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German Pages 325 [326] Year 2016
Georg Objartel Sprache und Lebensform deutscher Studenten im 18. und 19. Jahrhundert
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger
Band 123
Georg Objartel Sprache und Lebensform deutscher Studenten im 18. und 19. Jahrhundert
Aufsätze und Dokumente
ISBN 978-3-11-045399-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045657-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045415-4 ISSN 1861-5651 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorbemerkungen
1
I
Studentische Kommunikationsstile im späteren 18. Jahrhundert
Studentensprache: Wortschatz und Stilsphäre
Typologie der Quellentexte
Zur Begründung eines textpragmatisch-stilanalytischen Ansatzes 21
Kommunikative Bewältigung von Geheimhaltungsdruck
Protestverhalten am Beispiel eines Auszugs
Ausblick: Studenten und politische Rede
II
Das Studentenlied als Ideologieträger und kollektive Gebrauchsform
Die ersten Studentenliederbücher im Dienste der Liedreform
Das alttradierte Studentenlied: Texte und Typen
Grundsätzliches zur Variabilität von Liedern im Gebrauch
. . . .. ..
Gruppenspezifische Markierungen 50 Standessignaturen 51 Fremdsprachen und Sprachenmischung 54 Besetzung mit Studentensprache 59 Längsschnitte 59 „Burschenfeinde“: Die Entwicklung lexikalischer und textueller Strukturen 63 Die Liederbücher im Vergleich: Kindleben, Rüdiger, Raufseisen
..
15
18
26
29 32
37
41 47
66
VI
Inhalt
..
Handschriftenebene und Druckschwelle
. . . .. .. .. .. .. ... ... ... ...
...
73 Interaktionsroutinen in den Liedern Gebrauchsbedingungen und Handlungspotential 73 Rituelle Beziehungskommunikation 74 76 Gesundheittrinken und Verwandtes Dialogisierte Formen in Studentendramen 77 79 Normative Modelle Interaktionelle Struktur der GESUNDHEIT 81 Funktion und Inhalt der GESUNDHEIT 82 83 Lexikalisch-syntaktische Realisierungsformen Das verbale Paradigma 84 Das nominale Paradigma 85 88 Substantive im Randbereich des Musters Reduktionsformen. Mit Exkurs zum interaktionellen Status des Zutrinkaktes 90 Reihenbildungen bei GESUNDHEITEN: Soziale und textuelle 92 Konfigurationen Die Praktik des Brüderschaft- und Freundschafttrinkens 97 Die Begriffe ‚Bruder‘ und ‚Freund‘ 97 Lieder in der Funktion der „Bestätigung“ bzw. „Erneuerung“ des 98 Status Vollzugsformen des initialen „Schmollis“-Trinkens 99
III
Memorabilien in Studenten-Stammbüchern
Funktion, Form, Entwicklung
Thematik und Zeitrahmen
Narrative Aspekte
Lexikalisch-semantische Gruppenprofile
Ausdrucksverkürzung: Fragmentierung der Syntax
Reflexe des gesprochenen ‚Burschentons‘
Memorabilien und Tagebuch. Kurzer Stilvergleich
.. . .. ..
71
105 111
113 116 119
122 125
VII
Inhalt
IV
Aussagestrategien in Vernehmungen von Studenten
Vernehmung und Protokoll
Institutionelle Charakteristika der Vernehmung
130
. .
Rekonstruktion von Dialogizität und Strategien Vernehmungen bei schwebender Duellforderung Politische Ausforschung eines Burschenschafters
133 133 137
Institution und Klient – Strategien und Gegenstrategien
V
Beleidigung und Ehrenwahrung unter Studenten. Analyse eines Interaktionsmusters
Gegenstand und Fragestellung
145
Datengrundlage und Vorgehen
149
. . . . . . .
152 Das Interaktionsmodell des Komments Zu Sinn und Zweck von Kommentregeln 152 Der Jenaer Komment als Taktgeber 153 154 Handlungsträger und soziale Differenzierungen Organisation des Interaktionsverlaufs 155 Ausführung der Handlungsschritte 157 Gradation der Beleidigungen 161 Arten von Verbalinjurien und Facetten des Ehrbegriffs
. . . .
Fallanalysen 170 Renommage (1739) 171 Pennalistisches Vexieren (1767) 176 Ein Wortstreit in zweifacher Erinnerung (1770) Spottverse (1778) 186
Die typischen Formen des Sprachhandelns im Interaktionsmuster 191 Konditionale Beschimpfung, metakommunikative Avantage und Präventivbeleidigung 192 Echoeffekte und Strukturspiegelungen im Dialog 195
. .
129
140
166
182
VIII
Inhalt
.
Sprachhandlungsschritte und Sorten geschriebener Texte
198
Zusammenfassend zur Gruppenspezifik
VI
Akademikersprache im 19. Jahrhundert. Auch als Beitrag zur Erforschung von Vereinssprachen
Vorbemerkungen
. .. .. .. . .. .. ..
Entwicklungstendenzen der Studentensprache 218 Fachsprachliche Entwicklungen in den offiziellen Textsorten 218 Wechselwirkung von Gruppen- und Fachsprache 225 226 Ritualisierung Archaisierung 227 Diffusion über halboffizielle und private Textsorten 231 Fallanalysen: Zwei Langzeit-Briefwechsel zwischen akademischen 233 Freunden Studentensprache und Jugendsprachen 237 Studentensprache und Umgangssprachen 239
Resümee
VII
Wörterbücher und lexikalische Beiträge zur Studentensprache 1749 – 1888
Chronologie, Abhängigkeiten und Quellen
. . .
Wörterbuchkritik 262 Sprachentwicklung und Kodifikation 262 Sprachgeographische Aspekte 264 Sprachsoziologisch-stilistische Aspekte 265
Zusammenfassung und Ausblick
205
211
241
246
269
Literaturverzeichnis 270 A Quellen 270 Wörterbücher und lexikalische Beiträge zur Studentensprache Liederbücher und -sammlungen 273
270
Inhalt
B
Komments 274 Weitere Quellen und moderne Ausgaben Darstellungen und Hilfsmittel 280
275
Anhang A B C D
Beiträge zum Studentenwortschatz (1780 – 1840) 289 Studentenlieder nach F. A. Koehlers Liederhandschrift (1791) 293 Comment nach dem Statutenbuch der Helmstedter ‚Harmonisten‘ 299 (1798) Studentenzettel in Ehrensachen (1785 – 1807) 304
Register
307
IX
Vorbemerkungen Die in diesem Band vereinigten Beiträge zur historischen deutschen Studentensprache sind zwischen 1981 und 2015 entstanden. Sie beziehen sich auf die sprachhistorisch virulenteste Entwicklungsphase der Studentensprache zwischen 1750 und 1900 und beschränken sich auf ausgewählte wichtige Aspekte des Themas – dies auch aufgrund der Überlegung, dass nur so die wünschenswerte analytische Tiefe zu erreichen war und dass demgegenüber der Versuch einer Gesamtdarstellung schon angesichts der unüberschaubaren Menge der Quellen unbefriedigend hätte bleiben müssen. Erstmals erscheinen hier die Beiträge in Kapitel II und III. Die anderen Beiträge haben Vorstufen in Publikationen der 1980er Jahre,¹ sind aber seitdem durchweg überarbeitet und teils stark erweitert worden. Den Anfang machte 1981 ein Vortragstext, der gegenüber der älteren, wortschatzfixierten Forschung eine programmatische Neubestimmung des Gegenstandes vornimmt unter Rekurs auf Texte aus dem Gruppenleben der Studenten selbst.² Es folgte 1984 die gemeinsam mit Helmut Henne herausgegebene sechsbändige ‚Bibliothek zur historischen Studenten- und Schülersprache‘ als Dokumentation der einschlägigen Wörterbücher und älteren Forschung; der kritische Bericht zu den ermittelten Wörterbüchern der Studentensprache zwischen 1749 und 1900 im Einleitungsband konnte um einige wichtige Zusatzfunde ergänzt werden.³ Eine weitere Stufe der Arbeit am Thema war mit meiner – unveröffentlichten – Habilitationsschrift ‚Studien zu Sprache und Lebensform der Studenten im 18. und 19. Jahrhundert‘ 1991 erreicht, sie enthielt u. a. ausführliche Untersuchungen zum Studentenlied und zum Interaktionsmuster ‚Beleidigung – Satisfaktion‘, die für die vorliegende Publikation nochmals überarbeitet und ergänzt wurden.⁴ Der Beitrag zu den Memorabilien in Studentenstammbüchern ist nach langwierigen Quellenrecherchen 2015 abgeschlossen worden.⁵ Die Spracheigentümlichkeiten der Studenten waren schon im Sprachbewusstsein des 18. Jahrhunderts unter Begriffen wie „Burschensprache“ oder „Studentensprache“ präsent.⁶ Auch hatte Jacob Grimm bereits 1813 die Sammlung „der Sprache, Lieder und Gewohnheiten“ der „Handwerke“ und „Stände“, darunter der „Studenten“, als eine Aufgabe für „die vaterländische Geschichts Vgl. Objartel a, b, a, sowie Cherubim/Objartel/Schikorsky . Vgl. hier Kap. I. Vgl. hier Kap. VII und Anhang A. Vgl. hier Kap. II bzw. V. Hier Kap. III. Burschensprache für belegt bei Kluge , S. ; Studentensprache mehrmals in Kindlebens ‚Studenten-Lexicon‘ von ; vgl. Henne/Objartel , Bd. , S. u. ö.
2
Vorbemerkungen
schreibung“ formuliert.⁷ Doch erst mit Friedrich Kluge, Konrad Burdach und John Meier setzte die wissenschaftliche Erforschung der Studentensprache materialreich ein, ohne dass diese auf zureichende sprachtheoretische und methodische Vorklärungen zurückgreifen konnten.⁸ Vielmehr waren äußere Anlässe maßgebend: Burdachs und Meiers Arbeiten erschienen 1894 als Festgaben zum 200jährigen Jubiläum der Universität Halle. Kluge hielt seinen ersten Vortrag über Studentensprache 1892, als bei den Burschenschaften die 75-Jahre-Gedenkfeier des Wartburgfestes anstand. Ein Jahr zuvor hatte Kaiser Wilhelm II. in einer vielbeachteten Rede sein Bekenntnis zum Corpsstudententum abgelegt.⁹ Das Interesse an der Sprache der Studenten war bei Kluge allerdings durch die Einsicht in die große Bedeutung der Standes-, Berufs- und Fachsprachen für die Entwicklung des schriftsprachlichen Wortschatzes begründet, wie sie sich ihm aus der Arbeit an seinem etymologischen Wörterbuch, dessen wortgeschichtliche Komponente er gerade ausbaute, ergeben hatte.¹⁰ Begünstigend kam hinzu, dass es für eine erste lexikographische Darstellung der Studentensprache keine ernsthaften Probleme mit den Quellen und mit der zeitlichen Abgrenzung gab: Kluges „Wörterbuch der Studentensprache“¹¹ präsentiert eine Auswahl aus den zwischen 1749 und 1846 erschienenen (vorwissenschaftlichen) Wörterbüchern der Studentensprache, ergänzt um einige literarische Belege. Die Entdeckung der Studentensprache seitens der Universitätsgermanistik hatte eine katalysierende Wirkung. In einer Zeit intensiver Lexikographie schien die Aufgabe klar: das Bild der Geschichte der Studentensprache und ihrer Literarisierung durch weitere Daten, insbesondere lexikalische Frühbelege, zu vervollständigen sowie den Weg kulturhistorisch interessanter Studentenwörter (wie Philister, Kneipe, Katzenjammer) bis zu ihrer Aufnahme in die hohe Literatur und in die allgemeine Schriftsprache nachzuzeichnen. Eine rege Sammeltätigkeit, der Kluge mit der ‚Zeitschrift für deutsche Wortforschung‘ ein Forum bereitstellte, brachte für die
Grimm , S. f. Es muss als ein Mangel von Pauls ‚Principien der Sprachgeschichte‘ (zuerst ) angesehen werden, dass die interne Differenzierung einer historischen Einzelsprache nur unzureichend im Schlusskapitel behandelt wird. Dabei hatte schon Whitney (, p. – ) einen bemerkenswerten Versuch unternommen, die innereinzelsprachliche Variation zu ordnen, indem er „individual, class, and local peculiarities of speech“ unterschied und die „class variations“ wiederum danach unterteilte, ob sie durch „occupation“ (Berufs- und Fachsprachen), durch „grade of education“ (soziokulturelle und stilistische Varietäten) oder durch „difference of age“ (Spracherwerbsphasen, Alterssprachen) bedingt sind. Zit. bei Grieswelle , S. . Vgl. Objartel , S. . Kluge , S. – . Die Zahl der Lemmata ist erheblich erweitert in Kluge/Rust /.
Vorbemerkungen
3
Studentensprache eine solche Materialmenge zusammen wie für keine andere Gruppensprache. Die historische Studentensprache ist Teil der inneren Mehrsprachigkeit des Deutschen. Nach den Gliederungskriterien der Variationslinguistik gehört sie zu den sozial bedingten Varietäten. Der relativ junge Terminus ‚Gruppensprache‘¹² dürfte den Varietätentyp am besten charakterisieren. Die primäre Sprechergruppe ist formal (durch Immatrikulation) klar definiert, intern zwar nach sozialer Herkunft heterogen, insgesamt aber der Bildungsschicht zuzuordnen. Der aus der Gruppensoziologie zunächst in die Soziolinguistik entlehnte Begriff der Gruppe und folglich der Gruppensprache ist allerdings systematisch mehrdeutig: Er kann sich auf die gesamte soziale Formation beziehen, aber auch auf kleine interaktive Netze. Diese Problematik ist hier in abstracto aber nicht weiter zu diskutieren, vielmehr dürfte im Kontext der Untersuchungen das jeweils Gemeinte klar werden. Um gleich ein monolithisches Verständnisses der Varietät Studentensprache abzuwehren,¹³ sei vorgreifend gesagt, dass sie im Untersuchungszeitraum als eine sehr heterogene, vielgestaltige und expansive Spielart des Sprechens und Schreibens erscheint: Sie schließt Fremdsprachliches, Fachsprachliches, Dialektales, Sondersprachliches aus Randgruppen (Rotwelsch) und Geheimsprachliches mit ein; sie realisiert sich in einer Vielzahl von Handlungsformen, Textsorten und Stiltypen; andererseits greift sie auf soziale Kontaktgruppen über, ist insbesondere für andere Jugendliche (Schüler, Lehrlinge, Bürgerstöchter) in den Universitätsstädten attraktiv; überdies wird sie in einer ausgedehnten burschikosen Schriftstellerei literaturfähig gemacht und wirkt von dort auch wieder auf die Studentenschaft zurück. Während also die ältere Forschung die Studentensprache fast ausschließlich als Sonderwortschatz wahrnahm, wird hier ‚Studentensprache‘ nur mehr als Label verwendet, vielmehr der Gegenstand neu und umfassender konstituiert als die gesamte Sprachkommunikation einer sozialen Gruppe, mit der wichtigen Zusatzbestimmung, dass es um Charakteristika oder Spezifika geht, die mit der besonderen Lebensweise, Mentalität, Emotionalität und kulturellen Praxis dieser Gruppe zusammenhängen. Die Notwendigkeit dieser Einschränkung leuchtet ein, wenn man den Blick auf alle sprachlichen Möglichkeiten der Gruppe richtet: Die mehrheitlich dem Bildungsbürgertum entstammenden Studenten verfügen mündlich wie schriftlich über ein breites Spektrum von sprachlichen Fähigkeiten
Den Begriff ‚Gruppensprache‘ hat Steger () in die germanistische Linguistik eingebürgert, am Beispiel einer sprachkreativen informellen Kleingruppe. Möhn () bleibt weiterhin bei dem Terminus ‚Sondersprache‘, spricht mit Bezug auf sozial konturierte Gruppen aber auch von „Gruppensprachen“ (vgl. schon Möhn , S. ). Kluge (, S. ) meinte von einer „einheitlichen Sprache für alle“ sprechen zu müssen.
4
Vorbemerkungen
und Fertigkeiten: Sie bringen Kenntnisse in mehreren Fremdsprachen mit, vor allem ein gutes Latein, dazu eine geübte schriftsprachliche Ausdrucksfähigkeit, oft einen Heimatdialekt, sie eignen sich die Wissenschaftssprache ihrer Fakultät an und machen sich mit den Fachsprachen der Universitätsverwaltung und anderer akademischer Einrichtungen vertraut, sie erlernen ungesteuert die Umgangssprache am Studienort für die Regulierung alltäglicher Bedürfnisse und das herrschende studentische Idiom zum Zeichen ihrer Einpassung in die Gruppe; überdies sind sie mit den verschiedenartigen kommunikativen Möglichkeiten ihrer Kommilitonen konfrontiert. Überblickt man das sprachkommunikative Gesamtrepertoire der Studierenden, so ist zweierlei festzustellen: Die Teilhabe an diesem umfangreichen Repertoire stellt in abstrakter sprachsoziologischer Betrachtung ein distinguierendes Merkmal der Gruppe dar, aber sie entspricht als solche keiner kommunizierbaren Sprache. Die Frage genau danach ergibt, dass die Gruppe alle Ausdruckssysteme mit anderen Sprachgemeinschaften teilt – bis auf eben ihre eigene, historisch gewachsene Varietät, die ihre Lebensform symbolisiert und nach außen ein erkennbares Profil zeigt. Die Architektur dieser Varietät ist dadurch geprägt, dass die Sprecher auch bei In-group-Kommunikation stets Gebrauch machen von den vielfältigen Sprachmöglichkeiten und Sprachkontakten, über die sie insgesamt verfügen, so dass eine gruppentypische Stilisierung der Texte oft schon durch die spielerische Kombination heterogener Sprachmittel erreicht wird. Praktiziert wird die Sprechweise vor allem im kommunikativen Verkehr der Gruppenmitglieder untereinander, als zentral ist daher der selbstbestimmte Kommunikationsbereich der im Freundeskreis gestalteten Freizeit anzusehen. Die Intensität des Gebrauchs gruppensprachlicher Mittel beim Einzelnen kovariiert mit dem Grad der Teilnahme an diesem Kernbereich kommunikativer Praxis. Die weitgehende Übereinstimmung der Teilgruppensprachen an den verschiedenen Universitätsorten erklärt sich aus der hohen Mobilität der Sprecher im Verein mit den überregionalen Netzwerken, die organisierte Studentenvereinigungen untereinander pflegten. Die Charakteristika der Gruppensprache resultieren aus dem, was im gruppeninternen Sprachverkehr an Ausdrucksmitteln und kommunikativen Handlungsformen etabliert und favorisiert wird, günstigenfalls eine stabile Tradition gewinnt und größere Verbreitung findet. Solche Charakteristika sollten bei einer stark ausgeprägten Varietät im Prinzip auf allen sprachkommunikativen Rängen nachzuweisen sein. Der studentensprachliche Wortschatz behält auch bei einem weiter gefassten Gegenstandsbereich unvermindert seine Bedeutung als Träger der historischen Semantik dieser Gruppe. Mit der kritischen Bestandsaufnahme der lexikographischen Quellen wird denn auch eine notwendige Vorarbeit für jede tiefere Erforschung des Wortschatzes geleistet (Kap. VII). Lexikalische Einheiten gewinnen
Vorbemerkungen
5
jedoch erst in textuellen Gebrauchszusammenhängen ihre Funktionalität: als Mittel zur Strukturierung der Innen- und Außenwelt der Gruppe, als Symptome der Gruppenzugehörigkeit in der Wahrnehmung von außen, als Steuerungssignale in Interaktionen, als Zeichen für die Integration geschätzter Kulturprodukte in das eigene kulturelle System, und generell als Stilfaktoren (Kap. I). Nicht der Wortschatz wurde daher hier zum Ausgangspunkt der Untersuchungen gewählt (wenngleich die Spezialwörterbücher eine Menge Gebrauchsbeispiele enthalten und soziopragmatische Analysen auch an einzelnen ‚Kernwörtern‘ ansetzen können¹⁴), sondern je nach Frageansatz ein aus der Gruppenkommunikation hervorgegangener Textbereich. Das Erkenntnisinteresse richtet sich vorzugsweise auf komplexere sprachkommunikative Funktionseinheiten, die erst im Zuge der poststrukturalistischen Neuausrichtung der sprachtheoretischen Diskussion auf Formen des Sprachgebrauchs und Probleme des sprachlichen Handelns in den Blick genommen wurden. Als wichtigste Impulsgeber in diesem Zusammenhang seien die Weiterentwicklungen der Sprechakttheorie,¹⁵ die sprachbezogene Kommunikationsforschung,¹⁶ die Gesprächsanalyse¹⁷ und die Handlungstheorie der verstehenden Soziologie¹⁸ genannt. In diesen und angrenzenden Forschungsgebieten wurden Analysekategorien entwickelt, die hier, für ihre Anwendbarkeit auf die studentische Lebenspraxis modifiziert, als ‚Interaktionsmuster‘, ‚Interaktionsroutine‘ und ‚Praktik‘ erscheinen.¹⁹ Diesen Konzepten von sozialkommunikativ eingespielten, das Individuum bei der Handlungsplanung entlastenden ‚Mustern‘ ist gemeinsam die Orientierung auf den Begriff des Handelns als einer sinnhaft auf ein Ziel hin organisierten Form der sozialen Praxis, zudem das interaktive Moment und damit eine regelhafte, erwartbare Schrittfolge, und schließlich die Wahrung des Zu-
Vgl. Objartel b, S. ff.; auch hier Kap. V. . . Stellvertretend sei Wunderlich () genannt, wo etwa die interaktive „Sequenzierung von Sprechakten“, „Interaktionsprozeduren“ und auch „größere Interaktionsschemata“ thematisiert werden. Zuvor hatten Ehlich/Rehbein (, S. ) im Rahmen ihrer Analyse des Restaurantbesuchs bei einem abgrenzbaren „Block“ von Interaktionsfolgen von einem „Hyperpragmem“ gesprochen. Vgl. Ungeheuer, der „kommunikative interaktion als sozialhandlung“ bestimmt und nach den „verfahren zur steuerung und koordinierung“ fragt (, S. ), dazu auch „Gesprächsanalyse“ betreibt (Ungeheuer ). In Henne wird bereits die „Systematik“ der Gesprächsanalyse mit Kategorien wie „Gesprächssequenz“ und „Handlungsplan“ entwickelt (S. ff.), die Henne/Rehbock zugrunde liegt. Vgl. die systematische Analyse des sozialen Handelns in Schütz/Luckmann (S. – ); erneuert in Luckmann . Für einen Versuch, derartige ‚Muster‘ nach Komplexitätsgrad zu ordnen, vgl. Objartel b, S. .
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Vorbemerkungen
sammenhangs von sprachlicher, mentaler und ‚äußerer‘ (körperlicher) Tätigkeit. Da Sprachgebrauch wie soziales Handeln immer Prozesse in der Zeit sind, stellen solche Konzepte zumindest Ansätze zu einer angemessenen Dynamisierung der analytischen Begrifflichkeit dar. ‚Interaktionsmuster‘ steht für eine große und variantenreiche interaktionelle Einheit (Kap.V), ‚Praktik‘ für eine vergleichsweise einfache, sich typischerweise in der Zweierkonstellation abspielende, wie das Brüderschafttrinken (Kap. II. 5. 4).²⁰ Der Ausdruck ‚Routine‘ soll die Besonderheit anzeigen, dass es um mustergeleitete Handlungen geht, die in präformierte Texte (Lieder) eingebunden sind und daher kollektiv realisiert werden können (Kap. II. 5). Mit der sozialen Konstituiertheit all solcher ‚Muster‘ hängt zusammen, dass die Konventionalität von Regeln noch durch besondere soziale Obligationen überlagert sein kann, die etwa im Bereich der Institutionen, der Ehrenordnung oder des Komplimentierwesens die Freiheit des Handelns mehr oder minder stark einschränken. Steht dem real kommunizierten ‚Muster‘, bei dem die Handlungsabläufe im Toleranzbereich der Regeln (und Obligationen) variieren, noch eine fixierte Vorschrift für die Ausführung der Schritte gegenüber, so empfiehlt sich deren terminologische Abgrenzung als ‚Modell‘. Konzepte dieser Art stehen Ludwig Wittgensteins Begriff des Sprachspiels nahe. Sprachspiele sind danach die in einem Sprachstadium gegebenen „Typen der Sprache“, die „das Sprechen der Sprache“ als „Tätigkeit“ in Regelform ermöglichen. Wittgenstein betont die „Mannigfaltigkeit“ der Sprachspiele („unzählige solcher Arten“), ihre „unsägliche Verschiedenheit“, sieht aber auch „Familienähnlichkeiten“ zwischen ihnen. Das Grundlegende des Begriffs wird deutlich in der Aussage, „das Wesentliche des Sprachspiels“ sei „also“ auch das Wesentliche der „Sprache“.²¹ Seinen Beispielen und Erläuterungen ist weiter zu entnehmen, dass Sprachspiele in interpersonellen Bezügen stehen und auch andere als sprachliche Tätigkeiten einbegreifen oder mit ihnen verbunden sein können. In weiterer Konsequenz könnte man das Ensemble von Sprachspielen mit seinen Veränderungen und Umschichtungen überhaupt als historische Einzelsprache mit ihrer Kommunikationsgeschichte auffassen. Ein größerer historischer Betrachtungsrahmen ist erforderlich, um der Frage nachzugehen, wie die studentische Varietät sich im Kontakt mit anderen Varietäten verändert. Hierfür bietet sich das 19. Jahrhundert in besonderer Weise an, weil zum einen massive Verschiebungen in der Sprechergruppe (Anstieg der Studentenzahl, Ausdehnung auf Pennäler, Altherrenschaften usw.), zum andern
Den Nutzen des Konzepts ‚Kommunikative Praktik‘ für die Sprachgeschichte diskutiert Linke . Wittgenstein , S. f., f., , .
Vorbemerkungen
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stärker aufkommende Varietäten (Umgangssprache, Jugendsprache), dann aber auch der nach 1870 enorm beschleunigte gesamtgesellschaftliche Wandel, der Sprache und überhaupt der Lebensform der akademischen Jugend ihr besonderes Gepräge tendenziell entzogen. Dazu werden zwei gegenläufige Entwicklungstendenzen anhand der gruppenspezifischen Textsorten verfolgt (Kap. VI). Während viele historische Gruppensprachen in einer Kultur der Mündlichkeit verblieben und daher nicht oder nur in spärlichen Relikten zugänglich sind, standen Studenten nicht nur in engem Kontakt mit der Literatur ihrer Zeit, rezeptiv wie produktiv, sondern pflegten auch eine eigene gruppeninterne Schriftlichkeit, so dass sich der historischen Sprachforschung hier eine außerordentlich reichhaltige Quellengrundlage darbietet.²² Als ein großes Thema pragmatischer Sprachgeschichtsforschung wird die „Wiedergewinnung“ der „Primärschicht“ der gesprochenen Sprache „im Gespräch“ angesehen.²³ Erinnerte Gespräche aus Alltagssituationen von Studenten, teils in indirekter, teils direkter Redeform enthalten in großer Fülle die Vernehmungsprotokolle der akademischen Gerichte, denen mitunter noch separate Hergangsschilderungen der Kontrahenten beiliegen; weitere, allerdings weniger gut konservierte Quellen hierfür sind studentische Briefe, Tagebücher und Stammbuch-Memorabilien. Ein kontrollierter Zugang zur gesprochenen Sprache, gelegentlich auch zur involvierten Körpersprache (Mimik, Gestik) und sogar zu intonatorischen Merkmalen ist mit dem Instrumentarium der Sprechakt- und Gesprächsanalyse sowie der Textsorten- und Kommunikationsforschung durchaus zu erreichen. Es geht aber nicht nur um die eher methodische Frage, in welchem Umfang und mit welchem Authentizitätsgrad gesprochene Sprache rekonstruiert werden kann.Vielmehr hat man sich das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die Modalitäten des Tradierens und der Verstetigung, die medialen Bedingungen und nicht zuletzt die Wahlmöglichkeiten der Kommunikanten bei der Realisierung der sprachlichen Verkehrsformen in der Gruppe und in ihrer sozialen Umwelt immer wieder konkret klarzumachen, auch um die Voraussetzungen und Gründe für historische Veränderungen besser zu erkennen. So kann das „Nebeneinander und Ineinander“²⁴ von gedächtnismäßig-mündlicher Tradierung und Schriftform
Für Überblicke zu den Quellentypen vgl. Kap. I. sowie VI. . – . – Die Quellenproblematik bei einer pragmatisch orientierten Sprachgeschichte spricht Cherubim (, S. u. ö.) an. Ein „Sprach-Repertorium“ angesichts der „Empirie-Not“ sprachhistorischer Forschung forderte schon Henne , S. . Die Digitalisierung vor allem der handschriftlichen Bestände lässt auch heute noch viel zu wünschen übrig. So S. Sonderegger und H. Henne thesenhaft zu den „Aufgaben einer pragmatikorientierten Sprachgeschichte“, in: Sitta , S. , ; vgl. auch Cherubim ebd., S. ff. Schlieben-Lange , S. .
8
Vorbemerkungen
exemplarisch am alten, anonymen Studentenlied studiert werden (Kap. II). Es wird bei kollektivem Gesang als einheitlich memorierter Text aufgerufen (Singfehler werden sanktioniert), hat in oraler Tradition aber keine stabile Form, unterliegt der Improvisation, kann in verschiedene Traditionsstränge zerfasern, sich mit anderen Liedern vermischen usw. Eine private Schriftfassung als punktuelle Momentaufnahme bleibt dabei folgenlos, dagegen kann eine für die Singgewohnheiten einer Gemeinschaft akzeptierte Sammelhandschrift eine bestimmte Traditionslinie festigen. Auch die Druckform an sich bedeutet noch keinen Eingriff in die gewohnte Tradierungsweise: Der Einblattdruck eines Liedes zu einem festlichen Anlass ist in seiner Folgewirkung vergleichbar mit einer privaten Aufzeichnung. Dagegen kann ein Liederbuch als Verlagswerk den Liedgebrauch der gesamten Studentenschaft revolutionieren.²⁵ Im Interaktionsmuster ‚Beleidigung – Satisfaktion‘ (Kap. V) ist die Einstiegsphase kaum anders als mündlich kommuniziert vorstellbar, die nächsten Handlungszüge in den unterschiedlich kontextualisierten Situationen können zumindest im 18. Jahrhundert alternativ oder alternierend in gesprochener oder geschriebener Form ausgeführt werden, während die Abschlusserklärung zur Satisfaktionsfrage nach dem Duell in Face-toface-Situation wieder mündlich erfolgt; spätere Komments erheben durchgängige Mündlichkeit zur Norm. Wiederum ist die historische Variationsbreite des Musters zu kalkulieren. Dem Zwischenbereich der „Semi-Oralität“²⁶ kann man die Protokolle der akademischen Behörden zurechnen; zu beachten ist dabei die institutionelle Prägung des Ablaufmusters ‚Vernehmung – Protokollieren‘ (Kap. IV). Auch studentische Gremien beginnen um 1800 ihre Verhandlungen zu protokollieren, wie überhaupt für die gruppeninternen Organisationsbedürfnisse die Umstellung von ungeschriebenem Brauchtum auf kodifizierte Regelwerke in der Epochenschwelle um 1800 stattfindet. Eine Kommunikationsform, die seit jeher der Schriftkultur angehört, erfreut sich unter Studenten ganz besonderer Beliebtheit: das Stammbuch. Die Eintragskomponente ‚Memorabilien‘ führt in den kommunikationsintensiven Bezirk von Freundeskreisen bei ihren Freizeitbetätigungen und erlaubt fast voyeuristische Blicke in die ‚Küchen‘ gruppensprachlicher Innovation. Die Gruppenspezifik dieses Texttyps manifestiert sich zudem in einem markanten Syntaxstil, sogar im Gebrauch der Satzzeichen (Kap. III. 5), so dass gruppensprachliche Charakteristika auf praktisch allen sprachkommunikativen Rängen als nachgewiesen gelten können. Die vorstehende Skizze der sprachtheoretischen und forschungssystematischen Zusammenhänge, in denen die Zielsetzungen und Schwerpunkte der Bei-
Vgl. Kap. III. – zum ‚Landesvater‘-Lied; s. dazu Anhang B. Schlieben-Lange , S. mit Berufung auf F. Nies.
Vorbemerkungen
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träge begründet sind, ist noch zu ergänzen um einige Klärungen zu dem im Titel enthaltenen Begriff ‚Lebensform‘. Der Begriff erscheint in Wittgensteins sprachphilosophischen Überlegungen im Zusammenhang mit ‚Sprache‘ und ‚Sprachspiel‘, wird allerdings weder definiert noch an Beispielen erläutert. Soviel wird deutlich, dass er die Korrelation und Wechselwirkung von Sprachverwendung und Lebensvollzügen betonen soll, dabei auch – analog zu ‚Sprache‘ – ein historisch gewordenes funktionales Ganzes bezeichnet, einen Typ der Organisation des soziokulturellen Zusammenlebens, das „Hinzunehmende, Gegebene“.²⁷ Bei aller Vagheit der Begriffe ist damit doch die Richtung für eine ‚pragmatische‘ Betrachtung von Sprache in Gebrauchszusammenhängen gewiesen. Plastischer wird der Begriff ‚Lebensform‘ bei dem Historiker Arno Borst, der aus der langen „Wortgeschichte“ (vitae forma, forma vivendi, usw.) die wesentlichen Bestimmungsstücke für eine forschungspraktische Anwendung auf die Verhältnisse im Mittelalter destilliert. Danach sind zwei „Hauptarten“ von Lebensformen zu unterscheiden: sie treten in „Lebensbedingungen“ (Condicio humana) wie Jugend, Krankheit oder Askese auf und/oder in „Lebenskreisen“ (Societas humana) wie Markt, Fürstenhof oder Kloster. Lebensformen sind keine „Konstanten der Menschennatur“, sondern „historische Erscheinungen“ und erfüllen drei „Hauptfunktionen“: „Sie befriedigen erstens vitale Bedürfnisse und Interessen“; „Zweitens sichern sie soziale Konventionen und Institutionen“; „Drittens üben sie ethische Normen und Werte […] ein.“ Um historische Lebensformen zu erfassen, sind nach Borst zwei Methoden zu kombinieren: Auswahl geeigneter Quellen, die zeitgenössische Verhältnisse reflektieren, und deren kritische, kontextualisierende Interpretation.²⁸ Die Fassung des Begriffs bei Borst hat den Vorteil, dass sie eine sehr kleinteilige Betrachtung von Lebensformen erlaubt, zwischen denen sich der Einzelne in Grenzen bewegen kann. Eine Anwendung auf die noch traditionale Gesellschaftsform im 18. und 19. Jahrhundert erscheint berechtigt, während in der modernen ‚offenen‘ Gesellschaft Lebensformen sich eher verflüchtigen. Den Begriff in unserem Zusammenhang heranzuziehen liegt auch deswegen nahe, weil er in den Reflexionen der frühen Burschenschaft über Sinn und Zweck der Studentenzeit an prominenter Stelle hervortritt:²⁹ Wie den Lehrern und Vorstehern unsrer Anstalten die wissenschaftliche Thätigkeit frei und unbeschränkt zusteht, […] auf gleiche Weise ist auch den Mit Wittgenstein , S. . Vgl. Borst , S. – . Aus der ‚Einleitung‘ zur ‚Verfassungs-Urkunde der Jenaischen Burschenschaft‘ (); zit. nach Haupt , S. – .
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Vorbemerkungen
gliedern der Hochschule, die sich in ihr bilden, ein freies Leben und Treiben in jugendlicher Weise gewährt; es ist ihnen Raum gegeben, worin ein jeder sein Eigenthümliches in Geist und Gemüth, in Art und Sitte frei aussprechen, fortbilden und zu einem Ganzen, einem festen Karakter ausbilden soll. Hieraus ergiebt sich nun leicht, daß mit der Idee und dem Endzweck der teutschen Hochschulen auch die Anlage und der Grundstein zu einer besondern Lebensform und Erscheinung gegeben ist, die sich zwar mannigfach und vielseitig offenbart, die aber in einer Hauptseite doch vorherrscht, im akademischen Leben, das nur Teutschen und den in ihrem Sinne gebildeten Hochschulen Eigenthum und Karakter ist. Dieses nennen wir mit einem allgemeinen bekannten und durch sein Alter ehrwürdigen Namen: Burschenleben. […] F r e i h e i t u n d E h r e s i n d d i e G r u n d t r i e b e d e s B u r s c h e n l e b e n s. Die erste ist nothwendig gegeben durch die Bestimmung des Burschen, nehmlich Ausbildung und Auslebung der gesammten Persönlichkeit, […] die zweite nothwendig im Gefolge der erstern; denn das Selbstgefühl ist die Wurzel der Ehre; sein Selbst aber fühlt und begreift nur rein und klar der Freie. Die studentische Lebensform erhält hier eine funktionale Bestimmung: ihr Zweck ist Charakter- und Persönlichkeitsbildung an der Schwelle zum Erwachsenendasein. Dieser Zweck ist nicht beim einsamen Studieren zu erreichen, sondern am ehesten im intensiven Umgang und in der Auseinandersetzung mit anderen. Folgerichtig fällt der Akzent auf das selbstbestimmte, freie „Burschenleben“. In den polemischen Grundsatzdiskussionen über „das wahre Burschenleben“ zwischen der Burschenschaft und den Landsmannschaften in Jena wenige Jahre später wird der Akzent allerdings deutlich verschoben: Während die wieder etablierten Landsmannschaften weiterhin in „Freiheit und Freundschaft verbunden mit Frohsinn“ das Wesentliche erblicken, gibt sich die Burschenschaft nun betont progressiv, indem sie erklärt: „Wissenschafl. Bildung ist gerade Zweck des Burschenlebens“, zumindest dürfe auch bei Teilnahme am „Burschenleben“³⁰ der Einzelne „durch nichts in seiner wissenschaftlichen Ausbildung gestört“ werden.³¹
Das „Burschenleben“ ist in großen Teilen durch die „Constitution“ bzw. den „Brauch“ der Burschenschaft bestimmt, während die Landsmannschaften/Corps ihren „Comment“ pflegen.Vgl. dazu Laukhard (‚Leben‘, T. , S. ): „Je fideler aber der Comment irgendwo ist, desto reicher ist die Burschensprache, und umgekehrt.“ Schäfer , S. , , .
Vorbemerkungen
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Wie immer die ideologischen Proklamationen oder die persönlichen Entscheidungen ausfallen, das reale Leben des Studenten spielt sich grundsätzlich in beiden Tätigkeitsfeldern ab: Studium und (gesellige) Freizeit, die idealerweise in ein ausbalanciertes Verhältnis zu bringen sind. Die zwei möglichen Ausrichtungen werden als pointierte Gegensätze oder auch in einseitiger Verabsolutierung unter Typisierungen wie „Bursch“ – „Student“³² oder „purschikos“ – „studentikos“³³ in endlosen Variationen in Text und Bild durchgespielt. Wollte man statt von studentischer ‚Lebensform‘ lieber von ‚Subkultur‘ sprechen, wäre man auf die eine Seite festgelegt. Die Studentensprache jedenfalls bezieht alle Lebensbereiche, Erscheinungs- und Ausdrucksformen ein und überformt sie als Symbolisierungssystem eigener Art,³⁴ wenn sie auch ihren zentralen Anwendungs- und Quellbereich zweifellos im „Burschenleben“ hat. Sich auf diese Sprachwelt einzulassen förderte die Integration in altershomogene Gruppen und die Informalisierung persönlicher Beziehungen, bedeutete jedoch nicht, der jeweils artikulierten Mainstream-Mentalität eigene Überzeugungen und Interessen opfern zu müssen, und konnte umso eher riskiert werden, als mit dem Abgang von der Universität diese Phase einer aktiven sprachlichen Zusatzkompetenz voraussehbar beendet war. Die Eigentümlichkeit der studentischen Lebensform(en) im untersuchten Zeitraum ist Gegenstand etlicher großer Darstellungen³⁵ und braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Bei sprachhistorischer Arbeit gilt selbstverständlich der Primat der Sprache. Die „und“-Verbindung im Titel soll zum Ausdruck bringen, dass Sprache auf ihre „Verschränkung“³⁶ mit der Lebensform hin perspektiviert wird. Dabei ist immer bewusst zu halten, dass die spezifischen Möglichkeiten der Sprache – Wissensspeicherung, Anleiten, Beschreiben, Erzählen, Kommentieren, Bewerten, Metakommunikation usw. – eine Lebensform in vielfältiger Weise übersteigen, ja sie überhaupt erst begreifbar machen. Daher dürfte eine Lebensform – als ‚Stil‘ einer gemeinschaftlichen Lebenspraxis – im Normalfall über die Analyse ihrer sprachlichen Äußerungen am präzisesten zu erfassen sein. Die Frage nach der Zone, wo Sprachpraxis und Lebenspraxis un-
Laukhard (‚Leben‘, T. , S. f. und nochmals ‚Eulerkapper‘, S. f.) zitiert eine Gießener Reimerei von , wo der Antipode zu „Bursch“ als „Drastikum“ erscheint („anderwärts Thekessel“). Vgl. die Stammbuchverse von bei Kluge , S. . Zu Recht Kluge , S. : Die Studentensprache „umfaßt das ganze Studentenleben in seinen Formen und Äußerungen.“ Vgl. Fabricius /, Fick , Wentzcke , Schulze/Ssymank , Bauer ; mehr folkloristisch für die anglophone Welt schon Howitt . Luckmann , S. ; vgl. dazu weiter unten Kap. V. .
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Vorbemerkungen
mittelbar ineinandergreifen, führt denn auch wieder auf den Leitbegriff des Sprachspiels: Es ist die ganz oder in Teilen sprachlich realisierte „Tätigkeit“³⁷ in Form der oben vorgestellten Muster, Praktiken, Routinen und Modelle. Für die Bereitstellung handschriftlicher Materialien und/oder wichtige Auskünfte danke ich insbesondere dem Niedersächsischen Staatsarchiv Wolfenbüttel (u. a. Akten der ehemaligen Universität Helmstedt), dem Universitätsarchiv Göttingen, dem Stadtarchiv Göttingen, der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek Weimar, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart und dem Institut für Hochschulkunde Würzburg, ferner dem Archiv der Deutschen Burschenschaft Frankfurt/M., dem Universitätsarchiv Gießen, dem Schleswig-Holsteinischen Landesarchiv Kiel, dem Universitätsarchiv Tübingen, dem Deutschen Volksliedarchiv Freiburg/Br., der Hessischen Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, dem Staatsarchiv Würzburg und dem Germanischen Museum Nürnberg. Mein besonderer persönlicher Dank gilt den Herrn Professoren Helmut Henne und Dieter Cherubim, die den Fortgang meiner Arbeit an der historischen Studentensprache mit anhaltend förderlichem Interesse begleitet haben.
Wittgenstein , S. .
I Studentische Kommunikationsstile im späteren 18. Jahrhundert
1 Studentensprache: Wortschatz und Stilsphäre Studenten sind der Teil der Jugend, der für die Geschichtswissenschaften über viele Jahrhunderte am besten greifbar wird, und zwar nicht nur im institutionellen Rahmen der Universitäten und anderen höheren Bildungsanstalten, sondern auch in ihren freizeitlichen und alltäglichen Lebens- und Äußerungsformen. Angesichts der kulturellen Entwicklung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts überrascht es nicht, dass Studentenhistoriker hier ebenfalls gern von „Aufstieg“¹ oder vom „Beginn einer neuen Zeit“² sprechen. Aus sprachhistorischer Sicht ist zunächst einmal nüchtern zu konstatieren, dass für diese Zeit erstmals eine ausreichende Quellenbasis für eine umfassende Erforschung dessen vorliegt,was zeitgenössisch meist „Burschensprache“ genannt wird. Unser Bild von der deutschen Studentensprache ist immer noch geprägt durch die um 1900 vorgelegten Arbeiten von Friedrich Kluge, John Meier und Konrad Burdach. Kluges Programm einer Dokumentation und historischen Beschreibung der „Standes- und Berufssprachen“ legitimierte sich durch die Perspektive, dass diese „Sprecharten“ zur lexikalischen Bereicherung und Erneuerung der Schriftsprache beitragen. So betrachtet entpuppte sich die Studentensprache als ein Aufsteiger besonderer Art, ragte sie doch „gelegentlich auch in die Literatur selbst hinein […], zumal nachdem das kühne Geschlecht der Stürmer und Dränger natürliche Derbheit und burschikose Stimmung in der Literatur entfesselt hatte“.³ Während Kluge die verschiedenen zwischensprachlichen und innerdeutschen Interferenz- und Entlehnungsvorgänge verfolgte, die in der Studentensprache zusammenlaufen und ihren eigentümlichen Mischcharakter formen, so stellte sich Burdachs Arbeitskreis, dem auch John Meier angehörte, die komplementäre Frage, was aus einstmals studentischem Vokabular, konkret: dem Inhalt des Hallenser ‚Idiotikon der Burschensprache‘ von 1795, im Verlaufe eines Jahrhunderts geworden war. Burdachs Resümee umreißt einen hochkomplexen sprachsoziologischen Verteilungs- und Umschichtungsprozess dieser Ausdrücke und sei darum zitiert: „Viele davon sind in die gewählte Litteratursprache, viele in burschikose Schrift und Rede oder in die Umgangssprache, viele in den allgemeinen derben und vulgären Sprachgebrauch übergegangen; manche leben noch studentisch in Halle, sind aber bereits im Veralten begriffen; andere haben sich nur auf entlegneren Universitäten oder in der ‚pennalistischen‘ Sprache der Gymnasiasten, die studentisches Wesen und Reden nachahmt, conserviert; viele endlich sind
Schulze/Ssymank in der Überschrift zu Teil , Kap. (S. ). Wentzcke , S. . Kluge , S. .
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ausgestorben.“⁴ Die Dimension der Vorgänge lässt sich nur erahnen, denn jenes ‚Idiotikon‘ enthält lediglich „328 ächte Burschenausdrücke“.⁵ Dieser Beitrag versucht sich jedoch der Studentensprache nicht über deren Wortschatz, sondern in erweiterter Perspektive über deren Stilsphäre zu nähern, über die Gesamtheit studentisch getönter Kommunikationsweisen. Dabei soll nicht verkannt werden, dass systematische Analysen der Struktur des Gesamtwortschatzes, bestimmter Teilwortschätze oder des Gebrauchswertes einzelner lexikalischer Einheiten bereits wichtige Aufschlüsse über die kognitiv-affektive Verarbeitung der studentischen Lebenswelt geben. Um nur einige Aufbauprinzipien dieses Spezialwortschatzes zu nennen: Lexikalisierung, wo Bezeichnungsbedarf entsteht, etwa in dem, was unter den volkskundlichen Begriff ‚studentisches Brauchtum‘ fällt; Relexikalisierung, also sprachliche Überformung von Wirklichkeitsausschnitten durch sekundäre, hier: gruppenspezifische, Interpretationen und Akzentsetzungen, etwa Mänichäer für Gläubiger; Überlexikalisierung: Emotional Aufgeladenes wird mit reicher Synonymik ausgestaltet, so die junge Weiblichkeit.⁶ Neben massiver Entlehnung aus Latein und Französisch – die zu Zeiten des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins sogar zu Verdeutschungswörterbüchern der Studentensprache führt⁷ – sind Metaphorisierung und Wortbildung die bevorzugten Rekrutierungstechniken für Studentenwortschatz. Goethe notiert sich um 1808 unter der Überschrift Studenten Comment neben die schriftsprachlichen Wörter Unglück und Glück: Pech, Saupech bzw. Treffer, Sautreffer. ⁸ In dem erwähnten ‚Idiotikon‘ von 1795 wird für Treffer das Würfelspiel als primärer Kontext der Metaphernbildung angegeben. Das in seiner hyperbolisierenden Funktion sehr produktive Element Sau ermöglicht am Ende eine so skurrile Bildung wie Sauschwein. ⁹ Nach diesen kurzen Ausblicken ist klar, dass lexikalisch-semantische Analysen der Präzision von Stilbeschreibungen nur förderlich sein können. Anders als bei monostilistischen nomenklatorischen Systemen ist bei natürlichen Sprachen der Wortschatz in vielfältiger Weise stilistisch markiert. Die natürliche Vorkommensform von Sprache sind aber nun einmal Texte, sie stehen in konkreten Gebrauchszusammenhängen; von ihnen als empirischer Basis her sind Fragen nach Funktion, Modus und Organisation kommunikativer Abläufe erst ganzheitlich anzugehen. Dies gilt es deshalb zu betonen, weil bei Kluge der erstaunliche Satz steht, es gebe „eigentlich keine zusammenhängenden
Burdach , Vorwort S. XII. Augustin , S. . Vgl. Kluge , S. f., . Entsprechende Beobachtungen schon bei Augustin , S. . Reprint: Henne/Objartel , Bd. , Anhang. Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. , . Abt. , S. . Meier , S. , .
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Texte der Burschensprache“.¹⁰ Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass der in Texten realisierte Wortschatz gegenüber einem abstrahierten Wörterbuch-Wortschatz eigene Züge hat: schon die lebendige Fülle der Wortbildungen ist im Wörterbuch nicht einzuholen.
Kluge , S. .
2 Typologie der Quellentexte Die ergiebigsten Textarten seien kurz vorgestellt und kommentiert. A. Zum Kernbereich gehören Texte, die von Studenten für Studenten über deren Erfahrungswelt handeln oder für den Gebrauch in ihr bestimmt sind: 1. Briefe und Tagebücher. Sie enthüllen insbesondere, was unter dem Stichwort ‚Formung der Innerlichkeit‘ zu behandeln wäre. Dabei unterliegt das sich mitteilende Individuum auch gesellschaftlichen Determinanten, ganz offensichtlich etwa beim Freundschaftskult. 2. Stammbücher. Im späteren 18. Jahrhundert treten zu den herkömmlichen Eintragungsarten vermehrt die sog. Memorabilia, Beschwörungen von gemeinsamen Erlebnissen im Telegrammstil; in der Widmungsunterschrift geht man von einem formellen „Dero Freund und Diener“ über zu dem vertrauten „Dein Freund und Bruder“. Die in großer Zahl erhaltenen Stammbücher sind Fundgrube und Prüfstein für das von Studenten auswendig Gewusste, ihren Formel- und Zitatenschatz, ihre Wahlsprüche und Lieblingspoeten.¹¹ 3. Texte, deren Entstehung dem ungeschriebenen oder geschriebenen Burschenkomment zu verdanken ist: – Gelegenheitsdichtungen, etwa zu festlichen Anlässen oder kollektiven Protestaktionen¹²; Gebrauchstexte, wie Pasquille, Forderungszettel, Ehrenerklärungen. – Offizielle Dokumente aus dem organisierten Verbindungswesen, den Orden, Landsmannschaften, Kränzchen, Gesellschaften, Bünden, Clubs, Sozietäten oder wie immer sie sich nannten oder genannt wurden, insbesondere Statuten, Rezeptionsriten und Eidesformeln, Aufnahmeurkunden, Zirkulare, Sitzungsprotokolle, Chroniken, Rechnungsbelege, Mitgliederverzeichnisse, Duelllisten. Gegen Ende des Jahrhunderts setzen kartellartige Zusammenschlüsse landsmannschaftlicher Verbindungen ein, die jedes Detail umfassende Regelungen erlassen, sog. SC (= Senioren-Convent‐) Komments. – Kommers- und Gesellschaftslieder. Christian Wilhelm Kindleben mit seinen ‚Studentenliedern‘ von 1781 gilt als wichtigster Erneuerer des vordem nicht selten obszönen Liedgutes.¹³ Im übrigen wechselten Repertoire und Textform
Für die literaturwissenschaftliche Rezeptionsforschung ergeben sich hier gute Ansatzpunkte; vgl. die umfangreiche Untersuchung von Angermann . Vgl. etwa die ausgedehnten Spott- und Trutzreimereien anlässlich des Hallischen Studentenaufruhrs von bei Meier . Neudruck in: Studentensprache und Studentenlied .
2 Typologie der Quellentexte
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ad libitum; man denke nur an die verschiedenen Versionen des ‚Landesvater’Liedes oder von Schillers ‚Räuberlied‘ Ein freies Leben führen wir. 4. Zum engeren Korpus gehört noch das ausgedehnte Unterhaltungs- oder Informationsschrifttum für ein studentisches Lesepublikum. Zwei Beispiele: Friedrich Christian Laukhard, ehemaliges Mitglied des Amicistenordens und Kronzeuge für Studentenleben und Burschensprache, erklärt in seiner Autobiographie: „Ich schrieb für die akademische Jugend vorzüglich […]: daher die eigene Art von Anlage, Ausführung und Ton. Alles rasch, vieles studentisirt, burschikos und Einiges gar renommistisch.“¹⁴ Der ungenannte Verfasser des ‚Taschenbuchs für Studenten und ihre Freunde‘, ehemaliger Aktiver der Landsmannschaft Pomerania in Halle, bietet nach dem Muster komischer Heldenepen eine ‚Burschiade‘, die er „mit Burschenwörtern untermengt, um sie dadurch spaßhafter und interessanter zu machen“.¹⁵ Für die der Burschensprache Unkundigen fügt er, wie Laukhard, in Fußnoten Erklärungen bei. Einträglich war solche Schriftstellerei bei rund 6000 Studenten an deutschen Hochschulen kaum.¹⁶ B. An der Peripherie liegen Eingaben von Studenten an die Universitätsbehörden: Gesuche um einen Freitisch, um Milderung der Relegationsstrafe, um Gebührenerlass usw., die den rhetorischen Formelapparat geflissentlich bedienen. Studentensprachlich getönt sind gelegentlich Aussageprotokolle oder schriftliche Zeugenerklärungen bei den sehr häufigen und hartnäckigen Untersuchungen der universitären Gerichtsbarkeit, z. B. bei Injurienfällen. Als indirekte Quellen sind schließlich von Interesse die landesfürstlichen Duell-, Fleiß- und Betragensmandate an die Adresse der Studierenden, ferner die universitären Studentengesetze, Reglements und Aushänge, die in ihrer Gesamtheit Punkt für Punkt ungefähr alles unter Strafe stellen, was Studenten Freude machen konnte. C. Die Möglichkeiten, Studentensprache als gesprochene Sprache zu rekonstruieren, sind natürlich bescheidener. In den Vernehmungsprotokollen der Universitätsgerichte werden die Aussagen der Studenten meist auf ihren Inhaltskern reduziert und zu indirekter Rede umgewandelt; erst im 19. Jahrhundert wird direkte Redewiedergabe üblicher bzw. durch den Fortschritt der Vernehmungstechnik und der Stenographie überhaupt erst möglich. Ansonsten bleiben fiktionale Gespräche in Dramen und in den erzählenden Gattungen, erinnerte Gespräche in personenbezogenem Schrifttum oder inszeniertes Zwiegespräch in Briefen und Briefliteratur. Bestimmte Gesprächsstereotype, wie Grüße, Trink Leben und Schicksale, . Teil, , S. . Taschenbuch , Vorrede S. . Zur burschikosen Belletristik vgl. Lange und Nimtz sowie die bibliographischen Nachweise bei Erman/Horn, T. , , S. ff.
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sprüche, Neckformeln, oder typische Sprachgesten, wie intonatorische Überkonturierung durch (oft französische) Interjektionen, sind dem Text- und Bildmaterial durchaus zu entnehmen, großenteils auch schon den Studentenwörterbüchern.
3 Zur Begründung eines textpragmatisch-stilanalytischen Ansatzes Nach diesem Überblick über die textliche Ausgangslage ist eine nähere Begründung und Einordnung eines pragmatisch-funktionalen Ansatzes angebracht. Dabei sollen weniger aktuelle Trends und Details fachimmanenter Diskussionen die Sichtweise vorgeben, sondern in einer empirisch-gegenstandsbezogenen Herangehensweise zunächst einige Annahmen über (A.) Funktionen, (B.) Grundeigenschaften und (C.) Bewertungen der historischen Studentensprache formuliert werden, die stilistische Fragestellungen als primär und den lexikologisch-lexikographischen als übergeordnet erscheinen lassen. A. Bei allen Unterschieden der sozialen und regionalen Herkunft, Fachzugehörigkeit,Vorbildung usw. gibt es doch einige Konstanten bei den Studenten: Sie sind männlich, bilden einen eigenen Stand innerhalb einer städtischen Gesellschaft (verstehen sich auch selbst als junge Gelehrte oder Musensöhne) und gehören zur selben Altersgruppe. Studentensprache kann also eine dreifache Charakterisierung erfahren: als Männersprache, als Standessprache und als Alterssprache. Welcher Aspekt in seiner kommunikativen Auswirkung insgesamt oder relativ zu welchen Typen von Sprachverwendungssituationen dominiert, soll hier nicht weiter untersucht werden; offensichtlich ist, dass unter jedem Aspekt unterschiedliche Funktionsbestimmungen möglich und sinnvoll sind. Die Hauptfunktion der Studentensprache als Alterssprache scheint mir nun die Entwicklung, Ausbildung und Erprobung verschiedener ‚höherer‘ pragmalinguistischer Fähigkeiten, kurz: einer stilistischen Modulationsfähigkeit, zu sein. Die eigene Gruppensprache scheint als Rahmen und Instrument hierfür geradezu prädestiniert, stellt sie doch, da sie von den Neuankömmlingen erst noch rasch nachgelernt werden muss, gleichsam einen verschärften Testfall dar. Eine Einzelbeobachtung mag diese Hypothese stützen: Nicht nur junge Füchse, die, mit Burschenausdrücken konfrontiert, Fehlleistungen erbringen, sind Opfer von Studentenwitzen, sondern auch höhere Semester, die zwar die Burschensprache können, sie aber in unpassenden Situationen anbringen, gegenüber zufällig Mitreisenden, im Gespräch mit Professoren oder gar im Examen.¹⁷ B. Zu einem reichhaltigen Reservoir von Stilelementen wird die Studentensprache durch ihre mittlere bzw. vermittelnde Position zwischen verschiedenen Einzelsprachen, Fachsprachen, Stadtsprachen, Mundarten und sozialgeschich-
Vgl. z. B. Augustin , S. ; Taschenbuch , S. , , ; C. A. Kortum: Die Jobsiade, Bd. , Dortmund , S. – (Prüfungsszene).
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teten Umgangssprachen. Was von dem Großmodell, das man hier konstruieren könnte, in realer Kommunikation an Sprachen- und Varietätenkombinationen wirksam wird, muss aus den erreichbaren Informationen über die Struktur der Sprachkompetenz einzelner Personen oder kleinerer Kommunikationsgruppen ermittelt werden. Kluge bemerkte, dass die Studentensprache hinsichtlich der Menge hybrider Wortbildungen (z. B. Konkneipant, schauderös) ohne Parallele ist.¹⁸ Eine Sprachvarietät solchen Typs könnte man Variolekt nennen. C. Studentensprache tritt historisch zuerst als stilus pursicus in Erscheinung, z. B. auch in Gestalt des makkaronischen Lateins. Im späteren 18. Jahrhundert sind Ausdrücke wie Burschenton, Ton der Studenten sehr häufig und geben zu erkennen, dass Studentensprache besonders auch in ihren expressiven Qualitäten wahrgenommen und bewertet wurde. Wie zu erwarten, sind die wahrgenommenen Unterschiede beträchtlich, sogar zwischen den vier führenden mitteldeutschen Universitäten Halle, Jena, Göttingen und Leipzig. Der vielgereiste Laukhard gibt aus seiner Studienzeit in den siebziger Jahren glaubhafte Nachrichten, die unabhängig vielfach bestätigt werden. Er hält auch mit seiner affektiven Spracheinstellung nicht zurück: Der Ton der Jenenser behagte mir sehr: er war blos durch mehrere Roheit von dem der Gießer [= Gießener] unterschieden. Der Jenenser kannte – wenigstens damals – keine Komplimente: feine Sitten hießen Petitmäterei, und ein derber Ton gehörte zum rechten Komment. Dabei war der Jenenser nicht beleidigend grob, oder impertinent; vielmehr zeigte sich viel Trauliches und dienstfertiges in seinem Betragen. Ich habe hernach den viel feinern Ton in Göttingen, und den superfeinen Leipziger kennen gelernt: da lobe ich mir denn doch meinen Jenischen.“ ¹⁹ Der je besondere Ton resultiert aus dem Wechselspiel der jeweilige Stadtatmosphäre und herrschenden Gesellschaftssprache einerseits und der sozialen, auch der fachlichen Zusammensetzung der Studentenschaft und ihrer sprachlichen Tradition. So ist eine gruppensprachliche Profilierung eher möglich, wenn der Anteil der Studenten an der Einwohnerzahl hoch liegt, wie in Göttingen oder Jena, wo er bis zu einem Viertel ansteigt; damit wird zugleich auch die Ausstrahlung der Studentensprache auf die Stadt und ihre Umgebung umso intensiver.²⁰ Ein Bei-
Kluge , S. . Leben und Schicksale, . Teil, , S. f. Nach Rebmann, Briefe über Erlangen (), . T., S. suchen „Bürgerssöhne“ den „flotten Studenten“ noch zu „übertreffen“; nach Rebmann, Briefe über Jena (), S. , hat eine
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spiel für extreme Differenziertheit des Studententons am Ort ist Halle, dessen überdurchschnittliche Zahl fleißiger Theologiestudenten zur Typisierung des pietistischen Muckers führt, während andererseits der Waisenhäuser-Ton mit seiner Revitalisierungsfunktion als Nonplusultra der Wildheit gilt.²¹ Kritisch zu betrachten sind zählebige Klischees, wie das vom bramarbasierenden Jenenser Renommisten oder dem galanten Leipziger Stutzer,²² die zumindest am Ende des Jahrhunderts historisch überholt sind. Will man ein ständiges Leitbild für den – wie Laukhard sagt ²³ – „alten graden Burschenton“ herausfiltern, so wird man mit Sicherheit auf Jena kommen. Wie ist nun die Burschensprache in die Sprachwertstruktur der Zeit eingebettet? Da Burschensprache, wie eben gezeigt, ein Sammelbegriff für recht disparate Phänomene ist, kann jede einsträngige Zuordnung zu einer Werteskala nur eine Teilantwort auf die gestellte Frage sein. Will man die Burschensprache nicht gleich in verschiedene Sprachvarietäten (Teilsprachen des Deutschen) aufspalten, so sind doch mehrere Stilkomplexe zu trennen, von denen einer – so lässt sich zwanglos denken – die Varietät überwiegend repräsentiert, d. h. insbesondere auch aus gruppenexterner Perspektive über gewisse signalhafte Sprachelemente Identifikation und Einstufung ermöglicht. Hinsichtlich der psycho-sozialen Grundlagen der Bewertung wäre zu differenzieren nach dem Prestige der Burschensprache als Standessprache, nach affektiven Einstellungen, nach pädagogisch-moralischen Präferenzen, nach sprachnormativem Interesse u. a.m. Aber generell ist zu beobachten, dass analytisch Trennbares in der kommunikativen Praxis kaum entwirrbare Verbindungen eingeht. Burschensprache wird in der Regel als derb-komischer Stilkomplex empfunden und niedrig eingestuft – so nach den zahlreich verfügbaren Stellungnahmen, deren soziale Repräsentativität dahingestellt bleibe.²⁴ Einige wesentliche Gründe für diese Art der Koppelung von selektiver Wahrnehmung und Einschätzung werden deutlich bei einem Blick in die damalige normative Stilistik. In den Stilistiken, wie auch in Adolph Freiherrn von Knigges Lehrbuch ‚Über den Umgang mit Menschen‘²⁵, werden Burschenton und studen„gewisse Burschikosität“ nicht nur die Stadtbürger ergriffen, sondern: „Auch die Bauern in den nah gelegenen Dörfern wissen die Bedeutung aller burschikosen Kunstwörter sehr wohl.“ Dazu Augustin , S. f.; ferner [Anon.:] Karl Gutman , S. – , – . Vgl. Zachariä . Annalen, . T., , S. . Typische Beispiele: Heun , . T, S. : Burschenton „verräth eine zu große Abweichung von dem guten gesitteten Tone“ und kann zum Hindernis im späteren Beruf werden; Fick , S. f. In der Vorrede zur . Aufl. Hannover erklärt von Knigge, „Vorschriften für jungen Leute“ (u. a. für Studenten) fehlten aus Raumgründen. (Ausg. G. Ueding , S. ).
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tische Umgangsformen nirgends behandelt. Zumindest bei der Zielsetzung und Anlage der Stillehren ist das auch nicht weiter verwunderlich. Bei der Durchsicht von Johann Christoph Adelungs Abhandlung ‚Über den Deutschen Styl‘ wird man im 1. Teil (‚Allgemeine Eigenschaften des Styles‘) vor allem im Kapitel über die „Reinigkeit“ an die Studentensprache erinnert. Hier werden die Barbarismen gebrandmarkt, also veraltete, provinzielle (dialektale), unnötig entlehnte und sprachwidrig neugebildete Wörter. Adelung warnt vor „übertriebenem Purismus“, hält aber „Sprachmengerey“, „Mischmasch“ doch für besonders verwerflich.²⁶ Im 2. Teil (‚Besondere Arten des Styles‘) begegnen in den Beispielpartien einzelne Burschenausdrücke im Kapitel über den „vertraulichen Styl“ (d. h. den traditionell „niederen“), ferner im Kapitel über das „Niedrig-Komische“.²⁷ Dieses „NiedrigKomische“ hat bei Adelung, der darin toleranter ist als mancher seiner Kollegen, noch eine „eigene Würde“, indem es aus der legitimen Redeabsicht zu belustigen abgeleitet wird; für „Zoten, Grobheiten u.s.f.“ hält aber auch Adelung gar keine Stilkategorie mehr bereit.²⁸ Interessanterweise sind die sonst verpönten Barbarismen, selbst „Sprachfehler“, wie Wortverdrehungen, als Mittel der Belustigung zugelassen.²⁹ Darin trifft sich Adelung mit Karl Philipp Moritz‘ ‚Vorlesungen über den Styl‘. Bei der Erörterung des Problems ‚Einheit in der Mannigfaltigkeit‘ kommt Adelung auf die „Einheit des Tones“, verstanden als der herrschende „Gemüthsstand“ in einem Text, und führt aus: „Manche Arten des Tones ertragen und erfordern um der Mannigfaltigkeit willen, die nächst an ihnen gränzenden; so verträgt der vertrauliche Ton komischen Witz, […] weil vertraulich seyn und scherzen […] sich sehr schön verbinden lassen.“³⁰ Karl Philipp Moritz scheint die Variationsmöglichkeiten und Assimilierungskraft der komischen Stilart noch höher einzuschätzen: „mit der komischen und humoristischen Vorstellungsart passt im Grunde Alles zusammen“.³¹ Damit war der literarischen Verwendung von Burschenton und Burschensprache (die ohnehin der Schriftsprache nahesteht) von offizieller Seite zu Beginn der klassischen Epoche eigentlich – sozusagen ex silentio – grünes Licht gegeben. So wichtig und reizvoll es wäre, die Literarisierung von Studentensprache in den verschiedenen Gattungen wie auch ihre Transformation zu einem Mittel der Satire, Parodie und Travestie nun weiter zu verfolgen, soll hier doch – wie nach
Über den Deutschen Styl, , . Teil, S. – . Ebd., . Teil, S. f. bzw. S. f. (Knauser, prellen, gassatim gehen usw.) Ebd., . Teil, S. f. Ebd., . Teil, S. ff. Ebd., . Teil, S. . Vorlesungen über den Styl[…]. Neue Ausgabe[…] von J. J. Eschenburg. Braunschweig , S. .
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dem Quellenüberblick schon zu erwarten – der von der sprachhistorischen Forschung noch gar nicht entdeckte (allerdings auch schwer zugängliche) Bereich originärer gruppenfunktionaler Kommunikation in den Blick genommen werden, mit dem Ziel einer Differenzierung und Korrektur der lange konservierten Vorstellungen über die historische Studentensprache. Die zwei ausgewählten Phänomene können hier nicht vollständig analysiert, sondern nur exemplarisch demonstriert werden: zum einen die kommunikative Bewältigung des Geheimhaltungsdrucks, unter dem das organisierte Studententum, insbesondere das Ordenswesen, stand; zum andern studentisches Protestverhalten. Einige kurze Zwischenbemerkungen noch: Die Töne-Theorie der Stilistiken jener Zeit, deren Fundament die rhetorische Affektenlehre ist, ergänzt in oft glücklicher Weise die übrigen Einteilungsprinzipien, etwa nach Stilschichten oder Gattungsstilen.³² Sie steht sogar mit der modernen Pragmastilistik in einer verschütteten Traditionslinie, zumal etwa Adelung von elementaren Redeabsichten her Töne deduziert. Eine gewisse Konvergenz besteht auch zu neuesten linguistischen Versuchen, wichtige Dimensionen der Situationsanalyse durch die Sprecher und ihre kommunikative Ausführung zu analysieren, wie Höflichkeit – Aggressivität, Zutraulichkeit – Distanzierung, Privatheit – Öffentlichkeit. Anregend für eine Erforschung der studentischen Gruppenkommunikation jener Zeit sind ferner philosophisch-soziologische Arbeiten von Georg Simmel u. a. über Themenkreise wie Geselligkeit, Sympathie, Freundschaft, Geheimnis;³³ auf sie greift Peter Christian Ludz in seinen „Überlegungen zu einer Analyse geheimer Gesellschaften des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts“ zurück.³⁴ Besonders zu nennen ist schließlich Friedrich H. Tenbruck mit seinem Programm einer „Soziologie der persönlichen Beziehungen“, demonstriert an der „Epoche der Freundschaft“ 1750 – 1850.³⁵ Es liegt auf der Hand, dass alle angesprochenen Intentionen, Situationseinschätzungen, Werte, Beziehungen wenn nicht kommunikativ konstituiert, so doch kommunikativ vermittelt werden und oft markante subkulturelle Stilisierungen erfahren.
Vgl. Sengle , S. ff. G. Simmel: Soziologie. . Aufl. München, Leipzig , bes. das Kap. „Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft“, S. – ; M. Scheler: Wesen und Formen der Sympathie. . Aufl. Bern, München ; ferner z. B. A. Gehring: Die Geselligkeit. Überlegungen zu einer Kategorie der „klassischen“ Soziologie, in: Kölner Zs. für Soziologie und Soz.psych. . , S. – . Ludz , S. ff., ohne speziellen Bezug auf die Studentenorden. Tenbruck , S. ff.
4 Kommunikative Bewältigung von Geheimhaltungsdruck Die Geschichte der Studentenorden liest sich als Geschichte einer Verfolgung seitens der akademischen Behörden, häufig auf direkten Befehl des Landesherrn, 1793 durch ein Reichsgutachten ‚Die auf den Universitäten und Akademien sich verbreitenden Ordensverbindungen betreffend‘ einheitlich geregelt. Seit den späteren 90er Jahren schreiben sich auch die landsmannschaftlichen Verbindungen die „Unterdrückung und Ausrottung der Orden“ aufs Panier – so nach dem Hallischen SC-Komment von 1799.³⁶ Die Gründe für diese Maßnahmen können weder die stereotyp wiederholten sein (Orden verführen zu Zeit- und Geldverschwendung) noch die erklärten Ziele der Orden selbst (Freundschaftspflege, gegenseitige Hilfeleistung, Menschenkenntnis, sittliche Veredelung usw.), die diese als wahre Tugendbünde ausweisen, sondern sie sind in der Organisationsstruktur der Orden zu suchen. Um 1770 setzt eine Konzentrationsbewegung ein, die von vier großen Ordensbünden getragen wird: den Amicisten, Unitisten (auch: ‚Unanimisten’), Konstantisten und Harmonisten. Sie bauen weitverzweigte Systeme von Haupt- und Tochterlogen auf, die überregionale Kontakte pflegen,³⁷ und verstehen sich als Lebensbünde. Als „Haupt-Loge“ der Unanimitas bezeichnet sich die 1774 gegründete und 1778 ausgehobene Helmstedter Loge, deren Ordensbuch zusammen mit anderen Originaldokumenten als Beweismaterialien über das Universitätsarchiv erhalten sind.³⁸ Das studentische Führungsgremium besteht aus einem „Ordens-Meister“, „Vice-Ordens-Meister“ und „Secretair“, die bei Bedarf „decisione plurimum votorum, sine voto decisorio“ (wie es sog. Missive erläutern) gewählt werden. Neuaufnahmen finden nur nach längerer Beobachtung der Kandidaten und bei einstimmigen Gutachten der Ordensbrüder statt; ab 1775 gibt es einen besonderen ersten Grad als Eingangsstufe. Nr. 6 der Ordensgesetze lautet: „Die Verschwiegenheit ist das Grundgesetz Unsers Ordens. Niemand darf auch auf eine verblümte Art davon reden, weder durch ausgebrachte Gesundheit, noch auf sonst irgend eine Art, die bey andern den Verdacht von Unserer Verbindung erregen könnte. Jeder Contravenient bezahlt 16 ggr. welche Strafe bey jedesmaliger Wiederholung verdoppelt wird. Selbst denen vertrautesten Freunden muß es verschwiegen
Bauer (Hrsg.) , S. . Nach Augustin (S. , ) hatten die Konstantisten ihren „jährlichen Ordenskonvent“ in Naumburg, die Unitisten ihren in Merseburg. Zitate im Folgenden aus der Akte Alt des NSA Wolfenbüttel. Zu den Helmstedter Unitisten vgl. Richter , S. – .
4 Kommunikative Bewältigung von Geheimhaltungsdruck
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bleiben.“ Vom Verrat schreckt Nr. 21 ab: Es sind „alle Ordensbrüder verbunden, bey allen möglichen Gelegenheiten sich empfindlich an ihn zu rächen“. Das neue Mitglied muss in einer feierlichen Versammlung „zu Gott einen wahren Eid“ auf alle Ordensgesetze schwören, „und zwar die beiden vordersten Finger während des Eides auf den blossen Degen legend“. Ist nun durch die kumulative Wirkung von eidlicher Verpflichtung und Strafandrohung ein reibungsloses Innenleben mit regelmäßigen Zusammenkünften bei den Studentenorden gesichert, so verbleiben als schwierige Probleme der Kommunikation nach außen: die Anwerbung neuer Mitglieder bei Gefahr der Anzeige; die gegenseitige Erkennung einander persönlich unbekannter Ordensbrüder, etwa auf Reisen; die Tarnung von Ordenskorrespondenzen, die der Post anvertraut werden mussten. Die Werbung, so ist zu vermuten, verlief über Empfehlung und freundschaftliche Annäherung. Zur Tarnung dienten: Kürzel für die Ordensdevise, etwa bei Stammbucheinträgen; Decknamen der Mitglieder; Chiffren für tragende Begriffe wie Loge, Senior, Grad; komplette und verschiedentlich doppelt verschlüsselte GeheimCodes für Buchstaben und Zahlen; auch eigene Zeitrechnungen. Die Konstantisten verwendeten bei ihren gegenseitigen Erkennungsbemühungen Techniken, die Fachleute für nonverbale Kommunikation ansprechen dürften:
Erkennungszeichen 1. Beym Anklopfen an die Thür thut ein Ordensbruder drey Schläge, der erste ist ein Vierthel, die anderen beyden sind Achtel oder überhaupt ein Daktylus –vv. 2. Frage! Die rechte Hand wird in die aufgeknöpfte Weste gesteckt, so daß der Daumen herausgelassen wird. Die Antwort darauf ist: Man steckt den Zeigefinger der rechten Hand in den Kragen des Hemdes oder der Halsbinde. 3. Frage! Man legt den Zeigefinger auf den Mund. Antwort: Man legt die flache Hand auf die Stirne. 4. Frage! Ein Druck mit dem Daumen wenn man nähmlich seine Hand in die eines anderen legt, auf die Oberfläche der Hand des andern. Antwort: Ein Biß in die untere Lippe. ³⁹ Das Verhalten im Verhör fügt sich in diesen Rahmen: Ausweichen, Unverbindlichkeit, auch nachweisbar bewusste Verschweigung von Tatsachen, irreführende
Das beschlagnahmte Statutenbuch der Marburger Konstantisten ist abgedruckt bei Heer a, Anh. II, Zitat S. .
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4 Kommunikative Bewältigung von Geheimhaltungsdruck
oder falsche Aussagen. Es kommt vor, dass nichtssagende Blätter als angebliche Ordensstatuten vorgeschoben werden.
5 Protestverhalten am Beispiel eines Auszugs Am 26. Februar 1791 richtet die Helmstedter Studentenschaft an ihre Universität ein forsches Ultimatum:⁴⁰ Da wir uns wegen der gestrigen unwürdigen Mishandlung schämen uns länger in Helmstedt aufzuhalten, so haben wir uns genöthigt gesehen einen Ort zu verlassen wo uns jeder mit Hohnlächeln ansieht und sind fest entschlossen die Universitaet so lange zu räumen bis uns folgende Punkte bewilligt sind: 1. Allgemeine Amnestie für Alle und alles Vergangene, sowohl des Vorgangs vom 17ten, als des gestrigen. 2. Aufhebung alles Stadt Arrests. 3. Die strengste Genugthuung vom Hofrath Fein für die unwürdige Behandlung und die den Studenten durch den schändlichen und meuchelmörderischen Ueberfall durch Müllers Knappen, Schuster Gesellen und Knechte, zugefügte Beleidigung. 4. Insbesondere exemplarische Bestrafung des Oeconomen Haenichen welcher die Meuchelmörder aufgewiegelt und sich der beleidigendsten Ausdrücke bedient hat. Die Gewährung obbenannter Punkte bitten wir uns binnen 2 Stunden durch Unterschrift und Siegel Sr Magnifizenz und des Consistorii privati, zu versichern, widrigenfalls sehen wir uns gemüßigt unsern Entschluß auszuführen. Betrachtet man den Inhalt der umfänglichen ‚Acta den Aufruhr unter den Studenten in Helmstedt, und darauf erfolgte Auswanderung von da nach Harbke betr.‘, so wird vieles deutlich von der konfliktären Position der Studenten zwischen Universität und Bürgerschaft besonders in Kleinstädten,von hochstilisierter Burschenehre (point d’honneur) und reklamierter Burschenfreiheit (libertas academica), aber auch von argumentativer Schwäche und taktischem Ungeschick der Studenten. Sie hatten wochenlang unter dem Schlachtruf „Burschen heraus – Horrida – Pereat remanens Hundsfott“ mit Maskierungen, Kanonenschlägen, eisenbeschlagenen Knüppeln, Katzenmusiken usw. die Stadt in Panik gehalten. Bei der Ohnmacht der Universität hatte Bürgermeister Fein eine Bürgerwehr mobilisiert, die mit Mistgabeln und Flinten eingeschritten war – wobei ein Metzger die Pikanterie besessen hatte, den ausgerissenen Zopf eines Studenten bei seinem Fleisch aufzuhängen. Am Zitate im Folgenden aus der Akte Alt des NSA Wolfenbüttel.
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5 Protestverhalten am Beispiel eines Auszugs
nächsten Morgen waren die Studenten unter Absingen des ‚Gaudeamus‘ geschlossen ins preußische Ausland gezogen. „Zugleich war“ – nach Feins Bericht an den Herzog – „von ihnen ausgesprenget, daß sie des Nachmittags mit geladenem Gewehr zurückkommen, und ihre Rache nehmen wollten“. Auf das Ultimatum reagieren Vizerektor und Professoren prompt mit einem Gegenultimatum, das den Denkfehler aufspießt, eine Maßnahme gegen den Bürgermeister läge in der Kompetenz der Professoren; außerdem wird betont, dass Universität und Stadt „in gemeinschaftlicher Verabredung“ gehandelt hätten. Im Antwortschreiben geben die Studenten nochmals ihre Interpretation der Geschehnisse, rücken aber von der Forderung nach Genugtuung von Hofrat Fein ab, der damit frei wird für die Rolle als Unterhändler. Die Studenten erreichen nun noch einen wiederholten Aufschub der Frist für ihre Rückkehr, bevor sie mit folgendem Schreiben aufgegeben. Der Kontrast in Haltung und Formulierungsart gegenüber dem anfänglichen Ultimatum könnte kaum größer sein. Harbke, d. 1sten März, 1791. Wohlgebohrener Herr, Insonders hochzuehrender Herr Hofrath, Wir haben uns nach reiflicher Überlegung entschlossen, Ihrem Rathe zu folgen, und morgen mit dem frühesten nach Helmstedt zurück zu kehren. Wir verlassen uns gänzlich auf die allgemein gepriesene Gerechtigkeitsliebe Unsers Durchlauchtigsten Herzogs, mit einiger Rücksicht auf die Billigkeit unserer Bitten. Wir danken übrigens Eurer Wohlgebornen mit der größten Wärme für die viele Mühe, der Sie sich unseretwegen unterzogen haben, die wir die Ehre haben uns mit der vollkommensten Hochachtung zu nennen Unsers Wohlgebornen Und hochzuehrenden Herrn Hofraths gehorsamste Diener Den ganzen Vorgang könnte man als Provinzposse abtun, wäre er nicht einer der 109 Auszüge deutscher Studenten, die Karsten Bahnson zusammengestellt und auch nach ihren Hintergründen und auslösenden Momenten befragt hat. Die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ist mit 14 Auszügen (gegenüber 50 zwischen 1800 und 1850) eine insgesamt ruhige Zeit. Auffällig ist allerdings die dichte Folge von 7 Auszügen allein von 1790 bis 1795, also zur Zeit der Französischen Revolution; konkrete politische Gründe oder Forderungen werden jedoch auch bei diesen Auszügen nicht greifbar.⁴¹ Helmstedt mit dem einzigen Auszug in seiner ganzen Geschichte ist insofern sogar ein
Vgl. Bahnson , S. , , ff.
5 Protestverhalten am Beispiel eines Auszugs
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typischer Fall. Den berühmten Auszug der Jenaer Studenten durch Weimar ins kurmainzische Dorf Nohra 1792 schätzte Goethe (als zuständiger Minister) eher zu hoch ein, wenn er unter dem unmittelbaren Eindruck schreibt: „Es scheint, daß wir in unsern Gegenden wenigstens das Bild jener größern Uebel nicht entbehren sollen, es ist nur gut, daß es diesmal nur eine Kinderkrankheit, von der hoffentlich die größere Anzahl der Patienten genesen wird.“⁴² Doch abgesehen von solchen Fragen nach politischen Horizonten – leicht vorzustellen ist, welche Bedeutung die Auszüge, zumal wenn sie als spektakuläre Machtdemonstrationen erfolgreich waren, generell für die Mythenbildung und soziale Identifikation der Studentenschaft hatten. Wie stark die Beziehungs- und Kommunikationsstruktur der Gruppe unter dem Solidarisierungsdruck – zumindest kurzfristig – verändert werden konnte, zeigen die Tagebuchnotizen eines Göttinger Studenten anlässlich des Auszugs nach Kerstlingeröderfeld 1790: „Die ganze Geschichte hat den hiesigen Burschenton ganz herumgestimmt; sonst tat einer gegen den andern steif und unbekannt. Jetzt hängt alles aneinander, und fast jeder kennt den andern.“⁴³
Aus dem Brief an von Dahlberg vom . Juli zit. nach C. Schüddekopf: Ein Gutachten Goethes über die Abschaffung der Duelle an der Universität Jena. , in: Goethe-Jb. . , S. . Zitat nach O. Fahlbusch: Ein Göttinger Student berichtet über den Studentenaufruhr von , in: Göttinger Jb. . , S. .
6 Ausblick: Studenten und politische Rede Die in den beiden vorigen Abschnitten erörterten Beispiele geben Gelegenheit, noch auf eine vernachlässigte Aufgabe sprachhistorischer Forschung hinzuweisen: Wann und wie in ihrer Kommunikationsgeschichte entwickeln Studenten ein über ihre Gruppenbelange hinausreichendes politisch-soziales Bewusstsein, entsprechende Handlungsimpulse und damit eine politische Semantik und Rhetorik? Dass ihr Anteil an der Entfaltung öffentlichkeitswirksamer Rede (und Schreibe) nicht ganz klein war, zeigt ein Blick voraus auf die Burschenschaftsbewegung und das Paulskirchen-Parlament, dem rund 150 ehemalige Burschenschafter als Abgeordnete angehörten. Sehr unklar ist die Bedeutung des späteren 18. Jahrhunderts in dieser Linie. Es gibt zwar genügend Zeugnisse für eine politische Verdächtigung speziell der Studentenorden. Auf dem Regensburger Reichstag von 1794 glaubte man – nach den Worten Laukhards –, sie „hätten so was von Revolution im Hinterhalte, zweckten auf Jakobinerey.“⁴⁴ Nach einem Schreiben des Berliner Kabinetts von 1798 zielten sie „geradezu auf die Auflösung der heiligsten Bande der Religion, […] auf ganz eigentliche Anfeindung des Staats, Eludirung seiner obrigkeitlichen Gewalt und Umstürzung seiner Verfassung durch Bildung eines Staats im Staate und Geltendmachung der unveräußerlichen Menschenrechte und der angebohrnen Freyheit“.⁴⁵ Auf Seiten der betroffenen Orden sind jedoch bisher keine authentischen Materialien gefunden worden, die derart gravierende Vorwürfe erklären könnten; allenfalls gaben sich die Ordensbrüder als Patrioten.⁴⁶ Walter Richter, einer der besten Kenner der Studentenorden, sieht die Sachlage daher so: „Es muß ein bitteres Gefühl für die idealistischen jungen Studenten gewesen sein, wegen ihres Einsatzes für ein gesamtdeutsches Vaterland […] in dieser Weise von der Obrigkeit verteufelt zu werden. Sie hatten als moralischen Rückhalt lediglich die Gemeinschaft innerhalb des Ordens, in der sie sich eng zusammenschlossen.“⁴⁷
Der Mosellaner- oder Amicisten-Orden. , S. . Zit. nach Richter , S. . Bei Augustin werden die Studentenorden auf die Formel gebracht (S. ): „Sie sind sämmtlich Freunde der Jakobiner, folglich der Anarchie“. Die Belege in diese Richtung könnten vermehrt werden. Ich beziehe mich hier lediglich auf die bisher bekannten offiziellen Schriftstücke der Studentenorden. Dass einzelne Studenten(‐gruppen) inner- oder außerhalb der Orden revolutionäre Ideen verfolgten, ist natürlich von vornherein zu erwarten; vgl. z. B. A. Ruiz: Universität Jena Anno /. Ein jakobinischer Student und Geheimagent im Schatten Reinholds und Fichtes, in: Revolution und Demokratie in Geschichte und Literatur. Zum . Geburtstag von W. Grab, hrsg.v. J. H. Schoeps u. I. Geiss unter Mitw. v. L. Heid. Duisburg , S. – . Richter , S. .
6 Ausblick: Studenten und politische Rede
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Politisches sprachliches Handeln wäre in einer solchen geschichtlichen Situation aber bereits die Abwehr von Verdächtigungen durch klärende Argumentation oder durch ostentative Anpassung – um nur zwei Möglichkeiten zu nennen. Eine wirklich eindringende Untersuchung dieses ganzen Fragenkomplexes steht natürlich vor schwierigen Problemen der Begriffsanalyse und Sprachgebrauchskritik sowie der Umsetzung in moderne linguistische Beschreibungskategorien.
