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German Pages 180 Year 2006
Edgar Onea Ga´spa´r Sprache und Schrift aus handlungstheoretischer Perspektive
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Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Edgar Onea Ga´spa´r
Sprache und Schrift aus handlungstheoretischer Perspektive
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018958-2 ISBN-10: 3-11-018958-5 ISSN 1861-5651 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. 쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Es wurde in den letzten Jahren viel über die Schrift als sprachwissenschaftliches Problem, zum Teil sogar als fundamentales Problem der Sprachwissenschaft gesprochen. Viele linguistische Untersuchungen sind vor allem infolge der Unterscheidung zwischen medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit aus den achtziger Jahren entstanden, und die Diskussionen scheinen sich in der letzten Zeit immer weiter zu verfächern. Das Problem der Schrift wird von einem Randproblem zusehends zu einem immer wichtigeren Aspekt der Sprachwissenschaft. Dem entspricht eine spätestens seit Derridas „Grammatologie“ in der Philosophie und in den Kulturwissenschaften andauernde Beschäftigung mit dem Phänomen der Schrift als Grundlage der Kultur und Wissenschaftlichkeit. Dieser Horizont ist auch der Ausgangspunkt meiner in diesem Buch präsentierten Überlegungen. Die gesamte wissenschaftliche Debatte über die Schrift habe ich von Anfang an als unbefriedigend empfunden, und dieser Eindruck hat sich bis zuletzt nicht geändert, obwohl ich im Laufe meiner Forschungen immer weniger an der Daseinsberechtigung und der Wichtigkeit der Botschaft der meisten Ansätze gezweifelt habe. Eine systematischere, von dem Handlungscharakter der Sprache und der Schrift ausgehende Untersuchung schien mir erforderlich. Dazu bedurfte es aber einer dem Unterschied zwischen der Schrift und der mündlichen Sprache so weit wie möglich entsprechenden Handlungstheorie. Die Bühler’sche Unterscheidung zwischen Sprachwerk und Sprechhandlung und das analoge Begriffspaar poiesis und praxis, die von Koch und Oesterreicher teilweise auch in die neuere Diskussion eingeführt wurden, schienen dabei von Anfang an der richtige Weg, aber die Bindung dieses Begriffspaars an die Schrift und an die mündliche Sprache scheint nicht nur, sondern ist auch ganz eindeutig gewaltsam. Es bedarf einer viel feineren Unterscheidung, die aber nur durch die sorgfältige Ausarbeitung dieser Begriffe zu Leitbegriffen einer allgemeinen sprachtheoretischen Annäherung erfolgen kann. Und ab diesem Moment befinden wir uns nicht mehr in der spezifischen Mündlichkeit-Schriftlichkeit-Forschung, sondern inmitten einer allgemeinen Sprachtheorie mit einer – zugegeben – vor allem für die moderne Sprachwissenschaft ungewöhnlichen Handlungstheorie. Das Ergebnis ist notwendigerweise eine wenig orthodoxe Arbeit, die hier den
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Vorwort
Forschern und dem interessierten Publikum nicht ganz ohne Selbstzweifel vorgelegt wird. In der Einleitung referiere ich einige bekannte Ansätze und führe den Leser zuletzt zu einem Punkt, an dem die Schrift eine entscheidende Differenz innerhalb der Struktur der sprachlichen Handlungen offenbart, die sich auf den für die Sprachwissenschaft und die Sprachphilosophie in jeder Hinsicht zentralen Begriff der Bedeutung, vor allem aber auf die Art, wie Bedeutung sprachlichen Äußerungen zukommt, auswirkt und uns mithin vor abgründige Fragen der Sprachwissenschaft stellt. Im darauf folgenden Kapitel beleuchte ich dasselbe Problem aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive erneut. Es wird darüber nachgedacht, was für einen ontologischen Status die Sprache als kognitive Größe hat und wie sich dieser zum Handlungscharakter der Sprache verhält. Am Ende dieser stark vom Sprachdenken Wilhelm von Humboldts und Karl Bühlers beeinflussten Überlegungen wird sich eine Antwort in Form einer Trennung zwischen hypostasierter und nicht hypostasierter Sprache und deren handlungstheoretischen und kognitiven Betrachtungsmöglichkeiten konturieren. Bühler selbst hat diesen Gegensatz auf eine alte aristotelische handlungstheoretische Trennung zurückgeführt, auf den Unterschied zwischen poiesis und praxis. Diesen Unterschied halten wir in der Trennung zwischen praktischen und technischen Handlungen bzw. Sprache fest, und ausgehend von diesen zwei, von der klassischen teleologischen Handlungsauffassung weitgehend ignorierten Begriffen stellen wir einige Überlegungen über die Natur der sprachlichen Handlung an. So werden wir sehen, dass die Sprache als praktische Handlung weitestgehend abhängig von unserem (natürlich und kulturell gewordenen) kognitiven Apparat und von eingespielten syntaktischen und semantischen Mustern und in aller Regel ohne Sprachreflexion erfolgt und dass sich in Gegensatz dazu die technische Sprache vor allem nach dem ganzheitlichen Begriff eines Herstellungsgegenstandes, nach normativen und ästhetischen Prinzipien richtet, die eine ganz besondere Auswirkung auf die Art, wie die Sprache als System erlebt wird und sich entwickelt und wie sprachliche Äußerungen zur Darstellung von Sachverhalten verwendet werden, haben. Dabei wird zu klären sein, wie die Besonderheiten der technischen und praktischen Sprache in systemlinguistischen Kategorien überhaupt erfasst werden können, und es wird sich zeigen, dass angesichts der Komplexität und der Dynamik der Art, wie unsere Sprachhandlungen erfolgen, sich verändern und sich ineinander verweben, die Systemlinguistik größte Schwierigkeiten bekommt, die technische und die praktische Sprache zu unterscheiden, obwohl andererseits unzweifelhaft ist, dass diese zwei Handlungstypen zwei entscheiden-
Vorwort
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de Motoren der Sprachentwicklung darstellen, mithin für die Systemlinguistik von zentraler Bedeutung sein müssten. Es gibt insbesondere in der Pragmatik und in der Textlinguistik zwar gewisse Ansätze, die einzelne Elemente dieser Unterscheidung betreffen, aber sie gehen von ganz anderen Prämissen aus, und ihr Sprachbegriff hat andere handlungstheoretische Grundlagen als in dieser Arbeit angenommen, so dass sie trotz zum Teil ähnlicher Ergebnisse kaum berücksichtigt werden können. Wir befinden uns bei unseren Überlegungen über weite Strecken auf einer terra incognita der Sprachreflexion. Dies bedeutet aber nicht, dass wir in unserem Forschereifer in jede beliebige Richtung herumspekulieren sollten. Es gibt unzweifelhafte, seit langem bewährte Ergebnisse der Sprachwissenschaft und der Sprachphilosophie, die zwar auf dieser handlungstheoretischen Basis plötzlich in einem anderen Licht erscheinen, aber unsere Aufgabe ist es, uns nicht, beflügelt von dem neuen Ansatz, von allem Bisherigen abzusetzen, sondern gerade das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Herangehensweisen zu klären und diese ineinander zu integrieren. Und in der Tat begreife ich diesen handlungstheoretischen Ansatz nicht so sehr als Konkurrenz zu geltenden Sprachtheorien, sondern als Möglichkeit der gegenseitigen Annäherung bisher verhärteter Fronten, indem er dazu beitragen kann, dass die Geltungsbereiche unterschiedlicher Theorien mithilfe der eingeführten terminologischen Unterscheidung zwischen technischen und praktischen Sprachhandlungen klarer umrissen werden können. Dies heißt natürlich nicht, dass in dieser Arbeit all dies geleistet worden wäre. Die Unterscheidung zwischen techne und praxis in der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie scheint mir aber ein nützlicher Ansatz, der weitergedacht und weitergeführt, aber auch hinterfragt und eingeschränkt werden müsste. Ich habe es weder versucht, noch wäre es mir im Rahmen dieser Arbeit gelungen, die Tragweite des Ansatzes genau zu bestimmen – ein Zeichen des wissenschaftlichen Erfolges wäre schon, wenn durch die Auseinandersetzung mit ihm überhaupt ein nennenswerter Beitrag zum Nachdenken über die Handlungsnatur der Sprache geleistet werden würde. In der Arbeit habe ich mich stattdessen auf die Klärung der Besonderheiten der technischen Sprache als einer in der Sprachwissenschaft wenig bekannten und noch weniger reflektierten Form sprachlicher Handlung konzentriert. Und weil die gesamte Unterscheidung am Rande des Schriftproblems eingeführt wurde, läuft die Arbeit ab diesem Punkt auf die Untersuchung des Schriftproblems hinaus. Eine gewisse Affinität zwischen der Schrift und der technischen Hypostasierung der Sprache ist in der Tat feststellbar, doch diese geht sicherlich nicht so weit, dass jene diese bewirkt oder bedingt hätte, es geht um ein viel komplizierteres, aus
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Vorwort
Wechselwirkungen bestehendes Verhältnis, zumal gezeigt werden kann, dass die Besonderheit der schriftlichen Sprache, und entsprechend ihr wirkendes Supplement der mündlichen Sprache gegenüber, sich lediglich als eine besondere ästhetische und normative Richtung eines Teiles der technischen Sprachwerkproduktion enttarnt. Dieses Supplement wirkt sich nicht nur auf das sprachliche System aus, sondern auch auf die Kognition, auf die Weise, wie die Sprache überhaupt ihre Darstellungsfunktion erfüllt und wie ihr die mit dieser zusammenhängende Zeichennatur zukommt, was sich in der Kulturgeschichte des Abendlandes in unterschiedlichen Erkenntnisnormen widerspiegelt, die im Ausblick dieser Arbeit genannt werden. Es ist mir wichtig, an dieser Stelle zu bemerken, dass diese Arbeit weniger als eine Ansammlung von Ergebnissen, die man einzeln und unabhängig voneinander zu bewerten hätte, zu lesen ist. Auch ich habe an einigen Punkten erhebliche Zweifel. Das kommt aber daher, dass die Arbeit das Thema keineswegs erschöpft, ja – streng genommen – nur ein Anfang ist. Als solcher sollte sie auch gelesen werden. Zuletzt eine notwendige Bemerkung. Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine leicht veränderte Fassung meiner mit demselben Titel im WS 2004/2005 von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommenen Dissertation. Im Vergleich zur Abgabefassung unterscheidet sich die Publikationsfassung durch eine veränderte Kapitelanordnung und einige punktuelle Berichtigungen. Außerdem wurde sie um dieses Vorwort ergänzt. An dieser Stelle sei meinem Doktorvater, Prof. Dr. Oskar Reichmann, für seine Anregung und Unterstützung gedankt. Mein Dank gilt aber auch meinem Zweitgutachter, PD. Dr. Klaus-Peter Konerding, für seine konstruktive Kritik. Des Weiteren danke ich meinen Eltern, die meinen Studienaufenthalt in Heidelberg finanziell und moralisch unterstützt haben, und Daniel Tibor, der durch seine Kritik dazu beigetragen hat, dass diese Arbeit nicht doppelt so lang und halb so verständlich geworden ist. Heidelberg, März 2006
Edgar Onea
Inhalt Vorwort..................................................................................................... V Inhalt ....................................................................................................... IX 1 Einleitung ............................................................................................... 1 1.1. Schriftsprache als eigenständige Varietät der Sprache........................ 4 1.2. Schrift als kognitives Problem.............................................................. 13 1.3 Schrift und Junktion................................................................................ 21 1.4 System, Bedeutung und Intention ........................................................ 24
2 Sprache als Handlung .........................................................................45 2.1 Ontologische Aspekte............................................................................. 47 2.1.1 Sprache als paradoxer Gegenstand der Ontologie...................... 48 2.1.2 Empirische Begriffe, das Schöne und die Geschichte ............... 49 2.1.3 Auflösung der ontologischen Paradoxie bei Humboldt ............ 54 2.1.4 Ein anderer Aspekt: Laut und Lauten .......................................... 56 2.2 Der handlungstheoretische Aspekt....................................................... 58 2.2.1 Cassirer............................................................................................... 59 2.2.2 Bühler................................................................................................. 62
3 Handlungstheoretische Grundlagen.................................................68
3.1 Zum Begriff der Techne......................................................................... 70 3.2 Zum Begriff der Praxis ........................................................................... 74 3.3 Handlung und Bewusstsein.................................................................... 79 3.4 Systemlinguistische und handlungstheoretische Terminologie........ 81 3.4.1 Der erste Kategorienfehler ............................................................. 81 3.4.2 Der zweite Kategorienfehler .......................................................... 84 3.4.3 Mikro- und Makroperspektive ....................................................... 86 3.4.4 Reinterpretationen............................................................................ 88 4 Urteil und Form .....................................................................................90 4.1 Der Weg zur Syntax ................................................................................ 90 4.1.1 Das Märchen vom Ursprung der Sprache ................................... 91 4.1.2 Die unsichtbare Hand und die Entstehung der Sprache ........... 93 4.1.3 Kommunikation und Syntax .......................................................... 94 4.2 Syntax als primum datum....................................................................... 98 4.2.1 Die Purpur-Kuh ............................................................................. 101
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Inhalt
4.2.2 Die Katze auf der Matte................................................................ 102 4.3 Syntax und Syntax ................................................................................ 104 4.3.1 Propositionaler und junktionaler Sinn ........................................ 105 4.3.2 Der propositionale Sinn und die propositionale Syntax .......... 105 4.3.3 Der junktionale Sinn und die Syntax einer Einzelsprache....... 107 4.3.4 Syntax einer Einzelsprache ........................................................... 109 4.3.5 Die Terminologie: Urteil und Form............................................ 112 4.4 Die Einheit von Urteil und Form in der Praxis................................ 114 4.5 Die Trennung zwischen Urteil und Form in der Techne ............... 116 5 Technische Sprache ..............................................................................119 5.1 Begriff, Norm und Ästhetik als Leitbegriffe technischer Sprache 119 5.1.1 Der allgemeine Begriff des Produktionsgegenstandes ............. 121 5.1.2 Die normative Komponente ........................................................ 122 5.1.3 Ästhetische Aspekte technischer Sprachproduktion................ 123 5.2 Die Affinität der Schrift zur Techne .................................................. 124 5.3 Ästhetische Dimensionen der Schrift ................................................ 127 5.3.1 Funktionale Verlagerung ästhetischer Qualitäten ..................... 127 5.3.2 Bildästhetik und Text..................................................................... 128 5.3.2.1 Wellensyntax............................................................................ 130 5.3.2.2 Tabellen und Graphiken........................................................ 132 5.3.2.3 Versstrukturen......................................................................... 132 5.4 Ästhetische Dimensionen der Mündlichkeit..................................... 139 6 Schriftliche und mündliche Sprache.....................................................145 6.1 Einzelsprache als System...................................................................... 151 6.2 Die Einheit des Systems ....................................................................... 153 6.3 Schriftlichkeit, Mündlichkeit und die Einzelsprache ....................... 155 6.3.1 Diachronische Perspektive .......................................................... 155 6.3.2 Synchrone Perspektive .................................................................. 160 7 Ausblick: Das Pittoreske der Sprache ..................................................163 8 Bibliographische Angaben ...................................................................167
1. Einleitung Das Interesse der Sprachwissenschaft, als Wissenschaft von der Sprache, gilt – insofern es die Schrift überhaupt betrifft – der geschriebenen Sprache vor allem als einer Form, einer Variante bzw. Varietät der „abstrakten Entität »Sprache«“ (Weingarten 1989: 26). Ihrer historischen Entwicklung entsprechend lassen sich die Hauptpositionen bezüglich des Status der geschriebenen Sprache in vier Momente gliedern: Einleitung a) b) c) d)
Geschriebenes als bloßes Abbild der Sprache, Geschriebenes als Muster für Sprache, Primat der Mündlichkeit und Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache.
Diese Gliederung entspricht einer Art abstrakter Dialektik, die in dieser Form in der Wissenschaft immer wieder zurückkehrt. Zunächst wird ein Unterschied gar nicht bemerkt, sobald er aber bemerkt wird, folgen zunächst Versuche, zuerst das eine, später das andere als wichtiger darzustellen, nur damit man sich zuletzt, nach dem Kampfszenario, in der Beobachtung bloßer Differenzen ausruhe; als müsste man anerkennen, wie William James sagen würde, dass die Wirklichkeit immer aus Vielem besteht und sich monistisch nicht erklären lässt.1 Die erste Position wird heute vor allem auf die aristotelische These zurückgeführt, dass die Laute Zeichen der in der Seele existenten Vorstellungen und die Schrift Zeichen dieser Laute seien.2 Auch Platon hatte in der Schrift eine Art der Aufbewahrung des Gesprochenen auf Papier gesehen, wertete diese aber im Gegensatz zur Aufbewahrung desselben im Gedächtnis, die er die „wahre Schrift“ nannte, als falsch.3 Während also die Sprache als Zeichen für Vorstellungen angesehen wurde, galt die Schrift plausiblerweise als Abbildung, Zeichen solcher sprachlichen Zeichen, das heißt als Zeichen des Zeichens, und damit in einer bestimmten Weise als irrelevant, als bloßes Medium. An dieser grundlegenden Ansicht wurde bis spät in das zwanzigste Jahrhundert nicht gezweifelt. De Saus_____________ 1 2 3
Vgl. James 1977: 9ff. Vgl. Aristoteles 16a. Vgl. Platon 276 a-b, zur Deutung auch Derrida 1974: 34.
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Einleitung
sure (1967: 28) und in seiner Gefolgschaft die Strukturalisten glaubten hieran mit derselben Sicherheit wie noch Hegel4 oder (in manchen seiner Aussagen) Humboldt5. Die Frage ist nur, und hierdurch wird zum nächsten Schritt übergegangen, ob das Geschriebene in der Tat nur Abbild der Sprache oder zugleich auch mehr, eine Vervollkommnung derselben, sei. In der Zeit des Rationalismus entwickelt sich die Vorstellung, dass die Sprache, zumal in ihrer Existenzweise in Form unterschiedlicher Einzelsprachen, Schwächen habe, die man mit einer neuen, rationalen und einheitlichen, schriftlichen Sprache der Gelehrten zu beheben fähig sei. Als Beispiel nehmen wir eine Stelle von Leibniz: Um aber auf Ihre vier Mängel der Bezeichnung zurückzukommen, so muß ich Ihnen sagen, daß man sie alle beseitigen kann, vor allem, seitdem die Schrift erfunden ist, und daß sie nur unserer Nachlässigkeit wegen da sind. Denn es hängt von uns ab, die Bezeichnungen wenigstens in irgend einer Gelehrtensprache festzustellen und sich darüber zu verständigen, um vor allen Dingen jenen Turm von Babel zu zerstören. (Leibniz 1904: 351)
Dieselbe Wertschätzung der Schrift der Sprache gegenüber führt auch zur Entwicklung der so genannten Schriftsprache, wie Konrad Ehlich darauf aufmerksam macht: Sprache als geschriebene wird [...] zu einer spezifisch schriftlichen Varietät, zur „schriftlichen Sprache“ [...]. Diese gewinnt dann, wenn Normierungsprozesse und dafür erforderliche Agenturen in erheblichem Umfang realisiert werden, die Qualität von Schriftsprache. Dieses Konzept wirkt in bezug auf die Sprachauffassung seinerseits normierend zurück. Die als „Schriftsprache“ ausgezeichnete Varietät einer Sprache hat aufgrund ihrer normativen Qualitäten den Anspruch, diese Sprache allein zu repräsentieren, sie zu sein. Ein solches Konzept von Sprache, das sich insbesondere für die buchdruckbasierten neuzeitlichen europäischen Sprachen herausgebildet und im Zusammenhang der Nationalisierung der
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„Näher bezeichnet die Hieroglyphenschrift die Vorstellungen durch räumliche Figuren, die Buchstabenschrift hingegen Töne, welche selbst schon Zeichen sind. Diese besteht daher aus Zeichen der Zeichen, und so, daß sie die konkreten Zeichen der Tonsprache, die Worte, in ihre einfachen Elemente auflöst und diese Elemente bezeichnet.“ (Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, §459) Bemerkenswert ist, dass an derselben Stelle Hegel auch auf hieroglyphische Elemente der Buchstabenschrift verweist, wie etwa die schriftliche Bezeichnung der Zahlen, der chemischen Elemente usf. „Das tönende Wort ist gleichsam eine Verkörperung des Gedanken, die Schrift eine des Tons.“ (Humboldt 1994:100) Humboldt geht jedoch auch weiter und sagt: „Ihre [der Schrift] allgemeine Wirkung ist, dass sie die Sprache fest heftet, und dadurch ein ganz anderes Nachdenken über sie möglich macht, als wenn das verhallende Wort bloss im Gedächtnis eine bleibende Stätte findet. Es ist aber auch zugleich unvermeidlich, dass sich nicht irgend eine Wirkung dieser Bezeichnung durch Schrift, und der bestimmten Art derselben überhaupt dem Einflusse der Sprache auf den Geist beimischen sollte. Es ist daher keineswegs gleichgültig, welche Art der Anregung die geistige Thätigkeit durch die besondre Natur der Schriftbezeichnung erhält.“ (Ibidem)
Einleitung
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Sprachfrage im 18. und 19. Jahrhundert verallgemeinert hat, lässt die Redeweise von „dem Deutschen“, „dem Französischen“, „dem Italienischen“ als den Normalfall des Sprechens von Sprache erscheinen. Dieses Konstrukt, aus der oben bezeichneten Entwicklung heraus als gesellschaftliches Abstraktionsresultat auf der Grundlage der Abstraktion des schriftlichen Textes allererst hergestellt, wird wiederum überall dort normativ eingesetzt, wo die schriftsprachliche Vereinheitlichung noch nicht gegriffen hat [...].“ (Ehlich 1994: 29)
Das besagte Phänomen geht freilich noch weiter bis in die grammatische Tradition des lateinisch schreibenden Mittelalters zurück, die mit nationalen Gedanken nichts zu tun hat, und zeigt sich zum Beispiel bei den ersten Versuchen der Verschriftung so genannter Vulgärsprachen. In Anbetracht ihrer Resistenz gegen das lateinische Alphabet sprachen die Verschrifter von der Rohheit6 dieser Sprachen, eine Neigung, die – allerdings mit einer anderen ideologischen Färbung – bis hin in das zwanzigste Jahrhundert anhalten sollte. Ferdinand de Saussure ist mit Sicherheit der prominenteste Kämpfer gegen einen solchen Vollkommenheitsanspruch der Literalität, obwohl schon Herder, Humboldt und die Junggrammatiker auf den Primat der gesprochenen Sprache teils hingewiesen, teils dieselbe vorausgesetzt haben. An einer bekannten Stelle spricht er von der „Tyrannei des Buchstabens“7 und behauptet, dass für die Sprachwissenschaft „die Befreiung vom Buchstaben ein erster Schritt [zur Wahrheit]“ (Saussure 1967: 38) wäre. In der Schrift sieht er einen Gegner, eine mögliche Verschleierung der natürlichen Sprache, wie sie sich – frei von fremden Einflüssen – entwickeln würde. Die Erfolge des Strukturalismus im Bereich der Phonologie, infolge derer eine auffällige Entsprechung zwischen Phonemen und Buchstaben evident wird (was der Phonologie neuerdings auch Kritik eingebracht hat (z.B. Krämer 2003: 165)), haben dabei den vorläufigen Sieg der mündli_____________ 6
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„»Der rohe Zustand dieser Sprache« – so beschreibt Otfrid aus der Perspektive des lateinisch Gebildeten die eigene Muttersprache - »kennt keine Bildung und Disziplin und ist nicht gewöhnt, sich von den Regeln der Grammatik zügeln zu lassen, so ist auch die Verschriftung bei vielen Wörtern entweder wegen der Massierung von Lauten oder wegen [im Lateinischen, Ch. St] ganz unbekannter Sonorität schwierig.«“ (Stetter 1997: 60) „Aber die Tyrannei des Buchstabens geht noch weiter. Viele Leute unterliegen dem Eindruck des Geschriebenen, und so beeinflusst und modifiziert es die Sprache. Das kommt nur bei sehr literarischen Idiomen vor, wo das schriftliche Dokument eine beträchtliche Rolle spielt. Dann kann das visuelle Bild eine fehlerhafte Aussprache hervorrufen; das ist eigentlich eine pathologische Erscheinung. Sie findet sich häufig im Französischen. So gab es für den Familiennamen Lefèvre (von lateinisch faber) zwei Schreibungen: eine einfache und populäre Lefèvre, und eine gelehrte und etymologische Lefèbvre. Infolge der Gleichheit von v und u in der alten Schrift wurde Lefèbvre als Lefèbure mit einem b, das in Wirklichkeit in diesem Wort niemals vorhanden war, und einem u, das aus Doppeldeutigkeit hervorgegangen ist, gelesen. Aber jetzt findet man diese Form wirklich in der Aussprache.“ (Saussure 1967: 37)
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Einleitung
chen Sprache perfekt gemacht; sie können als Realisierung des de Saussue’schen Programms angesehen werden: Man müsste [...] sogleich das Natürliche, anstelle des Künstlichen zur Hand geben; aber das ist unmöglich, wen man die Laute der Sprache nicht erforscht hat; denn ohne die Schriftzeichen sind sie nur sehr vage Begriffe, und man wird immer noch das Hilfsmittel der Schrift, obgleich es trügerisch ist, vorziehen. So sind denn auch die ersten Sprachforscher, die von der Physiologie der artikulierten Laute nichts wussten, jeden Augenblick in diese Falle gegangen. Sie hätten unter Verzicht auf den Buchstaben nirgends festen Fuß fassen können. (Saussure 1967: 38)
Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat es vereinzelte Stimmen gegeben, die auf Unterschiede zwischen gesprochener und schriftlicher Sprache aufmerksam gemacht haben, die verdeutlichen wollten, dass das, was man als mündliche Sprache analysiert, weniger der alltäglich gesprochenen Sprache als eher den schriftlichen Mustern der Normierung entspricht. Aber erst in den fünfziger Jahren kann der Beginn einer intensiven Beschäftigung mit den Unterschieden zwischen Alltagssprache und Schriftsprache festgestellt werden. Dabei ist die Bemerkung Heinz Rupps, dass „das spontane Gespräch, aus dem der Hauptteil des gesamten Sprachgeschehens besteht, [...] sich strukturell grundsätzlich vom geschriebenen, verschriftlichten Deutsch [unterscheidet]“,(Rupp 19798: 162) programmatisch zu verstehen. An diesem Punkt gelangen wir zum Ende der skizzierten Dialektik. Das Problem der Schrift bzw. der Mündlichkeit wird zusehends zu einem Varietätenproblem.
1.1. Schriftsprache als eigenständige Varietät der Sprache Als in dieser Hinsicht gegenwärtig höchste wissenschaftliche Leistung wird in der letzten Zeit der Aufsatz „Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“ von Peter Koch und Wulf Oesterreicher aus dem Jahre 1985 angesehen. Man bezeichnet ihn als Klassiker, als Meilenstein der Erforschung von Schrift und Mündlichkeit, über den seit seiner Erscheinung nicht mehr wesentlich hinausgegangen worden ist.9 _____________ 8 9
Der Artikel wurde schon in den fünfziger Jahren geschrieben und ist im zitierten Band mit einer aktualisierenden Ergänzung versehen. Der besagte Artikel hat inzwischen das Fachvokabular der Varietätenforschung und vor allem der Untersuchung der neuen Medien und deren kommunikative Situationen geprägt (Vgl. Kilian 2001, Schlobinski 2001,2003, Burri 2003 usf.). Jener Teil der in ihm skizzierten Theorie, der für vorliegende Arbeit relevant ist, gilt seitdem unverändert. Vgl. Koch und Oesterreicher 1985, 1994, 2001 bzw. Oesterreicher 2001: 217-221. Zu tiefer gehenden theoretischen Aspekten des Ansatzes vgl. Raible 1999.
Schriftsprache als eigenständige Varietät der Sprache
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Das Hauptverdienst Kochs und Oesterreichers ist die Unterscheidung zwischen bloß medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit.10 Es gibt zunächst keine Schwierigkeiten bei der Trennung zwischen medial schriftlichen und mündlichen Texten, wenn man die Vermittlung zum Adressaten als Kriterium setzt. Ein laut vorgelesener Roman ist medial mündlich, ein abgeschriebenes Cafégespräch medial schriftlich. Eine solche Trennlinie indessen tut dem spezifischen Charakter des Textes oft Unrecht, so dass eine Trennung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf konzeptioneller Ebene notwendig wird. subjektbezogene Phänomene niedere Sprechhandlung Formalisierungsstufe (parole) höhere Sprechakt Formalisierungsstufe
subjektsentbundene, intersubjektiv fixierte Phänomene Sprachwerk Sprachgebilde (langue)
Abb. 1: Das Bühler'sche Vierfeldschema11
Als Grundlage für die neue Terminologie wird das Bühler'sche Vierfelderschema (Vgl. Abb.1.) gewählt, in dem auf der einen Seite der Intersubjektivitätsgrad und die Elaboriertheit der Sprache, auf der anderen Seite aber die Abstraktionsebene der Betrachtung (die Formalisierungsstufe) unterschieden werden, so dass man auf einer weniger abstrakten Ebene zwischen der Sprechhandlung als spontaner, subjektbezogener und dem Sprachwerk als elaborierter, subjektentbundener sprachlicher Äußerung zu unterscheiden hat. Diesen entsprechen auf einer höheren Abstraktionsstufe der Sprechakt und das Sprachgebilde. Konzeptionell Schriftliches wird mit dem Sprachwerk und konzeptionell Mündliches mit der Sprechhandlung gleichgesetzt, es wird aber betont, dass die Trennung nicht als Einschnitt und klare Grenzziehung, sondern als Skala anzusehen ist. Dabei entsteht ein so genannter Schriftlichkeits-Pol, dem die „Parameterwerte »raumzeitliche Distanz«, »öffentlich«, »fremde Partner«, »emotionslos«, »situations- und handlungsentbunden«, »wenig Referenz auf origo«, »keine Kooperationsmöglichkeit seitens des Rezipienten«, »monologisch«, »reflektiert-geplant«, »fixes Thema« usw.“ (Koch & Oesterreicher 1994: 588) _____________ 10
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Die folgende Darstellung des Ansatzes Kochs und Oesterreichers richtet sich nicht nur nach den Veröffentlichungen Kochs und Oesterreichers sondern berücksichtigt aus Darstellungsgründen insbesondere die wichtigen Interpretationsleistungen Wolfgang Raibles (Vgl. Raible 1994 und 1999) und geht in vielen Punkten, auch ohne dies ausdrücklich zu markieren, über diese hinaus, hat also keinen Anspruch, eine akkurate Wiedergabe der Theorie Kochs und Oesterreichers zu sein. Vielmehr soll sie als Weiterdenken derselben verstanden werden. nach Raible 1999: 12
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Einleitung
entsprechen, und ein diesem entgegengesetzter Mündlichkeits-Pol, zwischen die sich die zu untersuchenden sprachlichen Vorkommnisse vor allem aufgrund gewisser Alltagskategorien einordnen lassen. So ergibt sich zum Beispiel, dass ein herkömmliches familiäres Gespräch dem Mündlichkeits-Pol ganz nahe steht, während der Gesetzestext als Paradebeispiel für den Schriftlichkeits-Pol gilt. subjektbezogene Phänomene niedere Formalisierungsstufe (text als token) Mittlere Formalisierungsstufe (text als type) höhere Formalisierungsstufe ---Noch höhere Formalisierungsstufe
Humboldts enérgeia Sprechhandlung (parole)
subjektsentbundene, intersubjektiv fixierte Phänomene von Humboldts érgon Sprachwerk
Ebene der dazugehörigen Textgattungen mit ihren kognitiven (Planung!) und sprachlichen Anforderungen Sprechakt Sprachgebilde (langue) ------Ebenen der Noematik von Klaus Heger oder der sprachlichen Universalienforschung
Abb. 2: Erweiterung des Bühler’schen Schemas12
Die Schrift kann also nicht nur als Medium, sondern auch als ein vom Medium getrennter Merkmalskatalog für die Charakterisierung sprachlicher Äußerungen betrachtet werden, so dass wir nicht nur von geschriebener Sprache, sondern auch von einer Schriftsprache, einer konzeptionell schriftlichen Sprache und ihrer Präsenz in der medialen Mündlichkeit sprechen können. Es ergeben sich diesbezüglich je nach Formalisierungsbzw. Abstraktionsstufe zwei wichtige Unterscheidungsmöglichkeiten, wie in Abb. 2. gezeigt: einerseits auf der Ebene der Textsorten, andererseits auf der Ebene der langue, des Systems und damit letztlich der Grammatik. Auf der Textsortenebene fällt eine ganze Reihe von schriftlichen Genres ins Auge, wie etwa: Zeitungsartikel, Roman, Gesetzbuch, die ohne Schrift überhaupt nicht denkbar wären, durch welch letztere Beobachtung eine Perspektive auf den Einfluss der Schrift auf die Kultur und auf die sozialhistorische Perspektive der Sprachentwicklung eröffnet wird. Konzeptionell schriftlich ist aber auch eine Reihe mündlicher Textgattungen, wie z.B. die Parlamentsrede, die Nachrichtenansage oder der Universitätsvortrag. Auf der anderen Seite lassen sich erstens universale Aspekte der Schriftsprache mit Beispielen auf allen Ebenen der Sprachbetrachtung (Syntax, Lexik, Motivation usf.) und zweitens Besonderheiten auf der Ebene der Einzel_____________ 12
nach Raible 1999: 15
Schriftsprache als eigenständige Varietät der Sprache
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sprachen, wie etwa die Typisierung des Wortschatzes durch die Entstehung einer einheitlichen, monotopischen Sprachform, beobachten. Weil konzeptionelle Schriftlichkeit und Mündlichkeit bei Koch und Oesterreicher als skalarische Größen gedacht sind, sind auch die Merkmale der Schriftsprache und der Mündlichkeit nur skalarisch zu verstehen. Es ist unmöglich, wie auch Biber (1986) empirisch gezeigt hat, eine reine Schriftsprache von einer reinen mündlichen Sprache aufgrund von konkreten Merkmalen zu isolieren, weil man im auf eben diese sprachlichen Merkmale untersuchten Korpus keine klare Trennlinie zwischen dem, was zur mündlichen und was zur schriftlichen Sprache gehören soll, ziehen kann. Koch und Oesterreicher haben klargestellt, dass eine auf reiner Medialität beruhende Trennung im Korpus keineswegs zum gewünschten Ergebnis führen kann, weil der eigentümliche Ort der Schriftsprache, der konzeptionellen Schriftlichkeit, jenseits der Medialität ist. Allerdings geht in dem von Koch und Oesterreicher entworfenen Modell die natürliche Bindung der konzeptionellen Schriftlichkeit an die Schrift als Medium, als Realität in der Welt verloren. Der ursprüngliche Gedanke, zu zeigen, dass die Schriftsprache, die konzeptionelle Schriftlichkeit, auch in medial nicht schriftlichen Texten erscheint, führt dazu, dass aufgrund der angegebenen Merkmale konzeptionelle Schriftlichkeit auch in solchen Kulturen auftaucht, die keine Schrift kennen. So wird etwa eine sorgfältig elaborierte und memorierte Rede grundsätzlich zur konzeptionellen Schriftlichkeit gehören, selbst wenn ihr Verfasser hundert Jahre vor der Erfindung der ersten Schriftansätze gelebt hat.13 Dieses Problem sehen Koch und Oesterreicher auch selbst und führen deshalb die Terminologie der Sprache der Nähe bzw. der Distanz ein und bezeichnen damit, was sie der ursprünglichen Absicht nach konzeptionelle Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit genannt hatten. Halten wir das Ergebnis fest: Es gibt sicherlich so etwas wie eine Schriftsprache in vielen Kulturen der Welt, und die Entscheidung, ob etwas tatsächlich schriftsprachlich ist, hängt nicht bloß von der Medialität ab. Auswendig gelernte und vorgetragene Gedichte oder Zeitungsartikel sind medial mündlich, haben aber in der Regel ausgeprägten schriftlichen Charakter. Woher stammen also die Merkmale Kochs und Oesterreichers und woran lässt sich die konzeptionelle Schriftlichkeit festmachen? Offenbar daran, wie die Schrift uns, in unserem soziokulturellen Alltag, erscheint, womit wir sie verbinden, was für Assoziationen sie in uns auf _____________ 13
Das wird zwar elaborierte Mündlichkeit genannt (Vgl. Koch & Oesterreicher 1994: 593.), ist aber mit der konzeptionellen Schriftlichkeit intensiv gleichzusetzen. Störend kann in diesem Fall wirken, dass dadurch gerade die typischen Elemente mündlicher Kulturen, wie sie etwa von Walter Ong oder von Aleida und Jan Assman untersucht wurden, praktisch als konzeptionell schriftlich verstanden werden. Vgl. Ong 1987, Assmann 1992, 1993, 1994.
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der Ebene der Sprache als Systems weckt. Hieraus lässt sich die Konzeption, der Begriff der Schrift als Varietätsstiftendes, leicht ausarbeiten. Die Aussage, in der Schrift habe man entscheidend mehr Zeit, um den Text zu elaborieren, ist nicht notwendig wahr, da es durchaus Fälle gibt, in denen man in einem rein mündlichen Kontext an einem Satz sehr lange arbeitet, wie etwa im Fall eines gut vorbereiteten Auftritts vor einem Vorgesetzten oder einer lange eingeübten Zeugenaussage. Desgleichen werden viele der in der Schrift als besonders elaboriert geltenden Sätze gerade mündlich, also ohne Zuhilfenahme der Schrift entworfen, wie etwa im Fall der bekanntlich diktierten „Ästhetischen Theorie“ Adornos.14 Die Aussage, in der Schrift stünde zur Elaboration mehr Zeit zur Verfügung, genießt dennoch weitgehende Akzeptanz, weil sie mit Schrift nicht nur eine physische Entität, sondern ein sozial und kulturell verbreitetes Bild der Schrift meint, welche selbst dabei in den Hintergrund gerät.15 Ähnlich ist die Aussage, dass in der Schrift der direkte Kommunikationspartner fehle, während in der Mündlichkeit dieser in der Regel vorhanden sei, schwer zu verteidigen. Ein großer Teil der schriftlichen Texte besteht zum Beispiel aus Briefen, die durchaus einen direkten Adressaten haben. Zudem ist ein großer Teil der mündlichen Äußerungen adressatenentbunden und – woran in diesem Kontext kaum gedacht wurde – die Bindung der Sprache an Normen, von welchen einige mit Sicherheit auch die konzeptionelle _____________ 14
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Das ist einer der Hauptgründe, weshalb Bühler seine Unterscheidung zwischen Sprechhandlung und Sprachwerk auf das Sprechen und nicht auf Sprechen vs. Schreiben bezieht. Die Unterscheidung umreißt das Problem auch im Sprechen, ohne Rückgriff auf die Schrift, hinreichend. Logisch betrachtet ist dieses Phänomen besonders interessant. Der Begriff, der jene Situationen, die für die in dieser Bedeutung verstandene Schrift typisch sind, zur Extension hat, kann - offenbar - nur gerade diese vage Bedeutung der Schrift, mitsamt der dazu gehörenden Assoziationen, zur Intension haben. Dem Modell der sprachlichen Arbeitsteilung Putnams entsprechend gibt es nun eine große Bereitschaft, die Bestimmung der Extension eines intensional bestimmten Begriffs weitgehend dem Fachmann zu überlassen. Wenn aber die Intension, wie in diesem Fall, weitgehend aus der wissenschaftlichen Beschaffenheit der Extension abstrahiert worden zu sein scheint, dann droht sich der Kreis auf die Weise zu schließen, dass die Meinung des Fachmanns sowohl Intension als auch Extension bestimmt und die Bevölkerung mit ihren Assoziationen außen vor bleibt. Damit ist nicht auszuschließen, dass unsere Zustimmung zur Konzeption der Schrift weitgehend durch wissenschaftliche Suggestion (auch in deren indirekter Form, vermittelt durch Kultur und Politik) entstanden ist. Wir wollen Letzteres nicht behaupten, da wir der Auffassung sind, dass es ein solches Bild von der Schrift in unserer Gesellschaft, mit weitgehenden Einschränkungen, tatsächlich gibt und es womöglich weitgehend natürlich (soweit soziale Prozesse natürlich sein können) entstanden ist; aber die Möglichkeit, dass es sich hierbei ausschließlich um ein innerwissenschaftliches Schriftbild handelt, das erst aufgrund der weitgehenden Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber der wissenschaftlichen Terminologie in die Öffentlichkeit und von da aus, gleichsam als Faktum, zurück in die Wissenschaft gerät, ist nicht auszuschließen und soll deshalb erwähnt werden. Zum sprachlichen Arbeitsteilungsmodell vgl. Putnam 1996.
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Schriftlichkeit ausmachen, scheint direkt mit dem Vorhandensein des Adressaten und (mithin) mit dem Phänomen der tatsächlichen Äußerung zu korrelieren. Die innere Sprache im Sinne Wygotskis16, die aber schon von Wilhelm von Humboldt als mit Artikulation verbundene geistige Tätigkeit erkannt wurde, die man also durchaus „mündlich“ nennen muss, wäre somit als Pol der normfreien Sprachlichkeit anzusehen, also als konzeptionell mündlich, obwohl sie den kommunikationstechnischen Merkmalen nach (adressatenentbunden) konzeptionell schriftlich sein müsste. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten kann auch die Aussage, dass in der Schriftlichkeit der Kommunikationspartner nicht (direkt) gegeben sei oder mindestens eine sekundäre Rolle spiele, hingenommen werden, wenn nämlich unter schriftlicher bzw. mündlicher Situation das verstanden wird, was für diese als eine im Alltag bestimmte, sozial-kulturelle Entität relevant ist. Für das, was man „Schrift“ nennt, sind private Briefe offenbar wenig relevant. Deshalb können sie in Kochs und Oesterreichers Theorie nicht am Schriftlichkeitspol erscheinen, obwohl schon der Begriff des Briefes die Schrift wesentlich voraussetzt. Ähnlich wäre die innere Sprache als soziale Größe vollkommen irrelevant. Auch die Idee der unterschiedlichen Entfernung vom Bühler’schen origo im Falle der Schrift bzw. der mündlichen Rede ist hochproblematisch, denn die Bühler’sche Sprachtheorie begreift jeden voll ausgeformten Satz als zeigefeldentbunden, und niemand wird behaupten wollen, dass in der mündlichen Rede solche Sätze nicht immer schon vorkämen; selbst das Beispiel, mit dem Bühler die Problematik der Befreiung der Sprache von Situationshilfen verdeutlicht, entstammt eindeutig der Mündlichkeit: „Ein Fahrgast der Straßenbahn sagt empraktisch: gerade aus; sein Nachbar im Wagen erzählt: Der Papst ist gestorben.“ (Bühler 1982: 367) Andererseits könnte darauf hingewiesen werden, dass der Satz in der Schrift eine weitere Entbindung vom Zeigefeld erfährt, indem er nämlich durch die Spezifizierung aller relevanten Daten (Ort, Zeit bzw. weitere Kontextangaben) auch aus der Situation der Äußerung befreit, mithin allgemein wird. Ob aber der Satz „Es regnet am Bodensee,“ wie ihn Bühler anführt, in der Tat durch die Erweiterung „am Bodensee“ schriftlicher wirkt, oder durch den statischen Satzaufbau im Gegensatz zu: „Aber am Bodensee! Da regnet es!“ (oder auch einfacher: „Am Bodensee regnet es aber!“), dürfte fraglich bleiben. Als eine plausible Erklärung dafür, dass Koch und Oesterreicher die Konzeption der Schrift als Sprache der Distanz begreifen, könnte die Tatsache angesehen werden, dass die Distanz, begriffen als persönliche, _____________ 16
„Die Eigenarten der inneren Sprache zeigen auch, dass innere Sprache eine besondere, autonome und eigenständige Funktion der Sprache darstellt [...] so sind wir berechtigt, sie als besondere innere Ebene des sprachlichen Denkens aufzufassen, die die dynamische Beziehung zwischen dem Gedanken und dem Wort herstellt.“ (Wygotski 1964: 349)
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räumliche, zeitliche und soziale Distanz, im Rahmen des schulischen Unterrichts mit der Schrift in vielfacher Weise verknüpft wird. Das Schreiben ist jene Handlungsform, in der die dem schulischen Unterricht und seiner politisch begründeten Macht ausgelieferten Kinder die erste markante Erfahrung von solchem sprachlichen richtig und falsch machen, das von einer fremden Instanz spürbar geahndet werden kann, was in der Regel jede Unmittelbarkeit der Schreibhandlung eliminiert und diese in einem hinreichend vagen Sinn ‚distanziert’ macht. Die historischen Erklärungen scheinen an dieser Stelle weniger sinnvoll, sie können nur verdeutlichen, wie es zum (politischen) Willen gekommen ist, genau diese – und nicht andere – sprachliche Muster in der Schrift als Standard festzulegen, nicht aber, wie diese Muster tatsächlich zur Akzeptanz gelangen, wie sie sich im Alltagsbewusstsein etablieren. Die Verbindung zwischen der Sprache der Distanz und der Schrift beruht auf Normfragen. Sie ist also keine notwendige. Die Idee der Konzeption der Schrift im Gegensatz zur bloß medialen Auffassung wäre durch dergleichen Annahmen geradezu geschwächt. Die Verbindung zwischen der Sprache der Distanz und der Schrift ist weder in dem Sinne notwendig, als könnte jene ohne diese nicht existieren, noch in dem Sinne, als wäre dies zu wissenschaftlichen Zwecken zu wünschen. Die Idee der konzeptionellen Schriftlichkeit besagt vielmehr, dass in unserer Gesellschaft dank einer Reihe von mehr oder weniger erklärbaren bzw. bekannten historischen Tatsachen, die gewisse Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede weltweit aufweisen, zu diesem Zeitpunkt diese und jene sprachlichen Merkmale mit der Schrift als einer nicht weiter sinnvoll differenzierbaren sozialen Entität verbunden sind.17 Es könnte darüber gestritten werden, ob es unsere Gesellschaft in einem geeigneten Sinne überhaupt gibt und ob man von ihr homogene Assoziationen zwischen der Schrift und gewissen sprachlichen bzw. kommunikationstheoretischen Attributen erwarten kann. Zudem könnte bezweifelt werden, dass die von Koch und Oesterreicher unternommene _____________ 17
Mit Hegel könnte das Problem auf die terminologische Trennung zwischen dem An-sich, dem Für-sich und dem Für-uns reduziert werden. Für-sich ist ein Phänomen, wie es in seinem eigenen Kulturkreis erscheint. Für-uns ist ein Phänomen, wie es uns, die wir auf einer anderen (höheren) Stufe der (philosophischen) Betrachtung stehen, erscheint. Das An-sich wird mit dem Für-uns zuletzt gleichgestellt, weil unsere (höhere) Stufe der Betrachtung bei Hegel als absolute Betrachtungsstufe ausgegeben wird, was zum Beispiel auch mit dem Glauben an die teleologische Entwicklung der Weltgeschichte bis zu uns, als Endzweck (ohne eschatologische Komponente), verbunden ist. Stillschweigend erfolgt bei Koch und Oesterreicher dieselbe Gleichsetzung: was wir in unserer Gesellschaft meinen, ist das Wahre: die Konzeption der Schrift ist das, was sie in unserer Gesellschaft ist. Wenn in dieser Darstellung auf diese Gleichsetzung programmatisch verzichtet wurde, so ist dies aufgrund der Auffassung geschehen, dass ihrem Ansatz auch (oder erst recht) ohne einen solchen Anspruch große linguistische Bedeutung zukommt.
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Genreklassifizierung tatsächlich einen Sinn macht, ob nicht vielmehr der Begriff „Leitartikel“ etwa nach Zeitungstypen weiter untergliedert werden müsste usf. Diese Fragen indessen führen in ein viel weiteres Feld, zu Grundfragen, die die Möglichkeit der Soziolinguistik und der Varietätenforschung überhaupt betreffen und die diese Arbeit zu untersuchen nicht berufen ist. Viel wichtiger ist, das bereits Gezeigte in Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit umzuwenden. Wenn es in der hier nicht weiter zu differenzierenden Gesellschaft eine Konzeption von dem, was schriftliche bzw. mündliche Sprachvarietät ist, sei zwischen den beiden auch nur eine skalarische Trennung möglich, vorhanden ist, dann wird das Varietätenproblem auf irgendeine Weise gelöst werden; aber weil die Konzeption der Schriftlichkeit als Sprache der Distanz von der Schrift als einer handfesten Realität losgelöst ist, weil also die konzeptionelle Schriftlichkeit mit der Schrift selbst nichts, jenseits gewisser historisch mehr oder weniger erklärbarer Assoziationen der Bevölkerung, zu tun haben muss, hat die Varietätenfrage (jenseits mehr oder weniger zufälliger Übereinstimmungen) überhaupt keinen Aussagewert darüber, ob und inwiefern es tatsächlich einen Unterschied zwischen Gesprochenem und Geschriebenem gibt. Gemeint wäre damit ein Unterschied, der nur aus dem jeweiligen Gegebensein (schriftlich bzw. mündlich) der Texte zu erklären wäre. Bemerkenswert ist aber, dass die naiven Versuche, die letzte Frage zu beantworten, sich baldmöglichst auf einen Standpunkt zurückgeworfen sehen, der gerade von Koch und Oesterreicher aufgehoben wurde. Soll nämlich eine sprachliche Einheit genuin schriftlich sein, so ist diese, weil sie sprachlich ist, auch in der Mündlichkeit möglich und findet immer den Weg in diese, sei es auch nur dadurch, dass sie vorgelesen wird. Gleichgültig ob eine sprachliche Form in der Schrift oder in der Mündlichkeit entstanden ist, ist sie immer sowohl in der einen als auch in der anderen möglich. Sie ist gerade nicht genuin schriftlich. Uns bleibt somit die Wahl, das spezifisch Schriftliche bzw. Mündliche bloß als auf reine mediale Entstehungsgeschichte basierende historische Qualität anzusehen oder – indem wir sie zur Varietätenfrage erklären – zur konzeptionellen Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit zurückzukehren. Das heißt, entweder ist für uns die Sprache eine Einheit, deren einzelne Formen, Strukturelemente, wir historisch auf die Schrift bzw. auf mündliche Situationen zurückführen können, oder wir behaupten, dass es Unterschiede zwischen dem Geschriebenen und Gesprochenen gibt, welche wir sinnvollerweise nur auf der Ebene der konzeptionellen Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit, als Varietätenfrage, also geradezu losgelöst von der Frage nach den technischen Möglichkeiten der unterschiedlichen Medien, erfassen können.
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Die aus dieser gesamten Forschungsrichtung gewonnene Grunderkenntnis lautet entsprechend, dass die Einheit der Sprache die Frage nach der Medialität übersteigt; die Frage nach der Medialität wird nicht mehr über oder neben der Sprache, sondern innerhalb der Sprache gestellt und vom Medium losgelöst. Wenn noch de Saussure in der Schrift eine Gefahr für die Sprache, eine äußere, ihr fremde Gewalt sah, so wird durch die Varietätenfrage diese Problematik vollständig aufgehoben, und zwar in der Erkenntnis, dass die Sprache die ihr von Außen (sei es durch ein Medium, durch politische Entscheidungen, durch die Entwicklung neuer Gegenstände usf.) zukommenden Einflüsse in sich aufnimmt und deshalb nicht aufhört, dieselbe Sprache zu sein.18 Die Schrift ist somit nicht mehr in Konkurrenz zur Sprache zu begreifen, sondern als ein Teil von ihr. Mag die Schrift in gewissen Epochen der Geschichte der Sprachwissenschaft als etwas anderes als Sprache geschienen haben, so ist sie inzwischen – in der Weise, wie sie in der Gesellschaft gedacht wird, und die für die Formung der Sprache als soziales Bewusstseinsphänomen zuständig ist – ein Teil der Sprache geworden. Indem also die Schrift zur Varietätenfrage wird, scheint die Dialektik der Beschäftigung der Sprachwissenschaft mit der Schrift vollendet: Die Differenzen wurden als Differenzen innerhalb einer von denselben nicht mehr bedrohten Einheit erkannt. * Die andere mögliche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen Schrift und Sprache ist die kritische. Sie hinterfragt vor allem die Möglichkeit einer realen Sprachwissenschaft im Sinne de Saussures, einer Wissenschaft, die die Sprache als natürliche und nicht als eine durch die Schrift zu analytischen Zwecken geformte Entität behandelt, deren Gegenstand „das gesprochene Wort allein“ (de Saussure 1967: 28) ist. Man könnte sie entweder als Pendant zu den letzten Paradigmenwechseln der Philosophiegeschichte ansehen, wie etwa der kantischen Erkenntniskritik und der Sprachkritik im Sinne Freges oder Wittgensteins, oder als Auswuchs der de Saussure’schen Sorge bezüglich der Notwendigkeit der Befreiung vom Buchstaben als ersten Schritts zur sprachwissenschaftlichen Wahrheit. Es lässt sich indessen vermuten, dass diese Art wissenschaftlicher Untersuchungen in einer mehr oder weniger zugegebenen (mehr oder weniger bewussten) und oft als Kritik ausgegebenen Gefolgschaft Derridas zu begreifen sind, der nämlich schon 1967 neuartige Beobachtungen über die Schrift und ihr Verhältnis zur Sprache veröffentlicht hat. _____________ 18
Das Problem der Diglossie bei Koch und Oesterreicher hat trotz einer oberflächlichen Ähnlichkeit andere Parameter. Vgl. Koch und Oesterreicher 1994: 956.
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Bevor wir zu dieser schriftkritisch-sprachwissenschaftlichen Forschungsrichtung und dem Referieren ihrer Hauptansichten und Ergebnisse übergehen, wollen wir als Einstieg und zugleich als Vorbereitung die sechs Feststellungen betrachten, mit denen Derrida das Kapitel „Linguistik und Grammatologie“ seines Buches „Grammatologie“ eröffnet, ein Kapitel, das gerade die Hinterfragung der Linguistik als Wissenschaft angesichts der Probleme der Schrift zum Gegenstand hat: Was kann eine Wissenschaft von der Schrift zunächst bedeuten, wenn feststeht: 1. dass die Idee der Wissenschaft selbst in einer bestimmten Epoche der Schrift entstanden ist; 2. dass sie, als Aufgabe, Idee und Entwurf, in einer Sprache gedacht und formuliert wurde, die einen bestimmten Typus strukturell und axiologisch bestimmter Verhältnisse zwischen gesprochenem Wort und Schrift impliziert; 3. dass sie von daher zunächst an den Begriff und an das Abenteuer der phonetischen Schrift gebunden war, die als das Telos einer jeden Schrift gewertet wurde, obwohl das exemplarische Modell der Wissenschaftlichkeit – die Mathematik – sich beständig von ihr entfernte; 4. dass die enger gefasste Idee einer allgemeinen Wissenschaft von der Schrift aus nicht zufälligen Gründen in einer bestimmten Epoche der Geschichte der Welt (die sich etwa um das 18. Jahrhundert ankündigt) und innerhalb eines bestimmten, determinierten Systems von Verhältnissen zwischen dem „lebendigen“ Wort und der Ein-Schreibung entstanden ist; 5. dass die Schrift nicht bloß ein Hilfsmittel im Dienst der Wissenschaft – und unter Umständen ihr Gegenstand – ist, sondern, woran besonders Husserl in „Ursprung der Geometrie“ (Husserliana, Bd. VI., pp. 265-286, Beilage III) erinnert hat, allererst die Möglichkeitsbedingung für ideale Gegenstände und damit für wissenschaftliche Objektivität. Die Schrift ist Bedingung der episteme, ehe sie ihr Gegenstand sein kann; 6. dass die Geschichtlichkeit selbst an die Möglichkeit der Schrift gebunden ist: an die Möglichkeit der Schrift überhaupt und über jene besonderen Schriftformen hinaus, in deren Namen man lange Zeit von schriftund geschichtslosen Völkern gesprochen hat. Ehe sie Gegenstand einer Historie – einer historischen Wissenschaft – ist, eröffnet die Schrift den Bereich der Geschichte – des geschichtlichen Werdens. Denn die Historie setzt die Geschichte voraus. Die Wissenschaft von der Schrift hätte also ihren Gegenstand an der Wurzel der Wissenschaftlichkeit zu suchen. (Derrida 1974: 49f) 19
1.2. Schrift als kognitives Problem Innerhalb der Sprachwissenschaft macht sich die Überzeugung, dass die Schrift auf mannigfaltige Weise das Denken und mithin unsere Weltsicht beeinflusst, erst in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts bemerkbar. So macht zum Beispiel Weingarten auf einen so genannten kognitiven Einfluss der Schrift aufmerksam: _____________ 19
Zur These, dass die Schrift eine notwendige Voraussetzung der Wissenschaftlichkeit sei, vgl. unter anderen: Havelock 1976, 1982, Ong 1987, Logan 1986.
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Besondere kognitive Entwicklungen, die durch Schrift begünstigt werden, bilden das formallogische Denken und den linearen Zeitbegriff. Durch die Ablösung der Argumentation vom Dialog, die Trennung der Zeichen vom Handlungsprozess und vom konkreten Inhalt werden formallogische Zusammenhänge deutlich. Durch Textformen wie Tagebücher, Buchhaltung, Kalender, Annalen etc. Erscheint der Verlauf der Zeit als kontinuierlich, linear fortschreitend. Nichtlineare, zyklische Kodifizierungen der Zeit, wie sie z.B. bei den Trobriandern oder Hopi beobachtet wurden, sind bei einer sequentiellen Notierung historischer Einzeltatsachen nur noch schwer aufrechtzuerhalten. (Weingarten 1989: 20)
Von hier aus entwickelt sich eine weniger sprach- als eher schriftwissenschaftliche Forschungslinie, die sich diese Art des kognitiven Einflusses der Schrift zum Gegenstand macht. So wurde zum Beispiel dargelegt, dass die Schrift als Kulturtechnik, als welche sie schon von Helmut Glück bezeichnet wurde20, „die Leistungen der Intelligenz durch Versinnlichung und exteriorisierende Operationalisierung des Denkens [befördert]. Das Kognitive bleibt nicht eingeschlossen in die unsichtbare Innerlichkeit der mentalen Zustände eines Individuums; Intelligenz und Geist werden zu einer Art distributivem, damit auch kollektivem Phänomen, das sich bildet in handgreiflichen Umgang des Menschen mit Dingen und symbolischen und technischen Artefakten.“ (Krämer und Bredekamp 2003:18) Dies wurde vor allem am Kalkül, in den besonderen algorithmischen Tätigkeiten, die zum mathematischen Rechnen auf Papier, zum Vollzug formallogischer Operationen (die man freilich auch mathematisch nennen könnte) nötig sind21, und bei der Erzeugung von Computerprogrammen22 beobachtet. Die Schrift ermöglicht also, die Innerlichkeit des Denkens, seine Spontaneität (wie Kant sagen würde23), in eine äußere, kontrollierbare Tätigkeit umzuwandeln, die sich am deutlichsten am schulischen Mathematikunterricht beobachten lässt. Es geht dort nicht darum, eine Aufgabe bloß zu lösen, sondern sie nachvollziehbar, nach genau vorgegebenen schriftlichen Methoden und Algorithmen zu lösen. Es geht nicht um einen „Geniezug“, sondern um Arbeit. Das Denken selbst wird methodisch, – wenn man es so ausdrücken möchte – zu einer nachprüfbaren Arbeit. Aus solchen Beobachtungen ergibt sich zum Beispiel die These Krämers, „die operative Schrift [sei] nicht nur ein Beschreibungsmittel, sondern zugleich ein Werkzeug des Geistes, eine Denktechnik und ein Intelligenzverstärker“, dass wir also „lange vor dem Computer als Universalmedium und programmierbarer Maschine [...] den Computer „in uns“, hier verstanden _____________ 20 21 22 23
Vgl. Glück 1987. Vgl. Krämer 1991, 1997, 2003 und Koch 1997. Vgl. Raible 1999. Vgl. Kant: KdrV B 428.
