so Prat de Ia Riba und Francesc Cambo (1876 — 1947), übte „El Regionalismo" des galegischen Ökonomen Branas aus. Das 1889 in Barcelona veröffentlichte Buch begründete den Regionalismus historisch und forderte die politische und soziale Neuordnung Spaniens (BRANAS 1982, 353 ff.) von neuscholastischen und neothomistischen Positionen aus. Der junge Branas betont darin, daß es dem Regionalismus31 im Unterschied zum Föderalismus, der die Schaffung kleiner Staaten oder unabhängiger Kantone mit eigenen Regierungen verlange, um die Anerkennung von autonomen, d. h. mit weitgehenden politischen Vollmachten ausgestatteten Regionen unter Bewahrung der Einheit des Vaterlandes gehe. Dabei bezeichne die „unidad del Estado" ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Regional- und der Zentralregierung zur Beseitigung der ökonomischen Benachteiligung der Regionen und von politischen Mißständen, vor allem des caciquismo (ebd., 356f.). Als Ursache der Misere Spaniens sieht Branas den unitarismo an, der ein Produkt der Alleinherrschaft und des parlamentarischen Systems sei. Er bedeute die politische und/oder administrative Zentralisierung, d.h. Unterordnung aller Funktionsbereiche in einem Staat unter ein Recht (ebd., 52). Dabei gehe insbesondere die politische Entmündigung der Regionen auf eine rationalistische Staatsauffassung, auf die Lehre der natürlichen Gleichheit aller Menschen und die Theorie vom Gesellschaftsvertrag und der Volkssouveränität zurück32. In der Vortragsreihe „La crisis economica en la epoca presente y la descentralizacion regional", die er 1892 in Santiago de Compostela hielt, vertiefte Branas die Grundlagen seiner Theorie aus ökonomischer und finanzieller Sicht. Seine Staatsauffassung benennt als Grundelemente die Familie, Gemeinde und Region und den Zusammenschluß dieser auf einer einheitlichen rechtlichen Grundlage sowie unter einer Regierung. Als nächstkleinere Komponente des Staates wird die Region 33 nicht zuerst 31
32
33
Bezeichnungen wie fuerismo, catalanismo und galicismo lehnt Branas in Anlehnung an katalanische Autoren ab: „como exclusivista y muy expuesta a torcidas interpretaciones" (1982, 165). Branas verweist ähnlich wie Torras i Bages auf Rousseau, die Enzyklopädisten und die Französische Revolution (BRANAS 1982, 54 f., 78 f., 128 f.). Der Staat ist nach BRANAS: „una agrupacion de familias, ligadas por el vinculo comun de una misma legislacion y autoridad soberana, bien sea esta dependiente ό independiente de otra superior a ella" (1982, 30). Die Region wird definiert als:
292
Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
von rechtlichen, sondern natürlichen Bindungen zusammengehalten, die sie als nacionalidad ausweisen (BRANAS 1982, 35). In Anlehnung an Murguia (vgl. MÄiz 1984, 362) zählt bei BRANAS die eigene Sprache neben Faktoren wie Rasse, Geschichte und Brauchtum zu den identitätsstiftenden Elementen (vgl. 1982, 200ff.). So hat Galicien eine eigene Sprache, die älter sei als das Spanische und deren Status durch den keltischen Ursprung und Eigenheiten im phonetischphonologischen, grammatischen usw. System (ebd., 214 ff.) begründet werde. Dabei wird die sprachliche Eigenständigkeit immer relativ, in Bezug zu anderen Faktoren gesehen; sie ist keine unabdingbare, aber hinreichende Bedingung zur Etablierung einer region oder nacionalidad. Darüber hinaus deutet gerade der sprachliche Faktor auf Unsicherheiten im Verständnis und bei der Abgrenzung von nacionalidad und nacion. Dadurch überschneiden sich mitunter die beiden durch den Rückgriff auf den Begriff patria rekonstruierbaren Triaden „Galicia — pequena patria — nacionalidad" und „Espana — patria — nacion/ Estado" (vgl. MÄiz 1984, 364). Auch die Nation, selbst die spanische, sei durch den Gebrauch einer Sprache gekennzeichnet (BRANAS 1982, 66ff.). Branas negiert damit nicht die von ihm selbst hervorgehobene diversidad de lenguas (ebd., 67); er akzeptiert aber die einigende Funktion des Spanischen 34 . So verweist er auf den Beitrag katalanischer und galegischer Schriftsteller zur unidad literaria nacional (ebd., 71), also zur Literatur in spanischer Sprache, und zählt zum galegischen „Renacimiento" auch alle spanischsprachigen Werke der Region (vgl. ebd., 3 3 2 - 3 5 2 ) . BRANAS' sprachpolitische Vorschläge zielen auf den alternierenden Gebrauch von Regional- und Nationalsprache, wenn er z.B. zur Grundschule vermerkt: „que se estudie en las escuelas de instruccion primaria el idioma primitivo, que en la vida domestica y familiar alterna con el idioma comun ό nacional" (1982, 112). Große Bedeutung mißt er der Pflege und dem Ausbau des Galegischen bei — darin sollte man den katalanischen Aktivitäten nacheifern. Er bedauert, daß der wissenschaftlichen Erforschung und Darstellung des Galegischen bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dringend not-
34
„la agrupacion de familias y municipios ό comunidades, ligadas por ciertos lazos naturales y que gozan de una existencia social autonoma dentro de los Estados independientes" (ebd., 36). Die Unsicherheiten werden auch bei der Bezeichnung als Sprache oder Dialekt, so beim Galegischen, deutlich. BRANAS spricht von „nuestro dialecto", „nuestro lenguaje", „el idioma gallego", „el habla gallega", „el dialecto ό idioma gallego" (1982, 216 f., 222).
Spanien: Regionalismus bzw. Nationalismus und Nationalitätensprachen
293
wendig seien eine gute Grammatik und ein vollständiges Wörterbuch, die nicht nur seinen korrekten Gebrauch vorschreiben, sondern auch seine Vorzüge veranschaulichen sollen. Eine Akademie der galegischen Sprache müsse über die Reinheit und Korrektheit der Sprache wachen, die Herausgabe galegischer Bücher stützen und zur Stimulierung der Regionalliteratur Literaturpreise vergeben. Von den sieben Forderungen des Regionalismus, mit denen er das Buch beschließt, zielt die fünfte auf die Dezentralisierung des Bildungswesens und auf die Schaffung eigener Zentren in den Regionen 35 . Den Behauptungen von Juan Valera (1824—1905), das Galego sei schlicht eine Variante des Portugiesischen (vgl. C L E M E S S Y 1 9 8 2 , 5 4 ) , hält er entgegen: „Galicia posee un lenguaje propio, quizas el primero entre los progenitores del romance castellano" (BRANAS 1982, 222). Der Garant dafür ist der keltische Ursprung, den Branas anhand des Wortschatzes und von Ausspracheeigenheiten nachzuweisen sucht (ebd., 2 1 4 - 2 2 2 ) .
In den neunziger Jahren setzte eine allmähliche Entwicklung eines Nationalbewußtseins auch in Galicien ein. Das verdeutlicht sich nicht nur in der Bezeichnung als nacionalidade oder nacion, sondern u. a. in der steigenden Verwendung der Sprache in Presse 36 und Öffentlichkeit. Damit wurde zugleich eine Diskussion über die Ausdrucksmöglichkeiten und über Modelle bei der Bereicherung und Modernisierung der Sprache eingeleitet (vgl. L O R E N Z O 1 9 8 6 , 19 ff.; BOCHMANN 1 9 8 4 , 96ff.). Eine von mehreren Zeitschriften getragene Orthographiedebatte belegt das (vgl. H E R M I D A 1 9 8 7 , 2 9 9 ) . 1892 entstand eine Aktionsplattform, die jedoch am Ende des 19. Jahrhunderts wieder zerbrach und die eine bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts dauernde Krise des galegischen Nationalismus auslöste. Auf der politischen Ebene verlangte Branas in den „Bases generales del regionalismo y su aplicacion a Galicia" 3 7 eine regionale Autonomie. Sprachpolitisch ging er von der Offizialisierung des Galegischen aus (vgl. B A R R E I R O FERNANDEZ 1 9 8 2 , Bd. 2 , 3 4 1 ) . 35
36
„En el orden de la ensenanza publica se dirigirian los esfuerzos regionalistas a crear centros instructivos de primeras letras y de estudios superiores, asi como de carreras especiales, beilas artes, oficios y artes utiles ό mecanicas, para suplir las deficiencias de la gestion centralista en este particular, y facilitar de este modo a los naturales de cada region los medios indispensables para ilustrarse en los diversos ramos del saber humano" (BRANAS 1982, 358). So wurden regionalistische Zeitschriften wie „Galicia" (1887 — 1889 und 1892 — 1 8 9 3 ) g e g r ü n d e t (vgl. FERNANDEZ PULPEIRO 1 9 8 1 ,
37
112ff.).
Die „Bases" lehnten sich an die „Bases pera la Constitucio Regional Catalana" (1892), auch „Bases de Manresa", an, die u. a. die Offizialisierung des Katalanischen
294 4.2.2.
Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
Der katalanische Nationalismus und die Sprache: Enric Prat de la Riba ( 1 8 7 0 - 1 9 1 7 )
4.2.2.1. Das „Compendi de la Doctrina Nacionalista" (1894) Nicht nur der politische, sondern auch der sprachpolitische Ansatz bei Prat de la Riba läßt einen deutlichen Bruch zu den regionalistischen Auffassungen der vorangegangenen Generation (er selbst grenzt sich mit dem Begriff nacionalisme ab) erkennen. Zugleich führte er diesen Ansatz weiter und radikalisierte ihn unter Wahrung der Interessen der katalanischen Großbourgeoisie 38 . Der Übergang zu einer neuen Stufe nationalen Denkens wird ganz besonders durch die Orientierung auf ein neues Modell, d. h. auf den deutschen Einheitsstaat Bismarckscher Prägung und auf deutsche Quellen deutlich, die in zunehmendem Maße neben den bis dahin vorherrschenden französischen Einfluß traten (vgl. HINA 1972, 300). Die Ablehnung des in der Französischen Revolution entworfenen Staats- und Gesellschaftsmodells, die Prat de la Riba wie Torras i Bages mit dem französischen Traditionalismus (de Maistre, de Bonald) und dem späten Taine verband, erleichterte die Identifizierung mit dem restaurativ-nationalen Geschichtsentwurf der deutschen Romantik und den Ansichten der historischen Rechtsschule (Savigny, Niebuhr, Hugo). Auch die Verarbeitung progressiver Denkansätze, ζ. B. aus der deutschen Klassik und Frühromantik, ist bei Prat in der nationalistischen Perspektive gebrochen. Von Herder und Schelling übernahm er die ganzheitlich-organische Betrachtungsweise gesellschaftlicher Phänomene, die er in seiner Auffassung von Sprache und Nation anwandte (HINA 1972, 302). Dabei war die Vereinnahmung von Ideen aus der liberalen Tradition, so des Föderalismus von Francisco Pi y Margall ( 1 8 2 4 - 1 9 0 1 ; vgl. KRAUSS 1972 b, 34 f.) und Almirall, auch vom Willen bestimmt, die ideologischen Grundlagen seiner katalanistischen Politik so zu entwerfen, daß unterschiedliche soziale, politische und Klasseninteressen darin aufgehoben wären bzw. daß sie die Verwirklichung einer katalanischen Nation als vorrangige Aufgabe für alle Klassen und Schichten begründete. Dazu tragen entsprechende Diskursstrategien bei (z.B.
38
in Katalonien und in den Beziehungen zum spanischen Staat (Artikel 3) und die Schaffung eines katalanischen Bildungswesens (Artikel 15) verankerten („Bases pera la Constitucio Regional Catalana" 1900, 7, 13). Sie wurde zunächst von der Lliga Regionalista (1901 gegründet) repräsentiert, die versuchte, eine breite, klassenübergreifende Basis zu finden (vgl. SOLE-TURA 1967, 1 5 1 ff.; RIQUER I PERMANYER 1 9 8 6 ,
119).
Spanien: Regionalismus bzw. Nationalismus und Nationalitätensprachen
295
Adressierung, Feindbildgestaltung, Herstellung von Begründungszusammenhängen) . Grundlegende sprachpolitische Anschauungen von Prat de la Riba sind bereits mit Hilfe des „Compendi de la doctrina catalanista" rekonstruierbar, in dem er zusammen mit dem Politiker Pere Muntanola ( 1 8 7 0 — 1 9 4 3 ) ausgehend von der Identität von pätria und Catalunya den Kampf für eine föderative Reorganisierung Spaniens begründet ( P R A T DE LA R I B A / M U N T A N O L A 1 8 9 4 , 2 8 ) . Das Vaterland sei nicht der künstlich geschaffene Staat, sondern eine natürliche, u. a. durch die Sprache geeinte historische Gemeinschaft: „La comunitat de gents que parlan una mateixa llengua, tenen una historia comuna, y viuen agermanadas per un mateix esperit" (ebd., 4). Sprache erscheint als erstes konstitutives Element neben dem Recht und dem Charakter oder Volksgeist — als Ausdruck der eigenen Geschichte eines Volkes und zugleich Beweis seiner Existenz als Nation (ebd., 9 ff.). Für Katalonien wird deshalb unter Aufnahme kastilozentristischer Argumente nachgewiesen: a) daß das Katalanische eine Sprache und kein Dialekt bzw. keine Korrumpierung des Spanischen sei. Dafür sprächen einerseits das Alter und die frühere Reife und andererseits die konzise, trockene und direkte Ausdrucksweise der Katalanen, die in krassem Gegensatz zur leeren, geschwollenen Rhetorik der Kastilier stehe (ebd., 5); b) daß das Katalanische nicht geringer, sondern höher als das Spanische bewertet werden könne und seine Geringschätzung ein verbreitetes Fehlurteil sei, das sich u. a. aus der Unvollkommenheit erkläre, mit dem das Katalanische aufgrund des fehlenden Unterrichts in der Schule gesprochen würde. Prat und Muntanola argumentieren gegen die Auffassung, daß das Spanische weicher und harmonischer sei als das Katalanische, mit dem Rückgriff auf die pragmatische Funktion der Sprache und das reichere Lautsystem ( P R A T DE LA R I B A / M U N T A N O L A 1 8 9 4 , 6 ) . So habe das Katalanische acht Vokale und nicht nur fünf wie das Spanische, dessen Kehllaute seine Verwandtschaft mit den semitischen Sprachen belegten; c) daß das Katalanische als vollwertiges Kommunikationsmittel nicht nur zur Verwendung in der Literatur tauge, sondern auch in allen modernen Wissenschaften. Die Autoren verweisen darauf, daß das Katalanische einen reichen philosophischen, juristischen und politischen Wortschatz seit dem Mittelalter besitze und es seine Terminologie durch Entlehnungen aus dem Griechischen und Latein wie alle modernen Sprachen erweitern könne (vgl. ebd., 7).
296
Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
Der Feind der katalanischen Nation, für die Prat und Muntanola auch eine eigene Rechtstradition und einen eigenen Charakter nachweisen, sei der spanische Staat, der seit seiner Bildung unter den Katholischen Königen lediglich kastilische Interessen repräsentiere, die anderen Nationen und ihre Freiheiten mißachte und wie Kolonien behandele. Sprachpolitisch widerspiegele sich diese Haltung in der Durchsetzung des Kastilischen, das nun „spanische" Sprache genannt wurde (ebd., 15), und in der Verdrängung anderer Sprachen wie der katalanischen aus dem öffentlichen Gebrauch (ebd., 24). Der politische Gegenentwurf, die katalanisch-aragonesische Konföderation, biete auch einen sprachpolitischen Gegenvorschlag. So wäre die offizielle Sprache in den außenpolitischen Beziehungen zwar das Katalanische gewesen, jedoch in den inneren Angelegenheiten hätte jeder Staat seine eigene Sprache benutzt (ebd., 18). Die Offizialität des Katalanischen gehört zu den Forderungen, die Prat und Muntanola für ein Katalonien in einem iberischen Staatenbund aufstellen (vgl. ebd., 27ff.). Was das „Compendi de la doctrina catalanista" von den bisher untersuchten Werken unterscheidet, ist nicht lediglich sein Aufbau als eine Art von Katechismus, der in einem Frage-Antwort-Katalog prokatalanistische Argumente liefert und zur Widerlegung kastilo-zentristischer beitragen will. In der Adressierung und im Aufbau der Begründungszusammenhänge wird deutlich, daß hier — unter Vernachlässigung soziopolitischer Gegebenheiten — ein alle Katalanen umschließendes Konzept entworfen werden soll, wie es bis dahin nicht vertreten wurde. Die Losung „Catalunya pels Catalans!" bot die Möglichkeit, die nationalen Bestrebungen, die von liberalen wie von reaktionären Kräften gerechtfertigt worden waren, zusammenzufassen. Für das globalisierende „nosaltres, los Catalans" wird sowohl auf bürgerlich-demokratische (Begriff der Freiheit, Demokratie) als auch auf feudal-restaurative Werte (Begriff der Tradition) zurückgegriffen. So sei der katalanische Charakter liberal und konservativ zugleich. Vor allem richten sich die Argumente, die den kastilischen Zentralismus als Feind ausweisen, hauptsächlich gegen den Uniformismus des feudal-absolutistischen Staates (16. —18. Jahrhundert) und kaum gegen den des bürgerlichen. Die Uniformierungstendenz im 19. Jahrhundert, der Nationalstaat der Liberalen werden nicht erwähnt. Obwohl der Text den politisch restaurativen Charakter des darin vorgeführten Gesellschaftsentwurfs nicht verbirgt (vgl. ebd., 27 — 29), bleibt er offen genug, um die Identifizierung mit unterschiedlichen politischen Kräften zu ermöglichen.
Spanien: Regionalismus bzw. Nationalismus und Nationalitätensprachen
297
4.2.2.2. „La Nacionalitat Catalana" (1906) In „La Nacionalitat Catalana" (1906), die Prat de la Riba als Summe bisherigen nationalen Denkens, aus der die ideologische Fundierung des katalanischen Nationalismus abgeleitet werden sollte, konzipierte (vgl. 1978, 81), werden die sprachpolitischen Grundaussagen des „Compendi" zwar nicht vertieft, jedoch die Quellen des Pratschen Sprachverständnisses und deren Bedeutung für den Nationbegriff stärker deutlich. In einem ersten Teil gibt er in einem historischen Abriß einen Überblick über Theoretiker und Schulen, um in einem zweiten Teil eine eigene Definition der nacionalitat oder nacio vorzulegen 39 , die von der Existenz eines Volksgeistes ausgeht (ebd., 81). Die Nation dürfe ebensowenig mit dem Staat verwechselt werden, wie der Staat nur als Zentralstaat aufgefaßt werden könne (ebd., 103), womit sich Prat gegen das aus der Französischen Revolution stammende und von den Cortes von Cadiz übernommene Nationverständnis 40 wendet. Wenngleich die Welt immer komplexeren Staatsgebilden zustrebe (vgl. ebd., 98 f.), wirke daneben auch das fundamentale Gesetz der natürlichen Strukturierung — „la llei de les nacionalitats" — und der Gliederung der Gesellschaft in konzentrischen Kreisen (familia, municipi, comarca, provincia, nacio·, ebd., 32 ff.). Nationen entstünden als Einheit aus Territorium, Rasse, Sprache, Recht und Kunst (vgl. PRAT 1978, 81), wobei die Sprache das Nationalgefühl ausdrücke und festige: „la llengua es la manifestacio mes perfecta de l'esperit nacional i l'instrument mes poderos de la nacionalitzacio i, pertant, de la conservacio i la vida de la nacionalitat" (ebd., 84). Jede Nation brauche einen Staat (ebd., 95) — zumindest in einer Konföderation, wie sie Prat für die Iberische Halbinsel anstrebt. Bei der Fundierung der Rolle der Sprache beruft sich Prat in erster Linie auf Herder, von dem er mit Sicherheit die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" in einer französischen Übersetzung gekannt hat (JARDI 1974, 2 4 ) und über den er im ersten Teil von „La 39
Prat bestimmt das Verhältnis von Nationalität zu Nation als eines vom Abstrakten zum Konkreten und vom Allgemeinen zum Einzelnen: „nacionalitat estä, respecte de nacio, en la mateixa relacio que humanitat respecte d'home, aixo es, en la relacio de qualitat constitutiva de l'esser concret. La humanitat es el conjunt d'elements que fan l'home, la nacionalitat el conjunt d'elements que fan la nacio"
40
Prats Anschauungen zur Französischen Revolution und ihren Auswirkungen sind insbesondere von der Lektüre der „Histoire de la Revolution Fran^aise" von Adolphe Thiers und der monumentalen Studie „Les origines de la France contemporaine" von Hyppolite Taine geprägt (vgl. JARDI 1974, 23).
(1978, 52).
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Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
Nacionalitat Catalana" urteilt, daß sein Sprachverständnis in der einen oder anderen "Weise alle nachfolgenden deutschen Denker geprägt habe (PRAT 1 9 7 8 , 7 6 ) , daß er am Beginn der „romantischen Revolution" und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache stünde. Er unterstreicht mit einem Herder-Zitat den Charakter der Sprache als natürliche, organische Einheit, die sich wie ein Lebewesen ganzheitlich entwickele. Im Anschluß daran referiert er kurz die Herdersche Position, wobei sein Umgang mit den Quellentexten (sie werden nicht zitiert, sondern gerafft mit eigenen Worten sinngemäß wiedergegeben) die genaue Kenntnis belegt 41 und Identität zwischen dessen und der eigenen Auffassung herstellt. In der „ideologischen Synthese" erscheint sie als Baustein, denn alle inventarisierten Ansätze werden im Konzept der Nation aufgehoben: „La nacionalitat va a esser la flor de tota aquesta elaboracio cientifica" (PRAT 1 9 7 8 , 8 1 ) . Die Rezeption Herders ist bei Prat also davon eingegrenzt, daß es ihm nicht um eine Theorie über Sprache, sondern um eine Theorie der Nation geht. Prat ist nicht am Sprachphilosophen Herder interessiert, sondern an seinen Aussagen über den Anteil der Sprache am Leben der Völker, und isoliert damit einen Aspekt aus dessen umfangreichen Gesamtwerk. So spielt Herders Erkenntnis, daß Sprache natürlichen Ursprungs ist, für ihn keine Rolle. Er orientiert sich im Gegenteil hier streng an Torras i Bages (vgl. BOFILL I MATES 1 9 7 9 , 112).
4.2.2.3.
Die Rede auf dem I. Internationalen Kongreß für Katalanische Sprache ( 1 9 0 6 )
Näheren Aufschluß über Prats Vorgehensweise bei der Begründung seiner Sprachauffassung bietet sein Konferenzbeitrag „Importäncia de la llengua dins del concepte de la nacionalitat" auf dem I. Internationalen Kongreß für Katalanische Sprache, der von der Lliga Regionalista42 als Plattform zur Darlegung ihrer kultur- und sprachpolitischen Ziele genutzt wurde (VALLVERDU 1 9 8 7 , 7 3 ) . In Sektion 3 (Seccio Juridica i Social), in der Prat sprach und in der die Liga ihre Führungs41
Ein Vergleich der entsprechenden Passagen bei Prat und Herder bezeugt den hohen Grad an Übereinstimmung; bspw. „Jede Nation spricht also, nach dem sie denkt, und denkt, nach dem sie spricht " (HERDER 1969, Bd. 2, 74) und „Cada nacio pensa com parla i parla com pensa" (PRAT 1978, 76).
42
Die Lliga Regionalista wurde von Prat 1901 gegründet, gewann insbesondere mit der Wahlkoalition Solidarität Catalana (1906) eine Massenbasis und erhob nachdrücklich die Forderung nach Dezentralisierung gegenüber der Madrider Regierung.
Spanien: Regionalismus bzw. Nationalismus und Nationalitätensprachen
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position durchsetzte, wurden vor allem Fragen der Sprachgesetzgebung behandelt, während in den Sektionen 1 und 2 {Seccio FilologicaHistorica und Seccio hiter aria) Probleme der Kodifizierung und stilistischen Differenzierung zur Debatte standen. Die von dem Rechtsanwalt und Politiker Joseph Bertran y Musitu (1875 — 1957) eingebrachte und von den Teilnehmern (zum größten Teil mit der Liga sympathisierende Rechtsanwälte) angenommene Entschließung sah — ausgehend von der Rolle der Sprache als konstitutives Element der Nation ( 1 9 8 6 , 6 8 8 ) — folgende Maßnahmen im Rahmen des Zentralstaates vor: a) Gebrauch des Katalanischen in der Administration, Justiz und im Bildungswesen; b) Anerkennung des Rechts auf seinen Gebrauch in allen privaten und öffentlichen Bereichen; c) Einführung des Katalanischunterrichts im übrigen Spanien; d) Unterstützung des künstlerischen und literarischen Schaffens in dieser Sprache. Nach der Konstitutierung eines katalanischen Staates sollte das Katalanische offiziell werden. Der Beitrag von Prat, in dem nicht wie u. a. bei Joseph FRANQUESA Υ GOMIS ( 1 8 5 5 - 1 9 3 0 ; 1 9 8 6 , 6 5 1 ff.) oder Francisco A L B O Υ M A R T I (1874 - 1918; 1986, 656 ff.) der Protest gegen die zentralistische Sprachpolitik Spaniens im Vordergrund steht 43 , behandelt als letzter in der Sektion den Zusammenhang von Sprache und Nation, also die allgemeine Ausgangsbasis für den Forderungskatalog. Auf der thematisch-propositionalen Ebene (das Wortfeld von catalä wird nicht berührt) lassen sich zwei Thesen herausfiltern, die jedoch nicht zur Synthese zusammengeführt werden, bzw. eine These, deren zwei Teile nicht in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden: a) Sprache hat eine einigende Funktion („la for£a unitiva, aglutinant, del idioma"; PRAT 1 9 8 6 , 6 6 5 ) , die zum Zusammenschluß in Gemeinschaften führt (u. a. Nationen); b) Sprache hat eine differenzierende Funktion („eis separi dels denies"; ebd., 666), die Gemeinschaften voneinander abhebt. Der Staat baut auf beiden Funktionen auf. Wenn jedoch eine Übereinstimmung von Staats- und Sprachgrenzen nicht erreicht werden kann, versucht er eine offizielle Sprache mit Gewalt durchzusetzen. Die Völker, die sich gegen die Assimilierung wehren, begründen ihre Identität ebenfalls mit der Sprache, so daß Sprache in theoretischen
43
Vgl. FRANQUESA Υ GOMIS 1 9 8 6 , 6 5 1 f f . ; A L B O Υ M A R T I 1 9 8 6 , 6 5 6 ff.
300
Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
Versuchen über die Nation als erstrangiges konstitutives Element erscheint (ebd., 669). Kennzeichnend für die Begründung der aufgestellten Thesen ist der Autoritätsbeweis, mit dem keine eigentliche Argumentationskette aufgebaut, sondern die als wahr gesetzte Aussage durch Prestige lediglich gestützt und in ihrem Wahrheitswert verstärkt, nicht aber bewiesen wird. So belegt Prat die vereinigende Funktion der Sprache mit Zitaten aus der Bibel, des Heiligen Augustinus, von Luis Vives, Torras i Bages, Leibniz und Humboldt. Dabei wird die These bereits mit Anspruch auf Universalität eingeführt 44 . — Auch bei der Stützung der Schlußfolgerung, Sprache sei ein Determinant der Nation, verfährt Prat ganz ähnlich, indem er eine Vielzahl von Verfechtern dieser Auffassung kommentarlos aufzählt. Der Text bleibt damit letztlich offen oder erscheint als nicht kohärent. Dennoch erlaubt er keine andere Interpretation als folgende: Er macht Sinn im Gesamtzusammenhang des Kongresses und der nationalistischen Bestrebungen, nicht weil er die Prämisse der sprachpolitischen Forderungen erhärtet, sondern weil er auf Präzedenzfälle verweist, die als Norm für das eigene Handeln gelten sollen (im Sinne der Nachahmung). Wenn Prat also die (politischen und) sprachpolitischen Absichten des Nationalismus legitimieren will, muß er mehrere Präzedenzfälle und möglichst unterschiedlicher Provenienz anführen, woraus sich die Vielzahl und Heterogenität der Autoritätsbeweise erklären könnte. Die Berufung auf Herder in „La Nacionalitat Catalana" würde somit auch der Setzung eines Präzedenzfalles gleichkommen und weniger der kohärenten Argumentation im Text dienen. Neben der Hypothese über das Funktionieren der Pratschen Rhetorik läßt sich eine weitere zur sprachpolitischen Leitfunktion der Französischen Revolution aufstellen. Prat verweist einerseits darauf, daß der Staat nicht von vornherein mit der Nation gleichzusetzen sei (1978, 103) und wendet sich gegen einen Nationalstaat, der wie der französische verschiedene Nationen umfaßt. So zitiert er Bareres Rapport an die Nationalversammlung, in dem das Verhalten der Elsässer in der Revolution auf die Gemeinsamkeit der Sprache mit den Deutschen und Österreichern zurückgeführt wird, um die trennende Funktion der Sprache zu veranschaulichen (ebd., 140). Andererseits strebt
44
Explizit wird dieser Anspruch mit „aquest sentir general de Phumanitat" (PRAT 1986, 666) eingeführt und vorrangig über interaktionale Strukturen wie Modalwörter + preterit indefinit („sempre ha estat vista"), koordinierende Konjunktionen („tant... com", „y") und Indefinitadjektive und -pronomina („tots", „tots els grans pensadors") realisiert.
301
Sprache und Literatur in der Kultur des Risorgimento
Prat für die katalanische Nation — ausgehend von der sprachlichethnischen Einheit — einen Staat an, der alle katalanischsprachigen Gebiete in einem Großkatalonien vereint (vgl. „Greater Catalonia"; PRAT 1978, 144 ff.) und von den regionalen Unterschieden abstrahiert. Das entsprechende sprachpolitische Programm geht deshalb von der vereinigenden Funktion der Sprache aus, in der die regionale Varianz als patois reflektiert wird (ebd., 148). Es beinhaltet die Verbreitung (Universalisierung) einer vom Zentrum aus gesetzten Norm (Unifizierung der „llengua literaria"), wie sie Prat anläßlich der Veröffentlichung der vom Institut d'Estudis Catalans verfaßten Orthographienormen forderte (vgl. 1978, 149 ff.). Da noch kein katalanischer Staat für die Durchsetzung der sprachlichen Einheit „von oben" sorgen könne, appelliert Prat an den Patriotismus aller Katalanen. So wiederholt er im Grunde entscheidende Positionen der in der Französischen Revolution entwickelten nationalsprachlichen Ideologie auf anderer Ebene.
4.3.
Italien: Sprache und Literatur in der Kultur des italienischen Risorgimento
4.3.1. Von der Literatursprache zur Umgangssprache Der Unterschied zwischen Literatursprache und Gebrauchssprache sowie ein ausgeprägter Pluralismus im Gebrauch der Dialekte trotz substantieller sprachlicher Zusammengehörigkeit der Italiener sind die wichtigsten Problemkreise, auf die sich die Diskussion über die Sprache in den Jahren des Risorgimento konzentriert.45 Von diesen Schwerpunkten geht die Debatte darüber aus, auf welche Art und Weise es zur gemeinsamen Gebrauchssprache kommen könne. Hierzu treten unmittelbar nach der Proklamation der staatlichen Einheit zwei Positionen hervor: diejenige Manzonis, der der Sprache der florentinischen Mittelschicht den Vorrang gibt, und die Ascolis, der davon ausgeht, daß sich die Gemeinsprache mit der Zeit durchsetzen sollte, analog zum allmählichen kulturellen Ausgleich, den die nationale 45
Zur italienischen Sprachgeschichte, namentlich im 19. Jahrhundert, vgl. SCHIAFFINI 1 9 5 3 ; M I G L I O R I N I 1 9 6 3 ; D E V O T O 1 9 6 4 ; DIONISOTTI 1 9 6 7 ; V I T A L E 1 9 7 8 ; D E 1 9 7 4 ; SERIANNI
1989.
MAURO
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Sprachpolitik im 19. Jahrhundert
Einheit zwischen den verschiedenen Sprachzonen Italiens schaffen würde. 46 Neuere Untersuchungen belegen allerdings, daß sich an diesen Debatten unmittelbar vor bzw. nach der staatlichen Einheit viele Autoren beteiligen, die bis heute von der kritischen Geschichtsschreibung ignoriert oder willkürlich in die schematische Gegenüberstellung Manzoni — Ascoli hineingepreßt werden. 47 Vor diesem differenzierteren und in Bewegung geratenen Hintergrund, den diese Erkenntnisse eröffnen, erscheinen auch die Unterschiede zwischen den beiden Protagonisten weniger ausgeprägt. In der Tat geht die Kritik heute von einer relativen Annäherung der Positionen Manzonis an die von Ascoli aus (vgl. besonders MATARRESE 1983; BRUNI 1983), in dem Sinne, daß
die Unterschiede nicht das Wesen, sondern nur die Formulierung und die Akzentsetzungen betreffen. Der Gesamtausgabe der linguistischen Schriften Manzonis (vgl.
MANZONI 1974/1990) ist es jetzt zu danken, daß die theoretische
Debatte, die in vielerlei Hinsicht ausgesprochen aktuelle Bezüge aufweist, neu bewertet werden kann. Die Gesamtlektüre der Texte, die bislang nur in ungenügenden Einzeleditionen vorlagen, führt aber auch zu einer genaueren Einschätzung wesentlicher Aspekte der linguistischen Äußerungen Manzonis. So ist nach NENCIONI (1987) der willkürliche Vergleich der Sprachsituation Italiens mit der Frankreichs, die bereits Ascoli als wesentliche Schwäche in der Option Manzonis erkannte, seinen Grenzen geistiger und kultureller Öffnung geschuldet ( v g l . a u c h SAVOIA
1984).
Außerdem weist STELLA (1974), der den kulturellen Kontext, in den sich die linguistischen Theorien Manzonis einordnen, definiert, zu Recht auf die Bindeglieder, den Zusammenhang zwischen der Entscheidung des Schriftstellers in der Sprachenfrage und der Entscheidung für den Glauben hin. Damit eröffnet er eine Problematik, die in der bisherigen Manzoniforschung zumeist außer acht gelassen wurde: die Aufsätze nach der Redaktion der 1827er Ausgabe der „Promessi Sposi" mit ihren ideologischen Aspekten (vgl. auch Lo PIPARO 1979). Auch angesichts dieser neueren Erkenntnisse scheint es dennoch problematisch, sich der Tendenz anzuschließen, die Widersprüche zwischen den Positionen Manzonis und denen Ascolis zu verharmlo-
46
Z u r Polemik zwischen Manzoni und Ascoli vgl. SCHIAFFINI 1929; GRASSI 1968 und
47
Vgl.
1 9 7 4 ; DARDANO 1 9 7 4 ; BERRETTONI-VINEIS 1 9 7 4 ; RAICICH besonders
MARAZZINI
1976;
NENCIONI
1977;
1981.
CANACCINI
1 9 8 1 ; BRUNI
1983;
MATARRESE 1983 und 1986; eine Übersicht über neuere Studien zu Manzinis sprachlichen Ansichten bietet NENCIONI 1987.
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sen. Auch wenn das Florentinische in den Texten Manzonis frei von engen lokalen Einflüssen ist, bleibt es dennoch wahr, daß dieser Sprachgebrauch von kulturellen und ideologischen Entscheidungen ausgeht, die nicht mit denen Ascolis verwechselt werden dürfen. Es geht um Unterschiede, die in einer Gesamtbetrachtung der Sprachdiskussionen im Risorgimento nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts und als Folge der Diskussionen zu dieser Thematik im 18. Jahrhundert reift unter den weitsichtigsten Intellektuellen das Bewußtsein vom atypischen Charakter der Sprachsituation Italiens und vom unleugbaren Zusammenhang zwischen sprachlicher Anomalie und politischer Teilung. Man könnte sogar sagen, daß dieses Bewußtsein das Unterscheidungsmerkmal ihrer Beteiligung an einer kulturellen Diskussion ist, die nationale und europäische Dimensionen erreicht. Von deren Warte aus ist die puristische und florentinistische Debatte zu Beginn des Jahrhunderts eine anachronistische Auffassung von der Tätigkeit der Intellektuellen, weil sie sich auf ein chronologisch und geographisch begrenztes Sprachmodell ohne nationales Prestige bezieht (vgl. V I T A L E 1970; 1973; 1978; T A T E O 1976), auch wenn sie erkennen läßt, daß einzelne Intellektuelle das Problem der nationalen Identität in Gestalt der Identität von Sprache und Literatur begreifen. In ihrer besonderen Bevorzugung der alten Literatursprache widersetzen sich die Puristen der Auseinandersetzung mit einer Tradition, die durchaus Vitalität und nationale Kontinuität gezeigt hat. In der Tat ignorieren sie die Probleme, die aus dem Verhältnis von Kontinuität und Innovation erwachsen. Die Klügsten unter ihnen umgehen den Kern der Sache, indem sie Kompromisse und Zugeständnisse machen, die es erlauben, die „Blüten der Sprache" dort zu ernten, wo sie sprießen, unabhängig vom Ort oder der Zeit ihres Erscheinens. Ein interessantes Beispiel für dieses eklektische und kompromißbereite Vorgehen ist Giordani (vgl. T I M P A N A R O 1973; 1974; C A R P I 1974a; C E C I O N I 1977; C O R T I 1968). Über seine verkündeten puristischen Neigungen hinaus ist er genauso sensibel für die Qualität der Sprache des 17. wie für die der Texte des 14. Jahrhunderts. Trotz seiner puristischen Neigungen begreift er durchaus das Moment der Erneuerung, die sich aus der von ihm explizit anerkannten Historizität der Sprache ergibt (vgl. besonders G I O R D A N I 1854—1863). Die Schwankungen in seiner Haltung bezeugen das Unbehagen, das er angesichts der Forderung empfindet, die Treue zu einem kodifizierten Sprach- und Literaturmodell in Einklang zu bringen mit einer kulturellen Öffnung, deren Notwendigkeiten und Motivationen ihm noch
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nicht völlig bewußt sind. Die Zweigleisigkeit, die ihn einerseits die Sprache der Poesie als über jede Forderung nach historischer Konnotation erhaben und andererseits die Sprache der Wissenschaft als Gegenstand eines Vervollkommnungsprozesses ansehen läßt, ist Ausdruck einer kulturellen Unsicherheit, die unabhängig von subjektiven Ursachen in der historischen Übergangsphase begründet liegt. Zum Beispiel scheint es in der Antwort auf den Brief von Madame de Stael über die Nützlichkeit von Übersetzungen so, als wüßte Giordani nicht, daß der Respekt der nationalen Literatur die Öffnung zu einer europäischen Dimension der Kultur nicht ausschließt, eine Öffnung, die er hier als schädlich für die Integrität der Tradition bezeichnet (vgl. GIORDANI 1 8 1 6 ) . 4 8
Auf die nationale Dimension der durch die literarische Tradition kodifizierten Sprache wird aus berufenem Munde in der „Proposta di aggiunte al vocabolario della Crusca" hingewiesen, die Vicenzo Monti zwischen 1817 und 1826 in Mailand veröffentlicht. Dieser Text ist von Montis Willen beseelt, den nationalen Charakter der italienischen Sprache gegenüber den toskanistischen und florentinistischen Ansprüchen der Accademia della Crusca und die der Sprache ureigene Historizität zu betonen, die sich im Laufe der Jahrhunderte notwendigerweise kulturell angereichert habe. Darum kritisiert er die Unausgewogenheit des Wörterbuchs der Crusca, dessen Mängel nicht „mit dem Rost der Alten" behoben werden könnten ( 1 8 1 7 - 1 8 2 6 , S. VII), weil es unmöglich sei, in ihnen „den getreuen Ausdruck der Dinge zu finden, die jene entweder schlecht kannten oder von denen sie keine Vorstellung hatten" (ebd., S. IX; zu Montis „Proposta" vgl. T I M P A NARO 1 9 7 4 ; C O R T I 1 9 6 8 ; G E S I 1 9 7 6 ; B A L B I 1 9 8 0 ) . Da die Alten „nicht alle Quellen des menschlichen Denkens ausgeschöpft" hätten (ebd.), sei die Sprache einem ständigen Wachstum unterworfen, das sich in der Kontinuität der nationalen literarischen Tradition manifestiere. In der von Zerfall gezeichneten Realität Italiens stelle die Sprache nachgerade das besondere Element dar, durch welches sich die natio-
48
Giordanis Überlegungen zur poetischen und wissenschaftlichen Sprache werden später durch Leopardi wieder aufgenommen und vertieft (vgl. G E N S I N I 1984 a). Leopardi charakterisiert die poetische Schreibweise als eine, die keinen Bezug zur Finalität der unmittelbar praktischen Kommunikation hat und in den Fluß der literarischen Tradition eingebettet ist, innerhalb derer der Schriftsteller seine Auswahl in unterschiedlicher Weise, aber stets im Einklang mit einem inneren Gesetz expressiver Kohärenz trifft. Gleichzeitig macht er aber auch auf eine Orientierung der Sprache und der Kultur auf eine übernationale Kommunikation aufmerksam, bei der die Forderung nach Einfachheit und Klarheit über Ausdruck und Evokationskraft stehen würde.
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nale Identität bestätige, weil sie „das einzige Verbindungsglied zwischen diesen elenden Nachkommen der alten Herren der Welt darstellt" (ebd., S. XXXVIII). Der gebildete Charakter der Nationalsprache wird von Monti entschieden gegen den Kirchturmshorizont der Accademia della Crusca verteidigt, die die Sprache mit dem florentinischen Dialekt gleichsetze: „Egli e tempo ormai di convincersi che non dal popolo, ma dai sapienti, non dal mercato, ma dal Liceo, non dalla balia, ma dallo studio le lingue tutte ricevono la debita perfezione: perciocche il bei parlare non e natura, ma arte; e le arti non s'imparano nella culla al canto della nutrice" (ebd.). Trotzdem meint er, daß die Nationalsprache auch auf der Ebene der Alltagskommunikation existiere und den sprachlichen Kontakt zwischen den Italienern verschiedener geographischer und politischer Zonen der Halbinsel erlaube (ebd.). Insgesamt ist das Interesse und der Eifer Montis auf die Sprache der Gebildeten gerichtet, in der er vor allen anderen die Präsenz einer gemeinsamen nationalen Matrix nachweist. Eine neue Bewußtheit vom Wert der Sprache als Instrument der Übermittlung von Kultur begegnet in den Überlegungen Foscolos, die vom Vergleich der Situation der italienischen Sprache mit der anderer europäischer Sprachen ausgehen. In seinen „Epoche della lingua italiana" zeigt Foscolo den Entwurf einer nationalen Literaturgeschichte an, der auf dem Grundsatz beruht, daß die „Sprachgeschichte keine Spuren hinterläßt, außer in der Literaturgeschichte der Nation" (FOSCOLO 1 9 6 6 , 9 2 9 ) .
So verfolgt er die Wechselfälle der italienischen Sprache, um die Ursachen dafür zusammenzutragen, weshalb es keine Gebrauchssprache gebe, die eine weite und freie Zirkulation der Kultur wie bei anderen europäischen Nationen erlaube. Ausgehend von der Feststellung, daß die italienische Sprache nicht gesprochen wird, merkt Foscolo an: „Le persone educate negli altri paesi d'Europa si giovano della lingua nazionale, e lasciano i dialetti alia plebe. Or questo in Italia e privilegio solo di chi, viaggiando nelle provincie circonvicine, si giova di un linguaggio comune tal quale da farsi intendere, e che potrebbe chiamarsi mercantile ed itinerario. Bensi chiunque, dimorando nella sua propria si dipartisce appena dal dialetto del municipio, affronterebbe il doppio rischio e di non lasciarsi intendere per niente dai popolo, e di farsi deridere nel bei mondo per affettazione di letteratura" (ebd.). Die provinzielle und dialektale Dimension der Umgangssprache bildet den gordischen Knoten der italienischen Literatur des
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19. Jahrhunderts. Foscolo kommt das Verdienst zu, erfaßt zu haben, daß es sich nicht um ein Sprachproblem, sondern auch vor allem um ein kulturelles Problem handelt und daß Italien nie eine europäische Rolle erlangen kann, solange sich die italienische Kultur auf den Dialekt stützt. Einer bedeutsameren Auseinandersetzung mit diesem Thema begegnet man in „Dell'origine e dell'ufficio della letteratura", wo Foscolo nach dem Bedauern über die fehlenden „Geschichten" in der italienischen Literatur einen allgemeineren Überblick über die Schwächen der zeitgenössischen Kultur umreißt: „Quali passioni frattanto la nostra letteratura alimenta, quali opinioni governa nelle famiglie, come influisce in que' cittadini collocati dalla fortuna tra l'idiota ed il letterato, tra la ragione di stato che non puö guardare se non la pubblica utilitä, e la misera plebe che ciecamente obbedisce alle suprema necessita della vita, in que' cittadini che soli devono e possono prosperare la patria perche hanno tetti e campi, ed autorita di nome, e certezza di eredita, e che quando possedono virtu civili e domestiche, hanno mezzi e vigore d'insinuarle tra il popolo e di parteciparle alio stato?" (FOSCOLO 1966, 674). Die Bildung des aufstrebenden Dritten Standes wird hier als eine vorrangige kulturelle Aufgabe im nationalen Maßstab dargestellt, die nach dem Vorbild Frankreichs, Englands und Deutschlands erfüllt werden sollte. Foscolos Problemsicht erweist sich als reifer als die Montis, denn sie gründet sich auf einer moderneren Auffassung von der Rolle der Intellektuellen und einer wacheren Wahrnehmung der zeitgenössischen Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Kulturmarkt. Foscolis Ansichten hinterlassen eine nachhaltige Spur in der Typologie von der zeitgenössischen Gesellschaft, die Berchet in der „Lettera semiseria" liefert, in der der Adressat der kulturellen Botschaft die Mittelschicht zwischen dem „Hottentotten" und dem „Pariser" ist. Auch auf den programmatischen Seiten, die Borsieri für den „Conciliatore" schreibt, wird das Verhältnis zwischen dem Literaten und seinen Lesern im Rahmen eines staatsbürgerlichen und Erziehungsprojektes betrachtet, das die noch völlig unberührte Natur des zeitgenössischen Lesers berücksichtigt. Die Maßstäbe, die Borsieri zur Beschreibung des neuen Publikums anlegt, sind historisch und soziologisch bestimmt und reflektieren das Wissen darüber, daß die Herausbildung einer breiten bürgerlichen Schicht günstige Bedingungen für eine umfassende und vielfältige Intervention der Intellektuellen bei der Meinungsbildung geschaffen hat. An dieser Stelle soll hervorgehoben werden, daß die Übernahme der dem Intellektuellen eigenen Rolle als Erzieher die implizite und explizite Sorge um das Problem
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der Sprache als des Mittels zur Verbreitung der kulturellen Botschaft nach sich zieht (vgl. B O R S I E R I 1818, 4). In den „Avventure letterarie d'un giorno ο consigli d'un galantuomo a vari scrittori" beklagt Borsieri das Fehlen von Zeitungen und R o manen in der literarischen Produktion Italiens. Das Problem der organischen Literaturproduktion, die den Erfordernissen des neuen Publikums entspricht, ist, wenn auch indirekt, eine Frage der Qualität der Sprache, die jetzt in ihrer neuen Bedeutung begriffen wird, als ein Ausdrucksmittel, das dem Leser, dem sich der Schriftsteller mit Bildungsabsichten zuwendet und an dessen Bildungsniveau er sich anpaßt, zugänglich sein muß (vgl. B E L L O R I N I 1975, 95 und 152—156). Die zentrale Rolle des erzieherischen Anliegens in den Überlegungen Borsieris tritt deutlich zutage, als sich Francesco Cherubini mit der Herausgabe einer Lyrikreihe im Mailänder Dialekt zu dessen Förderer macht. Dieser Verstoß ist tief in einer Mailänder Literaturtradition verwurzelt, die mit Porta gerade in diesen Jahren auch eine Dimension sozialer Kritik erlangt und im Stadtdialekt die Alltagserfahrungen der unteren Schichten zum Ausdruck bringt. Cherubinis zwölfbändige „Collezione", die die Erstausgabe der Gedichte Portas enthält, fällt somit auf einen für die Diskussion vorbereiteten Boden. Tatsächlich nimmt Giordani Stellung dagegen und behauptet in der „Biblioteca italiana", daß die Dialektliteratur den sprachlichen Verfall Italiens nur bestätige, der aber durch ein Werk zur Verbreitung der Nationalsprache aufgehalten werden müßte (vgl. G I O R D A N I 1816, 173 ff.; C O R T I 1969). Giordanis Ziel der einheitlichen Nationalsprache wird von Borsieri kritisch diskutiert, der in den „Avventure" hervorhebt, daß die zwischen Sprache und Dialekten bestehende Kluft dem Volk das Lesen von Texten in der Sprache erschwere, da es an den Gebrauch des Dialekts als alltägliches Kommunikationsmittel gewöhnt sei, und daß die Dialektliteratur demjenigen eine Aneignungsmöglichkeit der Kultur biete, dem sie für gewöhnlich verschlossen sei (in: B E L L O R I N I 1976, 105 f.). Andererseits erweitere die Benutzung des Dialekts in der Literatur auch seine Ausdrucksmöglichkeiten und verringere die Distanz zwischen Dialekt und Sprache, indem die letztere denjenigen, die durch ihre soziale und kulturelle Stellung von ihr ausgeschlossen seien, zugänglicher werde. Aber nicht nur dies: M i t einer Sensibilität, die nicht nur aus einer spezifischen Kenntnis der Problematik herrührt, sondern auch aus der Art und Weise, wie Borsieri an das Problem der Meinungsbildung und der Rolle des Intellektuellen herangeht, bemerkt er, daß der Dialekt das kulturelle Erbe des Volkes bewahre, das nicht in der traditionellen Schriftsprache übermittelt werden
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könne, und daß die Dialektdichtung diesem kulturellen Erbe ein adäquates Ausdrucksmittel liefere. In dieser schwierigen Konstellation zwischen dem Drang nach Öffnung zur Kultur des Volkes hin und den Forderungen nach Traditionsverbundenheit findet zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Kulturdebatte statt, und vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Sprachdiskussion. Das alle vereinende Element ist die Rolle, die der Kultur in der Gesellschaft zukommt, denn es ist offensichtlich, daß das puristische Erbe die Bedürfnisse der Intellektuellen, die der Kultur eine Funktion weit ausgreifender ziviler Bildung zuordnen, nicht befriedigen kann. Die „Proposta" Montis entspricht nicht den Forderungen nach der breiten Einbeziehung des Volkes. Dafür ist es notwendig, daß sich die Sprachdiskussion auf ein noch völlig unerforschtes Terrain begibt und ihren Bezugspunkt nicht mehr in der Tradition der Literatursprache, sondern im Rahmen der Gebrauchssprache sucht. In ebendiese Richtung gehen Manzonis Überlegungen zur Sprache.
4.3.2. Manzoni: Von der „analogen" und „europäisierenden" Sprache zur Umgangssprache der florentinischen Mittelschicht Manzonis Überlegungen zur Sprache entstehen aus einem eher zufälligen Bedürfnis, der Abfassung seines Romans. Über die Schwierigkeiten, die er dabei hatte, hat er aufschlußreiche Zeugnisse überliefert. Aus einer Seite des „Appendice", in dem er an diese Bemühungen erinnert, geht hervor, daß auch seine späteren Überlegungen zu einer politischen Lösung des Sprachproblems mit diesem Beweggrund verbunden sind: „E ci sarebbe forse da farvi piu pieta ancora, se v'avessi a raccontare i travagli ne' quali so essersi trovato uno scrittore non toscano, che, essendosi messo a comporre un lavoro mezzo storico e mezzo fantastico, e col fermo proposito di comporlo, se gli riuscisse, in una lingua viva e vera, gli affacciarono alia mente, senza cercarle, espressioni proprie, calzanti, fatte apposta per i suoi concetti, ma erano del suo vernacolo, ο d'una lingua straniera, ο per avventura del latino, e naturalmente, le scacciava come tentazioni; e di equivalenti, in quello che si chiama italiano, non ne vedeva, mentre le avrebbe dovute vedere, al pari di qualunque altro Italiano, se ci fossero state" (MANZONI 1990 b, 759 f.). Die im „Appendice" betonte Notwendigkeit, ein Wörterbuch der florentinischen Gebrauchssprache abzufassen, wird noch einmal in
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der „Relazione" an den Minister Broglio bekräftigt, und zwar im Rahmen der Debatte zwischen der lombardischen und der toskanischen Sektion der durch diesen einberufenen Kommission mit dem Auftrag, „alle Verfahrensweisen und Wege zur Verbreitung der guten Sprache und Aussprache unter allen Volksschichten auszuarbeiten" (ebd., 605ff.). „Relazione" und „Appendice" sind die offiziellen Dokumente, in denen Manzonis langjährigen und beharrlichen Forschungen auf dem Gebiet der Sprache ihren Ausdruck finden. Ein direktes Zeugnis über den Zeitpunkt und ursprünglichen Beweggrund dieser Forschung ist im zweiten, unvollendet gebliebenen Vorwort zu „Fermo e Lucia" zu finden, das auf die Schwierigkeiten eingeht, denen das „gute Schreiben" in einer so komplizierten sprachlichen Situation wie der Italiens begegnet, wo „es viele besondere Sprachen" gebe, die gewöhnlich auch von gebildeten Personen gesprochen werden, eine gemeinsame Gebrauchssprache aber fehle. Der Übergang von der gesprochenen Sprache zum Schreiben komme deshalb der Übersetzungsarbeit in eine Fremdsprache gleich: „Quando l'uomo che parla abitualmente un dialetto si pone a scrivere in una lingua il dialetto di cui egli s'e servito nelle occasioni piu attive della vita, per l'espressione piü immediata e spontanea dei suoi sentimenti, gli s' affaccia da tutte le parti, s'attacca alle sue idee, se ne impadronisce, anzi talvolta gli somministra le idee in una formola; gli cola dalla penna e se egli non ha fatto uno studio particolare della lingua, farä il fondo del suo scritto" (MANZONI 1954, 11). In dieser Phase faßt Manzoni das Problem noch als Stilproblem auf. Sein Ziel ist das „gute Schreiben", und die Grundbedingung dafür sei die Existenz einer kodifizierten Sprache, die dieses „gute Schreiben" erlaube. Das Stilkonzept, das er erarbeitet, kann nur auf der Realität einer bekannten und tatsächlich gebrauchten Sprache beruhen. Entscheidend in seiner Stilkonzeption ist das Verhältnis zwischen geschriebener Sprache und Gebrauchssprache, das er auf eine unumstößliche und definitive Art und Weise festschreibt: „Che cosa poi significhi scriver bene non credo che alcuno possa definirlo in poche parole... A bene scrivere bisogna scegliere quelle parole e quelle frasi, che per convenzione generale di tutti gli scrittori, e di tutti i favellatori... hanno quel tale significato; parole e frasi che ο nate nel popolo, ο inventate dagli scrittori, ο derivate da un'altra lingua, quando che sia, comunque, sono generalmente ricevute e usate. Parole e frasi che sono passate dal discorso negli scritti senza parervi basse, dagli scritti nel discorso senza parervi affettate; e sono generalmente e indifferentemente adoperate per l'uno e per l'altro uso" (ebd., 14 f.).
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Die Einheitlichkeit der durch den Gebrauch kodifizierten Sprache ist die Grundlage, auf der die ganze Überlegung Manzonis beruht. Dieses Prinzip nimmt allmählich einen wissenschaftlichen, auf eine solide theoretische Basis gestützten Charakter an. In „Fermo e Lucia" ist es dagegen noch von den praktischen und emotionalen Motiven der Ursprünge geprägt und verweist auf den Hintergrund der Mailänder Kulturdebatte in den ersten 20 Jahren des Jahrhunderts. Selbst wenn Manzoni in seiner Argumentation die Frage schon in sprachwissenschaftlichen Begriffen formuliert, wie es aus dem Beharren auf dem konventionellen und normativen Charakter und gleichzeitig aus dem Sprachgebrauch hervorgeht, ist die Perspektive einer sprachlichen Gemeinschaft zwischen Schreiber und Sprecher ganz Teil der literarischen Problematik, wie sie von den lombardischen Romantikern debattiert wird. Manzoni, der sich nicht aufs Debattieren beschränkt, sondern schreibt, obliegt die schwierigere Aufgabe, die Handlungsmöglichkeiten für die Realisierung eines mutigen Vorhabens unter den gegebenen Bedingungen einer anomalen sprachlichen Situation des Italienischen einzuschätzen. So verweist er auf die Auffälligkeit dieser sprachlichen Anomalie, auf den ausgeprägten Polyzentrismus, der die Entstehung einer Nationalsprache schwierig und ungewiß macht. Der Ansatz Manzonis zeichnet sich insbesondere dadurch aus, daß er die untrennbare Verbindung zwischen Mündlichkeit und Schreibweise anerkennt. Dies wird in dem Brief an Fauriel vom 3. November 1821 noch weiter begründet. Hier verweilt Manzoni nach der Darlegung seiner Gedanken über den historischen Roman bei den „Schwierigkeiten, die die italienische Sprache ihren Sprechern bereitet": „Imaginez-vous un Italien qui ecrit, s'il n'est pas toscan, dans une langue qu'il n'a presque jamais parle, et qui (si meme il est ne dans le pays privilegie) ecrit dans une langue qui est parlee par un petit nombre d'habitants de l'Italie, une langue dans laquelle on ne discute pas verbalement de grandes questions, une langue dans laquelle les ouvrages relatifs aux sciences morales sont tres rares... Ii manque justement a ce pauvre ecrivain ce sentiment pour ainsi dire de communion avec son lecteur, cette certitude de manier un instrument egalement connu par tous les deux" (MANZONI 1970, 2 4 5 f . ) . Das Problem, mit dem sich Manzoni auseinandersetzt, ist nicht nur technisch oder formal. „Dieses Gefühl der Verbundenheit mit seinem Leser", auf das er prägnant und wirkungsvoll referiert, weist auf das Streben nach einer weiten Verbreitung von Kultur und einer breiten kulturellen Diskussion hin. Wenn das sprachliche Bezugsmodell französisch ist, so ist der Rahmen, in den es sich einfügen und in dem es fruchten soll, der italienische in seiner nationalen Dimension.
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Es ist also kein Zufall, daß das Streben nach der Einheitssprache am Anfang der Arbeit am Roman deutlich wird. Die bürgerliche und alltägliche Spezifik dieses Genres selbst, der sich Manzoni völlig bewußt ist, unterstreicht die Unzulänglichkeiten und die ungenügenden Ausdrucksmöglichkeiten des sprachlichen Repertoires der italienischen literarischen Tradition und lenkt Manzonis Suche auf ein Ausdrucksmittel, das allen Bedürfnissen genügt und überall verstanden wird. Wie aus den Überlegungen hervorgeht, die er Fauriel gegenüber äußert, sind die Lösungswege in dieser Phase des Herangehens noch informell und vorläufig: „Pour moi... je crois cependant qu'il y a aussi pour nous une perfection approximative de style, et que pour la transporter le plus possible dans ses ecrits il faut penser beaucoup a ce qu'on va dire, avoir beaucoup lu les Italiens dits classiques, et les ecrivains des autres langues, les fran^ais surtout, avoir parle de matieres importantes avec ses concitoyens, et qu'avec cela on peut acquerir une certaine promptitude a trouver dans la langue fran9aise ce qui peut etre mele dans la nötre sans choquer par une forte dissonance, et sans y apporter de l'obscurite" (ebd., 246f.). Die „analoge" und „europäisierende" Sprache, auf die sich der Schriftsteller bezieht, ist nur die Darlegung einer Maxime, deren Anwendung auf die Schriften aus vielen Gründen, die nicht Gegenstand dieser Erläuterungen sind, nicht möglich war. Es ist zwar sicher, daß die toskanische Perspektive bei Manzoni relativ früh sichtbar wird, aber in der Anfangsphase erscheint sie als eine Möglichkeit, deren kulturelle Tragweite noch zu überprüfen war, das heißt als Fähigkeit, die Verbreitung der Ideen im nationalen Rahmen und „auf der Höhe der europäischen Erkenntnisse" (MANZONI 1954, 16) zu garantieren und anzuregen. Und tatsächlich beginnt Manzoni seine Überprüfung damit, daß er im mailändisch-toskanischen Wörterbuch von Cherubini nachschlägt, mit dem er die ersten Schwierigkeiten des „Mailänders auf der Suche nach der Sprache" überwindet, und ebenso im Wörterbuch der Crusca (das er auch kritisch diskutiert). Wir wissen, wie problematisch und vieldiskutiert das Verhältnis zu diesem Arbeitsmittel gewesen ist (vgl. I S E L L A 1 9 6 4 ) und wie die Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache Manzoni zu Einzeluntersuchungen über die Autoren veranlaßt hat, die aus persönlicher Berufung oder aus Zuwendung zu bestimmten literarischen Genres Modelle einer Sprachmischung in realistischer Form und damit also eine relative Garantie für die Treue gegenüber der gesprochenen Sprache geliefert haben (ebd., vgl. auch M A T A R R E S E 1977).
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Sprachpolitik im 19. J a h r h u n d e r t
Diese „ M ü h s a l " wird auf einer Seite des „Appendice" beschrieben, die schon zitiert wurde, die es sich aber wieder aufzunehmen lohnt, wobei zu betonen ist, daß sie von vornherein die toskanische Orientierung erkennen läßt und keinerlei Alternative setzt, sie sogar als Verirrungen ausschließt, die mit der Anfangsphase und mit einer durch das Problem verfälschten Sichtweise verbunden seien: „E ci sarebbe forse da farvi piu pieta ancora, se v'avessi a raccontare i travagli ne' quali so essersi trovato uno scrittore non toscano che, essendosi messo a comporre un lavoro mezzo storico e mezzo fantastico, e col fermo proposito di comporlo, se gli riuscisse, in una lingua viva e vera, gli s'affacciavano alia mente, senza cercarle, espressioni proprie, calzanti, fatte apposta per i suoi concetti, ma erano del francese, del suo vernacolo, ο d'una lingua straniera o, per avventura del latino, e naturalmente, le scacciava come tentazioni . . . " (MANZONI 1 9 9 0 b , 759 f.). Es sei hier auf das Ende des Zitats hingewiesen, weil es die Indizien für Manzonis zensorische Haltung zu jener Phase seiner Suche liefert, die sich im nachhinein vor seinen Augen als „Ketzerei" darstellt. Unter den immer wieder neuen Überlegungen, die Manzoni im Laufe seines Schaffens anstellt, ist diese die am wenigsten beachtetete, aber gewiß nicht die unwichtigste. Diese sprachlichen „Versuchungen" einer instinktiven, natürlichen Orientierung auf das Naheliegendste und Praktikabelste lagen in jener frühen Phase in der Laufbahn des Schriftstellers, die vor dem Hintergrund der kulturellen Debatten durch mutige und innovative Entscheidungen geprägt war. Diese gesamte Phase seines persönlichen Lebens und der Realität, die den Rahmen dafür abgab, mißt Manzoni mit den moralischen und politischen Maßstäben der späteren Jahre, in einer Lebensphase, als er die Hoffnungen begraben hatte, kurzfristig sein Projekt einer zivilen und moralischen Erneuerung als notwendige Voraussetzung für die Realisierung des nationalen Entwurfs verwirklichen zu können. In dieser Zeit hat er sein aktives Engagement der Jahre 1815 — 30 aufgegeben (denn um aktives Engagement handelte es sich, obwohl er es immer abgelehnt hatte, sich öffentlichen Umsturzbestrebungen anzuschließen, vgl. dazu TOSCHI 1989, Kap. 1 — 5) und besinnt sich auf eine gemäßigte Haltung, für die in der Sprachdiskussion die Option für das Florentinische das markanteste Beispiel ist. Die Tragweite dieser Entscheidung wird noch deutlicher, zieht man in Betracht, in welcher Stadt Manzoni dazu fand: in Mailand, wo die Sprachdiskussion kulturell am anspruchsvollsten und ideologisch am offensten geführt wurde (dazu TIMPANARO 1973 u. 1974). Aus Gründen der historischen Exaktheit sei an dieser Stelle auf die Komplexität der
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Motivationen hingewiesen, die Manzonis Entscheidung vorausgingen und die auch nicht nur die Person Manzonis betreffen, sondern allgemein einen ganzen Bereich katholischer Kultur, dem er angehört und in dem er sich wiedererkennt (vgl. COLETTI 1987). Da es um Sprache geht, sollen einige Gedanken aus den Schriften und Entwürfen Manzonis zur Sprache angeführt werden. Dies nicht nur wegen ihrer beispielhaften Klarheit, der Schärfe, sondern auch, um ein ideologisches Gerüst freizulegen, das unter den Komponenten der linguistischen Vorstellungen des Manzoni der späteren Jahre bisher vielleicht nicht genügend Beachtung gefunden hat. Der provisorische und problematische Charakter, den die Option für das Florentinische in der oben erwähnten 2. Einleitung zu „Fermo e Lucia" annimmt, und die noch größere Perplexität, die Manzoni über das urtümliche Potential dieser Sprachform äußert, die die expressiven Bedürfnisse des modernen Italieners befriedigen könne, stellt das signifikanteste Indiz für die Bereitschaft des Schriftstellers dar, das Problem unter einem historisch determinierten Aspekt zu betrachten. In dieser ersten Phase der Reflexion Manzonis gibt es keine Anzeichen einer Vorliebe für das Toskanische; die Problematik entsteht gerade aus der Erkenntnis der historischen Grenzen, die den Verarmungsprozeß des Toskanischen bewirkt hatten (vgl. MANZONI 1954, 16). Diese Art der Problemsicht erscheint allerdings in den folgenden Schriften Manzonis nicht mehr. Eventuell läßt sich noch eine Spur davon in dem Brief an Cesari finden, in dem der Rückgriff auf Archaismen als eines der hervorstechenden M e r k m a l e der Anomalie des Italienischen bezeichnet wird: „Seltamer Z u s t a n d . . . , einen Teil der eigenen Sprache in alten Büchern suchen zu müssen ... Wirklich seltsam ... aber so ist nun einmal." (MANZONI 1970, 453). In diesem Fall werden die Archaismen durch die historischen Bedingungen gerechtfertigt, die die besondere Situation des Italienischen bestimmt haben. Meiner Ansicht nach finden sich nach diesem Zeitpunkt (also 1827; im selben Jahr findet die erste Reise nach Florenz statt, um das „Bad im A r n o " vorzunehmen) in den linguistischen Schriften Manzonis keine Hinweise auf ein historisches Herangehen an das Sprachproblem mehr. Aus dem J a h r 1829 stammt ein Brief an Victor Cousin (MANZONI 1963, 581 ff.), der den Beginn einer neuen Sichtweise darstellt. Hier dominiert das Interesse an einer theoretischen Definition, die Manzoni als Vorbedingung für Einzeluntersuchungen betrachtet. Manzoni beginnt, an einem Interpretationsraster zu arbeiten, das auf allgemeinen Prinzipien beruht und den obligatorischen Bezugsrahmen für die Lösung jedes speziellen Falles bildet.