II Das Studentenlied als Ideologieträger und kollektive Gebrauchsform
1 Die ersten Studentenliederbücher im Dienste der Liedreform Die Zahl der gedruckten Liederbücher im deutschen Sprachraum steigt seit etwa 1770 sprunghaft an.¹ Diese Entwicklung ist nicht nur Ausdruck erhöhter literarischer und musikalischer Aktivitäten, sondern auch eine Folge sozialgeschichtlicher Veränderungen, vor allem der Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus und der Differenzierung des bürgerlichen Lebens durch neue Formen der Geselligkeit. Eine Momentaufnahme verschiedener Liedbereiche und ihrer sozialen Trägergruppen bietet die Vorrede der anonymen ‚Handwerkslieder‘ von 1783: „Der ehrwürdige Orden der Freymäurer erheitert seine Zusammenkünfte mit Liedern; Gleim singt Grenadierlieder; Kindleben und Konsorten Studentenlieder; noch ein anderer Baurenlieder.“² Der Herausgeber erinnert weiterhin an die zeitgenössischen Bemühungen um das Volkslied und den Kirchengesang und konstatiert eine umfassende Reformbewegung mit dem Ziel, alle Arten der „hiebevorigen platten und unschlachtigen […] Gesänge brauchbarer und annehmlicher zu machen.“³ Diese Reform auch für den Handwerkerstand einzuleiten ist für die Publikation Rechtfertigung genug. Das Liederbuch zeigt aber auch exemplarisch, wie tief die Kluft zwischen dem volkspädagogisch gemeinten Angebot eines Gelehrten und der kulturellen Praxis seiner Zielgruppe sein konnte: Der Herausgeber nutzt nicht den Vorrat populärer Lieder, er präsentiert vielmehr neuverfasste, melodielose Texte für genau 50 Berufssparten und ein paar besondere Anlässe. Dass die biederen Texte eine nennenswerte Resonanz fanden, darf man bezweifeln. In den Dienst der Liedreform stellten sich auch die Herausgeber der ersten speziell an Studenten gerichteten Liederbücher. Christian W. Kindleben nennt als Zweck seiner ‚Studentenlieder’, die er zugleich mit einem ‚Studenten-Lexicon‘ 1781 in Halle herausbrachte, die „Verbesserung der Studentengesänge“.⁴ August C. H. Niemann, Kandidat der Rechte im dänischen Kiel, will mit dem ‚Akademischen Liederbuch‘ von 1782 zur „Ausbreitung des gesellschaftlichen Gesanges“ unter Für die Jahre bis weist Friedländer () im deutschen Sprachraum mit Noten gedruckte Liedersammlungen nach; im Einzelnen: – : ; – : ; – : ; im Zeitraum von bis sind es nur . Die Zahl der Liedersammlungen ohne Noten dürfte ein Mehrfaches davon sein. Allein die deutschen Freimaurer brachten zwischen und rund Liederbuchdrucke heraus, vgl. A. Wolfstieg, Bibliographie der freimaurerischen Literatur, Bd. , o. O. , S. ff. Handwerkslieder (). Zitat aus der unpaginierten ‚Vorrede‘. – Mit „Baurenlieder“ sind evtl. gemeint ‚Vermischte Bauernlieder‘, Kempten (vgl. Friedländer , Bd. , S. ). Handwerkslieder (), ‚Vorrede‘. Kindleben, Studentenlieder, Vorrede S. V.
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1 Die ersten Studentenliederbücher im Dienste der Liedreform
Studenten auf „allen deutschen Akademien“, zur „Verädlung der akademischen Freuden“ beitragen, darüber hinaus zur „Reform der Gesellschaftslieder“ im „Interesse der ganzen Nation“.⁵ Die Gemeinsamkeiten der beiden Liederbücher sind damit aber auch schon erschöpft. Die literarische Geschmacksrichtung, die Gesichtspunkte der Auswahl, der Bearbeitungsgrad, Eigenanteil und Sprachduktus sind derart verschieden, dass die Niemannsche Sammlung geradezu als Gegenpol zu der Kindlebens erscheinen muss. Kindleben füllt sein Liederbuch überwiegend mit eigenen Produktionen bzw. mit Umdichtungen älterer Lieder (22 bzw. 14 von insgesamt 64); als anonym sind 17 Lieder gekennzeichnet.⁶ Daneben blieb wenig Raum für bekannte Dichternamen wie Günther, Hagedorn, Gleim oder Bürger. Im Hinblick auf die Frage nach den Charakteristika des alttradierten, vielgesungenen Studentenliedes ist es nun wichtig, dass Kindleben, anders als Niemann, die geläufigen „Burschen-“ bzw. „Kommerschlieder“ nicht ausklammert, vielmehr „die besten“ davon präsentiert, wenn auch in teils stark bearbeiteter Form, so dass der „Wohlstand und die guten Sitten“ gewahrt bleiben.⁷ Trotz Unsicherheiten bei der Identifizierung einiger dieser Lieder lässt sich sagen, dass Kindlebens Sammlung mindestens zu einem Drittel auf mündlicher Tradition, auf handschriftlichen Gebrauchsfassungen oder Gelegenheitsdrucken studentischer Kreise – mit Halle als Zentrum – beruht. Damit ist seine Sammlung neben dem ‚Akademischen Lustwäldlein‘ von Raufseisen 1794⁸ die ergiebigste gedruckte Quelle für das Studentenlied des 18. Jahrhunderts. Der Griff in eine bis dahin kaum als druckfähig erachtete Liedschicht, verbunden mit der Dokumentation von Studentensprache, brachte Kindleben in Konflikt mit der preußischen Zensur.⁹ In Kenntnis der Vorgänge um Kindleben hat Niemann die Konzeption seines Liederbuchs wohl nachträglich noch umgestellt. Jedenfalls setzt er sich demonstrativ von Kindleben – unter Nennung des Namens – ab und beteuert, dass seine Sammlung „nirgend unädlen Ausdruck, oder unreine Gedanken“ enthalte.¹⁰ Niemann bietet, außer neun Eigendichtungen, eine Blütenlese zeitgenössischer, meist auch durch ihre Komponisten bekannter Gesellschaftslieder. Seine Favoriten und Stilmodelle sind die aus dem Göttinger Hain hervorgegangenen Hölty (7), Miller (4), Overbeck (4), F. L. von Stolberg (3), Voß (3), Bürger (2), von älteren
Niemann , S. VII und X. Nach den Angaben in Kindlebens Inhaltsverzeichnis. Diese Angaben sind allerdings nicht in jedem Fall verlässlich, z. B. nicht bei dem Lied ‚Ich lobe mir das Burschenleben‘. Kindleben, Studentenlieder, S. V. Das ‚Lustwäldlein‘ wird fortan mit dem Herausgeber-Pseudonym Raufseisen zitiert. Vgl. Burdach ; Reprint: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Niemann , S. X.
1 Die ersten Studentenliederbücher im Dienste der Liedreform
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Dichtern etwa Hagedorn (4), Gleim (3) und Claudius (4). Bemerkenswert ist der häufige Rückgriff auf Freimaurer-Liederbücher. Insgesamt erscheint Niemanns Adressierung seiner nach gängigem Muster eingerichteten, kaum spezifisch Studentisches enthaltenden Sammlung an „Einen Stand eines Geschlechts und eines Alters“ wenig glücklich.¹¹ Im Fortsetzungsband ‚Gesellschaftliches Liederbuch‘ von 1795 lockert Niemann, inzwischen Professor in Kiel, diese Gruppenbindung und appelliert vielmehr an den „gesellschaftlichen Gemeinsinn“ (statt „Innungssinn“) im „gebildeteren Kreis“ der Studenten.¹² Niemann vermeidet es also geradezu, sich in die lebendige Tradition des eigentlichen Studentenliedes zu stellen. Dennoch sollte Niemanns ‚Akademisches Liederbuch‘ aus wenigstens zwei Gründen nicht aus der Geschichte des Studentenliedes ausgeklammert werden: An seiner Neuvertextung der ‚Landesvater’-Melodie orientierten sich alle nachfolgenden Liederbücher, und sein Ausgriff auf das anspruchsvolle Gesellschaftslied verstärkte im Grunde nur Geschmackstendenzen, die bei Studenten mit literarischen Interessen ohnehin angelegt waren. Lieder wie Millers ‚Deutsches Trinklied‘ („Auf, ihr meine deutschen Brüder!“), Claudius‘ ‚Rheinweinlied‘ („Bekränzt mit Laub den lieben vollen Becher“), Höltys ‚Lebenspflichten‘ („Rosen auf den Weg gestreut“) oder Stolbergs ‚Rundgesang‘ („Fröhlich tönt der Becher Klang“) findet man bald auch in handschriftlichen Gebrauchssammlungen von Studenten und als „Kommerslieder“ in bunter Mischung mit alten Studentenliedern. Dieser Adaptionsprozess konnte über Textveränderungen, die Einflechtung gruppensprachlicher Elemente,¹³ die Kontamination von Liedern¹⁴ oder über die beliebte Form der Parodie¹⁵ rasch vom ‚Kunstlied‘ zum ‚Burschenlied‘ führen. Gemeinsamkeiten im Liederbestand haben Kindleben und Niemann nur auf dem Sektor des Gesellschaftsliedes, das auch über zahlreiche andere Drucke verbreitet war. Von Niemanns Eigendichtungen wurde nur der ‚Landesvater‘ rezipiert. Die ungleich größere Wirkung auf die sich formierende Tradition der Studentenliederbücher, für die zunächst Halle wichtigster Druckort blieb, ging von Kindleben aus. Das schmale ‚Commersch Buch‘ von 1795 besteht zur Hälfte aus Texten Kindlebens. Johann C. C. Rüdiger übernahm in seine ‚Trink- und Ebd., S. VIII. Gesellschaftliches Liederbuch, Altona und Leipzig , unpag. Vorrede (S. III). Vgl. Friedländer , Bd. , S. zur Textgeschichte von Stolbergs Lied ‚Fröhlichkeit‘. Bei Raufseisen ist dem Liede ‚Brüder füllet jedes Glas‘ (Nr. ) F. C. Stolbergs Lied ‚Süße, heilige Natur‘ einverleibt. Von Interesse sind hier vor allem solche Parodien, in denen die studentische Perspektive sich Ausdruck verschafft. So beginnt Hagedorns Lied ‚Das Kind‘ („Als mich heut Mama / Hänschen küssen sah“) in einem Altdorfer Stammbuch-Eintrag von (d. h. noch vor dem entsprechenden Druck in K. W. Ramlers ‚Lieder der Deutschen‘, , S. ): „Als mich der Papa Wasser trinken sah“ (Keil , S. ).
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1 Die ersten Studentenliederbücher im Dienste der Liedreform
Commersch-Lieder‘ (1791/1795) von Kindleben gut drei Dutzend Stücke, von denen wiederum ein Großteil auf diesem Wege das 19. Jahrhundert erreichte. Über Rüdiger (1791) sind auch die Übereinstimmungen zwischen Kindleben und Raufseisen (1794) überwiegend vermittelt. Mit dem gedruckten Liederbuch wird für den Studentengesang eine neue Überlieferungs- und Gebrauchsform geschaffen, die bald eigenständige Traditionslinien ausbildet und den Liedgebrauch unter Studenten zunehmend reguliert. Größere Verbreitung und eine standardisierende Wirkung auf die Liedrepertoires und Textformen erreichten Druckwerke dieser Art jedoch kaum vor dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts.¹⁶ Von der Anschaffung von „Commersch-Büchern“ aus der gemeinsamen „Burschenkasse“ ist, soweit ich sehe, erstmals im Kieler Komment von 1813 die Rede.¹⁷
Kindlebens ‚Studentenlieder‘ standen unter Verkaufsverbot. Die Subskribentenliste bei Niemann () zeigt nennenswerte Verbreitung nur im Norden, mit Zentrum Kiel. Bei dem ‚Commersch Buch‘ von handelt es sich wahrscheinlich um das spezielle Liederbuch der Schlesischen Landsmannschaft (vgl. ebd. S. und : „Schlesier“ an erster Stelle); sie war in Bd. (S. – ) der ‚Schlesischen Provinzialblätter‘ als gesittetes (und vom Prorektor erlaubtes) „Kränzchen“ vorgestellt und empfohlen worden. – Der Bedarf an Liedtexten wurde i.w. durch handschriftliche Kopien gedeckt. Das bestätigt z. B. die Bemerkung des Dekans Sprengel in seiner Stellungnahme zu Kindlebens ‚Studentenliedern‘: „er wisse, daß die alten Lieder mit allen ihren Zoten und Unflätereien häufig abgeschrieben würden und schriftlich umhergingen“ (vgl. Burdach , Vorwort S. XXV). Einst und Jetzt. Jb., Sonderheft , S. .
2 Das alttradierte Studentenlied: Texte und Typen Die ersten Herausgeber von Studentenliedern konnten aus einer lebendigen – oralen wie handschriftlichen – Tradition des „Musenliedes“¹⁸ bzw. „Burschenliedes“¹⁹ schöpfen. Sie stellten in neuer Auswahl und Stilisierung das vor, was ohnehin ein Bestandteil der zeitgenössischen Studentenkultur war. In jener historischen Phase einer produktiven Umgestaltung des studentischen Liedrepertoires hatten selbst durchgreifende Textbearbeitungen gute Chancen, von der studentischen Gruppenkultur aufgenommen und assimiliert zu werden, sofern der originäre Gebrauchswert des Liedes erhalten blieb oder gar gesteigert wurde. In dieser Hinsicht hatte Niemann mit seiner Neufassung des ‚Landesvater’-Liedes ein besonders gutes Gespür. Obwohl Niemanns erfolgreicher ‚Landesvater‘ im Wortlaut völlig von der überkommenen Liedversion abweicht, erfolgt doch kein radikaler Traditionsbruch; Niemann bringt vielmehr die für das Lied konstitutiven rituellen Elemente zur vollen Entfaltung und trifft mit dem gefühlsintensiven, weihevoll-überhöhten Ton Geschmackstendenzen, die auch im Freundschaftskult und in den Formen des Verbindungslebens der Studenten auffällig in Erscheinung treten.²⁰ Ebenso ist auf der Ebene der hohen Lyrik immer wieder zu beobachten, dass die Rücksichtnahme auf Strukturen und Funktionen des herkömmlichen ‚Burschenliedes‘ sehr förderlich war für die Rezeption in Studentenkreisen. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ist in den umfangreichen ‚Kommersbüchern‘ dann allerdings sehr heterogenes Liedgut zusammengeflossen, das sich großenteils nicht mehr unter einen sinnvollen Begriff von ‚Studentenlied‘ bringen lässt. Welches sind aber nun die typkonstitutiven Texteigenschaften des ‚Burschenliedes‘ im späteren 18. Jahrhundert? Für die folgende Untersuchung wurde ein Korpus von 30 Liedern – mit ihren Varianten, Redaktionen usw. – zusammengestellt: Eine Gruppe von 17 Liedern repräsentiert den Kindleben und Raufseisen bzw. den Niemann und Raufseisen gemeinsamen Bestand (Tab. I)²¹;
Vgl. die Hospizszene von : „Theils liegen ganz entzückt, theils singen Musen Lieder“ (Keil , S. ). Vgl. Salmasius : „Den Horaz, Hagedorn und Gellert wissen sie auswendig, und kein einziges Burschenlied, das Geist und Leben hat, wissen sie.“ (Reprint: Henne/Objartel , Bd. , S. ). Mit dem Inc. ‚Musen lärmet,/ sauft und schwärmet‘ erscheint das Landesvater-Lied dreistrophig kurz nach gedruckt (zit. Kopp , S. ); zu den ersten Drucken der Melodie ( u. ) s. Objartel , S. . Das Ritual selbst (Durchbohren der Hüte, usw.) – und vermutlich auch das Lied – ist deutlich früher unter Studenten verbreitet; vgl. die bildliche Darstellung von bei Kelter , S. . Die Zahlen geben die Seite des Liedbeginns an, in Klammern ist die jeweilige Strophenzahl angegeben. Die Tabelle macht deutlich, dass Kindleben und Niemann kaum etwas gemeinsam haben.
Bruder! wie so mißvergnügt? Ermuntert euch, ihr Brüder! Dies volle Gläschen leere Herr Bruder, dir zu Ehren Herr Bruder! trink einmal Laßt die Manichäer schreyen Laßt den Neid und Tadel schmollen Lustig sind wir, lieben Brüder
Inc. (zuerst nach Kindleben)
c. Freunde, herrlich ist das Leben/Herrlich, herrlich ist Brüder, nutzt das freye Leben Ihr/Auf, Söhne der Musen Tobiae sum hirundo Ecce, quam bonum Gaudeamus igitur Hat uns nicht Mahomet Ich lobe/Ich rühme mir das Burschenleben Pro salute Marchicorum a. Wohlan,/Ca ca geschmauset b. Edite, bibite, Collegiales
a. Brüder! laßt die Sorgen fahren b. Bruder, auf dein Wohlergehen
a. b. c. a. b. c.
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Tab. I. Die Kindleben und Raufseisen bzw. Niemann und Raufseisen gemeinsamen Lieder
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Inc. (zuerst nach Kindleben)
a. Auf des besten Fürsten Wohl b. Trauten Brüder, laßt uns fein a. Voll bring ich dies Glas dir dar/Brüder, dies bring ich euch dar b. Seht, wie er im Glase blinkt a Freunde! singet, Tanzt und springet/Brüder lärmet, Trinkt und schwärmet b. Landesvater, Schutz und Rather c. Alles schweige! Jeder neige
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zur Ergänzung und Kontrolle dienen 13 ‚Burschenlieder’, die schon vor Kindleben bezeugt sind (Tab. II).²² Die relativ mechanische Korpusbildung soll verhindern, dass Vorverständnisse, wie sie anhand der bekanntesten Lieder rasch zu entwickeln wären, die Untersuchungsinteressen und -ergebnisse zu sehr präjudizieren. Andererseits war natürlich sicherzustellen, dass die für das ‚Burschenlied‘ einschlägigen Quellen der Zeit, gedruckte wie handschriftliche, das wesentliche Beschreibungsmaterial abgeben. Das vorgestellte Liedkorpus hat die Funktion eines zentralen Textfundus; im übrigen wird gelegentlich weiteres Material auch aus anderen Textbereichen zum Vergleich oder zur Stützung der Befunde herangezogen. Das ‚Burschenlied‘ – so nach der im 18. und auch noch im 19. Jahrhundert gängigen Bezeichnung – ist also das alttradierte, vielgesungene, typischerweise anonyme Studentenlied. Insgesamt hat man es beim Studentenlied mit einem historisch sehr wandelbaren Begriff zu tun; hilfreich ist die Vorstellung von einem Kernbereich und einer offenen Peripherie. Nur Lieder, von denen begründet angenommen werden kann, dass sie im geselligen Studentenleben gewohnheitsmäßig gesungen wurden, sollen als ‚Studentenlieder‘ gelten. Nicht alle in Liederbüchern, die an Studenten als Zielgruppe gerichtet sind, gedruckten ‚Lieder‘ sind jemals Studentenlieder in diesem Sinne gewesen; ein erheblicher Teil der Texte blieb melodieloses Lektüreangebot,²³ abgesehen davon, dass die größeren Sammlungen gemischten Inhalts oft mehrere Zielgruppen erreichen wollten. ‚Burschenlieder’, so unterschiedlich ihre Herkunft sein mag, erfüllen wichtige Funktionen in den geselligen Veranstaltungen der Studenten, sind eine Form ihrer kulturellen Praxis und insofern fester kultureller Besitz der Gruppe. Als solcher sind sie im allgemeinen auch markiert, insbesondere durch gruppensprachliche Lexik und spezifisch textualisierte Handlungsformen, die auf Anforderungen gruppeninterner Gebrauchssituationen antworten. Umfangreichster Subtyp des ‚Burschenliedes‘ ist das „Kommerslied“²⁴, das hauptsächlich Trink- und Freund-
Für die von Crailsheimische Liederhandschrift (C) stütze ich mich auf Kopp sowie auf dessen spätere Publikationen, für die bedeutende – über das Auktionshaus Stargardt-Berlin aus Privathand an einen unbekannten Bieter versteigerte – Liederhandschrift des Studenten Friedrich Reyher (R), Kiel, dann Jena, auf die Kurzbeschreibung bei Kopp , S. – , sowie wiederum dessen spätere Publikationen, ferner auf die Textproben von Fabricius / und /. S bezeichnet Schluck . Die ersten drei Lieder der Tab. II gelangten m.W. in Studentenliederbüchern nie zum Druck; Lied Nr. erscheint erst ab gedruckt. Stephenson , S. , stellt fest, dass zu einem Drittel der ca. zwischen und in Studentenliederbüchern gedruckten Texte keine Melodie zu ermitteln ist. Die Bezeichnung „Kommerschlied“ z. B. bei Kindleben (Studentenlieder, Vorrede, S.V; ebd. S. VII/S. die Rubrik „Trink- oder Kommerschlieder“. Auf dem jeweils zweiten Titelblatt der beiden Liedersammlungen Rüdigers (, ) steht „Trink- oder Commersch-Lieder“ (Die Titelvi-
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A a a vivat Germania (C) Was nutzen Studenten verdrießliche Grillen (R C) Wir Studenten sind vergnügt (R) Auf auf ihr werthen/edlen Pallas Söhne (C) Mein Leipzig/Altdorff lebe wohl (R C) Nun fühl ich, Bacche, deine Kräfte/ Nun, Bacchus, fühl (S) Brüder, laßt die Väter sorgen (S) (O) Lector lectorum (C) Sic vivamus wir Studenten (R) Was den muntern Musen soll gefallen (R S) Ca donc ca donc so leben wir alle Tage (R S) Soll/Solt ich denn zum alten Weibe werden/ Lasset den Philistern ihr verdammtes Klopfen (R C) Wer Bacho/dem Bacchus zu Ehren ein Opfer will bringen (C S)
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Kindleben Niemann Koehler Rüdiger Raufseisen Rüdiger Commersch Buch ( Nrr.) ( Nrr.) ( Nrr.) ( Nrr.) ( Nrr.) ( Nrr.) ( Nrr.)
Nr. Inc. (zuerst nach Kindleben)
Tab. II. Zusätzliche Studentenlieder: Liederhs. Reyher (1743 – 48), Liederhs. v. Crailsheim (1747 – 49), Schluck (1780)
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2 Das alttradierte Studentenlied: Texte und Typen
schaftslieder umfasst, aber je nach Zweck und Einrichtung des Kommerses (als „Fuchscommersch“, „Neujahrscommersch“, „Abschiedscommersch“ usw.²⁵) auch Vaterlandslieder, Abschiedslieder, Straflieder (z. B. bei Singfehlern der Füchse ²⁶) und anderes einbegreifen kann. In unserem Korpus tritt unter den Kommersliedern das Lied ‚Ca donc‘ (Nr. 28) auf, das zeitgenössische Angaben in den Handlungszusammenhang (öffentlicher studentischer) „Tumult“ verweisen,²⁷ das aber nach den überlieferten Fassungen ebenfalls unter die Rubrik ‚Kommerslied‘ zu stellen ist, wie denn überhaupt manche ‚Kommerslieder‘ in verschiedenartigen Gebrauchskontexten bezeugt sind²⁸ – mit ein Grund für die Variantenbildung der Texte (wechselnde Zahl und Abfolge der Strophen usw.). Aussagen über den jeweiligen kommunikativen Sinn einzelner Lieder bleiben aber in dem Maße Spekulation, wie über die Art der Gebrauchssituation und die darin verwendete Liedfassung nur ungenaue Vorstellungen zu entwickeln sind.
gnette ist übrigens identisch mit der von Kindlebens ‚Studentenliedern‘). Augustin (S. ) versteht „Kommerschlieder“ als „Burschenlieder im engern Sinne“. Augustin (S. ) unterscheidet zusätzlich noch zwischen „öffentlichem Kommersch“ und „Privatkommersch“ (auf einer „Studentenstube“); ebd. S. – ausführliche Beschreibungen mit Angabe der dabei üblicherweise gesungenen Lieder. Ausführlich über Kommersgebräuche auch das ‚Taschenbuch‘ von (ebd. S. – ). Aus dem berüchtigten, beim „Pro poena trinken“ gesungenen ‚Verschisslied‘, das die frühen Drucke übergehen, zitiert Augustin gewagte Passagen (Reprint: Henne/Objartel , Bd. , S. f.). Vgl. Schluck , S. ; Augustin , S. . So wird das ‚Gaudeamus igitur‘ (Nr. ) öfter auch als eine Art Trutzlied der Studenten in bedrohlichen Situationen gesungen, z. B. beim Auszug aus Helmstedt (NSA Wolfenbüttel: Alt , Bl. ) oder bei der Konfrontation mit Pedellen, Jena (Meißner /, S. ).
3 Grundsätzliches zur Variabilität von Liedern im Gebrauch Für Lieder unter den Bedingungen mündlich-gedächtnismäßiger Tradierung ist ein hoher Grad von Variabilität kennzeichnend. Diese betrifft die beiden konstitutiven Teile eines Liedes, Text und Melodie, in der Regel aber mehr den Text, während die stabilere Melodie verschiedene Textversionen oder auch Textkontrafakte zusammenhalten kann.²⁹ Mehrfachvertonung eines lyrischen Textes ist demgegenüber nur beim Kunstlied häufiger anzutreffen.³⁰ Die Variabilität eines Liedtextes in mündlicher Tradition, bekannt unter Begriffen wie ‚Zersingen‘ oder ‚Umsingen’, kann durchaus in Zusammenhang gesehen werden mit der Variabilität einer natürlichen Sprache überhaupt, wie sie in konkreten Äußerungen manifest wird: Variation ist begründet in der Heterogenität und permanenten Veränderung des sprachkommunikativen Wissens und Ausdruck der Anpassung an die wechselnden Bedingungen und Zwecke der Kommunikation. Dabei soll hier der Unterschied zwischen der Konstitution eines spontanen Gesprächs und dem Absingen eines Liedes nicht verwischt werden. Es bedarf aber nicht eigens der Bezugnahme auf rein orale Kulturen, um Lieder als normale Einheiten kommunikativer Repertoires erscheinen zu lassen. Textvarianten analog zu Liedvarianten treten auch bei anderen kommunikativen Fertigteilen auf, wie z. B. bei mündlich kursierenden Anekdoten und Witzen. Sprachgebrauch im Alltag ist erfahrungsgemäß oft hochgradig stereotyp, so dass keine wirkliche Textkonstitution stattfindet, vielmehr eine gewohnte oder eingeübte Routine abläuft. Es entspricht der Erfahrung, dass Normen,Vorwissen und aktuelle Situation die Erwartbarkeit einer Äußerungseinheit mitunter bis in Einzelheiten der Formulierung regeln. Mit dem Austausch von Formeln und Sprüchen können ganze Gespräche bestritten werden. Textkonstitution und Textreproduktion sind also durch graduelle Übergänge vermittelt. Beide Pole werden im Lied berührt, wenn etwa der Solosänger seinen Text improvisiert und der Chor einen Refrain dazu singt.
Die Mehrfachverwendung beliebter Melodien im Studentengesang der Jahre – hat Stephenson (, S. f.) überprüft. Danach wurden „mit etwa vierzig Lieblingsmelodien Texte versorgt“, d. h. mehr als die Hälfte der überhaupt mit Melodien bzw. Melodieangaben in den Studentenliederbüchern gedruckten Texte des Zeitraums (ca. ). An erster Stelle stand die Melodie zu ‚Auf, auf, zum fröhlichen Jagen‘, die zwischen und zu verschiedenen Liedtexten gesungen wurde. – Auch manche der alttradierten Studentenliedmelodien fand mehr als zehnfache Verwendung, z. B. die ‚Gaudeamus‘-Weise oder die erste Weise des ‚Landesvater‘. Vgl. etwa Friedländer , Bd. , S. f. zu Schillers Ode ‚An die Freude‘.
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3 Grundsätzliches zur Variabilität von Liedern im Gebrauch
Variation beim Studentenlied betrifft prinzipiell alle sprachlichen Elemente und Strukturen (Lexik, Syntax usw.) und kann nach den wesentlichen Dimensionen der Variabilität − Singgruppe, Situation, Region, Zeit − kategorisiert werden. Die Wahrscheinlichkeit der Variantenbildung wächst mit der Zahl der Gebrauchstraditionen des Liedes in unterschiedlichen Gruppen und Situationen, mit der regionalen Verbreitung und allgemein mit der Häufigkeit des Gebrauchs und der historischen Dauer der Tradierung. Findet starke Variantenbildung gegen diese Regel statt, so deutet dies auf speziellere Quellen der Variabilität, etwa auf besondere Geschmacksbildungen, Mentalitäten und Lebensgewohnheiten der Singgruppen, auf besondere Formen der Aufführung, z. B. die Einbindung in gesangsbegleitende Handlungen, auf Veränderungen der Liedfunktion (bei gleichem Situationstyp) oder anderes mehr. Die Betrachtung von Variation in solchen engeren Kontexten dürfte deshalb auch näher an die Bedingungen des Gebrauchs und an die kommunikativen Prozesse heranführen. Liedtexte mit reicher Variantenbildung sind daher modellhafte Objekte für Untersuchungen zur Gebrauchsgeschichte von Liedern.³¹ Ideale feste Bezugspunkte sind dabei das Liedoriginal und diejenigen Fassungen, die als Umdichtungen (mit ihrem Autor) identifiziert werden können. Im Normalfall jedoch operiert die Gebrauchsgeschichte bei unbekanntem bzw. unsicherem Ausgangspunkt der Entwicklung mit mehr oder minder zufällig überlieferten Textzeugen als Punkten im Raum der Verzweigungen und Kontaminationen, und das Verhältnis dieser Punkte zueinander ist auch bei herstellbarer Chronologie oft im Sinne des Nebeneinanders unterschiedlicher Entwicklungsstufen zu interpretieren. Besonders aufschlussreich für die Erkenntnis verändernder Faktoren sind daher nah verwandte Textfassungen, die in ein eindeutiges Voraussetzungsverhältnis gebracht und einer kontinuierlichen Gebrauchstradition zugeordnet werden können. Wertvoll sind darüber hinaus historische Zeugnisse zur Kenntnis und Bewertung von Liedern, Teilzitate oder Beschreibungen der Singanlässe, der Realisierungsmodi und der begleitenden Handlungen. Wichtig zu sehen ist schließlich noch, dass die Lieder, die das Gesangsrepertoire einer Interaktionsgemeinschaft bilden, nicht isoliert nebeneinander existieren, sondern in der Singpraxis, etwa bei Abfolgen von Liedern im Rahmen zyklisch wiederkehrender
Das alte Studentenlied ist hierfür ein sehr geeigneter Gegenstand; vgl. auch Kopp , S. (mit Bezug auf die Zeit um ): „Die Spielarten, Verschiedenheiten und Unbestimmtheiten bei Studentenliedern sind vielleicht noch größer als bei sonstigen Volksliedern, weil es sich in akademischen Kreisen doch um überwiegend geistig rege, dichterisch empfindende Jünglinge handelte, die fast ohne Ausnahme ihren Vers zu bauen verstanden“. Kopp (ebd. S. ) stellt mit Recht die Improvisationspraxis heraus, dass „ganz nach Belieben oft mitten während des Gesanges […] aus dem Stegreif an- und umgedichtet“ wurde.
3 Grundsätzliches zur Variabilität von Liedern im Gebrauch
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Anlässe, aufeinander abgestimmt werden, einmal abgesehen von den Assoziationen und Interferenzen, durch welche die Lieder eines Repertoires oder einer Funktionsgruppe unterschwellig miteinander verknüpft sind. Es empfiehlt sich, das Ergebnis der historischen Rekonstruktion auch terminologisch als ‚Gebrauchsgeschichte‘ (eines Liedes, eines Liedrepertoires) abzusetzen von dem Horizont der Singgemeinschaft, die ihre eigene ‚Gebrauchstradition‘ pflegt, die aber auch von anderen Gebrauchstraditionen Kenntnis erhalten und zu ihnen überwechseln kann. Gebrauchstraditionen sind so gesehen gerichtete Prozesse der Variation. Diese sind wiederum eingebettet in allgemeinere soziale, kulturelle und sprachgeschichtliche Entwicklungen und weisen wie diese Tendenzen und Gegentendenzen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Konvergenzen und Divergenzen auf.
4 Gruppenspezifische Markierungen In der Forschung zum Volks- und Gesellschaftslied, die sich mit dem Studentenlied schon deshalb befassen musste, weil viele der erhaltenen Liederhandschriften des 17. und 18. Jahrhunderts von Studenten angelegt wurden, findet man recht unsichere und auch kontroverse Aussagen über den Anteil des „Studentischen“ in den Liedersammlungen oder bezüglich der Frage, ob denn im konkreten Fall ein „eigentliches Studentenliederbuch“ oder „eigentliches Studentenlied“ vorliegt.³² Bei unseren Korpusliedern ist zumindest der kontinuierliche Gebrauch unter Studenten sicher, doch bleibt zu bedenken, dass kaum eines dieser Lieder vor das 18. Jahrhundert zurückreicht,³³ dass überhaupt eine ständische Abgrenzung der Studenten durch das Lied erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlicher wird.³⁴ Dieser Eindruck beruht nicht auf bloßen Zufällen der Überlieferung,³⁵ vielmehr kann gezeigt werden, dass die gruppensprachlichen Mittel zur Abgrenzung erst seitdem in reicherem Maße verfügbar waren, so dass sie in die Liedtexte einfließen konnten. Bei der Charakterisierung des Typus ‚Burschenlied‘ ist generell von zwei Sorten von Merkmalen auszugehen: Merkmale wie Gebrauchshäufigkeit, längere mündliche Tradition, aktive Reproduktion aus dem Gedächtnis, variable Textform und Anonymität liegen außerhalb des einzelnen, konkreten Textes und bedürfen zu ihrer Feststellung des Vergleichs mehrerer Liedfassungen, des Rückgriffs auf sekundäre Zeugnisse des Liedgebrauchs und allgemein überlieferungskritischer Arbeit. Dagegen sind Art und Grad der funktionalen Bindung eines Liedes an den „Burschenstand“ und an die Singanlässe im „Burschenleben“ im wesentlichen
Vgl. Prahl (, S. ) und Blümml (, S. ) über das Liederbuch des Studenten Clodius (von ). Str. von ‚Hat uns nicht Mahomet‘ (Nr. ) steht in einem gedruckten Singspiel, vgl. Friedländer , Bd. , S. Anm. Zu ‚Wir Studenten sind vergnügt‘ (Nr. ) hat Hoffmann von Fallersleben (, S. – ) eine handschriftliche Fassung aus dem . Jh. nachgewiesen. Zur Frühgeschichte der Lieder Nr. (‚Gaudeamus‘) und Nr. (‚Wer dem Bacchus zu Ehren‘) vgl. Kopp , S. – . Vgl. Kopp /, S. : „vorher [vor Mitte des . Jhs., Anm.] unterschied sich der Studentengesang von dem allgemeinen Volksgesang nur wenig“. Kopp als einer der besten Kenner der Materie übersah dabei nicht, dass es schon in weit früherer Zeit einzelne Lieder gab, die auf Anhieb als studentische ‚Standeslieder‘ zu erkennen sind. Vor allem konnten Studenten bei ernsthafter Bedrohung der „Burschenfreiheit“ mit Gelegenheitsliedern burschikoser Prägung sehr produktiv werden; vgl. Meier zum Studentenaufstand in Halle (mit Texten) und Günther zum bekannten Leipziger Musenkrieg von (mit Textproben). Über die Entwicklung des Studentenliedes gerade im frühen . Jh. ist aufgrund spärlicher Überlieferung wenig bekannt.
4.1 Standessignaturen
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über einzeltextinterne Merkmale, durch Analyse der Sprachmittel und Texthandlungen, zu ermitteln, auch wenn zusätzliche Informationen, besonders Zeugnisse über den situierten Gebrauch eines Liedes, der Analyse oft erst Richtung und Sicherheit geben. Die folgenden Untersuchungen setzen bei der zweiten Sorte von Liedmerkmalen an, beziehen aber die Variabilität der Texte innerhalb des Korpus (und darüber hinaus) mit ein. Es geht zunächst um die Sprachmittel, durch welche die soziale Trägergruppe der Lieder spezifiziert wird. Textmerkmale, die ein Lied als ‚Burschenlied’, also als Lied eines Standes erkennen lassen, seien ‚Standessignaturen‘ genannt. Fremdsprachengebrauch und Sprachenmischung sind weitere relevante Merkmale. Die fortschreitende gruppensprachliche Einfärbung der Lieder wird in historischen Längsschnitten und im Vergleich der Studentenliederbücher dargestellt (5.). Liedtexte stellen auch eine Reihe der für Studenten charakteristischen Handlungsformen bereit: Abschnitt 5.3 wird sich mit dem Komplimentiertyp des Gesundheittrinkens und dessen Umkreis befassen, einer Familie von Sprachhandlungen, die der attitudinalen Strukturierung der „Burschenwelt“ und der wichtigsten Außenkontakte diente. In Lieder integriert erscheinen auch die zentralen Formen der Beziehungspflege unter Studenten: das Brüderschaft- und Freundschafttrinken (Abschnitt 5.4).
4.1 Standessignaturen Ein jeder aus der Standesperspektive konzipierte Liedtext führt die spezifischen Personen, Lebensumstände, Tätigkeiten, Vorstellungen und Leitwerte in besonderer Auswahl, Kombination und Akzentuierung vor. Mit der geringen Informativität der Texte, die ja kollektive Erfahrungen der Gruppe verarbeiten und insofern nur Vertrautes evozieren, hängt offenbar die Art der Darstellung zusammen, die zu Extremen tendiert: einerseits zu knapper Andeutung und Reduktion aufs Typenhafte, andererseits zu skurriler Überzeichnung. Der Eindruck der Lebendigkeit und Vielfalt, den die Texte bei aller thematischen Enge vermitteln, beruht auf dem Reichtum an Ausdrucksvarianten und kombinatorischen Techniken. Das Burschenlied als Standeslied hat, allgemein gesagt, die Funktion, diejenigen Werte und Normen, auf deren Beachtung der Zusammenhalt der Gruppe beruht, im Bewusstsein zu verankern. Dies kann durch direkte oder indirekte Appelle, durch offene oder verdeckte Bewertungen, durch Vorführung von Leitbildern oder abschreckenden Beispielen, durch die Sondierung des sozialen Umfeldes der Gruppe nach Freunden und Feinden und durch vieles andere mehr geschehen. Die Standesperspektive wird vorzugsweise an prominenter Stelle im Text konstituiert, am Liedanfang, im Refrain oder als Pointe bzw. Resümee am Schluss.
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4 Gruppenspezifische Markierungen
Für die Positionierung am Anfang bietet das Korpus eine ganze Reihe von Varianten; drei sollen näher betrachtet werden. Lied Nr. 20: Wir Studenten sind vergnügt, Leben stets in Freuden ³⁶ Der referentielle Ausdruck wir Studenten leistet die ständische Perspektivierung in voller Explizitheit. Bei Aktualisierung des Liedes in passendem Situationskontext wirkt der Ausdruck selbstreferentiell;³⁷ die Bezugsgröße, auf die referiert wird, ist dabei nicht eindeutig bestimmt: Es kann die gerade versammelte Gruppe sein oder, wie im nicht-situierten Text, der Studentenstand als solcher. Dass aber auch die Verwendungsweise des Ausdrucks als Selbstbezeichnung einer Singgruppe über die jeweilige Situation hinaus letztlich im Teil das Ganze, den Stand, impliziert, folgt nicht nur aus den allgemeinen Kommunikationsbedingungen (prinzipiell offene Situierbarkeit des Liedes), sondern auch aus den generalisierenden Bestimmungen der Bezugsgröße im weiteren Textverlauf. So wird dem Wir ein permanenter Glückszustand (stets) zugeschrieben, der einem der stehenden Epitheta des Studenten schlechthin entspricht (fidel). In der Schlussstrophe wird der referentielle Umfang nochmals ausgeschöpft: Und so geht es alle Tag In dem Purschen-Leben, Bis wir […] Anreden, die Standesbezeichnungen enthalten, verbunden mit Aufrufen zu fröhlichem Treiben stellen ein beliebtes Muster für die Liedanfänge dar.³⁸ Nr. 21: Auf auf ihr werthen Pallas-Söhne! ³⁹ auf auf du werthe Musen-Schaar! für das gewöhnliche studiren und alles eitle critisiren erschalle jezt ein Lust-Gethöne!
Zit nach der von Keil , S. – , mitgeteilten Fassung („ – üblich“). Das Lied selbst ist älter, vgl. Anm. . Aussagen über Liedfunktionen beziehen sich auf die übliche Verwendung des Liedes im lebenspraktischen Kontext der Gruppe; vgl. Anm. . Vgl. weiterhin Lied Nr. ; Kindleben, Studentenlieder, S. ‚Verlaßt, ihr Musensöhne‘; S. ‚Was bist du, Musensohn!‘; Raufseisen, S. ‚Auf, auf, ihr muntern Musen!‘. Pallas-Söhne als Selbstbezeichnung der Studenten hat längere Tradition; vgl. etwa „ihr edlen Pallas-Söhne“, Halle (Meier , S. ).
4.1 Standessignaturen
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In der zitierten Fassung des von Crailsheimschen Liederbuchs⁴⁰ folgen drei Strophen in Wir-Form, die Schlussstrophe nimmt die beiden Eingangszeilen wieder auf. In den Fassungen desselben Liedes bei Koehler und Raufseisen tritt das Wir schon in der ersten Strophe auf, wohl auch bedingt durch die Angabe der Singrolle (Tutti bzw. Chor): Erschallet unser Lustgethöne. In diesen späteren Fassungen macht die teils identische, teils variierende Wiederholung der Zeilen 1– 2 die Hälfte des gesamten Liedumfangs aus; auch das den Standesanreden beigefügte Wertprädikat ist hier höher angesetzt (edel statt werth). Die Verwendung wertpositiver Ausdrücke in einem beziehungsrelevanten Handlungstyp wie der Anrede erklärt sich vorderhand aus den Regeln der Höflichkeit, doch lässt der − im Kontext dieser Anrede − uneigentliche Gebrauch von edel gleich an die übergeordnete, dem Standeslied inhärente Funktion des Standeslobes denken. Ein Standeslob in denkbarer Direktheit bietet Lied Nr. 12 (nach Kindleben): Ich lobe mir das Burschenleben, Ein jeder lobet seinen Stand: Der Freyheit hab ich mich ergeben, Sie bleibt mein bestes Unterpfand. ⁴¹ Neben dem Leitwert „Freyheit“ (ohne nähere Bestimmung) wird weiterhin „das Vaterland“ und „der Burschen Ehre“ apostrophiert. Bei Kindleben erscheint dieses Lied überhaupt als eine Summe dessen, was den „freyen, edlen Burschenstand“ (Schlussstrophe) in ethischer wie lebenspraktischer Hinsicht ausmacht.⁴² Es verwundert daher nicht, dass diesem Lied im Verlaufe des 19. Jahr-
Kopp , S. f. Eine Fassung von bei Keil , S. . Die Vorstellung eines besonderen ‚Burschenstandes‘ ist bis ins . Jh. geläufig; vgl. weiterhin z. B. Keil , S. : „Was ist des Purschen Stand? ein Stand voll Gram und Sorgen“ (Altdorf ); „So schwinden uns die Tage/Im frohen Burschenstand“ (Lied ‚Verscheuchet jetzt die Grillen‘; z. B. in: Commerschlieder‘, Halle , S. f.). – Verschiedentlich wird Leben gleichbedeutend mit Stand verwendet, so in dem bei Kopp (, S. ) zitierten Lied aus der ‚Helmstedter Liederhandschrift‘ (Ende . Jh.): „Ist ein Leben in der Welt,/Das mir etwan wohl gefält,/So ist das Studentenleben“; weitere Fassungen dieses Liedes bei Hoffmann v. Fallersleben (, S. , ) nach einer Handschrift des . Jhs. bzw. einem Druck von . – Für die Verhältnisse im . Jh. vgl. L. Schmidt (in: Brednich/Röhrich/Suppan., Bd. , , S. ): „Das deutsche Studentenlied des . Jahrhunderts, eine der dichtesten Liedschichten der Zeit überhaupt, ist doch letzten Endes „ständisch“ betont gewesen.“
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4 Gruppenspezifische Markierungen
hunderts das nach Thema und Tendenz ähnliche, aber derbere Lied ‚Sic vivamus wir Studenten‘ (Nr. 26) ohne Überrest einverleibt wurde. Im Vorigen wurde eine besonders markante Form der Standessignatur, der Einsatz von Standesbezeichnungen (Student, Bursch usw.) und deren Überhöhungen (Musen, Pallas-Söhne usw.⁴³) in Verbindung mit der Ich-/Wir-Perspektive am Liedanfang, herausgestellt. Dass solche Standessignaturen Gebrauchsbedingungen vorzeichnen und den Liedern eine gewisse Exklusivität sichern sollten, wird die Untersuchung weiterer Formen der Markierung noch deutlicher zeigen. Burschenlieder als Eigentum der Gruppe sind gegen fremden Gebrauch zu schützen, das gehört zu der im ‚Burschen-Comment‘ von 1780 offen ausgesprochenen Standesideologie: Carmina, quibus Studiosi in hospitiis vtuntur, Cantica Bvrschiorvm, Burschenlieder, dicuntur, nec ab aliis non Studiosis cani concessum est. ⁴⁴ Umgekehrt gereichte es nach Laukhard⁴⁵ einem Studenten-Kommers nicht zur Ehre, wenn dabei „Gnotenlieder“ (Lieder der Handwerksgesellen) gesungen wurden.
4.2 Fremdsprachen und Sprachenmischung Für die lateinischen Burschenlieder, die gerade bei Kindleben und bei Raufseisen mit sieben bzw. neun Stücken stark vertreten sind,⁴⁶ gelten im Wesentlichen die gleichen Produktions-, Gebrauchs- und Überlieferungsbedingungen wie für die deutschsprachigen Lieder. Anzeichen einer sinkenden Wertschätzung des Lateins im Verlaufe des 18. Jahrhunderts ist jedenfalls für den Textbereich des Studentenliedes nicht festzustellen.⁴⁷ An ein ungebrochenes Fortwirken der mittelalterlichen Scholaren- und Vagantenpoesie mit ihrer Liebes- und Zechthematik ist dabei jedoch nicht zu denken: Die lateinischen Burschenlieder sind in der
Mit Israel in dem Kommersruf „Wohl dir, Israel!“ (beim Vomieren) nach Mos. , ist wohl das auserwählte Volk der Studenten gemeint (Liedbeleg bei Keil , S. ; vgl. auch die Hospiz-Illustration Jena (Abb. bei Fick , S. ). Schluck , S. . Laukhard, Leben, T. (), S. . Zum Vergleich: Rüdiger hat lateinische Lieder; das ‚Commersch Buch‘ von : ; Niemann : ; Koehler : . In Rüdiger ist gegenüber Rüdiger die Zahl lateinischer Lieder auf gesteigert. Er bringt außerdem zwei griechische Liedtexte. Das Französische ist bei ihm nur in der Übersetzungsversion eines Liedes vertreten.
4.2 Fremdsprachen und Sprachenmischung
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überlieferten Form Schöpfungen des 18. Jahrhunderts, und auch etwa Niemanns Rückgriff auf das alte ‚Mihi est propositum‘ bei gleichzeitigem Verzicht auf sämtliche aktuellen Burschenlieder indiziert wohl ein Bewusstsein für die Andersartigkeit der Traditionen, die dann allerdings in den späteren Kommersbüchern infolge historisierender Herausgebertätigkeit weitgehend vermengt wurden. Der relativ große Anteil lateinischer Liedtexte ist funktional begründet in den anhaltend hohen Prestige des Lateins, vor allem in seinem Stellenwert als Sprache der Gelehrten („eruditorum lingua“⁴⁸), also des Standes, zu dem der „Burschenstand“ als Eingangsstufe begriffen wurde. Von daher ergab sich zwanglos die Möglichkeit einer auch emotionalen Identifikation mit dem Lateinischen, während das Französische, das im Gesellschaftslied des 18. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle spielt, im Studentenlied, wie es seit Kindleben überliefert ist, zwar noch relikthaft vorkommt, aber produktiv kaum mehr verwendet wird, und wenn, dann eher in satirischer Funktion.⁴⁹ Der Rückgang des Französischen hat auch ideologische Gründe und ist nicht zuletzt den deutschtümelnden und antifranzösischen Tendenzen in der Lyrik des Göttinger Hain zuzuschreiben,⁵⁰ die ja, auch über Niemanns Liederbuch, im Studentengesang ein starkes Echo fand. In der tagtäglichen Sprachpraxis von Studenten war das Französische ohne Frage präsent, als Konversationssprache, durch Lektüre, aber auch durch den akademischen Lehrbetrieb. So wird von einem Helmstedter Theologieprofessor zum Jahre 1780 berichtet, dass er in seinen Vorlesungen „deutsch und lateinisch, auch wohl französisch, durch einander sprach“ und mit diesem Vortragsstil an seiner Universität nicht allein stand.⁵¹
Schluck , S. . Bei Raufseisen (S. ) charakterisiert das französische Kompliment „Votre Serviteur!“ den unehrlichen Liebhaber. – Zielscheibe satirischer Auslassungen ist vor allem der dem „braven Burschen“ entgegengesetzte Typ des galanten „Petitmaître“, dessen Sprachhabitus Salmasius (; Reprint Henne/Objartel , Bd. , S. ) so beschreibt: „Er mus sich eine besondere Sprache, einen besonderen Ton, einen besonderen Akzent angewöhnen. Er mus einen französischen terminum mit unterzumengen wissen: einen Bleistift mus er z. E. nicht einen Bleistift, sondern einen Crayon nennen.“ – In der älteren Überlieferung von Studentenliedern (vor ca. ) begegnen französische Floskeln wie Allons (vgl. Kopp , S. f.), Eh bien (Keil , S. ), Ca donc (Korpuslied Nr. ), A bon amitié (Keil , S. ) noch recht häufig. Zum „teutomanischen Kultgehabe“ der Hainbündler vgl. H.-J. Schrader: Mit Feuer, Schwert und schlechtem Gewissen. Zum Kreuzzug der Hainbündler gegen Wieland, in: Euphorion . , S. u.ö. – Einer der wichtigsten Ideologieträger war J. M. Millers Lied ‚Auf, ihr meine deutschen Brüder!‘, besonders die Stelle: „Hohn gesprochen allen denen,/Die mit Galliens Gezier/ Unsre Nervensprache höhnen“ (zit. nach Kelletat , S. . Für „Nervensprache“ tritt in Studentenliederbüchern dann auch „deutsche Sprache“ (Taschenbuch, Halle , S. ) oder „Muttersprache“ ein (‚Commerschlieder‘, Halle , S. ; Schwab , S. ; usw.). Thieß , S. .
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4 Gruppenspezifische Markierungen
Vier Typen der Kombination von Latein und Deutsch zu einem Liedtext lassen sich unterscheiden: 1. Der deutsche Text steht zu dem lateinischen im Verhältnis der Übersetzung oder Paraphrase, wobei lateinische und deutsche Strophen alternieren. Diese an die alte Tradition der geistlichen Glossenlieder erinnernde Bauform zeigt das Lied ‚Gaudeamus igitur‘ (Nr. 10) in den frühen Fassungen. Die Selbstständigkeit der Parallelstrophen ermöglichte dann auch die Teilung des Liedes oder das Weglassen der deutschen Version.⁵² 2. Zwischen Latein und Deutsch findet ein metrisch-formal geregelter Wechsel statt. In dem Lied ‚Ecce, quam bonum‘ (Nr. 9) folgen auf eine vom Chor identisch wiederholte lateinische Strophe bei Kindleben deutsche Solo-Strophen, inhaltlich jedesmal „eine Art Quodlibet“,⁵³ während Raufseisen der lateinischen Eingangsstrophe lediglich ein metrisches Schema folgen lässt mit der Angabe, dazu habe „jeder nach der Reihe eine teutsche Strophe […] aus dem Stegreif“ zu singen.⁵⁴ Ebenfalls dem Chor zugewiesen ist die lateinische Strophe ‚Edite, bibite, Collegiales‘ (Nr. 14b); das Lied besticht durch die dialogisierten Passagen: deutschsprachige Parodie einer militärischen Wachablösung bei Raufseisen, lateinische Parodie eines kirchlichen Responsoriums bei Rüdiger. Der Grad der textuellen Verklammerung von Latein und Deutsch ist bei Sprachenwechsel an der Strophengrenze (Typ 2a) wesentlich geringer als bei Wechsel an der Zeilengrenze (Typ 2b). Beispiele für den Wechsel an der Zeilengrenze bei fortlaufender Syntax sind die Lieder ‚In dulci jubilo, / Nun singet und seid froh’⁵⁵ und ‚Pertransibat clericus / Durch einen grünen Wald’.⁵⁶ 3. Für metrisch ungeregelte Sprachenmontage, die man unter Begriffe wie Barbarolexis, makkaronisches Latein, Mischsprache oder Sprachenmischung stellen könnte, ist mir unter den Studentenliedern des späteren 18. Jahrhunderts kein klares Beispiel bekannt, während im 17. Jahrhundert sogar vielsprachige Mixturen vorkommen:
Raufseisen bietet erstmals n u r die lateinische Version des ‚Gaudeamus‘. Kindleben, Studentenlieder, S. und Anm. ebd. Raufseisen, S. f. Kindleben, Studentenlieder, S. f. Liederhandschrift des Studenten Clodius (), Nr. (Blümml , S. ); ferner in: Liederhs. dreier Leipziger Studenten (/), Nr. (Blümml , S. f.); Liederhs. des Studenten Reyher (vgl. Kopp , S. ); Liederhs. des Studenten Melzer (), Nr. (Kopp , S. Anm. ).
4.2 Fremdsprachen und Sprachenmischung
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A la santé! hör hie, En tibi hocce poculum A toute compagnie! Juch allegro fa praesto frisch! ⁵⁷ Noch am ehesten in diese Richtung geht Lied Nr. 26 unseres Korpus: Sic vivamus! Wir Studenten, Leben alle Tage wohl, Schmausen absque Complimenten Saufen uns stets toll und voll. ⁵⁸ 4. Lateinische Einsprengsel (in Form von Zitaten, Sentenzen, Gesprächsformeln, Titeln oder Eigennamen), wie sie in zahlreichen Liedtexten vorkommen, dürften überwiegend Reflexe des akademischen Jargons sein. So wird man bei der Zeile „Kommt bald ad locum wieder“ in Lied 2a an den beim Kommers üblichen Ruf „Ad locum!“⁵⁹ erinnert. Auch die elliptische Diktion der Verse Gestern ist [der] Pedell bey mir gewesen, hat mich [ad] Magnificum citirt ⁶⁰ dürfte als Zeichen für jargonale Souveränität und Lässigkeit eingesetzt sein und insofern einen sprachrealistisch-mimetischen Gehalt haben. Verballhorntes Latein, wie etwa auch in der Zeile „Sic muß man die Curas Grillasque vertreiben“⁶¹, ist überdies ein allzeit beliebtes Scherzmittel gewesen. Ausrufe wie „Vivat“ oder „Pereat“ werden in anderem Zusammenhang noch zu behandeln sein.⁶² Für die Verwendung des Lateinischen in den Liedern können noch einige speziellere Gründe geltend gemacht werden. So ist offensichtlich, dass ein metrisch geregelter Sprachenwechsel bei relativer Selbständigkeit der verschiedensprachigen Textteile (Typen 1 und 2a) die Verteilung der Singrollen (bei Wechsel-
Zit. nach Hoffmann von Fallersleben , S. . Koehler , S. . Vgl. etwa schon ‚Landveste‘ , S. ; ‚Hospitium‘ , S. . Raufseisen, S. (Korpuslied Nr. ). – Die übliche Vorladungsformel „Dominus citatur ad Magnificum/Rectorem“ (vom Pedell bei Abwesenheit des Studenten an seine Stubentür geschrieben) schon in einem Altdorfer Studentenlied des . Jhs.; vgl. Hoffmann von Fallersleben , S. .Vgl. auch den Liedtext von , zit. Keil , S. : „Citatur ad Magnificum,/Das heis ich schlecht Latein!!/Citatur ad Commercium,/Das soll viel besser sein.“ Schwab , S. (Korpuslied Nr. ). Die Verbindung „curas grillasque“ ist schon im . Jh. – außerhalb der Studentenliederbücher – in Zitaten dieses Liedes bezeugt; vgl. Keil , S. ; Schnorr , S. . Vgl. unten Abschnitt ....
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4 Gruppenspezifische Markierungen
oder Rundgesang) erleichterte und damit auch die Aktivierung der Anwesenden.⁶³ Dieser Effekt verdankt sich allerdings dem Sprachenwechsel an sich und bestätigt das Latein in seiner besonderen Rolle nur insofern, als andere Sprachkombinationen, etwa Hochdeutsch und Niederdeutsch, wenig genutzt wurden.⁶⁴ In Liedtexten, die kirchlichen Gesang parodieren (Nr. 25,⁶⁵ Nr. 14 bei Rüdiger), wird die Wahl des Lateinischen durch das Erfordernis einer auch sprachlichen Affinität zwischen Modell und Parodie motiviert sein. Beachtenswert ist ferner, dass die Ehre des (jeweiligen) Vaterlandes bzw. der (jeweiligen) Landsmannschaft gern in Latein besungen wurde (Nr. 13 und 18⁶⁶); der Eindruck von Würde und Offizialität verband sich offenbar eher mit einem lateinischen Text. Ein sprachsoziologischer Kontrast in der Verwendung beider Sprachen, ganz im Sinne des traditionellen Spannungsverhältnisses zwischen Latein und Volkssprache wird erkennbar, wenn die derben oder obszönen Akzente innerhalb eines Liedes den deutschen Textteilen vorbehalten sind.⁶⁷ Zu diesem Sprachstereotyp stimmt, dass ein lateinischer Text bei faktisch gleicher Obszönität immer den Eindruck größerer Dezenz vermittelt.⁶⁸
Die Vorliebe für das Singen in verteilten Rollen kennzeichnet das Burschenlied als Gemeinschaftslied. Die v. Crailsheimsche Liederhs. enthält ein Dialoglied, in dem ein „Bauer“ in bairischer Mundart und ein hochdeutsch sprechender „Student“ sich abwechseln (Nr. ; Kopp , S, ). In norddeutschen Studentenliederbüchern ist der Hochdeutsch-Niederdeutsch-Kontrast gelegentlich sozialsymptomatisch verwendet, so in dem Dialog zwischen Student und Nachtwächter (‚Lieder für Freunde der geselligen Freude‘, . Aufl. Riga und Dorpat , S. ) oder zwischen Grobschmied und studierendem Sohn (‚Auswahl von Commers- und Gesellschaftsliedern‘, Halle , S. ; auch ‚Neues Commersbuch‘, Göttingen , S. ). Bei Kindleben (Studentenlieder, S. ) überschrieben: „Die Horae, wie sie im Studentenlied zur Abendzeit abgesungen werden“. – In diesen Zusammenhang gehört auch das schon im ‚Hospitium‘ (, S. ) unter dem Titel „die Saufmesse“ bezeugte Burschenlied (Inc. ‚Ei guten Abend‘). In die Anfangszeile dieser Lieder war der Name der jeweiligen Landsmannschaft einzusetzen; vgl. Kindleben, Studentenlieder, S. Anm. zu Nr. . Das „Germania“ der v. Crailsheimschen Liederhs. ist in der Liederhs. Melzer () zu „Saxonia“ konkretisiert (Kopp , S. ). Das ‚Gaudeamus‘-Lied enthielt in der Zeit vor Kindleben im deutschen Teil den Reim „Unser Leben währet kurtz,/[…] Es vergeht als wie ein F –“ (Kopp , S. , , ). Kindleben (Studentenlieder, S. ) hat an der Stelle: „Kurz ist unsre Lebenszeit,/[…] Unter Sorgen, Müh und Streit“ und merkt an, dass „einige Verse ganz weggelassen sind, wodurch der Wohlstand beleidigt wurde“. Zu ‚Ecce, quam bonum‘ (Nr. ) bemerkt er (S. ), er habe „dieses alte Burschenlied […] von seinen Unflätereyen gereinigt“; gemeint sind die deutschen Textteile. In dem Lied ‚In dulci jubilo‘ (Kindleben, S. ) sind die Zeilen „O crater parvule,/Nach dir ist mir so weh“ zumindest zweideutig.
4.3 Besetzung mit Studentensprache
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4.3 Besetzung mit Studentensprache In den Ausführungen zum Sprachgebrauch und zu den Techniken des Sprachenwechsels im Studentenlied ist Gruppensprachliches bislang nicht eigens thematisiert worden. Ein vergleichender Blick von den Studentenliedern unseres Korpus zurück auf die Studentenlieder des 17. Jahrhunderts offenbart über die allgemein sprachgeschichtlich bedingten Unterschiede hinaus, dass im 18. Jahrhundert ein neuer Typ studentischer Gruppensprache aufgekommen ist, der in den Liedtexten dann auch intensiv genutzt wird. Die Entwicklung der Studentensprache und die einschlägigen sprachlichen Veränderungen in den Liedtexten erscheinen im 18. Jahrhundert, auch wegen der variablen Überlieferungsweise, noch weitgehend synchronisiert, während im 19. Jahrhundert die langtradierten Lieder von den gruppensprachlichen Entwicklungen häufig schon dadurch abgeschnitten waren, dass einmal standardisierte Druckfassungen über Zeiten und Räume hinweg identisch reproduziert wurden. Die Infiltration der Studentensprache in die Liedtexte vollzieht sich im Kontext der allgemeinen Sprachgeschichte, ist also nicht ablösbar von Fragen der Mehrsprachigkeit, der inneren Sprachvielfalt, der Spracheinstellungen und des Normenbewusstseins. Der Versuch, die Geschichte des Studentenliedes einmal von der Geschichte der Studentensprache her zu betrachten, führt daher unmittelbar in Probleme der Kategorisierung sprachlicher Vielfalt, wie sie im konkreten Text manifest wird, und weiter zur Frage nach den Grundlagen und Kriterien für die historische Einordnung einzelner Befunde, für die Beurteilung der Dynamik und Reichweite komplexerer Tendenzen der Sprachentwicklung. Hier erweist es sich nun, dass über die Geschichte der Sprachvielfalt des Deutschen im Untersuchungszeitraum wenig bekannt ist. Die Textbeispiele sind darum mit Vorzug so gewählt, dass die Zugehörigkeit der betrachteten Elemente zum Kernbereich der Studentensprache als gesichert gelten kann.
4.3.1 Längsschnitte Beim Vergleich von Textstellen in chronologischer Folge ist zu bedenken, dass stets eine Vielfalt paralleler Gebrauchstraditionen pro Lied anzunehmen und deren Verhältnis zum Überlieferten meist undurchsichtig ist, abgesehen von den zeitlichen Verwerfungen in gedruckter Überlieferung. Es verbietet sich also, die Stellen in einem Schema mit Anfangs- und Endstadium als Stufen einer linearen Entwicklung aufzufassen; sonst könnte z. B. als sprachhistorische Innovation eingestuft werden, was lediglich einer anderen Traditionslinie zugehört oder gar archaisierender Rückgriff ist.
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Wie werden studentensprachliche Elemente in die Liedtexte eingeführt, variiert, erweitert oder ersetzt? Welche stilistischen Effekte werden damit erzielt? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen einem lexikalischen Element und seinem lokalen Kontext? Die Beispiele (1) bis (3) entstammen dem Korpuslied Nr. 12, das von den frühesten Zeugnissen um 1750 bis zur Standardfassung des ‚Allgemeinen Deutschen Commersbuchs‘ (ADC; 1858) verfolgt wird. (1a) Und hat der Bursch kein Geld im Beutel, So führt er die Philister an (ca. 1760/70)⁶⁹ (1b) So scheist er die Philister an (1787)⁷⁰ (1c) So schmiert er die Philister an (1794)⁷¹ (1d) So führt er die Philister an (1810)⁷² (1e) So pumpt er die Philister an (1843⁷³ und ADC⁷⁴) Kindleben (‚Studenten-Lexicon‘, 1781) notiert als studentensprachliche Verben mit der Bedeutung ‚betrügen‘ und dem Präfix an-: anscheißen und (jmdm. etw.) anschmieren, Augustin (1795) zusätzlich: (jmdn.) anführen. Raufseisen (1794) konstruiert anschmieren anders als die studentensprachlichen Wörterbücher mit Akkusativ der Person; dies entspricht dem heutigen umgangssprachlichen Gebrauch, der also wohl schon im 18. Jahrhundert angelegt war. Die Einführung von (jmdn.) anpumpen ‚(von jmdm.) Geld borgen‘ lässt die betrügerische Absicht offen; wiederum erscheint die Studentensprache in ihrer Schrittmacherfunktion für die Umgangssprache. (2a) Ja wenns die lieben Eltern wüsten Und sehen ihrer Kinder Noth, Wie ihre Söhne borgen müsten, Sie weinten sich die Augen roth. (1745)⁷⁵ (2b) Wie sie in Jena leben müßten (1764)⁷⁶ (2c) Und wie oft die versetzen müßten (1776)⁷⁷
Keil , S. . Stammbucheintrag, Göttingen (StA Göttingen, Stb. Nr. , S. ). Raufseisen, S. . ‚Commers Buch‘, Frankfurt/M. , S. . ‚Deutsche Lieder nebst ihren Melodien‘, Leipzig , S. . ADC, S. . Stammbucheintrag, Altdorf ; zit. Kopp a, S. . Zit. Keil , S. . Zit. K. Esselborn: Aus des Magister Laukhard Gießer Studentenzeit. Aus einem zeitgenössischen Stammbuch, in: Heimat im Bild. Beilage zum Giessener Anzeiger. . . , S. .
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(2d) (2e) (2f) (2g)
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Wie sie so oft verkeilen müßten (1794)⁷⁸ Wie sie so flott verkeilen müssen (1795)⁷⁹ Wie sie so flott versetzen müßten (1810)⁸⁰ Wie sie so flott verkeilen müßten (1815 und ADC)⁸¹
Die Reihe der Wörterbücher zur Studentensprache bewahrt Spuren eines Bedeutungswandels von verkeilen: ‚verpfänden, versetzen‘ zu ‚versetzen, verkaufen‘ zu ‚verkaufen’. Die Festigkeit von verkeilen im Liedtext ist wohl hauptsächlich darin begründet, dass in dem ‚verkaufen’-Paradigma der Studentensprache verkeilen durch Gebrauchshäufigkeit herausragt.⁸² (3a) Indessen thun die Herren Söhne Sich dennoch unvergleichlich bene (1745)⁸³ (3b) Sich doch ein unvergleichlich bene (1764)⁸⁴ (3c) Zuweilen doch sich trefflich bene (1794)⁸⁵ (3d) Sich dann und wann ein trefflich bene (1795)⁸⁶ (3e) Sich dann und wann gar trefflich Bene (1810)⁸⁷ (3f) Sich dann und wann gar trefflich bene (1815 und ADC)⁸⁸ Obwohl im Lateinischen eindeutig Adverb, changiert bene in der „academischen Redensart“⁸⁹ zwischen Adverb und Substantiv. Die grammatische Unsicherheit wird in der Großschreibung bei adverbialem Gebrauch (3e) besonders augenfällig. Vom Ansatzpunkt bene her schreitet die Latinisierung gelegentlich weiter fort: (3g) Indessen thun die filii, sich bene beim Crambambuli. ⁹⁰
Raufseisen, S. . ‚Commersch Buch‘, Halle , S. . ‚Commers Buch‘, Frankfurt/M. , S. . Schwab , S. . Vgl. Meier ; Reprint: Henne/Objartel , Bd. , S. . Zit. Kopp , S. . Zit. Keil , S. . Raufseisen, S. . ‚Commersch Buch‘ , S. . ‚Commers Buch‘ , S. . Ebenso in ‚Commerschlieder‘, Halle , S. . Schwab , S. . Vgl. „that sich davor [i. e. für sein Geld] nach der gewöhnlichen academischen Redensart, etwas bene“ (Beleg von ca. ; zit. E. Schmidt ; in: Henne/Objartel , Bd. , S. ). So z. B. im ‚Commers-Buch für den deutschen Studenten‘, Leipzig, . Aufl. , S. .
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Das Kernwort Schmolles/Schmollis, das im Zusammenhang mit der Entwicklung der studentischen Trink- und Verbrüderungsriten zu sehen ist,⁹¹ erscheint 1753 in einem anonymen Jenaer Gedichteband:⁹² Wo man ein frölich Schmolles bringet, Sanguinisch scherzt und munter singet, Da bin ich gern Nach den Brüdern Keil stehen die Zeilen schon 1752 in einer Liedaufzeichnung, sie finden sich variiert ab 1761 auch in Stammbucheinträgen.⁹³ Schmollis dann wieder 1776 in einem handschriftlich tradierten Lied,⁹⁴ dessen ältere Version Reyher bietet:⁹⁵ (4a) Weg, weg mit den verdammten Grillen, Die gantze Nacht soll unser seyn. Jochen Poltrian Jochen Poltrian Bring Bier herein (4b) Weg weg mit den verdammten Grillen, Die gantze Nacht soll unsre seyn, Auf, auf, laßt leere Gläser füllen Und lauter Schmollis schencken ein. Erst Kindleben führt im Druck Schmollis – im Sinne der gegenseitigen Bekräftigung der Brüderschaft – in das Lied Nr. 30 ein, das seit 1685 bezeugt ist und bei Studenten eine lange Tradition hat. Zunächst eine chronologisch geordnete Auswahl der Liedzeugnisse: (5a) Herr Nachbar zur Rechten, Herr Nachbar zur Lincken, Wir wollen einander eins freundlich zutrincken, Sa, sa, / Wir Herren sind da. (1685)⁹⁶ (5b) wir wollen einander ein Gläslein zu trinken. In Gesundheit der Schönsten, die da lebet auf Erden ⁹⁷ (5c) wir wollen einander ein gantzes zu bringen. Auf Gesundheit der […]⁹⁸ Vgl. unten Abschnitt .. ‚Gedichte‘ , S. . Keil , S. ; H. P. Hümmer: Ordensbrüder und andere Studenten im Stammbuch J. L. Glock. In: Einst und Jetzt. Jb. . , S. ( Erlangen); Keil , S. ( Jena). Keil , S. . Erstdruck des Liedes in Schwabs ‚Commersbuch‘, , S. („Smollis schenken ein“). Fabricius /, S. . M. Kautzsch: Das Frisch und Voll eingeschenckte Bier=Glaß (), zit. Kopp , S. . ‚Bergliederbüchlein‘ (/); zit. Kopp b, S. . v. Crailsheimsche Liederhs. (/); zit. Kopp , S. .
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(5d) wir wol—len einander 6 ganze zutrincken. ⁹⁹ (5e) wir wollen einander ein volles zutrinken. Zur Gesundheit meiner Schönsten, […]¹⁰⁰ (5f) Herr Bruder zur Rechten, Herr Bruder zur Linken, Wir wollen einander ein Schmollis zutrinken: Auf das Wohlseyn der Schönsten, […] (1781)¹⁰¹ (5g) Herr Bruder zur Rechten, Herr Schwager zur Linken, Wir wollen einander ein Smollis zutrinken! C h o r : Smolliren zutrinken! Auf’s Wohlseyn der Allerschönsten, […] (1815)¹⁰² (5h) Herr Bruder zur Rechten, Herr Schwager zur Linken, Wir wollen einander ein Schmollis zutrinken! C h o r : Ein Schmollis zutrinken! (1818 und ADC)¹⁰³ Indem dieses Schmollis nun aber in den Kontext des Ausbringens einer „Gesundheit“ auf die Geliebte gerät,¹⁰⁴ kommt es zur Überlagerung zweier verschiedener Komplimentierakte und zu einer gewissen Unstimmigkeit im textualisierten Handlungsgefüge. Mit dem Zusatz „Smolliren zutrinken!“ (5g) hatte, wie dessen Zurücknahme (5h) vermuten lässt, die Hybridisierung dann einen unverträglichen Grad erreicht.
4.3.2 „Burschenfeinde“: Die Entwicklung lexikalischer und textueller Strukturen Die studentensprachliche Einfärbung der Liedtexte wurde bisher punktuell auf lexikalisch-phraseologischer Ebene untersucht. Die Betrachtung sei nun ausgedehnt auf einen kompletten Liedtext, bei dem zwischen dem fortschreitenden Ausbau der Gruppensprache und den textstrukturellen Veränderungen ein enger Zusammenhang besteht. Das Lied Nr. 29 bleibt in der handschriftlichen Überlie-
Stammbuchblatt um ; Abb. bei P. Gladen: Gaudeamus igitur. Die studentischen Verbindungen einst und jetzt. Unter Mitarbeit v. U. Becker. München , S. . Fliegendes Blatt (. Jh.); zit. Kopp , S. Die Fassung Kindlebens, S. . Schwab , S. . ‚Neues Commersbuch‘, Göttingen , S. ; im ADC S. , ohne Chor. Kindleben schließt das Präpositionalgefüge „Auf das Wohlseyn […]“ durch einen Doppelpunkt ausdrücklich an; so auch etwa das ‚Commers Buch‘ , S. .
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ferung, mit Fixpunkten zwischen 1736/37 und 1808,¹⁰⁵ erstaunlich gleichförmig: Das Ich des Liedes, ein in Geldnot geratener „Bursch“, sondiert seine Lage zwischen Furcht („Creditores“/„Manichäer“), Trost („Mädchen“) und Hoffnung („Vater“). Das Schuldenthema illustrieren die Figuren des Pedells (in seiner Funktion als Lader vor das Universitätsgericht) und des Schneiders (der das bestellte Kleidungsstück zurückhält). Die Einzelheiten der Darstellung sind diesem thematischen Rahmen eingefügt und auf einen individuellen Erfahrungszusammenhang bezogen.¹⁰⁶ Die Textfassungen auf der handschriftlichen Ebene wirken daher, trotz einiger Redundanzen und Exkurse, je in sich geschlossen. Zum Ansatzpunkt für die Umstrukturierung des Liedes, wie sie in den Druckfassungen zu beobachten ist, wird die Zeile Laß die Creditores [bzw. Manichaeos/Mannichäer] immer klopfen!, die mit Manichäer ‚Gläubiger‘ das zunächst einzige gruppensprachliche Signalwort des ganzen Liedes enthält. Der Erstdruck bei Raufseisen zeigt bereits durchgreifende Veränderungen: Die Manichäer-Strophe ist an den Liedanfang gerückt und beginnt: Lasset den Philistern ihr verdammtes Klopfen! ¹⁰⁷ Den Kontakt zur tradierten Liedversion wahren außerdem die Schneider- und die Pedell-Strophe, doch der übrige Text ist ersetzt durch vier Strophen, die nacheinander neue Figuren einführen: Schnurre ‚Scharwächter’,¹⁰⁸ Knote ‚Hand Vgl. G. Kohfeldt/W. Arens (Hrsg.): Ein Rostocker Studenten-Stammbuch von /. Mit Bildern aus dem Studentenleben in farbiger Wiedergabe. Rostock , S. : ‚Laß die Manichäer immer klopfen‘ (weiter S. ); Keil , S. : ‚Laß die Manichaer immer pochen‘ (Str. von ); Kopp , S. (Liederhs. Reyher /); Kopp ebd. S. f. (Text nach der v. Crailsheimschen Liederhs. /); Kopp ebd. S. f. (Text nach der Liederhs. Melzer ). Den lebenspraktischen Bezug des Liedtextes verdeutlichen zahlreiche bildliche Darstellungen des Themas, z. B. eine „Seht die Lust mit den Manichäern“ überschriebene Szene, die einen flüchtenden Studenten zeigt, dem Schneider, Schuster, Haus- und Tischwirt ihre Geldforderungen nachrufen (G. F. Rebmann: Briefe über Jena, hrsg. v. W. Greiling, Jena , Bildanhang Nr. (. Jh.). Creditores in der v. Crailsheimschen Liederhs. (Kopp , S. ); Manichaeos in der Liederhs. Reyher (Kopp . S. ). Der Erstbeleg mit der Schreibung „Mahn-nichäer“ (; ‚Deutsches Fremdwörterbuch‘ s.v. Manichäer) gibt Aufschluss über das Bezeichnungsmotiv. Schnurre ‚Scharwächter‘ ist m.W. zuerst zu belegen: „würfeln diese [Studenten, Anm.] erst unter sich, wer die Schnurren zuerst provociren sollte“ (Briefe eines Göttinger Studenten aus dem Jahre , mitgeteilt von G. v. Selle, in: Göttingische Nebenstunden , Göttingen , S. ); literarisch bei Zachariä , S. u. ö.
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werksgeselle’,¹⁰⁹ (mein) Philister ‚Hauswirt’, Schuster und Wäsch’rin. Das Schuldenthema ist durchbrochen, es entsteht vielmehr ein soziales Panorama mit dem „Burschen“ als Zentralfigur im Kampf gegen stereotypisierte „Burschenfeinde“.¹¹⁰ Im Anschluss an ‚Raufseisen’, aber auch in Kenntnis anderer Traditionen gibt Gustav Schwab in seinem Tübinger Kommersbuch von 1815 (21816) dem Lied eine noch intensivere studentensprachliche Tönung: „der flotte Bursch“ statt „der Bursche“, „Pudel“ statt „Pedell“; die Anfangszeile lautet (wieder): Laßt doch den verdammten Manichäer klopfen ¹¹¹. Den Höhepunkt in der Entwicklung des Liedes in Richtung auf ein Panorama sozialer Antitypen um die Idealfigur des „flotten Burschen“ erreicht das Göttinger ‚Commersbuch‘ von 1818.¹¹² In den acht Strophen treten der Reihe nach auf: 1. „die verdammten Manichäer“, 2. „der Pedel“,¹¹³ 3. „die Knoten“, 4. „ein Ladenschwengel“, 5. „der Schneider“, 6. „mein Philister“, 7. „ein Petit-maitre“, 8. „der Alte“. Die Schwabsche Fassung ist kontaminiert mit anderer Überlieferung, der die Strophen vier und acht entstammen.¹¹⁴ Das überraschende Fehlen der Figur des „Schnurren“ erklärt sich daher, dass bei im übrigen gleichgebliebenen Text der Strophen einige Figuren umverteilt wurden: Die neu eingeführte Figur des „Petitmaitre“¹¹⁵ besetzte die frühere Knoten-Strophe, die „Knoten“ rückten in den Text der alten Schnurren-Strophe, so dass für den „Schnurren“ eine neue Strophe hätte gedichtet werden müssen. In der weiteren Drucküberlieferung des ManichäerLiedes im 19. Jahrhundert herrschen siebenstrophige Fassungen im Gefolge Schwabs oder sechsstrophige vor, die das aufgestockte Figurenensemble in ver-
Knote (auch: Gnote) m.W. zuerst in der Klageschrift eines Helmstedter Studenten von (NSA Wolfenbüttel: Alt , Bl. ): „Sieh mahl der Knoten der Schlüngel der Flegel etc.“; dann literarisch etwa bei Göchhausen , S. : „was versteht so ein Knote davon, wie Er ist“. In Kindlebens Fassung des ‚Gaudeamus igitur‘ erscheint im lateinischen Text die Bildung antiburschius, im deutschen Text Burschenhasser; Rüdiger hat an der Stelle (S. ) Burschenfeinde. Schwab , S. . Im Zeitraum zwischen Raufseisen () und gibt es keine Drucküberlieferung des Liedes. Schwab greift auch sonst gern auf Raufseisen zurück; vgl. Kopp , S. – . ‚Neues Commersbuch‘, S. . Evtl. verdruckt für Pudel ‚Pedell‘. Bei Keil , S. f. drei Strophen zum Manichäer-Lied aus den neunziger Jahren des . Jhs.: . „der Alte“, . „der Pedell“, . „ein Ladenschwengel“. Um ein veraltetes Literaturwort.
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schiedenen Kombinationen durchspielen.¹¹⁶ Wie andere langtradierte Burschenlieder erreicht das Manichäer-Lied mit zunehmender Entaktualisierung einen der Zeit entrückten Schwebezustand, in dem die inhaltliche und sprachliche Archaik im Prozess der Selbststilisierung einer Sozialgruppe eine symbolische Qualität gewinnt: als Ausweis für Alter und Adel des Studentenlebens. Die studentensprachliche Entwicklung des Liedes, im Ganzen betrachtet, beginnt mit der Opposition zwischen Bursche und Manichäer und setzt sich fort, bis die Bezeichnungen für die Antitypen des „flotten Burschen“ erschöpft sind. Bei den redaktionellen Umgestaltungen des Liedes stieß die geradlinige Weiterführung des Schulden-Themas an eine Grenze, weil das dem Begriff ‚Manichäer‘ zu subsumierende Umfeld nur partiell von Studentensprache überformt war (vgl. „mein Philister“ vs. „Schneider“, „Schuster“ usw.), so dass ein perspektivischer Schwenk auf studentensprachlich ergiebigere soziale Bereiche (Knote usw.) erfolgte, wobei zuletzt sogar ein Negativtyp unter den Studenten selbst angeleuchtet wurde (Petit-maitre). Der Umstand, dass auf gleicher Ebene manche Figuren studentensprachlich markiert wurden und andere nicht (vgl. mein Philister/ Hausphilister ‚Hauswirt‘ gegenüber möglichem, aber nicht kreiertem *Kleiderphilister ‚Schneider’), kann funktional im Sinne einer Relevanzabstufung gedeutet werden. Sind solche Relevanzabstufungen in Form lexikalischer Strukturen konventionalisiert, können sie zwar in Texten prinzipiell ad hoc verändert werden, z. B. durch Augenblicksbildungen, doch solche Veränderungen bedeuten kontextuellen Mehraufwand und bedürften einer besonderen Motivierung.
4.3.3 Die Liederbücher im Vergleich: Kindleben, Rüdiger, Raufseisen Burschenlieder sind, nicht unbedingt nach ihrer Entstehung und Herkunft, wohl aber nach ihren Gebrauchsbedingungen, Themen und Funktionen, Ingroup-Texte par excellence. Die Anreicherung der Liedtexte mit Gruppenwortschatz ist daher zu sehen als Folge ihres normalen Gebrauchs in einer Phase kräftiger Expansion der Studentensprache. Wie die Längsschnittdarstellungen demonstrieren konnten, erreicht die gruppentypische Lexik in manchen Liedern eine außerordentliche Verdichtung. In den Wörterbüchern der Studentensprache wird es seit Kindleben (1781) eine immer beliebtere Übung, die lexikographischen Beispiele den Liedtexten zu entnehmen.¹¹⁷ Angesichts der Gebrauchsfrequenz, überregionalen Das Lied fehlt im ADC, steht aber in dem ebenfalls sehr erfolgreichen ‚Commers-Buch‘, Leipzig. . Aufl. , S. f. Kindleben, Studenten-Lexicon , s.v. Landesvater, Ledern, Tobias, Zieh; der Satz „Ich bin theek fast sehr“ in seinen ‚Studentenliedern‘ (S. = Korpuslied Nr. ) und im ‚Lexicon‘ s.v.
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Verbreitung und Langlebigkeit der Burschenlieder muss man ihre Bedeutung für die Stabilisierung und Popularisierung von Studentensprache sehr hoch veranschlagen. Welche Rolle spielten bei diesen Vorgängen die frühesten gedruckten Sammlungen von Studentenliedern? Um dies besser beurteilen zu können, ist es notwendig, sich vorweg die Arten des Umgangs mit den Liedern und die Bedingungen möglicher Veränderungen zu vergegenwärtigen. Möglichkeiten der Veränderung bot zunächst die Praxis der Aufführung in der Gruppe: Die beliebten Formen des Wechselgesangs, speziell die Rollenaufteilung in Vorsänger und Chor, erlaubten das Erlernen der Lieder im Prozess des Singens und gaben zugleich Raum für spontane Textvariation oder gar freie Improvisation.Weitere Quellen der Variabilität waren Niederschriften aus dem Gedächtnis oder Kopien aus einer oder mehreren Vorlagen. Zitate in Stammbüchern, Einzelblattdrucke oder Sammelhandschriften enthalten Spuren einer solchen, vom Usus bestimmten Ebene des Liedgebrauchs, auf der Veränderungen mehr unterlaufen als dass sie intendiert wären. Kleine Gelegenheitsdrucke, sofern sie für den internen Gebrauch z. B. anlässlich eines Stiftungsfestes gedacht waren, können ebenfalls noch der primären Gebrauchs- und Überlieferungsebene zugerechnet werden.¹¹⁸ Die Herausgeber von Studentenliederbüchern als Verlagswerken mit Öffentlichkeit hatten demgegenüber in ganz anderer Weise literatursprachliche Normen, Publikumserwartungen und kritische Reaktionen bis hin zu behördlichen Maßnahmen zu kalkulieren. Hinsichtlich der lexikalischen Komponente der Variabilität wird man auf der primären Gebrauchsebene eher Veränderungen in kleinen Schritten, die sich erst über einen gewissen Zeitraum in der Überschauperspektive summieren, erwarten, hingegen beim Übergang zum Druck (und in der weiteren Drucküberlieferung) eher gezielte redaktionelle Eingriffe auch größeren Umfangs entsprechend der andersartigen Kommunikationsebene. Im Vergleich der Druckwerke lässt sich einiges über die Tendenzen der Auswahl, der Dosierung und Verarbeitungsweise gruppensprachlicher Lexik ermitteln. Als externe Bezugspunkte bieten sich die Wörterbücher von Kindleben (1781) und Augustin (1795) an, deren Zuverlässigkeit dabei zugleich überprüft werden kann. Vergleicht man bei Kindleben die anonymen, die umgearbeiteten und die selbstgedichteten Studentenlieder, so ergibt sich überraschenderweise, dass die größte Konzentration gruppentypischer Lexik nicht in den alttradierten Burschenliedern erreicht wird, sondern in zwei Eigendichtungen Kindlebens, in deTheek. Augustin zitiert im ‚Idiotikon‘ Lieder zusätzlich s.v. Pro poena trinken und Schmausen. Schuchardt zitiert allein aus dem Manichäer-Lied s.v. flott, Magnificus, Manichäer. Ein Beispiel für solche Gelegenheitsdrucke ist der von Bechtold faksimilierte ‚Landesvater‘ (von ca. ).
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nen das Schulden-Thema variiert wird.¹¹⁹ Geht man das einschlägige Vokabular eines dieser Lieder, beginnend mit „O jemine!“, durch, so ist festzustellen, dass es von den „eigentlichen Studentenwörtern“,¹²⁰ die Kindleben in seinem ‚StudentenLexicon‘ bucht, folgende enthält: ankeilen, Bursche (im Lied: Burschenzeit), Manichäer, Moneten, Rektor, verkeilen. Augustins Wörterbuch (1795) enthält zusätzlich fidel (in Kindlebens Wörterbuch nur: scheißfidel) und schmausen (im Lied das Subst. Schmaus), nicht dagegen Rektor. Kluge (1895) verzeichnet über all dies hinaus noch als studentensprachlich: Knasterbart, Concilium (im Lied: Konzilium) und Musensohn. Die unterschiedlichen Auswahlen zu kommentieren erübrigt sich, da in diesem Zusammenhang nur wichtig ist, dass diese Wörterbücher als Gradmesser für die Studentensprachlichkeit eines Textes zumindest nicht versagen. Mit der Identifizierung einschlägigen Vokabulars ist über die Studentensprachlichkeit des Liedtextes aber noch nicht alles gesagt. Das genannte Vokabular besetzt nur 6 der 15 Strophen, und es würde kaum auffallen, wenn es nicht in einzelnen Passagen gehäuft aufträte: Spart euren Schmaus, Reißt mich heraus, Fidele, gute Brüder! – Keilt doch frisch Moneten an ¹²¹ Zwei Momente kommen hinzu: Der Text ist durchsetzt mit bildkräftigen, affektisch-bewegten, z.T. sprachspielerisch abgewandelten Phraseologismen: Komm‘ ich […] Greulich ins Gedränge – Bin wie gekocht! – Laßt mich in Ruh – Macht mir […] viel Flausen – Meinen Beutel lausen – Wär ich doch […] Wo Pfefferkörner wachsen! – haben mir Strumpf und Stiel genommen! Den Eindruck salopper Sprechweise unterstützen Ausdrücke wie jmdn. herausreißen – hin sein – etw. los sein – vor’s Konzilium müssen. Für burschikose Diktion sorgen zudem fremdsprachliche Tupfer: Tristitia! – in patria – baxen (engl. Lehnwort). In dem Text ist ein Stiltyp realisiert, der heterogene Lexik in einen funktionalen Zusammenhang bringt. Anders gesagt: Eine Bedingung für die Konstitution dieses Stiltyps ist ein Mischvokabular mit studentensprachlichem Gepräge. Sein Expertentum in Studentensprache beweist Kindleben nicht nur in den Eigendichtungen, sondern auch in den alttradierten Studentenliedern. Aus unserem Liedkorpus finden sich 14 deutschsprachige bzw. deutsch-lateinische Lie-
‚Studentenlieder‘, S. ‚Die Menge meiner Schulden‘; S. ‚O jemine!‘. Nur das erstere Lied findet sich nochmals gedruckt: im ‚Commersch Buch‘, Halle , S. . Kindleben, Studenten-Lexicon, Vorrede S. ; Reprint: Henne/Objartel , Bd. , S. . ‚Studentenlieder‘ , S. .