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als das maschinenhafte, interpretationsentlastete Umgehen mit Zeichen auf Papier, [entwickelt hätten]“ (Krämer 2003: 171). Einen derartigen Einfluss der Schrift scheint es in der Tat zu geben, er betrifft aber nichts, das in irgendeiner Weise als „sprachliches Denken“ oder „natürliche Sprache“ bzw. „Sprachlichkeit“ bezeichnet werden könnte. Sicherlich kommt es vor, dass in der Schrift auch sprachliche Einheiten zu Gegenständen von Kalkülen werden, doch dies tun sie gerade nicht als sprachliche Einheiten, sondern als semiotisch irrelevante Entitäten. Der Fall, in dem ein logisch sehr komplexer (sprachlicher) Satz durch eine algorithmische logische Analyse (zum Beispiel mithilfe von Baumstrukturen) auf seine Wahrheitsbedingungen hin untersucht wird, kann auch nicht als eine Art kognitiven Einflusses der Schrift auf das Denken oder auf die Sprache verstanden werden, denn wenn ein Satz in der Tat nur durch algorithmische Analyse eine Information hergibt, so bedeutet dieser Satz diese Information nicht kraft seiner genuinen, natürlichen Sprachlichkeit, und daher kann dieser Satz als solcher auch nicht gedacht werden. Somit sind solche Sätze für unser Thema irrelevant. Dramatisch wird die Situation erst, wenn sie in eine kantisch angelegte Kritik der Sprachwissenschaft umgewendet wird. Eine einfache Version dieser Umwendung könnte behaupten, dass die Sprachwissenschaft als Wissenschaft überhaupt erst durch die Schrift möglich wird, weil Wissenschaft in Form weit angelegten Informationsaustausches ohne Schrift nicht möglich wäre und weil die Sprache, die sonst immer nur ein phonischer Gegenstand gewesen sein soll, erst durch die Hypostasierung in der Schrift soweit festgehalten werden kann, dass seriöse wissenschaftliche Reflexion über dieselbe möglich wird. Plausibel wirkt diese These vor allem deshalb, weil der allgemeine erkenntnistheoretische Vorrang des Sehsinns im Vergleich zum Hörsinn schon seit Aristoteles weitgehende Akzeptanz genießt; am Anfang der „Metaphysik“ heißt es: Alle Mensche streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen andern vor. Ursache davon ist, dass dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt.24 (Aristoteles 980a).
Wenn also die Sprachwissenschaft erst durch die Schrift möglich werden sollte, dann wäre eine gewisse kritische Zurückhaltung in Bezug auf die Ergebnisse derselben angebracht, etwa indem bedacht würde, dass wir dazu neigen könnten, Muster, die ausschließlich in der Schrift klar zu beo_____________ 24
Übersetzung von Hermann Bonitz, in: Aristoteles: Philosophische Schriften, Hamburg 1995, Bd. 5, S. 1.
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bachten sind, unserer Sprachbetrachtung zugrunde zu legen; so etwa indem wir die Schriftsprache als Maßstab für die Sprache überhaupt nehmen. Dieser Aspekt wurde indessen in der bereits gezeigten dialektischen Entwicklung insofern, dass mündliche und schriftliche Sprache als zwar schwer zu trennende, aber prinzipiell dennoch unterschiedliche Varietäten erkannt wurden, aufgehoben. Die radikale Version dieser kritischen Richtung findet sich in ausdrücklicher Form bei Christian Stetter und Sybille Krämer, und zwar wenn diese das kognitiv wirkende Supplement der Schrift als Hinterfragung der grundsätzlichsten sprachwissenschaftlichen Theorien kapitalisieren. So wird versucht, die Schrift als Grundlage der Atomisierbarkeit der Sprache in diskrete semantische Strukturelemente zu enttarnen: Dass die Sprache diskret verfasst ist, kommt mit unserer sinnlichen Erfahrung im Sprachgebrauch keineswegs überein. Das Sprechen vollzieht sich als ein Kontinuum. Zwar gibt es Pausen im Redefluss, doch diese Pausen stimmen mit den phonischen und grammatischen Untergliederungen keineswegs überein. So unzweifelhaft es ist, dass Buchstaben isolierbare Grundelemente der Alphabetschrift bilden, so bezweifelbar bleibt, dass einzelne Phoneme die Bausteine der Lautsprache bilden: Für die Diskretheit des Lautstroms im Sprechen findet sich empirisch jedenfalls kein Beleg. Das wundert nicht, denn das Phonem ist der stumme Laut, in der Linguistik eingeführt und bestimmt durch ein Netz struktureller Eigenschaften, durch seine differentiellen Bezüge zu denjenigen Phonemen, die in der Selektion eines bestimmten Phonems jeweils ausgeschlossen sind. Nicht wenige Sprachwissenschaftler kommen daher zu der Überzeugung, dass das Phonem – im Unterschied zum Graphem – kein empirisches Datum, vielmehr ein theoretisches Konstrukt ist. Das Phonem wird dann interpretiert als ein Epiphänomen des Buchstabens. Und das heißt: Der einzelne Laut ist kein Vorkommnis des Sprechens, sondern das Ergebnis einer Analyse der gesprochenen Sprache im Medium der Schrift. (Krämer 2003: 165)
An dieser Stelle scheint zunächst die Tragweite der These enorm. Wenn der Laut, das Phonem, als die „Summe der akustischen Eindrücke und Artikulationsbewegungen“ (de Saussure 1967: 46) der gehörten bzw. gesprochenen Lauteinheit, kein Vorkommnis des Sprechens, sondern das Ergebnis schriftlicher Analyse sein soll, dann ist die letztlich auf das Phonemprinzip gegründete Idee der Sprache als semiologisches Systems plötzlich verwerflich. Die Sprache wäre dann gar nicht mehr wirklich nach diesem Prinzip aufgebaut; das Strukturmoment der Sprache, das auch im Poststrukturalismus nach wie vor grundlegend bleibt, drohte sich in eine rein kulturhistorische Frage zu verwandeln, die konsequent zu Ende gedacht zur Folge hätte, dass die Sprache als (nach festen Regeln) geordnete Größe erst durch die Schrift möglich geworden sei, wobei sie vor der Schrift bestenfalls ein „Repertoire lose gekoppelter Elemente“ (Krämer 2003: 168) hätte sein können. Letztlich: eine Art Unordnung. Hieraus zieht zuletzt nur Stetter die pointierte Konsequenz, die sich – der Anlage
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jeglicher postkantischer Kritik entsprechend – nur gegen metaphysische Hypostasierungen, gegen die Versuche, die Sprache zu einem naturwissenschaftlichen Problem zu machen, richten kann, letztlich also gegen die Idee der Universalgrammatik. Dieser hält Stetter konsequent entgegen: „Nicht im Genom residiert das Syntaxmodul, sondern auf dem Papier.“ (Stetter 1997: 269) Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass Krämer das Wesen des Phonems als bedeutungs- und nicht phonbezogener Entität in ihrer Argumentation übersieht. Dieses Wesen zeigt sich (wie dies auch schon Wilhelm von Humboldt klar gesehen hatte) in der Artikulation als bedeutungsverleihender Handlung.25 Entscheidend ist also nicht, ob im Redefluss Pausen gehalten werden oder nicht, ob also im Lautbild der Sprache (das nur als Ergebnis der bedeutungsverleihenden Sprach-Handlung angesehen werden kann) irgendwelche empirischen Belege für den diskreten Charakter der Sprache festgestellt werden können, sondern dass die einzelnen Phoneme aus dem Bewusstsein, aus dem Sprach-Subjekt, auch unabhängig von der Buchstabenschrift als Realisationen jeweils einzelnen artikulatorischen Handlungen entspringen. Entsprechend sind die Phoneme nicht deshalb isoliert (diskret), weil sie zwischen Redepausen artikuliert würden, sondern weil sie bedeutungsverleihenden (bzw. –erzeugenden oder -verändernden) artikulatorischen Handlungen entsprechen. Oder – wenn man an dieser Stelle die sokratische Methode anwenden darf – kann man etwa zwischen dem Fahrradfahren und dem Herabspringen von diesem, zwischen letzterem, dem Abstellen des Fahrrads und dem anschließenden Weg ins anvisierte Gebäude Pausen beobachten? Dennoch wird kein Handlungstheoretiker sagen, dass diese Handlungen nicht sinnvoll als separate, jeweils eigenständige Handlungen angesehen werden können, aus denen sich komplexere Handlungseinheiten synthetisieren lassen, wie etwa das Mit-dem-Fahrrad-in-die-Schule-Fahren, worin die letzten Teilhandlungen enthalten wären. Und erst recht wird kein Handlungstheoretiker die These verfechten wollen, dass diese Handlungen nur aufgrund der Entwicklung moderner Geräte zur Wiedergabe bewegter Bilder – als Pendant zur Schrift als Analysewerkzeug – als eigenständige angesehen würden. Die Seinsweise des Phonems hat offenbar nichts damit zu tun, ob es von anderen durch eine Pause getrennt ist. Stetter weist darauf hin, dass in der Schule zum Erwerb der Buchstabenschrift die Wörter in ihre Elemente zerlegt werden (z.B. i+n, a+n usf.), wobei dem „+“ auf Seiten des Sachverhalts buchstäblich nichts, insbesondere keine „Lautgrenze oder ähnliches [entspricht]“ (Stetter 1997: 61). _____________ 25
Humboldt definiert die Artikulation als „diejenige Gestaltung des Lautes [...], welche ihn zum Träger von Gedanken macht.“ (Humboldt Bd. 1963, Bd. 3, S. 193)
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Dabei müsste aber bedacht werden, dass „Sachverhalt“ in diesem Fall bestenfalls eine Metapher sein kann, welche erst als Metapher das Weiterspinnen des argumentativen Strangs ermöglicht. Sprechen als Handlung, als Bewusstseinsphänomen, kennt keinen „Sachverhalt“ – hierin unterscheidet es sich etwa von den Wetterphänomenen: Wenn man vom Fahrrad abspringt, kann man eine Pause halten, bevor man das Fahrrad abstellt, quasi um zu verdeutlichen, dass man eine eigenständige Handlung vollzogen hat, obwohl diese Pause in der Regel nicht gemacht wird. Anders formuliert: Es gibt Handlungen, bei denen in gewissen Stadien Pausen gemacht werden müssen, zum Beispiel, weil man erschöpft ist, und Handlungen, die bei weitem die Mehrzahl der Alltagshandlungen ausmachen, bei denen man Pausen da macht, wo man will. Hier geht es nicht mehr um Sachverhalte oder um statistische Erhebungen der Pausenlängen und Pausenhäufigkeiten. Menschliche Handlungen können, weil sie Bewusstseinsphänomene sind, nach gewissen alltagsontologischen Prinzipien aufgesplittert werden. Und das Sprechen auch. Wenn ich jemandem das Schwimmen beibringen will, werde ich die einzelnen Bewegungen gefolgt von Pausen, denen in der Realität des Schwimmens, „buchstäblich nichts“ entspricht, zeigen. Heißt dies, dass diese Bewegungen keine realen Einheiten sind? Spätestens in Anbetracht der Tatsache, dass man nie zwischen dem, was man eine Achtel- oder Zehntelarmbewegung nennen müsste, und der nächsten Achtel- oder Zehntelarmbewegung eine Pause macht, sondern immer zwischen klarerweise unterschiedlichen Bewegungen, die somit einen natürlichen alltagsontologischen Einheitsstatus haben, dürfte die Frage als endgültig beantwortet gelten. Wollte nun Stetter auf etwas Essenzielles hingewiesen haben, so hätte er darauf hinweisen können, dass etwa im Wort „gehen“ zwischen dem „g“ und dem nächsten „e“ zunächst keine sinnvolle Pause gemacht werden kann. Damit aber hätte er nur darauf hingewiesen, was man schon seit Langem sowieso weiß, dass nämlich die Buchstabenschrift in der Tat aus der Silbenschrift entstanden ist – weil nämlich die Konsonanten nur zusammen mit den Vokalen ausgesprochen werden können und nur in Verbindung mit diesen bedeutungstragend werden – und dass die griechische Leistung gerade darin bestand, dass man entdeckte, dass die Silbenschrift (als Konsonantenschrift) im Griechischen nicht hinreicht, um die Bedeutung wiederzugeben. Damit hätten die Griechen in der Tat das vorwissenschaftliche phonematische Prinzip entdeckt, freilich ohne dass hieraus in Bezug auf die Ziele der Schriftkritik auch nur das Geringste folgte; das Entdecken nämlich unterscheidet sich vom Erfinden gerade dadurch, dass das Entdeckte schon vor der Entdeckung Bestand gehabt haben muss. Die Folgerungen Stetters aus seinen Ausführungen auf Phonem- bzw. auf Wortebene sind, der Argumentation entsprechend, bescheiden: „Man
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projiziert für sich allein sinnlich nicht wahrnehmbare, weil kontinuierliche Fragmente des gesprochenen Worts auf diskrete, für sich wahrnehmbare Zeichen. Erst in dieser Projektion gewinnt der Laut seine Bestimmtheit.“ (S. 61) Oder: „Mit der Entwicklung des Schreibsystems »...Wortlücke – Buchstabenverbindung – .... – Buchstabenverbindung – Wortlücke ...« wird die Alphabetschrift zum Medium der rekursiven Definition des Wortes als grammatischer Kategorie, so wie zuvor mit dem elementaren Schreibsystem »... Buchstabe – Buchstabe – Buchstabe – ...« bereits die bedeutungsdifferenzierenden Elemente der Schrift-Sprache rekursiv definiert worden waren.“ (S. 63) Dennoch sind auch diese Folgerungen unzulänglich. Wie wir bereits gezeigt haben, ist der kontinuierliche Charakter des gesprochenen Wortes kein metaphysisches oder naturwissenschaftliches Datum. Man kann durchaus Pausen einführen, und die Einführung solcher Pausen zu analytischen Zwecken geht sogar der Erfindung der Silbenschrift wesentlich voraus, woraus folgt, dass der einzelne Laut (zunächst als Silbe) immer schon die Voraussetzung und nicht der Nachklang seiner schriftlichen Festlegung sein musste. Auf der anderen Seite aber wird die so genannte „rekursive“ Definition des Wortes aus der Existenz der Wortlücken in der Kursivschrift auf evident sophistische Weise abgeleitet: damit nämlich Wortlücken überhaupt entstehen können, damit (in der Kapitalschrift) Worttrennlinien eingesetzt werden können, muss das Wort als Kategorie schon lange existiert haben. Sollte man dies alles stattdessen so verstehen wollen, dass etwa der Grammatiker das Wort als Kategorie der Sprachbetrachtung erst in der Buchstabenschrift entdeckt habe, und nicht, dass das Wort nicht vorher schon alltägliche Kategorie der Sprache gewesen sei, dann lässt sich immer noch fragen, wie denn Folgendes hierfür ein Beleg sei: Indirekter und doch schlagender Beleg dafür ist die „ausgeschriebene“ Handschrift, die jeder routinierte Schreiber im Laufe seines Lebens ausbildet. In ihr werden die vom phonematischen Prinzip geforderten Differenzierungen der Wortgestalt auf ein Maß reduziert, das im Festhalten der morphematisch relevanten Strukturen die Lesbarkeit des Geschriebenen noch eben gewährleistet. So ist sie der ontogenetisch je wieder austarierte Kompromiss zwischen der Individualisierung des Wortes durch den Schreiber und den kognitiven Anforderungen der Lesergemeinschaft. (Stetter 1997, S. 63)
Dergleichen kantisch angelegte Argumentationsversuche, die im Wesentlichen besagen, dass die Schrift die Sprache verobjektiviere und sie dadurch zugleich in einer bestimmten Weise für den Wissenschaftler verändere bzw. verschleiere, können – wie unsere Kritikansätze gezeigt haben dürften – nicht viel bewirken. Dass die Schrift die Sprache vergegenständlicht, dass in der Schrift Reflexion über die Sprache angelegt ist, können wir indessen in Bezug auf den Schrifterwerb akzeptieren: Damit der Einzelne
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im Laufe seines Bildungsgangs der Schrift mächtig werde, wird von ihm eine Abstraktionsleistung, eine Reflexion über die Sprache und ihre Elemente gefordert. Und weil auf diese Weise mehr Personen über das Wesen und die Elemente der Sprache nachdenken als vor der Entdeckung der Schrift, können wir mit Humboldt sagen, dass die Buchstabenschrift dem Volk, den Sprechern einer Sprache eine neue Sicht auf die Natur ihrer eigenen Sprache ermöglicht26, woraus sich sogar Folgen in Bezug auf die Aussprache und deren Verfeinerung (gemeint ist damit die semantische Motiviertheit der Orthographie, die sich in der Aussprache spiegelt) ergeben können. Diese Abstraktionsleistung indessen ist, wie Humboldt das vielfach betont, der Sprache nicht fremd, und wenn die Buchstabenschrift das Wort zwar in Elemente spaltet, welche über die „logische Theilung“ (S. 90) hinausgehen, so spaltet es den im Sprechen verbundenen Laut noch immer in „seine Grundtheile“ (S. 87) und nicht in neue Entitäten, so dass dem Laut der Phonemcharakter nur nachträglich zukäme. Im Laufe des Schrifterwerbs – wie technisiert und didaktisch vervollkommnet er auch erfolgen möchte – wird immer jeweils dieselbe Entdeckungserfahrung gemacht, die wir auch bei der Entwicklung der Buchstabenschrift voraussetzen müssen: dass nämlich ein Zeichen mit einem klar identifizierbaren Laut verbunden ist. Eine Entstehungstheorie der Schrift ist eine müßige Angelegenheit, und wir wollen uns nicht anmaßen, eine solche zu liefern. Indessen halten wir folgenden dialektischen Dreischritt für entscheidend: a) die Schrift, als piktographische oder abstrakte ideographische Schrift, schildert, bezeichnet die Welt. Die Schrift zu lesen, heißt somit, die Welt zu vergegenwärtigen. b) Die Sprache ihrerseits bezeichnet die Welt sowohl zeitlich als auch sachlich und strukturell unabhängig von der Schrift: Ob ich also ein Pferd zeichne (sei es noch so schematisch) oder das entsprechende Wort sage, bezeichne ich auf jeweils autonome Weise die Welt. c) Indem aber die Schrift ihrem Sinn entsprechend gelesen (das heißt, mündlich gedeutet) wird, stelle ich fest, dass dieses Geschriebene, dem ich schon immer einen Sinn unterstellt habe, mit den Lauten der Sprache verbunden ist (und dass ich entsprechend auch Gesprochenes, als Teil der Welt, niederschreiben kann). Dass eine Begriffsschrift ab diesem Punkt lautliche Konnotationen hat, folgt hieraus notwendig, denn die Verbundenheit des Lauts mit dem Bild _____________ 26 Vgl. Humboldt 1963, Bd. III, S. 92-98.
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ist schon gegeben: beides bezeichnet dasselbe.27 Von hier führt der Weg zur Silben- und zur Buchstabenschrift durch eine Umkehrung des ursprünglichen Bezeichnungsverhältnisses, nun bezeichnet die Schrift den Laut direkt. Das Entscheidende aber bleibt, dass das kognitive Urerlebnis beim Schrifterwerb und bei der Entdeckung der Buchstabenschrift das selbe ist: dass jenem schriftlichen Zeichen, das, weil es einen Sinn hat, die Welt bezeichnen kann, nach irgendeinem Algorithmus, nach irgendwelchen Prinzipien, die sich aus der jeweiligen Besonderheit der bedeutungstragenden Elemente der betroffenen Sprachen ableiten lassen, Laute als Bestandsteile der Rede (Phoneme, Wörter, Sätze) entsprechen. In der Schrift wird also die eigene Sprache entdeckt. Selbst ihr Zeichencharakter wird aus der Unmittelbarkeit des Sprechens erst jetzt evident,28 weil man erst jetzt über sie nachdenkt: sowohl im Rahmen der Entwicklung der Schrift als auch im Zuge des jeweiligen Schrifterwerbs. Es wird aber nichts Neues geschaffen. Und wenn man dieses Nachdenken als wissenschaftlich bedenklich betrachtet, so fragt sich, was man in der Wissenschaft sonst tun sollte?
1.3 Schrift und Junktion Wolfgang Raibles Buch „Junktion“ beschäftigt sich mit der Schrift zwar teilweise mit Rückgriff auf die varietätenlinguistischen Ansätze Kochs und Oesterreichers, bietet aber sprachtheoretisch tiefer fundierte und in vielfacher Hinsicht beachtenswerte Ergebnisse. Wir werden im Rahmen unserer Untersuchungen mehrfach auf Raibles Beitrag zurückgreifen müssen und müssen daher an dieser Stelle seine Grundideen als den für uns wichtigsten Aspekt des gegenwärtigen Forschungsstandes präsentieren. Die theoretische Grundlage des Raible’schen Ansatzes entstammt dem von Hansjakob Seiler initiierten Kölner Universalienprojekt.29 In ihm wird die Sprache programmatisch als „die Lösung [..] von sich permanent in der Kommunikation stellenden Aufgaben“ (Seiler 1973: 11) verstanden, so dass das, was „in der Sprache beobachtbar vorliegt, [...] die Lösungen _____________ 27 28 29
Der so genannte sprachtheoretische Realismus ist dabei sowohl historisch als auch dialektisch die notwendige Voraussetzung: sowohl beim Kind als auch bei den ersten Schreibern. Vgl. Derrida 1974. Vgl. zur Einführung die neueren Zusammenfassungen: Seiler 2001, 2000 und die kurze Vorführung des gesamten Projekts an einem später revidierten Beispiel: Seiler 1995. Hier zitieren wir zu diesem Projekt ältere, mit der methodischen Frage tiefer gehend befasste Arbeiten.
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Einleitung
[seien].“ (Ibidem) Deshalb sind die sprachlichen Universalien für Seiler und seine Gruppe nicht konkrete oder abstrakt-gemeinsame Strukturen einzelner Sprachen, sondern die universalen „zweckgerichteten Prinzipien“ (Seiler 1975: 10), die aus dem „Projekt-Charakter“ (S. 9) der Sprachen entstammen. Die Sprache ist somit mitsamt ihrer „bestimmte[n], generell gültige[n] Gesetzmäßigkeiten [...] eine Folge oder ein Resultat [und kein] primum datum.“ (S. 10) Das Universelle liegt irgendwo zwischen den noch als Handlungsprobleme aufgefassten allgemeinen Aufgaben der Kommunikation und deren konkreter sprachlicher Lösung, also in der Funktionalität der Sprache30, die im Rahmen teleonomischer Erklärungsmuster31 die Grundlage der Universalienforschung ausmacht. Sprache kann also nur von ihrem Handlungscharakter her tiefer verstanden werden und zwar im Sinne der teleonomischen Einstellungsänderung, wie sie etwa „im Übergang von der Phonetik zur Phonologie/Phonemik vollzogen wird.“ (Holenstein 1978: 46) Das heißt, entscheidend ist nicht der konkrete Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen, sondern die Möglichkeit, durch die Annahme gewisser fundamentaler teleologischer Handlungsmuster Strukturen als aus einem gemeinsamen Grund entstandene zu erklären, wobei dieser gemeinsame Grund immer in der Abstraktion des Exprimendum als universale kommunikative Aufgabe gesucht werden muss. Es geht nicht darum, was konkret geschieht, wenn jemand spricht oder schreibt, so dass vielleicht ein Unterschied zwischen Sprechen und Schreiben ersichtlich werden könnte, sondern um die allgemeinen kommunikativen teleologischen Handlungsaufgaben, die die Sprache überhaupt zu einem konstruktivistischen Ergebnis machen oder machen könnten. Deshalb sind letztlich auch die kommunikativen Aufgaben jenseits vom konkreten Leben, in dem gesprochen bzw. geschrieben wird: etwa Apprehension oder Determination, die zum Beispiel durch Prädikation bzw. Indikation gelöst werden32, so dass die Besonderheiten der Handlungen selbst verschwinden. Wolfgang Raible hat in dieser Forschungstradition versucht, die Frage nach der Mündlichkeit und Schriftlichkeit und deren Widerspiegelung in sprachlichen Strukturen bzw. Varietäten für die Junktion als „die grundlegende Aufgabe der Verknüpfung von kleineren zu größeren Einheiten“ (Raible 1992: 27) fruchtbar zu machen, wobei mit kleineren Einheiten Satz-Einheiten bzw. Darstellungen von Sachverhalten gemeint sind. Er unterscheidet zunächst zwei grundlegende komplementäre Prinzipien des Vollzugs der Junktion: die Aggregation und die Integration. Mit Aggregation _____________ 30 31 32
Vgl. Seiler 1978. Für Näheres zum Begriff und zur methodischen Frage vgl. Holenstein 1978: 45ff. Vgl. Seiler 1988 und, für eine komplette Liste dieser Dimensionen, auch Seiler 2001.
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meint er im Wesentlichen die parataktische Nebeneinanderstellung der betroffenen Sätze bzw. Satzteile. Die Erstellung des Sinns der Verknüpfung wird dabei weitgehend dem passiven Kommunikationspartner überlassen. Unter Integration wird syntaktische Zusammenlegung verstanden, und zwar so, dass nur noch der Gesamtzusammenhang, nicht mehr aber die einzelnen Sachverhaltsdarstellungen assertiert werden. (S. 30) Seine unsere Fragestellung betreffende Grundthese ist nun, dass sich mit der Zunahme an konzeptueller Schriftlichkeit33 eines Textes, die mit dem Verlust solcher sprachlicher Signale wie Intonation oder Gestikulation, die das Sinnverständnis aggregativer Junktion erleichtern, einhergeht, auch eine Zunahme an Integrativität der Junktion ergibt, welche teils aus besonderen Anforderungen konzeptionell schriftlicher Textsorten, teils aber auch gerade durch den besagten Verlust an sekundären Signalen der Mündlichkeit erklärt wird. (S. 191ff.) Dabei wird auf eine ganze Reihe interessanter Zusammenhänge zwischen dem Medium Schrift und der Junktion als Dimension der Sprache bzw. deren Durchführungstechniken verwiesen, so etwa darauf, dass in vielen Sprachen integrative Junktoren erst in der Schrift entstehen, und zwar entweder als Übernahmen aus schriftsprachlichen Akrolekten bei der Verschriftung der betroffenen Volkssprachen (S. 202 ff.) oder als Etablierung „neuer Junktionstechniken aus den syntaktischen Möglichkeiten“ (S. 201) derselben. Beide Erklärungsmuster der Zunahme der Integrativität der Junktion in konzeptionell schriftlichen Texten sind indessen nach wie vor innerhalb des varietätenlinguistischen Ansatzes situiert: Sie betreffen die Schrift gerade nicht als ein spezifisches Handlungsmoment der Sprache, sondern bloß als eine besondere, varietätsstiftende sprachliche Handlungssituation, die sich in unterschiedlichen Aspekten der Sprache als System widerspiegelt. Die Besonderheiten der (prototypischen) schriftlichen Handlungssituation (die Verfassung juristischer Texte) werden auch nur in den Kategorien der typischen (sprachlich-)kommunikativen Aufgaben gesucht und gefunden; in ihrer Besonderheit ist die Schrift nicht immer noch, sondern gerade erst als Sprache (im Sinne der aufgezeigten Grundrichtung der Betrachtung der Schrift als Varietätenproblem) aufgefasst, was ein längeres Zitat verdeutlichen dürfte: Junktion in Form der präpositionalen Fügungen [also stark integrativ – EO], so ließ sich feststellen, komme in den frühen italienischen Texten dort vor, wo absolute Klarheit und Unmissverständlichkeit gefragt seien. Zu den Texten dieser Art gehören allemal bestimmte Diskurs-Gattungen der Juristen. Wer ein Gesetz
_____________ 33
Die Trennung zwischen konzeptioneller und bloß medialer Schriftlichkeit ist in dem betroffenen Abschnitt zwar vielfach betont, aber m.E. nicht klar durchgehalten, so dass mediale Aspekte immer wieder da als Erklärungsmuster auftreten, wo man konzeptionelle Erklärungen erwarten würde und umgekehrt.
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Einleitung
aufschreibt, das sich an Tausende, Hunderttausende oder sogar Millionen von möglichen Adressaten richtet, der strebt danach, die Intention des Gesetzes so eindeutig zu machen, dass Missinterpretationen möglichst ausgeschlossen sind. Wer einen privatrechtlichen Vertrag mit einem anderen schließt oder in einem Testament Verfügungen über seinen eigenen Tod hinaus trifft, hat alles Interesse daran, seine Vorstellungen so zu formulieren, dass der Vertrag auch für spätere Leser verständlich ist bzw. das Testament von der Nachwelt so gelesen wird, dass eine Fehlinterpretation unmöglich wird. Die Folge ist, dass solche Texte schon immer höhere Anforderungen an das jeweilige Sprachsystem gestellt haben als andere, z.B. nicht-juristische Texte. Die Verfasser solcher Texte machen sich alle Möglichkeiten zunutze, die das System der betreffenden Sprache bietet (S. 196),
was – im Gegenzug – auch bedeutet, dass für den Fall, dass solche Möglichkeiten nicht oder nur eingeschränkt gegeben sind, eine Tendenz zu ihrer Erschaffung bzw. Entlehnung entstehen kann. Die Schrift erhält auf diese Weise eine entscheidende Relevanz in der Systemlinguistik selbst; sprachliche Formen, syntaktische Strukturen werden auf die Schrift als beeinflussenden Faktor der Sprachentwicklung zurückgeführt. Aber andererseits geschieht dies durch die Annahme besonderer Aufgaben, denen sich das sprachliche System bei ihrer schriftlichen Verwendung stellen muss, mithin ist das Entscheidende bei dem gezeigten Phänomen letztlich nur die kommunikative Situation, die mit der Schrift assoziiert wird, so dass die Schrift in diesem Fall auf ihre rein sprachliche Dimension reduziert wird. Sprechen und Schreiben unterscheiden sich für Raible nur durch die unterschiedlichen durch die kommunikative Situation bedingten Anforderungen an das sprachliche System, nicht aber fundamental, als Handlungstypen.
1.4 System, Bedeutung und Intention Raibles Ansatz streift ein tieferes Problem. Weil er an der Einheit der Sprache als System festhält, muss er seinen Untersuchungen einen solchen Sprachbegriff zugrunde legen, der sich von einer funktionalen Einheit herleitet, die er darin findet, dass die Sprache allgemein zur Erledigung kommunikativer Aufgaben dient. Deshalb muss die Schrift zu einer einfachen kommunikativen Situation werden, und die durch die Schrift bedingten Entwicklungen der Sprache als System müssen nach dem gleichen Muster durch ihr Potential erklärt werden, kommunikative Aufgaben zu erledigen, Bedeutung zu vermitteln. Hinter dieser theoretischen Einstellung verbirgt sich die Besonderheit der Sprache als kommunikatives oder semiotisches Systems schriftliche und selbst in anderen Medien entstandene Elemente in sich dergestalt aufzunehmen, dass dabei die Einheit der Sprache überhaupt nicht tangiert wird.
System, Bedeutung und Intention
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Nichts, was die Sprache in sich aufnimmt, ist ihr fremd. Theorien über sie, die einige ihrer Elemente aufgrund unterschiedlicher, mehr oder minder einleuchtender und überzeugender Überlegungen als der Sprache fremd deklarieren, wurden und werden in der Sprachgeschichte in aller Regel durch Besinnung auf die Einheit der Sprache widerlegt. Wir erleben die Sprache als Einheit, und zwar als ein System, das uns ermöglicht, Bedeutung zu vermitteln. Und jedes Mal, wenn wir sprachliche Phänomene erklären müssen, stehen wir vor der Aufgabe, sie auf diesen Begriff in irgendeiner Weise zu reduzieren. Dabei ist der bequemste Weg, ohne Zweifel, die Ursachen der Veränderungen der sprachlichen Phänomene selbst auf die genuin sprachliche Aufgabe der Bedeutungsvermittlung zu reduzieren. Und dies geschieht am leichtesten und am überzeugendsten im Bereich der Lexik, da es das Wort ist, das wir am direktesten mit dem Begriff der Bedeutung verbinden. Andere Erklärungsmuster stören eher, es fällt uns schwer, mit ihnen innerhalb der Sprachwissenschaft umzugehen, auch wenn inzwischen wohl jeder von der unbestreitbaren Polykausalität und Polyfaktorialität der Sprachentwicklung weiß. Ob die Systemlinguistik ihren Gegenstand explizit als Lösung kommunikativer Aufgaben oder einfach als von jeder kommunikativen Realität losgelöstes strukturell-semiotisches System begreift, der Dreh- und Angelpunkt ihrer Beschäftigung mit der Sprache bleibt die Bedeutung. Das Wesen der Sprache wird in so gut wie jedem brauchbaren sprachtheoretischen Ansatz in der Bedeutung gesehen, und die Sonderstellung der Sprache unter anderen semiotischen Systemen wird darin gesehen, dass die Bedeutung in ihrem Fall nicht nur auf gewisse Bereiche der Welt bezogen wird, sondern auf die Welt überhaupt. Die Sprache bezeichnet die ganze Welt: das Seiende wie das Nicht-Seiende, das Vorstellbare wie das NichtVorstellbare und letztlich (als Metasprache) auch sich selbst. Nun trägt das Wort die Bedeutung in einem besonderen und grundsätzlichen Sinn. Die bedeutungstragenden Einheiten der Sprache unterhalb der Wortebene haben diese Bedeutung letztlich nur in Verbindung mit dem Wort, durch die Art und Weise, wie sie die Bedeutung des Wortes mitbestimmen. Die Bedeutung der Strukturen oberhalb der Wortebene erschließt sich (im Alltag) letztlich aus den Bedeutungen der in ihnen vorkommenden Wörter. Man wird sagen können: Die Bedeutungen der Wörter muss man kennen, während man die Bedeutung anderer Strukturelemente der Sprache erschließen können muss. Letzteres hieße dann, der Sprache als strukturellen Systems mit festen morphologischen und syntaktischen Regeln mächtig zu sein. Man wird nicht sagen können: „Ich kenne die Bedeutung dieses Satzes nicht“. Dieser Satz macht bestenfalls dann einen Sinn, wenn dabei „Bedeutung“ als terminus technicus irgendeiner pragmatischen Theorie fungiert. Das Wort und das (alltägliche und letztlich auch der Sprach-
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Einleitung
theorie zugrunde liegende) Wort „Bedeutung“ hängen so eng zusammen, dass wir plötzlich Schwierigkeiten haben, uns aus dem (scheinbaren) Widerspruch folgender zwei Aussagen, auch nur durch die These, dass eine von ihnen falsch sei, zu retten: (1) Die Wörter eines Satzes bestimmen seine Bedeutung. (2) Der Satz bestimmt die Bedeutung seiner Wörter. Wir haben soeben gesagt, dass die Tatsache, dass die Sprachwandelforschung im Bereich der Lexik eher etwas erklären kann als auf anderen Ebenen der Systemlinguistik, mit dem Widerspruch zwischen der systemlinguistisch geforderten Einheit und der faktischen Polysubstanzialität, Polyfaktorialität bzw. der Realität der Sprache in einem nicht zufälligen Zusammenhang steht. Nun soll die Verbindung zwischen Wort und Bedeutung als Ergänzung und Erklärung dieses Zusammenhangs dienen. Nur auf der Ebene des Wortes nämlich ist die Bedeutung als Beschreibungsgröße der Sprache als semiologischen Systems mit der Prozesshaftigkeit, der faktischen Realität der Kommunikation, einfach vereinbar, indem nämlich dem Wort eine Reihe von typischen Bedeutungen zugeschrieben werden, die jeweils als types die einzelnen Vorkommnisse der Wörter als tokens in der realen Kommunikation umfassen können. Wenn man ein aktual verwendetes Wort hört, kann man im Wörterbuch immer eine Bedeutung finden, die mehr oder weniger exakt dem aktualen, in der Verwendung gegebenen Sinn des Wortes entspricht. Dabei ist das Wort zugleich, indem es als type aufgefasst werden kann, abstraktes Strukturelement der Sprache als Systems, und als gerade verwendetes token, das heißt, Mittel faktischer Kommunikation. Der Satz und die höheren Strukturelemente der Sprache (etwa im Sinn der Signemränge Hegers34) kommen zwar in der Kommunikation vor und sind letztlich in einem viel entscheidenderen Sinn bedeutungstragend als die Wörter, sie sind aber keine stabilen Größen; Sätze werden aus Wörtern kombiniert, und die Menge aller möglichen Sätze bildet eine unendlich große Zahl (sie sind also an sich, in der Form, wie sie bedeutungstragend sind, nicht Elemente der Sprache als Systems). Andererseits werden die Strukturelemente unterhalb der Wortebene in der Kommunikation selbst nicht als bedeutungstragend erlebt; niemand kommuniziert mit Morphemen, es sei denn ein Sprachwissenschaftler, der von denselben beweisen möchte, dass sie eine Bedeutung haben. Die Strukturelemente der Sprache unterhalb der Wortebene haben – wenn man so will – nur eine innersystematische _____________ 34
Vgl. Heger 1976.
System, Bedeutung und Intention
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Bedeutung, eine Bedeutung, die ihren eigentümlichen Ort in der Sprachreflexion hat, hat mit der faktischen Kommunikation wenig zu tun. Wissenschaftlicher formuliert heißt dies: Bedeutung kommt den Strukturelementen der Sprache immer als Systemgröße, als eine Art innersystematische, auf die Realisation von Semantik ausgerichtete, funktionale Wertigkeit zu. Die einzige Ausnahme ist das Wort, da es in der konkreten Verwendung immer (auch) eine außersystematische Bedeutung hat. Aktual verwendete Sätze haben zwar auch eine solche außersystematische, konkrete Bedeutung, Teile des Systems sind sie aber nicht als konkrete Sätze, sondern als syntaktische Strukturen, und als solchen kommt ihnen diese Art von Bedeutung nicht mehr zu. Sie haben als Strukturen wiederum nur die schon beschriebene innersystematische Wertigkeit. Nur das Wort ist zugleich Teil des Systems und weist über das System hinaus. Unsere Beobachtung ist also, dass das Wort der Sprache ermöglicht, aus ihrer Systematik hinaus auf Außersprachliches oder Sprachliches zu verweisen. Wiederum anders formuliert: Das Wort findet in der Kommunikation deshalb eine qualitativ von den anderen Strukturelementen der Sprache klar abgrenzbare Verwendung (es ist deshalb die alltägliche Kategorie der Sprachreflexion), weil es über die Sprache hinausweist, weil es der Sprache ermöglicht, Mittel zu einem Zweck zu sein. Erst dadurch nämlich, dass die Sprache mit Hilfe des Wortes über sich selbst hinausweist, kann sie als Mittel eingesetzt werden. Das Wort, und erst durch dieses auch das sprachliche System, ist Mittel der Verwirklichung des kommunikativen Zwecks; das Wort ist der Baustoff der Verwirklichung desselben. So gesehen ist die Systemlinguistik praktisch der Versuch der Erklärung folgender Fragen: a) wie es morphologisch zum Wort kommt und vor allem b) wie durch Kombination von Wörtern kommunikative Akte vollzogen werden können.35 Die Systemlinguistik fasst die Sprache zwar nach unterschiedlichen Prinzipien als Einheit auf, aber der Kern der Ansätze bleibt derselbe: die Tatsache, dass Sprache über sich hinausweist, auf etwas anderes als sich selbst verweist, dass sie aus einem weitestgehend als Telos aufgefassten _____________ 35
Für die Zwecke dieser Überlegung ist die Frage nach der Sprachwandelforschung sekundär, und sie ist hier nur angeführt worden, um in ein weiteres Feld einzuführen. Sie kann hier freilich aufgrund des obigen Gedankengangs einfach beantwortet werden: Systemlinguistische Sprachwandelforschung (und die pragmatische ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme) kann Sprachwandel letztlich immer nur als Wortbedeutungswandel erklären (im Unterschied zu beschreiben), weil nur auf dieser Ebene die Verwendung von Sprache zur Kommunikation und die Beschreibung des Sprachsystems als Mittel der Kommunikation durch die type-token-Relation denselben Bedeutungsbegriff voraussetzen. Das ist der einzige Kontakt zwischen Sprachsystem und Sprech-Realität. Deshalb kann letztlich nur die Lexikographie und auch diese nur von der Beobachtung faktischer Sprachverwendung her die langue mit Inhalten füllen.
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Sinn ihre theoretische Beschreibung ableiten muss. Ob dieser Sinn propositional (Darstellungsfunktion) oder illokutional (Kommunikationsfunktion) aufgefasst wird, spielt dabei nur eine sekundäre Rolle; Sprache wird grundsätzlich auf einen Sinn bezogen untersucht. Wenn zur Erklärung sprachlicher Phänomene etwas angeführt zu werden braucht, das nicht unmittelbar mit der Sinnfrage verknüpft ist, ergeben sich fundamentale theoretische Schwierigkeiten, weil in diesem Fall Unwesentliches als Erklärung zur Herleitung des Wesens angeboten wird. Die eigentliche, theorieintern erwünschte Erklärung von Sprache muss immer sinn-teleologisch sein. Damit steht die Sprache bei weitem nicht allein. Handlung überhaupt wird in der Regel auf genau dieselbe Weise betrachtet. Sprache wurde als Regelsystem mit Spielen verglichen: Genauso wie Spielregeln in Hinblick auf die Ziele der Spiele ihre eigentümliche, rechtfertigende Erklärung erhalten, erhalten auch die sprachlichen Phänomene, die Regeln, die das System Sprache ausmachen, eine letzte Erklärung nur in Hinblick auf die Möglichkeit der Sinnvermittlung, auf die Möglichkeit von Bedeutung. Deshalb kann auch ein wie das Kölner Universalienprojekt angelegter Erklärungsansatz, indem er von Sprache als von Lösungen kommunikativer Aufgaben spricht, als ein dem Wesen der Sache angemessenes und in einem bestimmten Sinne endgültiges bzw. als endgültig gemeintes Projekt verstanden werden. Demgegenüber löst eine kausale Erklärung von Sprache, wie sie in der generativen Grammatik impliziert wird, dasselbe Ärgernis aus, als wenn jemand menschliche Handlungen aus Ursachen und nicht aus Zwecken erklären wollte. In einem Wort ließe sich dies folgendermaßen fassen: Systemlinguistik in einem strengen Sinne liegt dann vor, wenn die Syntax semantisiert, also auf die Bedeutung als den handlungsteleologischen Sinn der Sprache bezogen wird. Eine Linguistik, die – im Gegenzug – die Semantik zur Syntaxfrage, somit zu einer biologischen Frage macht, kann gar nicht mehr als Wissenschaft von dem aus dem Alltag her natürlich bestimmten Wesen der Sprache gelten. Andere Arten der Spracherklärung (z.B. gewisse Ansätze der Soziolinguistik, der Psycholinguistik usf.) betrachten diese in der Regel gar nicht als System und sind nicht eigentlich auf die Sprache, sondern auf etwas anderes aus, als dessen Element die Sprache fungiert. Das vierte und entscheidende Kapitel der Arbeit Raibles über die Junktion, in dem es um die diachronische Betrachtung der Dimension geht, enthält ganz am Anfang den programmatischen Satz: Die sprachgeschichtliche Entwicklung verläuft, wie wir spätestens seit Hermann Paul wissen, in aller Regel so, dass die Syntagmen von heute die Morpheme von morgen darstellen. (Raible 1992: 154)
System, Bedeutung und Intention
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Hieraus folgt schon, dass die integrativen Junktionstechniken als historische Auswüchse aggregativer Techniken angesehen werden können. Wie wir aber gerade gesehen haben, ist der Gedanke, dass die Morpheme auf Syntagmen zurückgeführt werden können, nicht in dem Sinne entscheidend, dass Morphologie auf Syntax zurückgeführt werden könne, sondern dass hierdurch die Semantisierung der Struktur, dass die Semantisierung der Junktion selbst durch Zurückführung auf Wörter soweit geht, dass überhaupt erst eine theoretisch fundierte diachronische Perspektive möglich wird. Indem die Junktionstechnik zu einer semantischen Größe wird, kann plötzlich vom Wandel im Sinne des herkömmlichen Sprachwandels gesprochen werden, und zwar auf lexikalischer Ebene. Hierdurch aber wird die Schrift zu einem einfachen, letztlich außersprachlichen Faktor der Sprachentwicklung. Die mündlichen Situationen stellen, genauso wie die schriftlichen, nichts weiter als den Hintergrund der zweckmäßigen Sprachverwendung; Situationsänderungen bringen die Notwendigkeit der Mittelanpassung, somit des auf die Junktion bezogenen Sprachwandels mit sich. * Der Begriff der Bedeutung als einer Grundkategorie der Sprachbetrachtung ist der Niederschlag eines teleologischen Handlungsdenkens. Wie Handlung vom Zweck her beschrieben wird, so wird Sprache von der Bedeutung her beschrieben, oder richtiger: Weil Handlung von dem Begriff des Zwecks her beschrieben wird, muss die Sprache notwendig von dem Begriff der Bedeutung her beschrieben werden. Der Intentionsbegriff im Sinne Searles36 ist der konsequenteste Auswuchs dieser theoretischen Einstellung, und die Aufspaltung der Bedeutung in eine propositionale, eine illokutive und vor allem eine perlokutive Komponente, so wie das in der Sprechakttheorie gemeinhin gemacht wird, ist – entsprechend – nichts weiter als die konsequenteste Ausarbeitung des impliziten Bedeutungsbegriffs. Wenn Sprache Mittel zu einem kommunikativen Zweck ist, dann ist es selbstverständlich, sie in der theoretischen Beschreibung zwischen den Sprecher mit seiner Intention und den Hörer, der zugleich die Bedingung des kommunikativen Erfolgs angibt, zu stellen und die Äußerung durch die Angabe der unterschiedlichen Seiten ihres Mittel-Seins zu beschreiben: a) Mittel zur Darstellung der Welt, b) Mittel zur Vermittlung und c) zum Erreichen von Absichten, die mit dieser Darstellung verbunden sind.37 _____________ 36 37
Vgl. Searle 2001. Würde man auch die sprachliche Äußerung im Sinne des Lokutionsaktes als MittelHandlung zur Herstellung der hypostasierten Äußerung auffassen, wäre man unmittelbar in
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Einleitung
Gerade deshalb aber müssen sowohl der Sprecher als auch der Hörer in der Beschreibung der Sprache als irrelevant angesehen werden. Dies dürfte zunächst überraschen. Es erhellt aber teils aus der Beobachtung, dass die mit dem teleologischen Denken zusammenhängende Algorithmisierung der Handlungen die Besonderheit ihrer Teilnehmer bzw. Akteure notwendig in den Hintergrund stellt oder gänzlich (auch programmatisch, als wäre der Mensch eine rationale Maschine, ein Parameter) ausblendet, teils aus einer mehrstufigen Überlegung: Gegenstände und Sachverhalte Darstellung Ausdruck
Sender
sprachliches Zeichen
Appell
Empfänger
Abb. 3: Das Bühler’sche Zeichenmodell38
Betrachten wir zunächst das klassische Bühler’sche Organonmodell des sprachlichen Zeichens (Abb.3). In diesem Modell wird das sprachliche Zeichen in die Mitte zwischen dessen Bedeutung als Darstellungsgehalt (Gegenstände und Sachverhalte), den Sprecher und den Hörer gestellt. In der Relation zwischen Sprecher und Zeichen gewinnt das Zeichen eine Symptomfunktion, eine neue Art von Semantik. In seiner Relation zum Hörer eine Signalfunktion, grob gesagt, das, was in der Sprechakttheorie perlokutive Komponente der sprachlichen Äußerung genannt wird. Bühler betont dabei, dass alle drei Relationen des Zeichens semantischer Natur seien und dass diese semantischen Eigenschaften wesentlich für die Zeichennatur der Sprache seien. So heißt es wörtlich: _____________
38
Widerspruch zu jeglicher Systemlinguistik, die behauptet, dass die Äußerung (als Hypostase) eine Bedeutung habe. Dann müsste diese Bedeutung als Zweckvermittlung zuallererst durch eine Zweckhandlung, die aber einen anderen Zweck hat, hergestellt werden – eine handlungstheoretische contradictio in adjecto. Wir werden zu diesem Aspekt auf einem nötigen Umweg gelangen, aber schon die Kategorien der Sprechakttheorie hätten kraft ihres analogischen Potentials viel mehr Reflexion über das Thema ausgelöst haben sollen. nach Bühler 1982, S. 28
System, Bedeutung und Intention
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Es ist nicht wahr, dass alles, wofür der Laut ein mediales Phänomen, ein Mittler zwischen Sprecher und Hörer ist, durch den Begriff „die Dinge“ oder durch das adäquatere Begriffspaar, „Gegenstände und Sachverhalte“ getroffen wird. Sondern das andere ist wahr, dass im Aufbau der Sprechsituation sowohl der Sender als Täter der Tat des Sprechens, der Sender als Subjekt der Sprechhandlung, wie der Empfänger als Angesprochener, der Empfänger als Adressat der Sprechhandlung, eigene Positionen innehaben. Sie sind nicht einfach ein Teil dessen, worüber die Mitteilung erfolgt, sondern sie sind die Austauschpartner, und darum letzten Endes ist es möglich, dass das mediale Produkt des Lautes je eine eigene Zeichenrelation zum einen und zum anderen aufweist. (Bühler 1982: 30f.) Gegenstände und Sachverhalte Darstellung intentionaler Ausdruck
Sender
sprachliches Zeichen
nicht intentionaler Ausdruck
Appell
Empfänger
Sender Abb. 4: Erweiterung des Bühler'schen Zeichenmodells
Von diesen drei Aspekten des sprachlichen Zeichens ist die Symptomfunktion, die Ausdruckseite, wegen des weitgehenden Mangels an Erläuterungen des Autors problematisch. Wir können aber davon ausgehen, dass der Symptomwert, der Ausdruckswert des Zeichens, zumindest zum Teil die Absichtlichkeit desselben übersteigt. Das heißt, das Zeichen sagt auf der Ausdruckseite mehr aus, als es durch seinen Mittel-zum-ZweckCharakter auszusagen berufen wäre. Bühler exemplifiziert dies mit der Lyrik, in der bekanntlich die Ausdrucksseite in allen Hinsichten mehr beinhaltet, als was als Intention dem Sprecher zugeschrieben werden könnte, und mit der Ausdruckseite der in Bezug auf die Handlungsintentionen völlig irrelevanten Kreidestriche, mit denen der Logiker seine Formeln an die Tafel malt. Deshalb kann der Symptomwert des sprachlichen Zeichens (durchaus im Sinne Bühlers, aber aus einem anderen Gesichtspunkt), wie in Abb. 4. gezeigt, in eine intentionale und eine nichtintentionale Seite aufgespaltet werden. Zweierlei lässt sich zunächst über die Relation „nichtintentionaler Ausdruck“ bemerken:
32
Einleitung
a)
Dieser zeichentheoretische Aspekt betrifft, trotz einer gewissen Affinität zur Ausdrucks- bzw. zur Apellseite, nicht eine bestimmte Seite des Zeichens, sondern dasselbe als Ganze und unterscheidet sich hierdurch grundsätzlich von den übrigen drei. Aus diesem Grund bezieht sich die Relation in der Grafik auf das Zeichen als Kreis, als Ganzes, und nicht mehr auf eine bestimmte Seite des Dreiecks. Das Zeichen gibt Informationen über den Sprecher, ohne dass es eine semantische Relation zu letzterem aufbauen würde. Das Zeichen als Ganzes gibt unabhängig von der Kommunikation Informationen über den Sprecher als extrakommunikative Größe. Die nichtintentional ausgedrückten Informationen über den Sprecher werden vom Zeichen, nicht insofern es sich in dem kommunikativen Akt befindet, sondern insofern es eine reale, von der Kommunikation einigermaßen abkoppelbare Entität ist, abgelesen und betreffen den Hörer jenseits der kommunikativen Absichten des Sprechers. Aus diesem Grund wurde der Sprecher ebenfalls mit einem Kreis markiert b) Die semantische Relation nichtintentionaler Ausdruck kommt der Sprache jenseits ihrer teleologischen, bedeutungstheoretischen Wertigkeiten zu. Die in dieser Zeichenrolle enthaltenen Informationen sind genau dann zugänglich, wenn der Hörer selbst eine extrakommunikative Rolle einnimmt und die vernommene sprachliche Äußerung als nicht-sprachlich, als nicht-bedeutungstragend bzw. als von ihrem Sinn frei betrachtet. Stattdessen muss der Hörer das Zeichen als interpretierbare Spur in der Welt, als Index betrachten (Was sagt dieses Zeichen über seinen Urheber aus?). Deshalb wird diese Seite des Zeichens bzw. das Zeichen als Ganzes jenseits seiner analysierbaren, dreiteilbaren Zeichennatur in der Systemlinguistik, aber auch generell in der Wissenschaft, nicht bzw. sehr wenig beachtet. Für die teleologisch arbeitende Systemlinguistik ist dies eine weitgehend irrelevante Dimension der Sprache; sie enthält Elemente wie z.B. Besonderheiten des Tons, dialektale Einflüsse, epiphänomenale Bedeutungsebenen (wie etwa, wenn man an der Stimme merkt, dass jemand lügt) usf., die in der Systemlinguistik überhaupt keine Rolle spielen können. Wenn wir also diese Dimension des sprachlichen Zeichens wegen unserer begrifflichen Unfähigkeit, mit ihr etwas anzufangen, einfach beiseite lassen, stellen wir die Gleichsetzbarkeit der Relationen Darstellung, Appell und Ausdruck mit den Größen der Sprechakttheorie, Proposition, Perlokution und Illokution, fest. (Abb. 5)
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System, Bedeutung und Intention
Weil aber die Größen Illokution, Proposition und Perlokution nicht semantische Relationen zwischen Zeichen und ihrer Umwelt darstellen, sondern die aufgrund der teleologischen Handlungstheorie bzw. deren Auswirkung auf die Linguistik nötig gewordene beschreibungstechnische Aufspaltung der Bedeutung, als der teleologischen Beschreibungskategorie der als Mittel(-Handlung) begriffenen Sprache, somit Aspekte der Intention sind, können hier die Größen Sprecher und Hörer nicht mehr als Subjekt bzw. Adressat einer Äußerung fungieren, sondern müssen als semantische Bestimmungen der Bedeutung umfunktioniert werden. Sprecher und Hörer haben somit eine funktionale Rolle innerhalb der Intention. Da aber die Intention als Intention des Sprechers begriffen werden muss, muss das Schema wie in Abb. 6. umgestaltet werden. Gegenstände und Sachverhalte Proposition Illokution
Sprecher
Äußerungsakt
Perlokution
Hörer
Abb. 5: Semiologisches Dreieck und Sprechakttheorie
Das zur Abb. 5. Hinzugekommene ist die Ebene des realen Geschehens, des realen Sprechens und Zuhörens. Diese Elemente sind als reale und nicht mehr semantisch strukturelle Größen mit Kreisen dargestellt, desgleichen auch die ebenfalls als reale Größe der Handlungstheorie angenommene Gesamtintention, die die drei Aspekte der Bedeutung umfasst. Die sprachliche Äußerung geschieht zwar im realen Sprechen, sie wird aber zu Beschreibungszwecken immer in Hinblick auf die drei Komponenten ihrer Bedeutung hypostasiert. Beschrieben wird insofern nicht die Äußerung selbst, sondern immer und notwendig nur ihre statische, begriffliche Abstraktion, die aber (und hierauf kommt es an) mit der Intention des Sprechers angegeben wird. Angenommen wird, dass die Intention eine genauso reale Größe, ein Attribut des Sprechers sei, wie ihm auch die Handlung des Sprechens zukommt. Der Sprecher hat die Intention, die ihn beim Sprechen leitet, er macht die Äußerung, zur wissen-
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Einleitung
schaftlichen Beschreibung der Äußerung ist aber nur noch die als real angenommene Intention relevant. Deshalb sind der Sprecher und der Hörer als strukturelle Teile der Intention (quadratisch dargestellt) von dem realen Sprecher und Hörer (mit Kreisen dargestellt) zu trennen.
Gegenstände und Sachverhalte Proposition Illokution
Äußerungsakt
Perlokution
Sprecher
Intention, kommunikative Absicht
Sprecher
Hörer
Kontrolle Theoretische Beschreibung des Zeichens Äußerung
Hörer
Abb. 6: Zeichennatur und Realität
Der reale Sprecher und der reale Hörer haben, in Hinblick auf die hier untersuchte teleologische Beschreibung, lediglich eine Kontrollfunktion. Der reale Hörer bestimmt zum Beispiel den Wert der Perlokution (erfolgreich/erfolglos) usf. Der reale Sprecher und der reale Hörer sind der außersprachliche Kontakt der wissenschaftlichen Beschreibungsgrößen zur Welt. Wie sehr sie aber in der Tat außerhalb des Beschreibungshorizontes stehen, wird vor allem dadurch deutlich, dass in der sprachwissenschaftlichen Analyse z.B. auf den perlokutionären Erfolg einer Äußerung in der Regel aus der Antwort (als abermals auf dieselbe Weise beschriebener Äußerung) gefolgert wird. Der reale Hörer und der reale Sprecher spielen virtuell gar keine Rolle. Beschrieben wird teils die angenommene Bedeutung, teils die Beziehung zwischen der Bedeutung (Intention) und der Äußerung. Wie wir in Abb. 7. sehen, wird die tatsächliche Handlungsebene, das Sprechen und das Zuhören, nur als eine Art äußerlichen Nachklangs der
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System, Bedeutung und Intention
semantisch relevanten Handlung, des Sagens und des Verstehens, beschrieben. Sagen und Verstehen sind nämlich prinzipiell auf die Größe Bedeutung ausgerichtet, während das Zuhören und das Sprechen weniger transitiv, mit dem Intentionsbegriff bzw. mit dem Bedeutungsbegriff weniger verbunden sind. Deshalb geraten Letztere in den Schatten der Ersteren. So sagt man auch im Alltag: „X spricht, sagt aber nichts“, und damit meint man in der Regel, dass X dem Wesen seiner sprechenden Tätigkeit, nämlich etwas zu sagen, nicht gerecht wird; wenn X spricht, aber nichts sagt, versagt seine Sprachlichkeit. Ähnlich kann Y zuhören, ohne zu verstehen – das andere Moment wirklichen sprachlichen Versagens. Bedeutung1 Intention1
=
?