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Neben diesem methodischen Ansatz finden sich Gedanken über die Natur und das Wesen der Sprache und die ständige Definition des Sprachgebrauchs als Übereinkunft, der die „Wörter die Fähigkeit des Bezeichnens entnehmen" (MANZONI 1990, 2 5 9 f f . ) . In dieser Hinsicht lehnt M a n z o n i die Prinzipien der allgemeinen Grammatik ab und vertritt den konventionellen und arbiträren Charakter des Zeichens und somit auch die Priorität des Sprachgebrauchs als Legitimationsprinzip der Sprache: „L'uso e l'arbitro supremo, la sola causa efficiente delle lingue, in ogni parte" (MANZONI 1974, 241). In neueren Forschungsarbeiten wurde zu Recht auf die Modernität des linguistischen Ansatzes bei Manzoni verwiesen (vgl. besonders B R U N I 1983). Um die Qualität dieses Ansatzes korrekt zu beurteilen, ist es jedoch meiner Ansicht nach angebracht, ihn in seiner ganzen Bedeutung zu betrachten. Das Problem der Sprache, für M a n z o n i ohne Zweifel das wichtigste Problem nach der Fertigstellung des R o m a n s , hat auch allgemeinere Implikationen. D a s beweist der enge Zusammenhang, den der Schriftsteller zwischen der Ausübung des katholischen Glaubens und der These von der Schöpfung („creationismo") herstellt, die er als die Lösung des Problems vom Ursprung der Sprache sieht und die im 18. Jahrhundert lange Zeit diskutiert wurde: „ . . . sappiamo dalla Rivelazione avere Iddio da principio parlato ai progenitori deH'umanitä, e comunicato ad essi per tal modo l'atto della parola, della quale aveva lor dato la potenza insieme c o l l ' e s s e r e " (MANZONI 1 9 9 0 , 2 6 5 ) .
Diese Haltung ist nicht verwunderlich, denken wir an die Strenge des Manzonischen Katholizismus, der sich nach den 30er Jahren aus verschiedenen und noch nicht genau erforschten Gründen noch verstärkt und der auch die ablehnende Reaktion des Schriftstellers auf die historische Linguistik zum Ausdruck bringt, wie sie in den M a i länder Kreisen von Biondelli, R o s a , Tenca, Cattaneo und anderen betrieben wurde. Das komplizierte Verhältnis Manzonis zum T h e m a der Wahrheit bestimmt auch seinen Forschungsansatz. Die Wahrheit wird nicht als Ziel von Forschung verstanden, sondern als Voraussetzung, an der der Forschungsgegenstand sich orientieren muß. Schon 1828 erscheinen im Briefwechsel Manzonis bezeichnende Hinweise auf eine unnachgiebige Zustimmung zur Kirchendoktrin und auf das Bestreben, deren Anwendungsgebiete auch auf Bereiche auszudehnen, die über die offenbarte Wahrheit hinausgingen. In einem Brief an Diodata Saluzzo R o e r o schreibt er: „Es ist wahr, daß die Klarheit der katholischen Religion meinen Geist erfüllt und beherrscht. Ich sehe sie am Anfang und am Ende aller moralischen Fragen, überall, wo sie an-
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gerufen wird und überall, wo sie ausgeschlossen bleibt. Die Wahrheiten selbst, die auch ohne Geleit der Religion zu finden sind, scheinen mir dann nicht vollständig, begründet, unerschütterlich. Sind sie aber auf die Religion zurückgeführt, erscheinen sie uns als das, was sie sind: logische Folge ihrer Lehre..." ( M A N Z O N I 1970, 4 5 5 f.). Der allumfassende Charakter, den der Katholizismus Manzonis von diesen Jahren an erreicht, wird hier durch den Verweis auf die Ursprünge der katholischen Lehre dokumentiert, mit dem er den wissenschaftlichen Auffassungen Konsistenz und Autorität zu verleihen sucht (vgl. M A N Z O N I 1 9 7 0 , 4 5 5 f.). Das Bekenntnis zum creazionismo ist ein sinnfälliges Beispiel dafür. Gleichzeitig nimmt die Neigung zu einem stark zentralisierten Staatsmodell Konturen an, welches sich von den Vereinigungsbestrebungen der um 1820 entstandenen Schriften vollkommen unterscheidet. Jenes Italien, „una d'arme, di lingua, d'altare di memorie, di sangue, di cor", das Anzeichen politischen Verfalls erkennen läßt, jedoch als tiefe und substantielle nationale Einheit empfunden wird, trug noch nicht die Hypothek einer zentralistischen Institutionalisierung, die dagegen auf Manzonis Einheitsplan der dreißiger Jahre lastet. Dieser vom französischen Modell abgeleitete mächtige Etatismus bildet die ideologische Grundlage, auf die sich der sprachliche Florentinismus gründet, ein monolithisches Sprachmodell, dessen historisch-kulturelle Anwendungsmöglichkeiten nicht überprüfbar sind und das aus politischer Opportunität und praktischer Zweckmäßigkeit einen bestimmten Sprachgebrauch als allgemeine Norm kanonisieren möchte. Die Erforschung der Sprache für den Roman führte zur Erforschung der Sprache für die Nation; und der wahre Symbolwert des Sprachmodells geht aus den Schriften Manzonis klar hervor, in denen die sprachliche Einheit als grundlegendes Element der nationalen Identität angesehen wird. Denn: „da questo avere ο non avere una lingua comune dipende per noi l'essere una nazione, ο una moltitudine di tribu, l'essere riuniti in una civilizazzione, ο divisi in non so quante b a r b a r i e " (1970, 5 6 5 ) .
Wenn außerdem die Sprachsituation Italiens mit ihrem Polyzentrismus auch erklärbar sei, so hebt er weiter hervor, könne dies jedoch die Anforderungen an eine Kommunikation im nationalen Rahmen nicht befriedigen: „una lingua, m'avete detto... non e altro che un mezzo d'intendersi uomini con uomini. Nominar direttamente una parte soltanto delle cose che occorre dire; e una parte di questa parte, con vocaboli noti a che sente, come a chi parla, ma un'altra parte, con vocaboli che il contesto ο l'analogia gli fa bensi intendere, ma che gli riescono strani; un'altra con vocaboli che non conosce ne
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intende; e una cosa che, in certo senso, si puo chiamare un intendersi, come si chiama vestito anche quello sia pieno di toppe, di buchi e di sbrani; ma vi domando se e l'intendersi di quelli che possiedono una lingua comune" (1974, 535). Schon in dieser Schrift zeigt die Auflistung der Mängel der verschiedenen italienischen „Sprachen" deutlich, daß der Plan einer gemeinsamen Sprache mit progressivem Wachstum für Manzoni durchführbar ist. Ihm erscheint praktisch viel wirkungsvoller die Annahme der einheitlichen Sprache (des Florentinischen), die im täglichen Gebrauch die Spuren alter literarischer Würde bewahrt und außerdem eine große Auswahl von Alltagswendungen aus dem buntscheckigen nationalen Sprachatlas aufnimmt. Das französische Modell wird als glaubwürdiger Zeuge angeführt, weil es bestätigt, wie nützlich es sein kann, einer lokalen Sprache die Würde der Nationalsprache zu verleihen, vorausgesetzt, sie verfügt über die notwendigen Bedingungen dafür: „ M a dal confronto tra i francesi e noi, io non voglio punto inferire che questo riconoscere concordemente, pienamente, costantemente una lingua sia un merito loro particolare; bensi che e una condizione necessaria per averne una comune, quando s'e un complesso di popolazioni aventi diversi idiomi... (1974, 578). Der gebieterische Charakter der Wahl des Florentinischen tritt ganz offensichtlich aus diesen Zeilen hervor und stellt einen wichtigen Schlüssel dar, um die Motive für Manzonis Vorschlag zu verstehen und zu bewerten. An entsprechender Stelle ist der funktionale Charakter unterstrichen worden, den diese Entscheidung für die Wirklichkeit des vereinten Italiens hatte; aber gerade dieser Charakter ihrer übereilten Zweckmäßigkeit ist erstaunlich und löst Fragen nach den kulturellen Koordinaten aus, in die sich die Entscheidung für das Florentinische einordnet. Und so führt uns der von uns verdeutlichte Nexus zwischen diesem sprachlichen Ziel und dem stark zentralistischen Einheitsmodell, das den Schriftsteller inspirierte, zur Annahme einer, wie es heißt, „colonizzazione linguistica" (STELLA 1974, 116), sowie der kulturellen Kontrolle und Vereinheitlichung unter der Führung der hegemonischen Schichten und zum partiellen Wohle der subalternen Schichten. 4 9 Andererseits fällt es gerade Manzoni zu, im politischen Spiel nach der Einigung Italiens eine Mittlerfunktion in den Auseinandersetzun49
Das Sprachmodell, das Manzoni vorschwebt, gründet auf der substantiellen Selbstgenügsamkeit der Bildung des „uomo c o l t o " , die sich mit der Zeit auch der „uomo del volgo" aneignen könnte (vgl. Appendice, MANZONI 1990, 708).
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gen gegenüber einem übermäßig „toskanistischen" Lager zu übernehmen, das im ländlichen Toskanisch die eigentliche Italianität, die ursprünglichen Charakteristika des nationalen Idioms zu sehen glaubt und es zu einem konservativen Sprachmodell erhebt (vgl. BRONZINI 1971; M A R A Z Z I N I 1978; M A T A R R E S E 1981). In diesem Sprachstreit wird behauptet, es habe ein an eine uralte Tradition der Kultur und Zivilisation gebundenes Privileg gegeben, dessen ursprünglichen Kern die ländliche Bevölkerung der Toskana unverändert bewahrt habe. Die Überbewertung der ländlichen Sprache und Lebensform steht aber auch im Einklang mit dem Vorschlag eines wirtschaftlichen Entwicklungsmodells, das sich auf eine Steigerung des landwirtschaftlichen Reichtums und auf eine Verherrlichung einer ländlichen Kultur stützt, in welcher der Schutz der moralischen Werte einhergeht mit der "Wahrung der sozialen Ordnung (vgl. C A R P I 1974 b; M E L L I FIORAVANTI 1986). Das Sprachmodell des ländlichen Toskanischen ist somit Ausdruck eines antiurbanen und antiindustriellen Gesellschaftsmodells, das breite Kreise des gemäßigten toskanischen Adels am Vorabend und unmittelbar nach der Einheit befürworten und dem von Piemontesen und Lombarden vorgeschlagenen fortschrittlicheren Gesellschaftsmodell entgegensetzen. Vor diesem Hintergrund erfüllt der Florentinismus Manzonis die Funktion einer politischen und kulturellen Vermittlung, indem er eine in einem Urbanen Zentrum gesprochene Sprache favorisiert, welche die historische Gabe zu Wachstum und Bereicherung in sich trägt. Ebenfalls gegen Positionen, die in der toskanischen Kultur der Moderati im Schwange sind, betont Manzoni die Nützlichkeit, nicht ein Wörterverzeichnis der Literatursprache, sondern eines des Alltagsgebrauchs zu verfassen, das vor allem den schrittweisen Zugang der am wenigsten gebildeten Schichten zur Nationalsprache ermöglichen sollte 5 0 . So tritt in der Auseinandersetzung mit rückschrittlicheren Auffassungen der innovative Charakter des Sprachmodells Manzonis zutage, das, wenn auch in den Grenzen eines behutsameren Moderatismus, die Möglichkeit einer breiten und umfassenden kulturellen Entwicklung einleitet.
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Das Wörterbuch ist für Manzoni ein unersetzliches Instrument dafür, die angestrebte sprachliche Gemeinsamkeit zwischen dem Gebildeten und dem Mann aus dem Volk zu e r r e i c h e n (vgl. MANZONI 1 9 9 0 , 7 0 9 ) .
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4.3.3. Cattaneo und die gemeinsame Nationalsprache Die Frage der Nationalsprache wird von Carlo Cattaneo in einer Weise aufgegriffen und gelöst, die man als antithetisch zu der von Manzoni vorgeschlagenen ansehen kann. Mailänder wie Manzoni und wie dieser mit einem europäischen kulturellen Hinterland verbunden, ist Cattaneo ein Vertreter der weltlichen und demokratischen Strömung aufklärerischer Herkunft in der lombardischen Kultur des 1 9 . Jahrhunderts (vgl. A L E S S I O 1 9 5 7 , 5 0 3 f.). Seine durch Romagnosi geprägte Bildung hatte ihn dazu gebracht, in der italienischen Geschichte die kulturelle Präsenz der Verbindung zum Römertum hervorzuheben, die er nicht in den schon von der napoleonfreundlichen Rhetorik betonten imperialen Merkmalen sieht, sondern in den Urbanen Merkmalen, wie er in der Einführung zu den „Notizie naturali e civili sulla Lombardia" unterstreicht (vgl. N O T I Z I E 1844; C A R R A N A N T E 1977, 213ff.). Dieses römische und lateinische Italien steht offensichtlich nicht im Einklang mit der romantischen Neigung zu den germanischen Kulturen hin. Cattaneo befürwortet eine Politik und Kultur, die über die Nation hinausreicht, doch gleichzeitig fordert er, die Besonderheiten der einzelnen Traditionen eifersüchtig zu beschützen. Sein historischer Realismus veranlaßt ihn, das Gewicht des Bestehenden niemals außer acht zu lassen und den Neuerungen zu mißtrauen, die der Mode oder elitären Initiativen entspringen. Derselbe Realismus veranlaßt ihn auch, eine föderative politische Lösung für zweckmäßig zu halten. 5 1 Er motiviert dies, indem er auf eine durch die politische Vielfalt geprägte nationalgeschichtliche Tradition und davor noch auf das Vorhandensein ethnischer Gegebenheiten verweist, weshalb er einen monolithischen und zentralistischen Staat, der die kulturellen Einzelinteressen beeinträchtigen würde, für unmöglich hält. 5 2 Bei der Bewältigung der nationalen Problematik kommt den Intellektuellen eine besondere Aufgabe zu. Es ist die pädagogische Rolle in einem allgemeinen Sinne, die alle italienischen Intellektuellen, M o derati und Demokraten, bei der Formung eines staatsbürgerlichen
51
„I patriarchi della politica italiana non sanno persuadersi che patto federale e un modo d'unita, e l'unico forse, perche unico, durevol modo di concordia e di liberta"
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Die historischen Ursprünge des föderativen Prinzips, das nach Cattaneo die italienische Nation kennzeichne, werden auf die Etrusker zurückgeführt (vgl. ζ. B. „Sulla Lombardia", CATTANEO 1957, 7 9 9 f . ) .
(CATTANEO 1 9 5 7 , 5 7 8 F . ) .
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Bewußtseins übernehmen. Es ist aber auch die Funktion der Entmystifizierung, zu der Cattaneo sich und seine Kollegen in der Auseinandersetzung mit der vom Mythos des Risorgimento genährten geistigen Verwirrung verpflichtet. Und es ist besonders die Erziehung zum Verstehen der Gegenwart auf der Grundlage ihrer Verflechtungen mit der Vergangenheit, und der Vergangenheit unabhängig von der Sichtweise der Gegenwart. Dieser Denkrichtung ist eine brennende politische Leidenschaft keineswegs fremd, die national, aber vor allem mailändisch ist; die „milanesita" Cattaneos, die in der Schrift „Sulla Lombardia" besonders deutlich wird, verschließt sich der nationalen Dimension nicht. Sie ist sich aber des historischen Rückstands, mit dem Italien diese nationale Dimension erreicht, und der in ihr enthaltenen provinziellen Aspekte bewußt. Auf diesen Voraussetzungen beruht der von Cattaneo im Widerspruch zum Florentinismus Manzonis und der Crusca formulierte sprachpolitische Vorschlag, der bereits von Monti formuliert worden war, nun aber der sprachlichen Verständigung besondere Aufmerksamkeit widmet, vor allem in der Frage des Verhältnisses von Sprache und Dialekten in der italienischen Gesellschaft; „La lingua italiana non e cosa isolata e solitaria, ma punto di convegno e consonanza fra molti dialetti; in ciascuno dei quali tanta parte di essa si riverbera e ripete, che in essa e per essa si manifestano fratelli... Questi modi di convegno nazionale non sono dunque d'arbitrio e d'autoritä, ma dipendono dalla natura dei dialetti, che vengono per loro a confederarsi" ( C A T T A N E O 1957, 516). Diese Konföderation von Dialekten ist für Cattaneo eine historisch begründete Tatsache und darum unanfechtbar; davon hängt die Existenz einer gemeinsamen Nationalsprache ab, die sich in einer Weise herauszubilden im Begriff ist, die ebenfalls historisch bestimmt ist. Dennoch erkennt Cattaneo die Rolle an, die die Toskana im Entstehungsprozeß des Italienischen gespielt hat, er bekräftigt aber gleichzeitig, daß die Gründe für diese Vorherrschaft historisch erklärbar und alle Dialekte reich an Formen der gemeinsamen Sprache sind. Auf diese Prämisse gründet sich sein Vorschlag für eine Nationalsprache. Und in erster Linie stellt er fest, daß der angebliche Florentinismus des Italienischen nicht sprachgeschichtlich zu erklären sei, sondern aus der „Arroganz" der Crusca herrühre, die die nationalen Merkmale des Italienischen verwischte und durch dialektale Merkmale ersetzte: „Questo sforzo di rannicchiare la lingua d'una nazione entro il dialetto d'una citta, anzi entro l'incompiuto e capriccioso suo glossario, apporto perditempo e molestia, accendendo una perpetua
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guerra tra quelli che non volevano ο non sapevano farsi fiorentini cosi sul dizionario, e quelli che si glorivano d'essere volonterosi e schienuti portatori di qualsiasi basto." (ebd., 518) Die strikte Unterscheidung zwischen Sprache und Dialekt, zwischen Nation und Stadt, liegt also dem Antiflorentismus Cattaneos zugrunde. In dieser Polemik kommt zweifellos auch die Verweigerung zum Vorschein, die kulturelle Hegemonie der Toskana anzuerkennen, was in jenem Klima damals der Befürwortung eines entgegengesetzten kulturellen, aber auch wirtschaftlichen und politischen Modells, des lombardischen, gleichkommt. Das Bewußtsein, der lombardischen Geschichte anzugehören, und nur über diese Verbindung auch der italienischen, ist ein Wesenszug der Ideologie des Schriftstellers. Er wird besonders bei der Beschreibung der Charakteristika des Mailänder Dialekts deutlich: „Ii nostro dialetto, nei cordiali e schietti suoni del quale si palesa tutta la nostra indole, piu sincera che insinuante, porta impresse le vestigia della nostra istoria. Le origini celtiche si manifestano indelebilmente nei suoni; le romane nel dizionario; qualche lieve solco, lasciato dall'infeconda eta longobardica, a gran pena si discerne, mentre vi giacciono inesplorate ancora le tracce di qualche cosa che fu piu antico e piü nativo dei Romani e forse dei Celti. I confini entro cui si parla questo linguaggio e gli affini suoi, rappresentano tutta la geografia dei secoli romani; documento istorico che attende ancora chi ne sappia trar lume ad ardue induzioni" (ebd., 871). In diesen Zeilen verwandelt sich die Geschichte eines Dialektes in die Geschichte eines Volkes; und das RÖmertum ist der Faktor, der dem keltischen Partikularismus nationalen Charakter verleiht und ihm außer den Besonderheiten der Sprache die Wesensmerkmale einer Zivilisation aufprägt. Dies geht aus den Seiten der „Storia" hervor, auf denen Cattaneo die städtischen Merkmale des Römischen Reiches als den signifikantesten und dauerhaftesten Aspekt der Permanenz des Römertums in der lombardischen Geschichte und als Garantie für Demokratie und Recht auch im Kontext der langobardischen Barbarei bezeichnet (ebd.,
820).
Das RÖmertum wird so zum Zeichen einer Nationalkultur, die in den städtischen Institutionen fortdauert; wie auch die Spuren der römischen Geographie im Mailänder Dialekt diese Provinzsprache mit der Nationalsprache verknüpfen. Den Übergang vom Dialekt zur Sprache umreißt Cattaneo als Weg der „unkultivierten Volksschichten vom Gebrauch einzelner Idiome
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zum Gebrauch einer „favella illustre", damit sie endlich das Zeitalter der Wildheit hinter sich lassen und sich den Protagonisten des Menschengeschlechts zugesellen können" (ebd., 409). Der allmähliche Aufstieg der Nationalsprache korrespondiert also mit der Aneignung einer reiferen Zivilisationsstufe, der Bereitschaft zur Auseinandersetzung, zum Handel mit Gütern, zum Austausch der Kulturen miteinander; er ist der Ausdruck einer entwickelten Sozialität und gleichzeitig eine Bindeglied des nationalen Zusammenlebens und ein Zeugnis desselben, das auch in einer bedeutenden literarischen und kulturellen Tradition zum Ausdruck kommt. Cattaneo faßt diese Tradition in einem Gesamtbild zusammen, wobei er inhaltlich Foscolos „Epochen" folgt und im Anschluß an Monti und Perticari die Funktion des sprachlichen Werkes Dantes zeigt, der zu seiner Zeit Förderer und Theoretiker einer „lingua comune illustre" gewesen war. In der Tat, Dante „fisso la lingua, scegliendo con lucido e quasi infallibile giudicio nel dialetto toscano tutto cio che consonava agli altri dialetti italici, e pertanto era acconcio a diventar lingua comune" (ebd., 502). Der aktuelle Wert, den die Berufung auf Dante in diesen Zeilen gewinnt, kommt daher, daß die von Dante bei der Kodifizierung der Sprache angewandte Auswahlmethode von Cattaneo als immer noch gültiges Prinzip postuliert wird und unter anderem in der Behauptung von der kulturellen Rückständigkeit des „Munizipalismus" der Florentinisten und seiner Verurteilung zum Ausdruck kommt (vgl. 1957, 397f.). Gleichzeitig betont Cattaneo mit Nachdruck den überaus formalen Charakter des Schreibens von Literatur. Daher die Polemik gegen denjenigen, „chi nausea nelle lettere cio ch'e meramente letterario, sdegna la lode dei dotti, affetta disprezzo della forma" (ebd., 381 f.). Man erkennt in dieser Verteidung der Form dieselbe Forderung nach Strenge, die Cattaneos historiographische Methodologie bestimmt. Sie flößt ihm Mißtrauen gegenüber den Intellektuellen ein, die daran gewöhnt sind, „gonfiar pretese di missioni e d'apostolato", und die Auffassung zu vertreten, „che le 'versi e le prose facciano Ie nazioni, e non siano meri indizi della loro vita politica e morale" (ebd., 382f.). Etwas anderes ist nach Cattaneo das spezifische Ziel der Berufung des Schriftstellers, die eben in der Schaffung „della bella e viva forma" (ebd., 391 f.) besteht. Cattaneo ist sich selbst bewußt, daß der Aufruf zur Respektierung der Form Anlaß zu Mißverständnissen geben kann. Deshalb verdeutlicht er, daß seine Forderung etwas völlig anderes ist als der von vielen praktizierte und von der Crusca gepredigte rhetorische Nor-
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mativismus. Die „Form", die er anstrebt, ist wohl mit einer Erforschung der Sprache verbunden, aber nicht der von den Akademien festgelegten Sprache, sondern derjenigen, die im breiten Strom der literarischen Tradition mitfließt und durch die Einfühlsamkeit des Schriftstellers wiederbelebt wird. In dieser Sprache ist das Erbe der nationalen Kultur tatsächlich aufgenommen und kodifiziert. In diesem Sinne erklärt sich das Urteil Cattaneos über Manzonis Prosa von 1827 und 1840: „Ben vi fu ai nostri giorni un grande scrittore che col proposito di dar colore di paese al suo racconto, venne facendo una si felice scelta di modi, che parve lombardo ai lombardi, e tuttavia toscano ai toscani e italiano a tutta l'Italia. Ε taluno si fece le meraviglie che tanta parte dei modi contadineschi d'un popolo fosse commune ad altro separato e lontano. M a doveva in quella vece ammirare l'ingegno che... Ii aveva sentiti, e Ii aveva potuti adunar d'ogni parte, ed istendere con tanta felicita e seguenza d'impasto. M a . . . infervoratosi poi, come avviene nelle cose di lingua, avrebbe guasto l'opera sua se fosse stato in tempo di farlo; conciossiache non ricerco altrimenti nel toscano „il ρϊύ bei fiore", vale a dire cio ch'e consentaneo a tutti i popoli d'Italia, ο puo di leggieri divenirlo, ma quelle peculiarita le quali sono al tutto esclusivo del luogo, e riescono impopolarial trove" (ebd., 503 f). In der gleichen Denkrichtung sieht Cattaneo schließlich auch die Armut der italienischen literarischen Kultur historisch motiviert. Die Literatur stehe noch auf der Stufe handwerklicher Produktion, während sie in den fortschrittlichsten europäischen Ländern die Merkmale einer effizienten Industrie erreicht habe: „Un'istoria d'amore, una monografia di passioni e lavoro facile e quasi triviale in Francia, in Germania e soprattutto in Inghilterra, dove grandi scrittori ne apersero per tempo il cammino, e dietro l'orme loro un'intera tribu vive descrivendo passioni... Ε il mondo leggente cola consuma ogni anno una messe novella di romanzi, non altrimenti che i pacchi di guanti ο le casse di te... M a in Italia, nella terra della bella lingua, tra il dizionario della Crusca e quello dei sinonimi, una pagina di romanzo e lavoro di piü astrusa ragione che non un atto di tragedia od un canto di epopea. Ε nei nostri paesi corrono formidabili racconti di decine d'anni omericamente spesi a fare un romanzo, od anche solo a premeditarne lo stile, anzi a crearlo; perche ogni scrittore nostro e troppo grande da scrivere come gli altri... Sarebbe come chi per fare un borsellino, cominciasse a torcersi e a tingersi da se le sete variopinti, e fabbricarsi le stellette d'oro ο le perline d'acciaio" (ebd., 396f.). In diesem Zusammenhang erklärt sich Cattaneos Forderung nach formaler Strenge beim Schreiben und ihrer grundlegenden historischen
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Motivation. Es gebe keine Sprache ohne Geschichte, kein Schreiben ohne Sprache; die breite und bewußte Aneignung des aus der nationalen Tradition rührenden sprachlichen Erbes sei die Voraussetzung für den Beruf des Schriftstellers. Außerdem bilde dieses ein notwendiges Verbindungsglied zwischen Schreibendem und Adressaten. Deshalb gestatte nur der vollständige Besitz der Sprache dem Schriftsteller, sich mit jener Wirkung auszudrücken, die das Papier mit Leben und Wärme erfüllt. „Die Masse der Italiener" verteile Zustimmung und Ablehnung ihrer Schriftsteller nicht aufs Geratewohl: „Quasi si direbbe che in quelle scritture a cui la Crusca volle principalmente appellarsi, siano due diverse lingue; e ben si vorrebbe interpretare in qualche modo quel pertinace e perfetto guidicio della moltitudine degli italiani, che sempre si apprese all'una come a cosa sua, e sempre come aliena e barbara ricuso l'altra. Deve pur esservi qualche secreta legge, dietro la quale essi seppero distinguere voce da voce, separar Dante da Dante, e Boccaccio da Boccaccio, quasi con cio che nella vita materiale si chiama secrezione" (ebd., 505). In diesen Zeilen berührt die Überlegung zur Qualität der Literatursprache einen zentralen Punkt des Problems, den der Beziehung, die sich im Text zwischen dem Schreibenden und dem Leser aufbaut, und zwar zu einem guten Teil über die Qualität der Sprache.
4.3.4. Carlo Tenca und Ippolito Nievo In ähnlicher Weise wie Cattaneo sieht sich auch Carlo Tenca dem Problem der italienischen Sprache gegenüber. Auch bei ihm fällt das Interesse für die ältere Geschichte Italiens mit dem für die Sprachgeschichte zusammen, die durch Polyzentrismus geprägt erscheint. Ähnlich wie Cattaneo versteht er die Literatursprache als Gemeingut der gesamten nationalen Literaturtradition, in deren Geschichte die Gebrauchssprache durch Selektion bereinigt und vom „arbitrio del volgo" abgegrenzt worden sei. In den Dialektwörterbüchern, mit denen sich Tenca befaßt, sei die ältere Nationalgeschichte am besten bewahrt (vgl. S T E L L A , in: T E N C A 1974, 4). So verweist er darauf, „come nei vari dialetti si riscontrino le tracce delle vetuste immigrazioni, e quasi il fondo di quelle primitive favelle che furono cemento ad altri idiomi gia prima esistenti e fusi e assimilati dalla conquista" ( T E N C A 1974, 83 und Anm.). Es ist daran zu erinnern, daß sich die linguistischen Interessen Tencas in den Rahmen seines weitreichenden Vorhabens zur staatsbürgerlichen Bildung einordnen, das durch kulturpolitische Aktionen
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verwirklicht werden soll (vgl. sein intensives und planmäßiges Wirken im „Crepuscolo" und in der „Rivista Europea"). Die Betrachtungen zu den Grenzen der zeitgenössischen Kultur und darüber, wie unzulänglich die Intellektuellen die ihnen zugedachte Funktion erfüllen, den Geschmack und die Erkenntnis zu leiten (vgl. TENCA 1959, 82), sind das gemeinsame Hinterland, auf das sich die einzelnen Interessen Tencas beziehen, besonders die auf die Qualität der Sprache gerichteten, die er als Instrument der nationalen Kommunikation und der staatsbürgerlichen Bildung, in der Schrift kodifiziert und vom Beitrag der Volkssprache belebt, ansieht. Freilich wird das Verhältnis zwischen der Sprache der Dichtung und der Volkssprache, die wesentliche Komponente, aus der erstere Evidenz und repräsentative Wirksamkeit beziehe, von Tenca in recht inkohärenten Termini definiert. Denn im Eifer der antiflorentinistischen Polemik nimmt er als gegeben an, was nur ein Sprachprojekt ist, oder besser gesagt, er unterstellt, daß die innere Vitalität eines produktiven Kulturverhältnisses eine dauerhafte nationale Kommunikation erlaube. So erklärt sich die Behauptung, nach der „la lingua italiana non e toscana, ma si giova di tutti gli elementi provinciali, all'insaputa degli stessi scrittori che si pensano di sciogliere la quistione con un compromesso a cui la nazione non ha mai sottoscritto" (TENCA 1 9 7 4 , 7 4 ) .
Die Polemik gegen den florentinistischen „Kompromiß" ist einer der bezeichnenden Faktoren des Sprachprojekts, das Tenca entwickelt und mit dem er die von der Crusca vorgegebene Forderung denunziert, die Sprache auf das Florentinische zu reduzieren. Er fordert dagegen, die Beiträge aller Dialekte in den nationalen Wortschatz einzugliedern: „Queste angustie di pensiero municipale, che gia vanno scomparendo a poco a poco, verrebbero mirabilmente combattute dal moltiplicarsi dei vocabolari dei dialetti italiani, dal cui studio comparativo puo solo riverberar nuova luce sul processo e sul generarsi della lingua comune ... Quando l'Italia possedesse illustrati e classificati a questo modo tutti i suoi dialetti, si riuscirebbe forse una volta ad intendersi fra cittä e citta, e a cessare una disputa che riesce di si gran danno alla nazione. Gli scrittori avrebbero nell'uso dei singoli dialetti una autorita piu sicura e piu fedele che non l'incerta dittadura della Crusca, ne dovrebbero piu stare in forse nell'adoperare un vocabolo, quando questo apparisse registrato in un numero sufficiente di vocabolari municipali" (ebd., 71). Die Sprache drückt nach Tenca die Kultur einer Nation in ihrer Gesamtheit aus; und das Projekt der gemeinsamen Sprache, das er umreißt, gründet sich auf die Voraussetzung der nationalen Reprä-
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sentativität, die der italienischen Kultur in ihrer Gesamtheit bereits innewohnt, die florentinische Kultur dagegen entbehrt: „Non c'e dubbio che a Siena ed a Firenze la favella suoni piu dolce che non a Genova e a Napoli, ma ristringendo alia sola Toscana il centro della lingua viva italiana, si verrebbe pur sempre a dar troppa preponderanza ai suoni sulle idee. II che, se poteva accadere quando la Toscana era culla insieme e della lingua e del sapere italiano, non potrebbe oggidi, dacche la coltura e ugualmente diffusa in tutta la penisola, e tanti centri d'idee vi sono, quanti le principali citta" (ebd., 12f.). Die Motive vorwegnehmend, die Ascoli im Proemio zum „Archivio glottologico" (vgl. B E R R E T T O N I - V I N E I S 1 9 7 4 , 18) explizit darstellen wird, hebt Tenca hervor, daß die Sprache nicht durch passive Anpassung an ein willkürlich gesetztes Modell angeeignet wird, sondern daß man sie mit einer fortwährenden Bewußtseinsanstrengung und durch einen Austausch zwischen verwandten Kulturen erwirbt, wie sie die unterschiedlichen italienischen Dialekte darstellen, sowie durch häufige Begegnungen und ständige Auseinandersetzungen im Rahmen des nationalen Lebens (vgl. T E N C A 1974, 97f.). Für Tenca wie für Cattaneo erfüllt sich also die Einheitlichkeit der italienischen Sprache, die auch in der Vielfalt und Verschiedenheit der Dialekte besteht und sich in der Uniformität der morphologischen und syntaktischen Strukturen manifestiert (vgl. ebd., 12 f.), im Übergang vom Dialekt zur Sprache, vom Munizipium zur Nation (vgl. ebd., 71). Dieser tiefe und mutige nationale Geist, der aus den linguistischen Reflexionen Tencas hervortritt, ist in der demokratischen Kultur an der Schwelle zur Einheit weitverbreitet und entspringt der besonderen Aufmerksamkeit für die sozialen Probleme, die dem Prozeß der nationalen Vereinigung innewohnen, sowie dem Bewußtsein, daß die politische Vereinigung nur eine Zwischenstufe darstellt, der eine rege Tätigkeit zum Wohle der Schichten folgen muß, die praktisch von den Früchten der erreichten Unabhängigkeit ausgeschlossen sein würden. Eine klare Vision der dem Prozeß des Risorgimentos eigenen sozialen Grenzen begegnet uns in den Schriften Ippolito Nievos, der dies im „Frammento sulla rivoluzione nazionale" ( N I E V O 1952) organisch und systematisch formuliert. Hier denunziert Nievo den Tatbestand, daß die Masse der Bauern dem Prozeß der Vereinigung fremd gegenübersteht. Ein analoges Urteil, jedoch angewandt auf die sizilianische Gegend, bringt er in den „Lettere garibaldine" ( N I E V O 1961) zum Ausdruck, in denen er als friaulischer Garibaldiner seine Bestürzung über die Situation der Insel schildert, ohne sein Bekenntnis zur Einheit aufzugeben.
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Nievo ist Demokrat und kulturell mit Tenca verbunden, der den "Werken des jungen Dichters nicht nur formale Aufmerksamkeit widmet. In den „Studi sulla poesia popolare e civile massime in Italia" ( N I E V O 1954) zeichnet er ein Gesamtbild der Sprachgeschichte, die im Geiste Foscolos in die nationale Literaturgeschichte eingebettet ist; aber das wirkliche und ursprüngliche Interesse Nievos für das Problem der Sprache kommt darin zum Ausdruck, wie offen, mutig und generös er mit ihr als Schriftsteller arbeitet. Das Vorhaben einer Schreibweise, die sich nach dem Modell der Konversationssprache richtet, ein Projekt, das er in der Anfangsphase seiner kurzen und hastigen Erfahrung vorstellt (vgl. N I E V O 1967, 602), findet seine uneingeschränkte und bewußte Verwirklichung in dem Maße, wie sich sein Talent klarer und sicherer entfaltet (vgl. M E N G A L D O 1981; 1986, 1987). Die Geschwindigkeit, mit der er auf seiner produktiven Lebensbahn voranschreitet, ist ein Zeugnis dafür, daß er bereits der Berufung gefolgt ist, deren Fehlen bei den italienischen Schriftstellern Cattaneo in einer weiter oben zitierten Schrift beklagt (vgl. M E N G A L D O 1987, 38). Und wenn man seine Romane in der Reihenfolge ihrer Entstehung verfolgt, kann man wirklich sagen, daß Ippolito Nievo, wie Carlino Altoviti, Protagonist einer wechselvollen Geschichte ist, die seinen Blick von Venedig auf Italien und auf Europa weitet. Wenn die Erlebnisse Carlinos auf seiner Reise zu den Etappen, an denen die italienische Einheit reift und sich erfüllt, ihn in Kontakt mit den verschiedensten regionalen Realitäten bringen, auf die Erfahrung des Exils in Europa vorbereiten und ihm als Mittlerfigur zu der Erkenntnis der nationalen Bestrebungen Lateinamerikas verhelfen, so bilden die Erlebnisse des Schreibens für Nievo eine analoge Wegstrecke, während derer er allmählich seine Ausdrucksfähigkeiten ausweitet, sei es mit der Verstärkung der Kräfte, die in der „Gemeinsprache" vorhanden sind, getränkt mit venetischen und lombardischen Ausdrücken, die der Schriftsteller mutig übernimmt, sei es mit einer Ausweitung der kulturellen Perspektiven in verschiedene Richtungen, die die Kritik erst jetzt zur Kenntnis zu nehmen beginnt (Ζ. B. O L I V I E R I 1984). Der experimentelle und approximative Charakter dieser Art zu schreiben ist jahrzehntelang Anlaß negativer Beurteilungen von Kritikern gewesen, die an die gewählte Sprache und den ausgewogenen Aufbau der Seiten Manzonis gewöhnt waren (als Beispiel für alle anderen sei Croce genannt, vgl. ROVANI 1 9 1 4 , 116 ff.); erst in jüngsten Studien wird Interesse an einer Prosa sichtbar, die sich mit Charakterzügen wie Unbestimmtheit und Näherung präsentiert, eigentlich jedoch das Ergebnis eines bewußten Bruchs mit der erzählenden Schreibweise ist, die in der vorangegangenen Tradition des neunzehnten Jahrhunderts festgelegt war.
5.
Repressive Sprachpolitik
5.1.
Sprachlicher Kolonialismus
5.1.1. Frankreichs koloniale Sprachpolitik im subsaharischen Afrika unter besonderer Berücksichtigung Madagaskars Wenn in diesem Abschnitt von kolonialer Sprachpolitik Frankreichs die Rede sein soll, so ist damit die Politik der in Frankreich Herrschenden zur Durchsetzung ihrer Sprache, des Französischen, in den Kolonien des subsaharischen Afrika gemeint. Die Untersuchung dieses Gegenstandes kann nur historisch erfolgen, was hier vor allem für das 19. und 20. Jahrhundert geschehen soll. Der Anspruch auf Exhaustivität kann dabei aufgrund der Quellenlage nicht erhoben werden, dennoch wird Wesentliches dieser Politik erkennbar. Den Ausgangspunkt für ihre Analyse stellt m. E. das vergangene Jahrhundert dar, denn in seinem Verlauf setzte — beginnend 1830 mit der Eroberung Algeriens — die zweite Kolonialexpansion Frankreichs ein, die z.B. 1881 Tunesien zur Kolonie werden ließ, 1895/96 Madagaskar, 1902 Französisch-Westafrika, 1910 Französisch-Äquatorialafrika usw. (vgl. F U C H S / H E N S E K E 1987). Die Errichtung von Elementen der kapitalistischen Produktionsweise in den Kolonien erforderte — ebenso wie in Frankreich selbst — eine sprachliche Vereinheitlichung unter Kontrolle der herrschenden Klasse (vgl. B A L I B A R / L A P O R T E 1974, 80). Aus dieem Grund versuchte Frankreich auch hier, seine Sprache durchzusetzen. In Anbetracht der Tatsache, daß in der Französischen Revolution die Deklaration der Menschenrechte verabschiedet worden war, machte sich jedoch zunächst erst einmal eine ideologische Rechtfertigung für die koloniale Expansion und die Durchsetzung des Französischen nötig. Zu diesem Zweck bediente man sich des Mythos von der zivilisatorischen Mission, die man den „Wilden" gegenüber (deren Kultur man so gut wie nicht kannte) zu erfüllen hatte. Wenn auch andere Kolonialmächte auf dieses Argument zurückgriffen, so machte
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Repressive Sprachpolitik
Frankreich daraus einen Schwerpunkt seiner Kolonialpolitik. Im einzelnen bedeutete das: „Hauptziel unserer Kolonialpolitik ist die Zivilisierung jener Bevölkerungen, d. h. wir bringen ihnen die europäische bzw. französische Lebensweise bei. Wenn die Einheimischen die französische Sprache und Lebensweise beherrschen, können sie französische Staatsbürger werden und sich an der Verwaltung des Staates und der Gesellschaft beteiligen" (vgl. KREMNITZ 1989). Dieses von Barere und Gregoire begründete Prinzip stammte aus der Französischen Revolution und war im 19. Jahrhundert auch auf die Sprecher der Regionalsprachen (Baskisch, Okzitanisch, Bretonisch, Deutsch usw.) angewendet worden, insbesondere mit der Einführung des obligatorischen Schulwesens in der Zeit der III. Republik durch Jules Ferry. Im Unterschied zu den Sprechern der Regionalsprachen Frankreichs jedoch, die automatisch französische Staatsbürger waren, mußten die Sprecher aus den Kolonien neben der Kenntnis der französischen Sprache auch die Beachtung der französischen Lebensweise nachweisen. Anderenfalls blieben sie dem Status des Indigenats untergeordnet. Neben der Durchsetzung des Französischen beinhaltete dieses Prinzip aber gleichzeitig die Inferiorisierung der als langues indigenes, parlers, idiomes oder patois bezeichneten und damit negativ konnotierten Sprachen dieser Völker.
5.1.1.1. Zum 19. Jahrhundert Der Grundstein für die Durchsetzung des Französischen als Unterrichtssprache im Bildungswesen Madagaskars wurde mit zwei Rundschreiben des französischen Generalresidenten, General Gallieni, vom 5. und 11. Oktober 1896 gelegt. Sie ordneten an, „den Unterricht auf der Grundlage des Erlernens der französischen Sprache in einem entschieden französischen Sinne zu führen" (You 1931, 223). Im „Journal officiel de Madagascar" vom 8. Oktober 1896 hieß es dazu: „Madagaskar ist heute französisches Territorium geworden. Die französische Sprache muß demzufolge die Grundlage für den Unterricht in den Schulen werden" 1 . Fortgeführt und konsolidiert wurde diese „Madagascar est devenue aujourd'hui une terre franchise. La langue fran^aise doit done devenir la base de l'enseignement dans les ecoles de l'ile. Nous devons tenir la main a ce que l'ensemble des programmes d'enseignement soient remanies de maniere a se rapprocher autant que possible de ceux de nos e c o l e s . . . " „Dans un delai que je laisse a votre disposition mais qui devra etre aussi court que possible, la moitie au moins du temps passe dans les classes devra etre consacre a l'etude de
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Orientierung durch den Nachfolger Gallienis, Generalgouverneur Augagneur. Nachdem durch die Erlasse vom 15. Juni 1903 und vom 25. Januar 1905 die Priorität für das offizielle (öffentliche bzw. staatliche) Schulwesen vor dem privaten gesichert worden war, legte Augagneur per Verfügung vom 23. November 1906 für private bzw. konfessionelle Schulen fest, daß Bildung nicht vermittelt werden durfte von Personen, die kein Französisch beherrschten 2 . Mit dieser Maßnahme wurden die in Madagaskar wirkenden englischen und norwegischen Missionen gezwungen, Franzosen bzw. französisch sprechende Personen in die Arbeit ihrer Missionsschulen einzubeziehen, was sie nach E.-F. GAUTIER ( 1 9 0 0 , 171) auch taten. Die Bestimmtheit der Formulierung beider hier angeführter Maßnahmen zur Durchsetzung des Französischen im Schulwesen wird nur verständlich vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Veränderungen der sprachlichen Situation auf Madagaskar im Verlauf des 19. Jahrhunderts — Veränderungen nahezu aller Kategorien ihrer soziolinguistischen Beschreibung. Diese ereigneten sich zum einen infolge der Überwindung der feudalen Zersplitterung des Landes und der Schaffung des „Königreiches Madagaskar" (völkerrechtlich anerkannt im englisch-madagassischen Vertrag von 1817), zum anderen infolge des Konkurrenzkampfes zweier kapitalistischer Industriestaaten, Frankreich und England, um den Besitz der „großen Insel" als Kolonie (vgl. P. BOITEAU 1 9 8 2 , 8 5 ff.). Als klassische Faktoren der Sprachverbreitung nannte A. KOSING ( 1 9 7 6 , 2 4 7 ) : 1. die militärische Eroberung und politischen Druck, 2. die Schaffung von administrativen Strukturen, die bei der Durchsetzung einer Sprache helfen sollen, 3. mehrere Jahrhunderte währende politische Stabilität, die den dauerhaften Einfluß dieser Sprache in den eroberten Gebieten sichern hilft sowie 4. eine ethnisch heterogene Bevölkerungsstruktur in den besetzten Gebieten, die objektiv die Verbreitung der Kolonisatorenla langue fran^aise et vous devrez pas hesiter a fermer immediatement les ecoles ou cette regle ne serait pas observee et oü l'enseignement vous paraitrait dirige dans un sens hostile a la France. De plus, que les jeunes Malgaches seront prevenues que dorenavant nul ne sera pourvu d'un emploi public s'il ne parle ou ecrit le franfais et que dans toutes les circonstances celui qui connait notre langue aura la preference sur les autres indigenes..." „En un mot vous ne devrez jamais perdre de vue que la propagation de la langue fran9aise dans notre nouvelle colonie par les moyens possibles, est Pun des puissants elements d'assimilation que nous avons a notre disposition, et tous nos efforts devront etre diriges vers ce but" (zit. nach Ζ . R . BEMANANJARA 1 9 7 9 , 5 2 7 ) . 2
Ziel der Verfügung vom 23. 11. 1906 war es: „d'empecher que l'instruction ne soit donnee aux indigenes par des etrangers ignorant notre langue ou ne possedant aucun diplome universitaire..." (A. You 1931, 243).
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spräche als lingua franca begünstigt. Alle vier Faktoren — wenn auch die beiden letztgenannten nur bedingt — wirkten im 19. Jahrhundert auf Madagaskar: Die Kodifizierung des in Imerina, einem Teil des madagassischen Hochlandes, gesprochenen Dialekts im lateinischen Graphemsystem im Jahre 1823 (vgl. insbesondere O. C. D A H L 1966, 34), seine landesweite Verbreitung als Sprache der Verwaltung im Ergebnis der als Merina-Expansion bezeichneten Überwindung der feudalen Zersplitterung des Landes durch die ethnische Gruppe der Merina, seine Verwendung in den Kommunikationsbereichen Kirche, Schule, Presse und in offiziellen Dokumenten zur Regelung der Beziehungen Madagaskars zu England, Frankreich und anderen Staaten sowie die Schaffung einer für die Verwaltung des Königreiches notwendigen administrativen Struktur müssen als wesentliche Faktoren für die Entwicklung und Durchsetzung einer (vor)nationalen madagassischen Literatursprache auf der Grundlage des Merina-Dialektes betrachtet werden (vgl. auch G.-S. C H A P U S 1925, 149 und O . C . D A H L 1966, 5). Entlehnungen aus dem Englischen und Französischen sorgten für ihre Adaptation an die im Kontakt zu England und Frankreich neu entstandenen kommunikativen Bedürfnisse (vgl. B. SCHMIDT 1986). Eine weitere wesentliche Veränderung der sprachlichen Situation war — parallel zur Herausbildung einer madagassischen Literatursprache — die Entstehung von Diglossie zwischen ihr und den übrigen Dialekten (vgl. ζ. B. O. C. D A H L 1966, 18) sowie die Entstehung von Bilinguismus als Ergebnis der Präsenz des Englischen und Französischen (vgl. auch B. D O M E N I C H I N I - R A M I A R A M A N A N A 1976, 18 f.). Im Vergleich zum Französischen muß jedoch eine größere Anzahl von Sprechern des Englischen als Fremdsprache angenommen werden. Diese Situation ergab sich — nach der Niederlage Frankreichs in den Revolutionskriegen — aus dem stärkeren Einfluß Englands im Indischen Ozean, insbesondere auf Madagaskar. Die seit 1820 in Imerina tätige London Missionary Society (LMS), die englische Ausbildung von Angehörigen der Führungsschicht der madagassischen Gesellschaft, die Übersetzung der Bibel durch den Engländer Cousins (vgl. L. M U N T H E 1969), die englisch-madagassischen Wörterbücher von 1835 und 1885, die Annahme des protestantischen Glaubens durch Königin Ranavalona II ( 1 8 6 8 - 8 1 ) und ihren Premierminister Rainilaiarivony im Jahre 1869 und die wesentlich größere Zahl von Schülern in englischen Missionsschulen — all das sind Fakten, die diese Annahme begründet erscheinen lassen. Die Entscheidung des madagassischen Herrscherpaares für den Protestantismus fiel u. a. auch aufgrund des damals sehr gespannten
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Verhältnisses zwischen Madagaskar und Frankreich (vgl. H. DESCHAMPS 1 9 7 2 , 1 8 0 und P. BOITEAU 1 9 8 2 , 1 6 0 ) , und der Widerhall auf diesen Schritt in der Bevölkerung war groß: Die Zahl der Protestanten stieg von 3 7 0 0 0 vor der Konversion auf 253 000 im Jahre 1872 (vgl. P. BOITEAU 1 9 8 2 , 1 6 6 ) . Im Vergleich dazu ging die Entwicklung der katholischen Kirche langsamer: 1883 zählte sie 8 0 0 0 0 Anhänger (ebd., 168). Die Option für den Protestantismus implizierte den Besuch englischer Missionsschulen und damit die Vermittlung des Englischen. In sozialer Hinsicht wird sich seine Kenntnis konzentriert haben auf Adlige (andriana) und freie Bürger (hova), d. h. auf Beamte im Staatsund Schuldienst, auf Diplomaten, auf kirchliche Würdenträger und Kirchenpersonal sowie Mediziner; ethnisch und regional wird die Kenntnis des Englischen beschränkt geblieben sein auf Bewohner des madagassischen Hochlandes (Merina und Betsileo), da die englischen Missionare vor allem hier wirkten. Die Verbreitung der französischen Sprache über das Missionsschulwesen begann im zentralen Hochland im Gegensatz zum Englischen erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, und zwar nach der Niederlassung der Jesuiten 1861. Obwohl die Zahl der französischen katholischen Missionare größer war als die der englischen und einige Vertreter der Regierung (u.a. Königin Rasoherina, 1863 — 68, selbst) den Franzosen wohler gesonnen gewesen sein sollen als den Engländern, hatten die englischen Missionare den Vorteil, daß sie ihre durch die Herrschaft von Ranavalona I (1828 — 61) unterbrochene Tätigkeit nur wieder aufzunehmen brauchten. Im Gegensatz dazu hatten die Jesuiten ihre Arbeit im Hochland erst 1861 begonnen. Aufgrund von Vorbehalten der Bevölkerung gegenüber Ausländern im allgemeinen (sie wurden als mpaka-fo — „die, die Herzen stehlen" (vgl. G.-S. C H A P U S 1 9 2 5 , 1 3 2 ) bezeichnet) und aufgrund des schlechten Ansehens Frankreichs fiel es ihnen jedoch schwer, Schüler zu rekrutieren. Ausländer wurden des Kannibalismus verdächtigt, so daß anstelle der eigenen Kinder zunächst die Sklaven (andevo) der Familie zur Schule geschickt wurden (ebd., 123). Noch schwieriger wurde die Einschulung nach der Konversion von 1869, denn die Zahl der protestantischen Schulen stieg danach von 28 auf 359, die der Schüler von 1800 auf mehr als 25 000 (ebd., 133). Die Standorte der Jesuitenschulen waren in erster Linie die Inseln Nosy Be (NW-Küste) und SainteMarie (Ostküste) sowie die Hafenstadt Tamatave (Ostküste). Im Jahr 1894 belief sich die Zahl der Schüler katholischer Schulen auf 27000. Unterrichtet wurden die Fächer Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion. Unterrichtssprache war Französisch. Zu denen, die am aktivsten für die Verbreitung der französischen Sprache wirkten, gehörten die
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etwa zwanzig „Brüder der christlichen Schulen" („Freres des ecoles chretiennes"). Sie waren in der Hauptstadt Antananarivo tätig. Hinsichtlich weiterführender Bildungseinrichtungen muß gesagt werden, daß die LMS 1862 eine Ecole normale zur Ausbildung von Lehrern und Pastoren gründete und 1869 ein College, das die Unterstufenausbildung fortsetzte. Das katholische Pendant dazu, das College Saint-Michel, wurde erst sechsundzwanzig bzw. neunzehn Jahre später, 1888, eröffnet. Aus diesen Schulen ging eine madagassische „Elite" von etwa 100 Personen im Jahr hervor. Ihre Französisch- bzw. Englischkenntnisse waren so, daß einige von ihnen ein Studium in Europa aufnehmen konnten (vgl. ebd., 146). Hinsichtlich der für Bildung und Erziehung zu verwendenden Sprache gab es unterschiedliche Auffassungen zwischen protestantischen und katholischen Missionsschulen. Das Grundprinzip ersterer war: jedweder Unterricht müsse in der Landessprache erteilt werden, um deren Entwicklung und Bereicherung zu gewährleisten3 (vgl. G. S. CHAPUS 1 9 2 5 , 1 4 5 ) . Leitprinzip der katholischen Missionen dagegen war es, den Unterricht auf französisch zu geben. Die Kenntnis des Französischen sollte dazu beitragen, Frankreich zu lieben (ebd.). Geprüft wurden bspw. 1878 die Fächer Lesen (auf madagassisch, französisch, lateinisch), Übersetzen in diese Sprachen sowie grammatische und logische Analyse von Texten (ebd., 141). Als weiterer, für die Veränderungen der sprachlichen Situation entscheidender Kommunikationsbereich muß neben dem Bildungswesen das Entstehen der Presse genannt werden. Das Madagassische übernahm damit eine neue gesellschaftliche Funktion: Es wurde Sprache von Periodika. Die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften durch die Missionen begann in Madagaskar im Vergleich zu anderen Staaten im subsaharischen Afrika bereits Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. PH. LEYMARIE 1 9 7 3 , 3 4 ) . Am Vorabend der Kolonisation des Landes verfügten alle Missionen über mindestens ein Presseorgan (vgl. ebd.), und L. RABEARIMANANA ( 1 9 8 0 , 2 4 ) bezifferte die Zahl der von den Missionen herausgegebenen Periodika in madagassisch auf etwa 3
Ziel des Unterrichts in der Landessprache war es, „a faire passer dans la langue malgache un bagage considerable de faits et de notions et, par cela meme, a l'enrichir, a la faire progresser, a la mettre constamment au niveau de developpement de la population et a lui imprimer, par suite, le meme essor que le mouvement general du pays" (CHAPUS 1925, 145). In madagassischer Sprache gab allein die lutherische Druckerei (Imprimerie lutherienne — Trano Printy Loterana) in den dreißig Jahren von 1871 bis 1900 26 Schulbücher mit einem Gesamtumfang von 3870 Seiten heraus. Darüber hinaus lagen 8 Lehrbücher in Form von Manuskripten v o r ( v g l . L . MUNTHE 1 9 7 3 , 18 f f . ) .
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zehn. So gab die LMS ab Januar 1866 die Zeitschrift „Teny soa hanalan'andro" („Frohe Botschaft"; wörtl.: „Gutes Wort zum Zeitvertreib") in der Landessprache heraus. Sie erschien von 1866 bis 1869 vierzehntägig, später (bis 1957) in größeren Abständen. Weitere konfessionelle Periodika in madagassischer Sprache wurden ab 1870 herausgegeben. Gemeinsames Anliegen der Periodika beider Konfessionen war es, die Madagassen davon zu überzeugen, daß vor dem Eindringen der westlichen Zivilisation Barbarei und Unwissen auf Madagaskar herrschten. Viele von diesen Periodika überdauerten die französische Kolonialherrschaft, ζ. B. der von der norwegischen Mission herausgegebene „Ny Mpamangy" („Der Besucher"), der 76 Jahre lang erschien. Von der LMS wurde von 1877 bis 1946 der „Mpanolotsaina" („Der Berater") herausgegeben. Ebenfalls ab 1877 erschien einmal im Jahr die Zeitung der FFMA „Isan-kerintaona" („Jedes Jahr"). „Ny Resaka" „Gespräche"), „Zava-Baovao" („Zeitgeschehen") und „Ny Gazety Malagasy" („Die madagassische Zeitung") waren weitere Publikationen in madagassischer Sprache. Darüber hinaus erschienen das offizielle Blatt der Regierung „Ny Gazety Malagasy" ab 1883 (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Blatt der Jahre 1875/76) und das Organ des französischen Generalresidenten „Le Progres de l'Imerina", das in seiner Übersetzung den Titel „Ny Malagasy" trug. Neben diesen Periodika in madagassischer Sprache gab es solche in französisch und englisch. Zum Zentrum der französischsprachigen Presse vor der Eroberung Madagaskars wurde Tamatave. Zeitlich gesehen hatte diese Presse ihren Höhepunkt um das Jahr 1890 erreicht. Ab 1891 erschien „Le Courrier de Madagascar", ein Jahr später (zunächst nur in Paris, später auch in Tamatave) „France Orientale" und „Madagascar". Zum zweitwichtigsten Ort für die Herausgabe französischsprachiger Presseerzeugnisse wurde Diego-Suarez, wo ab 1893 „L'Avenir de Diego Suarez" und ein Jahr später „Le Clairon" erschienen. Eine weitere Zeitung in französischer Sprache war „L'Opinion Publique", von 1891/92. Die englischsprachige Presse dagegen erschien aufgrund des größeren Einflusses der protestantischen Missionen in der Hauptstadt. Die Zahl dieser Zeitungen war jedoch geringer als die der französischsprachigen Presse. Die bedeutendste war die von April 1882 bis Februar 1890 erscheinende „Madagascar Times", die von „Madagascar News" abgelöst und ab 1892 von „Madagascar World" unterstützt wurde. Um auch die madagassischsprachigen Leser zu erreichen, ließ der Herausgeber der „Madagascar News" die Artikel seiner Zeitung auch in „Ny Filazalazana Malagasy" („Les Propos Malgaches") er-
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scheinen 4 . Das Verbreitungsgebiet der genannten Presseerzeugnisse entsprach dem Wirkungsbereich der Missionare. Zeitungen gab es in den Gebieten, in denen sich die Evangelisierung und die Schulbildung entwickelt hatten. Antananarivo war die einzige Stadt, in der Zeitungen in madagassisch erschienen, und hier konzentrierte sich ein großer Teil der Leserschaft. Mit zunehmender Entfernung von der Hauptstadt wurde sie im Siedlungsgebiet der Merina geringer und beschränkte sich auf das Personal der Missionen. Außerhalb dieser Zone gab es nur wenige Gebiete, in die Zeitungen gelangten. Eines von ihnen war Tamatave, wo viele Verwaltungsangestellte und Händler aus dem zentralen Hochland arbeiteten.
5.1.1.2. Zum 20. Jahrhundert Den Besonderheiten der sprachlichen Situation, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, insbesondere der Bedeutung der auf der Grundlage des Merina-Dialektes entstandenen Literatursprache und der des Englischen, mußte die koloniale Sprachpolitik Frankreichs Rechnung tragen. Die beiden zu Beginn von Punkt 5.1.1.1. genannten Maßnahmen zur Durchsetzung des Französischen im Bildungswesen waren diesen Spezifika geschuldet. In den Aussagen zur Begründung dieser Maßnahmen wird deutlich, daß französische koloniale Sprachpolitik nicht etwa abzielte auf sprachliche und kulturelle Assimilation der Gesamtheit der madagassischen Bevölkerung, sondern lediglich auf jenen Teil, welcher im öffentlichen Dienst tätig sein wollte: „künftig", so hieß es dazu, „wird niemand im öffentlichen Dienst eingestellt, wenn er nicht französisch spricht oder schreibt und [...] der, der unsere Sprache kennt, hat unter allen Umständen den Vorzug vor den übrigen Eingeborenen" (ebd.). Die allgemeine Aufgabenstellung für das Bildungswesen lautete, „so schnell wie möglich Hilfskräfte für die Industrie- und Handelsunternehmen unserer Kolonisten zu liefern" 5 . Und hinsichtlich der Verbreitung des Französischen bestand sie einer Aussage des Direktors für das Bildungswesen E.-F. G A U T I E R (1900, 173) zufolge darin, daß
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Z u Inhalt und politischem Programm dieser Zeitungen vgl. L. RABEARIMANANA 1980, 35 ff. „Au debut de l'ere coloniale, il s'agissait surtout — en matiere d'enseignement — de distribuer aux indigenes une formation professionelle afin de ,fournir aussitot que possible des auxiliaires a nos colons pour les entreprises industrielles et commerciales" (Rundschreiben vom 5. 10. 1896; zit. nach J. RAKOTO 1971, 54).
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„die gesamte Oberschicht, die der Beamten, der Chefs, in wahrscheinlich recht kurzer Zeit korrekt französisch sprechen und schreiben wird. [...] Selbst unter den unbedeutendsten Hova ... wird das französisch-madagassische Sabir der Boys und der Hausdiener allgemein Verwendung finden. Das ist alles, was die Schule kann und soll" 6 . Und ein Bericht aus dem Jahre 1899 endete mit der Schlußfolgerung: „Es wäre von großem Nachteil, die Zahl der jungen Madagassen zu erhöhen, denen eine höhere Bildung und der vollständige Erwerb unserer Sprache den Geschmack an der Arbeit nehmen würde und ihnen Ideen und Bestrebungen beibrächte, die die Ausübung unserer Macht nicht leichter machen würden" 7 (zit. nach J . RAKOTO 1971, 54). Französisch sollte zum „einzigen Ausdrucksmittel der oberen Schichten" 8 gemacht werden (zit. nach F. ESOAVELOMANDROSO 1976, 147).
Zwei Charakteristika kolonialer Sprachpolitik Frankreichs werden anhand dieser Aussagen deutlich: erstens die Verwendung des Französischen als entscheidendes Selektionskriterium für die berufliche Entwicklung und für sozialen Aufstieg und zweitens seine sozial differenzierte Verbreitung über das Bildungswesen. Das Wesen kolonialer Sprachpolitik wird weiterhin erkennbar, versteht man sie als Teil des Gesamtkonzeptes französischer Kolonialpolitik. Zu letzterem gehörte auch die sogenannte „Politik des Indigenats" (auch als indigene Politik oder Assoziierungspolitik bezeichnet), wonach der madagassischen Bevölkerung mit der Kolonisierung nicht automatisch die französische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. Mit ihr erfuhr die Nicht-Gleichberechtigung der Bürger Frankreichs und Madagaskars als Form des Rassismus ihre Institutionalisierung. Die koloniale Sprachpolitik Frankreichs war insofern mit der „Politik des Indigenats" verbunden, als die Kenntnis des Französischen die conditio sine qua non für den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft war. 6
„toute la haute classe, celle des fonctionnaires, des chefs, parlera et ecrira correctement le fran^ais au bout d'un temps probablement assez court. ... Meme parmi les moindres Hova ... la sabir franco-malgache des boys et des domestiques deviendra d'usage general. C'est la tout ce que peut et doit faire l'ecole;..." (E.-F. GAUTIER 1 9 0 0 , 1 7 3 ) .
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„Ii y aurait un grand inconveniant a multiplier le nombre des jeunes Malgaches auxquels une instruction etendue et l'acquisition complete de notre langue enleveraient le goüt du labeur, inculqueraient des idees et des aspirations qui ne rendraient pas plus facile l'exercice de notre autorite" (ebd.). Bei der Durchsetzung dieser Politik wurde Gallieni von Anfang an von der „Alliance F r a ^ a i s e " durch die Stiftung von Büchern und Lehrmaterialien unterstützt. Im Februar 1898 wurden ein Regionalkomitee dieser Einrichtung in Tananarive und zwei weitere in Fianarantsoa und Majunga gegründet (vgl. F. FOUCIN 1900, 178).