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der in Kindlebens Sammlung wieder, von denen 13 entsprechend markiert sind, allerdings sehr ungleichmäßig.¹²² Der Grad der studentensprachlichen Markierung eines Textes ist nicht nur quantitativ, durch die relative Häufigkeit einschlägiger Lexik, zu bemessen, sondern auch qualitativ bestimmt durch den Abstand von schriftsprachlichen Normen. So besitzen etwa die allgemein in Studentenliedern häufigen Ausdrücke Musensohn und Saalathen aufgrund ihrer Denotate und ihrer Metaphorizität zwar burschikoses Kolorit, sind um 1780 aber auch schon gängige Wörter der Bildungs- und Literatursprache, anders als etwa sich skisiren (‚sich vor den Gläubigern heimlich davonmachen’) oder auf den Mist gesetzt sein (‚in Geldnot sein’),¹²³ die nicht nur bürgerliche Stilnormen, sondern auch das Moralempfinden oder kommunikative Tabuzonen verletzen. In dieser Frage der normativen Restriktionen für den Gebrauch von Studentenwörtern ist das Verhalten Rüdigers gegenüber den ‚Studentenliedern‘ Kindlebens aufschlussreich. In der ersten Ausgabe seiner Sammlung klammert Rüdiger die studentensprachlich besonders dicht besetzten Lieder von der Übernahme aus (z. B. Nr. 2 und 12). Einige der von Kindleben übernommenen Burschenlieder erfahren durch Streichungen oder Neuvertextung von Strophen (z. B. Nr. 4 und 10) größere Änderungen, die auf inhaltliche Verharmlosung, stilistische Glättung, insgesamt auf die Eliminierung von Studentensprachlichem hinauslaufen. Dass Rüdiger seine Aufmerksamkeit gezielt auf Studentensprachliches richtete, beweist die vielfache Ersetzung einschlägiger Wörter, während der übrige Wortlaut unangetastet blieb. So wird z. B. fidel durch vergnügt, Fidelité durch Frölichkeit, der Burschen Brauch durch nach altem Brauch, Burschenzeit ¹²⁴ durch frohe Zeit ersetzt (Nrr. 3, 4, 5, 6).¹²⁵ Rüdiger muss bei der Vorbereitung der zweiten Ausgabe (1795) sein Verhältnis zum Publikum anders eingeschätzt bzw. seine Einstellung zur Studentensprache revidiert haben: Nun übernimmt er vordem zurückgestellte Lieder wörtlich, macht verschiedentlich Glättungen unter Rückgriff auf Kindlebens Wortlaut rückgängig (z. B. in Nrr. 3, 6) und bemüht sich sogar, seine Quelle studentensprachlich zu übertrumpfen, so im ‚Gaudeamus‘ (Nr. 10): Vivat wer uns Nummos schickt – Pereat
Lexikalisch unmarkiert ist Korpuslied Nr. ‚Hat uns nicht Mahomet‘; das darin vorkommende Dutzkopf steht zwar auch in Kindlebens ‚Studenten-Lexicon‘, aber nicht als „eigentliches Studentenwort“ gekennzeichnet. ‚Studentenlieder‘, S. f. Der Ausdruck Burschenzeit ist an der Stelle nicht erst von Kindleben eingeführt worden; vgl. die Liedfassung bei Keil , S. . Augustin (S. ) spricht leicht mokant über „ein neues verbessertes Gesangbuch“ für Kommerse, in dem nichts stehe, was „die keuschesten Ohren einer Vestalin beleidigen“ könne; gemeint ist wahrscheinlich Rüdiger .
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wer uns verpetzt. Rüdigers Umorientierung hängt wahrscheinlich mit der lokalen Universitäts- und Studentengeschichte zusammen (Säkularfeier der Universität Halle 1794; Quasi-Legalisierung landsmannschaftlicher Studentenverbindungen),¹²⁶ auch wohl mit der Biographie des Autors,¹²⁷ den der Zwang zur Selbstzensur nach 1791 nicht mehr so drückte. Im Kreise der Liederbuch-Herausgeber, die durch die Praxis der Auswahl und Bearbeitung oder auch in ihrer expliziten Programmatik¹²⁸ eine „Reform“ des Studentengesangs betrieben, nimmt Raufseisen (1794) eine Sonderstellung ein insofern, als er die „grosse Revolution auf Universitäten“ propagiert mit dem entgegengesetzten Ziel, „den alten ehrwürdigen Burschengeist“ wieder zu beleben und „alle neumodischen und empfindsamen Burschenlieder“ vergessen zu machen.¹²⁹ Hinter solchen Probestücken für den Renommistenton steht ein konsequent durchgehaltenes Programm: Mit schon antiquarischem Eifer bringt „der letzte Bursch“¹³⁰ fast ausschließlich Burschenlieder zum Druck, darunter – über Kindleben hinausgehend – auch solche, die selbst moderne Liedforscher als „einen wahren Abgrund sittlicher Verkommenheit und schamloser Gemeinheit“ empfanden.¹³¹ Nur wo Raufseisen den Versionen Rüdigers – und nicht Kindlebens – folgt (z. B. in Nr. 3, 6, 7), fällt er im studentensprachlichen Niveau zurück. Seine Sammlung kann den Verlagswerken mit Öffentlichkeitscharakter nicht direkt zur Seite gestellt werden: die Pseudonymität, der fingierte Druckort, die Angabe „als Ms. f. s. Freunde abgedruckt“,¹³² die Lokalbindung einiger Liedtexte an Tübingen und die offenbar kleine Auflage weisen auf einen relativ geschlossenen Abnehmerkreis mit „Sinn für Burschikosität“.¹³³
Vgl. Augustin (S. – ) über neugegründete „Kränzchen“ (Landsmannschaften), die – im Gegensatz zu den Studentenorden – „von der Universität gebilliget“ (S.) seien, auch „Kartel untereinander“ (S. ) hätten; vgl. auch oben Anm. zum Schlesischen Kränzchen () und weiter Fabricius , S. – . Rüdiger war inzwischen ordentlicher Professor in Halle geworden; vgl. Schrader , Bd. , S. . Vgl. oben Abschnitt . Unpag. Vorrede (S. IV). Ebd. Kopp , S. . Titelblatt. Vorrede (S. III).
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4.3.4 Handschriftenebene und Druckschwelle Wenn sich am Beispiel Raufseisens also ein weiteres Mal herausstellt, dass innerhalb der gedruckten Überlieferung von Burschenliedern die Schwelle des Zumutbaren sehr verschieden angesetzt werden konnte, dann wird man erst recht für die Ebene handschriftlicher Verbreitung oder privater Aufzeichnung mit einer Staffelung von Textvarianten in der Dimension rechnen, deren Extrempunkt 1797 so beschrieben wird: „Lieder, die mit ekelhaften Zoten und unflätigen Ausdrücken überhäuft waren, wurden mit dem allgemeinsten Beifalle gebrüllt.“¹³⁴ Die Enttabuisierung gewisser Themenbereiche, insbesondere des Sexuellen und Skatologischen, bedeutet zugleich die Aktivierung spezieller Wortschätze, die, auch wenn sie in ihrer alltagssprachlichen Gegebenheit, also ohne gruppensprachliche Überformung zum Einsatz kamen, aufgrund ihrer bloßen Distanz zu schriftsprachlichen Ausdrucksnormen geeignet sind, die studentensprachliche Markierung eines Textes zu verstärken. Zwei Zeilen aus dem Lied ‚Sic vivamus‘ (Nr. 26), das im 18. Jahrhundert oft bezeugt, aber nur bei Raufseisen gedruckt ist, mögen die Variantenstaffelung in der angesprochenen Dimension illustrieren: (a) Saufen absque Complimenten Sch – n Strumpf und Hosen voll ¹³⁵ (b) Sauffen absque Complimenten Speyen Rock u. Taschen voll ¹³⁶ (c) Schmausen absque Complimenten Saufen uns stets toll u. voll ¹³⁷ (d) Leben absque Komplimenten, Trinken uns stets toll und voll ¹³⁸ Zwischen handschriftlich-privater Überlieferung (a – c) und Druck (d) ist selbst im Falle Raufseisens eine Schwelle erkennbar. Da die Liederhandschrift des Tübinger Studenten Koehler aus derselben lokalen Gebrauchstradition schöpft wie Raufseisen, ja als eine seiner Vorlagen in Frage kommt,¹³⁹ besteht hier die seltene Möglichkeit, über die Wirksamkeit der Druckschwelle und die Tendenz der literarischen Bearbeitung etwas konkreter zu werden:
‚Taschenbuch‘ , S. . Keil , S. („ – üblich“). Einst und Jetzt. Jb. (), Tafel I: Stammbuchblatt von . Koehler , S. . Raufseisen, S. . Vgl. Objartel , S. f.
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4 Gruppenspezifische Markierungen
In der Auswahl und Dosierung spezifisch studentensprachlicher Lexik bestehen keine nennenswerten Unterschiede. Eine auffällige Gemeinsamkeit ist die Häufigkeit des Wortes flott (das in Kindlebens Liedern fehlt), wohl ein Reflex lokaler Sprachmode. An inhaltlich verfänglichen Stellen wählt Raufseisen meist mildere Ausdrucksvarianten, doch scheut er derbe Ausdrücke nicht grundsätzlich.¹⁴⁰ Strophen oder Liedtexte, die Obszönitäten oder Respektlosigkeiten gegenüber der (akademischen) Obrigkeit enthalten, bleiben allerdings auf die Handschrift beschränkt.¹⁴¹ Koehler macht vielfach Angaben zur Aufführungsweise der Lieder (Verteilung der Singrollen, Repetitionsstrukturen, gesangsbegleitende Handlungen u. a.), wie sie Raufseisen so reichhaltig nicht bietet. Koehler notiert recht ausgiebig Alternativen zu einzelnen Ausdrücken, Zeilen oder Strophen – eine Praxis, die auf die freie Verfügbarkeit von Varianten je nach aktueller Situation und Zusammensetzung der Singgemeinschaft, auf eine grundsätzliche Offenheit der Textform hindeutet. Demgegenüber sind variable Stellen bei Raufseisen nur dort durch Platzhalter wie „N. N.“ kenntlich gemacht, wo Eigennamen einzusetzen sind.
Vgl. Zuckersch – er (S. ) in einer studentischen Version von Schillers ‚Räuberlied‘, das z. B. auch beim Auszug der Jenaer Studenten im Juli gesungen worden war (neunstrophiger Text in: Dahl , S. f.) Vgl. bei Koehler , Nr. , bzw. , . Ähnlich werden im Liederheft des stud. Stapf um „Magnificus, Pedell und auch der Syndicus“ unter ein „Pereat“ gebracht (Beck , S. , Nr. ).
5 Interaktionsroutinen in den Liedern 5.1 Gebrauchsbedingungen und Handlungspotential Bei der Analyse der Burschenlieder in ihrer interaktionssteuernden Funktion bei den Zusammenkünften der Studenten stehen zwei komplementäre Fragen an: die nach den Gebrauchsbedingungen der Lieder und die nach ihrem Handlungspotential. Die primär zu beachtenden Gebrauchsbedingungen sind: die aktuelle Handlungsgemeinschaft (z. B. die Mitglieder einer Studentenverbindung), der Veranstaltungstyp als prozessuale Einheit (z. B. ein offizieller Kommers) sowie – auf das einzelne Liedereignis bezogen – die Weise der Aufführung (Singrollen usw.) und die liedbegleitenden rituellen bzw. zeremoniellen Praktiken. Im vorigen Abschnitt wurde eine Reihe textueller Eigenschaften herausgestellt, durch welche die Bedingungen eines lebenspraktischen Gebrauchs der Lieder eingeengt oder sogar explizit vorgezeichnet werden. Als solche Eigenschaften sind zu nennen: ständische Perspektivierung, gruppensprachliche Einfärbung, Fremdsprachengebrauch, Eigennamen, Kennzeichnungen, offengelassene Referenzstellen, Indizierung von Merkmalen oder Aspekten der Situation und der Kommunikationsgruppe. Sofern solche Mittel und Techniken der (textinternen) Vorzeichnung von Gebrauchsbedingungen dienen, können sie, eben aufgrund dieser ihrer Verweis- und Anweisungsfunktion, in gewisser Weise dem Handlungspotential der Lieder selbst zugerechnet werden, zumal da die (textexterne) Erfüllung textualisierter Gebrauchsbedingungen als unabdingbar erscheint für die jeweils optimale Entfaltung des Handlungspotentials. Der Umstand, dass in den Burschenliedern die Bedingungen ihres Gebrauchs in so vielfältiger Weise zum Ausdruck kommen und dass dieses Zum-Ausdruck-Kommen im passend situierten Text ein Zum-Ausdruck-Bringen, d. h. ein sprachliches Handeln ist, kompliziert die Unterscheidung zwischen Gebrauchsbedingungen und Handlungspotential, ja lässt eine strikte Trennung in vielen Fällen als eher künstlich und unpraktikabel erscheinen. Festzuhalten bleibt aber doch, dass es Gebrauchsbedingungen gibt, die dem Text äußerlich sind, die den textualisierten Gebrauchsbedingungen auch widersprechen können, ohne dass der Liedgebrauch dadurch notwendigerweise unpassend würde. In enger Auslegung von ‚textextern‘ könnte man bereits die einem Lied üblicherweise beigegebenen Angaben zur Melodie oder zum Singmodus, selbst den Liedtitel, vom eigentlichen Liedtext, so wie er gesungen wird, ausnehmen. Das Handlungspotential eines Liedtextes ist demgegenüber begründet in dem Gefüge sprachlich gefasster Handlungen (z. B. Ausbringen einer ‚Gesundheit’) und nicht zugänglich ohne die sinnerschließende Interpretation
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5 Interaktionsroutinen in den Liedern
manifester Textelemente und -strukturen,verbunden mit einer Hypothese über die je historischen und normalen Gebrauchsbedingungen des Textes. Als methodisches Mittel für die Erschließung des liedspezifischen Komplexes von Gebrauchsbedingungen bietet sich eine ‚realistische Lesart‘ an, wobei freilich die Rücksicht auf die Inszeniertheit der Liedkommunikation vor Kurzschlüssen bewahren sollte. Eine realistische Lesart z. B. des Ausdrucks Germania in den Liedern 13 und 17 wird diesen als Variable verstehen, die durch den Namen der Studentenverbindung, in der das Lied gerade gesungen wird, zu ersetzen ist. Was so als heuristisches Mittel dient, hat in der Liedpraxis der Zeit durchaus eine reale Entsprechung. Ein realistisches Verständnis der Anfangszeilen von Millers ‚Deutschem Trinklied’ Auf, ihr meine deutschen Brüder! Feiren wollen wir die Nacht! Schallen sollen frohe Lieder Bis der Morgenstern erwacht! ¹⁴² im Sinne einer Rahmensetzung hat diesem zu seiner Standardfunktion als Eröffnungslied bei Kommersen verholfen. An einer Vielzahl von Beispielen aus der Geschichte des Burschenliedes ließe sich demonstrieren, dass umgekehrt die Unmöglichkeit oder Schiefheit eines realistischen Liedgebrauchs zu anpassenden Texteingriffen geführt haben. Die Formen der Vertextung von Gebrauchsbedingungen und die Disposition zur Einbindung der Lieder in lebenspraktische Kontexte stehen in Wechselwirkung miteinander. Die beobachtbaren Auswirkungen dieser Disposition liefern also die empirische Rechtfertigung für das genannte methodische Mittel. Anzumerken ist noch, dass die vorstehenden Ausführungen zu den Begriffen Gebrauchsbedingungen und Handlungspotential orientiert sind an der Vorstellung eines lebenspraktischen Gebrauchs der Lieder im Kontext selbstbestimmter studentischer Gruppen oder Vereinigungen, also die Bedingungen der Schreib- und Lesesituation ausgeklammert lassen.
5.2 Rituelle Beziehungskommunikation Die Texte der Burschenlieder sind typischerweise so eingerichtet, dass durch deren kombinatorischen Gebrauch ein Großteil der Interaktionen zwischen den versammelten Gruppenmitgliedern in Gang gesetzt und abgewickelt oder doch wenigstens intensiviert, überhöht und im Ablauf gesteuert werden kann. Ein
Zit. nach Kelletat , S. .
5.2 Rituelle Beziehungskommunikation
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Liedtext kann als vorgefertigtes Programm die Handlungsplanung eine Strecke weit überflüssig machen, indem angebotene Kommunikations- und Handlungsrollen nur noch übernommen zu werden brauchen. Manche dieser Handlungsprogramme sind recht komplex und an spezielle Lieder gebunden; das hervorragende Beispiel ist der ‚Landesvater’-Ritus, den Niemann zu einem MiniaturMusikdrama ausgebaut hat. Andere, weniger spektakuläre Interaktionsmuster sind zahlreichen Liedern gemeinsam; damit wird ein Repertoire bestimmter Muster gepflegt, das Rückschlüsse ermöglicht auf besondere kommunikative und emotionale Bedürfnisse der Liedbenutzer als Vertreter einer gesellschaftlichen Gruppierung in einer historischen Epoche. Durch Häufigkeit und Variantenreichtum zeichnen sich vor allem Interaktionsmuster aus, die man der Beziehungskommunikation zurechnen kann: Höflichkeitspraktiken mit nonverbalen Komponenten, für die zeitgenössische Beschreibungsbegriffe wie Gesundheit, Vivat, Lebehoch, Hoch, Toast oder Trinkspruch zur Verfügung stehen.¹⁴³ Bei der Untersuchung dieser Praktiken geht es zunächst um die funktionale Bestimmung und Bestandsaufnahme der wichtigsten Typen, um Probleme innerer Zusammenhänge und äußerer Abgrenzung, um die Mittel und Verfahren der Versprachlichung in Lied- und anderen Texten, um Reihenbildungen und textuelle Strukturen, um die Verschränkung sprachlicher und nicht-sprachlicher Handlungsformen, um Fragen der Einordnung der Phänomene in soziokulturelle Zusammenhänge (Komplimentierwesen, Geselligkeitsformen, Freundschaftskult, Ars bibendi¹⁴⁴) und vor allem wiederum um die Frage nach gruppenspezifischen Ausprägungen. Bei jedem Versuch einer historischen Handlungsanalyse haben Zugangs- und Verstehensprobleme ein besonderes Gewicht. Das sprachkulturelle Wissen, das bei der Analyse eingesetzt werden soll, muss ja erst in der bekannten Zirkelhaftigkeit über die Sichtung und den Vergleich geeigneter Materialien neu zusammengesetzt, wenn nicht überhaupt erst erworben werden. Die Freilegung des Handlungssinns von Ausdrücken, die in Liedtexte integriert sind, also in einem recht speziellen Modus des Miteinander-Kommunizierens vorliegen, erfordert eine Reihe vorbereitender Schritte, insbesondere den Vergleich der Handlungsformen in unterschiedlichen Textbereichen.
Von diesen scheint Trinkspruch der jüngste zu sein; gebucht bei Campe . Einer der ersten Versuche zur Disziplinierung des Trinkens war Vincentius Opsopeus: De arte bibendi libri tres, . Aufl. .
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5 Interaktionsroutinen in den Liedern
5.3 Gesundheittrinken und Verwandtes Zum Sprachhandlungsmuster ‚Ausbringen einer Gesundheit‘ (kurz: GESUNDHEIT) gibt es im wesentlichen drei Zugangsmöglichkeiten: (a) Die sprachlichen Formen der Realisierung von Handlungen des Musters (bzw. seiner Untertypen) in Texten. (b) Zeitgenössische Schilderungen des Gesundheittrinkens, normative Texte in Form von Komplimentier- oder Manierenbüchern, kulturkritische Raisonnements zum Thema, u. dgl. (c) Die Bezeichnungen für Handlungen, die nach dem Muster vollzogen bzw. interpretiert werden (s. bereits 5.2.). Dahinter stehen i.a. vage Alltagskonzepte. Die handlungsperformativen Ausdrücke (a) sind für die linguistische Analyse der inneren Mechanik des Musters die wichtigste Grundlage, aber es ist auch klar, dass die Beschreibung von Äußerungsformen perspektivlos wäre ohne eine vorgängige, wenigstens vage Vorstellung von dem im Muster organisierten Handlungskonzept, und eine solche erste Vorstellung ist schon über die Beobachtung des Gebrauchs der entsprechenden Handlungsbegriffe (c) erreichbar. Da die Beschreibung sich vornehmlich auf die Lieder des Korpus beziehen soll, erhebt sich die Frage, ob denn die Äußerungsformen, die das Muster in Liedern repräsentieren, überhaupt performativ verwendet werden konnten.¹⁴⁵ In der Tat ist davon auszugehen: Ein Lied kann als Ganzes die Funktion einer GESUNDHEIT haben; dies kommt in Liedtiteln und Rubrikenbezeichnungen unmittelbar zum Ausdruck.¹⁴⁶ Es kann sogar eine ganze Serie von GESUNDHEITEN im Rahmen eines Liedes ausgebracht werden. Die Übertragung derartiger Funktionen auf Liedtexte entspricht der bekannten Tendenz zur Ritualisierung von Höflichkeitskommunikation, zum Gebrauch vorgefertigter Routinen, zwischen denen man u.U. wählen kann, deren Formulierung man aber nicht persönlich zu verantworten braucht. Die Verwen-
Als ‚performativ‘ werden hier sprachliche Äußerungsformen verstanden, durch die in geeignetem kommunikativem Kontext (sprachliche) Handlungen bestimmter Muster/Typen vollzogen/realisiert werden – und nicht für später angekündigt oder rückschauend berichtet. ‚Performativ‘ in Bezug auf vorgefertigte/verfügbare Äußerungsformen wie Liedtexte bedeutet, dass die geeigneten kommunikativen Kontexte wiederholt und gewohnheitsmäßig hergestellt werden. Für die linguistische Analyse ist entscheidend der Aspekt des Wechselbezugs zwischen Handlungspotential und Gebrauchsbedingungen (s.o. .); im übrigen wird die Performativität von Äußerungsformen hauptsächlich anhand lexikalisch-grammatischer Kriterien bestimmt (s.u. ..). Bei Kindleben (‚Studentenlieder‘, S. ) trägt das Lied ‚Es lebe Paul, der Medikus‘ die Überschrift „Eine Gesundheit“; ebenso bei Rüdiger (S. ) Korpuslied Nr. . Die genannten Lieder stehen bei Rüdiger (S. f.) in der Rubrik „Einige Gesundheiten und Epigrammata“.
5.3 Gesundheittrinken und Verwandtes
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dung von Liedern zur Übermittlung von Komplimenten dieser Art kann als eine zeittypische Erweiterung der kommunikativen Möglichkeiten angesehen werden. Für die Realisierungen von Handlungen eines Musters gilt generell, dass die sprachlichen Äußerungsformen kaum je sämtliche Komponenten des Musters repräsentieren, da bei den Teilnehmern kommunikative Erfahrung und Kontextverarbeitung vorausgesetzt werden. Obwohl in der Kommunikation nicht der Regelfall, sind explizite oder gar überexplizite Äußerungsformen dennoch das geeignete Ausgangsmaterial für die Rekonstruktion der Handlungskomponenten. Dass die Sprachhandlungen im Komplimentierwesen generell zu hochgradiger Explizitheit tendieren, kann hier als glücklicher Umstand verbucht werden, der die Identifikation von Äußerungen als dem Muster GESUNDHEIT zugehörig erleichtert.
5.3.1 Dialogisierte Formen in Studentendramen Die größte Annäherung an natürliches Sprachhandeln von Studenten nach dem Muster GESUNDHEIT versprechen dialogisierte Texte aus studentischem Milieu. In dem deutschsprachigen Zwischenspiel eines lateinischen Schuldramas vom Jahre 1648 trinken zwei Wittenberger Studenten einander zu: Studiosus senior. Herr Bruder, dem Herrn meinen Dienst, in Gesundheit der Herren Magnifici! Alter Studiosus. Ich bedanke mich sehr höchlich. Die Gesundheit ist mihr sehr angenehm, vnd meritirt der ietzige Magnificus solcheß woll; den er ist ein trefflicher Burschenfreund. ¹⁴⁷ Nach der Anrede und nach einer unspezifischen Zutrinkformel¹⁴⁸ erfolgt das GESUNDHEIT AUSBRINGEN auf die Vizerektoren (der Universität) in der syntaktischen Form einer Präpositionalphrase. An dem Beispiel lässt sich die interaktionelle Grundregel des Musters aufzeigen: Die GESUNDHEIT muss nicht dem Adressaten der Äußerung oder überhaupt einem in der Situation Anwesenden gelten, wichtig ist nur, dass der Sprecher Grund hat anzunehmen, dass die Zielperson der GESUNDHEIT sich der Wertschätzung des Adressaten bzw. der Kommunikationsteilnehmer erfreut. Indem der Adressat bekundet, dass diese Voraussetzunng zutrifft, bescheinigt er dem Sprecher die korrekte Anwendung der
Raue, ‚Zwischenspiel‘ , S. . Ebd. S. : „Mein Dienst, Herr Bruder! Ein Gantzeß!“.
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5 Interaktionsroutinen in den Liedern
beziehungsrelevanten Grundregel. Zugleich darf der Adressat nach den weiteren Regeln des Komplimentierwesens die so ausgebrachte GESUNDHEIT als ein an ihn selbst gerichtetes Kompliment verstehen, das ihn zu einer höflichen Erwiderung (hier: Dankformel) verpflichtet.¹⁴⁹ Das nächste Beispiel ist einem dramatischen „Burschengemäld“ von 1783 entnommen: Von Jülich: Ey, wir trinken mal h’rum, hab’n lang kein Gesundheit getrunken. Berger: Ist auch wahr! Sitzen hier und kalmäusern. – Dein Julchen soll leben. Nicht wahr? Jülich, hast du nicht ein Jülchen? (Stößt an.) Von Jülich: Kann wohl seyn. (Zu Ferrol) Dein Suschen soll leben – Bruder – und du Berger – dein Mädel! Ist gleichviel, wies heißt. (Trinken.) ¹⁵⁰ Die Personenkonstellation bei den hier reihum ausgebrachten GESUNDHEITEN ist auch die der Burschenlieder: Tres faciunt collegium,¹⁵¹ und die – wenigstens vermutete – Geliebte des Adressaten ist eine gern gewählte, jedoch stets situationsexterne Zielperson der GESUNDHEIT. Die Bezugnahme auf die Geliebte (Charmante, Schöne, Holde, Liebchen, Mädchen, Kleine, Kind usw.¹⁵²) erleichtert insbesondere die Erwiderung der GESUNDHEIT durch ein gleichwertiges Gegenkompliment. Wie die Szene demonstriert, erfüllen GESUNDHEITEN neben ihrer sozialethischen, beziehungsregulierenden Funktion auch unmittelbar praktische Zwecke in Trinkgesellschaften: Sie überbrücken drohende Unterhaltungspausen, schaffen willkommene Trinkanlässe und wirken andererseits, indem Trinkakte an GESUNDHEITEN gebunden sind,¹⁵³ einem regellosen Alkoholkonsum entgegen. Mit der Bindung der GESUNDHEIT an den Akt des Zutrinkens hat man ein erstes Kriterium für die Abgrenzung gegen andere Komplimenttypen. Die habituelle Verbindung der beiden Handlungen erscheint lexikalisch konventionalisiert in
Zur Obligation der Erwiderung eines Kompliments vgl. Beetz , S. ff. Schnorr , S. . Vgl. das Frontispiz zu Schnorr : Drei kommersierende Studenten, darüber der zitierte Spruch. Diese Bezeichnungen in den Liedern bei Kindleben und Raufseisen. – Wenn in Kommersszenen des . Jahrhunderts junge Damen auftreten, so sind sie in aller Regel als Bedienung oder Animiermädchen zu sehen. In der ‚Landveste‘ (, S. ) erhält die anwesende Corinne von den kommersierenden Studenten eine GESUNDHEIT; das Gewicht der weiblichen Rolle erklärt sich hier aus dem Charakter des Stücks als Singspiel. Vgl. C. F. Bahrdt, ‚Geschichte meines Lebens‘, . T., Berlin , S. über die entsprechende Tischsitte in England. Aufschlussreich auch ein Brief des Göttinger Studenten Vieth von (zit. K. Peters: G. U. A. Vieth, Jever , S. ): „Meine Herren, sagte Selchow, ich bitte mir zweierley aus, daß ich Niesen darf, ohne complimentirt zu werden, und Wein trinken, ohne Jedermann Gesundheit zu wünschen.“
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Kombinationen wie (jmds.) Gesundheit trinken oder Gesundheittrinken N.¹⁵⁴ Auch der Begriff für das Handlungsmuster wird demgemäß weit gefasst: Adelung gibt unter dem Stichwort Gesundheit u. a. die Erläuterung: „in weiterer Bedeutung, jede Formel, deren man sich beym Trinken oder im Zutrinken bedienet“.¹⁵⁵ Der Gedanke, das sprachliche und das gestisch-mimische Handlungsmuster unter einer Kategorie zusammenzufassen, ist daher eine Erwägung wert, so ungewohnt eine solche Mischkategorie aus linguistischer Sicht anmuten mag. Es fragt sich aber, was mit der Einbeziehung des Zutrinkaktes in die Kategorie GESUNDHEIT für die linguistische Analyse des Handlungsmusters gewonnen wäre, außer dass die physische Kontaktaufnahme (Blick- und Bewegungsrichtung) so aufgefasst werden könnte, dass sie mit semiotischen Mitteln die Adressierung einer Äußerung, die keine Anredeform enthält, leistet. Sollten aber die Bedingungen und Formen des (verbalen oder nonverbalen) Adressierens nicht als eigener Gegenstand betrachtet und von der Analyse einzelner Sprachhandlungsmuster wie der GESUNDHEIT ausgeklammert werden?¹⁵⁶ Im übrigen trifft Adelungs (und Campes) Erklärung, Gesundheit sei eine mögliche Bezeichnung für jede Art von Trinkformel, zumindest für die studentischen Verkehrformen nicht zu. Neben dem Gesundheittrinken steht etwa das Brüderschafttrinken mit eigenen Formeln, die nicht als „Gesundheiten“ bezeichnet werden (vgl. 5.4.). Der Akt des Zutrinkens kommt also bei einer Reihe sprachlicher Handlungsmuster außerhalb der GESUNDHEIT vor, z.T. in spezifisch angepasster Form.
5.3.2 Normative Modelle Im ‚Hospitium‘ von 1747, einem Scherztraktat über die bei einem Studentengelage zu beobachtenden Bräuche, werden auch die „Gesundheiten“ ausführlich behandelt. Der „Hospes“ als „Oberhaupt“ der „Trinkmonarchie“ eröffnet das Komplimentieren, indem er „allerseits Wohlseyn“ ausbringt. Die zweite „Gesundheit“ gilt „eines jeden Gastes Wohlseyn in specie“; sie wird „rund herum getrunken“, und der jeweils Angesprochene muss sich „in einem Glase bedanken“. Sodann „bringet der Hospes
Nach Schochs ‚Comoedia vom Studentenleben‘ () gab es das Gesundheittrinken auch beim Abgang von der Universität: „es begleiten ihn etzliche gute Freunde, nehmen sehnlichen Abschied von einander und trincken noch kniende Gesundheiten“ (Ausgabe Fabricius , S. ). G. W. Rabener rechnet in seinem ‚Beytrag zum deutschen Wörterbuche‘ (; auch in ‚Satiren‘, . T., Reutlingen , S. f.) Gesundheittrinken zu den Wörtern, „deren Bedeutung mir am zweydeutigsten, und am unbestimmtesten zu seyn scheint“. ‚Versuch eines […] Wörterbuchs‘, . T. , . Zum angesprochenen Problem vgl. weiter die Abschnitte .. und ....
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5 Interaktionsroutinen in den Liedern
allerseits Charmanten aus“; wie bei der ersten „generalen Gesundheit“ trinken alle mit („Charmanten“ sind nicht zugegen). Die vierte „Gesundheit“, auf die „Charmante in specie“, erfolgt analog der zweiten, doch bedarf es eines dreimaligen Umlaufs, da jedem Studenten drei „Charmanten“ zugebilligt werden, eine „in loco“, eine „in patria“ und eine „in loco tertio“. Zu den Pflichten des „Hospes“ gehört es weiterhin, „andere Gesundheiten, als z. E. der künftigen Weiber“ auszubringen und mit Zu-spätKommenden die schon „abgestochene Gesundheiten, und ausgebrachten Charmanten“ nachzuexerzieren.¹⁵⁷ Da der Traktat soweit nur den technischen Ablauf der „Gesundheiten“ beschreibt, erfährt man nichts Konkretes über die zu verwendenden Formulierungen. Doch bei der Beschreibung des Veranstaltungsteils, in dem „TrinkLieder“ gesungen werden, präsentiert der Verfasser ein „neues Stück“, das mit Regieanweisungen versehen und geeignet ist, jedem einzelnen Gast die Handlungsrolle für weitere „Gesundheiten“ zuzuspielen. In drei Umläufen je eine Strophe singend, bringt ein jeder (a) „die Gesundheit des Hospitis“, darauf „seinem Nachbar rechter Hand“ (b) „das Wohlseyn in specie“ sowie (c) „das Wohlergehen von jedweder Charmante in specie“ aus. Die für die Realisierung der drei „Gesundheiten“ relevanten Verse lauten: (a) Darum soll der Wirth auch leben, Brüder stimmet mit mir ein, Laßt uns ihm ein Vivat geben (b) Nun will ich dir dieß Glas bringen, Bruder auf beständig Glück (c) Ferner lebe was dich herzet, […] Deine Schöne so dir treu ¹⁵⁸ Die gewählten Formulierungen enthalten einige Auffälligkeiten,wenn man sie von den interaktionellen und semantischen Komponenten der GESUNDHEIT her betrachtet: Beim Agens der „Gesundheit“ wechseln Singular (mir) und Plural (uns), obwohl ausdrücklich solo gesungen wird. In (b) kommen inhaltliche Momente des Begriffs „Gesundheit“ nicht zum Ausdruck; die Wortwahl (beständig Glück) führt eher auf die Bestimmung der Handlung als SEGENSWUNSCH für das weitere Leben. Der die Handlung spezifizierende Ausdruck im Liedkommentar lautet aber: „das Wohlseyn in specie“, so dass hier Beschreibung und performative Äußerung divergieren. Die Art der grammatischen Modalisierung der Sätze in (a) und (b) könnte den Eindruck erwecken, als handle es sich um eine Aufforderung zu bzw. um eine Ankündigung einer „Gesundheit“, nicht um diese selbst; so ist gut
Zitate aus ‚Hospitium‘, S. – , , . Ebd., S. f.
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denkbar, dass im Anschluss an (a) Tutti ein „Vivat!“ riefen. Für GESUNDHEITEN sind modalisierte Sätze jedoch eine typische Ausdrucksklasse, wie noch gezeigt wird.¹⁵⁹ Die Regeln für die Performativität von Ausdrücken in Liedtexten sind partiell anders anzusetzen als von Ausdrücken in ungebundener, spontaner Rede. Eine Interpretation der drei Strophen bzw. der daraus zitierten Verse als performativ kann sich jedenfalls auch darauf berufen, dass diese Strophen im Kommentar ausdrücklich als korrekte Formen des Vollzugs der drei Sorten von „Gesundheiten“ empfohlen werden.
5.3.3 Interaktionelle Struktur der GESUNDHEIT Bei aller Verschiedenheit der Ausführungsformen erscheint in den Beispielen durchgängig ein Komplimenttyp, dessen interaktionelle Struktur so aussieht: I. Initiatives Kompliment Der Sprecher X bekundet seine Wertschätzung gegenüber dem Adressaten Y, indem X eine GESUNDHEIT ausbringt (a) auf den Adressaten Y (= situationsinterne Zielperson) oder (b) auf eine situationsexterne Zielperson Z. Bedingung bei (b): X hat Grund anzunehmen, dass Y den/die Z schätzt. II. Respondierendes Kompliment Der Sprecher Y bekundet seine Wertschätzung gegenüber dem Adressaten X, indem Y (a) eine geeignete GESUNDHEIT auf X appliziert oder (b) X für die ausgebrachte GESUNDHEIT dankt (bzw. im Sinne eines Dankes reagiert). Ein Grenzfall dialogischer Kommunikation liegt vor, wenn eine GESUNDHEIT kollektiv und unisono auf eine situationsexterne Zielperson ausgebracht wird; aber auch dann kann als Zweck der Handlung die Erhöhung gegenseitiger Wertschätzung durch Bestätigung einer gemeinsamen Identifikationsfigur gelten. Die dialogische Struktur des Kompliments kann im Lied zumindest formal erfüllt werden durch Trennung der kommunikativen Rollen und deren Kennzeichnung durch reziproke Personendeixis. Mit ‚Adressat‘ ist die kommunikative Rolle desjenigen bezeichnet, an den eine Äußerung situationsintern gerichtet ist, erkennbar an der Anredeform bzw. an (Possessiv‐)Pronomina; Adressat kann auch die gesamte aktuelle Sing- bzw. Trinkgemeinschaft sein. Der Zutrinkakt als notwendiger Begleitakt einer GESUNDHEIT ist
Vgl. unten ....
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immer an den oder die situationsinternen Mitzecher gerichtet; simultan zu seiner mimisch-gestischen Ausführung kann er – anders als der Trinkakt – im Gesang verbalisiert werden (jmdm. ein Glas zubringen, anstoßen usw.). Die GESUNDHEIT selbst gilt charakteristischerweise einer ‚Zielperson’, die auch ein Personenkollektiv sein kann; in abgeleiteten Formen wird sie aber auch auf mythologische Figuren, Wertbegriffe, Institutionen, den Wein u. a. bezogen.
5.3.4 Funktion und Inhalt der GESUNDHEIT Das Handlungsmuster GESUNDHEIT ist soweit als ein Komplimenttyp nach interaktionellen Aspekten charakterisiert, aber noch nicht in seiner spezifischen Funktion bestimmt und gegen andere Muster abgegrenzt. Die Frage der Abgrenzung kann bei einem komplexen und historisch so wandelbaren Muster wie der GESUNDHEIT nach dem Konzept der Familienähnlichkeit¹⁶⁰ angegangen werden: Danach fallen unter GESUNDHEIT mehrere unterscheidbare Typen sprachlichen Handelns, und neben prototypischen Ausprägungen auch untypische, nach anderen Mustern (z. B. SEGENSWUNSCH) interpretierbare Ausprägungen, die aber im Kontext eindeutiger GESUNDHEITEN auch nach deren Muster verstanden werden können. Die Frage nach der Funktion von GESUNDHEITEN ist am besten von vollexpliziten Realisierungen her anzugehen. Als solche können die Beispiele unter 5.3.2 gelten, zumal in den Texten auf die Realisierungen noch metakommunikativ der Beschreibungsbegriff „Gesundheit“ angewendet wird. Die tragenden lexikalischen Elemente in den performativen Äußerungsformen sind entweder das Substantiv Gesundheit oder das Verb leben. Die beiden Wörter stehen in einem übereinzelsprachlichen kulturellen Paradigma, sind gestützt vor allem durch lateinische und französische Parallelen und bilden im Deutschen die historischen Basen für den weiteren Ausbau der beiden lexikalischen Paradigmen. Der Konnex zwischen den semantischen Konzepten ‚Gesundheit‘ und ‚(lang) leben‘ ist offenkundig; demnach bestehen zwischen den performativen Äußerungsformen der GESUNDHEIT insgesamt relativ enge semantische Gemeinsamkeiten, während die grammatisch-syntaktische Ausdifferenzierung wesentlich durch die Wortartdifferenz bedingt ist. So fällt im Vergleich zu anderen Sprachhandlungsmustern, etwa DANKEN oder AUFFORDERN, bei der GESUNDHEIT auf, dass der Inhalt der Äußerungen relativ konstant bleibt – nur die Zielperson wechselt –, und zudem, dass die kommunikative Funktion des Musters nur sehr
Vgl. Wittgenstein , S. f.
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selten durch lexikalische Mittel ausgedrückt wird.¹⁶¹ Aus der relativen Konstanz und regelmäßigen Repräsentation der prädikativen Komponente der Proposition ist nun auch zu erklären, warum die sprachüblichen Beschreibungsbegriffe für die GESUNDHEIT sich auf eben diese Komponente beziehen und nicht, wie bei vielen anderen Sprachhandlungsmustern, auf die kommunikative Funktion. Die kommunikative Funktion (Illokution) der GESUNDHEIT, unabhängig vom propositionalen Gehalt betrachtet, ist schwerlich anders zu bestimmen als ‚Bekunden eines altruistischen Wunsches’. Dem kommt auch die Explikation von Gesundheit (als Beschreibungsbegriff der GESUNDHEIT) bei Adelung und Campe nahe: „Die Anwünschung der Gesundheit beim Trinken“.¹⁶² Die kommunikative Funktion ‚Bekunden eines altruistischen Wunsches‘ ist aber allein nicht geeignet, das Muster GESUNDHEIT hinreichend zu spezifizieren; diese Funktion ist derart allgemein, dass sie mindestens der großen Gruppe der Wunschkomplimente insgesamt zukommt. Sprachlich wird die Funktion der GESUNDHEIT in den performativen Äußerungen fast ausschließlich durch grammatische Mittel der Modalisierung repräsentiert, die kaum eine weitere Konkretisierung dieser Funktion erbringen. Somit ergibt sich, dass die GESUNDHEIT kommunikativfunktional nur in ihrer Eigenschaft als ‚Wunschkompliment‘ zu bestimmen ist, dass ihre Identifizierbarkeit als eigenes Handlungsmuster auf der Semantik der Kernelemente ihrer Proposition beruht.
5.3.5 Lexikalisch-syntaktische Realisierungsformen Die folgende Aufstellung der sprachlichen Realisierungsformen von GESUNDHEITEN schöpft vorzugsweise aus den Burschenliedern des Referenzkorpus (Nrr. 1– 30). Zur Ergänzung sind meist ältere Texte aus dem Studentenmilieu (Stammbücher, Lieder, Dramen) herangezogen. Zitate aus laufenden Texten beschränken sich auf die Teile, die Komponenten des Musters repräsentieren; Anredeformen sind wegen der Adressierungsfragen hinzugenommen. Die Gruppierung ist orientiert an den beiden genannten lexikalischen Paradigmen mit ihren
Eines der wenigen Beispiele hierfür findet sich in Kindlebens ‚Landesvater‘ (Studentenlieder, S. ): „Theurer Lehrer,/Ich dein Hörer,/ Wünsch‘ dir alles Wohlergehen“. Die übrigen Versionen dieses Liedes lauten an der Stelle anders. Adelung s.v. Gesundheit.
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5 Interaktionsroutinen in den Liedern
syntaktisch-grammatischen Umgebungen. Intern sind die Gruppen grob chronologisch geordnet.¹⁶³
5.3.5.1 Das verbale Paradigma Es dominieren Sätze mit der 3. Pers. Konj. Präs., gemäß den lateinischen und romanischen Vorbildern. Diese Konstruktion erschwert allerdings die direkte situationsinterne Adressierung. Diese leisten in den deutschen Liedern imperativische Sätze, auch solche mit Modalverb (sollen, selten müssen). Bei allen drei Formen können verdeutlichend gewisse Adverbien hinzutreten: meist hoch, aber auch lange, (auf) ewig, wohl, vergnügt, u. a. (1) vivant studiosi […]/ Vivant omnes Jungferlein,/ Die den Studenten günstig seyn (Lied 2.H.17.Jh.)¹⁶⁴ (2) Es lebe die […] Schnupftabacks-Compagnie in dem Collegio. Hoch hoch hoch (1742, Stb 210) (3) es lebe, Bruder, was vergnüget,/ […] es lebe demnach deine Schöne! (C, Nr. 22)¹⁶⁵ (4) Es leben auch die/ Herren Brüder! […]/ So leben wir auch Alle hoch! (Lied 1775, Stl 183; Nr. 17) (5) Vivat Dominus N. N./ N. N. iana Musa,/ Vivas, vivas./ (Solo.) Atque vos vivatis invicem./ (Tutti.) Ergo nos vivamus invicem (Nr. 13 K R) (6) Vivat unsre Compagnie!/ Lange leb‘ und blühe sie! (Nr. 15 R) Häufig sind repetitive Intensivierungen, besonders im Refrain. Eine ältere lateinische, in studentischen Kreisen dann sehr beliebte Dreierformel führen Rüdiger und Raufseisen in Lied Nr. 13 ein (10). (7) Vivand vivand vivand, vivand amici, periant periant periant, periant inimici (Lied um 1700)¹⁶⁶ (8) Vive la vive la vive la va :/: Vive la Compagnia (Lied 1743/48)¹⁶⁷ (9) Floreat, floreat, floreat commercium (1780, Stl 175) (10) vivas, floreas, crescas (Rü 1791) – Vivat! floreat! crescat! (R)
Die Stellennachweise sind im Folgenden vereinfacht: K = Kindleben, ‚Studentenlieder‘; R = Raufseisen; N = Niemann ; Rü = Rüdiger ; Stb = Keil/Keil, Stammbücher; Stl = Keil/Keil, Studentenlieder; C = Crailsheimsche Lhs.; Nr = Korpuslied Nr. , usw. Kopp , S. . Kopp , S. . Kopp b, S. . Fabricius /, S. (Liederhs. Reyher).
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Imperativisch tritt die Dreierformel in deutschsprachigen Liedern schon früher auf: (11) Lebt edle Musen! wachst und blüht (1746)¹⁶⁸ (12) Und du, treffliche Saline,/ […] Lebe, wachse, blühe, grüne (K, S. 7) (13) Lebe edler Musen Sitz,/ Lebet wohl, ihr Lehrer (1743/48; Nr. 10)¹⁶⁹ (14) Leb‘, Liebling der Musen, Freund N. N. vergnügt! (R, S. 10) Die an den ABSCHIEDSSEGEN erinnernde Verbindung von leben mit wohl (13) dient nicht selten der Realisierung von GESUNDHEITEN, so auch in Lied Nr. 17,¹⁷⁰ wo andere Versionen hoch haben. Die Konstruktion mit Modalverb in der 2. Person ist der imperativischen in etwa gleichwertig, mit Modalverb in der 3. Person der konjunktivischen. (15) Herr Bruder, du sollst leben,/ Und dein Mädchen auch (Nr. 4 K R) (16) Ihr Brüder rufft vivat!/ Chirurgi sollen leben (C)¹⁷¹ (17) Ewig soll mein König leben,/ Und mein Mädchen auch darneben (Nr. 17 K) Wie beim Verb, so bildet sich auch bei hoch früh (s.o. 2) eine bekräftigende Dreierformel aus („Ein dreymal donnernd hoch“ Nr. 7 K), wiederum gern im Refrain oder Chorteil: (18) (Chor.) Hoch! hoch! hoch!/ Es lebe N. N. hoch! (Nr. 2 R)
5.3.5.2 Das nominale Paradigma Hier sind hauptsächlich zwei Komplexe von Äußerungsformen zu unterscheiden: syntaktisch unverbundene Präpositionalgefüge in der Art von Zurufen oder Ausrufen einerseits und satzförmige Konstruktionen mit den integrierten Präpositionalgefügen oder mit deren Kernsubstantiven als direktem Objekt anderseits. Eine Übergangsform vom verbalen zum nominalen Paradigma stellen die substantivierten Formen Vivat und Hoch als direkte Objekte dar. Die unverbundene Form, obwohl in akademisch-burschikosen Kreisen früh zu belegen, bleibt in den Studentenliedern relativ selten. Das mag auch durch den speziellen Kommunikationsmodus des Singens bedingt sein: Es gab ja Gelegenheit für liedexterne
‚Landveste‘, S. .Vgl. auch das ‚Krambambuli‘-Lied (/): „Leb, edles Dantzig, grün und blüh,/ Tusch! Vivat dein Krambambuli“; zit. O. Deneke, Koromandel-Wedekind, der Dichter des Krambambuli-Liedes. In: Göttingische Nebenstunden . Göttingen , S. . Fabricius /, S. (Liederhs. Reyher). Vgl. das Faksimile der ‚Landesvater‘-Version von ca. bei Bechtold . Kopp , S. . – Eigenwillig die Konstruktion: „Es lebe mein mägdchen, das blühen muß,/ um […]“ (Lied Nr. in A. Stapfs Liederheft, um ); Beck , S. .
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Zutrinkformeln. Extreme Reduktionsformen – ohne Repräsentation einer Zielperson (19 – 20) – kommen in den Korpusliedern nicht vor. (19) A la santé! […] Insanitatem! (Studentenlied 1668)¹⁷² (20) (Schenkt ein) Auf gut Glück! (trinkt aus) (1725)¹⁷³ (21) Auf Gesundheit aller Sachsen (um 1667, Stl 133) (22) Pro salute amicorum (C; auch Nr. 13 K R) (23) Auf geliebter Mädchen Wohl! (K, S. 54) (24) Pro salute tua! (Nr. 14b R) (25) In sanitatem omnium (Lied 1810)¹⁷⁴ Vollexplizite Äußerungsformen werden in den Liedtexten eindeutig bevorzugt. Die syntaktisch integrierten Präpositionalgefüge enthalten wiederum Nominalausdrücke wie Gesundheit (das aber im 18. Jahrhundert in Studentenliedern außer Gebrauch gerät), Wohl, Wohlergehen, Wohlseyn; auch die Kontexte sind durchaus gleichartig. Typischerweise drückt der Sprecher-Sänger aus, dass er den zur GESUNDHEIT gehörenden Zutrinkakt ausführt, oder er kündigt den (nur in Singpausen möglichen) Trinkakt an. (26) Diesen edlen Saft der Reben/ Leer ich auf sein [„König“] Wohlseyn aus […] Auf das Wohlseyn unsrer Freunde/ Trinken wir (Nr. 5a K) (27) Ich trinks auf euer Wohl!/ (Tutti.) Fallari, Fallara,/ Du trinkst‘s auf unser Wohl! (Lied 1791)¹⁷⁵ (28) Das selbe [„Gläselein“] rein auß seyn soll,/ Auff deiner Liebsten Gesundheit (Lied 1659)¹⁷⁶ (29) Bruder auf dein Wohlergehen;/ Sey dir dieses Glas gebracht! (Lied 1770;¹⁷⁷ auch Nr. 5b K R) In imperativischen Sätzen rückt das Präpositionalgefüge vorzugsweise an den Schluss, so dass es dann auch als unverbundener Ausruf verstanden werden kann. (30) Trinkt auf das Wohlseyn von Salathens Söhnen (Nr. 7 K) (31) Stoßt‘ an auf des Fürsten Wohl! […] Stoßet an, auf Brüder Wohl! (Lied 1791)¹⁷⁸
H. v. Fallersleben , S. f. Picander, Die Weiber-Probe, S. . ‚Commerschlieder‘ , S. ; auch schon in A. Stapfs Liederheft (um ), Nr. (Beck , S. . Koehler , S. . Kopp , S. . Kommersszene in Hofmann , S. . Koehler , S. .
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(32) Nimm, Bruder! nimm/ Dies Gläschen hin :,:/ Aufs Wohlseyn der Charmante! (R, S. 37) (33) Trinkt und ruft […]/ Auf getreuer Brüder Wohl. (K, S. 54) Eine spezielle Ausprägung des Ausbringens einer GESUNDHEIT unter den Bedingungen der Liedkommunikation besteht darin, dass nicht auf den Begleitakt des Zutrinkens sprachlich Bezug genommen wird, sondern auf das Singen als Realisierungsmodus bzw. auf das „Lied“ als Äquivalent für „Gläschen“. In einem Schauspiel von 1770 wird beim ‚Landesvater‘-Lied Improvisation verlangt: „jeder singt auf das Wohlergehen seines Landesherrn“.¹⁷⁹ Kindleben hat das Singen der GESUNDHEIT in den Text dieses Liedes (Nr. 17) hineingenommen: (34) Singen wir Dir [„König“] manche Lieder/ Auf Dein hohes Wohlergehn. Kindleben dürfte auch die Variante (35) Aufs Wohlseyn deiner Schönen/ Soll auch mein Lied ertönen in das Lied ‚Ermuntert euch, ihr Brüder‘ (Nr. 2) eingeführt haben,¹⁸⁰denn ein Stammbuchblatt von 1778 hat, wie später Raufseisen, „ein Hoch“ anstelle von „mein Lied“.¹⁸¹ Damit ist eine pleonastische Spielart der GESUNDHEIT erreicht, wie sie im verbalen Paradigma ausgeprägter erscheint (vgl. oben Bsp. 6, 10, 11 usw.): (36) Auf das Wohl der Compagnie/ Soll ein Hoch ertönen! (Nr. 15a R) (37) Meinem Liebchen werde Heil,/ Alles Wohlergehen […] zu Theil (K, S. 35) Bei Verkürzung des Gefüges auf jmds. Gesundheit trinken zur Wendung jmds. Gesundheit trinken treten analog auch andere Substantive des GESUNDHEIT-Paradigmas als direkte Objekte auf. (38) Ich trinke die Gesundheit der Schönen (Lied um 1700)¹⁸² (39) Auf, trinket das Wohlseyn von T**s Schönen [vgl. K: Trinkt auf das Wohlseyn von Salathens Söhnen];/ Es leben alle Mädchen hoch (Lied Nr. 7 R) (40) Trinkt des besten Fürsten Wohl! (R, S. 9)
Hofmann , S. . Vgl. auch K, S. : „Laßt uns […] singen/ Auf des großen Königs Wohl.“ In der Liederhs. Melzer () beginnt ein Lied: „Auf, ihr Brüder, singet Lieder/ Auf der edlen Freiheit Wohl“; zit. Prahl , S. . Wiedergabe bei Fabricius , S. . Kopp b, S. .
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Aus dem verbalen Paradigma wird zuerst die Form vivat, bald auch das Adverb hoch substantiviert,¹⁸³ so dass sie als Objekte zu Verben wie bringen, geben, (aus) rufen oder schreien treten. Der Vivat- bzw. Hochruf könnte in solchen Fällen separat liedbegleitend realisiert worden sein. Das Vivat bzw. Hoch kann aber wiederum auch im Singmodus verbleiben (vgl. 36): (41) Ihr teutschen Brüder,/ stimmt ein frohes Vivat an (ca. 1667, Stl 132) (42) Theurer Lehrer!/ Ich dein Hörer/ Rufe dir ein Vivat aus (1775, Stl 182; Lied Nr. 17) (43) Es leben die uns günstig sein,/ Den‘n wollen wir ein Vivat schrein: (Tutti.) Vivallerallerallera (Lied 1810)¹⁸⁴ (44) Dem unsterblichen Friedrich sey von Studenten/ Ein dreymal donnernd hoch gebracht (Lied Nr. 7 K)
5.3.5.3 Substantive im Randbereich des Musters Außer den vorgestellten Substantiven treten im Präpositionalgefüge, bei im übrigen gleicher Aussagestruktur, noch Angedenken, Ehre und Vergnügen in den Burschenliedern auf. In Zutrinkrufen nach dem Modell unverbundener Präpositionalgefüge sind sie nicht belegt; ihre Zugehörigkeit zu dem lexikalischen Paradigma um das Konzept ‚Gesundheit‘ ist daher nicht nur von den Wortbedeutungen her diskutabel. Allerdings handelt es sich um tragende Begriffe des Komplimentierwesens, die oft auch mit (textualisierten) Trinkakten verwoben erscheinen. Zusammen kommen die drei Begriffe, neben Wohlseyn, in Korpuslied Nr. 2 vor, das eine Serie von GESUNDHEITEN auf verschiedene Zielpersonen enthält, so dass dort, wie aus dem Kontext hervorgeht, die Ausdrücke Ehre, Vergnügen und Angedenken nicht nur der stilistischen Variation, sondern vor allem der Spezifizierung der GESUNDHEIT je nach Zielperson dienen (vgl. 5.3.6). Überhaupt ist zu beachten, dass eine GESUNDHEIT sprachlich oft mehrfach ausgedrückt wird, durch Häufung von Ausdrucksformen aus beiden lexikalischen Paradigmen, so dass Komplexe entstehen, die den Rahmen ganzer Strophen, ja ganzer Lieder ausfüllen, Komplexe, in denen die einzelnen Äußerungsteile das Muster (wiederholt) in seinen verschiedenen Komponenten und Implikationen aufrufen, sich wechselseitig ergänzen und verstärken. Solche Komplexe sind auch
Vgl. Zachariä , S. : „ein Hoch, ein Lomberspielen“; ferner ein Studentenlied anlässlich des Leipziger Musenkrieges : „Dem Rector brachten alle hier/ Ein Hoch aus voller Brust“ (zit. Günther , S. ). Vivat und Hoch werden in den Studentenliedern nicht mit Verben des Trinkens verbunden. ‚Commerschlieder‘ , S. .
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besonders geeignet, Kontextelemente einzubeziehen und den weiteren Interaktionsprozess vorgreifend zu entwerfen und zu steuern: (45) Dies volle Gläschen leere ich, Bruder, dir zur Ehre, und leer‘ es dreimal noch; zuerst, auf dein Vergnügen in wiederholten Zügen, bei wiederholtem Hoch! (Lied Nr. 2b N) Durch die Verwendung von Ehre verliert die Handlung nicht notwendig ihren Charakter als GESUNDHEIT, wohl aber hebt der Begriff, hier die folgenden konventionellen GESUNDHEITEN (auf die „Schöne“ und die „Zechgemeinde“) übergreifend, die Serie von GESUNDHEITEN für einen Moment aus der engen Privatsphäre heraus und beleuchtet die allgemeine soziale Funktion von Komplimenten: Bestätigung des Status, der Reputation, des Selbstwertgefühls der Zielperson. Dabei setzt die Verwendung von Ehre auch sonst nicht notwendig einen offiziellen Rahmen voraus. (46) Dir [„Fürst“] zu Ehren trinken wir (Lied 1791)¹⁸⁵ (47) Trinkts ihr [„Herzgeliebte“] zu Ehren leer! (N, S. 4) (48) Laß ihr zur Ehr‘ ein flottes Hoch ertönen (Lied 1810)¹⁸⁶ Bedingt vor allem durch die Wahl der Zielperson, kann die GESUNDHEIT mit Ehre allerdings in andere Muster überschwenken, z. B. in einen SEGENSWUNSCH oder eine KRIEGEREHRUNG: (49) Teutschen Jünglingen zu Ehren Wollen wir die Gläser leeren, Die für Ehr und Freyheit kämpfen – Auch ihr Fall sey heilig uns! (R, S. 10) Ähnlich zwitterhaft ist Heil, das (analog lat. salus) einerseits für GESUNDHEITEN taugt (37), anderseits, besonders durch Niemanns neugefassten ‚Landesvater‘ beflügelt, für patriotisches Pathos steht und im Studentenlied bald auch als verdreifachter HEILSRUF erscheint: (50) Heil, Kaiser Joseph, Heil!/ Dir, Deutschlands Vater, Heil!/ Dem Kaiser Heil! (Lied Nr. 17 N)
Koehler , S. . ‚Commerschlieder‘ , S. .
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(51) Ruft beim schäumenden Pocale/ Dreimal Heil dem Vaterland! (Lied 1797)¹⁸⁷ Bei Verwendung von Vergnügen, der Entsprechung des Adverbs vergnügt im verbalen Paradigma, wird mehr das emotionale Moment der Hochstimmung bzw. speziell beim Kommers das Gebot der „Fidelität“ aufgerufen: (52) So lebe denn mein Kind!/ Ich trinck auf ihr Vergnügen (1770, Stl 147; Lied Nr. 3 K R) (53) Nimm [„Bruder“] und trinks auf allerseits Vergnügen (Lied Nr. 1 K R)
5.3.5.4 Reduktionsformen. Mit Exkurs zum interaktionellen Status des Zutrinkaktes In den satzförmigen Realisierungen der GESUNDHEIT finden sich typischerweise zwei Syntagmen vereinigt, deutlicher im nominalen Paradigma: (1.) der Sprecher bringt die eigentliche GESUNDHEIT (mit einem der Kernlexeme) aus; (2.) er beschreibt die zugehörige, ggf. explizit adressierte Zutrinkgeste, oder er signalisiert vorgreifend den implizierten Trinkakt. Als primäre Funktion der Verbalisierung von (2.) in den Liedtexten wird man die Handlungskoordination, im besonderen die antizipatorische Steuerung der aktionalen und kommunikativen Prozesse in den Singpausen bzw. bei Wechselgesängen, ferner die Strukturierung der attitudinalen und sozialen Beziehungen bei verteilten Singrollen ansehen. Die beiden Äußerungsteile werden auch gern in eine Mittel-Zweck-Relation gebracht, die bei Platzierung von (1.) in einen Finalsatz ihren sinnfälligen Ausdruck findet. Diese Aussagestruktur wirkt so, als vertrete (2.) die Bekundung des Wunsches: (54) Dieses Gläschen bring ich dir,/ Daß dein Mädchen lebe (K, S. 25) (55) Auf trinkt, daß er [König Friedrich] lebe (Lied Nr. 7 K) Zwischen den beiden Aussageinhalten besteht ein konzeptueller Konnex derart, dass bei Äußerung nur des einen der jeweils andere implizit mitverstanden wird, den Normalkontext vorausgesetzt. Dies gilt zunächst für Äußerungen in Form bloßer Präpositionalgefüge, wo (2.) fehlt, umgekehrt aber auch für eine verknappte Ausdrucksform der GESUNDHEIT wie in folgendem Beispiel, wo (1.) fehlt: (56) Dies Glas, Herr Bruder, bring ich dir/ Und du mein Bruder, trinkst mit mir. (R, S. 8) In Anbetracht dieses implikativen Wechselbezugs zwischen den beiden Inhaltsstrukturen, der die ausdrucksseitige Ersparung der einen oder der anderen ermöglicht, erhält der Gedanke, zumindest den Zutrinkakt, dessen Verbalisierung ja bei nominaler Füllung der GESUNDHEIT erst den Satz vervollständigt, als mit-
‚Taschenbuch‘ , S. .
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konstitutiv für das Handlungsmuster anzusetzen, erneuten Auftrieb. Die Hauptvariante des Musters besteht jedenfalls in der konventionellen Verknüpfung zweier in verschiedenen semiotischen Systemen ausgedrückten Handlungen (GESUNDHEIT ZUTRINKEN), wobei die nonverbale im Vollzug simultan auch verbalisiert, damit gleichsam verdoppelt werden kann. Wie schon festgestellt, kann der kinetisch-gestisch ausgeführte Zutrinkakt (dazu Mimik, Körperzuwendung) in seiner deiktischen Funktion die Adressierung der GESUNDHEIT situationsintern allein übernehmen. Da in den Liedtexten das im Interaktionsmuster vorgegebene Antwortkompliment überhaupt im Hintergrund bleibt, am ehesten noch beim Singen in verteilten Rollen hervortritt, kann und muss wohl der (spiegelbildliche) Zutrinkakt des anwesenden Adressaten so verstanden werden, dass er die Rolle des (sprachlich nicht realisierten) respondierenden Kompliments übernimmt. Somit erscheint die Einbeziehung des Zutrinkakts in die kommunikative Praktik GESUNDHEIT doppelt begründet, während der anschließende Trinkakt zwar bei der (bzw. den reihenweise ausgebrachten) GESUNDHEIT(en) ebenso wenig wegzudenken ist, aber keine so klare semiotische Funktion im Handlungsmuster hat. Fragt man nach den Reduktionsstufen performativer Äußerungsformen der GESUNDHEIT, so sind vollexplizite Realisierungen die geeignete Bezugsgröße. Maximal repräsentiert sind im nominalen Paradigma also: Sprecher, Adressat, Zielperson, Präposition + Nominalausdruck für ‚Gesundheit‘, Trinkquantum (Glas) und Verbalausdruck für ‚(zu)trinken‘ (vgl. Bsp. 27, 29). Wie schon bemerkt, geht die Reduktion in den Korpusliedern nur hinunter bis zum abgelösten Präpositionalgefüge inklusive Zielperson (Bsp. 22). Im sprachgeschichtlichen Rahmen betrachtet, schreitet die Reduktion aber früh weiter: über die Aussparung der Zielperson (Bsp. 19) bis hin zu Äußerungsformen wie Zur Gesundheit! ¹⁸⁸ – Gesundheit! (1858)¹⁸⁹ – Auf gut Wohlseyn! (1811)¹⁹⁰ – Gutes Wohlseyn! ¹⁹¹ – Zum Wohl! (1897)¹⁹² – Wohlsein! ¹⁹³ Dass die letztgenannte Reduktionsstufe in Studentenkreisen früh erreicht war, belegt die auf einem Stammbuchbild um 1765 eingezeichnete Scherzbildung „Messieurs allerseits Vollseyn“.¹⁹⁴ Eine spezifisch stu Campe, Wörterbuch, s.v. Prosit. Grimm, s.v. Gesundheit (ebd. Hinweis auf Heinsius , wo Zur Gesundheit! in der heutigen Funktion als Zuruf an einen Niesenden belegt ist); vgl. schon Schnorr , S. : „Berger. (Trinkt.) Gesundheit, Bruder!“ Grimm, s.v. Wohlsein. Vgl. „auf gutes Wohlergehn“ (um ), zit. Kopp a, S. . Adelung s.v. Wohlseyn. Grimm, s.v. Gesundheit als Kompetenzbeleg des Bearbeiters H. Wunderlich. Vgl. „Ihr Wohlsein!“, Campe, Wörterbuch, s.v. Wohlsein. Abb.: Einst und Jetzt. Jb. (), Vorsatzblatt; vgl. auch den Spruch „Vollseyn meine Hn.“ auf einem Kommersbild von , Abb. bei Fabricius , S. .
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dentensprachliche Neuerung in diesem Zusammenhang ist das über das Brüderschafttrinken (5.4.) hinaus verallgemeinerte Schmollis! Es versteht sich, dass in allen Reduktionsformen ohne repräsentierte Zielperson die nonverbale Zutrinkgeste die situationsinterne Adressierungsfunktion übernehmen muss. Mit dem zunehmenden Gebrauch der Kurzformen werden situationsexterne Zielpersonen immer unüblicher, so dass der GESUNDHEIT eine kulturell bedeutsame Konstituente am Ende verlorengeht. Ähnlich geht im verbalen Paradigma die sprachhistorische Entwicklung hin zu Kurzformen wie Wohl bekomme es! ¹⁹⁵ – Prosit! – Prost! ¹⁹⁶ Kindleben verzeichnet auch die studentensprachliche Entwicklung von Prost! zum üblichen Gruß unter Freunden (in Halle).¹⁹⁷
5.3.6 Reihenbildungen bei GESUNDHEITEN: Soziale und textuelle Konfigurationen Unter den beliebtesten Burschenliedern des 18. Jahrhunderts sind nur wenige, die keine GESUNDHEIT enthalten; die meisten dieser Lieder – und eine große Zahl anderer studentischer Trinklieder in den handschriftlichen oder gedruckten Sammlungen – sind vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass gleich mehrere GESUNDHEITEN auf verschiedene Zielpersonen ausgebracht werden, in der Regel strophenweise, in einigen lateinischen Liedern sogar zeilenweise (vgl. Lied Nr. 10 und Nr. 13). Mit der Frage nach Vertextungsmustern für GESUNDHEITEN ist eine weitergehende Charakteristik dieser Sprachhandlungsfamilie intendiert, als sie auf der Basis satzförmiger oder satzwertiger Ausdrücke möglich war. Angesichts der Variantenfülle ist die Beschränkung auf den zentralen Aspekt der Reihenbildung angezeigt. Die Reihenfolge der GESUNDHEITEN in einem Lied ist häufig nach der Stellung der der Zielperson in der sozialen Hierarchie geregelt, doch nicht im Sinne einer strengen Etikette. Soziale Positionen werden aus der Perspektive des aufstrebenden ‚jungen Gelehrten‘ interpretiert; die Folge sind mitunter recht eigenwillige Stufungen. Ein Schlaglicht auf die Selbsteinstufung der Studenten wirft ein Lied der von Crailsheimischen Handschrift (1747/49), in dem acht GESUNDHEITEN (VIVATS) ausgebracht werden: 1. „der Kayser“, 2. „Prinz Eugen mit seinen Soldaten“, 3. „Herr Rector mit seinen Studenten“, 4. „die Priester“, 5. „die Jungfern die
Vgl. Raue , S. : „Wohl bekomme es dem Herren!“ Verkürztes Prost! / im ‚Vorbericht‘,V. , des Krambambuli-Liedes (vgl. Deneke S. ; wie Anm. ); auch z. B. (vgl. Henne/Objartel , Bd. , S. ). Kindleben, Studenten-Lexicon, s.v. Prost. Vgl. auch Fischer, ‚Burschiade‘ , S. : „Daß er mit kurzem Prost! die Schulbekannten begrüsse“; ferner ‚Karl Gutman in Halle‘ , S. .
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hübschen und feinen“, gefolgt von drei weiteren Stufen weiblicher Wesen.¹⁹⁸ Der in zahlreichen Studentenliedern geehrte Landesfürst (und Rektor der Universität) nimmt meist die Spitzenposition ein, doch kann er in einer Serie von VIVATS auch den stilistisch elaborierten Liedschluss besetzen. In Kindlebens Texte, die den preußischen König wiederholt in mittleren Strophen zeigen, greift Rüdiger (1791) regulierend ein,¹⁹⁹ wie er auch dazu neigt, seinen König aus der Schlussposition an die Spitze zu rücken.²⁰⁰ GESUNDHEITEN auf den vielfach namentlich und mit charakterisierenden Attributen eingeführten Landesherrn unterliegen stärker der textlichen Variation als GESUNDHEITEN auf andere Zielpersonen, die hinter generischen Ausdrücken (z. B. „hübsche Mädchen“) unbestimmt bleiben, bei flexibler Kennzeichnung (z. B. „dein Mädchen“) je nach kommunikativer Konstellation gedeutet werden oder in Platzhalterformeln (z. B. „Bruder N. N.“) einzusetzen sind.²⁰¹ Obwohl das VIVAT auf den Landesherrn durch Häufigkeit, Positionierung und Stildekor herausgehoben ist, gerät doch keines der Burschenlieder zu einem reinen Panegyrikon auf einen Fürsten, selbst das spezielle ‚Landesvater’-Lied nicht.²⁰² Angelpunkt auch der GESUNDHEITEN ist immer wieder das studentische Gruppenleben. Die primären Bezugspunkte sind der „Bruder“, die „Schöne“, der Freundeskreis allgemein. Eine Orientierung über dieses – periodisch erneuerte – Beziehungsgeflecht des ‚Burschenlebens‘ liefert das Korpuslied Nr. 2 ‚Ermuntert euch, ihr Brüder’. Es enthält neben eindeutigen GESUNDHEITEN auch Grenzfälle bzw. verwandte Handlungsmuster und eignet sich daher, der Problematik der Musterzuweisung einmal im Rahmen einer ganzen Liedeinheit nachzugehen. Die interessierende Strophenserie erscheint bei Kindleben, Raufseisen und Rüdiger (1795) in einen größeren Liedzusammenhang eingebettet, bei Niemann und Koehler als selbstständiges Lied. Die
Kopp , S. f. Vgl. die Korpuslieder Nr. und ; ferner etwa das Lied ‚Vita nostra sit vitalis‘ (Kindleben, S. ; Rüdiger , S. ). Vgl. die Korpuslieder Nr. und . Platzhalter wie „N. N.“ oder „– –“ finden sich eher in handschriftlicher Überlieferung; Kindleben z. B. belässt nur in dem (lat.) Korpuslied Nr. ein „N. N.“. Bei öffentlichen Huldigungen, an denen Studenten sich beteiligten, war es üblich, zu dem Anlass verfertigte Carmina zu überreichen; vgl. etwa P. Zimmermann: Die Geburtstagsfeier Herzog August Wilhelms zu Braunschweig und Lüneburg in Jena am . März , in: Jb. des Geschichtsvereins für das Herzogtum Braunschweig (/), S. – (mit Abbildungen und Hinweis auf Drucke); ferner etwa ‚Die Ankunft Ihro Hochfürstl. Durchl. Der Princeßinn Christine Charlotte von Hessen Cassel besangen Dero ganz untertänigste Diener. Helmstedt, den ten Junius, .‘ (Carmen Helmstedter Studenten, deren Namen mitgedruckt sind; Stadtbibliothek Braunschweig, Sign. III /). Allgemein zur Kasuallyrik W. Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht, Stuttgart , der aber den studentischen Brauch nur kurz streift (z. B. S. ).
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5 Interaktionsroutinen in den Liedern
Strophenzahl der Serie schwankt in der Überlieferung zwischen sechs (handschriftliche Version²⁰³) und drei (Niemann). In allen Versionen rangiert der „Herr Bruder“ an der Spitze, gefolgt von seiner „Schönen“. Die Bindung dieses Strophenpaares beruht auch auf Parallelen im Textaufbau: Die GESUNDHEIT wird doppelt realisiert, durch ein GESUNDHEIT ZUTRINKEN („Bruder“: Ehre, Vergnügen; „Schöne“: Wohlseyn, Angedenken) und ein im Refrain verstärktes LEBEHOCH. Eine feste Sequenz bilden ferner die Strophe auf die von der Universität Abgehenden und die Strophe auf die Neuankömmlinge („krasse Füchse“). Die dem Freundschaftsbund gewidmete Strophe (Kindleben: „ihr werthen Freunde der alten Burschengemeinde“; Koehler: „ihr meine Freunde der flotten Sauf-Gemeinde“) folgt entweder dem ersten Strophenpaar (Kindleben, Niemann) oder dem zweiten (Koehler, Raufseisen). Die handschriftlich kursierende Strophe auf den „flotten Brander“ kennen die Drucke nicht. Zwischen den dargestellten Figuren bestehen Beziehungen unterschiedlicher Art: eine komplementäre, sexuelle („Bruder“ – dessen „Schöne“),²⁰⁴ eine konträre, lebensgeschichtliche (Ankommende – Abgehende),²⁰⁵ eine gruppenhierarchische („Fuchs“ – „Brander“ – „Bursch“), eine inklusive (Einzelner – „Burschengemeinde“). In dem Geflecht einander mehrfach überlagernder Relationen ergeben sich bei Fokussierung auf diesen oder jenen Aspekt also feste Zweiersequenzen und Einzelstrophen in unterschiedlicher, aber nicht beliebiger Kombination und Abfolge. Das vorgestellte Beziehungsgeflecht hat Konsequenzen für das Verständnis der im Lied textualisierten Handlungen. Da die Reihung von GESUNDHEITEN ein ebenso einfaches wie gern benutztes Schema für den Textaufbau von Burschenliedern ist und die überexpliziten GESUNDHEITEN auf den „Bruder“ und dessen „Schöne“ einen Erwartungsrahmen setzen, werden auch die Folgestrophen intuitiv nach demselben Handlungsmuster verstanden, obwohl sie, isoliert betrachtet, auch oder sogar eher anderen Mustern zuzuordnen sind. So erscheint der Handlungsgehalt der Strophe auf die „Freunde“ als Mahnung, an den Zusammenkünften des Zirkels regelmäßig teilzunehmen: Kommt bald ad locum wieder, Da will ich euch, ihr Brüder, Ein donnernd Vivat schreyn (Kindleben) Das VIVAT bildet hier den Inhalt eines Versprechens, dessen Einlösung nach den temporalen Indikatoren nicht in derselben Situation zu erwarten ist. Diese Aus-
Keil , S. – (Zeitangabe „ – “). „Bruder“ und „Schöne“ werden öfter koordinativ (und) in einer GESUNDHEIT verbunden, z. B. in Korpuslied Nr. ; ferner Kindleben, S. , Raufseisen, S. . Die Reihenfolge ‚Abgehende‘ – ‚Neuankömmlinge‘ entgegen dem individuellen Studienablauf ergibt sich im Lied aufgrund der gruppeninternen Hierarchie.
5.3 Gesundheittrinken und Verwandtes
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lagerung des VIVATS aus der aktuellen Situation hebt es ab von jenen modalisierten Äußerungsformen, die zunächst wie Ankündigungen von oder Aufforderungen zu GESUNDHEITEN anmuten, die sich aber auf Handlungen, die als situationsintern erfüllt vorausgesetzt sind, beziehen und deshalb als performative Textualisierungsformen von GESUNDHEITEN gelten können.²⁰⁶ Obwohl streng linguistische Kriterien die Nicht-Performativität des zitierten VIVATS ergeben, ist es dennoch mit der aktuellen Situation eng verknüpft: (1.) Nach dem kulturellen System, dem die Kommunikanten sich unterstellen, kehrt die Situation regelmäßig wieder. Die Ankündigung eines VIVATS für die nächste Gelegenheit ist fast äquivalent mit der faktischen Realisierung. (2.) Bereits im Vortext wurde ein VIVAT auf den „Herrn Bruder“ bzw. den konkreten „Bruder N. N.“, wohl in Form eines Rundgesangs,²⁰⁷ ausgebracht, so dass jeder einzelne sich in dem nun für alle in Aussicht gestellten VIVAT wiedererkennen und in seiner Wertschätzung bestätigt fühlen kann. (3.) Das VIVAT wird im Refrain durch den „Chor“ bekräftigt, und da VIVATS in den Liedern vorzugsweise im Refrain ausgebracht werden, kann die Platzierung einer der performativen sehr verwandten Äußerungsform dorthin als ein liedspezifisches Mittel gelten, Performativität zu suggerieren. Ohne die Interpretation weiter zu forcieren, kann festgehalten werden, dass Nicht-Performativität der Verbalisierung einer Handlung nicht notwendig bedeutet, dass mit der thematischen Einführung der Handlung in eine passende Situation keine genau für den Handlungstyp charakteristischen Effekte bei den Kommunikationsteilnehmern erzielt werden können. Voraussetzung für die Erzielung derartiger ‚mediatisierter‘ Effekte ist neben der rituellen Bedeutsamkeit des Handlungstyps für die Gruppe im besonderen noch, dass die kommunikative Situation zu dem Praxisbereich gehört, in dem diese Handlungen regelmäßig ausgeführt werden, denn dann stellt sich um so eher die Bereitschaft ein, sich mit den im Handlungsmuster vorgegebenen Rollen zu identifizieren. Während also das VIVAT auf die „Freunde“ mit einigem Aufwand noch der Reihe der GESUNDHEITEN angeschlossen werden kann, bietet der performative ABSCHIEDSSEGEN für die demnächst von der Universität Abgehenden keine Möglichkeiten zu einer anpassenden Uminterpretation: Seh ich euch gleich nicht wieder, So wünsch ich euch, ihr Brüder, Daß ihr mögt glücklich seyn (Kindleben)
Vgl. oben .... Bsp. () ff.; .... Bsp. (), ()f. Bei Koehler geht dem Lied (ebd. S. ) die Anweisung zu einem Rundgesang voraus.
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5 Interaktionsroutinen in den Liedern
Zwar gehört der ABSCHIEDSSEGEN wie die GESUNDHEIT zur Gruppe der Wunschkomplimente, doch die Spezifik der GESUNDHEIT beruht, wie festgestellt,²⁰⁸ auf dem Inhalt des Wunsches und den typischen Ausdrucksmitteln. Für den ABSCHIEDSSEGEN im Lied ist eine recht schlichte Form gewählt im Vergleich zu den umständlichen Ehrungen, die nach Studentenbrauch für Absolventen vorgesehen waren: „Ständchen“, „Abschiedsgedicht“, „Abschiedskommersch“, „Begleitung“/„Komitat“.²⁰⁹ Allerdings ist auch dieser ABSCHIEDSSEGEN von einem Strukturierungsmittel erfasst, das in allen Liedversionen, am mechanischsten bei Koehler, angewendet wird: der Durchzählung der zu trinkenden Gläser. Ansätze zur Reihenbildung bei den GESUNDHEITEN sind schon in einigen studentischen Trinkliedern des 17. Jahrhunderts festzustellen.²¹⁰ Die Tendenz dazu steigt im Laufe des 18. Jahrhunderts und hält auch im 19. noch an. Das ist zu ersehen an der Aufnahmerate entsprechend strukturierter Lieder in die Studentenliederbücher, auch an der textgeschichtlichen Veränderung einzelner Lieder, die über mehrere Zeitstufen zu verfolgen sind. GESUNDHEITEN in Trinkliedern sind an sich noch nichts spezifisch Studentisches, vielmehr in einer Zeit, da Trinkakte konventionell an GESUNDHEITEN gebunden waren, notwendiger Bestandteil dieser großen Gruppe von Liedern. Die Dichte und die Art der Serienbildung von GESUNDHEITEN in den alttradierten Trinkliedern der Studenten, nicht zuletzt auch die Wahl und Staffelung der Zielpersonen, bilden jedoch heraushebende Charakteristika. Die Serienbildung von GESUNDHEITEN wird dann allerdings auch im zeitgenössischen Kunstlied gern als Textierungsmuster von Trinkliedern genutzt. Neue Trinklieder dieser Art stellen ein willkommenes Rezeptionsangebot für Studenten dar. So wird Millers ‚Deutsches Trinklied‘, dem auf dem Weg vom Erstentwurf zur Druckfassung noch ein zusätzliches Hoch („Fürst im Lande“) eingefügt wurde, bald zu einem der beliebtesten Studentenlieder. Eine auffällige Affinität mit dem studentischen Formtyp hat auch Goethes ‚Tischlied‘. Fünf Hochs sind, je eine Strophe füllend, aneinandergereiht: (1) „Unser König“, (2) „die einzig Eine“, (3) „Freunde“, (4) „Redliche Gesellen“, (5) „ganze Welt“. Hier wirkt die Rezeption durch Studenten auf eine schon fast angestrengte Weise vorprogrammiert.
Oben ... Eingehende Beschreibung bei Augustin , S. – . Vgl. Keil , S. ; Hoffmann v. Fallersleben , S. .
5.4 Die Praktik des Brüderschaft- und Freundschafttrinkens
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5.4 Die Praktik des Brüderschaft- und Freundschafttrinkens 5.4.1 Die Begriffe ‚Bruder‘ und ‚Freund‘ Als Übergangsriten sind das Brüderschaft- und Freundschafttrinken zunächst initiale Handlungen, die eine neue, engere Beziehung zwischen zwei (männlichen) Personen stiften.Während das Brüderschafttrinken spätestens seit dem deutschen ‚Jus Potandi‘ (1616) fest mit dem Übergang zum Du assoziiert ist („auff Brüderschafft oder auff den Dutz“),²¹¹ kann eine Freundschaftsbeziehung auch per Sie laufen, wie Stammbucheinträge unter akademischen „Freunden“ nicht selten zeigen. Mit „Bruder“ (auch in der Kombination „Herr Bruder“ gängige Anredeform) wird mehr eine Umgangsform, ein egalitärer Status, auch die Zugehörigkeit zu einer formellen Gemeinschaft definiert, mit „Freund“ mehr eine emotionale Beziehung, die auf Intensivierung angelegt ist. In der Praxis des Studentenlebens im 18. Jahrhundert werden die Ausdrücke Bruder und Freund allerdings weitgehend synonym (auch koordinativ) gebraucht; der nach Leeren der Gläser übliche „Bruderkuß“ besiegelt zugleich die „Freundschaft“: „Ich küsse dich, als Bruder und als Freund“.²¹² Schon ab den 1750er Jahren, mit der Verbreitung des etymologisch ungeklärten Wortes Schmolles/Schmollis,²¹³ wird das „Brüderschaft trinken“ studentensprachlich zum „Schmollis trinken“ mit dem „Schmollisbruder“.²¹⁴
Ebd. These . ‚Landveste‘ , S. . Den frühesten bekannten Beleg brachte schon Kluge s.v. Schmollis: In dem anonymen Roman ‚Der reisende Avanturier […]‘, . Theil, Leipzig , S. in Artikel der liederlichen „Inser-Brüderschaft“ heißt es: „Wenn Schmolles oder Brandtwein getruncken wird, soll sich keiner weigern, dreißig Gläser auszustossen. Wer solches nicht thut, der muß kampiren.“ Wenn man hier schon an die (studentische) Gebrauchsweise des Wortes beim Brüderschafttrinken denken will, so bleibt doch das Zeugma bedenklich. Allerdings sind die ersten studentischen Zeugnisse aus den er Jahren bereits eindeutig, so in ‚Gedichte‘, Jena (vgl. oben Anm. ). Die ältere Form Schmolles (auch Mask.) ist noch im . Jh. geläufig (vgl. E. T. A. Hoffmann: Lebensansichten des Katers Murr, , . Bd., . Abschn.; E. E. Niebergall: Datterich, , . Bild, . Sz. und . Bild, . Sz.). Ein Schmolles in der Bedeutung ‚dicker Kerl‘ bietet das Pfälzische Wörterbuch, Bd. (), Sp. . Die Auflösung von Schmollis als Sis mihi mollis (m.W. zuerst in der „Smollis-Ordnung“ des Erlanger Burschenbrauchs kurz vor ; zit. Burschenschaftl. Bll. . , S. ) ist sehr fraglich, die Herleitung aus einem kontrahierten schmal aus (trinken) (Schluck , S. Anm.) abwegig; belegt finde ich nur rein/recht/ganz/gar aus (trinken). Die Zuruf-und-Erwiderungs-Formel Schmolles/Schmollis – fiducit schon auf einem Stammbuchbild von (Abb. bei Fick , S. ). Traitteur , S. f. und Augustin s.v. Schmollis. Augustin betont, dass „Familiarität“ und das „Du“ nur „nach einem vorhergegangenen fidelen Schmollis“ möglich sind (S. ).
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5.4.2 Lieder in der Funktion der „Bestätigung“ bzw. „Erneuerung“ des Status Obwohl das Brüderschaft- bzw. Schmollistrinken auf gesangvollen Hospizen oder Kommersen zur Eingliederung Neuer gut bezeugt ist,²¹⁵ sind davon in den alttradierten Trinkliedern kaum Spuren zu finden. Sie setzen vielmehr eine Runde von „Brüdern“ und „Freunden“ als Normalfall voraus. Das in den Liedtexten gleichwohl häufige Zutrinken und Beschwören von Brüderschaft und Freundschaft hat daher eine andere Funktion, nämlich die „Bestätigung der alten Brüderschaft“.²¹⁶ Solche „Bestätigung“ oder „Erneuerung“ der schon etablierten Beziehung ist bei Trinkanlässen nach Belieben wiederholbar, wobei der zeremonielle Aufwand (Tauschen der vollen Gläser, Einhaken der Arme mit dem Glas, Singen, Austrinken, Küssen) mit der Zeit offenbar reduziert wird.²¹⁷ Den Standardtext für die Prozedur der Bestätigung der Brüderschaft stellt das Korpuslied Nr. 5 bereit, bei dem die Verse (1) Bruder auf dein Wohlergehen; Sey dir dieses Glas gebracht! Unsre Freundschaft soll bestehen, Bis der Tod ein Ende macht! nach den Handlungsanweisungen bei Kindleben nebst Zutrinkakt und Umarmung reihum von jedem Teilnehmer mit seinem Nachbarn wiederholt werden. Die zitierten Verse werden schon 1770 in einem Studentendrama gesungen zu dem ausdrücklichen Zweck: „Auf die Erneuerung unsrer Brüderschaft!“²¹⁸ Wolke (1782) fügt die sinngebende Erläuterung hinzu, dass jede Wiederholung des Akts eine Intensivierung der Verbindung bedeutet: „Dieses wird so viele Male wiederholt, als Paare von Freunden da sind, die sich auf diese Weise gern noch fester verbinden wollen.“²¹⁹ Als Sprachhandlungen sind hier eine GESUNDHEIT auf den „Bruder“ und ein FREUNDSCHAFTSSCHWUR verknüpft. Konsequenterweise trinken alle so Verbundenen zum Abschluss noch „allgemeine Brüderschaft“ bzw. „General-Schmollis“.²²⁰ Auch der Zuruf „Schmollis!“ übernimmt damit situati ‚Hospitium‘ , S. ; ‚Taschenbuch für Studenten‘ , S. . Zachariä , S. . Vgl. Hofmann , S. mit ‚Taschenbuch‘ , S. . Hofmann , S. . Wolke , S. . ‚Landveste‘ , S. bzw. Lhs. Koehler am Schluß des ‚Landesvater‘-Liedes, s. Anhang B. Anders der in der frühen Jenaer Burschenschaft zum Ausdruck der Gleichheit aller Studenten aufgekommene „Generalschmollis“ (T. von Kobbe: Humoristische Erinnerungen aus meinem academischen Leben. Bd. . Bremen , S. ), bei dem die Vorstufe des Siezens und damit das Schmollistrinken überhaupt wegfielen – was auch zu „Verstimmung“ in Teilen der Studentenschaft führte (H. Leo: Meine Jugendzeit. Gotha , S. ).
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onsabhängig drei verschiedene Funktionen, nämlich beim initialen Schließen der Brüderschaft, bei ihrer Erneuerung und als kollektives Bekenntnis zum „Bruderbund“: Beim Kommers rufen die „Präsides“ am Schluss jedes Liedes „Schmollis meine Herrn! worauf das ganze Chor antwortet: fiducit!“²²¹ Unter den Korpusliedern dient auch Nr. 2, ebenfalls ein Rundgesang, dem Freundschaftsbekenntnis, nach Niemanns Titelangabe ein Lied „zur Freundschaftsbestätigung“.²²² Ein denkbar klares Zeugnis für einen Liedtext als Vollzugsform der „Erneuerung der Freundschaft“ hat Koehler unter seinen ‚Purschen- Wein- und Commerce-Liedern‘ (1791) notiert:²²³ (2) Unsre Freundschaft zu erneuen, Bring‘ ich dieses Gläschen dir Ausgangspunkt dieses Liedes ist ein Duett in einer Operette von Bretzner (1779),²²⁴ es steht bald in zahlreichen Sammlungen der Zeit.²²⁵
5.4.3. Vollzugsformen des initialen „Schmollis“-Trinkens Sind also Lieder, besonders in Form von Wechsel- oder Rundgesängen, als geeignete Kommunikationsmittel in dieser repetitiven Funktion ausgemacht, so bleibt die Frage nach Liedern in der initialen Funktion des Übergangsritus. Hier zunächst drei prosaische Zeugnisse für die Praktik des Brüderschaft- bzw. „Schmollis“-Trinkens in der Lebenswirklichkeit der Studenten um 1800.²²⁶ Laukhard schildert in seinem autobiographischen Roman ‚Leben und Schicksale‘, wie in Jena eine Zufallsbekanntschaft per Sie im Wirtshaus in eine „akademische Brüderschaft“ übergeht:²²⁷ (3) Er: (nimmt seinen Krug) à bonne! Ich: (gleichfalls mit dem Krug) Schmollis! Ich empfehle mich deiner Freund-
Augustin , S. . Niemann , S. f. Koehler , S. . ‚Das wütende Heer‘, . Akt, . Auftritt, in: C. F. Bretzner: Operetten. Leipzig , S. . Vgl. Objartel , S. für Nachweise. Frühe bildliche Darstellungen der Praktik bei Kelter , S. und (Jena bzw. ); hier bringt der Wirt den Füchsen im Beisein der Burschen den Ritus bei: „Stellt euch ordentl. den Huth unter den lincken arm, das [Schnaps‐]glass in die rechte Hand u. sprecht auf du und du Herr Bruder.“ Bd. , , S. f.