Bedeutung2 Intention2
Sagen
Verstehen bedeutet Sprechen
Sprecher
Zuhören Äußerung
Hörer
Abb. 7: Die Ebenen der sprachwissenschaftlichen Beschreibung
Sprechen und Zuhören haben denselben Gegenstand. Die faktische Äußerung als physikalisch messbare Entität, ist beim Sprechen und beim Zuhören, bis auf zufällige Störungen der Umwelt, wie etwa Geräusche, Entfernung usf., die gleiche: Die Schallwellen werden durch die Luft oder ein anderes Medium mit minimalem Verlust vermittelt. Erst beim Sprechen und Verstehen gibt es die Möglichkeit des Missverstehens, wenn nämlich die vom Hörer mit der Äußerung verbundene Bedeutung der mit ihr vom Sprecher verbundenen nicht entspricht. Je eher die Relation Intention1/Bedeutung1 = Intention2/Bedeutung2 der Fall ist, desto erfolgreicher die Kommunikation. Die Linguistik interessiert sich für die vertikalen Aspekte der Abb. 7. Die horizontale Handlungsebene ist vom Standpunkt der Wissenschaft her außersprachlich. Wenn statt „Sprechen“ „Schreiben“ und statt „Zuhören“ „Lesen“ stünde, könnte sich gerade deshalb auf der vertikalen Ebene nichts ändern, und die Sprachwissenschaft könnte – eigentlich – die Veränderung gar nicht wahrnehmen. Erst wenn Störungen im tatsächlichen
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Einleitung
Sprechen oder Zuhören auftreten, wird man sich derselben horizontalen Ebene annehmen. Indem man aber annimmt, dass die phonematisch bzw. graphematisch und nicht phonetisch bzw. graphisch beschriebene Äußerung selbst das Gesagte bzw. das Verstandene bedeutet, dringt die vertikale Beschreibungsebene in die horizontale wieder ein, als wäre die Bedeutung nicht die Intention des Sprechers bzw. die vom Hörer demselben unterstellte Intention, sondern eine faktische und definitive Eigenschaft der Äußerung. Selbst also die in den kommunikativen Störungsfällen auftretende Beschäftigung mit der horizontalen Ebene beinhaltet eine weitgehende Vertikalisierung, so dass die horizontalen Probleme zuletzt auf die Unfähigkeit der Etablierung von Bedeutungsrelationen seitens des Sprechers oder des Hörers reduziert werden. Aphasieforschung und die Erforschung linguistisch relevanter Schreibstörungen sind somit zuletzt vertikale Angelegenheiten. Sie betreffen die Äußerung weniger als Kreis (als reale Größe), sondern eher als Quadrat (als Abstraktion, als Realisierung des Zu-Sagenden oder als Grundlage des Verstandenen). Im Fall des Sprechens ist die horizontale Forschung dem Umstand entsprechend, dass Sprechen etwas Natürliches ist, besonders prekär. Wer nicht sprechen kann, hat in der Regel mit modernen Tomographen genau lokalisierbare Hirnstörungen. Aus ihnen ergeben sich dann vertikale Spekulationen über die Natur der Sprache. Vielleicht die schönsten Beispiele für die Reduktion horizontaler Sprechstörungen auf die vertikale Ebene der Systemlinguistik findet man in den bahnbrechenden Arbeiten Roman Jakobsons (z.B. 1969). Im Fall der Schrift ist die Lage eine vollkommen andere. Die Schrift kann nicht als natürliche Tätigkeit des Menschen angesehen werden, wenngleich die Schreibprozesse im Fall eines geübten Schreibers weitgehend automatisiert ablaufen. Schreiben muss man erst lernen. Dies gilt sowohl für die Kunst der Niederschrift, der graphischen Realisierung der Sprache, als auch für die schriftliche Textproduktion. Angefangen vom ersten Grundschulaufsatz bis hin zum Erlernen der Produktionsregeln der Textsorte wissenschaftliche Arbeit an der Universität zentriert sich das gesamte Bildungswesen um die Aufgabe der Schriftbildung bzw. der Bildung zur Schrift und Schriftlichkeit. Sobald etwas gelehrt wird, wird es notwendig weitestgehend analytisch untersucht. Wie die tiefsten Einsichten in die eigene Sprache erst im dem Moment erreicht werden, in dem man sie einem Nichtmuttersprachler beibringen möchte, werden auch die Schrift und alle mit dieser verbundenen Probleme auch schon deshalb mehr oder weniger gut erforscht, weil sie Bildungsziele sind. Dabei ist das praktische Wissen, das sich in den Bildungsplänen und pädagogischen Traditionen und Bräuchen niederschlägt, womöglich von größerer Bedeutung als die rein wissenschaftlichen Theorien über dieselben. Dies ändert aber am Desinteresse der Sys-
System, Bedeutung und Intention
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temlinguistik an der Schrift (und am Sprechen), als horizontale Ebene der Sprachhandlung, wenig. Theorien oder praktische Ergebnisse über Sprechen und Schrift können zwar als exotische, weitgehend sogar als richtig empfundene Erkenntnisse in die Systemlinguistik importiert werden, man weiß aber bei aller Bewunderung nicht so recht, was man mit ihnen anfangen soll, denn Sprechen und Schreiben sind auf der relevanten (vertikalen) Ebene des Sagens einfach dasselbe. * Sowohl in der Pragmatik als auch in der Systemlinguistik (wobei eine klare Grenze zwischen den beiden nicht so leicht zu ziehen ist) wird Sprache prinzipiell auf die Bedeutung als eine übliche, innersystematische oder konkrete Intention reduziert (wobei die zwei Größen in irgendeiner Weise miteinander in Verbindung gebracht werden müssen). Entsprechend heißt Sprachbeschreibung die Untersuchung der Probleme der Bedeutung, wobei die konkreten Sprachprozesse (als horizontale Ebene der Abb. 7) in ihrer realen Komplexität teils gar nicht in Betracht kommen, teils aber durch die Bedeutungsangabe als Bestimmung des sprachlichen Handlungszwecks abgehakt werden. Im Fall der Schrift und in der Sprachstörungsforschung muss sich dies insofern anders verhalten, als dass die reine Besinnung auf die kommunikativen Zwecke als Bedeutungen sprachlicher Äusßerungen in der Regel nicht weiterhilft. Wer in der Schule schreiben lernt, weiß schon mit der Sprache weitgehend umzugehen. Seine Schreibkunst/-fähigkeit kann allein durch das Erlernen konzeptionell schriftlicher Ausdrücke nicht entwickelt werden. Viel wichtiger ist es, besondere Techniken der Schrift zu lernen, wie etwa die sorgfältige Planung seines Textes mit reflexiver Berücksichtigung des Hörers und der Anforderungen der Textsorte oder die Kunst der sauberen Argumentation mit „Tricks“, wie etwa Pointierung, Fazitziehen, argumentativer Hinführung usf. Dergleichen Techniken hängen zwar mit der Idee eines kommunikativen Zwecks weitgehend zusammen, nur lässt sich dieser im Fall solcher Handlungen nicht mehr ohne Weiteres als Bedeutung auffassen, obwohl er nach wie vor semantische Aspekte aufweist. Das Was der Darstellung, die Aussage eines Textes, ist natürlich wichtig, aber eine Reihe von anderen Zwecksetzungen verdrängen dieses Was aus der Reihe der schwierigsten Aufgaben der Textproduktion. Die Frage ist in der Regel nicht: „Was will ich sagen?“ (wenn ich das nicht weiß, soll ich gar nicht erst schreiben), sondern: „Wie bringe ich das geschickt zu Papier?“ Wie Bühler sagen würde: Die Textproduktion hat weitgehend Werkproduktionscharakter. Hierbei spielt die semantische Komponente oft eine
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Einleitung
geringere Rolle.39 Wer einen argumentativen Text zu Papier bringt, wird zuerst eine Reihe von Prämissen und von Argumenten aufschreiben, aus denen er letztlich seine eigentliche Äußerung, das, was er zu sagen hat, ableitet. Diese Prämissen gehören nun aber eindeutig nicht zu seiner kommunikativen Zwecksetzung. Sie sind nebenher gemachte Äußerungen mit stark instrumentalem Charakter. Sie gehören nur als Vorbereitung zur Aussage. Sie sind nur insofern da, als aus ihnen etwas folgt. Sie gehören, wenn man dieses Vokabular verwenden möchte, zum Werk, als Teile von diesem, aber sind im Prozess des Schreibens keineswegs – wie die Analogie zum schon angegebenen Sprachbetrachtungsmodell erwarten ließe – die Intention. Und somit ist in diesem Fall die Intention nicht mehr mit der Bedeutung gleichzusetzen. An diesem Punkt nun können wir die Fäden unserer Überlegungen zusammenziehen. Die durch die allgemeine Sprachbetrachtung implizierte Handlungstheorie versteht die sprachliche Äußerung als Mittel zur Realisierung der als konkrete oder übliche Intention des Sprechers verstandenen Bedeutung. Hierdurch wird die Handlungskomponente des Sprechens nicht ausgeblendet, sondern nach einem einfachen handlungstheoretischen Muster beschrieben. Wenn ich den Zweck einer Handlung bzw. einer sprachlichen Äußerung angebe, habe ich das Wesentliche über diese gesagt. Wenn ich also die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung und die Art, wie deren Form zur Realisierung einer solchen Bedeutung beiträgt, angebe, habe ich diese hinreichend charakterisiert. Dies gilt allgemein für Texte. Selbst die komplexesten schriftlichen Texte können gedeutet werden. Sie können semantisch, insbesondere bezogen auf die Bühler’sche Ausdrucksseite, aber auch auf grammatischer Ebene, nach der Frage, wie Bedeutung mit sprachlichen Strukturen realisiert werden kann, untersucht, zergliedert werden. Während nun aber im Fall einfacher mündlicher Texte diese theoretische Einstellung wegen der Unmittelbarkeit des Sprechens nicht weiter problematisch wirkt, stellt sich in Anbetracht der schweren Lern- und Lehrbarkeit der Kunst des Schreibens im Fall anspruchsvoller, komplexer schriftlicher Texte die Notwendigkeit einer tieferen Betrachtung auf der horizontalen Handlungsebene heraus. Von der Seite des Rezipienten ist es zwar nach wie vor möglich, die Bedeutung komplexer Texte als (implizite) Intention des Autors aufzufassen, aber auf der Produktionsseite weist die Semantik eines komplexen _____________ 39
Dies mag verwirrend wirken, da Bühler selbst die Werkproduktion in einem tiefen Zusammenhang mit der Semantik begreift, und zwar als Loslösung vom Zeigefeld. Wir werden im nächsten Kapitel sehen, weshalb es hier um zwei unterschiedliche Bedeutungsbegriffe geht, so dass wir Bühler erst dann richtig verstehen können, wenn wir ihn hier zunächst (solange wir mit einem traditionellen Bedeutungsbegriff operieren) gegen seinen Wortlaut lesen.
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System, Bedeutung und Intention
Textes weitere Aspekte auf. Die Handlung umfasst eine Reihe intentionaler Aspekte, die mit der bisher untersuchten sprachlichen Bedeutung wenig, dafür aber mit dem Werkcharakter des Textes umso mehr zu tun haben. Sprache, mitsamt ihrer intentional-semantischen Betrachtbarkeit, wird hier einfach nach einer übergeordneten Werkrationalität verwendet. An dieser Stelle könnte man von einer strikt intentional-semantischen Position her sagen: In der Tat wird Sprache in der schriftlichen Elaboration schwieriger Texte verwendet und damit in eine höhere Handlungseinheit eingegliedert. Aber auch diese hierarchisch übergeordnete Handlung ist sprachlicher Art, so dass die Bedeutung im gegebenen Kontext nur den neuen Handlungsintentionen angepasst werden muss. Bedeutung müsste dann als Integrationswert in einen textuellen Kontext verstanden werden.
Intention
Bedeutung des Textes als Werk
IW1
IW2
G&S1 Schreiber Textproduktion
S
IWn
G&S2 E
A1
Interpretation
S
G&Sn E
S
A2
E
An
Leser Textrezeption
Komplexer Text Abb. 8: Textintegration.40
Im Fall stark elaborierter Schrift-Werke erfolgt aber eine weitgehende Reflexion über die einzelnen als Mittel der Textproduktion eingesetzten und entsprechend stark hypostasierten sprachlichen Äußerungen, die sie teils als solche, teils in Bezug auf ihre erwünschte Rolle in der Gesamtheit des Textes, insbesondere aber in Verbindung mit deren üblicher intentionaler Bedeutung betrifft: Die Äußerungen werden auf deren Bedeutung hypostasiert/reduziert, so dass sie letztlich genau als diese Bedeutungen die Bausteine textuellen Elaborierens bilden. Die Annahme einer schlich_____________ 40
IW = Integrationswert, A = sprachliche Äußerung, G&S = Gegenstände und Sachverhalte, S = Sender, E = Empfänger
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Einleitung
ten durch die Hinzufügung eines Integrationswertes entstandenen Intentionsmodifikation ist deshalb nicht zulässig. Der Integrationswert betrifft die Bedeutung als Intention, kann deshalb nicht Teil der Bedeutung sein. In solchen Fällen geschieht etwas mit sprachlichen Einheiten, die als Gegenstände dieses Geschehens im Sinn der oben angegebenen Betrachtungsweise bereits mit deren Bedeutung gleichgesetzt wurden, so dass man zwischen Wort und dessen Bedeutung gar nicht mehr unterscheiden kann. In der Produktion komplexer Texte werden die sprachlichen Einheiten bereits als hypostasierte Bedeutungsträger, als Mittel zu einem anderen Zweck verwendet, sie erhalten einen Integrationswert auf einer Art Metaebene. Dies könnte wie in Abb.8. schematisch dargestellt werden. Bemerkenswert ist dabei, dass a) die Operation mit sprachlichen Äußerungen in der Regel deren komplexe Intentions-Bedeutung und nicht nur einen ihrer Aspekte berücksichtigt. So wird man bei der Textproduktion ebenso auf symptomatische als auch auf perlokutive und propositionale Aspekte der verwendeten sprachlichen Zeichen Acht geben, b) ohne dass diese Bedeutungskomponenten als Handlungsintentionen ausgegeben werden könnten, jedoch mit der gleichzeitigen Bewahrung und Assertion dieser Bedeutung. Die Bedeutung eines Satzes, den ich in einer wissenschaftlichen Arbeit oder in einem Artikel niederschreibe, ist für mich nicht der durch die Niederschrift desselben Satzes zu realisierende Handlungszweck. Das heißt, wenn man den Satz verstanden hat, hat man meine Absichten noch nicht erkannt, sondern ich verwende diese Satzbedeutung, die mir weitgehend bewusst sein kann und in der Regel auch bewusst ist, zur Realisierung eines anderen Zwecks. Ich operiere also meiner Intention gemäß mit einer Reihe von Bedeutungskomponenten, die in diesem Fall gerade nicht intentional sind und dennoch die konkrete Bedeutung der betroffenen Sätze/Wörter bleiben. In einem bestimmten Sinne wäre es in diesem Kontext richtig zu sagen, dass bei der Elaboration komplexer Texte durch die besagte Hypostasierung der verwendeten sprachlichen Äußerungen ein womöglich sogar bewusster Rückgriff auf das System Sprache erfolgen würde. Das heißt, die Bedeutung schriftlicher Sätze oder Wörter sei system- und nicht intentionsgetragen, wenngleich es – wie wir gesehen haben – möglich ist, die Systembedeutung selbst als Abstraktion von Intentionsbedeutungen zu begreifen. Damit wären wir am Rande der Bühler’schen Idee der Befreiung des Satzes vom Zeigefeld: Der in einem komplexen schriftlichen Sprachwerk vorkommende Satz ist von der Bindung an den Sprecher und Hörer dergestalt befreit, dass seine Bedeutung nicht mehr von der konkre-
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ten (hic et nunc) Sprechintention des Sprechers, sondern nur noch von der typischen Bedeutung als Systemelement, als type, her begriffen werden kann. Statt der unmittelbaren Bedeutung, die in dem konkreten Handlungskontext entsteht und die von dieser Perspektive aus betrachtet sogar auch mit parasprachlichen Mitteln (das Zeigen) verwirklicht werden kann, haben wir hier also eine auf Sprachreflexion zurückgehende Bedeutung. Wäre dem so, dann könnte sogar der Aussage zugestimmt werden, dass man in einem bestimmten Sinne den Zeichencharakter der Sprache erst in der Schrift entdeckt, insofern nämlich die Sprache erst hier aufhört, unmittelbar bedeutungsvoll zu sein, und ihre Bedeutungshaftigkeit erst in diesem Kontext auf ihre semantisch-semiologische Systematik zurückführt. Das Entscheidende ist aber nicht, dass die sprachlichen Äußerungen, die in einem komplexen Text vorkommen, ihre Bedeutung durch das System im Zuge einer wie auch immer gearteten Sprachreflexion erhalten, sondern dass in der Hypostase der Äußerung ihre Bedeutung mit ihr weitgehend gleichgesetzt wird und sie in dieser Gleichheit mit ihrer Bedeutung eine neue, der aktualen Handlungsintention entsprechende Bedeutung erlangt. Das Modell von Cooper und Matsuhashi41 verdeutlicht dies für die Zwecke dieser Argumentation hinreichend: Die genannten Autoren nehmen an, dass die schriftliche Satzplanung von einem propositionalen Gehalt ausgeht, der stufenweise auf das Thema und die Bedürfnisse des Textes abgestimmt wird und zuletzt auf diese Weise zu einer syntaktischen Einheit, zu einem in den Text integrierten vollwertigen Satz wird, der zunächst im Kurzzeitgedächtnis gespeichert und von hier aus niedergeschrieben wird. In dieser letzten Phase hat der Satz dann teils eine funktionale Rolle, die wir Integrationswert genannt haben, und eine strukturelle Semantik, die im Wesentlichen mit ihrer propositionalen, aber auch sonst systemgetragenen Bedeutung koinzidiert. Entscheidend ist aber, dass der Integrationswert der Äußerung kraft ihrer systemgetragenen, hier gemeinten, aber handlungstheoretisch nicht intendierten Bedeutung erst möglich wird. Ich habe also einen Satz mit einer systemgetragenen, üblichen Bedeutung B. Es ist nun gleichgültig, ob ich jetzt den Satz in seiner Bedeutung B oder in einer nicht üblichen Bedeutung B1 oder B2 verwende. Wichtig ist, dass ich diesen Satz in irgendeiner Bedeutung in der Komposition eines Textes in einer bestimmten funktionalen Rolle verwende. Die Systemlinguistik muss nun annehmen, dass diese Rolle erstens die Handlungsintention, die ich bei der Verwendung des Satzes habe, bestimmt und dass sie zweitens meinem Satz nur dadurch zukommt, dass _____________ 41
Vgl. Cooper & Matsuhashi 1983.
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Einleitung
ich ihn in einer bestimmten Bedeutung verwende. Nun ist die Bedeutung des Satzes nicht meine Handlungsintention, obwohl diese Bedeutung prinzipiell als Handlungsintention definiert war. Meinem Satz bzw. seiner Bedeutung kommt eine neue, handlungsintentionale Werk-Bedeutung zu. Dieses Phänomen ist etwas fundamental anderes, als wenn ich einen Satz in einer perlokutiven Bedeutung verwende, die von der üblichen Bedeutung abweicht, da die perlokutive Bedeutung, wie wir gesehen haben, immer noch ein Teil der intentional aufgefassten Bedeutung des Satzes ist. In unserem Fall aber kommt der Bedeutung als ganzer (mitsamt der perlokutiven Komponenten) eine neue handlungsintentionale Bedeutung zu, die unseren Satz als Bedeutung betrifft. Die Grundkategorien der wissenschaftlichen Betrachtung der Sprache, die diese wesentlich als Zeichen begreifen, dessen Sinn sich als token aus der kommunikativen Absicht und als type aus der Palette gewöhnlicher kommunikativer Absichten ergibt, müssen bei der Produktion komplexer Texte insofern versagen, als dass es hier unter Umständen möglich ist, dass Sprache nicht mehr als etwas Intentional-Bedeutungsvolles, sondern als Bedeutung selbst fungiert. Allgemein formuliert: Aus unserer Problemfeststellung ergibt sich die Aufgabe, die Sprache zwischen den Polen des Bedeutung-Seins und des Bedeutung-Habens zu untersuchen. Wenn Sprache als Bedeutung und nicht mehr nur als bedeutungsvoll angesehen wird, so dass Sprache offenbar nicht mehr nur zur Verwirklichung kommunikativer Absichten, sondern – als Urteil, Satz, Wort, Syntagma usf. – auch als Grundstein der Elaboration werkhafter sprachlicher Entitäten dient, dann muss auch nach der genuinen Sprachlichkeit letzterer und dadurch auch nach ihrem Bezug zum Begriff Bedeutung gefragt werden. * Man spricht schon seit geraumer Zeit von der Kombinierbarkeit sprachlicher Zeichen zu immer neuen Äußerungen bzw. Bedeutungen. Als Beispiel könnte man einfach das Zusammenfügen von Wörtern zu Sätzen oder das Zusammensetzen von bereits existierenden Sätzen und Wörtern nach syntagmatischen und paradigmatischen Prinzipien oder die Integration zweier Sätze ineinander nehmen. So kann – rein grammatikalisch gesehen – jedes Wort in jeden Satz passen, wenngleich ein großer Teil der auf diese Weise entstehenden Sätze sinnlos ist, und zwei beliebige Sätze können in irgendeiner Weise miteinander zu einem einzigen grammatikalisch richtigen Satz verbunden werden. Es gibt Wortarten, und sie haben eine Rolle im Satz; setzt man die entsprechenden Worte dieser Rolle entsprechend ein, erhält man einen grammatikalisch richtigen Satz. Ist dies nicht dieselbe Situation, die wir vorhin beschrieben haben? Ist nicht
System, Bedeutung und Intention
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vielleicht sogar jegliche Satzproduktion – ob mündlich oder schriftlich – genau dieser Art? Sind die einzelnen Elemente des Satzes nicht gerade durch das System Sprache – das man in einer bestimmten Weise kennt, sofern man die Sprache beherrscht – hypostasierte (zu Wörtern kristallisierte) Bedeutungen, und geschieht mit ihnen bei jeder Satzerstellung nicht genau dies, nämlich dass sie als Bedeutungen zur Erstellung neuer Bedeutungen verwendet werden? Semiotiker in der Gefolgschaft von Peirce oder Eco würden aufgrund ihres Zeichenbegriffes prinzipiell zur Bejahung dieser Fragen neigen, wenngleich sie gleichzeitig auch dazu neigen würden, das System Sprache bloß als eines der vielen möglichen und auch existenten semiotischen Systeme des menschlichen Denkens anzusehen. Sie würden sagen: Das menschliche Denken war immer schon Operation mit der Zeichen-Bedeutung-Relation, es sei immer schon Semiose. Im diesem Sinn ist der Zeichenbegriff aber u. a. dazu berufen, die Entstehung eines Satzes zu erklären. Bislang wurde das nicht geschafft. Mit unserem Zeichenbegriff soll hingegen erklärt werden, wie wir einen Satz verstehen können. Die Frage, die sich mit ihm stellen lässt, ist also: Wieso hat der Satz eine Bedeutung? Die Bestandteile des Satzes sind – als Zeichen – entstehungstheoretisch irrelevant, a) weil die gesamte Ausrichtung der teleologisch-zeichenorientierten Sprachbeschreibung nicht auf die Produktion von Texten, sondern auf ihre Rezeption ausgerichtet ist, und b) weil die teleologische Handlungstheorie bei der Betrachtung der Handlung von einer allgemein gültigen Rationalität ausgeht, so dass ihre Deutung notwendig nicht die Perspektive des wirklich Handelnden, sondern eine von außen konstruierte Perspektive angibt. Wenn man einen Satz als aus Zeichen Zusammengesetzes versteht, geschieht dies ausschließlich in der Analyse, und diese läuft in aller Regel auf die Deutung des Satzes hinaus. Die Deutung selbst bleibt aber teleologisch. Wenn ich den Satz „Peter ist krank“ formuliere, wird man ihn konsequenterweise so erklären, dass man seinen Sinngehalt, die Proposition, die ihm entspricht, anführt. Wenn ich aber diesen Satz in einen komplexen Text einbaue und syntaktisch in einen komplexen Satz integriere, so dass daraus z.B. das Syntagma „der kranke Peter“ wird, so wird dieselbe Proposition meinen Satz zwar deutungstheoretisch verifizieren oder falsifizieren, weil aber der zum Syntagma gewordene Satz nicht mehr eine faktische und vollwertige sprachliche Handlung ist, wird die Proposition nicht mehr als Sinn einer Handlung verstanden werden können. „Peter ist krank“ hat einen Sinn, als eingebauter Nebensatz oder als eingebaute Nominalkonstruktion ist er Sinn (Teil des Sinns eines übergeordneten Satzes). In einem natürlichen Kontext würde niemand den Satz „Der kranke Peter bleibt heute zu Hause“ äußern, es sei denn in dem Sinne, dass es
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Einleitung
neben dem kranken Peter auch einen gesunden gibt, so dass „der kranke Peter“ als eine Art Designator für Peter fungierte; wenn man aber den Satz verwendet, ist die Aussage, dass Peter krank ist, im Hintergrund. Sie fließt in den Satz hinein. Das Entscheidende ist, dass dieser Sinn selbst im Laufe der Elaboration des komplexeren Satzes instrumentalisiert wird, das heißt, das, was dem Zeichenbegriff entsprechend als Handlungszweck verstanden werden müsste, wird Gegenstand einer anderen Handlung. Damit kommt die teleologische Sprachbetrachtung nicht klar: Wenn die Proposition, dass Peter krank ist, Handlungszweck ist, dann sind die Sätze (1) und (2) austauschbar. (1) Der kranke Peter bleibt heute zu Hause. (2) Peter ist krank. Peter bleibt zu Hause. Wem (1) und (2) rein semantisch als austauschbar scheinen, der hat sich so sehr an die teleologische Bedeutungsattribution gewöhnt, dass er den faktischen Unterschied, dass dieselbe Bedeutung einmal Sinn der Sprachhandlung und das andere Mal nicht mehr Sinn der Sprachhandlung ist, übersieht. Diesen Unterschied zu übersehen, ist die notwendige Folge der teleologischen Sprachbetrachtung, die mit dem Phänomen der sprachlichen Elaboration aus dem genannten Grund nicht zurechtkommen kann. Unsere Aufgabe hingegen besteht gerade darin, eine zur teleologischen Sprachbetrachtung konkurrierend auftretende, handlungstheoretische Sprachbetrachtung zu entwerfen, die gerade solche Unterschiede zu berücksichtigen weiß. In einem ersten Schritt gilt es, sich dem Problem nun von der historischen Seite anzunähern.
2 Sprache als Handlung Es ist in gleich zweifacher Weise evident, dass Sprache Handlung ist: a) weil die sprachlichen Äußerungen als Handlungen gedeutet werden, das heißt, eine sprachliche Äußerung zu verstehen, heißt den Sinn (Zweck) derselben als Handlung nachvollziehen zu können oder, anders formuliert, zu verstehen, was der Sprecher uns sagen will, und b) weil die sprachlichen Äußerungen selbst in der reproduktiven Rezeption zumindest ansatzweise immer mitartikuliert werden; wenn ich einem Sprecher gerade zuhöre, dann ist die Artikulation seine Aufgabe; wenn ich mir seine Worte später ins Gedächtnis rufen möchte, muss ich die Artikulationsrolle ansatzweise übernehmen. Auf diesen Aspekt, dass die Artikulation das wohl entscheidende Moment der Sprachlichkeit ist, hat schon Humboldt hingewiesen, es ist aber schwer zu entscheiden, ob dieser Aspekt, wie Humboldt annimmt, die Sinnhaftigkeit der Sprache betrifft oder akustische Wahrnehmungen überhaupt. Phänomenologisch gesehen wäre es sogar möglich, dass alle reproduktiven Bewegungswahrnehmungen die Übernahme der Bewegerrolle durch den Wahrnehmenden voraussetzen und sogar, dass diese Bewegerrolle in jedem Fall einen körperlichen Ansatz hat. Sprache kann also prinzipiell nur als Handlung entstehen und nur als (reproduzierte) Handlung rezipiert werden. Im Fall der Schrift verhält es sich nicht anders. Die These, dass man rein visuell lesen könne, so dass man auf die Mitartikulation des Gelesenen völlig verzichtet, würde in diesem Kontext – selbst wenn wir sie als wahr ansehen würden – nichts beweisen, denn diese Form des Lesens scheint eher eine Suche nach dem Sinn in einem Text als die Aufnahme des Sinns eines Textes zu sein. Das heißt, diese Art des Lesens kann nicht als Sprachrezeption, sondern nur als eklektische Vorbereitung der Sprachrezeption angesehen werden. Beim Schreiben muss sprachliche (mitartikulatorische) Handlung mitspielen, und das Gelesene muss in irgendeiner Weise (auch nur ansatzweise) mitartikuliert werden. Aus dem Handlungscharakter der Sprache folgt zunächst, dass die Elemente des sprachlichen Systems als type-Handlungen verstanden werden müssen und insofern keine Entitäten, sondern nur Abstraktionen sind. Deren Sinn bzw. deren Fähigkeit, einen Sinn in abstracto zu haben, ergibt sich überhaupt erst aus ihrem Handlungscharakter. Und genau dies,
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Sprache als Handlung
den Sinn zu erkunden und den Zusammenhang zwischen der konkreten oder typischen Handlung und dem konkreten bzw. typischen Sinn derselben zu beschreiben, ist das Ziel des dieser Annäherung entsprechenden teleologisch-handlungstheoretischen Apparats der Sprachbeschreibung. Diese Betrachtungsebene der Sprache als Handlung ist die der Sprache als solche schlechthin zukommende: Auf dieser Ebene wird man der Sprachlichkeit, dem sprachlichen Charakter der sprachlichen Handlung am ehesten gerecht. Ebenfalls teleologisch ist auch die Zweiteilung von Habermas,1 wonach Sprache einerseits im Sinne der kommunikativen Handlung, andererseits strategisch zur Erreichung gewisser Ziele und Zwecke eingesetzt werden kann. Durch Letzteres kommt keine neue Dimension der Teleologie der Sprache auf, weil sich die gesamte Zweiteilung letztlich nur auf die perlokutive Komponente sprachlicher Bedeutung bezieht. Die perlokutive Komponente kann – natürlich – auch unverstandene Elemente haben. So wird der strategische Einsatz der Sprache keine neue Dimension der Sprachbetrachtung erfordern, sondern unter anderen den verdeckten Teil der perlokutiven Bedeutungskomponente einfach als konstitutives Moment von Sprachlichkeit verdeutlichen. Sprache als Handlung hat den Sinn, der ihr als Handlung zukommt, namentlich den Handlungszweck, wobei die Komplexität der sie konstituierenden Zwecke keineswegs ein Störungsfaktor sein darf. So gesehen ist zum Beispiel eine Lüge für die teleologische Sprachbetrachtung kein Problem: Der falsche, nicht existierende Sachverhalt kann durchaus Sinn einer sprachlichen Äußerung sein. Das Problem der teleologischen Bedeutungstheorie, dass in gewissen Fällen die Sprache als deren Sinn, auf deren Sinn hin hypostasiert, Gegenstand/Baustein sprachlicher Elaboration wird, ist in diesem Zusammenhang nicht nur als bedeutungstheoretisches, sondern tiefer gehend auch als handlungstheoretisches Problem zu verstehen. Das Problem ist nicht nur, dass sich der Sinn einer sprachlichen Äußerung in den gegebenen Situationen zu verflüchtigen droht bzw. überhaupt erst fundamental problematisch wird, sondern dass die Sprache in diesem Kontext einerseits – ihrer Natur gemäß – Handlung bleibt, andererseits aber gleichzeitig aufhört, Handlung zu sein. Sobald ich eine sprachliche Äußerung als deren Sinn im Rahmen gewisser Elaborationsprozesse zu verwenden beginne, verliert sie ihren Handlungscharakter und wird eher zu einer Art Gegenstand. Hinzu kommt, dass der Sinn der Äußerung allererst aus deren Handlungscharakter abgeleitet werden kann und dass der Elaborationsprozess selbst (z.B. als Satzelaboration) sprachlicher Art ist, wenngleich dies einen anderen Sprachbegriff impliziert. _____________ 1
Vgl. Habermas 1981, Bd. 1, S. 369 ff.
Ontologische Aspekte
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Das semantische Spannungsfeld zwischen Sinn-Sein und Sinn-Haben lässt sich auf einfachere handlungstheoretische Begriffe zurückführen: Gegenstand-Sein und Handlung-Sein. Das dergestalt formulierte Problem hat zwei entscheidende Aspekte: a) einen ontologischen und b) einen handlungstheoretischen.
2.1 Ontologische Aspekte Die Ontologie wird in der „Metaphysik“ des Aristoteles als die Wissenschaft vom Seienden als Seienden definiert. Die ontologische Bestimmung eines Gegenstandes ist – entsprechend – als die Bestimmung seines Wesens, dessen, was es ist, zu verstehen. Es gibt im Wesentlichen drei Arten ontologischer Aussagen: die klassisch aristotelischen, die als Seinsaussagen, die kritisch kantischen, die als die Verweigerung der Seinsaussagen zugunsten von Erkenntnisaussagen, und die phänomenologischen, die als Vereinigung bzw. Synthese der beiden vorausgehenden ontologischen Grundrichtungen konzipiert sind: Die phänomenologische Aussage2 ist eine Seinsaussage ohne Anspruch auf objektive Wahrheit, eine Feststellung dessen, wie der Gegenstand sich dem Bewusstsein gibt. Tiefer gehend kann man Ontologie als die Wissenschaft von der Verbindung zwischen Objekt (Seiendes) und Logos (Begriff) verstehen. Ein Seiendes muss sich dem Bewusstsein immer als einem Begriff zugeordnet oder mit dem Anspruch, einem Begriff zugewiesen zu werden, geben; anders gesagt, Erkenntnis vom Gegenstand liegt erst vor, wenn der Gegenstand in Verbindung zu einem Begriff steht. Die erkenntnistheoretische Streitfrage kann sich dabei um die Frage entzünden, in jeweils welchem Maße für diese Verbindung der Gegenstand, der Logos und das Bewusstsein zuständig sind. In platonischer Tradition würde Aristoteles die Verbindung als Emanation des Logos begreifen, so dass das Seiende erst durch den Logos objektiv zu dem wird, was er ist. Kant würde den Logos als Bestandteil unseres Bewusstseins auffassen, so dass das Seiende immer und notwendig in den Kategorien desselben Bewusstseins erscheinen muss, ohne dass es selbst so oder dies sein müsste. Daher die Unterscheidung zwischen dem Ding an sich und der Vorstellung. Angelehnt an Hegel und Husserl würde schließlich die Phänomenologie die Frage nach _____________ 2
Husserl selbst, der Begründer der Phänomenologie, sah in ihr noch einen Zugang zur objektiven Wahrheit, insofern der Gegenstand Konstitutivum des Bewusstseins ist, inzwischen aber ist die Phänomenologie im Wesentlichen zu einer Wissenschaft vom Bewusstsein als Bewusstsein geworden und bezieht sich immer durch sehr stark modernisierende Interpretationsleistungen auf Husserl selbst, dessen Terminologie allerdings weitgehend übernommen wurde.
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Sprache als Handlung
dem tatsächlichen Gegenstand aus der wissenschaftlichen Diskussion verbannen und den Gegenstand prinzipiell als Teil der Intentionalität des Bewusstseins verstehen: Der Gegenstand gehört (so wie er im Bewusstsein erscheint) als konstitutives Element, als Intention zum Logos. Anders gesagt: Wir denken Gegenstände, weil unser Bewusstsein in dem Sinne objektiv beschaffen ist, dass wir uns immer schon auf Objekte beziehen; dabei ist es eine Randfrage, wie die tatsächlichen Gegenstände beschaffen sind. Alle ontologischen Fragen sind in der phänomenologischen Annäherung letzten Endes als Bewusstseinsfragen zu verstehen. Das philosophische Staunen, das dieser Art Fragen zugrunde liegt, betrifft somit nie die Welt, sondern letztlich uns selbst. Weil aber hierdurch impliziert wird, dass a) der Logos ein konstitutiv-eidetischer Teil des Bewusstsein ist und dass b) der Logos das Wesen des Seienden als Objekt/Intention des Bewusstseins ist, insofern das Seiende als Objekt für das Bewusstsein eben von diesem Logos wesentlich bestimmt ist, kann die phänomenologische Ontologie schließlich als eine erkenntnistheoretisch revidierte Version der aristotelischen Ontologie verstanden werden. Der Phänomenologe kann weitgehend dasselbe Vokabular verwenden, wie Aristoteles oder teilweise auch Platon, nur dass der Anwendungsbereich desselben in einer Art Vorwort zuerst klar umrissen werden muss. Man könnte sogar sagen, dass die Phänomenologie in diesem Sinne alle Zweige der Philosophie, also unter anderem Ästhetik, Ethik usf., zu einem ontologischen Problem macht. 2.1.1 Sprache als paradoxer Gegenstand der Ontologie Die Phänomenologie hat sich aber trotz einer Reihe erkenntnistheoretischer Vorzüge schon immer schwer getan, über die Sprache zu sprechen. Der Grund hierfür ist einfach: Die Sprache ist gleichzeitig Gegenstand (da empirisch beobachtbar) und – wenn man den evidenten, aber im Detail wohl verhängnisvoll komplizierten Zusammenhang zwischen Sprache und Begriff nicht leugnen möchte – in einem bestimmten Sinne Logos. Aristoteles bekommt angesichts des Problems der Sprache eine andere Schwierigkeit, weil er die Sprache (als empirisch Gegebenes) notwendig als Zeichen des Logos, als etwas, das dem Logos angemessen sein sollte, auffassen muss, woraus angesichts der Verschiedenheit der Sprachen folgt, dass nur die griechische Sprache die Wahrheit über die Welt und das Seiende offenbart. Aristoteles entgeht allerdings auf diese Weise dem phänomenologischen Problem, Sprache gleichzeitig als Gegenstand und als Begriff auffassen zu müssen. Für ihn ist Sprache naturgemäß ein unvollkommenes Zeichen des Logos (also immer Gegenstand). Dieses Prob-
Ontologische Aspekte
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lem hat schon Platon im Dialog Kratylos en detail ausdiskutiert. Ob allerdings die dort über lange Strecken diskutierte Frage, ob die Sprache durch ihre lautliche Motiviertheit dem Logos angemessener wird, nicht etwa ironische Aspekte aufweist, ist nicht sehr leicht zu entscheiden. Kant selbst sagt so gut wie nichts über die Sprache. Die kantisch angelegte Beschäftigung mit der Sprache aber, wie sie bei Wilhelm von Humboldt erfolgt, ist dagegen von größter Wichtigkeit. Humboldt nämlich löst sowohl die Probleme der klassisch-aristotelischen ontologischen Beschäftigung mit der Sprache als auch das Problem der Phänomenologie mit folgenden drei Thesen: a)
b)
c)
Die Einzelsprache ist das Produkt einer Volksgeschichte, zu der Besonderheiten des Volkes, des Klimas, der Landschaft, historische Zufälligkeiten, die sich aus dem Kontakt mit anderen Nationen ergeben, usf. gehören. Die Einzelsprache beeinflusst unser Weltbild wesentlich, das heißt, dass die Art, wie wir einen Gegenstand begrifflich bestimmen, ob wir da, wo ein Mitglied einer anderen Kultur, in der es aufgrund landschaftlicher Besonderheiten nur eine niedrige Vegetation gibt, schon einen Baum sieht, nur von einem Strauch sprechen, ob wir mit einem dezimalen oder einem anderen System rechnen usf., von unserer Sprache (empirischen Begriffen) abhängt. Sprache ist nicht Gegenstand, sondern Handlung.
Um zu verstehen, wie und weshalb Humboldt – angelehnt an Kants erkenntnistheoretisches Denken – diese drei Thesen formulieren kann und wie sie die ontologischen Probleme der Betrachtung von Sprache in der Tat lösen können, müssen wir zunächst in einem Exkurs ein paar Gedanken Kants, insbesondere aber ein paar Züge seiner Ästhetik, verstehen. 2.1.2 Empirische Begriffe, das Schöne und die Geschichte Kant behandelt die Frage nach der empirischen Welt, nach deren teleologischer Beschaffenheit und nach unseren empirischen Begriffen, in denen wir die Welt als unsere Lebenswelt wahrnehmen und deuten können, in der „Kritik der Urteilskraft“, einem Werk, in dem so etwas wie die Ästhetik Kants in Form von Ausführungen über das Naturschöne, über das Genie, das Erhabene usf. zu finden ist. Kant begreift nämlich das Schöne – zum ersten Mal in der Geschichte der Ästhetik – als erkenntnistheo-
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retisches Urteilsproblem. Wenn wir ein wenig die argumentative Linie der „Kritik der Urteilskraft“ verfolgen, sehen wir, wie dies möglich ist. Zunächst heißt es, dass die Urteilskraft das menschliche Erkenntnisvermögen sei, „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“ (KdU B XXVI) Ist nun ein Allgemeines gegeben, dann kann sie als bestimmende Urteilskraft das Besondere darunter subsumieren. Ist hingegen das Allgemeine nicht gegeben, sondern nur das Besondere, so wird die Urteilskraft reflektierend und sucht das Allgemeine, den Begriff, unter den sie das Besondere zu subsumieren hat. Die bestimmende Urteilskraft kann nun grundsätzlich alle Gegenstände der Natur unter die allgemeinen Verstandesbegriffe subsumieren, welches konkret heißt, dass wir in Raum und Zeit alle Gegenstände, die sich den Sinnen irgendwie anbieten mögen, als Objekte wahrnehmen und diese alsdann messen können. Messen ist nämlich die einzige praktische Tätigkeit, die aufgrund der reinen Verstandesbegriffe ganz a priori an jedem Gegenstand vorgenommen werden kann: Auch das Schöne ist da keine Ausnahme – mag also eine Blume noch so schön sein, jemand kann sich ihr als reiner Theoretiker nähern, ihre Schönheit gar nicht bemerken, sie nach allen Richtungen messen und mit den Mitteln der Geometrie und der Arithmetik beschreiben. Die Natur aber, als ein unendlich mannigfaltiges System, bietet sich der Urteilskraft nach zunächst zufällig erscheinenden Regeln und Gesetzmäßigkeiten an: Diese werden bei ihrer Wahrnehmung zufällig (da nicht a priori) festgestellt. Um wirkliche Begriffe und Regeln zu werden, müssen diese vom Zufall befreit werden. Deshalb ist das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, dass, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur (ob zwar nur nach dem allgemeinen Begriffe von ihr als Natur) vorschreibt, die besondern empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte. (KdU B XXVII).
Das heißt, um die Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit erkennen zu können, müssen wir sie so wahrnehmen, als wären diese Gesetzmäßigkeiten (allgemeiner: Begriffe) nicht Zufälligkeiten, wie wir aufgrund der „Kritik der reinen Vernunft“ anzunehmen Grund hätten, sondern vielmehr Begriffe eines anderen Verstandes. Dieser Verstand habe nun diese Welt aufgrund seiner eigenen Begriffe eingerichtet, so dass der Grund der Existenz der Naturgegenstände in der Reflexion der Urteilskraft ein Begriff eines anderen Verstandes sein muss. Dies aber, dass der Grund der Existenz
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eines Gegenstandes ein Begriff sei, heißt bei Kant Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes. Der Verstand muss, indem er unser Erkenntnisvermögen ist, die Absicht haben, Einheit der Prinzipien in unsere Wahrnehmung hineinzubringen, welche er allein angesichts der Mannigfaltigkeit der Natur nicht erreichen kann, da seine apriorischen Begriffe sehr begrenzt sind. Indem nun aber die Urteilskraft ihrem Prinzip nach die Welt dem Verstand so vorlegt, als wäre sie nach einheitlichen Prinzipien eines anderen Verstandes da, erreicht der Verstand seine ureigene Absicht. Die Erreichung jeder Absicht ist mit dem Gefühle der Lust verbunden; und, ist die Bedingung der erstern eine Vorstellung a priori, wie hier ein Prinzip für die reflektierende Urteilskraft überhaupt, so ist das Gefühl der Lust auch durch einen Grund a priori und für jedermann gültig bestimmt; und zwar bloß durch die Beziehung des Objekts auf das Erkenntnisvermögen, ohne daß der Begriff der Zweckmäßigkeit hier im mindesten auf das Begehrungsvermögen Rücksicht nimmt, und sich also von aller praktischen Zweckmäßigkeit der Natur gänzlich unterscheidet. (KdU B XXXIX)
Das heißt, dass die Lust, die aus dem Prinzip der Urteilskraft entsteht, eine rein erkenntnistheoretische ist. Es geht überhaupt nicht um die privaten Interessen des Einzelnen. Man freut sich also nicht, weil dieser Baum leckere Früchte trägt, sondern weil, indem der Baum so betrachtet wird, als wäre er von einem Gott nach für uns erkenntlichen Begriffen erschaffen worden, unser Verstand selbst eine Absicht erreicht, die für ihn seiner Natur nach, ohne die Hilfe der Urteilskraft, unerreichbar gewesen wäre. Das heißt, es freut sich nicht der Einzelne, sondern der Verstand an der Errichtung seines Erkenntnisgeschäftes. Einleuchtend ist also, dass derselbe Verstand bei den Wahrnehmungen nach den Gesetzen des Verstandes, nach allgemeinen Naturbegriffen überhaupt keinen Grund zur „Freude“ hat, so dass wir nicht die mindeste Wirkung auf das Gefühl der Lust in uns antreffen können, weil der Verstand damit unabsichtlich nach seiner Natur notwendig verfährt: so ist andrerseits die entdeckte Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischer heterogener Naturgesetze unter einem sie beide befassenden Prinzip der Grund einer sehr merklichen Lust, oft sogar einer Bewunderung, selbst einer solchen, die nicht aufhört, ob man schon mit dem Gegenstande derselben genug bekannt ist. (KdU B XLI)
Daraus müsste nun folgen, dass wir bei jeglichem Treffen mit der Natur, jedes Mal, wenn wir Gegenstände nicht mehr als lediglich durch die reinen, transzendentalen Verstandeskategorien bestimmte, sondern auch als unseren empirischen, die Natur im allgemeinen betreffenden, teleologischen Begriffen entsprechende erkennen, eine solche Lust – die ästhetische Erfahrung der Schönheit – empfinden müssten. Nun ist aber dies eindeutig nicht der Fall: Wenn wir eine Katze als Katze oder einen Spatz
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als Spatz identifizieren, dann erleben wir weder erkenntnistheoretisch noch sonstwie eine besondere Freude, eine Tatsache, die Kant bekannt ist: Zwar spüren wir an der Faßlichkeit der Natur und ihrer Einheit der Abteilung in Gattungen und Arten, wodurch allein empirische Begriffe möglich sind, durch welche wir sie nach ihren besonderen Gesetzen erkennen, keine merkliche Lust mehr: aber sie ist gewiß zu ihrer Zeit gewesen, und nur weil die gemeinste Erfahrung ohne sie nicht möglich sein würde, ist sie allmählich mit dem bloßen Erkenntnisse vermischt, und nicht mehr besonders bemerkt worden. (KdU B XL)
Diese Lust aber, so geht die kantische Untersuchung ihren weiteren Gang, bleibt in einem bestimmten Phänomen weiter bestehen, und zwar nicht mehr im Zentrum der Erkenntnis, sondern am Rande derselben. Wo wir uns nämlich noch nicht an irgendeinen Begriff, mit dem wir einen Naturgegenstand wahrzunehmen pflegen,3 gewöhnt haben, da kann die Arbeit der Urteilskraft, die Entstehung eines empirischen Begriffs prozessual beobachtet werden, und sie wird deshalb mit einem merklichen Lustgefühl als schön empfunden. An diesem Punkt trennen wir uns von der kantischen Argumentation, die nun in die Analyse des Schönen übergeht, und nehmen ein Beispiel aus einer späteren Stelle der „Kritik der Urteilskraft“. Blumen sind freie Naturschönheiten. Was eine Blume für ein Ding sein soll, weiß, außer dem Botaniker, schwerlich sonst jemand; und selbst dieser, der daran das Befruchtungsorgan der Pflanze erkennt, nimmt, wenn er darüber durch Geschmack urteilt, auf diesen Naturzweck keine Rücksicht. Es wird also keine Vollkommenheit von irgendeiner Art, keine innere Zweckmäßigkeit, auf welche sich die Zusammensetzung des Mannigfaltigen beziehe, diesem Urteile zum Grunde gelegt. Viele Vögel (der Papagei, der Kolibri, der Paradiesvogel), eine Menge Schaltiere des Meeres, sind für sich Schönheiten, die gar keinem nach Begriffen in Ansehung seines Zwecks bestimmten Gegenstande zukommen, sondern frei und für sich gefallen. (KdU B 49)
Entscheidend ist der Unterschied: Im Fall eines Spatzes haben wir keinerlei ästhetische Empfindungen. Ein Papagei aber entzückt uns – so Kant. Im ersten Fall geht es um einen Vogel, den wir täglich sehen und gut kennen, im zweiten um eine Vogelart, die wir – insbesondere zu Kants Zeiten – weniger kennen. Dasselbe gilt für so gut wie alle Beispiele Kants: Entweder ist uns ein schöner Gegenstand weitgehend fremd oder er ist in seiner konkreten Besonderheit so gestaltet, dass er den empirischen Begriff, unter den er zunächst subsumiert zu werden versucht wird, überstrapaziert. Ein Papagei gefällt, weil er uns fremd ist, weil wir keine konkreten, zu normalen, empirischen Erkenntnisbegriffen gewordenen Begriffe parat haben, mit denen wir ihn abhandeln könnten, ein Sonnenuntergang oder eine Blume deshalb, weil sie eine solche Komplexität _____________ 3
Die Wahrnehmung ist vom Begriff geprägt.
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der Form erreichen, die zu einem Umschlag unserer Betrachtung führt: Wir würden den Gegenstand zunächst mit der bestimmenden Urteilskraft einem üblichen empirischen Begriff (wie im Falle des Spatzes oder der Katze) zuweisen, dann aber sehen wir, dass dieser Gegenstand mehr ist als nur ein Sonnenuntergang oder eine Rose oder Tulpe, und unsere reflektierende Urteilskraft beginnt einen Begriff zu suchen, unter den auch dieses Supplement subsumiert werden könnte. Hierin besteht die kantische Erfahrung des Schönen. Anders formuliert, haben wir uns daran gewöhnt, einen Hund als Hund zu bezeichnen. Dies würde kantisch heißen: Wir nehmen das transzendentale Objekt so wahr, als wäre dieser sein Begriff, Hund zu sein, von einem Verstand ihm zugewiesen worden, als wäre er von einem Verstand durch diesen Begriff ins Dasein gerufen worden. Wenn hingegen ein Gegenstand schön ist, nehmen wir ihn so wahr, als wäre er zwar nach einem Begriff geschaffen, aber nach einem unsere Begriffe übertreffenden, uns nicht bekannten, von uns nicht beherrschten Begriff – das Schöne weist, so gesehen, über unseren Begriffsapparat hinaus. Aber unser Begriffsapparat scheint durchaus von unserer Umgebung, von unserer Kultur abzuhängen: Für uns ist ein Kolibri schön, für einen Angehörigen einer Kultur, in der es viele Kolibris gibt, ist er bestenfalls normal, so wie für uns ein Spatz. Um dies auf die Spitze zu treiben, müssten wir sagen: Wenn wir durch einen Dschungel wandern, wandern wir durch eine andere Welt als ein einheimischer Begleiter. Wir entdecken ständig Schönheiten, die er aufgrund seines Erkenntnisapparats nicht wahrnehmen kann. Dies lässt sich in zwei Thesen formulieren: a) Die empirischen Begriffe entstehen und verfestigen sich zu allgemeinen Erkenntnisbegriffen in einem bestimmten Kulturkreis durch Gewöhnung, durch Jahrhunderte lange Arbeit der reflektierenden Urteilskraft, die immer neue und neue Gegenstände entdeckt, diese zunächst als schön, also über ihren Begriffsapparat hinausweisend, empfindet, diese aber dann durch Gewöhnung und unterschiedliche funktionale Beobachtungen zu normalen Kategorien macht. b) Die empirischen Begriffe sind aber zugleich auch, indem sie die bestimmende Urteilskraft leiten, die maßgeblichste Bestimmung unseres Weltbildes. Wie unsere empirischen Begriffe, so auch unsere Welt: Letztere hängt, in der Art, wie wir sie wahrnehmen, von ersteren ab. Die Dialektik der historischen Entwicklung der Erkenntnis muss also folgende sein: Bei jedem Gegenstand, den wir wahrnehmen, ist der erste Schritt der Versuch, ihn mit der bestimmenden Urteilskraft unter einen
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empirischen Begriff zu subsumieren. Wenn dies gelingt, hört unsere Beschäftigung mit ihm zunächst auf. Wenn dies nicht gelingt, weil der Gegenstand weitgehend fremd ist oder weil er durch seine Beschaffenheit uns zum dargestellten erkenntnistheoretischen Umschlag führt, setzt die reflektierende Urteilskraft ein, die einen Begriff für diesen Gegenstand so lange sucht, bis aus dieser ästhetischen Beschäftigung ein stabiler empirischer Begriff entsteht: Wir gewöhnen uns an die Form und Bewegung des Gegenstandes, so dass er uns normal scheinen wird. Ab diesem Zeitpunkt gelingt nun aber der erste Schritt bei jedem weiteren Antreffen des Gegenstandes, und er hört auf, schön zu sein. Es hat sich ein neuer Begriff entwickelt. (Natürlich ist es nach wie vor möglich, dass ein seit Langem bekannter Gegenstand, wenn er zum Beispiel von der modernen Kunst ausgestellt wird, wieder als ästhetisch empfunden wird). 2.1.3 Auflösung der ontologischen Paradoxie bei Humboldt Wir können nun verstehen, wieso die ersten zwei aufgezählten Thesen Humboldts in einem kantischen Gedankenhorizont unmittelbar einleuchten: Humboldt setzt die Wörter mit den empirischen Begriffen Kants gleich. Es ist weitgehend gleichgültig, ob dies in idealistischer Tradition „im Geiste Kants“ (Fichte), Kants Meinung entsprechend, oder ohne jeglichen konkreten Bezug auf Kant geschieht. Humboldt übernimmt nämlich als Kantianer jenen ontologischen Horizont, der es ihm grundsätzlich möglich macht, diese Gleichsetzung auf eine solche Weise zu vollziehen, dass er innerhalb des kantischen Systems bleiben kann. Ob also Kant mit dem Satz „Denken ist sprechen mit sich selbst“ (Kant. Anthrop. 1, T, § 39, IV, 101) diese Gleichsetzung selbst schon vollzogen hat oder nicht, ist höchstens dann von wissenschaftsgeschichtlicher Relevanz, wenn wir bereits wüssten, dass Humboldt diese kantische Äußerung kannte. Wichtig ist aber, dass durch besagte Gleichsetzung das klassische Problem, ob und inwiefern die Sprache dem Logos entspricht, auf einen Schlag gelöst wird. Die ersten zwei Thesen Humboldts machen klar, dass die Sprache (die auch Logos ist), indem sie dem Logos entspricht, unsere Welt bestimmt, zugleich aber, indem sie von der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes weitgehend abhängt, auch die Abhängigkeit des Logos von derselben geschichtlichen Entwicklung gewährleistet.4 Dass dabei _____________ 4
Das ästhetische Phänomen Kants, also der Umschlag der natürlichen Aktivität der bestimmenden Urteilskraft in die Arbeit der reflektierenden Urteilskraft, müsste parallel bei Humboldt zum Verschlagen der Sprache werden. Diese hat – genauso wie bei Kant – zwei mögliche Gründe: Entweder kenne ich den Gegenstand einfach nicht und muss ein Wort
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diese Abhängigkeit nur teilweise der Fall ist, ist Humboldt ebenso klar wie auch Kant: Die empirischen Begriffe und die Wörter hängen zu einem großen Teil von Zufälligkeit ab, sie müssen aber auch der apriorischen Beschaffenheit des menschlichen Geistes entsprechen. Zugleich stellt sich jedoch ein anderes Problem: Wenn Sprache auf diese Weise von der Empirie abhängiger Logos ist, so kann sie nicht selbst als Gegenstand in der empirischen Welt vorkommen. Wenn Sprache und empirische Begriffe von einer Seite her auch dasselbe sein mögen, so ist es doch absurd anzunehmen, dass irgendwo in der Welt empirische Begriffe anzutreffen wären. Die bekannte Antwort Humboldts, dass die Sprache nicht Gegenstand (ergon), sondern Handlung (energeia) sei, löst das Problem: Wenn Sprache als Handlung zu begreifen ist, dann sind die sprachlichen Handlungen als Geisteshandlungen zu begreifen. Jetzt gewinnt der Satz Kants, Denken sei Sprechen mit sich selbst, eine neue Bedeutung. Denn in diesem Fall wäre auch das Sprechen nun nichts weiter als Denken, somit in der Tat geistige Handlung. Sprache könnte dann nur im Sinne einer Täuschung in der Welt angetroffen werden, in etwa so, wie auch das Denken in der Welt angetroffen zu werden scheint, wenn man zum Beispiel sagt: „Auf der Seite so und so befindet sich ein schöner Gedanke“. Sprache wäre sodann kein Gegenstand, und wenn ein Gegenstand Sprache genannt wird, dürfte dies nur metaphorisch verstanden werden. Kein ontologischer Gegenstand zu sein, heißt aber nicht, kein Gegenstand des Sprachwissenschaftlers zu sein. Durch diesen handlungstheoretischen Umweg entkommt Humboldt der erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung mit der Sprache als Objekt. Als Sprachwissenschaftler aber sieht sich Humboldt mit dem Problem abermals konfrontiert, nämlich in dem Moment, in dem er auf unterschiedliche Sprachen und deren Besonderheiten als Systeme zu sprechen kommt. Ob er die Sprache als Handlung begreift oder nicht: Spätestens wenn er eine Sprache im Rahmen einer Grammatik, deren er einige geschrieben hat, beschreiben will, muss er von der Sprache als von einem Objekt, als von einem gegebenen, so und so gearteten Gegenstand sprechen. Sprache scheint nicht nur die Sprachhandlung, sondern auch ganz einfach (im Gegensatz zum Begriff) Laut zu sein. _____________ suchen, oder der Gegenstand erscheint plötzlich in einer Weise, die meine für ihn geltende Vokabel einfach überfordert. Die Besonderheit, dass aus diesem Phänomen geradezu ein sprachliches Werk, ein Gedicht oder eine Beschreibung werden kann, könnte ein Hinweis auf die aktive Arbeit der reflektierenden Urteilskraft sein: Es werden Vergleiche, Metaphern usf. gesucht, um den Gegenstand als etwas Anderes als einfach durch ein Wort Bezeichnetes zu determinieren.