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Neben diesen grundsätzlichen Zielstellungen französischer kolonialer Sprachpolitik hinsichtlich der Verbreitung des Französischen wurde die politische Nützlichkeit des Madagassischen zunächst nicht übersehen. Von der madagassischen Akademie wurde auf einer ihrer ersten Sitzungen, am 10. Juli 1902, festgelegt, daß die „Hova (Merina) Sprache in allen Eingeborenen-Schulen Madagaskars verwendet werden müsse" (ebd., 111). Zu Beginn der Kolonisation wurde bspw. Wert darauf gelegt, daß die für den Einsatz in Madagaskar bestimmten Führungskräfte Madagassisch lernen. M a n versprach sich davon, a) weniger auf Übersetzer zurückgreifen zu müssen, b) mehr madagassische Beamte einstellen zu können (weil ihre Kontrolle gewährleistet wäre) und c) das Denken der Bevölkerung besser zu verstehen. An der Ecole coloniale in Paris wurde deshalb ein Madagassischkurs eingerichtet 9 . Von 1896 bis 1905 erwarben 42 Personen ein Zeugnis für die madagassische Sprache. Diese Orientierung verlor jedoch im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts an Bedeutung, so daß für den Zeitraum von 1905 bis 1942 nur 45 Personen einen solchen Nachweis erlangten. Ein weiterer Versuch, das Erlernen der madagassischen Sprache zu fördern, war ihre Zulassung als Fremdsprache in Schulen für europäische Schüler im Jahre 1929. Beide Versuche scheiterten jedoch angesichts der nicht vorhandenen Notwendigkeit zum Erlernen der Landessprache. Das Madagassische blieb von der Kommunikation in der offiziellen Sphäre ausgeschlossen und verfügte entsprechend seiner Darstellung als Sprache von Unzivilisierten im Vergleich zur Sprache der Kolonisatoren über ein geringes Prestige 1 0 . Ungeachtet der klaren Zielstellungen und eindeutigen Aussagen hinsichtlich der Verbreitung und Durchsetzung des Französischen stieß die koloniale Sprachpolitik Frankreichs auf eine Reihe von Schwierigkeiten und Probleme. In erster Linie galt es, die Kolonialherrschaft Frankreichs über Madagaskar zu sichern. Dazu bediente sich Gallieni 9
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Einer der Lehrer war G. Julien, Verfasser des 1904 in Paris erschienenen „Precis theorique et pratique de la langue malgache". Ch. Renel, Direktor des Bildungswesens von 1906 bis 1926, entwarf folgendes Bild von der madagassischen Sprache: „la langue locale ne peut se fixer, a cause de la rarete des traditions litteraires, et ne ,demande qu'a disparaitre'. L'indigence du vocabulaire cree des confusions frequentes, empeche d'exprimer bien des realites. ,Sur le plan technique, le caractere rudimentaire de l'idiome local est encore plus criant: absence de genre et de nombre, manque de flexions casuelles et verbales, forme relative qui sert a tant de fins, syntaxe miserable [...] font du malgache une langue convenant a des primitifs mais a peine süffisante pour des demi-civilises et inapte a exprimer les idees des Hovas instuits" (Archives de la Republique Malgache, Cabinet Civil, D. 202, Rapport de 1908 du directeur de l'enseignement Renel; zit. nach F. ESOAVELOMANDROSO 1976, 124).
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der sogenannten „Rassenpolitik" („politique de race"). Ihr Ziel bestand in der Trennung der Bevölkerung in indigene Gruppen unter Führung von Chefs ihrer „Rasse" (vgl. Inspection des Colonies, Paris, Mission d'inspection Moretti 1933 — 34, Rapport N° 42 sur le „Role de la langue indigene dans L'enseignement";' zit. nach F. E S O A V E L O MANDROSO 1976, 110), d. h. in der Überwindung der führenden Rolle der ethnischen Gruppe der Merina im Prozeß der Herausbildung einer madagassischen Nation (vgl. P. BOITEAU 1982, 297). Diese Absicht mußte jedoch in Übereinstimmung gebracht werden mit der objektiven Notwendigkeit, sich in der Verwaltung auf eine in der Mehrzahl aus Merina bestehende Schicht der Intelligenz zu stützen. Als Beamte des Königreiches waren sie in den Verwaltungsposten über das ganze Land verteilt und wurden von der Kolonialmacht in ihren Funktionen übernommen. Das Verhältnis des Merina-Dialektes zu den übrigen Dialekten blieb deshalb in den ersten zwei Jahrzehnten der Kolonisation unangetastet. Seine Anerkennung durch die Akademie als Unterrichtssprache im indigenen Bildungswesen stellte eher noch eine Förderung dar und erklärt den Rückgang des Schulbesuches in den ersten Jahrzehnten der Kolonisation 1 1 . Die Offizialisierung des Merina-Dialektes stand damit im Widerspruch zur Rassenpolitik. Über ihre Auswirkungen schrieb H. DESCHAMPS (1936, 30) in seiner Beschreibung des Antaisaka-Dialektes, daß bei Sprechern, die in den Städten leben, die Tendenz zu beobachten ist, „Merina-Wörter und Wendungen zu gebrauchen, die sie für distinguierter halten und mehr in der Gunst der Vazahas (der Europäer, B.S.) stehen". Diese Situation führte ein Jahr nach der VVSAffaire 12 zu einer Neuorientierung hinsichtlich des Sprachgebrauches im Bildungswesen, festgehalten im Erlaß vom 19. 2. 1916. Um der Gefahr eines nationalen Befreiungskampfes unter Führung von Vertretern der ethnischen Gruppe der Merina zu begegnen, galt es, die Rassenpolitik Gallienis durchzusetzen. Zu diesem Zweck brach Ch. Renel mit der 1902 etablierten Verwendung des Merina-Dialektes als Unterrichtssprache in den offiziellen Schulen. An seine Stelle sollte nun die Verwendung der lokalen Dialekte treten. Die Lehrer waren 11
1894 betrug die Zahl der Schüler in den protestantischen Missionsschulen 1 3 7 3 5 6 , in den katholischen 2 7 7 3 9 (vgl. L. RABEARIMANANA 1980, 22). Sie ging bis 1910 auf 80 000 zurück, und es dauerte bis Anfang der dreißiger Jahre, ehe die Zahl von 1894 wieder erreicht war (vgl. auch P. BOITEAU 1982, 302).
12
W S - Vy, Vato, Sakelika (Eisen, Stein, Ableger) — eine von Vertretern der madagassischen Intelligenz 1912 gegründete, nichtoffizielle Organisation, die später charakterisiert wurde als Bewegung für soziale Demokratie und Bewahrung nationaler Attribute (vgl. auch P. BOITEAU 1982, 315 ff.).
338
Repressive Sprachpolitik
aufgefordert, zu Beginn der Schulzeit den Dialekt der Region für ihre Erklärungen zu verwenden und ihn im Rahmen des Möglichen zunehmend durch die französische Sprache zu ersetzen. Zum Ziel des Französischunterrichtes wurde gesagt, daß die Schüler zu befähigen seien, ein Gespräch über die geläufigsten Themen zu führen (lokale Kultur, Handel und Industrie der Region). Wenn die Rassenpolitik dennoch scheiterte, so weil die Verwendung des lokalen Dialektes in den Schulen nicht begleitet wurde von einer Dezentralisierung des höheren Bildungswesens. Fortgesetzt wurde diese sprachpolitische Orientierung mit dem Erlaß vom 17. 1. 1929. Darin war die Rede von „bilingualem Unterricht, in dem die Muttersprache den ersten Platz einnimmt, ohne jedoch das Erlernen des Französischen zu beeinträchtigen" (L'enseignement Ä Madagascar en 1931, S. 18; zit. nach F. ESOAVELOMANDROSO 1976, 127). Die verschiedenen Fächer, so hieß es im Erlaß, „werden in den Grundschulen mit Ausnahme des Französischunterrichtes in madagassisch erteilt" (ebd., 128). Aufgrund der Rolle, die dem Madagassischen in den Schulen für europäische Kinder zugeschrieben wurde (Fremdsprache), sah die madagassische Intelligenz in dem Erlaß einen Vorwand, den Gebrauch des Französischen zurückzuweisen. Dies wiederum veranlaßte L. Cayla, Generalgouverneur seit 1930, zu der Feststellung „die Kenntnis des Französischen gehe bei der madagassischen Jugend zurück", und „wenn der 1929 eingeschlagene Kurs fortgesetzt wird, laufen wir Gefahr, den Kontakt zur Masse der Eingeborenen zu verlieren". Am 14. 10. 1933 erschien deshalb ein neuer Erlaß, der in vielem an dem Text von 1916 orientiert war und das Erlernen des Französischen wieder stärker in den Vordergrund rückte 13 . Er blieb bis zur Reform vom November 1951 in Kraft. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Wesen der kolonialen Sprachpolitik Frankreichs zweifelsohne komplexer Natur ist und nur als Teil französischer Kolonialpolitik insgesamt zu definieren sein wird. Konstitutiv für koloniale Sprachpolitik Frankreichs ist ebenso zweifelsfrei das aus der Zeit der Revolution von 1789 — 94 stammende 13
Über das Ziel der Grundschulen hieß es darin: „Les ecoles du premier degre visent a amener a la pratique de la langue franfaise courante [...] Au debut, le maitre emploiera pour ses explications le dialecte local puis progressivement et dans la mesure du possible il substituera la langue frangaise a ce dialecte." Und der Text präzisierte weiter: „L'enseignement de la langue fran^aise visera a donner aux eleves une connaissance elementaire de la langue fran9aise, leur permettant d'expliquer leur pensee, par la parole, l'ecriture, sur les sujets les plus usuels. Les meilleurs eleves devront etre capable a la fin de leur scolarite de suivre un expose court, tres simple, condition exigee pour l'admission a l'ecole regionale ou l'enseignement est entierement donne en langue frangaise (vgl. ebd., 130).
339
Sprachlicher Kolonialismus
Prinzip (jakobinischer Prägung) der Durchsetzung der französischen Sprache gegenüber anderen Sprachen und ihre aus diesem Prinzip resultierende Verwendung als Selektionskriterium. Anders gesagt bestand eine der wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen der Kolonisatorensprache für die Realisierung französischer Kolonialpolitik in der Auslese von Führungskräften. Vom Standpunkt des Sprachunterrichts aus betrachtet, bestand das Wesen kolonialer Sprachpolitik Frankreichs in der sozial differenzierten Vermittlung der französischen Sprache auf der Grundlage des Wettbewerbssystems. Sozial differenziert heißt dabei: ihre vollständige Vermittlung bei möglichst gleichzeitiger Aufgabe des Madagassischen als Muttersprache (Assimilation bzw. Akkulturation) an genau jenen als „Elite" bezeichneten Prozentsatz der Sprecher, der als Mittler in der Administration notwendig war für die Durchsetzung der Kolonialpolitik gegenüber der Bevölkerung, und - darüber hinaus — die zur Unterstützung der Kolonisation notwendige partielle Vermittlung des Französischen an alle übrigen Klassen und Schichten. Die Motivation für das Erlernen der französischen Sprache erfolgte durch ihre Identifizierung mit dem Erwerb von Zivilisation als Ausdruck einer höheren Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Muttersprachen der kolonisierten Völker dagegen wurden von führenden Repräsentanten der Kolonialadministration abgewertet bzw. entwertet — entweder durch ihre Bezeichnung als Sprache von Unzivilisierten, oder indem ihnen der Status einer Sprache abgesprochen wurde durch Bezeichnungen wie indigene Idiome oder Dialekte. Ein Ergebnis kolonialer Sprachpolitik Frankreichs war deshalb das künstlich geschaffene kommunikative Bedürfnis nach dem Erwerb des Französischen. Dennoch ließ koloniale Sprachpolitik Frankreichs in Madagaskar und darüber hinaus auch Platz für die Erforschung und Beschreibung der Landessprache und ihrer Dialekte (vgl. J. DEZ 1978, 338 f.), ausgehend allerdings von dem Gedanken, daß es sich bei den „indigenen Kulturen" um Kuriositäten für Ethnographen und andere Anhänger „exotischer" oder „museologischer" Forschung handelte (vgl. B . DOMENICHINI-RAMIARAMANANA
1965,
111
und
E . BROSZINSKY-
76ff.). Die strikte Berücksichtigung des Prinzips der Effektivität kolonialer Sprachpolitik implizierte nach 1945 und insbesondere nach 1960 — als sich die Demokratisierung des Bildungswesens in den Überseedepartements und -territorien zur Aufrechterhaltung kolonialer Machtansprüche unumgänglich machte — immer die Möglichkeit, die erreichten Resultate bei der Vermittlung des Französischen als Mißerfolge zu deklarieren, um so neuerliche Anstrengungen zur Extension seiner sozialen Basis zu legitimieren. Dies um so mehr, als sich SCHWABE 1988,
340
Repressive Sprachpolitik
Frankreich dabei auf die etablierte Elite stützen konnte. Ein Beispiel dafür sind die in den sechziger Jahren gegründeten sprachwissenschaftlichen Institute in Dakar ( 1 9 6 3 ) , Abidjan ( 1 9 6 5 / 6 6 ) , Yaounde ( 1 9 6 7 / 6 8 ) und Antananarivo ( 1 9 6 9 ) im Rahmen der Institutionalisierung der Francophonie (vgl. z.B. J. CHAMPION 1 9 6 9 / 1 9 7 4 ) . Für das Madagassische führte die koloniale Sprachpolitik Frankreichs a) zu einer relativen Stagnation seiner lexikalischen Entwicklung, insbesondere hinsichtlich gesellschafts- und naturwissenschaftlicher Fachwortschätze (vgl. Punkt 6. 4.), so daß b) eine große Zahl von Entlehnungen aus dem Französischen zu verzeichnen war und eine umgangssprachliche Varietät der Landessprache entstand, die als malgache metisse oder vary amin'anana bezeichnet wurde (vgl. B. SCHMIDT 1989); c) zu seiner Betrachtung als unzureichend hinsichtlich seiner Ausdrucksmöglichkeiten. Für den als Elite bezeichneten Teil der Sprecher führte die koloniale Sprachpolitik Frankreichs im Zusammenhang mit der Assoziierungspolitik einerseits zur mehr oder weniger starken Aufgabe ihrer Muttersprache und Kultur14, andererseits zur Aneignung der Wertvorstellungen jener Gesellschaftsordnung, die das höchste Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte aufzuweisen hatte. Für den größeren Prozentsatz der Sprecher jedoch, dem der Zugang zum vollständigen Erwerb des Französischen verwehrt blieb, führte die koloniale Sprachpolitik Frankreichs zu einem lediglich partiellen Erwerb beider Sprachen15. 14
Der derzeitige Minister für das Hochschulwesen Madagaskars, J. RAKOTO (1971, 68 f.) schrieb dazu: „Ii y a aussi ceux qui sont d'une intelligence superieure a la moyenne et appartenant en general a un milieu bourgeois, largement ouvert a la langue et a la culture frangaises, qui sont pour eux une seconde et parfois une premiere nature. Les plus intelligents d'entre ceux-la risquent de „ne plus etre malgaches" et d'aller grossir les rangs des „accultures complets". [...] ils „occupent les postes importants dans la haute administration, les ambassades, les etats-majors des grandes societes, etc. Leur technicite de type occidental, le snobisme social et culturel [...] en font de veritables etrangers dans leur propre pays" (ebd., Anm. 31; vgl. a u c h Β . DOMENICHINI-RAMIARAMANANA 1 9 6 5 , 1 0 9 u n d 1 9 7 3 , 7 4 ) .
15
In der von der französischen Botschaft herausgegebenen Zeitschrift der Association des Amis du Centre Culturel Albert Camus, „Topimaso", wurde 1966 auf die dem Bilinguismus geschuldeten Probleme aufmerksam gemacht, indem zwei Arten von Studenten unterschieden wurden: „Une premiere categorie, d'intelligence moyenne et de milieu social peu ,cultive', soit totalement etranger a la culture franfaise, rencontrent des difficultes d'expression enormes dans leur langue maternelle tandis que leur maitrise imparfaite de la langue fran£aise ne permet pas d'y suppleer" (zit. n a c h J . RAKOTO 1 9 7 1 , 6 8 ; vgl. a u c h B . DOMENICHINI-RAMIARAMANANA 1 9 6 5 , 1 1 0 ) .
Sprachlicher Kolonialismus
341
Unter Berücksichtigung der Überlegungen zu Sprachpolitik und Sprachwandel, die im Zusammenhang mit dem Sprachverständnis A. Gramscis angestellt wurden (vgl. z.B. J.ERFURT 1988), illustriert die koloniale Sprachpolitik Frankreichs am Beispiel des Madagassischen anschaulich die Richtigkeit der These von der Möglichkeit des bewußten Eingriffes, von der bewußten Einwirkung auf Sprache und ihre damit verbundene Veränderung. Allein die Regulierung der Kommunikationsbereiche, in denen eine Sprache verwendet oder nicht verwendet werden darf, stellt einen Eingriff in eine gegebene sprachliche Situation dar, der entscheidend zur Entwicklung oder Stagnation einer Sprache beitragen kann, ζ. B. hinsichtlich gesellschafts- und naturwissenschaftlicher Fachwortschätze. Wesentliches kolonialer Sprachpolitik Frankreichs (und indirekt auch ihre Spezifik auf Madagaskar) wird auch deutlich, vergleicht man sie mit der anderer Kolonialmächte. L . - J . CALVET (1989, 28) schrieb diesbezüglich: „Wir stellen fest, daß, [...] die Sprache für das Funktionieren des Staates (Französisch, Englisch oder Portugiesisch) zwar eine von der Bevölkerung wenig gesprochene Sprache ist, dafür aber eine Herrschaftssprache, ein sozialer Schlüssel. Hingegen sind umgekehrt die Sprachen für die Verständigung im Land (die Vehikulärsprachen) selten offiziell anerkannt; sie werden im allgemeinen nicht verwendet in der Schule, in den Gerichten, in der Verwaltung, im politischen Leben. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, befinden sich die drei europäischen Sprachen, die in Afrika offiziell eine Rolle spielen, in derselben Situation. Ein einziger Unterschied besteht, aber er ist bedeutend: In der kolonialen Epoche führten Großbritannien und Belgien afrikanische Sprachen in der Schule und der Verwaltung ein, wohingegen weder Frankreich noch Portugal diese Politik anwandten. Das Ergebnis dessen ist, daß sich das Sprachproblem zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit sehr unterschiedlich darstellte in Tansania oder in Zaire auf der einen Seite, im Senegal oder in Mocambique auf der anderen."
5.1.2.
Die unidad de la lengua als Ersatz für den Verlust der spanischen Kolonien
5.1.2.1. Politische Unabhängigkeit und sprachliche Emanzipation Wenngleich die lateinamerikanische Unabhängigkeitsbewegung (1810 — 1826) ähnlich wie der spanische Unabhängigkeitskrieg (1808 —
342
Repressive Sprachpolitik
1814) Verschiebungen in den Normen des Spanischen 1 6 einleitete, wurde der Status des Spanischen selbst nicht in Frage gestellt. Die vorangegangenen sprachpolitischen Maßnahmen der spanischen Krone hatten keine vollständige Hispanisierung erreicht 1 7 . Der Großteil der Bevölkerung — die unteren Klassen und Schichten — wurden davon nicht erfaßt. So sprach die Mehrzahl der Indios zu Beginn der Befreiungskriege kein Spanisch oder verstand es nicht einmal (vgl. ROSENBLAT 1 9 6 4 , 2 1 0 ) . Ähnlich wie bei den Nationalitätensprachen in Spanien handelte es sich zunächst um eine horizontale und selektive Kastilisierung. Im Befreiungskampf bedienten sich die kreolischen Patrioten zwar insbesondere in den Ländern mit einem hohen indianischen Bevölkerungsanteil (Mexiko, Guatemala, Peru, Bolivien) auch der Indianersprachen zur Führung der Massen (vgl. ebd.), doch waren daran keine Überlegungen zur Emanzipation dieser Sprachen geknüpft. Da in keiner Verfassung (1819 Venezuela, 1821 Kolumbien, 1826 Argentinien und Bolivien) die Sprachenfrage angeschnitten wurde, muß angenommen werden, daß sie als zugunsten des Spanischen gelöst betrachtet wurde. Die Bildungsprogramme sahen in jedem Falle die Alphabetisierung in spanischer Sprache vor und zielten somit — ohne daß bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine vollständige Umsetzung erfolgen konnte — auf die Hispanisierung in absteigender Richtung ab (vgl. N I N Y O L E S 1979, 93 ff.). Das Spanische war die prestigereichere Sprache und vor allem diejenige, die die kreolische Führungsschicht sprach. Darüber hinaus implizierte der zentralistische Staatsaufbau, wie ihn ζ. B. Simon Bolivar (1783 —1830) für die jungen Nationalstaaten forderte (vgl. DESSAU 1987, 93), die Durchsetzung einer einheitlichen Nationalsprache als Ausdruck eines starken Nationalgeistes. Die Erringung der politisch-staatlichen Unabhängigkeit verstärkte die nationale Aufgliederung des bis dahin kontinentalen Revolutionszyklus (vgl. K O S S O K / K Ü B L E R / Z E U S K E 1 9 7 4 , 1 6 8 ) was u. a. zu unterschiedlichen sprachpolitischen Lösungen für die einzelnen Länder führte. Triebkräfte der Nationbildung waren die Liberalen. In ihrem Bemühen, die neue Gesellschaft auf allen Ebenen rasch zu entwickeln,
16
Zur Erneuerung des politischen Vokabulars vgl. BELDA 1 9 6 5 - 1 9 6 6 , CARRION ORDONEZ 1 9 8 2 - 1 9 8 3 ,
HILDEBRANDT 1 9 7 4 u n d ROSENBLAT 1 9 6 0 ; z u r
Demokrati-
sierung der Anrede und zur Schaffung eines egalitären, zweckgerichteten Stils vgl. LAZO 1 9 7 4 , 3 1 2 - 3 1 4 , s o w i e ALVAR 1 9 8 2 , 17
352.
Z u r kolonialen Sprachpolitik vgl. u. a. BUFFA 1 9 7 4 , HEATH 1 9 7 7 , KONETZKE 1 9 5 3 -
1962 und 1964 sowie ROSENBLAT 1964 und 1977.
Sprachlicher Kolonialismus
343
schenkten sie der staatsbürgerlichen Erziehung der Jugend sowie der Heranbildung eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls besondere Aufmerksamkeit (vgl. D E S S A U 1987, 107). Daneben wirkte auch das Bewußtsein der kontinentalen Dimension der Unabhängigkeitsrevolution weiter, worin die Liberalen mit der Unterwerfung der Länder Lateinamerikas unter die Kapital- und Handelsinteressen der expandierenden Industriestaaten (England, USA) besonders ab Mitte des 19. Jahrhunderts bestärkt wurden. So entwikkelten sie Vorstellungen zur Neugestaltung des Verhältnisses zwischen den Nationen im Geiste brüderlichen und solidarischen Zusammenlebens (vgl. ebd., 133 ff.), vor allem zum Zusammenwirken der lateinamerikanischen Nationen. Beide Tendenzen haben unterschiedliche, sogar konträre sprachpolitische Konsequenzen, wie an den Haltungen zur eurozentrierten, puristischen Norm des Spanischen deutlich wird. Bestrebungen zur Loslösung von der Norm der Iberischen Halbinsel und zur Schaffung bzw. Anerkennung eigener nationaler Varietäten wurden mit dem Kampf um politische Unabhängigkeit manifest. Die stärksten Bemühungen zeichneten sich in der Folgezeit in Argentinien ab. Anders als in den meisten lateinamerikanischen Ländern hatte sich hier eine starke liberale Strömung herausgebildet, die sich im Sinne der nichtlatifundistischen bürgerlichen Kräfte auf eine rasche Überwindung der präkapitalistischen Verhältnisse und Konstituierung eines bürgerlichen Nationalstaates orientierte (DESSAU 1987, 118). Der Prozeß der Nationwerdung verzögerte sich durch die Kämpfe zwischen konservativen Föderalisten und liberalen Unitaristen und durch die Errichtung der Rosas-Diktatur (1835 — 1852). Er fand erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Zuge der Binnenkolonisation nach der Conquista del Desierto, der Urbanisierung und Einwanderung (ab 1880), dem Aufschwung in Viehzucht und Handel seinen Abschluß. Die sozial-ökonomische Umstrukturierung ging mit der kulturellideologischen Emanzipation und dem Entstehen eines neuen Kulturmodells in den Jahren 1 8 6 0 - 1 8 9 0 einher (vgl. A N D R E U 1982, 203 ff.). Als Katalysator wirkte die europäische Romantik, die in Argentinien früher als anderswo rezipiert wurde 18 . Maßgebliche Überlegungen zur Schaffung einer Nationalliteratur („expresion de la sociedad nueva que construimos"), an die Betrachtungen zur stilistischen Norm dieser Literatur und zur Sprachentwicklung geknüpft sind, gehen auf den 18
Für Argentinien ist darüber hinaus der Einfluß Brasiliens wichtig, wo die sprachliche Emanzipation von Portugal mächtig war und auf die Nachbarländer ausstrahlte.
344
Repressive Sprachpolitik
liberalen Politiker und Schriftsteller Domingo Faustino Sarmiento (1811 — 1888) zurück. Bereits im ersten Artikel der „Primera polemica literaria" (27. 4. —30. 6. 1842), die im chilenischen Exil erscheint (vgl. auch „Segunda polemica literaria", 19. 7.— 8. 8. 1842), unterstreicht er, daß jede Region oder Provinz des spanischen Sprachgebiets Sonderentwicklungen aufweise (SARMIENTO 1 8 8 7 , Bd. 1, 2 0 8 ) . Seine Sicht auf den Prozeß der Etablierung von Normen geht von der „Erneuerung von unten" aus (KUBARTH 1 9 8 7 , 1 7 2 ) : „La soberania del pueblo tiene todo su valor y su predominio en el idioma; los gramaticos son como el senado conservador, creado para resistir a los embates populäres" (SARMIENTO 1 8 8 7 , Bd. 1, 2 0 9 ) . Deshalb müßten Elemente der gesprochenen Sprache, volkstümliche Wendungen und Wörter und grammatische Eigenheiten, die im Volk verbreitet sind, in die Literatursprache aufgenommen werden. Um die neuen Ideen und Entwicklungen auszudrücken, bilde die puristische Akademienorm („estilo castizo y correcto") einen zu engen Rahmen (vgl. ROSENBLAT 1 9 7 1 , 1 6 7 ) . Sprache könne nicht festgeschrieben werden, sondern strebe wie Mensch, Natur und Gesellschaft der perfectibilidad zu (SARMIENTO 1887, Bd. 1, 247). So wie das spanische Gesellschaftsmodell antiquiert ist, so sei auch die Sprache für die moderne Zivilisation unbrauchbar (vgl. COSTA A L V A R E Z 1 9 2 2 , 44ff.). Lediglich in dieser Hinsicht verteidigt Sarmiento die Abkehr von der spanischen Grammatik und die Entwicklung eines lateinamerikanischen Standards. Auch der venezolanische Philologe Andres Bello ( 1 7 8 1 - 1 8 6 5 ) erkannte die Notwendigkeit der sprachlichen Emanzipation. Seine „Gramätica de la lengua castellana destinado al uso de los americanos" ( 1 8 4 7 ) nannte er „gramatica nacional" (vgl. B E L L O 1 9 1 8 , VI). Im Gegensatz zu Sarmiento ging es ihm jedoch nicht um die Schaffung einer Nationalsprache für ein bestimmtes Land oder eines von der Norm der Iberischen Halbinsel völlig unabhängigen lateinamerikanischen Standards. Seine Auffassungen zur Sprache sind stark von seinen politischen Anschauungen, besonders von den Vorstellungen über die Gestaltung der internationalen Beziehungen und zwischen den lateinamerikanischen Nationen (vgl. DESSAU 1 9 8 7 , 1 3 3 - 1 3 7 ) geprägt. In Übereinstimmung mit seinem kontinentalen Denken, das in die Idee der weltgeschichtlichen Mission und des solidarischen Zusammengehens der Völker Lateinamerikas mündet, wendet sich Bello in der Grammatik an seine Brüder in ganz Lateinamerika, die durch das Band der Sprache untereinander und mit Spanien verknüpft seien (vgl. 1918, VII). Er befürchtet angesichts der unkontrollierten Erneuerung der Sprache im Zuge der wissenschaftlich-technischen und politisch-ideo-
Sprachlicher Kolonialismus
345
logischen Umwälzungen ein Auseinanderdriften des Spanischen in Lateinamerika und seinen Zerfall in Dialekte (ebd., VIII). Die mögliche Diversifizierung betrachtet Bello jedoch mit Blick auf die Sprachsituation in Spanien, Italien und Frankreich als Hindernis bei der Schaffung der nationalen Einheit bzw. einheitlicher Nationalstaaten und greift damit direkt auf jakobinische Positionen zurück: „hablarian ... varias lenguas ... oponiendo estorbos a la difusion de las luces, a la ejecucion de las leyes, a la administracion del Estado, a la unidad nacional" (ebd.). Der Standard des Spanischen basiert für Bello aber nicht nur auf der alleinigen Anerkennung der europäischen oder gar kastilischen Norm. Seine Vorschläge gehen zwar auch von der Literatursprache des Siglo de oro (vgl. VELLEMAN 1981, 3 — 7) und vom buen uso der Gebildeten aus, weil dieser in den verschiedenen Ländern sehr einheitlich und gut verständlich sei und weil er am wenigsten gegen die Reinheit und Korrektheit der Sprache verstoße. Die Sprache der Ungebildeten variiere dagegen stark und werde oft nur situationsgebunden verständlich (vgl. BELLO 1918, 1, VIII; I X ; 1956, 20). Dennoch ist die Norm damit nicht eurozentrisch, sondern umschließt auch Entwicklungen des Sprachgebrauchs in Lateinamerika, der zum Teil besser als in Spanien selbst ursprüngliches Wortgut und Paradigmen bewahre (vgl. Bello 1918, VIII) 1 9 . Ähnlich wie später Cuervo (vgl. 5.1.2.2.3.) überarbeitet Bello die verschiedenen Auflagen der Grammatik und korrigiert einige seiner Aussagen, wenn sich die Beispiele nach neu erworbenen Erkenntnissen nicht als Normverstöße herausstellten, sondern z.B. als Archaismen (vgl. ALVAR 1985, 105ff.). Die Kriterien für die Sanktionierung von Neuerungen oder die Vereinheitlichung variierenden Sprachgebrauchs sind dabei die Analogie und die Etymologie, die Bello auch den Entscheidungen der Akademie zugrundegelegt wissen will. So lehnt er in den „Advertencias sobre el uso de la lengua castellana" (1956, 20 f.) und in der Grammatik (1918, 60 f.) den Voseo20 mit der Begründung ab, daß vos immer pluralische Bedeutung besessen habe, deshalb die 2. P. PI. des Verbs 19
20
Bello will in der Sprachnorm geographische, aber nicht soziale Gleichheit verankert wissen: „Chile y Venezuela tienen tanto derecho como Aragon y Andalucia para que se toleren sus accidentales divergencias, cuando las patrocina la costumbre uniforme y autentica de la gente educada" (1918, IX). Sowohl die soziale Anerkennung (vgl. ROSENBLAT 1960, 543 ff.) als auch die sprachhistorische Erklärung (vgl. 5.1.2.2.3.) erfolgten erst spät, während Seseo und Yetsmo sehr bald als Identitätsmarker der Kreolen funktionierten (vgl. AGUILA 1980, 90 f.; GUITARTE 1983 a). Die „spanische Aussprache" kennzeichnete dagegen eher die restaurativen Kräfte (GUITARTE 1983 a, 117 ff.).
346
Repressive Sprachpolitik
verlange (ζ. Β. „vos sois") und lediglich als „senal de cortesia y respeto" (ebd., 61) für eine einzelne Person gebraucht würde. Er sei jedoch veraltet und usted/tü im Sg. bzw. ustedes/vosotros im PI. vorzuziehen. Die Benutzung der 2. P. Sg. (ζ. B. „vos eres") verwirft er als „barbarismo grosero" (1956, 20). An anderer Stelle wendet sich Bello gegen die Akademie-Norm, wie bei der Regelung der Aussprache und Schreibung von transaction, bei der in der 5. und 6. Auflage des Akademie-Wörterbuchs (1817 bzw. 1822) mit transacion seiner Meinung nach gegen die Kriterien verstoßen wurde. Bello votiert für transaction analog zu anderen gelehrten Wörtern, in denen lat. et in spanisch cc umgeformt wird (ζ. B. actio —> action, lectio —> lection; 1956, 26 f.). Im Unterschied zu Sarmiento zielte die von Bello konzipierte Sprachpolitik nicht auf eine „Erneuerung von unten", sondern auf die Hebung der allgemeinen Sprachkultur, also auf eine „Erneuerung von oben". Nach der Befreiung Lateinamerikas sollte dem unwissenden Volk Bildung vermittelt werden, und im Anschluß an Rousseau gehört dazu eine intensive Spracherziehung (BELLO 1956, 11). Zur Ausmerzung von Fehlern („impropiedades", „vicios", „defectos", ebd., 11; oder „corrupciones", „vulgaridades", „incorrecciones", 1918, VIII) sollte — wie bei den Jakobinern — die Schule beitragen. Seine „Advertencias", die 1833 und 1834 in „El Araucano" (Santiago de Chile) erschienen, und seine Grammatik wandten sich deshalb vorrangig an Eltern und Lehrer („dirigidas a los padres de familia profesores de los colegios y maestros de escuela") 2 1 . Da Schulbildung für alle in Lateinamerika ebenso wenig wie in Frankreich bald nach der Revolution verwirklicht werden konnte, wurden durch diese Sprachpolitik erneut sprachliche Barrieren zwischen den Klassen und Schichten bzw. ethnischen Gruppen errichtet 2 2 , die keinen und denen, die Zugang zu Bildung besaßen. 21
22
Bereits in der nachfolgenden neoakademischen Bewegung begann die Fehlinterpretation von Bellos Schaffen als „Salvador de la integridad del castellano de America" (Menendez y Pelayo). Es ging ihm ähnlich wie den Jakobinern in Frankreich. Während Bello an einer egalitären Norm interessiert war, nutzten die Neoakademiker vor allem seine puristischen Ansätze zur Erhaltung der sprachlichen Hegemonie Kastiliens gegenüber Lateinamerika. Eine wichtige Frage, die nur unzureichend beantwortet werden kann, ist die nach der Umsetzung und dem Erfolg der Programme. Für Chile wird immer wieder darauf verwiesen (Ζ. B. schon LENZ 1893, 214), daß die Sprache der Gebildeten sehr rein und korrekt sei und somit Bellos Programm erfolgreich umgesetzt worden sei (z.B. Zurückdrängung des Voseo; vgl. BELLO 1956, 43). Das argentinische Spanisch wurde dagegen „gern als die am weitesten vom Kastilischen entfernte Variante angesehen" (KUBARTH 1987, 171). Damit erhebt sich die Frage, ob neben anderen Faktoren nicht doch die sprachemanzipatorischen Bemühungen eine gewisse Effizienz gehabt haben mögen.
347
Sprachlicher Kolonialismus
5.1.2.2. Versuch der Kompensation In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts verbreitete sich in Spanien die Ansicht, daß der Verlust der Kolonien und die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten nicht wieder rückgängig zu machen waren (vgl. REHRMANN 1990, 7 f f . ) . Die Rückgewinnung verlorener Positionen auf militärischem Weg hatte sich mit dem Scheitern der Intervention in M e x i k o (1861) und Santo Domingo (1863) als unmöglich erwiesen. Kuba und Puerto R i c o wurden zwar nach den Erhebungen von 1868 wieder ins Kolonialjoch gezwungen, entglitten Spanien aber im Spanisch-Nordamerikanischen Krieg von 1898 endgültig. Wirtschaftlich eroberte Großbritannien eine Monopolstellung, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts meldeten die USA verstärkt ihre Machtansprüche in Form des Panamerikanismus an, der an die T r a ditionen der Solidarität zwischen den lateinamerikanischen Ländern anzuknüpfen versuchte (1889 1. Panamerikanische Konferenz, 1890 Gründung der Panamerikanischen Union). Spanien versuchte über kulturelle Aktivitäten, die Reste des Imperiums zusammenzuhalten und seinen Einfluß zu bewahren. Dabei war die unidad de la lengua de facto das letzte Gebiet, auf dem es seinen traditionellen Hegemonieanspruch erheben und den Verlust der Kolonien kompensieren konnte. So begann die Real Academia nach 1870 gegenüber den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern mittels der Einrichtung von Tochterakademien die sprachlichen Bindungen zu straffen und auf die Durchsetzung ihrer puristischen, eurozentrierten N o r m als einzig gültiger zu drängen. In den 80er Jahren schlossen sich die lateinamerikanischen Ländern, und die ehemalige Metropole wieder stärker politisch zusammen. Tatkräftige Schritte wurden mit der Schaffung der Union Ibero-Americana (Madrid, 1885; vgl. REHRMANN 1990, 8 f.) und ihrer Federation Universitaria Hispano-Americana unternommen (vgl. MADARIAGA 1979, 174). Ihr gleichnamiges Publikationsorgan trachtete, das Informationsdefizit in Spanien zu überwinden (vgl. FOGELQUIST 1968, 20 f.). Weiterhin dienten auch die von der spanischen Regierung ausgerichteten Veranstaltungen und Konferenzen zum IV Centenario (1892) diesem Anliegen.
5.1.2.2.1. Die Real Academia Espanola
(RAE)
Spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts sublimierten restaurative Kräfte in Spanien den Verlust der Kolonien in einer Erfolgsbilanz der imperialen Sprachpolitik und im Anspruch, die Herren der Sprache
348
Repressive Sprachpolitik
zu sein, wie es Leopold Alas Clarin (1852—1901) formulierte. Mit Blick auf die Zyklustheorie Nebrijas keimte jedoch auch die Furcht auf, daß mit dem Zerfall des Kolonialreiches der sprachliche „Verfall", der sich mit den Emanzipationsbestrebungen einiger Länder SpanischAmerikas abzuzeichnen schien, einsetzen könnte. Um so angestrengter hielt die RAE an der Reinhaltung der Sprache und an der Ausrichtung der Norm auf die Literatursprache des Siglo de oro (stereotyp: „la lengua de Cervantes") fest. So begründete der Romancier Juan Valera (1824—1905) bei seiner Aufnahme in die Akademie am 16 .3. 1862 das puristische Sprachpflegeprogramm (1865, 239) mit dem Argument, daß alle Sprachen einmal einen Gipfelpunkt erreichten (vgl. VALERA 1865, 223), von dem aus ein weiteres Wachstum nicht mehr möglich sei, und sie auf diesem Stand konserviert werden müssen. Auf diese "Weise könnten Sprachen als Bindeglied („lazo de union") weiterwirken, selbst wenn die Sprachgemeinschaft schon zerstört sei (ebd., 239). Die Sprache schweiße somit auch Spanien und Lateinamerika zusammen: „y en la mayor extension de America, a pesar de nuestras desavenencias, reconocen sus habitadores ser nuestros hermanos, y el sello de esta fraternidad es el habla" (ebd.). Ähnlich äußerten sich auch der Schriftsteller und Jesuit Miguel Mir (1841 - 1 9 1 2 ) in seiner Akademie-Rede vom 9. 5. 1886 und Elias Zerolo (gest. 1900) in seinem Buch „La lengua, la Academia y los academicos" (1889). Für den Publizisten Zerolo, der sich auf Valera und Leon Galindo de Vera (1819 — 1889) beruft, welcher im Anschluß an Nebrija Sprache als „un instrumento de dominacion" beschreibt, garantiert die sprachliche Einheit besser als politische, ökonomische oder Handelsbeziehungen den Zusammenhalt der spanischsprachigen Nationen (ZEROLO 1889, 7 ff.). Auch nach dem Kubadesaster, auf das sich der Journalist Isidoro Fernandez Florez (1840—1902) in seiner Akademierede (13. 11. 1898) bezieht, wird der Verlust der Kolonien mit der fortbestehenden sprachlichen Dominanz kompensiert: „Hemos enterrado ... alii en America montones de huesos ... Pero aunque hemos vuelto, alli estamos: hemos dejado alli el habla de Castilla" (1898, 32). Und den Akademie-Mitgliedern ruft er zum Schluß zu: „iSi las escuadras y los ejercitos han terminado en America su mision, no ha terminado ... la vuestra!" (ebd.). Im Rahmen des /V Centenario wurde ein weiterer Kompensationsversuch mit dem „Congreso Literario Hispano-Americano" (Madrid, 31. 10.— 10. 11. 1892) unternommen, der von der Asociacion de Escritores y Artistas Espanoles organisiert und durch den spanischen Dichter und ordentliches Akademiemitglied Gaspar Nunez de Arce (1834—1903) einberufen worden war. Über die Sprache - „vinculo
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de los vinculos", so Canovas del Castillo in der Eröffnungsrede („Congreso Literario Hispano-Americano" 1893, 30) — sollte auch hier wieder der Hegemonieanspruch Spaniens realisiert werden. Als Ziel gab die u. a. von sieben lateinamerikanischen Ministern unterzeichnete „Convocatoria" vom 15. 3. 1892 an: „sentar las bases de una gran confederacion literaria, formada por todos los pueblos que aquende y allende los mares hablan castellano, para mantener uno e incolume, como elemento de progreso y vinculo de fraternidad, su patrimonial idioma" („Congreso Literario Hispano-Americano" 1893, 1). Die 15 Programmpunkte (17.7. 1892) der Philologischen Sektion beharrten von vornherein — abgesehen von Überlegungen zu Tendenzen, die die unidad de la lengua hemmen oder befördern — auf der Anerkennung der Akademiegrammatik und des Wörterbuchs 23 („Congreso Literario Hispano-Americano" 1893, 11 — 14). Die 31 Entschließungen (ebd., 225 — 233) sind durch die Dominanz von Akademiemitgliedern sowie offiziellen Vertretern von Staat und Kirche Spaniens 24 vom „akademischen Geist" geprägt (QUESADA 1900, 54). Neben Maßnahmen zur Reinhaltung, Pflege und zum Ausbau der Sprache sowie zur sprachlichen Erziehung der Jugend wird ζ. B. in Absatz 14 festgelegt: „La institution representativa de la autoridad en la lengua castellana debe ser la Academia Espafiola, asistida por sus organos autorizados en los diversos paises" (QUESADA 1900, 59). Eine ähnliche Funktion übernahm später der„Congreso Social y Economico Hispano-Americano" (Madrid 1900), der direkt an den „Congreso Literario Hispano-Americano" von 1892 anknüpfte. Der Duktus zur unidad de la lengua ist ein ähnlicher (vgl. FOGELQUIST 1968, 38 f.), wie die Rede des spanischen Ökonomen Antonio Torrents y Monner (1852 — 1921) zeigt. Seinen Wunsch, das Spanische einheitlich und rein zu bewahren und als Universalsprache zu verbreiten, stützt er sowohl mit stereotypen Versatzstücken aus dem unitaristischen Diskurs (ζ. B. „unificado tambien los sistemas de monedas, medidas y pesas"; TORRENTS Υ M O N N E R 1 9 0 0 , 3 ) , als auch mit den seit der Renaissance auf das Spanische angewandten Sprachbewertungskriterien (ebd., 4). Die „diversidad de lenguas" stehe der „fraternidad 23
24
Auf den Kongreß von 1892 geht die Anregung zurück, vermehrt Amerikanismen in das Wörterbuch aufzunehmen (vgl. MENENDEZ PIDAL 1984, 257). In der Auflage von 1884 wurden erstmals — wenn auch zaghaft — Beiträge der korrespondierenden Akademien berücksichtigt (vgl. REHRMANN 1990, 13). Von insgesamt 740 Teilnehmern waren 594 aus Spanien (vgl. CAYETANO MARTIN 1986, 158). Von den Lateinamerikanern dürfte die Mehrzahl zu den 68 Diplomaten gehört haben. Daneben waren 133 Schriftsteller, 74 Journalisten, 53 Politiker und 50 Militärs u.a. zugegen (vgl. ebd., 156f.).
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humana" entgegen und nur die „unidad del idioma" gewähre die Völkerverständigung (ebd., 3). Die verabschiedeten Empfehlungen zur „Unidad y conservation del idioma" sahen unter der Devise der „aproximacion de los pueblos ibero-americanos" („Congreso Social y Economico Hispano-Americano" 1902, Bd. 2, 337) die Durchsetzung des überwiegend eurozentrierten Sprachideals und des sprachpolitischen Dirigismus der RAE vor 25 . Der Kongreß zeigte sich besonders um die sprachliche Erziehung der lateinamerikanischen Jugend bemüht und sah Spanienaufenthalte für Jugendliche, die Erarbeitung von Lesebüchern für die Grund- und Oberschule sowie populärer Werke zur Sprachpflege vor (ebd., 339).
5.1.2.2.2. Die Academias
Correspondientes
Mit dem Aufruf vom 24. 11. 1870 zur Einrichtung von Instituionen nach dem Muster der RAE (vgl. E C H E V E R R I M E J I A 1964, 103; F R I E S 1984, 80) und der Gründung der Academias Correspondientes (vgl. BERSCHIN
1987,
122;
GUITARTE/TORRES
QUINTERO
1974,
3 2 0 ff.)
wurde schließlich der Versuch gewagt, den Hegemonieanspruch zu realisieren. Das Angebot stieß besonders bei den Konservativen — so in Kolumbien —, die an einer straffen Zentralisierung des Staates interessiert waren (vgl. D E S S A U 1 9 8 7 , 148 ff.), auf großen Widerhall. Als Ziele der Academia Colombiana (10. 5. 1871) wurden u. a. die Pflege der spanischen Sprache, ihrer Integrität und ihres genuinen Charakters fixiert ( E C H E V E R R I M E J I A 1 9 6 4 , 1 0 3 ) . In seiner Antrittsrede vom 6. 8. 1881 zum Thema „Del uso en sus relaciones con el lenguaje" stellt der Staatsmann und Latinist Miguel Antonio C A R O (1843 — 1909) Überlegungen an, wie unter dem in Zeit und Raum variierenden Usus die unidad de la lengua bewahrt werden könne. Um dem Zerfall in Dialekte (1955, 79) entgegenzuwirken, müßten sich alle spanischsprachigen Länder der Entscheidungsgewalt der RAE 2 6 unterordnen: „todas esas corporaciones han de subordinarse ... al principal centro
25
26
Absatz 3 erläutert unmißverständlich: „Para defender y afirmar la unidad de la lengua castellana, se reconoce como autoridad natural primera y mas alta a la Real Academia Espanola, asistida por sus Academias correspondientes..., siendo imprescindible la existencia de un Lexico comiin con autoridad declarada" („Congreso Social y Economico Hispano-Americano" 1902, Bd. 2, 338). Ebenso wie Cuervo sah Caro die Sprachpflege als Sache der Elite an, als „sagrado deber en todo tiempo, e importantisimo privilegio de las altas clases sociales" (vgl. H E R N A N D E Z NORMAN 1 9 6 8 , 7 8 f . ; T O R R E S QUINTERO 1 9 7 9 ) .
Sprachlicher Kolonialismus
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literario de Espana, como a depositorio mäs calificado de las tradiciones y tesoros de la lengua" (1881, 50; 1955, 81). Auch Antonio Guzman Blanco (1829—1899), General und Staatspräsident (1870 — 1888), unterstreicht in der Rede zur Eröffnung der
Academia Venezolana (27. 7. 1883), daß die korrespondierenden Aka-
demien dazu beitragen müßten, das den Sprachgebrauch noch ungenügend widerspiegelnde Wörterbuch der R A E zu verbessern, wobei sie allein für die Auswahl zuständig sei (GUZMAN BLANCO 1883, 56). Und so kann ZEROLO feststellen, daß niemand den Hegemonieanspruch Spaniens in Normfragen anzweifle („hoy se reconoce la primacia de E s p a n a " ; 1889, 8), und fordert, daß sich Spanien diese Position nicht streitig machen lasse. Obwohl sich die meisten Akademien somit, wie Jose Marti (1853 — 1895) sagte, zu Brückenköpfen Spaniens bei der Verteidigung seiner Vormachtstellung entwickelten, folgten nicht alle Länder dem Grün-
dungsaufruf der RAE. So wurde die Academia
Argentina de Letras
erst 1931 (Dekret vom 13. 8.) geschaffen; vorangegangene Versuche waren fehlgeschlagen. In dem Artikel „De los destinos de la lengua castellana en la America antes espanola" (1871), der erst 1898 postum erscheinen konnte, entlarvte der argentinische Schriftsteller und Politiker Juan Bautista Alberdi ( 1 8 1 0 - 1 8 8 4 ) das Ansinnen der R A E als „recolonizacion literaria" und die Academias Americanas als „dependencias" oder „sucursales de la Corporacion de M a d r i d " (zit. nach CAMBOURS OCAMPO 1983, 32). Aus dem Gründungsaufruf der R A E gehe hervor: „siendo la lengua castellana una propiedad de Espana, la Academia espanola de esa lengua es la unica autoridad competente para legislarla, regirla y defenderla donde quiera que se h a b l e " (ebd., 33). Ein erstes Projekt zur Sprachpflege entstand in Argentinien als Gegenreaktion auf das Verhalten von Juan M a r i a Gutierrez (1809 — 1878) 2 7 , der 1876 die korrespondierende Mitgliedschaft in der R A E abgelehnt hatte (vgl. COSTA ALVAREZ 1922, 5 8 - 7 0 ) . Die von dem Dichter Rafael Obligado ( 1 8 5 1 - 1 9 2 9 ) geführte akademische Bewegung beabsichtigte, gegen die Korrumpierung des Spanischen durch Vulgarismen und Inkorrektheiten aus der Volkssprache, durch Anglizismen und Gallizismen sowie gegen das lunfardo Front zu machen
27
Gutierrez wurde am 11. 12. 1872 zum korrespondierenden Mitglied der RAE berufen; das Diplom erhielt er jedoch erst am 29. 12. 1875. Sein ablehnender Antwortbrief vom darauffolgenden Tag erschien am 5. 1. 1876 in „La Libertad", woraufhin sich eine Polemik mit dem spanischen Journalisten und Schriftsteller Juan Martinez Villergas ( 1 8 1 6 - 1 8 9 4 ) entspann (vgl. CAMBOURS OCAMPO 1983, 2 6 f.).
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Repressive Sprachpolitik
(vgl. A L F O N S O 1964, 162). Obligado sah die Reinhaltung des Spanischen als patriotische Pflicht an, sprach sich für den Gebrauch eines flexiblen und korrekten Spanisch und gegen die Schaffung einer eigenen argentinischen Nationalsprache aus. Nachdem sich 1879 der Kreis aufgelöst hatte, gab es 1910 einen weiteren Versuch zur Gründung einer Sprachakademie, der ebensowenig nachhaltige Unterstützung fand (vgl. A L F O N S O 1964, 164).
5.1.2.2.3. Philologische Arbeiten aus der Akademiebewegung Die Durchsetzung einer puristischen Norm wollten auch erste philologische Arbeiten der Akademiebewegung befördern (vgl. G U I T A R T E / T O R R E S Q U I N T E R O 1 9 7 4 , 330ff.). Die „Apuntaciones criticas sobre el lenguaje bogotano" (1872) folgten zunächst der spanischen Hegemoniepolitik im Hinblick auf die Spracheinheit. Als Korrektiv erkennt der kolumbianische Philologe Rufino Jose Cuervo (1844—1911) in der 1. Auflage nur den Sprachgebrauch Kastiliens an, und Lateinamerika müsse deshalb das Opfer bringen, sich an diesen zu halten. Getreu dem Motto von Antonio Puigblanch (1795 —1840) 28 setzt er sich zum Ziel: „de conformar en cuanto sea posible nuestro lenguaje con el de Castilla" ( C U E R V O 1 9 0 7 , IV). Ebenso wie Bello geht es ihm um die Verbreitung des buen uso, des „lenguaje culto de la gente educada" (ebd., IX), der jedoch nicht an das Konzept der Volkserziehung, sondern eher an ein elitäres Bildungsideal geknüpft ist (ebd., VI). Er unterscheidet zwischen dem uso, der verbindlich ist („que hace ley"; ebd., VIII), und dem abuso. Dieser müsse ausgerottet werden, weil mit ihm Inkorrektheiten und Vulgarismen in die Hochsprache übernommen würden und gegen die Reinheit der Sprache verstoßen werde. Dem Volk („vulgo") spricht er jegliche Kompetenz in Fragen des Sprachgebrauchs ab: „en materia de lenguaje jamas puede el vulgo disputar la preeminencia ä las personas cultas" (ebd., VIII). Der Plebejisierung der Sprache sollen die „Apuntaciones" durch Fehlerdiskussion und -korrektur entgegenwirken. Cuervo sieht ebenso wie Bello in der Wahrung der Einheit und Reinheit des Spanischen ein Instrument zur Festigung der brüderlichen Bande zwischen den spanischsprachigen Staaten. Im Unter„Los espanoles americanos, si dan todo el valor que dar se debe a la uniformidad de nuestro lenguaje en ambos hemisferios, han de hacer el sacrificio de atenerse, como a centro de unidad, al de Castilla, que le dio el ser y el nombre" (PUIGBLANCH 1828[ - 1834], Bd. 2, X X X V I ) .
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schied zu Bello geht es ihm aber nicht um die Verwirklichung eines aufklärerisch-revolutionären Ideals, sondern um die als höchstes Ziel gesetzte Einheit des katholischen Glaubens („conservar la unidad religiosa"; CUERVO 1 9 0 7 , III). Neben dem Usus griff Cuervo jedoch auf ein zweites Kriterium für den richtigen Sprachgebrauch zurück, nämlich den etymologischen Aspekt („la ciencia del lenguaje"), der durch die angenommene Wirkung von Sprachgesetzen einen höheren Wert besitze (vgl. GUITARTE 1983 b, 253). Je stärker sich Cuervo die Methode der historischvergleichenden Sprachwissenschaft aneignet, desto deutlicher zeichnen sich zwei Texte in den „Apuntaciones" ab: einer, der die sprachlichen Phänomene (Bogotas) als Abweichungen von der puristischen Norm behandelte, und ein anderer, der sie als eigenständige Entwicklungen des Spanischen in Lateinamerika analysierte (vgl. GUITARTE 1983 b, 302ff.). Bereits in der 2. Auflage von 1876 nahm Cuervo einen Absatz über die Bedeutung der Etymologie für den Nachweis von zwischen verschiedenen Sprachetappen fehlenden Kettengliedern auf (vgl. CUERVO 1907, XVIII). Nach und nach gelang es ihm, Archaismus, Vulgarismus und Dialektalismus als grundlegende Kennzeichen des lateinamerikanischen Spanisch nachzuweisen (vgl. G A R R I D O 1987, 141). Während er den Voseo mit der archaischen Verbform der 2. P. PL (aus -äs, -es, -is; ζ. Β. „vos queres") noch in der 1. Auflage als „grosera vulgaridad" und in der 2. als „inaguantable vulgaridad" bezeichnete, wies er die Charakterisierung dieser Verbformen in der 3. Auflage (1881) als „corrupcion" zurück und erklärte sie stattdessen als ehemals volkstümlich in Spanien sowie als Kontraktion verschiedener Formen (vgl. GUITARTE 1983 b, 286 f.). Letztendlich spricht er nicht mehr von „barbaridades" und „abuso", sondern wendet sich einem neuen Studienobjekt zu, dem „lenguaje popular espanol" (ebd., 291). Dieser Auffassungswandel führte Cuervo schließlich zur Annahme gesonderter Sprachentwicklungen in Lateinamerika und entfremdete ihn seinem ursprünglichen Anliegen sowie dem der RAE.
5.1.2.3. Ausbruch einer Polemik Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die neoakademische Bewegung gescheitert. Die meisten Tochterakademien der RAE hatten ihre Arbeit eingestellt (vgl. ECHEVERRI M E J I A 1964, 104; M I L A N 1983, 130), als der Kopf der Bewegung mit der Prognose aufwartete, daß dem Spanischen in Lateinamerika das gleiche Schicksal zuteil werden würde wie dem Latein in den römischen Provinzen: „Estamos pues en vispe-
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ras (que en la vida de los pueblos pueden ser bien largas) de quedar separados, como lo quedaron las hijas del imperio romano" (CUERVO 1950, 247). In einem Brief an den argentinischen Schriftsteller Francisco Soto y Calvo (1858 —1926), den dieser seinem 1899 veröffentlichten Poem „Nastasio" voranstellte, begründete Cuervo die These mit der wachsenden Isolierung zwischen den lateinamerikanischen Ländern und dem Fehlen eines die Einheit wahrenden Zentrums, da Spanien mehr und mehr Einfluß einbüße. Angesichts des Verlustes der letzten Kolonien und der dadurch ausgelösten tiefen Krise der spanischen Gesellschaft (vgl. KRAUSS 1972 b, 40 ff.) rief diese Prognose gerade in Kastilien heftigen Widerspruch hervor. Dieser gründete sich aber nicht, wie Cuervo dachte (vgl. 1950, 309), auf rein wissenschaftliche Argumente, sondern auf vom spanischen Hegemonieanspruch getragene (sprach-)politische. Die Polemik von 1899—1903 zwischen Cuervo und Valera, in die sich später Miguel de Unamuno (1864—1936) einschaltete (vgl. CHAVES 1964, 508 ff.), muß deshalb auch als Reaktion auf die verstärkten Emanzipationsbestrebungen in einigen Ländern Spanisch-Amerikas betrachtet werden, die mit der Entwicklung biologistischer Theorien in der Linguistik eine wissenschaftliche Begründung zu finden schienen. Dennoch führte der Rückbezug auf die Darwinsche Entwicklungslehre nicht in jedem Fall zur Zerfallsprognose. Unter dem Einfluß der Hegeischen Dialektik, von Marx und Spencer nahm Unamuno für das Spanische einen Unifizierungsprozeß an — auf der Grundlage der Volkssprache in einer klassenlosen spanischen Gesellschaft (vgl. GUITARTE 1 9 8 0 - 1 9 8 1 , 161 ff.) Schon 1876 hatte August Friedrich Pott ( 1 8 0 2 - 1 8 8 7 ) in einem Brief an Cuervo anläßlich des Erscheinens der „Apuntaciones" einen der Korruption des Lateins gleichenden Zerfallsprozeß der spanischen Sprache vorausgesagt 29 . Wenngleich Cuervo dem zunächst in der 4. Auflage der „Apuntaciones" (1885) widersprochen hatte 30 , über29
30
„... tandem aliquando novae evasurae sint linguae, sicut olim Romanae, quas ex Latinae matris concursu com aliarum gentium idiomatis subnatas cognovimus" (zit. nach CUERVO 1907, X X X I I ) . Es handelt sich dabei nicht um einen radikalen Auffassungswandel, wie Menendez Pidal annahm (vgl. 1984, 221), sondern um einen langwierigen Erkenntnisprozeß. Dieser deutet sich im immer stärkeren sprachhistorischen Interesse entlang der Auflagen der „Apuntaciones" an (vgl. 5.1.2.2.3.). Er wird belegt durch die Absicht, die Cuervo mit dem unvollendeten Werk „Castellano popular y castellano literario" verband. Darin wollte er die Entwicklung des Spanischen in ihren physiologischen, psychologischen und historischen Ursachen darstellen (vgl. GUITARTE 1981, 437).
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nahm er nunmehr unter Anerkennung der von August Schleicher (1821 —1886) postulierten Gesetze der Sprachentwicklung die Prognose von Pott (vgl. CUERVO 1950, 312; vgl. GARRIDO 1987, 142ff.). Einen weiteren Anstoß lieferte Rudolf Lenz (1863 - 1 9 3 8 ) , der 1893 in seinem Artikel „Beiträge zur Kenntnis des Amerikanospanischen" die Ausbreitung der spanischen Sprache mit der des Lateins verglichen und die Entwicklung eines eigenständigen spanischen Volksdialekts für Chile behauptet hatte. Mit Hilfe von Untersuchungen des phonetischen Systems des Araukanischen und des chilenischen Spanisch kam zu er dem Schluß, daß letzteres „wesentlich Spanisch mit araukanischen Lauten" sei (LENZ 1893, 207), also seine Eigenheiten aus der Substrateinwirkung beziehe. Da z.B. das Araukanische kein [s] besitze, seien im Chilenospanischen alle möglichen Grade der Abschwächung bis zum vollständigen Ausfall zu finden (ebd., 209), worauf CUERVO zurückgreift, um den Zerfall des Spanischen anhand der Ausspracheunterschiede zwischen den einzelnen Ländern nachzuweisen (vgl. 1950, 299). Die Idee hatte in Lateinamerika um diese Zeit durchaus schon Fuß gefaßt, so bei Juan Ignacio de Armas (1842—1889) in den „Origenes del lenguaje criollo" (1882), und wurde um 1900 verstärkt zur Postulierung nationaler Sprachen (z.B. Chile, Mexiko) herangezogen. In Argentinien war der Widerhall besonders groß. 1900 erschien „El idioma nacional de los argentinos" von Lucien Abeille (1860— 1949) 3 1 , worin die Existenz eines vom Spanischen verschiedenen Idioms behauptet und anhand vor allem lexikalischer Eigenheiten das Entstehen einer neuen Sprache, des Argentinischen, vorausgesagt wird 32 . Es folgten Studien von Paul Groussac (1848 — 1929) und Carlos Pellegrini (1845 —1906), denen zufolge Argentinien in drei Jahrhunderten eine eigene Sprache sprechen würde (vgl. CHAVES 1964, 509). Darüber hinaus waren gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und
31
32
Abeille war französischer Herkunft und erst 1886 nach Argentinien gekommen. Von 1892 bis zu seiner Pensionierung 1922 war er Lehrer für Französisch und Latein am Colegio Nacional von Buenos Aires. „La fusion, en la Republica Argentina, de las lenguas indigenas, del frances, del italiano, — estas en fuertes dosis; — del ingles, del aleman, etc. — estas en dosis menores; — con el espanol trasplantado en el Rio de la Plata, fusion que ha empezado, dando por primer resultado el actual ,Idioma Nacional de los Argentinos', prepara, para un porvenir cercano, una nueva lengua neo-latina, ,E1 Idioma Argentino'..." (ABEILLE 1900, 422f.). Seine auf der Entwicklung des Wortschatzes beruhende Voraussage basiert auf einer analogen Sprachdefinition, wie aus einem Vortrag vom 26. 11. 1900 hervorgeht: „la lengua de un pueblo es la suma de los elementos lexicologicos..." (zit. nach CAMBOURS OCAMPO 1983, 22).
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vermehrt seit den neunziger Jahren in fast allen Ländern Lateinamerikas Vokabularien u. ä. der für jedes Land typischen Wörter und Wendungen angelegt worden, wodurch die sprachliche Diversifizierung offensichtlich wurde 33 . Auf den Brief von Cuervo bzw. das Vorwort zu Nastasio reagierte Valera mit zwei Artikeln „Sobre la duracion del habla castellana" in „El Imparcial" (24. 9. 1900, Madrid) und „Carta a ,La Nacion' de Buenos Aires" (La Nacion 9713, 2. 12. 1900, Buenos Aires), in denen er die Prognose vom Untergang des Spanischen als grundlos zurückwies. Bevor er die Gegenargumente entwickelt, verleiht er seiner Trauer über den Verlust der Kolonien Ausdruck. Nur der Gedanke an das einigende Band der Sprache (CUERVO 1947, 44) vermag Trost zu spenden und das Selbstbewußtsein zu heben: „Para animarme solia yo discurrir alia en mis adentros: ...hemos perdido al fin nuestras ricas colonias, pero... de esta nacion han brotado... diecisiete republicas de gran porvenir, donde circula nuestra sangre, donde queda indeleble el sello de nuestro propio ser y caracter y donde sigue y seguira hablandose nuestro idioma" (ebd., 39). Für Valera bleibt Lateinamerika u. a. durch die Sprache spanisch 34 : „Por el habla, por las creencias y por las costumbres, la gente de alli seguira siendo espanola antes de ser americana" (Cuervo 1947, 40). Das Spanische sei nicht gefährdet, denn das Selbstwertgefühl der Bürger der neuen Republiken lasse es nicht zu, daß Indios oder Einwanderer ihnen andere Sprachen aufzwingen könnten (ebd.). Cuervo antwortet mit einer Studie „El castellano en America", die im „Bulletin Hispanique" (Bordeaux 3/1901) veröffentlicht wurde. Er hält Valera entgegen, daß sich jede Sprache — auch ohne äußere Einflüsse — mit der Zeit so verändere, daß sie als eine andere erscheine (CUERVO 1950, 275). Außerdem sei durch die alleinige Betrachtung der Literatursprache das Fehlurteil verbreitet, daß die Sprache auf einem bestimmten Niveau eingefroren werden könne und daß die Uniformität in der Literatursprache auch in der Umgangssprache existiere (ebd., 276 ff.). Die Literatursprache sei eine künstliche Schöpfung; und neben lexikalischen gebe es auch phonetische, morphologische und syntaktische Unterschiede. Allerdings würde die Variation („hablas especiales") durch den unifizierenden Einfluß der National-
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Vgl. u. a . CEJADOR 1 9 0 7 ; RUBIO 1 9 2 5 , X X I f f . ; VINAZA 1 8 9 3 , B d . 3 , 9 1 9 ff.
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In gewisser Weise ähnelt dieser Topos dem in der Literatur des Siglo de oro verbreiteten, mit dem der siegreiche Einzug der Fahnen und der Sprache gefeiert wurde (vgl. GUITARTE 1986, 131 ff.). Die Hispanisierung war seitdem eine „Errungenschaft", an der sich die erfolgreiche Vereinnahmung messen zu lassen schien.