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schaft, heiß Laukhard, und bin aus der Pfalz. Er: Gleichfalls: heiße Kröber, und bin aus der Pfalz. Das ‚Taschenbuch für Studenten‘ von 1797 lehrt, wie „Commerschirende“ in den Singpausen formgerecht „mit denen, die sie ihrer besonderen Freundschaft würdigen, Schmollis trinken“ können:²²⁸ (4) Sie stoßen […] mit den gefüllten Gläsern zusammen, sagen: „Schmollis, lieber Bruder!“ und fragen sich, wenn sie sich nicht kennen, nach ihrem Nahmen und Vaterlande. Dann leeren sie das Glas, geben sich den Bruderkuß, und fügen gewöhnlich die Worte hinzu: „ich bitte mir deine Freundschaft aus.“ In einem Brief eines Jenaer Studenten an einen Freund aus dem Jahre 1800 heißt es:²²⁹ (5) Jeder Student, dem es einfällt, stößt mit seinem Glas voll Bier an das meinige und sagt: „Schmollis!“; hierauf muß ich sagen: „Fiduzit“, dann trinken und die rotzigen Mäuler der liederlichen, vielleicht venerischen Menschen drei- bis fünfmal küssen. Hierauf nennt jeder dem anderen seinen Namen und sagt: „Bleib mein Freund“. Dann heißen sie sich für alle Zeit „Du“. Die Prozedur besteht aus zwei initiativen Sprachhandlungen, dem Antrag der Brüderschaft, gefolgt von dem Antrag der Freundschaft, und zwei entsprechend respondierenden Akten, wobei die Initiativrolle beim Freundschaftsantrag anscheinend wechseln kann. Durch den Charakter als Beziehungskommunikation und speziell auch durch den obligatorischen Zutrinkakt ähnelt der Interaktionstyp der GESUNDHEIT. Der Grad der sozialen Obligation zu dem jeweils respondierenden Akt ist allerdings ungleich höher, zumal da der Adressat – anders als bei der GESUNDHEIT mit ihrem weiter gefassten Kreis der Zielpersonen – sich immer in der Rolle des mit Bedacht ausgewählten Individuums sehen muss. Zumindest im Rahmen eines formellen Kommerses ist dabei die gruppeninterne Hierarchie zu beachten: Nach der Kommentregel „darf der ältere Student dem Jüngeren Smollis anbieten, der alte Bursch jedem, der Fuchs keinem Älteren“.²³⁰ Kindleben bringt im ‚Studenten-Lexicon‘ unter Dutzbruder ein Lied in Konnex mit dem Brüderschaftschließen: „wenn die jungen Leute beym Glase Wein oder auch wohl beym Kommersch in einem Glase Bier oder Schnaps Brüderschaft
‚Taschenbuch‘ , S. . Mit Nachweis zit. in: Einst und Jetzt. Jb. . , S. . Jenaer Komment von , § . – Ein Unikum ist das „Schmollisbüchlein“, in das G. Kloß während seiner Heidelberger Studienzeit – alle eintrug, mit denen er Schmollis getrunken hatte ( Namen); vgl. Bauer , S. – .
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trinken, und sich alsdenn einander Du und Herr Bruder nennen. Z. B. in dem Kommerschliede: Nun, Herr Bruder, du sollst leben, Du ja, Du sollst leben, à bonne amitié etc.“²³¹ In seinen ‚Studentenliedern‘ erscheinen die Verse, umredigiert zu „Drum, Herr Bruder, du sollst leben,/ Und dein Mädchen auch“, im Wechselgesang am Schluss des Liedes ‚Laßt die Manichäer schreyen‘ (Korpus Nr. 4), nach der Melodie von ‚Lustig sind wir, lieben Brüder‘. An die ursprünglichere, im ‚Studenten-Lexicon‘ zitierte Gebrauchsfassung führt ein von den Brüdern Keil mitgeteilter Liedtext heran:²³² (6) Drum, Herr Bruder, du sollst leben, A bon amitié! Laß dir noch ein frisch Glas geben, Sauf, daß jeder seh! Wie bei (1) ist eine GESUNDHEIT auf den vorgängig als „Bruder“ Angeredeten mit einer Freundschaftsbekundung kombiniert, so dass, trotz des scheinbar in andere Richtung weisenden Kontextes unter Dutzbruder, auch hier mangels klarer Indizien (Übergang vom Sie zum Du, usw.) von der Bestätigungsfunktion auszugehen ist. Unter den Liedern des Korpus kommt Nr. 16 am ehesten als Vollzugsform des Übergangsrituals in Frage. Die Überlieferung setzt mit stark divergierenden Fassungen ein. Die schlichteste und wohl ursprünglichste Version mit dem Incipit ‚Seht, wie er im Glase blinkt‘ bietet Rüdiger 1791 unter dem Titel „Freundschaftsgesang“, den z. B. auch das schon erwähnte Lied ‚Unsre Freundschaft zu erneuen‘ bei ihm erhält. Eine durchgreifende Umgestaltung des Liedes präsentiert Niemann 1782 unter eigenem Namen und unter dem im Schlussregister nachgeholten Titel „Beim Bruderbunde“; im Hauptteil geht vorauf „Die Feier des Bruderbundes“ nach der Melodie ‚Bruder, auf dein Wohlergehen‘ (Korpus Nr. 5), eine Adaption aus Wolkes Sammlung. Niemanns Neufassung ‚Voll bring ich dies Glas dir dar‘ behält die alte Form des Wechselgesangs bei, ist aber mit religiösen Elementen angereichert („Festaltar“, „heilig“, „Bund“) und führt vor allem den Händedruck als effektvolles Handlungselement ein, der sich in den nachfolgenden Lieddrucken festsetzt und so auch in die Kommersbücher gelangt, obwohl Niemanns Textfassung als solche das 19. Jahrhundert nicht erreicht.²³³ (7) Sei mein Freund! und nim zum Pfand diesen Druk der Rechte
Reprint: Henne/Objartel , Bd. , S. f. Keil , S. („ – üblich“) ; Inc. ‚Lustig sind wir, lieben Brüder‘ (Korpus Nr. c). Das Lied meint wohl auch Schluck , S. . Die ursprünglichere Version nochmals in A. Stapfs Liederheft (um ), Nr. , Str. (Beck , S. ). Drucknachweise bei Objartel , S. .
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Bei flüchtigem Blick auf diese Stelle scheint Niemanns Lied dem initialen Schließen einer Freundschaft die feierliche Form zu geben. Doch die gleich zu Beginn vorausgesetzte Du-Anrede und die bekannte Form des Wechselgesangs als Inszenierung eines paarweise herumgehenden Freundschaftsschwurs (deutlicher bei Koehler: „jeder, einer nach dem andern, vom Praeses an, zu seinem Nachbar mit geschlungenen Armen“²³⁴), schließlich auch der fehlende Bruderkuss nötigen zu der Interpretation, dass auch Niemann nicht mehr als eine weitere „Feier des Bruderbundes“ gestaltet hat. Andere Liedversionen der Zeit, auch solche, die von Niemann beeinflusst sind, setzen denn auch gleich mit ‚Brüder, dies bring ich euch dar‘²³⁵ oder ‚Brüder! dieses volle Glas‘²³⁶ ein.Wäre Niemanns Fassung als originelle Umfunktionierung des Liedes im Sinne des Übergangsritus, etwa als Modelltext für die Aufnahme neuer Mitglieder, verstanden worden, hätte sie bei den studentischen Vereinigungen wohl größeres Interesse gefunden.²³⁷ So bleibt als Fazit, dass ein initiales Brüderschaftschließen in Liedform für die Zeitgenossen offenbar keinen Sinn machte, dass dieses vielmehr gemäß dem Herkommen einem persönlichen Akt zwischen Zweien bei passender Gelegenheit vorbehalten blieb.
Koehler , S. . Koehler , S. ; Raufseisen , S. . ‚Taschenbuch‘ , S. ; ferner Koehler , S. (Nachtrag). Allerdings hatten die geheimen Studentenorden für die Aufnahme neuer Mitglieder (Brüder) eigene, speziell ausgeformte Zeremonien, über die Turin am Beispiel der Amicisten aufklärt (S. ): Als symbolträchtige Akte gehörten dazu Kuss („zuerst auf beyde Wangen, dann auf den Mund“) und Händedruck („wird durch den zweyten und dritten Finger der rechten Hand, in der flachen Hand des andern bewirkt“).
III Memorabilien in Studenten-Stammbüchern
1 Funktion, Form, Entwicklung Das Stammbuch als Sammelmedium von Einträgen geschätzter Personen aus dem Kontaktkreis des Stammbuchhalters hat seinen Ursprung bei Wittenberger Gelehrten und Reformatoren der 1540er Jahre. Studenten bildeten von Beginn an eine wichtige Trägergruppe der Stammbuchsitte, die sich bis über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes ausbreitete. Ein Stammbucheintrag besteht aus mehreren, auf dem Blatt auch im Platzierungsmuster unterscheidbaren Strukturkomponenten; als essentiell kann der Leittext – ein oft poetisches Zitat, seltener ein Eigenprodukt – in Verbindung mit der Zueignungsformel und Namensnennung des Einträgers angesehen werden. Der Leittext kann in älterer Zeit durch ein Symbolum (Wahlspruch, Devise) vertreten sein; als Zusatzelemente blieben solche Symbola weiterhin auch unter Studenten beliebt. Auf die verschiedenen Möglichkeiten der Anreicherung eines Eintrags, sei es durch zusätzliche Textbausteine, sei es durch besondere Beigaben (Bilder, Noten, Silhouetten, Ordenszeichen usw.), kann hier insgesamt nicht eingegangen werden. Für die studentische Stammbuchpraxis im 18. und 19. Jahrhundert sind aber zumindest folgende Typen textlicher Zusätze als charakteristisch hervorzuheben:¹ – die zwei oder mehr Einträge von Freunden über die Seiten hinweg verbindenden Freundschafts- oder Grußformeln,² – die Anmerkungen des Stammbuchhalters, meist zur zeitnahen Biographie des Einträgers (z. B. Abgang von der Universität),³ – die oft bissigen Kommentare („Noten“)⁴ meist anonymer Dritter, – vor allem aber die Memorabilien, die hier näher untersucht werden sollen.⁵
Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Schnabel , S. ff. Schnabels Untersuchungszeitraum reicht allerdings nur bis ins erste Drittel des . Jahrhunderts. Beispiele für die Verbindung zweier Seiten bei Keil , S. . Im Stammbuch (fortan: Stb) Zitelmann (He) sind die Seiten – und – durch kombinatorische Sprüche verbunden (Einträge Halle ), im Stb Lüders (NSA Wolfenbüttel, Nr. a) die Seiten – durch eine französische Freundschaftsbeteuerung (Einträge Braunschweig ). Das inhaltliche Spektrum der Zusätze des Halters über biographische Nachträge hinaus ist groß. Sie können z. B. die Eintragsituation näher beleuchten – so steht im Stb Freudel (UB Erlangen: H /MS ) unter mehreren Tübinger Einträgen vom . . (S. , – , – u. ö.): „beim Abschieds Commerce“ – oder eine Kurzcharakteristik des Einträgers geben – so im Stb Storck (www.raa.phil.uni-erlangen.de) mit Bemerkungen wie „Ein komisches Luder“, „Ein flot Kerlgen“ (Nrr. , : Erlangen ) – oder auf der Rückseite der Blätter so ausführlich werden, dass sie, auch im Stil, wie Memorabilien von Seiten des Halters wirken, so im Stb Blumenhagen (H. Kater: Erinnerungen Akademischer Freundschaft. Das Stammbuch P. W. G. A. Blumenhagen […]. In: Einst und Jetzt. Jb. . , S. – ): Erlangen . Beispiele bei Keil , S. f.
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Mit den Memorabilien sichert der Schreiber dem Adressaten den Erinnerungsraum gemeinsamer Erfahrungen, Erlebnisse oder Unternehmungen. In der Reihe der beziehungsrelevanten Textelemente, wie Du-Anrede, Freundschaftsbeteuerung, Glückwunsch für die Zukunft oder Bitte um Erinnerung, erfüllen die Memorabilien, indem sie konkrete Details einer gemeinsam verbrachten Zeitspanne aufrufen, eine nochmals steigernde Funktion: sie verleihen der interpersonalen Beziehung das Signum der Unverwechselbarkeit und quasi Einzigartigkeit. Fragt man nach möglichen Anknüpfungspunkten der Memorabilien bei den anderen Komponenten eines Stammbucheintrags, so kommen zuerst die Freundschaftsbeteuerungen und Erinnerungsappelle im Zueignungstext in den Blick. Während diese aber meist konventionellen Formulierungsmustern folgen und nur durch die Namensnennung des Einträgers individualisiert sind, gehen die Memorabilien einige Schritte weiter. Sie geben der Person des Einträgers deutlichere Konturen, stellen den Abstraktbegriff der Freundschaft auf eine reale Lebensgrundlage und dokumentieren verbindende Erlebnisse, so dass wohl in vielen Fällen die Erinnerung an den Einträger allein aus den hinterlassenen Memorabilien, wenn sie treffsicher ausgewählt waren, dem Stammbuchhalter dauerhaft lebendig blieb. Im Funktionsgefüge der Komponenten eines Stammbucheintrags kann den Memorabilien also die Funktion einer speziellen Erinnerungshilfe zugeschrieben werden, welche die anfänglich nur auf die Person des Einträgers bezogene Bitte, sich zu erinnern, auch auf eigene denkwürdige Erlebnisse lenkt. Als fakultatives Element eines Eintrags finden Memorabilien, nach Leittext, Zueignung und Symbolum, ihren Platz gewöhnlich am unteren Blattrand; mit dem Aufkommen von Loseblatt-Kassetten wird auch gern die Rückseite dafür benutzt. Das Minimum ist die Notierung einer einzelnen Denkwürdigkeit (z. B. „Gedencke Bruder der Mertensgans in Königsberg“⁶); bis ins spätere 18. Jahrhundert gehen Memorabilientexte kaum über einen Satz hinaus, danach sind seitenlange Ausführungen keine Einzelfälle. In der Regel ist der Memorabilientext mit einem Einleitungssignal versehen. Über die Jahrhunderte hinweg ist „NB.“ (‚Notabene‘) beliebt; seit dem 18. Jahrhundert sind ein eröffnendes „Viva(n)t“ bzw. „Es lebe(n)⁷, so auch das Pendant „Perea(n)t“⁸, nicht selten. Die inhaltlich spezifizierende Überschrift „Memorabilia/Memorabilien“ (meist abgekürzt „Mem.“ oder „Memorab.“), kommt, soweit ich sehe, erst Ende des 18. Jahrhunderts zur Geltung. Andere Signale,wie „Postscriptum“,
Herrn Prof. Dr. Helmut Henne danke ich für die freundliche Erlaubnis, eine Reihe von Stammbüchern aus seinem Besitz auszuwerten; diese sind mit „(He)“ gekennzeichnet. In einem sonst lateinischen Königsberger Eintrag von im Stb Borns (He), S. . Stb Spies (HAAB Weimar, Nr. ), S. : „Es leben die, welche die Schnurren geprügelt“ („Borstendorff“/Jena ). Ferner Keil , S. f. Keil , S. , ; Stb Silberschlag (Zachariae , S. ): Eintrag Jena .
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„P.M.“ (‚Pro Memoria‘), „Denkwürdigkeit“ oder „Rückerinnerungen“, bleiben sporadisch. Daneben stehen seit den frühesten Zeugnissen Erinnerungsappelle in Verbform, analog denen im Zueignungstext. Ein Altdorfer Studenten-Stammbuch bietet für die Jahre 1663/64 u. a. dieses: „NB. Der Hr. Bruder gedencke doch ja an“ – „NB. Mons. wolle den […] nicht vergessen“ – „Der Hr. Bruder erinnere sich deß“ – „Deß […] vergiß beym Leibe hinein ja nicht“.⁹ Ausleitungssignale wie „etc. etc.“, „pp“, „u.s.w.“ betonen die Überfülle der Erinnerungen. Fehlen solche Signale, so sind Memorabilien an ihrer separaten Platzierung und vor allem an der Konkretheit der aufgereihten Ereignisse meist problemlos zu erkennen. Der Normalfall ist ein kontinuierlicher Schreibtext, doch auch die Verteilung auf verschiedene Stellen des Blattes ist eine frühe Variante, woraus sich später ornamentale Anordnungen entwickeln. Überhaupt kennzeichnet das spielerische Experimentieren mit neuen Formen die Stammbuchpraxis unter Studenten. So ist im Falle der Memorabilien bemerkenswert, dass sie mitunter nicht als eigene Komponente abgesetzt, vielmehr in andere Teile des Stammbucheintrags eingebaut werden oder diese überformen, so dass die konventionelle Typik der Teiltexte und das Ordnungsgefüge des Eintrags verschwimmen. Dass Ansätze zu Memorabilien besonders häufig innerhalb der Zueignung erscheinen, erklärt sich aus der funktionellen Affinität beider Komponenten. Meist bleiben die dort eingestreuten Angaben knapp, summarisch und unspezifisch (z. B. „die frohen Jahre des Burschenlebens“¹⁰ – „unserer gehabten Fidelitäten“¹¹), sie können aber auch so detailliert ausfallen, dass an ihrem Charakter als Memorabilien nicht zu zweifeln ist: „erinnere dich […] an unsre fidelen Reisen z. B. auf den Brocken, nach Eisleben, Mansfeld, Preußische Hoheit, die Dampfmaschinen und alle die Pochwerke da herrum.“¹² Ein spezielles Element der Zueignung, das Eintragungsdatum als Sprosspunkt memorabilienartiger Bemerkungen, wird noch anzusprechen sein. Tatsächlich dürfte es kaum eine Komponente geben, die nicht gelegentlich durch Memorabilien besetzt oder sogar ersetzt worden wäre. Durch sie komplett ersetzt werden kann sogar der Leittext: „Es lebe die Kluppe am 8ten April und die ganze Gesellschaft welche dabey ist“¹³, auch das Symbolum: „Symbolum. Vivat Hr. Pollux da er nach
Stb Schultze (He), S. , , v. Weitere Zeugnisse aus dem . Jh. bei Keil , S. , . Stb Zitelmann (He), S. : Halle . Stb Senger (He), S. : Duisburg . Stb Zitelmann (He), S. : Halle ; weiterhin etwa Stb Hempel (StA Göttingen, Nr. ), S. : Leipzig . Stb Behrmann (He), S. : Göttingen, . April . Dass es sich um eine konkrete (mit der Eintragung simultan stattfindende!) Veranstaltung handelt, nämlich den Abend im Hardenberger Hof vor der Abreise des Halters, bestätigt ein anderer Eintrag unter demselben Datum, der das Gleiche in Memorabilienform und außerdem einen Leittext bietet (S. ). Im Stb Spies (HAAB Weimar, Nr. )
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Lobeda ginge.“¹⁴ In solchen Fällen hat der Memorabilientext – die Kenntnis der Konventionen beim Einträger vorausgesetzt – eine Doppelfunktion. Als unverzichtbar für die Textform Stammbucheintrag bleiben dann strenggenommen nur noch die Kernelemente der Zueignung übrig. Memorabilien fließen weiterhin etwa in die Renovatio eines Eintrags,¹⁵ in die seitenverbindenden Formeln¹⁶ und bildlichen Beigaben¹⁷ ein. Als vielgestaltige und polyfunktionale Strukturkomponente sorgen Memorabilien somit für den Eindruck von Fülle, Lebendigkeit und Beziehungsreichtum bei den Einträgen. Während manche der traditionellen Komponenten, insbesondere Symbolum und Zueignungsformel, in relativ festen Konventionen verharren und im Laufe der Zeit eine gewisse Stereotypie annehmen, sind es am ehesten die Memorabilien, die Freiräume für kreative Gestaltung in inhaltlicher, stilistischer und graphischer Hinsicht eröffnen. Wo immer der Ursprung von Memorabilien liegen mag, jedenfalls stammen die bislang frühesten Belege (1617 und 1621) aus der Feder Altdorfer Studenten.¹⁸ Gegen Ende des 17. Jahrhunderts dürfte der Brauch schon über die gesamte deutsche Universitätslandschaft verbreitet gewesen sein – die Zeugnisse reichen von Straßburg (1654) über Jena (1634)¹⁹ bis Königsberg (1663)²⁰ –, und er endet erst mit dem Auslaufen der Stammbuchsitte unter Studenten um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Brauch erreicht immer weitere soziale Kreise: Um 1750 tauschen Gymnasiasten untereinander Memorabilien aus,²¹ und spätestens Ende des 18. Jahrhunderts wissen auch junge Damen solche zu formulieren.²² Dennoch
ersetzen mehrmals Memorabilien den Leittext, z. B. S. , , , : Jena ; ferner etwa Stb Frobrig (H. P. Hümmer: Das Ordensstammbuch des Livländers Christian Benjamin Frobrig (Jena – Erfurt ). In: Einst und Jetzt. Jb. . , S. ): S. : Jena . Stb Crell (HAAB Weimar, Nr. ), S. : Jena ; ferner Stb Zitelmann (He), S. : „Symbol. Marie hole doch den Herren ein Büllechen!“ (Halle ); Stb Raven (StA Göttingen, Nr. ), Bl. : Göttingen . Stb Behrmann (He), S. : Göttingen ; Stb Zitelmann (He), S. : Dessau undat., S. : o.O. . Keil , S. : Straßburg ; Stb Dreckmeyer (He), S. : Halle ; Stb Schönfeld (He), unpag., Eintrag Uhlich, Wittenberg . Stb Rothmann (StA Göttingen, Nr. ), S. : Göttingen ; Stb Zitelmann (He), S. : Halle ; Stb Wagner (R. Paschke: Das Erlanger Ordensstammbuch Wagner. In: Archiv für Studentenund Hochschul-Geschichte. Heft . , Abb. nach S. , vgl. S. ): Erlangen . Keil , S. . Ebd., S. , . Vgl. oben Anm. . Stb des Ilfelder Gymnasiasten Wienecke ( – ; StA Göttingen, Nr. ), S. , u. ö. Stb Zitelmann (He), S. /: Stettin .
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muss festgehalten werden, dass viele Studenten-Stammbücher,²³ auch wenn sie sonst reichlich burschikose Züge aufweisen (z. B. Illustrationen zum Studentenleben, gruppensprachliche Einsprengsel), keinerlei Memorabilientexte enthalten. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts steigt deren Frequenz merklich an, um zwischen 1800 und 1830 den Höchststand zu erreichen, wie einige Zahlen, basierend auf der Datenbank zu den über 300 Stammbüchern des Göttinger Stadtarchivs, belegen mögen: 1760 – 69: 21, 1770 – 79: 45, 1780 – 89: 38, 1790 – 99: 52, 1800 – 09: 132, 1810 – 19: 601, 1820 – 29: 304, 1830 – 39: 33.²⁴ Die Rate pro Stammbuch und auch der durchschnittliche Umfang folgt in etwa dieser Kurve: Ein Göttinger Student sammelte 1812– 16 nicht weniger als 66 Memorabilien ein, die meisten auf der Rückseite des Blattes fortgesetzt.²⁵ Bei der Frage nach den Gründen für den Anstieg ist bei den Voraussetzungen und Bedingungen anzusetzen, die für die Eintragung solcher Texte maßgeblich waren. Memorabilien setzen einen gemeinsamen Erlebnishintergrund, ein offene Freundschaftsbeziehung und in aller Regel die Brüderschaft voraus. Die Möglichkeit, zu all dem zu gelangen, boten vorderhand die verschiedenen Formen selbstbestimmter studentischer Vereinigungen (Orden, landsmannschaftliche Kränzchen, Corps, Burschenschaften), die seit Mitte des 18. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung nahmen. Hinzu kommt, dass nach einer Phase der Unterdrückung insbesondere der Studentenorden sich die neuen Formen der Corps und Burschenschaften meist frei und öffentlich präsentieren konnten, so dass Memorabilien als Spiegel einer Lebensführung à la Bursch prinzipiell keinen Anstoß mehr erregen konnten. Im Freundeskreis der Verbindungen war zudem für allerlei Freizeitvergnügungen gesorgt, etwa für die immer beliebter werdenden Ausflüge, Wanderungen und Reisen. In diesem Zusammenhang ist auch an den Freundschaftskult zu erinnern, der in der Epoche der Empfindsamkeit zu einer besonderen Gefühlsintensität gelangte. Und Memorabilien waren ein Mittel, um Freundschaften über die Studienzeit hinaus zu verlängern. Manches spricht dafür, dass auch eine einschneidende medial bedingte Veränderung der Stammbuchpraxis in dem Zeitraum sich auf den Texttyp der Memorabilien förderlich auswirkte: Seit den 1780er Jahren kamen, von Göttingen ausgehend, vorgefertigte Stammbuchblätter mit Rahmendekor oder pittoresken
Von einem ‚Studenten-Stammbuch‘ spreche ich, wenn Einträge von Kommilitonen einen maßgeblichen Anteil ausmachen. http://katalog.stadtarchiv.goettingen.de/php-stb/detail-php. Stb v. Plessen (StA Göttingen, Nr. ); hierzu O. Vater: Memorabilia aus Stammbüchern Göttinger Studenten. In: Veröff. des Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung. Nr. . Göttingen , S. f.
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Ansichten (sog. Stammbuchkupfer)²⁶ verstärkt auf den Markt, die sich auch bei Studenten einer wachsenden Beliebtheit erfreuten. Damit traten neben das traditionell gebundene Stammbuch zunehmend Einzelblattsammlungen. Das neue Medium dürfte Memorabilien begünstigt haben, denn die Kontrolle über die Schreibsituation verlagerte sich nun weiter zum Einträger. Der ‚Stammbuch‘Halter teilte die – mit Besitzervermerk versehenen – Blätter aus und erhielt sie bei Gelegenheit zurück; man konnte solche Blätter sogar für potentielle Empfänger im voraus ausfüllen.²⁷ Die Rückseite des Blattes war in jedem Falle frei für ausgedehntere Memorabilien, so dass gelegentlich im Haupteintrag gleich darauf verwiesen wird.²⁸ Einträger wie Halter waren beim Austausch isolierter Einzelblätter vor ärgerlichen Kommentaren Dritter sicher, der Halter sah seine eigenen Anmerkungen vor fremden Augen geschützt. Während gebundene Stammbücher der Durchsicht im Kreise der Einträger preisgegeben waren, etablierte die EinzelblattPraxis eine exklusive, intimere Zweierbeziehung.
Aufwendig dokumentiert von R.W. Brednich, unter Mitarbeit von K. Deumling u. a.: Denkmale der Freundschaft. Die Göttinger Stammbuchkupfer – Quellen der Kulturgeschichte. Friedland .Vgl. auch: „Ins Stammbuch geschrieben …“. Studentische Stammbücher des . und . Jh. aus der Sammlung des Stadtarchivs Göttingen. Bearb. v. M. Hauff u. a. Göttingen (Die CD bietet in einer Anhang-Datei Bilder, im Unterschied zu Brednich auch kolorierte). Das Loseblatt-Stb Sergel (He) enthält vom Halter vorgefertigte Blätter (mit Memorabilien), die ihre Empfänger nicht erreichten. Vgl. Stb Langwerth (German. Museum Nürnberg: g), unpag., Eintrag Meyer: „S. Memorb. f. d. and. Suiten“ (Jena ).
2 Thematik und Zeitrahmen Angesichts der Barrieren, die Memorabilien einem erschließenden Verständnis des jeweils Gemeinten entgegenstellen, können die folgenden Ausführungen sich grundsätzlich nur auf die Ebene der zu einem Text strukturierten Sprachbedeutungen beziehen, nicht auf die involvierten historischen Ereignisse, Sachverhalte, Örtlichkeiten oder Personen. Zwar bewegen sich auch andere Texte nach dem Ökonomiegebot aller Sprachkommunikation in einer gewissen Vagheitszone, doch das immer vorausgesetzte geteilte Wissen erscheint bei Memorabilien nochmals spezialisiert auf zeitnahe gemeinsame Erfahrungen zweier Studienfreunde, denen knappe Andeutungen mit hohem Vagheitsgrad als Mitteilungsform genügten. Der Eindruck von Hermetik, der sich beim heutigen Leser einstellt, beruht also keineswegs auf Defiziten des Texttyps und sollte kein Grund sein, Memorabilien bei der Dokumentation und Auswertung von Stammbüchern zu vernachlässigen.²⁹ Die Zusammenstellung des Erinnernswerten ist von dem Ziel bestimmt, das Bild eines fidelen, flotten, kurzweiligen und erlebnisreichen, kurzum: eines glücklichen Studentenlebens zu zeichnen. Der thematische Schwerpunkt liegt daher eindeutig auf den Freizeitvergnügungen im Freundeskreis. Schon die ernsteren Bezirke der studentischen Subkultur, wie Ordensangelegenheiten oder Duelle, bleiben zumindest noch im 18. Jahrhundert mehr im Hintergrund. Die Universität als institutioneller Rahmen, der akademische Lehrbetrieb und zumal das individuelle Studium werden kaum zu Themen erhoben. Die weitere soziale Umwelt am Ort tritt selten konkret in Erscheinung, am ehesten noch in Gestalt von Wirten (Stammkneipen, Ausflugsziele) oder jungen Damen (Flirts, Bälle). Generell gilt, dass die verschiedenen Lebens- und Erfahrungsbereiche weniger in ihrer alltäglichen Normalität interessieren, vielmehr setzen Detailschilderungen bei Außergewöhnlichem, Spektakulärem, Unverhofftem, Emotionalisierendem an; auch kleine Missgeschicke und Peinlichkeiten werden als Quellen der Erheiterung gern registriert. Ein maximaler zeitlicher Rahmen für die Begebenheiten ergibt sich natürlich bei einer Stammbucheintragung kurz vor der Trennung. Diese Situation mit ihren Alternativen (Abgang des Halters, des Einträgers) findet traditionell gern ihren Ausdruck, meist in allgemeiner Form (z. B. „Am Tage des Abschiedes aus dem Cränzchen“³⁰), aber auch in Schilderungen der näheren Umstände, die, zumal wenn sie den Halter mit einbeziehen, als (separater, letzter) Teil der übrigen Memorabilientexte auf dem Blatt zu werten sind: „NB. Noch wenige Augenblicke –
Eine automatische Suche nach „Memorabilia“ ist m.W. derzeit nur in der Online-Datenbank des Göttinger Stadtarchivs möglich. Stb Dreckmeyer (He), S. : Halle .
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2 Thematik und Zeitrahmen
und die Stunde der Trennung schlägt – fließet Thränen – […] Ach mein Senger du verläst mich – mich, deinen Bruder –“³¹ – „Der Abend meiner Relegation auf deiner Stube. – Nachts um halb 1 Uhr“.³² Die Renovatio des Eintrags (und der Freundschaft) verlängerte die Zeitspanne nochmals und gab Gelegenheit, die Memorabilien fortzuführen. Den entgegengesetzten Fixpunkt des Berichtszeitraums markieren die Schilderungen des Kennenlernens („N.B. Vergiß nicht unsre erste Bekanntschaft auf dem Postwagen, Hr. v. Bursch, Hr. Brenner u. Hr. Fuchs.“³³), die mit zunehmendem Umfang der Memorabilien immer üblicher werden und fast immer den Textanfang bilden.³⁴ Nimmt man nun Anfangs- und Endpunkt zusammen, so liegt die Vermutung nahe, dass die Reihenfolge in der Darstellung im allgemeinen die chronologische Abfolge des Dargestellten spiegelt. Dies können textinterne Zeitangaben direkter oder indirekter Art bestätigen,³⁵ günstigenfalls auch äußere (z. B. studentengeschichtliche) Anhaltspunkte.³⁶ Ansätze zur Bildung von Themenblöcken sind erkennbar, wenn Gleichartiges pluralisch zusammengefasst wird: „die vielen fidelen Tage und Abende auf dem Fürstenzimmer und Neumeistersburg […] unsere häufigen Jagdparthien“³⁷; ob damit die chronologische Linie gelegentlich verlassen wird, bleibe dahingestellt.
Stb Senger (He), S. : Duisburg . Stb Riefkohl (StA Göttingen, Nr. ), S. : Göttingen . Vgl. auch Stb Geiger (Claus , S. ), Bl. : Gießen . Stb Zitelmann (He), S. : Halle . Dem Muster folgen im Stb Gärtner (HAAB Weimar, Nr. ) von Mem. (Halle – ); im Stb Jahn (Jahn ) von Mem. (Jena, Halle, Göttingen – ); im Stb Sergel (He) von Mem. (Göttingen /). Der lange Memorabilientext von Kraus im Stb Gombart (Meyer-Camberg , S. – : Erlangen ) folgt – bis auf eine Rückblende („Nb der fidele Neujahrsball“) – genau der Zeitlinie, wie aus den exakten Datierungen ersichtlich. Indirekt z. B.: „Unsere erste Reise nach Kassel […] Zweite Reise nach Kassel“ im Stb Sergel (He), Bl. v: Göttingen . Zu den Memorabilien im Stb Sergel (He) z. B. ist zu vergleichen O. Deneke: Die Westphälische Landsmannschaft zu Göttingen – . Göttingen , Kap. III: Die Guestphalia von (S. – ). Stb Hermann (Meyer-Camberg , S. ): Erlangen .
3 Narrative Aspekte Unter der Annahme, dass Memorabilien eine Geschichte – die Geschichte einer Studienfreundschaft³⁸ – erzählen, kann der Texttyp auch unter narratologischen Aspekten näher beleuchtet werden. Klar ist bereits, dass die Erzählung für den Stambuchhalter einen Erinnerungswert, aber in der aktuellen Situation des Eintrags keinen Neuigkeitswert hat. Die Fragmentierung der Erzählung in einzelne Impressionen, Szenen oder Episoden steht vollständig unter der Kontrolle des Halters, der quasi als Miterzähler beteiligt ist, zumal die Auswahl des Erzählten unter der Perspektive des von ihm präsumtiv Erwarteten und Gewünschten erfolgt. Darüber hinaus sieht sich der Stammbuchhalter am Ende in der herausgehobenen Position, die einzelnen Memorabilienbeiträge kritisch vergleichen und zu einem Gesamtbild seines Burschenlebens zusammenfügen zu können. Die jeweils vorausgesetzte Gemeinsamkeit des Erlebten,³⁹ die daher auch unvermeidlichen Sprünge in der erzählbaren Zeit und die übersummative „Allwissenheit“ des Lesers (nicht des Erzählers) machen einen prinzipiellen Unterschied zum autobiographischen Erzählen, auch zu Tagebuchnotizen aus. Ein Erzähler ist hinter den prima vista chaotisch anmutenden Stichwortanhäufungen gemeinhin nur zu erahnen. Umso interessanter sind daher Zeugnisse einer Reflexion der Erzählhandlung bzw. der Erzählerrolle. Da ist zunächst der Exordialtopos der nicht zu bewältigenden Stoffmenge, der auch zu resignativem Verzicht führen kann: „Memorabilia. Innumerabilia.“⁴⁰ – „ich erwähne nichts von Suiten wir haben deren zu viele gehabt ich müßte Bogen voll schreiben.“⁴¹ Die Kürze der Memorabilien wird durch die Knappheit von Raum oder Zeit erklärt oder auch durch „die kurze Zeit, so wir beysammen waren“.⁴² Abbruch und Neuansatz werden scherzhaft thematisiert: „kein Platz mehr übrig / Auf der vorigen Seite wollte ich endigen, weil ich glaubte, es sei genug, um mich deinem Andenken unauslöschlich zu machen“.⁴³ Memorabilien werden zur Fortsetzungsgeschichte bei intendierter Renovatio oder bei erhofftem Wiedersehen: „Die Fortsetzung
Die „Rückerinnerungen“ im Stb Grebe (He), S. – , gelten allerdings hauptsächlich der Schulzeit und umfassen einen Zeitraum von gut Jahren ( – ). Ausnahmen sind selten erkennbar, z. B. im Stb Sergel (He), Bl. : „Ich kneipe nach Nendorf, u. ihr nach der Wanne“. Stb v. Boemelburg (Claus , S. ): Göttingen . Stb Zitelmann (He), S. : Halle ; vgl. auch Stb Senger (He), S. : o.O. undat. [Duisburg /]. Stb Zitelmann (He), S. : Halle . Stb Senger (He), S. /: Duisburg /.
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3 Narrative Aspekte
folgt“⁴⁴) – „dann ein mehreres mündlich“⁴⁵; ebenso bei Ausdehnung der Niederschrift über mehrere Seiten und Tage: „beendigt nachts nach 12 Uhr […] Continuat. Memorab. Jenens. Abends um 11 Uhr geschrieben.“⁴⁶ So wie bei Leittexten, Kommentaren oder seitenverbindenden Formeln mitunter Bezugnahmen auf die Texte anderer und damit Spuren von Dialogizität festzustellen sind, so auch bei Memorabilien: Den Satz „Erinnere dich des Brunnentrinkens […]“ führt ein anderer Einträger auf der Nebenseite ein Jahr später fort mit „- – – und der Schläge mit der Curbatsche“⁴⁷. Intertextuelle Verweise auf die Einträge anderer – praktisch nur in gebundenen Stammbüchern möglich – dienen vor allem der Vermeidung von Wiederholungen: „Die Dresdener und Brockenreise und die anderen Fahrten nach dem lieben Dessau. Die übrigen Suiten haben Kirstein, Kretschmer und Koehler pp schon angeführt.“⁴⁸ Eine andere Form des abkürzenden Verweises ist der auf eine beistehende bildliche Darstellung eines denkwürdigen Erlebnisses, die somit den Memorabilientext vertritt: „NB. Der 12te November 1773 war der lustige aber auch merkwürdige Tag der gegenüberstehenden Geschäfte.“⁴⁹; die ins Bild eingeschriebenen, sich auch explizit auf den Stammbuchhalter beziehenden Zurufe machen es zum Musterstück einer BildText-Memorabilie. Vorausblicke aus der Schreibsituation auf Künftiges, z. B. ein Wiedersehen, sind nicht ungewöhnlich; seltsam mutet dagegen die Einbeziehung eines Ereignisses, das realiter „morgen“ stattfindet,⁵⁰ in die erzählte Zeit an. Eine reflektierte Steuerung des Erzählens bekunden insbesondere auch die recht häufigen Bemerkungen zur Auswahl oder Gewichtung der Gegenstände an, zu Beginn oder resümierend: „Nur das Wichtigste will ich hier erwähnen“⁵¹ – „Ich will also nur die letzten und Narrenhausstreiche dir ins Gedächtnis zurük rufen“⁵²- „die
Stb Grebe (He), S. : Göttingen . Ebd,, Eintrag Werner, Göttingen ; vgl. auch Stb Gärtner (HAAB Weimar, Nr. ), S. : „In Berlin Mehreres!“ (Halle ) Stb Lungershausen (HAAB Weimar, Nr. ), Bl. r/v: Jena ; vgl. auch ebd. Bl. v. Stb Arnold (StA Göttingen, Nr. ), S. v/r: Göttingen /. M. L. Blaustrumpf:Vier poßirliche Gedichte. Schönstadt , preist in Nr. „das [in Jena] eingeführte Pursicalische Karbatschen-Klatschen“ (Titelblatt). Stb Zitelmann (He), S. : Dessau ; vgl. auch ebd., S. unter Verweis auf „die andern“. Es handelt sich um einen Kreis ehemaliger Stettiner Konpennäler in Halle. Stb Hempel (StA Göttingen, Nr. ), S. : Jena . Die kunstvolle Gouache auf der Nebenseite stellt eine nächtliche Jagdszene mit drei Reitern dar; einer der eingezeichneten Zurufe lautet: „Bruder Hem-[pel] nim dich in acht Hinr. sch.[ießt] dich von Pferde.“ Stb Buseck (Claus , S. ), Bl. : Würzburg . StbRaven (StA Göttingen, Nr. ), Bl. v: Marburg . Stb Senger (He), S. : o. O. undat. [Duisburg /].
3 Narrative Aspekte
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gröste fidelite die wir ie hatten,war […]“⁵³ – „Dies ist blos das wichtigste von unsrer Suitenreiserey“.⁵⁴ Einen narrativen Darstellungsmodus sollte man am ehesten erwarten, wenn größere Erlebniskontinua, wie Ausflüge, Wanderungen oder Reisen, zu vergegenwärtigen waren. Doch obwohl solche freundschaftsfördernden Unternehmungen mit Vorliebe notiert werden, oft mehrperspektivisch von mehreren Einträgern, bleibt es in aller Regel bei der Nennung des Zielortes oder einzelner Etappen und spärlichen Attributen.⁵⁵ Ganz atypisch, schon wegen der thematischen Verengung, ist daher ein mit „Mem.“ eingeleiteter, seitenlanger Reisebericht.⁵⁶ Ausschlaggebend für den Umfang und die Ausführlichkeit von Memorabilien ist, soweit feststellbar,vielmehr in erster Linie die tiefe Vertrautheit bei einer akademischen Freundschaft, die sich schon aus der Schulzeit herleitet.⁵⁷
Ebd., S. : Duisburg . Stb Hermann (Meyer-Camberg , S. ): Eintrag Erlangen . Im Stb Sergel erfährt die lange Heimreise zu dritt noch die ausführlichste Darstellung (, Zeilen, Bl. v: Osnabrück ). Stb Helm (vgl. F. Timme: Memorabilien aus dem Jahre über eine Wanderung durch Thüringen […]. In: Einst und Jetzt. Jb. . , S. – ): Eintrag Halle . So im Stb Grebe (He), S. – : Göttingen ; Stb Sergel (He), Bl. r-v: Göttingen/Osnabrück ; Stb Lungershausen (HAAB Weimar, Nr. ), Bl. r-v und r-v: Jena ; Stb Gombart (Meyer-Camberg , S. – ): Eintrag Erlangen .
4 Lexikalisch-semantische Gruppenprofile Die Schreibsituation bei Memorabilien bietet alle Voraussetzungen für eine ungehemmte Aktivierung der spezifisch studentischen Gruppensprache. Bei dem gemeinsamen Erfahrungshintergrund und der gemeinsamen Kommunikationsgeschichte ist das Verständnis von vornherein optimal gesichert. Das gruppensprachliche Kolorit steigert die Authentizität des Berichts und erhöht den Erinnerungswert. Hinzu kommt, dass die Privatsphäre des Stammbuchs, besonders in Form der Loseblattsammlung, im Verein mit der vertrauensvollen Partnerbeziehung die Schranken der Diskretion und Etikette deutlich absenkt, so dass z. B. die namentliche Nennung von Kommilitonen, jungen Damen und anderen Personen auch in kompromittierenden Kontexten nicht tabu ist. Was zunächst den Wortschatz angeht, so ist eine besondere Dichte studentensprachlicher Elemente dort zu erwarten, wo die bevorzugten Freizeitaktivitäten thematisiert werden. Dort liegen auch die wichtigsten Experimentierfelder für den Ausbau und die kreative Weiterentwicklung des Spezialwortschatzes mittels Techniken wie Wortbildung, Metaphorik, Metonymik, innere und äußere Entlehnung, Sprachmischung, Sprachspiel usw. Für die verschiedenen Formen gastlicher Zusammenkünfte bzw. gemeinsamen Alkoholkonsums bietet das Stammbuch Sergel (Göttingen 1808/09) die folgende Palette gruppensprachlicher Bezeichnungen: Hospitz M./hospitium, Kommers (mit den Varianten Commerce, Commerz, Commersch), Satz, Suite, Kneipe, Kneippen N. („häufiges Kneippen in Grohnde“⁵⁸), Kneiperei/Cneiperei und Sauferei, dazu die spezifizierenden Komposita Neujahrskommers, Fuchssatz, Abschiedssatz, Theekneipe, Whistkneipe; aus zeitgleichen Göttinger Stammbüchern sind an Grundwörtern noch zu ergänzen: Schmaus (in Kartoffelschmaus, Martinsschmaus), Condition (auch mit lat. Pl. Conditiones), Stoß (in Martinsstoß), fidelite, Convivium und das metaphorisch annektierte Cassino („Unsre des Samstags im Circel trauter Freunde gefeierte Cassino’s“⁵⁹). Welche Phänomene in dieser Momentaufnahme neu, welche erfolgreich sind oder nicht, ist nur in einem größeren historischen Rahmen zu erkennen: Die metonymische Neubedeutung ‚Kommers‘ bei Suite und Kneipe wird innerhalb der Studentensprache usuell, dagegen findet die neue Gebrauchsweise des militärisch konnotierten Casino keine weitere Verbreitung. Memorabilien bilden ein Netzwerk persönlicher Beziehungen ab, so dass in manchen Fällen Eigentümlichkeiten des Sprachgebrauchs von Kleingruppen greifbar werden. Mit diesen Kommunikationsgemeinschaften ist sozusagen der
Stb Sergel (He), Bl. : Göttingen undat. [/]. Stb Raven (StA Göttingen, Nr. ), Bl. v: Göttingen .
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dynamisch-kreative Quellbezirk der Studentensprache erreicht. Diese setzt als historisch sedimentierte Größe einen vielschichtigen Innovations-, Diffusionsund Selektionsprozess voraus und ist so immer erst aus einer gewissen Zeitdistanz kodifizierbar. Somit ist ein Blick auf den Sprachgebrauch solcher Freundeszirkel, jenseits der Frage nach der sprachhistorischen Relevanz, auch unter Theorieaspekten von Interesse, lässt sich daran doch studieren, wie sprachliche Profilierung konkret betrieben, wie den Selektionsfiltern der studentischen Gruppensprache permanent neues Material zugeführt wird. Im Stammbuch Sergel wird die Göttinger Landsmannschaft Guestphalia als organisierender Rahmen erkennbar, darin ein innerer Kreis Osnabrücker Landsleute, in diesem wiederum alte Schulfreunde und ein Vetter. Kneiptouren in die umliegenden Dörfer sind Gewohnheit, so dass es zur Interferenz des Paradigmas Suite, Kneiperei in mit dem Paradigma Tour, Ritt nach kommt mit dem Ergebnis, dass Kneiperei zum Fortbewegungsbegriff verschoben wird mit analoger Konstruktion: Kneiperei nach;⁶⁰ die Dynamisierung greift auf das Verb kneipen über: kneipen nach. ⁶¹ Bei dieser syntaktischen Veränderung kann man wohl von einer lokalen Sprachmode ausgehen.⁶² Ähnlich dürfte Weichsel (mit der Weiterbildung Weichselei und frei assoziiertem Weichselzopf ⁶³) im Stammbuch Sergel zu beurteilen sein: „Fidele Suite auf dem Hanstein am Himmelfahrtstage, Smollis, Weichsel!“⁶⁴ An die volksfestartigen Umstände der Kreation führt auch das Stammbuch des befreundeten Raven heran: „Tour nach dem Hanstein am Himmelfahrtstage; unser Smollis daselbst allgemeiner Weichsel daselbst“ – „Die fidele Tour nach dem Hanstein; der Rothwein im alten Thurm“⁶⁵). Über die spezielle Semantisierung von Weichsel (eigentlich ‚Sauerkirsche‘) kann allerdings nur spekuliert werden: ‚Kirschwein‘ oder schon Abstraktbegriff ‚Zecherei, Fidelität‘, wie vermutlich Weichselei? Das Stammbuch Zitelmann führt in den Kreis der Pomerania in Halle (1794– 96), darunter alte Stettiner Freunde, auch Verwandte. Indizien für Gruppenjargonales sind zum einen die an ostnd. mickern ‚schwächeln, kümmern‘ anschließenden Wortbildungen vermickern und Vermickerung („die vermückerte Punschkondition“ – „Das
Stb Sergel (He), Bl. , : Göttingen . Ebd., Bl. , : Göttingen /. Stb Raven (StA Göttingen, Nr. ), Bl. v: „Kneipereien […] nach der Papiermühle“ (Göttingen ). Stb Sergel (He), Bl. : Göttingen . Ebd., Bl. : Göttingen (Einträger: Raven). Stb Raven (StA Göttingen, Nr. ), Bl. (Einträger: Sergel!), Bl. : Göttingen . Das Fest auf dem Hanstein schildert auch G. Kloß in seinem Brief vom . . an den Studienfreund Stein; vgl. Kloß/Stein – , S. .
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4 Lexikalisch-semantische Gruppenprofile
vermickerte Lehnrecht! Die Vermickerung“ – „in Vermickerung geräth“⁶⁶), zum andern das mehrfache Ruck („der fidele Brockenruck“ – „die vielen Ruks und den Kümmel Ruk vorzüglich“ – „der große Ruck am Königsstein“⁶⁷). Neben Brockenruck steht zweimaliges Brockenreise, so dass die Bedeutungsbestimmung ‚Reise, Wanderung‘ von Ruck (zu rücken) unproblematisch ist. Das gruppensprachlich markierte Ruck füllt zumindest temporär eine Lücke in der Reihe der schriftsprachlichen Synonyma, wie auch das metaphorische Wallfahrt.⁶⁸ Im Stammbuch Behrmann (Göttingen 1779 – 80) erscheint in zwei Memorabilien Kluppe ‚Klemme, Enge‘ (auch Bezeichnung verschiedener Werkzeuge) in der übertragenen Bedeutung ‚Trinkgelage‘, konkret bezogen auf den Abschiedskommers des Halters („die letzte Kluppe, wo alle deine Landsleute fidel waren“⁶⁹) – eine bemerkenswerte Wortparallele zu Kneipe, das um diese Zeit dabei war, zu einem Kernwort der Studentensprache zu avancieren.⁷⁰ Im Stammbuch Senger (Duisburg 1785 – 87) sind es weniger lexikalische Neuerungen, mit denen die Gruppe sprachliche Profilierung betreibt, sondern einzelne Wortbildungsmuster, die in pennälerhaft anmutender Manier strapaziert werden. Die dynamisierenden Wortbildungen auf -ung scheinen zunächst die Synonymik um die beliebten Ausflüge zu bereichern („unsere unbändige Bürstung nach D[üssel]dorf […] die unbändige Fegung nach dem Fürsten von Schm.“ – „die fidele Fegung nach Essen […] und Zurückbürstung“⁷¹), setzen sich aber auch in reinen Scherzbildungen fort: „d. Schwimmung mit dem Pudel durch d. Ruhr […] d. Einw.[erfung] d. Fenster […] und Schlag.[ung] u. d. Sitz.[ung] auf dem C.[arcer].“⁷² Das Phänomen hält nach Ausweis der Eintragsdaten länger als ein Jahr an, dürfte also mehr als eine situativ gebundene Marotte gewesen sein. Gleiches gilt wohl für die beliebten Sprachspiele mit frz. -eur: „mit einigen Pullen Wein zum Gardeur, Kohlbergör, Wasserfalleur, Ruineur, les Champs eliseur“.⁷³
Stb Zitelmann (He), S. , , : Halle .. Ebd., S. : Berlin , , : Halle /. Ebd., S. : Berlin . Stb Behrmann (He), S. ; vgl. auch S. : beide Einträge Göttingen . . . Gebucht bei Kindleben . Stb Senger (He), S. , : Duisburg . Die Verben bürsten und fegen kommen in dem Stb in entsprechender Bedeutung nicht vor, so dass nur formal Deverbativa vorliegen. Ebd., S. ; vgl. auch S. , , , : Duisburg /. Ebd., S. ; vgl. ebd. S. : Duisburg .
5 Ausdrucksverkürzung: Fragmentierung der Syntax Die dialogische Verbundenheit zwischen Einträger und Stammbuchhalter drückt sich in der Syntax der Memorabilien in der Häufigkeit von wir-Satzsubjekten aus, überhaupt von Pronominalformen der 1. Person Pl. (unser, usw.), die nach Stichproben deutlich die Pronominalformen der 2. Person Sg. und der 1. Person Sg. überwiegen.⁷⁴ Gelegentlich wird das unbestimmte man-Subjekt bevorzugt, das zwischen du und ich in der Schwebe bleibt und das wir in den Freundeskreis hinein erweitert. Dennoch sind regelkonforme Satzkonstruktionen weit in der Minderheit. Im Grunde steht der Schreiber bei beschränktem Raum vor dem Dilemma, entweder wenige Denkwürdigkeiten ausformuliert und in vollständiger Syntax zu präsentieren oder viele Erinnerungsbilder aufzurufen, dann aber in sprachlich komprimierter Form. Sowie Memorabilientexte häufiger und umfangreicher werden, geht die Tendenz eindeutig zur sprachlichen Verknappung. Angesichts der funktionalen, thematischen und medialen Zwänge in der Konstellation des Schreibens ist ein anderer Weg auch schwer vorstellbar: Explizite Erinnerungsappelle – wie in den Ein-Satz-Memorabilien – würden bei ständiger Wiederholung pedantisch wirken; einem kohärenten Erzählduktus steht der funktional angemessene Auswahl- und Andeutungscharakter der Erinnerungsstücke entgegen. Auch mag eine Rolle gespielt haben, dass im Unterschied zum Leittext – der traditionell mit einem literarisch-ästhetischen Anspruch verbunden war, egal ob Zitat oder Eigenprodukt – der Memorabilienteil von vornherein den Status einer studentischen Gebrauchsform hatte, die sich abseits von bürgerlich geprägten Stilnormen entwickeln konnte. Die verschiedenen Formen der morphologisch-syntaktischen Verknappung prägen das Erscheinungsbild der Textform auf dem Höhepunkt der Entwicklung zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Doch sogar in dieser Zeit sind selbst in längeren Memorabilientexten Passagen mit intakter Syntax anzutreffen, so dass wohl von einem dominanten, nicht aber von einem einheitlichen Stiltypus zu sprechen ist.Vorherrschend sind Konstruktionen aus einem substantivischen Kern im Nominativ, erweitert um Attribute, unverbunden gereiht und mit bloßen Stichwörtern untermischt, die kurze Schlaglichter in die gemeinsame Vergangenheit werfen. Die durch die radikale Ausdrucksverkürzung beschleunigte Abfolge der Erinnerungsimpulse lässt die Burschenzeit wie im Zeitraffer Revue passieren. Offenbar entwickelten solche sprachlichen Kondensate eine eigene evokative Kraft, wurden bildhaftes Vorstellen und freies As-
Zählungen nach dem Stb Sergel (He) und dem Stb Hermann (Meyer-Camberg ).
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soziieren als Formen der Erinnerungsarbeit einem von konventionellen Sprachstrukturen geleiteten Verstehen vorgezogen. Daher könnte auch der Versuch, die syntaktischen Fragmente über Begriffe wie Ersparung oder Ellipse aus vollständigen Konstruktionen herzuleiten, nur in kleinem Umfang gelingen.⁷⁵ Mit der Auflösung syntaktischer Strukturen ist auch die herkömmliche Zeichensetzung weitgehend außer Funktion gesetzt. Um die einzelnen Glieder der neuen Reihenstruktur abzuteilen, bevorzugen manche Schreiber den Punkt, manche das Semikolon, manche das Komma, die meisten den Gedankenstrich: (1) Deine Ankunft die Nacht in Cassel pp. Die Musik der Marqueur in Berliner Hofe. Ausgreifung der fidelen B: auf unsere Abendpromenaden. Rasade in der Schuster Steige. Unsere Bekanntschaft und Schmollis auf dem Geburtstage des Königs.⁷⁶ (2) Memor. Unser Wiedersehen in Göttingen nach einer 21/2jährigen Trennung; Abschiedssatz; Herr van Nehmen; Covern; se slahet sick; die Hechtgrauen; der Verweis; Commitat nach Nordheim; die Cariole wird in Nörthen dicke; Pappa‘s Reisepich; […]⁷⁷ (3) Der Karzer, die Burschenschaft, der Vorstand, die Hirschgasse, die Schwarzei, die Gutmannei. ⁷⁸ (4) Hufeisen – Nachtwache daselbst – Eröffnungen – Tanzstunde – Thée noble – Es leben die Schwarzen – Dein Pech und Nachtwache auf Kaempf-Stube – Suiten mit dem alten Fontane – Stahl – Knoten müssen ausweichen etc. etc. ⁷⁹ Das Übliche ist eine variable Kombination dieser Zeichen. Mit dem Funktionswandel des Gedankenstrichs übernehmen Klammern die Kennzeichnung von Parenthesen: „In Grone (wohin unzählige Kneipereien) bin ich 3 heil. Tage dicke.“⁸⁰ Die für die gezielte Erinnerung notwendige Konkretheit der Angaben garantieren vor allem die reichlich eingestreuten Namen. Allerdings tragen besonders die Personennamen, zumal in Kurz- bzw. Initialenform oder als Übernamen,
So könnte man in „Wir werden arretiert – kommen auf Carcer“ (Stb Hermann, Eintrag Erlangen ; Meyer-Camberg , S. ) neben einer Ellipse des wir eine Ellipse der Artikelform den ansetzen; mehrfaches Vorkommen von auf Carcer kommen führt aber eher auf eine Phraseologisierung. Stb Sergel (He), Bl. : Göttingen . Ebd., Bl. : Göttingen undat. [/]. Stb Welcker (O. Cramer: „Denkmal der Freundschaft“. Stammbuch des Gießener Schwarzen Ernst Welcker – . In: Jahresgabe der Gesellschaft für burschenschaftl. Geschichtsforschung /, S. ), Bl. : Heidelberg . Stb Hermann (Meyer-Camberg , S. ), Eintrag Erlangen . Ein Studentenbrief von , der fast nur mit Gedankenstrichen auskommt, ist wohl als Unikum einzustufen; vgl. MeyerCamberg a, S. f. Stb Sergel (He), Bl. : Göttingen .
5 Ausdrucksverkürzung: Fragmentierung der Syntax
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wesentlich zur heutigen Hermetik der Texte bei, so wie auch reguläre und irreguläre Abkürzungen aller Art, Auslassungszeichen und Sondersymbole, bei denen eine sichere Auflösung oft nur den Eingeweihten möglich war: „Die einigen gel. Hr. bey XXXX M. XX er.“⁸¹. Ebenfalls eher auf der schreibsprachlichen Ebene angesiedelt sind syntaktische Kontraktionen, die zu ephemeren Wortbildungen wie Fuchskraßheiten, Philisterunterhaltung, Bekanntschaftsstiftung, Besenschlittenfahrt oder Cartoffelbombartement führen.⁸²
Stb Hermann (Meyer-Camberg , S. ), Eintrag Erlangen . Nach Meyer-Camberg meinen die römischen Zahlen die Erlanger Wirtshäuser Vierzigmann und Zwanziger. Mit „gel. Hr.“ ist wohl das Trinkquantum „gelehrter Herr“ beim Bierduell gemeint; vgl. Komment Tübingen /, S. . Stb Sergel (He), Bl. , : Göttingen ; Stb Gombart (Meyer-Camberg , S. ), Eintrag Erlangen .
6 Reflexe des gesprochenen ‚Burschentons‘ Zur Ausdrucksverkürzung tragen auch einige Phänomene bei, die typisch für gesprochene Sprache sind, z. B. Verschmelzungen von Präposition und Artikelform: aufm ⁸³; Ellipsen pronominaler Subjekte: „Schämst denn gar nicht? Marschall! bist ein schauderhafter Kerl!“⁸⁴; konstruktionelle Vereinfachungen: „Denke nur an Burgau und da wir uns verirt hatten.“⁸⁵ – „Suchst uns noch auf wenn auch schwer zu finden.“⁸⁶; Satzabbrüche/Aposiopesen: „Die Vedute zu Merseburg nicht zu vergessen, wo wir! - - - -“⁸⁷ – „Man kann aus lauter Freude nicht, Sie können ja nichts - - -“⁸⁸ – „I! Dich soll ja!“⁸⁹ Insgesamt sind Memorabilien bemüht, möglichst viel von der Lebendigkeit gesprochener Sprache und speziell von den gruppeninternen Spielarten des Sprechens einzufangen. Ein gern eingesetztes Mittel zur Verlebendigung ist die Wiedergabe direkter Rede. Meist sind es Ausrufe oder prägnante Einzelsätze, mitunter aber auch kleine Dialoge: „Morgens 5 Uhr! Hat er memorirt? He! – Hol‘s der Teufel das habe ich totaliter vergessen!“⁹⁰ Studenten aus Norddeutschland benutzen untereinander vielfach ihr heimisches Niederdeutsch, auch mittel- und oberdeutsche Dialekte erscheinen in Reflexen. Kenntnis der Studentensprache ist für Handel- und Gewerbetreibende von Nutzen: „die gerissene Negoze in Ball: [enstedt] – Sind Sie Studio?“⁹¹ Die Bemühung, den Originalton zu treffen, ist direkt erkennbar, wenn Besonderheiten der Aussprache, der Intonation oder gar die Sprechweise unter Alkoholeinfluss nachgebildet werden, teils mit graphostilistischen Mitteln: „ich bin der Äsel (!)“⁹² – „Na – Dann – prost.“ – „Pereat die kalte Göttinger Luft […] – mach die T-ü-r-e zu –“⁹³ – „reke mek enmal den bouddel
Stb Grebe (He), unpag., Eintrag Hartung, Erfurt . Stb Silberschlag (Zachariae , S. ), Eintrag Jena . Stb Hempel (StA Göttingen, Nr. ), : Jena . Stb Hermann (Meyer-Camberg , S. ), Eintrag Erlangen . Stb Dreckmeyer (He), S. : Halle . Stb Hermann (Meyer-Camberg , S. ), Eintrag Erlangen . Stb Anon. (Claus , S. ), S. : Halle . Stb Raven (StA Göttingen, Nr. ), Bl. : Göttingen . Ein Dialog in fränkischer Mundart im Stb Engerer (H. P. Hümmer: Das Stammbuch C. Ben. F. Engerer (Erlangen – ). In: Einst und Jetzt. Jb. . , S. ), S. : Erlangen . Stb Zitelmann (He), S. : Berlin . Vgl. auch W. Blankenburg/F. Lometsch: StudentenStammbücher – . Kassel , S. : Ein Rintelner Frisör trägt sich mit einem studentensprachlich aufgeputzten Text ein. Stb Raven (StA Göttingen, Nr. ), Bl. : Göttingen . Stb Mohr (StA Göttingen, Nr. ), Bl. v, v: Göttingen /.
6 Reflexe des gesprochenen ‚Burschentons‘
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bouddel her.“⁹⁴ Von den erinnerten Gesprächen zu unterscheiden, in der Stilwirkung aber vergleichbar, sind die erst in der Schreibsituation konzipierten Reden oder Gesprächselemente, etwa Anreden des Stammbuchhalters („Posito Herr Bruder, du kriegtest meinen Pudel; was deucht dir? […] Mögtest du ihn?“⁹⁵), Selbstgespräche („4 Wochen Carcer und Consilium unterschreiben sind auch kein Hund – O weh, o weh, o weh!“⁹⁶) oder die gesprächstypischen Interjektionen, Floskeln und Hyperbolisierungen: „Schnizlein, der a tout voll ist“ – „Ungeheuer fidel“ – „Der Herr Decan moralisiert gewaltig viel“ – „Die zum Gähnen steife Chokoladegesellschaft“⁹⁷. Wenn auch die ältere Forschung zur Studentensprache die fremdsprachlichen Elemente gern beiseite ließ, so machen die Memorabilientexte einmal mehr klar, dass der Sprachgebrauch unter Studenten und folglich auch ihre eigentliche Gruppensprache von dem akademisch unerlässlichen Latein und von der Gesellschaftssprache Französisch tief durchdrungen waren. Der hohe Stellenwert des Lateins ist durchgehend zu spüren bis hinein in die Alltagskommunikation. Latein ist fester Bestandteil des ‚Burschentons‘ wie auch immer noch Französisch, so dass auch ein französischer Memorabilientext eines deutschen Studenten akzeptiert wird: „Sans ublier les fidelites chez Ulrich – la mama en Nörten – Mariaspring etc etc“.⁹⁸ Von der ersten Sie-Anrede beim Kennenlernen bis hin zur Examenprobe wird die gesamte Palette kommunikativer Aktivitäten von Studenten zumindest andeutungsweise vorgeführt: Standreden, Debattieren, Anekdotenerzählen, Parodieren, Streiten, Komplimentieren, Gesang, Fachgespräche, Vorlesen, Kolleghören, Stammbuchführen, Briefeschreiben u.v.m. Studenten beherrschten den gestelzten Bildungsjargon („unsere häufigen Versuche in der Cerevisiologie“⁹⁹ – „da Prieser zu schwach ist, einen Nichtaequilibristen aufrechtzuerhalten“¹⁰⁰ – „Die Mädch. – suchen vergebens unserer Ocular-Inspection auszuweichen“¹⁰¹), tummelten sich aber auch in den untersten Stilschichten der Flüche, des Derben und Obszönen, die in den Memorabilien denn auch nicht zu kurz kommen:
Stb Sergel (He), Bl. : Göttingen . Stb Senger (He), S. : Duisburg . Stb Lungershausen (HAAB Weimar, Nr. ), Bl. v: Jena . Stb Gombart (Meyer-Camberg , S. – ), Eintrag Erlangen . Stb v. Böselager (StA Göttingen, Nr. ), S. : Göttingen ; vgl. etwa auch Stb Dreckmeyer (He), S. : „N.B. Viol d’amour.“ (Halle ). Stb Hermann (Meyer-Camberg , S. ), Eintrag Erlangen . Stb Gombart (Meyer-Camberg , S. ), Eintrag Erlangen . Stb Sergel (He), Bl. : Göttingen .
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6 Reflexe des gesprochenen ‚Burschentons‘
„Schmollis mit dem Nachttopf“¹⁰² – „ein Pflaster auf den Arsch“ – „ich schiß ins Hemd und den ganzen Carcer voll“¹⁰³; „Friedrich sen. kotzt“¹⁰⁴; „Mein verdünstiges Pissen an einem geheimen Orte –“.¹⁰⁵
Ein offenbar alter studentischer Brauch; vgl. den Ausruf „vivat wer aus dem Großvater saufft u. Schmolles bringt“ auf dem Bild „die Neujahrs Nacht in Jena “ (Wiedergabe in: Einst und Jetzt. Jb. . , Frontbild). Stb Hermann (Meyer-Camberg , S. f.), Einträge Erlangen . Stb Rath (StA Göttingen, Nr. ), Bl. v: Göttingen . Stb v. Ziegesar (HAAB Weimar, Nr. ), Bl. : Göttingen .
7 Memorabilien und Tagebuch. Kurzer Stilvergleich Das hervorstechende Stilmerkmal der Memorabilien in ihrer Blütezeit ist die fragmentierte Syntax. Angesichts der inneren Logik einer Tendenz zur Ausdrucksverkürzung bei dieser Textform möchte man hier an eine autonome historische Entwicklung denken. Ein vergleichender Blick auf das Tagebuch als nächstverwandte Textsorte erbringt keine schlüssigen Gegenargumente. Zwar gibt es zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch Studenten-Tagebücher in Notizen- oder Stichwortform,¹⁰⁶ doch die meisten befleißigen sich einer normalen Syntax, gehen also stilgeschichtlich einen anderen Weg, so dass bei den Ausnahmen sogar eher eine Beeinflussung durch die Memorabilien anzunehmen ist.
Vgl. das Tagebuch Meißner (/).
IV Aussagestrategien in Vernehmungen von Studenten
1 Vernehmung und Protokoll Verhöre oder Vernehmungen von Beklagten, Klägern oder Dritten gehören zu den seit je mündlich geführten Teilen des gerichtlichen Prozesses. Die Protokolliertechnik ist in dem hier betrachteten Zeitraum so weit fortgeschritten, dass die überlieferten Texte zu einem Gutteil die dialogische Struktur der Vernehmung abbilden, wenn auch mit unterschiedlichen Graden der Detailtreue in bezug auf den tatsächlich gesprochenen Wortlaut. Summarischen Protokollen, die bloß den inhaltlichen Kern der Aussage des Vernommenen fixieren, stehen solche gegenüber, deren Form wie ein Gesprächsnotat wirkt, wobei freilich niemand spezifisch sprechsprachliche Phänomene wie Versprecher mit Selbstkorrektur oder phatische Rückmeldungspartikeln erwarten wird. Diese Überlieferungslage erlaubt einerseits eine Untersuchung der dialoghaltigen Texte mit den Kategorien der Gesprächsanalyse bzw. den Ausbau einer historischen Dialogforschung,¹ erfordert aber zum andern, in jedem Falle die Bedingungen der Verschriftlichung mit zu bedenken, ja das Vernehmungsprotokoll als ein schriftsprachliches Textmuster mit eigenem Regel- und Normensystem zu betrachten.
Vgl. Henne/Rehbock , Kap. .: ‚Gesprächsanalyse und Sprachgeschichte‘.
2 Institutionelle Charakteristika der Vernehmung Fragt man zunächst nach den wesentlichen Charakteristika der Vernehmung als eines institutionell geprägten Typs sprachlicher Interaktion, so ist es heuristisch wichtig, sich klarzumachen, dass verhörähnliche Gespräche auch im Alltag gang und gäbe sind. Nur folgen derartige Gespräche („Wer hat das getan?“ – „Warum hast du das getan?“ usw.) keinen kodifizierten Regelungen und im allgemeinen auch keinen festen Bräuchen; die Motive für Alltagsverhöre ergeben sich mehr aus der Feststellung von Verletzungen ungeschriebener Regeln des privaten Zusammenlebens. Die gerichtliche Vernehmung ist schon deshalb Regelungen unterworfen, weil sie definiertes Teilstück einer Handlungsfolge ist, die als ganze ‚nach Vorschrift‘ abzulaufen hat (Prozessordnung, gesetzliche Bestimmungen, Amtspflichten usw.). Obwohl die gerichtliche Vernehmung in ihrer Funktion der Tatsachenermittlung und Klärung der Schuldverhältnisse durchaus vergleichbar ist mit Alltagsverhören, steht sie doch in einem übergreifenden Funktionszusammenhang, der letztlich von der Leitidee der Institution Gericht – Aufrechterhaltung eines Bewusstseins von Gerechtigkeit und sozialer Ordnung – bestimmt ist. Aus der Grundfunktion der Vernehmung, zu umschreiben als ‚Gewinnung juristisch verwertbarer Informationen im Dialog mit dem Klienten’, ergeben sich allgemeine Bestimmungsmerkmale des Kommunikationstyps und erste Hinweise für Variationsmöglichkeiten in der konkreten kommunikativen Praxis. (1) Verhältnis der Aktantenrollen. Mit den Machtmitteln der Institution im Rücken (Vorladung bzw. Vorführung,² Sanktionsmöglichkeiten) und im Besitz eines professionellen Wissens über die institutionellen Zusammenhänge dominiert der Vernehmende das kommunikative Geschehen mehr oder minder in allen Bereichen, die nachfolgend noch charakterisiert werden. Die Dominanz des Vertreters der Institution wächst mit seiner Routiniertheit in dieser kommunikativen Praxis, zumal bei Kenntnis einer ausgearbeiteten Vernehmungstechnik. Demgegenüber hat der Vernommene die Rolle des Reagierenden,Verfügbaren; auch als Kläger ist er Klient der Institution und hat sich deren formalem Prozedere zu fügen. (2) Themenführung. Der Agent der Institution gibt den Gegenstand der Vernehmung vor, zumindest bestimmt er durch Relevanzsetzungen die thematischen Schwerpunkte und Abgrenzungen. Hinzu kommt oft ein fallspezifisches Vorwissen, gespeist auch aus dem Fundus einschlägiger sachlicher und sozialer Erfahrungen, das in der laufenden Vernehmung zur Anwendung spezieller Taktiken oder Strategien zwecks Effektivierung des Erkenntnisgewinns führen kann (vgl. 4).
E.T. A. Hoffmann wurde auf ärztliches Attest hin am Krankenbett vernommen; vgl. das Protokoll in: E. T. A. Hoffmann, Briefwechsel, hrsg. v. F. Schnapp, Bd. , München , S. f.
2 Institutionelle Charakteristika der Vernehmung
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(3) Handlungskonstitution. Der Vernehmende initiiert die einzelnen Gesprächsschritte. Da Fragehandlungen die gegebenen Mittel gezielter Informationsgewinnung im Dialog sind, besteht eine Vernehmung typischerweise aus einer Serie von Fragen, die einen thematischen Bereich ausleuchten, und der entsprechenden Zahl von Antworten. Im Minimalfall hat der Vernommene nur eine einzige zusammenhängende Erklärung abzugeben. Das Repertoire des Vernehmenden umfasst neben Fragehandlungen und anderen Arten von Aufforderungen selbstverständlich weitere Typen von Sprachhandlungen, von Feststellungen über Ermahnungen und Vorhaltungen bis hin zu institutionsspezifischen Druckmitteln wie Androhung der Vereidigung. Die sprachlichen Aktivitäten des Vernommenen sind als ‚Antworten‘ ebenfalls nur sehr ungenau gekennzeichnet; auch er kann sich z. B. eine besondere Strategie nach Maßgabe seiner Möglichkeiten und Interessen zugelegt haben. Über die Frage der Analyse der einzelnen Handlungsschritte und der komplexeren Handlungsmuster (z. B. Hergangsschilderungen, Argumentationen) hinaus stellt sich das Problem der ‚Natürlichkeit‘ der Handlungskonstitution, nicht nur im Hinblick auf die institutionellen Schematismen und Zwänge, sondern auch unter dem Aspekt der Ausfüllung der Handlungsrollen, etwa im Falle der Verwendung vorgefertigter Fragelisten bei Reihenvernehmungen. Angesichts des oftmals geringen Grades an Responsivität und Kohärenz der sprachlichen Beiträge der Interagierenden kann überhaupt die Dialogizität, d. h. der Gesprächscharakter, mancher Vernehmungen bezweifelt werden. (4) Unter dem Modus der Interaktion sei ihre atmosphärische, emotionelle Komponente verstanden. Der Unterschied zwischen der institutionellen Vernehmung und dem oft hochgradig emotionalisierten Alltagsverhör springt gerade an diesem Punkt sofort ins Auge. Korrekte Einhaltung der Formalitäten, persönliche Distanzwahrung, Ernsthaftigkeit, Kooperativität und Verzicht auf ‚dysfunktionale‘ Gefühlsäußerungen gelten im Rahmen der Institution als Werte, deren demonstrative Missachtung als ungebührliches Betragen eingestuft wird und Sanktionsmaßnahmen auslöst. (5) Gesprächsorganisation. Zu den Organisationsaufgaben gehören vor allem die Rahmensetzung (Eröffnung, Beendigung), die Aufrechterhaltung der kommunikativen Kooperation und die Sequenzierung der Gesprächsbeiträge. Diese Aufgaben liegen wiederum wesentlich in der Hand des Institutionsvertreters.Varianten der Eröffnung sind z. B. die Feststellung der Personalien,³
Die Feststellung der Personalien ist einer der ritualisierten Teile der Vernehmung. Ein hübsches Beispiel bei H. v. Kleist, Der zerbrochene Krug, . Auftritt: „ADAM. Wer ihr seid!/ Wes Namens, Standes, Wohnorts, und so weiter. FRAU MARTHE. Ich glaub, Er spaßt, Herr Richter.“
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2 Institutionelle Charakteristika der Vernehmung
die Angabe des Gegenstandes der Vernehmung (Themafixierung) oder die Ermahnung, die Wahrheit zu sagen. An der Rahmenschließung ist der Vernommene durch seine mündliche oder schriftliche Erklärung der Gültigkeit des Protokolls erheblich beteiligt. (6) Interaktionskontext. Der Wissensstand und das kommunikative Handeln der Beteiligten hängen ab von der Position der jeweiligen Vernehmung im gesamten Interaktionsverlauf. Diese Dimension ist wichtig für die Bildung von Subtypen, denn eine Vernehmung zu Beginn der Vorermittlungen wird sich erheblich unterscheiden von der Schlussvernehmung in einem förmlichen Strafprozess. Der Fortsetzungscharakter von Vernehmungen wird im Protokoll eigens vermerkt („Continuatum“ o. ä. mit neuer Zeitangabe). (7) Dokumentation. Mit der simultanen Verfertigung eines Protokolls gewinnt die Vernehmung erst juristische Relevanz gemäß dem Grundsatz ‚Quod non est in actis, non est in mundo’. Der Wortlaut des Protokolls wird dem Klienten zwecks Ratifikation vorgelesen. Nachträgliche Änderungswünsche oder auch Zusatzerklärungen können mit aufgenommen werden. Mit der Unterschrift des Protokollführers – vielfach versehen mit einer Beglaubigungsformel („in fidem protocolli“ o. ä.) – ist das Protokoll zum Dokument geworden. Wie die schriftliche Abfassung eines Fragenspiegels beliebige Kopien und externe Vernehmungen ermöglicht, so löst das Protokoll die konkrete Vernehmung aus ihrer Situationsgebundenheit heraus (Explizierung der für das Textverständnis wichtigen Kontextmerkmale, Regulierung der Raum-, Zeit- und Personendeixis) und steigert so die Verwertbarkeit des Resultats der Vernehmung.
3 Rekonstruktion von Dialogizität und Strategien Da bei der Typenvielfalt von Vernehmungen bzw. Verhören in den verschiedenen Formen von Gerichtsbarkeit bzw. Exekutive und bei der erdrückenden Masse des Quellenmaterials vorerst keine sprachhistorischen Beschreibungsergebnisse mit repräsentativem Anspruch erreichbar sind, sollen im Folgenden wenigstens zwei Arten von Vernehmungen anhand ausschnitthafter Textbeispiele und unter Bezug auf die vorhin dargelegten Analyseaspekte genauer betrachtet werden: 1. die Vernehmung von Studenten vor dem Universitätsgericht anlässlich vorgefallener Injurien und schwebender Duellforderung; 2. die politische Vernehmung von Studenten aus der Burschenschaftsbewegung im Zuge der Verfolgung sog. demagogischer Umtriebe. Das primäre Ziel der Institution im ersten Fall ist die Streitschlichtung, im zweiten Fall die Prüfung der politischen Gesinnung.
3.1 Vernehmungen bei schwebender Duellforderung Vernehmungen in Ehrensachen sind für die historische Gesprächsanalyse von erhöhtem Interesse, weil der zu rekonstruierende Handlungskomplex im Kern die injuriösen Wortwechsel enthält. Im ersten Beispielfall, der 1785 von den Helmstedter Professoren zu klären und abzuurteilen war, geht es von einem negativen Kommentar und Zur-Rede-Stellen über Verbal- und Realinjurien bis hin zur (behaupteten, von der Gegenseite aber bestrittenen) Duellforderung. Dabei ist die Sache zwischen Proessel hier und Overlach wie Floeckher dort nur ein Seitentrieb einer größeren Fehde, deren Undurchsichtigkeit zahlreiche Zeugenbefragungen erfordert: Hillegeist war wegen ehrenrühriger Karikaturen, die er im Auditorium von Prof. du Roi entdeckt hatte, mit Floeckher als dem (Mit‐)Urheber in Streit geraten, hatte mit Hilfe seiner Blankenburger Landsleute von diesem vergeblich eine Ehrenerklärung⁴ verlangt, daraufhin beim Vizerektor geklagt und bei seiner ersten Vernehmung einen ausführlichen Beschwerdebrief überreicht. Bei dem folgenden Protokolltext⁵ zu einer Reihenvernehmung ist die Bemühung spürbar, die dialogischen Schaltstellen der Auseinandersetzung festzuhalten, damit aus den unterschiedlichen (inkl. der nachgeholten Zeugenaussage von stud. Jürgens: vier) Darstellungen ein justiziabler Sachverhalt destilliert werden kann.
Vgl. Anhang D . Nach der Akte im NSA Wolfenbüttel: Alt , Bl. f.
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3 Rekonstruktion von Dialogizität und Strategien
Der Stud Jur.Wilhelm Heinr. Christian Prössel aus dem Braunschweigischen gab auf Befragen an: Der Studios. Claudi habe ihm […] gesaget der Stud Overlach hätte von den Blankenburgern übel gesprochen. Er sey darauf mit dem Stud Techmüller Carpzov Claudi u. Knust wieder zurück nach dem Billard gegangen und Overlach gefraget ob er sich des Stud Flöcker annähme? da er doch selber vor einiger Zeit den Stud Flöcker für schlecht gehalten. Der Stud Overlach habe darauf gesprochen: wer Flöcker für einen schlechten Menschen halte sey ein Hundsvott. Er Comparent hätte erwiedert wenn Overlach dergl. noch einmahl sagte, würde er ihm Ohrfeigen geben. Der Stud Overlach habe ihn hierauf mit der Hand an den Kopf und er habe Overlach wiedergeschlagen, da sie denn von den gegenwärt. Sudiosis aus einander gebracht worden. Der Stud Overlach hätte ihn gefraget, ob er die von ihm geführten Reden vom schlechten Betragen dem Stud Flöcker sagen solte: und ob er zu Hause bleibe: er wolte den Nachmittag um 2 Uhr mit Flöcker zu ihm kommen welches er denn auch versprochen; wie aber niemand gekommen, sey er ausgegangen. […] hätte ihn Flöcker Overlach und der Stud Jürgens begegnet: Erster habe ihn befraget: ob er von ihm die schlechten Reden geführt habe? Wie er dies bejahet: hätte Flöcker ihn mit der Hunde Peitsche zu schlagen gedrohet: Comparent hätte erwiedert dies würde er erwarten; Flöcker hätte so dann ihn gefraget ob er gegen 4 Uhr zu Hause wäre und mit ihm nach dem Harbkischen Holtze [Duellstätte, Anm.] gehen und die Sache ausmachen wolte? Comparent habe darüber gelachet, Flöcker mit der Hand zurück geschoben und geantwortet: Er würde sich nie mit einem solchen Menschen, wie er wäre, schlagen. Flöcker hätte sich aufgebracht, vor ihn gestellet und ihn befraget: ob er sich also nicht mit ihm schlagen wolte? Worauf er seine vorige Antwort wiederholet: da denn Flöcker nach dem Stock greifen und ihn damit schlagen wollen, welches aber die andern Studiosi so mit zugegen gewesen, nicht zugegeben hätten. Trat ab. Der Studios. Jur. Joh. Heinr. Overlach vorgelassen gab auf geschehenen Vorhalt an: Er habe dem Stud. Claudi vorgehalten: Es sey schlecht: daß ihrer viere einem auf die Stube gegangen wären und ihm [Floeckher, Anm.] eine Forderung abzwingen wollen. Der Stud Prössel habe ihm vorgehalten warum er sich des Stud. Flöcker annähme: Sie wären darüber in Wortstreit gerathen: Er habe gesagt wer von Flöcker schlecht spreche sey ein Hundsvot: Prössel hätte darauf mit Ohrfeigen geben gedrohet: da er dann Prösseln eine Ohrfeige gegeben und Prössel wieder auf ihn eingeschlagen hätte, und so wären sie auseinander gebracht worden. Das übrige leugnet derselbe alles, und provociret auf die Stud Carpzov, Teichmüller und Knust. Trat ab.
3.1 Vernehmungen bei schwebender Duellforderung
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Der Stud Jur Flöcker vorgelassen: gestehet: daß er auf erhaltene Nachricht von dem Stud Overlach den Stud. Prössel auf der Straßen über die geführte Rede constituiret: und da dieser es gestanden, gegen ihn gesprochen: So wäre er werth ihn zu peitschen, weil aber solches nicht schicklich, so wolte er um 4 Uhr zu ihm kommen und sich näher erklären: Gestehet auch, nach Jürgens Stock gegriffen aber nicht erhalten zu haben. Vom Harbkischen Holtze sey nichts vorgefallen.
Die sprachlichen Aktivitäten des Vernehmenden bleiben weitgehend im Hintergrund. Einige sind aber doch in typenhaftem Umriss zu rekonstruieren. Bei der Aufspürung ‚verschütteter‘ Gesprächsbeiträge kann man sich für den Kommunikationstyp Vernehmung von folgender Faustregel leiten lassen: Ausdrücke, die initiative, direktive, den Dialogpartner zu einer verbalen Reaktion verpflichtende Gesprächsakte bezeichnen, lassen auf adäquate Reaktionen des Partners schließen, und umgekehrt deuten Bezeichnungen reaktiver oder defensiver Akte auf entsprechende Initiativakte der anderen Seite. Die institutionstypischen, stereotypen Initiativen, insbesondere Fragehandlungen („auf Befragen“), sind immer vorauszusetzen, auch wenn sie nicht im Protokoll erscheinen. Manche solcher Ausdrücke deuten auch den Inhalt der Initiative an („auf geschehenen Vorhalt“). Auf Seiten des Vernommenen lassen Bezeichnungen defensiver oder konzessiver Gesprächsakte („leugnet“, „gestehet“) auf entsprechende Nachfragen oder Appelle des institutionellen Situationsmächtigen schließen. Die Wahl der indirekten Redewiedergabe⁶ für die Ebene des kommunikativen Austauschs der Kontrahenten untereinander hat aus handlungsanalytischer Sicht sogar den Vorteil, dass die redeeinleitenden Ausdrücke oft den Gesprächsakt bezüglich seiner Illokution spezifizieren: „vorgehalten“, „befraget“, „erwiedert“. Auch andere, komprimierte Formen der Redewiedergabe lassen Illokution und Inhalt des Gesagten teils wörtlich erkennen bzw. rekonstruieren: „habe von den Blankenburgern übel gesprochen“, „welches er denn auch versprochen“, „wie er dies bejahet“, „mit Ohrfeigen geben gedrohet“, „über die geführte Rede constituiret“, „da dieser es gestanden“. Es ist also eine Annäherung an die Dialogizität der Vernehmung wie auch der originären Auseinandersetzungen über den manifesten Protokolltext hinaus in kontrollierten Schritten möglich. Dem vorigen Beispielfall in der Protokolliertechnik sehr ähnlich sind die Vernehmungen Heinrich Heines und Wilhelm Wiebels vor dem Göttinger Universitätsgericht im Jahre 1820. Der nach den Vorinformationen des Gerichts stärker Belastete (Heine) wird zuerst vernommen, dann der Kontrahent, und beide werden zwecks Versöhnung persönlich zusammengeführt. Eine zusätzliche Subroutine wird aktiviert
Direkte Redewiedergaben, zusammen mit indirekten, sind in den Universitätsprotokollen des . Jahrhunderts nicht selten.
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3 Rekonstruktion von Dialogizität und Strategien
mit dem hypothetischen Vorgriff auf die Vernehmung unter Eid, ein Test, der sich als sehr wirksam für die Wahrheitsfindung erweist. Insgesamt sind an dem Verfahren bemerkenswert die intensiven und nach mehreren Anläufen letztendlich auch von Erfolg gekrönten Schlichtungsbemühungen der Universität – Bemühungen allerdings weniger aus Wohlwollen gegenüber den Klienten als vielmehr im Interesse der Wahrung des guten Rufs der Universität nach außen. Wie aus den Akten hervorgeht, war den Professoren die Bedeutsamkeit des Verfahrens bewusst, denn es handelte sich um einen Präzedenzfall nach der Novellierung der Universitätsgesetze. Zitiert sei das letzte Drittel des Protokolls der ersten Sitzung:⁷ Wiebel ward wiederherein gerufen, und gefragt, ob er eidlich erhärten könne, 1, er sey nicht auf Pistolen gefodert worden, worauf er erwiederte, er sey auf Pistolen gefodert worden. 2, ob er nicht Zeit und Ort des Duells bestimmt habe, worauf er erwiederte, er habe die Gegend Münden zum Duellorte bestimmt gehabt, und dies durch Graf Ranzau Heine’n sagen lassen. 3, daß er den nicht kenne, durch den er gefodert worden, könne er eidlich erhärten. Vorgel.[esen] genehm.[igt] und entl.[assen] Heine ward vorgelassen u gefragt: ob er eidlich erhärten könne, den nicht zu kennen, durch den er Wiebel fodern lassen,worauf er erwiederte, eidlich könne er dies nicht erhärten, und er bitte, da er sonst in Allem die Wahrheit gesagt, daß ihm die Angabe dieses erlassen werde. Auf Zureden gestand er, Fallender heiße derselbe. Vorgel. genehm. u entl. Heine ward wieder hereingerufen u gefragt, ob er zufrieden sey, wenn Wiebel hier vor der Deputation erkläre, er habe ihn in Hitze beleidigt, worauf er erwiederte: Ja, dann sey er zufrieden. Entl. Wiebel hereingerufen u befragt, erwiederte, er erkläre hiermit, daß er in Hitze den beleidigenden Ausdruck [„bey Tische“ am Rande zugesetzt] gebraucht habe. Heine ward vorgelassen, Wiebel erklärte nun aber, daß er öffentlich bey Tische den Ausdruck [„Schweinerey“] gebraucht, habe er in Hitze gesagt, den Ausdruck selbst habe er aber nicht in Hitze gesagt, sondern absichtlich gewählt, weil Heine früher denselben Ausdruck gebraucht habe, und er könne daher nicht erklären, daß er in Hitze jenen Ausdruck gebraucht habe. Heine ward entlassen. Wiebel blieb auf wiederholtes Zureden bey seinem Vorsatz, das könne er nicht erklären. Das versichere er aber auf Ehre, daß er durch jenen Ausdruck kein Pistolenduell veranlassen wollen, und er werde auch, weil er seine Schuldigkeit gethan, und widerrufen habe, keine Herausforderung von Heine annehmen. Entl. Beyde wurden wieder vorgelassen, und ihnen bey geschärfter Relegation alle Thätlichkeiten gegen einander untersagt, und ihnen eröffnet, daß die Sache weiter untersucht werden solle. Entl.