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Dieser Laut ist für Humboldt aber keine empirische Gegebenheit, sondern eine Tätigkeit. Die (sprachliche/denkende) Tätigkeit des Geistes vollzieht sich für ihn in der Artikulation. Und dies heißt: Die Tatsache, dass die Sprache als Laut zu analytischen Zwecken hypostasiert wird, ist so lange kein Problem, solange man nicht vergisst, dass das eigentliche Wesen der Sprache jenseits ihres Laut-Seins in ihrem Tätigkeitscharakter steckt. 2.1.4 Ein anderer Aspekt: Laut und Lauten Man könnte sagen, der Laut ist eine Vermittlung, also ontologisch gesehen: nichts. Der Laut ist, wie ein Bild, kein Etwas, sondern bloß die Vermittlung von Etwas zu einem Empfänger. Man trennt zwischen dem wahrgenommenen Bild eines Tisches und einem Tisch nicht, während man zwischen dem Laut einer Artikulationshandlung und der Artikulationshandlung durchaus trennt. Solche Trennungen gibt es auch sonst im Bereich der Wahrnehmung: Man trennt zwar zwischen der taktilen Wahrnehmung und dem Reizgegenstand nicht, dafür aber zwischen dem Geruch und dem Emittenten desselben. Allerdings wird man in allen Fällen sagen: Die Wahrnehmung bleibt die Wahrnehmung des Gegenstandes. Wenn wir annehmen, ein Laut sei ein Etwas, dann müssten wir zwischen Laut und Artikulation notwendig folgendermaßen trennen: Der Laut ist Zweck der Artikulation. So sehen wir, dass in einer bestimmten Weise das eigentlich Wahrgenommene (nämlich, strikt genommen, die Artikulation, vermittelt durch den Laut) nicht mehr das ist, was man wahrzunehmen behauptet, sondern bloß die Ursache dessen, namentlich der Wahrnehmung (des Lauts als Gegenstandes). Anders gesagt: Wir sagen, dass wir die Wahrnehmung der Artikulation wahrnehmen und dass die Wahrnehmung der Artikulation, das, als was wir sie wahrnehmen, der Zweck der Artikulation sei. Dies ist höchstens insofern vernünftig, als dass die Absicht der Artikulation in irgendeiner Weise sein muss, wahrgenommen zu werden. Fraglich ist nur, ob sie selbst oder nur ihre Wahrnehmung wahrgenommen werden möchte. Ein Beispiel dürfte das Problem verdeutlichen: Wenn ich ein Handzeichen gebe, so wird nur das Bild dieses Handzeichens wahrgenommen. Man wird aber nicht sagen, dass ich beim Geben eines Handzeichens die Absicht hatte, ein Bild herzustellen, das der Empfänger wahrnehmen möchte, obwohl es andererseits wahr ist, dass ich im Dunklen ein solches Zeichen nicht geben würde. Das Bild ist von dem Handzeichen nicht zu trennen. Sie sind identisch, nur einmal von der Wahrnehmung her, ein anderes Mal von der Handlung her betrachtet. Wenn ich aber den Laut als
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Absicht des Sprechens bezeichne, nehme ich implizit genau eine Trennung zwischen dem Wahrgenommenen und der Wahrnehmung an. Insofern wäre die Redeweise „die Sprache ist Handlung“ richtig, und der Laut müsste dann als bloße Wahrnehmung einer Handlung gar nicht erst problematisiert werden. Allein die Betrachtung des Lauts als von der herstellenden Handlung abgesonderten Gegenstandes ist nicht eine theoretische Verwirrung, sondern eine allgemeine, alltagsontologische Tatsache, die mit der Sprachlichkeit selbst weniger als mit der allgemeinen Frage nach dem Status akustischer Wahrnehmungen zusammenhängt: Ein Knall ist etwas anderes als das Zusammenstoßen zweier Gegenstände, eine Melodie etwas anderes als die Vibration der Instrumente, ein Schrei etwas anderes, als das Schreien. Akustische Wahrnehmungen werden desgleichen nicht nur in der Semiotik oder in der Sprachwissenschaft als statische Zeichen angesehen, sondern durchaus auch im Alltag: Ein Knall verweist auf ein Geschehen, ein Schrei verweist auf den Schreienden und die Musik auf den Musizierenden; und – um ein klassisch gewordenes Beispiel Herders aufzugreifen – das Blöken verweist auf das Schaf. Dies mag damit zusammenhängen, dass die akustische Wahrnehmung auch erfolgen kann, wenn der tönende Gegenstand nicht sichtbar ist; der Ton verweist (ähnlich wie der Geruch) immer (und dies dürfte seine biologisch-evolutionäre Funktion sein) auch auf das nicht Vorhandene. Deshalb scheint die besagte Trennung zwischen dem eigentlich Wahrgenommenen (die Ursache des Tons) und der Wahrnehmung, als dem faktisch bzw. subjektiv wahrgenommenen Gegenstand (Ton), sinnvoll, das heißt, verständlich. Somit kann man sagen: Auch wenn es in einer bestimmten Hinsicht bequemer wäre, die Sprache bloß als Handlung anzusehen und den statischen, als Gegenstand konzipierten Ton zu ignorieren, ist der Ton durchaus ein Etwas, und seine Zeichennatur als Gegenstand kann nicht als bloßes Epiphänomen des Sprechens angesehen werden. In dem Moment, in dem wir einsehen, dass der Laut immer schon als Etwas und nicht nur als Vermittlung betrachtet wurde, müssen wir die ganz allgemeine Möglichkeit annehmen, dass Sprechen nicht mehr als bedeutungsvolle Handlung vollzogen wird, sondern (auch) als (mehr oder weniger) bewusste Herstellung eines Lautgegenstandes. Diese zwei Möglichkeiten der Auffassung der Sprechhandlung, einerseits als Sinnvermittlung, andererseits als Herstellung eines Vermittlungsgegenstandes, dem der zu vermittelnde Sinn als genuiner Zeichencharakter zukommt, können zugleich als Lösung der Frage nach dem Erkenntniswert der Sprache fungieren. Wir haben gesehen, dass die Sprache in der Humboldt’schen Gedankenwelt im Wesentlichen deshalb zu keinem erkenntnistheoretischen Paradox wird, weil sie immer in einem bestimmten Sinne als Handlung angesehen wird; die Sprache wird nicht als statischer
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Gegenstand mit genuinem, statischem und nicht nur aus der Handlung sich ergebendem Zeichencharakter zum Objekt der Wissenschaft gemacht. Wäre dies der Fall, so wäre wegen des inneren Zusammenhangs zwischen den sprachlichen Zeichen und den empirischen Begriffen eine ontologische Paradoxie aufgetreten. Für den Kantianer Humboldt muss die Sprache aus dem Geist entspringen – wenn sie als Gegenstand vorgefunden wird, dann muss der Zusammenhang zwischen diesem Gegenstand als kognitiver Größe und dem Geist erst thematisiert werden: ein müßiges Unterfangen. Unsere Trennung zwischen den zwei Arten der Betrachtung der Sprache, namentlich als Laut oder als Handlung, und die sich daraus ergebende handlungstheoretische Trennung innerhalb des Sprechens ergibt dabei eine einfache Lösung: Sprache wird, sofern sie als Laut produziert wird, gerade nicht als Begriff oder als kognitive Größe verwendet, sondern fungiert als Produktionsgegenstand, dessen Sinn nie unmittelbar sein kann; erst wenn die Sprache nicht als Laut produziert wird, wenn die Konzentration auf den Laut, auf die Form, auf die Struktur nicht mehr gegeben ist, wird die Sprache zum (Träger des) Gedanken, zum Begriff, weil erst in diesem Fall die geistige Unmittelbarkeit der Sprache gegeben ist. Die zwei Arten von Sprachlichkeit beeinflussen zwar einander, der Zusammenhang ist aber in diesem Fall nicht mehr problematisch: Sprache als Gegenstand ist Teil unserer Lebenswelt, ohne Begriff zu sein, und kann als solcher unsere Begriffe, die sich derselben Lebenswelt anpassen müssen, beeinflussen; ähnlich kann auch die Sprache als geistige Handlung unsere Lebenswelt bestimmen (eine grundsätzliche Eigenschaft menschlicher Tätigkeiten).
2.2 Der handlungstheoretische Aspekt Aus dieser ontologischen Zweiteilung der Sprache ergibt sich zwingend die handlungstheoretische Konsequenz, dass die Herstellung eines Lauts als eines Zeichens eine fundamental andere Art Handlung ist als das einfache, unmittelbare Sprechen, in dem Sprache unmittelbarer Träger von Gedanken bzw. Gedanke selbst oder – in einem bestimmten Sinn – Begriff ist. Dass diese Trennung mit der Zweiteilung Bühlers in Sprachwerk und Sprechhandlung etwas zu tun hat, dürfte zunächst evident sein. Die Reichweite des Bühler’schen Ansatzes wird indessen – jedenfalls in diesem Kontext – erst dann deutlich, wenn wir Cassirers Zeichentheorie als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen berücksichtigen. Wenn sich unter dem Stichwort linguistic turn die Philosophie plötzlich nicht mehr mit dem Begriff, sondern mit dem Wort und seiner Bedeutung beschäftigt, so ist dies – ursprünglich – als Bekämpfung aus dem trügerischen Charakter der Sprache sich ergebender Fehlmeinungen der Philoso-
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phie gemeint. Wenn Cassirer sich hingegen dem Problem der Bedeutung zuwendet, wird er von einer kantischen Fragestellung geleitet: Wie ist Bedeutung überhaupt möglich? Was sind die Bedingungen der Möglichkeit von Bedeutung? Wenn sich Kant noch gefragt hat, wieso wir erkennen können, fragt sich Cassirer, wieso Zeichen eine Bedeutung haben können. – Dass die Zeichen, insbesondere aber die sprachlichen, eine Rolle in der Erkenntnis haben, ist zu diesem Zeitpunkt bereits evident. Dass Bühler aber Cassirer nicht nur kannte, sondern von ihm auch weitgehend beeinflusst wurde, erwähnt er selbst in dem Vorwort seiner „Sprachtheorie“. Bei einer tieferen Beschäftigung mit Bühlers Werk – sofern dieses als reine Theorie der Sprache und nicht als mehr oder weniger empirische Diskussion mit den führenden Sprachwissenschaftlern seiner Zeit verstanden wird – ist sogar die These berechtigt, dass die Grundkonzeption des Bühler’schen Ansatzes gerade als Antwort auf Cassirers Theorie der symbolischen Formen, insbesondere in Bezug auf die Sprache zu verstehen sei. 2.2.1 Cassirer Cassirers Ansatz beschränkt sich nicht auf die Sprache, sondern betrifft prinzipiell alles, was in einem bestimmten Sinne des Wortes eine Bedeutung haben kann, alles, was etwas ausdrückt (in Gegensatz dazu bezeichnet zwar zum Beispiel der Rauch das Feuer – als Index im Sinne Peirces –, aber er drückt dasselbe nicht aus). Er fragt sich nicht nur, wieso sprachliche Ausdrücke Verständigung über die Welt ermöglichen, sondern auch, wie es möglich ist, dass wir ein Kunstwerk als ein objektiv Bestimmtes, als objektiv Seiendes, als dieses Sinnvolles und in seiner Ganzheit sehen, deutend wahrnehmen können. In Bezug auf die Sprache übernimmt Cassirer die Idee Humboldts, dass der Geist die sprachlichen Symbole nicht nur zur Wiedergabe, zur Abbildung der Wirklichkeit entwirft, sondern auch zu deren Gestaltung: Erst in der Sprache wird die Welt, so diese von Humboldt übernommene Idee, als Objekt, als Gegenstand der Erkenntnis möglich. Nur ist Cassirers Fragestellung keine sprachwissenschaftliche, sondern eine philosophische. Wenn die Sprache ein vorzügliches oder das vorzügliche Mittel der Welterschließung ist, wenn also mittels der Sprache die Erkenntnis der Komplexität der Wirklichkeit der abstrakten Gegenständlichkeiten erst möglich wird, so ist die leitende Idee Cassirers die natürliche Frage: Wie kann ein historisch Gewordenes Bedingung von Erkenntnis werden? Anders formuliert: Das Denken und die Erkenntnis geschehen mit Hilfe zur Darstellung der Welt geeigneter Symbole, wobei die sprachlichen
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Symbole eine besonders wichtige Rolle spielen. Wenn also das Symbol als Darstellendes Bedingung der Erkenntnis ist (zum Beispiel die Bedingung des Nachdenkens über die Bedingungen der Erkenntnis) und wenn wir zugleich annehmen, dass die Verwendung von Symbolen ein historisch gewordenes Phänomen ist, dann betrifft die erkenntnistheoretische Grundfrage die historische Entwicklung der Sprache zu dem, was sie in jenem ihrem Zustand ist, in dem sie das abstrakte Denken ermöglicht.5 Eine transzendentale Erklärung eines solchen Werdens ist eine in der Philosophie seit Hegel übliche und so gut wie unvermeidbare Vermischung von Geschichte und Logik: Die logische Entwicklung muss der historischen angemessen sein, und die historische muss im Sinne der logischen Entwicklung gedeutet werden. Die konkrete Antwort Cassirers auf die Frage der Entwicklung der Sprache ist eine Dreiteilung ihrer Phasen. Diese lassen sich als Stufenfolge des „mimetischen, des analogischen und des eigentlich symbolischen Ausdrucks“ (Cassirer 1977, Bd.1 S. 139) erfassen, denen der sinnliche Ausdruck, der anschauliche Ausdruck und das begriffliche Denken entsprechen. Ausgangspunkt der Entwicklung ist jene Phase des sprachlichen Ausdrucks, in dem dieser – ähnlich wie die Tiersprache – bloßer Ausdruck der Innerlichkeit des Sprechers, unmittelbarer Ausdruck seiner Gefühle bzw. Intentionen ist. Im Unterschied zur Tiersprache ist dieser Ausdruck keine bloße Interjektion, sondern hat bereits eine designative Komponente. Schon in dieser Phase der Sprachentwicklung kann die äußere Welt, freilich ohne dass aufgrund der Idee der Subjektivität Inneres und Äußeres unterschieden werden könnte, bezeichnet werden. Ein Gegenstand der Welt ist, insofern er wahrgenommen wird, ebenso ein Bewusstseinsinhalt, der klanglich und/oder durch Gebärden ausgedrückt werden kann, wie ein Gefühl (Hunger oder Angst). Indem also Wahrgenommenes, gleichgültig ob Inneres oder Äußeres, unmittelbar ausgesprochen, das heißt, bezeichnet, wird, hat die Bezeichnung notwendig eine mimetische Funktion. Die Gebärden und die Klänge entsprechen dem Auszudrückenden nach einem bestimmten Algorithmus, dessen biologische Gleichheit bei allen Teilnehmern dieser auch bei den Tieren im Ansatz existenten Kommunikation die Voraussetzung für den evolutionären Erfolg der betroffenen biologischen Art überhaupt ist. Nun übernimmt Cassirer von Husserl und den Pragmatisten die Idee, dass die Wahrnehmung per se selektiv ist. Man nimmt die Welt immer in Bezug auf etwas (Wünsche, Interessen, usf.) wahr. Somit werden immer nur gewisse Aspekte des Gegenstandes wahrgenommen, so dass der wahrgenommene Gegenstand in einer be_____________ 5
Humboldt hatte sich mit dieser Frage zum Beispiel in der Rede „Über das Entstehen der grammatischen Formen“ (1822) bereits eingehend beschäftigt.
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stimmten Weise immer anders sein wird als der eigentliche Gegenstand der Wahrnehmung. Welt wahrzunehmen heißt somit, Welt zu gestalten, und wenn sich dies – notwendig – in einem Zeichen, in einem Ausdruck widerspiegelt, so ist der mimetische Ausdruck in einem bestimmten Sinne gleichzeitig poietisch: „die mimesis gehört, in dieser Art verstanden, selbst bereits dem Gebiet der poiesis, der schaffenden und gestaltenden Tätigkeit an. Es handelt sich in ihr nicht mehr um die bloße Wiederholung eines äußerlich Gegebenen, sondern um einen freien geistigen Entwurf: das scheinbare ‚Nachbilden’ hat in Wahrheit ein inneres ‚Vorbilden’ zur Voraussetzung“ (Cassirer 1977, Bd. 1, S. 131). Wir sehen, der poietische Charakter des Ausdrucks entstammt nicht einer gestaltenden Absicht, sondern der konstitutiven Rolle der Wahrnehmung in der Erkenntnis: Wahrnehmung heißt nicht, innerlich einen Gegenstand nachzuzeichnen, sondern an ihm ein prägnantes Moment hervorzuheben. Wenn der Ausdruck den Gegenstand somit nicht nur abbildet, sondern (notwendig und immer schon) als in einer bestimmten Weise Wahrgenommenes meint, dann ist die Nachahmung, die Mimesis, schon auf dem Weg der Darstellung. Von hier aus bis zur Darstellung im eigentlichen Sinne, bis zum begrifflichen Denken, führt ein komplexer, aber begrifflich notwendiger und historisch-empirisch belegbarer Weg. Der Laut verliert langsam die Ähnlichkeit zum Bezeichneten (Abnahme der Motivation) und integriert es immer weiter in Kategorien der Wahrnehmung, die gleichzeitig Kategorien des Denkens werden. Das heißt, wenn der mimetische Ausdruck immer nur einen Aspekt eines Gegenstandes hervorhebt, so können (teils biologisch bedingt, teils durch einfache Gewöhnung) übliche Aspekte entstehen, die einfach dadurch, dass sie in so gut wie jedem Ausdruck als gestalterisches Moment auftauchen, zu einer Art Begriff werden: Die wichtigsten sind die Raumvorstellungen, die Zeitvorstellungen und die Zahlvorstellungen. Weil der mimetische Ausdruck immer einen Aspekt des Gegenstandes wiedergibt, und weil aufgrund einer Reihe von hier irrelevanten Umständen die Aspekte des Raumes, der Zeit und der Anzahl die zunächst wichtigsten sind (die Analogie zu den kantischen Erkenntnisbegriffen ist nicht zufällig), werden diese die ersten, die sich in der Entwicklung der Sprache, als Kategorien der Bedeutungshaftigkeit, niederschlagen. Cassirer führt nun diese Kategorien, die sich in der Sprache als analogische Ausdrucksweise (das heißt, als allgemeine, vom Gegenstand unabhängige Betrachtungsweisen desselben) spiegeln, auf Zeigehandlungen und insbesondere auf die Mimesis der Handzeichen zurück. So bringt er zum Beispiel unser dezimales Zahlensystem mit den zehn Fingern, die als mimetische Zeichen für einen bestimmten Aspekt von Gegenständlichkeiten eingesetzt werden, in Verbindung.
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Das rein begriffliche Denken setzt im Wesentlichen bei der sprachlichen Begriffsbildung, als dem Übergang vom Sinnlich-Konkreten zum Generisch-Allgemeinen, ein. Die Generalisierung ist für Cassirer nichts weiter als eine Akzentuierung der gewöhnlichen Gesichtspunkte: Gegenstände, die normalerweise von einem ähnlichen Gesichtspunkt betrachtet werden, werden als ähnlich markiert. So werden in den meisten Sprachen zum Beispiel die Ausdrücke für Tätigkeiten von den Ausdrücken für Dinge durch sprachliche (morphosyntaktische) Markierung abgesondert oder Ausdrucksklassen, die in irgendeiner wichtigen Hinsicht zusammengehören, wie etwa die Benennungen von Verwandtschaften, zum Beispiel durch ein Suffix, wie in indogermanischen Sprachen (pater, mater, frater), gekennzeichnet. Hierzu kommt natürlich die einfache Begriffsbildung, die Bildung von Namen, die eine Fülle von Gegenständen kraft eines besonderen und gemeinsamen Aspekts, welcher vor allem deren funktionale Rolle betrifft und zuletzt auch bestimmt, bezeichnen (so etwa das Wort „Tisch“ für eine Reihe von Gegenständen, die nur unter einem bestimmten Aspekt etwas miteinander zu tun haben). Durch die Bildung solcher Begriffsklassen wird auch die Form des Urteils als Bestimmung der Zugehörigkeit eines Gegenstandes oder einer Gegenstandsklasse zu einem Begriff, zu einem inzwischen als Kategorie der Wahrnehmung dienenden Ausdruck, ermöglicht. Von diesem Punkt führt ein einfacher Weg zum wissenschaftlichen Denken, zu dem unter anderem die Herausbildung logischer Formen gehört. Auf diese Weise versucht Cassirer, das Problem der Möglichkeit von Bedeutung (als Konstitutivum der Erkenntnis) durch logisch/historische Reduktion zu lösen. Vom einfachen Abbilden mit eindeutigem Bezug zum Konkreten führt ein logisch-dialektischer Weg zum begrifflichen Denken, das vollwertige Zeichen, Symbole benutzt, die ohne jede Verbindung mit dem Vorhandensein der bezeichneten Gegenstände (die Möglichkeit auch leere Begriffe zu verwenden) eingesetzt werden können. Der mimetische Bezug bleibt indessen auch in voll entwickelten Sprachen als ein wesentliches Element der Sprachlichkeit erhalten: Die Sprache ist auch nach der Befreiung von der reinen Mimesis, „bestrebt [...] sich dem Bedeutungsgehalt anzugleichen, ihm gleichsam tastend nachzugehen“ (S. 182). 2.2.2 Bühler Bühler schreibt im Vorwort seiner „Sprachtheorie“: Was Cassirer (wenigstens im Darstellungsschema) als die zwei Entwicklungsphasen der Menschensprache beschreibt, ist eine Zweiheit von Momenten, die uneliminierbar in jedem Sprachphänomen enthalten ist und heute noch so gut wie je
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zum Ganzen der Sprache gehört. So wenigstens in dem Hauptbereiche des natürlichen Sprechens und wenn man den Grenzfall von Sätzen, wie sie die reine Logik bildet, und den Grenzfall einer künstlich von jeder Anschauung „gereinigten“ Symbolsprache sachgemäß als einen Grenzfall und nicht als die Norm ansieht. [...] Einstweilen behauptet die Zweifeldlehre, dass das anschauliche Zeigen und Präsentieren in mehreren Modis genau so zum Wesen der natürlichen Sprache gehört und ihm nicht ferner steht wie die Abstraktion und das begriffliche Erfassen der Welt. Das ist die Quintessenz der hier entwickelten Sprachtheorie. (Bühler, 1982: XXVIII)
Wir gehen davon aus, dass die Bühler’sche Idee, dass das empraktische Reden sich im voll entwickelten, grammatisch wohlgeformten und mit allen wesentlichen Elementen ausgestatteten (wissenschaftlichen) Satz von seinem Zeigefeld befreit, dass also der Satz „Es regnet am Bodensee“ von allen impliziten Zeigeinhalten der empraktischen Sätze, wie: „Es regnet“ oder „Schau hin!“ oder „Rechts!“ frei ist, da er für sich allein stehend als vollwertiges Symbol alles ausdrückt, was er bedeuten soll, dass also die Bühler’sche Zweifeldlehre im Spannungsfeld seiner zwei anderen Grundideen, dem Organon-Modell und dem Vierfeldschema steht. Zum einen kann man die (systematische) Entwicklung vom Zeigefeld (insbesondere durch die Stufe der Deixis am Phantasma) hin zum Symbolfeld (insbesondere in Form des Satzes ohne Zeigefeld) als Analogon zum Cassirer’schen Ansatz als ein reines semiotisches Problem ansehen, so dass diese Entwicklung als zunehmende Symbolfähigkeit, als eine Frage der Darstellungsfunktion der Sprache, als eine Frage des Verhältnisses zwischen Zeichen und der Ebene der Gegenstände und Sachverhalte angesehen werden könnte. Andererseits ist der Zusammenhang zwischen der Zweiheit Sprachwerk/Sprechhandlung bzw. Sprechakt/Sprachgebilde und der Zweiheit Zeigefeld/Symbolfeld eines Ausdrucks oder einer gesamten Sprache evident. Bühler benennt diesen Zusammenhang an prominenter Stelle, gleich bei der Einführung des Begriffs „Sprachwerk“: Das Sprachwerk als solches will entbunden aus dem Standort im individuellen Leben und Erleben seines Erzeugers betrachtbar und betrachtet sein. Das Produkt als Werk des Menschen will stets seiner Crenszenz enthoben und verselbständigt sein. Man verstehe uns recht: ein Produkt kommt stets heraus, wo ein Mensch den Mund auftut; ein Produkt entsteht auch im reinsten Handlungsspiel des Kindes. Doch sehe man sich diese Produkte näher an; es sind in der Regel Fetzen, die das Spielzimmer erfüllen, solange noch Praxis gespielt wird; erst wenn Poiesis gespielt wird, dann sind diese Produkte „Bauten“ u. dgl. m. Genau so sind es nicht selten nur Redefetzen, die bei der rein empraktischen Rede herauskommen, Ellipsen, Anakoluthe usw. Sie erfüllen ihren Zweck vorzüglich: ein Dummkopf, wer sie ausrotten wollte. Sie blühen auf in jeder dramatischen Rede, die ihren Namen verdient. Anders aber werden die Dinge (wieder im kindlichen Spiel), wenn diese Produkte auf Entbindbarkeit aus ihrer individuellen praktischen Creszenz hin gestaltet werden. Genau an diesem Punkte wird unsere
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Sprache als Handlung
Lehre vom Satz beginnen und nachweisen, wie die Erlösung des Satzsinnes aus der Sprechsituation vonstatten geht. (S. 53-54)
Die Verbindung wird nur noch deutlicher, wenn wir die Bühler’sche Definition des Satzes hinzunehmen: Der Vollsatz definiert sich durch ein einziges Merkmal, namentlich durch ein „geschlossenes und wohlbesetztes Symbolfeld“ (S. 366). Wie einleuchtend aber dieser Zusammenhang sein mag, so ist die Aussage, dass ein Vollsatz im Sinne Bühlers als Sprachwerk und nicht als Sprechhandlung konstruiert wird, interpretatorisch schwer aufrechtzuerhalten, wenngleich im Kapitel „Das Saztproblem“ dieselbe bzw. in veränderter Form, aber immer zugeschnitten auf die Ries’sche Satzdefinition, vielfach gemacht wird. Fest steht aber, dass Bühler die Satzproblematik immer im Spannungsfeld zwischen Sprechhandlung/Sprachwerk bzw. Zeigefeld/Symbolfeld gedacht hat. Versuchen wir nun das Problem mit Bühler weiterzudenken, indem wir auch unsere bisherigen Ergebnisse hinzunehmen. Die Daten des Problems könnten zunächst in drei Punkte zusammengefasst werden: a) Cassirer zeigt, dass die komplexen begrifflichen Formen und selbst die Urteilsform als Grundlage des indogermanischen Vollsatzes (und in einer vageren Form als Grundlage auch anderer Satztypen) sich erst in einer langen Entwicklung in der Sprach- bzw. Menschheitsgeschichte herauskristallisiert haben, und zwar dergestalt, dass der Bezug zum Konkreten durch die symbolische Aufwertung der sprachlichen Äußerungen zugunsten rein begrifflichen Denkens bzw. Erkennens aufgegeben wird. b) Bühler nimmt an, dass Sprache zwei Felder habe: das Zeigefeld, das eng mit der Cassirer’schen Idee des mimetischen Ausdrucks, gebunden an das elementare hic et nunc bzw. an den konkreten Gegenstand, verbunden ist, und das Symbolfeld, das zwar immer in jeder sprachlichen Äußerung mitschwingt, erst aber im Vollsatz zur Perfektion gelangt. c) Unsere Überlegungen haben gezeigt, dass man zwischen dem unmittelbaren Sprechen als geistiger Tätigkeit, in dem die Begriffe, die in unserer Erkenntnis eine Rolle spielen, unmittelbar zum Ausdruck bzw. zur Wirkung gelangen, und das gerade deshalb als Tätigkeit des Geistes und nicht als Gegenstand angesehen werden kann, und den sprachlichen Äußerungen als Laut-Gegenständen, die nun zwar Gegenstände für die Erkenntnis sind und auch bewusst hergestellt werden können, indem man sie zum Ziel der sprachlichen Handlung erklärt, die
Der handlungstheoretische Aspekt
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aber nicht mehr als Begriffe, die in der Erkenntnis eine Rolle spielen, angesehen werden können, unterscheiden muss. Dies führt uns zu einer zwar nur etwas komplizierter darstellbaren, aber offenkundigen Paradoxie. (1) Die Idee, dass die sprachliche Äußerung überhaupt ein Gegenstand sei, ist die Bedingung der Möglichkeit von Sprache als Werk. (2) Sprache kann also nicht in Form unmittelbarer Tätigkeit, sondern nur als Gegenstand Zielgegenstand der Sprachwerkproduktion sein. (3) Ein Vollsatz ist das Ergebnis einer Sprachwerkproduktion. (Bühler) (4) Aus (2) und (3) folgt, dass ein Vollsatz, eine Äußerung mit geschlossenem Symbolfeld, immer als Gegenstand intendiert werden muss und als Ergebnis natürlichen Sprechens nicht möglich ist. (5) Die Sprache ist nur als Symbol, also in der Form, in der sie für die Erstellung von Vollsätzen dienen kann, Kategorie der Erkenntnis. (Cassirer) (6) Sprache kann nicht als Gegenstand, sondern nur als unmittelbare Tätigkeit des Geistes als Erkenntniskategorie fungieren. (Humboldt) Gerade das, was laut Cassirer am ehesten Erkenntniskategorie sein müsste, namentlich das begriffliche Denken, scheint also, weil seine Symbole als Gegenstände angefertigt werden und gar nicht erst als unmittelbare Teilhandlungen des Denkens fungieren, gar keine strukturelle Rolle im Erkennen spielen zu können. Die scheinbare Paradoxie verweist auf ein Grundproblem der Sprache und des Sprechens: Wenn Sprechen in einer gewissen Natürlichkeit bzw. in einer gewissen Unmittelbarkeit erst Gedanke selbst, unmittelbare Kategorie der Erkenntnis sein kann, so ist andererseits auch wahr, dass dieselben Begriffe/Kategorien der Erkenntnis, erst indem sie als Gegenständlichkeiten lautlicher Art, als semiotisch beladene Entitäten, zum Zielgegenstand einer Werkproduktion werden, ihren eigenen Werdegang als Kategorien des Erkennens abschließen und zu Kategorien, zu Elementen der werkhaften Darstellung von Erkenntnis werden. Hiermit ist das Paradoxon bereits gelöst: Ich erkenne auch das Allgemeinste und Abstrakteste, Ideen wie Freiheit, Gott, Seele usf. immer hier und jetzt, und zwar in Form von Tätigkeiten (und empraktisch). In diesen Tätigkeiten ergibt sich erst der Begriff, der (als Laut oder als Wort auf dem Papier) zum Gegenstand, zum Werkzeug der Darstellung meiner Erkenntnis und zwar unabhängig vom hic et nunc meines eigenen Erkennens wird. Der Satz „Der Hund ist
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Sprache als Handlung
schwarz“ kann insofern teils meine aktuale Erkenntnis sein, und in diesem Sinne eine Handlung, wobei die Symbole, die Begriffe (die dabei nicht als Objekte erlebt werden), als Symbole durchaus vollwertig sind, zugleich aber einen konkreten Bezug haben, namentlich zum Hund, an den ich denke, oder zur Gattung Hund, an die ich gerade denke, usf., teils aber kann derselbe Satz auch die Darstellung einer Erkenntnis sein. In diesem zweiten Fall liegt kein Erkennen, sondern die zielstrebige Arbeit vor, mein Erkennen für alle und möglichst zu allen Zeiten deutlich zu machen. Während also bei Cassirer versprachlichte gedankliche Arbeit das Wesentliche ist, geht es Bühler um die Arbeit an der Sprache, an der sprachlichen Äußerung mit vollwertigen Symbolen als Mitteln. Deshalb ist bei Bühler von einer systematischen Entwicklung und nicht von einer historischen oder realen Entwicklung vom Zeigefeld zum Symbolfeld die Rede; er übernimmt den erkenntnistheoretischen Ansatz Cassirers und integriert ihn in eine systematische Sprachbetrachtung. Mit dieser letzten Beobachtung ist freilich auch schon der handlungstheoretische Aspekt unseres Problems, dass Sprache Handlung und Gegenstand zugleich ist, im Wesentlichen gelöst, bzw. die Grundsteine der Lösung sind gelegt worden: Sprechen ist immer Handlung. Nur gibt es dabei zwei Typen von Handlungen, von denen die eine – die Sprechhandlung im Sinne Bühlers – unmittelbar ist, und im Wesentlichen mit der Problematik des Erkennens und der unmittelbaren Kommunikation verknüpft ist, welch letztere auch in den Bereich des Erkennens gehört, da sich die Erkenntnis aus dem unmittelbaren, kommunikativen Ausdruck strukturell bzw. historisch-logisch ergibt, und die andere – die Sprachwerkproduktion –, die Sprache sich als Objekt, als Laut (also als Zeichen) zum Gegenstand macht, um Erkanntes unabhängig vom Prozess des Erkennens zu vermitteln. Hierdurch löst sich die Sprache aus dem Bereich des Hier und Jetzt, in dem jede Erkenntnis (als Handlung) geschehen muss. Wenn wir nun diese Feststellung auf das grundsätzliche Problem beziehen, dass die teleologische Betrachtung der Sprache gerade da Schwierigkeiten bekommt bzw. am ehesten mit Schwierigkeiten konfrontiert wird, wo die Sprache im Sinne der Sprachwerkproduktion als Mittel bzw. als Gegenstand eingesetzt wird, so ergibt sich, dass diese Schwierigkeiten im Wesentlichen daher stammen, dass versucht wurde, einen Produktionsprozess als eine schlichte Handlung zu verstehen. Anders gesagt: Es wurde versucht, das Sprechen, das im Rahmen der Sprachwerkproduktion stattfindet, als schlichte sprachliche Handlung und nicht als Operation mit hypostasierten Handlungen, als Herstellung eines sprachlichen Gegenstandes mit sprachlichen Gegenständen als Bausteinen zu verstehen. Die Handlung des Sprechens mag zwar auch in diesem Fall eine Zweckgerichtetheit aufweisen, nur tut sie dies nicht, insofern das Sprechen die Sprache
Der handlungstheoretische Aspekt
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ist, sondern insofern als das Sprechen Verwendung von Sprache zu einem Zweck, zum Zwecke der Herstellung von Sprache (als Werk), ist. * Die Notwendigkeit und die Brisanz der handlungstheoretischen Trennung zwischen diesen zwei Typen der Sprachhandlungen sollte nach den obigen Ausführungen deutlich geworden sein. Wir haben die Schrift zwar zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen gemacht, aber die Notwendigkeit der handlungstheoretischen Trennung ergibt sich in der historischen Perspektive auch unabhängig von ihr. Und dies ist gleichzeitig die erste Voraussetzung dafür, dass die Schrift in eine Sprachtheorie eingegliedert werden könne, die nicht unmittelbar aus der Auseinandersetzung mit derselben entstanden ist, ganz im Sinne unserer ersten Feststellung, dass wir zur Lösung des Problems der Schrift (als Problems für die Sprachwissenschaft) in der Geschichte der Sprachtheorie so weit zurückgehen müssen, bis wir jenen Punkt finden, an dem die Unterscheidung, die wir brauchen, noch gemacht wurde. Bühler, Cassirer und Humboldt sind dabei nicht die Personen, die diese Unterscheidung gemacht haben, sondern diejenigen, die sich ihres Fehlens aufgrund der reinen Kraft ihres Denkens mehr oder minder bewusst wurden und eben dieses Fehlen als fundamentales Problem angedeutet haben. Weder Bühler noch Cassirer oder Humboldt konnten mit ihren Ansätzen eine wirkliche und allgemein akzeptierte Sprachtheorie entwickeln, weil das traditionelle Handlungsdenken letztlich gegen ihre Ansätze spricht. Wollen wir ihr Problem in aller Klarheit und frei vom Ballast der philosophischen Tradition begreifen, so müssen wir zu den Ursprüngen des Problems zurück, zur klassischen attischen Handlungstheorie. Dabei werden wir statt einer ausführlichen rein handlungstheoretischen Untersuchung unter Einbeziehung aller historischen Quellen, in der die Entwicklungslinien der Tradition der Handlungstheorie aufgezeigt werden könnten, lediglich eine summarische, aber systematische Einführung der notwendigen Terminologie vorziehen.
3 Handlungstheoretische Grundlagen Handlungstheoretische Grundlagen
Die Systemlinguistik geht von der Idee aus, dass eine Bedeutung in unterschiedlichen Weisen sprachlich/systematisch realisiert werden kann, aber die Relation zwischen der Bedeutung selbst und der sprachlichen Form als Definiens des Bedeutungsbegriffs dieselbe bleibt. Nun haben wir in dem abschließenden Teil der Einleitung gesehen, dass diese Relation, die Art, wie einem sprachlichen Ausdruck eine Bedeutung zukommt, unterschiedlich sein kann. Das eine Mal kommt die Bedeutung einem Satz im Modus des Habens, das andere Mal im Modus des Seins zu. Nun zeigt sich aber dieser Unterschied nicht innerhalb der Systemlinguistik selbst, sondern nur in der Konfrontation der der Systemlinguistik faktisch zugrunde liegenden Handlungstheorie mit solchen sprachlichen Handlungen, die in ihrer konkreten Beschaffenheit sich in den Kategorien dieser Handlungstheorie nicht ganz fassen lassen. Die der Systemlinguistik zugrunde liegende Handlungstheorie begreift nämlich die sprachliche Handlung grundsätzlich als teleologisches Tun, das auf Vermittlung nach unterschiedlichen Aspekten der Kommunikation strukturierter Bedeutung ausgerichtet ist. In dem Moment, in dem sprachliche Handlungen auftreten, die sich als Elaboration von Sprache als hypostasierter Bedeutungsträger begreifen, versagt die Systemlinguistik – da sie faktische Unterschiede auf der Handlungsebene terminologisch nicht behandeln kann. Aus diesem Grund kann die Systemlinguistik das Problem gar nicht erst als Problem begreifen; ihr fehlen die Mittel sowohl der Darstellung als auch zum Verständnis desselben. Das Problem ist auf der und ist die Handlungsebene. Um es zu lösen soll deshalb nicht über die einzelnen Aussagen der Systemlinguistik, sondern über die handlungstheoretischen Grundlagen derselben nachgedacht werden. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer in Konkurrenz zur Systemlinguistik stehenden Sprachtheorie. Das Ausgangsproblem unserer systematischen Überlegungen lässt sich im Anschluss an die historischen Reflexionen des vorigen Kapitels folgendermaßen formulieren: Sprachliche Äußerungen können entweder Bedeutung haben oder Bedeutung sein. Diese Unterscheidung ist keine theoretisierende, es wird nicht versucht, unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens zu beleuchten, sondern es wurden Phänomene gefunden, die sich ausschließlich jeweils auf eine dieser Weisen begreifen lassen.
Handlungstheoretische Grundlagen
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Sprachliche Äußerungen sind als Handlungen (Sprechen oder Schreiben) zu betrachten. Als Handlungen definieren sie sich aber je nachdem, ob sie Bedeutung haben oder Bedeutung sind, auf fundamental unterschiedliche Weise: Eine Sprachhandlung hat eine Bedeutung, wenn sie einen (kommunikativen) Handlungssinn macht – eine Sprachhandlung kann aber nur als Ergebnis einer Hypostase eine Bedeutung sein, der Sinn der Sprachhandlung ist kein Handlungssinn mehr, sondern die Grundlage ihrer Verwendung. Dann bezieht sich aber der Begriff „Sprachhandlung“ nicht mehr auf die faktische Handlung beim Sprechen oder Schreiben, wie im ersten Fall. Die als Bedeutung begriffene Sprachhandlung ist nicht mehr als Handlung, sondern als Gegenständlichkeit, als Mittel einer wirklichen Handlung zu begreifen. Diese Letztere ist nun die sprachliche Handlung, deren Gegenstand die zur Bedeutung vergegenständlichte sprachliche Äußerung ist. Die Unterscheidung wird auf der handlungstheoretischen Ebene folgendermaßen umgesetzt: Sprachlich zu handeln ist in dem Fall, dass Sprache eine Bedeutung hat, das Sprechen als etwas Sagen, das genau den kommunikativen Handlungssinn ausmacht; für den Fall aber, dass Sprache als Bedeutung verwendet wird, ist die sprachliche Handlung nicht mehr das einfache Sprechen, sondern die Herstellung einer sprachlichen Äußerung, welche in ihrer Prozesshaftigkeit zwar Handlung, jedoch in ihrem Ergebnis ein Hergestelltes, ergo keine Handlung, ist. Die Handlung im ersten Fall zeichnet sich somit im Gegensatz zur Handlung als Herstellung durch den ihr immanenten Zweck (das Gesagte, das vom Sagen nicht handlungstheoretisch zu unterscheiden ist) aus, welches dem Mittelsein der Handlung als Herstellung, die auf ein anderes, ein ihr Äußerliches gerichtet ist, gegenübergestellt wird. Für die auf diese Weise hergestellte sprachliche Äußerung gilt zwar nicht mehr, dass sie als Bedeutung hypostasiert wird, sie ist aber – weil gegenständlicher Produktionszweck – nach wir vor vergegenständlichte Sprache, also keine Handlung. Die Herstellungshandlung befindet sich somit zwischen zwei nach unterschiedlichen Begriffen zu Gegenständlichkeiten hypostasierten sprachlichen Entitäten: Material und Herstellungsgegenstand. Dadurch ergeben sich zwei handlungstheoretisch fundamental unterschiedliche Bereiche der Sprachlichkeit: Im ersten ist Sprache eine Handlung, im zweiten ist die sprachliche Handlung nicht die Sprache selbst, sondern nur die Herstellung von Sprache. In der klassischen Handlungstheorie hat man genau diesen Unterschied, ob eine Handlung etwas selbst ist oder auf etwas abzielt, in dem Begriffspaar Techne-Praxis festgehalten.
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Handlungstheoretische Grundlagen
3.1 Zum Begriff der Techne Das altgriechische Wort „Techne“ bereitet dem modernen Menschen schon wegen seiner schweren Übersetzbarkeit gewisse Schwierigkeiten. Seit Schleiermachers berühmter Platonübersetzung wird es zwar in der Regel mit „Kunst“ übersetzt, bedeutet aber auch Geschicklichkeit, Gewandtheit, Sachkenntnis, Geschick, Kunstfertigkeit, Handwerk, Gewerbe, Geschäft, eine bestimmte Wissenschaftsart und sogar Schlauheit, List, Kunstgriff oder Kunstwerk. So wird in der Ilias (III 60-63) von einer Axt gesprochen, mit welcher der Mann mit téchne aus einem Baumstamm einen Schiffsblock heraushaut, in der Odyssee (IV 455) von der listigen téchne, in der Theogonie (vs. 496) von den technai und der Gewalt des Zeus, mit denen er Kronos besiegte, und bei Pindaros (O IX 52) wird von der Wirkung, von der ausgeübten Kraft (Fähigkeit) des Zeus, mit der dieser erreichte, dass die Ebbe die Flut hemmt, als von einer téchne gesprochen. Rudolf Löbl hat in seinem einschlägigen Werk über 500 antike Vorkommnisse der Wortfamilie der Techne analysiert und seine Bedeutung zuletzt als „Fähigkeit, sowohl im Bereich handwerklichen Herstellens als auch im Bereich menschlichen Handelns allgemein, sach- und situationsgerecht zu handeln“ (Löbl 2003: 264) bestimmt. Dazu verweist er auf eine zweifache Bedeutungsverschiebung in der nachprüfbaren Geschichte des Wortes: erstens von dem ursprünglichen Anwendungsbereich des Wortes (Bereich des Handwerklichen) hin zum gesamten Feld der praktischen Tätigkeiten; und zweitens vom wertneutralen Gebrauch, dass nämlich die Techne sowohl dem Guten als auch dem Bösen dienen kann, hin zu einem rein positiven Gebrauch bei Platon1 und Aristoteles. Es ist nicht unser Ziel, den altgriechischen Begriff der Techne in all seiner lexikalischen Polysemie zu übernehmen, sondern einen eigenen, klaren Begriff der Techne zu entwickeln und von diesem her handlungstheoretische Erkenntnisse zu gewinnen, die uns in Bezug auf unser Thema, auf die Unterscheidung zwischen Schrift und Sprache, weiterhelfen können. Dabei müssen wir vornehmlich das aristotelische Handlungsdenken, dessen zentrales Moment die Techne ist, berücksichtigen. Die bedeutungstheoretischen Schwierigkeiten, die das Wort bereitet, bleiben uns deshalb weitgehend erspart: Aristoteles ist nämlich ein Theoretiker im wahrsten Sinne des Wortes. Er geht zwar von dem in der semantischen Struktur des Wortes festgefrorenen doxastischen Vorwissen über die Techne aus, betreibt aber anschließend nicht Bedeutungsforschung, sondern Wirklichkeitsuntersuchung. Die Bedeutung des Wortes „téchne“ ist _____________ 1
Zur Problematik der Techne bei Platon sei auf die etwas ältere, aber bis heute aktuelle Untersuchung Jörg Kubes verwiesen. Vgl. Kube 1969.
Zum Begriff der Techne
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zwar Ausgangsvoraussetzung für das aristotelische Denken, sobald aber der Techne, als Begriff, eine Extension zukommt, richtet sich der wissenschaftliche Blick des Aristoteles auf diese Extension und versucht durch ihre Untersuchung Erkenntnis über die Welt und nicht über das Wort zu erlangen. Diese Erkenntnis nun fällt, naturgemäß, als Kritik an der Intension des Begriffs, an der semantischen Komponente des Wortes „Techne“ aus. Hierdurch wird neue sprachliche Realität geschaffen. An dieser Stelle versuchen wir ähnlich wie Aristoteles zu verfahren, indem wir nicht so sehr von dem sprechen, was er selbst über die Techne sagt, sondern darüber, was er mit „téchne“ bezeichnet, von der Extension der Techne, die wir für unsere Zwecke eigens begrifflich bestimmen können. Es gibt bekanntlich mehrere Arten der Technai bei Aristoteles (die politische, die rhetorische etc.), von denen aber die poietische Techne, die herstellende Kunst, für das Verständnis des Begriffs am wichtigsten ist. Bei allen poietischen Technai geht es nicht um die zur Ausübung einer Tätigkeit benötigten Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern um die Zielgerichtetheit dieser Tätigkeiten. Die Ziele sind nun entweder materiell oder sonstwie gegenständlicher Art: So stellt der Arzt die Gesundheit her, und der Steuermann besitzt eine Kunst, nicht insofern er sich darauf versteht, das Lenkrad zu drehen und den Kurs des Schiffs zu bestimmen, sondern dadurch, dass er ein Schiff zu einem Ziel befördern kann; das heißt der Steuermann ist derjenige, der das zunächst nur ideelle Ziel, z.B. die Erreichung eines Hafens, verwirklicht. Insofern sind alle Technai zielmaterialisierend: das ursprünglich immaterielle Ziel der Handlung, die Ziel-Idee wird verwirklicht. Insofern können alle Technai als poietisch ausgelegt werden. Die Hauptelemente der poietischen Techne sind: a) das Ziel, der Herstellungszweck, b) die normative Komponente der Herstellung und der Beschaffenheit des Zielobjekts, c) die ästhetische Komponente des Zielobjekts. Wir halten diese drei Hauptelemente der poietischen Techne für die entscheidenden Größen der Technebeschreibung/-bestimmung. Dass jede Techne ein Ziel anvisiert, ist einer der Grundsätze der platonischen und aristotelischen Philosophie. Eine Techne ist von ihrem Gegenstand her gedanklich fassbar, sie identifiziert sich durch ihr Ziel: Die Techne des Zimmermanns wird durch die Gegenstände, die ein Zimmermann anfertigt, definiert, die Techne des Arztes durch die Gesundheit, diejenige des Schiffbauers durch das Schiff, usf.
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Handlungstheoretische Grundlagen
Es stellt sich in diesem Zusammenhang zunächst ein logisches Problem: Die Techne des Schiffbauers wird vom Schiff her bestimmt, aber es wird an der Einheit derselben Techne trotz der Existenz unterschiedlicher Schifftypen festgehalten, obwohl diese letztlich dadurch, dass sie ihre Besonderheiten im Rahmen ihrer Herstellung erhalten haben, eine eigenständige Techne für sich definieren müssten. Die platonische Ideenlehre, wonach es die Idee des Schiffes gibt, so dass der Schiffbauer schlichtweg die Idee des Schiffes vor Augen habe, wenn er ein Schiff herstellt, löst das Problem nur scheinbar. Man müsste dann in der Besonderheit der Schiffe jeweils unterschiedlich zu bewertende Abweichungen von der Idee des Schiffes, der sich jeder Schiffbauer anzunähern versuchen würde, sehen. Die Produkte des Schiffbauers sind aber in ihrer Besonderheit nicht als Abweichungen von dem eigentlichen Ziel seiner Techne zu begreifen, wie auch die Suppe und der Kuchen keine Abweichungen vom Oberbegriff der Speise sind. Aristoteles löst das Problem durch die Unterscheidung zwischen dem Zufall, dem erfahrenen Handwerker und dem Künstler (dem TechneBesitzer)2. Durch Zufall kann ein token entstehen. Der erfahrene Handwerker kennt ein Muster, das er entweder durch Zufall oder durch Beobachtung erhascht hat, und kann dieses Muster ohne vertieftes Wissen von seinem Tun und dessen Gründeen beliebig oft unter weitgehend gleichen Bedingungen wiederholen. Der Technebesitzer ist indessen ein Wissender, der die Beschaffenheit, die Struktur und die Funktionalität seines Zieles sowie die Herstellungsmethoden so weit kennt, dass er von seinen Produktionshandlungen jederzeit Rechenschaft geben kann. Deshalb kann er von eingeübten Mustern im Bereich seines Tätigkeits- und (mithin auch) Wissensfeldes, ohne dabei ein Risiko einzugehen, abweichen. Wissen aber bezieht sich nie auf Einzelnes, sondern auf einen gesamten Bereich von miteinander verwandten Gegenständen. Die Techne ist allgemein, das heißt, sie definiert sich durch ein weites Spektrum von möglichen Zweckgegenständen, durch ein allgemeines Ziel. Die konkrete poietische Handlung, der konkrete Herstellungsprozess ist deshalb der Techne unterordnet: Es waltet dieselbe Techne, ob man dieses oder jenes konkrete Schiff produziert. Man kann aber kein Allgemeines herstellen. Der technische Prozess muss das Einzelne bezwecken. Deshalb muss der technische Prozess gerade als der Weg vom Allgemeinen zum Einzelnen begriffen werden. Den Weg von der Allgemeinheit des technischen Ziels zum Konkreten nennen wir die Methode der Techne. _____________ 2
Vgl. Aristoteles 981 a-b.
Zum Begriff der Techne
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Die ursprüngliche altgriechische Bedeutung des Wortes „méthodos“, die unserem Wort „Methode“ zugrunde liegt, ist der Weg zu etwas hin. Die Methode verwirklicht in diesem Sinne das allgemeine Ziel nicht durch Abbildung, sondern auf einem langen Weg der Besonderung. Die Methode ist also der Weg vom Schiff überhaupt zum konkreten Handelsschiff oder Schlachtschiff mit dieser oder jener materiellen Beschaffenheit, mit dieser oder jener Größe, usf. Die Methode gehört zur Techne somit weniger als Können, sondern als eine (kreative) Veränderung des intendierten Gegenstandes im Vollzug der technischen Produktion. Im platonischen und aristotelischen Techne-Denken gibt es kein Können, das letztlich nicht auf Wissen beruhen würde. Deshalb ist das Können im Wissen, das den allgemeinen Zweck der Techne betrifft, enthalten. Wer hinreichend vertieft weiß, was ein Schiff ist, wird auch wissen, wie es hergestellt wird, und er wird es in der Tat herstellen können. Die einfachste Erklärung hierfür ist, dass die handliche Geschicklichkeit immer durch einen geschickten Sklaven ausgeglichen werden kann. Der Künstler vollendet sein Werk, wenn er einen Sklaven einsetzt, im Sinne des aristotelischen Denkens nach wie vor selbst. Der Sklave wird als verständiges Werkzeug, dessen Handhabung nur Wissensvermittlung voraussetzt, dass man ihm also sagt, was und wie er es zu tun habe, angesehen.3 Deshalb kann das Können als verbalisiertes bzw. verbalisierbares Wissen verstanden werden. Der Körper und sein Widerstand gegen die technische Handlung, etwa in Form von Ungeschicktheit, treten dabei geradezu vollständig in den Hintergrund. Die Techne ist, in dieser Weise verstanden, vom Körper losgelöst, weil Letzterer keine Probleme bereitet. Die Methode ist somit der Denkweg vom allgemeinen Ziel zum konkreten Gegenstand. Die Norm ist der zweite Schritt der Besonderung, der Individuation des Gegenstandes im technischen Prozess und gehört wesentlich zur Methode der Techne. Sie beinhaltet jene Bestimmungen, die dem Gegenstand von der Gesellschaft, von den potentiellen Benutzern desselben z.B. in Form von Moden auferlegt sind. Die Norm befindet sich in einer Wechselwirkung mit dem Ziel, kann gegenstandskonstitutiv werden oder als vorübergehende Modeerscheinung verschwinden. Der Begriff der Methode als Denkweg zum Gegenstand bei gleichzeitiger Loslösung vom faktischen Produktionsprozess, zeigt die zeitliche Aufeinanderfolge von Ziel und Norm. Die ästhetische Komponente ist der letzte Arbeitsschritt der Besonderung des Produktionsgegenstandes. Die Bestimmungen der Ziel- und der _____________ 3
Vgl. Aristoteles 1253b - 1254a.
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Handlungstheoretische Grundlagen
Normebene konkretisieren den Gegenstand nicht vollständig; dem Techniker bleiben ästhetische Freiräume zur Verfügung. Hier vollendet sich die Methode, der Denkweg.4 Nach dem allgemeinen Begriff des Zieles, nach einem bloßen Schema, besondert sich der Gegenstand zunächst durch den Willen der Öffentlichkeit, des Kunden, der Gesellschaft. Aber die letzte Besonderung erfährt er im Willen, im Geschmack des Künstlers, der diesem seine eigene Note aufprägen oder aber stattdessen einfach ein Muster befolgen, einer Gewohnheit folgen kann.
3.2 Zum Begriff der Praxis Beginnen wir die Betrachtungen über die Praxis mit der ersten Passage aus der „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles: Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluß, scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt. Doch zeigt sich ein Unterschied der Ziele. Die einen sind Tätigkeiten, die anderen noch gewisse Werke oder Dinge außer ihnen. Wo bestimmte Ziele außer den Handlungen bestehen, da sind die Dinge ihrer Natur noch besser als die Tätigkeiten. Da der Handlungen, Künste und Wissenschaften viele sind, ergeben sich auch viele Ziele. Das Ziel der Heilkunst ist die Gesundheit, das der Schiffsbaukunst das Schiff, das der Strategik der Sieg, das der Wirtschaftskunst der Reichtum. Wo solche Verrichtungen unter einem Vermögen stehen, wie z. B. die Sattlerkunst und die sonstigen mit der Herstellung des Pferdezeuges beschäftigten Gewerbe unter der Reitkunst, und diese wieder nebst aller auf das Kriegswesen gerichteten Tätigkeit unter der Strategik, und ebenso andere unter anderen, da sind jedesmal die Ziele der architektonischen, d. h. der leitenden Verrichtungen vorzüglicher als die Ziele der untergeordneten, da letztere nur um der ersteren willen verfolgt werden. Und hier macht es keinen Unterschied, ob die Tätigkeiten selbst das Ziel der Handlungen bilden oder außer ihnen noch etwas anderes, wie es bei den genannten Künsten der Fall ist.5 (Aristoteles 1094 a)
Die klassische Unterscheidung zwischen den poietischen und den praktischen Tätigkeiten setzt gerade an dieser Stelle an und besagt: Die poietischen Handlungen haben ihr Ziel außerhalb ihrer selbest, während die praktischen sich selbst, als Tätigkeiten, bezwecken. Für die praktische Tätigkeit _____________ 4
5
Im Fall der Produktion standardisierter Gegenstände ist gerade aus diesem Grund von keiner Techne die Rede. Der Standard wird begriffen als jener Produktionsgegenstand, bei dem der Begriff gleichzeitig auch Prototyp ist, an dem keine weitere Besonderung vonnöten ist. Weil aber diese Prototypisierung nur im Zuge wiederholter technischer Produktion entstanden sein kann, ist der Standard im Technebegriff indirekt enthalten. Übersetzung von Eugen Rolfes, in: Aristoteles: Philosophische Schriften, Hamburg 1995, Bd.3, S.1
Zum Begriff der Praxis
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in diesem Sinne bietet Aristoteles das Beispiel des Flötenspielers, dessen Tätigkeit kein Ziel außerhalb ihrer selbst verfolgt, und für die poietische die Kunst des Baumeisters, der seine Tätigkeit auf ein Ziel außerhalb derselben, nämlich auf das fertige Haus, ausrichtet.6 Nun sind sowohl das Flötenspielen als auch die Baukunst außerordentlich einleuchtende, das heißt unproblematische, Beispiele; wie können wir aber zum Beispiel eine Reise nach Paris einer dieser Kategorien zuordnen? Zum einen liegt evidenterweise keine poietische Tätigkeit vor, zum anderen aber wird die Tätigkeit, die Reise auch nicht unbedingt für sich selbst vollzogen, sondern mit einem wohl außerhalb derselben liegenden Ziel, nämlich in Paris zu sein, Paris zu besichtigen oder Sonstiges da zu unternehmen. Aristoteles bemerkt, dass es offenbar unter- und übergeordnete Ziele gibt, dass also bei genauer Betrachtung die meisten Ziele eigentlich um anderer Ziele willen erstrebenswert sind, wie etwa die Ziele des Sattelherstellers der Ziele der Reiterei und Letztere der Ziele der Kriegskunst wegen. Im Fall der praktischen Tätigkeiten scheint dies zunächst ein Widerspruch. Wenn die praktische Tätigkeit definitorisch kein Ziel über sich hinaus aufzeigen kann, wie soll sie dann um eines anderen willen erstrebenswert sein? Wenn ein übergeordnetes Ziel vorliegt, so ist die betroffene Tätigkeit faktisch Mittel zu diesem Ziel und keine praktische – im Sinne der klassischen Unterscheidung – mehr. Die Frage nun, die uns an dieser Stelle beschäftigen muss, ist dem entsprechend, ob und wie Handlungen dieser Art (zum Beispiel eine Reise) als praktische Handlungen betrachtet werden können, und wenn nicht, worin das Unterscheidungskriterium besteht. Zur Lösung dieses Problems trägt die aristotelische Unterscheidung zwischen den Begriffen Willenswahl und Überlegung bei: Gegenstand der Überlegung und der Willenswahl ist eines und dasselbe nur mit dem Unterschied, daß das Gewählte schon bestimmt ist. Denn das, wofür die Überlegung sich entschieden hat, ist eben das Gewählte. Ein jeder hört nämlich auf zu überlegen, wie er handeln soll, wenn er den Anfang der Handlung auf sich selbst zurückgeführt hat, und zwar auf das, was das Herrschende in ihm ist. (Aristoteles 1113a)
Die Überlegung bereitet die Wahl insofern vor, als sie die Alternativen bestimmt: Erst dann kann nämlich eine Wahl getroffen werden, wenn die einzelnen Alternativen im Hinblick auf ihre Realisation, auf die zu ihrem Vollzug nötigen Mittel analysiert worden sind. Liegt aber eine klare Handlungsalternative vor, kann diese gewählt, Gegenstand der Entscheidung werden. Die Überlegung betrifft und bestimmt das Wählbare, die Mittel der Realisierung eines Zweckes. _____________ 6
Vgl. Aristoteles 1211 b ff.
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Handlungstheoretische Grundlagen
Die Besonderheit des Verhältnisses zwischen Überlegung und Entscheidung ist, dass die Entscheidung erst aufgrund einer Überlegung (als Verstandestätigkeit) getroffen werden kann, dass jedoch die Überlegung sich in der Regel auf gerade jene Alternative richtet, die auch faktisch gewählt wird. Das heißt, wenn eine Alternative aufgrund einer Überlegung als erfolgversprechend erscheint, wird sie auch gewählt: Dies muss deshalb so sein, weil die Alternative selbst nicht Zweck ist, sondern bloß Mittel; als solches hat sie die einzige Bestimmung, zum Zweck zu führen; wenn sie diese Bestimmung dadurch, dass sie Erfolg verspricht, erfüllt, bedarf es keiner weiteren Überlegung mehr, und die Wahl ist getroffen. Wenn eine erfolgversprechende Alternative nicht gewählt wird, erklärt sich dies grundsätzlich aus der Komplexität des Zweckgebildes. Der Zweck selbst ist außerhalb des Bereichs der Überlegung. Man überlegt sich nicht die Zwecke, sondern bloß die Mittel, die möglichen Wege, die möglichen Handlungen, die zu diesem Zweck führen. Den Zweck wählt man nicht. Er liegt vor, das heißt, der Wille ist so beschaffen, dass er dies oder jenes für erstrebenswert hält. Wenn also eine Handlung Zweck ist, kann sie nicht Gegenstand der Überlegung sein. Wenn hingegen eine Handlung als eine Alternative zur Wahl oder zur Überlegung steht, ist sie offenbar kein Zweck, somit keine praktische Handlung. Hierbei ist aber das Entscheidende, dass die Beantwortung der Frage, ob eine Handlung praktisch sei oder nicht, nicht von einer theoretischen Betrachtung ex post abhängt, sondern von der faktischen Existenz der Überlegung. Jene Handlungen, die erst aufgrund einer Wahl aus einem Pool von Alternativen vollzogen werden, sind Mittelhandlungen. Sonst wäre eine Wahl gar nicht nötig gewesen, da sie als Zweck unmittelbar erkannt worden wären. Wir sind auf diese Weise zu einem einfachen Kriterium der Entscheidung gelangt, ob eine Handlung praktisch sei: Wenn eine Handlung Gegenstand einer Überlegung gewesen oder als eine mögliche Alternative aus einer Menge sich anbietender Handlungen gewählt worden ist, ist sie keine praktische Handlung. Wenn die Handlung hingegen als Zweck erscheint, wenn sie also unmittelbar zum Zweck gehört und sich daher gleichzeitig mit der Ausrichtung des Willens auf den Zweck erstrebenswert zeigt, ist sie als praktische Handlung zu verstehen. Unser Anfangsbeispiel klärt sich also auf folgende Weise: Wenn ich nach Paris reise, so werde ich die Tätigkeit, zum Bahnhof zu gehen, dann als eine praktische Handlung ansehen, wenn sie nicht Gegenstand einer Überlegung oder einer Wahl gewesen ist, wenn sie sich also unmittelbar als Teil der Reise, des Vollzugs meines Zweckes gezeigt hat. Wenn ich hingegen zwischen dem Fußweg zum Bahnhof oder einer Taxifahrt aufgrund welcher Überlegung auch immer, entscheiden musste, ist der Weg
Zum Begriff der Praxis
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einfach als Mittel zu betrachten und kann nicht mehr als praktische Handlung gelten. Ähnlich ist, gesetzt, dass ich in Paris eigentlich nur bummeln möchte, die Reise dann eine praktische Handlung, wenn sie als natürlich mit dem Bummeln in Paris verbunden erschienen ist, wenn ich hingegen stundenlang darüber gegrübelt habe, ob ich ein Flugzeug oder den Zug nehme, dann habe ich wieder keine praktische Handlung mehr vollzogen. Die Praxis ist, gerade weil sie nicht Gegenstand von Überlegung sein kann, eine unmittelbare Handlung, eine Handlung, die zwar unter Umständen (wenn ich nämlich zum Beispiel die Mittel zu ihrem Vollzug besorgen muss) von einer Überlegung und von nicht praktischen Handlungen vorbereitet werden kann, die jedoch in ihrem Vollzug einen unmittelbaren, von keinerlei anderen Denktätigkeiten vermittelten Charakter hat. Nun können wir aus handlungstheoretischer Perspektive beantworten, wie eine praktische Tätigkeit Selbstzweck und gleichzeitig aufgrund eines übergeordneten Zwecks erstrebenswert scheinen kann. Insofern nämlich eine Tätigkeit überhaupt als erstrebenswert erscheint, sich also unmittelbar zum Vollzug anbietet oder aber unmittelbar eine Überlegung zu ihrer Ermöglichung einleitet, ist sie selbst Zweck. Aus welchem Grund sie freilich als Zweck erscheint, welche höhere Rationalität dieses ihr Zweck-Sein hat, hängt nicht mit ihrem Zweck-Sein zusammen, sondern mit einer weiteren Verstandesleistung, mit der Reflexion über die eigenen Wünsche. Man wird dann feststellen, dass die mir einfach als erstrebenswert erscheinende Reise nach Paris mir eigentlich deshalb erstrebenswert scheint, weil ich ein glückliches Leben haben möchte und dazu unter anderem auch gehört, dass ich Städte wie Paris vor Ort kennen lerne. Freilich bedeutet das Zweck-Sein einer praktischen Handlung nicht, wie wir dies noch im Abschnitt: „Handlung und Bewusstsein“ untersuchen werden, dass eine praktische Handlung, inmitten ihres Vollzugs nicht aufhören kann, eine praktische zu sein. So wäre dies der Fall, wenn ich inmitten meiner Zugfahrt nach Paris, die mir ansonsten als unmittelbarer Teil der Stadtreise erschienen war, plötzlich aufgrund einer Reihe von Umständen genötigt bin, die Fahrt nur noch als eine Quälerei zu betrachten und ich mich mit der Schönheit der Stadt trösten muss. In diesem Fall wird für mich, wenngleich nicht von Anfang an, die Zugfahrt zum bloßen Mittel zur Erreichung eines Zwecks. Dergleichen Phänomene sind von größter handlungstheoretischer Wichtigkeit. * Die Frage, weshalb wir dies oder jenes tun, wird in so gut wie allen Handlungstheorien der Philosophiegeschichte auf einen Zweck zurückgeführt: Wir tun etwas, weil uns dies in irgendeiner Weise als Zweck erscheint.