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spräche eingedämmt. Sonderentwicklungen in Lateinamerika seien jedoch durch die Schwächung des Einflusses der ehemaligen Metropole und durch das Fehlen einer regulierenden Norm begünstigt (ebd., 303ff.). Seit seiner Einführung in Amerika habe das Spanische dort bestimmte Charakteristika wie den SESEO (ebd., 2 8 4 ) und den VOSEO (ebd., 294) ausgebildet oder bewahrt (z.B. Archaismen). Daraufhin sandte Valera einen offenen Brief an „La Tribuna" (Mexiko 276, 31. 8. 1902; 277, 2. 9. 1902), worin er zunächst den Topos des einigenden Bandes der Sprache expliziert 35 . Wenngleich er vorgibt, sich als Spanier nicht einmischen zu wollen, läßt er keinen Zweifel daran, daß er Spaniens Sprache 3 6 in Lateinamerika bewahrt wissen will: „...pero esto no quita que aspiremos aun a que no se desate el lazo que nos une, si no a que persista dando prueba de vitalidad de nuestra raza" (CUERVO 1947, 95). Valera weist darauf hin, daß das Französische und das Englische, ginge man von den Prämissen Cuervos aus, ebenfalls vor dem Untergang stünden (ebd., 100). Variation sei nicht nur unter den verschiedenen Ländern zu konstatieren, sondern auch für die „Metropole" selbst. Dabei sieht Valera über die dialektale und Sprachenvielfalt hinweg (vgl. H I N A 1 9 7 8 , 1 9 1 ff.) und räumt nur der Nationalsprache die Funktion des übergreifenden und vollwertigen Kommunikationsmittels ein 3 7 . Seiner Meinung nach gereiche es den Lateinamerikanern nicht zum Vorteil, wenn sie sich untereinander nicht mehr verstünden (CUERVO 1 9 4 7 , 9 8 ) . Nicht zuletzt dokumentiert die nun nicht mehr nur von sachlichen Argumenten getragene Begründung den verletzten Stolz des Spaniers (vgl. ebd., 95 f.), der sowohl den Regionalismus auf der Iberischen Halbinsel als auch die Bestrebungen zur sprachli-
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„...America que sigue hablando nuestro idioma y que en cierto modo procede de Espana, constituyendo esta procedencia y el habla ... un lazo precioso de fraternidad y hasta de union entre todas las naciones independientes y civilizadas que hay en el Nuevo Mundo" (CUERVO 1947, 95). Ein Blick auf die „sprachliche Inszenierung" der Argumentation zeigt, daß Valera die 1. P. PL stets im Sinne von „wir Spanier" (und nicht „wir Spanier und Lateinamerikaner" wie bei Cuervo) gebraucht. Sie schließt somit die andere Seite aus und bekräftigt sprachlich den formulierten Hegemonieanspruch. Die mitunter benutzte 1. P. Sg. scheint zwar eine persönliche Meinung auszudrücken, wird aber immer wieder zugunsten der 1. P. PI. aufgegeben und steht ebenso für die kollektive Mißbilligung der spanischen Elite gegenüber den „espiritus extraviados" (Cuervo 1947, 97) — abgesehen davon, daß Valera als Mitglied der RAE ohnehin nicht nur für sich selbst sprechen kann. Valera fügt als „Beweis" an: „Tan distinto es de lo que habla y pronuncia el gascon ο el breton que lo que habla y pronuncia el andaluz ο el gallego de lo que habla y pronuncia el madrileno Ο el salamanqueno" (CUERVO 1947, 100).
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chen Emanzipation in Lateinamerika als Angriff auf die unidad de la lengua wertet („se propende a desbaratar la unidad de la raza, de cultura y de lenguaje"; CUERVO 1947, 96). Cuervo antwortete noch einmal im „Bulletin Hispanique" (Bordeaux 5/1903, 58 — 77), wobei er herablassend und schroff auf die recht emotional gehaltene Argumentation reagierte. Wieder hob er die fehlenden Voraussetzungen für die Wahrung der sprachlichen Einheit hervor: „...faltan una administracion publica comun, una norma de todos aceptada que de el tono para el bien hablar en sociedad, y en fin una vida intelectual comun, que mediante el trato constante, informe todas las manifestaciones del pensamiento" (CUERVO 1950, 315). Der von Valera betonten konservierenden und regenerierenden Kraft der Sprache stellt er die Unvermeidlichkeit des Sprachwandels entgegen: „Si la lengua ... se altera siempre, y de ordinario sin que intervenga la voluntad humana, son ilusorios todos los consejos que se den a espanoles ο americanos para que la conserven intacta Ο para que las alteraciones sean uniformes" (CUERVO 1950, 320). Im Unterschied zum vorherigen Teil der Polemik ist die Argumentation Cuervos nun in dem Maße politisch motiviert, wie Valera seine Argumente auf kastilozentrische und kolonialistische Positionen stützt. Cuervo sah sich gezwungen, seine wissenschaftliche Neutralität aufzugeben (ebd., 332) und für die politische Unabhängigkeit und sprachliche Autonomie Spanisch-Amerikas Partei zu ergreifen 38 . So kommt Cuervo nicht umhin, den unterschwelligen Kolonialismus Valeras zu entlarven (CUERVO 1950, 324). Die Spanier versuchten mit Hilfe der Sprache, die Bindungen zu straffen (ebd., 330). Ihr Mißtrauen, ihre Geringschätzung und Arroganz gegenüber der politischen Entwicklung 39 übertrügen sie auch auf die Sprache: „el habla americana no les parece muy catolica" (ebd., 317). Diese Geisteshaltung zeige sich bei Valera, der Amerika als literarische Kolonien Spaniens begreife und es angesichts der Unhaltbarkeit seiner Position nicht ertragen könne, die daraus erwachsenden Konsequenzen anzuerkennen (ebd., 332). Obwohl Cuervo die Eigenständigkeit Lateinamerikas und seines Sprachgebrauchs verteidigte und den Zerfall der Einheit als unab38
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Menendez Pidal hat diese Tatsache bei der Beurteilung der Diskussion (1984, 223 ff.) völlig verkannt. „Los espanoles miraron siempre con suspicacia y desden a los americanos, y la arrogancia con que los trataban no fue, en concepto de todos, la menor entre las causas de las guerras de independencia . . . " (CUERVO 1950, 329).
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wendbar ansah, hielt er an der in den „Apuntaciones" dargelegten einheitlichen hochsprachlichen Normauffassung fest. Auch dem letzten von ihm verfaßten Vorwort (erschienen 1914) stellte er als Motto den Ausspruch von Puigblanch voran. In einem Brief (10.2.1903) an Ernesto Quesada (1858 — 1934), der sich mit „El problema del idioma nacional" (1900) und „El ^riollismo' en la literatura argentina" (1902) den Bestrebungen zur Schaffung einer argentinischen Nationalsprache entgegenstemmte, bekannte Cuervo sein Festhalten an der konservativen Norm: „declaro que aunque juzgo inevitable la disgregacion del castellano en epoca todavia distante, procurare siempre escribir conforme al tipo existente aün de la lengua literaria" (1950, 311). Gemäß seiner philologischen Erkenntnisse (vgl. 5.1.2.2.3.) wollte er den Sprachgebrauch Amerikas in gleichberechtigter Weise in der einheitlichen Norm aufgehoben wissen — wie den Spaniens 40 .
5.1.2.4. Die Fronten überlappen sich: „La Espana Moderna" Ebenso wie in der Polemik Valera — Cuervo ist das Problem der unidad de la lengua vor und nach der Jahrhundertwende immer wieder diskutiert worden. Insofern ist der Streit symptomatisch. Die Topoi und stereotypen Argumentationsstränge zur spanischen Spracheinheit sind auch in anderen Organen bzw. anderen Autoren zu finden. So erschienen in der zwischen 1889 und 1914 in Madrid herausgegebenen Zeitschrift „La Espana Moderna", die stets eine Rubrik „Revista Hispanoamericana" enthielt und in der lateinamerikanische Journalisten und Literaten zu Wort kamen, eine Reihe von Artikeln, die unter verschiedenen Aspekten das Problem aufgreifen. Bestimmte Argumente werden nicht nur auf der einen oder auf der anderen Seite des Ozeans verwendet; die Fronten überlappen sich. Zwar weist ζ. B. der kubanische Schriftsteller und Journalist Rafael Maria Merchän ( 1 8 4 4 - 1 9 0 5 ) die von Valera in den „Cartas americanas" (1889; vgl. auch Valera 1890) gepriesene „confraternidad" und die politischen Maßnahmen der Union Ibero-Americana zurück und verlangt die Unabhängigkeit Kubas, bevor überhaupt von „confraternidad" gesprochen werden könne (MERCHÄN 1890, 162). Der ekuadorianische Schriftsteller Juan Leon Mera (1832 — 1894) belegt dage„,...cuando los esparioles conservan fielmente el tipo txadicional, su autoridad es la razon misma; cuando los americanos lo conservamos y los espafioles se apartan de el, bien podemos llamarlos al orden y no mudar nuestros usos. Si el beneficio es comun, comiin ha de ser el esfuerzo" (CUERVO 1935, 85).
360
Repressive Sprachpolitik
gen stolz den „triunfo absoluto de nuestra lengua" und die Ausrottung des Quechua (MERA 1890, 209).
Um die Jahrhundertwende rückte die Postulierung einer argentinischen Nationalsprache in das Blickfeld von „La Espana Moderna". Der spanische Journalist und Kritiker Eduardo Gomez de Baquero (1866— 1929) bezog sich in einem 1899 veröffentlichten Artikel „Sobre el ,idioma' argentino" auf Lucien Abeille und wies die Entstehung einer neuen Sprache als Zukunftsmusik zurück (GOMEZ 1899, 195). Seiner Meinung nach beweise der vielstrapazierte Verweis auf den „Zerfall" des Lateins, daß Sprachen weder von Akademien noch im Studierstübchen von Linguisten entstehen und daß dieser Prozeß Jahrhundert dauert (ebd., 196f.; vgl. auch FOGELQUIST 1968, 61 ff.). Der unter dem Pseudonym lob schreibende Historiker Juan Perez de Guzman (1841 — 1928) fügt den Stereotypen („la lengua es la nacion", „simbolo de unidad y de union"; IOB 1900, 155) das Argument hinzu, daß aus dem Zerfall der Spracheinheit des Spanischen nur die USA Nutzen ziehen würden und man somit das Feld dem Englischen überlasse (ebd., 156). Um die Korrumpierung des lateinamerikanischen Spanisch durch Barbarismen, Gallizismen usw. besorgt zeigte sich der Madrider Französischprofessor Fernando Araujo (1857 — 1917), der zunehmend in „La Espana Moderna" mit Artikeln zu Neologismen in Erscheinung trat 4 1 . In einem Artikel hatte sich der mexikanische Dichter Amado Nervo (1870—1919) darüber beklagt, daß die Spanier die Lateinamerikaner wegen ihrer Aussprache verspotteten. Araujo unterstreicht in der Antwort, daß nicht diese schockiere, sondern die Übergriffe auf die Sprache („los atentados a la lengua madre"; A R A U J O 1907, 175) und die Korrumpierung des Spanischen („corruption", „destrozo"; ebd., 178): „los barbarismos y los solecismos, los extranjerismos de toda clase, de palabra y de sintaxis, y los descuidos e incorrecciones con que suele emplearse nuestra lengua, esta herencia comun de todos nosotros" (ebd., 175). Auch hier zeigt sich wieder, daß der Purismus von der Angst vor dem Zerfall des Spanischen getragen wird. Die „Deformierung" der Sprache geißelt Araujo 1908 als „crecimiento anormal, enfermizo y deformador por medio de diviesos y de jorobas, de excrescencias y de abotagamientos" (1908 b, 193). Einen teilweise ebenso heftigen Tenor weist die Artikelserie „El castellano en America" (1906 a und b; 1907) des Jesuiten Julio Cejador (1864—1927) auf, der die Verunstaltung des Spanischen in Latein-
41
Zu Amerikanismen vgl.
ARAUJO
1900 sowie 1909.
Sprachlicher Kolonialismus
361
amerika anprangert (vgl. F O G E L Q U I S T 1968, 60 f.) Trotzdem hebt sich seine Argumentation dadurch von derjenigen seiner meisten Zeitgenossen ab, daß er Nebrijas Zyklustheorie schlichtweg ablehnt und damit eigentlich kein Raum mehr bleibt für den „Sprachverfall": „No nace hoy una lengua, manana florece y al dia siguiente se deshoja y marchita. El habla es una misma en todo el curso de la historia, pero que siempre evoluciona y por lo mismo es siempre distinta" ( C E J A D O R 1906 a, 104). Der Auffassung, daß die Korrumpierung des Spanischen in Lateinamerika schon nicht mehr aufzuhalten sei, setzt er seine Unterscheidung zwischen der Volkssprache und der Sprache der Gebildeten entgegen (ebd.). Nur letztere sei überfremdet und manieriert (ebd., 110), nicht aber die „habla genuina del pueblo americano". Ebenso wie Cuervo verweist C E J A D O R mit dem etymologischen Kriterium darauf, daß in der Volkssprache Archaismen wie „truje", „raesrao" und „agora" erhalten geblieben sind (1906 b, 47). Die Gebildeten könnten nicht über solche Formen befinden, denn sie gingen lediglich vom Latein aus, nicht aber vom Spanischen; hier sei das Volk der einzig befugte Richter (ebd.). So offenbart Cejador letztendlich doch wieder einen ausgeprägten „casticismo" und eine (gut kaschierte) Geringschätzung der amerikanischen Literatursprache. Eine empörte Zurückweisung — durch den bolivianischen Dichter Ricardo Jaimes Freyre (1868 —1933) - ließ nicht auf sich warten (vgl. F O G E L QUIST 1 9 6 8 , 8 3 f . ) .
In der kommentierten Bibliographie, die sich besonders mit Arbeiten zum lateinamerikanischen Wortschatz befaßt, zeigt C E J A D O R zumindest gewisse Toleranz. Autoren, die sich streng an der im Wörterbuch der RAE verzeichneten Lexik orientieren und andere als Barbarismen verdammen, tadelt er als „ultra-academicos" oder „demasiado academicos" (1907, 3ff., 18) 42 . Den Studien von Bello, Cuervo, des Kubaners Esteban Pichardo (1788 — 1879) oder des spanischen Literaten, Historikers und Juristen Daniel Granada (1847 — 1929), der bis 1904 in Uruguay gelebt hatte, zollte er hohe Wertschätzung ( C E J A D O R 1907, 6, 9, 14, 25). Vom „Congreso Cientifico Internacional Americano" (Buenos Aires, 1 0 . - 2 5 . 7 . 1910) berichtet „La Espana Moderna" ebenfalls: In der Linguistiksektion, die sich mit den Indianersprachen und der
42
Versuche der Postulierung neuer Sprachen weist CEJADOR scharf zurück (1907, 16). Nicht nur in Argentinien wirkte die Arbeit Abeilles fort, sondern auch in anderen Ländern. 1907 verglich ζ. B. Julio Saavedra den Zerfallsprozeß des Latein mit dem des Spanischen und erläuterte die Notwendigkeit einer chilenischen Nationalsprache für sein Land (1907, 14ff.).
362
Repressive Sprachpolitik
sprachlichen Gliederung Lateinamerikas beschäftigte (vgl. „Congreso Cientifico Internacional Americano" 1910, Bd. 1, 75 f.), wurden am 22. 7. 1910 u. a. drei Vorträge zur Zukunft des Spanischen in Amerika gehalten. Der argentinische Philologe Juan Bautista Selva (1874 — 1962) appellierte an Spanier wie Amerikaner, das Spanische — „nuestra lengua nacional, nuestro idioma patrio" (SELVA 1 9 1 0 , 1 6 6 ) — nicht dem Zerfall preiszugeben und es stattdessen zur Universalsprache zu erheben (ebd., 169). Dem schloß sich die Mehrzahl der Diskussionsredner an (vgl. „Congreso Cientifico Internacional Americano" 1910, Bd. 1, 332).
5.1.2.5.
Polemik ohne Ende?
Wenngleich die heftigsten Debatten beigelegt wurden, war die Diskussion um das Für und Wider von Cuervos Prognose und der entsprechenden Sprachpolitik nicht beendet. Nach 1910, als die akademische Bewegung in Lateinamerika zusammen mit der Stärkung des Panhispanismus erneut Auftrieb erhielt (vgl. M I L A N 1 9 8 3 , 1 3 1 ) , mehrten sich die Versuche, Cuervos These zu widerlegen. Imperiales Denken wurde vor allem in der Spanischen Falange wiederbelebt und beeinflußte sicherlich die philologische Sicht auf die unidad de la lengua41. Wenngleich sich die Kriterien der RAE und die Beziehungen zwischen den Akademien gewandelt haben, sollten die Dokumente ihrer Tagungen auch einmal aus diesem Blickwinkel gelesen werden. Noch auf dem Akademiekongreß von 1956 beschwor Damaso Alonso (1898 — 1990) in Anlehnung an Cuervo die Gefahr der Zersplitterung herauf und wies den Akademien die Aufgabe zu, die Einheit der Sprache zu erhalten ( 1 9 5 6 , 3 6 ) . Die offiziell gezogene Bilanz spanischer Sprachpolitik im Umfeld des V Centenario läßt wenig Platz für selbstkritisches Hinterfragen der eigenen Position. So bleibt diese dringend zu bewältigende Aufgabe weiterhin halbgelöst.
43
Die unterschiedlichen Positionen drücken sich auch in der Bezeichnung der Sprache als castellano oder espanol aus (vgl. A L O N S O 1943, B E R S C H I N 1982, A L V A R 1982, 372 ff.).
Sprachpolitik des Faschismus
5.2.
363
Sprachpolitik des Faschismus
5.2.1. Sprachpolitische Leitlinien des italienischen Faschismus Ein Staat, der wie keiner zuvor die Gleichschaltung des Bewußtseins aller seiner Bewohner auf seine Fahnen geschrieben hatte, bedurfte zwangsläufig einer völlig neuen Art von Propaganda. Wenn deren Inhalte, die faschistische Ideologie, bei näherem Hinsehen auch kaum Originelles erkennen ließ und vielmehr eklektisch bereits Existierendes zu pragmatischen Zwecken miteinander vermischte, so galt dies nicht für die Organisation, Planung und Realisierung der politischen Propaganda. Hier erreichte das faschistische Regime in Italien eine Effizienz, die Grundlage für die Etablierung einer Massenbasis und die innere Stabilität des Landes war. Der politische Werbefeldzug um die Bürger war stabsmäßig organisiert und umfaßte nicht nur die vordergründig ideologischen Bereiche wie politische und gesellschaftliche Organisationen, Medien, Schule, Kultur und Kunst, sondern erschloß sich über ein breites System von Jugend- und Freizeitorganisationen (.Baliila, pre-militari, Dopolavoro) und populären Kulturformen weitgehend die gesamten Lebens- und Bewußtseinsbereiche, also das Alltagsbewußtsein, seiner Adressaten. In dem Bestreben, mittels politischer Propaganda einen möglichst umfassenden Konsens zu erreichen, kam dem Umgang mit Sprache eine zentrale Bedeutung zu. Auf Massenkundgebungen und über den Medienapparat wurde der Redestil Mussolinis nicht nur den Mitgliedern der faschistischen Partei, sondern auch breiten Kreisen der italienischen Bevölkerung bekannt und geläufig. Durch die starke Zentralisierung und Gleichschaltung der Medien in wenigen Händen, ζ. T. sogar nur in denen von Mussolini selbst, wurde der individuelle Stil des Duce zum Modell für faschistische Sprache und massenhaft reproduziert. Die Verwendung dieses Stils erlangte eine Identifikationsfunktion, sein Verwender bekannte sich damit zum politischen Regime. Damit soll nicht gesagt sein, daß die „Vorbildwirkung" dieses Sprachgebrauchs umfassend war und alle erreichte, um so mehr, als die große Mehrheit der italienischen Bevölkerung vorwiegend von Dialektsprechern gebildet wurde. Im Bunde mit der Propaganda aber, deren Wirksamkeit natürlich durch die immer präsente Staatsgewalt gefördert wurde, gelang es dem Regime dennoch, nachhaltigen Einfluß auf die italienische Sprache auszuüben. So ist F . F O R E S T I (1977) zu-
364
Repressive Sprachpolitik
zustimmen, nach dem das politische Leben im faschistischen Italien einen stärkeren Einfluß auf die Sprachpraxis im Lande hatte als im bürgerlich-parlamentarischen Staat. Was den Umgang mit Sprache betrifft, ging es aber nicht nur um die Verbreitung eines dem Faschismus eigenen Redestils zur Stützung einer Ideologie. Auch andere sprachpolitische Aspekte sollten die ideologischen Leitgedanken starken und den Effekt der Propaganda erhöhen. Die wichtigsten dieser sprachpolitischen Orientierungen sollen im folgenden näher betrachtet werden.
5.2.1.1. Das Bildungswesen Wie sah das Schulwesen, die wichtigste sprachpolitische Instanz, in Italien im Untersuchungszeitraum aus? Verbunden mit der Industrialisierung des Landes kam es am Anfang unseres Jahrhunderts zu starken inneren Migrationsbewegungen. Gab es 1861 nur 20 große Städte (mit mehr als 5 0 0 0 0 Einwohnern), in denen 17,2% der Bevölkerung lebten, waren es 1911 schon 42 (22%) und 1961 schließlich 96 (43%; vgl. D E M A U R O 1979,1/71). Diese schnellen Urbanisierungsprozesse brachten zahlreiche Probleme mit sich, so daß das faschistische Regime sie durch Gesetze (1931) zu bremsen versuchte (die im übrigen noch bis 1961 in Kraft waren). Trotzdem und trotz einer starken ländlichen Komponente in der Ideologie und Propaganda des Faschismus blieben sie ohne spürbaren Erfolg. Das hatte zur Folge, daß sich die ohnehin schon starken Unterschiede zwischen den Regionen noch mehr verstärkten, was sich zwangsläufig auch im Bildungswesen widerspiegeln mußte. 1906 entzogen sich 47% aller Kinder zwischen 6 und 11 Jahren — also der Dauer der Schulpflicht — dem gesetzlich vorgeschriebenen Schulbesuch. Diese Zahl sank bis nach dem 1. Weltkrieg auf 25% und blieb während des Faschismus im wesentlichen unverändert, stieg aber im 2. Weltkrieg sogar wieder etwas an. Nachdem 1948 in der Verfassung die Schulpflicht auf 8 Jahre verlängert worden war, sank die Zahl der Kinder ohne jeden Schulbesuch 1950 auf 15,4%. Die Analphabetenrate entwickelte sich im Untersuchungszeitraum wie folgt:
365
Sprachpolitik des Faschismus
Italien insgesamt Piemont Latium Lombardei Sizilien Sardinien Kalabrien Basilicata
1911
1951
40% 11% 33% 13% 58% 58% 70% 65%
14% 3%
10%
3% 25% 23% 32% 29%
Hier werden die ζ. T. beträchtlichen Unterschiede zwischen ausgewählten Regionen deutlich. T. de M a u r o zieht mit Recht aus diesen Angaben den Schluß, daß die Grundschulen in Italien weit davon entfernt waren, erste notwendige Bedingungen für die Durchsetzung einer wie auch immer gearteten organischen Sprachpolitik zu schaffen. Bei der Vermittlung der italienischen Literatursprache, die meist auch die Grundschullehrer selbst nicht genügend beherrschten, kam es trotz der geringen Wirksamkeit zu einer Schwächung der Dialekte und zur Verbreitung von regionalen Varianten des Italienischen. Bereits 1917 erkannte der junge Antonio Gramsci den engen Zusammenhang zwischen Analphabetismus und sozialem Entwicklungsstand eines Landes: „Warum gibt es in Italien noch so viele Analphabeten? Weil es in Italien noch zu viele Leute gibt, die das Leben auf den Kirchturm, auf die Familie festlegt. Es ist nicht das Bedürfnis vorhanden, sich die italienische Sprache anzueignen, weil für das Leben im Dorf und in der Familie der Dialekt ausreicht; weil sich die gesellschaftlichen Verbindungen ganz und gar in der Unterhaltung im Dialekt erschöpfen. Lesen und Schreiben zu lernen ist kein Bedürfnis, deshalb ist es eine Tortur, etwas gewaltsam Aufgezwungenes." (GRAMSCI 1 9 8 4 ,
43).
Was die weiterführenden Schulen betraf, so wendeten sie sich nur an eine Minderheit, woran auch der Faschismus nichts wesentliches änderte. 1911/12 besuchten sie nur 4 % aller Schüler, und 1931 blieb dieser Anteil noch unter 1 5 % . Im Unterschied zu den Grundschulen gab es in den Mittelschulen nicht den üblichen Gebrauch des Dialekts, sprachliches Ideal war hier ein bürokratischer Stil, das Sprechen „come un libro stampato" ( D E M A U R O 1979, 1/104). Der muttersprachliche Unterricht in den Grundschulen wurde 1923 durch die Schulreform G. Gentiles entscheidend verändert. Die normativen Disziplinen wie Grammatik und Rhetorik wurden mit dem
366
Repressive Sprachpolitik
Ziel abgeschafft, dem persönlichen Ausdruck der Schüler mehr Raum zu lassen, ihn zu fördern und zu verbessern. Auch aus linken Kreisen kam Kritik an diesem Konzept. Gramsci hob den undemokratischen Gehalt dieser Neuerung hervor: „Wenn die Grammatik aus der Schule ausgeschlossen ist und nicht beschrieben wird [...] schließt (man) damit nur das einheitlich organisierte Eingreifen in das Erlernen der Sprache aus und hält in Wahrheit damit die volkstümlich-nationale Masse von der Aneignung der Hochsprache fern, denn die höchste, führende Schicht, die herkömmlicherweise in der ,Sprache' spricht, übermittelt diese von Generation zu Generation ... In der Haltung Gentiles ist mehr Politik, als man glaubt und viel unbewußtes reaktionäres Denken ... da ist das ganze reaktionäre Wesen der alten, liberalen Auffassung enthalten, ein ,Laissez faire, laissez passer!'..." (GRAMSCI 1984, 136). Durch die Gentile-Reform fand allerdings erstmals der Dialekt in der Schule seinen Platz. In den Programmen für die 3. Grundschulklasse, die vom Direktor für Grundschulen im Bildungsministerium G. Lombardo Radice verfaßt wurden, wurde gefordert: „nozioni pratiche di grammatica ed esercizi grammaticali con riferimento al dialetto. Esercizi di traduzione dal dialetto (proverbi, indovinelli, novelline)". Für die 4. Klasse sah das Programm vor: „piccoli studi lessicali: a) famiglie di parole nella lingua italiana; b) annotazioni di frasi e parole dialettali di piu difficile traduzione," und für die 5. Klasse „nozioni organiche di grammatica italiana, con particolare riguardo alia sintassi, e sistematico riferimento al dialetto. Esercizi di traduzione dal dialetto (novelline, canti popolari)" (nach D E M A U R O 1 9 7 9 , 11/341).
Zum ersten Mal waren die Dialekte nicht Gegenstand einfacher Verurteilung, sondern „di studio e riferimento sistematico" (ebd.). Lektürestoffe, Geschichte und Geographie in den Grundschulen sollten unter Bezug auf die jeweilige Region vermittelt werden und Tradition und Folklore bewahren helfen. Es erscheint verwunderlich, daß eine derartige Reform gerade zu Beginn der faschistischen Herrschaft durchgeführt wurde, die vom liberalen Denken der Jahre zuvor geprägt war. Der Faschismus hatte zu dieser Zeit noch keine eigenen Vorstellungen dazu, und wenn er sie hatte, gingen sie in eine ganz andere Richtung, wie DE F E L I C E (1978, VIII) bemerkt. Seiner Meinung nach war die Entscheidung für Gentile und seine Reform eine politische Entscheidung Mussolinis, die nichts oder nur wenig mit dem politisch-pädagogischen Inhalt der Reform zu tun hatte. Vielmehr bezweckte er damit, mit Gentile auch
Sprachpolitik des Faschismus
367
eine ganze Reihe führender Intellektueller für sich zu gewinnen oder zumindest zu zeigen, daß der Faschismus auch ihnen einen Platz bot. Nur so ist auch die radikale Umkehrung der Haltung zum Dialekt in der Schule verständlich. Nach der anfänglichen Verteidigung der Reform gegen die sofort einsetzenden Kritiken aus allen Lagern ließ nach kurzer Zeit auch Mussolini zahlreiche „Änderungen" zu und sprach sich 1931 selbst dafür aus, eine neue Schulreform vorzubereiten, da die alte ein „errore dovuto ai tempi e alia forma mentis dell'allora ministro" gewesen sei (DE F E L I C E 1978, X). Τ. Μ . M A Z Z A T O S T A (1978, 20) faßt die Hauptkritikpunkte an der Reform in neun Aspekten zusammen, unter denen u. a. der Vorwurf akademischer Abstraktheit, des Regionalismus, des humanistischen Charakters, der noch ausgeweitet wurde, der Überbetonung künstlerischer Fächer und der Dialekte enthalten sind. Wie diffizil und sensibel der Bereich der Bildung war, zeigen auch die schnellen Wechsel an der Spitze des Ministeriums (vgl. ebd., 19): Ministero di pubblica istruzione: G. Gentile (bis 1924) A. Casati ( 1 9 2 4 - 1 9 2 5 ) P. Fedele (1925 - 1928) G. Belluzzo (1928 - 1929) Ministero di Educazione nazionale: B. Giuliano ( 1 9 2 9 - 1 9 3 2 ) F. Ercole ( 1 9 3 2 - 1 9 3 5 ) De Vecchi Di Val Cismon ( 1 9 3 5 - 1 9 3 6 ) G. Bottai ( 1 9 3 6 - 1 9 4 3 ) Je mehr sich der Faschismus „als Bewegung" in einen Faschismus an der Macht wandelte, desto mehr wurden andere Forderungen an die Schule laut, die die engere Verbindung der gesamten Erziehung mit dem faschistischen Staat zum Ziel hatten. Im Herbst 1935 erließ Minister De Vecchi eine grundlegende Reform der Grundschulen, die die „Experimente" mit den Dialekten wieder ad acta legte. Die Programme der weiterführenden Schulen erlebten gar vier Neufassungen in den Jahren 1925, 1933 und 1936. Auch die Universitäten blieben von den zahlreichen Änderungen nicht verschont. So bat Prof. P. Rondini in einem Brief vom 13. 10. 1928 G. Gentile um mehr „Stabilität": „Noi sentiamo un gran bisogno di stabilita [...] che non deve essere solo una espressione amministrativa con conseguenze finanziarie per i professori universitari, ma veramente significare l'assicurazione di una tranquilla e decorosa posizione di studiosi e soprattutto una impostazione precisa
368
Repressive Sprachpolitik
della nostra attivitä scientifica e didattica sopra una norma ormai fissa, non mutevole con ogni cambiare di persone nei posti di com a n d o . . . " (Nach: M A Z Z A T O S T A 1978, 24). Giovanni Bottai legte seine Schulreform, die „Carta della scuola", im Februar 1939 dem Duce vor. In den ersten sieben Erklärungen, die die allgemeinen politischen Direktiven enthielten, stellte sie sich das Ziel, das liberale und bürgerliche Kulturkonzept zu überwinden und die „integrale" Erziehung des Menschen im Sinne des faschistischen Staates zu realisieren. Zum Verhältnis Schule-Partei schrieb Bottai selbst: „La scuola, preso contatto attraverso il partito con la vita politica del paese, ha sentito la necessita di riessere quello che tutte le scuole del mondo vogliono essere, una scuola politica, ha sentito la necessita di essere una scuola al servizio della grande politica del nostro Paese." (ebd., 93). Die 27. Erklärung der „Carta" schrieb einheitliche staatliche Lesebücher für alle Grundschulen vor und unterstellte alle Texte der weiterführenden Schulen der Zensur. Praktische Arbeit sollte für alle Schultypen zu einem festen Bestandteil der Lehre werden. Wie so manches andere auch, wurde auch die Bottai-Reform wegen mangelnder finanzieller Mittel und anderer Prioritäten nur zu einem geringen Maße in die Praxis umgesetzt. Wie aus den eingangs angeführten Zahlen ersichtlich, verbesserte sich das allgemeine Bildungsniveau nur geringfügig. Der Dialekt war längst wieder aus den Schulen verbannt, in denen auch im Faschismus das Bildungsprivileg der politisch und kulturell Herrschenden Klasse nicht angetastet wurde.
5.2.1.2. Das Ministero di Cultura Popolare Neben der Schule waren die Medien der zweite wichtige Bereich, in dem Sprachpolitik wirkte und sich durchsetzte. Entscheidende Bedingung für die Gleichschaltung der politischen Meinungsäußerungen im faschistischen Italien war die zentrale Leitung und Überwachung der Presse. Sie lag zunächst in den Händen des Pressebüros Mussolinis, dessen 8 Mitarbeiter die Anweisungen an die Zeitungsdirektoren noch in Form von Empfehlungen über die Präfekten sandten. Später wandelte sich ihr Charakter in klare Befehle, die in immer größerer Zahl erteilt wurden. 1933 übernahm Mussolinis Schwiegersohn, Galeazzo Ciano, die Leitung des Pressebüros, der dieses nach dem Vorbild des Goebbels-Reichspropagandaministeriums zu einem Instrument umfassender Kontrolle über alle Bereiche von Information und Kultur umgestaltete. Im neuen Ministerium für Presse und Propaganda (Ge-
369
Sprachpolitik des Faschismus
setz vom 24. 6. 1935) entwickelten sich die sogenannten veline, d. h. die Anweisungen an die Zeitungen, zu einer Institution. 1937 (Gesetz
vom 27.5. 1937) umbenannt in Ministero
di Cultura
Popolare
(Min.Cul.Pop.), lösten D. Alfieri, A. Pavolini und G. Polverelli G. Ciano auf dem Ministerstuhl ab. Im Sommer 1944 wurde das
Min.Cul.Pop. aufgelöst und durch ein sottosegretariato per la stampa e le informazioni ersetzt, das im Dezember 1944 zum sottosegretariato di stato per la stampa, spettacolo e turismo modifiziert wurde (vgl. MAZZATOSTA 1 9 7 8 , 2 7 f f . ) .
Mussolini, selbst Journalist, verlor die Presse zu keiner Zeit aus den Augen. Oft soll er nach ausführlichem Zeitungsstudium seine Befehle an die Presse selbst formuliert haben. Neben diesen veline ergingen weiterhin zahlreiche Kommuniques an die Presseagentur, die veröffentlicht werden mußten. Dabei wurden nicht nur politische Texte zensiert, sondern auch Artikel zu den verschiedensten Themen, z.B.: — Kult des „Duce" (4. 7. 1938: „Notare come il Duce non fosse affatto stanco dopo 4 ore di trebbiatura.") — Kultur (13. 2. 1941: „Non occuparsi di Moravia e delle sue pubblicazioni.") — Sport ( 2 8 . 6 . 1935: „Non pubblicare fotografie di C a m e r a a terra." / P. Camera, 1. italienischer Boxweltmeister im Schwergewicht 1933, G.E.) — Mode („Evitare la riproduzione di donne serpenti che rappresentano la negazione della vera donna, la cui funzione e di procreare figli sani. Scrivere articoli contro la moda della silhouette.") — Kino (19. 10. 1938: „Occuparsi nuovamente del film ,Luciano Serra p i l o t a ' " (von Vittorio Mussolini, G.E.) — Kriminalität (1932: „Cronaca nera e quella giudiziaria riferentesi a delitti deve essere contenuta in ristretti limiti, con titolo a due colonne.") Fotos, Titel, Themen wurden verboten oder erlaubt: (13. 12. 1940: „Non toccare l'argomento delle cosiddette code davanti ai negozi.") Die Zeitungen änderten zwangsläufig ihr Gesicht: rhetorische triumphale Reden wurden zum dominierenden, ja fast zum einzigen Typ politischer Texte und verdrängten die „cronaca politica". Die „cronaca nera" verschwand völlig. Eine Gesamtausgabe dieser Presseanweisungen existiert bis heute nicht, da die Adressaten sie zu vernichten hatten. Neben der Presse überwachte das Min.Cul.Pop. das Radio, die Filmproduktion und den Büchermarkt. Gemeinsam mit dem Bildungs-
370
Repressive Sprachpolitik
ministerium war es auch für die Texte der Schulbücher mitverantwortlich. Die veline waren als Steuerungsmittel der Medien von enormer Bedeutung für die Kulturpolitik des Regimes und sind interessante Belege für die Propagandastrategie der faschistischen Diktatur. Eher als Sprachregelungen, als Verwendungsge- und -verböte bestimmter Wörter lassen sich die folgenden Anweisungen interpretieren: 24. 7. 1941: „Non usare piü I'espressione ,guerra-lampo' a proposito della guerra in Russia"; 25. 1. 1943: „A proposito dello sgombero degli Italiani dalla Tripolitania, definirlo un ,capolavoro di strategia', come ha fatto qualche giornale, appare controproducente" (nach: SIMONINI 1978, 2 1 5 f f . ; M U R I A L D I 1984, 124ff.).
5.2.1.3. Purismus Der Purismus, der keine „Erfindung" faschistischer Ideologie war, sondern bereits im 19. Jahrhundert als Reflexion des sich formierenden italienischen Nationalismus aufkam, bildete eine der Hauptsäulen faschistischer Sprachpolitik. Das Bewußtsein von der italianitä, von der Größe Italiens, das einherging mit einer Geringschätzung und Ablehnung anderer Länder und deren Kultur, sollte auch über den Bereich der Sprache gestärkt werden. Das Nationalgefühl — so wurde erkannt — konnte kollektives Selbstbewußtsein fördern und die Italiener vereint um den Duce scharen. Das politische Klima nach dem 1. Weltkrieg hatte bereits wieder die Puristen verstärkt auf den Plan gerufen, die weniger von ästhetischliterarischen Gesichtspunkten als vielmehr von ideologisch-politischen Faktoren getrieben wurden. Zum Zwecke der Reinhaltung der Sprache wandten sie sich gegen jedes Fremdwort, besonders aber wenn es sich dem italienischen Sprachsystem widersetzte. Purismus war also durchaus in Italien präsent, als 1926 Tommaso Tittoni mit seinem Artikel „La difesa della lingua" die Kampagne des faschistischen Regimes gegen die Fremdwörter (esoterismi, forestierismi) eröffnete. Tittoni erinnerte in diesem Artikel wehmütig an vergangene Zeiten, als die italienische Sprache auch jenseits der Alpen im Vormarsch war und die französischen Puristen ihrerseits um eine Italianisierung ihrer Sprache fürchteten. Für ihn war „il parlare e scrivere italianamente non ... soltanto questione letteraria, ma azione nazionale", und die Hauptverantwortlichen für die linguistische Reinheit des Italienischen sah er in den Journalisten. Darum forderte er von den Lesern, alle Zeitungen abzulehnen, die nicht auf italienische
Sprachpolitik des Faschismus
Weise geschrieben waren („non scritti italianamente") (vgl. 1978,
201).
1963,
192).
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SIMONINI
Von da an erschien in den verschiedenen Presseorganen eine Flut von Artikeln zu dieser Problematik (vgl. D E L B U O N O 1 9 7 1 ) . Für die Jagd auf die Fremdwörter wurden besondere Rubriken eingerichtet, so in der „Gazzetta del popolo", Turin, oder in der Wochenzeitschrift „Tempo", in der sie den Titel „Autarchia della lingua" trug (vgl. D E M A U R O 1 9 7 9 , 1 1 / 3 6 5 ) . Nicht nur Journalisten, sondern auch Pädagogen, Funktionäre, Linguisten und einfache Leser erhoben ihre Stimme. SIMONINI spricht von einem „kollektiven Fieber", einem „linguistischen McCarthyismus" ( 1 9 7 8 , 2 0 1 ) . Auch der Staat scheute sich nicht, in diese puristische Kampagne einzugreifen und direkt zu intervenieren. So wurde 1926 ein Gesetz verabschiedet, das Fremdwörter in öffentlichen Aufschriften und Schaufenstern verbot. Ein weiteres Gesetz untersagte 1938 ausländische Bezeichnungen von öffentlichen Lokalen. Am 23. 12. 1940 wurde das „Gesetz zum Verbot des Gebrauchs von Fremdwörtern bei den Firmennamen und den verschiedenen Formen der Werbung" erlassen, das 1 9 4 2 durch ein Dekret ergänzt wurde (vgl. K L E I N 1 9 8 2 , 5 3 ff.). Einzelne Ministerien gaben Verordnungen heraus, die bestimmte italienische Bezeichnungen anstelle der bisher üblichen vorschrieben. Das betraf vor allem das Finanzwesen, den Zoll und die Verwaltung. So griff die Transportarbeitergewerkschaft 1932 einen puristischen Vorschlag auf und empfahl anstelle des französischen chauffeur den Gebrauch von autista, das sich bis heute erhalten hat (vgl. M I G L I O R I N I In dieser sprachpolitischen Kampagne konnte es nicht ausbleiben, daß auch die eigentliche Fachwissenschaft mit einbezogen wurde. Die Puristen der Accademia della Crusca hatten bereits lange vor dem Machtantritt der Faschisten eine Kommission zur Reinhaltung der Sprache gegründet. Unter dem Einfluß des Futurismus und B. Croces war die Crusca dann ins Feuer der Kritik geraten. Bildungsminister Gentile entband 1923 die Akademie von der Weiterarbeit an ihrem traditionsreichen Wörterbuch. Gleichzeitig wurde eine Kommission zur Reformierung der „alten" Akademie ins Leben gerufen. Doch gerade als Gentile mit der Akademie den Hort des Purismus zerstört zu haben schien, erweckten ihn die politischen Geschehnisse zu neuem Leben. 1929 entstand die Accademia d'Italia, zu derem ersten Vorsitzenden Tittoni ernannt wurde. Unter der von Mussolini auf 60 festgelegten Zahl ihrer Mitglieder fanden sich Namen wie Alfredo Panzini, Giulio Bertoni, Luigi Pirandello, Gabriele D'Annunzio und Gio-
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vanni Gentile. Benedetto Croce hatte es abgelehnt, Mitglied zu werden. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Akademie war die Schaffung einer Kommission unter Giulio Bertoni mit der Aufgabe, italienische Bildungen für zu ersetzende Fremdwörter zu finden. Besitzer von Gaststätten, Hotels, Bars und Kinos wurden angewiesen, ihren Häusern italienische Namen zu verleihen. Die Handelskammern erhielten Order, auf italienische Terminologie zu achten. Die faschistische Journalistengewerkschaft erarbeitete in Zusammenarbeit mit dem olympischen Komitee einen „Dizionario sportivo", womit der italienischen Sprache in diesem besonders anfälligen Bereich wieder zu ihrem „Recht" verholfen werden sollte. Eine andere Aufgabe der Accademia d'ltalia war die Erarbeitung eines 5-bändigen Wörterbuchs unter Giulio Bertonis Leitung, von dem aber nur der erste Band (Buchstaben A - D) 1941 in Mailand erschien. Einer der führenden italienischen Linguisten des Jahrhunderts, Bruno Migliorini, gebrauchte 1937 als erster den Begriff autarcbia linguistica und führte 1940 in der 1939 in Florenz gegründeten Zeitschrift „Lingua Nostra" den Begriff des neopurismo ein. Der Neopurismus verstand sich in Abgrenzung vom historischen Purismus und dem „Laien-Purismus" jener Jahre als Meinungsäußerung der Spezialisten: „Mentre il principale criterio del purismo ottocentesco era piu ο meno chiaramente quello della provenienza, il neopurismo considera come criterio fondamentale la disformitä dalle norme strutturali della lingua" ( M I G L I O R I N I 1 9 6 3 , 1 9 9 ) . Migliorini propagierte eine Unterscheidung von Fremdwörtern und Neologismen, wobei er letztere nicht a priori ablehnte, sondern nur, wenn sie aus fremdsprachigem Material bestanden. Er forderte auch, die Spezialsprachen unter diesen Aspekten linguistisch und funktional zu untersuchen. Ausdrücklich ging es nicht mehr nur darum, die Literatursprache rein zu halten, sondern auch die „lingua dell'uso", die Gebrauchssprache, da sie einen nationalen Rang erlangen sollte (vgl. K L E I N 1 9 8 2 , 53ff.). Die Anstrengungen der Puristen bzw. Neopuristen in Italien bewegten sich — wie das auf jeden Purismus zutrifft — im Spannungsfeld zwischen dem Bemühen um die Pflege der Sprache aus ästhetischen und ζ. T. auch pädagogisch-praktischen Gründen, was auch die Zurückweisung unnötiger Fremdwörter einschließt, und andererseits der Xenophobie, die aus ideologischen Motiven alles Fremde, von außen Kommende ablehnt. Bei der politischen Brisanz des Themas nimmt es nicht wunder, daß es unter den Puristen zu verschiedenen Ansichten kam. So polemisierten in führenden Tageszeitungen P. Monelli und G. Bertoni
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1939 über das Wort ouverture und den puristischen Vorschlag overtura. Das Ausmaß dieses Streits genau in den Wochen, die dem Ausbruch des 2. Weltkrieges vorangingen, zeigt, in welchem Maße der Purismus die italienische Geisteswelt beschäftigte oder beschäftigen mußte. Als härteste Verfechter galten P. Monelli, Autor des 1933 in Mailand erschienenen Buches „Barbaro dominio. Cinquecento esotismi esaminati, combattuti e banditi dalla lingua italiana con antichi e nuovi argomenti", T. Gigli und A. Menarini. Letzterer schlug ζ. B. in „Lingua nostra" (5, 1941) als italienische Entsprechungen für das Wort bar vor: „taverna", „taberna", „quisibeve", „barro", „liquoreria", „barra", „sbarra", „bettolino" u. a. Eine interessante Tatsache ist, daß im Umfeld des Purismus die arabische Sprache der italienischen Kolonien eine Sonderrolle spielte. In Texten über Libyen, ζ. B. in den Büchern Marschall Grazianis, finden sich viele arabische Wörter ζ. T. ganz in den Text integriert, ζ. T. in Fußnoten erläutert oder anderweitig kenntlich gemacht. Für einige von ihnen hatte das Italienische durchaus adäquate Bezeichnungen zur Verfügung (z.B. „cabile" vs. „tribu"). Durch das Anfügen eines italienischen Präfixes („concabili", dt.: „Stammesangehörigen") ist in diesem Fall sogar eine gewisse Anpassung an das italienische Sprachsystem zu beobachten. Diese Toleranz gegenüber dem Arabischen ist in erster Linie wohl auf politische Gründe zurückzuführen, die der Sprache der Kolonien und damit eines Teils des italienischen Imperiums eine besondere Rolle zuschrieben. Richtig ist sicher auch — wie G. Klein (ebd.) bemerkt — daß die Feindseligkeit gegenüber fremdsprachigen Einflüssen auch ein Reflex auf die internationale Konkurrenz auf ökonomischem, politischem, aber auch kulturellsportlichem Gebiet darstellte, sich also vorwiegend gegen die Sprachen der Feinde (Englisch, Französisch) wandte. Der Höhepunkt des Purismus wurde 1935 erreicht, als wegen des Äthiopien-Feldzuges zahlreiche Länder ihre diplomatischen Beziehungen zu Italien abbrachen. Es bleibt zu konstatieren, daß der Purismus die einzige große sprachpolitische Kampagne der 20 „schwarzen Jahre" blieb. Nach der Zerschlagung des Faschismus ist eine starke Gegentendenz zu verzeichnen. Die italienische Sprache nimmt auffällig viele Fremdwörter, nun besonders aus dem Englischen, auf. Das beweist u. E., daß der verordnete Purismus keinesfalls so verinnerlicht war, wie es in der Absicht der faschistischen Machthaber gelegen haben mußte, auch wenn einige der auf diesem Wege neu entstandenen italienischen Entsprechungen sich bis heute behaupten konnten (ζ. B. autista, calcio, (iauto-)rimessa, u.a.).
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5.2.1.4. Das Verhältnis zu Dialekten und Minderheitensprachen Ein Ideologie-, Kultur- und Sprachkonzept, das von einem starken Zentralismus ausging, mußte in einem Land wie Italien, dessen sprachliche Realität vorwiegend von Dialekten geprägt war, zwangsläufig widersprüchlich sein und auf Widersprüche stoßen. Der These vom einheitlichen, starken italienischen Staat mit einer Nationalkultur und Nationalsprache stand — für alle sichtbar — die Existenz der Dialekte als weitverbreitetes Kommunikationsmittel entgegen. Die Staatskonzeption war eine Kernfrage der faschistischen Ideologie, in der der Platz für Minderheiten zentral festgelegt wurde: „Per il fascismo lo Stato e un assoluto, davanti al quale individui e gruppi sono il relativo. Individui e gruppi sono ,pensabili' in quanto nello S t a t o . . . Lo Stato e ... il custode e il trasmettitore dello spirito del popolo cosi come fu nei secoli elaborato nella lingua, nel costume, nella f e d e . . . Lo Stato fascista organizza la nazione, ma lascia poi agli individui margini sufficienti; esso ha limitato le libertä inutili ο nocive e ha conservato quelle essenziali. Chi giudica su questo terreno non puo essere l'individuo, ma soltanto lo Stato." ( M U S S O L I N I 1932/1979, 271). Diesem regional- und dialektfeindlichen ideologisch-kulturellen Anspruch standen verschiedene Faktoren objektiv entgegen: (1) Die überwältigende Dominanz der Dialekte als Kommunikationsmittel im ganzen Land. Noch Jahre nach dem Sturz des Faschismus wurde 1951 ermittelt, daß 2/3 der Bevölkerung den Dialekt in jeder Situation und 4/5 ihn gewöhnlich verwendeten (vgl. DE M A U R O 1979, 11/40). Jahrzehnte vorher sind diese Zahlen eher noch höher anzusetzen. Damit wird deutlich, daß die vom faschistischen Regime postulierte Verbreitung der Nationalsprache eine Mystifikation darstellt. (2) Die Tatsache, daß die soziale Basis des Faschismus vor allem die Klein- und Mittelbourgeoisie und die Landbevölkerung waren, genau diese Schichten aber noch besonders dem Dialekt verhaftet waren, und dies nicht nur im familiär-privaten Bereich. (3) Die „Rückkehr zum Boden", die wie in anderen faschistischen Theorien auch in Italien zu einem Leitmotiv wurde (vgl. die Bewegung des „Strapaese"). Mussolini selbst liebte es, seine bäuerliche Herkunft herauszustellen, und betonte oft die Notwendigkeit der Bewahrung ländlicher, bodenständiger Werte, zu denen eben auch der Dialekt zu zählen ist. Die Landbevölkerung brachte den größten Anteil am gewünschten Bevölkerungswachstum; die öko-
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nomische Bedeutung der Landwirtschaft für die nationale Wirtschaft und die Autarkie des Landes war unübersehbar. Eine besondere Rolle war den Bauern bei der Erschließung der Kolonien zugedacht. Diese Faktoren widersprachen den antidialektalen Bestrebungen des Regimes, die auch nicht so rigoros verfolgt wurden wie z . B . die puristischen. So hatte Giovanni Gentile als Bildungsminister 1923 eine noch im liberalen Geist vorbereitete Bildungsreform durchgesetzt, die das allgemein vorherrschende Diglossieverhältnis zur Kenntnis nahm, indem über die Beschäftigung mit dem Dialekt in der Schule (u. a. durch Übersetzungsübungen Dialekt — Italienisch) eine bessere Beherrschung des Italienischen erreicht werden sollte. Dieses Konzept des Muttersprachenunterrichts traf von Anfang an auf Kritik aus allen politischen Lagern, so daß sehr bald Maßnahmen zu seiner Zurücknahme ergriffen wurden. Manlio Cortelazzo führt mangelnde Vorbereitung, Qualifikation und Engagement der Lehrer, vor allem aber das Verbot jedes unabhängigen regionalen Lebens als Gründe für das Scheitern bzw. das Versanden der Gentile-Reform an (CORTELAZZO 1 9 8 4 ,
110).
Wie auf sozialer Ebene Klassenunterschiede und -kämpfe im Sinne des Korporativismus zu verschwinden hatten, mußten auch dialektale Unterschiede ignoriert bzw. bekämpft werden. Wie die Fremdwörter schien auch die Existenz verschiedener Dialekte das monolithische Bild des faschistischen Italien zu stören. Aus den oben genannten Gründen war die antidialektale Kampagne gemäßigter als die puristische. Auch sie verstärkte sich in den Jahren des Krieges. Zuvor eliminierte die Schulreform von De Vecchi 1934 jeden Bezug auf den Dialekt aus der Grundschule definitiv. Auch die Anti-Dialekt-Kampagne wurde zu einem großen Teil in den Medien ausgefochten. Die note di servizto, bzw. veline, des Min.Cul.Pop. bezogen sich allerdings in 5 Jahren nur fünfmal auf die Dialekte. So wurde die Presse am 22. 9. 1941 angewiesen: „I quotidiani, i periodici e le riviste non devono piu occuparsi in modo assoluto del dialetto," oder am 4. 6. 1943: „Non occuparsi di produzioni dialettali e di dialetti in Italia, sopravvivenze del passato, che la dottrina morale e politica del fascismo tende decisamente a superare" (zit. n a c h CORTELAZZO 1 9 8 4 , 109).
Neben den veltne, die an die Zeitungsdirektoren direkt gingen, erließ das Min.Cul.Pop. auch Anweisungen an die Präfekten, alle Zeitungen zu beschlagnahmen, die dialektfreundliche Artikel oder regionalistische Konzepte enthielten. Ferner existierte für das Kino
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ein Verbot, Dialektwörter zu benutzen. Im Jahre 1941 soll es ein Projekt gegeben haben, alle literarischen Werke im Dialekt aus dem Verkehr zu ziehen. Der Leiter des Pressebüros Mussolinis, Gaetano Polverelli, der spätere Minister im Min.Cul.Pop., gab die „Pressedirektiven" heraus, in denen er in Nr. 16 zum Dialekt Stellung nahm: „Non pubblicare articoli, poesie ο titoli in dialetto. L'incoraggiamento alia letteratura dialettale e in contrasto con le direttive spirituali e politiche del Regime, rigidamente unitarie. Ii regionalismo, e i dialetti ne costituiscono la principale expressione, sono residui dei secoli di divisione e di servitu dalla vecchia Italia" (ebd., 113). Diese Order wurde offenbar nicht befolgt, denn am 10. 8. 1934 erließ Polverelli ein Verbot von Presse- und Literaturerzeugnissen im Dialekt. Den eingangs erwähnten Faktoren ist auch geschuldet, daß trotz aller antidialektalen Aktionen die Dialektologen weitgehend ihre wissenschaftlichen Arbeiten fortsetzen konnten. Es erschienen der „Atlante linguistico italiano" von Pellis (1931) und der „Atlante Iinguistico etnografico italiano della Corsica" von Bottiglioni (1935). Auch die Kongresse zur Volkskunst und -tradition fanden weiter statt und wurden zum Schauplatz dieser extrem widersprüchlichen Haltung, die ihren kuriosen Gipfel in faschistischen Propagandagedichten und -liedern im Dialekt erreichte, die, von F. Fichera zusammengestellt, 1934 in Mailand herausgegeben wurden. Auch die Theater spielten weiter Stücke im Dialekt, bis im März 1935 im „Bollettino ufficiale dell'Opera nazionale dopolavoro" ein Rundschreiben veröffentlicht wurde, das jede Vorführung von Theaterstücken im Dialekt unter Strafe stellte. Ein weiteres linguistisches Problem, das mit dem Dialekt und der Norm in Verbindung steht, war die Diskussion über die Standardaussprache, die für das Radio relevant geworden war. In Nr. 1 der „Lingua nostra" nahmen G. Bertoni und F. A. Ugolini Stellung für die „bella e calda pronunzia romana" innerhalb einer linguistischen Achse Rom —Florenz. Dagegen protestierten die Verfechter der florentinischen Norm, darunter auch Migliorini, der später — nach dem Sturz des Faschismus — der florentinischen Norm den Vorzug gab und mit seiner Haltung auch die Meinung der Zeitschrift „Lingua nostra" weitgehend mitbestimmte. Resümierend ist zu konstatieren, daß die schwankende und widersprüchliche Haltung des Regimes zu den Dialekten ein Hinweis darauf ist, wie wenig organisch und systematisch die faschistische Sprachpolitik verfolgt wurde, die eher durch Einzelentscheidungen einiger Verantwortlicher aus Überzeugung oder aus pragmatischen Gründen
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geprägt war. Dennoch fügen sich diese in das Gesamtkonzept faschistischer Ideologie ein. Natürlich mußte dieser Versuch, die reale soziolinguistische Situation des Landes zu negieren, scheitern. Trotzdem setzte sich die Tendenz der Verbreitung des Italienischen, wenn auch in regionaler Färbung, fort, vielmehr aber aus ökonomischen und sozialen Gründen denn als Folge der faschistischen Vereinheitlichungspolitik auf sprachlichem Gebiet. Einfacher als mit den Dialekten „löste" man das Problem der Minderheitensprachen, die einfach verboten wurden, so z.B. das Deutsche in Südtirol (Alto Adige), das nach dem 1. Weltkrieg an Italien gekommen war. Die Sprecherzahl des Deutschen in Südtirol betrug 1 9 2 1 ca. 2 0 0 0 0 0 ( D E MAURO 1 9 7 9 , 1 1 / 2 8 9 ) . In der Gegenwart wird sie mit ca. 2 8 0 0 0 0 angegeben, insgesamt mit einigen anderen deutschen Sprachinseln in Oberitalien mit ca. 2 9 5 0 0 0 (GECKELER/ KATTENBUSCH 1 9 8 7 , 1 4 ) .
Das faschistische Italien betrieb von Anfang an eine Politik der Absorbierung dieser ethnischen Minderheit im nationalen Ganzen. Massiv wurden Italiener in den deutschen Zentren angesiedelt, so daß ihr Anteil auf 1/3 der Bevölkerung anstieg. Der Gebrauch der deutschen Sprache wurde verboten, deutsche Schulen mußten schließen; Straßen- und Ortsnamen wurden italianisiert und deutsche Inschriften, auch auf Friedhofssteinen, zerstört. In ähnlicher Weise wurde mit den Slowenen und Kroaten, den Griechen des Dodekanos und den Französischsprechern des AostaTals verfahren (vgl. BOCHMANN 1989). 5.2.1.5. Die Kampagne um die Anredeform Lei Ein sprachpolitisches Problem scheinbar am Rande stellte die Kampagne um die Höflichkeitsform der Anrede Lei dar, allerdings spielen auch hier puristische und Normaspekte eine Rolle, die im folgenden ausführlichen Zitat Mussolinis zu dieser Frage auch anklingen: ,,E' incredibile che da tre secoli tutti gli Italiani, nessuno escluso, non abbiano protestato contro questa forma servile, che ci e venuta dalla Spagna del tempo. Fino al Cinquecento gli italiani non hanno conosciuto che il tu e il voi. Poi solo il tu, ignorando il lei. Infatti quando il contadino ha parlato con me, non mi ha detto: ,Senta Eccellenza', ma mi ha detto: ,Senti, Duce, noi non abbiamo l'acqua.' In Romagna ancora oggi la moglie da del voi al marito, i nipoti al nonno, e qualche volta il figlio da del voi al padre. Tutta l'Italia meridionale ignora il Lei, sia nelle classi colte, sia in quelle popolari. Invece lo Spagnolismo
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ci aveva infettati creando problemi complicatissimi di sintassi perche e chiaro che il lei si riferisce ad una donna ..." ( M U S S O L I N I 1 9 3 2 / 1 9 7 9 , 306).
Bereits im Januar 1938 hatte sich der florentinische Schriftsteller Bruno Cicognani in einem Artikel „Abolizione del ,Lei' " im „Corriere della sera" dazu geäußert und tu als „espressione dell'universale cristiano e roraano" und voi als „segno di rispetto e riconoscimento di gerarchia" vorgeschlagen (vgl. SIMONINI 1978, 211). Am 12. 2. 1938 wurde in der faschistischen Jugendorganisation „Gioventu italiana del Littorio" die Höflichkeitsform Lei abgeschafft. Fast gleichzeitig geschah dies auch in der faschistischen Partei: „tra camerati e camerati viene abolito il Lei e adottato il tu, tra gerarchi e gregari e adottato il voi" (ebd.). Die Anweisung wurde dann erweitert auf die Schulen, die Armee und die Verwaltung. Viele Zeitungen und Zeitschriften nahmen dazu Stellung (vgl. D E L B U O N O ed. 1971, 3 8 6 ff.). Die Frauenzeitschrift „Lei" mußte in „Annabella" umbenannt werden. Maurizio Dardano vermutet Achille Starece als Urheber dieser Kampagne gegen das Lei, der aus dem Süden Italiens stammte und so durch die süditalienischen Dialekte beeinflußt war, in denen voi schon immer üblich war (vgl. D A R D A N O 1978, 146). Die Kampagne war Anlaß zu Ironie und Witz unter der Bevölkerung, auf die sich Mussolini in der bereits eingangs zitierten Rede im Nationalrat der faschistischen Partei am 25. 10. 1938 bezog: „La borghesia italiana ha detto: ,Che cos'e questa storia? Allora vuol dire che invece di Galilei diremo Galivoi?' Cretinismo spappolato: barzelletta che vorrebbe essere spiritosa, ed e invece semplicemente cretina" ( M U S S O L I N I 1932/1979, 306). Die Bedeutung, die auch diesem scheinbar nebensächlichen Streben nach Ersetzung des Lei beigemessen wurde, beweisen letztendlich auch die veline dazu: 25. 7. 38: „Non usare il lei nelle didascalie delle vignette, nelle novelle, e ovunque si riportino scritti in forma dialogica. Si ricorda di controllare attentamente affinche il tu e il voi sostituiscono sempre il lei straniero e servile." Einige Verlage beauftragten sogar Angestellte nur damit, die Dialoge in Romanen und Dramen umzuschreiben und die neuen Anredeformen überall einzuarbeiten (vg. SIMONINI 1978, 2 1 5 ) .
5.2.1.6. Sprachpolitik in den Kolonien Neben dem Zentralismus im Inneren (Kampf gegen Dialekte) und der Abschottung nach außen (Purismus) ist der Expansionismus im Gefolge großmachtpolitischer Strategien allen Arten von Faschismus
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eigen. Wie andere ideologisch-politische Aspekte ist auch der Expansionsdrang keine Erscheinung, die erst der Faschismus hervorbringt, sondern seine Wurzeln reichen in Italien bis zum Risorgimento zurück. Dem spätentwickelten italienischen Kapitalismus boten sich allerdings nicht mehr viele Möglichkeiten zur kolonialen Eroberung, hatten doch die „gestandenen" Kolonialmächte mit dem Maghreb, Ägypten und dem Sudan die für Italien lukrativsten Gebiete bereits in ihre Hand gebracht. Nach Somalia und Eritrea besetzte Italien 1911 - lange vor der Machtübernahme des Faschismus — Libyen und unter Mussolinis Herrschaft dann 1935 Äthiopien. Die Okkupation und Annexion Libyens bezog sich zunächst nur auf die militärische Unterwerfung. Jedoch zielte die italienische Politik später auf einen sogenannten „Siedlerkolonialismus" („colonizzazione demografica") ab, d. h. auf die Ansiedlung italienischer Bauern. Die Zahl der Italiener in Libyen wird 1936 mit ca. 115 000 angegeben, davon waren 66 300 dort ansässig und der Rest Armeeangehörige (vgl. R O C H A T 1973, 102). Das faschistische Regime beschloß 1937 weitere Vergünstigungen für Auswanderungswillige, da weit weniger Interesse für die Kolonien vorhanden als gewünscht war und der Mangel an Siedlern nach der Eroberung Äthiopiens noch prekärer wurde (vgl. LESSONA 1937, 11). Mit der Besiedelung war der Aufbau einer Infrastruktur, die partielle Entwicklung des Gesundheits- und Bildungswesens, die Einführung der Technik, aber auch die Vermittlung italienischer kultureller Werte und Normen - einschließlich der Sprache — verbunden. Auch wenn die Italiener relativ autark lebten und sich im Umgang mit der ansässigen Bevölkerung auf die notwendigsten Dinge beschränkten, kam es doch zwangsläufig zu Kontakten, die sprachlich abgewickelt werden mußten. Dabei trafen die Italiener in Libyen auf völlig andere Bedingungen als in der „Africa Orientale italiana". Während hier eine weitgehend homogene arabisch sprechende, muslimische Bevölkerung dominierte (mit Ausnahme der Berber), war Äthiopien ein multinationaler Staat mit ca. 70 ethnischen Gemeinschaften unterschiedlicher Religionen und Sprachen aus 4 Sprachgruppen (semitische, kuschitische, omotische und nilo-saharische, vgl. R I C H T E R 1981, 1080ff.). Obwohl die Bewohner aller Kolonien als den Italienern in jeder Hinsicht unterlegen betrachtet wurden, sind Unterschiede in der Bewertung unverkennbar. So war den Libyern im Klima demokratischer Aussichten nach dem 1. Weltkrieg 1919 eine eingeschränkte italienische Staatsbürgerschaft zugebilligt worden, was später vom faschistischen Regime euphemistisch als Gleichstellung dargestellt wurde: „La Libia ha superato vittoriosamente lo stadio coloniale, non e un ter-
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ritorio di sfruttamento con popolazioni sogette e imploranti e secondo la vecchia formula ,taillables et corveables a merci'. La Libia e Italia" (nach: F O R E S T I 1 9 8 4 , 133 f.). In Wirklichkeit ging es um die Korrumpierung einer Schicht der libyschen Bevölkerung, die für die italienische Staatsbürgerschaft bestimmte Gegenleistungen zu erbringen hatte. Die Bezeichnungsunterschiede im Text des Statutes verweisen auf den Charakter dieser „Maultierstaatsbürgerschaft", wie B . B R E N T J E S ( 1 9 8 2 , 1 1 4 ) sie bezeichnet: „cittadini italiani libici" — „cittadini italiani metropolitani"; „cittadini italiani" — „cittadini metropolitani" (nach R O C H A T 1 9 7 3 , 106 ff.). Im Gegensatz dazu gab es eine solche Möglichkeit für Äthiopier nicht, fiel doch die Eroberung des Landes mitten in das Klima des verstärkten Rassismus in Italien selbst. Unter dem Einfluß Deutschlands hatte Mussolini im November 1938 in Italien die Rassengesetze erlassen, die zwar in erster Linie gegen die Juden gerichtet waren, aber auch die Bevölkerung der eigenen Kolonien, besonders natürlich die Afrikaner, betrafen. Aus einer Information des „Istituto fascista dell'Africa italiana" an die Parteimitglieder wird dies deutlich: „La colonizzazione italiana in Africa Orientale italiana [...] ha reso oggi per I'Italia di grandissima importanza il problema di tutelare la purezza della nostra razza evitando incroci con le genti negre... Quanto alia Libia, questa e una terra abitata da popolazioni arabe di razza bianca e di cultura superiore, tenute a freno per giunta dalle rigorose norme morali della religione musulmana" (nach: F O R E S T I 1 9 8 4 , 134).