Nach der Akte im Göttinger Universitätsarchiv Ci/CXXVII (. Dez.). Das Protokoll der fortgesetzten Vernehmungen ist (bis auf einen Schlusspassus) abgedruckt in: Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen, hrsg. v. M. Werner, Hamburg , S. – .
3.2 Politische Ausforschung eines Burschenschafters
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Das Protokoll ist als Verlaufsprotokoll angelegt und markiert nicht nur die Szenengrenzen, sondern konturiert sogar die einzelnen Gesprächsschritte (z. B. Frage-Antwort-Sequenzen), deren Handlungsgehalt (Illokution, Proposition) präzis erfasst erscheint. Auffällig ist allerdings hier wiederum die Formelhaftigkeit (Gleichförmigkeit und hohe Wiederholungsrate) der illokutionsanzeigenden Ausdrücke, besonders auf Seiten der Institution: „auf Befragen“ (4mal), „gefragt“ bzw. „befragt“ (3mal) „auf Vorhalt (und Zureden)“ (5mal), „auf (wiederholtes) Zureden“ (2mal), während auf Seiten der Vernommenen im Vergleich zum vorigen Protokoll das Spektrum der Redeeinleitungen reichhaltiger ist: „er bitte“, „gestand er“, „er erkläre hiermit“, usw., allerdings immer beschränkt auf die kommunikative Ebene der Vernehmung. Sowohl der Institutionsvertreter als auch beide Klienten gestatten sich gewisse Freiheiten hinsichtlich der konventionellen Rollen in einer Vernehmung. Der Prorektor ist nicht nur Vernehmender und Gerichtsvorsitzender mit dem Ziel der Urteilsfindung, sondern auch Unterhändler mit dem Ziel einer gütlichen Einigung der Klienten. Der besondere Status des Versöhnungsversuchs im Anschluss an die eigentliche Vernehmung erhellt auch aus dem Verzicht auf eine Ratifikation dieser Prozedur durch die Klienten. Heine bleibt nicht bei der für Vernommene charakteristischen (Selbst‐)Beschränkung auf Sprachhandlungen reaktiven Typs. Seine Bitte um Erlass einer Personennennung, argumentativ gestützt durch den Hinweis auf erbrachte Vorleistungen, wird erwartungsgemäß zurückgewiesen. Wiebel erlaubt sich im Vorfeld des zitierten Ausschnitts zwei manifeste Lügen, die er auf verschärfte Befragung hin korrigiert. Da aber bei Vernehmungen in solchen Konfliktfällen häufig Aussage gegen Aussage steht, sind Lügen hier zu den erfolgversprechendsten und daher wohl schon konventionell zu nennenden taktischen Manövern zu rechnen.
3.2 Politische Ausforschung eines Burschenschafters Politischen Vernehmungen nach dem Wartburgfest von 1817 wurde auf Betreiben Preußens zunächst der „Haufen verwilderter Professoren“ in Jena,⁸ nach der Ermordung Kotzebues durch den Studenten Sand (1819) verstärkt auch der Kreis der führenden Burschenschafter wegen des Verdachts revolutionärer Bestrebungen unterzogen. Die folgenden Textausschnitte entstammen der fünften von insgesamt
Vgl. H. Tümmler: „Ein Haufen verwilderter Professoren …“. Die Vernehmungsprotokolle über die Teilnahme jenaischer Professoren am Wartburgfest , in: Darstellungen und Quellen, Bd. , Heidelberg , S. – .
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3 Rekonstruktion von Dialogizität und Strategien
sieben Vernehmungen des neunzehnjährigen stud. jur. Anton Haupt vor dem Kuratorium der neu gegründeten preußischen Universität Bonn im Jahre 1820.⁹ Zum besseren Verständnis der verhandelten Thematik und der situationellen Voraussetzungen sei bemerkt, dass Haupt unter Stadtarrest stand und im zweiten Verhör, nach Beschlagnahme und Auswertung seiner persönlichen Papiere, eingestanden hatte, Mitglied des sog. „engeren Vereins“ mit politischer Tendenz unter der Jenaer Burschenschaft in den Jahren 1818/19 gewesen zu sein. (1) Bestimmen Sie mir noch einmal gefälligst den Zweck des engern Vereins zu Jena. Er bestand darin, sich über die gemeinsamen Grundsätze, welche die Einzelnen im handelnden Leben leiten sollten, zu verstehen. (2) Diese Grundsätze scheinen doch durch Moral und Religion hinlänglich bestimmt; was führte denn ein weiteres Bedürfniß solcher Entwicklungen herbey? Der gefühlte Antheil, den auch die Jugend an dem öffentlichen Leben nehmen müßte, und den ihm die letzten kriegerischen Jahre auch schon zugestanden hatten.[…] (4) Da das Streben nach Grundsätzen, welche für alle gemeinschaftlich im handelnden Leben leitend seyn sollten, der eigentliche Anlaß des engern Vereins gewesen ist, so mußte nothwendig das Verhältniß des Bürgers zu der Staats-Regierung, welche diese Grundsätze nicht anerkannte, und vielleicht als gefährlich verbot und verfolgte, zur Sprache kommen; es scheint daher erstes Bedürfnis gewesen zu seyn, einen Grundsatz festzusetzen, welcher von allen, die ihr Handeln in Uebereinstimmung setzen wollten, in dem Fall eines solchen Conflicts zwischen dem Staatswillen und der Ansicht des Einzelnen befolgt werden sollte. Ist ein solcher Grundsatz festgesetzt worden? Nein. (5) Zur Sprache muß dieser Gegenstand doch gekommen seyn? Allerdings: auch war dieß der Haupt-Grund der Verschiedenheit der Meinungen in dem Verein; indem einige durchaus nur in dem Umsturz des Bestehenden die Möglichkeit eines gemeinsamen Wirkens für das als das Beste Anerkannte finden wollten, Andre dagegen nur in dem ruhigen Fortbilden der Ideen, die sie der Zeit angemessen hielten, das Heil suchten. (6) Dieß scheint vollkommen zu bestätigen, was die Staats-Zeitung nicht verhehlt hat, daß das Bedürfniß einer Revolutionierung von Deutschland in dieser Gesellschaft ausgesprochen, und selbst die Mittel dafür berathen wurden. Dieß Bedürfniß ist allerdings von Einzelnen ausgesprochen, aber nie von Allen
Nach G. Steiger: Ideale und Irrtümer eines deutschen Studentenlebens, Jena , S. – .
3.2 Politische Ausforschung eines Burschenschafters
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anerkannt worden; die Berathung über die Mittel, eine solche Revolution herbeyzuführen, konnte daher nie im Rahmen der Gesellschaft Statt finden.[…] Erinnern Sie sich nicht gewisser Vorträge des Dr. Follenius u. des Studiosus Witte, in welchen von der Nothwendigkeit und Nützlichkeit einer, auf die Veränderung der Regierungs-Formen in Deutschland gerichteten, Revolution die Rede war? Es mögen solche Vorträge gemacht worden seyn; aber eines einzelnen erinnere ich mich nicht. Hieraus scheint man schließen zu dürfen, daß dieser Gegenstand in der Gesellschaft gar nichts Auffallendes mehr hatte? Ich kann mich hier blos auf das beziehen, was ich schon oben über die Verschiedenheit der beyden Haupt-Ansichten über die Nothwendigkeit oder nicht Nothwendigkeit einer Revolution von Deutschland geäußert habe. Follenius und Witte gehörten ohne Zweifel zu denjenigen, welche an diese Nothwendigkeit glaubten? Aus ihren Äußerungen muß ich es beynahe schließen. Wer gehörte noch weiter zu den Bekennern dieser Ansicht? Ich glaube allerdings, daß diese Ansichten auf den ersten Wurf mehr Beyfall gefunden haben, als nach deren Erörterung. Bey dem Wechsel, der in diesen Ansichten Statt gefunden hat, kann ich wirklich niemand anführen, von dem ich glauben könnte, daß jene Nothwendigkeit einer Revolution durchaus fest in seinen Ueberzeugungen gegründet war. Wurden Sie selbst auch von diesem Glauben an die Nothwendigkeit einer Revolution befangen? So lang‘ ich mich erinnern kann, deutlicher nachgedacht zu haben über diese Nothwendigkeit, bin ich immer einer von denjenigen gewesen, welche gegen solche Ansicht gesprochen haben. Dieß scheint doch anzudeuten, daß diese Ansicht wenigstens auf den ersten Wurf etwas Blendendes für Sie hatte? Es mag seyn, daß ich in irgend einem jugendlichen Rausch mich auf Augenblicke von dieser Ansicht hinreißen ließ; in dem Vereine selbst habe ich aber immer gegen sie gesprochen.
Das Gesprächsnotat lässt, im Vergleich zu den vorigen Beispielfällen, kaum noch Wünsche hinsichtlich der Dialogizität offen, besonders wegen der durchgängig direkten Redewiedergabe. Das zentrale Problem der brisanten Vernehmung liegt aus gesprächsanalytischer Perspektive in den Strategien der Interaktanten. Unter dieser komplexen Leitfrage sind die eingangs entwickelten Analyseaspekte gewissermaßen zu integrieren.
4 Institution und Klient – Strategien und Gegenstrategien Für den Kommunikationstyp Vernehmung kann man auf Seiten des Klienten wie des Agenten je fünf, wechselseitig aufeinander bezogene Strategien unterscheiden:¹⁰ (1-a) Der Klient ist normalerweise an einem unauffälligen Verlauf der Vernehmung interessiert; er zeigt daher zumindest an der Oberfläche Bereitwilligkeit zu kommunikativer Kooperation, indem er z. B. auf alle gestellten Fragen eingeht (Strategie der Kooperation). (1-b) Der Agent, auf die Kooperation des Klienten angewiesen, steuert den Interaktionsmodus entsprechend, z. B. durch freundliche Formulierung seiner Fragen (Strategie der Kooperationsförderung). (2-a) Aus dem Bewusstsein, dass offenkundige Unvollständigkeit von Angaben, tangentiale Antworten, der Abbruch einer begonnenen Erzählung u. ä. einen unvorteilhaften Eindruck machen, sucht der Klient seiner Gesprächsbeiträge inhaltlich abzurunden (Ausfüllungsstrategie). (2-b) Der Vernehmende wird darüber hinaus alle ihm nötig erscheinenden Informationen, etwa durch insistierende Zusatzfragen, zu erreichen suchen (Vervollständigungsstrategie). (3-a) Der Klient sucht Widersprüche zwischen seinen Aussagen zu vermeiden bzw. durch Hilfskonstruktionen Lücken und Widersprüchlichkeiten in seinen Aussagen zu verdecken (Strategie der Konsistenzwahrung). (3-b) Der Agent wird festgestellte Widersprüche dazu nutzen, weitere Informationen hervorzulocken, z. B. durch Vorhalt früherer Aussagen (Diskrepanzaufweisstrategie). (4-a) Der Vernommene wird monierte Widersprüche oder auftretende Verdachtsmomente durch Zusatzerklärungen ausräumen und damit seine Glaubwürdigkeit retten wollen (Harmonisierungsstrategie). (4-b) Bei solchem Stand der Interaktion greift der Vernehmende zu Verunsicherungs- und Einschüchterungsmanövern, um weitere Diskrepanzen zu provozieren und evtl. ein Geständnis zu erwirken (Verstrickungs- oder Zermürbungsstrategie). (5-a) Eine weitere Strategie auf Klientenseite, die wie die Ausfüllungs- bzw. Vervollständigungsstrategie hauptsächlich die Themenbehandlung betrifft, ist
Vgl. die Anregungen bei F. Schütze: Sprache soziologisch gesehen. München , Bd. , S. – ; ferner W. Holly: Der doppelte Boden in Verhören. Sprachliche Strategien von Verhörenden. In: W. Frier (Hrsg.): Pragmatik. Theorie und Praxis. Amsterdam , S. – .
4 Institution und Klient – Strategien und Gegenstrategien
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die Vagheitsstrategie, im Falle 3.2 von Haupt angewandt. Er hält sich offensichtlich mit der Preisgabe konkreter Informationen soweit irgend möglich zurück (vgl. Antwort 12). Demgegenüber arbeitet der Kurator Rehfues mit Suggestivfragen (Frage 5 u. 11), Vergleichen zu Lasten des Vernommenen (Frage 6) und unterstellenden Schlussfolgerungen (Frage 10 u. 14), also mit einer (5-b) Konkretisierungsstrategie, die immerhin das Ergebnis erbringt, dass Haupt zeitweise mit Revolutionsgedanken gespielt hatte (Antwort 14). Rehfues war von dem Direktor der politischen Abteilung des Berliner Polizeiministeriums, Kamptz, aufgefordert worden, Haupt diesmal „genauer als geschehen und so bestimmt wie möglich zu vernehmen“.¹¹ Kamptz hatte auch die Fragekomplexe vorgegeben, die Rehfues allerdings recht frei handhabt.
Steiger (s. Anm. ), S. f.
V Beleidigung und Ehrenwahrung unter Studenten. Analyse eines Interaktionsmusters
1 Gegenstand und Fragestellung Die folgende Untersuchung gilt den interaktiven Sequenzen und insbesondere den sprachkommunikativen Formen der Konfliktaustragung unter den Studenten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in dem durch die Stichworte ‚Ehre – Beleidigung – Satisfaktion (Duell)‘ bezeichneten Bereich. Das Leitmotiv bildet die Frage nach gruppenspezifischen Ausprägungen und historischen Entwicklungen. In diesem Problemkreis tut man als Sprachhistoriker gut daran, rechts-, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte von vornherein mit zu bedenken, denn die unter diesen Aspekten geleistete Vorarbeit anderer Disziplinen ist nicht nur geeignet, der linguistischen Analyse größere Sicherheit zu geben, sondern liefert indirekt auch Hinweise darauf, welche Ergebnisse sprachhistorischer Arbeit von fächerübergreifendem Interesse sein könnten.¹ Um mit dem rechtsgeschichtlichen Aspekt zu beginnen: An der Entwicklung der Rechtstheorie, Gesetzgebung und Gerichtspraxis ist zu ersehen, dass die Injurienproblematik in dem genannten Zeitraum einen ungleich höheren gesellschaftlichen Stellenwert besaß als heute. Man wird daher in den überlieferten Spuren des Handelns der historischen Personen nicht allein Realisierungen alltagsweltlicher bzw. gruppenspezifischer Muster und Strategien sehen, vielmehr immer auch mit einem mehr oder minder ausgeprägten Wissen um die rechtliche Qualität des jeweiligen Handelns, sogar um dessen mögliche institutionellrechtspraktische Konsequenzen rechnen können. Auf diese besondere Bewusstseinsstruktur der Handelnden hat sich der interpretatorische Ansatz einzurichten. Der mentalitätsgeschichtliche Aspekt ist mit dem rechtsgeschichtlichen Aspekt gekoppelt über die juristische Definition der Beleidigung als Angriff auf das
Die Literatur zum Duellwesen ist sehr umfangreich. Zu den rechtsgeschichtlichen Aspekten vgl. die Artikel ‚Ehre‘, ‚Beleidigung‘ und ‚Duell‘ im ‚Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte‘, Berlin ff.; zu den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekten vgl. den Artikel ‚Ehre, Reputation‘ von F. Zunkel. In: O. Brunner/W. Conze/R. Kosellek (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. , Stuttgart , S. – ; K. Demeter: Das deutsche Offizierskorps. Frankfurt /M. , bes. S. ff. ‚Ehre‘; ferner R. Baldick: The Duel. A History of Duelling. London , bes. S. ff. ‚Ritterliche Ehrenwahrung: das Duell‘. Ehrenduelle aus verschiedenen europäischen Ländern sind beschrieben bei A. Kohut: Das Buch berühmter Duelle. Berlin ; bekannte Namen sind etwa Heinrich Heine, Ferdinand Lasalle, Alexander Puschkin. Eine neue Darstellung aus soziologischer Sicht bietet Frevert ; zum studentischen Duell in dem hier betrachteten Zeitraum nur knapp S. – . Verschiedene Duell-Aspekte werden untersucht in dem Sammelband von Ludwig/Krug-Richter/Schwerhoff . Darüber hinaus gibt es Einzeldarstellungen zu Studentenduellen, z. B. R. und E. Kleinert: Alexander Kock (+). Die Geschichte eines studentischen Zweikampfes an der Universität Helmstedt (). In: Braunschweigisches Jb. (), S. – .
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1 Gegenstand und Fragestellung
Rechtsgut der Ehre. Da dieses Rechtsgut in der ständisch gegliederten Gesellschaft jener Zeit ungleich verteilt war,² erscheint die bis in die unteren Schichten reichende Empfindlichkeit in Ehrenangelegenheiten sozialpsychologisch als permanente Aufwärtsorientierung an einem Prestigewert, der nicht nur innerlich gefühlt werden konnte, sondern stets der Manifestation nach außen bedurfte und der sozialen Kontrolle unterlag. Das im Wertcharakter der Ehre enthaltene kompetitive Moment traf in der Emotionalität und Dynamik jugendlichen Gruppenlebens überdies auf besonders günstige Bedingungen der Konfliktauslösung. Für die eigentliche Brisanz in dem Handlungsbereich sorgte nun ein sozial- und kulturgeschichtlich einzuordnendes Phänomen: Das Ehrenduell als – gesetzwidrige – Alternative zum Rechtsweg. Dieser Brauch der privaten Ehrenwahrung war von Italien und Frankreich her im Zusammenhang mit dem Kavaliersideal zunächst in Kreisen des Adels und der degentragenden Offiziere und Hofbeamten verbreitet worden, hatte in Deutschland dann aber besonders unter den Studenten, gleich welcher sozialer Herkunft, eine feste Tradition vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert.³ Durch die Kultivierung einer eigenen Ehrauffassung („Burschenehre“), die Entwicklung eigener Duellformen und auch – wie zu zeigen sein wird – eigener Beleidigungspraktiken bildete sich unter Studenten allmählich ein besonderes Interaktionsmuster heraus, das den Charakter eines Standessymbols gewann mit der Funktion des Anschlusses nach oben und der Abgrenzung gegen Angehörige unterer Schichten, wie z. B. einfache Soldaten oder Handwerksgesellen, die wiederum eigene Konfliktrituale pflegten.⁴ Da der Handlungsspielraum der Studenten durch die ‚Akademischen Gesetze‘ zunehmend eingeengt wurde, konnte dieses Interaktionsmuster umso bedeutsamer sein als Refugium für selbstbestimmtes Handeln („Burschenfreiheit“) einer Gesinnungsgruppe, wobei vom Gebot der Geheimhaltung noch integrierende Wirkungen auf die Gruppe ausgingen. Es liegt in der Logik der sozialen Bedeutung des Interaktionsmusters, dass es in der Hand organisierter Studentenverbindungen auch als Herrschaftsinstrument benutzt wurde, vor dem die Antiduellbewegungen reformerischer Gruppen innerhalb der Studentenschaft (z. B. der „Schokoladisten“ Jena 1791, der
Deutlich etwa im preußischen ‚Landrecht‘ (), . Teil, . Titel, . Abschnitt „Von Beleidigungen der Ehre“. Das Aufkommen der sog. Bestimmungsmensur (die keine wirkliche Beleidigung voraussetzte) in den schlagenden Studentenverbindungen nach änderte nichts an der Fortdauer des Ehrenduells. Im . Jahrhundert wurde im Gegenteil bei schweren Beleidigungen die schärfere Form des Pistolenduells unter Studenten üblicher; vgl. auch Anm. . Vgl. etwa Wissell, Bd. , S. f. zum Zweikampfritual von Schuhmachergesellen um .
1 Gegenstand und Fragestellung
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„Sulphuristen“ Jena 1809⁵) immer wieder kapitulieren mussten, zumal auch die Universitätsbehörden durchaus die Vorteile einer Konfliktregelung durch das Duell sahen, nämlich Vermeidung von öffentlichem Aufsehen und Entlastung von richterlicher Arbeit.⁶ Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung des Interaktionsmusters wird sich auf die ‚Realisate‘ sprachlicher Handlungen in Texten konzentrieren und für deren Verständnis möglichst viel an ‚pragmatischem Kontext‘ heranziehen müssen. Die Arbeit mit dem Konzept ‚Interaktionsmuster‘ sollte dahin führen können, die vage aber fruchtbare These von der „wechselseitigen historischen Verschränkung von Sprache, Kultur und Sozialstruktur“⁷ zu präzisieren. Wo sollte diese „Verschränkung“ gegeben sein, wenn nicht in Sprache, dem allgemeinsten und komplexesten semiotischen System, aktiviert in sprachlichem Handeln, das Bewusstseinsinhalte und damit auch (neue) Wirklichkeit schafft? Das heißt, Kleinarbeit an Texten wird um so relevantere Ergebnisse erzielen, je mehr dabei die Umgangs- und Lebensformen gesellschaftlicher Gruppierungen, ihre Werte, Normen und Mentalitäten, ihre Alltagswelt, ihre institutionellen Bindungen und ihre kulturelle Praxis als Bedingungen u n d Produkte des Sprachhandelns im Blick bleiben. ‚Muster‘ ist in allgemeiner Form zu bestimmen als eine dem konkreten interaktiven Sprachhandeln zugrundeliegende, sozial eingespielte, einem Zweck dienende Organisationsform mit Einstiegs-, Durchführungs- und Beendigungsphase. Es stellt Regeln bereit, wie der Zweck – im konkreten Fall die kooperative Verletzung und Wiederherstellung der Ehrenordnung (Beleidigung und Satisfaktion) – zu erreichen ist; es hat damit eine soziale Entlastungsfunktion, indem es den Planungsaufwand der Handlungsbeteiligten reduziert. Weiterhin kann man dem konkreten Muster den Zweck zuschreiben, das Ehrgefühl beim Einzelnen zu schärfen und die Ehrenordnung als ein Kernelement der ständischen Gesellschaftsordnung zu festigen. Der analytische Fokus liegt auf der sprachkommunikativen Realisierung, im übrigen bleibt aber der Blick auf den Gesamtzusammenhang von sprachlicher, mentaler und ‚äußerer‘ Tätigkeit gewahrt. Bei einem interaktiven und zumal konfliktären Muster ist weiterhin zu berücksichtigen, dass neben musterkonformen, d. h. erwartbaren Handlungszügen auch ir-
Dokumente zur Jenaer Anti-Duell-Bewegung von / („Schokoladisten“) bei Stephani , S. – . Zu den „Sulphuristen“ von vgl. Haupt , S. und die dort genannte Literatur. Über entsprechende Bewegungen in Halle, darunter die von , in welche Karl Immermann involviert war, vgl. Dietz , S. ff. Insgesamt kam nur ein sehr geringer Prozentsatz der Duelle vor das (aus Professoren gebildete) Universitätsgericht; vgl. die Zahlen in Anm. . Zur Praxis des Universitätsgerichts Woeste am Beispiel Marburgs, Brüdermann für Göttingen. Luckmann , S. .
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1 Gegenstand und Fragestellung
reguläre Abzweigungen, Ausstiege oder Blockaden aufgrund diskrepanter Interessen und Strategien vorkommen, deren unüberschaubare Vielfalt nur noch exemplarisch zu erforschen ist. Ein immanenter Gegenwartsbezug kann offensichtlich nur für Teile des Interaktionsmusters (die Anfangsphase) beansprucht werden, doch scheint es mir für die Untersuchung aggressiven Sprachhandelns allgemein ein nicht übel geeigneter Ansatzpunkt zu sein, zumal es gerade auch auf die historisch-soziale Bestimmtheit der Motivik wie der Ausdrucksformen verbaler Aggression führt.
2 Datengrundlage und Vorgehen Aggressiv ausgetragene interpersonale Konflikte sind empirisch schwer zugänglich. Die Beschaffung geeigneter Materialien für eine Analyse ist schon in der Gegenwart ein Problem; es kann aber durch die systematische Erzeugung von Konflikten im Experiment und durch die modernen Aufnahmetechniken teilweise entschärft werden. Bei historischer Arbeit ist die Primärebene der konkreten Interaktion direkt nur dann zu erreichen,wenn dort (auch) schriftlich kommuniziert wurde. In der Tat liegen für diese Handlungsebene Schriftstücke von der Hand der Kontrahenten vor, aus verschiedenen Phasen der Interaktion und mit entsprechend unterschiedlichen Zweckbestimmungen, günstigstenfalls sogar in sequentiell-dialogischer Verknüpfung. Was für ein angemessenes Verständnis dieser Texte an pragmatischem Kontext fehlt, ist oft in ausreichendem Maße aus den Injurien- und Disziplinarakten der Universitätsgerichte zu gewinnen, denen solche Billets aus der Privatkommunikation gelegentlich als Beweismittel beiliegen. Auf der Sekundärebene der gerichtlichen Untersuchung sind es vor allem die Protokolle zu den Vernehmungen der Kontrahenten bzw. der Handlungsbeteiligten und sonstigen Zeugen, die besonders nahe an die zentralen Stellen der Aktualkommunikation heranführen, denn oftmals enthalten sie erinnerte Wortwechsel und die erfragten, weil juristisch zu bewertenden Injurien. Diese Protokolle wurden in der Regel im Universitätsgericht simultan zur Vernehmung verfasst und vom Vernommenen ratifiziert, es sind also Dokumente von hohem Authentizitätsgrad. Außerdem können den Akten schriftliche Eingaben der Kontrahenten beiliegen, etwa Klage- oder Rechtfertigungsschriften, beiderseitige Sachverhaltsdarstellungen auf Verlangen des Gerichts, Gesuche um Strafmilderung u. a.m. Umfang und Zusammensetzung des Aktenmaterials variieren natürlich je nach Fall; die Dokumentationen sind jedoch, vom Universitätssekretär ausgeführt und vom Professorengremium überwacht, inhaltlich und formal in der Regel so beschaffen, dass die Interaktionen der Kontrahenten auch in Detailaspekten erkennbar werden. Gerichtsakten sind allgemein für sprachpragmatische Mikroanalysen auch insofern ein ergiebiger Quellentyp, als sie die historischen Subjekte selbst bei dem Versuch zeigen, einen komplexen Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven und Interessenlagen zu rekonstruieren, auf Begriffe zu bringen und zu bewerten. Der moderne Interpret sieht sich mit einer Mehrzahl vorgängiger Deutungen konfrontiert, er kann vergleichen und hat aus seiner Perspektive nicht selten einen besseren Überblick als mancher der Prozessbeteiligten. Obwohl die Aktenbestände der ehemaligen Universitätsgerichte also einen denkbar reichhaltigen Materialfundus darstellen, sind bei diesem Quellentyp doch auch einige Beschränkungen zu beachten. Zunächst ist festzustellen, dass bloße Verbalinjurien zwischen Studenten selten vor das Universitätsgericht kamen. Ein
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2 Datengrundlage und Vorgehen
Grund, das Gericht zu bemühen, lag in aller Regel erst in den späteren Etappen konfliktärer Interaktionen vor, etwa nach Tätlichkeiten oder bei schwebender Duellforderung. Die Ermittlungen sind daher auf solche gravierenderen Vorkommnisse konzentriert, während die sprachkommunikative Anfangsphase der Eskalation nur zum Verständnis des Ist-Standes nachgefragt wird. Dieses Defizit des Quellentyps lässt sich generell einigermaßen ausgleichen durch Heranziehung von Briefen, Tagebuchnotizen oder Autobiographien der Beteiligten, vor allem aber durch den naheliegenden Rückgriff auf literarische Werke, etwa Dramen oder Romane aus dem Studentenmilieu, die ja immerhin konversationelle Muster ihrer Zeit vorführen, wenn auch mehr oder minder stilisiert. Eine andere Beschränkung der Gerichtsakten resultiert aus der Inkompatibilität des studentischen Ehrenkodex mit den Rechtsnormen, die in Gestalt der Anti-Duell-Edikte und der Akademischen Gesetze von Seiten des Landesherrn und der Universität zu vertreten waren. Da selbstverständlich die kodifizierten Rechtsnormen die Bewertung der Fälle und den Urteilsspruch bestimmten, waren im Bewusstsein aller Handlungsbeteiligten bereits bei der Sachverhaltsdarstellung eigentlich nur die Aspekte relevant, die Einfluss auf die institutionelle Bewertung hatten. Das spezifisch studentische Verständnis von Ehrenwahrung oder Ehrverlust in der Gruppe hatte vor Gericht keine Aussicht auf rechte Würdigung⁸ und kommt demgemäß in den Akten kaum offen zum Ausdruck; das gruppenspezifische Normensystem müsste indirekt aus den Interaktionsverläufen erschlossen werden, mit allen Konsequenzen der Unsicherheit. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kommt jedoch ein Quellentyp hinzu, der die Datengrundlage in diesem Punkt entscheidend verbessert: die Studentenverbindungen beginnen, zunächst an ostmitteldeutschen Universitäten, ihre tradierten Regeln und Normen ehrenhaften Handelns in sog. Komments zu kodifizieren. Diese ersten geschriebenen Komments sind Vereinbarungen zwischen den lokalen Verbindungen insbesondere über das Prozedere bei Verletzungen der persönlichen bzw. der korporativen Ehre, setzen also Rechtsnormen eigener Art, zu denen prinzipiell der Duellzwang gehört. Das älteste bekannte Beispiel ist der Jenaer „Burschen=Comment“ von 1791.⁹ Schon vor Beginn dieser gruppeninternen
Dieser Umstand ist sicher der Hauptgrund dafür, dass den gerichtlich verhandelten Injurienfällen relativ selten Klagen auf Satisfaktion zugrundelagen, sondern in der Regel Denunziationen Dritter (z. B. versprach Art. IX des Jenaer Duell-Mandats von Belohnung und Anonymität bei „denunciiren“; die ‚Akademischen Gesetze für die Studirenden‘, Helmstedt , Art. XVII, sichern dem „Angeber“ Vertraulichkeit zu) oder verdeckte Selbstanzeigen bei schwebender Duellforderung. Letztere Möglichkeit nennt ausdrücklich List , S. f. Es versteht sich, dass die formelle Versöhnung vor dem Universitätsgericht die Kontrahenten nicht wirklich zufriedenstellen konnte. Es handelt sich um einen offenbar authentischen Text, den der Gothaer ‚Anzeiger‘ als abschreckenden „Burschen=Comment“ auszugsweise abdruckte (. Bd. , Nr. , Sp. –
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Schrifttradition zeichnet die 1780 unter dem Pseudonym Martial Schluck erschienene, wiederholt aufgelegte und auch ins Deutsche übersetzte Scherzdissertation ‚De Norma Actionum Stvdiosorum sev von dem Burschen=Comment’¹⁰ ein breites Panorama der studentischen Subkultur und begründet damit einen weitgefassten Begriff von Komment, der neben dem engen, zunächst nur die Ehren- und Duellordnung umfassenden Begriff fortdauerte,¹¹ hier aber außer Betracht bleiben kann. Angesichts der geschilderten Datenlage verspricht ein vergleichendes Vorgehen, gestützt in erster Linie auf die originär studentischen Texte, d. h. die Billets und Eingaben im Aktenkontext einerseits und die Komments andererseits, die größte Annäherung an die kommunikative Realität im Studentenmilieu. Das Regelsystem des Komments führt bei der Untersuchung konkreter Fälle oft zu sachgemäßen Kategorisierungen, es hilft manche Nuance zu erschließen, die sonst unbemerkt bliebe. Kommentkonformes Handeln lässt sich auf dieser Grundlage von dem Handeln unterscheiden, das von anderen Regeln und Strategien geleitet oder einfach kopf- und orientierungslos ist. In einem ersten Schritt ist daher das normative Interaktionsmodell des Komments im Gesamtumriss zu rekonstruieren und darzustellen, welche Rezepte es bietet für die Bewältigung der sprachkommunikativen Aufgaben in Konfliktsituationen. Es schließen sich detaillierte Fallanalysen an mit dem Ziel, die Handlungs- und Sinnkonstitution an den entscheidenden Stellen des Geschehens differenziert zu erfassen. Hierfür steht das Kommentmodell als Interpretationshilfe bereit, doch wird stets die Anwendbarkeit und Reichweite dieses Modells zu kalkulieren sein, zumal bei konkreten Interaktionen mit verschiedenen intervenierenden Deutungsmustern gerechnet werden muss. Unter Einbeziehung auch der übrigen Quellengruppen werden sodann einige als rekurrent und insofern typisch erkannte Sprachhandlungsformen vorgestellt, insbesondere solche, die der Auslösung und Eskalierung des Konflikts dienen. Abschließend soll die Leitfrage nach der Gruppenspezifik der Konfliktaustragung unter Studenten noch einmal in einem größeren Rahmen aufgenommen werden.
in Fußnote). Vollständig erscheint der Text bei Turin , S. – , dort beschrieben als eine „Norm“ bzw. eine „förmliche Urkunde“, zuletzt vereinbart zwischen den „Orden und Landsmannschaften“ in Jena; danach bringt Fabricius , S. – , den Text als frühesten „SC-Komment“. In den er Jahren wurde der Gegensatz zwischen den beiden Verbindungstypen, Orden und Landsmannschaften, an fast allen Universitäten immer schärfer. Schluck . Den weiteren Begriff legt auch Augustin seiner Darstellung „Der Burschenkomment in systematischer Ordnung“ (S. – ) zugrunde.
3 Das Interaktionsmodell des Komments 3.1 Zu Sinn und Zweck von Kommentregeln Die Entwicklung und schließlich Kodifizierung von Kommentregeln ist zu verstehen als Versuch, den in Ehrenhändel Verstrickten Orientierung und Handlungssicherheit zu verschaffen. Dieser lebenspraktische Zweck der Vorgaben des Komments sei kurz verdeutlicht am Beispiel von Interaktionsproblemen, wie sie in einem unterhaltsamlehrhaften Büchlein mit dem Titel ‚Der verthädigte Hundes-Voigt‘ von 1735 geschildert werden.¹² Zu jener Zeit dürften Kommentregeln eine noch recht rudimentäre, unfeste Form gehabt haben. Der geschilderte Fall steht repräsentativ für den permanenten Gruppenkonflikt zwischen Studenten und Offizieren. Der Student Philomusa wird von dem Offizier Perforce im Wirtshaus zum Nachtrinken („Bescheid thun“) gedrängt, verweigert dies aber unter Berufung auf eine kurz zuvor getroffene Vereinbarung („keinesweges nöthigen“). Perforce sieht sich brüskiert („unhöflich“), beschimpft Philomusa („Hundsvott“, „Canaille“) und bewirft ihn mit dem gefüllten Weinglas. Dieser wehrt sich mit einer „Ohr-Klappe“ und behält bei einer auf der Straße fortgesetzten „Balgerey“ ohne Waffen die Oberhand. Am nächsten Morgen fordert Perforce über einen Dritten von Philomusa „gebührende Satisfaction“. Philomusa weist die Forderung zurück mit der Begründung: „da er zuerst geschimpffet hat, so will er über dieß damit noch nicht zufrieden seyn, sondern kehret anderer ihre Gewohnheit um. Er solte warten, bis ich ihm ausfordern liesse; so will er mich ausfordern lassen.“¹³ Die Interaktionskrise ist unter dem Aspekt der Handlungsorganisation so zu beschreiben, dass zwischen den Aktanten das Recht strittig ist, einen an sich (vom Typ und von der Position im Interaktionsprozess her) konventionellen Handlungszug zu initiieren. Liegt das Recht bei dem, der zuerst, oder bei dem, der am meisten beleidigt worden ist? Philomusa räumt überdies – nur um sich Perforces Aggression erklären zu können – die Möglichkeit ein, Perforce im Vorfeld der akuten Auseinandersetzung „ohnwissend beleidiget“ zu haben. Das führt auf die verstehenstheoretisch zentrale Frage nach dem Spielraum für die Kategorisierung eines sprachlichen oder nicht-sprachlichen Tuns (oder Unterlassens) als einer Handlung dieses oder jenes Typs – ein Spielraum, der in konfliktärer Kommunikation taktisch-strategisch ausgenutzt werden kann, indem gezielt Ausdrücke gewählt werden, deren begriffliche Implikationen den weiteren Gang der Kommunikation zu steuern und den Gegner zu manipulieren geeignet sind. Was also soll überhaupt als ‚Beleidi-
‚Hundes-Voigt‘ . Ebd. S. .
3.2 Der Jenaer Komment als Taktgeber
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gung‘ gelten und welche Folgehandlungen rechtfertigen? Ein für beide Parteien akzeptables Prozedere scheint nur gesichert, wenn entweder die gemeinsam zurückgelegte Interaktionsgeschichte so ausgeprägte Strukturmerkmale aufweist, dass verschiedene Auslegungen schlicht unmöglich sind, oder andererseits zur sozial-kommunikativen Kompetenz beider Aktanten ein starkes Interpretationsmodell gehört, das verwickelte Sachverhalte jederzeit ‚objektiv‘ auflöst. Der Fall zeigt, dass bei ausgedehnteren Streitigkeiten unterschiedliche Interpunktionen der Ereignisfolge¹⁴ ein divergentes Verständnis des Interaktionsstandes und damit zusätzlichen Konfliktstoff mit der Tendenz zur Verselbstständigung erzeugen. Die wichtigsten Normierungsaufgaben können demnach so formuliert werden: (1.) Die Auseinandersetzung muss auf ein Minimum begrenzt und damit übersichtlich gestaltet werden. (2.) Bestimmte Ausdrucksformen des Handelns müssen für bestimmte Stufen der Eskalation so definiert werden, dass auf sie hin die Duellforderung erfolgen darf bzw. erfolgen muss.
3.2 Der Jenaer Komment als Taktgeber Als Grundlage für die Darstellung des Interaktionsmusters in einer standardisierten und normativen Form wähle ich den Jenaer Komment, wie er 1809 und mit Änderungen nochmals 1812 von den dort existierenden Landsmannschaften vereinbart wurde. Diese Wahl ist gut zu begründen: (a) Der Jenaer Komment war schon in der Phase seiner mündlichen Tradition das Leitbild für ein „honoriges“ Burschenleben; (b) die Fassung von 1809/12 begründet für Jena – nach dem folgenlosen Vorläufer von 1791¹⁵ – die Tradition des geschriebenen Komments; (c) sie zeigt bereits einige reformerische Ansätze und kehrt fast wörtlich wieder als Teil der ‚Verfassungsurkunde der Jenaischen Burschenschaft‘ von 1815; (d) die Version von 1809/12 ist zudem für die Textsorte ‚Komment‘ musterhaft in der Präzision der einzelnen Bestimmungen. Die Darstellung der hier interessierenden Kommentinhalte gliedere ich grob nach den Aspekten, die auch bei den späteren Fallanalysen eine Rolle spielen werden: (1) Soziale Beziehungen der Interaktanten; (2) Organisation des Handlungsablaufs; (3) Angaben zur Handlungsausführung; (4) Formen und Grade des Beleidigens; (5)
Vgl. P. Watzlawick/J. H. Beavin/D. D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. . Aufl. Bern [usw.] , S. ff., f. Unterschiedliche Segmentierungen einer Ereignisfolge führen zu unterschiedlichen Beschreibungs- bzw. Handlungsbegriffen und umgekehrt. Vgl. Anm. .
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3 Das Interaktionsmodell des Komments
Ehrbegriff und Umgangsstil. – Zur Verdeutlichung verschiedener Details ziehe ich nach Bedarf weitere Kommentexte heran.¹⁶
3.3 Handlungsträger und soziale Differenzierungen Das institutionelle Zentrum des Komments ist der „Seniorenconvent“, das aus Repräsentanten der Landsmannschaften zusammengesetzte Gremium. Es ist nicht nur „Ehrengericht in erster und letzter Instanz“, sondern mit absoluter Machtbefugnis ausgestattet: Es „wacht über die Beobachtung des Comments, interpretirt und executirt ihn und sorgt zugleich für die Errichtung neuer Gesetze, wo diese nöthig sind.“ Unter der vollen Kontrolle des Komments stehen nur die eingeschriebenen Mitglieder der Landsmannschaften („Kränzianer“), der Geltungsanspruch der Kommentgrundsätze erstreckt sich aber auf die gesamte Studentenschaft am Ort. Der folgenreichste Grundsatz lautet: „Zu einem ordentlichen Burschenleben gehört, daß Beleidigungen unter den Studenten durch Duell ausgemacht werden“. Kommentkonform verhalten sich auch Nicht-Organisierte („Wilde“, „Renoncen“), sofern sie das Duell akzeptieren. Gegenüber Nicht-Duellierenden und „Schissern“ (wegen unehrenhaften Verhaltens mit der „akademischen Infamie“ Belegten) gilt die Devise: „ihren Umgang möglichst vermeiden“. Studentische Mitglieder sog. akademischer Orden („Ordensbrüder“) erhalten nach den landsmannschaftlichen Komments mancher Universitäten ausdrücklich „keine Satisfaction“ (z. B. Halle 1799, Heidelberg 1806); dabei können aber „auswärtige“ oder „durchreisende“ eine Vorzugsbehandlung erfahren. Als „satisfactionsfähig“ werden erkannt: Studierende an Universitäten (auch gewesene Studenten), Adlige, Offiziere, Hofräte. Diesen Kreisen wird damit ein vergleichbarer Ehrbegriff unterstellt. Gegenüber Angehörigen anderer sozialer Gruppen treten die (organisierten) Studenten im Konfliktfall als Kollektiv und mit anderen Sanktionsformen auf.¹⁷ All diese sozialen Differenzierungen gehen unmittelbar ein in die Regeln kommentmäßigen Handelns.
Alle benutzten Komment-Texte sind im Quellenverzeichnis aufgeführt. Vom Nachweis einzelner Zitate aus den Komments sehe ich aus Raumgründen ab. Gegenüber Stadtbürgern (Wirten, Pferdeverleihern usw.) gab es die Erklärung in den „Verschiß“. Zusammenstöße mit den Handwerksgesellen oder mit dem Militär waren der Grund vieler Auszüge der Studenten vom Hochschulort; vgl. Bahnson und .
3.4 Organisation des Interaktionsverlaufs
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3.4 Organisation des Interaktionsverlaufs Die Konstitutionen der einzelnen Studentenverbindungen (Guestphalia-Jena 1808, Saxonia-Jena 1808, Vandalia-Jena 1811) enthalten auch Vorschriften zur Vermeidung von Beleidigungen und sogar das Verbot von Duellen unter den „Mitbrüdern“ einer Verbindung.¹⁸ Als stets anzurufende Schlichtungsstelle fungieren auf dieser Ebene der „Vorsteher-Convent“ bzw. „General-Convent“. Natürlich wäre es naiv, von der Existenz solcher internen Richtlinien auf ein stets harmonisches Miteinander der Verbindungsbrüder zu schließen; aber man muss davon ausgehen, dass die Masse der Duelle z w i s c h e n den rivalisierenden Verbindungen stattfand. Auf diesen Handlungsbereich, dem auch noch die duellbereiten „Wilden“ zugehören, beziehen sich die Kommentregelungen im eigentlichen Sinne. Die Regelungen für Kollisionen mit – vermeintlichen oder tatsächlichen – Duellverweigerern kann man demgegenüber als Kommentregelungen im weiteren Sinne betrachten. Kommentkonformes Handeln garantiert eine klare Zäsurierung und Sequenzierung der Handlungsschritte, somit erwartbare Interaktionsverläufe. Sind beide Kontrahenten einmal in das Interaktionsmuster eingetreten (und sei es, dass einer hineingezwungen wurde), so greift die Automatik der Eskalation, wenn nicht von dritter Seite Schlichtungsvorschläge kommen, die beiden akzeptabel erscheinen. Der Interpretations- und Planungsaufwand der Aktanten ist minimalisiert: Die Bedeutung der einzelnen Handlungsschritte erhellt nicht nur aus ihrer Position im Muster, sie ist überexplizit gemacht durch die standardisierte Ausführung der Schritte und ihre Anreicherung mit rituellen Elementen (vgl. 3.5). Die einzige nennenswerte Alternative gibt es in der Reaktion auf „zweifelhafte“ Beleidigungen: Entweder kann der präsumtiv Beleidigte verständnisklärend nachfragen lassen („Koramation“, „Konstituierung“) oder gleich mit der höchsten Verbalavantage (dummer Junge) kontern. Schon der Charakter dieser Alternative zeigt die Konfliktorientiertheit des Musters. Hinzu kommt, dass die Verneinung der Beleidigungsabsicht („Revokation“) nach der Verwendung eines im Komment als „leichte“ Beleidigung definierten Ausdrucks nur bei Obwalten ‚mildernder Umstände‘ (z. B. bei Trunkenheit oder bei mangelnder Kenntnis des Komments, wie sie Erstsemestern – „Füchsen“ – zugute gehalten wurde) glaubhaft wirken konnte, und auch nicht angenommen zu werden brauchte. Abbitte („Deprekation“) eines „dummen Jungen“ ist eindeutig eine Ausnahmeregelung. Eine Reihe von Bestimmungen soll für eine geradlinige und rasche Abwicklung der Interaktion sorgen: Weder bei der Koramation noch nach Erteilung des duell-
Guestphalia (): Einst und Jetzt. Jb. Sonderheft , S. – ; Saxonia (ca. ): Ebd., S. – ; Vandalia (): Fabricius, W. (/), S. – , – .
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3 Das Interaktionsmodell des Komments
auslösenden „dummen Jungen“ dürfen weitere Beschimpfungen vorfallen, ebenso wenig während des Duells. Wegabkürzungen sind möglich, indem man etwa auf Koramation verzichtet oder bei den gegen nichtduellierende „Wilde“ erlaubten Tätlichkeiten („Realavantagen“) eine der drei Stufen überspringt. Schließlich macht die Einführung eines Zeittaktes die gesamte Interaktion („Skandal“, „Suite“) auch zeitlich kalkulierbar: Für Koramation, Verbalavantage (dummer Junge) und Forderung („Provokation“) gelten, je vom Vorgängerschritt aus gerechnet, Drei-Tage-Fristen, andernfalls erlischt das Recht auf eine Antwort; das Duell muss nach weiteren 14 Tagen absolviert sein. Am Ende winkt ein schöner Preis: „Durch ein Duell sind die Schlagenden näher miteinander verbunden und per se in Bruderschaft.“ Übrigens ist die Ehrenwahrung des Beleidigten mit der formgerechten Ausführung des Duells garantiert und von dessen Ergebnis prinzipiell unabhängig (Verbot der „Reforderung“). Das Interaktionsmuster ist in hohem Maße von seiner Einstiegsphase her determiniert. Alle entscheidenden Weichenstellungen fallen in der kritischen Zone des Übergangs von spontanem Handeln in kommentgeleitetes Handeln. Nach dem Ablaufmuster könnte man den Eindruck haben, als wechsle mit jedem Handlungsschritt auch die Kommunikationssituation. Tatsächlich lassen die Kommentregelungen die generelle Absicht erkennen, die Kontrahenten von der ersten als ‚Beleidigung‘ interpretierbaren Handlung bis hin zum Duell nur über Mittelsmänner und unter strikter Wahrung der Förmlichkeiten miteinander verkehren zu lassen. Denn die rituelle Überhöhung und damit Würde des Komments kann augenfälliger nicht demonstriert werden. In den Kommenttexten findet man demgemäß nur wenige Angaben über mögliche Sequenzen von Handlungsschritten im Rahmen einer Situation: Jena 1809: „Ein Alter Bursch [i. e. Student im 4. Semester] kann auch selbst fordern.“ Jena 1812: „Ein alter Bursch kann selbst fordern, doch nur gleich nach vorgefallener Beleidigung.“ Jena 1815: „Ein alter Bursch kann selbst fordern, jedoch nur unmittelbar gleich nach vorhergegangener Beleidigung.“ Der Göttinger Komment von 1809 erlaubt: „Jeder darf […] auf der Stelle selbst coramiren“; außerdem sind Avantagen „in der Hitze auf dem Flecke“ gegen „Wilde“ möglich. Nach dem Rostocker Komment von 1812 kann auf eine leichte Verbalinjurie hin entweder Koramation erfolgen, auch „in continenti von dem Beleidigten selbst“, oder Avantage, „jedoch muß sie in continenti geschehen“. Bedenkt man, dass etwa die kommunikative Schrittfolge ‚Anzüglichkeit‘ – ‚Bitte um Erklärung (Koramation)‘ einem alltagsweltlichen Usus entspricht, so ist die Umständlichkeit, mit der im Komment interaktive Zusammenhänge re-etabliert werden, um so auffälliger.
3.5 Ausführung der Handlungsschritte
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3.5 Ausführung der Handlungsschritte Mit dem wachsenden Umfang der Kommenttexte von 1800 bis 1820 werden auch die Bestimmungen über die formale Ausführung der einzelnen Handlungsschritte immer differenzierter. Es ist dabei schwer abzuschätzen, ob die zunehmende Kodifizierung von Förmlichkeiten einer zunehmend formalisierten Praxis deskriptiv folgte oder einer abnehmenden Wertschätzung der Förmlichkeiten entgegenwirken sollte. Kodifizierte Ausführungsregeln gewinnen jedenfalls normative Kraft, und den instituierten Gremien wachsen damit neue Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten zu. Zur Exemplifizierung von Ausführungsregeln gehe ich nur auf die Koramation näher ein. (1) Selbst – Stellvertreter Nach den Jenaer Komments von 1809 und 1812 läßt der präsumtiv Beleidigte „durch einen seiner Landsleute“ koramieren; der Burschenschaftskomment von 1815 scheint sich dem implizit anzuschließen („coramiren zu lassen“). (2) Status des Koramierenden Anders als seine Vorgänger macht der Jenaer Komment von 1815 eine Statusangabe: „wenigstens junger Bursche“ (i. e. Drittsemester). Nach dem Göttinger Komment von 1809 läuft die Koramation über die Senioren der beteiligten Landsmannschaften. (3) Sprachbegleitende Symbolik Neu im Komment von 1815: „Der Coramirende muß […] bey der Coramation mit einer Kopfbedeckung und einem Stocke versehen seyn“. – Auf dieser Kommentstufe gelten für Koramation und Forderung interessanterweise identische Formalitäten, während die Komments von 1809 und 1812 nur bei der Forderung ein Accessoir verlangten („Ziegenhainer in der Hand“). – Aus Halle wird für das Jahr 1827 berichtet, dass ein Koramierender, der ohne Stock eintrat und deshalb ohne Antwort nach Hause geschickt wurde, diese Behandlung als „lächerlich“ qualifizierte, sich vom Seniorenkonvent aber belehren lassen musste.¹⁹ (4) Formulierung der sprachlichen Handlungen Die Koramation ist, als Sprachhandlungstyp gesehen, eine Frage, genauer, als Teil einer institutionellen Prozedur eine Anfrage. Man sollte meinen, dass der Koramierte unabhängig von allen Formulierungsversionen der Anfrage deren Zweck, zumal in der formalisierten Situation, problemlos erkennt und im eigenen Interesse eine präzise Antwort gibt, die nicht wiederum missdeutet werden kann. Dennoch liefern die Komments Formulierungsanwei-
Vgl. König , S. .
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3 Das Interaktionsmodell des Komments
sungen für die Anfrage und die Antwort, überdies Interpretationsanweisungen zu einer bestimmten Antwortformulierung. Im Erlanger Komment von 1802 werden drei Anfrage-Versionen in quasi-indirekter Rede vorgestellt und abgewogen: (a1) „welchen Sinn man [i. e. Koramierter] mit diesem oder jenem gegen ihn [i. e. den präsumtiv Beleidigten] gebrauchten zweideutigen Ausdruck verbunden wissen wolle?“ (a2) „Wie man dieses oder jenes Betragen des Anderen, welches man zweideutig finde, zu nehmen habe?“ (a3) „ob er ihn dadurch [„Zweideutigkeit“] wirklich habe beleidigen wollen oder nicht“. Die Versionen (a1) und (a2) sind aus mindestens zwei Gründen unzweckmäßig: Erstens handelt es sich um den Typ der ‚offenen‘ Frage, der leicht unklare Antworten provoziert. Zweitens wird dem Koramierten das Recht zugestanden, die ausgedrückte Interpretation („zweideutig“) des Koramierenden zu korrigieren – eine Verzerrung der Initiantenrolle des Fragenden, zugleich eine Zumutung für den Befragten. Sind die Versionen (a1) und (a2) auf die Verständnisklärung beim Fragenden orientiert, zielt (a3) auf die Kundgabe der Intention des Befragten. Eine verbesserte Version von (a3) wird mit dem Leipziger Komment von 1808 und dem Göttinger von 1809 zur ‚kanonischen‘ Form: (a4) „ob die gethane Aeußerung Beleidigung seyn soll oder nicht“. Die Vorteile von (a4) liegen auf der Hand: Formuliert ist eine Entscheidungsfrage, die zwei Antwortinhalte, auszudrücken mit „ja“ oder „nein“, als Option vorgibt ohne Andeutung einer Antwortpräferenz und ohne Andeutung eines wertenden Vorverständnisses. Damit wird das Minimalschema einer Frage-Antwort-Sequenz empfohlen, das die Gefahr unerwünschter Komplikationen denkbar gering hält. Doch vor eine solche Alternative gestellt, hat der Gefragte, will er nicht gegen die Basisregel der kommunikativen Kooperativität verstoßen, noch eine Möglichkeit, den Entscheidungsdruck zu parieren: die offenbar beliebte Replik (b) „Man könne es nehmen, wie man wolle.“²⁰ Die Interpretationsaufgabe und Verantwortung wird mit dieser Äußerung, nimmt man sie wörtlich, dem Koramierenden (bzw. dessen Auftraggeber) zugeschoben. Diese Antwortform erwähnen bereits List , S. (Göttingen), Augustin , S. (Halle), ferner Fick , S. (Erlangen) mit dem Zusatz, der so Koramierte „muß es, nach den gewöhnlichen akademischen Begriffen, auf der schlimmen Seite nehmen, und den andern einen dummen Jungen nennen“.
3.5 Ausführung der Handlungsschritte
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Der mit (b) Antwortende lässt, indem er die Option einfach an die koramierende Partei rückadressiert, die in der Situation legitime Erwartung einer bestimmten Antwortform leerlaufen. Das Problem lösen die Komments unterschiedlich: Entweder wird (b) für kommentwidrig deklariert, d. h. verboten (Erlangen 1802, Marburg 1807), oder der Koramierende erhält die Anweisung, diese „unbestimmte Antwort“ als eine (a4) „bejahende“ zu interpretieren (Gießen 1806, Rostock 1812). Die zweite Lösung hat u. a. den Vorteil, dass sie einer Regel der Alltagspragmatik entspricht: Fällt nach einer möglicherweise als Anzüglichkeit einzustufenden Handlung die Antwort auf die vergewissernde Frage für den Fragesteller unbefriedigend aus, so wird der Argwohn zur Gewissheit.²¹ Alltagsregel und Kommentregel gleichen sich auch in der Art, wie sie über ihrem Anwendungsbereich operieren: Auf die Vergewisserungsfrage hin braucht keine explizite Klärung bezüglich der Qualität der problematisierten Anfangshandlung zu erfolgen, vielmehr wird der durch die unklare Antwort erzeugte Affront als Deutungsmittel auf die Anfangshandlung transponiert. Das Risiko, dass durch den kommunikativen Druck der Vergewisserungsfrage ein Konflikt überhaupt erst geschaffen wird, geht der Fragende ein. Dieses Risiko war im Kommentbereich besonders hoch, wie Beispiele zeigen werden, zumal die koramierende Frage (a4) mit dem Begriff der „Beleidigung“ gleich maximalisierend ansetzt. Mit einem Nein auf die Frage (a4) ist die „Sache“ erledigt. Nach den frühen Komments (z. B. Erlangen 1802, Leipzig 1808) heißt diese Sprachhandlung „Revocation“ (dt. „Widerruf“); sie wird gelegentlich auch einer „Ehrenerklärung“ gleichgestellt (Rostock 1812). Die konfliktäre Entwicklung auf diese Weise abzuschließen war jedoch nur möglich, wenn die Regeln des Komments einen Zweifel an der Beleidigungsabsicht zuließen oder die Koramation sogar zwingend vorschrieben. In den ersten burschenschaftlichen Komments (verdeutscht „Ehrenordnungen“) sind die beschriebenen Schritte der Anfrage und Erklärung weiterhin vorgesehen. Mit dem raschen organisatorischen Ausbau der Burschenschaften werden jedoch auch die Kommentregeln differenziert und großenteils neugefasst. Die überkommene Begrifflichkeit wird nicht nur eingedeutscht, sondern auch stark verändert. Aus „Koramation“ wird „Anfrage“ (Jena 1819); für das ‚Ja oder Nein‘ steht die unspezifische Bezeichnung „Erklärung“ (Gießener ‚Ehrenspiegel‘ 1816); die verneinende Erklärung „annulliert“ die Beleidigungsabsicht (Tübingen 1820). Der Begriff „Revokation“ bzw. „Widerruf“ wird in diesem Zusammenhang vermieden; vielmehr ist „Widerruf“ definiert als die Zurücknahme einer „angethanen
Das Verhältnis von Kommentregeln und Alltagsregeln wurde schon in Abschnitt . angesprochen. Auch im weiteren (vgl. die Abschnitte . und .) wird immer wieder deutlich werden, dass der Komment elementare Regeln der Alltagspragmatik nicht außer Kraft setzen konnte.
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3 Das Interaktionsmodell des Komments
Beleidigung“, die auf „Mißverständnis“ oder „Übereilung“ beruht; für die verschiedenen Arten des Widerrufs werden feste Textformeln bereitgestellt (Leipzig 1818). Ein Neuansatz ist auch die Unterscheidung von „Widerruf allein“ und „Widerruf mit Ehrenerklärung“: „wer blos eine geschehene That als schlecht darstellt, der widerruft; wer mit der That den Handelnden als schlecht darstellt, widerruft mit Ehrenerklärung“,welche ausdrückt, „daß er ihn als voll anerkenne.“ (Gießener ‚Ehrenspiegel‘ 1816). Von der Revokation („Widerruf“) im Situationskontext der Koramation („Anfrage“) unterscheiden bereits die älteren Komments die im Beisein der Zeugen zu leistende Deprekation („Abbitte“), die nach der Formel des Jenaer Komments 1809 das Eingeständnis begangenen Unrechts und die Bitte um Verzeihung beinhaltet. (5) Mündlichkeit – Schriftlichkeit Keiner der mir bekannten Komments erwähnt die Möglichkeit einer schriftlichen Koramation. Überhaupt ist schriftliche Kommunikation zwischen den Kontrahenten selten und dann immer nur für Sonderfälle vorgesehen. Ein solcher Sonderfall sind Ehrenhändel zwischen Studenten verschiedener Universitäten. Der Jenaer Komment von 1809 – 1815 erlaubt: „Wird ein hiesiger Student in Briefen von einem auswärtigen Studenten beleidigt, so kann selbiger einen Dummen Jungen hinschreiben oder ihn fordern“, verweist aber zugleich auf die elegantere Lösung: „Doch kann auch ein anderer hiesiger Student die Sache für den Auswärtigen ausmachen“ (z. B. einer seiner Landsleute). Der Tübinger Senioren-Convent erklärt briefliche Beleidigungen von Universität zu Universität überhaupt für nichtig.²² Nach dem Leipziger Komment von 1818 „kann die Revocation schriftlich verlangt werden, wenn die mündliche nicht Statt finden kann“. Diese Bestimmung, offenbar auf denselben Sonderfall gemünzt, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Implikation der Schriftlichkeit: Aus der Schreibsituation können keine übereilten, ungewollten, irrtümlichen Beleidigungen hervorgehen, die eine Koramation rechtfertigen würden; vielmehr muss gleich die Revokation verlangt werden. Für die generelle Tendenz zur Vermeidung von Schriftverkehr bei Ehrenhändeln sind mehrere Gründe zu veranschlagen. Zunächst galt es natürlich, das Risiko einer Entdeckung klein zu halten; auch scheint man das Verlangen einer schriftlichen Revokation oder Deprekation als unnötige „Infamierung“ angesehen zu haben; zu denken ist auch an das juristische Prinzip der Mündlichkeit von Verhandlungen – und den Charakter einer privat oder mit Einschaltung der studentischen Ausschüsse geführten Verhandlung hat in der Tat alles, was sich
Assmann , S. .
3.6 Gradation der Beleidigungen
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zwischen Beleidigung und Duell abspielt; und schließlich kann mit der Mündlichkeit der Aufführungscharakter des Handlungsprozesses besser gewahrt und der Komment für Auge und Ohr zelebriert werden. Briefe oder Billets aus der Aktualkommunikation der Kontrahenten, d. h. Exemplare des schriftlichen Vollzugs von Handlungsschritten innerhalb des hier untersuchten Interaktionsmusters, sind unter den genannten Voraussetzungen nicht nur selten zu erwarten, sondern verweisen als solche eher auf Ausnahmesituationen. Dies gilt zumindest für die Zeit eines rigide praktizierten Komments, weniger für die vielfach noch fluktuierenden Verhältnisse vor 1800.²³
3.6 Gradation der Beleidigungen Die angestrengten Definitionen und Differenzierungen zu den Begriffen Ehre und Beleidigung in den Kommentexten bezeugen den Eifer von Jurastudenten, eine schwierige Rechtsmaterie auf den Bereich der Ehrenhändel zuzuschneidern, bieten aber im Vergleich mit den Gesellschaftsethiken, den Injurienlehren und den staatlichen Gesetzeswerken der Zeit inhaltlich kaum Neues.²⁴ Kultur- und sprachhistorisches Interesse kann dagegen der Versuch beanspruchen, für die diversen Arten und Grade der Injurien ganz bestimmte Ausdrucksformen als kommentmäßig festzusetzen. Insbesondere der Bereich der verbalen Beleidigungen wird in den Komments breit aufgefächert. Die Originalität dieser Bemühungen wird offenbar, wenn man vergleichend feststellt, dass im ‚Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten‘ (1794) zwar 153 Paragraphen von „Beleidigung der Ehre“ handeln, die Klasse der „Verbalinjurien“ aber nur eine allgemeine Charakterisierung erfährt: „mündlich ausgesprochene, geschriebene oder gedruckte Worte“.²⁵
Nach den Beobachtungen von Heer (a, S. ) scheint es in den er und er Jahren des . Jahrhunderts unter Marburger Studenten üblich gewesen zu sein, schriftliche Duellforderungen zu schicken. Nach List (, S. f.) konnte in Göttingen die Forderung wahlweise auch „mit einem Billet“ erfolgen. Vgl. weiter unten Abschnitt . In der frühen Burschenschaft bemüht man sich allerdings um einen vertieften Begriff der ‚Burschenehre‘; vgl. etwa den ‚Ehrenspiegel der Burschenschaft zu Gießen‘ (), hrsg. von C. Walbrach, Frankfurt/M. , bes. S. – . Vgl. auch Haupt , S. u. ö. Das Duell fand übrigens sogar in der philosophischen Ethik Befürworter; vgl. Haupt , S. : Bei „ganz persönlichen Beleidigungen […] kann die positive Gesetzgebung nie die wahre Tilgung der Beleidigung schaffen, indem hier die Rechtsverletzung […] nur durch die freie Verständigung zwischen den Parteien selbst wieder ausgeglichen werden kann“. (Zit. nach J. F. Fries: Handbuch der praktischen Philosophie. T.: Ethik, Heidelberg , f.). ‚Landrecht‘ (), . Teil, . Titel, § .
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3 Das Interaktionsmodell des Komments
In der Tabelle dargestellt ist das Beleidigungsvokabular in den erreichbaren (SC‐)Komments bis 1815 und einigen späteren. Dazu ein paar Erläuterungen: Erfasst wurden die in den Texten explizit aufgeführten, kommentgemäßen Ausdrücke, nicht solche, die eigens als Kommentfehler markiert sind (z. B. verschißner Junge, Scheißjunge; Marburg 1807) oder die spezielle Gegebenheiten voraussetzen (z. B. Pereat, Schisser, Verschißner; Landshut 1809). Gibt ein Komment nur die Verbalavantage dummer Junge an, so ist daraus nicht auf das Verbot aller anderen Verbalinjurien zu schließen; vielmehr sind andere dann nur unter ihrer Klassenbezeichnung (als „indirecte“, „zweideutige“, „minder grobe“ u. ä.) angesprochen. Alle Komments unterscheiden mindestens zwei Klassen verbaler Beleidigungen, manche drei, manche innerhalb einer Klasse Subklassen. Gleichgültig ist auch nicht, ob ein Komment die jeweils aufgeführten Ausdrücke durch einen Zusatz wie „u.s.w.“, „und was diesen gleich gestellt ist“, „und dergleichen grobe Schimpfworte mehr“ als offene Beispiellisten kennzeichnet (Jena 1809/15, Heidelberg 1806, Rostock 1812) oder ob er eine geschlossene Liste präsentiert und für den Gebrauch genau „dieser Ausdrücke“ ernstere Konsequenzen vorsieht als für den Fall, dass man „sonst durch Ausdrücke oder Gebärden beleidigt“ (Leipzig 1808); eindeutig identifizierbare Listenelemente liefert auch eine Konstruktionsregel wie „dumm mit allen Zusammensetzungen“ (Kiel 1813). Die Regeln für den Umgang mit beleidigenden Ausdrücken sind für die Angehörigen der im Kartell stehenden Landsmannschaften sehr vereinfacht, indem vor allem negative Empfehlungen und Sanktionsandrohungen den Handlungsspielraum rigoros einschränken. Nach dem Jenaer Komment von 1809 ist unter „Kränzianern“ die Verbalavantage dummer Junge „möglichst gänzlich“ zu vermeiden („da der einzige Grund der Avantage nur der Verdacht des Nichtannehmens der Forderung sein kann“: Leipzig 1808, Göttingen 1809); vor dem Seniorenkonvent zu revozieren bzw. zu deprezieren sind alle weiteren Verbalinjurien nach der „höchsten“ Verbalavantage dummer Junge und alle „Retour-Chaisen“ (z. B. „Du bist ein dummer Junge“ – „Den höre ich“²⁶),‘ die als Auf-der-Stelle-Treten schon an sich nichts gelten („nicht ziehen“); verboten sind ferner Beleidigungen „ohne Grund“ („Renommiren“), „Wortstreitigkeiten“ mit Nicht-Duellierenden, überhaupt alles „laute Schimpfen“, das „den Schimpfenden selbst blamirt“. Die Kunst des Beleidigens beherrscht,wer unbeeinflusst von der Affektgeladenheit der Streitsituation in kühler Berechnung Beleidigungen austeilt oder übertrumpft, dabei die Kommentbestimmungen, die „Satisfaktionsfähigkeit“ und den Sozial-
Studentikoses Conversationslexicon‘ (), in: Henne/Objartel , Bd. , S. f.
Tabelle: Der Beleidigungswortschatz in Studenten-Komments ( – )
3.6 Gradation der Beleidigungen
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3 Das Interaktionsmodell des Komments
status des Kontrahenten kalkuliert. Die definierte Gradation der Beleidigungen²⁷ führt die Handelnden in ein eskalierendes Muster: Ein „Grund“, auch schon das subjektive „Gefühl“ einer Ehrverletzung oder der Wunsch nach Prestigegewinn durch ein Duell lösen die beleidigende Äußerung („Sturz“, „Touche/Tusch“) von A aus; B tilgt, wenn die Situation es erlaubt, diese in seiner Replik mittels einer „Avantage“ und bringt damit A in „Desavantage“, d. h. A muss fordern und nach beendetem Duell Satisfaktion „nehmen“, während B sie „gibt“. Alle Differenzierungen der Beleidigungsregeln im Hinblick auf die verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Studentenschaft wie auch auf das Verhältnis „Kränzianer“ – Nicht-Student können hier nicht nachgezeichnet werden. Um aber die Gradation der Beleidigungen zu vervollständigen, sei noch kurz das von Unsicherheiten geprägte Verhältnis der „Kränzianer“ zu ihren Überzeugungsgegnern angesprochen. Ein Satisfaktionsunfähiger kann zwar prinzipiell „keinen braven Burschen beleidigen“ (Komment Halle 1799), dennoch empfiehlt kein Komment, Anzüglichkeiten eines „Schissers“ oder zweifelhaften „Wilden“ etwa mit Ignorieren zu strafen; vielmehr sind für solche Kollisionsfälle nonverbale Sanktionsmaßnahmen mit starkem Symbolgehalt vorgesehen: „Ausspeyen“ oder „Realavantagen“ („diese notwendigen Acte der Barbarei unter Studenten“, Komment Leipzig 1808). Bis zu dem Reform-Komment von 1809 galt in Jena – auch unter „Kränzianern“ (!) – folgende Gradation der Realinjurien: „1) auf den Fuß treten, 2) von dem breiten Steinweg (Bürgersteig) stoßen, 3) Ohrfeige, 4) Schlag mit dem Ziegenhainer Stocke, 5) unter den Zopf spucken, 6) die Hetzpeitsche, 7) das gefüllte Nachtgeschirr auf dem Schädel zerschlagen“.²⁸ Der Tabelle ist zu entnehmen, dass die Zahl der in den Komments fixierten injuriösen Ausdrücke mit der Zeit wächst. Man kann diesen Befund im Hinblick auf die historische Entwicklung des Interaktionsmodells so deuten, dass mit festen Etikettierungen und Bewertungen in den Bereich spontanen (alltagsweltlichen) Sprachhandelns immer weiter ausgegriffen, somit das Interaktionsmodell nach vorn erweitert wurde. Die aus sprachhistorischer Sicht zu verbuchende Originalität des Interaktionsmodells liegt in der partiellen Überformung der alltagssprachlichen Beleidigungspraxis durch eine quasi-institutionelle Strukturierung, nicht so sehr in der Neuschaffung spezieller lexikalischer oder phraseologischer Einheiten. Dass allgemein geläufigen Wörtern und Wendungen ein Teil der
Eine scherzhafte Gradation von Beleidigungen gibt es schon in den Zechriten des . Jahrhunderts. Derartiges bieten dann regelmäßig auch die studentischen Bierkomments; z. B. ist im Anhang zum Tübinger Komment von / unter „Biertouche“ die Stufung „gelehrter Herr, Doktor, Professor, Rippel, Malchias, Papst“ angegeben. Förster , S. ; danach erfolgte auf die beiden letzteren Realinjurien – wie auch auf die Verbalinjurie „Hundsfott“ – das Pistolenduell. Vgl. auch Haupt , S. .
3.6 Gradation der Beleidigungen
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gewohnten Alltagsbedeutung entzogen und ein neuer Valeur zugemessen wird, der sie gleichsam zu Auslösemarken für einen automatisierten Interaktionsprozess macht, darin besteht die eigentliche Perfidie der Kommentregelungen: „So kann daher Jeder, der die genauen Bestimmungen derjenigen Wörter, die, nach Burschenweise zu reden, ziehen, d. h. als Beleidigung aufgenommen werden müssen, nicht kennt, oft in der unbefangensten Rede, ganz absichtslos beleidigen, und dadurch bisweilen die traurigsten, ja tödtliche Folgen herbeiziehen“.²⁹ Doch gab es auch Maßnahmen zur Stützung des Gedächtnisses: „Auf der Universität B. waren diese Wörter, um zur Kunde eines Jeden zu gelangen, öffentlich auf dem Fechtboden angeschlagen; mit der Klausel, daß alle Beinamen, die eine Kraft bezeichneten, wie z. B. Ochse, Rindvieh, Seelöwe, ochsig, pferdemäßig u. s. f. nicht als Beleidigungen ziehen sollten“.³⁰ Es ist offensichtlich, dass mit jeder Entfernung von der Alltagspragmatik die kommunikative Interaktion störanfälliger wird und die Wahrscheinlichkeit disqualifizierender Formfehler zunimmt, dadurch auch der Disziplinierungsaufwand für die zuständigen Gremien wächst. In den Komments sind die zugelassenen Beleidigungsausdrücke weniger inhaltlich definiert als vielmehr durch ihre Funktion, gewisse Anschlusshandlungen des Interaktionspartners auszulösen: (a) Koramation (bei fraglicher Beleidigung) (b) Verbalavantage (c) Duellforderung Diese bilden eine irreversible Stufenordnung, so dass auch die innerhalb dieser Ordnung zugelassenen Handlungsalternativen stets durch die Möglichkeit des Sprungs von (a) zu (b) oder zu (c) definiert sind. In der Zuordnung der einzelnen Beleidigungsausdrücke zu den Anschlusshandlungen und deren Alternativen bleiben gewisse Unterschiede zwischen den Komments; die unterhalb der Ebene der „Avantagen“ geltenden Regeln sind in manchen Komments auch nicht eindeutig formuliert. Durchweg erscheinen die Ausdrücke isoliert vom Kontext der Sprechhandlung und der Situation. Sie sind daher im Interpretationsrahmen des Komments schon für sich geeignet, bei gegebener Adressierung den Tatbestand der ‚Beleidigung‘ zumindest subjektiv zu erfüllen, so ausdrücklich nach dem Helmstedter Komment (1798): „Es müssen diese Worte von einem Burschen nie anders gehört werden, als wenn er wirklich die Absicht hat, einen andern damit zu beleidigen“, sie „dürfen daher niemals unbemerkt bleiben“.³¹ Um die soziale
‚Das Leben auf Universitäten‘ (), Einleitung; in: Henne/Objartel , Bd. , S.. ‚Studentikoses Conversationslexicon‘ (), in: Henne/Objartel , Bd. , S. f. Im Abschnitt ‚Von den Beleidigungen‘, § ; vgl. Anhang C.
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Kontrolle über die Einhaltung des Komment zu perfektionieren, wird sogar wechselseitige Bespitzelung als „Recht“ installiert: „Jeder einzelne hat das Recht anzuzeigen, wo ein anderer […] gegen einen Dritten sich beleidigend geäußert hat, ohne deswegen in den Verdacht der Klätscherei zu kommen“ (Jena 1812). Aber ungeachtet solcher Zusatzinstruktionen ist anzunehmen, dass bereits die bloße Fixierung bestimmter Ausdrücke in den Komments eine besondere Wahrnehmungshaltung und Verstehensdisposition erzeugte, die den Einstieg in das eskalierende Interaktionsmuster begünstigte. Ein Übriges bewirkte der Umgangsstil unter Studenten, der speziell für Jena häufig mit Prädikaten wie „derber Ton“ oder „edle Dreistigkeit“³² .beschrieben wird.
3.7 Arten von Verbalinjurien und Facetten des Ehrbegriffs Gewisse Gruppierungen oder Gewichtungen von Ausdrücken in den Komments sind offensichtlich mitbedingt durch die Funktionsweise, die ihnen als Sprachzeichen zukommt; z. B. entspricht die Häufung substantivischer Ausdrücke auf der Stufe der „Avantagen“ einem üblichen Verständnis von ‚Schimpfwort’. Auf einige semantische Komponenten der Beleidigungsausdrücke sei hier eingegangen, denn angesichts der Korrelativität der Begriffe Ehre und Beleidigung ist zu erwarten, dass von der Struktur des Beleidigungswortschatzes Rückschlüsse – a contrario – möglich sind auf die Struktur des Begriffs Ehre, speziell „Burschenehre“. Stellt man sich die Ausdrücke als Hauptsinnträger in minimalen Äußerungskontexten vor, so sind, je nachdem welcher für die „Burschenehre“ konstitutive Merkmalkomplex abgesprochen wird,wenigstens fünf Gruppen zu unterscheiden: (1) Moralische Integrität der Person in ihren Handlungen und Äußerungen. Hierher u. a.: Schurke, Schuft, Halunke, Spitzbube, schlecht, malitiös, korrupt, (Lügner)³³. (2) Gute Manieren, Anstand im gesellschaftlichen Umgang. Dagegen etwa: Flegel, flegelhaft, unschicklich, impertinent, arrogant, (Grobian) (3) Sittliche Reife und Verständigkeit, verbunden mit dem Anspruch, als quasi Erwachsener ernst genommen zu werden. Zuzuordnen sind etwa: albern, lächerlich, komisch, kurios, sonderbar, absurd, eigen, (kindisch, läppisch).
Laukhard, Leben, T. (), S. ; Konstitution der Guestphalia-Jena , ‚Einleitung‘. Die Ausdrücke in Klammern jeweils aus dem Komment der Landsmannschaft TeutoniaBreslau .
3.7 Arten von Verbalinjurien und Facetten des Ehrbegriffs
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(4) Ehrgefühl und Mut, insbesondere die Bereitschaft, die persönliche Ehre und die der Korporation jederzeit im Duell zu verteidigen. Hierher: Hundsfott, hundsföttisch, (Memme, altes Weib, furchtsam). (5) Klugheit und Gelehrsamkeit. Absprechend: dummer Junge, dumm, einfältig, (töricht, unklug, Esel, Schaf). Unspezifisch disqualifizierende Ausdrücke wie elend, jämmerlich, traurig widerstreben einer Zuordnung; sie sind wohl vom Idealbild des „fidelen“ und „flotten“ Studenten her zu sehen. Schwierigkeiten bereitet auch der einzige Verbausdruck, verbitten („ich verbitte mir das“³⁴), der auch insofern ein Sonderfall ist, als er für initial beleidigende Äußerungen nicht taugt, vielmehr seinen Platz hat in der Reaktion auf etwas, das der Sprecher als ehrenrührig empfunden hatte. In der Funktionsweise ähnelt verbitten also den „Avantagen“. Im Umkreis von verbitten werden aber auch Ausdrücke wie halts Maul oder couche genannt³⁵, so dass im Grunde wohl die massive, Dominanz anmeldende Sprechhandlung³⁶ ‚jmdm. die Rede abschneiden‘ bzw. ‚jmdm. den Mund verbieten‘ gemeint ist.³⁷ Durch die Gruppierung der Ausdrücke werden nicht nur wichtige Facetten des Idealbildes eines Studenten beleuchtet, sondern auch die Unterschiede im Geltungsumfang der Normen deutlicher: Ehre besitzt der Mensch schlechthin als (1) moralisches, (2) geselliges und (3) verständig handelndes Wesen. Die unter (4) angesprochenen Komponenten der Ehre sind soldatisch geprägt und dürften Offiziersidealen entlehnt sein, doch ohne sie ist der ganze Komment undenkbar. Die spezifisch studentische Standesehre wird in (5), teilweise auch in (3), erkennbar: in dem Selbstverständnis des Studenten als ‚junger Gelehrter’.³⁸ Nach diesen Klärungen wird es weniger überraschen, dass nicht grobe Schimpfwörter, sondern die Ausdrücke dumm und dummer Junge als höchste Verbalinjurien fungieren. Alle Komments, die überhaupt Beleidigungsausdrücke nennen, führen dummer Junge an, fast alle gewichten gleich. Der Ausdruck ist das Kernstück des Komments, soweit dieser verbal inszeniert wird. Eine spezifisch gruppensprachliche Prägung des Beleidigungsvokabulars ist denn auch genau an Komment Greifswald . Ebd. Schluck , S. : „Couche, Recouche, Contrecouche […] inter iniurias verbales referentur.“ Vgl. den unter . dargestellten Fall; ferner etwa Wedekind , S. : „“Hör einmal, Delius, so etwas muß ich mir sehr ernstlich verbitten“, worauf Delius mich gleich auf Gänge ohne Hut und Binden und ohne Anschiß fordert.“ Der Ausdruck ‚junger Gelehrter‘ entspricht dem zeitgenössischen Sprachgebrauch; vgl. etwa Lessings Lustspiel ‚Der junge Gelehrte‘ () und Fichtes ‚Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten‘ (); ebd. in der . Vorlesung: „Ich soll als Gelehrter vor angehenden Gelehrten von der Bestimmung des Gelehrten reden“.
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dem Punkt zu konstatieren, wo die spezifische „Burschenehre“ tangiert wird.Was immer über die sonstige Verbreitung des Ausdrucks dummer Junge und über seinen Ursprung als phraseologisierter Scheltausdruck gesagt oder vermutet werden kann³⁹ – die Gewichtung als höchste Verbalinjurie erfuhr er mit einiger Sicherheit innerhalb studentischer Kreise. Hierfür sprechen frühe Belege, die mit metasprachlichen Kommentaren verbunden sind: – 1762 beklagt sich der Helmstedter Professor Haeberlin brieflich bei seinem Herzog, Studenten aus dem „Frey-Schmiede-Orden“ hätten ihn „mit dem injuriosesten Ausdruck der dumme Junge Haeberlin“ belegt (Unterstreichung im Original).⁴⁰ – 1768 nennt ein Tübinger Student, Mitglied der „Mosellaner“-Verbindung, die Stipendiaten im Neuen Bau „dumme Jungen, mit welchem Worte man einen auf sächsischen und anderen Universitäten zu provociren pflege“ (nach einer Universitätsakte).⁴¹ – Im ‚Burschen-Comment‘ von 1780 heißt es am Schluss der Aufzählung injuriöser Ausdrücke: „DUMMER JUNG, est maxima et atrocissima iniuria, quia agitur de sana mente et sapientia studiosi“.⁴² Der Begründungszusammenhang war seitdem so bekannt, dass er nur noch selten offengelegt wurde. Als spätes Beispiel sei der – für die Textsorte untypische – Komment der Teutonia-Breslau (1817) angeführt: „Nächst der Ehre ist die Wissenschaft das höchste Kleinod des Burschen. Sie ist sein Zweck, sie muß auch sein Stolz sein. Es kann daher keine höhere Beleidigung geben als den Vorwurf der Dummheit“.⁴³ Über die Funktion der Einstellungsbekundung hinaus kommt dem Ausdruck dummer Junge also ein sinnvoller gruppenspezifischer Bezug zu, insofern er die Aberkennung zweier wertbesetzter Eigenschaften impliziert, die der
Junge ‚Lehrjunge‘ verweist zunächst auf Handwerker- oder Kaufmannskreise, aber auch der Studentendiener hieß Junge. Nach dem ‚Duell-Mandat‘ für die Universität Jena von (S. ) überbringt der „Studenten-Junge“ z. B. die „Außforderungs-Briefe“. Die Schelte dummer Junge unter Studenten spätestens ; vgl. die Untersuchungsakten zum Göttinger Mopsorden (Universitätsarchiv: Az. XG, Nr. , Bl. „hätten […] solche dumme Jungens gescholten“, u. ö.). NSAWolfenbüttel: Alt , Bl. .Vgl. ebd., Bl. : „meistenteils aber wird über mich Pereat gerufen, und zwar mit den injuriosesten Zusätzen, z.E. der dumme Junge, der Hallunke, der infame Kerl u.s.w.“ G. Schmidgall: Die akademischen Logen und Studentenorden in Tübingen II. In: Beiträge zur Tübinger Studentengeschichte. . Folge , Heft , , S. . Schluck , S. . Vgl. auch die „Gesetze“ der Helmstedter Unanimisten (), wo die Ausdrücke „tumm, einfältig cet.“ genannt werden (NSA Wolfenbüttel: Alt , S. ). Vgl. Anm. .
3.7 Arten von Verbalinjurien und Facetten des Ehrbegriffs
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Studentenstand für sich reklamierte, jedenfalls als vorrangige Ziele anstrebte: Gelehrsamkeit und Erwachsensein.⁴⁴
Der Anspruch, als quasi Erwachsener ‚für voll genommen‘ zu werden, galt jedoch nur innerhalb der Gruppe. Nach ihrem rechtlichen Status waren Studenten in aller Regel „minderjährig“ und standen unter „Vormundschaft“ (des Vaters). Im preuß. ‚Landrecht‘ () heißt es: „Die Minderjährigkeit dauert, ohne Unterschied des Orts der Herkunft und des Standes, bis das vier und zwanzigste Jahr zurückgelegt ist“ (Teil , Titel , § ).
4 Fallanalysen Obwohl das Interaktionsmuster in seiner normativen Fassung nur automatisierte Schrittfolgen mit wenigen Alternativen vorsieht, kann man sich mit etwas Phantasie vorstellen, dass die Verlaufsformen realer Interaktionen oft weitaus komplizierter waren. Es ist zu vermuten, dass die Untersuchung konkret dokumentierter Interaktionsverläufe ziemlich rasch auf mehr oder minder abweichende Varianten des Musters führt wie auch auf Handlungsmuster anderer Art, die im Vor- oder Nachbereich des Kommentmusters aktiviert werden oder dieses nur an bestimmten Punkten kreuzen. Das Kommentmodell soll als Deutungshilfe dienen, aber keinesfalls die Beobachtungsmöglichkeiten einschränken. Während das Kommentmodell den akuten Konflikt eigentlich schon voraussetzt und Instruktionen für dessen Regulierung bietet, geht es hier auch um den Handlungsbereich, in dem durch schrittweise Veränderung des Interaktionsmodus erst die Bedingungen für eine konfliktäre Orientierung der Handelnden geschaffen werden. Der vom Komment abgedeckte Handlungsbereich muss auch insofern überschritten werden, als ein Student, in eine Zwangssituation gedrängt, Satisfaktion über das Universitätsgericht zu erlangen suchen konnte. Dies ist freilich ein Weg, den der Komment ausdrücklich verwirft und als Selbstentehrung einstuft, der auch, relativ zur hohen Zahl von Duellen,⁴⁵ nicht sehr häufig gegangen wurde. Das Wissen um diese Alternative und überhaupt die Furcht vor Entdeckung (durch Denunziationen Dritter oder verdeckte Selbstanzeigen) und gerichtlicher Verfolgung konnte jedoch die Handlungsweise der Kontrahenten von Beginn an prägen. Den folgenden Einzelanalysen liegen vier Injurienfälle zugrunde, die zwischen 1739 und 1778 vor dem Helmstedter bzw. Göttinger Universitätsgericht verhandelt wurden. Für die Auswahl gerade dieser Akten war der Gesichtspunkt maßgebend, dass die Vernehmungsprotokolle und schriftlichen Beilagen besonders nah an das sprachkommunikative Geschehen auf der Primärebene der Auseinandersetzung, an die Details der Konstitution und Eskalierung des Konflikts heranführen. Da die Interaktionsverläufe in den vier Fällen extrem divergieren, bekommt man zugleich einen Eindruck von der Vielfalt der historischen
Nach Stephani (, S. ) gab es in Jena um „jährlich bis “ Duelle, nach Haupt (, S. ) im Jahre bei Studenten in Jena „in einer Woche Duelle“. werden in Göttingen Duelle in Monaten gezählt (Brüdermann , S. ). Nach Kußmaul (, S. ) hat ein Paukarzt in Heidelberg im Verlaufe von Jahren (vor ) „mehr als Mensuren auf Hiebwaffen“ aufgezeichnet. H. v. Treitschke berichtet aus Bonn (Briefe, Bd. , , S. ): „Das Duell ist sehr an der Tagesordnung; man rechnet auf den Tag – (also fast so viel als in Heydelberg; in Leipzig rechnet man auf je Tage Duell).“
4.1 Renommage (1739)
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Handlungsmöglichkeiten im Bereich der Injurienkonflikte in der Zeit vor dem kodifizierten Komment.