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Handlungstheoretische Grundlagen
Während aber die meisten Handlungstheorien darum bemüht sind, die Zwecke als aufgrund einer vernünftigen Rationalität wählbar (insbesondere die Handlungstheorien von christlich-kantischem Schlag, die im Wesentlichen von einer vollständigen Willensfreiheit, von der Fähigkeit des Menschen, die Zwecke, die er anstreben will, frei zu wählen, ausgehen) oder als sozial, biologisch, psychologisch oder sonst wie determiniert (die soziologisch-objektivistischen Handlungstheorien) darzustellen, verneint Aristoteles die Möglichkeit der Zweckwahl, indem er die Zwecke unmittelbar auf angewöhnte Dispositionen zurückführt. Weshalb handle ich so und so? Die aristotelische Antwort lautet: Weil du eine aufgrund deiner früheren Handlungen entstandene Disposition zu einer solchen Handlung in einer solchen Situation hast. Diese Disposition kann eine Tugend oder ein Laster sein: Wenn du dich an eine richtige Handlungsweise gewöhnt hast, bist du tugendhaft, wenn an eine falsche, verdorben. Das Entscheidende für uns ist nicht die ethische Perspektive und auch nicht die Frage, inwiefern man an seiner Disposition selbst schuld ist oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, dass die praktische Handlung bei Aristoteles ihre Unmittelbarkeit aus der Gewöhnung hat, dass also die praktische Handlung insbesondere in jenem Bereich des Lebensvollzugs angesiedelt ist, in dem man weitgehend unmittelbar auf bewährte Muster zurückgreifen kann, in einem Bereich, in dem man überhaupt eine Gewöhnung, ein Gewohnheitswissen hat. Der Grund hiervon ist nicht nur, dass die Gewöhnung uns Ziele unmittelbar anbietet, sondern auch, dass die Gewöhnung, als Gewöhnung durch vergangene erfolgreiche Handlungen, auch die Mittel zum Vollzug dieser Zielhandlungen unmittelbar bereitstellt, da die Gewöhnung die Kenntnis dieser Mittel in einem bekannten Umfeld voraussetzt. So wird in einem ungestörten Milieu die praktische Handlung vollständig unmittelbar erfolgen und kann im Wesentlichen als die Befolgung bewährter Muster, die sich aufgrund von Gewohnheit mit Lust oder mit anderen positiven oder sonst wie erstrebten Emotionen, mindestens aber mit der Vermeidung von negativen Emotionen verbunden haben, betrachtet werden. Dass eine solche Beschreibung der praktischen Handlung auf einige prototypische Situationen des Sprechens zutrifft, dürfte evident sein. Entscheidend wird jedoch im Folgenden vor allem der Aspekt sein, dass die Tatsache, dass die praktische Handlung als unmittelbarer Selbstzweck verstanden werden muss, eine teleologische Betrachtung von Sprache (jedenfalls in den prototypischen Situationen der Praxis) in dem Sinne, dass der Sinn von einer Handlung getrennt werden könnte, unmöglich macht. Der Sinn einer prototypisch praktischen sprachlichen Handlung kann nur in sich selbst bestehen, wobei freilich die Handlung nicht zu weit atomisiert werden darf, weil sie auch faktisch in ihrer Ganzheit erlebt wird.
Handlung und Bewusstsein
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3.3 Handlung und Bewusstsein Handlungen können, wie alle anderen Vorgänge der Welt, als physikalisch beschreibbare Phänomene mehr oder weniger objektiv erfasst werden. Ihrem Wesen als Handlung ist diese Beschreibung freilich nicht angemessen, weil Handlungen von Bewusstsein begleitet werden. Nun sind Bewusstseinsvorgänge und -zustände per se problematisch: Wie können wir, außer aufgrund von Befragung, einen Bewusstseinszustand von Dritten prädizieren? Wie können wir, wenn wir jemanden auf der Straße gehen sehen, behaupten, er würde zum Bahnhof gehen, und zwar anders als in einem physikalischen Sinn? Die physikalische Beschreibung meint nur: X befindet sich zum Zeitpunkt t1 an einem Ort, zum Zeitpunkt t2 am Bahnhof und zwischen diesen Zeitpunkten vollzieht er eine Reihe von mit Ortsbewegung verbundenen Körperbewegungen, die man gemeinhin als „Gehen“ bezeichnet. Eine solche Beschreibung aber würde auf genau dieselbe Weise auch von einem unbelebten Gegenstand gemacht werden können, wie etwa von einem Auto oder einem Fahrrad. Sie sagt nichts über die Art, wie sich die besagte Handlung dem Handelnden tatsächlich gibt, wie sie ihm erscheint: Im Normalfall würde man mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Frage „Was machst du?“ mit dem Satz „Ich gehe zum Bahnhof“ oder mit einem ähnlichen Satz antworten, möglich aber ist durchaus, dass jemand sagt: „Ich gehe spazieren, um meine Durchblutung zu verbessern“ oder „Ich habe das gar nicht bemerkt, was ich tue, ich denke nämlich über ein schwieriges mathematisches Problem nach“. Solche Extremfälle sollen verdeutlichen, dass die Art, wie sich eine Handlung als Bewusstseinsphänomen gibt, zunächst eine Frage ist, deren Antwort nur beim Handelnden selbst liegt. Wie wir eine Handlung interpretieren, hängt im Wesentlichen mit solchen Analogieschlüssen zusammen, die für den Behaviorismus typisch sind, haben aber gerade für die Klärung der Zugehörigkeit von Handlungen zur Kategorie der Praxis und ähnlich schwierigen Unterscheidungen wenig Relevanz. Aufgrund von Analogieschlüssen lässt sich nicht zuverlässig ermitteln, ob eine Handlung unmittelbar oder aufgrund einer Überlegung als Selbstzweck oder als Mittel, bewusst oder unbewusst vollzogen wird. Entscheidend ist in solchen Fällen nur, was tatsächlich im Geiste des Handelnden geschieht. Nun gibt es gewiss typische Fälle, in denen der Handelnde ganz genau weiß, was er tut, zum Beispiel, weil er sich aufgrund eines propositionalen Entschlusses zur Ausführung der besagten Handlung begeben hat. So wird jemand, der sich mit dem klaren Satz oder mit der entsprechenden Proposition vorgenommen hat, „Ich gehe jetzt zum Bahnhof (, weil...)“, sofern er sich an seinen Entschluss erinnern kann, ohne jegliche Schwierigkeit die Frage nach seiner Handlung beantworten. Er wird eine kompe-
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tente, gesicherte und von dem Suggestivwert der Frage selbst unabhängige Antwort liefern und wird bereit sein, eine Frage, die seinen Entschluss nicht genau trifft, zurückzuweisen und auf seine eigene Formulierung zurückzukehren. Solche Fälle sind indessen relativ selten. Meistens präzediert kein propositionaler Entschluss die vollzogenen Handlungen, wenngleich die Bereitschaft durchaus besteht, die Handlung als Teil eines momentanen Handlungshorizontes, eines momentan aktiven Frames zu bestimmen. Wieder nur selten sind jene Handlungen, in deren Fall keine Bereitschaft besteht, Rechenschaft über sie zu geben, Handlungen, die der Handelnde mit Verwunderung erst dann wahrnimmt, wenn er nach ihnen gefragt wird. Wird nun tatsächlich eine Frage bezüglich der Handlung gestellt, wird man, außer im ersten Fall, in der Regel nur dann eine kompetente und richtige Antwort geben können, wenn die Frage in den gerade aktiven Handlungshorizont passt. Ist die Frage hingegen so geartet, dass sie Kategorien ins Spiel bringt, die von dem Selbstverständnis des Moments abweichen, ihnen womöglich sogar suggestiv widersprechen, so ist in der Regel eine Antwort zu erwarten, die die Handlung zwar (abermals intuitiv) in einen Handlungshorizont integriert, aber dieser Horizont wird oft durch die Frage derart geändert, dass ein Widerspruch zwischen dem bestehen kann, was man, hätte man die Frage nicht gestellt bekommen, auf sie geantwortet hätte, und dem, was man auf sie geantwortet hat, sofern die Frage faktisch gestellt worden ist. Beinhaltet die Frage explizite oder auch nur implizite wertende Bezüge, ist in der Mehrzahl der Fälle keine kompetente Antwort zu erwarten, da die Bereitschaft besteht, insbesondere Handlungen, die nicht propositional beschlossen, somit begrifflich fest bestimmt worden sind, nach Wunsch- und nicht nach Realitätskategorien zu interpretieren. So wird zum Beispiel die Frage, ob eine bestimmte Handlung aufgrund von Überlegung oder unmittelbar als Selbstzweck oder zu einem anderen, übergeordneten Zweck vollzogen wurde, nur in wenigen prototypischen Fällen kompetent beantwortet werden können, und zwar gleichgültig, ob es um eine faktische Antwort einer zweiten Person oder um eine Selbstbeobachtung geht. Auf diese Weise muss die Trennung zwischen praktischen und strategisch-teleologischen Handlungen immer eine heikle Angelegenheit bleiben. Selbst aber die Trennung zwischen technischen und teleologischen bzw. praktischen Handlungen kann oft problematisch werden, insbesondere dann, wenn der Gegenstandscharakter des Zweckes fragwürdig ist: Viele Personen empfinden Handlungen aufgrund der Existenz von Verbalnomina als Gegenständlichkeiten, die unter Umständen technisch realisiert werden müssen. Letzteres ist zum Beispiel bei performativen Kunstwerken deutlich. Insbesondere im Fall
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solcher Handlungen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, kann es auch vorkommen, dass der Horizont, in den die Handlung integriert wird, die eigene reflexive Bestimmung der Handlung und daher auch die Handlung selbst, als geistiges Phänomen, sich vielfach verändern. Der Übergang von einer praktischen Handlung in eine technische, von einer technischen in eine teleologische und von diesen wieder zurück in eine praktische, sowie alle anderen möglichen Übergänge zwischen diesen Handlungstypen, kommen, bemerkt oder unbemerkt, häufig vor, und wir werden sehen, dass sie insbesondere im Fall des Sprechens und des Schreibens als komplexer Handlungen von größter Wichtigkeit sind.
3.4 Systemlinguistische und handlungstheoretische Terminologie Den handlungstheoretischen Unterschied zwischen Techne und Praxis ist man in der Geschichte der Sprachwissenschaft immer wieder angegangen: Humboldts Begriffspaar Energaia - Ergon oder Bühlers Sprechhandlung Sprachwerk, sind die bekanntesten Beispiele. Weil man aber versucht hat, einen lediglich handlungstheoretischen Unterschied auf systemlinguistischer Ebene mit dem Vokabular der Systemlinguistik zu fassen, ist man notwendig zu einem schwerwiegenden Problem gelangt: Wie können all die Äußerungen, von denen man empirisch nicht eindeutig entscheiden kann, ob sie praktischer Art oder technische Erzeugnisse seien, in diese in die Systemlinguistik transponierte Terminologie eingeordnet werden? Die zum Beispiel von Koch und Oesterreicher angebotene Lösung ist, dass man die Bühler’schen Größen „Sprachwerk“ und „Sprechhandlung“ als Merkmalkumulationspole zur Einordnung systemlinguistisch betrachteter sprachlicher Äußerungen ansieht, so dass sich auf einer als Kontinuum begriffenen Geraden eine gewisse Nähe zu diesen Begriffen, je nach der Anzahl der von der besprochenen Äußerung erfüllten Merkmalen, ergibt. Die Idee, „Sprachwerk“ und „Sprechhandlung“ als Pole zur Einordnung sprachlicher Äußerungen zu begreifen, basiert allerdings auf zwei Kategorienfehlern. 3.4.1 Der erste Kategorienfehler Der erste symptomatische Grund dieser Idee besteht im Wesentlichen darin zu übersehen, dass die Unterscheidung, teils wie wir sie aufgrund handlungstheoretischer Überlegungen vollzogen haben, teils wie sie bei Karl Bühler in inzwischen klassisch gewordener Form vorliegt, die Frage
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nach dem Wesen der Sprache berührt, welches zwischen den Größen Handlung, Gegenständlichkeit und abstraktes Regelsystem gesucht werden muss. Die Unterscheidung zwischen dem Sprachwerk, als Ergebnis der Anlage nach technischer Handlungen, und der Sprechhandlung, als praktischer sprachlicher Tätigkeit, dient im Wesentlichen gerade der Lösung bzw. der Erörterung dieser schwierigen sprachtheoretischen Probleme. Es geht also bei dieser Unterscheidung um zwei fundamentale Betrachtungsweisen der Sprache, die einer realen handlungstheoretischen Verschiedenheit entsprechen sollen. Wird jedoch der Unterschied zwischen den beiden Betrachtungsweisen als skalar oder als ein Kontinuum verstanden, so werden die fundamentalen Kategorien der Betrachtung der Sprache zwar im Prinzip akzeptiert, aber faktisch verkommen sie zu textoder soziolinguistischen, statistischen Kategorien, weil sie nicht mehr als Realitäten, sondern als Merkmalsansammlungen gelten, die jedoch – und gerade hier liegt der Kategorienfehler – die betroffene Äußerung in ihrer systematischen/sprachsystematischen Bestimmung betreffen. Das heißt, die skalare Betrachtung setzt das Problem als bereits Entschiedenes voraus, wo doch die Einteilung erst zur Lösung des Problems beitragen müsste. Die Unterscheidung zwischen Sprachwerk und Sprechhandlung betrifft nicht die sprachlichen Äußerungen als solche, noch weniger als systemlinguistisch analysierbare Gegebenheiten, sondern sie ist, streng genommen, nur die Unterscheidung zwischen der Produktion eines Sprachwerks und der Tätigkeit des praktischen (bei Bühler implizit auch empraktischen) Sprechens. Die Unterscheidung wird also auf einer Ebene vollzogen, die zunächst mit der systemlinguistischen Sprachlichkeit wenig zu tun hat, ja vielmehr betrifft die Unterscheidung allererst die Möglichkeit bzw. die Art und Weise der Möglichkeit der Systemlinguistik überhaupt. Andererseits ist auch die Forderung berechtigt, dass eine solche handlungstheoretische Unterscheidung sich auch auf systemlinguistischer Ebene, auf der Oberfläche der Sprache, auf der Ebene grammatischer bzw. lexikalischer Strukturen nachvollziehbar spiegelt. Zur Erkundung dieses Verhältnisses will auch diese Arbeit einiges beitragen. Freilich muss, wenn von einem Kontinuum der Zuordnung sprachlicher Äußerungen zwischen die Pole Sprachwerk und Sprechhandlung auf system- oder soziolinguistischer Ebene die Rede ist, zweierlei an dieser Stelle klargestellt werden: dass eine methodische Reflexion über die Herkunft der systemlinguistischen Merkmale des Sprachwerks bzw. der Sprechhandlung und deren faktischen oder bloß theorieimmanenten Zusammenhang mit der realen/handlungstheoretischen Unterscheidung stattfinden soll; und dass die Tatsache, dass die Zuordnung nur in Form eines Kontinuums gelingt, immer als eine Unzulänglichkeit der Abbildungsfunktion, des theoreti-
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schen linguistischen Verfahrens der Übertragung von realen Eigenschaften der Größen Sprachwerk und Sprechhandlung in Form gewisser Merkmale auf die systemlinguistische Ebene, und nicht als ein wahrhaftiges Kontinuum auf der handlungstheoretischen Ebene betrachtet werden muss. Anders formuliert: Wenn im Rahmen einer Zuordnung gewisse Äußerungen zwischen Sprechhandlung und Sprachwerk geraten, muss davon ausgegangen werden, dass dies einfach daran liegt, dass die auf der Satz-, Wortschatz- oder sonstiger Ebene angegebenen, den Größen Sprechhandlung und Sprachwerk entsprechenden bzw. als entsprechend angenommenen Merkmale nicht fähig sind, den radikalen Unterschied zwischen den beiden auf ihre eigene (systemlinguistische) Ebene zu transponieren. So wird das auf der handlungstheoretischen Ebene radikal Verschiedene aufgrund von Schwierigkeiten der Übersetzung einer handlungstheoretischen Terminologie in eine systemlinguistische zu einer Frage von Mehr oder Weniger. Dass dabei diese Schwierigkeiten im Wesentlichen nicht (nur) menschlichem, wissenschaftlichem Versagen zuzuschreiben sind, kommt daher, dass die Übersetzbarkeit schon deshalb müßig sein muss, weil die Idee der Systemlinguistik überhaupt eine solche (teleologische) Einheitlichkeit der Sprache voraussetzt, die gerade durch die handlungstheoretische Unterscheidung thematisiert bzw. hinterfragt wird. Eine solche Übersetzbarkeit setzt die Einbettung der Idee der Systemlinguistik in die gegebenen handlungstheoretischen Grundlagen der Betrachtung der Sprache überhaupt voraus. Falsche Abstraktion
Sprachwerke Sprachwerke
richtige Abstraktion Sprachwerke Sprachwerke
Nicht zu entscheiden B Nicht zu entscheiden A
Sprechhand lungen
Systemlinguistik B
Sprechhand lungen
Systemlinguistik A
Sprechhand lungen
Handlungstheoret ische Ebene
Sprechhand lungen
Anwendung handlungstheoreti scher Begriffe auf die Realität
Abb. 9: Abstraktionsleistungen: Handlungstheorie/Systemlinguistik7
_____________ 7
„Nicht zu entscheiden A“ = Aufgrund Informationsmangels nicht zu entscheiden. „Nicht zu entscheiden B“ = Aufgrund fehlender Information und aufgrund der Mängel der Übersetzungsfunktion in eine systemlinguistische Terminologie nicht zu entscheiden.
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Wir sehen in Abb. 9, dass die handlungstheoretische Unterscheidung der (ihren eigenen Begriffen entsprechenden) Realität nicht ganz gerecht werden kann, weil ihre Begriffe weitgehend subjektive Informationen voraussetzen. Die handlungstheoretische Unterscheidung verschleiert aber nichts von der Realität. Auf der Ebene der Systemlinguistik bedarf es einer Abstraktionsleistung, um handlungstheoretische Kategorien überhaupt erfassen zu können. Die richtige Abstraktion wird zwar den Tatsachen noch weniger gerecht als die handlungstheoretische Unterscheidung selbst, verschleiert aber zumindest ihre eigenen Grenzen nicht. Die falsche Abstraktion verschleiert indessen die fundamentale, begriffliche Trennung, die ihr zugrunde liegt. Auf einer wiederum anderen Ebene kann dieser Kategorienfehler als die Anwendung von Produktionskategorien in einem Bereich, der schlechthin mit Rezeptionskategorien bearbeitet wird (und werden muss), bestimmt werden. Sprechhandlung und Sprachwerkproduktion sind jeweils Kategorien der Sprachproduktion, verschwinden aber in der Unmittelbarkeit des Vernehmens von Sprache: Die Sprache wird weitgehend auf dieselbe Weise vernommen, unabhängig davon, auf welche Weise bzw. mit welchen Zwecken usf. sie als Handlung bzw. als Ergebnis einer Handlung entstanden ist. Die systemlinguistische Einordnung ist aber eine Frage der Einordnung von vernommenen, rezipierten Äußerungen, aus welchem Umstand unter anderem folgende Schwierigkeiten entstehen: Vereinfachungen, die Vermengung rezeptionstheoretischer und produktionstheoretischer Kategorien, so wie die gleichzeitige implizite (und meist fehlerhafte) Annahme eines tieferen Wissens über die Umstände der Produktion usf. Sie können als die Hauptgründe dessen angesehen werden, dass die Zugehörigkeit einer Äußerung zur Kategorie der Praxis bzw. der Techne oft nicht durch Beobachtung bestimmt werden kann. 3.4.2 Der zweite Kategorienfehler Die zweite Fehlerquelle ist in der Handlungstheorie selbst beheimatet, kann jedoch nur in Verbindung mit der ersten die Idee einer skalaren oder stetigen Einordnung von Äußerungen zwischen die Pole Sprechhandlung und Sprachwerk bewirken. Handlungen sind in der Regel handlungstheoretisch weitgehend instabil. Dies gilt für sprachliche Handlungen auf besondere Weise. Es kann sein, dass jemand ein einfaches, unmittelbares Gespräch führt und dabei ständig zwischen teleologischem Sprachgebrauch, technischer Verfertigung besonders interessanter, stilistisch hochwertiger Sätze und natürlichem, weitgehend praktischem Sprechen wechselt. Nun wird, wenn wir
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die Einheit des Gesprächs festhalten wollen, das Gespräch nach irgendeinem Algorithmus irgendwo zwischen die entsprechenden Pole eingeordnet. Wir können stattdessen aber auch die einzelnen Äußerungen bezüglich ihrer Zugehörigkeit zu den einzelnen Handlungstypen untersuchen und ihre Mischung nur als Mischung, nicht aber als Einheit betrachten. Eine solche Mischung kann z.B. auf der Satzebene auftreten: Es kann bei der Aussprache oder bei der schriftlichen Formulierung eines einzigen Satzes oder auch nur eines Nebensatzes vorkommen, dass dabei der ursprünglich praktische Satz zum Beispiel aufgrund einer kleineren, die Reflexion begünstigenden Störung technische Aspekte bekommt. Die Formulierung „technische Aspekte“ enthält freilich bereits den hier aufgezeigten Fehler. Es geht dabei um die Vermischung zweier fundamental unterschiedlicher Handlungen, die manchmal nicht einmal die kleinsten oder elegantesten systemlinguistischen Kategorien verschonen: Ein Satz kann auch dann in eine Reihe unterschiedlicher Handlungen zerfallen, wenn er auf der systemlinguistischen Oberfläche seinen inneren handlungstheoretischen Bruch gar nicht aufweist. Solche systemlinguistischen Einheiten können im Rahmen einer handlungstheoretischen Beschäftigung mit Sprache und/oder Schrift oft als Fehlerquellen dienen: Die unserer Betrachtung zugrunde liegende Einheit ist nicht der Satz, nicht das Wort, sondern die einzelne sprachliche Handlung, die immer in einer Handlungskette neben anderen möglicherweise fundamental unterschiedlichen sprachlichen Handlungen steht. Ihre Berührungsgrenze kann unter Umständen selbst die Einheit des einzelnen Wortes sprengen. Handlungseinheiten
technische technische Handlung Handlung Systemeinheit
technische Handlung
Praktische Handlung?
Übergangszone?
technische Handlung?
Abb. 10: Die Aporie der Systemlinguistik
Nun ist der Rezipient von Sprache oft nicht in der Lage, solche handlungstheoretischen Brüche und Grenzen im Sprachverhalten seines Gegenübers festzustellen, obwohl sie oft dazu angelegt sind, bemerkt zu werden. Zudem ist der Rezipient aus erkenntnistheoretischen Gründen dazu geneigt, Einheiten zu synthetisieren, anstatt eine Mischung als Mischung von Unterschiedlichem zu erkennen. Die Einheiten, die in dieser Situation – auch in der alltäglichen Intuition – synthetisiert werden, be-
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günstigen grundsätzlich die Idee eines Kontinuums. Man wird sagen: A spricht so, als würde er seine Sätze konstruieren, B spricht ganz natürlich, C aber spricht weniger natürlich als B, jedoch nicht so extrem wie A. Statt Personen kann man Gesprächstypen nehmen: Auf diese Weise ergibt sich im Wesentlichen eine solche Einordnung, wie wir sie im Ansatz Kochs und Oesterreichers bereits gesehen haben. Das Entscheidende in diesem Fall ist aber, wie das auch Abb. 10 verdeutlichen soll, dass die handlungstheoretische Unterscheidung zwischen Sprachwerk und Sprechhandlung sich nicht auf Systemgrößen bezieht: Innerhalb eines Textes, eines Satzes oder eines Wortes können sich mehrere Handlungen, die unter Umständen zu unterschiedlichen Handlungstypen gehören, verbergen. Diese aufgrund der systematischen Einheit des Textes, des Satzes oder des Wortes zu übersehen, ist ein oft unvermeidlicher Kategorienfehler. Er bewirkt, dass man die Systemeinheit, den handlungstheoretischen Unterschied verwischend, in der Übergangszone platziert. * Wir verwerfen also die Idee, dass die Größen Sprachwerk und Sprechhandlung bzw. technische und praktische Sprachhandlung sich als Pole zur Einordnung systemlinguistischer Einheiten eignen. Stattdessen beharren wir auf einer sorgfältigen Trennung unterschiedlicher Handlungstypen und auf der Beobachtung ihrer Besonderheiten. Dies muss jenseits der Systemebene erfolgen, so dass die unterschiedlichen Handlungstypen, die sich innerhalb systemlinguistischer Einheiten, wie Text oder Satz, mischen können, nicht mehr als problematisch empfunden werden. Die Rückwirkung dieser Handlungstypen und deren Mischungen auf das System Einzelsprache muss in einem zweiten Schritt untersucht werden. Dies wird im Kapitel „Schriftliche und mündliche Sprache“ geschehen, und wir werden ebenda der Notwendigkeit, die in vielfacher Hinsicht essentielle Größe Einzelsprache zu berücksichtigen, Rechnung tragen. 3.4.3 Mikro- und Makroperspektive Bei der Anwendung der herausgearbeiteten handlungstheoretischen Kategorien auf die Sprache und auf die Schrift müssen wir zwischen einer Mikro- und einer Makroperspektive unterscheiden: Die Makroperspektive bestimmt die grundlegende Betrachtungskategorie einer Handlungskette, während die Mikroperspektive insbesondere dem Phänomen der punktuellen Abweichung gerecht wird. Ein einfaches Beispiel dürfte das Problem
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verdeutlichen. Wenn wir einen Romantext betrachten, müssen wir auf der Makroperspektive unter normalen Umständen von einer technischen Handlung, von einer sorgfältigen Elaboration, ausgehen, und wir können die Handlungskette grundsätzlich als die technische Produktion eines Sprachwerks bestimmen. Allerdings kann es während dieser Produktion vielfach vorkommen, dass der Schreiber gewisse sprachlich-schriftliche Handlungen unmittelbar vollzogen hat, streckenweise die Werkperspektive aus dem Blick verloren hat und genau so erzählt, als säße er mit einem befreundeten Zuhörer in einem Café. Die Mikroperspektive kann weder in Widerspruch zur Makroperspektive stehen noch einen höheren Realitätsgrad oder eine größere Nähe zur Empirie als diese aufweisen. Es ist nicht so, dass die Makroperspektive, die Rahmenhandlung, als technischer oder praktischer Rahmen, ein theoretisches Konstrukt wäre, in dem eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungstypen stattfinden könne, so dass sie eine Art Abstraktionshilfe in Anbetracht der Mischung praktischer und technischer Handlungen wäre. Wenn im Rahmen einer grundsätzlich technischen Handlungskette plötzlich eine praktische Handlung auftaucht, kann sie entweder die Makroperspektive sprengen, indem sie als subjektive Neuinterpretation der Handlungskette verstanden wird, oder aber als praktische Handlung in den makroperspektivischen Rahmen integriert werden. Nur in diesem letzten Fall kann der Begriff der Mikroperspektive zur Geltung kommen. So zum Beispiel kann inmitten eines praktischen Gesprächs ein momentaner Umschlag stattfinden, so dass ein Satz auf jene spezifische Weise betont wird, als wäre er ein vollendetes Sprachwerk. Dadurch entsteht keine dichotomische Struktur: praktische Handlung in der Makroperspektive vs. Mischung in der Mikroperspektive, sondern durch die Betonung dieses Satzes ändert sich auch die Makroperspektive, und die praktische Handlung geht, zumindest für eine Zeit, in eine technische über. Die Rede von einer Mikroperspektive setzt voraus, dass die auf dieser Ebene betrachtete Handlung in die Rahmenhandlungskette integriert werden könne. Sodann ist die mikroperspektivische Handlung als Teilhandlung zugleich auch die Rahmenhandlung für weitere, mikroperspektivisch integrierte Handlungen.
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3.4.4 Reinterpretationen Es ist in der Vorrede zum ersten Teil gesagt worden, daß ich die Schriftstellerei in unsern Zeiten für nichts mehr als für schriftliche Unterredung mit der Lesewelt halte und daß man es dann im freundschaftlichen Gespräche so genau nicht nehmen dürfe, wenn auch einmal ein unnützes Wort mit unterliefe. Man soll es also dem Schriftsteller nicht übel ausdeuten, wenn er, verführt von ein wenig Geschwätzigkeit, von der Begierde, über irgendeine Materie allerlei Arten von Menschen seine Gedanken mitzuteilen, etwas drucken läßt, daß nicht grade die Quintessenz von Weisheit, Witz, Scharfsinn und Gelehrsamkeit enthält. (Knigge 1977: 401)
Mit Hilfe des obigen Zitats lässt sich das Problem der Reinterpretation verdeutlichen: Diese ist eine zur Unterscheidung zwischen einer Mikround einer Makroperspektive alternative Betrachtungsmöglichkeit des Phänomens der Mischung technischer und praktischer Sprachhandlungen innerhalb systemlinguistisch relevanter Einheiten. Während des Schreibprozesses werden die Handlungen, die zur Produktion eines Buches gehören, auf der Ebene der Sprachproduktion unter Umständen etliche Male handlungstypologisch reinterpretiert. Es wird zum Beispiel mit einem Titel und mit einer Widmung begonnen, die als Strukturelemente des Werks technischen Produktionsabsichten entsprechen, dann aber geht man zu einer Unterredung mit dem Leser über, in deren Verlauf sich der Schriftsteller zu den unterschiedlichsten Äußerungen hinreißen lässt, indem er nicht mehr an die Einheit des Werkes denkt. Zugleich aber kommt es immer wieder vor, dass er sich der eigentlichen Rahmenhandlung besinnt, und so wird aus dem praktischen Erzählen einer Anekdote unter Umständen das technische Beimischen derselben. Dabei kann es sich aber natürlich auch um eine Integration auf der Mikroebene statt einer Reinterpretation handeln. Im Fall eines Angriffs auf vorherrschende Meinungen zum Beispiel, ist eine solche Integration unter Umständen eindeutiger als Reinterpretation der eigenen Handlung zu erkennen: Aus einer mehr oder weniger spontanen Hasstirade wird ein Exkurs, eine Fußnote, usf., wie dies zum Beispiel in einigen Schriften Schopenhauers bestens zu beobachten ist. Solche Reinterpretationen geschehen nicht nur auf der Textebene, sondern auch auf niedrigeren Stufen: Kapitel, Satz, Wort usf. Ein Satz, der spontan im Zug einer praktischen Teilhandlung des Verfassens eines Buches entsteht, kann als Handlung reinterpretiert und durch grammatikalische Umwandlung als neue Handlung in ein Satzgefüge integriert werden; so kann aus einem einzelnen Satz ein Satzgefüge vom Umfang einer halben Seite, ein Satzkoloss werden, der sorgfältig und im Rahmen mehrerer Korrekturdurchgänge weiter und weiter ausgefeilt wird. Die Korrektur ist im Übrigen die häufigste Ursache solcher textueller Reinterpretationen in
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der Schrift – eine Besonderheit derselben im Vergleich zur mündlichen Rede ist sie aber nicht bzw. nicht immer, da auch in der mündlichen Rede der Nachklang der eigenen Worte vernommen wird, und aufgrund dessen oft Korrekturen vorgenommen werden. Dass diese Korrekturen das zu Korrigierende nicht ersetzen, sondern nachgetragen werden, zeigt umso deutlicher, wie das bereits Gesagte reinterpretiert wird – gerade in der fertigen Schrift ist dasselbe am schwersten zu beobachten. Die Reinterpretation ist immer eine implizite Reinterpretation der Rahmenhandlung. Das heißt, wenn ich inmitten der Produktion eines Sprachwerks in praktische Sprachhandlungen übergehe, dann geschieht dadurch eine implizite Reinterpretation meiner Rahmenhandlung: Ich vergesse zum Beispiel, dass ich eine Novelle schreibe, und erzähle – schriftlich – eine Geschichte. Zugleich aber wird dieses praktische Erzählen in jedem einzelnen Fall, in dem ich meine Sätze technisch zusammenbaue, selbst reinterpretiert und in eine Werkherstellungshandlung umgewandelt. Wenn ich stattdessen dasselbe Erzählen mehr oder weniger bewusst als Teil bzw. als stilistisches Mittel in der Herstellung meines Werkes einsetze, so geht es hier um eine praktische Handlung auf der Mikroebene, im Gegensatz zur technischen Handlung auf der Makroebene.
4 Urteil und Form Die Sprache ist nicht Ausdruck eines fertigen Gedankens. Wenn sich das Denken in Sprechen verwandelt, strukturiert es sich um und verändert sich. Das Denken wird im Wort nicht ausgedrückt, sondern erfolgt im Wort. (Wygotski)
In diesem Kapitel wird der handlungstheoretische Unterschied zwischen technischen und praktischen Handlungen auf die Sprache konkret angewandt. Dabei entsteht eine neue handlungstheoretische Terminologie der Sprachbetrachtung, die es uns erlaubt, den besagten Unterschied in genuin die Sprache betreffenden Kategorien festzuhalten: praktische Sprache als Einheit und technische als Trennung zwischen dem Urteil als Basishandlung der Sprachlichkeit überhaupt und dessen Form. So wird die Basis einer handlungstheoretischen Beschäftigung mit der technischen Sprache und mithin einer handlungstheoretischen Analyse der Schrift als deren Absetzung von der mündlichen Sprache geschaffen, welche Gegenstand des nächsten Kapitels sein wird.
4.1 Der Weg zur Syntax Wir setzen in diesem Kapitel am Ursprung der Sprache an, ein Thema, das seit der Gründung der Societé de Linguistique de Paris 1865 bis tief in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts so gut wie verboten war, jedenfalls aber streng gemieden wurde und erst in den letzten Jahrzehnten wieder vorsichtig angegangen wird. Aus der Betrachtung dessen, was über ihren Ursprung gesagt wird, ergeben sich entscheidende Erkenntnisse über das, was für das Wesen der Sprache gehalten wird. Wer eine Geschichte erzählt, an deren Ende die Sprache entstehen soll, muss zu genau jenem Gegenstand hinführen, den er aus der Komplexität der realen Sprachen und des Sprechens als das entscheidende Moment der Sprache bzw. der Sprachlichkeit identifiziert hat. Die Geschichten über den Ursprung der Sprache sind deshalb instruktiv, weil sie über den Ursprung der Sprache als etwas sprechen, und hierdurch die Frage in den Raum werfen, ob und inwiefern die Sprache tatsächlich als dieses oder jenes begriffen werden kann.
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Herausragend in diesem Sinne ist die logische Konstruktion in Rudi Kellers Beitrag: „Sprachwandel“ aus dem Jahr 1990.1 4.1.1 Das Märchen vom Ursprung der Sprache Wir beginnen mit einer summarischen Nacherzählung des Märchens, mit dem Keller die Entstehung der Sprache überhaupt, der Bedingung der Sprachlichkeit zu veranschaulichen versucht. Gegeben ist eine Horde von Affenmenschen, die zwar in einer bestimmten Weise kommunizieren, freilich nicht in einem heute geläufigen Sinne des Wortes: Ihre Laute sind „der natürliche Ausdruck innerer Ereignisse; Symptome des Gefühllebens, unserem Angstschweiß vergleichbar, oder dem Lachen, Weinen oder Erröten“ (Keller 1994: 38). Unter ihnen befindet sich ein körperlich benachteiligtes Exemplar, das insbesondere durch Ängstlichkeit auffällt und Karlheinz genannt wird. Im ersten Schritt der Geschichte ereignet es sich, dass Karlheinz aufgrund einer Sinnestäuschung während des gemeinsamen Verzehrs einer Beute, von der er aufgrund seiner körperlichen Benachteiligung nur wenig abzubekommen in der Lage ist, einen Angstschrei produziert, als Ergebnis dessen alle Mitglieder der Horde fliehen und er, der von der Unmittelbarkeit der scheinbaren Gefahr gelähmt ist, mit dem Fressen allein bleibt, welches er nun allein verzehren kann, sobald er entdeckt, dass die Gefahr nicht real ist. Im zweiten Schritt wiederholt Karlheinz seinen Angstschrei willentlich, da er aus dem zufälligen Ereignis gelernt hat: Das Ergebnis ist wiederum, dass die Horde flüchtet und er mit dem Fressen allein bleibt. Im dritten Schritt lernt der Rest der Horde den Trick aufgrund häufiger Wiederholung des Karlheinz, und die Schwächeren beginnen allesamt denselben Angstschrei auszustoßen, um damit auf die besagte Weise Vorteile zu erlangen, wodurch jedoch die Wirkung des Angstschreis nachlässt; die Mitglieder der Horde hören auf, auf den Angstschrei mechanisch zu reagieren, und beginnen die Situation vor ihrer triebhaften Flucht zuerst zu prüfen. Im vierten Schritt ereignet sich nun das Entscheidende: Ein führendes Mitglied der Horde produziert denselben Angstschrei wie die schwachen Affen mit der Absicht, dass diese verstehen, dass sie verschwinden sollen. Der Angstschrei dieses Affen ist nun nicht bemüht, echt zu klingen, damit seine Wirkung mechanisch wird, sondern er ist absichtlich schlecht artikuliert, da er als Imitation des Angstschreis erkenntlich werden soll: Es soll klar werden, dass der führende Affe nicht _____________ 1
Dieser Betrachtung wird die zweite, überarbeitete Auflage des Buches aus dem Jahr 1994 zugrunde gelegt.
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aus Angst schreit, sondern nur damit die anderen verschwinden. Der logische Grund, anzunehmen, dass die anderen seinen Schrei verstehen, ist insofern gegeben, als dass die Intention, die mit diesem Schrei verbunden war, allgemein bekannt ist. Keller schließt sein Märchen folgendermaßen ab: Es musste deutlich sein, dass der Schrei nicht Reflex seiner Angst, sondern Ausdruck seines Willens war. Der Schrei des Bonzen war die erste kommunikative Handlung, die je vollzogen war; die erste Äußerung, die im vollen Sinn des Wortes ein Fall von Kommunikation war. Zugegeben, vom Schrei des Bonzen bis zur Regierungserklärung eines Bundeskanzlers war noch ein weiter Weg. Aber das schwierigste Stück war geschafft. (Keller 1994: 42)
Keller stellt klar, dass dieses Märchen nicht als historische, sondern als bloß philosophische Rekonstruktion zu gelten hat. Es geht ihm nicht darum, eine wahre Geschichte zu erzählen, sondern eine, von der es „nicht ausgeschlossen ist, dass“ (S. 43) sie wahr wäre. Es geht hier um die Rekonstruktion einer Logik der Abfolge der Schritte der Sprachentstehung, die, wie Keller betont, zugleich eine Theorie dessen ist, was wir „Kommunikation im menschlichen Sinne“ (S. 43) zu nennen bereit sind. Voreilig wäre hieraus zu schließen, dass es für Keller dasselbe wäre, eine Sprache zu besitzen und in menschlichem Sinne zu kommunizieren. Vielmehr betont er, dass die Verwendung einer Sprache, die aus konventionellen Zeichen besteht, nur eines der – allerdings das am weitesten verbreitete – Mittel zur Kommunikation ist. Die Kommunikation „im menschlichen Sinne“ ist dabei aufgrund folgenden logischen Schemas definiert: S tut a in der Absicht, (1) H zu der Reaktion r zu bringen, (2) H zu erkennen zu geben, dass S die Absicht (1) verfolgt, und (3) H zu erkennen zu geben, dass S möchte, dass H’s Grund, r zu tun (mindestens zum Teil) darin besteht, dass H die Absicht (1) erkannt hat. Entsprechend stellt der Vollzug von a dann einen Versuch von S dar, mit H zu kommunizieren, wenn er die Absichten (1), (2) und (3) damit zu erfüllen trachtet.2 Sprachlich zu kommunizieren heißt entsprechend, dass a einem (einzelsprachlichen) konventionellen Zeichensystem angehört. Wie aus dem einfachen Zeichen a ein hochkomplexes Zeichen A wird, sprich aus dem Angstschrei die von Keller als Beispiel angebotene Regierungserklärung, ist die Grundfrage, der sich Keller stellen muss. _____________ 2
Vgl. Keller 1994 S. 50.
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4.1.2 Die unsichtbare Hand und die Entstehung der Sprache Wir wenden uns nun einem weiteren (entscheidenden) Kapitel von Kellers Buch zu, in dem er die Frage zu beantworten versucht, ob die Sprache von Menschen gemacht sei. Die Frage ist für Keller von größter systematischer und epistemologischer Bedeutung und dient unter anderem der Klärung des wissenschaftlichen Status der Sprachwissenschaft, im Sinne der Chomsky’schen Überlegung: Wenn Sprachen von Menschen gemacht sind, stehen sie einem theoretischen Zugang offen, der sich von dem der Naturwissenschaften deutlich unterscheidet, wenn hingegen Sprachen nicht von Menschen gemacht sind, so steht – zumindest von dieser Seite – einer Integration der Linguistik in einen naturwissenschaftlichen Rahmen nichts mehr im Wege.3 Chomsky hat Schwierigkeiten, in dieser Frage überhaupt einen Sinn zu finden, verneint sie aber zuletzt eben wegen dieser ihrer vorgeblichen Sinnlosigkeit. Weder ein heutiger Sprecher des Englischen kann das Englische geschaffen haben, noch seine Ururahnen. Sprache soll entsprechend als etwas natürlich Gegebenes aufgefasst werden. Keller wirft Chomsky vor, dass er lediglich wegen seines eigenwilligen Sprachbegriffs der besagten Frage keinen Sinn abzugewinnen vermag. Kellers Argumentation: Chomsky ist der Meinung, dass das, was wir landläufig „eine Sprache“, also beispielsweise „die deutsche Sprache“ nennen, ein abstraktes Phantasma ist, dem erstens keine wirkliche Existenz zukommt, und das zweitens von keinerlei linguistischem Interesse ist. Real und interessant ist ausschließlich die im Gehirn eines Sprechers „repräsentierte“ Individualkompetenz, was Chomsky neuerdings IGrammatik (internalised grammar) nennt. Von der in meinem Kopf befindlichen Repräsentation kann man in der Tat nicht sinnvoll fragen, ob sie vom Menschen gemacht sei oder nicht. Chomsky ignoriert dabei jedoch die Tatsache, dass zwischen meiner Kompetenz in meinem Kopf und „der deutschen Sprache“ im hypostasierten Sinne, im Sinne geltender Konventionen, ein wechselseitiges Beeinflussungsverhältnis besteht; und dass meine Kompetenz in meinem Kopf nur insofern von linguistischem Interesse ist, wenn man von patholinguistischen Fragestellungen absieht, als sie konventionskonform ist. (Keller 1994: 83)
Nun führt Keller die Schwierigkeiten, die die besagte Frage bereitet, nicht so sehr auf das Element „Sprache“, sondern auf eine weitgehend einsichtige Doppeldeutigkeit des Prädikats „vom Menschen gemacht“ zurück. Ein Gegenstand ist nämlich in zweifachem Sinne von Menschen gemacht: wenn er als Ergebnis menschlicher Handlung entsteht, und wenn er aufgrund sie betreffender menschlicher Intentionen als Ergebnis menschlicher Handlung entsteht. Klassisches Beispiel für Ersteres wäre ein Pfad, der sich auf einer Grasflä_____________ 3
Vgl. Chomsky 1980.
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che bildet, wenn viele Menschen an der betreffenden Stelle eine Abkürzung machen, während für Letzteres ein solcher Pfad nur dann als Beispiel dienen könnte, wenn dieselben Menschen die Intention gehabt hätten, diesen Pfad auszutreten. Die Sprache als konventionelles Zeichensystem entsteht nun, laut Keller, auf die erste Weise. Sie ist zwar Ergebnis menschlicher Handlung, nicht aber Ziel menschlicher Handlung. Solche Phänomene nennt man invisible hand-Phänomene. Sie sind für den Bereich der Sozialwissenschaften typisch. Menschen haben individuelle Ziele und handeln nach einer bestimmten Rationalität, mit der sie diese erreichen können. Da aber dieselbe Rationalität viele Menschen zu ähnlichen oder zumindest zu zusammenwirkenden Handlungen veranlasst, ergeben sich Regelmäßigkeiten und sogar physikalisch beobachtbare Gegenstände und Phänomene, die als Ergebnis dieser individuellen Handlungen gelten, jedoch niemandes Absicht spiegeln. Indem nun Menschen in jenem für Menschen typischen Sinne kommunizieren, den wir im vorangehenden Abschnitt kennen gelernt haben, entsteht – unter anderem – das hypostasierte System der Sprache. Wie es entsteht, so verändert es sich auch, ohne dass jemand dieselbe faktisch verändern gewollt hätte. Soweit Kellers Ansatz. 4.1.3 Kommunikation und Syntax Wenn Clemens Knobloch von einem „Streit in der Sprachpsychologie [spricht], ob die Untersuchung des Wortes oder des Satzes Vorrang vor der jeweils anderen haben sollte“ (Knobloch 1994: 96), und dabei darauf aufmerksam macht, dass jene Position, die dem Wort den Vorzug gibt, von diesem, als dem Wygotski’schen Mikrokosmos des Bewusstseins, mit dem das Sprechen im Laufe der Ontogenese beginnt, ausgeht und einen Weg von diesem zum wohlgeformten Satz sowohl im Laufe der Onto- als auch der Phylogenese sucht, während die zweite Position im Wesentlichen auf Chomskys Satzgrammatik fußt und vor allem die topologischen Strukturen der Sätze untersucht, so trifft er den Kern eines viel brisanteren Problems. Vom Wort auszugehen heißt nämlich, weitergedacht, von der Kommunikation auszugehen. Wenn man das Wesen der Sprache bzw. der Sprachlichkeit in der Kommunikation sucht, so ist man dazu genötigt, die Sprache als Mittel zur Erfüllung eines kommunikativen Zwecks, als Zeichen, zu begreifen. Und weil es unmöglich ist, die Zeichennatur eines Zeichensystems vom komplexeren Zeichen her zu verstehen, muss eine jede Theorie, die in der Sprache ein Mittel zur Kommunikation sieht, vom Wort ausgehen und zuletzt selbst die kleineren morphologischen Elemen-
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te, sofern sie bedeutungstragend und nicht nur bedeutungsmodifizierend sind, vom Wort systematisch ableiten, zum Beispiel indem sie diese als ehemals vollwertige und inzwischen zu Formelementen herabgekommene Wörter begreift. Ähnlich muss auch der Satz erst aus Wörtern zusammengesetzt werden. Dies kann nur so geschehen, dass das anfängliche Satzwort – wiederum im Sinne Wygotskis – aufgrund faktischer kommunikativer Verwendung in Verbindung zu anderen Satzwörtern neue Sinnaspekte gewinnt. So viel ist auch am ontogenetischen Spracherwerb in einer bestimmten Weise nachweisbar, und hiermit könnte man diesbezüglich die Akten gleich schließen: Kinder lernen früher Wörter als Sätze, wir haben Grund anzunehmen, dass – wie Keller gezeigt hat – auch der Affenmensch mit Satzwörtern und nicht mit syntaktischen Einheiten angefangen hat, und dass sich die Sprache als Einzelsprache allmählich aufgrund des Effektes der unsichtbaren Hand als Phänomen dritter Art, also als soziale Entität, entwickelt hat, dass entsprechend die Sätze selbst eine Art „Epiphänomen“ der Kommunikation sind; das sich aus derlei Annahmen ergebende theoretische Konstrukt ist in sich weitgehend kohärent. Wir beginnen unsere Analyse mit einem von Knobloch gebrachten Beispiel aus dem Lateinischen, mit dem er gegen die These Aitchinsons argumentiert, dass das eigentlich Sprachliche an den natürlichen Sprachen die Syntax sei, insbesondere in Form der Topologie. Der Satz „Romulus condidit Romam“ könnte im alltäglichen Latein in allen sechs möglichen Wortreihenfolgen vorkommen, ohne dass sich sein Sinn ändert würde. (1) Romulus condidit Romam. (2) Romulus Romam condidit. (3) Condidit Romulus Romam. (4) Condidit Romam Romulus. (5) Romam condidit Romulus. (6) Romam Romulus condidit. Offenbar ist dieses Phänomen dem ähnlich, aufgrund dessen den Schimpansen die Fähigkeit zu strukturabhängigen Operationen abgesprochen wird. Soll es also heißen, fragt Knobloch, dass die Römer zu dergleichen auch unfähig gewesen sein sollen? Oder jedenfalls wegen der viel freieren Wortfolge ihrer Sprache weniger fähig als wir? Gleichzeitig erklärt Knobloch, dass „Syntax [...] erst als semiotische Veranstaltung interessant [wird]. Bloße konventionelle Reihenfolgen sind so wenig interessant wie die Frage, ob einer sich erst die Zähne putzt und dann die Haare kämmt nach dem Aufstehen oder umgekehrt.“ (Knobloch 1994: 98) Die Frage nun, die sich stellen sollte – die aber Knobloch bereits
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als abgehandelt betrachtet – ist, ob es dem Römer tatsächlich so gleichgültig ist, welche der angegebenen sechs Satzformen er wählt, wie den Schimpansen (wobei eine Aussage über die kognitiven Fähigkeiten der Schimpansen höchstens auf einer intuitiven Ebene intendiert ist). Wir sind keine Römer, und wir können keinen Muttersprachler diesbezüglich befragen, wir können aber ein anderes, entsprechendes Beispiel aus dem mir als Muttersprache bekannten Ungarischen nehmen. (7) (8) (9?) (10?) (11) (12)
Romulusz alapította Romát. Romulusz Romát alapította. Alapította Romulusz Romát. Alapította Romát Romulusz. Romát alapította Romulusz. Romát Romulusz alapította.
- SVO - SOV - VSO - VOS - OVS - OSV
Nur zwei dieser jeweils syntaktisch den lateinischen entsprechenden Sätze, nämlich (7) und (12), sind im Ungarischen üblich. Die Sätze (8) und (11) wirken zwar allein stehend absonderlich, (8) ist aber als Antwort auf eine gezielte Frage durchaus denkbar, und Satz (11) würde von einem Muttersprachler als erster (und weitgehend unabhängiger) Hauptsatz in einem zusammengesetzen Satz durchaus geäußert werden. (F8) Mit alapított Romulusz? - Was hat Romulus gegründet? (8) Romulusz Romát alapította. - Romulus hat Rom gegründet. (11a) Romát alapította Romulusz és Triert Augusztusz (alapította). - Rom wurde von Romulus gegründet und Trier (wurde) von Augustus (gegründet). Die Sätze (9) und (10) hingegen sind auf Ungarisch zwar verständlich, aber nicht üblich, falsch, freilich nicht aus rein syntaktischen Gründen. Die syntaktisch gleichwertigen Sätze (9') und (10') sind vollkommen in Ordnung, selbst wenn sie nicht sonderlich oft vorkommen dürften. (9') Kergette a kutya a macskát.
- Der Hund hat die Katze gejagt. (10') Kikiáltotta a forradalmat az elnök. - Der Präsident hat die Revolution ausgerufen.
Damit die Analogie aus dem Ungarischen plausibler scheint, bedarf es einiger Erläuterungen bezüglich der sechs möglichen bzw. unmöglichen
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Sätze. Durch die unterschiedliche Topik der sechs Sätze werden jeweils unterschiedliche Aspekte derselben Proposition betont: (7) Romulus hat Rom gegründet. - neutral (8) Romulus hat Rom gegründet. - und nicht etwa Berlin (9') Der Hund hat die Katze gejagt - Wenn diesem Satz eine weitere Äußerung folgt, betrifft sie notwendig die Art, die Dauer usf. des Jagens, aber unabhängig vom Objekt, vom Gejagten, und vom Ergebnis. Für den Fall „Romulus hat Rom gegründet“ ist diese syntaktische Konstruktion nicht anwendbar, weil „gründen“ im Ungarischen als eine punktuelle Tätigkeit aufgefasst wird, die sich normalerweise aus ihrem Ergebnis definiert, so dass ihre Thematisierung unabhängig vom Ergebnis nicht möglich ist. Wenn diesem Satz keine weitere Äußerung folgt, ist er zwar grammatisch in Ordnung, aber er muss als Zeichen abgebrochenen Gedankens oder abgebrochener Kommunikation verstanden werden. (10') Der Präsident hat die Revolution ausgerufen - Eine Erwartungshaltung entsteht bezüglich des Ausrufens. Dass dabei die Revolution ausgerufen wurde, wird als eine Selbstverständlichkeit mitgeteilt. (11) Romulus hat Rom gegründet - Entscheidend ist, dass dies Rom betrifft, nicht dass Romulus der Akteur, oder dass die Aktion eine Gründung ist. (12) Romulus hat Rom gegründet - und nicht Remus Wir sehen, wenn wir im Ungarischen, einer Sprache, die insbesondere bei SVO Sätzen eine weitgehend freie Wortreihenfolge erlaubt, die Wortreihenfolge variieren, verändert sich durch jede einzelne neue Wortreihenfolge der Sinn des Satzes, ohne dass sich aber der propositionale Gehalt verändern würde. Was sich verändert, ist immer eine so genannte Kontextbedeutung, die Erwartungshaltung in Bezug auf das textuelle Umfeld der Äußerung. Die Proposition bleibt zwar dieselbe, genauso wie auch das Endergebnis des morgendlichen Rituals dasselbe bleibt, ob man zuerst die Zähne putzt und dann die Haare kämmt oder umgekehrt, es kann aber mit der Reihenfolge der Wörter bzw. dieser gewöhnlicher Handlungen
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durchaus ein Sinngehalt verbunden werden, der außerhalb des propositionalen Sinns steckt. Einfacher gesagt: Weil Sprache Handlung ist, ist ihr Wie-Sein als Handlung (bei den Römern und Ungarn ebenso wenig wie bei den Schimpansen), insbesondere die topologische Reihenfolge der Wörter in komplexen sprachlichen Äußerungen, nie gleichgültig; auch dann nicht, wenn die zugrunde liegende Proposition durch die Veränderung der Reihenfolge nicht tangiert wird. Eine Trennung ist daher nötig: Das, was man unter Syntax, insbesondere aber unter der Topologie versteht, ist zum einen eine propositionale Variabilität bzw. Invariabilität, die den propositionalen Gehalt bestimmt, und zum anderen eine innerpropositionale Variabilität oder Invariabilität. Mit dieser Unterscheidung erreichen wir gleichzeitig die Grenze der Reduzierbarkeit der Syntax auf Kommunikationskategorien und auf den Begriff Bedeutung, da sich dieser in einem fundamentalen Sinne innerhalb der syntaktisch-topologischen Ausprägung eines Satzes zu spalten droht. Eine Annäherung von der anderen, von der Seite der generativen Grammatik wird notwendig.