Im Juni 1939 wurden sexuelle Kontakte mit Farbigen unter Strafe gestellt, der Gouverneur von Addis Abeba untersagte Farbigen, Lebensmittel für Weiße herzustellen oder Autos zu fahren, in denen Weiße sitzen (vgl. ebd.). Daraus wird verständlich, daß sich die Italiener kaum motiviert zeigten, die Sprachen der eroberten Gebiete zu erlernen oder sich für deren Kultur zu interessieren. Selbst die ethnologischen Forschungsergebnisse waren eher dürftig. In Libyen erteilten ab 1914 nur 2 Mittelschulen für ansässige Italiener Unterricht in arabischer Sprache. Erst 1925 wurde Arabisch Pflichtfach. In Italien selbst wurde Arabisch erst 1938 — 27 Jahre nach der Besetzung — eingeführt, um eine Führungsschicht heranzubilden, die die Interessen Italiens in den Kolonien wirksam vertreten sollte. Die Mehrzahl des militärischen und zivilen Personals gelangte so in die Kolonien, ohne über spezielle Kenntnisse über Land, Bevölkerung und Sprache zu verfügen. So war die einheimische Bevölkerung gezwungen, sich der italienischen Sprache zu bedienen, um mit den zumeist als Besitzer oder
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Beamte in Erscheinung tretenden Italienern kommunizieren zu können. Z u m Erlernen des Italienischen gab es ζ. B. in Libyen 1939 etwa 90 Schulen für Libyer mit ca. 1 1 0 0 0 Schülern, in denen der Unterricht zweisprachig erfolgte. In der „Africa Orientale" war der Unterricht in Italienisch und in den lokalen Hauptsprachen gesetzlich gefordert: Amharisch, Somali, Tigrigna, Sidamo. Auch offizielle Gesetze wurden in diese Sprachen übersetzt. 1936 trat für die „Africa italiana" eine neue Schulordnung in Kraft, die eine strengere Trennung zwischen Italienern und Eingeborenen durchsetzte. Die Schulen für Italiener unterstanden verwaltungsmäßig dem Bildungsministerium, wogegen die für die „cittadini libici" und die „sudditi coloniali" (Äthiopien) dem Afrika-Ministerium unterstellt waren. Die Kinder der Siedler erhielten eine Bildung wie im Mutterland selbst. Obwohl eine Anpassung des Stoffes an lokale Gegebenheiten vorgesehen war, legten die Schulen aber wenig Wert darauf, um nicht noch mehr Italiener von der Auswanderung abzuschrecken, die dadurch Bildungsnachteile für ihre Kinder befürchteten. Die Eingeborenenschulen orientierten besonders auf eine praktische Ausbildung in Landwirtschaft, Handwerk und Technik, die den Kindern nur eine begrenzte Bildung zubilligte. Selbst über die Notwendigkeit des Italienischunterrichts gab es Diskussionen, da die Beherrschung des Italienischen auch Gefahren politischer Art in sich bergen konnte. Trotzdem war dieses diskriminierende Bildungssystem für die Kolonialbevölkerung, gemessen am vorherigen Niveau, natürlich ein Fortschritt. Eine wichtige Rolle für die Verbreitung des Italienischen spielten auch die Eingeborenen-Bataillone in der Armee, in denen italienische Militärs Unterricht im Waffengebrauch und in italienischer Sprache erteilten. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, daß durch die damalige geringe Verbreitung der italienischen Literatursprache das Italienische, das die Libyer und Äthiopier lernten, zum großen Teil eher „sizilianisch" oder ein anderer Dialekt, eine Mischung von Dialekt und Hochsprache gewesen sein mag, oder eine Art lingua franca auf italienischer Grundlage (vgl. FORESTI 1984, 140). In allen Kolonialgebieten - auch in Italienisch-Ostafrika - wurde Arabisch als Pflichtfach eingeführt, woraus FORESTI den Schluß zieht, daß von italienischer Seite geplant war, Arabisch als Verkehrssprache in allen Kolonien zu entwickeln, bevor eine genügende Verbreitung des Italienischen erreicht sein würde, falls dies überhaupt beabsichtigt war. Unter diesem Aspekt war es um so kritikwürdiger, daß nach 30jähriger Besetzung Libyens noch kein gutes Arabisch-Wörterbuch in Italien existierte, daß es überhaupt an guten Arabisten mangelte.
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Auch diese Tatsache beweist die Konzeptionslosigkeit in Italien hinsichtlich der Kolonien und das allgemein geringe Interesse an ihnen, zumindest außerhalb der herrschenden Kreise. Diese waren wohl auch ständig gezwungen, anderen Fragen Priorität zu geben, so daß sprachlich-kulturelle Probleme in Einzelentscheidungen gelöst wurden und nicht Teil eines organischen Entwicklungskonzeptes waren.
5.2.2. Sprachpolitik der spanischen Falange Die Sprachpolitik des Franco-Faschismus war und ist — sicherlich besonders wegen des anhaltend aktuellen Bedürfnisses der progressiven Kräfte in Spanien, eine demokratische Alternative zu ihr zu entwerfen — Gegenstand soziolinguistischer Studien. Über die Unterdrückung der Nationalitätensprachen liegen umfangreiche Dokumentensammlungen vor. 4 4 Sie belegen die extrem zentralistische, nationalistische und repressive Sprachpolitik der spanischen Falange 4 5 wäh44
In erster Linie trifft das für das Katalanische zu; vgl. BENET 1973, VALLVERDU 1987, KREMNITZ 1979 und FERRER i GIRONES 1986. D a die Sprachgesetzgebung alle
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Nationalitätensprachen einschloß, ist eine Verallgemeinerung auf dieser Grundlage möglich. Gegen Ende der zwanziger Jahre bildeten sich wie zuvor in Italien und Deutschland verschiedene Gruppen rechtsradikaler bzw. faschistischer Prägung heraus. 1931 schlossen sich zwei dieser Gruppen, die um R. Ledesma in Madrid und um O. Redondo in Valladolid entstanden waren, zu den Juntas de Ofensiva NacionalSindicalistas (1931 —1934) zusammen, wobei beide zunächst ohne größeren Einfluß blieben. 1933 entstand unter der Führung von J. A. Primo de Rivera eine dritte faschistische Gruppierung, die Falange Espanola , die auch über die nötigen finanziellen Mittel verfügte. Sie verschmolz im Februar 1934 mit den J.O.N.S. zur Falange Espanola y de las J.O.N.S.. Nach THOMAS verfügte sie 1935 über etwa 8000 bis 10 000 Mitglieder (1969, 292). - Der Wahlsieg der Linken im Februar 1936 veranlaßte rechte Offiziere, sich in der Union Militär Espanola zusammenzuschließen und einen Putsch vorzubereiten. Als am 18. 7. 1936 der unter den Generälen J. Sanjurjo, E. Mola und F. Franco geleitete Militäraufstand begann, spielte die Falange außer in Valladolid keine einflußreiche Rolle (ebd., 295). Nach der Verhaftung Jose Antonios ihres Führers beraubt, zerfiel sie in lokalen Streitigkeiten. Am 18. 4. 1937 dekretierte Franco jedoch ihre Vereinigung mit den Parteien, die an der Seite der putschenden Generäle kämpften, darunter die karlistische Comunion Tradicionalista, zur Falange Espanola Tradicionalista y de las J.O.N.S. Unter der Führung Francos und Serrano Siiners bildete sie im Kampf gegen die Spanische Republik das politische und organisatorische Zentrum der Faschisten und war zwischen 1937 und 1975 die einzige „gesetzliche" Partei; erst 1977 erfolgte ihre Auflösung. Die Falange vertrat die Interessen der reaktionärsten Teile der Großbourgeoisie, der Latifundienbesitzer und Militärs. Unter ihrer Leitung begann 1938 eine weitgehende Klerikalisierung des öffentlichen Lebens (vgl. KOSSOK 1981, 262).
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rend des Bürgerkriegs (1936 — 1939) und der Franco-Diktatur ( 1 9 3 9 1975) anhand der Sprachgesetzgebung und metasprachlicher Äußerungen ihrer Repräsentanten. Bei der kritischen Revision der eigenen Geschichte und Sprachgeschichte sind jedoch die Aspekte, die das Spanische selbst betreffen, kaum berücksichtigt worden. Es ist bisher nicht der Versuch unternommen worden, die Regelung der kommunikativen Praxis durch die Falange in ihrer Komplexität, aus der Entstehung und Entwicklung heraus zu betrachten, d. h. ihr Verhalten zur „Nationalsprache" 46 und deren Varietäten, zu den Nationalitäten und Fremdsprachen in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und damit zur genaueren Kennzeichnung und geschichtlichen Situierung der franquistischen Sprachpolitik beizutragen. 47 Ziel der folgenden Ausführungen ist es deshalb, auf der Grundlage vorliegender Materialien 48 einen methodischen Zugang zu skizzieren, der die Rekonstruktion der Sprachpolitik der Falange aus dem Sprachgebrauch der Politik, der sprachlichen Inszenierung ihres politischen Handelns, in Verbindung mit der Auswertung von Daten aus der Sprachgesetzgebung und metasprachlichen Äußerungen versucht. Herausgegriffen wird dazu eines der zentralen Themen in der politischen Diskussion, das Thema der „nationalen Einheit" oder der „Einheit Spaniens", da es den Schnittpunkt mehrerer Linien in der Sprachpolitik bildet. Dabei werden zunächst seine Konturierung und Stellung im politischen Diskurs der Rechten und Faschisten, Tendenzen seiner sprachlichen Inszenierung und seine Funktion in der Sprachdiskussion und -gesetzgebung beleuchtet.
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Aufgrund der Belegung der Wortfelder von nacional und Espana im faschistischen Sprachgebrauch, dessen Auswirkungen sich u. a. in der bis heute anhaltenden Diskussion um die Bezeichnung des Spanischen in der Funktion des überregionalen Kommunikationsmittels als castellano oder espanol bzw. als lengua de Estado oder lengua nacional widerspiegeln, wird hier „Nationalsprache" stets in Anführungszeichen gesetzt. Vergleichende Betrachtungen zur Sprachpolitik der Faschismen stellte B O C H M A N N (1985, 119 - 1 2 9 ; 1986, 141 — 145) an, wobei er vier Erscheinungsformen unterscheidet: a) den xenophoben Purismus auf der Ebene der Nationalsprache; b) den antidialektalen Zentralismus auf der Ebene der Literatursprache und der Dialekte; c) den nationalistischen (rassistischen) Zentralismus gegenüber nationalen Minderheiten und d) den sprachlichen Kolonialismus oder Expansionismus nach außen (1985, 120). So nützlich die Unterscheidung ist, so problematisch ist sie auch. Die Textauswahl erfolgte unter Rückgriff auf die Dokumentensammlungen von und C U C U R U L L ( 1 9 7 5 / 5 , 6 ) und beruht nicht auf eigenem Quellenstudium. Auch bei der Darstellung der Inszenierung des politischen Handelns wurde nur auf vorhandene Untersuchungen - G A R C I A SANTOS ( 1 9 8 0 ) und SCOTTI R O S I N ( 1 9 8 2 ) — Bezug genommen. BENET ( 1 9 7 3 )
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5.2.2.1. Die nationale Problematik und die Nationalitätensprachen im Diskurs der Rechten (1931 - 1936) Die Sprachpolitik der Falange konstituierte sich mit der Versprachlichung ihrer politischen Interessen — mit der Möglichkeit, sich als eine von vielen politischen Organisationen während der Zweiten Spanischen Republik zu artikulieren, bestimmten Themen eine zentrale Stellung in ihrem Diskurs einzuräumen und diese — auf eine bestimmte Art sprachlich inszeniert — in die öffentliche Diskussion einzubringen und ihr aufzudrängen. Sie bildete sich zugleich innerhalb eines konkreten politischen Bedingungsgefüges heraus, d. h. hier innerhalb von „Traditionslinien" des rechten, konterrevolutionären Blocks, in dem auch das Thema der „nationalen Einheit" vorgegeben war. Seine zentrale Stellung im Diskurs der Rechten erlangte es als Reaktion auf die Reformen zur Dezentralisierung Spaniens, mit denen die republikanischen Kräfte u. a. die bürgerlich-demokratische Revolution 1931 einleiteten und mit denen sie die politischen (und sprachpolitischen) Positionen des alten Regimes empfindlich angriffen. In der Ablehnung bzw. Bekämpfung der Autonomiebestrebungen traf sich die antirepublikanische, zentralistische Ideologie der Rechten mit der des Faschismus, der die innere Einheit als eine unabdingbare Voraussetzung für den von ihm erhobenen imperialen Anspruch (ζ. B. „situamos ante Espana la ruta de imperio", „Espana ha de ser un pais director del mundo"), für sein Großmachtstreben betrachtete (vgl. BENET 1973, 67). Sofort nach der Ausrufung der katalanischen Republik am 14. 4., der Anerkennung der Generalitat am 21. 4. und insbesondere nach dem Sieg der Republikaner und Sozialisten bei den Corteswahlen am 28. 6., bei denen die Esquerra Republicana de Catalunya unter F. Maciä einen großen Erfolg errang, setzte eine Welle kastilozentristischer Manifestationen ein. Neben rechten Periodika (ζ. B. „ A B C " , „El Debate") bemächtigte sich die faschistische Zeitschrift „La Conquista del Estado" (Valladolid, ab März 1931) des Themas. In einer Reihe von Artikeln — u. a. von R. Ledesma Ramos (8. 5., 25. 7., 10. 10) — stellte sie die Dezentralisierung als einen Angriff auf die Einheit Spaniens (ζ. B. „a la sagrada integridad de la patria", 24. 10.) und Verrat am Vaterland dar (ζ. B. „Enemigos de la Patria", 10. 10., „fusilar [...] por traidor", 13. 6.). Am 28. 6. rief sie zur militärischen Intervention gegen die katalanischen „Störenfriede" des „spanischen Wegs" 4 9 auf und wiederholte in der Folgezeit mehrmals diese Aufforderung. 49
„Si una mayoria de catalanes se empenan en perturbar la ruta hispanica, habra que plantearse la posibilidad de convertir esa tierra en tierra de colonia y trasladar alli los ejercitos del Norte de Africa" (CUCURULL 1975/5, 160).
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Als am 6. 5. 1932 die Cortes die Debatte zum katalanischen Autonomiestatut („Projecte d'Estatut de Nüria") aufnahmen, entfalteten die Rechten über die Ayuntamientos Kastiliens eine Kampagne unter dem Motto „Castilla, siempre Castilla se alza a la afrenta" (vgl. C U C U R U L L 1975/5, 17), die das Thema der „Einheit Spaniens" — präsent in den Losungen „Muera el Estatuto", „Abajo el Estatuto", „Guerra al Estatuto" oder „Antes que el Estatuto la guerra civil" — als Einheit unter Kastilien reflektiert. Noch bevor am 9. 9. das Autonomiestatut verabschiedet wurde, versuchte General J . Sanjurjo am 10. 8. einen Militärputsch, dessen Losung „jViva Espana, Ünica e Inmortal!" die nationalistischen, kastilozentristischen und antirepublikanischen (bzw. antikommunistischen) Interessen der spanischen Militärs und Faschisten auf einen Nenner brachte. 50 Die F. E. machte es 1933 zu einer ihrer Taktiken, das Thema der „nationalen Einheit" in den Mittelpunkt ihres Diskurses zu rücken ( B E N E T 1973, 79), um sich zunächst in rechten Kreisen und besonders während des Bürgerkriegs bei der antirepublikanisch gesinnten Bevölkerung Gehör zu verschaffen, Konsens zu erlangen. Bereits in der Gründungsansprache am 29. 10. in Madrid und in einer Rede am 13. 11. in Cadiz stellte J. A. Primo de Rivera den Zerfall der Einheit Spaniens („Espana ya no es una [...] Espana no es ya ni siquiera una agrupacion de regiones: es una Republica cantonal") heraus und entfachte in der Zeitung „F. E." eine Kampagne gegen das katalanische Autonomiestatut. Das Thema der „nationalen Einheit" konturierte sich deutlich und mit den grundlegenden sprachpolitischen Implikationen um das Jahr 1934. Im Programm der F. E. y de las J.O.N.S. wird es im Zusammenhang mit den imperialen Ansprüchen („Tenemos voluntad de Imperio") in der von Jose Antonio in Anlehnung an J. Ortega y Gasset geprägten Wortverbindung „unidad de destino en lo universal" formuliert: „Espana es una unidad de destino en lo universal. Toda conspiration contra esa unidad es repulsiva. Todo separatismo es un crimen que no perdonaremos" (BENET 1973, 80). Beide Punkte wurden nach der Schaffung der F.E.T. y de las J.O.N.S. am 19. 4. 1937 Teil des offiziellen Programms des Franquismus. Ihre immer stärkere Zusammenführung verdeutlichte sich in den Folgereaktionen auf die gescheiterte Proklamierung eines Katalanischen Staates am 6. 10. 1934. 50
Ebenfalls 1932 erschien das Buch „Genio de Espana" (Madrid) von E. GIMENEZ CABALLERO, der darin das spanische Problem in Fortsetzung des rechten Denkens der Generation von 1898 im Sinne der Falange interpretierte.
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Auf ihrer ersten Demonstration in der Öffentlichkeit am 7. 10. reklamierte die Falange die „unidad de Ia Patria" (vgl. ebd., 78). In der Cortesdebatte zur Suspendierung des katalanischen Autonomiestatuts begründete J . A. Primo de Rivera am 30. 10. diesen Schritt mit dem Appell an das „Bewußtsein einer nationalen Schicksalsgemeinschaft", die alle Teile Spaniens miteinander verbinde und die von diesen gefordert werden müsse. Pluralidad, variedad, diferen-
ciacion/diferencias
sowie personalidad,
individualidad,
propriedad
werden in der imperialen unidad und grandeza zusammengeführt und harmonisiert: „Espana se justifica por una vocacion imperial para unir lenguas, para unir razas, para unir pueblos y para unir costumbres en el destino universal, [...] es una unidad de destino en lo universal" (zit. nach CUCURULL 1975/6, 490). Angriffe darauf führen zur „deshispanizacion" und Auflösung („Espana se nos va a ir entre los dedos"). 5 1 In der Folgezeit insistierten die Rechten und Faschisten weiterhin auf diesem T h e m a ; ζ. B. beschwörten J . A. Primo de Rivera in der faschistischen Zeitschrift „Arriba" am 28. 3. 1935 das „fantasma amenazador del catalanismo" und R . Ledesma R a m o s in seinem 1935 publizierten „Discurso a las juventudes de E s p a n a " (Madrid) die „recobracion nacional". Fünf M o n a t e vor dem Militärputsch faßte J . Calvo Sotelo das Denken der äußersten Rechten dazu wie folgt zusammen: „Yo digo: entre una Espana roja y una Espana rota, prefiero la primera, que seria una fase pasagera, mientras que la segunda seguiria rota a perpetuidad" (BENET 1973, 86). Die Wortfelder rot und Separatist beginnen folglich schon vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, im Feindbild der Rechten und Faschisten zu verschmelzen. Die sprachliche Inszenierung des T h e m a s der „nationalen Einheit" baut auf einigen wenigen Argumenten auf, die — mehr oder weniger variiert — ständig wiederholt und stereotyp werden. D a m i t verknüpft ist die Etablierung von positiven und negativen Werten in Form von Antithesen, eine mechanistische Bipolarisierung des Wertesystems, die sich auf allgemein akzeptable bzw. im Alltagsdenken akzeptierte Werthierarchien und Werte (V) gründet, auf denen das Gebäude der Argumentation errichtet wird. So können die Prämissen (P) auch ohne
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Die Notwendigkeit eines neuen spanischen Imperialismus auf der Grundlage eines Einheitsstaats begründete auch R. DE MAEZTU in seinen in der reaktionär-traditionalistischen, später faschistisch orientierten Monatsschrift „Accion Espanola" publizierten Aufsätzen, die 1934 unter dem Titel „Defensa de la hispanidad. Libro de amor y de combate" (Madrid) in Buchform erschienen.
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Begründung („Espana es una unidad") oder mit Kausalbestimmungen, die im Grunde tautologisch sind („Espana se justifica por una vocacion imperial para unir"), gesetzt werden, z.B. Pj:
Spanien ist eine Nation (Schicksalsgemeinschaft). Korreliert mit Vi: Nation sein/werden = positiv. P2: Die Regionalbewegungen lösen die Nation auf. Korreliert mit V 2 : Nation auflösen/nicht sein = negativ. C: Spanien muß gegen die Regionalbewegungen verteidigt werden ( = der positive gegen den negativen Wert). Der manipulatorische Effekt der Argumentation entsteht durch die Nutzung zweier stimmiger (aber anfechtbarer) Werte und von zwei (zwar nicht individuellen, doch von Klasseninteressen der kastilischspanischen Großbourgeoisie und Latifundienbesitzer getragenen) Urteilen, die als objektive Aussagen vorgetragen werden, wobei sie durchaus auf einen Minimum an tradiertem Konsens (ζ. B. die Einheit Spaniens als historische Errungenschaft) bzw. an Akzeptabilität (ζ. B. kann das Entstehen von Autonomien als Zerteilung einer Einheit erscheinen) fußen. Vollziehen die Rezipienten die Conclusio (C) dieses Pseudosyllogismus (ζ. B. in der Parlamentsrede Jose Antonios) nach, so rechtfertigt die damit entstehende „Objektivität" auch den Imperativischen Charakter der Falange-Texte (präsent in Modalkonstruktionen des „Müssens", der objektiven Notwendigkeit usw.) und kann die gewünschte Übertragung des positiven Werts auf die Verfasser, da die Falange selbst das Thema lanciert, erfolgen. Werden dagegen die Prämissen außer Kraft gesetzt („yo no comprendo la grandeza de Espana sin la acentuacion de una realidad catalana"; C U C U R U L L / 5 , 494), dann muß, wie die Antwort von F. Cambo ausweist, die Rede des Falange-Führers als Drohung gegen die Regionalbewegungen verstanden werden („un problema no se resuelve mas que cuando desaparece, y la resolucion definitiva del problema Catalan seria la desaparicion de Cataluna"). Betrachtet man die Lexik, mit der das Thema inszeniert wird, so zeigt sich, daß vorrangig zwei Wortfelder benutzt werden, einmal nacion, Espana, patria und zum anderen unidad.52 Der „Kampf an 52
Die Erforschung des politischen Wortschatzes bzw. der politischen Sprache ist in Spanien eine junge und noch relativ schwach entwickelte Forschungsrichtung. Zu dem hier erfaßten historischen Zeitraum liegen m. W. nur die Arbeiten von REBOLLO TORIO ( 1 9 7 5 u n d 1 9 7 8 ) , GARCIA SANTOS ( 1 9 8 0 ) u n d SCOTTI ROSIN ( 1 9 8 2 ) v o r . D e s
weiteren sei a u f Vokabularien wie die von TUBELLA/VINYAMATA ( 1 9 7 8 ) und VINYO-
LES/FERRAN (1982) hingewiesen (Stand von 1988; spätere Arbeiten konnten nicht berücksichtigt werden).
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der propositionalen Front", der sich hier als „Schlacht" um die im Diskurs der Rechten und Faschisten mit der höchsten Frequenz belegten Lexeme nacional und Espana widerspiegelt, führte dazu, daß die Republikaner weitestgehend auf dieses Vokabular verzichteten. So sah sich die republikanische Regierung im März 1932 gezwungen, das Adjektiv nacional für den offiziellen Gebrauch zu verbieten (vgl. G A R C I A SANTOS 1 9 8 0 , 4 5 4 ) . Ebenso weisen die republikanischen Texte die Tendenz auf, Espana zu vermeiden bzw. es in den Plural zu setzen („las Espanas"; vgl. ebd., 513), um auch im Sprachgebrauch ihr auf der demokratischen Selbstbestimmung der verschiedenen Völker beruhendes Spanien-Konzept wirksam zu verteidigen. Im Diskurs der Rechten und Faschisten erfährt das Lexem nacion eine hohe emotionale Aufladung, so daß es ζ. B. mit Estado, mit dem es denotativ weitgehend übereinstimmt, nicht mehr austauschbar ist. Obsessiv gebraucht werden auch das Adjektiv nacional und die substantivierte Form nacional{es) (vgl. SCOTTI R O S I N 1 9 8 2 , 1 5 7 ) . Das Adjektiv ist häufig in der Bezeichnung rechter und faschistischer Programme, Parteien und Institutionen (z.B. „Accion Nacional", „Bloque Nacional") und wird einerseits den despektiv konnotierten Adjektiven partidistal clasista sowie andererseits internacional gegenübergestellt ( G A R C I A SANTOS 1 9 8 0 , 4 5 4 ) . Weitaus stärker affektiv aufgeladen als nacion sind darüber hinaus patria/la Patria und Espana, die häufig personifiziert (z.B. in der Rede Jose Antonios in „amamos a Espana") gebraucht werden. Patria und patriota werden von den Rechten so strapaziert, daß sie die Linken als un topico ablehnen (ζ. B. „aturdenos los oidos repitiendo topicos", „se saca el disco patriotico"). Die weitaus höchste Okkurenz weist aber Espana auf. Es ist häufig in rechten Losungen anzutreffen wie „Votad a Espana" bei den Wahlen von 1936, „ijGil Robles, la esperanza de Espana!!", dem gegen die Republik gerichteten „jViva Espana!", in der Losung der Falange „Espana jUna! Espana jGrande! Espana ;Libre! jArriba Espana!" oder in „Espana, una; Espana, justa; Espana. Imperio" der „Juventudes de Accion Popular". Für die Falange sind damit verbunden: „contrarrevolucion, orden, patriotismo, cristianismo, civilizacion, unidad, libertad..." Zur Stigmatisierung des Gegners werden dessen Konzepte als Oppositionen zu den eigenen mit Hilfe von Präfixbildungen mit anti- bezeichnet. Die Gegensatzpaare nacional/partidista, clasista-, Espana/Republica und patriotas/ enemigos de Espana werden häufig als nacional/antinacional, Espana/ anti-Espana, espanollanti-espanol oder patria/antipatria realisiert (ebd., 454, 518, 544). Handlungen zur Dezentralisierung werden oft
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durch Präfigierungen mit des-ldis- wiedergegeben: desnacionalizar, -izacion, -izador, desespaholizar usw. Im zweiten Wortfeld weist das Lexem unidad eindeutig die höchste Frequenz auf, wenngleich es auch durch uno wie in „Espana, Una" ersetzt werden kann. Dabei meint unidad nicht nur die staatlichadministrative Einheit, sondern auch die Aufhebung des Klassenkampfes bzw. aller sozialen Gegensätze im Sinne einer „Klassenharmonie" und ist somit mit dem Wortfeld von armonia verbunden (vgl. SCOTTI ROSIN 1 9 8 2 , 1 9 5 ) . D i e z u n e h m e n d e O r i e n t i e r u n g d e r F a l a n g e
auf ein abstraktes, totalitäres und imperiales Einheitsdenken drückt sich im Aufkommen der Wendung unidad de destino und ihrer ab 1935 stark steigenden Frequenz aus. Für das Handeln der Linken wird von den Rechten und der Falange das Lexem „separatismo" aufgenommen. Es kann durch ähnliche Bildungen auf -ismo wie „particularismo", „apartismo" (bei J. ORTEGA Υ GASSET), „estatutismo", „balcanismo", „secesionismo" ersetzt werden. Der Prozeß der Dezentralisierung wird abwertend mit Präfixbildungen mit des-ldis- (z.B. „descomposicion", „desmembracion", „disociacion", „disgregacagion") gekennzeichnet; in den entsprechenden Syntagmen dominieren diese und Handlungsverben mit der Bedeutung „einen Teil aus dem Ganzen lösen", „ein Ganzes auflösen". 53 Neben den sprachpolitischen Aspekten, die aus dem Umgang mit der „Nationalsprache" ableitbar sind, bieten metasprachliche Äußerungen aus der Diskussion um die Anerkennung der Nationalitätensprachen wertvolle Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der Sprachpolitik der Falange. Als am 27. 4. 1931 die Zeitschrift „Hoja oficial de lunes" in „Füll oficial de dilluns" umbenannt und von da an katalanisch ediert wurde, publizierte das Madrider „ABC" einen Artikel unter der Überschrift „Cortesias inaceptables" (28. 4.), der die Katalanisierung der Zeitschrift ablehnte und mit den vorgebrachten Begründungen Argumente aus der Sprachdiskussion vor den Cortes im Juni/Juli 1932 sowie der Sprachpolitik der Franquisten vorwegnahm. 54 In einem ersten Argumentationsstrang wird die Benutzung 53
Z . B . „amputar al pais", „desespanolizar a Espana", „atentado a la unidad nacional", „desintegracion de Espafia", „disolucion de Espana", „divorciar a las provincias catalanes", „escindir la sacrosanta unidad de la Patria", „fractura de la unidad nacional", „desmembracion de E s p a n a " , „desmembrar la unidad y soberania nacionales", „balcanizacion de E s p a n a " , „balcanizar Espana" usw. (GARCIA SANTOS
54
Der Autor, Victor PRADERA, vertrat den konservativen, katholischen Flügel der Rechten im Sinne der „Comunion Tradicionalista", war u. a. Radakteur der „Accion
1980, 506).
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des Katalanischen als unannehmbar („inaceptable") bezeichnet, weil sie die sprachliche Einheit Spaniens zerstöre, dem Kastilischen in Katalonien den Status einer lengua expulsada bzw. idioma extrano zuschreibe und damit den politisch-administrativen Zusammenhalt des Staates auflöse. Ein zweiter Argumentationsstrang untermauert die Ablehnung des Katalanischen als widersinnig („anticatalan") und begründet das damit, daß die Legitimität des Katalanischen in Katalonien eine Verdrehung der katalanischen Geschichte und erst zu beweisen und das Kastilische die eigentliche Sprache Kataloniens sei. Diese in wissenschaftliche Objektivität eingekleidete Argumentation macht erst Sinn, wenn der Text nicht nur in seiner Oberflächenstruktur als Aufforderung an die Katalanen gelesen wird, den Nachweis für die Katalanität des Katalanischen zu erbringen („Si puede probarlo apresurese a hacerlo"), sondern — wie von „El Mati" (29. 4.) aufgenommen — im Rahmen der damaligen politischen Situation und unter Berücksichtigung des soziolinguistischen Status' des Katalanischen als maniobra anticatalana verstanden wird. Unter Ausnutzung der politisch instabilen Lage und der Neuartigkeit des demokratischen Lösungsversuchs der nationalen Frage kann der Autor die Aufforderung an die republikanische Regierung formulieren, diese und ähnliche sprachpolitische Maßnahmen zurückzunehmen, wobei er den Verfechtern der Dezentralisierung (für die als Symbol F. Maria steht) die Schädigung der Republik und Unlauterkeit des Anspruchs („perfidias", „renegar [...] la historia", „espiritu contumazmente anticatalan", „desquiciado ambicioso") unterstellt. Die Funktion des Textes besteht darin, die Festigung des noch instabilen Gebrauchs des Katalanischen in der offiziellen und öffentlichen Kommunikation sowie die Aufwertung seines noch prekären Prestiges zu unterlaufen, indem für die Gegner seine Posteriorität („muchisimo despues se hablo Catalan") gegenüber dem Kastilischen und damit Illegitimität postuliert und für die Verbündeten und die potentiellen Verbündeten die Superiorität des Spanischen und seiner Rolle als „Nationalsprache" bestätigt wird. Damit wurde die Sprache-Dialekt-Diskussion des 19. Jahrhunderts wiederaufgenommen und dem Katalanischen der Status eines Dialekts zugeschrieben. Weitere für die Sprachdiskussion typische Argumente lassen sich aus den Dokumenten zu den Cortesdebatten vom 16. 6., 23. 6. und Espanola" und wurde 1937 mit dem Buch „El Estado Nuevo" bekannt, in dem er dem traditionalistisch-autoritären Standpunkt innerhalb der F.E.T. y de las J.O.N.S. A u s d r u c k g a b (SCOTTI R O S I N 1 9 8 2 , 5 3 ) .
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27. 7. 1932 zu den Artikeln 2 (Kooffizialität des Katalanischen) und 7 (Organisation des Bildungswesens) des von einer Parlamentskommission erarbeiteten Entwurfs zum katalanischen Autonomiestatut herausfiltern. Sowohl Rechte als auch Linke brachten dazu mehrere Abänderungsanträge ein und begründeten diese in den Diskussionen. Für die Rechten, darunter die „Derecha Liberal Republicana" unter N. Alcala Zamora, der „Partido Republicano Radical" unter A. Lerroux und die „Accion Popular" mit J . M . Gil Robles an der Spitze, drehte es sich im wesentlichen darum, den bereits gemäßigten Artikel 2, der nicht mehr die Offizialität des Katalanischen wie das „Estatut de Nuria" 5 5 vorsah, sondern die Kooffizialität 56 , weiter zuungunsten des Katalanischen abzuschwächen und die Verbindlichkeiten für den Gebrauch des Spanischen zu erhöhen. Cooficialidad oder votar la cooficialidad wird von ihnen identifiziert mit: —
Zerstörung der Einheit der „spanischen Nation", was zugleich die Behauptung impliziert, daß die Katalanen keine Nation seien, z.B. „establecer un abismo espiritual [...] entre Cataluna y el resto de Espana" (Rovo Villanova; FERRER I GIRONES 1986, 157); „el mayor peligro, el que mas puede comprometer la unidad nacional" (Martin y Martin; ebd., 159); „es lo mäs ajeno y lo mas lejano al espiritu universal de Espana" (Garcia Valdecasas; ebd., 164); — Zerstörung der Einheit der Arbeiterklasse und Ablenkung von ihrer historischen Mission, ein Argument, das die Rechten der Argumentation anarchistischer bzw. ultralinker Kreise entlehnt haben, z.B. „(mutilara) (al obrero Catalan) para la lucha social y rompera su solidaridad con los obreros de otras partes" (Royo Villanova; ebd., 157); — Attentat auf den Status des Spanischen, d. h. Mißachtung seiner „Superiorität", durch den Aufbau eines „Konkurrenzverhältnisses" zwischen beiden Sprachen, das auf die Verdrängung des Spanischen zielt — ein Argument, das besonders für die in der „Agrupacion al Servicio de la Repüblica" zusammengeschlossenen Intellektuellen (u. a. M. de Unamuno, J. Ortega y Gasset) — auch bei der Diskussion von Artikel 7 — von erstrangiger Bedeutung war und 55
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Artikel 5 des Projekts legt u. a. fest: „ L a llengua c a t a l a n a sera oficial a C a t a l u n y a , pero en les relacions a m b el Govern de la Republica sera oficial la llengua c a s t e l l a n a " (CUCURULL 1 9 7 5 / 5 , 175). Das von den Cortes gebilligte Autonomiestatut sagte zur Sprachfrage aus (Artikel 2 ) : „L'idioma catala es, c o m el castella, llengua oficial a C a t a l u n y a . Per a les relacions oficials de Catalunya a m b la resta d'Espanya, aixi c o m per a la c o m u n i c a c i o de les autoritats de l'Estat a m b les de Catalunya, la llengua oficial sera el castella" (CUCURULL 1 9 7 5 / 5 , 3 4 5 ) .
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letztendlich der Stützung des erstgenannten Arguments diente, ζ. B. „pero el castellano tiene un rango muy superior al Catalan, por su extension y porque es el idioma constitucional, el de todos los e s p a n o l e s " (Rey M o r a ; FERRER I GIRONES 1 9 8 6 , 1 6 2 ) .
Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Einführung des Katalanischen in das Bildungswesen benutzte M . de Unamuno u. a. eine ähnliche Argumentation wie der Autor des Artikels im „ABC". Unamuno zufolge ist das Geschrei um die unterdrückten Nationalitäten Unsinn (vgl. FERRER I GIRONES 1986,172) und eine Verfälschung der Geschichte, weil Kastilien nie Zwang ausgeübt habe. Die spanische Sprache sei von den Katalanen freiwillig wegen ihrer Nützlichkeit angenommen worden („libremente, por estimar que le conviene"; „por conveniencia"; ebd., 163; „lo han aceptado voluntariamente y cordialmente, de buena voluntad"; ebd., 172), weshalb auf dieses Bedürfnis Rücksicht genommen werden müsse.
5.2.2.2. Die „Einheit Spaniens" und die „Einheit der Sprache" im Diskurs der Falange ( 1 9 3 6 - 1 9 3 9 ) Nach dem Militärputsch vom 18. 7. 1936, der Besetzung eines Teils des spanischen Territoriums durch die Putschisten und besonders mit der von Franco im April 1937 dekretierten Vereinigung der Falange zur F.E.T. y de las J.O.N.S. bzw. ihrer Einsetzung als einziger „gesetzlicher" Partei unterlag die Sprachpolitik der Falange deutlichen Veränderungen. Ein wesentliches Kennzeichen ist in erster Linie die Uniformierung der politischen Kommunikation im Sinne der Durchsetzung eines einheitlichen Diskurses einer einzigen politischen Gruppierung und des Ausschlusses anderer Gruppen, Parteien usw. aus den öffentlichen Kommunikationssphären. Der Zugriff der Falange auf die sprachlich-kommunikativen Verhältnisse erfolgte im franquistischen Teil nun nicht mehr in Form der Etablierung eines politischen Diskurses von vielen und in Dissens zu den Machthabenden, sondern als Diskurs der Macht, der ausgehend von der Nutzung der entsprechenden Institutionen, Apparate usw. die Funktion hatte, diese Macht in allen Bereichen der Gesellschaft zu festigen und zu sichern. Beim Übergang von der Parteipresse zur Institutionalisierung im gesamten Bereich der Massenkommunikation wurden Diskursstrategien modifiziert (z.B. stärkerer Anspruch, für alle Spanier, das ganze Volk zu sprechen) und entsprechende Kontrollinstanzen geschaffen {Direction General de Propaganda, Ministerio de Orden Publico, Zensur). Trotz der Ausschaltung gegnerischer Stimmen im eigenen Lager blieb der
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Diskurs der Republikaner bis zu ihrer Niederlage und Vernichtung als Bezugsgröße für den faschistischen Diskurs schon deshalb relevant, weil eine absolute Abschottung vom anderen Lager nicht möglich war (z.B. Radiosendungen, Flugblätter) und das Feindbild aufgrund von veränderten Frontlagen und verbreiteten Informationen ständig neu aufgebaut werden mußte. Angesichts der deutlichen Teilung der spanischen Gesellschaft in den revolutionären und den konterrevolutionären Block als zwei feindliche Lager erlangte auch das Thema der „nationalen Einheit" eine neue Dimension. Der Vertiefung der bürgerlich-demokratischen Revolution und ihrer Überleitung zu einer Revolution volksdemokratischen Typs (KOSSOK 1 9 8 1 , 2 6 1 ) auf der republikanischen Seite, die u. a. die Agrar- und nationale Frage demokratisch zu lösen versuchte und damit einschneidende Umwälzungen einleitete, stellte der Franquismus die Einheit aller Spanier in einem neuen Staat („Estado Nuevo", „Nueva Espana") entgegen, der unter Rückbesinnung auf die Prinzipien der Ordnung, Hierarchie und Klassenharmonie das ganze Volk vertreten sollte. Bei der sprachlichen Inszenierung dieser Ideologie unterliegen ζ. B. nach 1936 Wortfelder wie derecha, izquierda, lucha de clases der Tabuisierung (SCOTTI R O S I N 1 9 8 2 , 1 9 3 ) , während die Frequenz solcher Lexeme wie armonia, jerarquia, autoridad, totalitario, unidad, Nacion/nacional, Imperio/imperial, Espanal espanol (weiter) steigt, und sie eine dominierende Stellung im Diskurs der Franquisten erhalten. Gekoppelt daran ist die Evozierung bzw. Vereinnahmung geschichtlicher Größe für das eigene Tun und die Orientierung auf katholisch-nationale Werte, wie bei der Bezeichnung des Krieges als Cruzada, Reconquista oder guerra santa. Stereotypisierung und antithetische Darstellung der Ziele und Wertvorstellungen, deren Folge eine weitere bipolare Aufspaltung der Lexik ist, nehmen weiter zu. Das Denkschema „unidad nacional'7/„marxismo" wird noch stärker vereinfacht zu „los buenos espafioles//los malos espanoles". So bezeichnete Franco in einer Rede am 27. 8. 1938 den Bürgerkrieg als „coronacion de un proceso historico", als „lucha de la patria contra la antipatria, de la unidad contra la secesion, de la moral contra el crimen, del espiritu contra el materialismo", der „principios puros y eternos" gegen die „bastardos y antiespafioles" ( B E N E T 1 9 7 3 , 9 7 ) . In zunehmendem Maße werden parallele syntaktische Strukturen genutzt, um die Wertvorstellungen beim Rezipienten zu festigen. Zur Stabilisierung des Feindbildes dienen Schimpfwörter mit lautmalerischem Charakter (ζ. B. bastardos, bestia, barbarie, chacales, chusma-, SCOTTI R O S I N 1 9 8 2 , 2 0 2 ) . Eine weitere Simplifizierung bei der Darstellung des Feindes äußert sich in der Lancierung und
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Etablierung von los rojos als Bezeichnung für alle Andersdenkenden, von den Kommunisten, Sozialisten über die Republikaner der Mitte bis hin zu den Anarchisten und Nationalisten. Eines der Schlagwörter bei der Diffamierung der Regionalbewegungen wird los rojos-separatistas, das entsprechend z.B. zu los judeo-catalanes modifiziert werden kann. Von den zur Darstellung der eigenen Ziele bereits vor 1936 entstandenen Losungen werden folgende in den offiziellen Diskurs integriert; wenige neue traten hinzu: jArriba Espana! / jViva Espana! Espana: jUna, Grande y Libre! Por Dios, por Espana y la Revolucion Nacionalsindicalista. jUnidad, totalidad, autoridad! jFranco, Franco, Franco! Durch ihren rituellen Gebrauch als Redeeinleitung oder -abschluß unterliegt ihr imperativischer und Konsens signalisierender Charakter der zunehmenden Fossilisierung und Sinnentleerung. Prononcierter als vor 1936 wird das Thema der „Einheit Spaniens" auch als Thema der „Einheit der Sprache" reflektiert, was sich u. a. in weiteren Losungen nachvollziehen läßt: |Una patria, una lengua, una espada! ildioma uno en la Espana una! Franco zufolge sollte die Einheit Spaniens „absolut" sein, d. h. auch in sprachlich-ethnischer Hinsicht: „con una sola lengua, el castellano, y con una sola personalidad, la espafiola" (1938). Da die nichtspanischsprachige Bevölkerung aber an der jeweiligen Muttersprache festhielt, mußten zur Durchsetzung der sprachlichen Einheit Kontrollmechanismen und -instanzen etabliert werden, als die zunächst nur Falange-Mitglieder und -anhänger fungierten, indem sie — Berichten zufolge — folgendermaßen zum Sprachwechsel aufforderten: Si eres espanol, habla espanol. Si eres espanol, habla en espanol. Si sabes hablar, habla en espanol. iHablad castellano! iHablen ustedes en cristiano! (BENET 1973, 148 ff.) Ab März/April 1937 eröffneten verschiedene franquistische Periodika in Burgos, Sevilla, Valladolid und San Sebastian eine Kampagne zur „Einheit der Sprache". Als erste publizierte die falanguistische Zeitung „Unidad" in San Sebastian, einem Gebiet also, in dem sich die Franquisten direkt mit Baskischsprechern und durch die Flüchtlingsproblematik auch mit Katalanischsprechern konfrontiert sahen, eine Artikelserie (19. 3. —18. 5.). Überschriften wie „Espana, de habla espa-
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nola" (19. 3.), „jHablad castellano!" (15. 4.) oder „Si eres espanol, habla en espanol" (18. 5.) erhellen schlaglichtartig ihren Inhalt und den Imperativischen Charakter der Texte. Entsprechend den Empfehlungen des Ministerio de Orden Publico folgten weitere Zeitungen und Zeitschriften mit Artikeln, von denen drei aus „ABC" (Sevilla, 13. 5. 1937), „Domingo" (San Sebastian, 19. 9. 1937) und „El Diario Vasco" (San Sebastian, 22. 12. 1937) auf gemeinsame sprachpolitische Implikationen 57 hin befragt werden sollen. 58 Die thematische Strukturierung der Texte weist diese als dem Diskurs der Franquisten zugehörig aus; Elemente der faschistischen Ideologie (z.B. der Einheitsgedanke) werden über thematische Einheiten wie die oben analysierten transportiert. Für sie wird der positive Wert („gut") beansprucht, was neben der Nutzung stereotyper Lexik auch über appreziative Epithetierung („guerra santa" 1/12, „los buenos espanoles" 11/13, „sangre generosa" III/5), Metaphorik oder Vergleiche („una llama viva de unidad" 1/9) erzielt wird. Antithetisch dazu werden die politischen Gegner und ihr Verhalten als „schlecht" charakterisiert (z.B. „esa mala costumbre" 11/12, „aquellas funestas, viejas y malas costumbres" III/6 —7), was durch die Nutzung weiterer Stilmittel wie Vergleiche und Parallelismen — als den wichtigsten und sehr häufigen (vgl. 1 / 1 5 - 2 0 , 1 / 2 6 - 3 0 , 1 1 / 1 1 - 1 2 und 1 4 - 1 7 Periphrasen (z.B. „se baile una sardana" 1/37; 1/41 — 42, 11/10), despektive Konnotierung über die Präfixe anti-, in- („indelicado e impertinente" 1/44, „anti-espanolas" 11/24), das Diminutivsuffix -ito („dialectitos" II/8, 19) und die „demostrativos intermedios y lejanos" (ζ. B. „ese saludo" 11/17, „aquellas funestas [...] costumbres" III/6) im Text verfestigt wird. Direkte Invektiven wie in Text II („tribu cobarde y abyecta" 22) gehören ebenfalls dazu. Die Argumentation der drei Texte — so unterschiedlich sie im einzelnen aufgebaut sein mag — ist darauf gerichtet, die sprachliche Einheit Spaniens (z.B. „unidad en el habla nacional" 1/2) als unab-
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Bei der Analyse w u r d e n a c h den von MAAS ( 1 9 8 4 ) und ERFURT/MÜLLER
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vorgeschlagenen Schritten vorgegangen, wobei diese hier verkürzt wiedergegeben werden. Text I ist von L. de Galinsoga, dem Direktor des „ABC" (Sevilla), verfaßt, der 1939 Direktor der „Vanguardia" (Barcelona) wurde und deren katalanophobe Linie bis zu seiner Absetzung (1959) bestimmte. Text II ist nicht gezeichnet, wahrscheinlich vom Chefredakteur des „Domingo", L. Antonio de Vega, der am 28. 11. unter dem Titel „Claro Romance. Idioma, Dialecto, Jerga" einen gegen das Katalanische und Baskische gerichteten Artikel dort veröffentlichte. Der Autor von Text III konnte nicht identifiziert werden; wahrscheinlich gehörte er der Propagandaabteilung der Falange an.
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dingbare Voraussetzung für die Schaffung des „Neuen Staates" und den Gebrauch des Spanischen als patriotischen Akt (z.B. „materia sencilla y al alcance del que se considere verdaderamente patriota" I I I / 1 7 - 1 8 ) darzustellen. Die Mißachtung der sprachlichen Uniformität - zugleich als Zeichen fortschrittlicher Gesinnung gewertet — gilt folglich als antispanisch und antipatriotisch, also feindlich. Aufgebaut ist diese Argumentation auf der im Alltagsdenken durch die zentralistische Sprachpolitik verfestigte Anschauung, daß sich Zugehörigkeit zu einem Staat bzw. Nationalgefühl in der Benutzung einer einheitlichen Sprache, der „Nationalsprache", ausdrücke („cosa tan sustantiva del alma nacional como el verbo" 1/29 — 30 oder 1 / 2 4 - 2 5 ) und daß in Spanien dem Kastilischen diese Funktion zukomme („el habla genuina espanol" 1/42 usw.). Der Stützung dieser Sprachpolitik dient auch die bewußte Nutzung der Synonymie in der Sprachbezeichnung (castellano —espanol). In Fortsetzung des antithetischen Aufbaus der politischen Argumentation wird auch die sprachpolitische als Antithese formuliert: Da einzig dem Spanischen die Funktion der „Nationalsprache" zugebilligt wird, müssen alle anderen nichtkastilischen Idiome seinem Sprachsystem untergeordnet sein. In den Texten werden sie als dialectos (1/17, II/ 12), jerga (1/40), dialectitos (II/8, 19) bezeichnet und mit negativ wertenden Vergleichen belegt (ζ. B. „verrugas que le salen al idioma" II/8 —9). Die Autoren der Texte sprechen ihnen jegliche Existenzberechtigung in der offiziellen und öffentlichen Kommunikation (z.B. 1 / 1 5 - 1 8 , II/20, 111/13) ab und bestehen auf Maßnahmen zu ihrer Verdrängung und zur Durchsetzung des Spanischen (1/23 — 25, 47 — 49, I I / 2 - 7 , H I / 1 9 - 2 1 ) . Der absolute Gültigkeitsanspruch dieser Argumentation wird über den Imperativischen Charakter der Texte formuliert. Auffallend ist der fast durchgehende Gebrauch des Präsens und von Modalkonstruktionen des Müssens (tener que + Infinitiv, haber de + Infinitiv, hay que + Infinitiv, deber + Infinitiv; „es un imperativo" 1/37, „venimos obligados [...] a" III/5, „nuestra primera obligacion" III/ΙΟ usw.). In Text II und III werden zusätzlich Imperativsätze gebraucht (11/20, HI/19 ff.). Neben Gemeinsamkeiten auf der thematischen Ebene gibt es auch eine Reihe auf der interaktionalen. Als dominierende Beziehung wird die des Konsens aller Spanier im Kampf für die Einheit, den „Neuen Staat" usw. vorgegeben, worauf das in den Texten beherrschende kollektive nosotros hinweist. Wenngleich es am stärksten in Text III präsent ist und sich der damit ausgedrückte Totalitätsanspruch auch in den Possessiva reflektiert („nuestros heroes" 5, „nuestro ... Caudillo" 8, usw.), wird diese Beziehung dennoch auch in den anderen
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Texten hergestellt. U. a. übernimmt das unpersönliche reflexive Passiv diese Funktion; beide sind miteinander austauschbar: „cuando se unifican (unificamos) asi" (1/26), „no por eso se les va (los vamos) a fusilar" (11/15-16), „(la) Nueva Espana que se esta (estamos) forjando" (III/4-) usw. Zur sprachlichen Inszenierung des Totalitätsanspruchs dienen weiterhin die Indefinitadjektive bzw. -pronomen todo („todos sabemos" 1/19, „a todos los espanoles nos unifica" 1/20), cada („cada espanol" 1/14), ninguno („a ningün espanol se le ocurre" 1/ 15), nadie („nadie discute el derecho" 1/9), metakommunikative Wendungen wie „es evidente" (1/3), „esta claro que" (1/15, 11/11), „en efecto" (1/34) und Appellformen. Ausgegrenzt aus der vorgegebenen Gemeinschaft aller Spanier werden die Anderssprechenden („gentes a quienes parece grato desdefiar el habla genuina espanola" 1 / 4 1 - 4 2 , 1/49, H / l l - 1 3 ) , die mit den Andersdenkenden, den Feinden, gleichgesetzt werden („marxistas [...] separatistas [...] anti-espafiolas" 1 1 / 2 2 - 2 4 , „cerrar el puno" 11/20). Neben den Personenbezeichnungen dienen dazu auch die Demonstrativa ese, aquel. Betrachtet man nun auch die metasprachlichen Äußerungen näher, so erscheinen die Texte als Ausdruck der Tatsache, daß die Falange trotz ihrer Anstrengungen bei bestimmten Sprechergruppen auf Widerstand gegen ihre Sprachpolitik stieß. In den Texten I (13. 5.) und II (19. 9.) werden von den bisher ergriffenen Maßnahmen erwähnt: a) Aufforderungen mündlicher Art („exhortaciones cordiales" 1/3 — 4) und b) schriftliche Hinweise („un letrero" II/2 —6), die wie Text II aussagt, ζ. B. an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich im Baskenland und in Flüchtlingsunterkünften angebracht wurden (vgl. B E N E T 1973, 153). Die Texte deuten also an, daß diese Maßnahmen nicht oder nur teilweise „griffen". Sie fordern deshalb zur Durchsetzung der bisherigen Formen in allen Bereichen (ζ. Β. 111/20 - 21; Text II vorangegangen war am 15. 8.: „el letrero [...] podia colocarse en todas las ciudades de la Espana liberada" V/12 —13) und zur Anwendung effektiverer auf. Als Vorschläge für letztere werden die Festlegung des Gebrauchs des Spanischen per Dekret („habrä que imponerlo por decreto" 1/25) und von Bestrafungen bei Verstößen („corregir impertinencias y educar a los indelicados" 1/48 — 49; 11/16—17) angeführt. Gegenüber Anderssprechenden wird somit eine Drohung ausgesprochen; für die Verbündeten wird die Notwendigkeit der sprachpolitischen Forderungen und Maßnahmen legitimiert sowie zu entsprechendem Handeln aufgefordert (Überwachen, Denunziation). In diesem Sinn muß Text III, dessen Argumentation ohne Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontextes nicht stimmig ist, als Zeichen der Erfol-
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glosigkeit der bis dahin unternommenen Schritte und als Zuspitzung der Auseinandersetzungen um die Sprachfrage interpretiert werden: Gegen Ende des Jahres 1937 häufen sich Berichte über Erhebung von Strafgeldern, Arretierungen und Verfolgungen von Baskisch- und Katalanischsprechern (vgl. BENET 1973, 165 ff.). Wahrscheinlich ist hier die Zäsur zu setzen, an der die Franquisten damit beginnen, ihre Sprachpolitik durch den Rückgriff auf für alle bindende Gesetze und mittels Gewalt durchzusetzen, wobei sie bei den Verbündeten und potentiellen Verbündeten dafür auf den selbst vorbereiteten Konsens stießen. Am 21. 5. 1938 erteilte das Ministerio de Organization y Accion Sindical das Verbot, in den von ihm abhängigen Organen und im Schriftverkehr eine andere Sprache als das Kastilische zu gebrauchen (BENET 1973, 268 f.). Wenige Tage zuvor, am 18.5., hatte der Justizminister die Eintragung nichtkastilischer Namen in das Personenstandsregister als „agresiones contra (la unidad de la Patria y) la unidad de su Idioma" (FERRER I GIRONES 1986, 179) bezeichnet und untersagt.
5.2.2.3. Der „Kreuzzug gegen den roten Separatismus" (1939—1940) Während des Vormarsches der Franquisten und der Eroberung weiterer republikanischer Gebiete schlug sich die Politik der „sprachlichen Einheit" in zunehmendem Maße in Form von Gesetzen nieder. Nach der Einnahme der Stadt Lleida hatte Franco am 5. 4. 1938 das katalanische Autonomiestatut außer Kraft gesetzt. Der Okkupation Barcelonas, die mit dem Ruf „jViva la Cataluna Espanola!" am 27. 1. 1938, also im „III Ano Triunfal" oder „Ano de la Victoria", von den faschistischen Kräften gefeiert wurde, folgte bis zum 1. 8. 1939 ein „spezielles Besatzungsregime" (BENET 1973, 194ff.). Der „Jefe de los Servicios de Ocupacion" (E. Alvarez Arenas) versicherte all diejenigen Katalanen der Respektierung ihrer individuellen Freiheiten, „die keine separatistischen Neigungen hegten noch Anschläge auf die allerheiligste Einheit unternähmen" ( F E R R E R I GIRONES 1986, 180), und fügte hinzu: „Estad seguros, catalanes, de que vuestro lenguaje en el uso privado y familiar no sera perseguido" („La Vanguardia Espanola", 21. 8. 1939). Die Politik der Verdrängung des Katalanischen aus der Öffentlichkeit erlangte mit dem Dekret vom 16. 2. 1939 über die Aufhebung der Kooffizialität Gesetzeskraft. Die gesamte katalanische Presse wurde verboten. Öffentliche und private katalanische Bibliotheken wurden vernichtet (ζ. B. die von P. Fabra) oder geschlossen; Buchbestände eingestampft. Die katalanische Ra-
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diostation „Radio Associacio de Catalunya" sendete als „Radio National de Barcelona" spanisch. Institutionen, Plätze, Straßen, Ortschaften usw. wurden umbenannt (oder mit kastilisierten Namen versehen), so die „Plafa de Catalunya" in „Plaza del Ejercito Espanol", der „Palau de la Musica Catalana" in „Palacio de la Musica", die „Avda. Corts Catalanes" in „J. A. Primo de Rivera" oder „Vilanova i la Geltru" in „Villanueva y Geltru" (BENET 1973, 247 f., 371 ff.). Am 31. 3. veröffentlichte „El Correo Catalan" die Verfügung, daß alle Beschriftungen usw. in Industrie und Handel binnen drei Monaten kastilisiert werden müssen (ebd., 270). Am 1. 4. wurde über ganz Spanien die Zensur über den inneren Postverkehr verhängt, die bis zum 6. 1. 1940 gültig blieb. Für die nichtkastilische Bevölkerung bedeutete das, daß sie nicht einmal mehr im privaten Schriftverkehr ihre Muttersprache gebrauchen konnte. Unter dem am 10.7. eingesetzten Zivilgouverneur Barcelonas (W. Gonzalez Oliveros) begann man, die Beamten- und Lehrerschaft zu „säubern" und durch Falange-Mitglieder oder Ex-Kombattanten, deren espanolismo bewiesen war, zu ersetzen (BENET 1973, 295; 333). Das am 28. 7. 1940 vom Zivilgouverneur verfaßte Rundschreiben sah drastische Maßnahmen (fristlose Entlassung) für die Beamten vor, die sich nicht des Spanischen bedienten (FERRER I GIRONES 1986, 186 ff.). Aus der Universität Barcelona wurde eine große Anzahl katalanischer Professoren entlassen (die Autonome Universität war sofort nach der Besetzung aufgelöst worden); Fächer wie katalanische Sprache, Geschichte oder katalanisches Recht wurden abgeschafft (BENET 1973, 340). An die Stelle des aufgelösten „Institut d'Estudis Catalans" trat das „Instituto Espanol de Estudios Mediterräneos", der „Biblioteca de Catalunya" die „Biblioteca Central". Die Sprachpolitik, die mittels Zerstörung der Sprachkodifikation der Nationalitätensprachen, des Verbots ihres öffentlichen Gebrauchs und der Unterdrückung des Geschichts- und Traditionsbewußtseins auf die völlige Substitution durch die Staatssprache zielte (vgl. K R E M NITZ 1979, 17f.), war in zunehmendem Maße mit einem xenophoben Purismus verbunden. Wie der Auszug aus einem Katechismus (Text IV) zeigt, richtete sich die Xenophobie besonders gegen das Französische und Englische, gegen die Sprachen der „Erzfeinde". Im Dezember 1939 rief der Zivilgouverneur von Girona (P. Coli) dazu auf, sich nur „reiner Wörter" („palabras castizas") als Ausdruck des „sentimiento nacional y espanolista" zu bedienen, und reagierte damit auf einen Vorschlag der Akademie: „la propuesta cogida con expresivo beneplacito por la Real Academia Espanola de desterrar de los rotulos de hoteles, cafes, bares, y demäs establecimientos publicos los extran-
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jerismos innecesarios" (vgl. F E R R E R I GIRONES 1986, 184). Am 16. 5. 1940 wurde von der Regierung eine Verordnung erlassen, die den Gebrauch von vocablos genericos extranjeros auf Schildern, in Katalogen, Bekanntmachungen, Anzeigen u. ä. verbot (BENET 1973, 380 f.). Neben der zunehmenden Xenophobie differenzierten sich auch die Formen und Methoden der Minorisierung der Nationalitätensprachen, wie ebenfalls Text IV bestätigt. Das Baskische — in der KLOSSschen Terminologie eine „Abstandsprache" zum Spanischen — konnte aufgrund der deutlichen Unterschiede nicht ohne Verlust der Glaubwürdigkeit als Dialekt des Kastilischen dargestellt werden, weshalb ihm ζ. B. der Status einer Sprache (12) zuerkannt wird, sein begrenzter Gebrauch und mangelnder Ausbau jedoch zum Anlaß genommen werden, es auf die Funktionen eines Dialekts zu reduzieren (13 — 14). In den meisten Texten (vgl. B E N E T 1973) wird es deshalb als jerga oder jerigonza, d. h. als Jargon oder Slang, bezeichnet. Das Katalanische und Galegische, deren Verwandtschaft mit dem Kastilischen offensichtlich ist, erscheinen fast immer mit der Bezeichnung dialecto (IV/15— 17), wobei das stark ausgeprägte Sprach- und Nationalbewußtsein der Katalanen zusätzlich durch die Zersplitterung der Sprache in Dialekte (IV/17) gebrochen werden sollte (vgl. KREMNITZ 1979, 18). Ein erster Aufriß falanguistischer und franquistischer Sprachpolitik läßt feststellen: a) Die Sprachpolitik der Falange konstituierte sich nicht losgelöst von sprachpolitischen Prämissen und Zielen anderer politischer Kräfte bzw. Gruppierungen, sondern setzte bestimmte „Traditionslinien" innerhalb des rechten, konservativen Blocks sowohl hinsichtlich des politischen Sprachgebrauchs (ζ. B. der Generation von 1898 — M. de Unamuno, R. de Maeztu — oder von J. Ortega y Gasset, E. Gimenez Caballero, wozu jedoch detaillierte Untersuchungen ausstehen), als auch hinsichtlich des kastilisch-spanischen Zentralismus gegenüber den Nationalitätensprachen Spaniens und wahrscheinlich — das wäre weiterer Untersuchungen wert — des imperialen Kolonialismus gegenüber den spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas fort. b) Mit der Aufnahme des Themas der „nationalen Einheit", mit dem keinesfalls das Hauptziel der faschistischen Bewegung benannt war, hatte diese einen empfindlichen Nerv innerhalb tradierter Denkschemata breiter Bevölkerungskreise (potentieller Verbündeter) getroffen, und eine Stelle, an der ihr Denken mit dem der Rechten und Konservativen — aber nicht nur dieser (man beachte auch das wenig untersuchte ultralinke) — zusammentraf. Das Aufrücken des Themas
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in eine zentrale Position (um 1934/35) drückt, ohne seine Wichtigkeit für die Realisierung des imperialen Anspruchs in Abrede stellen und seine Effizienz überschätzen zu wollen, seine Wirksamkeit für die Selbstdarstellung und zur Erzielung eines breiten Konsens im Rahmen der Pluralität politischer Diskurse während der Zweiten Republik aus. c) Da die Falange selbst das Thema lancierte und manipulierte, war ihr die Vereinnahmung von im Alltagsdenken als „positiv" verankerten oder akzeptierbaren Werten und Wertvorstellungen für das eigene Handeln und die Übertragung der negativen auf die Feinde möglich. Mit Hilfe der der meist antithetischen Inszenierung zugrundeliegenden einfachen, mechanistischen Denkschemata und Schlüsse konnte ein Feindbild aufgebaut werden, das die Durchsetzung der eigenen Ziele und Interessen als objektive Notwendigkeit erscheinen ließ und den Imperativischen Charakter ihres Sprachgebrauchs sowie den Anspruch, für alle Spanier zu sprechen, rechtfertigte bzw. glaubhaft machte. d) Die benutzten sprachlichen Mittel, von denen lediglich einige lexikalisch-semantische Berücksichtigung fanden, sind äußerst vielfältig und reichen von der Belegung bestimmter Wortfelder, dem Gebrauchs von Stereotypen und stehenden Wendungen, Parallelismen, Losungen usw. zur Inszenierung des eigenen Handelns bis hin zur Benutzung von despektiv aktualisierten Präfixen und Suffixen sowie Schimpfwörtern für die Feinde. Die zum Teil beträchtliche Übereinstimmung mit den sprachlichen Mitteln, die im Diskurs anderer Diktaturen benutzt werden (vgl. 2.1.3. und 2.2.2.), machen auf methodische Probleme aufmerksam: Einerseits scheinen die Analyseansätze bzw. die darauf beruhenden Verallgemeinerungen noch zu grobmaschig zu sein; andererseits wird damit deutlich, daß die Inventarisierung der sprachlichen Mittel an und für sich eine Sprachpolitik nicht charakterisiert und sie stets auf ihre Funktionen bezogen werden müssen; und zum dritten bietet sich auch die Aussicht, die Sprachpolitik bzw. Diskursregelung verschiedener Diktaturen auf ihre Gemeinsamkeiten hin zu befragen. e) Neben den diskursregelnden Aspekten der Aufnahme des T h e mas hatte der sich darin ausdrückende Kastilozentrismus insbesondere Auswirkungen auf das Verhältnis der faschistischen Kräfte zu den Nationalitätensprachen. Die „nationale Einheit" wurde als sprachliche Einheit unter der „Nationalsprache" verstanden und mit Hilfe von Argumenten begründet, die die Superiorität des Spanischen nachweisen und die Benutzung der „Nationalsprache" als patriotischen Akt und Ausdruck antirepublikanischer Gesinnung darstellen sollten. In Anlehnung an die Sprachdiskussion des 19. Jahrhunderts wurden die
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Nationalitätensprachen als Dialekte oder Patois bezeichnet, und es wurde ihnen ihre Existenzberechtigung in der öffentlichen Kommunikation abgesprochen. Angesichts der Erfolglosigkeit, das Sprachverhalten durch „Überzeugung" zu uniformieren, ergriffen die Franquisten um 1938 repressive Maßnahmen. f) Die Auswertung der aus dem oben dargelegten Herangehen gewonnenen Daten erlaubt folgende Hypothese zur Periodisierung franquistischer Sprachpolitik (und Politik?): — Anfang der dreißiger Jahre bis Anfang 1934: erste Artikulation faschistischer Gruppen im Rahmen der Pluralität politischer Diskurse nach dem Sturz der Diktatur Primo de Riveras, Aufnahme des Themas und erste Eingriffe in die Sprachdiskussion; — Februar 1934 bis Ende 1935: Exposition des Themas im Programm der F. E. y de las J.O.N.S. und Insistieren darauf zur Erlangung eines breiten Konsens, Ausformung der Inszenierungsweise und Festschreibung der Position gegenüber den Nationalitäten und ihren Sprachen; — 1936 bis Anfang 1937: die Absetzung dieser Periode kann nur ungenügend durch Daten aus der Sprachpolitik der Falange gestützt werden, ist jedoch anzunehmen (steigender Einfluß nach dem Wahlsieg der Volksfront im Februar 1936, Übergang zur offenen Konfrontation mit der Republik, Umbruch in den Führungsgremien nach dem Militärputsch); zur Charakterisierung dieser Phase und zur möglichen Differenzierung zwischen der Sprachpolitik der Falange und des Franquismus müßten ζ. B. Analysen von Texten aus Zeitschriften wie der 1931 von R. de Maeztu, J. Pemartin u. a. gegründeten „Accion Espanola", von deren Redakteuren (u. a. J . Calvo Sotelo, V. Pradera) nach 1937 nur wenige die Arbeit fortsetzten (E. Gimenez Caballero, J . Pemartin z.B.), oder „Arriba" bzw. „Arriba Espana" (seit 1935), die nach 1937 offizielles Organ der F.E.T. y de las J.O.N.S. wurde, herangezogen werden; — April 1937 bis Anfang 1938: Uniformierung des politischen Diskurses, Schaffung der entsprechenden Kontrollmechanismen usw. und massives Vortragen des Anspruchs auf sprachliche Einheit; — Anfang 1938 bis Ende 1940: Übergang zur Durchsetzung der sprachpolitischen Forderungen mit Hilfe von Repressionen, Entstehen der Sprachgesetzgebung, die besonders auf die Minorisierung der Nationalitätensprachen gerichtet war, stärkere Artikulation des xenophoben Purismus, wobei auch hier noch Textanalysen fehlen und das Jahr 1940/41 willkürlich als Zäsur gesetzt wurde. Außer einigen wenigen Arbeiten liegen für den Zeitraum
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nach 1940/45 keine weiteren Untersuchungen vor, so daß eine Rundumeinschätzung der Sprache des Franquismus und seiner Sprachpolitik weiterhin aussteht. Im Unterschied zum Stand der Erforschung der Sprache des deutschen und italienischen Faschismus sind grundlegende Arbeiten für Spanien noch zu leisten 5 9 . Ein Ansatz, der Sprachpolitik in ihrer Komplexität (Verhältnis zum Spanischen, zu den Nationalitätensprachen, Dialekten, Fremdsprachen und nationalen Varietäten) erfaßt, scheint dafür unverzichtbar.