4.1 Renommage (1739) Dieser Ehrenhandel zwischen einem Studenten und einem jungen Offizier wirkt wie das reale Pendant zu dem in Abschnitt 3.1 behandelten fiktiven Fall, nur ist hier der Student derjenige, der den Konflikt schürt. Zu kommunikativem Austausch zwischen Hahn (4. Semester) und Fähnrich v. Schack kommt es in drei Szenen:⁴⁶ (1) An einem Sonntagabend (18.1.1739) trinkt Hahn in einer Helmstedter „Caffe Schenke“ mit v. Schack auf gute Freundschaft, provoziert ihn dann aber in betrunkenem Zustand, so dass dieser das Lokal verlässt. Handlungsbeteiligte (u. a.): die später als Zeugen fungierenden Studenten Hildebrand, Thiedo, Ahlers. (2) Am nächsten Morgen sendet v. Schack durch seinen Laufburschen ein Billet an Hahn, dieser schreibt eine Antwort auf die Rückseite (Original in den Akten).Von Schack, der mit einer sofortigen Antwort Hahns gerechnet hatte, sucht Thiedo auf und teilt ihm seine Verwunderung darüber mit, dass diese ausbleibt. (3) Am Dienstag findet v. Schack seinen Gegner auf dem „Fechtboden“ der Universität, nachdem er ihn dort schon am Montag vergeblich gesucht hatte, stellt ihn zur Rede und greift ihn mit dem Degen eines Studenten an. Der Fechtmeister geht dazwischen und meldet den Vorfall pflichtgemäß dem Vizerektor. Zeugenaussagen der Studenten Ahlers, Lysmann, Zöllner. Die Vernehmungen der Zeugen wie auch Hahns finden am 21.1. vor dem Universitätsgericht (Consistorium privatum bzw. publicum) statt. Die Texte auf dem Billet lauten (Hahns Antwort auf der Rückseite): Weil gestern die Ehre gehabt mit ihnen bon amitje zu trinken, welches mich viel Ehre gewesen ist, zugleich aber der Hr Bruder bey solcher Freuntschaft, Hendel an mir gesuchet haben, so bitte mir ein declinacion aus was sie von mir wollen und bitte mir hir auf ein wenig nachtrich ⁴⁷ aus, damit mein Messiers dan acht nemen kann womit verharre dero ergebenster Bruder Schack
NSA Wolfenbüttel: Alt . Verschrieben für nachricht.
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Demnach der Herr v. Schack in der Meinung stehen, daß gestern Abend Händel an Denenselben gesucht habe, so weiß zwar nicht mehr, indem etwas berauscht gewesen bin, was eigentlich vor Worte dabey vorgefallen sind. Sollte aber Denenselben in einigen Stücken zu nahe getreten seyn, wie Dieselben am besten wißen werden, so versichere daß mit dem größesten Plaisir die Ehre haben werde, Ihnen vor alles schuldige revange zu geben. pp. Da der Akte einiges zur Vorgeschichte wie auch zur Nachgeschichte dieser Schreibhandlungen zu entnehmen ist, könnte man geneigt sein, von der Kenntnis des Gesamtablaufs her die Deutung der einzelnen Handlungsschritte in Angriff zu nehmen, d. h. sich methodisch von der Vorstellung einer Makrostruktur mit hierarchisch eingebetteten Teileinheiten leiten zu lassen. Im vorliegenden Fall kann jedoch von einem übergreifenden konsistenten Verständniszusammenhang, von einer Kongruenz der Perspektiven und Erwartungen nicht die Rede sein; die Agierenden verfügten während der Abfassung der Texte über keine gemeinsame Wissensbasis, was die interaktionelle Vorgeschichte anlangt (Erinnerungsdefizit bei Hahn), und zwischen Hahns Antworttext und v. Schacks Wiederaufnahme der Interaktion besteht keinerlei kommunikativer Konnex (Wissensdefizit bei v. Schack). Den aktuellen Perspektiven der Handelnden erscheint es daher angemessener, die Texte zunächst als strikt lokale Einheiten mit je (hypothetisch) offener Fortsetzung zu betrachten, unerachtet des Umstandes, dass die Handelnden selbst sicher ihre Vorstellungen oder Wünsche bezüglich der Partnerreaktion hatten. Fragt man, inwieweit die in den Texten manifestierten Sinnbildungsprozesse nach konventionellen Mustern organisiert sind, so erweist sich das Kommentmodell als ein recht brauchbares heuristisches Instrument auch für diese frühe Zeit. Text 1: Nachdem v. Schack mit der Äußerung „der Hr Bruder (…) Hendel an mir gesuchet haben“ das Kommentmuster gewissermaßen zitiert hat, kommt die für die Funktionsbestimmung des Textes entscheidende, indirekt gestellte Frage „was sie von mir wollen“. Es scheint soweit unproblematisch, den Text unter den Handlungstyp der Koramation zu subsumieren. Im Lichte der späteren Formulierungsregeln für die Koramation⁴⁸ fällt auf, dass v. Schack seine Bewertung der kommunikativen Vorgeschichte ausdrückt („Hendel an mir gesuchet“), so dass Hahn mit einem subjektiv bestehenden Sachverhalt konfrontiert ist. Eine zweite Auffälligkeit liegt in der Formulierung: „bitte mir ein declinacion aus“. Wenn mit declinacion hier soviel gemeint ist wie ‚Abstandnahme von etwas, Verneinung’,⁴⁹ sind allerdings wesentliche Merk Vgl. oben ., Punkt (). Das ‚Duel-Edict‘ für die Universität Göttingen von erwähnt den theoretischen Fall „daß der, welcher das Duel decliniret [d. h. „sich nicht gerne duelliren will“] […] durch ein […] zu gebendes kostbares Convivium, vom Duelliren sich befreyen“ könne (Art. XIX).
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male des (späteren, kommentmäßigen) Koramationsmusters suspendiert, und das Verlangen eines Widerrufs (Revokation) steht im Vordergrund. Sprachlich ungewöhnlich erscheint dann jedoch der Anschluss einer indirekten Frage an declinacion.⁵⁰ Text 2: Hahn nimmt v. Schacks „Meinung“ über den Vorfall wörtlich auf („Händel an Denenselben gesuchet habe“), bestätigt sie sogar („wie Dieselben am besten wißen werden“), und erklärt seine Duellbereitschaft. Nach dem Kommentmodell liegt mit den beiden Texten der konventionelle Abtausch Koramation – Verweigerung der Revokation vor. Hahns Text ist in der Aussage präziser und daher eindeutiger zuzuordnen, während v. Schacks Text zwischen ‚reiner‘ Koramation (vgl. Thiedo: „Zettel an Hahnen geschrieben, daß er sich worzu erklähren mögte“) und Dringen auf Widerruf schillert. Diese nach dem Kommentmodell anscheinend so glatt herstellbare Kohärenz der Texthandlungen kann dennoch die Frage gestellt werden: Formuliert v. Schack, ein ungelenkter Schreiber, an wichtigen Stellen vielleicht nur ungeschickt? Baut er Hahn nicht vielmehr goldene Brücken für einen ehrenvollen Rückzug? Ist Hahns Antwort eine Überreaktion, psychologisch erklärbar aus der irritierenden Asymmetrie des Vorwissens (Gedächtnislücke)? Gibt es im engeren Umfeld der Texte Stützen für diese Deutungsalternative? Die Gerichtsprotokolle enthalten Paraphrasen der Textinhalte durch Ahlers und Hahn selbst: (Ahlers:) Der Fähndrich von Schack habe Hahn geschrieben er wäre ihm gestern ⁵¹ Abend mit Worten ein etwas zu nahe kommen ob er sich deßen zu entsinnen wüste, er bähte sich deshalb eine declination aus, worauf Hahn ihm geantwortet er wäre betrunken gewesen und wüste nicht was vor Worte vorgefallen wären. Wann er ihm aber was zu nahe gesaget hätte, wollte er ihm schuldige revanche geben. (Hahn:) Den Montag Morgen hätte der H. Fähndrich ein billet an ihn geschickt des Inhalts daß da sie gestern Abend mit Worten an einander kommen p. Versprach das Billet selbst einzuliefern. Darauf hätte er geantwortet daß er sich nicht zu besinnen wüste was vorgegangen in dem er sehr berauschet gewesen, wann er ihm zu nahe kommen welches er selber am besten wißen würde, indem er nüchtern gewesen und wäre er ihm schuldig Revanche zu geben. Hierauf hätte der H. Fähndrich ihm nichts weiter gesaget auch nichts geschrieben.
Zu erwarten wäre eher der Ausdruck declaration, doch scheint es sich um keine Wortverwechslung zu handeln, da auch Zeuge Ahlers den Ausdruck declination gebraucht. Die temporale Deixis des Billettextes ist beibehalten, obwohl die Aussagen und deren Protokolle um zwei Tage später liegen!
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Ahlers spielt, als einziger Zeuge sowohl im Kaffeehaus wie auf dem Fechtboden anwesend, die Rolle des Eingeweihten und dürfte Hahn Verstehens- und Formulierungshilfe geleistet haben, so dass die vorhin erwogene psychologische Textdeutung an Plausibilität verliert. Hahns Aussage führt noch auf einen Punkt, der bei einer isolierten Analyse von Text 1 als peripher erschiene, im Rahmen der Interaktion aber ein bedrückendes Gewicht hat: Hahn erklärt, den Satz „damit mein Messiers dan acht nemen kan“ verstanden zu haben als „Versprach das Billet selbst einzuliefern“. Fehlverständnis in gutem Glauben oder Taktik des Zeitgewinns durch Sich-dumm-Stellen gegenüber v. Schack? Nach dem Ausbleiben der Antwort Hahns kann v. Schack – aus seiner Perspektive rechtens – auf dem Fechtboden gleich zur Kampfansage fortschreiten: (Zöllner:) woselbst der H. Fähndrich von Schack wie Hahn auch dahie kommen zu demselben gesaget habe warum er ihn touchiret habe Hahn geantwortet er wäre betruncken gewesen und wüste nicht was gestern vorgegangen wäre H. Schack habe erwidert er wäre touchiret er könnte die Sache unmöglich stecken lassen. Der Kommentar des Vizerektors, „der H. Fähndrich könnte die Sache wegen der anderen Herren Officier nicht so stecken laßen“, zeigt mit aller Deutlichkeit, wie sehr die Interpretationsmuster und Handlungsstrategien der Kontrahenten von den sozialen Normen ihrer Gruppe bestimmt sind. Beim Versuch, den Gesprächsverlauf in der Kaffeehaus-Szene aus den protokollierten Schilderungen der Studenten Hildebrand, Thiedo und Ahlers zu rekonstruieren, sind die institutionellen Prozeduren und Ziele des Universitätsgerichts zu berücksichtigen. Sie werden manifest z. B. in der stereotypen Ermittlungsfrage, „ob Scheltworte dabey passiret?“ Ahlers‘ Freundschaftsbeziehung zu Hahn bekundet sich in der taktischen Antwort: „daß Scheltworte passiret habe er nicht gehöret“. Aus der Synopse der Aussageprotokolle ergibt sich eine dreiphasige Gesprächsstruktur: (1) Bereits „sehr betruncken“, habe Hahn „dem Hn Fähndrich von Schack bon amitie angebothen welche denn dieser auch mit ihm gedruncken“ (Thiedo). – Mit dem Freundschaftsantrag, verbunden mit dem Trinkakt, wird gemäß den Höflichkeitsnormen eine starke Fremdobligation erzeugt. Das „bon amitie“Trinken definiert die Beziehung zwischen Hahn und v. Schack: Sie reden einander mit „Herr Bruder“, jedoch weiter mit „Sie“ an (Billettexte), sind „gute Freunde“ und können den Bruderkuss öfter wiederholen (s. 2 und 3). (2) „Hahn hätte den H. von Schack gefraget ob er ihn von einen resonablen Kerel hielte, der H. von Schack habe geantwortet ja da erkennete er ihn vor“ (Ahlers). „Hahn hätte auch zu dem von Schack gesaget er forderte doch daß er ihn vor
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einen resonablen burßen hielte, wenn er aber dies nicht thäte möge er den folgenden morgen zu ihn auf die Stube kommen, so wollte er es ihm weisen“ (Thiedo). „darauf denn Hahn den H. Fähndrich zu sich auf seine Stube auf den Montag morgen um 8 Uhr invitiret mit den beygefügten Worten, ob er wollte einen Hieber oder Stößer mitbringen. Der H. von Schack hätte diesem geantwortet, wir sind ja gute Freunde“ (Hildebrand). – Der Interaktionsmodus in (1), von Ahlers und Hildebrand durch den Ausdruck complimentiren charakterisiert, wird durch Hahns Forderung, als „resonabler burße/Kerel“ anerkannt zu werden, und vor allem durch die daran angeschlossene Drohung verändert. Hahns Vorstoß macht einen sozialen Sinn, wenn man annimmt, dass es ihm um die Anerkennung seiner Satisfaktionsfähigkeit durch einen Offizier ging. Wenn v. Schack schon in (1) die Peinlichkeit seiner Situation an einem öffentlichen Ort gefühlt haben mag, so wurde doch durch die Einhaltung der Höflichkeitsregeln ein Konflikt unterdrückt. Mit der offenen Drohung aber war das Terrain der Höflichkeit verlassen und v. Schack musste mit einer konfliktären Eskalation des Gesprächs rechnen; er scheint mit einem Beschwichtigungsversuch unter Berufung auf die eben etablierte Freundschaft reagiert und die rasche Beendigung des Gesprächs angestrebt zu haben. (3) „Wie der H. Fähndrich aus dem Caffé Hauße weggangen hätte Hahn diesen einige mal wieder zurück gerufen und von ihm verlangt ihn noch mal zu küßen und zu rufen es leben alle resonable burßen mit dem beyfügen es wäre ein Hundes Vot der nicht alle resonable burße leben laßen, welches der H. Fähndrich dann auch gethan“ (Hildebrand). „Wie der H. Fähndrich zuerst weggehen wollen hätten sie sich einander geküßet und wie Hahn verlanget daß der H. von Schack alle resonable burßen sollte leben lassen hätte der H. von Schack solche leben lassen. Hahn hätte einige mal zu dem Hn Fähndrich gesaget wann er ihn nicht vor einen resonablen burßen hielte wäre er ein Hundes Vott“ (Thiedo). „Ferner hätte Hahn verlanget daß der H. von Schack seine brüder und seine Charmante sollte leben laßen, welches derselbe auch gethan“ (Ahlers). – Der Eindruck der Absurdität der kommunikativen Vorgänge beruht hier einmal auf dem unvermittelten Kontrast zwischen Freundschaftsbekundung (Küsse), Nötigung zu Vivatrufen und (kaum verdeckter) Schmähung, zum andern auf der Iteration stark obligierender Initiativen Hahns, die bei v. Schack eine Serie mechanischer Höflichkeitsreaktionen auslösen. Allen Anzeichen nach hielt v. Schack die Strategie, seinerseits auf der Ebene der Höflichkeit zu bleiben und nicht Hahns konfliktären Kurs mitzugehen, in der Kaffeehaus-
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Szene durch.⁵² Dies war wohl nur möglich unter dem Vorsatz, bei passender Gelegenheit Satisfaktion zu verlangen. Grundlose Beleidigung, aggressives Imponiergebaren gelten nach den kodifizierten Komments als Fehler der „Renommage“. Anzumerken bleibt, dass in der Aussage Hildebrands ein Ausruf in direkter Rede steht, der die beiden Vermittlungsstufen (Wiedererzählung des Gesprächs, Protokollieren der Wiedererzählung) passieren konnte. Insgesamt scheint in den Protokollen eine phraseologische Grundschicht der Mündlichkeit durch.
4.2 Pennalistisches Vexieren (1767) Zur sozialkommunikativen Kompetenz gehört auch die Fähigkeit zu einem partnerorientierten Handeln, das gerade nicht im Dienste guter Verständigung, effektiver Problemlösung, beiderseitigen Vorteils oder gesellschaftlichen Nutzens steht, das vielmehr die Normen der Höflichkeit und der zwischenmenschlichen Rücksichtnahme suspendiert. Unter den Wertmaßstäben der Rationalität und Normalität stellt sich ein solches Handeln als dysfunktional und gestört dar. Doch auch Interaktionen, in denen gegen Maximen der Kooperativität⁵³ und der Höflichkeit systematisch verstoßen wird, können durchaus über eine längere Strecke aufrechterhalten werden und eine regelhafte Strukturierung aufweisen, so dass man unterstellen muss, dass in solchen Interaktionen nicht nur konventionelle ‚inkooperative‘ Verfahrensmuster realisiert werden, sondern die Interagierenden einander in gewisser Weise auch ‚für voll nehmen‘ und irgendeinen ‚Sinn‘ mit ihrem Tun verbinden. Dieser Sinn braucht nicht in subjektiven Überzeugungen zu gründen, er kann auch anders, z. B. traditional, durch Brauch und Herkommen bestimmt sein. Für den interaktiven Prozess werden dann typischerweise auch die traditionellen Sprachmittel und Verfahren eingesetzt. Der folgende Konfliktfall ist ohne den Hintergrund pennalistischer Bräuche,⁵⁴ wie sie im 18. Jahrhundert in gewandelten Formen noch fortlebten, nicht recht zu ver-
Hahns Aussage, v. Schack sei ihm „muthmaßlich mit einer Mine zu nahe kommen“, wird durch nichts gestützt. Klärend zum Begriff der Kooperativität am Beispiel konfliktärer Gespräche Schank , S. f.; vgl. auch ebd. S. : „Kooperativ sein heißt, sich verstehen wollen, sich guten Willen unterstellen, sich ernst nehmen, ein für beide positives Ziel erarbeiten wollen.“ Eine detaillierte Darstellung des Pennalwesens gibt Schöttgen . Im vorliegenden Zusammenhang ist Schöttgens Bemerkung (S. ) wichtig, dass von den alten Spottbezeichnungen für die Neulinge nur noch Feix üblich sei. Dieses Feix ist nach H. Rosenfeld (; Neudruck:
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stehen. Kindleben verlagert 1781 diese Bräuche nur mit halbem Recht in die Vergangenheit: „Auch bey den Studenten war ehedem das Hänseln,Vexieren und Prellen der neuen Studenten gewöhnlich, welches sie auch deponiren, hudeln, einweihen nannten, wie wir unter dem Worte Fuchs umständlicher gezeigt haben.“⁵⁵ Das Protokoll der Beschwerde des Studenten v. Luzow vor dem Göttinger Universitätsgericht besticht durch eine zeitlupenartige Präzision:⁵⁶ Gestern im Gatterschen Collegio wäre der Herr von Hardenberg zu ihm kommen und habe gefraget Fuchs haben sie keine Feder? Er habe ihm dar auf zur Antwort gegeben, Ich habe keine Federn, sie werden derselben vielleicht bey sich haben. Darauf hätte sich der Herr von Hardenberg eine Bleyfeder von Herrn […]⁵⁷ her ausgeliehen. Wie sie aus dem Collegio gegangen, so habe der Herr von Hardenberg wieder zu ihm gesagt: ein Fuchs müßte nicht bey ihm gehen, denn er stänkte zu sehr. Worauf der von Luzow ihm zur Antwort ertheilet: er sey ein Ertzfuchs und röche noch viel stärker. Bemerkenswert ist vorderhand, dass die Handlungs- und Interpretationsmuster der studentischen Lebensform in den offiziellen Raum der Institution Universität hineingetragen werden. Zur komplexen Voraussetzungsstruktur der Szene gehört in erster Linie das Wissen um die traditionellen Implikationen des Begriffs ‚Fuchs’, um die Hierarchien innerhalb der Studentenschaft, um konventionelle Erwartungen, Rechte und Verbindlichkeiten. An der Lebensform der Gruppe zu partizipieren, sich auf sie einzulassen, heißt vor allem nach dem Handlungswissen der Gruppe sprachlich, und nicht nur sprachlich, zu agieren. Bei diesem Handlungswissen kann man mit einiger Plausibilität drei Komplexe unterscheiden: (1) Die sprachliche Kompetenz, das System der Einheiten, Relationen und Regeln. Als zentral wird hier die semantische Komponente angesehen, die Fähigkeit also, Sprachzeicheninhalte auf verschiedenen Komplexitätsstufen zu synthetisieren. Das semantische Wissen geht (bei den denotierenden Wortarten) gleitend über in das sog. enzyklopädische Wissen (‘Weltwissen’).
Henne/Objartel , Bd. , S. – ) die Ausgangsform für das studentensprachliche Fuchs, das allerdings schon um geläufiger wird. Kindleben, Studenten-Lexicon, s.v. Hänseln (Henne/ Objartel , Bd. , S. ). Universitätsarchiv Göttingen: AZ C/LIX Crim . Name nicht sicher lesbar (Diederich?).
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(2) Die pragmatisch-interaktionale Kompetenz, verstanden als die Fähigkeit, Äußerungen (sprachlicher oder mimisch-gestischer Art) oder sonst symbolische Akte mit Handlungssinn zu verbinden, Situationsäquatheit und im Dialog Responsivität und Kohärenz zu erreichen, konventionelle Interaktionsund Textbildungsverfahren umzusetzen. (3) Die sozio-kulturelle Kompetenz, das Wissen um soziale Strukturen, Funktionen und Normen in einem weiten, Einzelgruppen übergreifenden Sinn, sowie das Wissen um Werte, Mentalitäten, Ideologien u. dgl. und um deren gesellschaftliche Verteilung. Bei der Untersuchung von Gruppensprachen ist gerade die dritte Komponente, unter Einschränkung auf das für die spezielle Gruppe Relevante, immer im Auge zu behalten. Eine Gruppensprache beweist sich nicht zuletzt darin, dass sie die Gruppe als solche definiert und strukturiert. So leistet die Studentensprache eine Abgrenzung des Studenten als Bruder Studio, Musensohn, Bursch usw., eine mehrdimensionale Binnengliederung der Gruppe mit einer Fülle von Bezeichnungen, etwa für interne Hierarchien (Fuchs, Brander, Bursch), für die Fachzugehörigkeit (Bibelhusar, Pandektenritter), für Studententypen (Renommist, Petitmaitre, Mucker), für das Maß der Teilhabe am Verbindungsleben (Kränzianer, Renonce, Wilder, Fink), für Grade der Intimität persönlicher Beziehung (Landsmann, Freund, Bruder, Hausbursch, Stubenbursch); sie bietet aber auch ein System von Außenabgrenzungen gegen Philister (besonders Manichäer ‚Gläubiger‘), Schnurren ‚Stadtwächter‘, Knoten ‚Handwerksgesellen‘, Schniepel ‚Kaufmannsdiener‘, zudem subtile Differenzierungen besonderer Bezugsgruppen, vor allem natürlich der jungen Damen. Mit diesen sozialen Strukturierungen sind Handlungsweisen und Handlungserwartungen verbunden, die über die beiden anderen Schichten des kommunikativen Handlungswissen hinausreichen. Um auf den Text zurückzukommen: Nach sprechakttheoretischen Gepflogenheiten würde man den ersten Wortwechsel als eine Sequenz aus Aufforderung und Ablehnung analysieren. Nach Luzows weitergehendem Verständnis ist Hardenbergs Äußerung aber keine Aufforderung, sondern die unverschämte Anmaßung eines ‚Fuchses‘, der den Status eines ‚Burschen‘ usurpiert und auf dieser Basis zu imponieren versucht. Hardenbergs Ansinnen ist sprachlich mit einem hohen Dringlichkeitsgrad formuliert, der soziale Verpflichtungsgrad ist aber gleich Null. Luzow macht mit seiner Erwiderung klar, dass er Hardenberg durchschaut. Auf einer tieferen, sozialen oder sozialpsychologischen Ebene erscheint der Wortwechsel somit als (a) schlecht fundierter Imponierversuch und (b) bloßstellende Abwehr dieses Versuchs. Diese Kurzinterpretation, die durch den weiteren Textverlauf gedeckt ist, sollte nur die Auffassung stützen, dass man über die semantische und auch über die pragmatische Komponente hinaus zur Er-
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klärung (zum methodisch geleiteten Verständnis) von Sprachhandlungsgefügen kommunikativ relevantes soziales Wissen braucht. Über die verschiedenen Arten und Ebenen des Wissens und ihre Interrelationen soll hier nicht weiter spekuliert werden. Zwei Annahmen erscheinen relativ unproblematisch: Der Zusammenhang von Sprache und Wissen ist im Alltagsbereich besonders eng, insofern Lebenspraxis permanent kommuniziert und in Sprache ‚sedimentiert‘ wird. Und: Bei der Speicherung von Wissen spielt der Wortschatz die entscheidende Rolle. Sozial geteiltes, in natürlichsprachlichen Verständigungsprozessen eingespieltes Wissen kann mithin auch als lexikalisch-semantisches Wissen aufgefasst werden; es ist in seinen typischen Konfigurationen durch Wörter in der normalen Kommunikation wie im Experiment abrufbar. Die Verständigung über lexikal gebundenes Wissen wird üblicherweise geregelt durch Explikationen von Wortbedeutungen, welche aus den Explikationen dann als die Inhalte der zur Explikation verwendeten Formulierungen zu verstehen sind. Die Frage, wo die soziale Komponente des kommunikativen Handlungswissen aufzusuchen ist, führt also zurück auf die Konventionalität der Bedeutungen einschlägiger Sprachzeichen. Sie wird damit sprachwissenschaftlich analysierbar. Die Ermittlung und erst recht die Form der Darstellung dieser lexikalischen Bedeutungen sind dann eher methodische Probleme. Das Sprachzeichen im Beispiel ist das Konkretum Fuchs. Ebenso gut aber könnten auch Abstrakta wie Freundschaft und Burschikosität, Adjektive wie honorig und fidel oder Verben wie renommieren und ochsen Gegenstände der Analyse sein. Allen diesen Zeichen ist gemeinsam, dass sie Bündelungen typischer Eigenschaften, Einstellungen und Handlungen darstellen. Zur Verdeutlichung noch einige Bemerkungen: – Nicht ist gemeint, dass die Bedeutungsexplikation solcher Sprachzeichen, an denen sich Vorstellungen von sozialen Funktionen, Beziehungen, Szenen, Handlungsweisen und Stereotypen kristallisieren, erst auf eine vorgängige sozialpsychologische Analyse des Innenlebens einer Gruppe und ihrer Außenkontakte warten muss.Vielmehr kann das Wissen, das für die Explikation des sozialen Bedeutungsanteils von Sprachzeichen benötigt wird, im Prinzip – und sogar genauer und ökonomischer – über die linguistische Analyse von textlichen Produktionen der Gruppe gesammelt und systematisiert werden. Wer von sich sagen kann, dass er bis zu einem gewissen Grade die Texte einer Gruppe versteht und ihre Sprache kennt, hat diese Art des Wissens schon erworben. – Gemeint ist auch nicht, dass für die Analyse der ‚sozialen Grammatik‘ eines Textes eine Fülle fallspezifischer Ad-hoc-Kenntnisse erforderlich ist – so unverzichtbar derartige Kenntnisse für eine hochsensible Ausdeutung aller Zwischen- und Begleittöne eines Textes sein mögen. Vielmehr ist Ziel dieser Analyse das, was an sozialen Konventionen, an konventionellem sozialen
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Handeln in den Text eingegangen und ohne solche Zusatzkenntnisse auszumachen ist. Für diese Stufe der Interpretation reicht die Feststellung, dass – im Fall – die beiden Kontrahenten mit der wechselseitigen Unterstellung operieren, sie seien ‚Füchse’, und dass die Implikate dieses Wortkonzepts die Interaktion wiederholt in Gang bringen. Die Tatsache, dass Karl August von Hardenberg zu dem Zeitpunkt 16 Jahre alt und Erstsemester, also ‚Fuchs’, ist, während von Luzow, fast gleichzeitig in Göttingen immatrikuliert, vorher schon in Kiel studiert hatte,⁵⁸ verändert die Interpretation der sozialen Handlungsstruktur des Textes nicht. Benutzt man bei der Lektüre des Beispieltextes das soziale Wissen, das im Wortkonzept Fuchs (Studentensprache um 1770) kondensiert ist,⁵⁹ so schließt sich der Text fast wie von selbst auf. FUCHS. Synonym: Pennal (nach mlat. pennale ‚Federbüchse’) 1. Denotative Bedeutung Student als Neuankömmling auf der Universität, bis zum Ende des ersten Semesters. 2. Metaphorische Bedeutung Fokussiertes Merkmal: ‚stinkt‘ (vgl. Szene ‚Fuchsenankunft’⁶⁰); auch: ‚wird geprellt‘ (entsprechend dem Jägerbrauch⁶¹), vgl. 4c. 3. Pragmatische Bedeutung Als Anrede kränkend;⁶² usw.
G. von Selle (Hrsg.): Die Matrikel der Georg-August-Universität – . Hildesheim u. Leipzig , Nr. (Hardenberg) und (Lowtzow). Das Wissen ist rekonstruiert aus Texten und Wörterbüchern der . Hälfte des . Jhs.; es ist hier der Einfachheit halber dargestellt in Form eines Wörterbuchartikels mit einigen Verweisen. Die Szene ist im . Jh. beliebt als Stammbuchbild; Reproduktionen z. B. Acad. Monatsh. . /, S. ; Fick , S. , , ; Fabricius , S. ; Neubert , S. (jeweils mit hänselnden Sprüchen, wie „es stinckt“). Wie ankommende Füchse (ehemals) in Jena traktiert wurden, schildert Kühl , S. – . Vgl. J. G. Bärens: Kurtze Nachricht von Göttingen entworfen im Jahre , hrsg. von F. Frensdorff, in: Jb. des Geschichtsvereins f. Göttingen u. Umgebung, Bd. (Jg. ), Göttingen , S. : „prellen: ein Terminus, der seinen Ursprung von der grausamen Lustbarkeit hat, welche große Herren öfters mit den Füchsen vorzunehmen pflegen. Daß diesen Titel angehende Studenten zu führen pflegen, ist bereits bekannt.“ Als regelrechte Beleidigung galt die Anrede Fuchs jedoch nur gegenüber einem älteren Semester; vgl. Schluck , S. . Die Bestrebungen der frühen Burschenschaft um eine Gleichstellung aller Studenten führten in diesem Punkt zeitweise sogar zu einer Verschärfung: „man hob alle Vorrechte älterer Burschen vor den jüngeren auf und machte es zu einer groben Beleidigung,
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Soziale Bedeutung (vgl. Studentenkomment) a) Hat niedrigsten Status in der studentischen Hierarchie (Fuchs – Brander – Bursch), entsprechend eingeschränkte Rechte (vgl. b) und besondere Verpflichtungen (vgl. c/d). b) Darf in einer studentischen Verbindung keine Charge bekleiden; darf nicht beim Kommers präsidieren oder vorsingen; darf einem Burschen kein Du („Schmollis“) anbieten; usw. c) Ist gegenüber dem Burschen verpflichtet zu: Träger- und Botendiensten; Spendieren; Leihen der Schreibfeder; usw. d) Muss über c) hinaus ein gewisses Maß an Hänselei und Geringschätzung seitens des Burschen erdulden. e) Erwartet wird von ihm, dass er sich gegen willkürliche, übermäßige Kränkungen und Misshandlungen wehrt, zur Wahrung seiner Ehre. f) Soll den Komment erlernen und sich im Imponiergehabe (des Burschen) üben.
Hardenberg inszeniert jugendliches Imponiergehabe, indem er den Burschenstatus erprobt und Luzow mit Stereotypen traktiert (‚Fuchs muss Schreibfeder leihen‘, ‚Fuchs stinkt‘), denen er bis in seine Formulierung hinein eng verhaftet bleibt. Im weiteren Verlauf eskaliert die Interaktion Stufe um Stufe, indem Hardenberg zunächst Tätlichkeiten („Nasen Stüber“, „was über die Ohren“) androht, schließlich die kommentmäßige Realinjurie („Ohrfeige“) anbringt. Luzow, der bis dahin jede Stufe mitgegangen war, dabei allerdings mehr echoartig die Äußerungen Hardenbergs replizierend (Fuchs – Ertzfuchs, usw.), beschränkt sich auf verbale Nachgefechte: metakommunikative Klärung des Interaktionsmodus („Ist es Scherz oder Ernst?“), schwere Verbalinjurie (dummer Junge; nach Realinjurie als Avantage allerdings unwirksam) und offenbar auch Androhung einer Beschwerde beim Prorektor.⁶³ Gerade diese Drohung aber dürfte für Hardenberg der Moment höchsten Triumphes gewesen sein, denn wer im Injurienfall „gerichtlich klagbar wird ist für sein ganzes akademisches Leben im Verschisse, und kann in der Zukunft Niemanden beleidigen auch von Niemanden Satisfaktion erwarten.“⁶⁴ Im Rückblick auf das Gesamtgeschehen bleibt feststellen, dass drei Handlungsphären die Sinnhorizonte und die Äußerungsmittel vorgaben: Nach pennalistisch gefärbtem Statusgerangel (Fuchs) schwenken beide Kontrahenten auf die Linie eines kommentmäßigen Ehrenkonflikts ein („Ohrfeige“, dummer Junge), die Luwenn ein Neuangekommener mit dem Namen Fuchs von älteren Burschen aufgezogen wurde“ (R. Wesselhöft über Jenaer Verhältnisse von ; zit. Haupt , S. ). In diesem Punkt stimmen die Vernehmungsprotokolle nicht überein. Augustin , S. .
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zow auf dem Höhepunkt der Eskalation – wohl auch veranlasst durch die Intervention des Hofmeisters – in Richtung auf institutionelle „satisfaction“ verlässt.
4.3 Ein Wortstreit in zweifacher Erinnerung (1770) Der folgende Fall verdankt seinen Platz in den Akten der Meldung des Chirurgus, der den verletzten Cleve behandelte, an den Prorektor. Beide Studenten bemühen sich in ihren schriftlichen Eingaben um eine detaillierte Wiedergabe ihres nahtlos in einen Zweikampf (hier: „Rencontre“⁶⁵) übergehenden Streitgesprächs.⁶⁶ Reineke: […] Zum Unglük hatte Hr Cleve seine Laune heute in einen weit höhern Grade als sonst. So gar mein Gang muste ihm Gelegenheit zu Spöttereien geben: „du läufst zu wie ein Faßbinder, sagte er mir mit einer ganz satyrischen Miene, ich glaube du hättest dich perfect gut zu einen Brief Bothen geschickt, und wenn der hiesige einmal abgeht, so wird man dir das Ämtgen gewis auftragen“ – „So lange du in Helmstaedt bist, mein lieber Cleve, gab ich ihm zur Antwort, darf ich wol nicht daran denken, denn du hast deinen Cörper so leicht zu machen gewust, daß man dir gewis in diesem Stük mehr Fähigkeiten zu traut als mir“ – Hr Cleve ward sehr empfindlig über diese Antwort, und nante sie beißend; Ich sagte ihm aber daß es nicht schön sey, da etwas beißendes in meinen Reden auf suchen zu wollen wo ich gar nicht daran gedacht hätte. – Hier fand er wieder Beleidigung, und sagte mir in einem gebietherischen Thone: „er liebte die Beywörter nicht“ – „und ich Hr Cleve; war meine Antwort, liebe es eben so wenig daß man mich ein schrenken wolte ob ich mit oder ohne Beywörter reden solte; – Kurz ein Wort gab das andere, wir wurden aufgebracht und griffen in der Übereilung beyde zum Degen. […] Cleve:
[…] Wir waren beyde sehr lustig. Hr. Reinecke der stärker gieng als man zu gehen pflegt, wenn man spatziert, schien durch einige unschuldige Scherze die durch seine Eilfertigkeit verursacht wurden, aus seiner freundschaftl. Laage gesetzt zu seyn. Er beantwortete sie auf eine sehr beissende Art. Seine Anzielung auf meinen leichten Körper waren mir höchst unangenehm und Hr. Reinecke schien mich damit aufziehen zu wollen. Er sagte ferner, es sey nicht schön, Worte die für mich gleich-
Das ‚Duell-Mandat‘ für die Universität Helmstedt von ordnet die „concertirten Recontres“ zwischen „ordentlichen Duellen“ und „unversehenen Attaquen“ ein. NSA Wolfenbüttel: Alt .
4.3 Ein Wortstreit in zweifacher Erinnerung (1770)
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gültig seyn müsten, gleichsam als eine Beleidigung anzusehen. Die Worte: es sey nicht schön, sagte er mit einer hämischen Miene, die mich in Erregung brachte. Schon längst schien es, als ob mich Hr. Reinecke nicht freundschaftlich begegnete und itzt glaubte ich von seiner Verachtung überzeugt zu seyn. Ich sagte ihn, ich sey kein Liebhaber von Beywörtern ein gewißer Blick mit dem er mich ansahe seine Ausdrücke und sein ungewöhnl. Betragen gab mir hiezu vielleicht Gelegenheit.Wir wurden ernsthafter und ich weis nicht durch was für Worte und durch was für Beleidigungen wir beyde bewogen wurden aus Uebereilung die Degen zu ziehen. Wir schlugen uns. […] Trotz intensiver und ergebnisreicher Forschung der gesprochenen Sprache der Gegenwart, trotz zahlreicher Untersuchungen zu Gesprächen in fiktionalen Texten⁶⁷ ist kaum etwas darüber bekannt, was mit realen Gesprächen geschieht, wenn sie aus der Erinnerung zu Papier gebracht werden. Wenn die Erforschung des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und die Rekonstruktion von Aspekten gesprochener Sprache in Alltagssituationen zu den zentralen Aufgaben moderner Sprachgeschichtsforschung unter pragmatischem Vorzeichen gehören,⁶⁸ dann sollte dieser Frage in Einzelstudien anhand von relevantem Material auch nachgegangen werden. Über das Verhältnis von Originalgespräch und Wiedergabe sind kontrollierbare Aussagen noch am ehesten möglich, wenn zu einem Original mehrere voneinander unabhängige Aufzeichnungen existieren. Das vorliegende Textepaar erlaubt es, einige vergleichende Beobachtungen unter drei Gesichtspunkten beizusteuern: (1) Welche verbalen, paraverbalen und nonverbalen Gesprächsaktivitäten werden im Schrifttext in welcher Weise manifest? (Frage der Wiedergabe von Inhalten und Formen der Rede sowie der Umsetzung verbaler oder nonverbaler Zeichen und u.U. von Nicht-Zeichenhaftem in Sprachzeichen). (2) Verhältnis von Gesprächswiedergabe und (nachträglicher) Gesprächsdeutung. (3) Welche Kriterien für den Grad der Authentizität der Wiedergabe gibt es? (Maximalhypothese: das Gespräch ist vollständig und ohne Zutat wiedergegeben).
Einen knappen Überblick über die wichtigsten Unterschiede zwischen fiktionalen und realen Dialogen geben J. House/W. Koller: Zum Sprachverhalten in fiktiven und realen Alltagsdialogen. In: B. Sandig (Hrsg.): Stilistik. Bd. : Gesprächsstile. Hildesheim [usw.], S. – ; ausführlich zum Problem A. Betten: Sprachrealismus im deutschen Drama der siebziger Jahre. Heidelberg . Vgl. die programmatischen Aussagen in Sitta , v. a. auch die ‚Thesen‘ am Schluß (S. – ).
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4 Fallanalysen
Zu (1): Wo für die Gesprächswiedergabe die Form direkter Rede gewählt wird, liegt zumindest der Versuch vor, den Originalwortlaut wiederzugeben. Auch die Form indirekter Rede hat im wesentlichen die Funktion, den ursprünglichen Wortlaut noch erkennen zu lassen, doch ist die Sachlage in der Praxis hier schon komplizierter. Nur Reinecke wählt die Form direkter Rede (kursiv gesetzt), er setzt Anführungszeichen einmal sogar bei indirekter Rede. Formulierungen des Gehalts konkreter Sprechakte als Ganzen oder des Gehalts einzelner (illokutiver, propositionaler, perlokutiver) Teilakte lösen sich demgegenüber oft völlig vom ursprünglichen Wortlaut. Das ist daran zu erkennen, dass die in der Wiedergabe gewählten Formulierungen schlecht als die originalen Formulierungen oder als Teile davon vorstellbar sind. (a) Illokutionsbeschreibung: z. B. „Seine Anzielung auf“; (b) Beschreibung (von Teilen) des propositionalen Gehalts: z. B. „seine Eilfertigkeit“, „meinen leichten Körper“; (c) Beschreibung des perlokutiven Effekts: z. B. „waren mir höchst unangenehm“; (d) Beschreibung einer als perlokutiver Versuch gedeuteten Handlung: z. B. „schien mich damit aufziehen zu wollen“. Besonders wo es um die Beschreibung des (e) Interaktionsmodus, (f) emotionaler Einstellung und (g) subjektiver Bewertung (ga) einzelner Gesprächsakte oder (gb) des gerade erreichten Standes der Interaktion geht, divergieren beide Texte erwartungsgemäß; z. B. sind für Reinecke „Spöttereien“, was für Cleve „unschuldige Scherze“ sind. Eine Grenze zwischen der Wiedergabe der in der Gesprächssituation geleisteten Interpretation der kommunikativen Prozesse und der Neudeutung des Gesprächs in der Schreibsituation lässt sich nur selten ziehen, am ehesten wohl dort, wo metakommunikative Äußerungen des Originals durchscheinen. Ein interessantes Detail in diesem Zusammenhang ist die Verschiebung des Prädikats „beißend“ aus dem Wortlaut des Gesprächs (Reineke) in die Kennzeichnung einer anzüglichen Art zu reden (Cleve). Mimik und Intonation („Miene“, „Blick“, „Thon“) spielen in der Gesprächswiedergabe eine große Rolle, offenbar aus der Alltagserfahrung, dass die unwillkürlichen Phänomene der ‚stummen Beredsamkeit‘ die wahren Absichten des Kommunikationspartners kundtun.⁶⁹ Die Wiedergabe dieser Kommunikationsmittel kann man wiederum nach den Aspekten sortieren, die für die (Wiedergabe von) sprachlichen Handlungen erarbeitet worden sind, und man entdeckt z. B. die ‚perlokutive‘ Wirkung einer „Miene“. Zu (2): Der Vergleich beider Texte ergibt, dass bei Konzentration auf den Wortlaut (Reinecke) die Gesprächsdeutung zurücktreten kann, dass umgekehrt bei
Vgl. Beetz , bes. S. – , zur großen Bedeutung, die Mimik, Gestik und Körpersprache im Komplimentierwesen der Barockzeit besaßen. Im . Jahrhundert dürfte das nicht wesentlich anders gewesen sein.
4.3 Ein Wortstreit in zweifacher Erinnerung (1770)
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Konzentration auf die Gesprächshandlungen (Cleve) mit der retrospektiven Verbalisierung von Handlungen deren Deutung sich unvermeidlich verbindet, und in diesem Fall allerdings auch nachträgliche Deutungen mit größerer Wahrscheinlichkeit einfließen. Dabei verzichtet Reinecke keineswegs auf Deutung der Geschehnisse; vielmehr gibt er einleitend eine weitreichende charakterologischpsychologische Begründung für seine und Cleves Handlungsweise, setzt diese Begründung jedoch von der Gesprächswiedergabe klar ab. Zu (3): Authentizität der Gesprächswiedergae ist ein relativer Begriff, auch insofern, als der Grad der Authentizität mit den einzelnen Phasen des Gesprächs wechseln kann. Um Kriterien für den Authentizitätsgrad zu gewinnen, sind zunächst einmal die Situations- und Kontextfaktoren der Schreibhandlung durchzugehen. Wichtige Faktoren sind: (a) Zeitdistanz zwischen realem Gespräch und erinnernder Niederschrift: Gespräch Reinecke – Cleve am 28. 7.; Reineckes Schreiben trägt das Datum des 2. 8., Cleves Schreiben ist undatiert, beide Schreiben sind eigenhändig (im Unterschied etwa zu Diktaten, Protokollen, Niederschriften drittbeteiligter Zuhörer, sekundären Bearbeitungen). (c) Eigenoder Fremdinitiative: Niederschriften hier auf Verlangen der Universitätsbehörde. Damit unterliegen sie (d) institutionellen Rahmenbedingungen und sind als (e) institutionsbezogene Textsorte („Species Facti“) angelegt. Von dem konventionellen Textsortenzweck (Tathergangsschilderung) ist die (f) persönliche Zielsetzung der Schreibenden abzuheben (wechselseitige Zuschreibung von Schuld und Verantwortung). (g) In der Fokussierung der Erinnerung auf die ersten Stufen der Konfrontation gleichen sich beide Texte, auch in der summarischen Abhandlung des Restgesprächs. (h) Die Antizipation der Leserperspektive zeigt sich in der ausführlichen Kontextualisierung der Gesprächsausschnitte, schon in der Kennzeichnung der Sprecher-Hörer-Rollen. Zu kalkulieren sind (i) Interferenzen des literarischen Stils der Darstellung von Gesprächen in Erzähltexten⁷⁰ auf den sachorientierten Berichtsstil für einen institutionellen Zweck, besonders bei Reinecke. So ist zumindest fraglich, ob Reinecke in dem originalen Zweiergespräch tatsächlich so oft namentliche Anreden des Partners in seine Gesprächsbeiträge einbaute, wie es nach dem Schrifttext aussieht. Die Übereinstimmung beider Texte ist angesichts der Umstände erstaunlich und reicht bis zu gleicher Wortwahl (beißend; nicht schön; Beywörter). Der Verdacht einer Absprache über Aufbau und Inhalt der Tathergangsschilderung entfällt wohl, da beide Kontrahenten trotz versöhnlichen Tons sich doch gegenseitig belasten: Reinecke führt Cleves „Laune“ als Auslösemoment an, Cleve markiert
Dazu ausführlich und anregend Oksaar .
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4 Fallanalysen
Reineckes Verstoß gegen die Temponorm beim Spazierengehen.⁷¹ Zwei Charakteristika des Originalgesprächs sind noch klar zu erkennen: Das Gespräch enthielt pointierte Wortwechsel mit „Anzielung“ auf die Person; dabei dürfte gerade die Pointiertheit des Dialogs erinnerungsfördernd gewirkt haben. Das Gespräch enthielt auf die Rede des Partners bezogene Metakommunikation, die in Versuche mündete, den Partner in der Freiheit seiner Rede einzuschränken, wenn nicht sogar ihm das Wort zu verbieten. Der kodifizierte Studenten-Komment führt derartige Versuche als ‚Beleidigung‘ („verbitten“), wie auch bestimmte gestischmimische und körpersprachliche Äußerungsformen, die in diesem Streitfall wichtig werden („auffallendes Ansehen“, „auffallendes Wesen“: Jena 1809/12). Der Streit zwischen Cleve und Reinecke findet einen versöhnlichen Epilog, der auf die Funktionalisierung des studentischen Duells im Sinne einer gewissermaßen durch Blut besiegelten Brüderschaft deutet. Am 28. September 1770 verewigt sich der schreibgewandte Reinecke in Cleves Stammbuch⁷² mit einem langen Gedicht über Oront („ein Mann der nichts natürlich sieht“), das mit den Versen ausklingt: O! Freund! Laß uns beym frohen Kuß, den Thor Oront verlachen, und einen kleinen Zwist zum Wachstum für die Freundschaft machen.
4.4 Spottverse (1778) Dass für die Konstitution persönlicher Ehrenkonflikte eine besondere Wahrnehmungshaltung und Deutungstendenz ausschlaggebend sein kann, auch da, wo der kommunikative Austausch nach den Regeln der Alltagspragmatik keinen konkreten Anlass für eine konfliktäre Orientierung gibt, wurde schon verschiedentlich angedeutet. Der zugrundeliegende sozialpsychologische Mechanismus
Reineckes Vorauseilen konnte wohl als Dominanzstreben verstanden werden; zu den in diesem Bereich geltenden Höflichkeitsregeln vgl. Beetz , S. . NSAWolfenbüttel:VI HS , Nr. , Bl. . Reinecke verwendet in dem Eintrag Chiffren, die auf Zugehörigkeit zu einem Studentenorden deuten. Sicher ist, dass Reinecke, am . . in Erlangen immatrikuliert, dort Mitglied des Concordienorden war; vgl. R. Paschke: Das Erlanger Ordensstammbuch Wagner, in: Archiv für Studenten- und Hochschul-Geschichte, hrsg. v. G. Meyer-Erlach, Heft , Würzburg , S. (Nr. des Mitgliederverzeichnisses). Die von Reinecke verwendeten Chiffren stimmen mit den bekannten Zeichen des Concordienordens (vgl. Merzdorf, Der Concordienorden nach den bis jetzt unbekannten Originalacten, in: Latomia. Freimaurerische Vierteljahrsschrift . , S. – ) soweit überein, dass seine Zugehörigkeit zur zweiten Stufe des Ordens erkennbar wird.Wahrscheinlich existierte der Orden um (noch) in Helmstedt; vgl. Richter u. .
4.4 Spottverse (1778)
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scheint zu sein: Eine hohe Ehrauffassung, damit auch ein hohes Maß an persönlicher Ehrenhaftigkeit kann man dadurch unter Beweis stellen, dass man in Bezug auf Äußerungen oder sonstige Aktivitäten eines andern tendenziell die schlimmere bzw. schlimmste Lesart wählt, um so den Anspruch auf ‚Satisfaktion‘ (in welcher Form immer) möglichst hoch zu schrauben. Die maximalisierende Deutung kann als unausgesprochene Hypothese die weitere Interaktion begleiten und in ihr auch stillschweigend wieder zurückgenommen werden. Kommt sie jedoch impulsiv zum Ausdruck, ist der Modus der Interaktion umdefiniert, und das Verharren des andern im bisherigen Modus, z. B. in einem diskursiven Gesprächsstil, in dem der Eskalationsschritt etwa als ‚Missverständnis‘ angesprochen würde, kann die einseitige Emotionalisierung oft nicht verhindern, ja sogar provokativ wirken. Auch auf der Gegenseite gewinnt die einmal zum Ausdruck gebrachte konfliktäre Orientierung eine eigene Dynamik, denn eine Rückkehr zum vorigen Interaktionsmodus würde zum wenigsten das implizite Eingeständnis einer Fehlreaktion bedeuten. Die Bereitschaft dazu kann aber i. Allg. nur durch eine übermäßige Honorierung im voraus erwirkt werden. Eine Gesprächsentwicklung gemäß der beschriebenen Weichenstellung ist modellhaft vorgeführt in den ‚Natürlichen Dialogen‘ (1772): Ein durchaus rationales Argument eines alten Hauptmanns kontert ein junger Leutnant mit den Worten: „Herr Hauptmann, das ist ein Pasquill auf mich, und dies leide ich nicht.“ Sein Argument ist die Duellforderung; der Klärungsversuch des Hauptmanns „Pasquill? Haben Sie einen Begriff von dem Worte?“ wird als „Schulfüchserey“ abgetan.⁷³ Der Autor erreicht mit der Verwendung des Wortes Pasquill hier zweierlei: Es wird demonstriert, dass ein maximalisierender Übersprung zu einem Begriff ‚schwere Injurie‘ stattfindet; zudem setzt sich der Sprecher ins Unrecht durch den falschen Gebrauch von Pasquill. ⁷⁴ Die Vorstellung eines gegen ihn gerichteten Pasquills ist auch das Motiv für die Aktivitäten des Studenten Horn:⁷⁵ Derselbe gab an daß ohngefehr vor 8 oder 10 Tagen des Schn.[eiders] Pechau Magd verschiedene scandaleuse Verse und unter anderm auch auf ihn lautend gegen alle Mädgens bey dem Wasser hergesagt: Er wäre sobald er solches er-
Göchhausen , S. , . Definition nach dem preuß. ‚Landrecht‘ (), . T., . Titel, § : „Injurien, die durch schriftliche Aufsätze, durch Druckschriften, durch Gemälde, Kupferstiche, oder andere sinnliche Darstellungen geäußert worden, sind Pasquille, wenn sie der Urheber selbst, oder durch Andere, öffentlich aufgestellt, oder verbreitet hat.“ Pasquille werden gleich den Realinjurien als „grobe oder schwere Injurien“ eingestuft; ebd. § . NSA Wolfenbüttel: Alt .
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4 Fallanalysen
fahren das Mädgen bey dem H. Burgm.[eister] Dedekind verklagt: Diese habe gerichtlich gestanden daß sie die Verse von dem Stud. Curio gehört. Darauf sey er sofort zu dem Stud. Curio gegangen und hätte ihn darüber zur Rede gestellt: Curio habe ihm geantwortet: Er hätte bey seinem Wirth in der Stube gesessen, da wäre ihm die Zeit lange geworden, da hätte er die Verse zum Spas gemacht: Dadurch sey Comparent aufgebracht worden, und hätte gedachten unter den Worten Wenn er Spas dergleichen anzügliche und lästerliche Verse zu machen [„oder Pasquillant wäre“ am Rande nachgetragen⁷⁶], so müste er ihm auch aus Spas ein Paar Ohrfeigen zur Belohnung geben. Da er denn auch demselben mit der Hand eine Ohrfeige und mit dem bey sich gehabten Stock einen Schlag gegeben. Die Gegendarstellung des Kontrahenten Curio vor dem Universitätsgericht: […] will nicht an sich kommen lassen alle die angegebenen Verse gemacht zu haben – nur zweyn nemlich Der Teufel binde die Weiber an sagt Schmidt Erdmann und Es fällt sehr schwehr sagt der Färber Büttner Die andern Verse wären von Studiosis in seinem Logis hergesagt worden, wisse aber nicht wer solche gemacht habe. Er will nur gestehen daß der Stud. Horn ihn gefragt: ob er Verse gemacht, welches er mit Ja beantwortet. Wie viele der auf rund drei Dutzend Einwohner Helmstedts gemünzten Spottverse auf Curio zurückgehen und ob er überhaupt eine auf Horn gezielte Beleidigungsabsicht verfolgt hat, bleibt nach dem Aktenmaterial unentscheidbar; auch die zusätzlichen Vernehmungen von Hausgenossen Curios (der Schneidersfrau, der jungen Magd und eines Gymnasiasten) durch die städtische Gerichtsbarkeit erbringen darüber keine Klarheit. Jedenfalls setzt Horn mit ‚Koramation‘ und ‚Realavantage‘ einen kommentmäßigen Interaktionsprozess in Gang, den Curio umgehend, in berechtigter Erwartung eines kommentmäßigen Abschlusses, mit einer schriftlichen Duellforderung weiterführt:
Der Nachtrag kann so verstanden werden, dass Horn nach Verlesung des Protokolls (zwecks Einverständniserklärung des Vernommenen) auf diesen Zusatz Wert legte.
4.4 Spottverse (1778)
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Ich bitte mir für Dein Banditenverfahren Ehren Genugthuung aus, oder glaub sicherlich, ich werde nicht eher ruhen, bis Einer von uns beyden völlig unglücklich ist. Curio Ist schon Horns Aussage zu entnehmen, dass er den von Curio signalisierten Interaktionsmodus („Spas“) ironisch verkehrte, so zeigt der Ausdruck „Banditenverfahren“ im Billet an, dass Curio die Vorgehensweise Horns für überzogen, wenn nicht für sachlich völlig unbegründet hielt. Indem nun aber Horn auf die Duellforderung nicht reagiert, erweist sich sein Einstieg in das Kommentmuster als taktisches Manöver: Mit Ohrfeige und Stockhieb hat er sich hinreichend Revanche verschafft und in Avantage gesetzt, zudem besitzt er mit Curios Forderungszettel einen Trumpf für den Fall einer Einschaltung des Universitätsgerichts. Curio scheint in dieser misslichen Lage einige Tage darauf verwandt zu haben, Horn durch Spottverse wie ich hab’ ihn schon aufs Korn, sagt Hr. Horn, ich hab’ auch einen großen Sporn, sagt Hr. Horn zur Annahme der Forderung zu reizen.⁷⁷ Schließlich bringt er die festgefahrene Sache, da er sich von den Normen des Studentenkomments nun gleichfalls entbunden fühlen kann,⁷⁸ vor das akademische Gericht, wo beide im Anschluss an die Vernehmungsprozedur dem Brauche nach „reconciliiret“ (miteinander versöhnt) werden. Mit den in Curios Handschrift⁷⁹ auf zwei Blättern überlieferten Spottversen und den aktenmäßigen Informationen über deren Verbreitung wird ein Stück Volkskultur im 18. Jahrhundert greifbar, wobei die Verteilung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von Produktion und Verbreitung der sozialen Typik entspricht. Die Professoren vermuten sogar eine Kooperation zwischen Curio und seiner Haus-
Auf fortgesetzte Sticheleien verweist auch Horn in seiner Aussage. Auffällig ist das große Zeitintervall zwischen dem Streitanlass (Horn: „vor oder Tagen“) und der Gerichtssitzung; die Frist zwischen Duellforderung und Antwort war nach dem Komment sehr kurz (s.o. .). J. C. D. Curios Loyalität gegenüber dem Ehrenkomment erscheint sicher, da er sich zwischen und mit dem Zeichen „A et C“ eines Studentenordens (vgl. Richter , S. ) in mehrere Stammbücher eingetragen hat. Auch die Papiersorte scheint mit der des Forderungszettels identisch. Curio war übrigens zum Zeitpunkt der Vorfälle schon mehrere Jahre lang schriftstellerisch tätig gewesen; vgl. K. Goedeke (u. a.): Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. IV. (), S. ; V (), S. f.
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4 Fallanalysen
wirtin; diese habe „wohl die Leute charakterisiren helfen und die zweckdienlichen Data dazu an die Hand gegeben“. Ob die simplen, an Eigennamen festgemachten Reimpaare ursprünglich schriftlich konzipiert wurden, bleibt unklar; sie könnten auch erst auf Verlangen des Gerichts aus dem Gedächtnis zusammengestellt worden sein. Die von der Magd und der Schneidersfrau vor Gericht memorierten Verse haben sämtlich – meist ungenaue – Entsprechungen auf dem einen oder dem anderen Zettel; eine Richtung der Variantenbildung ist nicht auszumachen. Zum Problem der perspektivischen Bewertung und verbalen Kategorisierung von Handlungen ist noch anzumerken, dass Horn mit seinem Begriff „Pasquillant“ allein steht. Auf wirkliche Pasquille stand nach den akademischen Gesetzen die Relegation.⁸⁰ Die Professoren sehen „anzügliche und zotigte Reime“ und sprechen von „injurioser Anzapfung in Versen“, die aber durch Horns „Thätlichkeiten“ aufgewogen werden.
Vgl. ‚Akademische Gesetze‘, Helmstedt , Abschnitt XXIII: „Wer einen andern durch Pasquille […] beleidigt, […] der wird in einer Relegation für ehrlos erklärt werden.“
5 Die typischen Formen des Sprachhandelns im Interaktionsmuster Unter Heranziehung weiteren Materials soll in diesem Abschnitt versucht werden, die für Ehrenkonflikte konstitutiven Handlungsmuster in ihren sprachlichen Realisierungsformen präziser zu beschreiben. Zunächst sind da als speziellere Formen, für die auch literarische Beispiele herangezogen werden: die Wenn-DannBeschimpfung, das echoartige Aufschaukeln und die Kurzform der Retourkutsche. Sodann aber und vor allem sollen sämtliche Sprachhandlungstypen, die auf den verschiedenen alternativen Wegen durch das kommentmäßige Interaktionsmuster zu aktivieren sind, anhand authentischer Textbeispiele charakterisiert werden. Zur Vergewisserung über den sachlichen Zusammenhang, in dem die genannten Phänomene stehen, sei das Wesentliche der bisherigen Analysen kurz zusammengefasst: Ein sozial relevanter Bereich kommunikativen Handelns wurde als Interaktionsmuster abgegrenzt und intern differenziert. Die Normativität des Musters geht, vermittelt über kommunikative Erfahrung, in das Handlungswissen der historischen Subjekte ein als Komplex von Verpflichtungen und Gegenerwartungen, die kohärente Sinnbildungsprozesse und koordiniertes Agieren ermöglichen. Musterkonforme Interaktionsverläufe garantieren die gemeinsame Erreichung eines gemeinsamen Ziels: Restabilisierung der gestörten Ehrenordnung (Satisfaktion) und persönliche Aussöhnung. Mit der Zielstruktur des Musters sind konventionelle Strategien als kohärente Schrittfolgen gemeinsam erwartbar. Die im Muster enthaltene Gradation und Irreversibilität von Handlungsschritten regelt die Eskalierung der Interaktion. Dabei kann die Initiative durchaus einseitig bleiben, notwendig für die Erfüllung des Musters ist aber natürlich das Mitziehen des andern. Beiderseitig betriebene Eskalierung wie auch das Überspringen einzelner Stufen führen zu desto rascherem Durchlauf. Die höchsten Beleidigungen sind verbale oder non-verbale Akte ‚ad hominem‘. Gewisse Komplikationen oder Abweichungen von der Normalform, z. B. unerklärte Verzögerungen, können durch Krisenmanagement (auch Dritter) bewältigt werden. Mit offener Obstruktion oder verdeckten Strategien (Täuschungsmanövern) ist die gemeinsame Handlungsbasis – soweit sie bestand oder legitimerweise vorausgesetzt werden konnte – jedoch verlassen. Die Fixierung ‚zweideutiger‘ Ausdrücke (jenseits traditioneller Schimpfwörter) schafft feinere Kriterien für die Bewertung des Interaktionsmodus im Vorfeld des Kommentmusters. Veränderungen des Interaktionsmodus sind primär in den Dimensionen ‚höflich – unhöflich‘ sowie ‚Scherz – Ernst‘ festzustellen. Eine latente konfliktäre Orientierung kann, zumal bei exakter Kenntnis der Kommentregeln, für bestimmte Situationen, z. B. bei Hörbeteiligung Dritter, vorausgesetzt werden. Mehrfach zu bemerken war die Tendenz zur maximalisierenden
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5 Die typischen Formen des Sprachhandelns im Interaktionsmuster
Deutung, die auch an unwillkürlichen Begleitphänomenen des sprachlichen Kommunizierens (Tonfall, Mimik usw.) ansetzen kann. Diese Deutungstendenz manifestiert sich typischerweise impulsiv, etwa in unangemessen negativer Kommentierung von Partneräußerungen oder in plötzlicher (verbaler) Aggressivität.
5.1 Konditionale Beschimpfung, metakommunikative Avantage und Präventivbeleidigung Im 17. und 18. Jahrhundert begegnen nicht selten Beschimpfungen, die folgende drei Merkmale aufweisen: (1.) Sie enthalten einen substantivischen Ausdruck aus dem anerkannten Schimpfwortrepertoire; (2.) sie beruhen semantisch auf einem Konditionale (‚wenn/wenn nicht – dann‘); (3.) sie sind syntaktisch meist zweiteilig. Der interaktionale Kontext der Äußerung ist in der Regel so, dass der Sprecher entweder seiner starken – u.U. wiederholten – Aufforderung mit einer angedrohten Beschimpfung Nachdruck verleiht (1)– (5) oder seine eingegangene Selbstverpflichtung dadurch absichert, dass er dem Partner für den Fall eines Ausbleibens der erwartbaren Gegenleistung die Konsequenzen vor Augen stellt (6) – (8). (1) wollen sie aber nicht, so halte ich Sie für einen Hundsfott. (Nach Aufforderung zur Fechtweise nach „Burschen-Manier“ beim Duell)⁸¹ (2) Herr Hauptmann! Zum allerletzten mal! – oder Sie sind ein Poltron! (Nach Aufforderung, den Degen zum Duell zu ziehen)⁸² (3) Ein Berenheuter, der mihr nicht bescheiden thutt. (Nach Aufforderung zum Nachtrinken)⁸³ (4) Eine Canaille, die nicht austrinckt! (Nach Aufforderung, bei einer „Gesundheit“ das Glas ganz zu leeren)⁸⁴ (5) Ein Hundsfot, wers nicht auch so macht! (Hat sein leeres Glas zum Fenster hinausgeworfen, die Mitzecher folgen seinem Beispiel)⁸⁵ (6) Ein Schurke! der nicht in Person erscheint, oder andere in die Affaire zieht. (Nach Annahme einer Duellforderung)⁸⁶
Studentenbillet Marburg ; zit. Heer a, S. . Göchhausen , S. . Raue , S. . Picander, Der Säuffer (), S. . ‚Ferrol‘ , S. . Studentenbillet Göttingen ; UA Göttingen: C/XCV .
5.1 Konditionale Beschimpfung, metakommunikative Avantage
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(7) Ein Schelm, der nicht da ist. (Nach Verabredung eines Duells)⁸⁷ (8) Ein Hundsvogt läßt ein Wort davon fallen. (Nach Anbieten eines Duelltermins)⁸⁸ Die Beispiele (1) – (4) möchte man als sprachliche Realisierungsformen von Drohungen auffassen; (1) und (2) zeigen direkte Anredeformen, (3) und (4) sind indirekt, aber im Situationskontext eindeutig adressiert und in der Form Aufforderungssätzen angenähert. (5) ist in diesem Rahmen nicht zu interpretieren, da die Interaktion sich im Modus ‚Spaß‘ bewegt. Die Beispiele (6) – (8) lassen sich davon als Warnungen absetzen; direkte Anredeformen dürften auch in hier zu den grammatischen Möglichkeiten gehört haben. Die konditionale Relation kann auch in der Form eines einfachen Aussagesatzes ausgedrückt werden (8). Den Beispielen aus schriftlich konzipierten Texten lassen sich besonders aus Vernehmungsprotokollen zahlreiche weitere – in der Form indirekter Redewiedergabe – hinzufügen, so dass konditionale Beschimpfungen auch im mündlichen Sprachverkehr der Studenten als üblich gelten können. In (11) wird die Verbalinjurie mit der Androhung einer Realinjurie gekontert. (9) Hahn hätte einige mal zu dem Hn Fähndrich gesaget wann er ihn nicht vor einen resonablen burßen hielte wäre er ein Hundes Vott ⁸⁹ (10) Hr. Hahn hätte gesaget zu dem Hr. Fähndrich, ein Hundes Vott der nicht zu ihm käme. ⁹⁰ (11) Der Stud. Overlach habe darauf gesprochen: wer Flöcker für einen schlechten Menschen halte sey ein Hundsvott Er Comparent hätte erwiedert wenn Overlach dergl. noch einmahl sagte, würde er ihm Ohrfeigen geben ⁹¹ (12) Runkel fuhr auf und sagte wenn das Weismann gesagt hätte, so sei er der dümste Jung von der Welt ⁹² Ein besonderer Typ von Avantage nimmt metakommunikativ auf die voraufgehende Partneräußerung Bezug, ist damit kotextuell eindeutig adressiert. Auch das erscheint in studentischen Aussageprotokollen:
Raue , S. . Studentenbillet Göttingen ; UA Göttingen: C/XCI . Aussageprotokoll Helmstedt ; zum Fall oben . (Aussage Thiedo). Wie Anm. ; NSA Wolfenbüttel: Alt , Bl. (Aussage Hildebrand). Aussageprotokoll Helmstedt ; NSA Wolfenbüttel: Alt , Bl. ). Zit. Meyer-Camberg a, S. (Erlangen ).
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5 Die typischen Formen des Sprachhandelns im Interaktionsmuster
(13) Daß redet ein Cujon ⁹³ (14) Das sagt ein Hundes etc. ⁹⁴ (15) Wobei er Kl.[äger] hierauf nun geanthw[ortet] daß solches ein infamer Hundes etc. sagete ⁹⁵ In all diesen Fällen geschieht die Beschimpfung, wenn man die grammatischen Strukturen betrachtet, nicht direkt auf den Kopf zu. Der pragmatische Sinn der Äußerungen wäre aber nur unzureichend erfasst, wenn man eine Warnung oder Drohung als die dominante Sprachhandlung ansetzte.Vielmehr entscheidet – wie die Reaktionen der Angesprochenen in Face-to-face-Interaktionen zeigen (Bsp. 11 usw.) – der Beleidigungsausdruck die Bewertung der Äußerung, ganz so, als läge eine Beschimpfung in direkter (unkonditionierter) Form vor. Zur Erklärung dieser Beschimpfungstypen kann wiederum der Mechanismus der maximalisierenden Deutung herangezogen werden: Rechnet der Sprecher mit einer seiner Ehre oder der seiner Freunde abträglichen Äußerung oder Handlung (bzw. Unterlassung) in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, so kommt er der möglichen Bestätigung seiner Vermutung mit einer ‚Präventivbeleidigung‘ zuvor. Sie kann die harmlose Funktion der Bekräftigung einer Freundschaft haben: (16) Ein Hundsvott, der ihn [den „Bruder“] schimpfen soll! (‚Landesvater‘-Lied)⁹⁶ Auch in diesem Bereich zeichnen sich im späteren 18. Jahrhundert strengere kommentmäßige Formen ab: Die in Präventivbeleidigungen gebrauchten Ausdrücke werden identisch mit den höchsten Verbalavantagen. Die Praxis der Präventivbeleidigung betrifft dann speziell (noch) unbekannte Adressaten, nähert sich damit einem Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt. Für diesen Untertyp hat der Komment die Bezeichnung „Trumpf“.⁹⁷ Ursprünglich ein Gesprächsschritt, wird die Präventivbeleidigung nun auch als geschriebener Text realisiert: (16) [Warnung in einem Stammbuch:] Wer Noten macht ohne seinen Namen beizuschreiben, der ist in vorzüglichem Grad ein dummer Junge. ⁹⁸
Raue , S. . ‚Hundes-Voigt‘ , S. . Aussageprotokoll , UA Göttingen: C/CXXIII . Liederhs. Koehler ; s. Anhang B, Nr. VII; wortgleich bei Augustin , S. . Komment Breslau , Punkt : „Trümpfe sind Beleidigungen, im bezug auf eine vergangene oder zukünftige Handlung, von der es unbekannt ist, wer sie beging.“ Zit. G. Längin: Ein Stammbuch J. P. Hebels ( – ). In: Alemannia (), S. .
5.2 Echoeffekte und Strukturspiegelungen im Dialog
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(17) Am Montag Abend um 7 Uhr zischte Jemand als Unterschriebene einander etwas sagten. Im Falle der Thäter hiermit uns meinte erklären wir ihn für einen dummen Jungen: Matthies Kloß Man bittet diesen Zettel zirkuliren zu lassen ⁹⁹
5.2 Echoeffekte und Strukturspiegelungen im Dialog Da die konfliktäre Orientierung auf den Point d’honneur sich aus den unterschiedlichsten kommunikativen und aktionalen Zusammenhängen heraus entwickeln kann, ist die initial aggressive Äußerung in ihrer sprachlichen Form kaum vorhersehbar, so dass eine adäquate Reaktion einige Geistesgegenwart und verbale Fertigkeit erfordert. Die plötzliche Bündelung aller Aufmerksamkeit auf die kritische Partneräußerung und der Zwang zu einem raschen Gegenzug zwecks Gesichtswahrung blockieren oft die sprachliche Eigenproduktion und führen tendenziell zu echoartigen Repliken, deren klassische Form die Retourkutsche ist. Die Elementarform der Retourkutsche, bei der die in der Einstellungsbekundung verwendeten sprachlichen Mittel im Kern identisch rückadressiert werden, schafft, oberflächlich gesehen, eine Pattsituation, ist aber gesprächstechnisch nicht gleichwertig, da die Initiative der Eskalierung auf kein ‚kooperatives‘ Mitgehen trifft; außerdem ist besonders für historische Zeiten zu beachten, dass bei ungleichem Sozialstatus der Kontrahenten eine Retourkutsche durchaus einseitig negative Sanktionen auslösen konnte.¹⁰⁰ Eine Stufe über der planen Retourkutsche rangiert die Rückadressierung der mit morphologischen oder lexikalischen Mitteln (Flexion, Wortbildung; Adverbien, Adjektive usw.) gesteigerten Äußerungsform (z. B. „Fuchs“ – „Ertzfuchs“, oben 4.2.). Aus gesprächsanalytischer Sicht interessanter sind komplexere Formen der variierenden Wiederaufnahme von Teilen der Partneräußerung bei fortschreitender Eskalation des Konflikts.
Nachlass J. G. B. F. Kloß im Kösener Archiv (Depositum des Instituts für Hochschulkunde, Würzburg), Bd. „Akademika der Universität Göttingen /“, Nr. c, . Vgl. etwa die Stelle im Reisetagebuch (Zeit: – ) des Leinewebergesellen B. Riedel, wo beschrieben wird, wie ein Geselle „den Meister mit seinen eigenen Schimpfworten wieder zurück geschimpft“ habe und vom Tribunal der Meister „zu einer Strafe von drei Talern verdonnert“ worden sei; zit. W. Fischer: Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. Selbstzeugnisse seit der Reformationszeit. Göttingen usw. , S. ).
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5 Die typischen Formen des Sprachhandelns im Interaktionsmuster
Otto von Corvin schildert in seinen Lebenserinnerungen eine Szene, die sich 1832 zwischen einem jungen „Zivilisten“ und ihm als neunzehnjährigem Offiziersanwärter abspielte:¹⁰¹ Da ich sah, daß er ein wenig zu viel getrunken hatte, so legte ich keinen besonderen Wert auf seine Aeußerungen, stand aber auf, um zu gehen und sagte: „Ich kenne Sie ja, Emmermann!“ Er stand ebenfalls auf und rief: „Nun, wie kennen Sie mich denn?“ „Ich kenne Sie par renommée,“ antwortete ich. „Und ich,“ rief er, „kenne Sie als, als – einen Jungen.“ „Sie werden von mir hören,“ erwiderte ich und verließ die Loge.
Wenn unter Responsivität das angemessene und erwartbare Aufeinandereingehen der Gesprächspartner auf der Beziehungs-, Handlungs- und Themaebene verstanden wird,¹⁰² so ist der dargestellte Gesprächsausschnitt ein Argument dafür, dass die Frage der Angemessenheit und Erwartbarkeit für verschiedene Handlungssysteme und Gesprächstypen recht unterschiedlich und im allgemeinen nur sehr tentativ zu beantworten sein dürfte. Emmermanns eruptive Äußerung am Schluss erscheint angesichts des moderaten Verhaltens seines Gesprächspartners unverständlich, ist aber für Ehrenkonflikte nach dem Kommentmodell wiederum nicht untypisch. Auffälligstes Merkmal dieser Wechselrede ist die extrem starke Orientierung an der syntaktisch-lexikalischen Struktur der jeweiligen Vorgängeräußerung. Abgesehen von der Gesprächsbeendigung, bewegen sich die satzförmigen Beiträge innerhalb der grammatischen Möglichkeiten, die das Verb kennen eröffnet. Konstant durchgehalten wird sogar eine Struktur, mittels derer die Beziehung zwischen den beiden Personen direkt thematisiert wird („Ich kenne Sie“). So entbehrt der Eklat, der durch die Gegenspiegelung „par renommée“ : „als – einen Jungen“ an einer variablen Position herbeigeführt wird, nicht einer gewissen konstruktionell bedingten Zwangsläufigkeit, nachdem eine deeskalierende Bewertung der Partnerbeziehung auf die Nachfrage hin ausgeblieben war.¹⁰³ Heinrich Manns Roman ‚Der Untertan‘ enthält ein Beispiel für Strukturspiegelung in grotesker Verzerrung. (Diederich Heßling war die Tanzpartnerin entführt worden.¹⁰⁴) „Mein Herr“, sagte er und sah ihm fest in die Augen, „Ihr Benehmen ist unqualifizierbar.“ Der andere erwiderte: „Wennschon.“ Überrascht von dieser ungewöhnlichen Wendung eines offiziellen Gesprächs, stammelte Diederich:
O. v. Corvin: Ein Leben voller Abenteuer, hrsg. v. H.Wendel, Frankfurt/M. , Bd. , S. . Vgl. Henne/Rehbock , S. ff. Der Ausdruck Junge (kurz für dummer Junge) zieht in diesem Fall ein Pistolenduell nach sich. H. Mann, Der Untertan [entstanden /], Hamburg , S. .
5.2 Echoeffekte und Strukturspiegelungen im Dialog
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„Knote.“ Der andere erwiderte prompt: „Schote“ – und lachte dabei. Durch so viel Formlosigkeit vollends aus der Fassung gebracht, wollte Diederich sich schon verbeugen und abtreten; aber der andere stieß ihn plötzlich vor den Bauch – und gleich darauf wälzten sie sich zusammen am Boden.
Indem der Autor von einer „ungewöhnlichen Wendung eines offiziellen Gesprächs“ spricht, gibt er dem Leser eine Hilfe für den vollen Genuss der Komik der hier modellierten gesprächspragmatischen Brüche. Diederichs kommentkonforme Initiative (‚Koramation‘) signalisiert für den weiteren kommunikativen Austausch einen Erwartungsrahmen, den der Kontrahent mit einem Wort verwirft. Diederichs Neuansatz ad hominem, nun außerhalb des Kommentmusters, wird mit einem Reimwort gekontert, das, nachdem der formelle Gesprächsmodus schon verlassen ist, nun auch noch den Modus der Ernsthaftigkeit destruiert. Man kann hier von einer – in der Stilintention des Autors liegenden¹⁰⁵ – kommunikativen Demontage des Gegners durch systematische Verschiebung des Interaktionsmodus sprechen, die Irritation und Desorientierung bewirkt. Der traditionellen Gesprächsrhetorik, speziell der Eristik, ist die pragmatische Technik im Prinzip bekannt, wenn etwa „Schikanen und Finten“¹⁰⁶ oder Taktiken wie ‚Entwaffnung durch Komik‘¹⁰⁷ behandelt werden. Kennzeichnend für die Gesprächsentwicklung bei Ehrenkonflikten ist die rasche Eskalation und Zuspitzung auf den Punkt, an dem die Rolle verbaler Mittel ausgespielt ist. Die Vorgabe von Eskalierungsregeln in Form der Gradation von Beleidigungsausdrücken im Komment hat gerade den Sinn, interaktionelle Stagnation infolge mentaler Blockaden oder andererseits interaktionelle Turbulenzen infolge hochgradiger Emotionalisierung zu verhindern. Zu diesen Maßnahmen gehört auch das Verbot der „Retour-Kutsche“¹⁰⁸, deren Einsatz das vorzeitige Verebben der Aktivitäten bei Gleichstand, also eine inkommentmäßige Beendigung des Konflikts bedeuten könnte. Die heute noch nachwirkende Verpönung dieses in Streitsituationen
Diederichs Kontrahent ist ein adliger Offizier, gegen den er auch in der weiteren Verhandlung der Ehrensache nicht ankommt. K. O. Erdmann: Die Kunst Recht zu behalten. Methoden und Kunstgriffe des Streitens. . Aufl. Frankfurt/M. , S. – u. ö. Vgl. Kiener , S. , mit Verweis auf H. Seyboth, Hohe Schule des Schimpfens, München . Ins Komische gewendet wird eine Beleidigungssituation auch in der Sprechpassage des Studentenliedes ‚Ungeheure Heiterkeit ist meines Lebens Regel‘ (ca. ): „Hören Sie mal, geschah das mit Vorsatz?“ – „Nein, mit dem Absatz!“ – „So? Na, das finde ich ja sonderbar!“ – „Thun Sie mir den einzigen Gefallen, finden Sie hier Nichts sonderbar! Sie sind ein dummer Junge!!“ Der Ausdruck Retour-Kutsche m.W. zuerst bei Wallis ; ferner z. B. im Komment Breslau ; Retour-Chaise im Komment Jena .
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5 Die typischen Formen des Sprachhandelns im Interaktionsmuster
gängigen kommunikativen Verfahrens scheint, historisch gesehen, zunächst ein Spezifikum des studentischen Komments gewesen zu sein.
5.3 Sprachhandlungsschritte und Sorten geschriebener Texte Ehrenkonflikte konnten von der kommunikativen Kontaktaufnahme bis zum Duell kontinuierlich im Rahmen einer Situation ausgetragen werden,wie der Fall Cleve – Reinecke zeigt (oben 4.3). Mag eine derartige Komprimierung des Interaktionsprozesses auch die Ausnahme gewesen sein, so verweist der Fall doch auf die prinzipielle Entbehrlichkeit von Schriftverkehr zwischen den Kontrahenten. Anlässe und Motive für Schreibhandlungen ergaben sich erst bei Unterbrechung der Interaktionslinie, bei Verzicht auf die Einschaltung von Unterhändlern und bei einem gewissen Vertrauen in die Bereitschaft des Gegners zur Kooperation nach „Burschmanier“,¹⁰⁹ insbesondere zur Geheimhaltung. Mit den kodifizierten Komments um 1800 ist die Schriftlosigkeit bei Ehrenhändeln zur Norm erhoben. Für den voraufliegenden Zeitraum des 18. Jahrhunderts ist die strikte Geltung einer solchen Norm jedoch nicht zu erkennen, wenigstens nicht für bestimmte Schritte der Interaktion. So werden in den Duellmandaten, die auch oder speziell an die Studierenden gerichtet sind, immer wieder „Kartellträger“ erwähnt,¹¹⁰ und noch der ‚Burschen-Comment‘ von 1780 sieht das „Cartell“, die schriftliche Duellforderung, als reguläre Möglichkeit neben der mündlichen vor.¹¹¹ In der gerichtlichen Behandlung von Injurienfällen hatten „schriftliche Abbitte“¹¹² und schriftliche „Ehrenerklärung“¹¹³ eine lange Tradition. Diese Praxis spielte auch in das studentische Injurienwesen herüber und wurde in den späteren Komments noch verfeinert (vgl. oben 3.5). Die Überlieferung von Billets aus dem Handlungsfeld studentischer Ehrenkonflikte ist nach der Natur der Sache sehr sporadisch; exakte Aufschlüsse über den Grad der Üblichkeit schriftlicher Kommunikation je nach Hochschulort und
Vernehmungsprotokoll Wiedemann, anlässlich der Entdeckung des Göttinger Mopsordens (Universitätsarchiv Göttingen: AZ XG Nr. (), Bl. ). Z. B. im Preußischen Duellmandat von ; Abdruck bei Augustin , S. . – Der später sog. „Kartellträger“, der noch in den Wörterbüchern der Studentensprache des . Jhs. auftaucht (z. B. ; vgl. Henne/Objartel , Bd. , S. ) überbringt nicht notwendig eine schriftliche Duellforderung. Schluck , S. ; ebenso List , S. f. Preuß. Duellmandat [wie Anm. ], S. ; vgl auch das preuß. ‚Landrecht‘ (), . Teil, . Titel, § § – . Preuß. ‚Landrecht‘ (), . Teil, . Titel, § f.
5.3 Sprachhandlungsschritte und Sorten geschriebener Texte
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Zeitraum sind nicht zu gewinnen. Meine Sammlung von rund 20 einschlägigen Texten zwischen 1739 und 1798 hat den Charakter einer Zufallsstichprobe für den Zeitraum vor dem Einsetzen schriftlicher Komments.¹¹⁴ Ergänzt um einige Texte aus dem frühen 19. Jahrhundert, ist das Korpus intern immerhin so diversifiziert, dass die Frage nach den Textsorten gestellt und das Interaktionsmuster in den linguistischen Aspekten noch etwas genauer beleuchtet werden kann. Nach dem Kriterium der dominanten Texthandlung lassen sich die meisten Zettel bestimmten Schritten im kommentmäßigen Ablaufmuster zuordnen. Die sofortige Beilegung der Sache bei zweifelhafter Beleidigungsabsicht ermöglicht die (1) KORAMATION als Aufforderung zu einer Erklärung. Sie kann die Art der Antwort offenlassen, wie in dem frühen Fall von 1739: bitte mir ein declination aus was sie von mir wollen ¹¹⁵ Nach den Kommentregeln zielt sie auf einen förmlichen WIDERRUF (‚Revokation‘). So ist in Göttinger Studentenbillets der neunziger Jahre die Differenz zwischen WIDERRUF und ABBITTE (‚Deprekation‘) durch die Art der Formulierung deutlich markiert: (1a) AUFFORDERUNG ZUM WIDERRUF: muß ich dich […] bitten, mir schriftlich […] die Versicherung zu geben, daß du mich nicht hättest beleidigen wollen und können. ¹¹⁶ (2a) AUFFORDERUNG ZUR ABBITTE: Ich verlange daher, daß Sie […] im Beiseyn der Herren, die mit Ihnen gingen (die Sie also mit sich bringen werden) und meiner Freunde, mich um Verzeihung bitten.¹¹⁷ (2b) Das Spezifische des Handlungstyps ABBITTE (‚Deprekation‘) ist das förmliche Um- Verzeihung-Bitten: ich stehe also keinen Augenblick an, Sie […] hiemit um Verzeihung zu bitten. ¹¹⁸ Der Widerruf kann mit einer förmlichen Ehrenerklärung verbunden sein:¹¹⁹ (1b) WIDERRUF: so lasse ich mich willig finden, […] hiemit zu erklären, daß alle ob besagte Bildermahlerei und anzügliche Namen zur Kränkung des Herrn Hillegeist aus Einfalt und Unüberlegtheit von mir geschehen; ferner daß ich einen sehr un-
Stefan Brüdermann verdanke ich den Hinweis auf einige ergiebige Göttinger Universitätsakten der er Jahre. Vgl. den Fall oben .. Anhang D . Anhang D . Anhang D . Anhang D .
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5 Die typischen Formen des Sprachhandelns im Interaktionsmuster
besonnenen Streich begangen, indem ich den Herrn Hillegeist einen dummen Jungen hieß. (1c) EHRENERKLÄRUNG (anschließend): Ich erkläre hiemit also feierlich, daß ich nicht im Stande war der Ehre des Herrn Hillegeist, den ich iezt für einen sehr honetten und rechtschaffenen Mann erkenne, Abbruch zu thun. (3) Die ABLEHNUNG EINES WIDERRUFS kann mit einer Normberufung gestützt werden: Nein, ich kann gar nicht begreifen, wie Sie sich einbilden können, ein Gießer – ein zweybrücker soll revociren: es wäre das erstemal. ¹²⁰ Die Aufforderung zur Abbitte kann auch ein „Bekannter“ des Betroffenen schriftlich an den Beleidiger richten.¹²¹ Für den Erfolg der Aufforderung zu Widerruf, Ehrenerklärung oder Abbitte ist ein korrekter, die Höflichkeitsnormen wahrender Ton Bedingung. (4) ABLEHNUNG EINER ABBITTE: Ich würde nicht das mindeste Bedenken tragen, Sie […] um Verzeihung zu bitten, wenn Sie nicht ein so pöbelhaftes Billet an mich geschrieben. – Die „Schimpfreden“ erfahren ausdrücklich „keine retorsion“.¹²² Wie die Ablehnung einer Abbitte, so kann auch die (3) Ablehnung eines Widerrufs gleich mit der (5) Signalisierung der Duellbereitschaft verbunden werden: So war ich gezwungen dir die Meinung zu sagen […] Verlangst du mehr von mir so bin ich bereit. ¹²³ Nach (3) oder (4) sowie auch bei Ausbleiben einer Antwort innerhalb der angemessenen Frist erfolgt die (6a) DUELLFORDERUNG, die als schwerwiegender Schritt offenbar gern so verhüllt formuliert wurde, dass die tatsächliche Funktion des Billets bisweilen nur bei Kenntnis der Interaktionsgeschichte festzustellen ist.¹²⁴
Studentenbrief aus Gießen nach Erlangen, (zit. Meyer-Camberg a, S. ). Studentenbillet Göttingen ; UA Göttingen: C/XCV . Anhang D . Anhang D . Vgl. das oben in . zitierte Billet, in dem an der Oberfläche lediglich „Ehren Genugthuung“ gefordert wird; der Schreiber behauptet in der Vernehmung zunächst, es sei „kein provocations Billet“.
5.3 Sprachhandlungsschritte und Sorten geschriebener Texte
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und es wird deshalb bloß auf einen Wink von Ihnen ankommen, wo als dann pünktlich zu erscheinen nicht ermangeln wird dero Diener. ¹²⁵ Die folgende Formulierung gibt weniger Rätsel auf: Ich erwarte Nachricht, ob du dich dazu verstehst, mir Satisfaction dafür zu geben. Ueberbringerin dieses darfst du nur Ort und Zeit bestimmen. ¹²⁶ Der Herausforderer bestimmt die Austragungsmodalitäten des Duells (Waffe, Fechtweise usw.), sofern nicht die ortsüblichen Kommentregeln gelten sollen. Das folgende Beispiel ist ein Vorgriff auf die Kieler Burschenschaft von 1821: Herr Senior, Ich der sogenannte Schisser Teuffer erkläre Ihnen hiemit daß ich denjenigen der auf meinen Verschiß angetragen hat, auf Pistolen Barriere 5 Schritt fordere, wünsche sobald wie möglich loszugehen, am selben Tage wo Sie dieß erhalten. – Teuffer. ¹²⁷ (6b) Die ANNAHME DER FORDERUNG ist mit dem Recht verbunden, Termin und Ort zu bestimmen: Sonntag morgens 9 Uhr werden Sie sich bei der Papiermühle einzufinden wissen, und sich schlagen. ¹²⁸ Indem die Abgabe dieser letzten Informationen konventionell dem Geforderten vorbehalten bleibt, ist seine aktive Mitwirkung unzweifelhaft. Das Duell erscheint somit als Folge einer beiderseitigen und freiwilligen Vereinbarung, so dass die Verantwortung auch unter juristischem Aspekt in etwa gleich verteilt ist. Die soweit entwickelte Textsortencharakteristik war orientiert am kommentmäßigen Interaktionsmodell und an der normalen Abfolge der sprachlich realisierbaren Handlungsschritte. Offenkundig waren die in den Kommenttexten definierten (schriftlosen) Handlungszüge bereits vorher als Sorten geschriebener Text in Gebrauch. Die Verknüpfung dominanter Texthandlungen zu obligaten Sequenzen oder doch kalkulierbaren Serien bedingt im Regelfall den Schreiberwechsel, so wie Schrittfolgen im Interaktionsmodell meist mit dem Wechsel der
Anhang D Anhang D . Untersuchungsakten zur Kieler Burschenschaft; Schleswig-Holsteinisches Landesarchiv: / (. . ). Zum Kontext vgl. Toll , S. . Studentenbillet Göttingen ; UA Göttingen: C/XCV .