4.2 Syntax als primum datum. Wir werden uns in diesem Kapitel auf das Buch Derek Bickertons „Language and human behavior“ aus dem Jahr 1995 konzentrieren und dadurch einen bisher fehlenden Ansatz berücksichtigen, welcher zur Betrachtung gewisser essentieller Besonderheiten praktischer Sprache nötig ist. Das Buch Bickertons ist ein Angriff auf den Behaviorismus. Er formuliert seine These summarisch folgendermaßen: In this book, I have presented a somewhat controversial thesis: that the emergence of language is the direct and root cause of all those mental characteristics that distinguish us from other creatures, particularly our special kind of intelligence and our special kind of consciousness, which between them generate modes of behavior not merely unknown among other species but utterly remote from anything we can find in other species. (Bickerton 1995: 156)
Eine radikale Umkehrung jeglichen Behaviorismus: Sprache entsteht nicht deshalb, weil wir mit der Zeit so klug geworden sind, dass wir nun sprechen konnten, sondern durch die biologisch-evolutionäre Entstehung der Sprache, so Bickerton, wurden plötzlich so gut wie alle grundlegenden Besonderheiten des menschlichen Verhaltens gerade erst ermöglicht. Beginnen wir mit einem Zitat, das gleichsam das Programm Bickertons verdeutlicht und seine Annäherung an die Sprache gerade von jener Theorie absetzt, die wir im vorigen Kapitel angeschnitten haben:
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The term language has been put to a variety of uses, or misuses. We hear about the language of flowers or body language; people speak of animal language or the language of bees. Because so many people confuse language with communication, pretty well anything that communicates may be called a language. Such usages have contributed to a widespread misunderstanding of the role of language in human behaviour. [...] The second part of the misunderstanding arises because animal communication systems, and all the other things illegitimately described as languages, differ from language in that they can do nothing but communicate. Language has additional capabilities, and subsequent chapters will show some of the ways it is used to store information or carry out thought processes. These by no means exhaust its functions. But one cannot think in body language, or use an animal communication system to store information. (Bickerton 1995: 11f)
Wenn Keller in seiner logischen Rekonstruktion der Entstehung der Sprache diese als zur Kommunikation dienendes Zeichensystem bezeichnete und entsprechend als entscheidenden Trick bei der Entstehung derselben die Entstehung eines kommunikativen Zeichens im Grice’schen Sinne angesehen hat, so wird hier gleich am Anfang des Projekts klargestellt, Sprache und Kommunikation gleichzusetzen, sei ein fundamentaler Fehler. Sprache kann sehr wohl zur Kommunikation dienen und ihre biologisch-evolutionäre Existenz hängt mit der Notwendigkeit der Kommunikation zusammen, allein, in Sprache zu kommunizieren, ist nicht nur ein Sonderfall der Kommunikation, sondern auch etwas fundamental anderes als sonstige Kommunikation. Die Sprache kann nicht auf ihren vorgeblichen kommunikativen Charakter reduziert werden. Die zwei essentiellen Aspekte, in welchen die Sprache nicht nur mehr, sondern etwas fundamental anderes als Kommunikation ist, sind in der Sicht Bickertons das sprachliche Denken und das typische Bewusstsein des Menschen. Wir beginnen mit einer summarischen Darstellung der Argumentation Bickertons in Bezug auf die Probleme des Bewusstseins. Bickerton unterscheidet grundsätzlich zwei Arten von Bewusstseinszuständen/Vorgängen: Jene Ebene des Bewusstseins, die wir mit den Tieren gemeinsam haben, ist im Wesentlichen als Bewusstsein unterschiedlicher Dinge in unserer Umwelt und vielfältiger Reize des eigenen Körpers, usf. zu verstehen. Das Bewusstsein ist auf dieser Ebene eine Art Vermittlung zwischen einem Nervensystem und einer Umwelt und geschieht online, das heißt immer als Reaktion auf etwas. Die zweite Ebene besteht aus dem Bewusstsein des Bewusstseins. Wir sehen nicht nur einen Gegenstand und reagieren auf ihn in irgendeiner Weise, sondern wir wissen zugleich, dass wir diesen Gegenstand sehen. Wenn wir nun annehmen, dass die erste Bewusstseinsebene lediglich aus dem Zusammenwirken zwischen Gehirn und Umwelt, aus kontinuierlicher unmittelbarer Informationsverarbeitung besteht, muss – so Bickerton – für die Entstehung eines Bewusstseins vom Bewusstsein, ein von diesem ständigen Informa-
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tionsfluss zunächst (zumindest logisch) unabhängiger Teil des Gehirns herhalten. Das entsprechende Modell lässt sich in den Worten Marvin Minskys aus dem Jahr 1985 formulieren: „Divide the brain into two parts, A und B. Connect the A-brain’s inputs and outputs to the real world - so it can sense what happens there. But don't connect the B-brain to the outer world at all: instead, connect it so that the A-brain is the B-brain’s world.“ (Minsky 1985) Das Bewusstsein des Bewusstseins wird somit als eine neue, auch biologisch reale Ebene der Repräsentation verstanden: Auf der ersten Ebene wird im Gehirn die Welt repräsentiert, so dass daraus ein Wissen von der Welt entsteht, und auf der zweiten Ebene, wird eben dieses Wissen repräsentiert, so dass ein Wissen von dem Wissen entsteht. Die Frage ist nur, ob diese zweite Ebene der Repräsentation, des Bewusstseins, bereits ein uns bekanntes weitgehend sprachliches Bewusstsein impliziert, oder ob hierzu die Annahme einer weiteren Bewusstseinsebene nötig ist. Bickertons Antwort ist verblüffend einfach: Ein Wesen, das weiß, dass es X weiß, und nicht gleichzeitig mitteilen kann, dass es X weiß, das also über dieses Wissen nicht auch in sprachlicher, kommunizierbarer Form verfügt, ist denkbar, widerspricht aber der Logik der Evolution. Jene Hirnhälfte, die dieses Bewusstsein zweiten Grades ermöglicht, bedeutet eine energetische Belastung für den Organismus, die sich erst „lohnt“, wenn sie auch gewisse Vorteile mit sich bringt, welche sich aber nur aus der Kommunizierbarkeit ergeben können. Ein Wesen, das nur das Bewusstsein des Bewusstseins hätte, nicht aber die Fähigkeit, dasselbe zu kommunizieren, wäre im Gegenzug eher benachteiligt. Bewusstsein von Bewusstsein ist deshalb nur zusammen mit einer Sprache denkbar, die Wissen von Wissen adäquat vermitteln kann. Insofern muss diese zweite Bewusstseinsebene – jedenfalls potentiell – immer sprachlicher Natur sein: Bewusstsein in diesem zweiten, für die Menschen typischen Sinne ist somit nur möglich, wenn gleichzeitig mit ihm auch Sprache vorhanden ist, oder anders: wenn dieses mit Sprachlichkeit verbunden ist. Sprache ist sowohl die Bedingung der Möglichkeit des Bewusstseins auf der besagten zweiten Ebene als auch ihr tragendes Element. * Es gibt zwei alte Fragen der Sprachphilosophie, die uns schon seit Humboldt weitgehende Schwierigkeiten bereiten: a) Ist Denken ohne Sprache möglich? b) Ist die Sprache nur die Bedingung des Denkens oder gleich Denken selbst?
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Bickerton schafft es, diese Fragen auf eine elegante Weise zu umgehen und einfachere zu stellen, die für unsere Zwecke vollkommen ausreichen: c) „The real questions [...] are: Is all thinking the same? Is there a qualitative difference between the thinking of animals and humans? And if there is, could that difference have anything to do with the fact that animals don't have language, while humans do?“ (Bickerton 1995: 22) Auf diese Weise wird dahingestellt, ob es Denken ohne Sprache geben kann oder nicht. Es wird sogar offen gelassen, ob das, was man nonsprachliches-animalisches Denken nennt, mit dessen Hilfe Ratten Labyrinthaufgaben lösen oder Schimpansen bis zu einem gewissen Grad schreiben lernen können,4 auch bei Menschen in nonsprachlicher Form existiert oder existieren kann. Was auch immer der Mensch sonst noch tun mag, es reicht festzuhalten, dass es auch eine bestimmte Art des menschlichen Denkens gibt, welche jenseits der animalischen Fähigkeiten und sprachlicher Natur ist. Letzteres heißt nicht, dass es tatsächlich Denken in einer konkreten Einzelsprache sei, sondern vielmehr ein sprachliches Denken in einem fundamentaleren Sinne des Wortes, wobei einzelsprachliche Realisationen nicht weiter interessant sind. Zwei Gedankenexperimente sollen zunächst die Plausibilität dessen verdeutlichen, dass menschentypische Gedanken nicht erst in einer nonsprachlichen, bildhaften Weise geschehen, wonach sie erst in Worte gekleidet würden. 4.2.1 Die Purpur-Kuh Das erste Gedankenexperiment wurde von Daniel Dennett (1991: 27) übernommen und ist denkbar einfach. Wir wollen uns eine purpurfarbene Kuh vorstellen. Wir nehmen uns Zeit, die Kuh in unserer Vorstellung gründlich zu betrachten. Nun sollen folgende Fragen beantwortet werden: 1. In welche Richtung schaute die Kuh? (Z.B. rechts oder links) 2. War ihr Euter sichtbar? 3. In welcher Position war ihr Schwanz? 4. Welcher Nuance des Purpurs war sie? _____________ 4
Vgl. z.B. Premack 1973.
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Dennett zeigt, dass es kein Zufall ist, dass wir dergleichen Fragen nicht beantworten können, weil wir einfach nicht und nie in Bildern denken. Bilder, bildhafte Vorstellungen sind in unserem Kopf höchstens zu Analysezwecken im Zuge der Wahrnehmung präsent, nicht aber geschieht unsere geistige Tätigkeit in oder mit ihnen. Hätten wir uns einfach eine Kuh vorstellen müssen, so wäre es denkbar gewesen, dass wir uns dabei irgendein für uns prototypisches, womöglich sogar real gesehenes Bild in Erinnerung rufen, so dass wir einige dieser Fragen, je nach der Ausprägung unserer Aufmerksamkeit, zumindest zum Teil hätten beantworten können. Im Fall einer purpurfarbenen Kuh ist dies aber nicht mehr möglich. Was tatsächlich geschieht, ist vielmehr die Verbindung zweier Begriffe: der Purpurheit und der Kuhheit. Dabei kann auf Details unmöglich geachtet werden. Die Vorstellung ist eigentlich eine sprachliche – und wie wir später sehen werden – eine syntaktische. Eine weiß-braune Kuh kann ein Bild sein, eine purpurne aber nicht: Sie ist ein sprachliches Konstrukt, dessen Bildhaftigkeit, so Dennett, nur als Epiphänomen unseres sprachlichen Denkens gelten kann. 4.2.2 Die Katze auf der Matte Das zweite Gedankenexperiment betrifft den Satz: „Die Katze saß auf der Matte“. Gleich dem ersten Fall, gibt es auch hier eine ganze Reihe von Fragen, die man schwer beantworten kann: Welcher Farbe war die Katze? Sah sie fett oder eher mager aus? Welcher Farbe war die Matte? Hatte die Matte ein Muster? Aus welchem Stoff schien sie zu sein? War die Katze mit ihrem ganzen Körper auf der Matte oder überragte ihr Schwanz dieselbe? usf. Natürlich kann es sein, dass man sich als Vorbereitung auf solche Fragen bereits, weil man zum Beispiel aus dem ersten Gedankenexperiment gelernt hat, eine Menge solcher Details vorgestellt hat. Allein in diesem Fall ist das, was wir getan haben, nicht einfach den Satz „die Katze saß auf der Matte“ uns vorgestellt, sondern eine ganze Reihe anderer Sätze hinzugenommen und einzelne Besonderheiten der Katze, der Matte, usf. Vorgestellt zu haben, Besonderheiten, die jedoch allesamt separaten, sprachlich fassbaren, wenngleich nicht notwendig lexikalisierten Gedankenhandlungen entsprechen. Entscheidend ist aber Folgendes: The sentence said „the cat sat on the mat.“ That means that the cat is no longer sitting on the mat. How exactly did your image convey this piece of information? Did the cat sit there a while and then get up and walk away? (This would corr-
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espond to „The cat was sitting on the mat but then got up and walked away.“) Or more likely, the issue of time did not occur to you. Now that it has, how would your image distinguish „The cat sat on the mat“ from „The cat is sitting on the mat“ or „The cat is sitting on the mat“ from „The cat will sit on the mat“? For that matter, how would it distinguish „The cat is sitting on the mat“ from „The mat is lying underneath the cat“? The images are surely identical, but the sentences are not. (Bickerton 1995: 23)
Der Satz „Die Katze saß auf der Matte“ oder der entsprechende englische Satz „The cat sat on the mat“, sind einfach keine Bilder, sondern genuin Sprachliches, Syntaktisches. Die Fähigkeit des Menschen dergleichen zu denken, ist mit einer besonderen und für Menschen typischen Art der Sprachlichkeit verbunden. Der Satz „Keine Katze saß auf der Matte“ sollte diese Frage noch weitergehend klären. * Nun sind es aber genau diesem letzten Satz strukturell ähnliche Besonderheiten des menschlichen Denkens, die dieses fundamental von allen anderen Denktätigkeiten unterscheiden. Wir können negieren, Aktanten, Künftiges und Vergangenes unterscheiden, usf. Dergleichen kann – wie Bickerton verdeutlicht – ohne eine besondere Form der Sprachlichkeit nicht funktionieren: Er nennt sie Syntax. Wir sehen den Kern des Bickerton’schen Ansatzes: Die Besonderheit des Menschen als eines denkenden, intelligenten Wesens besteht nicht darin, dass er Begriffe hat, die in irgendeiner Weise (als Abstraktionen oder als Prototypen) der Welt entsprechen, sondern darin, dass er aufgrund syntaktischer Fähigkeiten in der Lage ist, diese Konzepte auf schlechthin nicht visuelle, sondern fundamental sprachliche Weise zu kombinieren, so dass daraus etwas entsteht, das – im Gegensatz zum empirischen Substrat der Konzepte – nie da gewesen und auch im Hirn selbst nicht bzw. nicht primär in Form von Bildern, von Abbildern der Welt repräsentiert ist. Diese Fähigkeit kann nicht als Epiphänomen des kommunikativen Zeichengebrauchs entstehen. Bickerton akzeptiert zwar die Möglichkeit der Existenz einer so genannten Protosprache, die zur Kommunikation primärer Repräsentationen gedient haben mag, für die Entstehung eines für den Menschen typischen Denkens ist aber ein radikaler Sprung nötig: die Entstehung der Fähigkeit der (syntaktischen) Verbindung von sprachlichen oder sprachartigen Einheiten zu neuen, noch nicht da gewesenen Einheiten. Diese Fähigkeit muss zugleich eine neue, fundamentale Funktion des Gehirns sein und kann als die Grundlage unserer Sprachlichkeit verstanden werden, obwohl dabei noch nicht von Wörtern und Sätzen im einzelsprachlichen Sinn die Rede sein kann.
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Der entscheidende Unterschied zum (behavioristischen) Ansatz Kellers ist somit dieser: Wenn Keller bei der Erklärung des Wesens der Sprache davon ausgeht, dass diese in der Kommunikation besteht und dass die Einzelsprache letztlich als Epiphänomen der rationalen Kommunikation, als eingespieltes Konventionssystem entsteht, so wird hier stattdessen die Möglichkeit der Kommunikation „in einem für Menschen typischen Sinne“ auf die Möglichkeit syntaktischer Sprachlichkeit zurückgeführt. Jene zweite Ebene des Bewusstseins und jene besondere menschliche Art des Denkens, die als Voraussetzungen für die von Keller angebotene Rekonstruktion betrachtet werden müssen, da sie nämlich das zu Kommunizierende allererst als „Etwas“, als „Proposition“ ermöglichen, setzt bereits die Sprache in ihrer syntaktischen Funktionalität voraus.
4.3 Syntax und Syntax Für unsere Zwecke ist es weitgehend irrelevant, den Streit zwischen Keller und Bickerton, zwischen Behavioristen und Chomskyanern, bezüglich des Wesens der Sprache zu entscheiden. Wir halten zwar den Ansatz Bickertons für richtig, können ihm aber in seiner Argumentation nicht vorbehaltlos folgen, insbesondere wenn er als Beispiele für Syntax letztlich immer empirische Beispiele aus Einzelsprachen bringt, die eher auf einer von Keller vorbereiteten Ebene der Sprachwandelbetrachtung zu erklären wären. Desgleichen können wir einem Ansatz, der Sprache als Kommunikation begreift, nicht folgen, weil die Reduktion der Sprache auf Kommunikation sie zugleich auf eine elementare teleologische Betrachtbarkeit reduziert, die uns schlechthin als unzureichend erschienen ist. Beide Ansätze haben aber jeweils einen entscheidenden Punkt, der uns die bereits skizzierte Unterscheidung innerhalb des Begriffs der Syntax ermöglicht: Sprache ist sowohl diese fundamentale „syntaktische“ Funktion, die uns begriffliches Denken, Erkenntnis, usf. eröffnet, als auch jenes Mittel zur Kommunikation, das genau das durch diese syntaktische Funktionalität Ermöglichte mitteilen kann. Dies ist aber keine wirkliche Ambivalenz von „Sprache“, sondern es geht hier um zwei fundamental unterschiedliche Handlungsebenen, die wir beide im Begriff der Syntax vereint vorgelegt bekommen: Das Miteinander-syntaktisch-verbunden-Sein sprachlicher Einheiten setzt zum einen eine kognitive Handlung voraus, zum anderen aber ist es auch eine Frage von Konventionen, von Regeln der Einzelsprache, die sich als Epiphänomene der Kommunikation eingespielt haben dürften. Ersteres ist ein kognitives, Letzteres ein kommunikatives Problem. Den Ansatz zu dieser Unterscheidung lieferte die Diskussion der lateinischen und ungarischen Beispielsätze.
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Bickerton und Keller vereinfachen sich die Lage jeweils dadurch, dass beide die ihnen nicht gelegenen Aspekte ignorieren. Für Bickerton ist es eine Frage der Hirnfunktion, weshalb im Englischen der Satz „John wants someone to work for“ meint, dass John einen Arbeitsgeber sucht, während „John wants someone to work for him“ meint, dass John einen Arbeitsnehmer sucht.5 Diese Frage betrifft aber eine typische Besonderheit der englischen Sprache, deren historisches Gewordensein letztlich gerade mit dem Keller’schen Ansatz zu erklären ist.6 Für Keller hingegen wäre die Frage, wieso eine purpurfarbene Kuh überhaupt als Begriff möglich ist, keine „linguistisch interessante.“ 4.3.1 Propositionaler und junktionaler Sinn Ein Satz hat in zweierlei Hinsichten eine Bedeutung. Zum einen versteckt sich im Satz eine Aussage, eine Proposition, zum anderen wird, wie wir das an den ungarischen Beispielsätzen gesehen haben, im Satz eine Erwartungshaltung bezüglich der textuellen Umgebung erzeugt. Die zwei Bedeutungsebenen sind auf einer syntaktischen oder lexikalischen Ebene nicht ohne weiteres voneinander zu trennen, ihre prinzipielle Trennbarkeit ist aber durch unsere Beispiele gewährleistet: Für die betroffenen ungarischen Sätze galt die morphosyntaktische Seite ihrer Struktur als Grundlage der propositionalen Bedeutung und die topologische als Grundlage der Erzeugung besagter Erwartungshaltung. Wir nennen diese zwei Bedeutungsebenen propositional und junktional. Junktional heißt Letztere, weil sie die Verbindung zur Textumgebung betrifft. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass es hierbei nur um zwei Möglichkeiten, einen beliebigen Satz zu deuten, geht. Die zwei Bedeutungsebenen setzen zwei unterschiedliche Syntaxbegriffe voraus, mit deren Hilfe der Unterschied zwischen den zwei untersuchten Ansätzen/ Sprachbegriffen klar wird. 4.3.2 Der propositionale Sinn und die propositionale Syntax Wenn ein Satz einen propositionalen Sinn hat, besteht dieser in der Verbindung von Begriffen in nichtvisueller Form. Wie wir aus dem Gedankenexperiment von Daniel Dennett gesehen haben, ist die Verbindung _____________ 5 6
Vgl. Bickerton 1995: 34. Die Möglichkeit, dass die Funktionsweise unseres Gehirns die historische Entwicklung der Sprachen beeinflusst, ihr Grenzen zieht und sie in ganz bestimmte Richtungen im Sinne einer UG leitet, ist dadurch nicht ausgeschlossen.
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zwischen „purpurfarben“ und „Kuh“ kein Bild einer purpurfarbenen Kuh, sondern eine konzeptuelle Einheit, die nur als Epiphänomen etwas Bildhaftes hinterlässt. Ist nun aber eine Proposition nicht als visuelle oder strukturell visuelle Verbindung von Konzepten zu verstehen, so muss sie notwendig nicht nur sprachlicher Art, sondern zugleich, und das ist der Kern der These Bickertons, syntaktischer Art sein. Zwei semiotische Einheiten können miteinander nur verbunden (im Unterschied zu „vermischt“ oder „vermengt“) werden, wenn sie in Hinblick auf die Verbindung, aber auch in der entstehenden Einheit, prinzipiell unterscheidbare funktionale Rollen einnehmen. Wie wir diese Rollen nennen und auf welcher Ebene wir sie betrachten, ist zunächst gleichgültig: Im Fall der purpurnen Kuh können wir die Kuh als Substanz und die Farbe als Akzidens, die Kuh als Substantiv und die Farbe als Attribut, die Kuh als Subjekt und die Farbe als Prädikator ansehen, oder ob wir das Verhältnis mit einem Heger’schen Aktantenmodell verdeutlichen. Worauf es zunächst ankommt, ist, dass das Verhältnis der beiden zu verbindenden zueinander eine Art nicht zufälliger Rollenteilung impliziert: Was die Kuh der Farbe ist, das ist die Farbe der Kuh nicht. Die zwei Elemente sind nicht austauschbar. Diese Rollenteilung kann als die Grundlage einer bestimmten Art der Sprachlichkeit angesehen werden, als jene Revolution in der Geschichte der Evolution, die dem Menschen die Besonderheiten, von denen Bickerton spricht, ermöglicht haben dürfte. Es geht dabei um eine fundamental kognitive Fähigkeit zu syntaktischen Operationen. Ob diese Rollen lexikalisch, morphologisch, topologisch oder von Konventionen oder sonstigen Regeln geleitet markiert werden, ist dabei für uns vollkommen gleichgültig. Entscheidend ist nur: Eine solche Rollentrennung ist auf einer konzeptualen Ebene die Bedingung der Möglichkeit eines propositionalen Sinns. Wir nennen diese Fähigkeit die Fähigkeit zur propositionalen Syntax. Diese Art der Syntax als die Gesetzmäßigkeit der Verbindung von Konzepten, einhergehend mit der Zuweisung unterschiedlicher funktionaler Rollen zu diesen Begriffen, hat jedoch nichts mit der Syntax auf der Ebene der Einzelsprache zu tun. Es ist wichtig, diese Syntax als logische Tiefenstruktur der Sprache von der Oberflächensyntax zu unterscheiden, zumal gerade im Rahmen der generativen Grammatik, so wie sie im Gefolge Chomskys betrieben wurde und so wie sie auch bei Bickerton wirkt, diese Trennung nie in dieser Weise durchgezogen wurde. Man hat stattdessen immer versucht, die syntaktischen Grundlagen dieser oder jener empirischsprachlichen Konstruktion zu finden, wo es doch bei dieser Fähigkeit um etwas viel Grundlegenderes geht: um eine basale Fähigkeit, mit semio-
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tischen Entitäten sprachlicher aber nicht unbedingt lexikalisierter oder lexikalischer Art umzugehen. Wir definieren diese propositionalsyntaktische Fähigkeit als die Fähigkeit, ein nicht kommutatives Verhältnis zwischen mentalen Repräsentationen zu erschaffen. Über die konkrete Beschaffenheit dieser Syntax, über ihre Regeln, die Qualitäten der zu verbindenden Einheiten wissen wir wenig. Viel wichtiger aber als die Regeln, als die konkrete Beschaffenheit und deren Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von einzelsprachlichen Kategorien, ist die Grundstruktur: die Möglichkeit der Verbindung sprachlicher Entitäten in einem nicht kommutativen Verhältnis, das zugleich als neue Einheit gilt. Es muss eine Handlung geben, die dies gewährleistet. Diese Handlung kann nicht teleologisch sein, weil der Zweck dieser Verbindungshandlung die Verbindung als Einheit sein müsste. Wenn aber die neue Einheit als Zweck im Geist irgendwie umrissen sein soll, dann ist die Handlung im Prinzip bereits vollzogen. Es muss dabei um eine praktisch betrachtbare Handlung gehen. Sie hat zumindest strukturell nichts mit der Kommunikation zu tun: Dass diese Handlung aber in Kommunikationszusammenhänge eingebettet ist bzw. sein kann, ist evident. Wir gehen davon aus, dass sie ausschließlich in einem kommunikativen Zusammenhang geschieht, obwohl sie von einer lediglich kommunikativen Sprachbetrachtung her nicht ersichtlich, nicht definiert ist, weil diese die Kommunikation und nicht die propositionale Verbindung als basale Handlung des Sprechens begreift. Die fundamentale Handlung der sprachlichen Kommunikation ist stattdessen nicht ein reines Vermitteln semiotischer Entitäten (wie auch sollte ein Satz als semiotische Entität verstanden werden?), sondern eben dieses propositionale Verbinden von semiotischen Entitäten. Insofern wird die propositionale Bedeutung nicht vermittelt, sondern von der propositionalen Handlung getragen. 4.3.3 Der junktionale Sinn und die Syntax einer Einzelsprache Der junktionale Sinn einer sprachlichen Äußerung ist vom propositionalen Sinn weitgehend unabhängig. Er betrifft nicht die Aussage, sondern ihren Kontext, jene Erwartungshaltung, die beim Vernehmen einer solchen Äußerung in Bezug auf das Nachfolgende oder das Vorangegangene entsteht.7 Die Frage ist nur, ob der junktionale Sinn einer sprachlichen Äußerung – ähnlich wie der propositionale – eine bedeutungsverleihende _____________ 7
Natürlich bestimmt in einem gewissen Grad auch der propositionale Sinn einer Äußerung das Nachfolgende, aber dies ist ein thematischer, inhaltlicher und nicht genuin sprachlicher Zusammenhang.
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Handlung voraussetzt oder nicht. Handlungen – welcher Art auch immer – geschehen immer in einem Handlungshorizont, in welchem sie bei der Reflexion über sie zunächst gedeutet werden. Handlungen geschehen nie vereinzelt, sondern implizieren immer eine Vorgänger- und eine Nachfolgehandlung bzw. -handlungskette. Jede Aussage bereitet eine weitere vor und folgt einer anderen, die sie selbst vorbereitet hat. Wenn eine Aussage keine weitere Aussage vorbereitet, so ist die Kommunikation mit ihr prinzipiell beendet. Desgleichen ist nur der Anfangssatz eines Dialogs oder eines Textes nicht von einem vorherigen Satz, sehr wohl aber von einer vorherigen Handlung vorbereitet. Die Vorbereitung aber ist selbst keine spezielle Handlung. Die vorangehende Handlung wird zur Vorbereitung der Folgehandlung nur insofern jene in einem Verhältnis zu dieser steht, durch welches sie in den Kontext integriert wird. Jener Teil der Bedeutung der vorbereitenden Handlung, der genau ihren vorbereitenden Charakter ausmacht, kommt ihr also nicht kraft ihres Handlungscharakters, sondern kraft eben dieses Verhältnisses zu. Der junktionale Sinngehalt gehört wesentlich zu sprachlichen Äußerungen, insofern diese kommunikativen Charakter haben. Das heißt, dass keine besondere bedeutungsverleihende Handlung zur Entstehung eines solchen Sinns nötig ist. Er entsteht automatisch aus der Tatsache, dass kommunikative Handlungen in den Gesamtrahmen der Kommunikation integriert werden – weil aber die kommunikativen Handlungen zugleich wesentlich Zeichennatur haben, muss dieser kommunikativ-junktionale Sinngehalt der kommunikativen Handlungen gleichzeitig grammatisch markiert sein. Diese Markierung, als konventionelles Regelsystem, nennen wir junktionale Syntax. Wir verstehen die junktionale Syntax als eingespieltes Regelsystem, das als Besonderheit der junktionalsyntaktisch markierten kommunikativen Realisierung propositional-syntaktischer Handlungen diesen einen junktionalen Sinn verleiht. Der bereits angeführte Ansatz Kellers ist zur Erklärung der Entstehung dieses Regelsystems der fruchtbarste. Wir kehren daher zur Frage zurück: Wie kommt Keller von dem „Schrei des Bonzen“ als erstem kommunikativem Akt zu einer Regierungserklärung? In Wahrheit bietet Keller hierfür keine plausible Antwort außer der eher allgemeinen Bemerkung, dass – indem kommuniziert wurde – sich feste Konventionen bezüglich der Kommunikation eingespielt haben. Das mag durchaus stufenweise erfolgt sein, das heißt, die einzelnen Elemente dieser Konventionen können durchaus aufeinander aufgebaut sein. Jeder wollte kommunikativ erfolgreich sein und sprach so wie der andere, um dasselbe Ziel zu erreichen. Aufgrund irgendwelcher soziologisch nachforschbaren Rationalitäten kam es allmählich dazu, dass alle nach denselben, nie gesetzlich festgeschriebenen Regeln sprachen. Diese Regeln
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waren das Normale. Das mag der Grund der Verfestigung dieser Regeln zu Normen gewesen sein. Natürlich fehlen im Rahmen einer solchen Explikation wesentliche Bausteine: Welche konkrete Rationalität der kommunikativen Handlung steckt zum Beispiel hinter dem Entstehen der für das Deutsche typischen Wortreihenfolge SVO in Aussagesätzen? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, weil nicht klar ist, ob diese Besonderheit der deutschen Sprache ein soziales Problem sei und sich nicht etwa – nach dem Ansatz der generativen Grammatik – mit Notwendigkeit aus einem Pool an Alternativen vom Gehirn automatisch auswählen lässt. Der Anwendungsbereich des Keller’schen Ansatzes beschränkt sich nur auf die eindeutig junktionale Syntax. Das argumentative Muster Kellers besteht darin, eine gewisse Rationalität für kommunikative Handlungen anzugeben, aufgrund deren, vorausgesetzt, dass viele Personen, Mitglieder der selben Sprach- oder Protosprachgemeinschaft, nach der selben Rationalität handeln, eine gewisse eingespielte Norm entsteht, die nun selbst semiotische Züge erlangt, die über die ursprüngliche Rationalität hinausweist. Nehmen wir als Beispiel die Entstehung der besonderen Betonung dessen, was im geschriebenen Deutsch einem Komma entspricht, im Unterschied zur Betonung dessen, was im geschriebenen Deutsch einem Punkt entspricht. Ein Beispiel für die geforderte Handlungsrationalität könnte sein, dass man durch das Anheben der Betonung vermeiden wollte, dass der Zuhörer einen inmitten seiner Argumentation oder Aufzählung unterbricht. Daraus könnte dann mit der Zeit, weil alle derselben Rationalität folgten, diese (an und für sich willkürliche) Regel der Prosodie entstanden sein. Ähnlich könnte die Umkehrung der Wortfolge in unterschiedlichen Textsituationen auf die besondere Betonung gewisser Aspekte, die später thematisiert werden sollen, zurückgeführt werden. Keller müsste diese oder ähnliche Muster nicht nur für die Entstehung solcher junktionalen Aspekte der Syntax gelten lassen, sondern auf die Entstehung der gesamten Syntax und der gesamten Lexik einer Einzelsprache ausweiten. Weshalb das nur sehr beschränkt möglich ist, werden wir im nächsten Abschnitt sehen. 4.3.4 Syntax einer Einzelsprache Zwei Fragen umreißen unsere Beschäftigung mit der Syntax einer Einzelsprache:
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(1) (2)
Wie verhält sich die Syntax einer Einzelsprache zur propositional-syntaktischen Handlung? Wie verhält sich die Syntax einer Einzelsprache zu den Größen propositionale Syntax und junktionale Syntax?
Die zwei Fragen bilden einen Komplex, der nur als Einheit und gleichzeitig betrachtet werden kann. Wir gehen zunächst davon aus, dass die Syntax einer Einzelsprache aus zwei Regelkomplexen besteht; einerseits aus den Regeln der junktionalen Syntax: Aspekte der Topik, der Prosodie (für geschriebene Sprache: der Interpunktion), Fragen der Textkohäsionsmarker, usf., andererseits aus einem Rest, der für das Verständnis des propositionalen Wertes einer satzartigen sprachlichen Äußerung zuständig ist. Nun ist dieser Rest nicht mit der propositionalen Syntax zu verwechseln. Dieser Rest besteht zwar auch aus Regeln, die weitgehend aus Kategorien der propositionalen Syntax oder aus deren funktionalen Eigenschaften abgeleitet werden können (ohne dass jedoch ein bijektives Verhältnis zwischen den betroffenen Elementen der einzelsprachlichen Syntax und den Elementen der propositionalen Syntax bestehen müsste), aber zugleich auch aus einer Reihe epiphänomenal im Rahmen der Kommunikation entstandenen Regeln. Dabei ist es möglich, dass diese in einer sprachgeschichtlichen Wechselwirkung stehen. Hierdurch ist freilich auch schon das Verhältnis zwischen der einzelsprachlichen Syntax und der propositionalen Handlung gegeben: Die propositionale Handlung kann jene Entstehungsrationalität sein, welche im Rahmen einer invisible hand-Theorie die Entstehung von syntaktischen Regeln auf der Ebene einer Einzelsprache erklärt. Zugleich kann aber die Abhängigkeit gewisser Regeln (aus dem nicht junktionalen Teil der einzelsprachlichen Syntax) von den propositional syntaktischen Regeln auch anderer, unmittelbarerer Art sein. Entscheidend ist aber Folgendes: (1)
(2)
Jener Teil der einzelsprachlichen Syntax, der nicht als junktional gilt, muss als ein polyfaktorielles und polykausales Regelkonglomerat verstanden werden, das weder ausschließlich mit dem Erklärungsansatz der generativen Grammatik noch ausschließlich mit dem Erklärungsansatz der invisible hand-Theorie vollständig zu erklären ist, vielmehr aber als ein Zusammenwirken von Elementen beider theoretischer Ansätze gedacht werden muss. Die Syntax einer Einzelsprache muss in ihrer Gesamtheit als ein Regelsystem für die syntaktische Beschaffenheit von propositionalen Handlungen verstanden werden, teils (den junk-
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tionalen Teil betreffend) insofern diese kommunikative Aspekte haben, teils aber (den restlichen Teil betreffend) insofern diese selbst als Verbindungshandlungen in einer lautlichen Form (zum Teil aber auch mit kommunikativen Aspekten verbunden) geschehen müssen. Natürlich kann es sehr wohl sein, dass Sprechen ohne einen propositionalen Sinn geschieht. Insbesondere die Pragmatik hat eine Reihe solcher Beispiele geliefert. Wenn man jemanden fragt: „Wie geht’s?“ meint man oft, propositional gesehen, gar nichts. Solche Ausdrücke können aber zwar als Wesen der Kommunikation, nicht aber als Wesen der Sprache und Sprachlichkeit gelten. Sprache ist mehr als Kommunikation. Sprache ist zugleich ein Denkakt, die Erschaffung von Propositionen, von mentalen Verbindungen semiotischer Einheiten zu neuen gedanklichen Entitäten, deren Wesen in der sprachlich-propositional-syntaktischen Handlung des Verbindens besteht. Das heißt, wir glauben, dass der Sinn des Satzes: „Die Katze saß auf der Matte“ nicht einmal so sehr in der Proposition als logischem Satz als einer wahrheitsfähigen Verbindung zwischen der Katze und dem Auf-der-Matte-Sitzen besteht, sondern viel eher, dass Letzteres schon eine (zu theoretischen Zwecken ansonsten fruchtbare) Hypostase der tatsächlichen syntaktischen Verbindung der zwei semiotischen Einheiten ist, welche – als Handlung – natürlich keinem Bild (als Bedeutung von semiotischen Einheiten) mehr entsprechen kann. Sprache ist keine kommunikative Handlung mit einem propositionalen Sinn, sondern eine propositionale Handlung mit einem kommunikativen und einem propositionalen Sinn. Die propositionale Handlung hat kommunikative Aspekte. Aus diesen erwächst zum Zwecke der Verständigung eine gewissen Regeln entsprechende, einzelsprachliche Markierung der propositionalen Handlung als deren reine Form, als ihr Wie-Sein (nicht aber als ihr Was-Sein). Wir können auf der Ebene der Einzelsprache als Regelsystem nur diese Form betrachten; der Zugang zu den propositionalen Handlungen selbst bleibt versperrt. Der Grund hiervon ist, dass die Markierungen immer als Markierungen von etwas gedacht werden müssen, so dass die propositionale Handlung als eine logische Proposition, als semantisches Substrat von Sprache hypostasiert werden muss: Aus der propositionalen Handlung, die die eigentliche sprachliche Handlung ist, wird durch diese Hypostase die propositionale Bedeutung der Sprache. Der Unterschied ist entscheidend: Die einzelsprachliche Syntax ist kein Regelsystem für kommunikative Handlungen, sondern sie bestimmt, ähnlich wie wir dies im Fall der junktionalen Syntax gesehen haben, die gewohnten, eingespielten Bahnen, das Wie-Sein propositionaler Handlungen. Sie beinhaltet insofern Regeln der Form propositionaler Handlungen;
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und die Proposition als hypostatische Entität ist nicht die Bedeutung syntaktischen Regeln entsprechender Kommunikationshandlungen. Zugleich aber kann die Sprache (als einzelsprachliches semiotisches System) auch zur Kommunikation verwendet werden, und wenn man die Sprache lediglich als Mittel zur Kommunikation ansieht, so ist daran im Wesentlichen nichts Falsches; für besondere Zwecke ist es sogar das einzig Richtige. 4.3.5 Die Terminologie: Urteil und Form Beginnen wir mit folgenden Definitionen: (a) Wir nennen eine einzelne propositionale Handlung Urteil. (b) Wir nennen die einzelsprachliche Realisierung eines Urteils nach syntaktischen Regeln der Einzelsprache die Form eines Urteils. Die Formulierung „Form eines Urteils“ impliziert eine einzelsprachliche Variabilität der Urteilshandlung. Wir meinen aber nur jene Varianten, die dieselbe propositionale Handlung (den Regeln einer Einzelsprache entsprechend) erkennen lassen. Nehmen wir ein paar Beispiele: (1) Peter kam spät zur Schule. (2) Spät kam Peter zur Schule. (3) Der spät zur Schule gekommene Peter (hat vier Geschwister). Die Sätze (1) und (2) sowie der Halbsatz (3) haben dieselbe propositionale Bedeutung. Allerdings können wir nur von den Sätzen (1) und (2) sagen, dass sie zwei unterschiedliche Formen derselben propositionalen Handlung seien. Es kann sein, dass auch dem Satzanfang (3) genau dieselbe propositionale Handlung zugrunde liegt, aber wir wissen nicht, ob im Sprechakt die Formulierung „der spät zur Schule gekommene Peter“ einer propositionalen Handlung in actu entspricht oder bloß eine durch eine frühere propositionale Handlung entstandene neue semiotische Einheit verwendet wird. Deshalb ist die Aussage, (3) wäre eine Form des den Sätzen (1) und (2) zugrunde liegenden Urteils, nicht ohne weiteres zulässig. Hierdurch unterscheidet sich unsere Sichtweise auch von der gängigen Terminologie Sachverhalt - Sachverhaltsdarstellung. Die Sätze (1) - (3) sind allesamt unterschiedliche sprachliche Realisierungen desselben Sachverhalts, sind also unterschiedliche sprachliche Lösungen derselben Sachverhaltdarstellungsaufgabe: der Darstellung des Sachverhalts, dass Peter spät zur Schule kam. Aber auf einer handlungstheoretischen Basis erweist sich dies als etwas vollkommen Unterschiedliches. Uns geht es nicht um die Bedeutung eines Satzes. Für uns ist die syntaktische Form eines Satzes nicht nur als Signal für den propositionalen Wert desselben wichtig, son-
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dern sie muss als eine Geschehensweise der propositionalen Handlung verstanden werden. Deshalb ist nicht entscheidend, ob zwei Sätze dasselbe bedeuten, sondern ob die zwei Sätze nur zwei unterschiedliche junktionalsyntaktische oder auch allgemeinsyntaktische Realisierungen ein und derselben propositionalen Handlung sind. Formvarianz eines Urteils ergibt sich in der Regel auf der junktionalen Ebene. Wir betrachten zur Verdeutlichung dieses Aspekts ein paar Beispiele: (4) Peter verspätete sich, weil er den Bus verpasst hat. (5) Peter verspätete sich, denn er hat den Bus verpasst. (6) Der Grund dessen, dass sich Peter verspätete, war, dass er den Bus verpasst hat. (7) Peter verspätete sich. Er hat ja den Bus verpasst. (8) Peter verspätete sich. Denn er hat den Bus verpasst. (9) Weil Peter den Bus verpasste, verspätete er sich. (10) Peter hat den Bus verpasst. (11) Peter hat den Bus verpasst, weil er zu spät aufgestanden war. Nehmen wir als propositionale Grundhandlung, die jetzt untersucht werden soll, die Verbindung: „Peter hat den Bus verpasst.“ Wir sehen, dass diese propositionale Handlung in den Sätzen (4) - (11) jeweils konstant bleibt, so dass wir den entstprechenden Teil der Sätze als Formen desselben Urteils begreifen können. Entscheidend ist aber, dass sich an der syntaktischen Realisierung des Urteils in jedem Satz jeweils etwas ändert und zwar jedes Mal nur aufgrund junktionaler Unterschiede. In Sätzen (4) - (9) wird auf jeweils unterschiedliche Weise markiert, dass das Urteil als Grund zu einer Folge fungiert, die – entsprechend – in der textuellen Umgebung erwartet wird. In Satz (10) ist die textuelle Erwartungshaltung auf null reduziert, indem der Satz auf die einfache Form eines wissenschaftlichen Aussagesatzes reduziert wird, und in Satz (11) ist das Urteil zwar als Folge eines anderen Grundes zu verstehen, die junktional-syntaktische Markierung ist prosodisch und betrifft lediglich die notwendige Folge eines wie auch immer gearteten Ergänzungssatzes. Zugleich stehen wir an dieser Stelle vor einer essentiellen Frage: Gehören unterschiedliche Verknüpfungen von Urteilen zum junktionalen Aspekt der betroffenen Sätze? Sind sie nicht vielmehr – da sie mit wahrheitsfähiger Semantik ausgestattet sind und in logischen Propositionsverbindungen formalisiert werden können – selbst Urteile auf einer höheren Ebene? Ist das „weil“ oder das „denn“ nicht selbst ein Urteilsmodus, wie das z.B. auch in Kants Urteilstafel impliziert wird? Es gibt im faktischen Sprechen zweierlei Möglichkeiten der Aussage von Kausal-, Raum- und Zeitverhältnissen: eine, in der ein Satz assertiert wird, und als in einem kommunikativen Zusammenhang sich ergebender Zusatz kausale, zeitliche oder räumliche Ergänzungen geliefert werden,
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und eine andere, in der das zeitliche, räumliche oder Kausalverhältnis selbst assertiert wird. Wenn ich also sage, „Peter verspätete sich, weil er den Bus verpasst hat“, liegt eindeutig keine Assertion des Kausalverhältnisses vor, sondern vielmehr die einfache Assertion des Urteils „Peter verspätete sich“, dem in einem kommunikativen Umfeld, welches bereits prosodisch durch die Intonation des ersten Satzes markiert war, ganz einfach in einem bestimmten junktionalen Sinn das nächste Urteil „Peter hat den Bus verpasst“ auf junktionalsyntaktische Weise folgt. Der Zusatz „denn er hat den Bus verpasst“ wäre eine andere junktionalsyntaktische Fügung, ohne dass sich dabei auch nur das Geringste im Urteil verändert hätte. Gleichzeitig kann jedoch auch das Verhältnis selbst assertiert werden: In diesem Fall kann unser Satz (6) als Beispiel dienen. Wir sehen aber, dass hierzu ein eigenständiges Urteil, das das Kausalverhältnis zwischen zwei Sachverhalten und nicht zwischen zwei Urteilen assertiert, nötig ist.
4.4 Die Einheit von Urteil und Form in der Praxis Das praktische Sprechen bzw. Schreiben ist spontanes Sprechen bzw. Schreiben, in dem die sprachliche, die Form betreffende Realisierung eines Urteils lediglich als die Wiederholung gewisser eingeübter, eingespielter sprachlicher Handlungsbahnen begriffen werden kann. Das Urteil selbst ist immer praktisch: Dies folgt aus der Tatsache, dass die propositionale Handlung, aus der ein Urteil besteht, nur kausal-praktisch, nicht aber teleologisch (oder technisch) betrachtet werden kann. Zudem ist in den obigen Ausführungen klar geworden, dass die Form eines Urteils nicht selbst eine Handlung, sondern einfach die Beschaffenheit der Urteilshandlung in ihrer sprachlichen Realisierung ist. Das heißt, die Form eines Urteils ist die natürliche einzelsprachliche Ausführung desselben, das einzelsprachliche Wie-Sein der Urteilshandlung. Wir können den Unterschied zwischen technischer und praktischer Sprache aufgrund unserer Unterscheidung zwischen Urteil und Form nun auch folgendermaßen begreifen: Im Fall praktischer Sprachhandlungen ist eine untrennbare Handlungseinheit von Urteil und Form gegeben, während im Fall technischer Sprachhandlungen das Urteil und die die Form betreffenden Regeln aufhören in einer unmittelbaren Einheit zusammenzuwirken und beide jeweils Bausteine einer sprachlichen Werkproduktion werden. Betrachten wir als Beispiel für die Einheit des Urteils und der Form in der Praxis den Fall der Attributivkonstruktionen. These: In praktischen Sprachhandlungen können keine Attribute einem (aktiven) Satzsubjekt oder -objekt zugewiesen werden, ohne dass dies entweder als explizite
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(prosodisch entsprechend markierte) Prädikation, als distinktive Bezugnahme (Nomination) oder als Gewohnheitsbenennung geschehen würde. Wir lesen zunächst eine Passage aus dem vielfach zitierten Buch Derek Bickertons: while language utterances are potencially infinite in length, protolanguage utterances are restricted to a few syllables. Nor is this restriction a fortuitous one. Any unit of language can be expanded indefinitely: from dogs we can proceed to big dogs, hence to very big dogs, hence to very big brown dogs, hence to very big brown dogs with long hair, hence to very big brown dogs with long hair that bark loudly and so on, indefinitely. Similarly, a sentence like Mary knows Bill can be expanded into John thinks that Mary knows Bill, and Sue believes that John thinks that Mary knows Bill, and Joe admits that Sue believes that John thinks that Mary knows Bill, and I wonder whether Joe admits..., and so on. The only limit on our ability to continue these embeddings of one phrase or sentence within another lies, not in our mechanism for expanding phrases or sentences (which simply involve infinite recursion), but rather in our ability to process and interpret the products of those mechanisms. (Bickerton 1995: 29)
Zweifelsohne ist es in der Tat so, dass sprachliche Syntagmen potentiell bis zur Unendlichkeit weiterentwickelt werden können und dass hierbei oft rekursive Mechanismen mitwirken – das ist nicht die Entdeckung Bickertons, sondern sowohl eine der Thesen des Strukturalismus als auch eine schon lange allgemein bekannte linguistische Grundwahrheit. Allerdings dürfen zwei unterschiedliche Aspekte nicht verwechselt werden: die Möglichkeit der Entwicklung von Syntagmen wie „sehr große, langhaarige, braune Hunde“ ist eine Systemeigenschaft der Sprache als Regelsystems, die notwendig die Form von Urteilen betrifft; während es etwas vollkommen anderes ist, den Satz: „Sehr große, langhaarige, schwarze Hunde kamen auf mich mit unglaublich großen und hohen Sätzen, laut bellend, mit heraushängenden roten und feuchten Zungen zugerannt“ tatsächlich, in einem praktischen Handlungszusammenhang zu äußern. Betrachten wir folgende einfachen Beispielsätze: (1) Peter streichelt den Hund. (2) Der kluge Peter streichelt den Hund. (3) Peter streichelt den schwarzen Hund. (4) Der kluge Peter streichelt den schwarzen Hund. Nicht nur, dass in einem praktischen Sprech-Prozess so komplexe Sätze wie das obige nicht geäußert werden, sondern selbst relativ einfache Sätze wie (2), (3) und (4) sind im praktischen Sprechen außer unter bestimmten ganz besonderen Umständen undenkbar, weil dadurch die Einheit von Urteil und Form gefährdet wäre. Dass Peter klug ist, ist eine eigenständige Prädikation, ein eigenständiges Urteil, das nicht in ein anderes Urteil integriert werden kann, ohne dass dadurch die Form des zweiten Urteils aufhörte, dem Urteil (als Handlung) zu entsprechen. Der propositionale Wert
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von (2) lautet: Peter ist klug UND Peter streichelt den Hund. Die zwei Propositionen können nicht verschachtelt werden, weil sie unterschiedliche praktische Handlungen sind. Wenn dies dennoch geschieht, liegt kein praktisches Sprechen mehr vor: Die Einheit zwischen Urteil und sprachlicher Form ist nicht mehr gegeben. Wir analysieren die möglichen Ausnahmen für Satz (4). a. „Peter ist klug“, ist in diesem Fall kein eigenständiges Urteil, sondern als „der kluge Peter“ eine Gewohnheitsbenennung für Peter, in etwa wie in Homers „Ilias“ Achilles immer schnellfüßig ist: Es wird damit nicht immer ausgesagt, dass er schnellfüßig ist, vielmehr ist seine Eigenschaft, schnellfüßig zu sein, zu einer Art komplexen Eigennamens geworden: „der schnellfüßige Achilles“. b. Es gibt mehrere Peter und/oder mehrere Hunde. Durch die Attribute wird entsprechend eine Nomination vollzogen. Die Nominationen sind jeweils eigenständige Urteile, werden aber in Form von Attributionen vollzogen: Diese attributive Form ist dann als eine junktionale Integrationsform der besagten Urteile zu verstehen. Dieser Fall ist jedoch mit jenem anderen Fall nicht zu verwechseln, in dem die Attributionen keinen denominativen Charakter haben, sondern lediglich ex post kompilierte Urteile sind. Wenn die Tatsache, dass Peter klug ist, für die Beziehung des Wortes „Peter“ auf die erwünschte Person nicht entscheidend oder zumindest wichtig ist, dann ist das Urteil, dass Peter klug ist, ein vollkommen anderes als jenes, dass er den Hund streichelt, deshalb kann die Verbindung nicht mehr als eine natürlich-praktische und junktional-syntaktische Verbindung zweier Urteile betrachtet werden. Analog dazu lässt sich auch die These formulieren, dass verschachtelte Nebensatzkonstruktionen nur dann in der Praxis möglich sind, wenn die Trennung zwischen Urteil und Form dadurch verhindert wird, dass der Nebensatz ein Element des eigentlichen Urteils nominativ bestimmt, und zugleich so kurz ist, dass er die Rückkehr zum eigentlichen Urteil, zur syntaktisch richtigen Vollendung desselben nicht verhindert.
4.5 Die Trennung zwischen Urteil und Form in der Techne Eine sprachliche Handlung ist technisch, wenn sie entweder als Herstellung eines sprachlichen Gegenstandes (Satz, Text usf.) begriffen oder als Vorführungshandlung gestaltet wird. Im ersten Fall sprechen wir von der
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Produktion von Sprach-Gegenständen, im zweiten von dramaturgisch-technischem Sprachhandeln. Der Unterschied zwischen dem dramaturgisch-technischen Sprachhandeln und der Produktion von Sprach-Gegenständen ist, dass im ersten Fall die Sprachhandlung (als Äußerung einer sprachlichen Einheit) als Produktionshandlung, so dass das Wesentliche das Ergebnis ist, im zweiten Fall aber selbst als das Wesentliche begriffen wird, nur dass sie mit Teilhandlungen bereichert wird, die zur performativen Aufwertung derselben berufen sind. Wir begreifen die dramaturgisch-technische Sprachhandlung als ein dramatisches Werk im Sinne des Aristoteles, das aber nicht als Gegenstand in dem Sinne verstanden werden kann wie ein Buch oder ein Stuhl, sondern als eine als Einheit symbolischer, repräsentativer Handlungen, die jedoch technisch zu einer organischen Einheit zusammengetragen worden sind. Es ist nicht nötig, dass Sprache immer als Gegenstand, als eine Gegenständlichkeit gedacht werde, um Zielobjekt einer technischen Herstellung zu werden. Es kommt in diesem Fall auf die Beschaffenheit der Handlung in einem besonders hohen Maße an. Deshalb wird die Form – jenseits des Vorhandenseins von Urteilen – zur entscheidenden Größe der sprachlichen Handlung. Auf diese Weise wird die Form nicht nur zu einer eigenständigen Handlung, sondern der Vollzug der formverleihenden Handlung wird zum wesentlichen Moment dieser Art technischen Sprechens. Zwar gilt im Fall der dramaturgisch technischen Handlung, dass Form und Urteil grundsätzlich getrennt werden, an der grammatischsyntaktischen Oberfläche der Sprache ist aber eine Unterscheidung zwischen ihr und der praktischen Handlung nur dann möglich, wenn diese Trennung wegen besonderer ästhetischer bzw. normativer Anforderungen eine Loslösung von der unmittelbaren sprachlichen Form bewirkt. Die sprachliche Handlung ist nicht Vollzug, sondern Herstellung von Sprache, wenn das Ziel der technischen Sprachhandlung die Erzeugung eines sprachlichen Gegenstandes ist. Das Entscheidende in diesem Fall ist, dass hierdurch die sprachliche Einheit zwischen Form und Urteil verschwindet. Das Urteil kann nicht mehr unmittelbar in einer bestimmten, sich aus dem integrativen sprachlichen Handlungshorizont ergebenden Form formuliert werden, sondern muss zunächst hypostatisch festgehalten werden, um als Material zur Herstellung eines Sprachwerks eingesetzt werden zu können. Wenn Urteile nicht mehr in ihrer natürlichen Form aneinandergereiht werden, dann werden sie zur Erschaffung eines sprachlichen Gegenstandes (gleichgültig ob Text oder Satz) aufeinander gebaut: Der entstandene sprachliche Gegenstand kann allerdings in seiner Systematik erst im Zuge einer Zergliederung und einer Neuzusammensetzung nachvollzogen werden.
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Der Konstruktcharakter auf diese Weise entstehender Sätze zeigt sich am Beispiel der Attributivkonstruktionen journalistischer Texte: (1) Die geschäftige Hektik Maltas bleibt zurück, das ländliche und beschauliche Gozo empfängt den Gast mit seinem eigenen Charme. (2) Kolumbus begrüßt die Besucher Genuas vor dem Hauptbahnhof – dort hat die Stadt ihrem berühmtesten Sohn ein imposantes Denkmal gesetzt, welches ein guter Ausgangspunkt für einen Rundgang durch die quirlige Altstadt mit ihren engen Gassen, Hinterhöfen und Plätzen ist. Wir sehen in beiden Beispielen eine Überhäufung von Informationen, die allesamt verkappte Urteile sind. Die Information, dass Gozo ländlich ist, ist ebenso ein eigenes Urteil, wie dass es beschaulich ist, dass es einen eigenen Charme hat und dass man das alles am besten als Gast (Reiseempfehlung) genießen kann; sie alle aber erhalten in einer der journalistischen Techne der Reisezielbeschreibung entsprechenden Weise, jeweils ihren genau definierten Ort im Rahmen eines Satzes, den man allerdings in seiner Informationsdichte gar nicht assertieren kann. Assertieren kann man nämlich nur einzelne Urteile. Im Beispiel (2) finden wir eine weitere Besonderheit technischer Sprachproduktion: Die Nebensätze beziehen sich auf Elemente von Hauptsätzen, übernehmen sie aber in einer anderen syntaktischen Funktion: so wird aus dem Satzobjekt „Denkmal“ ein Satzsubjekt („Ausgangspunkt“). Die erwünschte (formale) Herstellungseinheit leitet die Anordnung und die junktionale Form von Urteilen, verschachtelt sie und verwendet sie grundsätzlich als Gegenstände, die man je nach Bedarf in dem Herstellungsgegenstand (in der textuellen Einheit) hin- und herschieben kann. Ein Aspekt ist hierbei allerdings von größter Wichtigkeit: Die Elaboration als Gegenstände gedachter sprachlicher Einheiten erfolgt mit Hilfe von Urteilen, die ihrerseits immer praktische Handlungen bleiben. Sie können Bausteine technischen Handelns nur dann werden, wenn sie durch Hypostase instrumentalisiert werden. Auf diese Weise wird die Einheit zwischen Urteil und Form in der Techne aufgehoben.
5 Technische Sprache Wir wenden uns in diesem Kapitel der technischen Sprache zu, da die unmittelbare Einheit von Urteil und Form in der Praxis diese jeglicher weiteren handlungstheoretischen Analyse, die auf eine Trennung zwischen Schrift und mündlicher Sprache abzielt, unfruchtbar macht. Nur in der technischen Sprache kann der wahre Unterschied zwischen den Besonderheiten schriftlicher und mündlicher Sprachproduktion beobachtet werden, und zwar indem die herausgearbeiteten Beschreibungskategorien der Sprache im Sonderfall der Techne genauer untersucht werden. Doch gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass es gerade die praktische Sprache ist, die uns Einblicke in die Tiefenstruktur der Sprache (so wie sie z.B. die generativen Grammatiker suchen) und in universale Strukturen der mündlichen Sprachlichkeit auf der unmittelbarsten Ebene des menschlichen Denkens ermöglicht. Erfolgt diese Trennung nicht und wird bei der Analyse die technische und die praktische Sprache gleich bewertet (wenngleich die Rolle der technischen Sprache in der Entwicklung der sprachlichen Systeme nicht nur nicht zu leugnen, sondern in einem weiteren Schritt auch zu untersuchen ist), so gerät jede Art von vergleichenden Sprachwissenschaft letztlich in eine strukturelle Sackgasse, aus der statt wissenschaftlicher Redlichkeit und Systematik nur das Genie einmaliger Sprachforscher, wie etwa Wilhelm Humboldt oder Ferdinand de Saussure, Auswege findet, die – und dies ist kein Zufall – aufgrund einer einmaligen Intuition das Verhältnis zwischen Sprache und Schrift (in welchem Verhältnis sie den Unterschied zwischen praktischer und technischer Sprache geahnt haben) zu problematisieren wussten.
5.1 Begriff, Norm und Ästhetik Es muss zunächst zwischen technischen Sprachhandlungen und Handlungsreinterpretationen, im Zuge deren ursprünglich praktische Handlungen zu technischen werden, unterschieden werden. Letztere können entweder die Form dramaturgischer Handlungen oder der Produktion sprachlicher Äußerungen als Gegenstände haben. Entscheidend ist dabei, dass in diesem Fall die Zugehörigkeit einer Äußerung zur Kategorie der Techne nur die nach der Reinterpretation erfolgten Handlungen betrifft,
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und diese Handlungen können – unter Umständen – auf der Ebene der syntaktischen Form des Satzes mehr oder weniger spurlos bleiben, zum Beispiel dann, wenn die Reinterpretation erst zu einem sehr späten Zeitpunkt erfolgt. (1) Ich rief Pablo gestern, als wir in der Küche saßen und den Kaffee tranken, den ich aus Italien mitgebracht hatte, zurück. Die Urteilsstruktur des Beispielsatzes ist linear, insofern müsste der Satz als praktisch angesehen werden können; die scheinbare Verschachtelung der Nebensätze in den Hauptsatz ist nicht als Unterbrechung des Urteils anzusehen, da dieses im Moment des Ansetzens des ersten Nebensatzes bereits vollendet ist. In dem Moment, in dem die syntaktisch-formale Ergänzung des Hauptsatzes nachgeliefert wird, wird deshalb nicht ein Urteil vollzogen oder vollendet, sondern lediglich ein Formelement nachgetragen. Bis zum letzten Komma ist der Satz praktisch; jenes ist der Zeitpunkt der Reinterpretation. Der Satz wird durch das Formelement „zurück“ technisch vollendet. Die Beschreibbarkeit der nun technischen Handlung in Kategorien der Techne ist allerdings nicht möglich: Die eigentliche Produktion wurde bereits vollzogen, der technische Spielraum ist nicht vorhanden. Wir werden solche Fälle technischer Sprachproduktion nicht betrachten, obwohl sie mit Sicherheit zu den interessantesten Phänomenen der Sprachwissenschaft gehören. Eine Beschäftigung mit ihnen wäre umso fruchtbarer, als aus ihr entscheidende Erkenntnisse über die Art, wie die Sprache als System in sprachlichen Krisensituationen erlebt wird, gewonnen werden könnten. Diese Fälle sind aber Sonderfälle, die eigener Sonderuntersuchungen bedürfen.1 Hier geht es nur um das Allgemeine. Wir sprechen also im Folgenden nur von der vollwertigen technischen Sprachproduktion. Und da diese eine Trennung zwischen Handlung und Produktionsgegenstand voraussetzt, konzentrieren wir uns im Folgenden ausschließlich auf technische Sprachproduktion, die den Produktionsgegenstand als eine hypostatische sprachliche Äußerung/Text begreift. Dramaturgisch-technische Sprachhandlungen und Sprachhandlungen, die ihren Gegenstand als nicht sprachlich begreifen, werden wir weitgehend ignorieren.
_____________ 1
Gerade in der deutschen Sprache ist die technische Reinterpretation durch den Nachtrag syntaktisch notwendiger Präpositionen am Ende unterbrochener Hauptsätze begünstigt. Diese Besonderheit der deutschen Sprache ergibt sich bekanntlich aus der Tatsache, dass sie als Schriftsprache ihre Quellen in der Techne hat.