Anhang (zu Kap. 5.2.2.2. und 5.2.2.3.) Text I LOS H O M B R E S Y LOS DIAS UNIDAD EN EL HABLA NACIONAL Aus: ABC (Sevilla), 13. 5. 1937, p. 7 (Josep Benet, Catalunya sota el regim franquista, Paris 1973, 155 f.) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
LOS H O M B R E S Y LOS DIAS UNIDAD EN EL HABLA NACIONAL Es evidente la necesidad de insistir en el tema enojoso. Las exhortaciones cordiales han sido hasta ahora voces en el desierto; voces espanolas a las que se opone el eco, redoblado de impertinencia, de un lenguaje, todo lo familiar y todo lo licito y aun todo lo hispanico que se quiera; pero de un lenguaje absolutamente descentrado e inoportuno en estos dias en que Espana tiene que ser hasta en sus mäs superficiales manifestaciones una llama viva de unidad. Nadie discute el derecho de nadie a hablar en la formula vernäcula ο familiar que le plazca. jCuantos derechos hay, sin embargo, que han de quedar en suspenso durante la guerra! Y durante esta guerra santa de la unidad de Espana, uno de los derechos que deben quedar suspensos es el de hablar cada espanol de manera que no le entiendan los demäs. Claro esta que a ningun espanol se le ocurre, en un hotel, en un casino, en una tienda ο en cafe de San Sebastian, de Salamanca, de La Coruna, ο de Sevilla, valerse de los dialectos propios para pedir el almuerzo ο comprarse una corbata; en tales casos, indefectiblemente, todos sabemos hablar el mejor castellano que es la lengua que a todos los espanoles nos unifica. Pues esta unification no puede 59
Wie mir nach 1989 bekannt wurde, liegen viele Untersuchungen in Form von unveröffentlichten Dissertationen vor.
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quedarse limitada, en materia de lenguaje, a una orbita puramente utilitaria, sino que ha de trascender a todas las ocasiones de expresion que se presenten. Y, si no se hace de buen grado, con espontaneidad que relevaria, mejor que cintas y emblemas en la solapa, la calidad espanola y espanolista mas pura, habra que imponerlo por decreto. Cuando se unifican asi — aun contando con la previa y gustosa unanimidad de los unificados — Milicias y partidos, y sus uniformes y sus signos externos, ipor que habra de excluirse de la unidad absoluta que Espafia necesita cosa tan sustantiva del alma nacional como el verbo? El ambiente espanol esta pidiendo, en verdad, esta unificacion de lenguaje. El Estado nuevo — ha dicho certeramente Peman — sera tan fuerte que no tendra nada que temer de que se baile una sardana. Asi sera, en efecto, cuando el Estado nuevo haya sido erigido sobre la base inconmovible de la victoria historica que ya se entreve. Mientras tanto, la unificacion de los espanoles no admite condiciones ni reservas. Es un imperativo para acelerar aquella victoria. Y lo primero que exige la unificacion es que nos entendamos unos a otros los espanoles, aun en los instantes mas subalternos de la convivencia nacional. No nos alarma dialecto mas ο jerga menos: ni la unidad de la Espana que forjo el verbo castellano peligra porque haya gentes a quienes parece grato desdefiar el habla genuina espanola. No, no. No es eso. Es otra cuestion. Es una cuestion de buen gusto y de elegancia espiritual. Es que resulta indelicado e impertinente eludir sistematicamente en publico el habla de la unidad espanola, cuando los que la aluden viven acogidos a la grandeza y al prestigio y a la eficacia triunfante de esta unidad. Y tambien el Esado nuevo tiene, entre las varias tareas que le incumben, la de corregir impertinencias y educar a los indelicados ...
Text II LOS ESPANOLES QUE HABLEN ESPANOL Aus: Domingo (San Sebastian), 19. 9. 1937, p. 3 (Josep Benet, Catalunya sota el regim franquista, Paris 1973, 149 f.) 1 2 3 4
LOS ESPANOLES QUE HABLEN ESPANOL En la sala de espera del hotel de inmigrados de Fuenterrabia han colocado un letrero parecido al de la Aduana de Irun, pero todavia mas expresivo y contundente.
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En el se advierte a los espafioles de la obligacion en que se encuentran de hablar espanol. Sana y noble advertencia. Con los dialectitos, que al fin y al cabo son como verrugas que le salen al idioma, se habia estado haciendo un juego demasiado peligroso para que en la Espana Nacional puedan ser oidos con simpatia. Claro que algunos de los refugiados llegaran con la costumbre de hablar su dialecto. Es de esa mala costumbre de la que quisieramos ver limpios a los buenos espafioles. Tambien algunos de los que se entregan a nuestras tropas lo hacen cerrando el puno inconscientemente. Claro que no por eso se les va a fusilar. Lo que se hace es ensefiarles que a ningun espanol le esta permitido ese saludo. En fin de cuentas es lo que se aconseja en el cartel de Hotel de Fuenterrabia en relation a los dialectitos. Ni cerrar el puno ni hablar otro idioma que no sea el espanol. Una cosa y otra nos han costado bastante sangre para que no las pongamos juntas, como juntos iban los marxistas con la tribu cobarde y abyecta de los separatistas vascos, y como van, todavia en Cataluna ambas tendencias anti-espanolas.
Text III NOTA DE LA DELEGACION PROVINCIAL DE PROPAGANDA DE FALANGE ESPANOLA TRADICIONALISTA Y DE LAS J.O.N.S. Aus: El Diario Vasco (San Sebastian), 22. 12. 1937, p. 8 (Josep Benet, Catalunya sota el regim franquista, Paris 1973, 164 f.) 1 NOTA DE LA DELEGACION PROVINCIAL DE PROPAGANDA 2 DE FALANGE ESPANOLA TRADICIONALISTA Y DE LAS 3 J.O.N.S. 4 En los momentos actuales de la Nueva Espana que se esta forjando 5 a costa de la sangre generosa de nuestros heroes y martires, venimos 6 obligados la retaguardia a desprendernos de aquellas funestas, viejas 7 y malas costumbres y adoptar otras nuevas con arreglo al Estado 8 Nacionalsindicalista a que nos lleva entre triunfos nuestro invicto 9 Caudillo. 10 Para hacernos dignos de la Patria, nuestra primera obligacion es 11 educarnos en esta Nueva Espana que se crea y ser ante todo y sobre 12 todo patriotas.
406 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
Repressive Sprachpolitik
Debemos, pues, enaltecer por todos los ambitos, no solo de nuestro suelo, sino del orbe, nuestros usos, nuestras costumbres netamente espanolas, y principalmente propagar la belleza de nuestro magnifico idioma castellano. Esto es para todo buen espanol materia sencilla y al alcance del que se considere verdaderamente patriota. Si eres espanol, habla espanol. Si eres espanol, tu deber como tal es hacer que todos los espanoles lo hablen. Por Dios, por Espana y la Revolution Nacionalsindicalista. Saludo a Franco. iArriba Espana!
Text IV M E N E N D E Z - R E I G A D A , Catecismo Patriotico Espanol, 3a edicion, Salamanca 1939, pp. 11 — 12 (Josep Benet, Catalunya sota el regim franquista, Paris 1973, 339) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
- iCual es la tierra de Espana? - La tierra de Espana es la mayor parte de la Peninsula iberica, colocada providencialmente por Dios en el centro del mundo. (...) — iPor que decis que la lengua castellana sera la lengua de la civilizacion del futuro? — La lengua castellana sera la lengua de la civilizacion del futuro porque el ingles y el frances, que con ella pudieran compartir esta funcion, son lenguas tan gastadas, que van camino de una disolucion completa. — iSe habla en Espana otras lenguas mas que la lengua castellana? - Puede decirse que en Espana se habla solo la lengua castellana, pues parte de esta tan solo se habla el vascuence que, como lengua unica, solo se emplea en algunos caserios vascos y quedo reducido a funciones de dialecto por su probreza lingüistica y filologica. - ;Y cuales son los dialectos principales que se hablan en Espana? — Los dialectos principales que se hablan en Espana son cuatro: el Catalan, el valenciano, el mallorquin y el gallego.
Sprachpolitik des Faschismus
407
Text V EN LA ADUANA DE IRÜN Aus: Domingo (San Sebastian), 15. 8. 1937, p. 1 (Josep Benet, Catalunya sota el regim franquista, Paris 1973, 149) ι 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
EN LA ADUANA DE IRÜN En la aduana de Irun se ha colocado un letrero que vamos a reproducir aqui: Dice sencillamente esto: "Espafiol, habla Espanol". Perfectamente. Nos parece muy oportuno el consejo. Todas las monsergas de sanos regionalismos pueden degenerar en actos tan criminales como los cometidos por los separatistas vascos y catalanes. Y degeneran casi siempre. Espanol, habla en espanol. Que a los demas espanoles aunque a veces por cortesia lo disimulemos, no nos hace la mas minima gracia oir hablar en dialecto. El letrero de la Aduana de Irün podia colocarse en todas las ciudades de la Espana liberada. Con que no se hable un dialecto cualquiera no se pierde absolutamente nada. Con que no se hable espanol se pierde mucho. Por lo menos en el concepto de los espanoles que lo escuchan.
6.
Demokratische Alternativen in der Gegenwart
6.1. Spanien Eine sowohl vom theoretischen Ansatz als auch von den Konsequenzen für die Sprachpraxis her interessante Alternative einer demokratischen Sprachpolitik für Minderheiten-, Nationalitäten- oder Nationalsprachen, die keine Staatssprache sind, bietet der Prozeß der sprachlichen Normalisierung (katalan. „normalitzacio lingüistica"), der im Rahmen der verschiedenen Autonomien Spaniens (span, „comunidades autonomas") mit Nationalitäten- („lenguas de las nacionalidades historicas") oder Nationalsprachen in Katalonien (Principat; Autonomiestatut seit 1979) und den beiden anderen katalanischsprachigen Gebieten, dem Land Valencia und den Balearen (seit 1983 autonom), im Baskenland (seit 1979) und in Galicien (seit 1981) nach dem Ende der Franco-Diktatur (1939—1975) eingeleitet wurde. Das in den sechziger und siebziger Jahren von der katalanischen Soziolinguistik (vgl. K R E M N I T Z 1979, 11, 23 ff.) entwickelte Konzept ist als Zielgröße in die „Gesetze zur sprachlichen Normalisierung" (z.B. 1982 Baskenland, 1983 Katalonien und Galicien) eingegangen und bestimmt grundlegend die Aktivitäten der für Sprachpolitik zuständigen Institutionen bei den autonomen Regierungen (bspw. der 1980 gebildeten Direccio General de Politica Lingüistica beim Departament de Cultura der Generalitat de Catalunya oder der 1982 gegründeten
Direction Xeral de Politica Lingüistica bei der Consellerta de Education e Cultura der Xunta de Galicia) sowie die Bemühungen zur Normierung des Katalanischen, Baskischen und Galegischen.
6.1.1. Das Konzept der sprachlichen Normalisierung in der katalanischen Soziolinguistik Ausgehend von der Analyse der sprachlichen, sozio-kulturellen und sprachpolitischen Situation, die in den katalanischen Ländern zu
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Spanien
Beginn der sechziger Jahre durch die repressiven Maßnahmen des Franquismus (vgl. 5.2.2.) entstanden war, und der Notwendigkeit, für eine mögliche demokratische Neuordnung des spanischen Staates konzeptionelle Vorstellungen auch auf diesem Gebiet zu entwickeln, wurde in der katalanischen Soziolinguistik 1 u . a . der Begriff der sprachlichen Normalisierung 2 geprägt. Die damit verbundene T h e o riebildung erfolgte parallel oder wenig später zu der der nordamerikanischen Soziolinguistik und ist ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit solchen Konzepten wie Sprachplanung („language planning"), Standardisierung („standardization"), Sprachverschiebung („language shift"), Sprachwechsel („code-switching") und dem zur Untersuchung von Situationen des Sprachkontakts von Ferguson (1959) eingeführten Begriff der Diglossie („diglossia") und seiner Kombination mit Bilinguismus („bilingualism") durch J . A. Fishman (1975, 95 ff.). Diese oft statisch-technizistisch und aus der Sicht der dominierenden bzw. etablierten Sprache gefaßten Begriffe, ihr mechanischer Schematismus, der ζ. B. Aracil die Frage nach der Existenz zweier Soziolinguistiken aufwerfen ließ — einer, die von einer relativ normalen Situation einer National-, Staats- und eventuell internationalen Sprache mit vereinzelten soziolinguistisch relevanten Randproblemen (ζ. B. Immigranten) ausgeht, und einer, die in einer anomalen Situation, in der die Grundprobleme, d. h. das Sprachproblem überhaupt, nicht gelöst sind und in der dem Soziolinguisten eine unvergleichlich höhere Verantwortung übertragen ist, ihre Theorie entwickelt (1983, 67 — 74) — erwiesen sich als untauglich für die Erklärung und Konzipierung der Veränderung der Sprachsituation in den katalanischen Ländern. Als Gegenentwurf besonders zur Standardisierung umfaßt die sprachliche Normalisierung den Übergang von einer von den Sprechern der dominierten Sprache (s. Diglossie) als anomal empfundenen oder beurteilten Sprachsituation zu einer normalen und impliziert ein sprachpolitisches Programm zur Emanzipation einer Minderheiten- oder Nationalitätensprache im Hinblick auf die Entfaltung aller ihrer Funktionen in der entsprechenden Sprachgemeinschaft. Bereits der Herkunft nach dem politischen Wortschatz entnommen, ist der Begriff im System einer Sozialwissenschaft, die sich wie die katalanische für die sprach-
1
Zur Entstehung und Entwicklung der katalanischen Soziolinguistik vgl. KREMNITZ
2
Das Wort, das aus dem politischen Sprachgebrauch stammt, ist so neu nicht; bereits FABRA hatte es 1929 benutzt. Er sprach von „normalitzacio dela gramatica" im Sinne der Normierung oder Kodifizierung der Grammatik (1980, 1 7 7 — 1 7 9 ; vgl.
1979, 1 1 - 4 3 ;
1982,
VALLVERDU 1 9 8 0 ,
13-28.
75).
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Demokratische Alternativen in der Gegenwart
politischen Belange der Gesellschaft engagiert (vgl. A R A C I L 1 9 8 2 , 7 4 ff.; K R E M N I T Z 1 9 7 9 , 1 7 ; „Estatuts" 1 9 8 2 , 1 3 9 ) , keinesfalls wissenschaftlich neutral, sondern als Lösungsversuch des Diglossieproblems zu verstehen. LI. V. Aracil, der sich seit Beginn der sechziger Jahre mit der valencianischen Sprachsituation — sie ist gekennzeichnet durch die Kastilisierung der oberen Klassen und Schichten und die zunehmende Assimilierung in absteigender Richtung 3 — beschäftigte, entlarvte diese in „Conflit linguistique et normalisation linguistique dans l'Europe nouvelle" (1965), „Bilingualism as a M y t h " (1966) und „A Valencian Dilemma" (1966) als einen verdeckten Konflikt, in dem beständig zwei Sprachen aufeinander stoßen und die eine die andere verdrängt (1979, 81), und die verbreitete Ideologie des zweisprachigen Valencia als einen Mythos, mit dem im Interesse kastilozentristischer Kreise der Konflikt neutralisiert werden soll (ebd., 8 2 - 8 6 ) . Selbsthaß und Idealisierung, besonders bei den Sprechern, die das Katalanische zugunsten des Kastilischen aufgegeben haben (1982, 53), sind Kehrseiten ein und derselben Erscheinung (ebd., 48). Eine Befragung der Geschichte der europäischen Sprachen führte Aracil dazu, der Substitution als einer Möglichkeit der Lösung eines Sprachkonflikts die „sprachliche Normalisierung" gegenüberzustellen und sie als historische Entwicklungsetappe in der Herausbildung von Nationalsprachen bzw. der jeweiligen Wiederanpassung der Funktionen einer Sprache an die veränderten Kommunikationsbedürfnisse (1976, 9; 1982, 31) zu entwerfen. Seiner Meinung nach kann das Normalisierungsvorhaben nur erfolgreich sein, wenn es gleichzeitig auf der sprachlichkulturellen Ebene (die der Entwicklung der soziokulturellen Funktionen der Sprache) und auf der (für ihn entscheidenden) soziopolitischen (die der Neuordnung der Sprachfunktionen der Gesellschaft) geführt wird (1976, 11; 1982, 33), wobei er unter letzteren Funktionen dem Sprachbewußtsein („language consciousness") und der Sprachkontrolle („language control") 4 fundamentale Bedeutung zumißt (1976, 7; 1982,
3
4
26).
Die sprachbewahrende Rolle der Volksmassen wurde durch die Generalisierung des Bildungswesens und der Kommunikation in den Massenmedien in diesem Jahrhundert völlig aufgehoben. Auch die soziale Mobilität wirkt auf die Kastilisierung hin (vgl. NINYOLES 1 9 7 9 a , 95f.). Was ARACIL unter Sprachkontrolle versteht, wird hier nicht deutlich. Ninyoles gibt als Beispiele dafür das Wirken der Französischen Akademie und des Institut d'Estudis Catalans an und weist auf ihre puristische, konservierende Rolle hin (1971, 68).
Spanien
411
Die von Aracil geprägten Termini baute R. Li. Ninyoles 1969 in „Conflicte lingüistic Valencia" und 1971 in „Idioma i prejudici" weiter aus, wobei er insbesondere den dynamischen Charakter des Sprachkonflikts hervorhob und letzteren als Prozeß der Kastilisierung Valencias in verschiedenen Etappen 5 entwarf sowie seine Hintergründe als einen sozialen und politischen Widerspruch zwischen den herrschenden Schichten und den Volksmassen untersuchte (1979a, 87 — 101). Dabei wies er den Bilinguismus, den er deutlich gegen den Massenbilinguismus6 abgrenzte, in einem Sprachkonflikt 7 als Durchgangsstadium zwischen der Substitution und der sprachlichen Normalisierung, als eine Verschiebung in die Richtung der Substitution aus (1979 b, 116ff.). Die kulturell-sprachliche Normalisierung beinhaltet bei Ninyoles einerseits, „einer Sprache Normen zu geben, sie zu regulieren, kodifizieren und standardisieren und eine supradialektale Varietät festzuschreiben", und andererseits, „einer Kultur ihre ,normale' Funktionsweise (wieder) zu verleihen, sie anderen Kulturen gleichzustellen" (1971, 61). Sie setzt bei einer diskriminierten Sprachgemeinschaft das Bewußtsein voraus, daß es bis zur Erreichung dieses soziokulturellen Ideals oder sprachlichen Ziels einen Prozeß der demokratischen Umgestaltung zu durchlaufen gilt, bzw. den Willen, diesen zu bewältigen (ebd., 7 5 - 7 7 ) . Die doppelte Ausrichtung der Normalisierung ist von anderen Linguisten übernommen worden, so in „El fet linguistic com a fet social"
5
Er unterscheidet bei der Kastilisierung des Landes Valencia drei Etappen: a) die horizontale und selektive Kastilisierung (16. Jahrhundert); b) die spontane Kastilisierung in absteigender Richtung (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und erste Hälfte des 20. Jahrhunderts); c) die zwangsweise Verbreitung des Kastilischen (zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts); (vgl. NINYOLES 1 9 7 9 a , 87 ff.).
6
„Massenbilinguismus" oder integrativer Bilinguismus (VALLVERDU 1973, 38; 1979 a, 45) ist durch die „Vervielfachung der Kommunikation und die Entwicklung der modernen Kommunikationsmittel" notwendig; er ist „auf eine instrumentelle M o tivation der zweiten Sprache zurückzuführen" (NINYOLES 1979, 117). Der hier verwendete Begriff ist dem von MARCELLESI ähnlich (1986).
7
In der 1972 erschienenen spanischen Ausgabe „Idioma y poder social" faßt NINYOLES den Sprachkonflikt als „un caso especifico de conflicto social en que las diferencias idiomäticas pueden convertirse en simbolo fundamental de o p o s i c i o n " (1972, 20). Das Konzept verengend, definierte der katalanische Kulturkongreß: „Ein Sprachkonflikt liegt dann vor, wenn zwei deutlich voneinander verschiedene Sprachen sich gegenüberstehen, wobei die eine politisch dominiert (im administrativen und öffentlichen Gebrauch) und die andere politisch unterworfen ist. Die Formen der Dominanz sind unterschiedlich: von den eindeutig repressiven (wie sie der Spanische Staat unter dem Franquismus praktizierte) zu den politisch toleranten, deren repressive Kraft vor allem ideologischer Natur ist (wie die im Französischen und Italienischen Staat praktizierten)" (vgl. KREMNITZ 1979, 4 2 ) .
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Demokratische Alternativen in der Gegenwart
u. a. Schriften von F. Vallverdu, der die Termini soziale Extension oder Erweiterung der Anwendungsbereiche („extensio social de la llengua") und sprachliche Normierung („normativitzacio lingüistica"; 1973, 138; 1979, 89) einführte. 1979 unterteilte Aracil die Normierung 8 nochmals in zwei Grundtendenzen, die Kodifizierung („fixacio d'una varietat comuna ο general i supra-dialectal"), die die sprachliche Diversität reduziert und vereinheitlicht, und die stilistische Differenzierung („cultivacio"; vgl. NEUSTUPNY 1968), die die sprachliche Diversität durch Erweiterung und Bereicherung der Sprachkultur vermehrt (ARACIL 1982, 185 —186): „La fixacio afecta sobretot l'ortografia, la morfologia, el lexic basic i la sintaxi fonamentel. La cultivacio, per contra, enriqueix i refina els lexics especials i la sintaxi mes complexa" (ebd., 186). Obwohl die Termini durch den Rückgriff auf verschiedene Modelle ( z . B . G A R V I N / M A T H I O T 1 9 6 8 , G R E G O R Y / C A R O L L 1 9 7 8 , HAUGEN 1 9 8 3 )
in den letzten Jahren umstritten sind, ist festzustellen, daß im allgemeinen das Ergebnis der Normierung i. e. S. oder der Kodifizierung als normative („llengua normativa") oder kodifizierte Sprache („llengua codificada"; vgl. LAMUELA 1984, 7 0 - 7 1 ; POLANCO I ROIG 1984, 108 ff.) und das der Normalisierung als Standard- („llengua estandard") oder gemeinsame bzw. Gemeinsprache („llengua comuna"), die eine vereinigende Funktion für die Dialekte besitzt (vgl. A R A C I L 1982, 203), bezeichnet wird. Dabei bildet die normative Sprache nur einen kleinen Teil der Standardsprache (vgl. L O P E Z DEL CASTILLO 1976, 34; PUIG ι M O R E N O 1979, 6 4 - 6 5 ) : „l'expresio ο la definicio mes sintetica i estructurada" (POLANCO 1984, 109). Die Entwicklung beider Begriffe hängt mit dem Ziel zusammen, ein demokratisches Normkonzept 9 zu schaffen, das, um der spezifischen Situation der katalanischen Länder (z.B. starke dialektale Gliederung) Rechnung zu tragen, dialektale und soziale Normen/Standards einschließt (vgl.
8
Die Verwendung der Bezeichnung Ausbau, die KLOSS mit der Unterscheidung von Ausbau- und Abstandsprachen vorschlägt (1952, 16ff.), scheint als Synonym für die sprachliche Normalisierung nicht sinnvoll: zum einen wegen der Gegenüberstellung von „gezielter Sprachpolitik" und „ungelenktem Sprachwandel" (1976, 301 f.), zum anderen wegen der in der modernen Kommunikation auch für Abstandsprachen bestehenden Notwendigkeit der Zusammenführung von sozialer Anerkennung/Extension und Normierung. Er kann lediglich synonymisch zur stilistischen Differenzierung gebraucht werden.
9
Für die normative Sprache schlagen katalanische Soziolinguisten die Erarbeitung einer polyzentrischen, koordinierten und konvergierenden Norm vor (vgl. POLANCO 1984, 138 ff.). Damit nähern sie sich an den von MARCELLESI vorgeschlagenen Begriff der „polynomischen Sprachen" an (vgl. 1985, 25).
413
Spanien
Die Schwierigkeit bei der Kodifizierung besteht — und das weisen die Diskussionen zur normativen Sprache aus (vgl. „Problematica de la normativa" 1984) — darin, den normativen Bezugsrahmen so zu setzen, daß er trotz der notwendigen Verengung elastisch genug ist für die Widerspiegelung bzw. Aufhebung der Formenvielfalt des Standards und der darin integrierten, nicht hierarchisch geordneten Substandards. Für das Konzept der sprachlichen Normalisierung gilt es, folgendes festzuhalten: a) Mit der sprachlichen Normalisierung wurde auf der Grundlage einer wissenschaftlichen (soziolinguistischen) Analyse der Sprachsituation einer Minderheitensprache bzw. von diskriminierten Sprachen eine Sprachpolitik entworfen, die im Rahmen der Demokratisierung der politischen Verhältnisse (in Spanien) der Substitution dieser Sprachein) durch die Staats- und Nationalsprache entgegenwirken soll und ihre Emanzipation verlangt. Sie schließt folglich das soziale (politische) Engagement für die Belange dieser Sprachgemeinschaft(en) ein und muß in einer vom Beobachterstandpunkt herangehenden wissenschaftlichen Untersuchung entsprechend umsichtig gehandhabt werden. b) Soziolinguistische Theoriebildung mit Hilfe von Begriffen wie sprachliche Normalisierung und Sprachkonflikt thematisiert Kommunikation und Kommunikationssysteme als Gegenstand von Politik und stellt einen Versuch dar, die soziopolitischen, soziokulturellen und ideologischen Mechanismen, die Funktionsweise von Sprachpolitik zu erkennen und zu erforschen. Sie bildet damit einen Zugang zu einer Theorie von Sprachpolitik. c) Die Konzepte des Sprachkonflikts und der sprachlichen Normalisierung — verstanden auf dem Hintergrund eines politischen und/ oder sozialen Widerspruchs zwischen sozialen Klassen, Schichten oder Gruppen bzw. eines gesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses — haben einerseits Sprachpolitik als wesentliche Dimension von Kulturpolitik und Politik überhaupt ausgewiesen und andererseits zur Hinterfragung des Verhältnisses von Sprache und Politik in der Soziolinguistik und zur Gegenstandsbestimmung von Sprachpolitik beigetragen. d) Am Prozeß der sprachlichen Normalisierung, der vor der katalanischen Soziolinguistik als ein historischer Prozeß der Veränderung der Gebrauchsnormen im Sinne der sozialen Aufwertung der Sprache konzipiert wurde (vgl. VALLVERDU 1 9 7 9 b, 139ff.), kann die Entstehung und Ausbreitung sprachlicher Normen exemplarisch auf der Ebene der Texte und der Einzelsprache, aber auch auf der von SCHLIE-
PUIG Ι M O R E N O
1979, 63).
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Demokratische Alternativen in der Gegenwart
BEN-LANGE ins Blickfeld gerückten Ebene des Sprechens (1987 a, 172 ff.) untersucht werden, geht es doch gerade bei der Einführung einer Minderheitensprache in neue Kommunikationssphären um die Überwindung des als defizitär angesehenen, ausschließlich mündlichen Gebrauchs und die „Eroberung" der Schriftlichkeit. Ein Sprachkonflikt ist damit zugleich ein Normenkonflikt im weitesten Sinne. e) Die Normalisierung macht die untrennbare Verbindung von bewußtem und spontanem Sprachwandel sichtbar, indem sie soziale Extension und Normierung, „die Etablierung neuer Gebrauchsnormen und die Begünstigung von Veränderungen der sprachlichen Form im Hinblick auf ihre Anpassung an die neuen Anforderungen" (LAMUELA 1984, 68) als Ziel formuliert. Die Erweiterung der Anwendungsbereiche, die unmittelbarer von politischen Entscheidungen geprägt ist, kann umgekehrt als „Kenngröße" für die Untersuchung der Durchsetzung von sprachlichen Normen dienen; Normierungstendenzen, z . B . bei der Wahl der lexikalischen Modelle (vgl. 6.1.4.), werden damit in Zusammenhang mit den politischen Bestrebungen der sprachlich-hegemonischen Schicht(en) gerückt. f) Das mit der Normalisierung entwickelte demokratische Normenkonzept bildet einen interessanten Ansatz für ein neues Verständnis sprachlicher Normen in der Linguistik (die Annäherung von Istund Soll-Normen, vgl. SCHLIEBEN-LANGE 1987 a). Er wird jedoch konsequenter im Begriff der „polynomischen" Sprachen bei MARCELLESI (1985, 25) fortgeführt.
6.1.2. Die sprachliche Normalisierung in der Sprachgesetzgebung und in der Sprachpraxis Ausgehend von der in der spanischen Verfassung von 1978 fixierten Möglichkeit des offiziellen Gebrauchs des Spanischen und der jeweiligen Nationalitätensprache 1 0 (katalan. „co-oficialitat") sind in verschiedenen autonomen Gemeinschaften seit Beginn der achtziger Jahre Sprachgesetze verabschiedet worden, deren Gegenstand die sprachli10
Die Spanische Verfassung regelt in Artikel 3: 1. „Das Kastilische ist die offizielle spanische Staatssprache. Alle Spanier haben die Pflicht, sie zu kennen und das Recht, sie zu gebrauchen. 2. Die anderen spanischen Sprachen werden in den betreffenden autonomen Gemeinschaften in Übereinstimmung mit deren Statut ebenfalls offiziell sein. 3. Der Reichtum der verschiedenen sprachlichen Ausdrucksformen ist ein kulturelles Erbe, das besondere Achtung und besonderen Schutz genießen wird" (vgl. KREMNITZ
1979,
42).
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che Normalisierung ist. Mit der Verpflichtung des (sprach)politischen Handelns der autonomen Regierung auf dieses Ziel wird dem aus der Analyse der sprachlichen Praxis abgeleiteten Lösungsvorschlag der Wissenschaftler im Rahmen der jeweiligen Macht- und Hegemonieverhältnisse Rechnung getragen und die Neuordnung der Sprachfunktionen in den einzelnen Sprachgemeinschaften in die sprachpolitische und sprachliche Praxis überführt. Ziel und Inhalt der sprachlichen Normalisierung in der Sprachgesetzgebung und einige der sich in der Sprachpraxis bei der Realisierung stellenden Probleme seien hier anhand der „Llei 7/1983, de 18 d'abril, de Normalitzacio Lingüistica a Catalunya" vorgestellt: a) Ein erstes Problem resultiert nach Meinung einiger Soziolinguisten (vgl. KREMNITZ 1979, 26) aus der „co-oficialitat" selbst bzw. aus der ζ. B. vom II. Internationalen Kongreß für katalanische Sprache (1986) als juristisch unzureichend bezeichneten Verankerung der Offizialität des Katalanischen (CILlC „Constatacions" 1.): Während die spanische Verfassung die Pflicht festschreibt, das Spanische zu beherrschen, und das Recht, es zu gebrauchen, legt das Gesetz zur Normalisierung zunächst das Recht fest, das Katalanische, „llengua propia de Catalunya", zu beherrschen und zu gebrauchen, um in der Zukunft zur Gleichstellung der Rechte und Pflichten im Sprachgebrauch zu gelangen. 1 1 Die sprachliche Interaktion ist z . B . in § 2 / 1 ausschließlich senderbezogen umschrieben, womit ein „passiver Bilinguismus" angestrebt wird (vgl. MOLL 1982, 12), der z . B . die Gesprächsgestaltung so erlauben würde, daß ein Gesprächspartner katalanisch und der andere spanisch spricht, ohne einen Sprachwechsel zu veranlassen. In der Sprachpraxis stößt dieses Prinzip auf eine Reihe von Hindernissen, die zum größten Teil auf das „diglossische Sprachbewußtsein" der Katalanischsprecher, das trotz solcher Kampagnen wie der 1980 von der Generaldirektion für Sprachpolitik unter der Losung „El catalä, cosa de tots'" und mit der Symbolfigur der „ N o r m a " 1 2 initiierten das Sprachverhalten beeinflußt, zurückgeführt werden müssen. So gehen Katalanischsprecher häufig zum Gebrauch des Spanischen über, wenn ihr Gesprächspartner nicht katalanisch spricht (vgl. ebd., 9). Die Verzögerung der Normalisierung, heißt es im Abschlußdoku11
Artikel 3/§ 3 des Autonomie-Statuts weist aus: „La Generalitat garantira Pus normal i oficial d'ambdos idiomes, prendra les mesures necessaries per tal d'assegurar llur coneixement i crearä les condicions que permetin d'arribar a llur igualtat plena quant als drets i deures dels ciutadans de Catalunya" (1982).
12
Der „Name" des etwa zehnjährigen Mädchens, das als Symbolfigur in dieser Kampagne die Funktion übernahm, das diglossische Sprachverhalten mit kindlicher Offenheit bloßzustellen, spielt auf Norm/Normalität an.
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ment des II. Internationalen Kongresses für Katalanische Sprache, habe ihre Ursache — neben der Unterminierung durch neue staatliche Gesetze — in der Unentschlossenheit von Institutionen und Bevölkerung bei der Aneignung des Konzepts der „llengua propia" und der Ausübung des Rechts auf die Wahl der Sprache („dret d'eleccio lingüistica"; „Constatacions" 1. a/b). b) Eine Vielzahl von Problemen gibt es auch bei der (Wieder-) Einführung des Katalanischen in die einzelnen Kommunikationsbereiche. In den Artikeln I —III des Gesetzes sind für die Ausdehnung der Anwendungsbereiche folgende Schwerpunkte angegeben, wobei die Katalanisierung weiterer Domänen (staatliche Verwaltung, Handel, Werbung, Kultur, Sport usw.) unterstützt werden soll (Artikel IV, §§24-27): — Katalanisierung der Verwaltung der Generalitat und der von ihr abhängigen Institutionen bei Respektierung der Wahl der Sprache im Verkehr mit der Administration (Artikel I, §§ 5 — 13); — Katalanisierung des Bildungswesens (obligatorische Lehre des Katalanischen und Kastilischen, so daß die Schüler bei Abschluß der Grundschule beide Sprache „normal und korrekt beherrschen") unter Gewährung des Rechts auf Unterricht in der Muttersprache während der Unterstufe (Artikel II, §§ 14 — 20); — Katalanisierung der Massenmedien, Stimulierung seines Gebrauchs im Theater, Film, für die Synchronisation und in Untertiteln sowie in öffentlichen Veranstaltungen; Stützung des katalanischen Buches (Artikel III, § § 2 1 - 2 3 ) . Die Komplexität der hier wirkenden, oft gegenläufigen Tendenzen und Faktoren eröffnet deutlich den Charakter der sprachlichen Normalisierung als Dimension von Kulturpolitik und Politik sowie als konditioniert von den Zwängen einer profitorientierten Gesellschaft. Obwohl die Generalitat der Generaldirektion für Sprachpolitik hohe Summen für ihre Arbeit (1981 z . B . 80 Mill. Peseten für die Kampagne zur Normalisierung; vgl. MOLL 1982, 21) zur Verfügung stellt, liegen viele Bereiche dennoch außerhalb ihrer Möglichkeiten zur Einflußnahme. In besonders starkem M a ß e unterliegt die Durchsetzung des Katalanischen in den Massenmedien, ζ. B. in der Presse und im Kino (vgl. CIL1C „Constatacions" 9.), den Zwängen des Konkurrenzkampfes, wie sich das im Falle der katalanischen Illustrierten „Cronica" (Nr. 1, März 1982) zeigte, die nach wenigen Monaten ihr Erscheinen einstellte. Auch im Bildungswesen überschneiden sich oft gegensätzliche Haltungen (CIL1C „Constatacions" 8.). So wurde auf dem II. Internationalen Kongreß für katalanische Sprache von den Katalanischlehrern für Erwachsenenbildung, einem Bereich, in dem durch
417
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die Entwicklung des Sprachkurses „Digui, digui... 1 3 große Erfolge erzielt wurden, ein Handzettel verteilt, der auf ihre soziale Lage aufmerksam machte; sie verlangten darin Arbeitsverträge (monatliche Auszahlung des Gehalts) und Sozialversicherung. Eine besondere Schwierigkeit bildet die Integration der ständig oder zeitweise in Katalonien arbeitenden Einwanderer aus anderen Teilen Spaniens, die meist isoliert in den Randzonen der Städte leben und sozial weniger anerkannte Arbeiten verrichten (vgl. CANDEL 1 9 7 6 ; M O L L 1 9 8 2 , 8; CAITIN 1 9 8 7 ) , sowie der nichtkatalanischsprachigen Lehrerschaft und Beamten, die an staatlichen Einrichtungen beschäftigt sind und nicht durch das katalanische Bildungswesen erfaßt werden (vgl. CILlC „Constatacions" 3. und 8.c) usw. c) Für die Normalisierung des Katalanischen erweist sich die administrative Zersplitterung des Sprachgebiets deutlich als Nachteil 1 4 . Die hier dargestellte Sprachsituation Kataloniens (Principat) ist weitaus günstiger als die des Landes Valencia oder der Balearen. Den ebenfalls aus dem diglossischen Sprachbewußtsein herrührenden sezessionistischen Tendenzen 15 und Bestrebungen in diesen Gebieten konnte bisher nur durch die Propagierung der Spracheinheit z.B. in den Kampagnen zur Sensibilisierung der Bevölkerung für das Sprachproblem entgegengewirkt werden; so mit dem „Congres de Cultura Catalana" von 1975 bis 1977, der unter den Losungen „Per l'üs oficial del catalä" und „El catala al carrer" für die Offizialisierung der Sprache in den katalanischen Ländern wirkte (vgl. KREMNITZ 1979, 30), sowie dem im gesamten katalanischsprachigen Gebiet durchgeführten „II. Congres Internacional de Llengua Catalana" von 1986. Einen legalen Rahmen gab es jedoch nicht, weshalb letzterer zur Beförderung der Normalisierung die Anerkennung der katalanischen Sprache durch den spanischen Staat verlangte, die Schaffung eines zunächst auf Spanien begrenzten Gremiums zur Koordinierung der Sprachpolitiken der katalanischsprachigen Gebiete vorschlug und den
13
„Digui, d i g u i . . . " ist ein Sprachkurs für Erwachsene nach der Methode „Follow ,
. ^
me...
14
15
et
Eine ähnliche Situation ergibt sich auch für das Baskische, das in Spanien in den autonomen Gemeinschaften des Baskenlandes (Provinzen Guipuzcoa, Biskaya, Alava) und Navarras sowie in den französischen Provinzen Labourd, Basse-Navarre, Soule im Departement Pyrenees-Atlantiques gesprochen wird. Die Tendenzen, die Einheit der katalanischen Sprache unter Berufung auf die Existenz einer valencianischen, mallorquinischen usw. Sprache anzuzweifeln, können ebenfalls auf das diglossische Sprachbewußtsein der Sprecher bzw. die diglossische Ideologie zurückgeführt werden.
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französischen und italienischen Staat zur Unterstützung der Normalisierung in Nord-Katalonien und Alguer (Sardinien) aufforderte (vgl. CILlC „Resolucions" 1., 2., 10., 11.).
6.1.3. Sprachliche Normalisierung als Erweiterung der Anwendungsbereiche: Die Verwaltung Wenn unter Erweiterung der Anwendungsbereiche der Minderheitenoder Nationalitätensprachen in der Hauptsache der politische Aspekt der sprachlichen Normalisierung gefaßt wird, so liegt dem die Beobachtung zugrunde, daß der Ausschluß aus bestimmten Kommunikationssphären bzw. die Beteiligung an Kommunikationssystemen in erster Linie von der Entscheidung der herrschenden politischen Kräfte abhängt. Der Aspekt der „extensio social" trägt der hier sehr deutlich werdenden Erfahrung Rechnung, daß Kommunikation bzw. Kommunikationssysteme auch Gegenstand von Politik sind (ERFURT 1986, 79). Die Regelung der Kommunikation im Sinne der Herrschenden betraf dabei - besonders in vorkapitalistischen Gesellschaften — als einen der ersten den Verwaltungs-, d. h. Machtapparat, die Sphäre des öffentlichen und offiziellen Verkehrs. Die (Wieder-) Einführung der Minderheitensprachen gerade in diesen Bereich widerspiegelt klar die Veränderung der Hegemonieverhältnisse und funktioniert als Symbol für den Grad der Selbständigkeit der jeweiligen Gemeinschaften. Zugleich entstehen mit der Belegung dieses Anwendungsbereiches neue Kommunikationsanforderungen und -bedürfnisse, deren Befriedigung die Umgestaltung der Sprachnormen, ihre Anpassung an die Bedürfnisse notwendig macht, was am Beispiel der Wiedereinführung des Katalanischen in die Administration und der Entwicklung eines eigenen Funktionalstils des öffentlichen Verkehrs und der Verwaltung („llenguatge administratiu") erläutert werden soll. Der gesetzliche Rahmen ist mit der „Llei de Normalitzacio Lingüistica" (besonders Artikel I) abgesteckt, wobei der Exekutivrat der Generalitat in den letzten Jahren weitere Verfügungen erlassen hat, die die Katalanisierung des Verwaltungsapparates befördern sollen; so die „Llei 17/1985, de 23 de juliol, de la Funcio Püblica de l'Administracio de la Generalitat de Catalunya", die die Kenntnis des Katalanischen als Voraussetzung für die Einstellung von Beamten und die Überprüfung des mündlichen und schriftlichen Kenntnisgrads festlegt. Auch die lokalen Verwaltungen haben Maßnahmen ergriffen; ζ. B. wird im „Decret d'aplicacio de la Llei de Normalitzacio Lingüistica a la Diputacio de Barcelona" (5. 10. 1983) verfügt, daß alle
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Schriftstücke, Dokumente, Belege und Mitteilungen, die an Privatpersonen gerichtet sind, katalanisch abgefaßt werden, gleich ob sie auf katalanisch oder spanisch angefordert wurden, und nur dann spanisch, wenn das ausdrücklich vermerkt ist. Die Lösung der damit verbundenen Aufgaben, ihre Koordinierung und Kontrolle obliegt der Abteilung Llengua i administracio des Servici d'Assessorament Lingüistic, das sich bei der Generaldirektion für Sprachpolitik mit Fragen der Korpusplanung ( M O L L 1 9 8 2 , 1 4 ) befaßt. Sie organisiert Kurse für Beamte („Cursos de catalä administratiu") und Kampagnen zur Sensibilisierung der Beamtenschaft. Weiterhin wurde eine „Kommission zur sprachlichen Normalisierung in der Administration der Generalitat" („Decret 3 9 6 / 1 9 8 3 , de 8 de setembre") geschaffen. Die reale Sprachsituation ist in den einzelnen Bereichen sehr unterschiedlich. Am günstigsten gestaltet sich der Normalisierungsprozeß in den autonomen und lokalen Verwaltungen. Für erstere trat bereits 1980 das „Decret 90/1980, de 27 de juny" in Kraft, das das Katalanische zum „vehicle normal d'expressio" deklarierte (vgl. D U A R T E I M O N T S E R R A T 1 9 8 3 , 8 ) . Am kompliziertesten scheint die Durchsetzung der Kooffizialität im staatlichen Justizapparat Kataloniens. Eine Lösung könnte hier ζ. B. darin bestehen, daß Prozeßakten, die an das Oberste Gericht weitergereicht werden, generell kastilisch abgefaßt werden, während für die in der Gemeinschaft verbleibenden eine der beiden Sprachen benutzt werden könnte (vgl. R O D R I G U E Z - A G U I L E R A 1983, 22).
Weitere Maßnahmen tangieren den Bereich der Normalisierung. Die Generaldirektion für Sprachpolitik gibt in Zusammenarbeit mit der Escola d'Administracio Publica de Catalunya seit April 1982 das Informationsbulletin „Llengua i Administracio", das sich u. a. des Sprachgebrauchs in der Verwaltung annimmt, heraus und leitet eine Koordinierungskommission Coordinadora de llenguatge administratiu, in der Linguisten und Vertreter der Institutionen zusammenarbeiten. Darüber hinaus werden Muster für die Anlage von Formularen, Anträgen, Zertifikaten usw. in broschürter Form (ζ. B. „Com catalanitzar la denominacio d'una Societat Anonima" 1984) oder als Supplement zu „Llengua ί Administracio" verbreitet. Zur Umgestaltung des Stils des öffentlichen Verkehrs und der Verwaltung wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Studien, Lehrbücher und Nachschlagewerke verfaßt16. Seit 1983 veröffentlicht „Formulari administratiu aplicat especialment a la Universität" (1979) von BADIA Ι MARGARIT/DUARTE, „Curs de llenguatge administratiu" (1979, erweitert 1980)
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die Escola d'Administracio Publica de Catalunya die Zeitschrift „Revista de Llengua i Dret", in der Linguisten die Normierung des administrativen Stils diskutieren. Zum Thema Sprache und Verwaltung werden Kolloquien und öffentliche Vorlesungen veranstaltet, wie z.B. im Oktober 1983, im Februar 1984 und im März 1985. Ziel der Normierung auf diesem Gebiet ist die Schaffung einer eigenen Sprache bzw. eines eigenen Stils des öffentlichen Verkehrs und der Verwaltung, der auf der Tradition des katalanischen Kanzleistils aufbaut, Tendenzen in anderen Sprachen, aber auch die Gepflogenheiten im spanischen Staat berücksichtigt und im Sinne einer polyzentrischen Norm den regionalen Varietäten Raum gibt. Die Loslösung vom kastilischen Stilmodell und von dessen unterwürfigem Charakter soll zur Demokratisierung und folgendem Stilideal führen: „senzill i concis, respectuos pero no humiliant, correcte pero no afalagador" („L'establiment" 1984, 81). Die vorgeschlagenen Veränderungen betreffen ζ. B. die Eliminierung unterwürfiger Formeln (demana statt suplica), die Gleichstellung der Geschlechter {Conseller/a, Sr/Sra Director ία), Reduzierung von falschen Nominalisierungen (eis efectes de crear nous llocs de treball statt de creacio de) und die Ausmerzung syntaktischer und lexikalischer Kastilianismen ( f o r e s t statt monte) u.v. a.m. Der mündliche Umgang soll zuvorkommend und nicht brüskierend sein; ζ. B. bei der Frage nach dem Anliegen eines Klienten nicht Que vol?, Que Ii passa?, sondern En que puc servir-loQue desitja? oder auch Digui'm, si's plau (vgl. M A R I 1 9 8 3 , 6).
In den anderen autonomen Gemeinschaften mit Nationalitätensprachen sind die gesetzlichen Bestimmungen ähnliche, d. h. die Sprachen werden jeweils als „eigene Sprachen" bezeichnet und ihr normaler und offizieller Gebrauch festgelegt. Im Land Valencia (Pais Valencia, Comunidad Valenciana), dessen Autonomiestatut (§ 7/6) die offizielle Verwendung des Katalanischen im katalanischsprachigen Gebiet vorsieht, und auf den Balearischen Inseln (Illes Balears) sind auch nach der Annahme der Gesetze zur Normalisierung (1983 bzw. 1986) nur wenig Fortschritte in der Einführung des Katalanischen in die Verwaltungen erreicht worden (vgl. P O L A N C O 1 9 8 3 , 4 ; S E G U R A 1983, 6); meist herrscht im administrativen Gebrauch das Spanische von DUARTE, „El catala, llengua de l'administracio" (1980) von DUARTE, „Formulari de documentacio municipal" (1980) von SANCHEZ ISAC, „Diccionari de L'Administracio Municipal" (1980) von BAULIES/XURIGUERA, „Formulari de procediment administratiu" von REBES/SALLAS/DUARTE, „Establiment del llenguatge administratiu" (1984) usw.
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vor. Zur Katalanisch-Ausbildung von Beamten wurde 1982 erstmals ein Kurs für „Llenguatge en la Documentacio Administrativa" von der Deputation Valencias organisiert; 1984 erschien das erste Lehrbuch „Manual de llenguatge administratiu Valencia". 1986 arbeitete der Consell Insular de Mallorca ein „Reglament de Normalitzacio Interna" aus, das festlegt, welche Dokumente obligatorisch auf katalanisch abgefaßt werden sollen (MUNAR 1 9 8 6 , 3 1 - 3 2 ) . Im Baskenland (Euskadi), wo die Zahl der Baskischsprecher 34% nicht übersteigt und nur ein Drittel der Beamten Baskisch lediglich mündlich oder schriftlich beherrscht, sind die Voraussetzungen für die Verwendung der Sprache in der Administration auf der Grundlage des „Grundgesetzes zur Normalisierung des Gebrauchs des Euskera" (§ 6) noch nicht in vollem Umfang gegeben. Die Sektion für Euskaldunisierung am Baskischen Institut zum Studium der Öffentlichen Verwaltung sieht deshalb die Alphabetisierung der Sprecher und Erteilung von Baskischkursen für Kastilischsprecher vor (OREGI GONI 1983, 12). — Auch in Navarra, wo etwa 15 000 Basken leben, zeigten sich trotz der Offizialisierung der Sprache in den baskischsprachigen Gebieten durch das Gesetz zum „Amejoramiento del Fuero" (§ 9, „Ley Organica de 1 0 de agosto de 1 9 8 0 " ) bisher kaum Veränderungen in den Bereichen des öffentlichen Verkehrs (ARZA MUNUZURI 1 9 8 3 , 1 3 ) . Mit der Durchführung von Galegisch-Kursen für Beamte, dem seit 1984 erscheinenden Bulletin „Lingua e Administracion", der Durchführung von „Xornadas de Lingua e Administracion" (z.B. im Juni 1984) und der Gründung der Vereinigung der Beamten für die sprachliche Normalisierung in Galicien ist Galicien (Galicia) am weitesten dem katalanischen Konzept gefolgt. Allerdings stellen sich hier u. a. durch ungelöste Fragen in der Normierung weitaus größere Schwierigkeiten im normalen Gebrauch ein als für das Katalanische, das seit längerer Zeit über eine normative Varietät der Sprache verfügt.
6.1.4.
Sprachliche Normalisierung als Normierung: Die Modernisierung der Lexik
Die bisherige Darstellung dessen, was die Erweiterung der Anwendungsbereiche meint, hat bereits ausgewiesen, weshalb das Konzept der sprachlichen Normalisierung die Normierung — d. h. Kodifizierung und stilistische Differenzierung — einschließt: Die Möglichkeit, eine Sprache in neuen Kommunikationssphären anzuwenden, schafft neue denotative und pragmatische Anforderungen, d. h. die Notwendigkeit, durch formale und/oder Bedeutungsveränderungen neue oder
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vorhandene Erscheinungen auf eine andere Art zu bezeichnen. Im Unterschied zu anderen („etablierten") Sprachen, in denen sich die Anpassung der Sprachfunktionen an die gesellschaftliche Entwicklung und die veränderten Kommunikationsbedürfnisse kontinuierlich vollzogen hat, wurde dieser Prozeß in den Minderheitensprachen seit dem Beginn ihrer „Renaissance" immer wieder unterbrochen. Dabei entstanden durch das Verbot des offiziellen und öffentlichen Gebrauchs der Nationalitätensprachen Spaniens während der Franco-Diktatur „Kommunikationsdefizite", d. h. Gefälle zwischen dem vorhandenen Bezeichnungspotential dieser Sprachen und den veränderten Anforderungen in der Kommunikation, die im Prozeß der Normalisierung ζ. B. in der Lexik in ungleich kürzerer Zeit durch die Bildung von Neologismen und unter dem Einfluß der vorausgegangenen Entwicklung in Sprachen mit „normaler" Sprachsituation überwunden werden. Eine der wichtigsten sprachpolitischen Entscheidungen bei der (erneuten) Normierung der Minderheitensprachen betrifft die Selektion der Normen und damit die Definition des Verhältnisses einer Sprachgemeinschaft bzw. von Sprechergruppen zur eigenen Sprache und zu anderen Sprachen und der Ziele des Sprachausbaus, ζ. B. Bewahrung der kulturellen, nationalen Identität, Anpassung der Sprache an veränderte Kommunikationsbedürfnisse, Vervollkommnung der sprachlichen Interaktion, Aufrechterhaltung und Durchsetzung eines weitgehend sprachlich definierten Bildungsideals (vgl. NEU-ALTENHEIMER/SCHLIEBEN-LANGE 1980, 6 2 f . ) . Im Bereich der lexikalischen Modernisierung kommen diese Ziele in der Wahl des lexikalischen Modells — das sind die Mittel der Wortschatzerweiterung, Wortbildungsverfahren und -elemente, Etymologien usw., die bei der Modernisierung der Sprache bevorzugt werden — zum Tragen. Die Ermittlung dieses Modells aus der sprachlichen Praxis mittels quantitativer Methoden (ζ. B. Erfassung von Neubildungen in einem Kommunikationsbereich während eines gegebenen Zeitraums und Untersuchung nach Wortbildungsverfahren, -modellen, -elementen) und seine Konfrontation mit dem des normativen Diskurses vermag — zumindest in exemplarischer Form — darüber Auskunft zu geben, wie sich die sprachlichen Verhältnisse in einer Sprachgemeinschaft (und zwischen Kommunikationsgemeinschaften) gestalten und welche Wirkung Eingriffe in die kommunikative Praxis einer Sprachgemeinschaft haben. Um die Ziele bei der Wahl des lexikalischen Modells zu kennzeichnen, müßte deshalb, wie BOCHMANN ausgehend von Diskussionen zum Rumänischen und Galegischen vorschlägt, nach seiner Ausrichtung auf eine Differenzierung von der Staatssprache, auf ein Gleichgewicht zwischen ihrem Einfluß und puristischen Be-
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strebungen oder auf die Integration in bzw. Anlehnung an ein anderes Sprachsystem gefragt werden (vgl. 1985 b). D a für das Katalanische Vorarbeiten zu neologischen Tendenzen im politisch-sozialen Wortschatz vorliegen 1 7 , soll dieser Ansatz zur Erforschung sprachpolitischer Phänomene im folgenden hieran vorgeführt werden. Betrachtet man den normativen Diskurs zum Katalanischen, so läßt sich feststellen, daß Funktionen wie die Anpassung der Sprache an die kognitiven und kommunikativen Bedürfnisse und die Vervollkommnung der kommunikativen Interaktion der Sprecher eine untergeordnete Rolle gegenüber der Bewahrung der kulturellen Identität spielen (NEU-ALTENHEIMER/SCHLIEBEN-LANGE 1980, 73). Die Abgrenzung gegen das Kastilische zählt auch bei der Behandlung lexikalischer Probleme (vgl. die Sprachglossen von Jane im „Avui", die Arbeiten von MARQUET 1979, 1981, 1985) zu den wichtigsten Argumenten. Sein Einfluß wurde in verschiedenen Studien (vgl. CANDEL 1976; SUBIRATS 1981; MARI 1981 usw.) als bedeutend, manchmal als gefährlich, gekennzeichnet, wogegen dem Französischen und Englischen gegenüber eine weitaus lockere Haltung eingenommen wird. Das betrifft nicht nur Neologismen, die mit den Mitteln der externen Wortschatzerweiterung gebildet wurden, sondern auch die Auswahl interner Mittel, wenn ζ. B. Lösungen, die das Katalanische vom Kastilischen abheben (u. a. Propagierung von Bildungen mit -ment statt mit -cw, so finanfament statt financiacio oder finanfacio zu span, financiacion) bevorzugt und dagegen Lehnübersetzungen aus dem Französischen akzeptiert werden (ζ. B. mit dem Lehnsuffix -atge camuflatge, reciclatge,
xantatge).
Im Gegensatz zu den puristischen Tendenzen im normativen Diskurs ist das lexikalische Modell, das der Modernisierung des katalanischen politisch-sozialen Wortschatzes zugrundeliegt, von der Tendenz zur Verstärkung des internationalen Charakters des Wortschatzes und der Wortbildungsmodelle gekennzeichnet, d. h., daß die Entwicklung im Katalanischen u. a. parallel zu Entwicklungen im Englischen, Französischen und Spanischen verläuft. Daß dabei im wesentlichen interne Mittel genutzt werden, mag als Paradoxon erscheinen. Es sind jedoch nur wenige und nur diejenigen Bildungsmuster besonders produktiv, die — meist lateinisch-romanischer Herkunft — in vielen Sprachen Entsprechungen besitzen; unter den Suffixen ζ. B. die No17
Die Untersuchungen basieren auf Pressetexten aus den Jahren 1979 bis 1983 der Periodika „Avui", „Treball", „El Μόη", „Nous Horitzons", „Serra d'Or", „Cronica" u.A.; vgl. BRUMME 1985a, 1985b; zur wissenschaftlichen Terminologie 1986; zur Lexikographie 1988.
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minalsuffixe -isme/-ista, -itat, das Verbalsuffix -itzar mit seinen Entsprechungen im Bereich der Substantive und Adjektive -itzacio, -itzador, -itzant und die Adjektivalsuffixe -ista, -iä, -ari, -al, -tstic. Bei vielen Neologismen wie esquerranista, comercialitzacio, superpotencia, desmilitaritzar, econömico-politic usw. ist darüber hinaus nicht nachweisbar, ob sie durch Nutzung interner (Suffigierung, Präfigierung, Komposition) oder externer Mittel (Lehnübersetzung) entstanden sind und aus welcher Quellensprache sie stammen. Sie müßten deshalb als Neologismen mit multipler Etymologie 18 bezeichnet werden, wodurch gleichfalls der Komplexität der Vorgänge und Erscheinungen in der modernen Kommunikation Rechnung getragen würde. Die externen Mittel zur Wortschatzerweiterung spielen eine weitaus geringere Rolle als die, die ihnen im normativen Diskurs zugeschrieben wird. Puristische Tendenzen äußern sich in den untersuchten Pressetexten in erster Linie im fast gänzlichen Fehlen von Kastilianismen 19 , was besonders angesichts des Drucks, den die Staatssprache als Quelle für politische Nachrichten, Kommentare usw. in diesem Kommunikationsbereich auf das Katalanische ausübt, frappierend ist. 20 Anglizismen und Gallizismen sind dagegen relativ häufig. Auf eine bewußte Vermeidung von Kastilianismen deuten Lehnbildungen und Bedeutungsentlehnungen aus dem Spanischen hin, die im Gegensatz zu Lehnwörtern nicht ohne die Untersuchung sprachlicher Mechanismen als solche erkannt werden können (ζ. B. sind lideratge und mecenatge keine internen Bildungen, sondern Lehnübersetzungen nach span. liderazgo und mecenazgo, wobei dem Suffix -atge, dem span, -aje entspricht, die Bedeutung von -azgo übertragen wurde). Dem puristisch orientierten lexikalischen Modell des normativen Diskurses steht folglich in der Praxis der politischen Kommunikation in der Presse ein Modell gegenüber, das eine vorsichtige Bereinigung 18
Der Begriff der „etimologie multiplä" ist in der rumänischen Sprachwissenschaft entstanden und trägt der Tatsache Rechnung, daß am Prozeß der Modernisierung des Rumänischen seit Beginn des 19. Jahrhunderts verschiedene Sprachen (Latein, Neugriechisch, Russisch, Italienisch, Deutsch und vor allem Französisch) beteiligt waren. Er wird angewandt, wenn die Herkunft eines Wortes auf verschiedene Etyma aus verschiedenen Sprachen zurückgeführt werden könnte.
19
Neben vielen Zitaten und Zitationswörtern, die meistenteils auf eine ironische Distanzierung abzielen, ist die Mehrzahl bereits seit der Sprachreform FABRAS adaptiert und geläufig. Eine Erklärung dafür könnte sein, daß die Untersuchung auf schriftlich fixierten und an die Öffentlichkeit adressierten Texten basiert. Für sie muß man ein geschärftes Sprachbewußtsein annehmen und die Einwirkung von Korrektoren berücksichtigen (Stand der damaligen Analysen; Ende der achtziger Jahre wurde eine neue Phase erreicht).
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von Kastilianismen mit der Befolgung „internationaler" Tendenzen in der Wortschatzentwicklung koppelt und die Effektivität sprachbereinigender Maßnahmen in Frage stellt. Die Abgrenzung von der Staatssprache ist dem Ziel untergeordnet, das Katalanische zu einem flexiblen Kommunikationsmittel auszubauen, es an die vielfältigen Bedürfnisse in der modernen Kommunikation anzupassen und die sprachliche Interaktion zu vervollkommnen. Vergleicht man ζ. B. die Tendenzen beim Ausbau der romanischen Volkssprachen während der Renaissance oder bei der Modernisierung des Rumänischen 2 1 mit denen, die die Normierung des Katalanischen, Baskischen oder Galegischen 22 kennzeichnen, so erscheint diese pragmatische Tendenz, die einen Ausgleich zwischen der Nutzung interner und externer Mittel zur Wortschatzerweiterung sucht und die kommunikativ-pragmatische Funktion in den Vordergrund stellt, die einzig realistische. Die Überbetonung von Funktionen wie die der Bewahrung der nationalen Identität oder der Einbindung in eine bestimmte Kultur bzw. des Symbolwerts einer Sprache überhaupt birgt die Gefahr, ein Sprachmodell zu entwerfen, das sich unter Verkennung sprachgeschichtlicher Realitäten und kommunikativer Bedürfnisse von der Umgangssprache und den Dialekten löst und zur Atomisierung der Sprache beiträgt (vgl. BOCHMANN 1983, 10f.). Berücksichtigt man die Anforderungen, die aus der Kommunikation in den Massenmedien und in der Wissenschaft und Technik an die Minderheitensprachen resultieren, und ζ. B. die Rolle des Englischen in der internationalen Kommunikation sowie der griechisch-lateinischen bzw. lateinisch-romanischen M o delle und Mittel in der Lexikerweiterung vieler Sprachen, ist ein Modell zur Verstärkung des internationalen Charakters der Lexik nicht nur für Nahsprachen im KLOSSschen Sinne von erstrangiger Bedeutung, sondern auch für Abstandsprachen wie Baskisch und Spanisch. Die baskische Sprachakademie (Euskaltzaindia) verweist deshalb bei der Kodifizierung und stilistischen Differenzierung der Lexik des Euskera batua, das als überregionales, einheitliches Kommunikationsmittel zu den regionalen Koines (Guipuzkisch, Biskayisch, Navarrisch im spanischen und Labourdisch im französischen Basken21
22
Bereits an anderer Stelle wurde auf die Ähnlichkeit mit der Modernisierung des Rumänischen, das seit dem 19. Jahrhundert massiv Gallizismen und lateinischromanische Wortbildungselemente aufgenommen hat, verwiesen; vgl. BRUMME 1985 a. Bochmann unterscheidet im normativen Diskurs zum Galegischen zwischen der lusistischen Richtung, die das Galegische stärker in den luso-brasilianischen Sprachraum einbinden will, dem Differentialismus, der keine Kastilianismen dulden will, und der pragmatischen Richtung; vgl. 1983, 7 — 1 1 .