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5 Die typischen Formen des Sprachhandelns im Interaktionsmuster
Aktantenrolle verbunden sind. Es finden sich aber auch Kombinationen sonst separater Handlungsschritte im Rahmen eines Textes, z. B. Verbalavantage und Duellforderung¹²⁹, Ablehnung einer Abbitte und Duellforderung¹³⁰. Das Korpus enthält Zweierfolgen (einmaliger Adressatenwechsel) und sogar eine Dreierfolge von Billettexten. Dies bedeutet, dass bei schriftlicher Initiative auch die weitere Verhandlung tendenziell bei der Schriftform blieb. In Anbetracht des kleinen Korpus fällt die Variationsbreite der Textierungsformen auf. Ein gewisser Grad der Standardisierung ist nur bei der Realisierungsform der Abbitte zu erkennen, und gerade dieses Handlungsmuster dürfte den Studenten aus der allgemeinen Gerichtspraxis bei Injurienfällen auch einigermaßen bekannt gewesen sein. Damit stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten des Erwerbs des in solchen Situationen benötigten sprachlichen Handlungswissens, nach den Bedingungen der Stabilisierung kommunikativer Erfahrungen, nach der Grundlage von Textnormen und Textsortentraditionen. Dass Briefsteller im 18. Jahrhundert Mustertexte etwa für Forderungsbillets bereitgestellt hätten, ist nicht bekannt; auch in der Belletristik finden sich kaum (fiktive) Texte aus dem hier untersuchten Handlungsfeld.¹³¹ Überhaupt dürften Muster für die von Studenten bevorzugte Art der verdeckten, mehrdeutigen Formulierung wenig hilfreich gewesen sein. Es scheint demnach, dass die studentischen Gebrauchstexte vereinzelte Kommunikationsereignisse waren, die in keinen eigentlichen Texttraditionen standen und auch keine solchen begründeten. Wenn für die Ausbildung einer Textsortenkompetenz mindestens die Kenntnis jeweils mehrerer einschlägiger Texte nötig ist, dann ist die Anwendbarkeit der Begriffe Textsorte und Textsortengeschichte im Bereich der studentischen Billets eher fraglich. Doch ungeachtet des geringen Typisierungsgrades in der Textform erfüllen die vorgestellten Billettexte eine konventionelle kommunikative Funktion; sie können dies, weil das schreibende Subjekt auch in Ermangelung der Kenntnis spezieller Textierungsmuster wenigstens zwei Orientierungsmöglichkeiten hatte: (1.) den Vergleich des aktuellen Standes der Interaktion mit den im Kommentmuster enthaltenen Handlungsschritten (rudimentäre Kommentkenntnis vorausgesetzt); (2.) die über eingespielte Sprachhandlungsbezeichnungen, wie Provokation/Herausforderung, Revokation/Widerruf, Deprekation¹³²/Abbitte, Ehrenerklärung/declaratio honoris usw., vermittelten Handlungsfunktionen, die eben auch in schriftlicher Form zum Ausdruck gebracht werden konnten. Hinzukommen
Anhang D , Text . Anhang D . Laukhard, Schilda, T. (), S. f. steht eine vollständige studentische „Ehren=Erklärung“. Vgl. den Stammbucheintrag. „Herr, ich versichere Sie, ein Pursch deprecirt sein Tag nicht!“ (Halle ) bei Keil , S. .
5.3 Sprachhandlungsschritte und Sorten geschriebener Texte
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konnte, wie gesehen, (3.) ein konkreter Vorgängertext mit seinen von der Normativität des Interaktionsmusters herrührenden Obligationen bzw. seinen interaktionsprozessual und/oder interaktionsmodal bedingten (u.U. inakzeptablen) Zumutungen. Eine besondere Gruppe bilden Billets, in denen Interaktionsprobleme thematisiert werden. Da die kommentmäßige Fechtart nicht an allen Universitäten die gleiche war, konnten bei Hochschulwechsel in diesem Punkt Diskrepanzen auftreten: Daß Sie mich auf einen Stoß herausfordern, scheint nicht Ihr Ernst zu sein. Vielleicht wollen Sie mir einen Schrecken einjagen, bleiben Sie also bei der gewöhnlichen Burschen-Manier. ¹³³ Mehrfach reflektieren die Texte Rangeleien um die begehrte Position der ‚Avantage‘.¹³⁴ In dem folgenden Billetpassus scheint allerdings neben der interaktionellen Verwirrung auch die Konfusion der Kommentbegriffe vollständig zu sein: Jetzt will ich Ihnen den Comment erklären, wie man bei solchen Händeln zu verfaren hat; Sie wollten mir ja das Gossen Recht erklären – Sie kamen mir von Hause her an denen Sie nahe gingen in den Weg an die Gosse, ich schuppte Sie hinüber in den Fahrweg, darauf krigten Sie eine Ohrfeige, die krigte ich wieder, es erfolgte Ihnen aber eine repetition – Sie haben also avantage und werden sie, wenn Sie einen rechtschaffenen Kerl machen wollen nicht auf sich sitzen lasen. ¹³⁵ Für gravierende Verstöße gegen die studentischen Gruppennormen, insbesondere für die
Studentenbillet Marburg (zit. Heer a, S. ). Studentenbrief (s.o. Anm. ); vgl. ferner etwa das Billet Göttingen , zit. Brüdermann , S. : „Weilen ich vernommen, daß sie jedermann belügen, sie seyen gegen mich in Avantage, so wollte ich ihnen hierdurch notificiren, daß es eine Hunds Peitsche gewesen, womit ich sie geprügelt.“ Klärend Meiners, Bd. , , S. f.: „Der Ursprung der Regeln des so genannten Comment über die Avantage, und die Kunst sich in Avantage zu setzen, wären […] ganz unerklärlich, wenn nicht die Gesetze der meisten Universitäten vormahls dem Herausforderer viel höhere Strafen angedroht hätten, als dem Herausgeforderten. […] Wo aber nicht der Herausforderer, sondern der Urheber des Streits am stärksten gestraft wird, da sollten die Künste […] gar nicht gebraucht werden“. Studentenbillet Göttingen ; UA Göttingen: C/XCI .
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5 Die typischen Formen des Sprachhandelns im Interaktionsmuster
(7) DUELLVERWEIGERUNG,¹³⁶ oft gekoppelt mit der Klage beim Universitätsgericht („Petzen“), gab es mindestens seit dem 17. Jahrhundert das Sanktionsmittel der Erklärung in den Verruf (Verschiß).¹³⁷ (8) Die VERRUFSERKLÄRUNG setzt den Antrag und die Beschlussfassung in einem Gremium, z. B. dem Senioren-Convent, voraus und bezweckt im wesentlichen die gesellschaftliche Isolierung des Betroffenen, ist also vergleichbar mit der Aufkündigung des persönlichen Umgangs im Privatbereich: Da ich Sie in der heutigen Sache als den schlechtesten Menschen gefunden habe den ich nur jemals gekant habe und da ich folglich keinen Umgang mit Ihnen haben will so mögen Sie wißen daß ich nicht mehr mit Ihnen eßen werde von Pappenheim ¹³⁸ In den geschriebenen Komments sind dann verschiedene Formen und Grade des Verrufs unterschieden,¹³⁹ und den Verbindungsprotokollen ist zu entnehmen (ab ca. 1800), dass von diesem Mittel auch gegenüber Stadtbürgern reichlich Gebrauch gemacht wurde.¹⁴⁰ Die Verrufserklärung konnte die Form eines Anschlags am Schwarzen Brett der Universität haben.¹⁴¹ Nach dem Jenaer Komment von 1809 sollte ein Verruf „allen Landsmannschaften“ und möglichst „allen Studenten“ bekanntgemacht, jedoch ein öffentlicher Aushang vermieden werden.¹⁴²
Hierzu im Korpus kein schriftliches Beispiel, doch vgl. die protokollierte Duellverweigerung des stud. Prössel in Face-to-face-Situation mit stud. Floeckher: „Er würde sich nie mit einem solchen Menschen, wie er wäre, schlagen.“ (Helmstedt ; NSA Wolfenbüttel: Alt , Bl. r). Konvente der „Seniores“ von Landsmannschaften („nationes“), auf denen über Duellverweigerer der Verruf („ignominia“) ausgesprochen wurde, belegt für das . Jh. Deichert , S. .Vgl. auch Heer a, S. : musste ein Marburger Student ein Duell verweigern, weil er „im interdictum der Studenten stehe“. Das Wort Verschiß m.W. zuerst Schluck , S. . In Berliner Universitätsakten von wiederholt der mildere Ausdruck Studentenbann (M. Lenz: Geschichte der […] Universität zu Berlin. Bd. , Halle , S. , ); Verruf bei Campe. Studentenbillet Göttingen (Göttinger Universitätsarchiv: C/LXXVIII ). So bereits im Helmstedter Komment von , Kap. „Vom Verschiß“; s. Anhang C. Vgl. für Tübingen Assmann , S. – . Verrufserklärungen über nicht-duellierende Kommilitonen konnten auch unter den Studentenverbindungen mehrerer Universitäten verabredet werden; vgl. T. Körners Antrag auf „Verschiß“ einer „Schwefelbande“, der von Leipzig aus nach Jena, Halle, Göttingen und Erlangen geschickt wurde (); zit. Fabricius , S. . Anhang D . Dies stimmt wiederum zur Tendenz, Schriftverkehr zu vermeiden.
6 Zusammenfassend zur Gruppenspezifik Überblickt man die Geschichte des Handlungsbereichs ‚Ehre – Beleidigung – Duell‘, so erscheint der Zeitraum von etwa 1760 bis 1820 und speziell das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts als eine Beschleunigungsphase in der Herausbildung gruppenspezifischer Mentalitäts- und Handlungsstrukturen innerhalb der Studentenschaft. Das um 1800 konsolidierte Grundmuster erfuhr im 19. Jahrhundert zwar manche organisatorische Verfeinerung, aber eigentlich nur eine größere Modifikation durch die Einführung der sog. Bestimmungsmensur, die keine Beleidigung mehr voraussetzt. Das rekonstruierte Interaktionsmuster stellt sich insgesamt als Mittel und Form der Inszenierung eines korporativen Ehrenkodex dar. Sprache ist in diesem Interaktionsmuster nicht das einzige Handlungsmittel,¹⁴³ spielt aber bei der Initiierung, der Eskalierung und auch bei den verschiedenen Möglichkeiten der Beilegung des Konflikts die entscheidende Rolle. Die Maßnahmen zur gruppenspezifischen Stilisierung des in seinen Grundzügen letztlich aus Adels- und Offizierskreisen übernommenen Musters sind zunächst motiviert durch Probleme in der Steuerung des Interaktionsprozesses. Die fortschreitende Formalisierung (Festlegung von Handlungsmerkmalen durch äußere Formen, verbunden mit genauen Interpretations- und Verfahrensregeln) wurde im Detail nachgewiesen am Beispiel der ‚Koramation‘ (vgl. 3.5 mit 4.1) und vor allem auch an der Entwicklung der verbalen ‚Avantagen‘, durch die das Recht bzw. die Pflicht zur Duellforderung dann eindeutig geregelt war (vgl. 3.6 und 3.7). Den strikt kommentmäßig Handelnden bringt die Formalisierung der Handlungssituationen und des sprachlichen Verkehrs zwar eine Entlastung von Planungs-, Formulierungs- und Deutungsaufgaben, sehen muss man aber auch die Kehrseite: Die alltagsüblichen Verfahren der Verständnisklärung und Konfliktbeseitigung sind weitgehend außer Kurs gesetzt, die Interaktion ist auf eskalierende Aggression hin angelegt und durch die erhöhte Wahrscheinlichkeit von Formfehlern letztlich eher noch stör-
Von der Betrachtung ausgenommen bleibt hier das Duell selbst, obwohl auch dieses nicht stumm verlief, vgl. schon Augustin , S. ff. zu den kommentmäßigen Rufen, Fragen und Erklärungen der Sekundanten und Duellanten. Bericht über einen realen Fall: „Halt, halt, schrien auf beiden Seiten die Secundanten […]. Nun haben Sie Satisfaction, schrie der Troß! Nein, ich will Ihnen beweißen, daß ich nicht aus Furcht geschaßt wurde.“ (Brief des stud. Erlewein von (zit. Marquardt, Bd. , , S. ). Bezeugt sind auch Duelle in Form einer „Marktschlägerey“ (Schmid , S. ) vor einem Kreis von Zuschauern, so besonders in Jena (vgl. die Stammbuchbilder von ca. bei Kelter , S. , ). Noch um üblich war auch das „Kontra“Rufen und Degenwetzen auf offener Straße als Methode, mit jemandem „anzubinden“ (Salmasius ; in: Henne/Objartel , Bd. , S. ).
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anfälliger. Der Disziplinierungsaufwand für die zuständigen Gremien der Studentenverbindungen steigt, ihnen wachsen damit die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten zu, die Macht bedeuten. Mit zunehmender Formalisierung wird der Komment von einem Ensemble tradierter ‚Gewohnheiten‘ und ‚Bräuche‘ umgestaltet zu einem Instrument gezielter Herrschaftsausübung durch den organisierten Teil der Studentenschaft über den Rest. Als sicheres Indiz für eine gruppenspezifische Ausprägung des Ehrbegriffs kann die Fixierung von dummer Junge und anderen auf intellektuelle Fähigkeiten zielenden Ausdrücken als höchsten Beleidigungen gewertet werden. Diese Stufe ist schon vor dem ‚Burschen-Comment‘ von 1780 erreicht. Es ist beim gegenwärtigen Stand der Quellenerschließung schwierig, über die Chronologie der gruppensprachlichen Entwicklungen gerade auch auf lexikalischem Sektor verbindliche Aussagen zu machen. Der im Interaktionsmuster aktivierte Wortschatz ist, wie die Fachsprache des Fechtens im besonderen, stark französisch geprägt. Wörter wie Duell, Provokation, Satisfaktion, Sekundant, Kartell, Avantage, touchieren, konstituieren, revozieren usw. sind lange vor unserem Untersuchungszeitraum eingespielt, und wenn sie in den Wörterbüchern der Studentensprache auftauchen, spiegelt sich darin zunächst ein Rezeptionsprozess auf gebildetem Niveau. Die Entlehnungen können dann aber die Ansatzpunkte für gruppenspezifische Bedeutungsentwicklungen, Wortbildungen und Phraseologismen werden, oder auch Analogiebildungen mit lateinischen oder deutschen Wortelementen motivieren. So haben um 1800 Skandal und Suite die studentensprachliche Bedeutung ‚Duellangelegenheit, Ehrenkonflikt‘; die offenbar studentensprachliche Bildung koramieren (Kindleben 1781) ersetzt weithin älteres konstituieren und führt über Koramation (Komment Frankfurt/O. 1798) weiter zu Koramage und Koramant. Die gruppensprachliche Überformung des Handlungsbereichs bedient sich dann in einem dritten Schritt zunehmend indigener Wörter, zu denen spezielle Bedeutungen, mitunter auch spezielle grammatische Konstruktionen entwickelt werden. Beispiele sind etwa: sich pauken ‚sich duellieren‘ (Augustin 1795); stürzen in der Wendung jmdm. einen dummen Jungen stürzen ¹⁴⁴; im Tagebuchstil elliptisch: „Fritsche stürzt mir, nimmt aber wieder zurück“¹⁴⁵; die Rückbildung Sturz ‚Beleidigung‘, präfigiert Re-Sturz. ¹⁴⁶ Das Bedürfnis, die in Ehren- und Duellangelegenheiten zu beachtenden Regeln schriftlich zu vereinbaren, scheint unter den an einem Hochschulort koexistierenden Studentenverbindungen erst relativ spät aufgekommen zu sein. Ein Wedekind , S. : „Später schrieb er […] einen Brief; worin er sämtlichen Osnabrückern einen dummen Jungen stürzte.“ Meißner /, S. . Beides bei Wedekind ; vgl. das Register des Herausgebers Houben.
6 Zusammenfassend zur Gruppenspezifik
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früherer Kommenttext als der Jenaer von 1791¹⁴⁷ ist nicht bekannt, auch fehlen konkrete Zeugnisse dafür, dass diese schriftliche Textsorte innerhalb der Studentenschaft eine weiter zurückreichende Tradition gehabt hätte.¹⁴⁸ Die kontinuierliche Überlieferung des geschriebenen Komments eröffnen 1798 die „Kartellgesetze“ aus Frankfurt/O. und der ausführlichere, von der Studentenhistorie bislang kaum beachtete „Comment“ der Helmstedter ‚Harmonisten‘.¹⁴⁹ Der Eindruck einer zögerlichen Verschriftlichung aus der Mitte der Kommentpraxis heraus mag auch überlieferungsbedingt sein. Jedenfalls wurde das Interesse einer lesenden Öffentlichkeit für die akademische Subkultur, für geheime studentische Vereinigungen, für die seitens Staat und Universität ständig erneuerten und verschärften Maßnahmen zur Anhebung der Sittlichkeit und Disziplin der studierenden Jugend von den Zeitschriften- und Buchverlagen stets intensiv befriedigt. So berichten etwa Schmid 1772 für Jena¹⁵⁰ und List 1785 für Göttingen¹⁵¹ detailreich über die Injurien- und Duellpraxis unter Studenten, die Scherzdissertation von 1780¹⁵² sowie besonders Augustin 1795¹⁵³ informieren über das gesamte Panorama des studentischen Brauchtums. Dass Publikationen dieser Art – wie auch die ausgedehnte burschikose Belletristik – wiederum zur Anregung und Stabilisierung gruppeninterner Kulturpraktiken beitrugen, wird vielfach erkennbar; die Scherzdissertation von 1780 lieferte mit ihrem Untertitel „Burschen=Comment“ der Studentenwelt den zentralen Identifikationsbegriff und hatte Nachwirkungen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts.¹⁵⁴ Zum Gesamtbild der Entwicklungen im Bereich ‚Ehre – Beleidigung – Duell‘ gehört schließlich ein Hinweis auf die früheste Antiduellbewegung, die 1791/92 von großen Teilen der Jenaer Studentenschaft getragen wurde. Unter Berufung auf
Vgl. Anm. . In dem „Plan zur Abschaffung der Duelle“, den die „Deputirten der verbundenen Landsmannschaften“ in Jena am . Dez. unterzeichneten, heißt es, nachdem auf den publizierten „Burschen=Comment“ Bezug genommen war: „Edeldenkende Jünglinge auf andern Universitäten werden daher ersucht, die dortigen Burschen=Comments auch für den Anzeiger mitzutheilen.“ (zit. Stephani , S. ). Ob geschriebene Komments anderwärts existierten, bleibt fraglich; gedruckt wurde jedenfalls nichts. Auszüge daraus in Anhang C. Aktenmäßige Abschriften aus dem Tagebuch eines Mitglieds der ‚Harmonisten‘ geben interessante Einblicke in den inneren Betrieb der Verbindung; vgl. NSA Wolfenbüttel: Alt , Bl. – . Schmid , S. – . List , bes. S. – . Schluck . Vgl. Anm. . Vgl. zu Nachdrucken und Übersetzungen Erman/Horn, T. , , Nr. – .
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6 Zusammenfassend zur Gruppenspezifik
Rousseaus bekannte Stellungnahme in der ‚Neuen Heloise‘¹⁵⁵ und auf das „Licht der Philosophie“ versuchte man, das „Vorurtheil der Zweikämpfe zu vernichten“ und „die Vernunft als höchste Gesetzgeberin einzuführen“, wenigstens „bei allen aufgeklärten Jünglingen“.¹⁵⁶ Goethe als zuständiger Minister bekundete Sympathie, konnte sich aber mit dem Gedanken einer Legalisierung eines studentischen Ehrengerichts nicht anfreunden.¹⁵⁷ Der Vorgang ist besonders auch unter kommunikations- und nationalhistorischen Gesichtspunkten beachtenswert: Die Pläne der Studenten zum organisatorischen Aufbau eines eigenen Ehrengerichts wurden nebst allen Aktenstücken über die offiziellen Verhandlungen mit der Weimarer Regierung und der Universitätsleitung im Gothaer ‚Anzeiger‘ 1792 publiziert.¹⁵⁸ In ihrem separat gedruckten ‚Sendschreiben[s] einiger studirenden Jünglinge zu Jena an ihre Brüder auf den übrigen Akademien‘ artikulierten die Reformstudenten voller Enthusiasmus „die Hoffnung, daß ein Verein der ganzen studirenden Jugend auf allen deutschen Akademien zu Stande zu bringen sey“, der die „edle Absicht“ realisieren helfe.¹⁵⁹ Dies ist wohl der erste öffentliche Vorschlag zu einem „Verein“ auf nationaler Basis überhaupt und kann als Keim der Idee zu einer allgemeinen ‚Burschenschaft‘ angesehen werden. Der Wunsch stieß sich an der Wirklichkeit. Mochte nach dem Rationalitätsprinzip als Ursache der „Duellsucht“ längst ein „falscher Begriff von Ehre“ entlarvt sein,¹⁶⁰ den nüchtern urteilenden Zeitgenossen war klar, dass die Ehrenordnung den ständischen Aufbau der Gesamtgesellschaft symbolisierte und damit einer ihrer tragenden Pfeiler war.¹⁶¹
Teil , Brief . Zit. bei Stephani , S. – . Stephani, zu der Zeit Hofmeister in Jena, war nach eigener Angabe der Hauptinitiator der Antiduellbewegung. Vgl. Goethes Entwurf zu einem Votum oder Vortrag, in: Dahl , S. – . Der Anzeiger. Ein Tagblatt […]. Gotha . Bd. , Nr. (. . ), Sp. – . Zit. nach Stephani , S. f. (Beilage X.) Vgl. (Anon.:) Von den Mitteln wider Zweykämpfe und Sittenverderbnis auf Universitäten, in: Journal von und für Deutschland, /II, S. . Meiners, Bd. , , S. : „So lange die Begriffe von Ehre, und Ehrensachen unter allen Ständen so bleiben, als sie noch jetzt sind; so lange kann man den Gebrauch von Selbsthülfe nicht unbedingt verbieten.“
VI Akademikersprache im 19. Jahrhundert. Auch als Beitrag zur Erforschung von Vereinssprachen Jedes Wort hat seinen Geruch: es giebt eine Harmonie und Disharmonie der Gerüche und also der Worte. (Friedrich Nietzsche)
1 Vorbemerkungen Die Frage nach der Rolle von Gruppensprachen in der Sprachgeschichte des Deutschen ergänzt, im wissenschaftsgeschichtlichen Rahmen betrachtet, die Frage nach der Rolle der Dialekte bzw. regionalen Schreibsprachen bei der Herausbildung der modernen Schrift- und Standardsprache. Überblickt man in diesem Zusammenhang die ältere Forschung zur Studentensprache, die vor allem mit dem Namen Friedrich Kluge verbunden ist, auf ihren Ertrag hin, so fallen zunächst die langen Reihen von Wortbelegen, die Einzelwortgeschichten und kulturhistorischen Detailbeobachtungen ins Auge. Die eigentliche Nutznießerin war daher die historische Lexikographie,von den kleineren Wörterbüchern Kluges und Pauls über die mittleren von Heyne und Weigand/Hirt bis zum ‚Grimm‘, ‚Trübner‘ und ‚Schulz/Basler‘.¹ Gemäß dem sprachhistorischen Forschungsdesign der Zeit klammerte Kluge die eigene sprachliche Gegenwart weitgehend aus. Seine Skizze zur Geschichte der Studentensprache, deren „Blütezeit“ er im 16. und 17. Jahrhundert sah,² berührt das 19. Jahrhundert kaum; auf die zeitgenössischen (laienhaften) Wörterbücher zur Studentensprache und auf den aktuellen Sprachgebrauch der Studenten fallen nur gelegentliche Seitenblicke. Konrad Burdach, der einen ortsbezogenen Vergleich über ein Jahrhundert Studentensprache anhand eines Hallenser Idiotikons von 1795 anstellte,³ und besonders John Meier, der 1910 eine Erhebung zur lebendigen Basler Studentensprache publizierte,⁴ lieferten immerhin Bausteine zur Kenntnis der Studentensprache um 1900, während die Beiträge der anderen Wortforscher sich weithin in dem von Kluge gesteckten Zeitrahmen bewegten. So bleibt festzustellen, dass trotz des bemerkenswerten Umfangs einschlägiger Forschung nur spärliche Erkenntnisse vorliegen über die Studentensprache im 19. Jahrhundert, in dem sie ganz offensichtlich ihre breiteste
F. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. . Aufl. Berlin, New York (. Aufl. ); H. Paul: Deutsches Wörterbuch. ., überarb. u. erweit. Aufl. v. H. Henne, H. Kämper u. G. Objartel, Tübingen (. Aufl. Halle/S. ); M. Heyne: Deutsches Wörterbuch. . Aufl. Bde. Leipzig – ; H. Hirt (Hrsg.): F. L. K. Weigand: Deutsches Wörterbuch. . Aufl. bearb. v. K. v. Bahder, H. Hirt u. K. Kant. Bde. Gießen – ; Deutsches Wörterbuch v. J. Grimm u. W. Grimm. Bde. in . Leipzig – ; Trübners Deutsches Wörterbuch. Bde. Hrsg. v.. A. Götze ( – ) u. W. Mitzka ( – ); Deutsches Fremdwörterbuch. Begründet v. H. Schulz, fortg. v. O. Basler, A. Kirkness (u. a.). Bde. Straßburg; Berlin, New York – . Kluge , S. . Vgl. Burdachs Fußnoten zum Neudruck des ‚Idiotikon der Burschensprache‘ von ; Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Basler Studentensprache. Basel . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – .
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1 Vorbemerkungen
Entfaltung in der Literatur wie im umgangssprachlichen Verkehr und ihr Maximum an sozialem Prestige erreichte. Studentensprache ist heute ein diffuser Begriff. Der Korporationsjargon, obwohl von einer kleinen Minderheit immer noch praktiziert, kann jedenfalls nicht mehr als prototypisch für Studentensprache gelten. Wenn mit dem Ausdruck Studentensprache Charakteristika oder Auffälligkeiten in der kommunikativen Praxis von Studierenden allgemein oder spezieller Gruppen angesprochen werden, so können ganz verschiedene Dinge gemeint sein, und zuweilen bleibt unklar, was gemeint ist.⁵ Die Skala der Möglichkeiten reicht von gängigen Kurzwörtern des Campusslangs (z. B. Uni, Prof, Audimax) über fachgebundene Jargonismen, bildungssprachliche Prestigesignale, über Politvokabular und Agitationstechniken, über den teils empathischen, teils auch aggressiven Diskussionsstil selbstbestimmter Interessengruppen, über kommunikative Hemmnisse und Verzerrungen bei Stress und Leistungsdruck bzw. Frust und Desorientierung⁶ bis hin zu dem jugendlichen Sprachhabitus, der aus der Schule mitgebracht und unter den neuen soziokommunikativen Bedingungen modifiziert wird. All dies ist bei nunmehr über zwei Millionen Studenten nicht mehr auf einen Nenner zu bringen. Ein dominanter Typus von Studentensprache ist nicht erkennbar, eine Beschreibung sämtlicher Facetten kaum zu leisten. Studenten scheinen ubiquitärer ‚Jugendsprache‘ und kommerzialisierter ‚Jugendkultur‘ ebenso ausgeliefert zu sein wie andere Bevölkerungskreise. Unter dem Eindruck der inzwischen auch in breiter Öffentlichkeit geführten Diskussion um ‚Jugendsprache‘⁷ könnte man nun leicht geneigt sein, die Studentensprache früherer Jahrhunderte einzig unter dem Aspekt der Ausprägung ‚jugendlicher‘ Spracheigentümlichkeiten zu betrachten in der Hoffnung, am (vermeintlich) handlicheren Präparat wesentliche Aufschlüsse über die irritierende Jugendsprache der Gegenwart zu erhalten und am Ende die beruhigende Gewissheit verbreiten zu können, dass die heutige Jugend gar nicht so originell oder provokant ist, wie sie selbst wohl glaubt. Eine derart verkürzende Aktualisierung der alten Studentensprache ist abzulehnen. Es wäre aber gleichfalls eine Verkürzung der historischen Studentensprache als eines Gegenstandes sprach-
Kommentarausdrücke wie „Studentensprache“, „studentisch“ oder „Verbindungswesen“ werden auch in aktuellen Wörterbüchern verwendet, allerdings meist ohne Erklärung und nur sporadisch. Was aus der alten Studentensprache noch in der allgemeinen Standardsprache lebendig ist (z. B. burschikos, fidel, flott, Philister, Verschiß), wird meist als „umgangssprachlich“, „scherzhaft“ oder „derb“ markiert. Hierzu vor allem H. Weber: Studentensprache. Über den Zusammenhang von Sprache und Leben. Weinheim, Basel . Grundlegend dazu immer noch Henne .
1 Vorbemerkungen
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historischer Forschung, wenn man sie nicht auch unter Aspekten wie Adolenszenz, Identitätssuche, Generationenkonflikt betrachten würde. Für eine historische Jugendsprachforschung hat die Studentensprache den Status einer Leitform, schon aus zwei Gründen: Keine andere jugendliche Sozialgruppe hat über Jahrhunderte hinweg eine so ausgeprägte und zugleich so reich überlieferte Eigensprache aufzuweisen. Für keinen anderen Typ von Jugendsprache und überhaupt für keine andere vergleichbare Gruppensprache ist bis ins erste Drittel dieses Jahrhunderts eine derartige Wirkung auf die allgemeine Sprachentwicklung, speziell auf den umgangssprachlichen Wortschatz, nachzuweisen wie für die Studentensprache. Selbstverständlich sind diese Aussagen relativ zur Gegebenheit schriftlicher Überlieferung und zum Stand der Forschung getroffen. Die Studentensprache sollte dennoch nicht zur historischen Jugendsprache schlechthin erklärt werden. Denn sonst wäre nicht nur die weibliche Jugend fast komplett ausgeblendet – reguläres Frauenstudium gab es erst nach 1900 –, sondern es würden auch zugunsten einer kleinen privilegierten Minderheit – 1870 lag die Zahl der Studenten an deutschen Universitäten noch unter 15000 – andere jugendliche Sozialgruppen, die sprachliche Eigentümlichkeiten ausgebildet haben, wie die Handwerksgesellen,⁸ aus dem Blick geraten. In der älteren Forschung wurde die lebensgeschichtliche Dimension der Studentensprache, ihre Funktion als Ventil für die „freie sprachschöpferische Kraft einer lebensfrohen Jugend“⁹ eher implizit vorausgesetzt, jedenfalls nicht eigens in psychosozialen Bezügen thematisiert. Vielmehr hatten Kluge, Burdach und Meier die Studentensprache früherer Jahrhunderte vorzugsweise als „Kastensprache“ bestimmt und mit den Sprachen „anderer Berufsklassen und Stände“ auf einer Linie gesehen, daher auch als „Standessprache“ bezeichnet.¹⁰ Diese Sehweise und Begrifflichkeit entspricht im Ganzen auch dem Bild, das die Studenten selbst von ihrer Stellung in der Gesellschaft bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwarfen. Schließlich erfreute sich der Student einer besonderen Rechtsstellung; als civis academicus unterstand er zunächst einmal der Sondergerichtsbarkeit des akademischen Senats, nach deren Aufhebung – in Preußen 1879 – weiterhin dem universitären Disziplinarrecht, dessen sichtbares Zeichen
Vier (späte) Glossare zur „Sprache der Handwerksburschen“ bei Kluge , S. – . F. Kluge: Über deutsche Studentensprache (); Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. . Vgl. Kluge (wie Anm. ), S. ; Meier: Hallische Studentensprache. Halle . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. , u. ö.; Burdach im Vorwort zu: Studentensprache und Studentenlied in Halle vor hundert Jahren. Halle . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. .
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1 Vorbemerkungen
vielerorts bis ins 20. Jahrhundert hinein der Karzer war.¹¹ Das Studentenlied „Ich lobe mir das Burschenleben/Ein jeder lobet seinen Stand“¹² wurde durch das ganze Jahrhundert gesungen. Das studentische Selbstverständnis in diesem Punkt beleuchtet schlaglichtartig eine Bemerkung des Studenten Heinrich von Treitschke (1852): Es giebt im Grunde keinen exclusiveren Stand, als den schönsten von allen, den der Studenten; das ist aber auch sehr natürlich, denn wen in seinem ganzen Treiben keine Schranke bindet, wer nur mit denen zusammenlebt, an die ihn ein gleiches Streben kettet, der sieht natürlich Alle, die solches Glück nicht haben, ziemlich herablassend an. ¹³ Intensive Versuche, die Kluft zwischen Student und Bürger (Bursch und Philister) zu überwinden, hatte es zwar schon in der Frühzeit der Burschenschaft unter der Devise „Volkstümlichkeit“ gegeben,¹⁴ und der epochale Wandel des ständischen Gesellschaftssystems zu einem bürgerlichen erfasste auch die Studentenschaft; aber es ist doch unverkennbar und angesichts der realen Lebensverhältnisse der Studenten, der Traditionalität ihrer Gruppenkultur, der öffentlichen Infragestellung ihrer politischen Mündigkeit¹⁵ auch nicht verwunderlich, dass die Integration in die bürgerliche Gesellschaft sich als krisenhafter Prozess gestaltete, der am Ende des Jahrhunderts noch keineswegs abgeschlossen war.¹⁶ Neben der rechtlich-sozialen Sonderstellung der Studenten sind vor allem die vielfältigen Formen organisierter Zusammenschlüsse für die Ausprägung und Tradierung gruppenspezifischer Lebensformen wichtig gewesen. Bereits im 18. Jahrhundert gab es für den Ausbau der studentischen Selbstorganisation zahlreiche Orientierungsmöglichkeiten: von den Hofgesellschaften und Ordensgemeinschaften des Adels über das bürgerliche Sozietäts- und Freimaurerwesen bis hin zu universitären Einrichtungen wie den ‚Deutschen Gesellschaften‘ oder den ‚Collegia musica‘. Insbesondere vom Freimaurertum beeinflusst erscheinen In Marburg/L. wurde die letzte Karzerstrafe verhängt; vgl. Bickert/Nail , S. . Zit. nach Kindleben: Studentenlieder. Halle , S. Treitschke , S. . Vgl. z. B. die Verfassung der Leipziger Burschenschaft von , Druck bei Haupt , S. : „Weil die Burschenschaft den Zweck hat, in jedem Einzelnen Liebe zum Volk und Vaterland zu erwecken und rege zu halten, so leidet sie keine diesem Zwecke feindliche Absonderung vom Bürger, sondern sucht einträchtiges Zusammenhalten mit demselben zu befördern.“ Um lag das aktive Wahlalter im Reich und in den meisten Einzelstaaten bei Jahren, das passive z.T. noch höher; vgl. Nipperdey , S. . Den Standpunkt der Altherrenschaften vertritt z. B. E. Voigt: Die akademische Jugend als vorbürgerliche Gesellschaft. In: Burschenschaftl. Bll. . SS , S. – , – .
1 Vorbemerkungen
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die überregional in Haupt- und Tochterlogen verbreiteten Studentenorden, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit den traditionellen Landsmannschaften in Konkurrenz standen, wie nach 1815 die national-liberalen Burschenschaften mit den sich apolitisch (bzw. feudalistisch) gebenden Korps. Nach dem meist unterschiedslosen Verbot selbstbestimmter Studentenverbindungen als ‚geheimer Verbindungen‘ nach der Französischen Revolution und nach den Wellen der ‚Demagogen‘-Verfolgungen im frühen 19. Jahrhundert konnte sich das Verbindungswesen allmählich freier und öffentlicher entfalten. Der Student und Burschenschafter Friedrich Nietzsche schrieb 1865 an einen Freund: Wer als Studirender seine Zeit und sein Volk kennen lernen will, muß Farbenstudent werden; die Verbindungen und ihre Richtungen stellen meist den Typus der nächsten Generation von Männern möglichst scharf dar. […] Freilich müssen wir uns hüten, daß wir dabei nicht selbst zu sehr beeinflußt werden. ¹⁷ Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch eine beschleunigte Differenzierung der studentischen Organisationsformen je nach Hochschultyp und Fachrichtung, Konfession und politischer Ideologie, Stellung zu Duell und Bestimmungsmensur, nach gesellschaftlichen und individuellen Freizeitinteressen allgemein. Die drei um 1900 – nach der nationalkonservativen „Tendenzwende der akademischen Jugend“¹⁸ im Kaiserreich – dominierenden Verbände charakterisiert Otto Julius Bierbaum in seinem Roman ‚Stilpe‘ so: Das Corps: Rückständige Institution aus unfreien Zeiten, daher Fuchsensklaverei, Burschentyrannis, starrer Formelkram; die Burschenschaft: Entweder rückständige Romantik, Tugendbund und Keuschheit bis zum Ehebette oder Form ohne Inhalt; die Landsmannschaft: Traditionslose Neugründung, bemäntelt mit einem alten Namen, ohne Wurzeln im Alten, ohne Greifranken ins Neue: Zwitter. ¹⁹ Die Frage, warum sich an deutschen Universitäten – anders als in den Nachbarländern, etwa England und Frankreich – ein studentisches Korporationswesen derart entfalten konnte, warum z. B. die Möglichkeiten des hochentwickelten bürgerlich-städtischen Vereinswesens von Seiten der Studenten nicht intensiver
Nietzsche, Briefwechsel (), I. , S. . Jarausch , S. in der Kapitelüberschrift für den Zeitraum – . Bierbaum: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. . Aufl. Berlin , S. .
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1 Vorbemerkungen
genutzt wurden, ist hier nicht weiter zu untersuchen.²⁰ Ebensowenig kann hier der Korporierungsgrad mit seinen zeitlichen und örtlichen Schwankungen im einzelnen ermittelt werden. Nur soviel: Um 1900 war fast jeder zweite Student korporiert;²¹ eine Gesamtstatistik für 1928/29 weist an 89 deutschsprachigen Hochschulen (ohne Schweiz) 56,5 % der Studierenden als Korporationsangehörige aus.²² Ähnliche Verhältnisse wird man schon im späteren 18. Jahrhundert zumindest für tonangebende Universitäten wie Göttingen, Halle und Jena voraussetzen dürfen. Bezeichnend ist vor allem, dass im 18. und 19. Jahrhundert, bei aller Unterschiedlichkeit der historischen Situation, immer wieder aus der Perspektive des Verbindungslebens definiert wurde, was ein „flotter Bursch“,²³ was „academisches Leben“,²⁴ auch was „Burschensprache“ bzw. „Studentensprache“ sei. Natürlich hat der heutige Sprachhistoriker in seiner analytischen Distanz je nach Erkenntnisinteresse und Wertorientierung die Freiheit, sich aus den sprachlichen Spuren und Dokumenten seine Aspekte studentischer Kommunikation auszuwählen. Wenn aber nicht sämtliche Sprachmöglichkeiten von Studierenden zur Debatte stehen, sondern gruppensprachliche Ausprägungen für eine größere Zeitspanne und im Kontext von Lebensweise und Mentalität dargestellt werden sollen, muss primär nach stabilen Sozial- und Kulturformen der Gruppe und nach den Mitteln und Techniken ihrer Traditionssicherung gefragt werden. Sind unter dieser Fragestellung für das 19. Jahrhundert die Studentenverbindungen als zentraler sozialhistorischer Ort ermittelt, so ist es nur konsequent, auch die sprachlich vermittelte, nach innen wie nach außen gerichtete Perspektive dieses zentralen Ortes als vorfindliche und insofern objektive historische Größe zu handeln, wie umgekehrt die gruppenexterne Typisierung von Studentensprache bei den Zeitgenossen zunächst auf diesen zentralen Ort zu beziehen. Diese Vorstrukturierung des Untersuchungsbereichs impliziert nicht, dass die Deutungsmuster und Stereotype einer bestimmten Gruppierung (Verbindungsstudent) isoliert und außerhalb gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge betrachtet werden. Das verbietet sich schon mit Blick auf das komplexe soziale und kom-
Starke Berührungen mit studentischen Interessen hatten v. a. die Turn- und Gesangsvereine; hierzu Düding . Wichtige Beiträge zum Vereinswesen im . Jahrhundert ferner in: Dann . Vgl. Jarausch , S. ; Einzelnachweise zum Korporierungsgrad um bei Jarausch , bes. S. – . Wende und Schau. Kösener Jb. . , S. . ‚Der flotte Bursch […]‘: Titel eines Wörterbuchs der Studentensprache von ; Reprint in: Henne/Objartel , Bd. . Vgl. die Einleitung in die Verfassungsurkunde der Jenaischen Burschenschaft von . In: Haupt , S. f. (schon Haupt , S. ).
1 Vorbemerkungen
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munikative Beziehungsgefüge, in dem jede noch so kleine Sprachgruppe und jedes Individuum mit seiner Sprachbiographie steht. Die Zentrierung auf das sozialkommunikative Innenleben und die Außenkontakte der Studentenverbindungen bringt eine Reihe methodischer Vorteile: Das starke Regelungs- und Dokumentationsbedürfnis der Verbindungen führte zu einer umfänglichen handgeschriebenen wie auch gedruckten Hinterlassenschaft; die Archivbestände erlauben vielfach eine detaillierte Rekonstruktion des Verbindungslebens. (Der Fülle studentenhistorischen Schrifttums steht allerdings ein Mangel an zuverlässigen Texteditionen gegenüber.) Entsprechend gut orientiert – auch durch Bildmaterial – ist man über das Verbindungsbrauchtum, so über die Kernrituale Kommers und Duell (bzw. ab ca. 1860 zusätzlich Bestimmungsmensur), ferner über semiotische Attribute wie Kanonenstiefel, Quastenpfeife, Bierzipfel, Burschenband und Cereviskappe.²⁵ Die sozialstatistische Gruppierung Student wird in der Sozialform der Verbindung als Kommunikationsgruppe zugänglich. Der Ansatz einer sozialgeschichtlich unterlegten, handlungs- und textorientierten Sprachgeschichte trifft hier jedenfalls auf günstige Voraussetzungen.
Helfer . Als Gesamtdarstellung ist unersetzt Schulze/Ssymank .
2 Entwicklungstendenzen der Studentensprache Zwei langfristige Entwicklungstendenzen, die mir im Rahmen der Betrachtung von Studentensprache im 19. Jahrhundert besonders wichtig erscheinen, gerade auch weil sie im Endergebnis zur Marginalisierung bzw. zur Aufhebung dieser Gruppensprache führten, sollen im folgenden genauer behandelt werden: Zum einen die Verfachsprachlichung, die Ritualisierung und Archaisierung, zum andern die lexikalische Diffusion in die aufkommende(n) Umgangssprache(n) und weiter in die Standardsprache. Der erste Prozess kann, auf die Studentensprache gesehen, als zentripetal, der zweite als zentrifugal bezeichnet werden. Die Darstellung der ersten Tendenz wird sich mehr auf das verbindungsinterne Schrifttum und die sprachlichen Folgen der Dominanz der „Alten Herren“ beziehen, die Darstellung der zweiten Tendenz dagegen mehr auf den inoffiziellen und verbindungsexternen Sprachgebrauch, in dem ursprünglich studentensprachliche Mittel umfunktioniert und auf neue Verwendungssituationen, Textbereiche und Sprachgruppen verteilt wurden.
2.1 Fachsprachliche Entwicklungen in den offiziellen Textsorten Die beiden genannten Entwicklungstendenzen der Studentensprache sollten in einem ersten Schritt nachweisbar sein an der Geschichte der einschlägigen Textsorten. Es mag hier genügen, diese Textsorten nach nur zwei Dimensionen zu gliedern, nach Graden der Offizialität bzw. Intimität sowie nach Graden der Öffentlichkeit bzw. Exklusivität. Die erste Dimension ist relevant für den Kommunikationsbereich des Verbindungslebens und seinen engeren Umkreis, die zweite vor allem für die Verbreitung studentensprachlicher Charakteristika über die Sozialgruppe der Studenten hinaus. Für den Kommunikationsbereich des Verbindungslebens können offizielle, halboffizielle und inoffizielle Formen sprachkommunikativen Handelns unterschieden werden. Den Kern des verbindungsinternen Schrifttums bilden die Textsorten der offiziellen Handlungsformen, voran die aus gemeinsamer Beratung der Gründungsmitglieder hervorgegangenen Konstitutionen, die zwischen den an einem Hochschulort existierenden Verbindungen vereinbarten (SC‐)Komments und die der Kontrolle der Chargierten unterliegenden Verhandlungsprotokolle. Dieser Komplex offizieller Textsorten, zu dem des weiteren etwa Korrespondenzen, Reden und Diskussionen in Verbindungsangelegenheiten gehören, ist umgeben von halboffizieller Kommunikation, repräsentiert durch Textsorten wie Studentenlied, Bierzeitung und Kommersunterhaltung (sog. Fidelität). Den beiden mehr kollektiv geprägten Kom-
2.1 Fachsprachliche Entwicklungen in den offiziellen Textsorten
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munikations- und Textbereichen steht die persönliche, intime, jedenfalls inoffizielle Kommunikation gegenüber in Gestalt etwa der Freundesbriefe, der Stammbuch- und Tagebucheinträge. Zunächst sei die Tendenz der Verfachsprachlichung für die wichtigsten offiziellen Textsorten unter den Aspekten der Kodifikation, der Spezialisierung und der Standardisierung betrachtet. Obwohl die Existenz vereinbarter Grundsätze und Verfahrensregeln des studentischen Zusammenlebens in die Anfänge der Universitäten zurückreichen dürfte, setzt die Kodifikation von Verbindungsstatuten erst um 1770 auf breiterer Basis ein.²⁶ Diese Konstitutionen erläutern die Zwecke der Verbindung,²⁷ ihren hierarchischen Aufbau, regeln die Mitgliedschaft, die Rechte und Pflichten, die Finanzen, die Eventualitäten und Veranstaltungen sowie die Kontakte nach außen. Anfangs kurz und schlicht, manchmal auf einem Blatt untergebracht, wuchsen die Konstitutionen meist von Revision zu Revision an. Schübe der funktionellen Differenzierung der Textsorte mit Auswirkung auf den Textumfang gab es z. B. mit der Gründung der Burschenschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts und gegen dessen Ende mit der Etablierung der Altherrenverbände.²⁸ Das System der Verhaltensnormen für ein „honoriges“ Burschenleben, der sog. Komment, der als Hauptteile die Ehren- und Duellordnung²⁹ sowie die Kommersordnung enthält, wurde nach langer mündlicher Tradition seit ca. 1800 in Kooperation der lokalen Studentenverbindungen kodifiziert. Wie bei den Konstitutionen, blieb auch hier die Kodifikation grundsätzlich auf handschriftlicher Ebene; einzelne gedruckte Publikationen verfolgten überwiegend Zwecke wie Enthüllung, Abschreckung oder bloße Erheiterung.³⁰ Der Geltungsanspruch des Komments erstreckte sich anfangs auf die gesamte Studentenschaft am Ort, die Die Gesetze der Studentenorden des . Jahrhunderts sind an verstreuten Stellen teilweise publiziert; für die Jenaer Verhältnisse vgl. Götze , für Marburg Heer a. Für die Konstitutionen der Landsmannschaften bzw. Corps bis vgl. Einst und Jetzt. Jb. Sonderhefte und . Einige Konstitutionen von Corps und Burschenschaften schon bei Haupt . Die Selbstbezeichnungen für die Organisationsform Studentenverbindung sind anfangs sehr variabel; z. B. nennt sich die Teutonia-Halle in ihren „Verfassungsgesetzen“ von abwechselnd Verbindung (meist), Bund, Landsmannschaft, Gesellschaft, Vereinigung, Burschenschaft (in dem allgemeinen Sinn eines Kollektivbegriffs), in der „Einleitung“ auch Verein; vgl. den Text bei Dietz , S. – . Für Letzteres vgl. Neuhaus , S. . Nachweise früher Komments im Quellenverzeichnis. Der früheste „Burschen-Comment“ (Schluck ) ist als lateinische Scherzdissertation angelegt; übersetzt von Ulrich Paulus erschien er noch Stuttgart (Nachdruck von E. Bauer, in: Einst und Jetzt. Jb. . , S. – ). Unter der Überschrift „Der hallische Burschenkomment in systematischer Ordnung“ schildert Augustin (S. – ) das studentische Brauchtum. Der früheste offenbar authentische Kommentext aus dem studentischen Verbindungswesen (Jena ) bei Turin , S. – , danach Fabricius , S. – .
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2 Entwicklungstendenzen der Studentensprache
sich bei feierlichen Aufzügen oder Protestaktionen auch vielfach solidarisch zeigte; nach der Spaltung in Burschenschaften, Korps und andere Lager wurde der Komment mehr zur Angelegenheit der einzelnen Verbindungstypen. Ungefähr gleichzeitig mit den Konstitutionen beginnt die Überlieferung von Protokollen, in denen die Verhandlungen und Beschlüsse der Konvente einer Verbindung festgehalten sind. Seit ca. 1800 kommen Sitzungsprotokolle für übergeordnete Gremien, wie den „Senioren-Convent“ der Corps³¹ oder den „Vorstand“ und „Ausschuß“ der Burschenschaft, dann auch für überregionale Delegiertentreffen hinzu.³² Die Form der Protokolle ist so vielfältig wie der Inhalt. Offene Grenzen gibt es z.T. zwischen Protokoll und Chronik einer Verbindung, auch offizielle Korrespondenzen und Reden sind gelegentlich in das Protokoll eingearbeitet, wie überhaupt das sog. Protokollbuch in der Frühzeit oft ein Sammelkodex ist, der z. B. auch die Statuten, das Mitgliederverzeichnis u. a. enthalten kann. An der Entwicklung der Protokolle und an der Entflechtung des Protokollbuchs in funktionell spezialisierte Textsorten und Kodices ist besonders anschaulich die fortschreitende vereinsmäßige Durchorganisation und verwaltungstechnische Perfektionierung der Studentenverbindungen zu studieren. Einen exemplarischen Einblick in den gegen Ende des 19. Jahrhunderts erreichten Stand der verbindungsinternen Verschriftlichung bietet die 1895 publizierte Beschreibung des Archivs der Freiburger Burschenschaft Alemannia.³³ Unter 7 Rubriken sind insgesamt 52 Einzelposten aufgeführt; unter der Rubrik „A. Geschichte“ u. a.: „Geschichte der Alemannia von der Reconstruction 8. Juni 1867 bis 3. März 1872“, „Conventbücher des allgemeien Convents seit 23. November 1882“, „Conventbücher des Burschen-Convents seit 23. November 1882“, „Verhandlungen über Begründung eines Cartells mit „Vorarlbergia“ (jetzt L.D.C. [= Linzer Delegierten-Convent] Burschenschaft Suevia=Innbruck) […]“, „Semesterberichte seit 1879“; unter der Rubrik „B. Satzungen“ u. a.: „Statuten des „academischen Vereins“ Alemannia“, „Satzungen der Burschenschaft Alemannia von 1879, 1883, 1892, 1895“, „Geschäftsordnung der Burschenschaft Alemannia“, „Cartellstatuten (Vorarlbergia=Schottland=Alemannia)“, „A.D.C. [= Allg. Deputierten-Convent] Statuten“; unter Rubrik „C. Paukcomments und Paukbücher“ u. a.: „Paukcomment mit Teutonia und G.C. [= General-Convent?] (1871 bis 1876)“, „F.D.C. [= Freiburger Deputierten-Convent?] Paukcomment von 1879, 1882, 1886, 1894“, „Paukbücher [der Alemannia] vom 30. October 1886 bis 1895“; unter Rubrik „D. Briefe und Protokolle“ u. a.: „Correspondenzen mit den Mitgliedern der Ale Für Tübingen vgl. Assmann . Vgl. etwa G. Heer. In: Quellen und Darstellungen. Bd. . Heidelberg , S. – „Die Sitzungsberichte der beiden ersten Burschentage vom Jahre “. Burschenschaftl. Bll. . WS /, S. f.
2.1 Fachsprachliche Entwicklungen in den offiziellen Textsorten
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mannia seit 1860“, „Correspondenzen mit dem S.C. [= Senioren-Convent] zu Freiburg (1871 bis 1878)“, „Correspondenzen mit dem A.D.C. Burschenschaften seit 1878 resp. 1879“, „Schiedsgerichtsverhandlungen“, „E.D.C. [= Eisenacher Deputierten-Convent] Protocolle und Sitzungsberichte“; unter Rubrik „E. Verzeichnisse“ u. a.: „Mitgliederverzeichniß der Alemannia seit 1860“, „Verzeichniß der alten Herren der Alemannia“, „Stiftungsfestpräsenzalbum“, „Alte Herrenverzeichniß des A.D.C.“; unter Rubrik „F. Kassensachen“: „Kassenbücher seit 1867“, „Quittungen und Miethsverträge seit 1860“; unter Rubrik „G. Litterarisches“ u. a.: „Sammlung von litterar. Producten des „academischen Vereins“ Alemannia 1860 – 1870“, „Autograph des Dichters [= Jos. Victor von Scheffel] „Nicht rasten und nicht rosten etc.“, „Die Burschenschaftlichen Blätter seit ihrer Begründung [1887]“, „Geschriebenes Anstichliederbuch (1887– 1892)“, „Freiburger Burschenschaft Alemannia, Liedersammlung (im Druck 1893)“, „3 Bände Bierzeitung“. Die Aufstellung kann den allgemeinen Eindruck bestätigen, dass das studentische Verbindungswesen im Umfang des Textsortenrepertoires und im Grad der Spezialisierung und Standardisierung der Kommunikationsformen dem bürgerlichen Vereinswesen der Zeit in nichts nachstand. Der Verschriftlichungsprozess als solcher war für die Studenten nicht mit den Umstellungsschwierigkeiten und Normkonflikten verbunden wie für andere Sozialgruppen. Die Fähigkeit zu normadäquatem schriftsprachlichen Ausdruck brauchte nicht erst erworben werden, der Zugang zu modellhaften Realisierungen der benötigten Textsorten stand offen. Die Umsetzung der vorhandenen Fähigkeiten und Kenntnisse im Dienste der Absicherung und Ausgestaltung der eigenen Gruppenkultur war noch zusätzlich dadurch motiviert, dass besonders Jurastudenten das Verfassen oder Bearbeiten von Statuten, Ordnungen, Protokollen und anderen offiziellen Texten als Vorschule für die bürgerliche Berufspraxis ansehen konnten. Über die generelle Vertrautheit mit dem juristischen und kameralistischen Fachbereich hinaus sind spezielle, lebensnahe Erfahrungen vor allem mit der universitären Verwaltungssprache,³⁴ die wie das juristische Fachschrifttum noch stark dem Lateinischen verhaftet war, und mit der französisch geprägten Fachsprache der Fechtkunst anzusetzen. Als Eigenschaften von Fachsprachen auf Textebene gelten u. a. ein hoher Grad expliziter Textgliederung und Kohärenzbildung.³⁵ Als Beispiel diene die „Verfas-
Dazu A. Götze: Akademische Fachsprache. In: German.-Roman. Monatsschr. . , S. – . W. v. Hahn: Fachkommunikation. Berlin, New York , S. – ; D. Möhn/R. Pelka: Fachsprachen. Tübingen , S. f.
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2 Entwicklungstendenzen der Studentensprache
sungsurkunde der Jenaischen Burschenschaft“ von 1815.³⁶ Sie besteht aus vier Teilen: „Einleitung“, „Allgemeiner Theil“, „Besonderer Theil“, „Veränderungen und Zusätze“. Der „Besondere Theil“, der längste, umfasst 263 durchnummerierte Paragraphen, die selbst z.T. in Absätze und Unterpunkte zerfallen. Den Paragraphen des „Besonderen Theils“ ist eine hierarchische Ordnung in „Theil“, „Buch“, „Abschnitt“, „Kapitel“ und Unterkapitel übergeworfen, so dass im ganzen eine achtstufige Einbettungsstruktur vorliegt. Die vertikale Hierarchisierung der Textteile und die horizontale Feingliederung mittels durchlaufender Paragraphenzählung ermöglichen einen raschen thematischen Zugriff über die Zwischentitel wie auch die problemlose Lokalisierung eines Textstücks in der Sequenz. Im Vergleich zur Konstitution der Jenaer Landsmannschaft Vandalia von 1811,³⁷ die für die burschenschaftliche Verfassungsurkunde Modell stand, ist die Zahl der entsprechenden Paragraphen im „Besonderen Theil“ gestiegen (von 104 auf 159); ebenfalls gestiegen ist der Grad der Texteinbettung (von 5 auf 8). Die kleinteilige Textgliederung begünstigt gezielte Querverweise (hier: auf je andere Paragraphen), die der Textökonomie und der Kohärenzbildung dienen. Ebenfalls auf eher struktureller Ebene operieren die syntaktischen Verweisformen der (nominalen) Anaphorik und Kataphorik sowie Verweiswendungen (z. B. „muß folgende Erfordernisse haben“ § 251), die in der Regel Enumerationen ankündigen. Von den Kohärenzmitteln, die mehr konzeptuelle Relationen zwischen Textteilen herstellen, sind gegenständliche Klassifikationen und begriffliche Distinktionen im „Besonderen Theil“ häufiger angewandt (z. B. „§ 217. Die Art des Verschißes wird eingetheilt in den wiederruflichen, und den unwiederruflichen Verschiß“), während etwa Argumentationsfiguren (z. B. „Hieraus ergibt sich nun leicht, daß“) auf die „Einleitung“ und den „Allgemeinen Theil“ beschränkt sind. Insgesamt ist gegenüber der VandalenKonstitution ein deutlich höherer Grad an Textkohärenz festzustellen. Diese Befunde zur Fachsprachlichkeit der Textstrukturierung seien ergänzt um einige Beobachtungen zur Fachsprachlichkeit der Wortverwendung. Vorab fällt auf, dass fachsprachliche Formen des Wortgebrauchs fast nur studentensprachliche Wörter betreffen, d. h. solche, die in den zeitgenössischen Wörterbüchern der Studentensprache zum festen Bestand gehören. Es überrascht nicht, dass explizite Regelungen des Wortgebrauchs sich in dem Teil der Verfassungsurkunde häufen, der auf einem älteren Kommenttext beruht,³⁸ denn der Komment als Grundlage der stu-
Haupt , S. – . In die Verfassungsurkunde ist der Komment (Ehren- und Duellordnung) integriert. Textabdruck bei Fabricius /, S. – , – . §§ – . Vgl. dazu „Jenaischer Komment“ (um ), Abdruck bei Fabricius , S. – .
2.1 Fachsprachliche Entwicklungen in den offiziellen Textsorten
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dentischen Gerichtsbarkeit sollte den Auslegungsspielraum klein halten. Im Ganzen sind folgende Typen der Worteinführung vertreten: (1) Signalisierung des Terminuscharakters gleich im Anfang des Semesters ein sogenannter Fuchskommersch, und bei dem Prorectoratswechsel ein sogenannter großer Commersch: § 228 (2) Explikation durch synonymen Ausdruck Nicht-Studenten (Philister): §§ 134, 145, 209 f.; Academische Infamie oder Verschiß: § 130; in Kombination mit (1): Die academische Infamie, oder der sogenannte Verschiß: § 208 (3) Erörterung eines Sachverhalts mit abschließender Terminologisierung nennen wir […] „Burschenleben“ (zusätzlich etxmologische Herleitung des Bestandteils Bursche): S. 120 (4) Definition Die höchste Verbal-Injurie ist „dumm“, oder „dummer Junge“: § 143; Anschiß heißt jeder Stich auf dem Rumpfe, dem Halse und am Kopfe, der blutet: § 198 Die expliziten Einführungsformen sind signifikant häufiger als in der Vorlage, dem landsmannschaftlichen Komment. Dabei werden im Kommentteil der Verfassungsurkunde keine eigentlich neuen Termini geprägt, auch z. B. die Gradation der Semester vom „Fuchs“ bis zum „bemoosten Herrn“ folgt der Tradition. Neu ist bei der Burschenschaft jedoch der Wortschatz der Verwaltungssprache (z. B. die Benennung der Ämter und Gremien) und allgemein die Favorisierung deutscher Ausdrücke (Verfassung vs. Konstitution; Brauch, Ordnung vs. Komment usw.) im Gefolge sprachpuristischer Tendenzen (Arndt, Jahn, Campe u. a.).³⁹ Die Tendenz der Verfachsprachlichung, exemplarisch aufgezeigt im Vergleich der Verfassungsurkunde von 1815 mit ihren Vorstufen, ist besonders ausgeprägt in den offiziellen Textsorten des Verbindungslebens. Sie ist funktionell begründet durch das Bedürfnis der Traditionssicherung und als Antwort auf die steigende Komplexität des Handlungs- und Kommunikationssystems, das die einzelne Studentenverbindung mit lokalen Verbindungskartellen, überregionalen Dachorganisationen und mit der Altherrenschaft verband. Sie ist darüber hinaus gekoppelt an die fortschreitende Bürokratisierung der Institutionen, Vereine und Assoziationen allgemein. Das Ergebnis ist im Wesentlichen eine den Verbindungsangehörigen (Studenten und Alten Herren) gemeinsame Verwaltungsfachsprache, für die – im Rahmen des jeweiligen Verbandes – eine Standardisierung
Die „Reinheit der teutschen Sprache“ ist z. B. ein Punkt in „Die Grundsätze und Beschlüsse des achtzehnten Octobers []“; Text bei Herbst , S. .
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2 Entwicklungstendenzen der Studentensprache
auf nationaler Ebene angestrebt wird. Über Schwierigkeiten, die dabei auftreten konnten, berichten die ‚Burschenschaftlichen Blätter‘ (1887): Am meisten Widerspruch finden unsere Rubrizirungen. Nach dem Vorgange der A.D.C.=Statuten und der gedruckten Mitgliederverzeichnisse scheiden wir a) Aktive, b) Inaktive am Ort, c) Conkneipanten, d) auswärtige Inaktive. Es ist uns wohl bekannt, daß bei einer beträchtlichen Zahl von Burschenschaften die verschiedenen Arten der Mitgliederschaft theilweise andere Namen haben. Was würde aber dabei herauskommen, wenn wir die mannigfachen bei einzelnen Burschenschaften oder auf einzelnen Hochschulen üblichen Spezialbezeichnungen (z. B. studirende Ehrenmitglieder, auswärtige Aktive, Studentenphilister, Jungphilister usw.) in unsere Uebersicht einführen wollten! Es liegt im Wesen der Statistik, daß bei der Rubrizirung schematisiert werden muß, und jede Eigenart zu Grunde geht […]. Die oben angegebenen Bezeichnungen haben wir deshalb gewählt, erstens weil nicht nur die relative sondern sogar die absolute Mehrzahl der Burschenschaften sie gebraucht, zweitens weil sie in den Sprachgebrauch eines jeden Burschenschafters übergegangen sind und drittens weil sie auch schon in den A.D.C.=Statuten stehen. – Ein Analogon übrigens zu diesem Punkt bilden die verschiedenen üblichen Bezeichnungen der alten Burschenschafter (alte Herren, Philister, Ehrenmitglieder). Auch hier brauchen wir im Allgemeinen den volksthümlichsten Ausdruck „alte Herren“. ⁴⁰ In der Semesterstatistik der ‚Burschenschaftlichen Blätter‘ spielte sich in der Folge eine Rubrizierung nach „Aktiven“, „Conkneipanten“, „Inaktiven“, „Auswärtigen“ und „Kneipgästen“ ein, während im Organ der Korps, den ‚Academischen Monatsheften‘, „Corpsburschen“, „Renoncen“ sowie „Conkneipanten“ gezählt und insgesamt den „Aktiven“ zugeschlagen wurden. Korps wie Burschenschaften verwendeten in ihren verbandsinternen Jargons gleichermaßen die Bezeichnungen Alter Herr und (Corps- bzw. Burschenschafts‐)Philister, offiziell jedoch hieß es „Verband Alter Corpsstudenten“ (gegr. 1882) bzw. „Verband Alter Burschenschafter“ (gegr. 1890). Wechselseitige Spottbezeichnungen der beiden verfeindeten Lager waren Corpsier und Büchsier, doch wurde das traditionsreiche Büchsier auch als Selbstbezeichnung akzeptiert und damit entschärft.⁴¹ An diesen Beispielen werden die Differenzen und partiellen Überschneidungen der Verwaltungssprachen der einzelnen Verbände, Schichtungen zwischen hochoffizieller Terminologie und (gesprochenem) Jargon wie auch die Perspektivik der Selbstund Fremdbezeichnungen ansatzweise erkennbar. Bei der Vielzahl der Verbin-
Burschenschaftl. Bll. . , S. f. Vgl. Burschenschaftl. Bll. . WS /, S. , .
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dungen und Vereine (auch „Vereine der Vereinslosen“, der „farblosen“ sog. Finken) und bei der Fülle des von ihnen produzierten Schrifttums sind weitausgreifende Analysen nur mit großem Aufwand zu erreichen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass zumindest im offiziösen Sprachgebrauch der führenden Verbände gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein kaum noch zu steigernder Grad der Spezialisierung der Textsorten und der sprachlichen Differenzierung der verwaltungstechnischen Instanzen, Funktionen und Prozesse erreicht war. Zumal auch der reichliche Gebrauch von Abkürzungen („Er erlaubt sich dieß seinen l. AH. AH. und i.a. CB. i.a. CB. mitzutheilen“) und Sonderzeichen („Chargen: X.XX.XXX. oder XXX.XX.X.“⁴²) deutet darauf hin, dass kommunikative Barrieren z.T. auch künstlich errichtet wurden als Signum sozialer Exklusivität und als Prüfkriterium für die Anpassungsbereitschaft der Aufnahmewilligen.
2.1.1 Wechselwirkung von Gruppen- und Fachsprache Bei der Verfolgung der Tendenz der Verfachsprachlichung ist hier nun der Punkt erreicht, an dem sich die Frage stellt, was die Verwaltungssprache des Verbindungslebens, an dem auch die Alten Herren partizipieren, noch mit Studentensprache als einer Gruppensprache zu tun hat, ob es nicht sinnvoller sei, diese Verwaltungssprache einer vergleichenden Untersuchung der Vereinssprachen im 19. Jahrhundert zu überlassen. Jedoch lässt sich auch anders fragen, ob die Verwaltungssprache der Studentenverbindungen nicht nur die Erscheinungsform einer Organisationsleistung ist, die diesem Vereinstyp – und damit indirekt auch der Gruppensprache – einen so langen Bestand sicherte. Demnach kann man der studentischen Kommunikation im Verbindungsleben (wie der Sprache der Vereine wohl überhaupt) eine gruppensprachliche und eine fachsprachliche Komponente zuschreiben, die historisch vermittelt sind und sich in den Texten als Varietätenmischung, wenn man so will, manifestieren. Dabei werden als Bausteine der Fachsprache traditionelle Elemente der Gruppensprache (Bursch, Kneipe, Kommers, Philister usw.) bevorzugt, terminologisiert und insbesondere in Prozessen der Wortbildung immer weiter kombiniert (Burschenschaftsphilisterkommers, Corpsphilisterkneipe, Alte=Herren=Kneipabend usw.). In der Gegenbewegung werden Termini und Begriffe der studentischen Verwaltungssprache – natürlich auch anderer Fach- und Wissenschaftssprachen – jargonisiert und so dem gruppensprachlichen Kommunikationsbereich zugeführt,
Acad. Monatsh. . /, S. f. „AH“ = Alter Herr, „i.a. CB“ = inaktiver Corpsbursch“; die Verdopplung zeigt den Pl. an. Die Zahl der „X“ gibt die Ränge der Chargierten (., ., .) an.
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in dem lebenspraktisch ein gemeinsamer Verstehenshorizont vorausgesetzt werden kann, so dass der Akzent auf der Signalisierung von Bewertungen und Attitüden liegt. Wie immer man sich das Verhältnis von Gruppen- und Fachsprachlichem im Sprachgebrauch der Verbindungsleute im einzelnen auch vorzustellen hat – ganz falsch wird der Eindruck nicht sein, dass der Ausbau der fachsprachlichen Komponente, unter massiver Beteiligung der Alten Herren, der Entwicklung der gruppensprachlichen Komponente in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts davoneilte.
2.1.2 Ritualisierung Die Tendenz der Verfachsprachlichung wurde begleitet, gestützt und im Spätstadium teilweise abgelöst durch die Tendenzen der Ritualisierung und Archaisierung von Studentensprache, die den Bereich einer regenerationsfähigen gruppensprachlichen Kommunikation einengten. Unter einem Sprachritual sei ein für bestimmte rekurrente Situationen in der Ausdrucksform festgelegtes Muster sprachlichen Handelns verstanden, das für die Beteiligten einen „symbolischen Mehrwert“⁴³ besitzt, indem im Vollzug auf Werte und Normen der Handelnden bzw. der Handlungsmächtigen (indirekt) verwiesen wird. Ritualisierung ist dann die Entwicklung und Vermehrung von Ritualen, Ritualismus die positive Einstellung zur Ritualisierung. Es bedarf kaum eines Nachweises, dass im offiziellen Handlungsbereich der Studentenverbindungen im späteren 19. Jahrhundert ein extremer Ritualismus herrschte, von den Zeremonien der Aufnahme und Verbindungskarriere über den Kommersbetrieb, die Verbalinjurien und Duell- bzw. Mensurpraktiken, die Stiftungsfeste bis hin zum Trauersalamander für Verstorbene. Auf die Spitze getrieben erscheint der Ritualismus im Bierkomment, in dem ganze Serien fester Formeln vorgeschrieben sind, darunter zahlreiche lateinische. Auch diese Entwicklung zum Ritualismus vollzieht sich nicht isoliert von der Gesellschaftsgeschichte. In den Idealen der Ehre, Tapferkeit, (Fahnen‐)Treue, der Disziplin, der formalen Korrektheit wie auch der Trinkfestigkeit sind unschwer Offiziersideale einer Zeit wachsenden Nationalismus und Militarismus zu erkennen. Von der Zeitströmung erfasst wurden auch Studentenverbände, die ursprünglich liberaldemokratisch, religiös, sozialreformerisch, wissenschaftlich, künstlerisch oder turnerisch angetreten waren.
Vgl. Gülich , S. .
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2.1.3 Archaisierung Archaisierung, also der Rückgriff auf Ausdrucksmittel früherer Sprachstadien – häufig in Verbindung mit historischer Thematik – bzw. die sprachgeschichtliche Retardation durch Abwehr zeitgemäßer Neuerungen, ist ein komplexes sprach- und stilgeschichtliches Phänomen, das für das 19. Jahrhundert besonders charakteristisch erscheint, das aber (auch) in der studentischen Kommunikationspraxis schon im 18. Jahrhundert auftritt. Im Umkreis des Wartburgfestes von 1817, das besonders Luther-Gedenkfeier war, begegnet in Reden, Liedern und Briefen vielfach der Bibelton. Zur Lutherbibel und zum Kirchenlied trat als Hauptquelle der Archaisierung das romantisierte Mittelalter; ein „altfränkischer“ oder „altdeutscher“ Habitus in Kleidung, Haartracht und Sprache wurde bis in die Beamtenschaft Mode. Man ahmte den Ton alter Volkslieder im Studentenlied nach. Auch für die Zwecke der Komik und Satire wurde das Archaisieren weidlich genutzt. Verschiedene Spielformen des Archaisierens durchziehen die Literatur des 19. Jahrhunderts.⁴⁴ Hier genügt ein Verweis auf Victor von Scheffel, der die Figur des fahrenden Schülers zur existentiellen Metapher stilisierte und mit seinen historischen Romanen und Studentenliedern gerade auch über die Akademikerschaft breite Wirkung entfaltete. Soviel zum allgemeinen Szenario, vor dem die Archaisierungsproblematik in Bezug auf den Sprachgebrauch im Verbindungsleben zu sehen ist. Dabei kommt der Frage nach den sprachlichen Folgen der um 1880 breit einsetzenden „Alte Herrenbewegung“⁴⁵ besonderes Gewicht zu, denn nicht nur übertrafen die Altherrenverbände den Mitgliederbestand der Aktiven um ein Mehrfaches,⁴⁶ die Alten Herren redigierten auch die maßgeblichen Organe der Verbindungspresse, entfalteten eine ausgedehnte burschikose Schriftstellerei und bildeten so Geschmacksmuster aus, stifteten verbindungseigene Häuser, dominierten als Redner die Stiftungsfeste und feierlichen Kommerse, wachten über den Lebensstil der Jungakademiker und versorgten sie auch ideologisch mit Überzeugungen, Werten, Zielen und Leitfiguren. Noch vor der Konstituierung des Altherrenverbandes schrieb die Redaktion der ‚Burschenschaftlichen Blätter‘ (1888): So hat sich neben die zu Veränderungen geneigte junge Welt allmählich eine zweite gestellt, welche das Beständige und Feste in sich darbietet und ein Gegengewicht gegen die bewegliche Jugend bildet. Dieses Bild des einträchtigen Zusammenlebens
Leitner . Acad. Monatsh. . /, S. . Schon auf dem Kösener Kongress von überwogen die Alten Herren der Korps die Aktiven derart, dass der Aktiven-Kongress „scherzhafterweise „Nebenkösener“ genannt“ wurde; vgl. Acad. Monatsh. . , S. . Im Jahre standen insgesamt . aktive Verbindungsstudenten . Alten Herren gegenüber; vgl. Wende und Schau. Kösener Jb. . , S. .
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der Alten und Jungen ist hocherfreulich; wer es zu stören wagt, wird als Frevler an der gemeinsamen Sache zu betrachten sein. ⁴⁷ Die Formierung der Altherrenschaften bedeutete eine enorme Ausdehnung der Trägerschaft von Studentensprache als Verbindungssprache, eine Ausdehnung allerdings nur aufgrund der lebensgeschichtlichen Verschiebung des Gebrauchs studentischer Spracheigentümlichkeiten. Die Diskrepanz zwischen einstmaligen individuellen Spracherfahrungen und dem fortgeschrittenen Sprachstand konnte durch fortgesetzte Kontaktpflege zwischen Jung und Alt wohl z.T. gemindert werden; aber es ist unwahrscheinlich, dass der sprachliche Ausgleich sich immer oder auch nur in der Mehrzahl der Fälle auf dem Niveau der Jüngeren vollzog, und selbst wenn aktuelle studentensprachliche Elemente bei den Älteren als Juvenilismen usuell wurden, war – zumal bei der wesentlich rascheren Generationenfolge der Studenten – der Effekt doch der, dass die spezifisch jugendsprachliche Markierung verlorenging zugunsten einer allgemeineren, diffusen Markierung ‚burschikos‘ oder ‚Akademikerjargon‘. Die kommunikative Rückbindung an die Alten Herren erweist sich damit als ein Faktor der Archaisierung bzw. historischen Retardation und damit auch als ein wichtiger Grund für den Profilverlust der bis dahin vitalen Gruppensprache. Die Veränderungen in der sozialen Basis der Studentensprache führten im Wortschatz zu semantischen Verschiebungen wie in folgenden Beispielen, die insofern einem Muster folgen, als der Wandel der Bezeichnungsfunktion mit der Altersverschiebung in der Sprechergruppe korreliert: – Philister wird in den Wörterbüchern der Studentensprache des 18./19. Jahrhunderts i. Allg. mit ‚Nicht-Student‘ erklärt; erst 1887 erscheint die Angabe „1) der studirte Mann nach bestandenem Examen (vgl. auch „altes Haus“)“.⁴⁸ Der im studentischen wie auch im allgemeinen Sprachgebrauch in der Regel negativ konnotierte Ausdruck war spätestens um 1850 zum Terminus technicus für den ehemaligen Verbindungsstudenten avanciert. Der Student Victor (von) Scheffel berichtet 1846 vom Stiftungsfest des Heidelberger Korps Suevia, auf dem als frühere Mitglieder „circa 150 Mann Philister aller Art und Würden, mit verschosssenen Bändern und Mützen“ erschienen waren.⁴⁹ 1854 konstituierte sich der erste „Philisterverein“.⁵⁰ Diese semantische Verschiebung veränderte die Bedeutungsstruktur und den Stilwert von Philister.
Burschenschaftl. Bll. . , S. . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. . J.V.v. Scheffel , S. ; ebd. die Angabe, ein in dieser Form begangenes Stiftungsfest sei für Heidelberg neu gewesen. Vgl. Kluge/Rust s.v. Altherrenschaft.
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Alter Herr erscheint zuerst als Kommentausdruck für den Studenten im sechsten Semester, so 1809 in Jena.⁵¹ Um 1850 wird diese Bedeutung abgelöst von ‚ehemaliger Verbindungsstudent‘⁵² und (umgangssprachlich) ‚Vater‘. Ähnlich ist altes Haus zuerst (1795)⁵³ freundschaftliche Anrede unter Studenten, dann auch Kommentausdruck für den Studenten höheren Semesters, 1843 erscheint es als Bezeichnung eines gelehrten alten Herrn⁵⁴ und 1850⁵⁵ – nach den Wörterbüchern erst 1875⁵⁶ – bedeutet es ‚ehemaliger Verbindungsstudent‘, doch hält es sich (umgangssprachlich) als Anrede unter (akademischen) Freunden bis heute. Akademiker löst gegen Ende des 18. Jahrhunderts Akademikus ‚Student an einer Universität, einer Hochschule‘ ab und übernimmt dessen Bedeutung; ab ca. 1900 bedeutet Akademiker mit Verschiebung auf absolvierte Studenten dann ‚akademisch Gebildeter‘.⁵⁷
Das Bild einer Gruppensprache in ihrer Spätphase präsentieren insbesondere auch die Wörterbücher der Studentensprache im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. 1887 spricht ein Wörterbuchverfasser vom „letzten Rest deutscher Studentensprache“,⁵⁸ und im Jahre 1900 läuft mit der fünften Auflage des ‚Studentischen Conversationslexicons‘ (zuerst 1875) die einhundertfünfzigjährige Wörterbuchtradition der Studentensprache aus. Die Zufuhr neuer Stichwörter bewegt sich zuletzt in engen Grenzen und betrifft im Wesentlichen verbindungssprachliche Wortbildungen vom Typ Antrittskommers oder Konfuchs, die aber wiederum in willkürlicher Auswahl völlig unzureichend erfasst werden. Ein großer Teil der kodifizierten Wörter und Bedeutungen verdankt sich bloßen Abschreibetraditio Vgl. Einst und Jetzt. Jb. Sonderheft , S. ; ferner Scheitlin, Bd. . , S. : „im vierten [Semester] ein alter Herr“ (über Jenaer Studentensprache im Jahre ). Carl v. Gersdorff an F. Nietzsche am . . über einen Stiftungskommers seines Göttinger Korps: „Es war mir zwar ganz angenehm, die Bekanntschaft vieler alter Herren von uns zu machen“ (Nietzsche, Briefwechsel, , I., S. ). Henne/Objartel , Bd. , S. . J.V. v. Scheffel: Briefe ins Elternhaus – . Im Auftrage des Deutschen Scheffelbundes eingel. u. hrsg. v.W. Zentner. Karlsruhe , S. ( an den Vater): „Herrn Hofrat Thiersch […] Er ist übrigens schon ein sehr altes Haus, ein gebückter, grauer Philolog“. Scheffel , (. . ): „Was hörst Du von alten Häusern? Dem „Geheimen Rat“ Rahn schreib ich“. Henne/Objartel , Bd. , S. . Deutsches Wörterbuch von J. und W. Grimm. Neubearbeitung. Bd. , Sp. f. – Ein eindeutiger Frühbeleg für Akademiker ‚Student‘: „Der Ton ist hier unter dem Philisterstande freier als in Jena; unter den Burschen oder wie sie hier genannt werden Akademikern, ist er erbärmlich“ (Studentenbrief Würzburg ), zit. bei Marquardt , S. . Henne/Objartel , Bd. , S. .
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nen und ist von der realen Sprachentwicklung überholt.⁵⁹ Das Interesse an sprachlichen Fragen scheint bei den Studentenverbindungen und den Altherrenverbänden, nachdem über die Verbindungspresse ein sachbezogenes Verständigungssystem eingespielt war, überhaupt gering gewesen zu sein; eine 1891 in den ‚Burschenschaftlichen Blättern‘ vorgebrachte Anregung, „die in den letzten Jahrzehnten neu hinzugekommenen Ausdrücke der modernen Burschensprache zusammenzustellen“,⁶⁰ bleibt unausgeführt. Dafür griff die Fremdwortdiskussion auf die Studentensprache, speziell die Verbindungssprache, über in Gestalt eher wirkungsloser Verdeutschungsversuche.⁶¹ Zur Charakterisierung des sprachgeschichtlichen Stellenwerts der Studentensprache um 1900 gehört schließlich noch der Hinweis darauf, dass mit der Zunahme öffentlicher Kritik am Verbindungsstudententum, dessen Exponenten nun einmal die schlagenden Korporationen waren, das Prestige studentischer Gruppensprache insgesamt absank, indem sie in satirischer Optik nur noch als Jargon des blasierten Couleurstudenten erschien.⁶² Dass neben dem Original dieser Karikatur immer auch andere gruppensprachliche Sprech- und Schreibweisen in der reichgegliederten Studentenschaft existierten, versteht sich, doch drangen sie kaum ins öffentliche Bewusstsein. Jedenfalls: Wenn nach 1900 eine lebendige Jugendsprache das Interesse der Sprachforscher und Pädagogen auf sich zog, so war es weniger die Studentensprache als vielmehr die sog. Pennälersprache, die Sprache der Gymnasiasten, die zwar seit jeher Anleihen bei der Sprache der Studenten gemacht hatten,⁶³ sich nun aber auch den modernen Tendenzen öffneten, sich „im Kampfe gegen fade Bierkommentspoesie“⁶⁴ zunehmend emanzipierten und eigenständige
Einem vergleichbaren Anachronismus verfielen die Studentenliederbücher. wird festgestellt (Acad. Monatsh. , S. ), die beiden gebräuchlichsten Kommersbücher (i. e. das Lahrer und das Leipziger) enthielten „viele Hunderte“ Lieder, die nie gesungen würden. Zu einer durchgreifenden Aktualisierung kam es aber auch hier nicht. Jg. . /, S. . Vgl. die Verdeutschungswörterbücher der Studentensprache in: Henne/Objartel , Bd. , Anhang. „Im Vereine mit den Witzblättern und Karikaturisten haben gewisse Kreise ein Bild von Couleurstudenten entworfen, das jeden halbwegs ästhetisch veranlagten Menschen mit Abscheu und Entsetzen erfüllen muß.“ Aus einer Leserzuschrift zit. in: Acad. Monatsh. . , S. . Vgl. die Beispiele bei Eilenberger ; Reprint Henne/Objartel , Bd. , S. – . Der Zupfgeigenhansel. Hrsg. v. H. Breuer unter Mitwirkung vieler Wandervögel. . Aufl. Leipzig . Reprint Mainz, Leipzig , im unpag. Nachwort. Deutlicher noch in Des Wandervogels Liederbuch, hrsg. vom Wandervogel, . Aufl. , S.VI: „Das Lahrer Kommersbuch ist uns verstaubt und heller tönt uns ddafür das Wunderhorn.“
2.2 Diffusion über halboffizielle und private Textsorten
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Kulturformen erprobten. Schon um 1903 ist speziell vom „Wandervogel-Deutsch“, der „Sprache der Wandervögel“ die Rede.⁶⁵
2.2 Diffusion über halboffizielle und private Textsorten Die offiziellen Textsorten blieben im Allgemeinen auf ihre gruppeninternen Regelungsfunktionen beschränkt, hatten also keine nennenswerte Außenwirkung. Eine gewisse Ausnahme bilden die Bierkomments, seit den 1880er Jahren häufig im Druck und mitunter auch als „Anleitung zur Abhaltung eines Commerses in nichtstudentischen Kreisen“ deklariert.⁶⁶ Unter den halboffiziellen Textsorten des Verbindungslebens hat das Studentenlied eine herausragende Bedeutung als emotionaler Verstärker nach innen und als Symbol studentischer Kulturleistung nach außen. Das Wechselspiel von einerseits gedächtnismäßig-mündlicher Tradierung der Lieder mit der Folge hochgradiger Variabilität der Texte und andererseits (hand‐)schriftlicher Fixierung mit der Möglichkeit gezielter Neuredaktion bzw. Umdichtung reicht bis ins 19. Jahrhundert. Die nach 1815 in dichter Folge gedruckten Kommersbücher erschließen dem Studentengesang weitere Liedbereiche, wie sie umgekehrt manches studentensprachlich eingefärbte Lied in breitere Bevölkerungskreise tragen. Welcher Wertschätzung sich Kommersbücher (und Kommerspraktiken) allgemein erfreuten, ist z. B. daran zu ermessen, dass in einer Aufstellung von 80 Vereinsliederbüchern zwischen 1880 und 1899 acht die Ausdrücke Kommers oder Kommersbuch im Titel führen, darunter ein „KommersLiederbuch deutscher Gastwirts-Gehilfen“.⁶⁷ Wie für die Bierkomments werden auch für die Sammlungen von Studentenliedern über das Medium des Drucks neue Bedingungen und Möglichkeiten des Gebrauchs geschaffen, die tendenziell zur Standardisierung in Form und Inhalt sowie auf lange Sicht zur anachronistischen Konservierung führen. Das Studentenlied bedarf überhaupt einer aspektereichen literatur- wie sprachgeschichtlichen Betrachtung. Ein Liederheft kann kollektiver Besitz einer Verbindung sein und das für offizielle Anlässe benötigte Repertoire enthalten; es kann aber auch eine vom individuellen Geschmack diktierte Liebhabersammlung sein und im Freundeskreis produzierte Gelegenheitslyrik einschließen, also den privaten, persönlichen Textsorten im Kommunikationsbereich des Verbindungslebens zuzurechnen sein wie die Stammbücher, Tagebücher und Freundesbriefe. L. Gurlitt: Wandervogel. In: Burschenschaftl. Bll. . /, S. – . So der Untertitel zu: Der „Bier=Comment“. . Aufl. Hamburg (. Aufl. ). Vgl. auch Schwab , S. , Nr. u. . Schwab , S. – .
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2 Entwicklungstendenzen der Studentensprache
Unter den verschiedenen Eintragungsarten in Stammbüchern sind die 1800 – 1820 besonders beliebten Memorabilien, die im Telegrammstil gemeinsame Erlebnisse der Studentenzeit Revue passieren lassen, wegen ihrer Detailzeichnung für die Kulturhistorie und wegen ihrer sprachlichen Spontaneität und Ungeniertheit für sprachpragmatische Analysen von Interesse. Die Stammbuchsitte als Vehikel des Freundschaftskultes verliert sich allerdings nach 1830 unter den Studenten, wohl auch deshalb, weil Stammbuch und Poesiealbum inzwischen breitere Bevölkerungsschichten erreicht haben. Von Rückentwicklung und Schwund scheint im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch die Tagebuchsitte unter Studenten betroffen zu sein, doch sind dezidierte Aussagen hierüber angesichts der unklaren Überlieferungslage kaum vertretbar. Briefwechsel akademischer Freunde bilden dagegen im 19. Jahrhundert eine ungebrochene, sich noch verbreiternde Tradition. Unter allen schriftlichen Textsorten erfüllen sie mit am ehesten die Bedingungen, unter denen burschikose Sprachmittel und Stilmuster dicht und ausgeprägt auftreten, und zwar in originärer dialogischer Mitteilungsfunktion, frei von satirischer Verzerrung, nämlich: eine privatkommunikative Situation und eine vertrauensvolle Partnerbeziehung, als deren Voraussetzung der Reichtum an gemeinsamen Lebenserfahrungen, Unternehmungen und Kommunikationsgeschichten anzusehen ist. Im Zusammenhang unserer Fragestellung interessieren nun nicht allein die studentensprachlichen Materialien für sich, sondern gerade auch die Bedingungen und Möglichkeiten einer Ausdehnung des kommunikativ-pragmatischen Rahmens für deren Gebrauch. Im Prinzip kann eine solche Ausdehnung natürlich in vielen Dimensionen analysiert werden: Kommunikationsbereiche (Domänen), Situationen, Themen, Textsorten, Varietätenverbindungen, Stiltypen, Sprachwertbzw. Normensysteme, soziale Trägerschaften, Adressatengruppen usw. Nimmt man die Konstellation Verbindungsstudent – Privatbrief – Adressat, so ergibt sich aus Fallbeobachtungen die wohl verallgemeinerbare Feststellung, dass in die Vertrauenssphäre zunehmend auch der Vater und weitere Familienangehörige einbezogen werden. Während Briefe an das Elternhaus im 18. Jahrhundert oft ängstlich-beflissene Rechenschaftsberichte sind unter Betonung gänzlicher Abstinenz vom zeit- und geldaufwändigen Verbindungsleben, werden burschikose Erfahrungen nun nicht mehr in dem Maße tabuisiert, sondern mit Einschuss des entsprechenden Vokabulars unterhaltsam berichtet. Am Ende des 19. Jahrhunderts, als Vater und Sohn auf den Festkommersen gemeinsam „den Landesvater stechen“,⁶⁸ hat sich das Verhältnis zwischen den Generationen zumindest in Akademikerfamilien gründlich gewandelt.