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5.1.1 Der allgemeine Begriff des Produktionsgegenstandes Wenn technische Sprachproduktion auf dem methodischen Weg vom allgemeinen Begriff zur vollständigen Besonderung im Ästhetischen erfolgen muss, dann kann diese allgemeine Begriffsebene entweder eine allgemein-semantische oder eine formale sein. Ein Beispiel für Letztere wäre die Anfertigung von Mustersätzen zur Verdeutlichung einer linguistischen oder sonstigen These. Wir wollen uns mit dergleichen Erscheinungen nicht beschäftigen, da sie letztlich als sprachreflexive Sätze nur in einem sekundären Sinne überhaupt als sprachlich gelten können. Wir können daher davon ausgehen, dass die technische Produktionsleistung mit einer groben, begrifflichen Themenbestimmung auf einer semantischen Ebene ansetzt. Absurd wäre allerdings die Annahme sowohl eines unbestimmten thematischen Horizonts als allgemeiner begrifflicher Ebene des Produktionsgegenstandes, als auch eines Pools an irgendwie miteinander verbundenen semiotischen Einheiten: Urteile, propositionale Handlungen oder deren zu propositionalem Wissen vergegenständlichte Entsprechungen, die als die Eckpunkte des fertigen Texts dienen würden. Die allgemeine begriffliche Form eines technischen Produktionsgegenstandes umreißt diesen nämlich wesentlich. Wenn ein Tischler einen Tisch herstellen will, so ist sein Herstellungszweck auf der ersten, lediglich begrifflichen Ebene, weder ein Haufen Holzstücke, die allesamt in den Tisch eingebaut werden, noch ein halbfertiger Tisch, sondern eine noch allgemeine Vorstellung vom anzufertigenden Tisch. Eine allgemeine Vorstellung von dem, was ein Text sein soll, ohne dass der Text bereits da wäre, muss eine Vorstellung von dem sein, was er darstellen soll. Dies ist die Grundlage jeglicher sprachlicher Hypostasierung, die überhaupt eine technische Herangehensweise an Sprache ermöglicht. Diese thematische Bestimmung muss aber in einem besonderen Zugänglichkeitsmodus gegeben sein: als die Gleichzeitigkeit des Darzustellenden. Diese Gleichzeitigkeit kann als eine verborgene, aber im Rahmen der Herausarbeitung dennoch offene verstanden werden. Die thematische Bestimmung eines technisch zu produzierenden Textes muss den darzustellenden Gegenstandskomplex als in seinen Zusammenhängen bekannt oder erkennbar, auf jeden Fall aber als etwas gedanklich Vorhandenes und durch nähere Beschäftigung in einigen Details sprachlich Abbildbares meinen. Die einzelnen Zusammenhänge eines thematischen Komplexes können nie gleichzeitig gedacht werden. Zusammenhänge müssen grundsätzlich in der Urteilshandlung verbunden werden. Wenn also die Absicht besteht, einen komplexen Sachverhalt sprachlich (technisch) zu schildern,
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so kann diese das zu Sagende nicht bereits in der Vielzahl der es beschreibenden, sprachlich zugänglich machenden Urteile meinen. Vielmehr müssen diese Urteile sowie ihre Zusammenfügung zum beabsichtigten Text erst im Rahmen des technischen Prozesses erfolgen. 5.1.2 Die normative Komponente Die normative Komponente bestimmt die normale bzw. die der sozialen Erwartungshaltung des Textrezipienten und -produzenten entsprechende Realisierung der Darstellung. Sie betrifft die auf der Textebene üblichen Strukturen und Vorgehensweisen, wie etwa die Einteilung von rhetorischen Reden in Exposition, Argumentation und Appell oder von Theaterstücken in Aufzüge, usf. Auf der Ebene der Sätze betrifft die Norm insbesondere die Syntax, aber weitestgehend die grammatische Form. Indem aber die Norm gewisse Formelemente bestimmt, wirkt sie sich auch auf die einzelnen Urteile aus, was ihre Reihenfolge und ihr Verhältnis zueinander betrifft. Dies hat zum einen eine Auswirkung darauf, auf welche Weise der Sprecher bzw. Schreiber seinen Gegenstand bei näherer Betrachtung im Rahmen des tatsächlichen sprachlichen Vollzugs seiner technischen Handlung selbst sieht, eine noch viel stärkere Auswirkung aber auf die Art und Weise, wie der Rezipient des Sprachwerks aus diesem auf das Abgebildete/Dargestellte schließt. Ersteres ergibt sich daraus, dass die Norm die formale Herangehensweise an einen in Urteilen noch nicht in Details erfassten Gegenstand angibt, so dass je nach vorgegebener Form besondere Aspekte verloren gehen oder hervorgehoben werden können: In einem romantischen Roman werden zum Beispiel eine Reihe von Aspekten des Darzustellenden, die im Realismus in den Vordergrund geraten würden, vollkommen ignoriert. Dies gilt für die Satzebene ebenso wie für die Textebene. Nehmen wir ein paar Beispiele aus den dpa-Meldungen vom 18.08.2004: (1) Eine Woche nach der Rückruf-Aktion von NeigetechnikZügen einer bestimmten Baureihe hat die Deutsche Bahn Dutzende weitere Züge außer Betrieb genommen. (2) Knapp zwei Monate vor der ersten freien Präsidentenwahl in der Geschichte Afghanistans endet dort am Sonntag die Wählerregistrierung mit einem unerwarteten Erfolg. (3) Kurz vor Beginn einer neuen Offensive gegen seine Milizen in Nadschaf hat der radikale irakische Schiiten-Prediger Muktada el Sadr in letzter Minute eingelenkt. (4) Vier Tage nach Platz 19 im Straßenrennen blieb dem Olympiasieger von Sydney nach 59:02 Minuten nur Rang sieben;
Begriff, Norm und Ästhetik
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1:30 Minuten hinter dem Goldmedaillengewinner Tyler Hamilton (USA). Die Sätze (1)-(4) sind allesamt Anfangsätze von Pressemeldungen, und es ist nicht schwer zu erkennen, dass ihre wichtigste Gemeinsamkeit neben dem informativ-komprimierenden Stil darin besteht, dass sie ihre eigentliche Information vorbereitend, in ein zeitliches Verhältnis zu bekannten und wichtigen Ereignissen setzen. Die Wahl solcher normierten Satztypen bewirkt, dass in allen vier Fällen die eigentliche Aussage, das inkadrierte Urteil, in einem deutlichen Nebensinn aufgeboten wird, nämlich eine Wiederholung zu sein. Dieser Nebensinn ist als eine spezifische Schreibweise zu erkennen, die sich aus der Normkomponente der Technik des journalistischen Schreibens ergibt: Der Zusammenhang wurde in der Regel aufgrund von formalen Eigenschaften des Textes zuerst gesucht. Ähnlich wird auch in den nächsten Beispielen aufgrund eines normierten Werbestils nach Attributen gesucht, wenngleich sie inhaltlich weder nötig noch richtig sind: (5) Kompetent und aktuell, erfahren und innovativ, zukunftsorientiert und marktnah; unsere Vision ist es, das Potenzial des Internets zu nutzen, um die alltägliche Arbeit sicherer und effizienter zu gestalten. (6) Gemütlich und elegant begeistert unser erstklassiges Lokal unsere treuen Gäste in zentraler Lage. Ein weiteres Beispiel soll die Möglichkeit verdeutlichen, in höchster Kunst formal auferlegte Muster mit Urteilen auf eine Weise zu verbinden, die dem konstruierten Satz etliche neue Sinnebenen verleiht. Wir werden uns mit diesen Möglichkeiten der technischen Sprachgestaltung im Folgenden noch beschäftigen. Hier sollen diese Zeilen aus Hölderlins „Heidelberg“ nur dem Eindruck entgegenwirken, dass die normative Ebene der technischen Sprachproduktion negativ konnotiert sei. (7) Doch die ewige Sonne goß Ihr verjüngendes Licht über das alternde Riesenbild, und umher grünte lebendiger Epheu; 5.1.3 Ästhetische Aspekte technischer Sprachproduktion Bei der Betrachtung einzelner Texte, die eindeutig Werkcharakter haben und einem kompletten technischen Produktionsprozess entspringen, kann zwischen der normativen und der ästhetischen Ebene der Besonderung nur sehr schwer und bestenfalls in prototypischen Fällen klar unterschieden werden.
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Dies wird freilich nur von dem von Einordnungszwängen Geleiteten als misslich empfunden und scheint bei näherer Betrachtung ganz natürlich. Zwischen Norm und Ästhetik wird oft auch im Rahmen des tatsächlichen Schreibens oder technischen Sprechens nicht unterschieden und alle Besonderheiten der Ästhetik, einschließlich der persönlichen Erfüllung und Genugtuung des Schaffenden, können unter gegebenen Umständen auf die Normebene übertragen werden: Zur Veröffentlichung eines Zeitungsartikels bedarf es zunächst, wie es scheint, mehr der technischen, das heißt, formalen, Qualität als einer inhaltlichen Originalität. Oft ist die ästhetische Tätigkeit auch nicht bewusst von der Norm abgesondert, sondern wird als deren Vervollkommnung verstanden. Zugleich ist die Norm nichts weiter als die zum Muster gewordene ästhetische Besonderheit. Die ästhetische Ebene betrifft auf der Textebene in der Regel die formale Innovation innerhalb der Textstrukturierung. Auf der Satzebene kann sie neue grammatische Strukturen und auf der Wortebene lexikalische Neuschöpfungen betreffen. Dieselbe Ästhetik kann in der Schrift die Kalligraphie, die Paginierung oder in der Mündlichkeit die Musikalität einer Äußerung betreffen. Man sollte diese gewöhnlich als außersprachlich geltenden Elemente nicht als außersemantisch betrachten: In der technischen Sprachproduktion sind sie oft entscheidende Elemente des Werks; man denke an eine Wagner-Oper oder an viele postmoderne Gedichte, in denen Sprachliches und Außersprachliches zur gegenseitiger semantischer Aufwertung aufeinander treffen.
5.2 Die Affinität der Schrift zur Techne Jenseits der quantitativen Dominanz der Schrift im Bereich der technischen Sprachproduktion gibt es einige qualitative Besonderheiten der schriftlichen Technai, die von der Tatsache abzuleiten sind, dass die schriftlichen Sprachzeichen sichtbar und nicht nur akustisch vernehmbar sind. Insbesondere im Bereich der ästhetischen Vollendung schriftlicher Sprachwerke hat dies radikale Konsequenzen, angefangen von der Ebene der Kalligraphie, der Paginierung, der Gliederungsmöglichkeiten bis hin zur Struktur der schriftlichen Texte. Es ist zunächst davon auszugehen, dass die technische Sprachproduktion im Rahmen der Mündlichkeit eher dramaturgische Aspekte hat, während die Schrift vornehmlich zur Herstellung sprachlicher Gegenstände in allen ihren Besonderheiten als Gegenstände tendiert. Allerdings ist diese Tendenz nicht allgemein, nicht zwingend und die Problematik von Schrift und mündlicher Sprache auf diese Ebene zu reduzieren, wäre das Verfehlen der Komplexität des Problems.
Die Affinität der Schrift zur Techne
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Gehen wir an dieser Stelle zunächst von einer historischen Überlegung aus. Zunächst soll klargestellt werden, dass wir dies nicht als Historiker tun und keinen Anspruch auf die historische Gültigkeit unserer Behauptungen erheben. Wir wollen aus folgendem historischen Konstrukt wesentliche Elemente der Schrift herausarbeiten. Folgende Konstruktion ist zum Teil von Ideen Derridas und Assmanns inspiriert. Wir gehen davon aus, dass Sprechen eine natürliche Fähigkeit des Menschen ist, die in einem gewissen Grad vor allem auf der Ebene der propositionalen Syntax von der Beschaffenheit seines Gehirns abzuleiten ist. Ebenso eine natürliche Fähigkeit des Menschen ist es, repräsentativ zu malen. Die ersten Höhlenmalereien, die wir kennen, stammen aus Zeiten, in denen ungefähr auch die menschliche Sprache als syntaktische Absetzung von der Protosprache entstanden sein dürfte, und es kann die These vertreten werden, dass diese Zeit mit der Entwicklung des sekundären mentalen Repräsentationssystems (im Sinne Bickertons) aufgrund einer evolutionären Hirnveränderung zusammenhängt. Nun gehen wir davon aus, dass menschliche Sprache etwas Unmittelbares ist, der Vollzug unmittelbarer Repräsentation, deren Zeichencharakter mangels einer Vermittlung nicht thematisiert werden kann. Entsprechend begreifen wir das Malen als ein technisch Vermitteltes: Wie leicht es ist zu sprechen, so schwer ist es zu malen. Die Form gelingt nicht mit der Leichtigkeit, mit der der Geist sie vorbestimmt, die Ungeschicktheit der Hand, die Ungeeignetheit der Farben, die Zweidimensionalität der Abbildung, all dies sind Hindernisse, die aus dem Malen eine der Planung, der technischen Realisierung bedürftige Handlung machen. Ein Gemälde und einen Bogen herzustellen sind handlungstheoretisch ähnliche Aufgaben, während das mündliche Bezeichnen (aber auch das Beschreiben) eines Bogens zu einer fundamental anderen Handlungsart gehört. Sicherlich ist die Schrift in irgendeiner Form aus dem Malen entstanden. Das ist sowohl im Fall der piktographischen Schriftarten als auch im Fall anderer, scheinbar abstrakterer Repräsentationssysteme ersichtlich. Dennoch sind wir heute eher dazu geneigt, in der Schrift, insbesondere in der Buchstabenschrift, Abbildung von Sprache zu sehen, also einerseits etwas Sprachliches, andererseits aber etwas vollkommen anderes, nämlich ein Abbild derselben. Wie konnte also aus Malen Schrift entstehen? Das Malen ist trotz seines technischen Charakters etwas Natürliches. Jeder Mensch kann malen, wenn auch technisch unvollkommen, Gegenstände repräsentieren. Aber kein Mensch fängt von alleine zu schreiben an. Während also das Malen etwas Natürliches ist, muss die Schrift als ein Kulturprodukt, als eine Kulturtechnik begriffen werden. Wie kann also aus einer natürlichen Fähigkeit eine Kulturtechnik werden?
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Den entscheidenden Punkt der Entwicklung des Malens zur Schrift und der Möglichkeit des Technisch-Werdens der Sprache begreifen wir als die Entdeckung der Zeichenhaftigkeit der Sprache. Malen ist dazu geeignet Sachverhalte ikonisch festzuhalten. Entscheidend ist das Moment, in dem man nun auch das Gesagte als Teil der Welt im Malen festhalten möchte, und zwar so, dass es deutlich wird, dass es die Reproduktion des Gesagten ist. Hierzu ist eine Abstraktionsleistung nötig, die Unterscheidung zwischen einer sprachlichen Äußerung und ihrem unmittelbaren Sinn. Dies ist auch Bedingung der technischen Hypostase von Sprache. Wir glauben, dass dieser Punkt, an dem zwischen einem sprachlichen Ausdruck, der Bedeutung hat, und dessen Bedeutung unterschieden wird, einer Entdeckung entspricht. Wir glauben, dass sie zwar in dem Sinne, dass sie durch die Sachverhalte aufgezwungen wird, eine notwendige, aber keine natürliche Entdeckung ist. Sie muss im Malen stattgefunden haben, weil im mündlichen Kontext die Unmittelbarkeit der Sprache nie überwunden hätte werden können. Wir gehen davon aus, dass die Markierung des Gesagten als Gesagten mit einem grammatischen Element als Markierung des Unterschieds zwischen Bedeutung und sprachlicher Aussage keinen Grund in reiner Mündlichkeit hat. In der Schrift hingegen ist die Markierung dessen, dass ab einem Punkt das Gesagte als Gesagtes und nicht mehr als unmittelbare Repräsentation der Welt geschildert wird, notwendig. Das ist die Bedingung der Entstehung der Schrift. Von dem Punkt an, an dem Gesagtes als Gesagtes (vermittels der Bedeutung) ikonisch abgebildet werden kann, übernimmt nun das ikonische Zeichen die Rolle der sprachlichen Einheit. Durch Rückwandlung derselben in mündliche Sprache entsteht nun eine Verbindung zwischen dem Laut (Wort) und Schrift-Zeichen, so dass aus der Begriffsschrift mit der Zeit eine Lautschrift werden kann. Aber gleichzeitig wird durch dieselbe Entdeckung der Zeichennatur der Sprache, welche, als Erkenntnis, nicht nur in der Schrift bleibt, auch eine neue Entwicklung eingeleitet: die Möglichkeit der technischen Sprachproduktion, indem Urteile zu ihrem Sinn hypostasiert werden und nun in eine Äußerung, also in eine Form, eingegliedert werden, wo doch früher die Äußerung nur als natürliche Form der Urteile gedient hat. Auf diese Weise entspricht die Entstehung der Schrift als Techne der Technisierung der Sprache. Dies nennen wir die Affinität der Schrift zur Techne.
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5.3 Ästhetische Dimensionen der Schrift Wenn wir die Technizität der Schrift und der mündlichen Sprache gleichfalls von der Techne des Malens ableiten, so ergibt sich ein grundsätzliches Problem: Wie können die ästhetischen Kategorien des Malens wie Farbe, Linie, Symmetrie, ikonische Treue der Abbildung, usf. auf eine weitgehend konventionelle Schrift übertragen werden? Anders gesagt: Wie können ästhetische Kategorien des Malens auf konventionelle Zeichensysteme (Schrift und mündliche Sprache) übertragen werden? Wie kann Sprache ästhetisch sein, was soll die Mechanik einer ästhetischen Vollendung der Sprache sein? 5.3.1 Funktionale Verlagerung ästhetischer Qualitäten The function of poetry is to point out that a sign is not identical with its referent. Because along with the awareness of the identity of the sign and the referent (A is A1), we need the consciousness of the inadequacy of this identity (A is not A1) (Jakobson)
Roman Jakobsons zitierte These liefert für unsere Fragestellung zwar keine endgültige Lösung, dafür aber einen entscheidenden Denkanstoß. Was er für die Dichtung sagt, gilt nämlich in veränderter Form grundsätzlich für jegliche technische Beschäftigung mit Sprache: Die technische Beschäftigung mit Sprache hebt die Einheit des Zeichens mit seiner Bedeutung, die Einheit von signifiant und signifié auf, und diese Trennung muss entsprechend die Grundlage der ästhetischen Dimension der technischen Sprachproduktion sein. Ein Text, gleich ob mündlich oder schriftlich, kann als schön gelten, weil das darin Gesagte, das Dargestellte, „schön“ ist. Aber bei genauerer Betrachtung stellen wir fest, dass wir mit einer solchen Aussage eher meinen: Der Gedanke, der von diesem Text getragen wird, ist schön, die Person, die diesen Text geschrieben hat (z.B. im Fall eines in diesem Sinne schönen Gedichts), muss eine „schöne“ Seele haben; der Text sagt uns zu, weil uns die Vorstellungen gefallen, die durch ihn vermittelt werden. Wir meinen aber nicht: Der Text als solcher ist schön. Ein Text kann schön sein, weil er schön klingt, auf dem Papier gut aussieht, usf. oder aber weil er es schafft, sein Verhältnis als Signifikant zum Bezeichneten auf eine solche Weise zum Ausdruck zu bringen, dass die ästhetischen Qualitäten des Bezeichneten nicht so sehr beschrieben, sondern in ein anderes normiertes Zeichensystem umgesetzt werden. Diese Umsetzbarkeit ist erst gegeben, wenn formale Elemente der Sprache aufgrund der Bemühung nach besagter Umsetzung einen solchen Bedeu-
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tungsaspekt erlangen, dass sie ästhetische Verhältnisse der beschriebenen Welt formal nachbilden. Indem sie diese Bedeutung haben, können sie als Grundlage der ästhetischen Beurteilung von Texten, als ästhetische Kategorien dienen. Die ästhetischen Kategorien eines Sprachwerks entstammen also aus dessen Verhältnis zum Dargestellten. Die Frage ist nicht, wie ich durch Urteile das Darzustellende darstelle, sondern wie ich das Sprachwerk als Sprachwerk formal dem Darzustellenden anpasse. Hierzu bedarf es einer mehr oder weniger normierten Übersetzungsfunktion, die Welt auf Text abbildet. Die auf diese Weise entstandenen ästhetischen Kategorien können ihre ursprüngliche Motiviertheit allmählich verlieren und in ihrer ästhetischen Bedeutung immer wieder neu interpretiert werden. Wir werden im Fall der Schrift drei Aspekte solcher ästhetischen Kategorien des Sprachwerks untersuchen: eine auf der syntaktischen Ebene, eine auf der Ebene der räumlichen Anordnung des Textes und schließlich eine aus der Dichtung. 5.3.2 Bildästhetik und Text Der schriftliche Text, sofern er als Sprachwerk aufgefasst wird, ist – letztlich – ein Bild, das sich, im Unterschied zu einem Gemälde nicht aus ikonischen, sondern aus konventionellen Zeichen zusammensetzt. Die Ästhetik eines solchen Bildes kann drei Aspekte haben: a) b) c)
diejenigen, die es als Bild, als visuellen Gegenstand, betreffen diejenigen, die die Konventionalität seiner Zeichen (ihrer Entsprechung bzw. Nichtentsprechung zum Abgebildeten) betreffen, und schließlich diejenigen, die sich aus dem Zusammenspiel dieser beiden Elemente ergeben.
Die ästhetischen Aspekte, die unter die erste und die dritte Kategorie fallen, weisen naturgemäß Elemente der Bildästhetik auf. Die ästhetische Beschäftigung mit ihnen betrifft sie als visuelle Gegenstände und lässt sich weitgehend auf ästhetische Kategorien des Bildes zurückführen. Da nun aber die Zeichen der Schrift nebst ihrem sprachlichen Charakter auch bildhafte Züge behalten, hat auch die zweite Gruppe ästhetischer Aspekte einiges mit der Bildästhetik zu tun, zum einen, insofern Aspekte der Bildästhetik in ein konventionelles ästhetisches Bedeutungssystem übersetzt werden, zum anderen aber auch in Form von Überlegungen des Typs: ob ein kurzer Satz geeignet ist, einen langen Vorgang zu beschreiben, oder ob
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ein Roman (als langer Text) geeignet ist, eine kurze Handlung zu schildern usf. Typische bildästhetische Überlegungen (auch in normativer Form) betreffen: a) die Paginierung, b) die Absatzstruktur, c) die Gliederung, d) die Kalligraphie, e) die Satzlänge, f) die Symmetrie, die Asymmetrie, den Abwechslungsreichtum, die Gleichmäßigkeit der Interpunktion, g) die Wort-Wortpause-Abwechslung, z.B. so, dass dabei eine gewisse Rhythmizität entsteht, h) die Verdeutlichung der Zusammengehörigkeit durch a. syntaktische Integration, b. Zusammenschreibung (Wortzusammensetzungen durch Genitivformen), c. die Situierung in den selben Absatz, i) die Verdeutlichung eines Unterschieds durch a. syntaktische Trennung, b. Getrennt-Schreibung, c. die Einfügung eines neuen Absatzes, j) die graphische Motiviertheit der Wortverwendung, k) die Verdeutlichung von Gegensätzen oder Parallelismen durch parallele syntaktische Strukturen und/oder ähnliche graphische Form, l) die Verdeutlichung von Parallelismen oder Gegensätzen durch die Einführung von Spalten in der Paginierung, m) die Verwendung von graphischen Hilfsmitteln, wie Unterstreichung, Kursivschreibung, tabellarische Formen, Pfeile usf., n) die Verdeutlichung semantischer Zusammenhänge durch den Zeilenumbruch, o) die Verwendung typischer Schriftarten zur Verdeutlichung oder zur Absetzung von besonderen Textgattungen usf. Wir werden uns im Folgenden mit lediglich drei solchen Aspekten der Bildästhetik in der technischen Realisation schriftlicher Sprachwerke beschäftigen.
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5.3.2.1 Wellensyntax Betrachten wir zunächst einen Beispieltext aus Goethes „Wilhelm Meister“: (1) Als er aus dem ersten Taumel der Freude erwachte und auf sein Leben und seine Verhältnisse zurückblickte, erschien ihm alles neu, seine Pflichten heiliger, seine Liebhabereien lebhafter, seine Kenntnisse deutlicher, seine Talente kräftiger, seine Vorsätze entschiedener. Es ward ihm daher leicht, eine Einrichtung zu treffen, um den Vorwürfen seines Vaters zu entgehen, seine Mutter zu beruhigen und Marianens Liebe ungestört zu genießen. Er verrichtete des Tags seine Geschäfte pünktlich, entsagte gewöhnlich dem Schauspiel, war abends bei Tische unterhaltend und schlich, wenn alles zu Bette war, in seinen Mantel gehüllt, sachte zu dem Garten hinaus und eilte, alle Lindors und Leanders im Busen, unaufhaltsam zu seiner Geliebten. Wir können an (1) eine typische Form der Umwandlung von Kategorien der Bildästhetik, insbesondere der Kategorien der Symmetrie und der Gleichheit auf die Ebene der Syntax, der Satzkonstruktion, in Form der Wellensyntax beobachten. Mit „Wellensyntax“ meinen wir eine solche Form der Satzkonstruktion bzw. der Abwechslung unterschiedlicher Satztypen und Längen, die auf eine gewisse Rhythmik, eine gewisse Ähnlichkeit der semantischen und/oder visuellen Strukturen aufbaut. Wir können eine solche Wellensyntax in (1) sogar auf mehreren Ebenen erkennen: (1.1) Als er aus dem ersten Taumel der Freude erwachte und auf sein Leben und seine Verhältnisse zurückblickte, erschien ihm alles neu, seine Pflichten heiliger, seine Liebhabereien lebhafter, seine Kenntnisse deutlicher, seine Talente kräftiger, seine Vorsätze entschiedener. (1.2) Es ward ihm daher leicht, eine Einrichtung zu treffen, um den Vorwürfen seines Vaters zu entgehen, seine Mutter zu beruhigen und Marianens Liebe ungestört zu genießen. (1.3) Er verrichtete des Tags seine Geschäfte pünktlich, entsagte gewöhnlich dem Schauspiel, war abends bei Tische unterhaltend und schlich, wenn alles zu Bette war, in seinen Mantel gehüllt, sachte zu dem Garten hinaus und eilte, alle Lindors und Leanders im Busen, unaufhaltsam zu seiner Geliebten. Wir sehen, wie in (1.1) eine perfekte semantische und auch durch die Interpunktion und die Länge der zwischen den Kommata befindlichen Passagen visuell unterstütze Symmetrie des Satzbaus vorherrscht. In (1.2) wird innerhalb einer ähnlichen symmetrischen Struktur durch die Abweichungen vom Muster die Unterschiedlichkeit der Wichtigkeit und der
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Rolle der einzelnen Aspekte für Wilhelm ausgedrückt: Den „Vorwürfen des Vaters“ steht die entgegengesetzte Konstruktion „Mariannens Liebe“ gegenüber und beide unterscheiden sich fundamental von der Rolle der Mutter. Der Vater und Marianne spielen durch etwas, das sie (durch die Konstruktion angedeutet) besitzen, eine Rolle, die Mutter aber braucht nichts zu besitzen, um eine Rolle für Wilhelm zu spielen. In (1.3) sehen wir wieder eine Reihe paralleler Strukturen, aber diesmal wird durch die Steigerung ihrer Länge ihre Wichtigkeit für die Hauptfigur verdeutlicht: Das Leben zentriert sich nicht auf die drei ersten, in kurzen Sätzen erklärten Gebiete, sondern auf die letzten zwei, die in dem Zusammensein mit der Geliebten kulminieren, welchem ein neuer Absatz entspricht. Eine weitere Besonderheit von (1) ist, dass die Parallelstrukturen alle im Wirkungsbereich einer Ursache stehen. Dadurch hat die Tatsache, dass innerhalb der einzelnen Sätze verschiedene Informationen auf gleiche Weise aufgeboten werden, auch noch zusätzlich die ästhetische Qualität der formalen Gleichheit aller Wirkungen: Sie unterscheiden sich zwar in den Strukturen, aber dadurch, dass sie gruppenweise jeweils durch Parallelstrukturen dargestellt werden, wird ihre Zusammengehörigkeit jenseits der einzelnen Gruppen verdeutlicht. Natürlich bedarf es eines Goethe, um die ästhetischen Aspekte der Wellensyntax auf eine solche – im Übrigen in seinem Roman nicht nur vereinzelt vorkommende – Weise zur Vollkommenheit zu bringen. Es gibt aber auch einfachere Fälle: (2) Der Anteil der Diabetiker betrug 36,6%; 67,1% litten an einer arteriellen Hypertonie und bei 69,9% bestand eine Hypercholesterinämie. Der Anteil der Raucher bzw. Ex-Raucher betrug 35,6%, wohingegen nur 9,6% eine positive Familienanamnese für kardiovaskuläre Erkrankungen angegeben hatten. (Aus: Geisendorf, Dirk: Bedeutung der residualen Ischämie für die Progression chronisch linksventrikulären Remodellings bei Patienten nach Myokardinfarkt 2004, http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/ 4045) Hier wird lediglich aufgrund der ästhetischen Vorstellung, wonach die Wiederholung der gleichen Satzstruktur unschön sei, in beiden Sätzen versucht, völlig gleichartige Urteile in jeweils unterschiedlicher Form anzubieten. Dabei entsteht allerdings aufgrund der beschränkten Formvariationsfähigkeit eine Ähnlichkeit der Grobstrukturen der beiden Sätze: (2') Der Anteil der Diabetiker betrug 36,6%; 67,1% litten an einer arteriellen Hypertonie und bei 69,9% bestand eine Hypercholesterinämie. Der Anteil der Raucher bzw. Ex-Raucher betrug 35,6%, wohingegen nur 9,6% eine positive Familienanamnese für kardiovaskuläre Erkrankungen angegeben hatten.
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Eine symptomatische Besonderheit dieses Textes ist, dass der Gebrauch von „wohingegen“ im zweiten Satz eindeutig auf eine syntaktische, bildhafte und nicht auf eine inhaltliche Entgegenstellung zurückgeht. Die Sätze werden einander gegenübergestellt, weil sie unterschiedliche Strukturen haben, weil die Unterschiedlichkeit ihrer Strukturen auf die Vermeidungsabsicht2 der natürlichen Gleichheit der Strukturen zurückgeht. Somit findet in diesem Fall aufgrund reiner bildästhetischer Überlegungen, die in die syntaktische Norm Einzug gefunden haben, sogar eine besondere Aussage statt: eine Entgegensetzung, die in der Sprache anders als in dieser ihrer schriftlichen, ästhetischen Dimension gar nicht denkbar gewesen wäre. 5.3.2.2 Tabellen und Graphiken Tabellen und Graphiken sind die am deutlichsten aus dem Bereich des graphischen Abbildens, des Malens und Zeichnens motivierten Elemente schriftlicher Sprachwerke. Allerdings weisen selbst diese eine weitgehende Loslösung von der unmittelbaren Darstellung/Abbildung auf und erhalten (insbesondere die Tabellen) weitgehend konventionelle Aspekte. Tabellen und Graphiken sind jene Elemente der Schriftlichkeit, in denen die Bildästhetik offenkundig wirkt. Freilich nicht dadurch, dass sie zeichnerische, parasprachliche Elemente haben, sondern dadurch, dass in ihnen Sprache (Wörter und Sätze) an bestimmten Orten bildhaft erscheint. 5.3.2.3 Versstrukturen Wenn wir nun als Beispiel für die typischen bildhaft-ästhetischen Aspekte, die die Schrift als Techne bestimmen, eine Überlegung über Versstrukturen vollziehen, dann bieten sich mit Sicherheit vor allem Bildgedichte zur Betrachtung an. Repräsentativ soll das Gedicht „Easter Wings“ von George Herbert die Tragweite des Phänomens verdeutlichen. Über Bildgedichte und über eine ganze Reihe weiterer interessanter Phänomene der Bildmotivation in der Dichtung, wie etwa die Entstehung von Wörtern beim Zusammenlesen der ersten Buchstaben einer Reihe von Zeilen eines Gedichts und dergleichen, hat vor nicht langer Zeit Reuven Tsur (1997) einen herausragenden Artikel geschrieben, auf den wir _____________ 2
Gleichwohl kann diese Absicht auch eine unbewusst in dem normalen Sprachgebrauch verankerte sein, insofern sich dergleichen syntaktische Strukturen, aus der Schrift entstammend, in der Alltagssprache etablieren.
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hier aber nicht weiter einzugehen brauchen. Wir werden uns stattdessen auf zwei Beispiele aus Hölderlins Dichtung beschränken und anhand deren einige Mechanismen der Bildästhetik, wie sie sich in vollendeter Dichtung zeigen, beleuchten3: (1)
(2) Sind denn dir nicht bekannt viele Lebendigen? Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen? Drum, mein Genius! tritt nur Bar ins Leben, und sorge nicht! Was geschiehet, es sei alles gelegen dir! Sei zur Freude gereimt, oder was könnte denn Dich beleidigen, Herz, was Da begegnen, wohin du sollst? (Blödigkeit) (3) Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. (Patmos) Seit längerem ist es bekannt, dass in Hölderlins Oden ein gewisser Zusammenhang zwischen der metrischen Form und dem semantischen Gehalt besteht, ein Zusammenhang, der allerdings nicht nur für seine Oden _____________ 3
Dabei beziehen wir uns insbesondere auf ein paar Thesen von Roland Reuß, die er in einem Heidelberger Seminar überzeugend dargelegt hat.
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Gültigkeit hat. Die zitierten Strophen sind bis auf geringe Abweichungen typische asklepiadeische Odenstrophen, aber schon die Art der graphischen Aufbereitung derselben ist bedeutungsvoll: eine bewusste Absetzung von Klopstocks Oden, in denen nicht jede Zeile für sich jeweils etwas weiter eingerückt wird, sondern Zeilenpaarungen zur Markierung metrischer Ähnlichkeiten vorgenommen werden. Schon der rein visuelle Aspekt von (2) hat also eine (zwar für den nicht Eingeweihten schwer entzifferbare) Botschaft: in einer asklepiadeischen Ode, wie Hölderlin das antike Metrum deutet, bilden metrische Gleichheiten keinen Grund, den lyrischen Strom aufzuhalten: Dasselbe wird auch durch die fast durchgängig enjambementale Struktur des Gedichts markiert. Entscheidend für unsere Zwecke sind aber zwei Beobachtungen: Die Verse 1 und 2 der ersten Strophe sind ansatzweise gereimt. Es geht nicht um klare Reime, sondern um Reimandeutungen. Nun lässt sich durch die Hinzunahme der früheren (bekannten) Fassungen des Gedichts zeigen, dass das Wort „gereimt“ in der zweiten Zeile der zweiten Strophe gleichzeitig mit diesem Reimansatz auftritt. Betrachten wir die früheren Fassungen: (4) Nährt zum Dienste denn nicht selber die Parze dich, Drum so wandle nur wehrlos Fort durchs Leben und sorge nicht! Was geschiehet es sei alles geseegnet dir, Sei zum Besten gewandt! oder was könnte denn Dich belaidigen, Herz! was Da dich stören, wohin du sollst? (Muth des Dichters) (5) Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen? Nährt zum Dienste denn nicht selber die Parze dich? Drum! so wandle nur wehrlos Fort durch's Leben und sorge nicht! Was geschiehet, es sei alles gesegnet dir, Sei zur Freude gewandt! oder was könnte denn Dich beleidigen, Herz! was Da begegnen, wohin du sollst? (Dichtermuth I) (6) Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen, Nährt die Parze denn nicht selber im Dienste dich? Drum, so wandle nur wehrlos Fort durchs Leben, und fürchte nichts!
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Was geschiehet, es sei alles geseegnet dir, Sei zur Freude gewandt! oder was könnte denn Dich belaidigen, Herz! was Da begegnen, wohin du sollst? (Dichtermuth II) (7) Sind denn dir nicht bekannt viele Lebendigen? Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen? Drum, mein Genius! tritt nur Bar ins Leben, und sorge nicht! Was geschiehet, es sei alles gelegen dir! Sei zur Freude gereimt, oder was könnte denn Dich beleidigen, Herz, was Da begegnen, wohin du sollst? (Blödigkeit) Wir sehen, dass die Änderung schlagartig kommt. Die erste Zeile blieb in (5) und (6) gleich, wurde dann aber leicht geändert, die zweite Zeile blieb in (4), (5) und (6) weitgehend gleich, wohingegen sie in (7) vollkommen verändert wird. Desgleichen ändert sich das Wort „gewandt“ auch nur in (7) zu „gereimt“. Diese radikale Änderung ist die Anzeige einer neuen Idee. Bevor wir das Problem auch inhaltlich untersuchen, versuchen wir eine vorläufige rein formale Erklärung zu finden: Das Wort „gereimt“ in Vers 6 geht auf die Beobachtung des Autors zurück, dass sich ja (!) die ersten zwei Zeilen ohne seine Absicht, zufällig, reimen. Bei einer tieferen Betrachtung aber stellen wir fest: Die Elemente: „Fuß“, „Wahres“ und „Teppiche“ sind in Vers 2 neu. Dies hängt aber wesentlich mit der Tatsache zusammen, dass nun dem mit „du“ Angesprochenen die „Lebendigen“ nicht mehr „verwandt“, sondern „bekannt“ sind. In Anbetracht der bekannten Metaphorik dieser Wörter kann unsere Deutung keine andere sein als dass die Verse 1 und 2 das Verhältnis zwischen Dichtung und Welt thematisieren. Die „Lebendigen“ gehören zur Welt. „Wahres“ aber ist ein Attribut, das nur einem Satz, nicht aber der Welt, zukommen kann. Die Welt ist nicht wahr oder falsch, sondern wirklich oder unwirklich. Das „Wahre“ ist also das Pendant zu den „Lebendigen“: Text vs. Welt. Des Weiteren aber ist der „Fuß“ eine ebenso alte Metapher für den Versfuß, wie „Teppiche“ für den gut geschriebenen Text. Die Dichtung, die dichterische Textproduktion, wird somit in einer verzwickten Metapherkonstellation mit der Problematik des Laufens des Fußes auf Wahrem, welche gleichzeitig der Metapher der Entstehung der Muster auf den Teppichen im Lauf der Webmaschine
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entspricht, verbunden. Der Sinn also muss in etwa folgender sein: Dem Angesprochenen sind viele Teile der Welt bekannt und seine metrische Dichtung entspricht (deshalb) der Welt genau in dieser ihrer Zergliederung durch den Versfuß. Der Versfuß selbst ist also zur textuellen Spiegelung der Welt geworden, woraus auch die Botschaft entsteht, dass die Form des Gedichts symbolische Wertigkeiten hat. Aber unsere Analyse darf hier noch nicht Halt machen: „Teppichen“ und „Lebendigen“ reimt sich nämlich nicht perfekt. Es gibt also einen Unterschied zwischen dem Text und der Welt. Wenn also Vers 6 die Aufforderung enthält: „Sei zur Freude gereimt!“, so wird dadurch die Spannung zwischen Dichtung und Realität angesprochen. Die Spannung muss aufhören, indem der schiefe Reim der ersten zwei Verse sich verbessert. Unsere Feststellung wird auch dadurch untermauert, dass die Lesart, wonach „Sei zur Freude gereimt!“ sich auf Vers 5, insbesondere aber darauf, was „geschiehet“ bezöge, offenbar falsch ist. Hölderlin beendet mit dem Ausrufezeichen am Ende des 5. Verses nicht nur den Vers, sondern auch den Satz. Vers 5 enthält eine Aufforderung, Vers 6 eine andere. Dass beide aber zusammenhängen, erhellt sich gerade aus unserer Deutung, dass sich das Wort „gereimt“ auf das Verhältnis zwischen Vers 1 und Vers 2 bezieht: Betrachten wir die Verse 3, 4 und 5. Dem Genius, als der sich jener mit „du“ Angesprochene entpuppt hat, sind nur einige Lebendige bekannt, er muss nun aber im Vertrauen darauf, dass ihm das Besingen dieses Teils der Welt gelungen ist, in die Welt hinaustreten, quasi um auch den Rest der Welt zu erkunden – und dies ist gleichwertig mit der Aufforderung in Vers 5: Alles (und nicht nur einiges) soll ihm gelegen sein. Dies heißt ebenso viel wie der elliptische Satz „Sei zur Freude gereimt!“, denn in diesem wird dasselbe auf einer rein formalen Ebene angesprochen. Wir beenden hier die Betrachtung dieses Beispieltextes und betonen das für unser Thema Relevante: Einerseits hängt die Aussage des Textes in einigen Punkten von der Beschaffenheit einer früheren Passage ab, so dass sich hier ein ästhetischer Selbstbezug ergibt, der in dieser Form nur in der Schrift möglich ist, weil hierfür das visuelle Präsentbleiben des Früheren nötig ist; andererseits aber, was viel wichtiger ist, zeigt dieser Text, wie eine Form nicht nur eine ästhetische Qualität sein, sondern wie sie auch die Aussage fundamental beeinflussen kann: Die letzte Version des Gedichts ist – so gesehen – nichts als der Auswuchs einer ästhetischen Beschäftigung mit der früheren Version, eine Art ästhetische Vervollkommnung des Textes durch Korrekturstufen. Entscheidend ist, dass die ästhetischen Kategorien des Gedichts zugleich auch die Sicht auf die Welt, auf das Darzustellende fundamental beeinflussen: Die metrische und graphische Form des Textes bestimmen sogar eine eigene Metaphysik. Die Welt wird nun überhaupt von einem formalen Standpunkt, vom Stand-
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punkt des Versfußes, betrachtet. (Deutlich wird das, wenn man die übrigen Nachtgesänge, in denen Hölderlin dasselbe Problem von anderen Standpunkten analysiert, hinzuzieht). Des Weiteren ist von Wichtigkeit, dass unser Beispieltext so angelegt ist, dass es zum vollwertigen Verständnis einen zweiten Durchgang ab der Aufforderung aus „Sei zur Freude gereimt!“ erfordert, eine Art Rekursivstruktur, die abermals nur in der Schrift denkbar ist. Wir sehen, die ästhetischen Aspekte dieses Gedichts sind tief in einen visuellen, bildhaften Selbstbezug verwickelt. Zugleich aber thematisieren sie auch den Unterschied zwischen dem Geschriebenen und dem eigentlich tonalen Charakter des Textes. Aus den beiden scheint sich sogar ein bedeutungstragender Widerspruch zu entwickeln. Beispiel (3), das Zitat aus „Patmos“, ist in einem gänzlich anderen Sinne von Interesse. Betrachten wir den sichtbaren Unterschied zwischen den Versen 1 und 3. (8)
Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. (Patmos)
Es ist nicht zufällig, dass sich „Nah ist“ und „Gefahr ist“ sowohl syntaktisch als auch lautlich ähneln, denn das Wort „wächst“ ist genau dazu berufen, diese Ähnlichkeit zu verdeutlichen und auf eine andere Ebene der Betrachtung zu ziehen. Betrachten wir zunächst den Inhalt der Sätze, als wären sie folgendermaßen geschrieben: (9)
Nah ist und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.
Der Sinn dieser Sätze müsste etwa folgendermaßen verstanden werden: Obwohl Gott nah ist, ist er schwer zu fassen. Aber wo Gefahr ist, findet sich auch ein Rettendes. Nun ist das „Aber“ bestenfalls verwunderlich, und wäre das Gedicht nicht von Hölderlin, könnte man denken, das Wort sei als eine Art nicht störender, weil wenig bedeutender, metrischer Füllung zu verstehen. Noch rätselhafter ist aber die Verwendung des „Und“ am Anfang der zweiten Zeile: Sollte das „Aber“ nicht eher dort stehen? Das natürliche Verständnis wäre, dass die Präsenz der Gefahr darauf zurückzuführen sei, dass Gott schwer zu fassen ist; es besteht die Gefahr, ihn zu verpassen. Die Gefahr ihrerseits dürfte aber im Widerspruch zur Nähe Gottes stehen.
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Technische Sprache
Nun wird Vers 1 durch die graphische Anordnung und durch den entscheidenden Längenunterschied zum zweiten Vers klar hervorgehoben. „Nah ist“ ist wenn man so will, gar kein Vers; es bedarf einer Ergänzung. Die Ergänzung kommt aber erst im nächsten Vers und verpasst durch das absonderliche „Und“ die unmittelbare Bindung an den ersten. Wenn also im dritten Vers „Gefahr ist“ durch die lautliche und syntaktische Struktur so sehr auf den ersten Vers verweist, so geschieht dies offenbar vor dem Hintergrund, dass die erste Zeile praktisch eine Gefahr für das erste Gedicht ist: Sie ist nämlich kein Vers, sie ist unvollständig. Das Gedicht muss an dieser Stelle erneut und in einem fundamental anderen Sinn gelesen werden. „Nah ist...“ ist Ende des Gedichts. Es folgt nichts. Es folgt Resignation. Es folgt die stillschweigende Aussage: „ich kann nicht weiter schreiben“. Zu dieser passt nun das „und“ der zweiten Zeile vollkommen. Gott ist nicht schwer zu fassen, obwohl er nah ist, sondern aus der Nähe Gottes ergibt sich seine Unfassbarkeit, die es mir unmöglich macht weiterzuschreiben. Gott ist also nah und schwer zu fassen. Wenn also Vers 3, der in Unterschied zu Vers 1 tatsächlich ein Vers ist, nach dem Wiederholungsmoment des ersten Verses („Gefahr ist“) verbunden mit der unmittelbaren Gefahr, abbrechen zu müssen, noch in derselben Zeile mit einem „wächst“ ergänzt wird, so ist dieses Wachsen des Rettenden da, wo es steht, am Ende des Verses, die Rettung selbst. Dadurch, dass das Wachsen des Rettenden (das noch nicht ausgereift ist, das also nur in der Hoffnung als Rettendes existiert) in der Zeile ansetzt, die Gefahr läuft, zu ersticken, kann das Gedicht weiter geschrieben werden. Und erst hier verstehen wir einen zusätzlichen Aspekt des Gedichtanfangs: Vers 1 endet nicht mit einem Komma. Ein Komma ist schon das Zeichen dessen, dass etwas folgt, die praktische Rettung aus jeglicher Gefahr des Abbruchs. Diese Rettung fehlt in der ersten Zeile. Wenn in der dritten Zeile die erste Zeile in dieser veränderten Form, gefolgt vom Komma und dem Wachsen des Rettenden, wiederholt wird, so muss dies rein poetologisch so gedeutet werden, dass Zeile 3 jene Deutung der ersten Zeile ist, die deren Transzendierung ermöglicht: „Gefahr ist“ ist die Deutung von „Nah ist“; das Komma ist die Rettung. Das Wachsen ist nur die Deutung des Kommas selbst. Dass nun – auf einer weiteren Sinnebene – dies alles damit zu tun hat, dass Hölderlin tatsächlich der Überzeugung war, dass das Göttliche gerade dann nicht fassbar ist, wenn es zu nah ist, und dass man sich von ihm erst entfernen muss, um ihn dann in einer hymnischen Annäherung zu besingen (welche Hymne nicht von der Nähe, sondern aus dem Schwung der Annäherung ihre Kraft gewinnt), und dass – entsprechend – die nächsten Zeilen des „Patmos“ in Form einer Reise gerade eine solche Entfernung inszenieren, kann als Untermauerung unserer Deutung gelten.
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Worauf es uns hier ankommt, ist der symptomatische Wert unserer Beispiele: Der Sinn des Anfangs des „Patmos“ ist ein völlig anderer, wenn man den Zeilenumbruch berücksichtigt, als wenn man es nicht tut. Der Zeilenumbruch bekommt dadurch einen entscheidenden semantischen Gehalt: Es geht um Trennung. Trennung in der Welt bedeutet ebenso Nicht-Zusammengehörigkeit wie Trennung in Hölderlins Dichtung. Visuelle Unvollständigkeit trotz scheinbarer syntaktischer (struktureller) Integriertheit ist ebenso in der Welt eine Gefahr/ein Problem wie in Hölderlins Dichtung. Damit sehen wir an einem Extremfall bewusster Textgestaltung die Ausmaße der ästhetischen Ausbeutbarkeit solcher bildhafter Elemente des schriftlichen Sprachwerks. Dass aber – auf anderen Ebenen – dieselbe Bildhaftigkeit der Schrift ebenfalls zu dem oder zu einem (entscheidenden) ästhetischen Moment der technischen, schriftlichen Textproduktion werden kann, dürfte nach dem bisher Gesagten hinreichend plausibel geworden sein.
5.4 Ästhetische Dimensionen der Mündlichkeit Mündliche Sprache kann, wie wir bereits gesehen haben, technischer Produktionsgegenstand sein. Dass dies unseren bisherigen Erkenntnissen entsprechend von der Seite der Schrift kommt, scheint zunächst im Widerspruch zur Tatsache zu stehen, dass epische Dichtungen mit einer Reihe auffallender Besonderheiten, wie durchgängige Rhythmizität und Reimstruktur, in rein mündlichen Gesellschaften gefunden worden sind. Wir denken an den berühmten Bericht Parrys und Lords: He knew of singers. The best, he said, was a certain Avdo Medjédovitch, a peasant farmer who lived an hour way. How old is he? Sixty, sixty-five. Does he know how to read or write? Né zna, bráte! (No, brother!) [...] Finally Avdo came, and he sang for us old Salih’s favorite of the taking of Bagdad in the days of Sultan Selim. We listened with increasing interest to this short homely farmer, whose throat was disfigured by a large goiter. He sat cross-legged on the bench, sawing the gusle, swaying in rhythm with the music. He sang very fast, sometimes deserting the melody, and while the bow went lightly back and forth over the string, he recited the verses at top speed. A crowd gathered. A card game, played by some of the modern young men of the town, noisily kept on, but was finally broken up. The next few days were a revelation. Avdo's songs were longer and finer than any we had heard before. He could prolong one for days, and some of them reached fifteen or sixteen thousand lines.4
_____________ 4
Albert B. Lord, „Across Montenegro Searching for Gusle Songs“ (typewritten manuscript, March 1937. The Milman Parry Collection of Oral Literature, Harvard University)
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Technische Sprache
Dieselben Philologen haben indessen auch den Schlüssel zur Möglichkeit solcher vorliterarischen dichterischen Leistungen gefunden: es geht dabei, in unserer Terminologie, teils um eine dramaturgische Techne, teils aber, was viel wichtiger ist, um die Art, wie diese Geschichten in festen rhythmischen und sich reimenden Strukturen memoriert worden sind: Aus einem gewissen Repertoire an dichterischen Mitteln (Reimwörtern und einer gewissen Rhythmusstruktur entsprechenden Syntagmen) lässt sich eine Geschichte, die von der Musik getragen wird, zusammenbasteln und in nahezu perfekter Metrik mit vollkommener Sicherheit erzählen, wenn man das zu Erzählende hinreichend kennt. Diese sprachlichen Werke sind nur als Lieder möglich. Ihre Rhythmizität ist kein technischer Zusatz, sondern eine Bedingung der Möglichkeit ihres Memorierens. Nun stellt sich die Frage, ob nicht etwa von der Seite des Liedes eine andere Art der Technizität mündlicher Sprache entstehen könnte als die, die wir als strukturell mit der Schrift verbunden erkannt haben. Mehrere Tatsachen sprechen aber dagegen: erstens, dass im (zunächst vorsprachlichen) Gesang, als dem Vorläufer des Liedes, keine Repräsentation, es sei denn bestenfalls unmittelbarer Gefühlsausdruck, existiert; zweitens, dass das Musikalische als Artikulationstätigkeit in Konkurrenz zur Sprache als Artikulationstätigkeit steht; und drittens, dass die Musikalität der Sprache in keinerlei semiotischem Verhältnis zu dieser steht: Am sprachlichen Charakter einer sprachlichen Äußerung ändert sich dadurch, dass sie gesungen wird, gar nichts. Im Fall in reiner Mündlichkeit vorgefundener Epen muss es nicht unbedingt eine Vergegenständlichung des Liedes geben: Es kann bei der Vorführungshandlung um eine performative Handlung ohne Produktionsaspekte oder lediglich mit technisch-dramaturgischen Produktionsaspekten gehen. Selbst aber wenn wir annehmen wollen, dass eine solche metrisch gebundene Erzählung in irgendeiner Weise als Produktionsleistung angesehen werden könnte, würde die Hypostase zum Zweckgegenstand einer technischen Produktion nicht so sehr den sprachlichen Text, sondern das Lied als formale Einheit zwischen Musik und Sprachmelodie betreffen. Wir nehmen an, dass gegenständlich-technisch (also nicht technischdramaturgisch) produzierte/produzierende Mündlichkeit nur in Verbindung mit der reflektierten Trennung zwischen Bedeutung und Äußerung möglich ist und dass für die mündlich-technische Elaboration die Schrift ein logisches Pendant ist. Das, was zum einen nötig ist, ermöglicht auch das andere. Allerdings können wir davon ausgehen, dass in der Mündlichkeit die technische Textelaboration anderen ästhetischen Prinzipien entsprechen muss, dass daher die Sorge des Technikers sich auf andere Aspekte richten
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wird: so etwa auf die Satzmelodie, auf die grammatische Richtigkeit von Sätzen, auf die klare Aussprache, usf. Das Paradebeispiel für mündliche Textproduktion ist die alte, heute in dieser Form kaum noch vorhandene Rhetorik. Wir wollen nun eine Besonderheit rein mündlich-rhetorischer Textproduktion als Beispiel für die Möglichkeiten der Techne in der Mündlichkeit aufzeigen. Wir sind aber der Ansicht, dass die Techne in mündlicher Sprachproduktion eher als eine Nothilfe im Fall plötzlicher Reinterpretationen und weniger als eigentlich produktives Element zu betrachten ist. In der klassischen Rhetorik gab es fünf Stadien der Elaboration einer Rede: inventio, dispositio, elocutio, memoria und pronuntiatio. Die inventio betraf die Auffindung von Argumenten, die dispositio deren Anordnung, und die elocutio beschäftigte sich erst in diesem dritten Stadium mit der ästhetischen Bereicherung der Rede (die noch nicht als Rede, sondern lediglich als eine geordnete Ansammlung hypostasierter Urteile gegeben war). Aus einer Ansammlung hypostasierter Urteile wird erst in diesem Moment eine Rede. Und nun setzt die memoria, die Mnemotechnik ein. Entscheidend ist, dass auf dieser vierten Stufe die Rede bereits eine Rede ist, so dass mit der nun einsetzenden Mnemotechnik die aufeinander folgenden Wörter memoriert werden und zwar nicht – bzw. in der Regel nicht – aufgrund inhaltlicher, ihre aktuale Bedeutung betreffender Assoziationen, sondern nach einem sie lediglich als lautliche Entitäten bzw. als prototypische oder usuelle Bedeutungsträger betreffenden Algorithmus. Die in den klassischen Quellen (insbesondere im „Ad Herennium“) dargestellte Mnemotechnik5 beruht im Wesentlichen auf der klaren Vor_____________ 5
Im „De Oratore“ erzählt Cicero vom Ursprung der Mnemotechnik. „Sed ut ad rem redeam, non sum tanto ego, inquit, ingenio, quanto Themistocles fuit, ut oblivionis artem quam memoriae malim; gratiamque habeo Simonidi illi Cio, quem primum ferunt artem memoriae protulisse. Dicunt enim, cum cenaret Crannone in Thessalia Simonides apud Scopam fortunatum hominem et nobilem cecinissetque id carmen, quod in eum scripsisset, in quo multa ornandi causa poetarum more in Castorem scripta et Pollucem fuissent, nimis illum sordide Simonidi dixisse se dimidium eius ei quod pactus esset pro illo carmine daturum, reliquum a suis Tyndaridis quos aeque laudasset peteret, si ei videretur. Paulo post esse ferunt nuntiatum Simonidi ut prodiret; iuvenes stare ad ianuam duo quosdam, qui eum magnopere vocarent; surrexisse illum prodisse vidisse neminem. Hoc interim spatio conclave illud, ubi epularetur Scopas, concidisse; ea ruina ipsum cum cognatis oppressum suis interisse. Quos cum humare vellent sui neque possent optritos internoscere ullo modo, Simonides dicitur ex eo, quod meminisset quo eorum loco quisque cubuisset, demonstrator unius cuiusque sepeliendi fuisse. Hac tum re admonitus invenisse fertur ordinem esse maxume, qui memoriae lumen adferret. Itaque iis, qui hanc partem ingenii exercerent, locos esse capiendos et ea, quae memoria tenere vellent, effingenda animo atque in iis locis collocanda; sic fore ut ordinem rerum locorum ordo conservaret, res autem ipsas rerum effigies notaret atque ut locis pro cera simulacris pro litteris uteremur.” (II.86) Simonides, der vorgebliche Erfinder der Mnemotechnik hat also, indem er die Leichen der Anwesenden nach den Orten, an denen sie sich beim Gastmahl befunden haben, identifiziert, die
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Technische Sprache
stellung eines komplexen Ortes, zum Beispiel auf der Vorstellung eines Spaziergangs durch eine dem Schüler sehr gut bekannte Kirche oder Stadt. An einzelnen Orten in diesem komplexen Raum müssen unterschiedliche Bilder angebracht werden, die den einzelnen zu memorierenden Wörtern durch Eselsbrücken entsprechen. Die Bilder sollen auffällig (möglichst bewegt, mit außergewöhnlichen Farben und Eigenschaften) sein und sollen an die Wörter nicht unbedingt als deren unmittelbare Bedeutung erinnern: Hier geht es nicht um die Memorierung eines Inhalts, sondern einer Form. Die Eselsbrücken betreffen in der Regel das Lautbild des Wortes oder ein ähnlich klingendes Wort, und nur dann seine Bedeutung, wenn diese eindeutig auch mit der Wortform klar verbunden scheint.6 Die nun an bekannten Orten im Geist sorgfältig aufgestellten, jeweils einzelnen Wörtern entsprechenden Bilder können im Zuge eines Spaziergangs durch den geistigen Raum auf einem bestimmten Weg nacheinander erkannt und in reale Wörter umgewandelt werden, so dass sich daraus als Vollendung der alten rhetorischen Methode eine mnemotechnische pronuntiatio ergeben kann. Wir sehen, dass die klassische Rhetorik auf diese Weise zwischen der Elaboration und dem Endprodukt einer Rede deutlich unterscheidet. Während in den ersten drei Phasen der Produktion eine Rede erst aus Argumenten entstehen muss, wird diese als Wortreihe mithilfe von Bildern und Orten, die mit dem Sinn der Rede selbst so gut wie nichts zu tun haben, memoriert. Dies heißt, dass die Rede genauso wie in der Schrift, wie ein fester Gegenstand behandelt wird; allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass diese Rede in einer Form abgespeichert wird, die es nicht mehr erlaubt, an ihr weiter zu feilen, weil hier Sinn und Form voneinander endgültig getrennt sind. Sobald die Rede eine rhetorische, durch die wichtigsten Stilmittel verschönerte Form erhalten hat, muss sie in eine Bilderreihe umgewandelt werden, die nichts mehr mit ihrem Sinn zu tun hat. In der antiken Rhetorik wird die Rede also zunächst ausschließlich aufgrund ihres Sinns (Argumentebene), aufgrund einer Ansammlung durch Urteile entstandener und zu Argumenten hypostasierter, semantisch beladener Geisteshandlungen zusammengestellt, und erst sobald ihre argumentative Sinnstruktur fertig ist, wird sie geschmückt. Das Schmücken aber zielt nun ausschließlich auf die Form. Sie wird nicht als ein Teil des „Dargestellten“ empfunden. Somit sehen wir eine klare Trennung zwischen den ästhetischen Momenten der Argumentation selbst, die in ihrer logischen oder eristischen Stringenz durchaus eine gewisse Eleganz auf_____________ 6
Prinzipien der Mnemotechnik entwickelt, welche genau auf eine solche Verbindung zwischen Ort und Bild (loci et imagines) basieren. In den klassischen Quellen werden kaum Beispiele gegeben, die den Prozess im Einzelnen verdeutlichen können. Zur Auswertung der wenigen Beispiele vgl. Yates 1966.