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land) in den sozial hoch bewerteten Kommunikationssphären verwendet wird, auf die vorrangige Nutzung interner Wortbildungsmittel, aber auch — besonders für die Fachterminologien — auf die Entlehnung aus dem Spanischen und Französischen (vgl. PERLICK 1987, 396), über die wie im Katalanischen und Galegischen u. a. Anglizismen übernommen werden. Untersuchungen des lexikalischen Modells in verschiedenen Minderheitensprachen scheinen, setzte man die für das Katalanische begonnenen Analysen unter Verfeinerung der Herangehensweise und des Methodeninstrumentariums für das Galegische, Baskische usw. fort, nicht nur ein tragfähiger Ansatz für die Erforschung der Wirkungsweise sprachpolitischer Eingriffe, sondern auch für eine vergleichende Erforschung von Sprachpolitik zu sein.
6.2. Spanien/Frankreich Trotz in mancher Hinsicht ähnlicher Ausgangslage stellt sich die sprachpolitische Situation Frankreichs und Spaniens heute recht unterschiedlich dar. Die Voraussetzungen dafür lassen sich nur anhand langfristiger Entwicklungen aufzeigen. Auf jeden Fall verfolgen beide Staaten seit dem 16. Jahrhundert eine Politik der allmählichen Durchsetzung der Staatssprache, die in Spanien mit den Reyes Catolicos zu Ende des 15. Jahrhunderts beginnt und seit der Thronbesteigung der Bourbonen zu Anfang des 18. Jahrhunderts eine erhebliche Verschärfung erfährt; in Frankreich bildet das Edikt von Villers-Cotterets (1539) einen ersten Einschnitt, den zweiten stellt die Französische Revolution dar. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steuern beide Staaten eine einsprachige Gesellschaft an, obwohl in beiden erhebliche Gruppen der Bevölkerung andere Sprachen sprechen und die Beherrschung der Staatssprache noch bis weit ins 20. Jahrhundert in den peripheren Gebieten ein gesellschaftliches Problem darstellt. Verschiedene der Peripherien wehren sich - mit unterschiedlicher Intensität — gegen diesen Akkulturationsdruck. Andererseits darf man nicht vergessen, daß auch die staatliche Politik nicht widerspruchsfrei ist: die beherrschten Sprachen werden in der täglichen Praxis nicht gewünscht, die „kulturellen Schätze" dieser Sprachgemeinschaften sind als inoffensive Symbole jedoch durchaus geschätzt. Bis zu einem gewissen Grad liegt möglicherweise auch eine
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geschickte Strategie darin, die Vertreter der Minderheiten von der Gegenwart wegzuführen und sie auf die Vergangenheit zu verweisen (zumal viele von ihnen schon ganz allein diese Neigung haben). M a n darf schließlich nicht vergessen, daß alle Minderheiten und ihre Sprecher in ihrem Verhalten überdeterminiert sind, d. h. daß sie, gleichgültig, welche Optionen sie vertreten, mit sich selbst in Widerspruch geraten müssen - und daß die jeweilige Staatsmacht solche internen Widersprüche natürlich für ihre Zwecke ausnützt. Als Beispiele dafür seien nur die elsässischen Kommunisten der zwanziger Jahre erwähnt, die sich für eine elsässische Autonomie einsetzten und dafür ζ. T. erstaunliche Bündnisse eingingen, oder die Angehörigen des kleinen Partit Prouvenfau in den dreißiger Jahren, die mit Wohlwollen die erklärten föderalistischen Ziele eines v. Papen in Deutschland kommentierten, darüber aber seine politische Praxis aus den Augen verloren und wenige Jahre später in der Resistance gegen die hitlerdeutsche Besatzung kämpften. Diese Beispiele ließen sich vermehren. Diese Vorgeschichte, die in vielen Aspekten im vorliegenden Band behandelt worden ist, kann in ihren Widersprüchen erst die Situation in den achtziger Jahren (mit-)erklären. Um sie genauer zu umreißen, scheint es sinnvoll, einen Schnitt, etwa um das Jahr 1980, zu machen und zu versuchen, von da an die neuen Entwicklungen in beiden Staaten zu verfolgen. Der Einschnitt um 1980 läßt sich rechtfertigen: während in Spanien Ende 1978 die Annahme der neuen Verfassung in einer Volksabstimmung das formale Ende der Franco-Diktatur bedeutet und die staatliche Existenz auf eine neue Grundlage stellt, wird der Wahlsieg Mitterands im Mai 1981 und die Bildung einer PS/PCF-Regierung zur ersten Möglichkeit einer grundlegenden Reinterpretation der Verfassung der Fünften Republik von 1958, die bis dahin ja immer vom Umkreis der konservativen, gaullistischen (das heißt in diesem Zusammenhang gewöhnlich zentralistischen) Tradition in die Tat umgesetzt wurde. Danach soll exemplarisch versucht werden zu zeigen, welche Konzeptionen in beiden Staaten in den achtziger Jahren zum Tragen gekommen sind und welche Möglichkeiten und Gefahren sich für die nächste Zukunft auftun. Dabei müssen Faktoren aus sehr unterschiedlichen Bereichen berücksichtigt werden, die letztlich auch eine Gesamteinschätzung mühevoll machen.
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6.2.1.
Die Ausgangssituation für Sprachpolitik um 1980
6.2.1.1.
Frankreich
6.2.1.1.1. Zur Sprachenstatistik Da es in Frankreich seit dem 19. Jahrhundert keine offiziellen Sprachstatistiken mehr gibt, ist bereits die Frage nach der Zahl der Sprecher der „anderen" Sprachen nur mühsam und näherungsweise zu beantworten. Solche Bemühungen sind jedoch unumgänglich, da von offizieller Seite immer wieder das Argument auftaucht, das Sprachenproblem sei mittlerweile in Frankreich quantitativ nicht mehr relevant. Wenn die Vertreter der verschiedenen Sprachgruppen auch den Rückgang in den Sprecherzahlen zugeben müssen, so verweisen sie doch auf ein über die sprachliche Praxis hinausgehendes kollektives Bewußtsein; es belege, daß viele Sprecher unter günstigeren äußeren Umständen diese anderen Sprachen (auch) verwenden würden. Damit verläßt die Auseinandersetzung natürlich den Boden verifizierbarer Argumente, jede Seite kann für sich behaupten, im Recht zu sein. Ein Versuch einer Annäherung an die Probleme soll hier geleistet werden. Während man noch für die Zwischenkriegszeit ansetzen kann, daß 2 5 % — 3 0 % der Franzosen neben dem Französischen eine andere Sprache beherrschten, die sie entweder als erste (also als „Muttersprache") oder als zweite gelernt hatten und vielfach auch benutzten, war zu jener Zeit die Zahl derer, die praktisch des Französischen nicht mächtig waren, außerhalb von Elsaß und Lothringen schon auf einen geringen Rest zusammengeschmolzen. Seither sind viele Sprecher dieser Sprachen gestorben, ohne daß sie durch nachwachsende Generationen voll ersetzt worden wären. Immer weniger junge Menschen lernen diese Sprachen und sie lernen sie immer weniger gut; mithin läßt sich eine massive sprachliche Substitution beobachten. Natürlich wird diese allgemeine Tendenz durch ganz unterschiedliche Einzelfaktoren beeinflußt, wie den Grad der Seßhaftigkeit oder der geographischen Mobilität, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, das kollektive Bewußtsein von Angehörigen einer Gruppe, usw. Die abnehmende Zahl der Sprecher insgesamt führt zu einer Abnahme des Redevolumens in jeder Sprache, aber auch pro Kopf. Dadurch aber nimmt die sprachliche Sicherheit (Kompetenz) des einzelnen Sprechers ab, aber auch seine „Sprachkultur", d. h. sein Wissen um die kollektive kulturelle Praxis seiner Sprechergemeinschaft. Diese Entwicklung wurde etwas abgemildert durch die Zunahme des Schulunterrichts in
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diesen Jahren seit 1951 und verstärkt seit den siebziger Jahren (vgl. 1.1.2.). Hier nun setzt das Problem der Bezeichnungen ein: die Bezeichnungen von Sprachen und ihr geographisches Einzugsgebiet sind Objekt von Auseinandersetzungen. Unterschiedliche, ja einander ausschließende Sprach- und damit Gruppenbezeichnungen tragen zur Verunsicherung der Betroffenen bei und können somit die Aufgabe einer solchen Sprache durch sie begünstigen. Je kleiner schließlich die Sprachgruppen werden, desto geringer werden die Verwendungsmöglichkeiten der Sprachen und die Möglichkeiten, sie zu für die modernen Bedürfnisse voll tauglichen Kommunikationsmitteln auszubauen: die Überlegenheit der herrschenden Sprache wird auf allen Ebenen so eklatant, daß die beherrschten Sprachen nur Luxus sind und bleiben können. Auf diese Weise wird ihre gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit festgeschrieben, und ihre Existenz kann nur ein nostalgisches Residuum bleiben, das auf natürlichem Wege verschwindet. In diesem Zusammenhang sind Auseinandersetzungen wie „Okzitanisch oder Provenzalisch", „Italienisch oder Korsisch", „Deutsch oder Elsässisch" auch für die jeweilige Zentralmacht von Interesse. Es ist daher sicher kein Wunder, daß 1976 der damalige Erziehungsminister die Bezeichnung les langues d'oc auf den terminologischen Markt warf. Für den Wissenschaftler bleibt an diesen Auseinandersetzungen problematisch, daß jede wisssenschaftliche Stellungnahme, die er dazu abgeben kann, als politisches Argument verwendet wird, er sich den Auseinandersetzungen mithin nicht entziehen kann. Von vorwiegend linguistischen Gesichtspunkten ausgehend, die sich aber weitgehend mit dem kollektiven Sprecherbewußtsein treffen, lassen sich die folgenden Sprachgruppen benennen: das Flämische (ca. 200000 Sprecher? — diese Zahlen können nur eine sehr grobe Annäherung geben), das Bretonische (ca. 1000000?), das Baskische (ca. 100000?), das Katalanische (ca. 150000?), das Okzitanische (ca. 1000 000 — 2 000 000?, passive Kenntnisse wahrscheinlich sehr viel weiter verbreitet, hier sind die Bezeichnungsstreitigkeiten innerhalb der Gruppe am größten), das Korsische (200000?, die frühere Bezeichnung Italienisch wurde völlig aufgegeben), das Deutsche (1200000?, hier werden häufig Bezeichnungen wie Elsässisch, elsässisch-lothringische Mundarten, germanische oder deutsche Mundarten verwendet, darüber hinaus gibt es auch Auseinandersetzungen zwischen Sprechern verschiedener Varietäten). Nach rein linguistischen Kriterien kann man in Ostfrankreich noch das Frankoprovenzalische isolieren, dessen Sprecher jedoch kaum ein eigenes Gruppenbewußtsein entwickelt haben, obwohl die Sprache noch weit bis ins 20. Jahrhundert Um-
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gangssprache war. Dagegen läßt sich bei manchen Varietäten des Französischen (im engeren, linguistischen Sinne) ein recht deutliches kollektives Bewußtsein feststellen, das auch zu Verschriftungsversuchen geführt hat (Pikardisch oder die Gallo-Mundarten in der östlichen Bretagne). Neben diesen Benennungs- und damit Identifikationsschwierigkeiten gab und gibt es in manchen Sprachen auch heftige Auseinandersetzungen um die Kodifizierung: etwa im Bretonischen und Okzitanischen, im Baskischen scheint sich das Problem nach und nach zu lösen. Diese Auseinandersetzungen können symbolische Bedeutung als Indikatoren für den mangelnden Gruppenkonsens bekommen. Die Situation hat sich dadurch weiter verkompliziert, daß der Abnahme der Zahl der Sprecher autochthoner, territorial fixierter Sprachen eine gewaltige Zunahme von zugewanderten Sprechern gegenüber steht, die sich über das ganze Staatsgebiet verteilen. Frankreich hat eine alte Einwanderungstradition; lange Zeit kamen jedoch die Einwanderer vor allem aus Italien und Spanien, dann auch aus Polen und Portugal. Vor allem die Südromanen konnten sich aufgrund vieler Gemeinsamkeiten relativ leicht und binnen weniger Generationen integrieren. Mittlerweile hat sich das Problem durch eine große Zahl von Zuwanderern aus der arabisch- und berberisch-sprechenden Welt, aus Schwarzafrika, aber auch aus den sogenannten Überseedepartements vervielfacht. Trotz teilweise starker Assimilationstendenzen dieser Zuwanderer läßt sich nur eine Zunahme der Probleme prognostizieren, da ihnen oft eine massive Abwehr von Seiten der autochthonen Bevölkerung entgegenschlägt. Hand in Hand damit geht eine Verlagerung der Wahrnehmung des Problems: während lange Zeit nur die Vertreter der autochthonen Sprachgruppen erweiterte Rechte forderten, nehmen nun manche Zuwanderergruppen zunehmend Anteil an diesen Auseinandersetzungen.
6.2.1.1.2. Sprachpolitische Entwicklungen 1945-1980 Als wichtige Einschnitte lassen sich die Jahre 1945/51 und 1968 erkennen. Das Kriegsende 1945 bedeutet auch das (vorläufige) Ende aller politischen Autonomie- oder Separationsbestrebungen, gleichgültig ob ihre Vertreter durch Zusammenarbeit mit den Besatzungsmächten Deutschland und Italien bzw. mit der Petain-Regierung diskreditiert sind (das gilt für Teile der bretonischen, der elsässischen und der korsischen Kulturgruppen, aber etwa auch für manche Angehörige des okzitanischen [„provenzalischen"] Felibrige) oder nicht
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(ζ. Β. sind manche Katalanen und Okzitanen in der Resistance). Hinzu kommt, daß einige minderheitenfreundliche Gesten der Petain-Regierung zunächst zu entgegengesetzten Reflexen führen. Dabei lassen sich, je nach Gebiet, sehr unterschiedliche Einstellungen gegenüber den beherrschten Sprachen und Kulturen beobachten; Hauptkriterium der Beurteilung ist die Frage, ob die Bestrebungen vor dem Krieg und während des Krieges als die integrale Existenz des französischen Staates gefährdend angesehen werden oder nicht. Andererseits wird den staatlichen Stellen bewußt, daß es nach ca. 75 Jahren allgemeiner Schulpflicht auf Französisch keine größeren Gruppen im Mutterland mehr gibt, die der Staatssprache nicht in hinreichendem Maße mächtig wären (die einzige nennenswerte Ausnahme bildet aufgrund seiner besonderen Geschichte damals noch das Elsaß). Damit ist die Durchsetzung eines wichtigen Zieles der französischen Einheitspolitik praktisch gelungen, eine neue, weniger restriktive Politik wird denkbar. Das Gesetz vom 11. 1. 1951 („Loi Deixonne"), das zunächst das Baskische, Bretonische, Katalanische und Okzitanische (erst seit 1974 auch das Korsische) betrifft, spiegelt die Widersprüche, gibt aber den betroffenen Sprachen und Kulturen eine erste offizielle, wenn auch sehr marginale Sanktion. Deutsch, Flämisch und bis 1974 Italienisch in Korsika werden nicht berücksichtigt, da es sich um „fremde Sprachen" handle (welchen Status bekommen dann französische Staatsbürger, die sich dieser Sprachen bedienen?). Wichtigster Inhalt sind die Möglichkeit von Unterricht vor allem in den höheren Schulen und die Schaffung von Lehrstühlen an einigen Universitäten. Trotz vieler Widerstände aus den Reihen der Schulverwaltung können in den Schulen langsame Fortschritte erzielt werden, wenn sie auch eher symbolische als kommunikatorische Bedeutung haben. So steigt ζ. B. die Zahl der Kandidaten für die Reifeprüfung, welche sich der Zusatzprüfung in Okzitanisch unterziehen, von 236 im Jahre 1952 auf 977 im Jahre 1962, 3072 im Jahre 1972 und 9026 im Jahre 1982. Den zweiten wichtigen Einschnitt bilden die Ereignisse von 1968, durch die Vertreter der beherrschten Sprachen zum ersten Male seit langer Zeit eine verstärkte Öffentlichkeitswirkung erzielen können. Zwei Entwicklungen sind bemerkenswert: seit Anfang der sechziger Jahre wird bei einigen sprachlichen Minderheiten nicht mehr der traditionalistische Diskurs vorherrschend, sondern ein in die Zukunft weisender, der sich nicht auf „Literatur" eingrenzt, sondern die gesamtgesellschaftliche Kommunikation zum Thema nimmt. Zum zweiten nehmen die Organisationen der Minderheiten am sozialen Schicksal ihrer jeweiligen Gebiete Anteil: so entsteht 1962 bei dem Bergar-
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beiterstreik in Decazeville (Aveyron, okz. Sprachgebiet) eine Art „regionaler Solidarität", ähnliches läßt sich etwa 1973 beim Streik des Joint Fran^ais in der Bretagne beobachten. Zu einer der Komponenten dieser Solidarität wird die sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeit. Hinzu kommt die Rezeption der formalen Entkolonialisierung, in Frankreich traumatisch durch die Erfahrung des Algerienkrieges, aber auch durch die Schriften eines Frantz Fanon und Albert Memmi. Daneben zeigt der zentralistische französische Staat in zunehmendem M a ß e Schwächen - zu großer Abstand zwischen Regierenden und Regierten, zunehmende soziale Spannungen, in weiten Kreisen der Bevölkerung auch Furcht vor einer sich abzeichnenden europäischen Integration, der ganze Landstriche praktisch geopfert werden sollen.
6.2.1.2.
Spanien
6.2.1.2.1. Zur Sprachenstatistik Die Ausgangssituation stellt sich in Spanien grundlegend anders dar. Zum einen ist hier seit 1939 eine Diktatur an der Herrschaft, welche die Unterdrückung der nicht-kastilischen Sprachen und Kulturen ausdrücklich zum politischen Ziel erklärt hat und sie in den ersten Jahren mit großer Konsequenz und Barbarei auch durchführt. Zwar muß sie nach 1945 aus außenpolitischen Gründen vorsichtiger sein, der Kampf gegen kulturelle und sprachliche Differenz ist jedoch eine ihrer am konsequentesten durchgehaltenen Konstanten. Die widersprüchliche Geschichte Spaniens im 19. Jahrhundert führt dazu, daß die Kenntnis der beherrschten Sprachen als Umgangssprachen nirgends ernstlich beeinträchtigt wird: das gilt für das Katalanische und Galicische ganz deutlich, für das Baskische mit gewissen Einschränkungen. Auch andere Varietäten des Iberoromanischen können sich als gesprochene Sprache ganz gut halten, wie das Bable in Asturien oder das Aragonesische. Der — im Vergleich mit Frankreich niedrige — Alphabetisierungsgrad (im Jahre 1900 sollen noch 6 3 % der Bevölkerung Analphabeten gewesen sein) läßt auch die Auswirkungen der staatlichen Sprachpolitik bei weitem nicht so deutlich werden. Dagegen hatten die Katalanen im Principat bereits zu Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, ihre eigenen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen aufzubauen und somit ihre kollektive Entwicklung teilweise von der gesamtspanischen abzukoppeln. Auf diese Weise wird einem Teil der katalanischen Gesellschaft eine wirkliche kulturelle Kompetenz in der eigenen Sprache vermittelt. Das ist nur auf
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dem Hintergrund einer relativen Prosperität und einer raschen Industrialisierung möglich (und gesellschaftspolitisch auch für jene konservativen Kreise erwünscht, welche der Renaixettfa um 1900 ihr Aussehen geben). In Euskadi ist die Situation weniger eindeutig, da es zwar auch dort seit Anfang des Jahrhunderts eine zunehmende kulturelle Produktion gibt, in geringerem Maße jedoch schon kulturelle Infrastrukturen geschaffen werden. Zudem nimmt die Zahl der Baskischsprecher langsam ab, sie sind darüber hinaus in zunehmendem Maße einer kastilisch-sprachigen Einwanderung ausgesetzt. Das starke (und unter dem Einfluß des Nationalismus von Sabino de Arana Goiri sich festigende) Bewußtsein der kulturellen Identität relativiert diesen Rückgang zum Teil. An dieser Situation ändert sich während der Franco-Diktatur relativ wenig, zumindest in Anbetracht des von der Regierung betriebenen Aufwandes. Zwar sind die Angehörigen der Minderheiten der ständigen Präsenz des Kastilischen ausgesetzt und können damit nur unter stark erschwerten Bedingungen kulturelle Kompetenz in der eigenen Sprache erwerben. Doch das Kastilische kann diese anderen Sprachen nur in bescheidenem Umfange aus der Kommunikation verdrängen: ihre globale Sprecherzahl dürfte in den Jahren der Diktatur nur unwesentlich zurückgegangen sein. Allerdings gibt es hier offensichtlich Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachen, aber auch innerhalb verschiedener Territorien derselben Sprache. Dazu wird man annehmen müssen, daß sich die Kompetenz der einzeln Sprecher verringert hat, vor allem der jüngeren, die dem Druck der Staatssprache viel stärker ausgesetzt sind. Am eindeutigsten dürfte die Diktatur den kleineren Gruppen wie den Sprechern des Bable und des Aragonesischen zugesetzt haben — und das insbesondere in ihren späteren Phasen, in denen die Schulpolitik intensiviert wird. Insgesamt bestehen die beherrschten Sprachen auch nach der Diktatur als gesellschaftliche Kommunikationsmittel weiter. Eine der französischen vergleichbare Substitutionsbewegung hat nicht stattgefunden.
6.2.1.2.2. Sprachpolitische Entwicklungen 1939—1978 Die harte Haltung der Diktatur gegenüber den Minderheitensprachen hat vermutlich eine unerwartete Konsequenz. Diese Sprachen werden nämlich ihrerseits symbolische Kristallisationspunkte für die Oppo-
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sition gegen das Regime. Diese Entwicklung wird durch die Existenz einer recht zahlreichen Emigration gestützt. Zuerst kann sich das noch nicht auswirken, denn während der Jahre des Zweiten Weltkrieges hat das Regime praktisch alle Handlungsmöglichkeiten; ihre Verbündeten in Berlin und Rom verfolgen ganz ähnliche kultur- und sprachpolitische Zielsetzungen. Erst nach dem Ende des Krieges, als eine gewisse politische „Respektabilität" zu einer Existenzfrage für die Regierung wird, muß sie allmählich auch sprachpolitische Zugeständnisse machen. So gestattet sie, in homöopathischen Dosen, den Druck katalanischer Bücher (in alter Orthographie) als kulturelle Luxusartikel. Im Zuge der Erneuerung der spanischen Gesellschaft, die in einer späteren Phase der Diktatur, etwa ab 1960, durchaus beabsichtigt ist, muß sie die Kontrolle etwas lockern und können die Katalanen und Basken ihre eigene kulturelle Produktion wieder stärker beleben und damit zu einem Element des Widerstandes werden lassen. Auf der anderen Seite wird immer deutlicher, daß die Lösung des Nationalitätenproblems eine unabdingbare Voraussetzung für die Fortexistenz des Spanischen Staates nach dem Ende der Diktatur ist. Ihre Anhänger und Repräsentanten hatten oft genug von den Katalanen und Basken als „besiegten Völkern" gesprochen und dieses Konzept in praktische Politik umgesetzt; nun mußten die Völker eine Garantie für ihre kulturelle Existenz fordern. Zudem war schon in der Zweiten Republik deutlich geworden, wie wenig Schutz auch hochrangige Texte boten: das katalanische Autonomiestatut von 1931/ 32 war von den Cortes vielfach beschnitten worden und das baskische trat erst nach Ausbruch des Bürgerkrieges in Kraft. Auch die bürgerlichen spanischen Parteien hatten dadurch in den Augen der Basken und Katalanen viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Das nachfranquistische Spanien braucht die Peripherien aus politischen Gründen, damit sich das Ende der Diktatur nicht mit traumatisch wirkenden territorialen Verlusten verbindet. Auch die Wirtschaftskraft der Gebiete scheint unentbehrlich. Andererseits existieren auch nach Francos Tod (1975) die alten Machtstrukturen zum Teil weiter, und ihre Vertreter wehren sich mit allen Kräften gegen eine Dezentralisierung der politischen Macht. Die Verfassung von 1978 und die ihr nachgeordneten Texte sind in vieler Hinsicht ein Kompromiß zwischen weit auseinanderstrebenden Zielvorstellungen. Aber auch danach wird oft noch zäh um jede einzelne Position gerungen. Die Verfassung erhebt das Kastilische zur offiziellen Staatssprache (Art. 3, 1), läßt aber daneben den „anderen spanischen Sprachen" die Möglichkeit der Kooffizialität in den jeweiligen Territorien (Art. 3, 2).
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Ohne große Diskussion werden darauf die „historischen" autonomen Regionen Catalunya, Euskadi und Galicia (ihrer Verwirklichung war der Ausbruch des Bürgerkrieges zuvorgekommen) wiederhergestellt. Aber die Eingliederung Navarras nach Euskadi wird von einer Volksabstimmung abhängig gemacht, die bis heute nicht stattgefunden hat. Die Verfassung verbietet (Art. 145, 1) den Zusammenschluß autonomer Regionen, was ganz offensichtlich gegen das Konzept der „Katalanischen Länder" („Pai'sos Catalans") zielt, das zu Ende der Diktatur immer wieder formuliert wird. Immerhin öffnet die Verfassung von 1978 dem Spanischen Staat die Möglichkeit einer ganz neuen politischen Entwicklung in Westeuropa: der Anerkennung und aktiven Förderung der unterschiedlichen Sprachen und Kulturen in einem Gebiet, unter Wahrung der Vorrangstellung der Staatssprache. Man wird diese Vorgehensweise von Seiten eines Staates mit fünfhundertjähriger zentralistischer Tradition als erhebliches Zugeständnis ansehen müssen, wenn sie auch ihren Hauptgrund im Bankrott der Franco-Diktatur hat. Es stellt sich aber sofort die Frage, ob diese Zugeständnisse für die peripheren Regionen ausreichend scheinen und insbesondere, ob die Durchführung durch restriktive Interpretation der Texte nicht vieles wieder zurücknimmt. Gerade darin wird die Bewährungsprobe des nächsten Jahrzehnts bestehen.
6.2.1.3. Unterschiede in den Optionen beider Staaten In Frankreich gibt es um 1980 keine ernsthafte Infragestellung des Französischen durch irgendeine gesellschaftlich relevante Gruppe. Die „anderen" Sprachen können nicht auf eine weitreichende Anerkennung und Verwendung im öffentlichen Gebrauch hoffen. Damit wird deutlich, daß die Forderungen der siebziger Jahre zwar gehört worden sind (das belegen mancherlei Zusagen im Kleinen), jedoch nicht zu einer ernsthaften politischen Neuorientierung führen. Diese Forderungen werden immer stärker als Überbleibsel früherer Zustände begriffen, die man dadurch erfüllen kann, daß man die Bedeutung des „kulturellen Erbes" („le patrimoine culturel") in den Vordergrund stellt, etwa während der Präsidentschaft Giscard d'Estaings, aber die soziale Praxis dieser Sprachen implizit leugnet. Das geschieht erstaunlicherweise auch dort, wo soziale Zweisprachigkeit der erklärten Absicht der Verbesserung der eigenen Wettbewerbssituation entgegenkäme: das gilt etwa für das Elsaß und Lothringen, aber auch für Flandern, das Nordbaskenland und Nordkatalonien. Maßnahmen
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zugunsten der Minderheiten bleiben punktuell und verstärken bei den Betroffenen das Bewußtsein, Bürger zweiter Klasse zu sein. Der Spanische Staat stellt sich dagegen, sicher nicht nur freiwillig, der Herausforderung einer Neudefinition des eigenen sprachlichen und politischen Raumes, ein Kurswechsel, der in unserem Jahrhundert in ganz Westeuropa einmalig ist. Sicher sind dafür die besonderen Umstände - und bis zu einem gewissen Grad wohl auch äußere Einflußnahmen — mitverantwortlich. Dennoch sollte man Erfolge und Mißerfolge des heutigen Spanien auch an der Grundsätzlichkeit dieses Schrittes messen.
6.2.2.
Die Sprachpolitik der achtziger Jahre
6.2.2.1.
Frankreich
6.2.2.1.1. Die Probleme Drei Regionen Frankreichs machen in den siebziger Jahren viel von sich reden, nämlich Korsika, die languedokische Mittelmeerküste und das gebirgige Hinterland (lo Larzac), und die Bretagne. In geringerem Maße wäre auch der Widerstand von Teilen der elsässischen Bevölkerung gegen den Bau von Kernkraftwerken längs des Rheins zu erwähnen. Alle vier Gebiete gehören zu den ursprünglich nicht französischsprachigen Teilen des Staates und in allen werden Sprache und Kultur zu einem Element der Auseinandersetzungen. Darin liegt wohl der neue Charakter dieser Konflikte. Dafür sind wohl mehrere, sich kombinierende Ursachen zu nennen: die bereits erwähnte engere Verbindung zwischen den minoritären Kulturen und den jeweiligen Regionen, welche ihrerseits auf eine andere, nicht-elitäre Kulturkonzeption zurückgeht und ein Hinweis darauf sein kann, daß nach 1945 die Vertreter neuer sozialer Gruppen die Verteidigung und Illustration der beherrschten Sprachen übernommen haben. Nun kommen nicht mehr nur die Notabein zu Wort, die „in Stellvertretung" für ihre Gruppen schreiben, aber letzten Endes in die herrschende Kultur und ihre Strukturen integriert sind (oder sein wollen). Die neuen Intellektuellen der Minderheiten haben eine vollständige Akkulturation in der dominanten Sprache durchlaufen, diese aber bis zu einem gewissen Grad überwunden und sind in der Lage, aktuelle gesellschaftliche Probleme (auch) in den beherrschten Sprachen und in der Optik ihrer Kulturen zu formulieren.
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In zunehmendem Maße sind von dieser Seite auch Lösungsvorschläge für die wachsenden Probleme erarbeitet worden, denen sich die peripheren Regionen Frankreichs in dem Maße ausgesetzt sehen, in dem die Organisation der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auch eine neue europäische Raumaufteilung bedeutet. Die in den sechziger und siebziger Jahren von Seiten der Minderheiten formulierten Pläne treffen sich bisweilen mit solchen, die „vom Zentrum aus" erarbeitet werden; beiden ist gemein, daß sie mehr oder weniger im gesamtfranzösischen Rahmen verbleiben und daß ihre Verfasser im Spektrum der Linksopposition argumentieren: Diese erhebt die Reform der Kompetenzen (Regionalreform) nach und nach zu einem Programmpunkt. Daran können auch die Andeutungen de Gaulles im März 1968 (!) und die späteren bescheidenen Reformansätze Pompidous nicht viel ändern. Wichtig ist, daß seit Ende der sechziger Jahre die Regionalisten Gesprächspartner der sich neu formierenden Parteien der Linken werden; diese diskutieren ihre politischen Forderungen und übernehmen ihre kulturellen Forderungen weitgehend (ohne sie allerdings selbständig zu überdenken). Das ist auch die Zeit, in der die Linksparteien regelmäßig ihre oft recht weit gehenden Anträge zum Unterricht der beherrschten Sprachen und zu ihrer Verwendung in den Medien in der Nationalversammlung einbringen, die dann gewöhnlich gar nicht auf die Tagesordnung gesetzt werden. Die sich zuspitzenden regionalen Krisen führen unversehens dazu, daß die Minderheitenkulturen symbolischen Wert in den Auseinandersetzungen gewinnen. Die Losung der Bauern des Larzac, die sich gegen die Ausweitung des Truppenübungsplatzes wehren, ist okzitanisch: „Gardarem lo Larzac". Die Winzer des Languedoc versammeln sich unter dem Kreuz von Toulouse, unter dem sich schon 1907 ihre Großväter in Narbonne und Montpellier versammelt hatten. Die wichtigste Referenz der korsischen Autonomiebewegung ist die eigene, demokratische Tradition des 18. Jahrhunderts (Pasquale Paoli). Und am Oberrhein wird die Sprache sogar zum verbindenden Glied mit den Nachbarn in der Bundesrepublik und in der Schweiz. Auch in der Bretagne kommt den Vermittlern der bretonischen Kultur eine Schlüsselrolle zu. Die Aufzählung ließe sich verlängern. Damit scheinen diese Sprachen und Kulturen eine wachsende Bedeutung zu gewinnen, nicht zuletzt als Element des Widerstandes gegen die Nivellierungstendenzen auf kultureller Ebene, welche Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und zunehmende Amerikanisierung mit sich bringen; sie scheinen eine kulturelle Macht zu verbreiten. Dafür gibt es wohl auch im engeren Sinne sprachliche Gründe: um 1968 wird eine Generation erwachsen, die man wohl als die erste mit
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den modernen Medien großgewordene bezeichnen muß. Sie ist selbst mit dem Radio und in zunehmendem M a ß e mit dem Fernsehen aufgewachsen, kennt aber, über Eltern und vor allem Großeltern vermittelt, noch die „älteren" Kommunikationsformen und hat insbesondere die beherrschte Sprache vielfach noch aus Kommunikationsbedürfnissen gelernt — wenn nicht als erste, so als zweite Sprache. Dieses Schema dürfte für viele Sprecher aus Klein- und Mittelstädten gelten, deutlicher noch für solche vom flachen Land. Zum Teil verbinden sie eine gute praktische Sprachkenntnis mit einer theoretischen Sprachkultur, die ihnen an verschiedenen Universitäten vermittelt wird. Dabei sehen sie die unmittelbare Bedrohung ihrer Kommunikations- und Kulturformen und sind, wohl insbesondere nach der Erschütterung von 1968, auch zu ihrer Verteidigung bereit. Diese Jahre sind auch von einem erheblichen Anstieg der literarischen Produktion gekennzeichnet; sprachlich-kulturelle Kompetenz und Engagement treffen zusammen. Die später erwachsen Gewordenen haben vielfach zu den autochthonen Sprachen und Kulturen einen deutlich indirekteren Zugang; das wirkt sich, zumindest statistisch gesehen, auch auf ihre sprachliche Kompetenz aus. Aus all diesen Gründen werden im Laufe der siebziger Jahre die Beziehungen zwischen den sprachlichen Minderheiten und den Linkspatteien enger, zumal auch punktuell in Gemeinden mit linken Rathausmehrheiten minderheitenfreundliche Maßnahmen durchgeführt werden: das geht von zweisprachigen Straßennamen über den ostentativen öffentlichen Gebrauch der Sprachen bis zur gelegentlichen Schaffung von Forschungs- und Informationszentren. Dabei darf man nicht aus dem Auge lassen, daß solche Maßnahmen sich auf lokaler Ebene leichter ergreifen lassen und natürlich auch weniger Tragweite bekommen. Zur Schaffung wirklicher kultureller Infrastrukturen genügen sie nicht. Andererseits lassen die sich wiederholenden Gesetzanträge der PS und der PCF erwarten, daß bei einer Veränderung der politischen Mehrheiten in Frankreich eine deutliche Veränderung der Sprach- und Kulturpolitik einsetzen werde. Die Veröffentlichung einer Monographie der Sozialistischen Partei mit dem Titel „La France au pluriel" zu Beginn des Jahres 1981, zu der Fran$ois Mitterrand ein Vorwort schreibt, und eine allgemein als programmatisch verstandene Rede Mitterands in Lorient (Bretagne), scheinen ebenfalls in diese Richtung zu deuten.
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6.2.2.1.2. Die Entwicklung der achtziger Jahre Die Wahl Mitterrands im Mai 1981 wird von den meisten Vertretern der Minderheiten mit großer Genugtuung und vielen Erwartungen begrüßt. An zwei Stellen wird die neue Regierung relativ rasch tätig: im Versuch, durch ein besonderes Statut für Korsika dieses Pulverfaß zu entschärfen (damit wird eine erste Bresche in die Ideologie der absoluten Einheitlichkeit des Staatsaufbaus geschlagen), und in dem Auftrag des Kulturministers Lang an den okzitanischen Literaturwissenschaftler Henri Giordan, einen Bericht mit Lösungsvorschlägen zu dem Problem der sprachlichen und kulturellen Vielfalt vorzulegen. Der „Rapport Giordan" wird planmäßig Anfang 1982 vorgelegt und veröffentlicht und erlebt ein erhebliches Echo in der Öffentlichkeit. Dabei kann es nicht verwundern, daß einige Abgeordnete und Senatoren der Rechten (wie Michel Debre) darin bereits den Versuch der Auflösung der Republik sehen: vor allem Begrifflichkeiten wie sprachliche oder kulturelle Minderheiten erregen das Mißfallen der Opposition. Der Bericht Giordans beginnt mit einer ausführlichen Aufzählung der internationalen Vereinbarungen und Empfehlungen im Hinblick auf den Schutz von Minderheiten — insbesondere auf die Schlußakte von Helsinki wird verwiesen — aber auch die Erklärungen der aufeinander folgenden französischen Regierungen (zuletzt Barre, 1980), die sich explizit der Anerkennung solcher Gruppen auf dem französischen Territorium entziehen. Giordan fordert eine große „demokratische Debatte" über die zukünftigen Wege der Kulturpolitik (im weitesten Sinne des Wortes), nachdem er tiefgreifende regionale Ungleichgewichte in der kulturellen Entwicklung konstatiert hat. Zum ersten Mal stellt Giordan dabei eine vollständige Parallelität zwischen den autochthonen, territorialen Minderheiten im Mutterland und in den Überseedepartements her, erwähnt auch gleichermaßen die Frankoprovenzalen und die Gruppen aus dem nordfranzösischen Raum, die stark divergierende Varietäten des Französischen sprechen (die Pikarden, die Bewohner der Normandie und des romanischsprachigen Teils der Bretagne) und die nicht territorial fixierten Gruppen der Juden, Armenier und Tsiganen — die anderen, neueren Zuwanderergruppen werden im Bericht noch nicht erwähnt, bekommen aber bei den danach einsetzenden Konsultationen auf lokaler und regionaler Ebene wachsende Bedeutung. Giordan schlägt die Schaffung einer ganzen Reihe von Organismen vor, welche durch konkrete Maßnahmen die Existenz und Lebensfähigkeit der Sprachen und Kulturen der Minderheiten gewährleisten sollen. Er geht von dem Prinzip aus, daß die Mehrheitskultur in Frankreich den Minderheiten eine „historische
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Reparation" schuldet, welche sich auf legislative, administrative und finanzielle Maßnahmen erstrecken muß. Zum ersten Male wird hier, unter ständiger Berufung auf Mitterrands Wahlkampfplattform, die volle Akzeptanz dieser „anderen" Sprachen und Kulturen durch einen Beauftragten des französischen Staates programmatisch formuliert. Gemessen an diesem relativ kohärenten und geschlossenen Konzept, das gerade im Hinblick auf die politische Durchsetzbarkeit sehr maßvoll argumentiert und an keiner Stelle ernsthaft Gleichheitsansprüche dieser Kulturen anmeldet, sondern nur ihre Existenzberechtigung behauptet und an die Fürsorgepflicht des Staates ihnen gegenüber erinnert, sind die Konsequenzen minimal. Dabei weist Giordan nachdrücklich auf die hohen Erwartungen der Minderheiten an die neue Regierung hin und warnt davor, eine historische Chance zu verspielen, was sich später bitter rächen könnte. Es kommt zu Einzelmaßnahmen, sehr spät auch (September 1985) zur Gründung eines Conseil National des Langues et Cultures Regionales, der dann Anfang 1986, wenige Wochen vor den Parlamentswahlen zum ersten Male zusammentritt, eine wirkliche Umsetzung von Giordans Konzept erfolgt jedoch nicht, und es wird auch nicht durch andere Pläne ersetzt. Ebenso enttäuschend bleiben die sehr tastenden Maßnahmen des Erziehungsministeriums, dem in diesem Rahmen natürlich eine wichtige Rolle zugekommen wäre. Eine ernsthafte Integration der Minderheitensprachen in die schulischen Curricula erfolgt nicht — paradoxerweise bleiben die Universitäten und höheren Schulen nach wie vor die relativ am besten ausgestatteten Institutionen. Damit zeigt auch die neue Regierung, daß diese Sprachen und Kulturen für sie ein Luxus sind, den man sich in den Ober- und Mittelschichten leisten kann; eine wirkliche gesellschaftliche Funktion kommt ihnen nicht zu. Immerhin werden lokale und regionale Initiativen nun freundlicher als zuvor behandelt, so daß es zu einer ganzen Reihe von punktuellen Verbesserungen kommt. Dabei wird deutlich, daß es durchaus ein soziales Interesse an der Bewahrung und Praxis dieser Kulturen gibt: die Zahl der auf Antrag der Betroffenen neu geschaffenen Schulklassen mit Okzitanischunterricht in der Academie Montpellier zeugen davon, erschrecken aber auch die Verwaltung. Andererseits geht das Interesse der Bürger nicht soweit, daß sie für diese kulturellen Forderungen auf die Barrikaden gingen — solange nicht weitere Anlässe hinzukommen. Auch in den staatlichen Massenmedien gehen die Veränderungen nicht über einige kosmetische Maßnahmen hinaus. Als nachteilig für die Regierung wird sich letztlich auch erweisen, daß die einzelnen Minderheiten recht unterschiedlich behandelt wer-
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den, was in einer so stark auf Personen ausgerichteten Machtstruktur vor allem mit in Personen liegenden Gründen erklärt wird. Mit anderen Worten: das Vertrauenskapital der Sozialisten ist schon 1983 weitgehend verspielt, es wird deutlich, daß die „historische Reparation" nicht in die Tat umgesetzt würde. Das schlägt sich u. a. in den Resultaten der verschiedenen Wahlgänge der folgenden Jahre nieder, insbesondere aber in dem weitgehenden Verstummen der Vertretungen der Minderheiten, die eine Reihe von Jahren brauchen, um sich von der Enttäuschung zu erholen. Eine große, zwei Jahrzehnte dauernde gemeinsame Anstrengung endet in einem weitgehenden Mißerfolg. Erstaunlicherweise wird die weitgehende Passivität der Zentralregierungen auch nicht von einzelnen Regionen in nennenswertem Maße ausgeglichen, obwohl den Regionalräten ausdrücklich per Gesetz die Kompetenz zur Pflege der kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung zugesprochen wird (Art. 59 des Gesetzes vom 2. März 1982) und darüber hinaus festgehalten wird, daß die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Regionen möglich ist, mit Genehmigung der Zentralregierung sogar über die Grenzen des Französischen Staates hinaus. Diese weitreichenden Möglichkeiten werden bislang, zumindest im Bereich der Kultur- und Sprachpolitik, kaum wahrgenommen. Die einzige Region, in der aus gegebenem Anlaß die explizite Politik mehr Zugeständnisse macht, ist Korsika: sie gehen bis zur Wiedereröffnung der Universität Corti. Die engen Grenzen, in denen sich indes auch eine sogenannte autonome korsische Kulturpolitik bewegen soll, erhellen aus einem Schreiben des Präfekten der Region Korsika an den Präsidenten des (korsischen) Rates für Kultur und Erziehung aus dem Jahre 1984, in dem die Verwendung des Korsischen in offiziellen Schreiben gerügt und die ausschließliche Verwendung des Französischen angemahnt wird. Angesichts solcher Vorkommnisse kann sich niemand darüber wundern, daß die politische Glaubwürdigkeit der Regierung schnell erschüttert ist. Es würde zu weit führen, die Hoffnungen und Enttäuschungen der einzelnen Minderheiten zu dokumentieren: punktuellen Fortschritten stehen Rückschläge gegenüber, der Optimismus der Jahre 1981 und 1982 macht der Skepsis und Enttäuschung der folgenden Jahre Platz. Die Enttäuschung wird in manchen Regionen noch durch die Entwicklungen im benachbarten Spanien verschärft: die Katalanen und Basken in Frankreich können miterleben, welche Möglichkeiten zur kulturellen und sprachlichen Selbstbehauptung es gibt, wenn ein politischer Wille sie stützt. Seit einigen Jahren kann sogar das okzitanischsprachige (gaskognische) Val d'Aran mit nur 6000 Einwohnern
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eine sprachpolitische Infrastruktur vorweisen, die nirgends im zu Frankreich gehörenden Teil der okzitanischen Gebiete erreicht wird. Der zweifache Wechsel der Mehrheit in der Nationalversammlung, 1986 und 1988, nuanciert dieses Gesamtbild nur unwesentlich: die Regierung Chirac ist in diesen Fragen weitgehend passiv geblieben, und auch die Regierung Rocard scheint, nach den bisherigen Eindrücken, keinen ernsten Handlungsbedarf zu sehen. Es könnte allerdings sein, daß nun einige Regionen beabsichtigen, ihre Möglichkeiten in Zukunft etwas nachhaltiger auszuschöpfen.
6.2.2.1.3. Versuch einer ersten Bilanz Fast ein Jahrzehnt unter der Präsidentschaft Mitterrands, der auch mit dem Slogan „nous proclamons le droit a la difference" antrat, hat nach außen an der offiziellen Einsprachigkeit Frankreichs kaum etwas geändert. Sicher wird eine genauere Betrachtung hier einiges präzisieren müssen, indes hat sich allenfalls die einstige Gegnerschaft des Staates gegen die „anderen" Sprachen und Kulturen in wohlwollendes Ignorieren verwandelt (das aber rasch durch wütende Aufschreie abgelöst wird, sobald jemand die erklärten Absichten der Programme ernst nimmt). Versucht man, die Gründe für dieses paradoxe Resultat zu erfassen, so wird man auf verschiedene Serien von Faktoren kommen, die sich gegenseitig beeinflussen, von der zentralstaatlichen Seite herrührende, aber auch solche, die bei den Minderheiten selbst liegen, lang- und kurzfristige — und auch solche, die keiner der Beteiligten zu verantworten hat. Jeder sich selbst als Nationalstaat verstehende Staat ist bis zu einem gewissen Grad ein Konstrukt, das seine eigenen Widersprüche in sich birgt. Für Frankreich trifft das, auch nach Einschätzung vieler konservativer („nationalistischer") Politiker, in besonderem Maße zu, da die einstige absolute Monarchie durch Staatsformen abgelöst wurde, die sich — mit wenigen Ausnahmen — alle auf das Erbe der Revolution von 1789 berufen und damit Gruppen sehr unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Tradition zu vereinen suchen. Offensichtlich wird das so gebildete kollektive Bewußtsein noch immer als leicht zerbrechlich angesehen, so sehr, daß viele meinen, es würde interne Differenzierungen — und damit Zerreißproben, nicht aushalten. Schon die Revolution selbst propagiert nach einigem Zögern, in durchaus demokratischer Absicht, die Akkulturation der gesamten Bevölkerung an das herrschende sprachliche und kulturelle Modell (das sich ja nur in Nebensächlichkeiten vom abgelehnten absolutist!-
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sehen unterscheidet) als Ziel. Diese Tendenz wird dadurch unterstützt, daß das Französische noch im 18. Jahrhundert die erste Sprache ganz Europas ist und daß die anderen Sprachen Frankreichs mit wenigen Ausnahmen unter dem Ancien Regime keine öffentliche schriftliche Verwendung mehr kennen. Sprachliche, kulturelle und politische Forderungen werden erst im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich von den Peripherien formuliert, in der Mehrzahl der Fälle jedoch nicht im Hinblick auf die Zukunft, sondern im Rückblick auf die Vergangenheit; die Referenzgröße ist die „gute, alte Zeit" des Ancien Regime, die nur für die Mehrzahl der Betroffenen wenig Attraktivität besitzt. Meistens stellen Notabein Forderungen „für die betroffene Bevölkerung" auf. Damit sind, praktisch das ganze 19. Jahrhundert über und auch über lange Strecken im 20., die Formen der sozialen Praxis und die Ideen, die als zukunftsträchtig angesehen werden, ein Quasi-Monopol des Französischen, das auf diese Weise seine Position im kollektiven Bewußtsein auch all derjenigen stärken kann, die es zunächst gar nicht verstehen. Im 19. Jahrhundert gelingt es den Vertretern der anderen Sprachen nicht, gesellschaftlich attraktive Gegenmodelle vorzuschlagen, so daß im 20. Jahrhundert, schon bevor die sprachliche Akkulturation auch effektiv vollzogen ist, das Französische im Bewußtsein der Betroffenen ein höheres Prestige besitzt als die anderen Sprachen. Damit ist seine Funktion nicht ernsthaft in Frage zu stellen. Natürlich darf man in diesem Zusammenhang den zunehmend effektiveren Einsatz der staatlichen Apparate nicht vergessen: die Positionen waren nicht gleich. Diese zentralistische Tradition ist zunächst eine „linke" Position, erst später hat die „Rechte" sie übernommen und zunehmend verdinglicht. Daher treten die sich selbst als „links" verstehenden Regierungen der Dritten und Vierten Republik als Gegner des Rechts auf Unterschiede auf, obwohl sie damit wohl gerade ihrer Anhängerschaft das Leben schwerer machen und sie bewußtseinsmäßig auf die Zukunft vertrösten müssen. Dieser zentralistische Reflex durchzieht noch heute Teile der „Linken", die sich so — allzuleicht — von der Staatsraison vereinnahmen lassen (die nun ihrerseits ursprünglich zur Begrifflichkeit der „Rechten" gehört). Die verschiedenen Reinterpretationen dieser Begriffe haben dazu geführt, daß sie sich heute nur noch schwer einer Richtung zuordnen lassen, andererseits aber jederzeit als Drohung und zur Abschreckung verwendet werden können. Da auch die jetzt herrschende Staatskonzeption grundlegende Positionen der Verfassung und des staatlichen Selbstverständnisses der gaullistischen Zeit nicht in Frage stellt, da auch das nichtpolitische
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Personal in den Verwaltungen weder ausgetauscht noch zu einer neuen Gesellschaftskonzeption geführt wird (sieht man von kleinen Ansätzen ganz zu Anfang ab), hätte es von vornherein eines mächtigen politischen Willens bedurft, die Wahlversprechen Mitterrands in die Tat umzusetzen. Dagegen wären neben der „Rechten" und den alten Eliten sicher auch andere Gruppen aufgestanden, nicht zuletzt vielleicht die europäischen Partner, die tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in den Mitgliedsstaaten nachhaltig fürchten. Gerade die zunehmende europäische Integration läßt für „Realpolitiker" eine möglichst einheitliche, und das heißt minderheitenfeindliche, Sprachen- und Kulturpolitik als wünschenswert erscheinen. Dabei spielt wohl kaum eine Rolle, daß so die Chance, ein Europa der Völker zu schaffen, das keine hegemonialen Ansprüche erhebt, mit leichter Hand beiseite geschoben wird. Nur ein nachhaltiger Druck von der Basis hätte somit vermutlich nach 1981 eine grundlegend minderheitenfreundlichere Politik herbeiführen können. Diesen Druck konnten und können die Minderheiten in Frankreich jedoch nur in so geringem Maße ausüben, daß er leicht von anderen, stärkeren Interessengruppen überwunden werden kann. Es ist den Minderheiten seit der Revolution nie gelungen, kulturpolitische Programme vorzulegen, die in ihren Gebieten breite Zustimmung gefunden hätten, noch eine längerfristige Zusammenarbeit zwischen den Regionen zu organisieren. Zwar ist es immer wieder, auch in der Nationalversammlung, zu kurzfristigen Interessengemeinschaften gekommen, sie haben die konkreten Anlässe jedoch nicht überdauert. Keiner der sich formierenden autonomistischen Gruppierungen konnte sich längere Zeit halten; alle standen sie schnell auch unter dem Verdacht, die Integrität des französischen Staates in Frage zu stellen und sind daran zerbrochen. Diese Mängel schlagen sich auf die Infrastrukturen nieder: keine der Minderheiten verfügt über adäquate kulturelle Infrastrukturen. Das betrifft die ideelle Seite wie einen Konsens über referentielle Sprachformen und Graphiesysteme, aber auch materielle wie Medien, Forschungs- und Lehrzentren usw. Man wird hier nicht nur die Passivität des Staates beklagen dürfen, sondern muß auch die Unfähigkeit der Minderheiten selbst sehen, solche Strukturen für sich zu schaffen. Dabei wird deutlich, daß der französische Staat schon früh die regionalen Führungskräfte für sich gewinnen und in sein Gesellschaftsmodell integrieren konnte. Natürlich gibt es vielerlei differenzierende Faktoren zwischen den einzelnen Minderheiten: während etwa die Elsässer an der deutschen Kulturproduktion teilhaben können und seit neuem die Katalanen und Basken an der in den südlichen
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Teilen ihres Siedlungsgebietes (wenn auch vielfach nur rezeptiv und nicht aktiv), eröffnen sich solche Möglichkeiten für Bretonen und Okzitanen nicht. Die Probleme auf Seiten der Minderheiten gehen noch weiter: häufig genug bekämpfen sich unterschiedliche Fraktionen erbittert, wobei der Dissens bis zum Verständnis der eigenen kollektiven Identität gehen kann. Die Streitigkeiten zwischen „Okzitanisten" und „Provenzalisten" sind nur ein besonders beredtes Beispiel. Sie erstrecken sich auf Kodifizierungsfragen und solche der sozialen Funktion der betroffenen Sprachen. Man darf annehmen, daß vielen Zentralregierungen solche Auseinandersetzungen nicht unsympathisch waren und sind. Sie verraten aber auch, daß dem übermächtigen französischen Staatsbewußtsein nur ein schwaches kollektives Minderheitenbewußtsein gegenübersteht, das allzu leicht in die Defensive gerät. So hätte es nach 1981 kraftvoll auftretender und fordernder Minderheiten bedurft, welche die neue Mehrheit zwingen, ihre Versprechungen einzulösen. Gerade die Vertreter der Minderheiten glaubten aber, von nun an werde „der Staat" ihre eigenen Schwächen ausgleichen. Angesichts der Vielzahl der sich oft widersprechenden Forderungen, die an die neue Regierung gerichtet wurden und angesichts der kollektiven Bewußtseinslage konnte ihnen jedoch dieses „Geschenk" nicht zuteil werden. Allerdings verpaßte die parlamentarische Mehrheit von 1981 damit auch die Chance, eine neue Kultur- und Sprachenpolitik in Westeuropa einzuleiten, die mit großer Wahrscheinlichkeit längerfristig erhebliche Wirkungen gezeitigt und zum Spannungsabbau beigetragen hätte. In diesem Sinne haben die punktuellen Maßnahmen der letzten Jahre nichts an dem Gesamteindruck geändert, Frankreich sei ein Staat, der mit der Anerkennung des Rechts auf kulturelle Unterschiede große Schwierigkeiten hat.
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6.2.2.2.1. Die Probleme Hier kann die Frage, ob nach dem Ende des Franquismus ein Bruch anzusetzen sei oder ob ein sozusagen „weicher" Übergang erfolgt sei, nicht im Zusammenhang diskutiert werden. Im Hinblick auf das Sprachenrecht ist jedoch zweifellos ein Bruch erfolgt, nicht nur in Bezug auf die Haltung der Diktatur, sondern auch im Hinblick auf
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die jahrhundertealten zentralistischen Traditionen. Allerdings hat die Zentralmacht diesen, wie sich zeigen sollte, auch für sie selbst durchaus gefährlichen Schwenk nicht aus freien Stücken vollzogen, sondern deshalb, weil Mitte der siebziger Jahre das T h e m a der Peripherien zu einem der zentralen Punkte der politischen und institutionellen Diskussion geworden war, mit anderen Worten, weil das kollektive Bewußtsein und der Wille vor allem der Basken und Katalanen der Staatsmacht dieses Thema aufzwingen konnte. Für diese wurde deutlich, daß das Gruppenbewußtsein unter Umständen im Konfliktfall stärker sein könnte als das gesamtstaatliche; machtvolle, in dieser Gewaltigkeit in ganz Europa seit langem nicht mehr gesehene Demonstrationen zeigten das. Hinzu kam, daß es den Katalanen und Basken gegen Ende der Diktatur gelungen war, die gesamte damalige Opposition davon zu überzeugen, daß das Nationalitätenproblem gelöst werden mußte. Andernfalls würde für die politische Organisationsform des Spanischen Staates, zumal in einer Übergangszeit, in der viele Entwicklungen nur schwer abzuschätzen waren, ein gewisses Risiko bestehen. Es kam hinzu, daß der Zentralismus der Diktatur sich als Hindernis für die weitere Entwicklung auf allen Ebenen entpuppt hatte und durch andere, weniger lähmende Strukturen abgelöst werden mußte. Man wird dabei aus dem Verhalten der Zentralregierungen seit 1977 schließen dürfen, daß sie wohl zur Verlagerung administrativer Kompetenzen an die Peripherien bereit waren, jedoch möglichst wenig an politischen Entscheidungsmöglichkeiten abgeben wollten. Das Ziel der Peripherien, besonders der Katalanen und Basken, wird man global als genau entgegengesetzt darstellen dürfen: sie beanspruchten möglichst viele politische Kompetenzen für sich, um den Verbleib im spanischen Staatsverband akzeptieren zu können. Im Principat und im Euskadi existierte ja um die Mitte der siebziger Jahre bereits eine Art „Gegenöffentlichkeit" oder gar eine „Gegengesellschaft", die bereit und auch praktisch in der Lage war, gesellschaftliche M a c h t zu übernehmen. Für eine Reihe von Forderungen gab es einen so breiten Konsens, daß er interne Widersprüche überdecken konnte. Auch waren gegengesellschaftliche Infrastrukturen so weit im formellen Entstehen, daß sie rasch die bestehenden staatlichen Strukturen hätten ersetzen können. Das soll die Existenz interner Widersprüche nicht leugnen. Sie bestanden (und bestehen) in ganz grundlegenden Fragen, etwa der der territorialen Ausdehnung: während die große Mehrzahl der Basken Navarra als zu Euskadi gehörig ansieht, gibt es dort seit langem erhebliche Bedenken gegen diese Zugehörigkeit. Diese Bedenken wer-
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den von jeder Zentralregierung nachdrücklich gestützt, wenn das auch zur Zunahme interner Spannungen führt. An der Mittelmeerküste stellt sich in ähnlicher Weise die Frage nach der Ausdehnung des katalanischen Gebietes: eine enge Definition versteht darunter das Prinzipat, während bei vielen Betroffenen die Konzeption der „Katalanischen Länder" an Raum gewinnt. Eine solche Konzeption läßt andererseits in Valencia und auf den Balearen Befürchtungen wachwerden, daß die Abhängigkeit von Madrid durch eine solche von Barcelona ersetzt werden könnte. Auch diese Widersprüche werden von den Zentralregierungen mit Geschick wachgehalten, um auf diese Weise die zentrifugalen Kräfte zu neutralisieren. Sie haben dadurch dazu beigetragen, Valencia zum Schauplatz eines akuten sprachlichen Konfliktes zu machen, wie er in dieser Schärfe nur an wenigen Stellen Europas zu finden ist. Immerhin war beim Ende des franquistischen Staates wohl allen deutlich, daß eine neue staatliche Ordnung hinter die Zugeständnisse oder Errungenschaften (je nach Perspektive) der Zweiten Republik nicht zurückgehen konnte. Das bedeutete die Wiedererrichtung der Autonomie Kataloniens (des Principat), Euskadis und Galiciens (sie war zwar 1936 vorbereitet, wurde dann aber vom Ausbruch des Bürgerkrieges überrollt). Bevor nun weitere Autonomieforderungen, besonders von Andalusien, Valencia und vielleicht Asturien, den Staat vor zunehmende Zerreißproben stellen konnten, gab die damals entwickelte Konzeption des Estado de las Autonomias, der ganz Spanien in Regionen aufzugliedern vorsah, zum einen Raum, solche Forderungen aufzufangen, zum anderen vermied er einen asymmetrischen Staatsaufbau und nivellierte damit zugleich die Sonderstellung von Katalonien, Euskadi und Galicien. Zugleich gestattete er diesen Regionen, von ihrer Wirtschaftskraft Gebrauch zu machen, verhinderte aber durch das Verbot des Zusammenschlusses, daß sich sekundär Verzerrungen ergaben. Zugleich war mit dieser Konstruktion die Forderung nach Souveränität bzw. Selbstbestimmung zunächst neutralisiert, die sowohl in Euskadi als auch in Katalonien erhebliche Zustimmung gefunden hatte (wobei allerdings nur in Euskadi die Unabhängigkeit auch offen als politische Forderung — nicht nur von Herri Batasuna — formuliert wurde und wird; im Principat bilden die Independentisten mehrere kleine Gruppen, die aber keine eigenständige politische Kraft darstellen). Noch wichtiger war die Frage nach den Inhalten der Autonomie im einzelnen. Die Verfassung von 1978 und die von ihr abhängigen Texte lassen sich auch als eine dreifache Negation lesen: keine insti-
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tutionalisierbare gemeinsame Politik unterschiedlicher Regionen, keine Offizialität der Minderheitensprachen (sondern allenfalls Kooffizialität) und keine namentliche und geographische Absicherung ihrer Positionen in der Verfassung. Der letzte Punkt bedeutet, daß für jede autonome Region die Sprachenfrage neu zu stellen ist und daß jeder Formulierungsunterschied in den Statuten oder in den Einzelgesetzen auch Ansatzpunkt für eine unterschiedliche Behandlung bildet. Verschiedene Regionen, in denen dieselbe Minderheitensprache gesprochen wird, sind praktisch nicht in der Lage, eine einheitliche Sprachpolitik einzuleiten (das zeigt bereits der Vergleich der Statute von Katalonien und Valencia: im zweiten taucht ausschließlich die Bezeichnung Valencianisch für das Katalanische auf). Schließlich beraubt das strikte Territorialitätsprinzip jeden Basken, Galicier oder Katalanen, der sich außerhalb seiner Region aufhält, jeglicher sprachlicher Schutzrechte. Nicht umsonst lautet Art. 3.1. der spanischen Verfassung: „El castellano es la lengua espanola oficial del Estado. Todos los espanoles tienen el deber de conocerla y el derecho a usarla." Aber auch innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens haben seit 1978 alle Zentralregierungen versucht, so wenig wie möglich an Terrain preiszugeben dort, wo autonome Regierungen ihre Rechte extensiv wahrzunehmen suchen. Das gilt insbesondere für die katalanische und baskische Regierung, seit einiger Zeit scheint allerdings auch die Regierung Galiciens verstärkt ihre Rechte zu vertreten. Es kommt hinzu, daß die autonomen Regierungen gewöhnlich anderen politischen Gruppierungen angehören als die Zentralregierung und sich damit das Konfliktpotential noch vergrößert. Andere autonome Regierungen, wie etwa die valencianische, nützen den vorhandenen Spielraum weniger aus (hier sicher mitbedingt durch die konfliktuelle Situation) und erreichen dadurch weniger für die betroffenen Sprachen. In diesen Fällen substituieren sich mitunter andere Organisationen. Das bringt aber eine im einzelnen oft widersprüchliche Situation mit sich, welche juristischen Auseinandersetzungen Tür und Tor öffnet. Solche Rechtsunsicherheiten, die auf jeden Fall zur Verzögerung jeder Politik verwendet werden können, werden von den Betroffenen leicht als der böse Wille oder die Doppelzüngigkeit der Zentralmacht angesehen; dadurch können auf die Dauer Bestrebungen zur Unabhängigkeit zumindest akzentuiert werden. Im Folgenden soll exemplarisch kurz auf die beiden wichtigsten Regionen, Katalonien und Euskadi, eingegangen werden, um die Möglichkeiten und die Grenzen des spanischen Modells deutlich zu machen, aber auch um die soziolinguistischen Unterschiede in den Positionen der betroffenen Sprachen etwas zu verdeutlichen.