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weisen kann, und der ästhetischen Formung der sprachlichen Oberfläche, die sich ausschließlich auf die Form, auf die syntaktische, grammatische und stilistische Realisation konzentriert. Zuletzt wird die Rede nur als eine solche vollendete Form mnemotechnisch abgespeichert, und jeder Bezug zwischen Inhalt und Form ist damit aufgehoben. In der mündlichen technischen Sprachproduktion fehlen auf diese Weise genau jene Einheit und jenes Zusammenspiel zwischen Form und Semantik, die die Schrift auf vielfache Weise ästhetisch fruchtbar machen. Im mündlichen Sprachwerk fehlt jenes Moment, in dem die Form in ihrem Verhältnis zum Inhalt selbst Teil der Abbildung der Welt wird. In der Mündlichkeit bleiben die zwei Ebenen getrennt: Statt einer komplexen Bild-Ästhetik herrschen zwei grundsätzlich getrennte, in unterschiedlichen Phasen der Produktion auftretende ästhetischen Ebenen. Natürlich heißt dies nicht, dass in der Mündlichkeit bis zu einem gewissen Grad den schriftlichen ähnliche Phänomene nicht stattfinden können. So kann es durchaus vorkommen, dass jemand in einer Erzählung eine Metapher verwendet, die dann zum Leitmotiv der Erzählung wird. Der Unterschied zum selben Phänomen in der ihre Möglichkeiten voll ausschöpfenden Schrift ist aber, dass die Metapher in der Mündlichkeit nur als Urteil geschehen kann oder spätestens dann als Urteil erlebt werden muss, wenn man den in ihr offenbarten Zusammenhang in der inhaltlichen Weiterentwicklung der Rede verwendet.
6 Schriftliche und mündliche Sprache An dieser Stelle wenden wir uns nun von den allgemein sprachtheoretischen Problemen endgültig ab und versuchen die Konsequenzen der Einführung unserer Terminologie auf das Problem der Unterscheidung zwischen schriftlicher und mündlicher Sprache anzuwenden. Wir haben eine Vielzahl von Unterscheidungen getroffen, immer wieder aber betont, dass es eine unzulässige Vereinfachung des Problems wäre, die Trennung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf nur eine dieser Unterscheidungen zu reduzieren. So haben wir gesagt, dass die Schrift nicht einfach Techne wie auch die Mündlichkeit nicht einfach Praxis ist, dass nicht einmal die Trennung zwischen dramaturgischer Techne und solcher Techne, die den Produktionsgegenstand als Gegenstand von der Handlung selbst trennt, wirklich weiterhilft. Es konnten lediglich Tendenzen beobachtet werden, Gleichsetzungen sind nicht möglich. An dieser Stelle sollte man sich aber die Frage stellen, ob ein klarer handlungstheoretischer Unterschied zwischen mündlicher Sprache und Schrift existiert, und wenn ja, worin er besteht. Wir sind an dieser Stelle endlich in der Lage, eine prinzipielle Antwort zu liefern. Schriftliche und mündliche Sprache Zunächst das Entscheidende: Uns interessiert ein solcher Unterschied zwischen Schrift und Sprache, der beide auf die selbe Weise als genuin sprachliche Tätigkeiten begreift. Ein Unterschied zwischen einem Schriftbegriff, der eine andere Art Sprachlichkeit voraussetzt als der entsprechende Mündlichkeitsbegriff, ist irrelevant. Deshalb sind die Tatsachen wie, dass die Schrift als Niederschrift auch auf handlungstheoretischer Ebene etwas vollkommen anderes als die mündliche Sprache oder dass die Schrift als Produktion schriftlicher Texte notwendig etwas anderes als jegliche Form mündlichen Sprechens ist, für unsere Zwecke belanglos. Deshalb kann auch die Unterscheidung zwischen Techne und Praxis den Unterschied zwischen Schrift und Sprache nicht erhellen. Das ist entscheidend: Die Techne begreift die Sprache als etwas fundamental anderes als die Praxis. Wenn wir den Unterschied zwischen praktischem und technisch sprachlichem Handeln der Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und Schrift zugrunde legen würden, wäre unsere Unterscheidung eine Unterscheidung innerhalb des gängigen Sprachbegriffs: Mündliche Sprache wäre dann in einer anderen Weise Sprache als die schriftliche, so dass in beiden Fällen mündlich und schriftlich nicht mehr Attribute desselben Sprachbe-
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griffs, sondern Definitoren jeweils neuer Sprachbegriffe wären. Wenn wir die Unterscheidung zwischen Techne und Praxis durchgezogen haben, so hatte dies den Zweck, einen fundamentalen handungstheoretischen Unterschied innerhalb des Begriffs „Sprache“ aufzuzeigen. So haben wir auf handlungstheoretischer Ebene zwei Sprachbegriffe: technische Sprache und praktische Sprache. Ebenfalls aus der Unterscheidung zwischen Techne und Praxis ist deutlich geworden, dass auf der Ebene der Praxis zwischen Schrift und mündlicher Sprache kein Unterschied existieren kann, weil die Form praktischer Sätze durch nichts als das sprachliche System (als das Normale) bedingt ist. Dass es mit Sicherheit so etwas wie ein schriftliches Register und so etwas wie ein mündliches Register gibt, ist dabei eine kulturell und insbesondere politisch bedingte Nebensache; die Form ist keine Handlung, Unterschiede in der Form können also keine handlungstheoretischen Unterschiede sein. Dass man im Deutschen eher „sowieso“ schreibt und „eh“ sagt, macht keinen handlungstheoretischen Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken aus; auf der Ebene der Praxis können diese systematischen Unterschiede zwischen Schrift und mündlicher Sprache bestenfalls auf die durch die unterschiedlichen kommunikativen Situationen entstandenen junktional-syntaktischen Unterschiede zurückgeführt werden. Dies ist in der Forschung einigermaßen geschehen, wenngleich oft nicht klar war, dass das, was getan wurde, keine Fundamentalunterscheidung zwischen Schrift und mündlicher Sprache war. Solche, auf die Unterschiedlichkeit der kommunikativen Situationen zurückzuführende junktional-syntaktische Unterschiede werden weitgehend überschätzt. Der größte Teil der (systemlinguistischen) Unterschiede zwischen den Größen „mündliche Sprache“ und „Schriftsprache“ ist in der Techne entstanden und ihre Wirkung vollzieht sich ebenfalls auf der Ebene der Techne. Der handlungstheoretische Unterschied zwischen mündlicher Sprache und Schrift ist deshalb in der Analyse der Mechanismen der Techne zu suchen, und zwar auf begrifflicher, normativer und ästhetischer Ebene. Weil wir aber die Norm auf die Ästhetik zurückführen können, reicht es, sich mit ästhetischen Aspekten zu beschäftigen. Die Trennung muss also auf der Ebene der waltenden ästhetischen Prinzipien der Techne erfolgen. Nun gibt es aber keine Techne der Schrift im Allgemeinen, ebenso wenig wie es eine Techne der mündlichen Sprache allgemein gibt. Es gibt eine ganze Reihe je nach sozialem Bedarf im Lauf der Geschichte sich verändernder Technai. Davon gehören einige zur medialen Schrift und einige zur medialen Mündlichkeit. Nun ist es einfach zu entscheiden, inwiefern eine Techne sich nach schriftlichen oder mündlichen ästhetischen Kategorien richtet. Oder anders gesagt: Als wie schriftlich begreift die betroffene Techne ihren Produktionsgegenstand?
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Wir glauben, dass diese Frage letztlich auf der Ebene der Textsorten quantifizierbare Antworten hat, die sich freilich erst nach der Analyse der Produktionsaspekte der zu den unterschiedlichen Textsorten gehörenden Technai ergeben können. Zur Quantifizierung können Fragen folgender Typen dienen: a) Inwiefern wird hier der Text als Geschriebenes, quasi als Zusatzeigenschaft seiner Sprachlichkeit, intendiert? Hieraus wird sich zum Beispiel ergeben, dass eine Erzählung (also eine medial schriftliche Textsorte) in der Regel weniger handlungstheoretisch schriftlich ist als ein Gedicht, das zu weiten Teilen aus seiner Zeilenteilung und dergleichen lebt. b) Inwiefern wird der Text als komplexes Abbild und nicht als sprachliche Nacherzählung des Darzustellenden verstanden? Wir können annehmen, dass aus diesem Gesichtspunkt abermals ein Gedicht als auf handlungstheoretischer Ebene schriftlicher gelten kann (wenngleich es unterschiedliche Arten, Gedichte herzustellen, gibt) als ein Roman, und beide können als schriftlicher gelten als eine Erzählung. c) Was für einen Zusammenhang gibt es zwischen Paginierung und Inhalt? Hier wird ein Zeitungsartikel schriftlichere Züge offenbaren als ein Roman, aber weniger schriftliche als ein Gedicht. Es gibt noch eine ganze Reihe ähnlicher Fragen. Die Textsorten weisen nicht notwendig und immer vereinheitlichte oder als einheitlich betrachtbare Technai auf. Jedem dürfte klar sein, dass die Techne, mit der Hölderlin seine Gedichte verfasst, mit der Techne, mit der Wilhelm Busch dasselbe tut, nur entfernt vergleichbar ist. Entscheidend ist deshalb die Zugehörigkeit zur handlungstheoretischen Schriftlichkeit nicht so sehr auf der Ebene der Textsorte, sondern auf der Ebene einzelner, konkreter Texte aufzuweisen – auch dies nur als Mittel zur Erreichung neuer (bisher wenig und wenn überhaupt, dann weitgehend unsystematisch beachteter) ästhetischer Kategorien zum Textverständnis und auch zur Textproduktion. Letzteres ist entscheidend. Indem wir feststellen, dass die Sprachwerke erstens einen hypostasierenden Sprachbegriff voraussetzen und dass sie zweitens je nach ihrer Techne eher schriftliche (bildästhetische) oder eher mündliche ästhetische Kategorien begünstigen, können wir manchmal einen völlig neuen Zugang zu schriftlichen und mündlichen Texten gewinnen. Wir können – im Extremfall – ein Sprachwerk, wenn wir seinen technisch schriftlichen Charakter als wesentliches Moment seiner Sprachlichkeit beachten, ganz anders verstehen, als wenn wir mit einem einfachen, undifferenzierten
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Schriftliche und mündliche Sprache
Sprachbegriff operieren. Die oben vorgeführte Analyse einiger Hölderlinverse sollte diese These hinreichend bestätigen. Wir können also die Schrift auf handlungstheoretischer Ebene (innerhalb des Begriffs der Techne) als die Menge jener Technai, die ihren Produktionstext als visuelle, als der Bildästhetik entsprechende Entität intendieren oder herstellen, verstehen. Dagegen ist auf handlungstheoretischer Ebene die Mündlichkeit als diejenige technische Texproduktion zu verstehen, die ihren Gegenstand nicht als Bild, sondern als den ästhetischen Kategorien der syntaktischen Richtigkeit und der inhaltlichen, logischen Stringenz unterworfene Entität begreift. Wenn wir uns nun an die Trennung zwischen Form und Urteil/Inhalt als Grundlage der Technizität der Sprache erinnern, können wir zu folgender Unterscheidung gelangen: Aufgrund ihrer Bildhaftigkeit ist die Schrift als eine in der Komplexität des Bildes wiederhergestellte Einheit zwischen Inhalt und Form zu verstehen. Die technisch mündliche Sprachproduktion vermag hingegen diese Einheit nicht wiederherzustellen: Für sie sind die Stringenz des Inhalts und die Eleganz der Form jeweils getrennte Kategorien der ästhetischen Betrachtung. Diese Formulierung ist die wichtigste handlungstheoretische Unterscheidung zwischen Schrift und Mündlichkeit. Diese Unterscheidung ist nicht nur auf der Ebene vollwertiger Technai, auf der Ebene kompletter und komplexer Textproduktion, durchführbar. Selbst in jener technischen Grauzone, die unter keine bestimmten Technai zusammengefasst werden kann (wie etwa die technische Produktion eines neuen Wortes auf einem Schulhof) und selbst im Fall technischer Reinterpretationen gilt sie; sie setzt allerdings eine sorgfältige Analyse des konkreten Einzelfalls voraus. Das heißt: Sie gibt neue Richtlinien der Analyse konkreter sprachlicher Äußerungen vor. So wird zum Beispiel im Fall einer technischen Reinterpretation daraus, dass lediglich die grammatische Richtigkeit des Satzes von Wichtigkeit war, folgen, dass es hierbei um eine typisch mündliche sprachvergegenständlichende Handlung geht. Die Schrift ermöglicht dagegen viel komplexere, bildästhetische Elaborationsweisen. * Hiermit gelangen wir zuletzt zu einer entscheidenden Frage: Wir haben am Anfang dieser Arbeit andere kritisiert, weil sie die Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf einer systemlinguistischen Ebene nicht auf die Medialität sinnvoll zurückführen können. Wie ist nun das Verhältnis zwischen unseren handlungstheoretischen Schrift- bzw. Mündlichkeitsbegriffen und der medialen Schrift bzw. Mündlichkeit? Es lässt sich folgendermaßen darstellen:
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Technische Sprachproduktion setzt grundsätzlich das Vorhandensein einer ästhetischen (auch in Form einer normativen) Ebene voraus; das Wie-Sein einer technisch sprachlichen Äußerung muss gewissen ästhetischen (eventuell als Norm verfestigten) Überlegungen entspringen. Nun haben wir festgestellt, dass die mediale Schrift eine Vielzahl von ästhetischen Kategorien (die wir sowohl auf der Normebene als auch auf der Ebene des Begriffs als Bildästhetik zusammengefasst haben) ermöglicht. Diesen entsprechend zu handeln, heißt, tatsächlich schriftlich zu handeln, auf einer handlungstheoretischen Ebene in einem fundamentalen Sinne schriftlich zu handeln. Es kann durchaus sein, dass jemand schreibt, technische Sprachproduktion betreibt, und dennoch keine schriftliche Sprachproduktion erreicht, weil er in der Dichotomie der Mündlichkeit verbleibt. Die Schrift zwingt zu nichts. Die Schrift, als Kulturentwicklung, ermöglicht nur einiges. Hieraus muss ihr handlungstheoretischer Begriff entwickelt werden, es muss klargestellt werden, auf welche Weise die Schrift die Mündlichkeit überwindet, überholt, transzendiert (ohne dass hierdurch über den Begriff der technischen Sprachlichkeit hinausgegangen wird). Das Supplement der Schrift der Mündlichkeit gegenüber ist ihr Begriff. Und dieser Begriff ist gleichzeitig von der Schrift als Medium abhängig (also weder lediglich aufgrund von Intuitionen erkannt, noch willkürlich), dabei aber auch von dieser unabhängig, insofern nämlich sie innerhalb der Schrift als Medium Grenzen einer weiteren Zweiteilung zieht. Graphisch lässt sich dies wie in Abb. 11 verdeutlichen. Gesamtheit der Sprachhandlungen
schriftlich
handlungstheoretische Trennung
praktische Sprachhandlungen mündlich
technische Sprachhandlungen schriftlich mündlich Mediale Trennung
Abb. 11: Handlungstheoretische und mediale Trennung zwischen Schrift und Sprache
Die mediale Trennlinie geht durch den gesamten Raum der Sprachlichkeit, die handlungstheoretische Trennlinie nur durch den Raum der technischen Sprache. Die graduelle Verdunkelung der technischen Sprache im Rahmen der medialen Schriftlichkeit hin zum handlungstheoretischen schriftlichen Pol verdeutlicht nicht, dass eine handlungstheoretische Trennung nicht möglich wäre, sondern dass diese immer ein Einschnitt
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Schriftliche und mündliche Sprache
sein muss: Es müssen gewisse Merkmale gewählt werden, die als hinreichend für die Festlegung der handlungstheoretischen Schriftlichkeit gelten sollen. Wo genau die handlungstheoretische Trennlinie gezogen wird, ist eine weitgehend willkürliche Frage, ohne aber dass die Trennung selbst eine willkürliche wäre. Wie eine solche handlungstheoretische Trennung sich auf das Problem der Systemlinguistik, der Einzelsprache als System, auswirkt, ist eine Frage, der wir uns nun zuwenden. Zweierlei wird nämlich von der Sprachwissenschaft erwartet: von der Sprache überhaupt und von Einzelsprachen zu sprechen. Aber wenn eine Theorie über die Sprache in Bezug auf Einzelsprachen keine Aussagen zu treffen vermag, wird sie – mit einer gewissen Berechtigung – als letztlich unbrauchbar zurückgewiesen werden. Wie auch immer man Sprache betrachtet, die Betrachtung muss einen Bezug zur Einzelsprache haben, denn diese ist in letzter Instanz a) die Grundlage empirischer Sprachforschung, b) eine entscheidende Grenze der Sprachkompetenz und nicht zuletzt c) die entscheidende gesellschaftliche Seinsweise der Sprache überhaupt. Unser Ansatz war ein handlungstheoretischer und hat sich gleich von Anfang an als Absetzung von der Systemlinguistik verstanden; wir sind vielfach auf die Erkenntnis gestoßen, dass Sprache als Handlung, also weder als Zeichensystem noch als irgendeine andere, als Einzelsprache anzusehende mentale oder soziale Größe betrachtet werden muss. Zugleich aber mussten wir bei der handlungstheoretischen Betrachtung der Sprache Bezüge zur Größe „Einzelsprache“ und damit auch implizit zur Systemlinguistik herstellen. So haben wir die Syntax einer Einzelsprache als unmittelbare kommunikative Form von Urteilen in der Praxis und als hypostasierte Größe technischer Sprachproduktion in unsere Betrachtungen einbeziehen müssen. Wenn wir also nun den Schwerpunkt auf das sprachliche System verlagern, so geschieht dies nicht ohne Präzedenzen; nicht als Kehrtwende, sondern als Abschluss. Denn das sprachliche System gehört in bestimmter Weise zur sprachlichen Handlung, auch wenn wir das System selbst lediglich als Abstraktion der unmittelbaren Form von Handlungen oder aber als technische Hypostase gewisser Aspekte der Sprache begreifen. Die Rückkehr zum System wird notwendig auf diese Präzedenzen zurückgreifen und nach wie vor auf handlungstheoretischer Basis erfolgen müssen.
Einzelsprache als System
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6.1 Einzelsprache als System Wir begreifen die Einzelsprache1 als eine insbesondere durch eine spezifische Abhängigkeit von der kommunikativen Situation ausgezeichnete und von anderen Einzelsprachen absonderbare Gesamtheit von Paletten aufgrund von Gewöhnung (und einem von der propositionalen Syntax abhängigen Rest) eingespielter Regeln/Konventionen, die in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten mögliche oder in Frage kommende Handlungsformen für Urteile bestimmen. Zur Explikation dieses Einzelsprachebegriffs soll zunächst die spezifische Abhängigkeit der Einzelsprache von der kommunikativen Situation verdeutlicht werden; damit meinen wir nicht jene Abhängigkeit der Form eines Urteils von der kommunikativen Situation, wie wir sie etwa bei der Erklärung des junktionalen Sinns sprachlicher Äußerungen erkannt haben, sondern jene, die im Wesentlichen darin besteht, dass man die Verwendung einer bestimmten Einzelsprache vom Kommunikationspartner abhängig macht. Das heißt wenn vor mir ein Deutscher steht, werde ich Deutsch sprechen, und wenn vor mir ein Franzose steht, werde ich Französisch sprechen. Diese spezifische Abhängigkeit von der kommunikativen Situation betrifft also die Erwartung, verstanden zu werden. Man wird die Art des Sprechens der Hoffnung, verstanden zu werden, unterordnen. Unter Kommunikationspartner muss in diesem Fall ein für eine homogene Gesellschaft prototypisch stehendes Abstraktum verstanden werden. Wird dieses Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer erst als makroperspektivische Grundlage der kommunikativen Situation angenommen, kann die Einzelsprache verstanden werden als jene Ansammlung denkbarer Formen der Urteilsäußerung, die dann entsteht, wenn ich alle denkbaren Kommunikationssituationen und Urteile durchgehe, die mich als Sprecher und den betroffenen Hörer als Empfänger haben. Ich werde das selbe Urteil in jeder kommunikativen Situation anders formulieren, und ich werde diesem Hörer jedes denkbare Urteil in jeder kommunikativen Situation vermitteln können. Aus dieser Variabilität entsteht die Größe „Einzelsprache“. Sie speist sich aus der Gewöhnung, dass man mit den meisten Menschen auf die gleiche Weise sprechen kann, bzw. dass sie das, was ich in bestimmten Weisen sage, auf bestimmte Weisen verstehen. Und dieselbe Gewöhnung bewirkt, dass die Einzelsprachen prinzipiell getrennte Handlungshorizonte bestimmen. _____________ 1
Es geht hier nicht um eine Definition der langue, sondern lediglich um die Verdeutlichung der Konsequenzen unserer handlungstheoretischen Annäherung für den Begriff der Einzelsprache.
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Schriftliche und mündliche Sprache
Wir begreifen die Einzelsprache aber nicht nur als die Gesamtheit möglicher sprachlicher Äußerungen in derselben, sondern auch als die Gesamtheit in Frage kommender Äußerungen.2 Zwar ist der Satz (1), um ein Beispiel von Coseriu (1988) zu übernehmen, auf Deutsch nicht richtig, aber er kommt nach der Kombination der Muster (2) und (3) in Frage. (1) Die zue Tür verhindert die Sicht. (2) Die offene Tür verhindert die Sicht nicht. (3) Die untere Decke wird naß. Die Probleme dieser Definition sind: a) b)
dass sie sich auf eine empirisch unmöglich rekonstruierbare Menge bezieht dass sie einen nicht substanziellen Gegenstand substanziell definieren will.
Die zwei Probleme hängen eng zusammen. Wenn wir zum Beispiel die Farbe „rot“ definieren wollten (ohne etwas von der Physik zu wissen) so könnten wir den langen Weg der Verzweiflung, die sie in der Geschichte der Ontologie hervorgebracht hat, bis zum Ende verfolgen, ohne zu einem auch nur im Geringsten akzeptablen Ergebnis zu gelangen. Wir können einen Gegenstand, der keine Substanz ist, substanziell (mit der Frage: was ist es?) nicht definieren. Zugleich aber wird die Einzelsprache als Substanz erlebt. Die Einzelsprache muss als die Gesamtheit von möglichen und in Frage kommenden Sprachmustern verstanden werden; sie wird aber nicht als Gesamtheit, sondern als Horizont, den man aufgrund gewisser Muster, Analogien und Assoziationen gut umreißen kann, internalisiert, auch wenn es Zweifelsfälle geben kann, die Fachkommissionen diskutieren mögen. Die Einzelsprache kann auch als jenes Regelsystem angesehen werden, das das Sprechen in einem bestimmten Gewöhnungshorizont ermöglicht, und das die Grenzen derselben mehr oder weniger genau umreißt. Entscheidend ist aber, dass die Einzelsprache zunächst nicht als eine substanzielle Größe, sondern als eine Palette des Wie-Seins von Äußerungen, also als eine Ansammlung von Akzidenzien verstanden werden muss. Erst in der Techne, insbesondere in der Schrift, in dem Moment, in dem die Sprachhandlung zur Herstellung eines hypostasierten Sprachwerks wird, wird aus den formalen Elementen der Einzelsprache eine substanzielle _____________ 2
Der Linguist, der die Einzelsprache als soziales Phänomen begreift, kann je nach geltenden Konventionen Einschnitte machen und Grenzen ziehen, die es rein handlungstheoretisch nicht gibt. Handlungstheoretisch ist der Sprachbegriff deshalb notwendig breiter als der rein soziale. Wichtig ist nur, dass man die zwei Sprachbegriffe nicht gegeneinander ausspielt, da die Grundlagen der beiden fundamental verschieden sind.
Die Einheit des Systems
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Größe (da die Form als etwas angesehen wird). So wird die Einzelsprache selbst zu einem Gesamtbegriff für Substanzen. In einer bestimmten Weise wird sie in der Techne also selbst substanziell. Es kann an diesem Punkt zwischen zwei Arten der Entwicklung einer Einzelsprache unterschieden werden: a) b)
als Epiphänomen der Kommunikation (geltender Sprachbegriff: Einzelsprache als Akzidens) und als Ergebnis bewusster Sprachgestaltungsarbeit in Form der a. Gestaltung sprachlicher Formen, aus der sich unmittelbar die Veränderung der Einzelsprache als solcher ergibt (geltender Sprachbegriff: Einzelsprache als Substanz, Geltung aber beschränkt sich auf die konkrete Sprachhandlung) b. bewussten Gestaltung der Einzelsprache in Form der Gestaltung mustergültiger sprachlicher Formen, zum Beispiel aus politischen oder ästhetischen Gründen (geltender Sprachbegriff: Einzelsprache als Substanz).
Wir nennen die erste Möglichkeit die natürliche Entwicklung der Sprache und die zweite die Entwicklung der Sprache durch Arbeit. Unterschieden wird dabei zwischen der Arbeit am sprachlichen Produktionsgegenstand und der Arbeit an der Sprache als solcher, indem die Gestaltung einer konkreten Äußerung Mustercharakter beansprucht. Dieser Anspruch ist zugleich die Rückkehr zum praktischen Sprachbegriff, der die Einzelsprache als Akzidens begreift.
6.2 Die Einheit des Systems Die Einzelsprache wird als eine Einheit erlebt. Dies ist ein empirisches Faktum. Für unser Problem hat dies folgende Relevanz: Es ist durchaus der Fall, dass gewisse Ausdrücke oder sprachliche Strukturen im Rahmen des technischen Schreibens, und dass andere, anders gestaltete sprachliche Strukturen im Rahmen des technischen Sprechens entstehen. Ebenso entstehen auch im Rahmen des praktischen Sprechens und Schreibens hin und wieder Veränderungen der Einzelsprache. Aber diese Veränderungen bleiben nicht im Bereich ihrer Entstehung, sondern sind automatisch einfach dadurch, dass sie einer Einzelsprache angehören, in allen Sprachhandlungstypen verfügbar. Es mag durchaus so etwas wie ein Register der schriftlichen Sportreportagenproduktion geben. Dieses Register ist aber lediglich eine statistische Größe. Die in der Sportredaktionen entstande-
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nen neuen Wörter oder Ausdrücke sind prinzipiell in allen Bereichen der Einzelsprache möglich, auch wenn sie weiterhin nur in Sportreportagen verwendet werden. Wenn aber die Einzelsprache, wie wir gesehen haben, nach unterschiedlichen Begriffen substanziell oder akzidenziell, je nach dem, ob sie gerade in der Techne oder in der Praxis verwendet wird, so ist die empirisch beobachtbare Einheit der Sprache ein theoretisches Problem: weniger wie ein Akzidens (durch Hypostase) Substanz, als vielmehr wie aus einer Substanz ein handlungstheoretisches Akzidens werden kann. Jeder als sprachlich identifizierte Satz muss in irgend einer Weise verstanden werden. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, Sprache zu verstehen: Entweder man versucht die Äußerung als in einer bestimmten Form gefälltes Urteil aufzufassen, oder aber – für den Spezialfall gewisser schriftlicher Sprachwerke – man verbleibt bei der sinnlichen Wahrnehmung der Zusammenhänge zwischen Wörtern (zu Letzterem wird im Schlussteil der Arbeit Weiteres gesagt). Verbreitet und natürlich ist die erste Form des Sprachverstehens. Syntaktische Einheiten werden als Urteile verstanden oder missverstanden. Es besteht nämlich die Möglichkeit, einen syntaktischen Satz als Urteil zu begreifen, ohne ihn wirklich zu verstehen, weil man zum Beispiel die verschiedenen Elemente des Urteils nicht versteht. So wird man den Satz (1) aufgrund syntaktischer Gewöhnung als Urteil nachvollziehen, ohne dass man wissen würde, was geurteilt wurde. (1) Streptholokus wurde aminiziert. Dass nun Erzeugnisse der Praxis in allen anderen Sprachbereichen ohne weiteres übernommen werden, ist deshalb natürlich, weil die Praxis als unmittelbare Einheit zwischen Urteil und Form auch die technische Sprachproduktion begleitet: Die Elemente der technischen Sprachproduktion sind in der Regel praktische Urteile, die erst im zweiten Schritt hypostasiert und als Kompositionselemente eines Sprachwerks verwendet werden. Dass aber andererseits technisch erzeugte Sprache auch als unmittelbarer praktischer Satz erlebt werden kann, erklärt sich gerade durch die Tatsache, dass syntaktische Einheiten als Urteile aufgefasst werden können, auch wenn sie nicht ganz verstanden werden. Deshalb können technisch entstandene Sprachstrukturen zu Gewöhnungsmustern (Akzidens) werden, die das praktische Sprechen leiten. Man kann zum Beispiel in der technischen Schrift als Mittel zum Ausdruck von Relationen, ohne dabei die syntaktische Einheit zu sprengen, entstandene integrative Junktionstechniken in die Mündlichkeit entweder als reine junktionale Syntax oder aber als vollwertiges Urteil übernehmen. So wird man zum Beispiel „um zu + Infinitiv“ Konstruktionen, die in der Schrift zum Zweck entstanden sind, Zusammenhänge ohne die Sprengung
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syntaktischer Einheiten zu verdeutlichen, einfach als in besondere junktionale Formen eingekleidete, vollwertige Urteile in die Praxis übernehmen. Die grundsätzliche Möglichkeit, Elemente der Techne in die Praxis zu transferieren, entstammt also aus dem Zusammenspielen zweier Handlungstypen: der Notwendigkeit, das Vernommene in eine (nicht unbedingt ganz verstandene) Urteilsform umzuwandeln (so wird technisch substanzielle Sprachform zu unmittelbarer praktischer Form), und der Neigung, Urteilsformen als Handlungstypen/Handlungsmuster zu imitieren. Hieraus folgt unweigerlich eine Einheit der Sprache als Systems jenseits des handlungstheoretischen Bruchs in demselben, auch dann, wenn in den handlungstheoretisch fundamentalunterschiedlichen Realisationen gewisser Ausdrücke, handlungstheoretische, aber nicht semantische Unterschiede vorhanden bleiben.
6.3 Schriftlichkeit, Mündlichkeit und die Einzelsprache Nach diesen Vorbereitungen können wir unsere handlungstheoretische Trennung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit auf die Ebene der Einzelsprache transponieren. Dies kann in historischer/diachronischer oder in synchronischer Perspektive geschehen. 6.3.1 Diachrone Perspektive In diachronischer Hinsicht betrifft unsere Trennung den historischen Einfluss der Schrift auf das einzelsprachliche System. Dieser historische Einfluss lässt sich im Wesentlichen durch zwei Aspekte fassen, die wir bereits unterschieden haben: die Arbeit am Sprachwerk, woraus sich beiläufig auch die Entwicklung der Einzelsprache ergibt, und die absichtliche Arbeit am Sprachsystem durch die Gestaltung von Sprachwerken und deren Auferlegung als obligatorische Sprachmuster, zum Beispiel in Schulen, usf. Die beiden Aspekte gehen in der Regel Hand in Hand. Betrachten wir als Beispiel auf der Ebene der Grammatik die von Raible aufgezeigte Entstehung integrativer Junktionstechniken. Wir haben uns in dieser Arbeit bereits zwei Mal mit Raibles „Junktion“ auseinandergesetzt. Beide Male war unsere Beschäftigung eher kritisch. Unsere Kritik betraf vor allem die Tatsache, dass Raible zwar eine sehr plausible Verbindung zwischen der Schrift und der Zunahme integrativer Junktionstechniken in Einzelsprachen aufbaut, dass aber hierbei weder der Begriff der Schrift noch die genaue Art der Verbindung deutlich
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wurde. Wir befinden uns nun in der Lage, aufgrund der erarbeiteten handlungstheoretischen Erkenntnisse über die Schrift selbst eine Erklärung für das besagte Phänomen zu geben. Wir konzentrieren uns, statt eine Fülle von Beispielen zu nehmen3, auf ein einziges konstruiertes Beispiel. (1) Ich habe ihn angerufen, weil ich ihn einladen wollte. (2) Ich habe ihn mit dem Zweck angerufen, dass ich ihn einlade. (3) Ich habe ihn zwecks Einladung angerufen. (4) Ich habe ihn angerufen, um ihn einzuladen. Es geht uns an dieser Stelle nicht um die Sprachgeschichte, nicht darum, welche historisch nachweisbare Reihenfolge die vier Beispielstrukturen haben. Es ist aber im Sinne Raibles plausibel anzunehmen, dass (1) diachron vor (2), (3) und (4) zu situieren ist, und dass (2) (in einer eher genitivischen Form des Substantivs) (3) präzediert. (4) ist eine (1) diachronisch nachgestellte Parallelentwicklung. In Anbetracht dieser Tatsachen können wir annehmen, dass (3) eine durch (2) vermittelte Entwicklung aus (1) ist. Selbst (1) aber geht auf andere Formen zurück, die es jedenfalls nahe legen, dass (1) und (4) voneinander diachronisch unabhängige Strukturen, deren Entwicklungslinien teils schwer zu klären, teils aber hier belanglos sind. Nach der These Raibles findet zwischen (1) und (3) eine Verschiebung von Aggregation zu Integration innerhalb der spachlichen Dimension der Junktion statt. Diese Entwicklung spielt sich (jedenfalls der Entwicklungslogik nach) in der Schrift ab. Nun würde Raible mit seinem Erklärungsansatz zeigen müssen, inwiefern sich die kommunikative Leistung von (1) von der kommunikativen Leistung von (2) oder (3) unterscheidet. Die Schrift stellt in der Tat ein anderes Medium der Kommunikation dar, in der Schrift ist es in der Tat wichtig, dass man nicht nur empraktisch, sondern genau und für alle Zeiten verstanden wird, aber wir können zwischen (1) und (3) in dieser Hinsicht überhaupt keinen Unterschied erkennen. Aus kommunikativer Sicht stellt die Schrift für diese Entwicklung keine Erklärung zur Verfügung. Auch in der Mündlichkeit sehen wir keinen Grund für eine solche Entwicklung: (1) reicht für alle kommunikativen Zwecke der Mündlichkeit aus. Es mag zwar aufgrund einer Reflexionsleistung auch zu (2) bzw. zu einem (2) ähnlichen Satz kommen, wie etwa (2') oder (2''), in dem der Wille (oder die Bitte) als Markierung von sozialen Beziehungen explizit thematisiert wird, aber es fehlen nach wie vor Voraussetzungen für die Entwicklung von (2) zu (3), es sei denn, der Nominalstil, der offenbar in der Schrift entstanden ist, gilt schon als Muster, das dann für alle mögli_____________ 3
Vgl. Raible 1992: 155ff.
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chen Sätze auch in der Mündlichkeit auf mimetische Weise übernommen werden kann. (2') Ich habe ihn mit dem Willen angerufen, dass er kommt/komme. (2'') Ich habe ihn mit der Bitte angerufen, dass er kommt/kommen möchte. Auf der ästhetischen Ebene der Techne der Schrift ist eine Erklärung hingegen leicht zu finden. Es gibt sogar etliche unterschiedliche Überlegungen, auf Formebene und auf der Ebene der Verbindung zwischen Form und Inhalt, die diese Entwicklung erklären könnten. a) Die Beobachtung, dass die zwei Teilsätze von (1) zwischen Absicht und Handlung in einer Weise trennen, die der Einheitlichkeit der Handlung nicht gerecht wird, woraus die Integration der Absicht in den Hauptsatz folgt: (2). In (2) ist nun die Absicht als Information dahin verlegt worden, wo sie (bildästhetisch) hingehört, nämlich in die erste Prädikation von (1). Allerdings ist in (2) eine Trennung zwischen dem Zweck und dessen Explikation vorhanden, die ästhetisch störend wirkt, so dass die Explikation ihrerseits der Trennung näher kommen muss. Da aber der Satz: „Ich habe ihn mit dem Zweck, dass ich ihn einlade, angerufen“ aus anderen stilistischen Gründen überstrapaziert scheint, wird die Einladung als Hypostase der Bedeutung des Nebensatzes „dass ich ihn einlade“ als Attribut dem Substantiv „Zweck“ zugewiesen: „mit dem Zweck der Einladung“, aus welcher Verbindung sich die präpositionale Fügung „zwecks Einladung“ entwickeln kann. Wir sehen, hier wird aus dem ursprünglichen Substantiv gerade deshalb eine Präposition, weil es keine andere Rolle spielt als eine formale ästhetische Idee zu verwirklichen. b) Die Beobachtung der strukturellen Ähnlichkeit der zwei Teilsätze von (1) führt aus ästhetischen Gründen zur Notwendigkeit ihrer Vermeidung. Die Ähnlichkeit hat zwei Seiten: erstens, dass die zwei Sätze dasselbe Subjekt, und zweitens, dass sie ähnliche syntaktische Strukturen haben. (2) ist dabei nur eine Übergangslösung. Erst in (3) wird die syntaktische Ähnlichkeit der zwei Sätze aufgehoben, indem der zweite Satz nach bestimmten ästhetischen Mechanismen in den ersten eingegliedert wird. c) Der schlichte Wille, die in der Mündlichkeit übliche Form in der Schrift als gelehrte Absetzung von der Mündlichkeit zu vermeiden, kann auch ohne ästhetische Mangelerscheinungen an Satz (1) zur ästhetischen Umformung führen. Die Integration ist dabei ein grundsätzliches Prinzip: es geht um eine Handlung; sie muss in einer syntaktischen Einheit dargestellt werden. Dabei ist die Ver-
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wendung mündlicher Strukturen auch mit technisch-dramaturgischen Elementen verbunden. d) Die Fülle an aus Fremdsprachen, insbesondere aus dem Lateinischen, vorliegenden Mustern leitet in der Schrift eine Selektionstätigkeit ein: Es wird aber nicht nach Prinzipien der mündlichen Ästhetik, wie etwa logische Stringenz, lautliche Angemessenheit, Entsprechung der „Natur der deutschen Sprache“, usf., sondern erstens nach bildlich-syntaktisch-formalen Kriterien, wobei das Komplexe, wenn es zur verständlichen syntaktischen Einheit geformt ist, als höchste Leitidee dient, und zweitens nach dem Prinzip der Entsprechung zwischen Inhalt und Form selektiert: Der Zweck kommt nicht nach der Handlung, deshalb ist die Nachstellung aus dieser Perspektive unästhetisch. Der Zweck präzediert die Handlung schon als bestimmter Zweck. Auf diese Weise muss aus (2) (3) werden. Die vier angegebenen Muster der Erklärung der Entstehung einer konkreten junktionalen Technik haben keinen Anspruch auf historische Gültigkeit, sondern nur den Zweck, mögliche Erklärungsmuster zu verdeutlichen, die die Entstehung typisch schriftlich syntaktischer Formen betreffen.4 Es musste gezeigt werden, dass es dabei weder auf die kommunikative Besonderheit der Schrift, noch auf die reine Technizität ankommt, sondern auf die besonderen technischen Eigenschaften der Schrift, die sich aus der Beschaffenheit der durch die Medialität bestimmten ästhetischen Kategorien und der ihnen entsprechenden, möglichen ästhetischen Überlegungen, ankommt. Durch diese Besonderheit verändert die Schrift die Sprache. Auf diese Weise wird die Schrift zu einer wichtigen Kategorie der diachronischen Betrachtung der Sprache als Systems. Der diachronische Einfluss der Schrift auf die Sprache erfolgt allerdings auch auf der Ebene des geltenden Sprachbegriffs. Wenn wir annehmen, dass die Schrift und mithin das Technische überhaupt in einer Einzelsprache erst ab einem historisch bestimmbaren Punkt aus soziologisch erklärbaren Gründen dominant wird, so ergibt sich daraus notwendig eine Veränderung des dominanten Sprachbegriffs von einem praktischen, der die sprachliche Form als etwas Akzidentelles begreift, zu einem technischen, der die sprachliche Form als etwas Substantielles begreift. Dies ist das logische Fundament der Sprachstandardisierung und der Sprachnormierung. Ein Beispiel hierzu wäre das Phänomen der Vertikalisierung als Grundlage der Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. (Vgl. Reichmann 2003) _____________ 4
Mit sprachgeschichtlichem Anspruch kann allerdings jede Erklärung sprachlicher Veränderung, die den Begriff der Schrift impliziert, nur einen weitestgehend spekulativen Charakter haben – ihr Zweck sollte nicht die Aufklärung des Vergangenen, sondern der Beitrag zum Verständnis realer, auch jetzt wirksamer Mechanismen der Sprachentwicklung sein.
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Es zeigt sich, dass die handlungstheoretisch verstandene und technisch nach bildästhetischen Prinzipien funktionierende Schrift eine einheitsstiftende Rolle in einer technisch gewordenen Sprache spielt, dass sie zur Erschaffung einer Standardvarietät strukturell beiträgt: Die Schriftästhetik basiert auf der Transposition bildlicher Qualitäten in ein konventionelles Zeichenssystem. Was an einem Gegenstand zum Beispiel die einheitliche Form ist, ist an seinem schriftlichen Abbild zum Beispiel eine syntaktische Einheit. Was in der Welt eine Trennung ist, wird in der Schrift auch als Trennung verdeutlicht. Die Schrift lebt nicht nur daraus, dass sie als vorgelesene Sprache verstanden wird, sondern aus der Art, wie sie es schafft, in ein konventionelles Zeichensystem Welt abzubilden, und zwar so, dass erstens ein semantisches Verhältnis zwischen Schrift und Welt auf der Ebene der Bedeutung der Wörter oder Sätze (Inhalt), auf der Ebene der Form und zuletzt auf der Ebene des Verhältnisses zwischen Form und Inhalt entsteht. Hierzu aber, zu diesem wesentlichen Anspruch der schriftlichen Techne, gehört auch, als Mittel, eine vereinheitlichte und durchgängig normierte Orthographie und Grammatik, eine normierte Schriftsprache, die – wenn sie nicht vorhanden ist – aus schriftimmanenten Gründen hergestellt werden muss. Die Schrift kann sich zwar auch durch besondere Schreibungen, durch eine diatopische oder diastratische Spezifikation (die zum Beispiel symptomfunktionale semantische Aspekte gewinnt) auszeichnen, aber in ihrer ästhetischen Besonderheit kann sie erst nachvollzogen werden, wenn man a. den technischen Aspekt, mit gegebenen Mitteln dies oder jenes herzustellen, durch die Gleichheit der dem Leser und dem Schreiber zur Verfügung stehenden Mittel nachvollziehen kann, und b. die sich aus dem Zusammenspiel von Inhalt und Form ergebenden bzw. rein formalen ästhetischen Besonderheiten von schriftlichen Sprach-Werken in ihrer Komplexität nachvollziehen kann. Letzteres ist nur möglich, wenn die bildästhetischen Aspekte genau in dasselbe normierte Zeichensystem übertragen werden. In diesem Fall werden die Abweichungen nun letztlich als Abweichungen selbst einen ästhetischen Wert haben. Damit also die Schrift in ihrer ästhetischen Qualität verstanden, entsprechend rezipiert werden kann, muss sie sich darum kümmern, sowohl auf der Ebene der Absicht, also der Schriftproduktion mit Mustercharakter (Arbeit an der Sprache durch die Schrift), als auch auf der Ebene der reinen Textproduktion, die von den Rezipienten beiläufig als Muster angesehen wird (Arbeit an der Schrift und indirekt an der Sprache), die Einheit des
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normierten Zeichensystems „Schrift“, mit der sie arbeitet, allererst herzustellen. Dieses Argument ist nichts weiter als die Benennung einer entscheidenden Voraussetzung der Möglichkeit einer ästhetisch definierbaren Techne der Schrift. Zweierlei gehört hierzu: erstens, dass die Schrift in der in Frage kommenden Sprache nicht mehr lediglich als Werkzeug der Speicherung oder Vermittlung entweder mündlich oder in anderen Sprachen entstandener Sprachwerke, sondern plötzlich nicht nur Medium, sondern auch wesentliche, substantielle Form der intendierten Sprachwerke werde, dass also in der besagten Sprache nicht mehr bloß schriftlich festgehalten, sondern auch schriftlich produziert werde, und zweitens, dass die sozialgeschichtliche Entwicklung aufgrund hier nicht weiter zur Debatte stehender Faktoren genau diese Entwicklung begünstige. Anders gesagt: Eine Schriftkultur muss entstehen. Die Möglichkeit der Entstehung einer Schriftkultur ist eine soziale Frage. Sobald aber diese Bedingungen erfüllt sind, wird das Einsetzen einer in der Schrift geformten, vereinheitlichten und in die Volkssprache gewalttätig hineindringenden Schriftsprache, die alsdann zur Standardsprache werden muss, eine handlungstheoretischschrifttheoretische und keine soziale Frage mehr sein. Die Buchstabenschrift bietet selbst ein technisch-ästhetisches Potential. Damit dieses aber in vollkommener Weise ausgeschöpft werden kann, bedarf es einer nach immer weiterer Akzeptanz verlangenden und einheitlichen Schriftsprache. 6.3.2 Synchrone Perspektive Unserer Ansicht nach kann auf synchroner systemlinguistischer Ebene zwischen schriftlichen und mündlichen Äußerungen bzw. Strukturen nicht grundsätzlich unterschieden werden. Es gibt natürlich auf der Ebene des Textes oder auf der Ebene einzelner Sätze klare Fälle technischer Schriftlichkeit, aber auf der Ebene des Systems gehen diese durch die Möglichkeit ihrer mimetischen Übernahme in die Mündlichkeit grundsätzlich unter. Ausnahmen sind nur solche Strukturen, die wegen der Grenzen des menschlichen Gedächtnisses in der Mündlichkeit prinzipiell unmöglich sind, beispielsweise Satzkolosse. Zwischen einem schriftlichen und einem mündlichen Stil kann nicht grundsätzlich unterschieden werden. Es gibt in einer von der Schrift derart durchtränkten Kultur wie der abendländischen des 20. und 21. Jahrhunderts keine realen Grenzen mehr zwischen dem, was einst in der Schrift entstanden ist, und dem, was immer schon der Mündlichkeit angehörte. Selbst die Standardsprache, die als solche in vielen ihrer Aspekte (auf phonematisch/graphematischer, morphologischer, lexikalischer und
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syntaktischer Ebene) eindeutig ein Auswuchs der technischen Schrift ist, kann in keinerlei Weise als synchron mit der Schrift zusammenhängend verstanden werden. Die Tatsache, dass Korpusuntersuchungen durch statistische Entsprechungen das Gegenteil suggerieren, geht lediglich darauf zurück, dass in der Textlinguistik tendenziell keine privaten Texte, mit einer ganz gewöhnlichen Umgangssprache, mit in der Mündlichkeit gewöhnlichen syntaktischen Strukturen, usf. untersucht werden, gleichwie auch die Diskursanalyse in der Regel etwas „sprachlich anspruchsvollere“ Gespräche scheut, wie etwa eine philosophische, ästhetische oder politische Debatte zwischen Studenten in einer Abendrunde (stattdessen beschränkt man sich tendenziell auf die Gattung „Mensagespräch“, als wäre das Essen und Trinken der Hauptteil des studentischen Lebens und als wäre der Student an und für sich, quasi als Beweis seiner Nähe zum Alltag, von seiner geistigen/mündlichen Aktivität endgültig zu trennen). Aus dieser unterschiedlichen Bewertung der Schwerpunkte, aus der sich unter anderem ergibt, dass eine Vielzahl von Text- bzw. Gesprächssorten grundsätzlich (und aus theorieschonenden Gründen) ignoriert werden, sind Ergebnisse besagter Zweige der Linguistik für unser Thema bestenfalls als negatives Beispiel von Interesse. Auf der Ebene der Textsorte lässt sich indessen mit Sicherheit eine Art Affinität zur Schrift bzw. zur Mündlichkeit herleiten. Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass selbst der Begriff der Textsorte irreführend ist: Man verwechselt notwendig und durchgängig die Textsorte als Rezeptions- und als Produktionsgröße. In einer Gesellschaft, die liberal, demokratisch und in allen Bereichen innovativ zu werden versucht, sind nämlich – jedenfalls auf sprachlicher Ebene – Textsorten als Rezeptionsgrößen hochproblematisch geworden. Wie soll man einen Roman des Typs „Berlin Alexanderplatz“ von Döblin mit einem gleichzeitig entstandenen Roman von Thomas Mann sprachlich vergleichen? Auf der Produktionsebene gibt es natürlich aus der technischen Beschaffenheit der entsprechenden Produktionsprozesse sich ergebende Kriterien zur Systematisierung und Einordnung. Wir halten diese jedoch für systemlinguistisch wenig relevant. Die eigentliche Relevanz technisch verstandener Mündlichkeit und Schriftlichkeit für die Systemlinguistik auf synchroner Ebene soll in einem völlig anderen Bereich gesucht werden. Viel wichtiger ist zu bemerken, dass die Schrift die Systemlinguistik auf der Ebene der Semantik betrifft, freilich auf einer eher dunklen und schwer zu behandelnder Ebene derselben. Man unterscheidet, wie wir bereits vielfach gesagt haben, zwischen der aktualen und der usuellen Bedeutung eines Wortes (wobei für diese Größen auch andere Terminologien im Umlauf sind). Die Schrift, wenngleich nur
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in relativ seltenen, dafür aber umso entscheidenderen Fällen, da sich die höchsten ästhetischen Produktionen auf Dauer oft als Muster für den Sprachgebrauch durchsetzen, erfordert eine dritte Dimension, die textuelle Bedeutung. Diese ist mit der Unterscheidung zwischen aktualer und usueller Bedeutung nicht zu treffen oder abzutun: Die textuelle Bedeutung eines Wortes ist mit Sicherheit nicht seine usuelle Bedeutung, zugleich aber ist die aktuale Bedeutung deshalb nicht als die textuelle Bedeutung zu verstehen, weil die textuelle Bedeutung eine aktuale voraussetzt. Damit ein schriftlicher Text, der zum Beispiel als Informationsmontage strukturiert ist, adäquat verstanden werden kann, bedarf es der Berücksichtigung dieser textuellen Bedeutung, der funktionalen Wertigkeit im Text (nicht zu verwechseln mit dem syntaktischen Wert), nachdem die aktuale Bedeutung bereits geklärt worden ist. Dass dabei ein bedeutungsmodifizierendes Wechselspiel zwischen textueller und aktualer Bedeutung entsteht, ist auch zu berücksichtigen. Dieses Problem aber wurde bereits besprochen. Seine eigentümliche Relevanz ist auf die reine Sprachtheorie, auf die Kategorien der Betrachtung der Sprache zu beziehen.
7 Ausblick: Das Pittoreske der Sprache Ausblick: Das Pittoreske der Sprache
Als Abschluss vorliegender Arbeit sollen nicht Ergebnisse wiederholt werden, da es bei dem Versuch der Fundierung einer Theorie keine Ergebnisse in einem Sinn geben kann, deren summarische Darstellung in irgend einer Weise zu ihrem Verständnis oder zu ihrer Vertiefung beitragen würde. Stattdessen versuche ich in diesem Abschlusskapitel, ein Fenster in ein neues Themengebiet zu öffnen, das zu weiten Teilen über den Rahmen der Sprachwissenschaft hinausweist. In der abendländischen Kulturgeschichte widersprechen einander zwei fundamentale Normen bezüglich des Verhältnisses von Sprache und Denken, die ihren Kampf letztlich am Rand des Schriftproblems abliefern: die logozentrische und die pittoreske Norm. Unter der logozentrischen Norm verstehe ich die Anforderung an die Sprache, klar und deutlich, unmittelbarer Träger von Gedanken zu sein, dass in einem sprachlichen Satz genau ein, logisch einer Proposition entsprechender Gedanke vorhanden sei, den man sowohl als Sprecher als auch als Hörer genau und zwar genau auf die selbe Weise verstehen können muss. Neben dem bereits zitierten Leibniz, der von einer Fehldeutungen, Missverständlichkeiten und Polysemien vorbeugenden Sprache der Gelehrten träumte, stehen viele andere Verfechter der logozentrischer Norm: Von Platon bis Schopenhauer, von Aristoteles bis James und von Frege bis Wittgenstein lassen sich etliche markante Namen der Philosophiegeschichte aufzählen, die allesamt die Klarheit der Sprache postulieren. Die pittoreske Norm der Sprache wurde weniger deutlich ausgesprochen, weil sie schon immer eine direkte Konfrontation mit der logozentrischen Norm meiden musste, aber von der Mystik bis zur Exegese der heiligen Schriften, von der Kunst bis hin zur Philosophie, von Hamann und Hegel bis zu Sprachkritikern vom Schlag Mauthners, von Goethe bis Schlegel oder von Hölderlin bis Celan finden wir immer wieder mehr oder weniger dezidiert programmatisch handelnde Verfechter derselben. Diese sehen in der Sprache, insbesondere wie sie schriftlich festgehalten wird, keinen unmittelbaren Träger der Gedanken und erst recht nicht etwas, das notwendig Klarheit oder vollkommene Verständlichkeit garantieren soll. Für sie ist die Sprache vielmehr ein Mittel, die Welt in ihrer das begriffliche, klare Denken übertreffenden Komplexität festzuhalten. Dies heißt nicht,
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dass man die Welt nicht klar denken könne. Auch nicht, dass die Welt nicht rational deutbar sei – wenngleich solche Ansichten eine auffällige Affinität zu dieser Norm aufweisen – vielmehr, dass das Denken der Welt jenseits ihrer Deutlichkeit wieder zu ihrer Komplexität zurückkehren muss. Deshalb ist die Schrift für sie sowohl Zergliederung der Welt in einzelne Urteile als auch die anschließende, fast bildliche – allenfalls bildästhetische – Zusammenmontierung derselben, nun gedachten Aspekte der Welt zu einer Einheit, so dass die Schrift nicht nur Abbild, sondern auch in einem tieferen Sinn des Wortes: Bild der Welt sein könne. Ein Bild muss, im Unterschied zum Foto, nicht nur die Welt Punkt für Punkt in ihren Details wiedergeben, sondern es muss selbst welthaft, der Welt in ihrer Komplexität entsprechend, deutungsbedürftig sein. Eine Schrift soll die Welt nicht nur als ein Verstandenes, sondern gleichzeitig auch als ein Verschlossenes, Versiegeltes vermitteln. Texte von Goethe oder von Hölderlin sind oft sowohl formal als auch inhaltlich und insbesondere im Zusammenspiel der beiden Aspekte nicht nur Aussagen, sondern auch die selbstreflexiv konfirmierende, revidierende, korrigierende oder in Frage stellende Interpretationen ihrer selbst. Texte von Hamann oder Hölderlin verweigern zuweilen die Klarheit auf formaler Ebene und erhalten gerade hierdurch eine neue Botschaft, eine neue Bedeutung, die manchmal in logischen Sätzen nur schwer zu fassen ist. Die postmoderne Dichtung lebt weitgehend aus einer die logischen Aussagen transzendierenden Aussagekraft der Form und oft sogar aus dem semantisch beladenen Widerspruch zwischen Form und Inhalt. Auf einer anderen Ebene bietet Hegel (aber auch ihm ähnlich Heidegger und andere) eine vorgeblich verstandene Welt in Buchform an. Aber diese wird gerade nicht als wirkliche Welt, so dass das Buch ihr Abbild sein könnte, sondern als bereits dargestellte, sprachlich aufgefasste, verstandene und weit auf die Spitze der Abstraktion getriebene Welt dargestellt, in der die dialektische Logik sowohl formal als auch inhaltlich Einzug findet. Auf diese Weise ist das Buch eine neue Welt und hat gar nicht mehr den Anspruch, die Welt bloß abzubilden. Die Aufgabe ist daher das Buch und nicht die Welt zu verstehen – das Buch ist wirkliche Welt (bildet also wirkliche Welt nicht ab); bei Hegel ist es wirklicher noch als die existente Welt, so dass er zuletzt zum berühmten Satz kommen kann, dass nur das Vernünftige wirklich sei. Nun gibt es neben der aus der Unfähigkeit oder Abneigung, Begriffe des abstrakten Denkens klar zu definieren, sich ergebenden Unschärfe menschlicher Rede in der als technischer Produktionsgegenstand begriffenen Schrift eine ständig wirkende pittoreske Komponente. Sätze werden dadurch, dass sie mit ästhetischen Ansprüchen niedergeschrieben werden, in irgendeinem Maße notwendig von den bildästhetischen Kategorien der
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Schrift mitbestimmt. Nur sehr wenige Autoren schaffen es auch nur einigermaßen, dieser eigentümlichen Versuchung zu widerstehen: Es reicht hierzu nicht, die Absicht zu haben, klar zu schreiben, und auch nicht die Überzeugung, die wahre ästhetische Qualität der Schrift bestünde in der begrifflichen Klarheit. Sobald man in einer Produktionstätigkeit einen Gegenstand vor sich hat, wird man – sofern Freiräume existieren – dessen visuelle ästhetische Beschaffenheit auch zu einer Produktionsleitidee erheben. Und dies führt letztlich oft zur Vernachlässigung desselben Klarheitsideals, und, viel wichtiger, zur Komprimierung oder Kombination der an sich klaren Urteile nach schriftlich-bildästhetsichen Prinzipien, so dass diese in irgendeinem Maße von den ästhetischen Aspekten abhängig werden. Es scheint, dass die Techne der Schrift der pittoresken gegenüber der logozentrischen Norm den Vorzug gibt. Die Sprache wird, indem sie Mittel zur Aufspaltung der Welt in klare, einzelne Verhältnisse und Zusammenhänge spiegelnde Urteile ist, zum Baustein der Konstruktion von bildhaften Gegenständen. Dies geht unter anderem auch mit einer Rückkehr zu einer prä- oder post-urteilhaften Phase der Weltrezeption auf semiotischer Ebene einher. Die Welt wird im Text nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Urteilen (Sachverhaltsdarstellungen), sondern als ein Komplex von Zeichen angeboten, der zwar in der Regel noch an eine an Urteilsform erinnernde Syntax gebunden ist, ohne dass es um faktisch assertierte oder assertierbare Urteile mehr ginge, dargestellt. Hieraus ergeben sich insbesondere auf der Ebene des Leseverhaltens – aber oft auch auf der Ebene der Routineproduktion und sogar des Sprechens – fragwürdige Folgen. So kann man sich unter anderem daran gewöhnen, entscheidende Begriffe nicht nach ihrem Sinn zu befragen, sondern in ihrem bildhaften Zusammenhang mit anderen Begriffen zu (miss)verstehen: Die Tatsache, dass die Schrift in einer bestimmten Weise (als Abbild) eine semiotische Parallelwelt ist, führt unter Umständen dazu, dass man nur noch auf dieser Ebene der Parallelwelt verbleibt, ohne diese auf eine Realiät beziehen zu können oder wollen. Die Tatsache, dass die geschriebenen Wörter als Gegenstände gesehen werden, führt dazu, dass sie in ihrem normalen textuellen Umfeld als solche wiedererkannt werden – dieses Wiedererkennen wird aber als Verstehen ausgegeben. So wird man unter Umständen einen Text lesen können, ohne dass man zentrale Begriffe versteht, solange sie immer in einem ähnlichen Umfeld vorkommen. Statt den Sinn dieser Worte verstanden zu haben, verharrt man in der Gewissheit ihrer Kenntnis, aufgrund der Tatsache, sie in einem ähnlichen Umfeld angetroffen zu haben. Dieses Phänomen war in der realen, wahrgenommenen Welt schon immer beobachtbar. Wenn ein Gegenstand an einem gewohnten Ort steht, wird er als eben dieser Gegenstand gar nicht mehr wahrgenommen.
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Problematisch wird dies, wenn es zu einem textuellen Denken wird, wenn man, um sich auszudrücken, auf für Gegenstände typische Ortsund Seinsprädikationen von Abstrakta rekurrieren muss. Dies kulminiert in der Notwendigkeit, Schlüsselbegriffe graphisch anzuordnen: Diese Anordnung gilt als eine Aussage, obwohl sie – nach klassischem Verständnis – keine ist. Sind dergleichen einfach persönliche Schwächen? Unfähigkeit zu einer abstrakten Argumentation? Oder sind es typische Auswüchse der schriftlichen Bildästhetik, die – wenn man den bildungspolitischen Willen hierzu hätte – durch den schulischen Hinweis auf ihre Besonderheiten leicht zu verhindern oder zumindest zu vermindern wären? Ich neige dazu, Letzteres anzunehmen. Ich vermute sogar, dass die zunehmende Verwendung von Graphiken, von Tabellen und von hyperund multimedialen Texten insbesondere in Schulen in dieser Hinsicht erhebliche Gefahren birgt, deren man sich aus dieser Perspektive annehmen müsste.
8 Bibliographische Angaben
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