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6.2.2.2.2. Das Beispiel Katalonien Wahrscheinlich zeigt Katalonien, was für eine Minderheit unter der derzeitigen Verfassung unter günstigsten Voraussetzungen möglich ist. Das Katalanische ist eine alte romanische Schriftsprache, die weltweit von etwa 10 Millionen Sprechern gesprochen wird und seit den „Normes Ortografiques" von 1913 auch eine allgemein anerkannte Sprachkodifikation besitzt. Sie war in der Zweiten Republik kooffiziell; damals ist auch der soziale Ausbau des Sprachgebrauchs stark vorangetrieben worden. Die zum Teil auch über die Verfolgung geretteten kulturellen Strukturen und die sehr aktive katalanische „Gegengesellschaft" hat diesen Zustand nicht nur zu halten versucht, sondern sich sogar um eine Ausdehnung des Sprachgebrauchs auf neue Textsorten bemüht; punktuell ist das gelungen. Trotz der widrigen Umstände konnte auch ein Teil der Einwanderer aus anderen Teilen Spaniens an die einheimische Sprache und Kultur herangeführt werden. Zumindest unter den autochthonen Katalanen ist der Konsens hinsichtlich der Forderung nach sprachlicher Gleichberechtigung erreicht, was der kulturellen Bewegung eine enorme Durchschlagskraft verleiht. Die 1976/77 vielfach vertretene Forderung, Katalanisch zur ersten oder gar einzigen offiziellen Sprache des Principat zu machen, ist allerdings nicht durchgesetzt worden. Immerhin schöpft Art. 3 des Autonomiestatuts den Spielraum so weit wie möglich aus. Dort steht: „1. La llengua propia de Catalunya es el catala. 2. L'idioma catala es l'oficial de Catalunya, aixi com tambe ho es el castella, oficial a tot l'Estat espanyol." In einem Abschnitt desselben Artikels werden Schutz und Rechte des Aranischen angedeutet. Seither ist der katalanischen Regierung eine Reihe von Erfolgen auf dem Weg zur Verwirklichung der Kooffizialität beschieden gewesen. Nicht der geringste ist sicher die Verabschiedung und beginnende Umsetzung eines Gesetzes zur sprachlichen Normalisierung vom 18. April 1983 gegen den hinhaltenden Widerstand der aufeinander folgenden Zentralregierungen. Mittlerweile ist die Einführung des Katalanischen im Schulwesen, entweder als Unterrichtssprache oder als Fach, wohl vollständig verwirklicht, das Katalanische kann in allen autonomen und kommunalen Verwaltungen verwendet werden, es gibt katalanische Zeitungen und Zeitschriften, Radio- und Fernsehsender. Die gesamte Toponymie ist infolge des Normalisierungsgesetzes katalanisiert (bzw. im Val d'Aran aranisiert) worden. Eine aktive Kulturpolitik stützt das katalanische Verlagswesen und die gesamte kulturelle Produktion und bemüht sich sehr um die
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internationale Verbreitung der katalanischen Sprache und Kultur. Es ist heute zweifellos möglich, im Principat „auf Katalanisch" zu leben und zu arbeiten. Auch die gesamte Bevölkerung scheint nach wie vor entweder sehr an der Sprache und Kultur zu hängen oder, das gilt insbesondere für die Zuwanderer, ihre Bedeutung so hoch einzuschätzen, daß ihre sprachliche Integration im letzten Jahrzehnt erhebliche Fortschritte zu machen scheint. Unbefriedigend bleibt offensichtlich nach wie vor die Zusammenarbeit mit den anderen katalanischsprachigen Regionen. Unbefriedigend bleibt auch der oft offensichtlich mangelnde Wille der Zentralmacht, gewisse Regelungen der Generalitat (katalan. Regierung), etwa hinsichtlich der Toponymie, in ihre eigene Praxis zu übernehmen. Diese mangelnde Bereitschaft, die sich sicher zum Teil mit Unachtsamkeit und Schlamperei erklären läßt, hat zu dem paradoxen Ergebnis geführt, daß in manchen katalanistischen Kreisen die Gesamtstimmung heute gereizter geworden ist als zu Ende der Franco-Zeit. Auf dem Zweiten Internationalen Kongreß der Katalanischen Sprache (1986) waren einige schrille Töne zu hören, und auch der katalanische Nationalfeiertag, der 11. September, wird zum Forum von zunehmend kritischeren Reden und Stellungnahmen. Die Zusammenarbeit der verschiedenen katalanischen Gebiete kann nach wie vor nur auf einer weitgehend privaten Basis vorangetrieben werden. Sicher sehen die anderen autonomen Regionen das auch mit einer gewissen Befriedigung; sie müßten sonst fürchten, von der Dynamik Barcelonas überrollt zu werden. Trotz der erwähnten Abstriche wird man sagen können, daß derzeit die institutionelle Zweisprachigkeit in Katalonien weitgehend funktioniert und daß die augenblickliche Dynamik der Entwicklung darauf hindeutet, daß das Katalanische im Bewußtsein und in der Praxis der Sprecher seine Position verbessern kann, obwohl es nach den Texten allenfalls die gleichen Rechte wie das Kastilische genießt.
6.2.2.2.3. Das Beispiel Euskadi Das Baskische ist eine nichtindoeuropäische Sprache, über deren Zuordnung bis heute noch keine wirkliche Klarheit besteht. Aufgrund ihrer von indoeuropäischen Mustern stark abweichenden Strukturen gilt die Sprache als schwierig. Die Zahl der Sprecher dürfte nach den höchsten Schätzungen 900000 kaum übersteigen, andere rechnen mit 750000, davon 600 000 oder etwas mehr im Spanischen Staat. Das Baskische wird zwar seit dem 16. Jahrhundert geschrieben und ge-
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druckt, wenn auch lange Zeit nur in bescheidenem Umfang und nach unterschiedlichen Modellen (die baskischen Dialekte haben sich teilweise deutlich auseinanderentwickelt). Erst in jüngster Zeit sind die Bestrebungen zur Schaffung einer referentiellen Sprachform („Batua") energischer vorangetrieben worden, allerdings findet sie noch nicht überall einhellige Anerkennung. Letztlich ist die Erklärung des Baskischen zur kooffiziellen Sprache zu einem Zeitpunkt gekommen, an dem ihre Normativierung noch nicht so weit vorangetrieben war, daß ihre vollständige Normalisierung problemlos hätte eingeleitet werden können. Die jetzigen, unausweichlichen und letztlich auch heilsamen Auseinandersetzungen spielen sich daher vor dem Hintergrund einer zunehmenden offiziellen Rolle der Sprache ab, welche für Revisionen natürlich nicht sehr geeignet ist. Immerhin gibt es mittlerweile die notwendigen Lehrbücher, und die baskischen wissenschaftlichen Institutionen geben sich mit der Erarbeitung weiterer Materialien große Mühe. Man darf dabei nicht vergessen, daß selbst in Euskadi das Baskische nur von einer Minderheit der Sprecher beherrscht wird; während man vor ca. 100 Jahren noch annahm, daß 54% der Bewohner des spanischen Baskenlandes die Sprache beherrschten, werden für die Zeit nach Francos Tod nur noch 23% angegeben. Vermutlich ist diese Zahl heute zu niedrig angesetzt, außerdem hat seit dem Schärferwerden des baskisch-kastilischen Konfliktes eine erhebliche Anzahl von Basken die Sprache offensichtlich sekundär gelernt. Trotz dieser nur schwer in Zahlen anzugebenden Fortschritte bleibt die Gesamtzahl der Sprecher niedrig. Es ist auch praktisch unmöglich, wie im Fall des Katalanischen, daß ein Kastilischsprecher sich beiläufig, nur durch die Praxis, eine komplexer werdende Kompetenz erwirbt, da aufgrund der großen sprachlichen Unterschiede ein näherungsweises Verstehen, das einen ersten Schritt bedeutet, kaum erwartet werden kann. Zu diesen sprachlichen Problemen kommen allgemeinpolitische. Bei genauer Betrachtung wird man die späte Franco-Zeit in Euskadi als eine mehr oder weniger insurrektionelle Periode betrachten müssen, viele Basken fühlten sich in einem „besetzten Gebiet". Diese Auseinandersetzungen kamen auch nach dem Ende der Diktatur nicht zur Ruhe; sich kombinierende soziale und kulturpolitische Forderungen, hinter denen offensichtlich ein großer Teil der baskischen Bevölkerung stand, wurden für die Betroffenen nicht in befriedigender Weise erfüllt, so daß vor allem die verschiedenen Fraktionen der ETA den Kampf fortsetzten und dabei auf ein erhebliches Maß an kollektiver Zustimmung bauen konnten, die auch nur sehr langsam abzubröckeln scheint. Die Mehrheit der baskischen Wähler hat die spanische Ver-
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fassung bei der Volksabstimmung von 1978 abgelehnt und 1986 den Eintritt in die N A T O zurückgewiesen. Dazwischen läßt sich eine kontinuierliche Zunahme der Wählerstimmen für die rein baskischen Parteien feststellen, die alle die politische Unabhängigkeit nicht explizit ausschließen. Alle Umfragen wiesen auf eine wachsende Zahl von Anhängern der politischen Unabhängigkeit hin. Sicher fühlen sich viele Basken nach wie vor im spanischen staatlichen Rahmen nicht wohl, und es ist den Regierungen der letzten Jahre ganz offensichtlich nicht gelungen, diese Vorbehalte allmählich abzubauen. Dazu kommt noch, daß auch die internen sozialen Widersprüche in den letzten zwanzig Jahren stetig gewachsen sind: dieses hochindustrialisierte, reiche Gebiet ist in eine tiefe wirtschaftliche Krise geraten. Die Kooffizialität des Baskischen ist ebenfalls im Autonomiestatut festgelegt (Art. 6), allerdings erscheint die Formulierung etwas schwächer als im Falle Kataloniens: „1. El euskera, lengua propia del Pueblo Vasco, tendrä, como el castellano, caracter de lengua oficial en Euskadi, y todos sus habitantes denen el derecho a conocer y usar ambas lenguas." So sehr sich die baskischen Regierungen um die Förderung der Sprache bemühen, sie müssen den sprachlichen Realitäten Rechnung tragen und können daher allenfalls den Versuch einer symbolisch symmetrischen Sprachpolitik betreiben, die aber in vielen Fällen in der täglichen Kommunikation dem Kastilischen eine übergeordnete Rolle einräumen muß. Eine Wirkung auf längere Sicht läßt sich nur durch die allmähliche Umsetzung des Gesetzes zur sprachlichen Normalisierung erwarten, das die Verwendung beider Sprachen in der Schule vorsieht. Auch die Existenz der zweisprachigen Medien Presse, Rundfunk und Fernsehen kann auf längere Sicht eine für das Baskische positive Wirkung haben. Besondere Bedeutung kommt der Sprache als einem der symbolischen Integrationswerte für die Basken zu. Solange sich viele Basken bestenfalls am Rande der spanischen Gemeinschaft fühlen, wird solchen Werten eine große, möglicherweise noch steigende Bedeutung zukommen. t ) a derzeit wenig auf eine grundlegende Entkrampfung des Verhältnisses hindeutet, könnte darin ein Motiv für verstärkten Gebrauch der Sprache liegen, das zwar sicher nur langfristig greift, dafür aber in umso nachhaltigerer Weise.
6.2.2.2.4. Versuch einer Bilanz Während in Frankreich die Politik der letzten Jahre allenfalls eine Verlangsamung des Rückganges der Minderheitensprachen bewirkt hat, ist das Bild im Hinblick auf Spanien vielschichtiger. Auf der einen
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Seite sieht man eine Sprache, die man wohl als in Expansion befindlich betrachten darf, nämlich das Katalanische (wenn auch mit deutlichen Gradunterschieden zwischen dem Principat und den anderen Gebieten im Spanischen Staat); ihr steht eine zweite zur Seite, für die man mit Abschwächungen ganz ähnliche Feststellungen machen kann, nämlich das Galicische (oder Galegische) mit wohl knapp drei Millionen Sprechern. Eine dritte, das Baskische, scheint trotz schwieriger Ausgangslage ihr Terrain im Augenblick zu behaupten. Daneben gibt es aber auch einige Sprachen, die zwar in den jeweiligen Autonomiestatuten erwähnt werden, wie das Bable oder das Aragonesische, deren wirkliches Schicksal sich jedoch stark an das der Minderheitensprachen in Frankreich annähert. Das hat natürlich, insbesondere angesichts der besonderen Bedingungen, unter denen die heutige spanische Verfassung ausgearbeitet wurde, einiges mit der Zahl der Sprecher und dem kollektiven Bewußtsein der Betroffenen zu tun: nur die stärksten der Minderheiten haben es vermocht, dem Spanischen Staat das Zugeständnis der Absicherung ihrer Existenz- und Entfaltungsrechte abzutrotzen. Andere werden noch mit mehr oder weniger musealen Argumentationen erwähnt, die Sprachen nicht territorialisierter Minderheiten wie der Tsiganen finden nirgends Erwähnung. Man wird deutlich genug auf die grundlegende Veränderung der spanischen Staats- und Sprachkonzeption hinweisen können, die eine in Westeuropa einmalige Veränderung darstellt. Allerdings muß man auch sehen, daß sie gegen den zähen Widerstand vieler zentralistischer Kräfte in einer historischen Ausnahmesituation zustandegekommen ist, aber selbst da nur in den Gebieten, in denen die Betroffenen genügend Druck aufbieten konnten, um Lösungen zu erzwingen, die ihre Forderungen mitberücksichtigten. Dabei darf man nicht vergessen, daß der Verfassungstext und die Autonomiestatute Kompromisse sind, die von manchen der Betroffenen (auf beiden Seiten) als die äußerste Grenze des eben noch Vertretbaren angesehen werden. Es zeugt daher sicher nicht von viel Fingerspitzengefühl, wenn die Zentralmacht immer wieder Entscheidungen nachträglich zu ihren Gunsten revidieren möchte und Parteien, die sich in der Opposition als sehr peripherienfreundlich gebärdeten, die zentralistischen Positionen ihrer Vorgänger übernehmen, wenn sie in Madrid an die Macht kommen. Nur ein langfristiger Prozeß kann zum problemlosen Funktionieren des Estado de la Autonomias führen, er erfordert sicher über mehrere Generationen hinweg ein allmähliches Umdenken bei allen Beteiligten. Erst wenn die Katalanen, Basken und Galicier im Bewußtsein der Kastilischsprachigen — und gerade in dem des sogenannten „kleinen Mannes" — keine eigenbrötlerischen Spinner mehr
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sind und wenn andererseits das Kastilische und die Kastilier von Basken und Katalanen nicht mehr als Träger der Unterdrückung und Entfremdung angesehen werden, wird man das Experiment als geglückt betrachten können. Inzwischen sind die Betroffenen, das zeigt vielfache Erfahrung, oft noch weit davon entfernt. Ob ihnen die historischen Entwicklungen Zeit für eine Veränderung lassen? Ein Gelingen des Versuches kann auf längere Sicht auch eine große Hoffnung und ein Beispiel für die Entwicklung ganz Westeuropas sein. Die Dialektik zwischen Zentralismus und Autonomie ist mühsam und komplex, doch vielleicht nähert sich Spanien, wenn es auch nicht immer den Anschein hat, einem dauerhaften Ausgleich an.
6.2.3. Perspektiven für die Zukunft: Die europäische Integration Die europäische Einigung, die sich zunächst in einer westeuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft verwirklicht, schreitet voran, immer mehr Kompetenzen gehen von staatlichen auf übernationale Instanzen über. Damit wird sich, in einer heute absehbaren Zukunft, die Sprachenfrage in Europa, wenn nicht sogar weltweit, erneut stellen. Heutige Staatssprachen geraten in neue Positionen, denn in gewissen Situationen müssen vielsprachige Gemeinschaften auf einige wenige Kommunikationsmittel als Hilfssprachen zurückgreifen. Das geschieht bereits explizit oder implizit, wie die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen zeigen. Diese Bedürfnisse werden mit zunehmender Integration wachsen. Für Spanien und Frankreich ist die Europäische Gemeinschaft heute das wichtigste Feld, zumal sie ja auch die politische Integration vorantreiben will. Welche Folgen kann die europäische Konstruktion für die heutigen Sprachminderheiten der einzelnen Mitgliedsländer zeitigen? Es gibt, grob gesagt, zwei Grundeinschätzungen. Die eine, eher zuversichtliche, läßt sich etwa folgendermaßen beschreiben: durch den europäischen Integrationsprozeß werden auch die sprachpolitischen Karten neu verteilt. Das Sprachenrecht muß eine Abkehr vom nationalstaatlichen Denken vornehmen, insgesamt ist ein Mehr an Öffnung zu erwarten. Minderheiten, die über verschiedene Staaten verstreut leben, werden ihre interne Zusammenarbeit verstärken können. Außerdem wird es vor allem zwei Kategorien von Sprachen geben, nämlich einmal einige wenige europäische Verkehrssprachen, die zur Kommunikation zwischen den Angehörigen verschiedener Gruppen dienen; alle anderen Sprachen werden sozusagen gleichberechtigt im zweiten Glied stehen, aber als Muttersprachen weniger angefochten
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sein als bisher, da der bisherige Druck der Staatssprachen geringer werden könnte. Dadurch könnte eine Reihe von Sprachen relativ aufgewertet werden, und auch in Europa würden Formen der funktionalen Mehrsprachigkeit weiter verbreitet, die es heute schon (oder noch) in vielen Teilen der Erde gibt. Dabei würde es sich allerdings nicht um eine Diglossie mit allen in dem Terminus enthaltenen wertenden Konnotationen handeln. Solche Positionen werden besonders in relativ „starken" Minderheiten vertreten, die schon über eine gewisse Infrastruktur verfügen. Sie haben schon begonnen, sich organisatorisch zusammenzuschließen, um sozusagen ein Parallelogramm der Kräfte zu bilden, die eigene Position zu verbessern und einer weiteren Marginalisierung vorzubeugen. Bei dieser Gruppe sind ζ. B. die Katalanen recht aktiv, den meisten Minderheiten in Frankreich fehlt bereits die Infrastruktur, die es ihnen erlauben würde, sich kontinuierlich an diesen Bemühungen zu beteiligen. Die zweite Grundannahme vermutet im Gegenteil, daß sich der sprachliche und kulturelle Monopolisierungsprozeß in einer solchen größeren Gemeinschaft weiter fortsetzen wird, daß die heutigen Minderheitensprachen vermutlich noch mehr zur quantite negligeable werden, daß ihnen aber auch manche heutige Staatssprachen nachfolgen werden und daß — so wie die Dinge derzeit aussehen — nur die Sprecher des Englischen sich keine Sorgen zu machen brauchen. Diese zweite Befürchtung hegen nicht nur viele Angehörige von Minderheiten, die heute schon in einer schwachen Position leben müssen, sondern auch Sprecher mancher Staatssprachen, die dadurch schon jetzt ihren Druck auf die Minderheitenkulturen in ihren jeweiligen Staaten zu verstärken versuchen. In einigen Fällen hat das zu dem wohl paradoxen Ergebnis geführt, daß Verteidiger von Minderheitensprachen auf ein zweistufiges Modell umschwenken: im eigenen Staat vertreten sie die Interessen der Minderheitensprache(n), auf europäischer oder internationaler Ebene jedoch ihre jeweilige Staatssprache. Ob sie damit „ihrer" Minderheitssprache noch ernsthaft nützlich sein können, muß eine offene Frage bleiben. Jede Voraussage der Zukunft wäre Spekulation, zwei Feststellungen kann man allerdings schon heute treffen: bislang hat die Europäische Gemeinschaft insbesondere den bevölkerungs- und wirtschaftsstärksten Mitgliedern — und innerhalb derer wieder den mächtigsten Regionen — genützt; starke und dynamische Gruppen und Räume können ihr Gewicht noch verstärken. Bislang deutet kein sicheres Anzeichen darauf hin, daß diese Zentralisierungsprozesse durch die weitere Integration außer Kraft gesetzt werden. Schließlich werden alle Minderheiten in einem Gebilde von ca. 325 Millionen Menschen
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vergleichsweise noch viel „kleiner" sein als in den bisherigen Staaten. Ihre gebührende Berücksichtigung auch dann noch dürfte, wenn nicht rechtzeitig weitreichende kulturelle Konventionen ausgearbeitet werden, auch von der Sache her schwierig werden und würde weithin das Abgehen von den bislang üblichen Denk- und Argumentationsstrukturen notwendig machen. Skepsis erscheint also angebracht.
6.3. Der Unterricht in den Regionalsprachen Frankreichs und Probleme ihrer sprachlichen Normierung Wenn im folgenden die Ergebnisse der seit dem 10. Mai 1981 unter der Präsidentschaft von F r a ^ o i s Mitterrand eingeleiteten Kultur- und Bildungspolitik einer Beurteilung unterzogen werden, dann kann damit nur ein Standpunkt unter vielen zur Sprache gebracht werden. Die Haltungen zum Thema der Regionalsprachen Frankreichs (die wir im folgenden wegen ihres Status der Unmündigkeit minorisierte Sprachen nennen) weisen bekanntlich ein sehr breites Spektrum auf, das davon beeinflußt wird, wie stark der einzelne von diesem Problem direkt oder indirekt betroffen ist und wie er die offenkundigen Widersprüche und öffentlichen Ausflüchte hinnimmt. Eines darf jedoch als gesichert gelten: Zum ersten Male erlauben es die in den letzten Jahren getroffenen Maßnahmen, die regionalen Sprachen und Kulturen voll und ganz in die Schulpraxis einzuordnen. Zwar ist Henri Giordans Bericht „Democratic culturelle et droit a la difference" ( G I O R D A N 1983) im Auftrag des Ministers für Kultur erstellt worden, aber die für die Behandlung der Minderheitensprachen entscheidenden Maßnahmen, das Rundschreiben des damaligen Ministers für nationale Erziehung, A. Savary, von 1983 und die Zulassung eines Lehrerstudienganges für Bretonisch im Sommer 1985 leiten sich als zweiter Schritt in diese Richtung unmittelbar davon ab. Auf alle Fälle hat das Jahr 1981 die öffentliche Behandlung des Themas verändert, wenn auch die Wirksamkeit der Maßnahmen und die Ergebnisse mit Zurückhaltung aufgenommen werden sollten, zumal einmal getroffene gesetzliche Entscheidungen auch wieder zurückgenommen worden sind. Es ist trotz alledem nicht zu leugnen, daß 1981 der Übergang von einer vorwiegend starren Politik, die die minorisierten Sprachen immer mehr erdrückte, zu einer dynamischeren erfolgt ist, die auch für neue Erfahrungen offen ist.
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In unserer Einschätzung des soziolinguistischen Kräfteverhältnisses in Frankreich haben wir die neue sprachpolitische Situation und das unvermeidliche Fortbestehen des Alten im Neuen zu berücksichtigen. Neu ist, daß die Existenz der minorisierten Sprachen als selbstverständlich hingenommen wird und sie ihre Lebenskraft trotz langer Verachtung und Verfolgung bewahrt haben; neu ist nach Jahrhunderten des Zentralismus, der im Sprachentod die vermeintlich beste politische Lösung gesehen hatte, auch die Risikobereitschaft gegenüber Schwierigkeiten, die aus der neuen Lage unvermeidlich erwachsen. Dennoch auch Fortbestehen von Altem im Neuen: tausende Rückzugsgefechte, die auch offizielle Unterstützung finden, wie ζ. B. durch die Erklärung des späteren Ministers für Erziehung, J.-P. Chevenement, wonach man den Kindern mit dem Erlernen einer Regionalsprache keinen Dienst erweisen würde. Von besonderem Interesse sind für uns die soziolinguistischen Auswirkungen der neuen sprachpolitischen Situation. Die neue Politik trägt zweifellos zu einem Wandel des Kräfteverhältnisses und der Einstellungen bei. Die im Zirkular Savarys vorgesehene Erweiterung des Unterrichts in den Regionalsprachen und die Einrichtung eines Lehramts-Studienganges für Bretonisch hat den minorisierten Sprachen einen offiziellen Status verschafft und das sprachliche Selbstwertgefühl ihrer Träger ungemein erhöht. Es sind damit Prozesse des regelnden Eingriffs in die Entwicklung jeder dieser Sprachen in Gang gesetzt worden, die vor allem ihre Normierung betreffen. Bei der heutigen Lage der Textproduktion in diesen Sprachen ist die Unterrichtspraxis gegenwärtig offenbar der wichtigste Faktor der Wiederbelebung dieses Prozesses. Sie darf aber nicht der einzige bleiben, wovon noch die Rede sein soll. So besteht einerseits das Gefühl eines unleugbaren Fortschritts, der neue Perspektiven eröffnet, andererseits aber lassen das zögernde Verhalten der Inspektoren und Schuldirektoren sowie die Ausflüchte des Ministers den Eindruck entstehen, daß die Partie noch nicht zu Ende gespielt ist. Unter dem Strich bleibt, daß sich die regionalen Sprachen und Kulturen in einer neuen Lage befinden, in der ein neues Kräfteverhältnis möglich wird und viele Aufgaben mit der Aussicht auf ihre Verwirklichung gestellt werden können. Die heutige Lage erlaubt es, die erzieherischen und didaktischen Fragen des Unterrichts in den minorisierten Sprachen anders als nur in Wunschvorstellungen, Provokationen oder Phantasmen zu stellen. Es wird sich nunmehr erweisen, welche Vorschläge real und lebensfähig sind und welche Forderungen von den Massen aufgegriffen werden.
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Damit stellt sich die Sprachfrage im eigentlichen Sinne des Wortes: Wenn die seit Jahrhunderten festgefahrenen Verhältnisse in Bewegung geraten, beginnen die Prozesse zu wirken, die eine Sprache zur Sprache machen, sie entstehen oder verschwinden lassen, in Dialekte aufspalten oder zur Normierung führen. Ist es ζ. B. nicht paradox, daß das Savary-Zirkular für manche minorisierten Sprachen ein Danaergeschenk ist? Hat es Sinn, gutwilligen Lehrern drei Wochenstunden Unterricht anzubieten, wenn eine Sprache so verfallen ist wie das Pikardische? Ein „unbestreitbarer Sieg", aber „zahllose Hindernisse", meint J. L A N D R E C I E S (1984). Und ist es nicht auch eine recht zweifelhafte Ehre, wenn diese Sprache „in Rang und Behandlung den in der Oberstufe bislang unterrichteten alten und neuen Sprachen gleichgesetzt wird"? J. Landrecies bemerkt sehr richtig, daß dieser unleugbare Fortschritt „die Gefahr einer für das Pikardische schädlichen Wachstumslage in sich birgt". Man hat richtig gelesen: das Pikardische, und nicht der Pikardischunterricht. Wir meinen, daß diese Formulierung vollauf berechtigt ist und werden dies weiter unten erläutern. Das Pikardische muß in der Tat erst wieder zu einer Sprache gemacht werden, sprachpolitische Eingriffe sind erforderlich. Einem Schwerkranken kann man nicht voreilig übermäßige Anstrengungen zumuten. Damit soll keineswegs die mit dem Zirkular begonnene Öffnung in Frage gestellt werden. Man kann jedoch vom Pikardischen nicht von heute auf morgen dieselbe Vitalität erwarten wie vom Elsässischen, Okzitanischen oder Korsischen. Es ist aber schon ein Fortschritt, daß solche nahezu ausweglos erscheinenden Ungleichheiten ebenso wie die Notwendigkeit einer Abhilfe vielen bewußt geworden sind. Einem exzessiven Zentralismus gegenüber erscheint die Dezentralisierung als radikaler Wandel, sobald es aber um konkrete Realisierungen geht, treten die bis dahin verdrängten Probleme in aller Deutlichkeit zutage. Wenn von Sprachen die Rede ist, gleichviel, ob es sich um dominierende oder entmündigte handelt, spielt bekanntlich die Frage der Norm eine entscheidende Rolle. Das Argument des Fehlens oder Vorhandenseins einer Norm hat bis heute schon viel Verwirrung und Uneinigkeit gestiftet. Man denke nur daran, wie das Provenzalische Mistrals dazu mißbraucht wurde, die Anerkennung eines okzitanischen Kultur- und Sprachraumes zu hintertreiben. Die Problematik ist nach wie vor aktuell: Verwiesen sei auf das Zirkular des Ministeriums vom 29. März 1976, in welchem mit dem Blick auf die dialektale Variation im okzitanischen Raum mit polemischer Schärfe von den „langues d'oc" gesprochen und betont wird, daß „immer dann, wenn
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eine Sprache in Gestalt unterschiedlicher Dialekte gebraucht wird, der lokale Dialekt der Gegend verwendet werden soll, in welcher der Unterricht stattfindet, und die Schreibweise, die für diesen Dialekt die geeignetste ist". Jener Zankapfel wurde gewiß im Kontext einer Politik benutzt, die auf die Degradierung der minorisierten Sprachen zu Dialekten abzielte. Leider findet diese Politik auch heute noch eine Fortsetzung, ζ. B. im Postulat einer vom Okzitanischen unabhängigen auvergnatischen Sprache. Die zentrifugalen Kräfte, die in sprachlichen Minorisierungsprozessen immer auf den Plan treten, leisten folglich nach wie vor denen Schützenhilfe, die sich gegen die Anerkennung der minorisierten Sprachen — die ja notwendig vereinte Anstrengungen zur Fixierung einer weiten Norm erfordert — auflehnen. Die Frage der Norm ist ein Schlüssel auch für das Verständnis zweier so unterschiedlich gelagerter Sprachsituationen wie im Elsaß und auf Korsika. Im Gegensatz zu heute gab es noch vor ca. 100 Jahren große Ähnlichkeiten zwischen beiden. Während das Elsässische mit seiner weit verbreiteten mündlichen Praxis und seinen schriftlichen Möglichkeiten (Zeitungen, Plakate, Aufschriften u. dgl. auf Elsässisch) zu den Sprachen Frankreichs gehört, steht es gleichzeitig etwa in demselben Verhältnis zur deutschen Literatursprache wie jeder andere deutsche Dialekt. Wenn daher dem Elsässischen der Status einer eigenständigen Sprache zuerkannt wird, dann ist es paradoxerweise schwer, zu entscheiden, ob ein Elsässer, der Französisch, Elsässisch und Deutsch spricht, zwei- oder dreisprachig ist. Man könnte sagen, daß das Elsässische eine Regionalsprache ist, die in ihrer schriftlichen Form der deutschen Literatursprache folgt. In einer im November 1981 von der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei des Departements Bas-Rhin, der C G T und der C F D T des Elsaß und der ökologischen und kulturellen Bewegung unterzeichneten Vereinbarung wird das Problem durch folgende Formulierung gelöst: „die regionale Sprache (das dialektale Elsässerdeutsch und die deutsche Literatursprache) und Kultur müssen denselben gesellschaftlichen und schulischen Status erhalten wie die französische Sprache und Kultur". Die zu fördernde Sprache ist also das „dialektale Elsässerdeutsch" und die „deutsche Literatursprache" gleichzeitig. Vor hundert Jahren hätten entsprechende sprachlich-politische Regelungen für das Korsische zu einer ähnlichen Lösung führen können. Den korsischen Dialekten hätte eine dem Französischen gleichgestellte Behandlung der italienischen Literatursprache zweifellos gutgetan. J. F U S I N A (1984) erinnert daran, daß „Korsisch und Italienisch (Toskanisch) bis zur Mitte des 19. Jhs. als zwei Register ein- und derselben Sprache, des Italienischen, galten, wobei Korsisch die gesprochene und Italienisch die schriftkul-
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turelle Sprache war". Unter Berufung auf F. Ettori zeigt er, wie „die Herausbildung einer Literatur mit umfassenden Ausdrucksmöglichkeiten" dazu geführt hat, daß das Korsische heute „als eine eigenständige Sprache angesehen wird". Man darf bezweifeln, ob damit die einzige Ursache benannt ist. Der geographische Faktor der Insellage ist ebenso zusätzlich in Rechnung zu stellen wie politisch-soziale Gründe. Alle diese Faktoren zusammengenommen haben bewirkt, daß das Sprachbewußtsein der Korsen heute ein anderes ist als das der Elsässer und sich das Korsische in den letzten einhundert Jahren von einem Dialekt zu einer vollwertigen Sprache hin entwickelt hat. Vom Korsischen ausgehend schlug J.-B. M A R C E L L E S I (1983; 1984) den Begriff polynomische Sprachen vor, auf den wir im folgenden noch zurückkommen werden. Mit der Entwicklung des Sprachbewußtseins auf Korsika hat sich M A R C E L L E S I 1984 beschäftigt. Seiner Meinung nach sind politische und ideologische Faktoren oft von grundlegender Bedeutung, wenngleich sie manchmal auf Umwegen wirken. So hinderte der Kampf um die Unabhängigkeit Pasquale Paoli, den „Vater des Vaterlandes", im 18. Jahrhundert nicht daran, Italienisch als die Sprache Korsikas anzusehen. Dieser Ansicht, derzufolge sich das Korsische in einem Satellitenverhältnis zum Italienischen befände, ist in Frankreich so weit verbreitet, daß das Korsische 1951 nicht in den Genuß der Vorteile der „Loi Deixonne" gekommen ist, die den Unterricht in den Regionalsprachen in allerdings beschränktem Maße zuließ. Gleichzeitig entstand aus dieser Lage heraus der ebenso mystische wie wirksame Diskurs über den angeblich großen Abstand zum italienischen Standard, den mediterranen Charakter des Korsischen, seine besonders ausgeprägte Latinität usw. Vor diesem soziolinguistischen Hintergrund nehmen die Korsen heute ihre Sprache wahr, wobei sie die sprachliche Variation und den sprachlichen Abstand sehr differenziert beurteilen, je nachdem, ob die Diversität extern — in Bezug auf Italienisch oder italienische Dialekte — oder intern — hinsichtlich korsischer Dialekte — ist. Frappierend ist in dieser Hinsicht der Sandhi im Anlaut (d. h. die stimmhafte bzw. stimmlose Realisierung der Anlautkonsonanten in Abhängigkeit von der lautlichen Umgebung). Im Norden betrifft er alle Konsonanten, während er im Süden Beschränkungen unterliegt. In den Fällen, in denen er eine pankorsische Erscheinung ist, wirkt er als wichtiger Indikator für die soziolinguistische Korsität. Wer sali („Salz") !u sali! statt /u zali/ ausspricht, wird als Nichtkorse identifiziert, während die regionalen Varianten, ζ. B. das Fehlen des Sandhi b —> w im Süden als solche anerkannt werden. Zahlreiche andere Indikatoren der Korsität können hinzu-
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gefügt werden, von denen jeder einzelne in diesem oder jenem italienischen Dialekt vorkommt. Signifikant werden sie erst in ihrer oft nur jenseits des Bewußtseins liegenden Synchrasie. Philologen und Dialektologen werden sich an solche anstößigen Dinge gewöhnen müssen: Entgegen manchen unanfechtbaren, von der historischen Lautlehre, Lexikologie, Syntax usw. belegten geschichtlichen Darstellungen, aber eben auch unter dem Druck der Geschichte, vollzog sich im Bewußtsein der Sprecher und — da es sich um Sprache handelt — folglich auch in der Wirklichkeit der einhundert Jahre währende Übergang der korsischen Mundarten vom Status italienischer Dialekte zu dem der korsischen Sprache. Ohne auf alle minorisierten Sprachen Frankreichs einzugehen, sei hier nur angemerkt, daß die Verwandtschafts- und Normbeziehungen des Katalanischen in Frankreich (zum Katalanischen von Barcelona als eine Art „Zentralkatalanisch", aber auch zum Okzitanischen) und der baskischen Dialekte Frankreichs nicht viel einfacher sind. In der gegenwärtigen Situation, in der die aus Kritik und Protestbewegung hervorgegangenen Ideen sich endlich positiv entfalten können, soll in diesem Beitrag der Gedanke unterstützt werden, daß die Frage der Norm nicht isoliert betrachtet werden kann. Sie kann endlich normal und legitim im Rahmen einer sozialen Praxis, des Unterrichts, aufgeworfen werden, der nach der Norm verlangt, an ihrem Fehlen Anstoß nimmt und zu ihrer Herausbildung beiträgt. Eine Einschränkung muß jedoch gemacht werden: Solange der Gebrauch einer minorisierten Sprache (mit dem vollen Status einer eigenständigen Sprache) so gut wie ausschließlich an die Unterrichtspraxis gebunden ist, wird es damit nur schleppend vorangehen. Unser Beitrag handelt von sprachlichen Problemen; es versteht sich aber von selbst, daß die minorisierten Sprachen nur dann neue Wurzeln schlagen können, wenn sie zu einem Mittel umfassender kultureller Aktivitäten werden. Wenn eine Kritik an dem ansonsten überaus gehaltvollen Giordan-Bericht angebracht ist, dann wohl daran, daß zwar das regionale künstlerisch-literarische Schaffen unserer Tage unter Verzicht auf eine Vergangenheitsschau in den Vordergrund gerückt wird, aber eben fast nur das Schaffen im anerkannten künstlerischen Bereich, der als die eigentliche Kultur gilt. Unberücksichtigt bleibt die Alltagskultur in ihren individuellen und kollektiven Erscheinungsformen. Sie schließt auch die Lebensformen wie Arbeit, Protestbewegungen, Streben nach einem erträglichen Leben in den weniger entwickelten Zonen unserer Regionen ein. Dabei sollten auch die Aspekte nicht ausgeklammert werden, die sich offenbar ungünstig
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auf das Bewußtwerden regionaler Sonderung und Zusammengehörigkeit auswirken (vgl. G U E S P I N 1980; S C H W A R Z / F A I T A 1985). Die Herausbildung der Norm stößt somit auf ein nicht unmittelbar sprachliches, sondern soziokulturelles Hindernis. Man tut sich schwer damit, auch die weniger erhabenen und spektakulären Aspekte von Kultur zur Kenntnis zu nehmen, was sich zwangsläufig auch auf die Sprache auswirkt. Rene M E R L E (1977) vertritt die Ansicht, der Übergang von einer im Zerfall befindlichen diglossischen Situation zu einem echten Massenbilinguismus, der das einzige vernünftige Ziel einer Politik der Anerkennung der minorisierten Sprachen sein kann, setze voraus, daß in den betreffenden Regionen und in ganz Frankreich Einigkeit in diesem Punkte erzielt werden müsse. Es müsse gelingen, daß die Werktätigen und die aktiven Kräfte in den Regionen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer „offiziellen" Stellung in der Kultur sich dezidiert für eine Veränderung der Lage einsetzten. In den Regionen sind das Bedürfnis und künftig auch entsprechende Möglichkeiten vorhanden, die minorisierten Sprachen voll zu akzeptieren und die oft im verborgenen verkümmernde Diglossie, die immer mehr sprachliche Verwirrung und Identitätskrisen hervorruft, in einen echten Massenbilinguismus umzuwandeln, wie ihn J.-B. M A R C E L L E S I (1981) definiert hat. Dem Bilinguismus wird oft viel Schlechtes nachgesagt. P R U D E N T (1981) zitiert einige schneidige Formulierungen, so von Pichon, wonach „der Bilinguismus eine psychische Krankheit" sei, Jespersen, der Schuchardts Bemerkung zustimmt, „derzufolge ein zweisprachiger Sprecher zwar zwei Sehnen auf seinem Bogen habe, von denen keine aber richtig gespannt sei", und Binet, der die deutschen Kindermädchen verurteilt, weil sie „das Kind an der Aufnahme der Gebräuche des Landes hindern". Während man sich in der Frage der modernen Fremdsprachen (vor allem der für das soziale Fortkommen der Schüler als wichtig angesehenen) über solche absurden Behauptungen hinweggesetzt hat, verhält es sich anders hinsichtlich des Massenbilinguismus, d. h. desjenigen Bilinguismus, bei welchem die betreffende Gemeinschaft die Diglossiesituation als solche erkennt und eine Lösung dadurch anstrebt, daß beide Sprachen gleichberechtigt gefördert und gebraucht werden. Nur mit einer solchen Gleichberechtigung kann es echten Massenbilinguismus geben: „Wird eine der beiden Sprachen lediglich in der Schule gelernt, ohne im Leben der Erwachsenen und in den außerschulischen Tätigkeiten der Kinder eine Rolle zu spielen, dann handelt es sich nicht mehr um Massenbilinguismus" ( M A R C E L L E S I 1981). Das ist etwas ganz anderes als die schulische Zweisprachigkeit
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von Nationalsprache und moderner Fremdsprache. Um die soziolinguistische Situation, die sich aus der gleichzeitigen Unterrichtung von Nationalsprache und Regionalsprache ergibt, richtig zu verstehen, muß man im Auge behalten, daß die unterrichtete minorisierte Sprache ohne einen realen Massenbilinguismus weiterhin in einem Diglossieverhältnis zur herrschenden Sprache steht. Von diesen Überlegungen ausgehend kann die bisher nicht lösbare Frage nach einem obligatorischen Unterricht in der Regionalsprache, der zu Beunruhigung und Irritationen Anlaß gibt, neu gestellt werden. Noch ist die Erinnerung wach an Verbote wie „Spucken und Bretonischsprechen verboten!" Man erinnert sich auch noch an die Weigerung, die Sprache weiterzugeben: „Sie (die Eltern) wollten, daß ich Beamter werde. Ich sollte nicht von einer Sprache beeinflußt werden, die mich zurückgeworfen hätte" (nach: Tozzi 1984). Manchmal wird mit der Forderung nach obligatorischem Unterricht in der Regionalsprache die Rückkehr zu alten Wertvorstellungen verbunden, die wenig Aussicht auf breite Unterstützung haben. So wendet T R I C O T (1982) zu Recht gegen die Diwan-Vorschulen ein, daß in ihnen nur Bretonisch gesprochen wird und sie damit gewissermaßen in negativer Umgebung denselben Fehler der öffentlichen Schule begehen, in denen nur Französisch gesprochen wird. Für ihn ist die „umgekehrte Übertreibung" nicht annehmbar, selbst wenn sie mit dem Argument der „Wiederherstellung des Gleichgewichts" begründet wird. T o z z i weist darauf hin, daß diesem Vorgehen bei der Durchsetzung einer Sprache eine gefährliche Utopie zugrunde liegt und stimmt den Warnungen bei, denen zufolge die Wiedererweckung der regionalen Sprachen und Kulturen allein über den obligatorischen Schulunterricht eine künstliche Sache sei. Die unumgängliche Zielstellung, den Gedanken des Massenbilinguismus zu popularisieren und die Regionen in diesem Sinne zu mobilisieren, bedeutet allerdings nicht, sich mit einem vagen Liberalismus zu bescheiden, der den Unterricht in den Regionalsprachen rein fakultativ sein ließe. Man darf annehmen, daß mit einer Politik der allgemeinen Verbreitung der minorisierten Sprachen (vgl. MARC E L L E S I 1985) eine Situation entstehen würde, in der sich der Pflichtunterricht in diesen Sprachen als selbstverständlich darstellen und nicht schmerzhafter empfunden werden würde, als das Pflichtfach Französisch oder irgendein anderes Fach. Die trotz zahlloser Schwierigkeiten seit gut zehn Jahren in der Pariser Region und in der „Provinz" durchgeführten Experimente haben bewiesen, daß die Nachfrage weit über den Kreis der Muttersprachler hinausreicht. So
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interessiert sich bspw. eine signifikante Zahl von Gastarbeiterkindern für Kurse in den Regionalsprachen. Die hier vorgebrachten Überlegungen lassen erkennen, daß die Frage des Bilinguismus von Französisch und Regionalsprache popularisiert werden muß. Linguisten und Vertreter progressiver Vereinigungen sind sich über die positiven Auswirkungen des Bilinguismus einig. Unabhängig vom jeweiligen Sprachenpaar können wir mit Tozzi feststellen, daß der Bilinguismus das Kind anregt, nach Übereinstimmungen zwischen den Sprachen zu suchen, daß seine Abstraktionsfähigkeit gestärkt, das Erlernen weiterer Sprachen erleichtert und neue Weltsichten eröffnet werden, was besonders den sozial benachteiligten Kindern zugute kommt. Wir wollen jedoch hinzufügen, daß dies nur gilt, wenn die Unterrichtspraxis diesen Bilinguismus zur Grundlage hat, weil sonst die entgegengesetzte Wirkung eintritt: Der Bilinguismus führt zur Entfremdung, und die mit der Zweisprachigkeit verbundenen positiven Prozesse werden blockiert. Damit die Bevölkerung soziolinguistisch informiert ist, muß also der Begriff des natürlichen Bilinguismus, der sich aus dem Nebeneinander von Regionalsprache und Nationalsprache ergibt, vom schulischen Bilinguismus unterschieden werden, der mit dem Erlernen einer modernen Fremdsprache erworben wird. Der von der bretonischen Vereinigung Emglio Breiz für den letzteren Sachverhalt verwendete Begriff des künstlichen Bilinguismus befriedigt uns nicht, da er abwertend ist und es zweifelhaft erscheint, auf kulturellem Gebiet eindeutig zwischen „natürlich" und „künstlich" zu unterscheiden. Es scheint uns angebrachter, in diesem Falle von schulischem Bilinguismus zu sprechen. Entscheidend ist jedoch nicht die Terminologie; entscheidend ist der in Frankreich recht weit verbreitete Gedanke, der mit der Aufhebung der Tabus noch an Boden gewinnt, daß die „natürliche" Situation der Fühlungnahme des Kindes mit zwei Sprachen, der herrschenden und der minorisierten, einen potentiell nutzbaren Reichtum darstellt. So sieht es auch die Vereinigung Ar Falz: „Der Bretonischund Okzitanischunterricht soll nicht mit dem Fremdsprachenunterricht konkurrieren. Eher bereitet er diesen vor und erleichtert ihn." Diesen Standpunkt hatte seinerzeit schon der Generalinspektor des Elsaß, Holderith, vertreten. Dieses Argument ist allein jedoch nicht ausreichend. Nach den Untersuchungen unserer Forschungsgruppe zur Praxis verschiedener Regionalsprachen und zur Didaktik des muttersprachlichen Französischunterrichts können wir feststellen, daß die Anerkennung des Regionalen als Faktor der Sprachvariation durch die Schule und eine
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auf dieser Anerkennung fußende Pädagogik zu einer Quelle für sprachlichen Fortschritt, für den Kampf gegen schulisches Versagen und für Chancengleichheit werden. Aber selbst damit würde man noch in alten Dogmen verharren und Gefahr laufen, die alten Schemata zu reproduzieren, die für sprachliche Unsicherheit und schulisches Versagen wenigstens zum Teil verantwortlich sind. Wie schon gezeigt wurde, kann der Unterricht in der Sprache einer Region weder in der Rückkehr zu alten Werten noch in der Anwendung autoritärer Methoden für eine gerechte Sache bestehen. Angesichts der überkommenen schulischen Verordnungen zum Sprachunterricht und einer veralteten pädagogischen Auffassung, die die Einheit der Sprache postuliert, reicht der Rückgriff auf die Regionalsprache allein nicht aus, die Unverwechselbarkeit der regionalen Gemeinschaften und gegenseitige Achtung zu garantieren. Wie aber läßt sich jede Form des Druckes von oben vermeiden? Der Fall des Korsischen, den wir weiter oben kurz dargestellt haben, ist gut geeignet, die Dynamik der Sprachgenese und den Anteil der Sprachpolitik an diesem Prozeß bewußt zu machen. Ein Unterricht in der minorisierten Sprache, der die erwähnten Verzerrungen vermeiden will, kommt u. E. ohne das Konzept der polynomischen Sprache nicht aus, auf den wir weiter unten noch eingehen werden. Zunächst aber zum Prozeß der Anerkennung/Entstehung („reconnaissance/naissance") von Sprachen. J.-B. M A R C E L L E S I (1984) versteht darunter „die symbolischen sprachpolitischen Entscheidungen über ein Sprachsystem, das ansonsten als abhängig von einem anderen System gilt. Dabei werden minimale Unterschiede zwischen beiden Systemen in den Rang bedeutender Unterschiede erhoben, und es erfolgt die Anerkennung („reconnaissance") des bereits Bestehenden, die in die feierlich verkündete Entstehung („naissance") einer neuen Sprache mündet." Wir konnten sehen, daß die korsische Sprache über einen relativ kurzen Zeitraum hinweg einem echten Anerkennungs-/ Entstehungsprozeß unterzogen wurde. Dieser Prozeß nun hat sprachpolitischen Charakter. In dem erwähnten Artikel wird auch die Rolle der Hegemonie im Sprachwandel herausgearbeitet. Es heißt da: „Sobald die Gemeinschaft beharrlich den Willen zum Anderssein bekundet und ihre Sprache mit einem besonderen Namen benennt, der sie nicht als Teil einer anderen Sprache ausweist, sobald sie ihre eigene Strategie und je nach Bedarf ihre eigenen Entstehungsmythen eritwikkelt, beginnt ein Prozeß der soziolinguistischen Selbstabgrenzung („individuation"). Es nützt dann nichts mehr, diesem Gefühl das Argument struktureller Ähnlichkeit oder gegenseitiger Verständlichkeit entgegenzuhalten." Es kann daher auch nicht verwundern, wenn Lin-
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guisten, von der Dialektologie oder lexikalischen Fakten ausgehend, die Verwandtschaft oder den „tatsächlichen" Abstand betonen und die Feststellungen der Soziolinguisten nicht gelten lassen, die eben auch die im Individuationsprozeß wirkenden Faktoren berücksichtigen. Der zur Anerkennung/Entstehung führende Prozeß mündet nicht automatisch in eine Normierung im klassischen Sinne. In der Frage der Norm denkt man zumeist an spektakuläre Erscheinungen von der Art „Dann kam Malherbe..." In der Sprachgeschichte werden mit Vorliebe klare Kausalzusammenhänge dargestellt, so Dantes Entscheidung für das Toskanische, die Rolle der Lutherbibel, die Gründung der Academie franfaise, die wissenschaftliche Ausarbeitung einer Norm des Finnischen usw. Neben solchen eindeutigen Fällen müssen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Art und Weise, in der Sprachen entstehen, zumindest auf der Karte der romanischen Sprachen aber auch die Fälle polynomischer Sprachen verzeichnet werden. Nach Marcellesis Definition von 1984 ist eine polynomische Sprache „eine Sprache mit einer abstrakten Einheit, deren Sprecher mehrere Existenzformen anerkennen, die alle gleichermaßen toleriert werden. Unter diesen gibt es weder eine Hierarchisierung noch eine Spezialisierung auf bestimmte Funktionen. Verschiedene lautliche und morphologische Varianten werden von den Sprachträgern gegenseitig toleriert, ebenso wie die lexikalische Vielfalt als ein Element sprachlichen Reichtums angesehen wird." Der Fall des Korsischen ist besonders aufschlußreich, wenngleich die Definition selbstverständlich auch für andere Sprachen gilt. Das Bewußtsein von der Einheit des Okzitanischen gründet sich auf dieselbe unbewußte Akzeptanz der Polynomie: Jedes zentralistische Normierungsprojekt nach akademischem Zuschnitt wird in allen marginalisierten Sprachzonen auf Ablehnung stoßen; Zusammenhalt kann paradoxerweise nur durch die Bewußtwerdung des polynomischen Status des Okzitanischen sowie der Rolle dieser Normenvielfalt in der Geschichte der Langue d'oc erreicht werden. Wir halten den Begriff der polynomischen Sprache für ein wichtiges, unentbehrliches Erklärungsprinzip. Sicher sind in bestimmtem M a ß alle Sprachen polynomisch, und dies gilt sogar für die Sprache mit dem engsten Korsett, das Französische. Dennoch hilft die Unterscheidung zwischen einer einheitlichen Norm und einem polynomischen Status, die Verschiedenheit solcher Fälle wie des Katalanischen und des Okzitanischen, des Elsässischen und des Korsischen zu verstehen. Die Geschichte kennt sehr verschiedenartige Prozesse der Anerkennung/Entstehung. Es gibt einerseits Situationen, in denen die Regionalsprache nur dann als eigenständig anerkannt wird, wenn sie sich
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auf eine sogenannte „literarische" oder „zentrale" Form stützen kann, die sich im Ausland befinden kann (Elsässisch, Katalanisch); in anderen Fällen konnten oder wollten die Träger der Regionalsprache eine solche Patenschaft nicht anerkennen, so daß sie erst durch die Bewußtwerdung einer abstrakten Einheit zur Sprache wurde, d. h. durch die Minimierung der internen Variation und die spektakuläre Hervorhebung der Unterschiede gegenüber einer anderen Sprache (Okzitanisch und Korsisch). Der Begriff der polynomischen Sprache stellt somit eine Bereicherung für die Beschreibung der Sprachentstehungsprozesse dar. Sprachen werden geboren und sterben, was nicht unbedingt als eine der Organismustheorie verpflichtete Metapher anzusehen ist. Geboren werden sie in einem Prozeß der Anerkennung/Entstehung, der in den Bereich der Sprachpolitik gehört, und sie sterben in einem Prozeß der Verdrängung in Abhängigkeiten („satellisation"), der ebenfalls zu diesem Bereich zählt. Selbst wenn es genetisch und strukturell völlig verfehlt ist, die minorisierten Sprachen Frankreichs als „deformiertes Französisch" anzusehen, so liegt diese Etikettierung doch in der Logik der Sprachenentmündigung. Wenn ein sprachliches System in einer bestimmten politischen Situation und der entsprechenden ideologischen Hegemonie einem anderen System gegenüber als minderwertig gilt, dann bedeutet dies, daß auch eine minorisierte Sprache (BSprache) in ein Abhängigkeitsverhältnis zur dominierenden Sprache (Α-Sprache) gerät, selbst wenn keine nähere Verwandtschaft zwischen ihnen besteht. Die Unterschiede werden dann nicht mehr dem Abstand zwischen System Α und System Β zugeschrieben, sondern dem zwischen bestimmten Sprechern und dem System A, das schließlich als „die Sprache", „die N o r m " gilt; ein Patois „hat keine Grammatik". Es kommt schließlich dahin, daß man behauptet, das Pikardische sei vom Französischen abhängig. Eine solche Behauptung kann sich sogar auf Sprachen erstrecken, die von der dominierenden strukturell besonders weit entfernt sind. Es gibt Studenten, die allen Ernstes behaupten, das Bretonische oder das Elsässische seien Dialekte des Französischen. Als Erklärungsprinzip ist das Konzept nicht nur für das Verständnis der sprachlichen Dynamik erforderlich, sondern darüber hinaus auch für die Steuerung der neuen sprachpolitischen Situation in Frankreich, die aus dem Zusammentreffen zweier Ereignisse resultiert: den langen Kämpfen klarsichtiger Befürworter einer Anerkennung der Regionalsprachen und ihres Unterrichts und den nach dem 10. M a i 1981 getroffenen positiven Regierungsentscheidungen zugunsten des Unterrichts in den minorisierten Sprachen.
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Die neue sprachpolitische Situation wirft zahlreiche neue Probleme auf. Wenn wir sie hier kaum erwähnen, so heißt das nicht, daß wir sie ignorieren und ausschließlich auf einen guten Unterricht bauen. Ein grundsätzliches Problem ist ζ. B. das der Norm und der Haltung der Linguisten und Lehrer zu ihr. Das Konzept der polynomischen Sprachen erlaubt es jedenfalls, (1) ein genaueres Bild vom gegenwärtigen Zustand der Regionalsprachen zu umreißen, die vielfachem Druck seitens der vorherrschenden Sprache, der zentralistischen Ideologie und einem undialektischen Verständnis für die nationalen Gegebenheiten ausgesetzt sind, und (2) für eine Veränderung des Status der Sprachen Frankreichs sowie für die Umwandlung ihrer diglossischen Situation, die heute noch Ängste und Fälle des Versagens in Schule und Beruf produziert, in eine echte Zweisprachigkeit tätig zu werden, die akzeptiert, beherrscht und positiv erlebt wird. Der Begriff der kulturellen Demokratie ist eine positive Errungenschaft des internationalen Bewußtseins der letzten Jahrzehnte. Er wurde auf der Eurocult-Konferenz (Helsinki 1972) empfohlen und auf der ersten Konferenz der europäischen Kulturminister (Oslo 1976) durch Beschluß festgeschrieben. Der Giordan-Bericht knüpft daran an und fordert „eine prinzipielle Orientierung der globalen Kulturpolitik auf die Schaffung der Grundlagen für eine kulturelle Demokratie." Wir zweifeln jedoch daran, daß die kulturelle Demokratie im Rahmen des traditionellen Repräsentativsystems verwirklicht werden kann. Nur eine sprachpolitische Selbstverwaltung ist geeignet, den realen sprachlichen Bedürfnissen zu entsprechen und die Bürger vor dem Risiko normativer Entscheidungen zu bewahren, die oft in bester Absicht die Schwierigkeiten, die sie beseitigen wollen, durch andere ersetzen. In diesem Sinne heißt es im einleitenden Vortrag zu dem Symposium über Sprachpolitik, das 1983 in Rouen stattfand (vgl. G U E S P I N 1984), daß selbstverwaltete Sprachpolitik eine Erziehung zu sprachpolitischem Bewußtsein und Verantwortung erfordert. Wollte man sprachliche und kulturelle Demokratie in Frankreich über die Institutionen traditioneller Art verwirklichen, dann würden (und werden tatsächlich!) nur die wenigen Kräfte in den Kampf geschickt, die klare Vorstellungen darüber haben, wie ein neues französisches Nationalbewußtsein aussehen sollte — geprägt durch ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen regionalen und nationalen Faktoren, zwischen den minorisierten Sprachen und der Nationalsprache. Man würde von diesen Kräften verlangen, allein mit der Unterstützung eines Staatsapparates, der bereits Zeichen von Unentschlossenheit erkennen lassen
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hat, gegen die zentralistischen und konservativen Kreise anzutreten, die im zentralen Staatsapparat ebenso wie in den Regionen die Zügel der Ideologie und der Macht fest in den Händen halten. Wenn sich die Masse der Franzosen die Aufgabe zueigen machen soll, die minorisierten Sprachen wiederzubeleben, zu fördern und notwendigerweise auch mit einer Norm auszustatten — angenommen, daß dies als Fortschritt für das französische Nationalbewußtsein und als Faktor sozialer Persönlichkeitsentwicklung erkannt wird —, dann müssen sie für diese Sache gewonnen werden, indem ihnen die latente sprachliche und kulturelle Entfremdung zu Bewußtsein gebracht wird. Allen Betroffenen muß klar vor Augen geführt werden, daß ohne ihre Teilnahme und ihre Entscheidung keine wirklich positive Entwicklung möglich ist. Jeder Sprecher muß dahin kommen, zu erkennen, daß eine Sprache ein fortwährender Prozeß, keine starre Erscheinung ist und im Sprechen stets neu entsteht. Man muß sich dessen bewußt sein, daß heute zwei Etappen ins Auge zu fassen sind: Das Überleben, und manchmal auch die Renaissance, der minorisierten Sprachen Frankreichs erfordern, daß der Etappe des militanten Einsatzes für die Sprache künftig die Mobilisierung breiter Massen folgen muß, die die Einsicht gewinnen müssen, daß die Erhaltung und Entfaltung ihrer Identität die bewußte und eigenverantwortliche Pflege der minorisierten Sprachen und Kulturen voraussetzt. G U E S P I N (1984) warnt vor zwei sprachpolitischen Einstellungen: dem Liberalismus und dem Dirigismus. Man wird leicht einsehen, daß jede Gemeinschaft eine bestimmte Sprachpolitik verfolgt, welche Form sie ihr auch geben mag. Es kommt also darauf an, sprachpolitischen Liberalismus als eine verkappte Form des Interventionismus zurückzuweisen, ohne damit das Streben nach sprachlicher Freiheit aufzugeben, und sprachpolitischen Dirigismus ebenfalls, ohne auf die Lenkung der sprachlichen Praxis gänzlich verzichten zu wollen. Die Selbstverwaltung ist sicher die einzige positive Antwort auf diese beiden negativen Haltungen. Sie ist das einzige Mittel, das Streben nach einer freien sprachlichen Praxis und die notwendige soziale Anerkennung dieser Praxis miteinander in Einklang zu bringen. Vielleicht ist der Giordan-Bericht mit seinen Fakten ein wenig zu früh gekommen, um diese These vor den politischen Instanzen vertreten zu können. Das würde auch erklären, warum die von ihm empfohlene kulturelle Demokratie sich in weitgehend traditionellen Formen bewegt und das Prinzip der Delegierung der Macht in übertriebener Weise betont. Jedenfalls sind die ersten Entscheidungen der öffentlichen Macht, auch wenn sie weniger autoritär ausfallen als in der Vergangenheit, nach wie vor recht dirigistisch. Es kann daher auch
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nicht verwundern, wenn man liest ( P O U G E T 1 9 8 4 ) , daß „in der Entwicklung der okzitanischen Sprache und Kultur die am weitesten dezentralisierten Strukturen eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt haben" (Weiterbildung, Universität usw.), während „die traditionellen staatlichen Strukturen diese Entwicklung unabhängig vom guten Willen einzelner Beamter gebremst haben." Diese Fehlhaltungen beruhen zu einem guten Teil auf einer Unwissenheit, von der auch wir Linguisten nicht völlig frei sind. Aus diesem Grunde hatte das Symposium zur Sprachpolitik zu „einer linguistischen Forschung im Dienste der sprachlichen Praxis" aufgerufen. Zum Problem der Eingriffe in die Sprache hieß es: „Als angeblicher Eingriff in die Sprache, in Wahrheit aber in die materiellen Voraussetzungen sprachlicher Interaktion birgt die Sprachplanung Risiken in sich: Ein real erlebbares Verhältnis wird zu einem administrativen Verhältnis; die sprachliche Praxis als ein stetiger, kreativer Prozeß, der die Dynamik der Sprache ausmacht, wird in eine ihr fremde Logik oder eine metasprachliche, akademische oder bürokratische Einstellung übertragen, von der aus einseitig über sprachliche Richtigkeit entschieden wird. Deshalb kommt es darauf an, bei den Möglichkeiten und Folgen von Eingriffen in die Sprache die ihr eigene Logik in Rechnung zu stellen" ( G U E S P I N 1 9 8 4 ) . Die weiter oben kurz angedeuteten Probleme der langues d'o't'l illustrieren dies sehr deutlich. Deshalb bezweifeln wir die Effizienz einer zentralisierten Sprachpolitik, mag sie sich auch noch so großzügig geben und den kompetenten Kräften noch so viel Vertrauen bei der Lösung der Probleme der sprachlichen Praxis in Frankreich entgegenbringen. Die Frage der minorisierten Sprachen kann nicht isoliert gelöst werden, denn alle sprachpolitischen Fragen sind miteinander verbunden: die Perspektiven der minorisierten Sprachen im Verhältnis zum Französischen, aber auch die Perspektiven des Französischen im Verhältnis zum Englischen, die Perspektiven des Sprachunterrichts generell angesichts des hohen Grades schulischen Versagens und Desinteresses, die Perspektiven eines neuen Verhältnisses der Schule zur Norm und Orthographie usw. Sprachliches Handeln ist eine ganzheitliche Erscheinung, die es mit sozial determinierten, in vielfältige Soziabilitätsstrukturen eingebundenen Individuen zu tun hat (vgl. G U E S P I N 1 9 8 5 ) . Für die menschliche Existenz, die aus einer Vielfalt formeller und informeller, obligatorischer und freiwilliger Bindungen besteht, wird eine ministerielle Entscheidung über die minorisierten Sprachen leicht zu einer Zwangsjacke. Einerseits überfordert sie die jeweilige minorisierte Sprache, wie es am Beispiel des Pikardischen zu sehen war, was aber auch für jede andere im Diglos-
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sieprozeß verkommene minorisierte Sprache gilt; andererseits beschränkt sich die Entscheidung allein auf die Sprache, während die interaktionalen Aspekte außer Acht gelassen werden. Demgegenüber schließt G U E S P I N (1984) mit einem Appell zur sprachlichen Selbstverwaltung. Selbstverwaltung ist vom Zentralismus ebenso weit entfernt wie von der Anarchie. Sie hat schwerwiegende Folgen: Werden die Fragen nicht mehr von oben gestellt, sondern leiten sich unmittelbar aus den realen Bedürfnissen der Sprachbenutzer im heutigen Frankreich ab, dann kommt es zu einer echten kulturellen Umwälzung. Auf die Tagesordnung werden unausweichlich die Fragen der Orthographie, der Regionalsprachen, des freien Zugangs zur Zweisprachigkeit, des Rechts auf sprachliche Äußerung, auf die Zurückweisung der kulturellen Hegemonieansprüche des technokratischen Diskurses usw. gesetzt. Aus dieser Perspektive wäre Sprachpolitik mehr als ein bloßes Flickwerk: es wäre ein großes Vorhaben für Frankreich, der Sprache ihre volle Funktionstüchtigkeit für die Herausbildung der gesellschaftlichen Persönlichkeit zu gewähren. Die Linguisten und Vertreter anderer Sozialwissenschaften tragen eine große Verantwortung. Die Einsichten in sprachliche und kulturelle Prozesse müssen entscheidend vertieft werden. Es ist bedenklich, daß das Wissen um die Sprachwirklichkeit in Verbindung mit den Konzepten der Diglossie, des Interlekts und der Polynomie so wenig verbreitet ist. Dieses Wissen wird noch dringlicher, sobald erste sprachpolitische Entscheidungen das sprachpolitische Kräfteverhältnis in Frankreich erschüttern und Tatbestände verändern, die allzu viele Franzosen resignierend für unabänderlich gehalten haben. Wenn man wirkliche Demokratie will und wenn diese nur über autonome sprachliche und kulturelle Entscheidungen herzustellen ist, wie soll dann wirkungsvoll für die Renaissance einer minorisierten Sprache und die Anerkennung ihres Anspruchs auf historische Wiedergutmachung gearbeitet werden, wenn die Handelnden nicht im vollen Besitz der soziolinguistischen Daten des Problems sind? Und das setzt voraus, daß klar ermessen werden kann, was es für eine Sprache bedeutet, minorisiert zu sein; daß die innere Logik des Funktionierens jeder dieser Sprachen, der Grad ihrer Normiertheit und ihre Polynomie analysiert werden kann. Das setzt weiterhin voraus, daß die Sprachbenutzer selbst einschätzen können, welche Rolle in ihrer sprachlichen Praxis und in ihrer Kultur Regionales, Nationales und Internationales spielen und daß sie sich die Kenntnisse aneignen, mit deren Hilfe jahrhundertealte Vorurteile und ideologische Vorstellungen überwunden werden können. Die Frage der Logik des Funktionierens von
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minorisierten Sprachen und ihrer Norm erfordert heute ernsthafte Anstrengungen seitens der Gemeinschaft der Linguisten. Sie erfordert in ganz besonderem M a ß e eine anspruchsvolle populärwissenschaftliche Arbeit, da nur durch das Informiertsein aller Sprecher eine bewußte, neue und fruchtbringende Politik des Unterrichts in den minorisierten Sprachen Aussicht auf Erfolg bedingt.
7. Bibliographie
Abkürzungen: AnBret BAM BdM BRPh CLS EC HLF LAB LiLi OBST ZfG ZfGerm ZPhSK
= = = = = = = = = = = = =
Annales de Bretagne, Brest Bulletin de l'Academie Malgache, Antananarivo Bulletin de Madagascar, Antananarivo Beiträge zur Romanischen Philologie, Berlin Cahiers de Linguistique Sociale, Rouen Etudes Celtiques, Paris s. Brunot 1927 Linguistische Arbeitsberichte, Leipzig Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Siegen Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin Zeitschrift für Germanistik, Berlin Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung, Berlin
7.1. Allgemeines zur Sprachpolitik und ihren sozialwissenschaftlichen Grundlagen Althusser, Louis (1976) Positions (1964-1975). Paris. Bahner, Werner/Neumann, Werner (Eds.) (1985) Sprachwissenschaftliche Germanistik. Ihre Herausbildung und Begründung. Berlin. Bierbach, Christine/Hartmann, Claudia (1980) Zur Debatte um Regionalismus und sprachliche Minderheiten — Ein Forschungsbericht. In: Lendemains 17/18, 13 — 38. Blanke, Detlef (1985) Internationale Plansprachen. Eine Einführung. Berlin. Bochmann, Klaus (1984) Sprache als Kultur und Weltanschauung. Zur Sprachauffassung Antonio Gramscis. In: Gramsci, 1984, 5 — 39.
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