Zur Frühgeschichte des Ritus vgl. Fabricius , S. – ; ferner Helfer , S. f.
2.2 Diffusion über halboffizielle und private Textsorten
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2.2.1 Fallanalysen: Zwei Langzeit-Briefwechsel zwischen akademischen Freunden Die folgenden Beobachtungen beziehen sich auf die vorhin genannte Konstellation unter dem Aspekt der lebensgeschichtlichen Verlängerung studentensprachlicher Gewohnheiten am Beispiel der 81 Briefe Josef Victor (von) Scheffels an Karl Schwanitz (1845 ff.) und der 72 Briefe Heinrich von Treitschkes an Wilhelm Nokk (1852 ff.).⁶⁹ Beide Male wurde die Freundschaft im Verbindungsleben begründet und durch gelegentliche Treffen und eben Briefaustausch ein Leben lang aufrechterhalten. Für die Analyse der Briefkorpora besonders ergiebig erscheinen die Dimensionen ‚lebensgeschichtliche Phase‘ (Student – Nicht-Student) und ‚Thema‘ (Verbindungsleben – Anderes), da sie variable Momente enthalten, deren Zusammenhang mit der Art der Sprachverwendung zu beachten ist. Dabei stellt sich im konkreten Detail das Problem der Abgrenzung von Studentensprache und dabei hinaus das Problem der Bestimmung des Sprachprofils der Texte insgesamt. Diese Probleme sind beim gegenwärtigen Stand sprachgeschichtlicher Kenntnis nur approximativ (oder halt dezisionistisch) zu lösen. Für die Qualifizierung studentensprachlicher Anteile empfiehlt es sich, zunächst lexikalische Elemente und ‚klare Fälle‘ ins Auge zu fassen, die immerhin anhand der Spezialwörterbücher kontrolliert werden können. Da hier aber im Grunde die linguistische Architektur der Studentensprache und ihre Position im Ensemble der Varietäten des Deutschen zur Debatte stehen, muss auch auf Phänomene in Rand- und Übergangsbereichen eingegangen werden. In welchen Zusammenhängen und Erscheinungsformen Studentensprachliches auch immer auftritt – es ist in Texten gebunden an eine Trägersprache, sei es eine Mundart, eine Umgangssprache oder die Standard(schrift)sprache. Ein häufiges Merkmal von Briefwechseln unter Verbindungsbrüdern ist die Verwendung sog. Kneipnamen sowie des Verbindungszirkels. Scheffel verwendet in den Anreden im Briefkopf meist den Vornamen („Lieber Karl!“) oder den Kneipnamen („Viellieber Jeremias!“), selten „Lieber Freund!“. Er ist in den Anreden insgesamt sehr variabel; auch Kombinationen wie „Liebster Karl Jeremias!“ oder „Lieber alter Freund Jeremias!“ kommen in späterer Zeit vor. Bemerkenswert ist das Festhalten am Kneipnamen noch am Ende des langen Briefwechsels (1845 – 86), als er selbst schon gern mit „J.Victor v. Scheffel“ – und nicht mehr mit „Dein Joseph“ – unterzeichnet. Ein Verbindungszirkel (Alemannia-Heidelberg) steht nicht in den Briefen. Demgegenüber zeigen die Briefe v. Treitschkes eine klare Phasengliederung im Gebrauch der Anre-
Scheffel . Treitschke ; Bd. der Briefausgabe umfasst die gesamte Studienzeit.
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2 Entwicklungstendenzen der Studentensprache
deformen: Drei Semester lang (1852 – Jan. 54) wird die Anrede mittels Kneipnamen in den laufenden Text, meist den ersten Satz, integriert; gegen Ende seiner Studienzeit geht er dazu über, die Anrede voranzustellen, gleichzeitig wird der bis dahin regelmäßig gesetzte Verbindungszirkel (Frankonia-Bonn) aufgegeben. Der Kneipname bleibt in der Anrede („Mein lieber Vereli!“) bis 1860 durchweg; nach einer Übergangsphase mit der Formel „Lieber Freund“ (1861– 63) tritt schließlich der Vorname ein („Lieber Wilhelm“). Die größte Dichte erreichen studentensprachliche Mittel in den Briefen natürlich, wenn der Schreiber mit Engagement im Verbindungsleben steht und darüber detailliert berichtet. Diese Thematik ist keineswegs auf Kommerse, Duelle, Ausflüge („Spritzen“), Bierzeitung u. dgl. beschränkt. Hauptthema in den Briefen Scheffels sind vielmehr die politischen Richtungskämpfe innerhalb der Studentenschaft; sie betreffen allerdings immer zugleich auch die Organisationsform der Verbindung (Heidelberger Burschenschaft Alemannia) und das Verhältnis der lokalen Verbindungen zueinander (Brief vom Dez. 1846):⁷⁰ sehr erfreulich war uns der Antrittskommers der Allgemeinheit, der sehr zahlreich besucht und ein wirklicher Sieg über den Radikalismus und die Neckarbundleute zu nennen war; denn in sämtlichen Reden, die gehalten wurden, sprach sich das Bedürfnis aus, das schlaffe bisherige Leben zu ändern, das Studentische nicht in dem Bürger aufgehen zu lassen, – und ich erlaubte mir zu sagen, das, was hier not täte, seien feste, geschlossene Verbindungen usw. […] – Selbst Pickford schien uns entgegen zu kommen und wiederholte den Antrag auf Kränzchenzwang; – allein er kam zu früh; wir hatten zwar schon bedeutend gewirkt, aber die andern desgleichen machten uns wieder ein paar Füchse abtrünnig, und nach einer langen Debatte, die übrigens im ganzen ernsthaft und schön durchgeführt wurde, scheiterte der Kränzchenzwang abermals durch 11 Stimmen gegen 10; – und zwar bloß an dem Wörtchen „Zwang“, wodurch sich die freie Wissenschaftlichkeit der Mehrzahl entschieden beleidigt fühlte. Das war ein Wink mit der Holzaxt für unsere künftige Wirksamkeit in der Verbindung, denn wir hatten nicht anders gedacht, als nach durchgegangenem Kränzchenantrag einen Antrag auf äußern Kreis und dann auf ein Verhältnis mit den Korps zu stellen – allein jetzt war’s aus.
Scheffel , S. f.
2.2 Diffusion über halboffizielle und private Textsorten
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Innerstudentische Richtungskämpfe spiegeln auch v. Treitschkes Briefe, wenngleich dieser – nach dem Revolutionsversuch von 1848 – den „direkt polit.[ischen] Beruf der Burschenschaft“ für „überlebt“ hält (Brief vom Nov. 1853):⁷¹ Du stimmst mir sicher bei, wenn ich eine Hauptaufgabe der heutigen Burschenschaft darin finde, den Studenten als solchen zu achten und die Kluft, die der Corpscomment zwischen den bunten Mützen und den Kameelen künstlich gerissen, auszufüllen. Ich wühlte also […] für einen Versuch, die gesamte Studentenschaft zu einigen – wir wollen dazu die 1. Gelegenheit benutzen, den Fackelzug, der dem neuen Rector (Sell) gebracht zu werden pflegt. – Nun, der Versuch ist fehlgeschlagen… andererseits ist damit die Fr.[ankonia] zum 1. Male aus ihrer unmotiviert zurückgezogenen Stellung herausgetreten, durch die von uns berufne allg. Studentenversammlung haben wir die Kameele für uns gewonnen, die eigentlichen Repräsentanten der öffentl. Meinung auf jeder Universität – und das ganze Odium des gescheiterten Versuchs fällt auf den S.C. und die zwei übrigen Verbindungen zurück. In den Ausschnitten sind Elemente der Verbindungssprache, zumal des offiziellen Nennwortschatzes, gut abzuheben: Antrittskommers, Allgemeinheit, Verbindung, Kränzchenzwang, Fuchs, äußerer Kreis, Korps (Scheffel) – Burschenschaft, Corpscomment, Kameel, Fackelzug, Frankonia, allgemeine Studentenversammlung, S.C., Verbindung (v. Treitschke). Dieser Wortschatz ist durch die studentische Gruppenkultur geprägt und auch für die anderen Sprachteilhaber mehr oder weniger als ‚studentensprachlich‘ konnotiert. Ebenfalls präsent sind Elemente des politischen und parlamentarischen Sprachgebrauchs: Radikalismus, Neckarbundleute, Antrag, Debatte, Stimme (Scheffel) – wühlen für etw., Repräsentant, öffentliche Meinung (v. Treitschke). Auch mit diesem Ausdrücken wird auf Verhältnisse im Verbindungsleben referiert. Der Grad der lexikalischen Integration in die Verbindungssprache ist jedoch unterschiedlich: Antrag (auch in der Raffbildung Kränzchenantrag), Debatte, Stimme z. B. haben in der demokratischen Praxis von Studentenverbindungen seit dem 18. Jahrhundert und dann insbesondere in den Burschenschaften eine feste Tradition, während man öffentliche Meinung eher für eine kommunikative Metapher halten würde.⁷² Die Politisierung des Studentenlebens und Sprachgebrauchs in den Verbindungen, wie sie in den Briefen erkennbar ist,verweist auf die besondere historische Bewusstseinslage um 1850, aus
Treitschke , S. . Doch auch Scheffel (, S. ) spricht davon, dass die Heidelberger burschenschaftliche „Allgemeinheit […] eine öffentliche Meinung herangebildet“ habe, d. h. unter Studenten!
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der auch die Konjunktur solcher Wörter wie Randal, Krawall, Wühler, Bummler gerade auch unter Studenten zu verstehen ist. Das Gegenstück zum Transfer von Elementen des politischen Sprachgebrauchs auf die Thematik des Verbindungslebens ist der Transfer studentensprachlicher Elemente auf politische Thematik, häufiger bei Scheffel (1848/49): „der Haupthahn der äußersten Linken, Arnold Ruge“ – „wie ein Mistkäfer auf den Leichnam Baden zugeflogen und kneipte auf Staatskosten höchst fidel und kniff, als es zum Dreinschlagen kam, wieder aus“ – „Oder es gibt eine große europäische Paukerei, – dann sind wir auch wieder der Mensurboden, auf dem sie ausgefochten wird“.⁷³ Der Transfer von Studentensprachlichem auf weitere Themenbereiche bleibt in den Briefen sporadisch: „Ein Privatdozent, der Zuhörer keilt“ (Scheffel 1846).⁷⁴ Die Briefe Scheffels und Treitschkes sind eine Fundgrube für Verbindungssprache nach fachsprachlichen wie nach der gruppensprachlichen Seite hin, Beispiele auch dafür, wie sprachliche Novitäten (z. B. auf dem Damm sein, versimpelt, verbummelt, Salamander, Frühschoppen) rasch aufgegriffen⁷⁵ und Modeausdrücke zur Obsession werden können (krampfhaft bei Scheffel),⁷⁶ wie in der Intimkommunikation einer Kleingruppe eine hermetische Koteriesprache entsteht (Kneipnamen;⁷⁷ ferner z. B. bip, Bin, urbinvoll bei Treitschke⁷⁸). Insgesamt bieten die Texte genügend Anhaltspunkte, von einem – nach damaligen Maßstäben – durchaus attraktiven Verbindungsleben und von einer vitalen, kreativ weiterentwickelten Studentensprache zu reden.
Scheffel , S. , , . Scheffel , S. . auf den Damm bringen Scheffel , S. (..); auf dem Damm sein ebd., S. (..) u.ö., Treitschke , S. (..) u. ö.; Versimpelung Scheffel ,S. (..) u. ö.; versimpelt ebd., S. (..), , Treitschke , S. (..); Simpelei Treitschke ebd., S. (..); verbummelt Scheffel , S. (..), , ; Salamander reiben Scheffel ebd., S. (..); Frühschoppen Scheffel ebd., S. (.. aus der Schweiz). Besonders in den Verbindungen krampfhafter Gruß, krampfhaft grüßen (Scheffel , S. , , u. ö.). Treitschkes Kneipnamen war Knollen, Scheffels Tasso; vgl. Kußmaul , S. , mit der Erklärung: „Den Namen Tasso verschuldete ein schrecklicher Kalauer. Die Freunde hatten ihn eines Tages im Horn vor dem Beginn des Kneipabends bei einer Tasse Thee überrascht.“ bip ‚egal‘: Treitschke , S. , (); Bin i.S.v. ‚Fröhlichkeit und Ausdauer auf der Kneipe‘: ebd., S. , , (); urbinvoll: ebd., S. . Die Ausdrücke Bien und bienvoll schon in einem Brief W. Nokks an Treitschke (Jahresgabe der Gesellschaft für burschenschaftl. Geschichtsforschung , S. ). Zur Redensart der Bien muß [ursprünglich einem Russen in den Mund gelegt] vgl. K. F. W. Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. , Bd. , Sp. ; Ausgangspunkt ist nach dem Büchmann (Geflügelte Worte. . Aufl. , S. ) eine Illustration von zu einer älteren Lügengeschichte von riesigen Bienen.
2.2 Diffusion über halboffizielle und private Textsorten
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2.2.2 Studentensprache und Jugendsprachen Klammert man bei der Verbindungssprache die zur Fachsprache tendierende, durch Schrifttradition stabilisierte Komponente einmal aus, so verbleibt ein Bereich kommunikativen Handelns, der zumindest in seinen psychosozialen und pragmatischen Bedingungen die wesentlichen Kriterien erfüllt, um (ein Typ von) Jugendsprache genannt zu werden: Adoleszenz der Sprecher, Gruppenbindung, gleiche Interessen, Abgrenzung nach außen (sowohl sozial wie generational), weitgehende Selbstbestimmung bei relativ viel Freizeit, Informalität der kommunikativen Beziehung, Mündlichkeit. Doch was ist das spezifisch Jugendsprachliche an der Studentensprache um 1850, das nicht unter Begriffen wie Gruppensprache, Standessprache, Bildungssprache, Fachjargon, Umgangssprache ebenso gut oder besser aufgehoben wäre? Für die Jugendsprachlichkeit des studentischen Sprachhabitus sprechen zunächst indirekte Evidenzen: So gibt es über das ganze 19. Jahrhundert hinweg Zeugnisse dafür, dass die Studentensprache in den Universitätsstädten vor allem durch andere Jugendliche imitiert und adaptiert wurde.⁷⁹ Lokale Gymnasiastensprachen auch außerhalb der Universitätsstädte standen oft unter starkem Einfluss der studentischen Verbindungssprache, die insbesondere den Sprachhabitus in den Pennälerverbindungen bestimmte.⁸⁰ Umgekehrt ist auch die Weiterverwendung von Schüleridiomen unter Verbindungsstudenten bezeugt.⁸¹ Ein sprachliches Lerninteresse bestand des weiteren bei Bürgerstöchtern und Dienstmädchen, sofern sie Kontakte zu Studenten hatten.⁸² Doch über solche äußeren Evidenzen hinaus sollten
Der Göttinger Student. . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. : „Die sämmtlichen nichtstudirenden jungen Leute in Göttingen streben aus Leibeskräften darnach, ein burschikoses Wesen zu affektieren.“ Vgl. noch O. Norwich: Unsere kleinen und großen Deutschen Universitätsstädte. München , S. : „A l l e jungen Leute – meist aus Handwerker- und Kaufmannskreisen – blicken […] neidvoll auf die Studenten, geben sich gern einen akademischen Anstrich […] und sind bestrebt, den Studenten zu spielen, den sie allerdings in überburschikosem Auftreten nur allzu ungeschickt nachmimen“. Zu den Pennälerverbindungen Haupt , Waas . Für ein konkretes Beispiel vgl. W. M. Brod: Stammbuchblätter der Schülerverbindung Hermunduria am Gymnasium zu Münnerstedt. In: Einst und Jetzt. Jb. , , S. – (er Jahre; mit Abb.). Nietzsche z. B. pflegte als Bonner Burschenschafter mit ehemaligen Mitschülern weiterhin das „Pförtneridiom“ und unternahm „Pförtnerspritzen“ (Briefwechsel, , I., S. ). So erhielt Student Nietzsche von seiner Schwester als Weihnachtsgeschenk „ein niedliches Gedicht […] mit der burschikosen Mischung studentischer Phrasen“ (Briefwechsel, , I., S. ). A. Linke untersucht am Beispiel einer tagebuchartigen „Vereinschronik“ Schweizer Bürgerstöchter um weibliche Jugendsprache, stellt dabei deutliche „Einflüsse studentischen Sprachgebrauchs“ fest (Backfischsprache […]. In: Jugendsprache […], hrsg. v. J. K. Androutsopoulos/A. Schulz , Frankfurt/M. , S. – , Zitate S. , ).
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2 Entwicklungstendenzen der Studentensprache
sprachliche Mittel von besonderer Qualität und Frequenz in den studentischen Texten selbst festzustellen sein, die mit jugendspezifischen Ausdrucksfunktionen in einen plausiblen Zusammenhang gebracht werden können. Als ein Gradmesser für die Jugendsprachlichkeit von Studentenbriefen mögen die affektiven „Steigerungswörter“ dienen, an denen nach Alfred Schirmer „die Backfischsprache, die Studentensprache und der Leutnantston reich“ sind.⁸³ Notiert wurden Adjektive, die adverbial in der Bedeutung ‚sehr, äußerst‘ vorkommen, bei Kloß, Scheffel und Treitschke⁸⁴ infam (– mager) 1, weidlich 1, bedeutend 1, ausnehmend 1, trefflich (– schön) 1, außerordentlich 1, sündlich (– viele Zeit) 1 (Kloß) verdammt 4 ( – wenig 3), ungeheuer (– auf dem Damm 2), bedeutend 2, gewaltig 2, furchtbar 1, krampfhaft 1, unbeschreiblich 1, unendlich 1 (Scheffel) bedeutend 1, endlos 1, fabelhaft 1, furchtbar 1, herzlich 1, pyramidal 1, riesig (– auf dem Damm) 1, ungeheuer 1, ungemein 1 (Treitschke) Die Probe zeigt durchaus eine Neigung zu solchen Ausdrücken, substantiell aber nur Weniges, das außerhalb des allgemeinen Sprachgebrauchs der Zeit liegt: Scheffels Lieblingswort krampfhaft rückt auch in die adverbial hyperbolisierende Funktion ein („hat sie mir einen krampfhaft freundlichen Gruß an Dich aufgetragen“); Treitschkes pyramidal („eine wirklich pyramidal unverschämte Bitte“) entspricht einem bildungsjargonalen Modetrend der Zeit.⁸⁵ Die Aktivierung einer als jugendtypisch geltenden Ausdrucksfunktion wie Hyperbolisierung bzw. Intensivierung setzt einen sozialen Freiraum und kommunikative Entfaltungsmöglichkeiten voraus, wie sie außerhalb studentischer Freundeskreise kaum in dem Maße gegeben waren. Das Ende seiner Studentenzeit empfindet z. B. auch Treitschke deutlich zugleich als Ende einer sprachlichen Entwicklungsphase, nach der er „eine neue Sprache lernen muß“, nämlich den „höflichen und civilisierten Ton“ der Erwachsenen.⁸⁶ Nähere Aufschlüsse über die Entwicklung jugendsprachlicher Phänomene im 19. Jahrhundert könnten vergleichende Untersuchungen individueller Sprachbiographien für die Jugendphase erbringen. Sie
Schirmer , S. . Durchgesehen wurden bei Kloß die (langen) Briefe an Freund Stein (Kloß/Stein – ), bei Scheffel die Nrr. – , S. – (Apr. – Nov. ); bei Treitschke die Briefe an W. Nokk von Okt. – Mai . Vgl. Deutsches Fremdwörterbuch (s. Anm. ). Bd. , . In diese Reihe gehören z. B. auch kolossal, phänomenal, enorm, immens, exorbitant, horrend, phantastisch. Bildungsjargonal bei Treitschke etwa auch „pyramidale Penur“ (S. ; .. an W. Nokk). Treitschke , S. (..).
2.2 Diffusion über halboffizielle und private Textsorten
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wären – nach Gunst der Quellenlage – auf einzelne soziale Gruppierungen (Schüler, Studenten, Handwerksgesellen, Bürgerstöchter usw.) abzustellen, denn Jugendsprache als „eine die jugendlichen Gruppenstile übergreifende Spielart des Sprechens und Schreibens“⁸⁷ wird man für jene Zeit noch nicht ansetzen können.
2.2.3 Studentensprache und Umgangssprachen Stärker als heute ist auch der regionale Aspekt zu beachten. Gewisse Unterschiede zwischen dem Karlsruher Scheffel und dem Dresdener Treitschke sind wohl auf dem Hintergrund landschaftlicher Umgangssprachen zu deuten; so verwendet Treitschke in Briefen an den Vater fabelhaft gern adverbial (z. B. „fabelhaft billig“), Scheffel hingegen nur adjektivisch und überhaupt selten.⁸⁸ Bestimmend für die Sprachentwicklung innerhalb der Studentenschaft eines Hochschulortes dürfte das aus der multilingualen Situation und dem Miteinander diverser Kleingruppen resultierende Wechselspiel zwischen überregional wirksamen Misch- und Ausgleichsprozessen einerseits und der Herausbildung lokaler Traditionen anderseits gewesen sein. Die sich damit ergebende Frage nach dem Verhältnis der Studentensprache zu den verschiedenen Typen von Umgangssprache im 19. Jahrhundert kann hier nur angeschnitten werden, zumal die Untersuchung umgangssprachlicher Entwicklungen, die einen wichtigen Aspekt der Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts ausmachen, gerade erst begonnen hat. Wenn bei „der Umgangssprache […] Ungezwungenheit, Emotionalität, Konkretheit, Bildhaftigkeit und Dynamik“ als die „typischen Stilzüge“ hervorgehoben werden,⁸⁹ dann springt die Affinität zur studentischen Gruppensprache ins Auge, und es verwundert, dass die Rolle der Studentensprache insbesondere bei der Herausbildung umgangssprachlicher Elemente der allgemeinen Lexik, reich dokumentiert in der historischen Wortforschung und Lexikographie, von einem Teil der neuesten Forschung gar nicht zur Kenntnis genommen wird. Stränge der Sprachgeschichte mit guter Überlieferung bieten Möglichkeiten der Orientierung und des Einstiegs in weniger bekannte Gebiete. Dass – frei nach Adelung – die zwei Tonarten „vertraulich sein“ und „scherzen“ mit studentensprachlichen Mitteln „sich sehr schön verbinden lassen“, hat auch Jacob Grimm als Gast bei Friedrich Benecke genutzt :
H. Henne: Jugend und ihre Sprache. In: Die deutsche Sprache der Gegenwart. Vorträge […]. Göttingen , S. ; vgl. auch Henne , S. . Es ist ein Lieblingswort des jungen Nietzsche; vgl. Briefwechsel, , I., allein S. – fünfmal, zu Beginn des Studiums in Bonn. Schildt , S. . Zum Thema Umgangssprache im . Jahrhundert vor allem Kettmann .
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2 Entwicklungstendenzen der Studentensprache
Bei Tische entspann sich eine vielseitige und heitere Unterhaltung. Benecke erzählte: ‚Der Iwein ist vergriffen, Reimer will abrechnen.‘ ‚Nun, sagte Jacob schalkhaft lächelnd, da hätten Sie uns wohl mehr aufwichsen können!‘⁹⁰
H. Hoffmann von Fallersleben: Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Bd. . Hannover , S. . Die berichtete Szene spielt in Göttingen.
3 Resümee Im Themenspektrum der Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts steht die Studentensprache für eine profilierte Gruppensprache, die wie die Sozial- und Kulturformen, in die sie eingebettet ist, verschiedene Wandlungen erfährt, die letztlich gesamtgesellschaftlich zu deuten sind. Zwei Entwicklungstendenzen erscheinen dabei wesentlich: die Tendenz der Verfachsprachlichung (oder Institutionalisierung), die in Ritualisierung und Archaisierung endet, und die Tendenz der (lexikalischen) Diffundierung in Stilbereiche der werdenden Umgangssprachen bzw. schließlich der Standardsprache. Beide Tendenzen können zunächst textsortengeschichtlich als strukturelle Veränderungen im Gefüge der einschlägigen Textsorten beschrieben werden; empirisch sind sie auf der Ebene der Texte nachzuweisen. Die Untersuchung der ersten Tendenz verweist die Studentensprache in den größeren Zusammenhang der Entwicklung der Vereinssprachen im 19. Jahrhundert, die der zweiten Tendenz in den Zusammenhang der Entwicklung von Jugendsprachen und den – im besonderen Maße sozialintegrativen – Umgangssprachen. Indem solche Beziehungen zu anderen Sprachvarietäten bzw. Varietätenkomplexen deutlich werden, ergibt sich eine reichhaltigere Facettierung des ehedem monolithischen Begriffs von Studentensprache: Sie ist als Verbindungssprache formelle Fachsprache und halbformelle Gruppensprache, als Gruppensprache enthält sie umgangssprachliche und jugendsprachliche Anteile wie auch Fachjargonales. Lebensgeschichtlich ausgedehnt in eine breite und dominante Altherrenschaft, wurde sie gegen Ende des Jahrhunderts überführt in einen Typ von Akademikersprache, an dem sich die Geister schieden. Eine Sprachvarietät in ihrer Auslaufphase zu verfolgen ist bisher kaum unternommen worden und insofern nicht weniger reizvoll als die Hinwendung zu Phasen der Innovation und Konsolidierung, in denen die Varietät ihr Profil gewann.
VII Wörterbücher und lexikalische Beiträge zur Studentensprache 1749 – 1888
Die Reihe der Wörterbücher und lexikalischen Sammlungen zur Studentensprache beginnt 1749 mit Salmasius/Prokax und endet im Grunde 1887 mit Herodotus junior, der „den letzten Rest deutscher Studentensprache“ aufbereitet.¹ Diese gleichsam naturwüchsige Wörterbuch-Tradition wird abgelöst durch die mit Friedrich Kluge (1892) einsetzende wissenschaftliche Beschäftigung mit der – dann historischen – Studentensprache. Durch Kluges ‚Wörterbuch der Studentensprache‘² und die hierzu von ihm selbst und anderen Forschern zahlreich gelieferten Nachträge³ wird die Lexikographie der Studentensprache auf ein fachwissenschaftliches Niveau gebracht. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass die Wörterbücher des 18. und 19. Jahrhunderts für Kluge die wesentliche Materialgrundlage darstellen, die er keineswegs ganz ausschöpft,⁴ ferner dass nachgelieferte Wortbelege aus der Primärliteratur immer der Absicherung durch die Wörterbücher bedürfen, die somit die erste und wichtigste Entscheidungsinstanz dafür sind, was lexikalisch – als Wort, Redensart, Bedeutung – zur Studentensprache gehört und was nicht.
Vgl. die „Vorbemerkung“ von Celle und Leipzig , S. . – Die einzelnen Titel werden im Folgenden in chronologischer Reihenfolge vorgestellt und in Kurzform zitiert; vollständige Titel im Quellenverzeichnis. Wörtersammlungen zur Studentensprache, die erst in modernen Ausgaben gedruckt wurden, sind entsprechend ihrer Entstehungszeit chronologisch in die Darstellung einbezogen. – Ein Seitenspross zur lexikographischen Tradition sind die Illustrationen zur Studentensprache, gelegentlich in Form ganzer Tableaus; vgl. die Beilagen zu Henne/Objartel , Bd.. Eine umfassende Dokumentation bietet Konrad /, einen neuen Überblick Neubert . Kluge , S. – . Den Anfang machte E. Schmidt , der als Literaturwissenschaftler auf „ein ungeheures gedrucktes und auch handschriftliches Material“ (S. ) hinweist, das für eine umfassende Geschichtsschreibung der deutschen Studentenschaft und ihrer Sprache bereitliege. Kluge bietet eine „Konkordanz der älteren Burschenwörterbücher“ bis (S. ).
1 Chronologie, Abhängigkeiten und Quellen Die vorwissenschaftlichen Wörterbücher und lexikalischen Beiträge zur Studentensprache werden im Folgenden in chronologischer Ordnung vorgestellt. Zunächst sind sie kritisch auf ihre Abhängigkeiten untereinander zu befragen. Zum methodischen Vorgehen: Grundlage der Wörterbuchvergleiche waren die Stichwörter und Bedeutungserklärungen unter S, dem umfangreichsten Buchstaben. Im Falle sehr schmaler Glossare oder bei sonst unübersichtlicher Sachlage waren zusätzliche Stichproben nötig, verschiedentlich wurde auch der gesamte Text zweier Werke verglichen. Auf direkte Abschreibebeziehungen führen wörtlich übereinstimmende bzw. fortlaufend nur leicht variierte Bedeutungserklärungen. Oft genügte es, die Wörterbuchreihe auf bestimmte Leitwörter hin durchzugehen (z. B. skisiren, Trauermantel), um auf Traditionslinien geführt zu werden.⁵ Bei einigen Werken ist schon dem Titel oder dem Vorwort zu entnehmen, dass Vorgänger benutzt wurden.⁶ In manchen Fällen stimmen die Vorworttexte ganz oder teilweise überein. Bei Übereinstimmungen zwischen mehr als zwei Wörterbüchern waren weitere Kriterien (eventuelle Differenzen im Bestand der Stichwörter, in der Zahl notierter Teilbedeutungen bei den Stichwörtern; Übernahme bzw. Änderung von orthographischen Eigentümlichkeiten, Versehen, Druckfehlern) anzulegen, um die direkten Verbindungen herausfiltern und andere ausschließen zu können. Um die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchungen zu den lexikographischen Abhängigkeiten vorwegzunehmen: (1) Die studentensprachliche Wörterbuchtradition zerfällt in zwei einander kaum berührende Hauptstränge: a) den älteren, der von Kindleben und Augustin ausgeht, von Jena 1841 und Bonn 1841 fortgeführt wird und in der völlig unselbständigen bayerisch-österreichischen Linie ausläuft; b) den jüngeren, burschenschaftlich geprägten, von Schuchardt 1825 begründeten ‚Leipziger‘ Strang mit insgesamt weit größerer innerer Erneuerungskraft. (2) Die 1841 in Jena und (danach) Bonn erschienenen Wörterbücher ragen als Vermittlungsstationen heraus. (3) Es gibt lokale Wörterbuchtraditionen (Leipzig, Jena, Bonn). (4) Unter allen in selbstständigen Publikationen erschienenen Wörterbüchern steht einzig der ‚Göttinger Student‘ von 1813 isoliert da; weder Übernahmen aus Vorgängern noch Wirkungen auf Nachfolger sind eindeutig festzustellen. Darüber hinaus sind weitere Fragen zu klären: Wie steht es mit den Formen und Graden der Benutzung von Wörterbuch-Vorgängern oder, anders gefragt, mit
Hilfreich ist das im Rahmen eines DFG-Projekts mit EDV-Unterstützung erstellte Wortregister von H. Kämper-Jensen, in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Vgl. Jena ,Vorwort.Wien nennt sich „Zweite […] Auflage“, gibt aber seinen Vorgänger (München ) nicht an.
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der Belesenheit, dem akademischen Erfahrungshintergrund, der studentensprachlichen Kompetenz, kurz: mit der Eigenleistung der Autoren (als Studenten bzw. ‚Alte Herren‘)?⁷ Welche Quellen außerhalb der Wörterbuchtradition, also vor allem studentensprachlich getönte literarische Texte, wurden bei der Sammlung und Erklärung der Stichwörter herangezogen?⁸ Solche Fragen gilt es an jede der 26 Wortsammlungen zu stellen und, soweit möglich und nötig, zu beantworten. Die folgenden Detailbetrachtungen bereiten zugleich den Boden für eine zusammenfassende Behandlung der Kernfrage nach dem dokumentarischen Wert der Wörterbuchreihe für die Geschichte der Studentensprache in Abschnitt 2.
Salmasius/Prokax 1749⁹ Diese früheste, zweiteilige Zusammenstellung von studentensprachlichem Wortschatz stammt vermutlich von ein und demselben Verfasser, der verschiedene Pseudonyme verwendet. Gespielt wird mit dem stereotypisierten Gegensatz zwischen den Universitäten Jena einerseits¹⁰ und Leipzig sowie Göttingen andererseits.¹¹ Die (ironisch) bekundete Sympathie des Verfassers liegt bei dem Jenaer ‚Renommisten‘ als dem Verfechter der alten ‚Burschenfreiheit‘. Aktueller Anlass für das Plädoyer gegen die um sich greifende ‚Pedanterie‘ auf Universitäten könnte die 1748 angestellte Untersuchung gegen den studentischen ‚Mopsorden‘ in Göttingen gewesen sein; jedenfalls ist die Bezugnahme auf diese Vorgänge unter dem Stichwort Kurri Murri sehr deutlich.¹²
Bemerkenswert ist, dass im . und frühen . Jahrhundert manche Autoren ihre Werke gleich am Ende ihrer Studienzeit publizierten, während später ‚Alte Herren‘ die Wörterbücher herausgaben. In Anbetracht der Unübersehbarkeit des Schrifttums wurden hier weitere Ermittlungen nur angestellt, wenn in einem der Wörterbücher selbst Anspielungen oder Hinweise auf bestimmte Titel oder Autoren zu finden waren. Für den Bereich „Poetische, satirische, humoristische Darstellungen des Studentenlebens“ vgl. die bibliographischen Nachweise bei Erman/Horn /, T. , S. ff. Einschlägig sind besonders auch Studentenliederbücher oder Verbindungsstatuten und Komments in zeitgenössischen Drucken. Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Vgl. die ebd. S. genannten Örtlichkeiten. Vgl. ebd. S. , . „Viele wollen glauben, es sey ein Wort aus dem Mopsorden.“ – Tatsächlich findet sich der Ausdruck im Vernehmungsprotokoll des Studenten J. C. Wiedemann bei den Ermittlungen gegen den Mopsorden: „So habe er [stud. jur. Schwartz aus Rudolstadt] wider [seinen Freund] Gustky gesaget auf den [Dragoner‐]Pallasch weisend: siehe da: Kurri und murri.“ (Göttinger Universitätsarchiv: Az XG Nr. (), Bl. ). – Vgl. dazu F. J. Stalder: Versuch eines Schweizerischen Idiotikon, Bd. , Aarau , S. : „Kurri-Murri, Kurri-Murrli, mehr liebevolle als bösgemeinte Benennung eines mürrischen Menschen.“ Eine Beziehung zu der magischen Formel „Carimari, carimara“ in Rabelais‘ ‚Gargantua‘ (Buch , , Kap. ) ist weniger wahrscheinlich, ebenso zu „Curl Murl Puff“, einer
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1 Chronologie, Abhängigkeiten und Quellen
Ob für die Wortsammlung gedruckte Quellen ausgebeutet wurden (z. B. Scherzdissertationen, burschikose Literatur), ist nicht klar nachzuweisen.¹³ Eine intime Kenntnis des akademischen Lebens ist offensichtlich. Beachtenswert sind die frühen Belege für Vokabeln aus dem Duellwesen: ansch..ß.n, Zirkumflex, Avantasche.¹⁴ Das kleine ‚Handlexikon‘ für angehende Studenten von Salmasius/Prokax scheint bald in Vergessenheit geraten zu sein. Immerhin liefern die ‚Beyträge zur Statistik von Göttingen‘ (1785) noch die „Erklärung zweyer academischen Wörter“ (craß und umstoßen) nach, die im „Salmusioschen Burschenlexico“ vermißt werden.¹⁵
Lichtenberg (um 1770) In Lichtenbergs ‚Sudelbüchern‘ findet sich der Eintrag: „Lexidion für junge Studenten, in welchem der Gebrauch einiger Wörter gnauer bestimmt, und verschiedene Ideen in ein helleres Licht gesetzt werden, könnte den Titul zu einem nicht unbrauchbaren Büchelchen abgeben, worin man gnauer bestimmen könnte, was Aufwärterin, Krone, Hefte, Kolleg, Landesvater, Baron, Hofmeister, Professor, Traiteur, Wein, Duell, Tumult pp eigentlich sagen wollte. Es werden im künftigen einige solche Erklärungen in diesem Buch folgen.“¹⁶ Betrachtungen zu Aufwärterin, Duell, Stutzer, Cicisbeo schließen sich an. Es geht Lichtenberg hierbei offenkundig weniger um Studentensprache als um eine Orientierungshilfe für Studienanfänger am Leitfaden lebenspraktisch wichtiger Wörter oder Begriffe, wobei studentischer Sprachgebrauch berücksichtigt wird.
Gestikulation beim Trinken im ‚Jus Potandi‘ (dt. , Art. ). – Herausgeber der ‚Vergnügten Abendstunden‘ war Rudolf Wedekind, seit „Adjunct“ und später „prof. phil. extraord.“ der Phil. Fakultät in Göttingen (vgl. J. S. Pütter: Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-August-Universität zu Göttingen. Göttingen , S. f.); er verbirgt sich wohl hinter den Pseudonymen. Verglichen wurden: Ioannis Matthiae Florin Dissert. De Germ. Vulpibus academicis vulgo Die academischen Füchse, in: Ders., Opuscula varia, Historici, Politici & Publici Iuris argumenti, Herborniae , Tom. I, p. – ; [Martin] Schmeitzel: Nachricht und Erläuterung etlicher ihrem Ursprung nach Academischer Sprüchwörter als Er ist ein Maulaff, ein Haase, ein Schulfuchs, ein Saalbader, ein Philister, der Bruder Studium, Pereat rufen u. a.m., in: Wöchentliche Hallische Anzeigen , Num. X, Sp. – , Num. XI, Sp. – ; J. F. W. Zachariä: Der Renommiste, zuerst in: Belustigungen des Verstandes und des Witzes, hrsg. v. J. J. Schwabe, Leipzig . Letzteres ebd. S. , nicht als Stichwort. Anon. [List], S. f. Lichtenberg, S. .
1 Chronologie, Abhängigkeiten und Quellen
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Traitteur 1780 Während andere Verfasser burschikoser Literatur im 18. Jahrhundert das verwendete Spezialvokabular für den nicht-akademischen Leser oftmals in Fußnoten erklären, stellt Traitteur (?) seinem Schauspiel ‚Das Purschenleben‘ ein kleines Glossar voran.¹⁷
Kindleben 1781¹⁸ Neben „eigentlichen Studentenwörtern“ (‚Vorrede‘ S. 13, 15) und typisch studentischen Wortverwendungen und Redensarten werden in diesem „Studenten-Lexicon“ ausdrücklich auch seltene und veraltete Wörter ganz unterschiedlicher Provenienz erklärt, so dass die „Studentenwörter“ tatsächlich nur einen Bruchteil des Wortbestandes ausmachen. Kindleben beruft sich nicht nur auf eigene sprachliche Erfahrungen und Erkundungen – er hatte (ab 1767) in Halle studiert, kennt aber auch „Göttingen, Jena, Frankfurt an der Oder etc.“ – , sondern auch auf gedruckte Wortsammlungen, speziell auf ein „Wörterbuch der altdeutschen Sprache“.¹⁹ Damit könnte das monumentale ‚Glossarium Germanicum‘ von J. G. Wachter (Leipzig 1737) gemeint sein. Die von Kindleben aufgeführten Archaismen sind dort fast sämtlich zu finden (z. B. baren, Dard, ehehaften, endelich, Faum, neesen, Niederwat u. a.); auch die Bedeutungserklärungen bzw. etymologischen Herleitungen ähneln trotz des lateinisch-deutschen Sprachunterschiedes oft denen Wachters (z. B. bei Gaum, Frauenzimmer, lobesan). An speziell burschikoser Literatur empfiehlt Kindleben den ‚Burschen-Comment‘ des Martial Schluck, den er auch zitiert und für einige Worterklärungen benutzt;²⁰ von einer systematischen Exzerption des studentensprachlichen Vokabulars dort kann jedoch nicht die Rede sein, vor allem verzichtet Kindleben weitgehend auf entlehntes Wortgut (z. B. Avantage, couche). Außerdem kündigt er das Erscheinen der ‚Komischen Burschiade‘ des Hallenser Studenten W. G. Fischer an.²¹ In diesem Versepos sind einige Dutzend studentensprachliche Ausdrücke verarbeitet und in Fußnoten erklärt; Indizien für eine Benutzung in die eine oder andere Richtung sind jedoch nicht festzustellen; zusätzlich zu Kindlebens ‚Lexicon‘ bietet Fischer etwa Brenner, Hieber, honorig, kraß, mogeln, Stoff. Mit „Stu-
Text im Anhang A . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . ‚Studenten-Lexicon‘, S. und . Schluck . Zu Nachdrucken und Übersetzungen ins Deutsche vgl. Erman/Horn (/) I, Nr. – . Vgl. Kindleben: Studenten-Lexicon, S. und Zitat S. ; vgl. ferner etwa Schluck §§ und zu Schmollis und Gnotus/Knote mit Kindlebens Artikeln. Fischer ; vgl. Kindleben, Studenten-Lexicon, S. .
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1 Chronologie, Abhängigkeiten und Quellen
dentengesangbuch“ verweist Kindleben s.v. Tobias auf seine ebenfalls 1781 erschienenen ‚Studentenlieder‘²²; lexikalische Bezüge ergeben sich etwa s.v. Purzelwasser und theek,²³ doch fehlen erstaunlicherweise im ‚Lexicon‘ etliche typische Burschenausdrücke, die in den Liedern vorkommen, z. B. fidel, Karzer, kraß, Musensohn, ad patres reisen. ²⁴ Kindlebens Verwendung des Kreuzzeichens für die „eigentlichen Studentenwörter“²⁵ – selten für studentensprachliche Teilbedeutungen oder Redensarten (z. B. unter Kloß, Speyer) – ist im Ganzen recht treffsicher, wie auch Augustins Vorgehen zeigt (s.u.). Dass Kindleben mit dem Kreuzzeichen gelegentlich zu großzügig umgeht (z. B. bei schmachten, schmollen), verwundert weniger, als dass mancher typische Burschenausdruck (z. B. schwänzen, Soff) unmarkiert bleibt. Friedrich Christian Laukhard lobte Kindlebens Wörterbuch wiederholt und ließ sich davon zu eigenen lexikographischen Versuchen anregen (s.u.).
Augustin 1795 Die ‚Vorerinnerung‘ ist mit „H. W. K…..g.“ unterzeichnet. Autor ist Christian Friedrich Bernhard Augustin, am 14. Oktober 1790 als Theologiestudent in Halle immatrikuliert.²⁶ Das ‚Idiotikon‘ konzentriert sich laut ‚Einleitung‘ auf die „hallische Burschensprache“.²⁷ Augustin lässt sich dabei ganz offensichtlich von Kindlebens Kreuzzeichen für Studentensprachliches (s.o.) leiten; von den 38 bei Kindleben so markierten Einheiten unter dem Buchstaben S übernimmt Augustin 28. Er verdunkelt seine Beziehung zu Kindleben – den er mit keinem Wort erwähnt – in den Bedeutungserklärungen aber derart, dass man wörtliche Anklänge selten findet (vgl. etwa stallen). Die Weglassungen gegenüber Kindleben sind nicht immer als glücklich zu bezeichnen; jedenfalls sind die meisten der betroffenen Wörter seitdem für die studentensprachliche Wörterbuchtradition verloren und werden erst wieder von Meier (1894) und Kluge (1895) unter Rückgriff auf Kindleben gebucht (z. B. schwaddroniren, schweinigeln, schwindeln, Stammbuch, studentikos, Suppenautor). Umgekehrt definiert Augustin einige der bei Kindleben ohne Kreuzzeichen gebliebenen Wörter als studentensprachlich (z. B. schwänzen, Schwager, Student) und arbeitet auch dessen nachgetragene Stichwörter ein (z. B.
Neudruck der ‚Studentenlieder‘ in: Studentensprache und Studentenlied . Vgl. ‚Studentenlieder‘, Neudruck ebd. S. , . Vgl. ‚Studentenlieder‘, Neudruck ebd. S. , , und ‚Vorrede‘ S. V Anm. ‚Studenten-Lexicon‘, S. . Vgl. Burdach im ‚Vorwort‘ zu ‚Studentensprache und Studentenlied‘ (), S. VIIf. Neudruck mit wertvollen Anmerkungen in ‚Studentensprache und Studentenlied‘ () als Teil ; danach Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – .
1 Chronologie, Abhängigkeiten und Quellen
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Skandal). Insgesamt stehen 57 Stichwörter unter S, von denen gegenüber Kindlebens Wörterbuch 25 neu sind. Augustins Wörterbuch wird erst wieder für Jena 1841 (s.u.) zur Vorlage. Wie Kindleben kennt Augustin die Scherzdissertation des Martial Schluck,²⁸ doch hat er deren burschikoses Vokabular ebenso wenig planmäßig registriert wie Kindleben. Auch für eine Auswertung der ‚Studentenlieder‘ Kindlebens gibt es keine sicheren Anhaltspunkte.²⁹ Vielmehr ist die beträchtliche Erweiterung des kodifizierten Wortschatzes bei Augustin seiner intimen Kenntnis des (Hallenser) Burschenkomments zu verdanken, den er „in systematischer Ordnung“ ausführlich darstellt.³⁰
Laukhard 1798 Christian Friedrich Laukhard ist der Prototyp des burschikosen Schriftstellers im ausgehenden 18. Jahrhundert. Er hatte in Gießen (1774– 78), kurz auch in Göttingen studiert und ab 1781 eine Zeitlang in Halle, am Waisenhaus und an der Universität, gewirkt. In seinen ‚Annalen der Universität zu Schilda‘ gibt Laukhard – in Kenntnis Kindlebens – einige Proben aus einem fiktiven „Burschenlexikon“, dem er besondere Authentizität zuschreibt, weil es auch derb-obszöne Ausdrücke enthielt.³¹ Dazu passt, dass Laukhard sich schon 1776 in einer Erklärung seines Pfälzer-Kränzchens in Gießen den Titel „Prof. Zot.“ beilegte.³² Vermutlich geht auch die obszöne „Oratio archaeologica sacro-burschicosa pro gradu Doctoris Quomodonis“, die Friedrich Ludwig Jahn 1802 in Greifswald verbreitete, auf Laukhard zurück.³³
Scheitlin 1807 Peter Scheitlin, Professor in St. Gallen/Schweiz, unternahm 1802 eine Reise „durch Sachsen und Brandenburg“ und publizierte seine Eindrücke 1807/1809. Unter Bezug auf Jena präsentiert er in assoziativer Form eine „Probe aus dem Studen-
Vgl. das Zitat bei Augustin , S. . Vgl. die in den Anmerkungen zu schmausen und skisiren von Burdach und seinem Kreis (s. Anm. ) geäußerten Vermutungen. Augustin , S. – . ‚Annalen‘, T. , , S. – (Text im Anhang A ). Lobende Erwähnung des Kindlebenschen Wörterbuchs auch schon in Laukhards ‚Leben und Schicksale‘, T. , , S. . Universitätsarchiv Gießen: Allg L – , Bl. . Abschrift im Institut für Hochschulkunde, Würzburg. Vgl. Fabricius (Reprint in: Henne/ Objartel , Bd. , S. ).
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tenlexikon“; ausgewählt sind „nur die höflichsten Ausdrücke aus dem oft freylich ziemlich sittenlosen Burschenlexikon“.³⁴ Die rund 40 Ausdrücke hat Scheitlin offenbar selbst erkundet; so dürfte sich drehen, erklärt als „sich aus dem Staube machen“, auf einem Hörfehler beruhen (recte: sich drücken). Die Sammlung enthält einige bemerkenswerte Frühbelege, z. B. alter Herr, Manschettarius, Minken, per gehen.
Kloß 1808 Bereits als Schüler gründete Georg Kloß 1804 in Frankfurt/M. eine Pennälerverbindung ‚Palatia‘, deren Statuten erhalten sind.³⁵ Er studierte 1805 – 08 in Heidelberg und ließ sich am 4. Mai 1808 in Göttingen immatrikulieren, wo er, wie schon in Heidelberg, bis zu seinem Abgang 1809 ein organisatorisch sehr rühriger Korpsstudent war. Über die Entstehungsumstände seiner von den voraufgehenden studentensprachlichen Wörterbüchern unabhängigen Sammlung informiert Frommel in der Einleitung seiner Ausgabe.³⁶ Kloß’ Wortsammlung ist offenbar eine Kombination aus Heidelberger Burschensprache und zugelernten Göttinger Spezialitäten.³⁷ Zu den Göttinger sind wohl bestimmte Gemeinsamkeiten mit Wallis 1813 (s.u.) zu rechnen, wie z. B. anwachsen, Satz, scheinen, Stecher, Strich, vorreiten. Im Unterschied zu allen anderen hier vorgestellten Sammlungen bemüht sich Kloß um eine systematische Gliederung des Wortschatzes nach Sach- oder Themenbereichen.
Goethe 1808/09 (?) Die kleine eigenhändige Wortliste, überschrieben „Studenten Comment“,³⁸ könnte gut im Zusammenhang mit dem Studium des Sohnes in Heidelberg (April 1808 – September 1809) entstanden sein. Nach einem Besuch in Heidelberg schreibt die Mutter an August zurück (30.11.08): „Das Wort dämmern hat hier [Weimar] sehr
Scheitlin , S. ; die gesamte Passage (S. – ) hier als Anhang A . Abdruck bei Fabricius , S. – .Vgl. Fabricius , S. Anm.; ferner Waas , S. . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Kloß’ studentischer Nachlass, aus welchem u. a. das ‚Idiotikon‘ publiziert wurde, ist nachgewiesen bei Bauer , S. f. Heidelberger Burschensprache ist in Kloß’ Studentenbriefen aus den Jahren / verarbeitet; vgl. Kloß/Stein – , S. – . ‚Weimarer Ausgabe‘, Abt. I, Bd. . (), S. ; Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. .
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viel Beifall gefunden.“³⁹ Goethe gebraucht es studentensprachlich – wie auch Dämmerfürst – sonst nur noch in dem Brief an August vom 18.1.1814. Es ist als Ausdruck der Studentensprache nicht vor 1808 nachgewiesen, dann aber zugleich für Heidelberg, Jena und Göttingen.⁴⁰
Wallis 1813⁴¹ Daniel Ludwig Wallis, am 20.10.1810 in Göttingen immatrikuliert, dürfte der Name Kloß (s.o.) bekannt gewesen sein, denn dieser hatte sich 1809 an der Gründung des Corps Hannovera, dem Wallis beitrat, maßgeblich beteiligt; eine Benutzung der Kloßschen Aufzeichnungen ist jedoch auszuschließen. Einzelne auffällige Übereinstimmungen im dargebotenen Vokabular (s.o. zu Kloß) erklären sich durch den sehr ähnlichen Erfahrungsbereich. Ein Vergleich beider Sammlungen unter dem Buchstaben S zeigt, dass Wallis 26 zusätzliche Stichwörter hat, umgekehrt Kloß 34 zusätzliche; beiden gemeinsam sind lediglich 18. Gegenüber Kloß fehlen nicht nur die „schmutzigen Ausdrücke“, sondern auch einige erwartbare Kernwörter der Burschensprache (z. B. Schnurre, Schwulitäten). Nicht zu übersehen sind gewisse Gemeinsamkeiten zwischen Augustin (1795) und Wallis in der ganzen Anlage beider Werke (Beschreibung von Stadt, Universität, Studentenleben, Idiotikon als Beigabe) und speziell in den einleitenden Betrachtungen zur Studentensprache. Dennoch ergibt ein Vergleich der Wortartikel keine klaren Anhaltspunkte für eine Benutzung.
München 1815 Die kleine Wortliste, überschrieben „Fragmente eines Dictionarali accademici“,⁴² ist Teil der „Universitäts-Aktenstücke“, die als Beilagen zu dem Aufsatz „Etwas über Unterricht und Bildung der Jugend auf unseren Universitäten“ in der Münchner
Zit. bei B. Suphan: Briefe von Goethe und Christiane v. Goethe […]. In: Goethe-Jb. , , S. . Für Jena vgl. ebd., S. . ‚Der Göttinger Student‘ erschien anonym , im Neudruck und . Reprint des Abschnitts ‚Gebräuchlichste Ausdrücke und Redensarten der Studenten‘ nach der Originalausgabe in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Nachweis der Schriften und Herausgeberschaften von Wallis bei V. Loewe: Bibliographie der Hannoverschen und Braunschweigischen Geschichte, Posen , Nr. , , . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. f.
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Zeitschrift ‚Allemannia‘ dienen. Zwar wird keine bestimmte Universität genannt, doch da der Landshuter SC-Komment von 1809/13 mit abgedruckt ist,⁴³ dürfte die Wortliste Landshuter Studentensprache spiegeln. Sie kann als Ergänzung zu den zahlreichen Termini technici betrachtet werden, die der Kommenttext enthält.
Sondershausen 1822 Das „Verzeichniß aller burschikosen Ausdrücke“⁴⁴ ist der schmalste Abschnitt einer umfangreichen Darstellung des Studentenlebens, die wahrscheinlich der Verleger Bernhard Friedrich Voigt selbst besorgte. Den Hauptteil füllen studentische Komments und Konstitutionen, die sämtlich dem dokumentarischen Grundlagenwerk ‚Landsmannschaften und Burschenschaft‘ von Joachim Leopold Haupt (1820) entnommen sind.⁴⁵ Für den lexikographischen Teil brauchten im Grunde nur die Spezialausdrücke dieser Texte gesichtet und mit Elementen burschikoser Umgangssprache angereichert zu werden.
Leipzig 1825 Das „Studentikoses Conversationslexikon“ benannte Werk⁴⁶ vereinigt in sich eine Reihe von Vorzügen: Beachtliche Menge von Stichwörtern, hoher Informationswert durch ausführliche Sacherläuterungen (z. B. zu Burschenschaft), Präzision in den Bedeutungserklärungen durch Angabe von Gebrauchskontexten, Übersichtlichkeit durch Querverweise, Unterhaltsamkeit durch eingestreute Verse, Anekdoten usw.⁴⁷ Erstmals wird das mit der Burschenschaftsbewegung und ihren Organisationsformen neu aufgekommene, bewusst aus Formen des Deutschen gebildete Wortmaterial berücksichtigt (Vorstand, Sprecher, Ausschuß, Zeugwart usw.). Das alles dürfte zu der starken Nachwirkung dieses Lexikons beigetragen haben.
Neudruck des Komments in: Einst und Jetzt. Jb. , Sonderheft, S. ff. (mit Erläuterungen von E. Bauer). – Die Untersuchungen gegen die verbotenen Landshuter Landsmannschaften sind dokumentiert in: Einst und Jetzt. Jb. , , S. – . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Vgl. auch unten zu Leipzig . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Es erübrigt sich hier, sämtliche im Text verstreuten Namen und Zitate nachzuweisen. Zwei Angaben mögen genügen: () Im Artikel Burschenschaft wird außer auf Haupt () auf Herbst () verwiesen. () Der mehrmals zitierte G. Chr. Lichtenberg war in Burschenkreisen ein Begriff aufgrund seiner kleinen Schrift ‚Patriotischer Beitrag zur Methyologie der Deutschen nebst einer Vorrede über das Methyologische Studium überhaupt‘ (Göttingen ), die hochdeutsche und plattdeutsche Redensarten zur Bezeichnung der Trunkenheit enthält; Nachträge hierzu bietet Leipzig s.v. betrunken.
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Als Quelle für die historischen und die zeitnahen Angaben zu den studentischen Verbindungstypen (s.v. Verbindungen, Bursch, Burschenschaft, Landsmannschaft, Orden) diente das Werk von Haupt (1820).⁴⁸ Wörtliche Übernahmen, teils aus dem beschreibenden Text bei Haupt, teils aus den dortigen ‚Beilagen‘, sind nicht selten, so etwa bei der dreidimensionalen Gliederung der Gruppe der Studenten s.v. Finke, Fuchs, Pflastertreter. ⁴⁹ Eine direkte Beziehung zu einem der voraufgehenden studentensprachlichen Wörterbücher ist dagegen nicht zu erkennen. Der ungenannte Verfasser war offensichtlich Burschenschafter, möglicherweise in Halle (vgl. Sulpheristen, Teutonia). In Frage kommt Christian Reinhart Schuchardt (1795 – 1883) aus Mühlhausen in Thüringen, in Halle immatrikuliert am 26.4.1818.⁵⁰ Er wurde Mitglied der Burschenschaft und gehörte über 1821 hinaus der „Quellengesellschaft“ an (Tarnbezeichnung der Hallischen Burschenschaft); später war er Pastor bei Mühlhausen.
Leipzig 1831⁵¹ Diese laut Untertitel „Neueste durchaus vollständige Sammlung von sämtlichen jetzt gebräuchlichen burschicosen Redensarten und Wörtern“ scheint im Hauptteil keinen der Wörterbuch-Vorgänger benutzt zu haben. Nach Umfang, Aktualität und Informativität der lexikographischen Erläuterungen gehört das Wörterbuch zur Spitzengruppe. Der „Appendix“ ist jedoch ganz überwiegend eine Nachlese aus Leipzig 1825 (s.o.). Hier schlägt die landsmannschaftliche Position des Verfassers gegen die burschenschaftliche klar durch (vgl. Teutonia, Knittelcomment); auch lexikalische Differenzen zwischen den beiden Verbindungstypen werden notiert, z. B. Stürmer – Barett, Pannier – Wapen. Der sich als „C. B. von Rag—y“ vorstellende und „Berlin“ als Schreibort angebende Verfasser ist wahrscheinlich Carl Albert Constantin Ragotzky, der 1822/23 in Halle die Rechte studierte, dort landsmannschaftlich aktiv war, später in Berlin lebte.⁵² Im Wörterbuch werden auch Beziehungen zu Breslau erkennbar (vgl. SpeFuchs, Zopten).
Vgl. oben zu Sondershausen . Vgl. Haupt , S. f.; vgl. weiterhin Duell pro Patria und Injurien mit Haupt S. und . Auf Anfrage beim Archiv der Deutschen Burschenschaft (Frankfurt/M.) gab freundlicherweise Horst Bernhardi (Celle), Leiter der historischen Burschenschafterkartei, nähere Auskünfte. Einen „Schuchardt“ als Verfasser des Werks nannte bereits A. Götze (Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. ). Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Vgl.W. Fabricius: Felix Schnabel, in: Acad. Monatsh. (/), S. f.; E. Bauer, in: Einst und Jetzt. Jb. , , S. f.
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Weber 1840 Karl Julius Webers (1767– 1832) bekanntestes Werk ‚Democritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen‘ enthält im Schlusskapitel von Bd. 11 Betrachtungen über „das komische Idioticon der Herren Studenten“ anhand einiger Dutzend Beispiele aus dem Wortschatz der Studentensprache.⁵³ Weber verweist zwar auf Augustin 1795, doch sind seine Auswahl und Erläuterungen insgesamt recht originell.
Korth 1841 Unter dem Stichwort „Studentenwörter“ bietet der damalige Bearbeiter der Krünitz-Enzyklopädie, Johann David Wilhelm Korth (1783 – 1861), kaum mehr als einen Extrakt aus Kindleben 1781(!). Von den dort als studentensprachlich markierten Wörtern sind nur die obszönen meist weggelassen, dafür sind unmarkierte gelegentlich aufgenommen (z. B. Schnabelweide, striegeln). Die spärlichen Zusätze gegenüber Kindleben betreffen geläufige Termini technici aus dem Verbindungswesen (z. B. Seniorenconvent); auch einige Lesefrüchte aus ‚Felix Schnabels Universitätsjahre‘ (1835; vgl. zu Gräßli 1846) sind eingestreut (z. B. Commentreiterei, Keilsystem, Spionircohorte: ‚Schnabel‘ S. 104, 93, 110). Korths anspruchslose Kompilation zeigt sonst keine Berührungen mit anderen studentensprachlichen Wörterbüchern.
Jena 1841 Das Vorwort des anonymen Werkes nennt „Leinathen“ (Göttingen) als Schreibort.⁵⁴ Als Vorlage diente Augustin (1795), dessen Stichwörter fast sämtlich, in den Bedeutungsangaben stark gekürzt, wiederkehren; gestrichene Stichwörter unter S sind z. B. sch..ßen, schinden, schlecht, skandalös, speien, steife Gedanken, Strümpfe, Stadtarrest, Student. Die Vermehrung der Stichwörter (unter S: 76 gegenüber 57 bei Augustin) beruht hauptsächlich darauf, dass aus den umfangreicheren Artikeln bei Augustin (z. B. Stänker, Terzhauen) die eingeflochtenen Sublemmata herausgelöst und separat angesetzt wurden. Einige wenige Ergänzungen lieferte Sondershausen 1822 (z. B. Schläger, stürzen, Suitenbach). Außerdem wurde ‚Martial Schluck‘ – wohl nach der neuen Übersetzung 1840⁵⁵ – einigermaßen gründlich ausgewertet. Mehrere der dort –
Text im Anhang A . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Vgl. Anm. . Übersetzung von Ulrich Paulus, Stuttgart ; Neuabdruck v. E. Bauer in: Einst und Jetzt. Jb. , , S. – .
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schon 1780 – speziell markierten Ausdrücke tauchen hier erstmals in einem studentensprachlichen Wörterbuch auf, so ist der Artikel Couche (mit Recouche, Contrecouche) fast wörtliches Zitat aus ‚Martial Schluck‘ (1840).⁵⁶ Nur wenige Stichwörter gehen über die Vorlagen hinaus, z. B. Schwengel, Stallbesen, Stiftler.
Bonn 1841⁵⁷ Gegenüber der Vorlage (Jena 1841, s.o.) fehlen zwar nur wenige Stichwörter (z. B. Stiftler), doch wird bei den Worterklärungen in oft sehr nachlässiger, ja sinnentstellender Weise gekürzt (z. B. bei keilen, stellen). Andererseits bietet das Wörterbuch – auch über die anderen Vorgänger hinaus – eine Reihe zusätzlicher Stichwörter oder Redensarten, z. B. salue, schief gewickelt sein, Schmollis verwichsen, Stange, Stubenknochen.
Gräßli 1846 Der „Vorritt“ dieses umfangreichsten Wörterbuchs der Studentensprache⁵⁸ enthält Anspielungen auf verschiedene Titel der burschikosen Literatur und sonst einschlägiges Schrifttum,⁵⁹ wie auch Komments;⁶⁰ auf weitere Quellen stößt man im Wörterbuchteil unter Stichwörtern wie Burschenschaft, Demagogische Umtriebe, Fuchs, Landesvater, Philister, Student usw. Manche der vom Verfasser genannten Quellen dürften allerdings ins Reich der Phantasie gehören, so die diversen Schriften seiner Schweizer Landsleute und Münchener Studienkumpane Meyer und Suter.⁶¹ Wieder andere zitierte Werke oder Autoren dürfte er bestenfalls mittelbar oder nur sehr flüchtig gekannt haben, so Christian Friedrich Laukhard,
‚Martial Schluck‘ (), § .: „Couche, Recouche, Contrecouche sind Redensarten, mit denen man Stillschweigen gebietet, […] so gehören sie billigerweise unter die Verbalinjurien.“ Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. (XII, S.). Haupt ; Plinius der Jüngste [Oskar Ludwig Bernhard Wolff, Prof. in Jena]: Naturgeschichte des Deutschen Studenten, Leipzig, . und . Aufl. ; Anon. [G. A. Vogel]: Der Katzenjammer heilbar! Eine frohe Botschaft von T. , Bern . Mit dem „Renommisten“ ist wohl auf Zachariäs ‚Der Renommiste‘ (zuerst ; Neudruck Berlin ) angespielt, die häufige Quellenangabe „Ren.“ im Wörterbuch scheint jedoch reine Phantasie zu sein. Mit „Dr. Rupp’s silenischer Begeisterung im Jahr “ (S. XI und S. ) meint der Verfasser wohl sein eigenes Werk, wie er sich denn auch sonst gern selbst zitiert: als „Graesslius“ (S. ), als „Vollm.“ (S. ), als „Gr.“, „Voll.“ usw. Vgl. unter Biercomment und Weincomment. Eigentliche Komments der Studentenverbände druckt Gräßli nicht ab, obwohl er z. B. Haupt () als Quelle dafür kannte (vgl. „Vorritt“). Vgl. ebd. S. f., u. ö.
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der als „Labhard“ bzw. „Laudthard“ vorkommt.⁶² Dieser Name ist wohl eine verblasste Erinnerung aus Wolffs ‚Naturgeschichte des Deutschen Studenten‘ (1842),⁶³ die z. B. unter Student mit richtiger Seitenangabe – anderwärts oft falsch – zitiert wird. Die im Wörterbuch meistgenannte Quelle ist ‚Felix Schnabels Universitätsjahre oder der Deutsche Student‘ (1835), ein Werk, das ausführlich das studentische Brauchtum in den Korporationen schildert und burschikosen Wortschatz in großer Fülle bietet.⁶⁴ Den Klassiker ‚Martial Schluck‘⁶⁵ kennt Gräßli zwar dem Titel nach (vgl. Knote), doch scheint er ihn lexikographisch nicht ausgebeutet zu haben; dafür fehlen denn doch zu viele der dort gebotenen Vokabeln (z. B. couche, Mucker, Squis, schuppen). Im „Vorritt“ tut der Verfasser sich viel darauf zugute, originell, nämlich „der erste Lexikograph der nassen Literatur“ zu sein. Diese Angabe hat man bis hin zu Herzog⁶⁶ ernst genommen, obwohl sie ganz in das von Gräßli inszenierte literarische Verwirrspiel passt. Da mehrmals ein „Stud. Lex.“ zitiert wird, sogar mit genauen Seitenangaben (vgl. Duell, Hund, Knote, Landesvater, Philister), war Leipzig 1825 (s.o.) leicht als Vorlage zu ermitteln. Die Stichwörter sind fast vollzählig übernommen, die Erklärungen jedoch im Stile Gräßlis umgemodelt. Bei Artikeln Schuchardts, die mit Anekdoten (z. B. Hund) oder Zitaten (z. B. Schmollis, Student, studiren) angereichert sind, oder bei solchen enzyklopädischen Typs (z. B. Burschenschaft, Finke) wird die inhaltliche Abhängigkeit Gräßlis besonders deutlich. Die Kenntnis weiterer Wörterbücher der Studentensprache, etwa von Leipzig 1831 (vgl. Schiffprügel), ist nicht klar nachzuweisen. Bei der wuchernden Fülle des Gräßlischen Werkes sowohl hinsichtlich der Menge der Stichwörter als auch der (angeblichen) Wortbedeutungen (genau 100 bei Rausch!) fallen die nachweisbaren Übernahmen allerdings kaum ins Gewicht. Das Verfasser-Pseudonym „Vollmann“ wird im Wörterbuch als „1. Cerevisname; 2. Biername“ erklärt. Johannes Gräßli (1819 – 1849) aus Grabs im Schweizer Kanton Sankt Gallen besuchte 1839 – 1841 das Gymnasium in Wetzlar (vgl. Wetzlar
Ebd. S. , , in den Errata S. . Vgl. Anm. ; Wolff S. fällt der Name Laukhard. Unter dem Pseudonym „A. v. S.“ [August von Schlumb] verbirgt sich August Jäger; Neudruck Graz , mit einem Vorwort von D. Herzog. Gräßli zitiert das Werk unter Aar als „Schnabel“, sonst als „Sch.“. Vgl. Anm. . Im Vorwort zu seinem Neudruck von Gräßli , Graz , S. VII; besser schon Fabricius , S. .
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im Wörterbuch), studierte immatur 1841– 1842 in München Jura und praktizierte darauf als Advokat in Mels/St. Gallen.⁶⁷
Jena 1860⁶⁸ Die Angabe „Zweite vermehrte Auflage“ (von Jena 1841) trifft insofern zu, als aus Bonn 1841 (s.o.) zusätzliche Stichwörter und Teilbedeutungen (z. B. zu steigen) aufgenommen, außerdem einige Stichwörter neu eingeschoben sind (z. B. Seufzerbret, Spreeathen, Spritze, Spruz). Wo die beiden Vorlagen in den Bedeutungserklärungen differieren, folgt der Herausgeber seinem Jenaer Vorläufer. Das aus Bonn 1841 Übernommene wird in der Regel stärker überarbeitet, während die Änderungen gegenüber Jena 1841 geringfügig bleiben. Die Bindung an Jena 1841 zeigt sich auch in der Beibehaltung von Stiefelwuchs,⁶⁹ das Bonn 1841 zu Stiefelfuchs verballhornt hatte.
Breslau 1862⁷⁰ Die „Vorrede für Nichtstudenten“ ist die gekürzte und leicht veränderte „Vorrede für Nicht-Studenten“ aus Leipzig 1825, während die zweite Vorrede „Für Studenten! – Schmollis, Ihr Brüder!“ die Vorrede „Schmollis, ihr Brüder!“ aus Jena 1841 variiert. Das Wörterbuch ist denn auch eine Kombination aus Leipzig 1825 und Jena 1841. Die Neuerungen in Jena 1860 sind dem Verfasser unbekannt geblieben. Aus beiden Quellen kombiniert sind auch die Bedeutungsangaben bzw. Sacherläuterungen (z. B. unter Sekundanten). Die Übernahmen sind in der Regel wörtlich. Selbst in Artikeln enzyklopädischen Typs scheint die Zeit seit 1825 angehalten zu sein; z. B. wird unter Burschenschaft alles aus Leipzig 1825 wörtlich übernommen und am Schluss mit ein paar unzureichenden Bemerkungen über seither eingetretene Veränderungen ergänzt. Mit einigen Stichwörtern geht Breslau 1862 über seine beiden Vorlagen hinaus (z. B. Salamander, Scat, Schmiß, schnuppe, Spießer); darunter sind Unika innerhalb der studentensprachlichen Wörterbuchreihe auffallend häufig (z. B. schleifen ‚begleiten‘, Schmalthier, spritzen ‚reden‘, Stoppelhopser, Stubenkameel, Syrupsengel).
Zur Biographie vgl. Fabricius , S. – ; ders. (wie Anm. ), S. f.; Meier , S. XXVIIf.; Kluge , S. – ; E. Bauer, in: Einst und Jetzt. Jb. , , S. ; Herzog (wie Anm. ), S. I-X. Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . So auch Wolff, Naturgeschichte (s. Anm. ), S. . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . – Der unbekannte Verfasser unterzeichnet die „Widmung“ mit dem Pseudonym „Th. S. di Saluzzo.“
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Bonn 1865⁷¹ Das Werk ist ein wörtlicher Nachdruck von Bonn 1841; auch Irrtümer (z. B. Recauche statt Recouche) sind gelegentlich stehengeblieben. Die Abweichungen bewegen sich im Bereich von Orthographie und Interpunktion. Dass gegenüber Bonn 1841 das Stichwort Husar fehlt, möchte man eher einem Versehen zuschreiben.
Conrad 1875⁷² Wie schon die gekürzt übernommene „Vorrede für Nichtstudenten“ vermuten lässt, ist dieses im Selbstverlag des Verfassers Hans Conrad erschienene Wörterbuch eine stark erweiterte Neubearbeitung von Leipzig 1825. Conrad übernimmt Stichwort und Erklärung mitunter wörtlich (z. B. Sauhieb), meist aber erweitert er (z. B. Schiff) oder formuliert ganz um (z. B. schlagen); auch einzelne Streichungen kommen vor (schippen). Insgesamt bringt Conrad es gegenüber seiner Vorlage auf rund doppelt so viele Stichwörter (unter dem Buchstaben S: 82 gegen 38). Für diese Zusätze sind keine direkten Quellen ersichtlich. Wo Conrad etwa gemeinsame Stichwörter mit Jena 1860 (z. B. Spritze, Stubenknochen) oder mit Breslau hat (z. B. Scat, Spießer), sind die Erklärungen im Wortlaut und z.T. im Inhalt anders. Rund die Hälfte der zusätzlichen Stichwörter bei Conrad taucht hier zum ersten Mal in einem studentensprachlichen Wörterbuch auf, z. B. Sack, Saufknoten, sumpfen. Die Zusätze der 5. Auflage von 1900 sind ebenfalls eigenständig und berühren sich auch nicht mit dem beginnenden wissenschaftlichen Interesse an der Studentensprache (Burdach 1894, Meier 1894, Kluge 1892 und 1895).
München 1878⁷³ Im ganzen ein wörtlicher Nachdruck von Bonn 1841, wie – im Vergleich zu Bonn 1865 – an dem Stichwort Husar und an orthographischen Indizien zu ersehen ist. Die Eigenleistung des Herausgebers besteht in der Beseitigung einiger Versehen (vgl. Rand schnallen, Recouche) und in der Streichung einzelner Stichwörter (z. B. Spex, Spieß, wetzen), insbesondere solcher mit lokalem Bezug (z. B. Ehrengericht, Gevatterin, Hirschgasse).
Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Reprint (ohne den ‚Biercomment‘) in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – .
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Celle und Leipzig 1887⁷⁴ Als „Versuch studentischer Naturgeschichte“⁷⁵ bezieht sich dieses Werk auf Wolffs ‚Naturgeschichte des Deutschen Studenten‘ (3. Aufl. 1847).⁷⁶ Schon in das Vorwort sind einige Passagen aus Wolff eingearbeitet.⁷⁷ Ebenso sind unter mehreren Stichwörtern die Erläuterungen Wolffs wörtlich übernommen, so z. B. unter Bursch, Gottfried, Schulfuchs. ⁷⁸ Eindeutig ist auch die Abhängigkeit von Conrad 1875 festzustellen, z. B. unter Saufknoten, schinden, steigen. Überdies hat der Verfasser eines der Wörterbücher aus der Linie Bonn 1841/1865 – München 1878 benutzt, wie durch die wörtliche Entsprechung z. B. unter Hauspump klar wird. Weitere Quellen sind nicht ersichtlich. Dem unbekannten Verfasser unter dem Pseudonym „Herodotus junior“ ist eine recht selbstständige Arbeitsweise zu bescheinigen: Er wählt aus, kombiniert, formuliert um und bringt eine Reihe neuer Stichwörter aus der Umgangssprache (vgl. Kleine, Mompitz, Poposcheitel) oder der studentischen Verbindungssprache (z. B. Chargenmensur, Glockenschläger), ferner eigene enzyklopädische Artikel,wie Studentenverbände.
Wien 1888⁷⁹ Ein leicht veränderter Nachdruck von München 1878. Der Bearbeiter streicht einige veraltete Wörter, wie z. B. Schnurren, Schwager ‚Postillion‘, Schwerenöthen. Einige wenige Stichwörter sind sogar noch Erstbuchungen innerhalb der Reihe studentensprachlicher Wörterbücher, so Couleurstock, Frühschoppen, Schäbige.
Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – . Vorwort, S. . Vgl. oben zu Gräßli . Vgl. Wolff, S. , . Vgl. Wolff, S. , , . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – .
2 Wörterbuchkritik 2.1 Sprachentwicklung und Kodifikation Überblickt man die Wörterbuchreihe mit ihren Sprüngen, Brüchen und Neuansätzen, so wird deutlich, dass die Studentensprache nicht immer entsprechend ihrem aktuellen Entwicklungsstand kodifiziert wurde – wie es an sich Ziel der Wörterbuchautoren sein musste –, sondern mit teils erheblichen Zeitverschiebungen. Zugleich aber ist dadurch, dass die Studentensprache eine so reiche Wörterbuchproduktion hervortrieb wie keine vergleichbare andere deutsche Gruppensprache, dem heutigen Betrachter die Möglichkeit eröffnet, durch den Vergleich der Wörterbücher untereinander die gebotenen lexikographischen Informationen sprachhistorisch genauer einzuordnen. Um dies an einem Einzelwort zu exemplifizieren: wetzen (‚mit dem Degen Funken aus dem Straßenpflaster schlagen‘) wird 1749, 1781 und 1795 gebucht, danach – obsolet geworden – von mehreren Wörterbüchern übergangen, jedoch von Jena 1841 unter Rückgriff auf Augustin 1795 reaktiviert und auf weitere Wörterbücher vererbt, bis München 1878 das Wort streicht. Hier hat man eine gleich doppelte Evidenz: die kulturgeschichtliche des Degentragens der Studenten (in Preußen 1750 Nicht-Adligen verboten, 1794 auch Adligen)⁸⁰ und die kontrastivlexikographische der ‚Leipziger‘ Wörterbuchlinie (ab 1825) inklusive Gräßli. Aber auch die Aktualität ganzer Wörterbücher steht zur Debatte. Das Wiener von 1888 enthält unter dem Buchstaben S 46 Wörter (von insgesamt 81), die sich in Form und Bedeutung mit Augustin 1795 decken. Nach den Kommentaren von Burdach u. a. zu Augustins ‚Idiotikon‘ sind 13 dieser 46 Wörter 1894 (in Halle) „ungebräuchlich“, „unbekannt“ oder „ausgestorben“: eine Sau im Leibe haben, sauen, schießen, Schisser, schleppen, Schreckenberger, Schürzenstipendium, Schwanz, skisiren, Sky, Spies, Stubenbursch, Stubensitzer. Andere unter den 46 Wörtern werden der allgemeinen Umgangs- oder Schriftsprache zugerechnet, haben also ihren spezifisch studentensprachlichen Charakter verloren. Ein vergleichender Blick in andere zeitgenössische Wörterbücher (Celle/Leipzig 1887, Conrad 1875 und 1900) sowie in das ‚Deutsche Wörterbuch von Moriz Heyne (1890/95)⁸¹ und das ‚Deutsche Wörterbuch‘ von Her-
Anlass für das Verbot von (Abdruck auch bei Augustin , S. – ) war eine Rauferei zwischen Studenten und dem in Halle stationierten Regiment; vgl. Schrader , Bd. , S. . Bei einer Visitation der Universität Halle im Jahre wird gemutmaßt, das Verbot des Degentragens ( als Privileg der Studenten installiert) habe sich ungünstig auf die Frequenz der Universität ausgewirkt (ebd. S. ). . Aufl., Leipzig /.
2.1 Sprachentwicklung und Kodifikation
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mann Paul (1897),⁸² die beide Studentensprachliches stark berücksichtigen, bestätigt im wesentlichen die sprachhistorischen (und sprachsoziologischen) Einschätzungen des Burdach-Kreises, der sich nicht wiederum ausschließlich auf Wörterbücher, sondern auch auf literarische Belege und persönliche Erfahrungswerte stützte. Das vorgeblich „neue“ und „gänzlich umgearbeitete“ Wörterbuch Wien 1888 erscheint somit als Endpunkt eines fortschreitenden Aktualitätsverlustes durch kritiklose Tradierung und ungenügende Beachtung des lebendigen Sprachgebrauchs. Dieses Verdikt ist jedoch teilweise abzumildern angesichts der verzögerten Rezeption des hauptsächlich an mittel-und norddeutschen Universitäten ausgebildeten studentischen Lebensstils und Verbindungswesens im katholischen Südosten des Sprachgebietes wie auch in der deutschsprachigen Schweiz.⁸³ Nach diesen Beispielen für die extreme Rückwärtsgewandtheit einiger der späteren Wörterbücher muss jedoch, mit Ausblick auf die ‚Nehmerseite‘ der Studentensprache, also zunächst die umgangssprachlichen Schichten der jeweiligen Stadtsprachen,⁸⁴ auf die Relativität zeitlicher Fixierungen hingewiesen werden.Was für die Studentensprache ‚spät‘ ist, kann für diese Umgangssprachen ‚früh‘ sein. Häufig zu beobachten ist folgender Vorgang: Ein Wort findet Aufnahme und Verbreitung in studentischer Kommunikation, erfährt während dieser Beschleunigungsphase semantische, eventuell auch lautlich-morphologische Veränderungen und wird so – erneuert und aufgewertet – für andere Sprechergruppen attraktiv. Die Studentensprache in ihrer Verteilerfunktion kann demnach entscheidend sein für die Durchsetzung lexikalischer Elemente und stilistischer Nuancierungsmittel in der Umgangs- und schließlich Schriftsprache. Mit dem Erreichen der Standardsprachlichkeit verlieren diese lexikalischen Einheiten aber in der Regel ihre gruppensprachliche Unterscheidungsfunktion, so dass, wenn der Kreislauf nicht oft genug wiederholt wird, die Existenz der Gruppensprache selbst gefährdet ist. Obwohl die auslaufende Wörterbuchtradition der Studentensprache deutlich den Profilverlust dieser Gruppensprache anzeigt, steht doch in den
. Aufl. Halle . Über die Rezeption deutscher Studentensprache in der (deutschsprachigen) Schweiz vgl. Meier , S. III-VI. Die Verflechtung von „Burschensprache“ und „Bürgersprache“ in Halle betont Augustin ; vgl. Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. . Die Zeugnisse lassen sich schon für das . Jahrhundert vermehren, vgl. etwa Rebmann: Briefe über Jena (), hrsg. von W. Greiling, S. : „Burschikosität“ habe nicht nur „alle Einwohner Jenas“ ergriffen, sondern „Auch die Bauern in den nahgelegenen Dörfern wissen die Bedeutung aller burschikosen Kunstwörter sehr wohl.“
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2 Wörterbuchkritik
späten Wörterbüchern noch mancher auch für die allgemeine Wortgeschichte interessante Beleg (z. B. schnuppe, Spießer).⁸⁵ Weiteres zur historischen Einordnung der Wörterbuchinhalte ist den Vorworten gelegentlich zu entnehmen. So bietet Kindleben (1781) auch „jetzt schon wieder veraltete Ausdrücke“, die zu seiner Studienzeit noch „im Schwange“ waren;⁸⁶ und der ‚Göttinger Student‘ (1813) erklärt den Verzicht auf flüchtige „Mode-Ausdrücke“.⁸⁷ Auch in den Wortartikeln stehen gelegentlich aufschlussreiche Hinweise auf den momentanen Beliebtheitsgrad, auf zu- oder abnehmende Gebrauchshäufigkeit, auf situationsvariable Frequenz, auf den Zusammmenhang von Sach-, Verhaltens- und Wortwandel, auf das Verhältnis zwischen Synonymen u. a. m.⁸⁸
2.2 Sprachgeographische Aspekte Es ist kein Zufall, dass die ersten studentensprachlichen Wörterbücher Bezüge haben zu den großen mitteldeutschen Universitäten Jena, Halle, Leipzig und Göttingen: Diese waren für Komment und Sprache der Studenten prägend und tonangebend.⁸⁹ Über den sprachgeographischen Geltungsbereich des verzeichneten Wortschatzes lassen sich Kindleben (1781), Augustin (1795) und Wallis (1813) näher aus, wobei die überregionale Verbreitung der Studentensprache, zumindest auf der Ebene eines Kernwortschatzes (Fuchs, Philister, Kommersch usw.), von allen zu Recht betont wird. Fraglich ist jedoch Augustins Behauptung, „mit einigen Veränderungen“ werde „diese Sprache auf fast allen deutschen Universitäten gesprochen“.⁹⁰ Schon die lexikalischen Differenzen zwischen Kloß und Wallis (beide Göttingen) wie auch die recht unterschiedliche Bestimmung des spezifischen Wortschatzes bei Kindleben und Augustin (beide Halle) geben da zu
Spießer, gekürzt aus Spießbürger, belegt die historische Lexikographie für in Leipziger Stadtmundart, dagegen schon Breslau und Conrad im studentischen Gebrauch (Reprints in: Henne/Objartel , Bd. , S. , ). Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. . Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. . Vgl. etwa schmausen Augustin ; vortrinken Wallis ; Eva’s Tochter, fechten, Fahrt, Hundsfott, schwoofen, Ziegenholz Leipzig ; heraushängen Jena ; Seelenkleister Conrad . Nail () stellt bezüglich der regionalsprachlichen Rekrutierung des Wortschatzes der Studentensprache denn auch eine Dominanz des (ost‐)mitteldeutsch-niederdeutschen Sprachraumes fest. Dies ist nicht nur durch die geographische Lage der wichtigsten Universitäten bedingt, sondern auch durch deren weite, vor allem nach Norden ausgreifenden Einzugsbereiche. Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. .
2.3 Sprachsoziologisch-stilistische Aspekte
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denken.⁹¹ Erkennbar ist bei den Wörterbüchern die Tendenz, Lokalkolorit besonders in Form von Namen zu meiden,⁹² doch werden regional geprägte Wortformen (z. B. Smollis, theek) oft unverändert tradiert und verbreitet, wofür auch die mittel- und norddeutschen Einsprengsel in der Basler Studentensprache ein markanter Beleg sind.⁹³ Insgesamt hat man lokale oder regionale Traditionen und Neuentwicklungen, wie den Jenaer Stich-Comment (Wallis 1813) oder den um 1830 in Halle, Jena und Leipzig üblichen Ducomment (Leipzig 1831)⁹⁴ in ihrem Zusammenhang mit dem Sprachgebrauch an den einzelnen Universitätsorten und mit ihren Auswirkungen auf die lexikalische Struktur der Studentensprache zu beachten, und zwar auch unabhängig von der Frage nach mundartlichen Quellen oder Einfärbungen.⁹⁵ Der Titelzusatz ‚Allgemeine deutsche Burschensprache‘ in Jena 1841 drückt weniger eine sprachgeschichtliche Tatsache aus, verleiht vielmehr einem politisch-ideologischen Einheitsgedanken Ausdruck und bereitet im akademischen Bereich Titel vor wie ‚Allgemeines Deutsches Commersbuch‘ (1858) oder ‚Allgemeiner deutscher Bier-Comment‘ (1899). Friedrich Kluges Redeweise von einer „einheitlichen Sprache für alle“⁹⁶ ist Teil seiner Kontroverse mit John Meier (‚Hallische Studentensprache‘) und stellt die – sicherlich zunehmend konvergierenden – Sprachbewegungen zu vereinfacht dar.
2.3 Sprachsoziologisch-stilistische Aspekte Den studentischen Wortschatz in seinem vollen sprachsoziologisch-stilistischen Umfang abzubilden, war für die Lexikographen in den Zeiten einer wachsamen Zensur eine kaum lösbare Aufgabe. Der preußische Minister von Zedlitz monierte an Kindlebens Wörterbuch „die Sprache des niedrigsten Studenten-Pöbels“ und verbot die Auslieferung wegen sittlicher Gefährdung der Jugend.⁹⁷ Über die Kluft zwischen Studentensprache und gutem Ton hegten die Autoren keine Illusionen. Wo überhaupt für die Aussparung der derb-vulgären und obszönen Wörter Gründe Noch in der ‚Vorrede‘ von Breslau (Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. ) werden die ortsbedingten Unterschiede in der Studentensprache hervorgehoben: Jede Universität habe „noch ihre besonderen Eigenthümlichkeiten, ja man kann sagen, jede Verbindung“. Vgl. oben zu München usw. Dazu Meier , S. IVf. (Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. f.). Vgl. Jäger , S. . Zu warnen ist aber auch vor manchen phantasievollen sprachgeographischen Differenzierungen, wie sie etwa Gräßli s.v. Bursche bietet. Kluge , S. . Vgl. die in ‚Studentensprache und Studentenlied‘ () von Burdach nach Kindlebens ‚Studentenliedern‘ S. f. abgedruckten Erlasse.
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2 Wörterbuchkritik
genannt werden (Augustin 1795, Wallis 1813, Jena 1841), sind sie in diesem Zeitkontext zu verstehen. Bald nach Augustins Meldung über eine fortschreitende Kultivierung der Studentensprache gibt Laukhard zu bedenken, dass die „zotologischen Wörter und Phrasen […] gleichsam die Quintessenz der Burschensprache ausmachen.“⁹⁸ Nach Kindleben ist es vor allem Vollmann/Gräßli (1846), der auf diesem Gebiet die Schranken der Selbstzensur fallen lässt und insofern eine dokumentarische Lücke füllt.⁹⁹ Es ist bezeichnend für die Prüderie der Forschung in der Wilhelminischen Ära, dass der Quellenwert des Gräßlischen Wörterbuchs eben deshalb herabgestuft und sein Inhalt „der Hauptsache nach einem lüderlichen […] Pennälerkreise“ zugeschoben wurde.¹⁰⁰ Immerhin kommt damit der Sprachgestus von Gymnasiasten in den Blick, die schon früh, und verstärkt im 19. Jahrhundert, das studentische Brauchtum und Gehabe,wie es hauptsächlich in den Verbindungen gepflegt wurde, bis zur Übertreibung imitierten.¹⁰¹ Die besondere Sprachkreativität der Studenten in den ‚unteren‘ Stilschichten mag mit dem allgemeinen Vitalitätsbedürfnis der Jugendlichen und mit der Ausweich- und Ventilfunktion ihrer Gruppensprache gegenüber dem Erwartungsdruck von Elternhaus und Universität zu tun haben. Für die sprachsoziologische Frage nach den Kontakten und Übergängen zwischen der Sprache der Studenten und anderen Varietäten des Deutschen, vor allem der Schrift- und Literatursprache, ist es zunächst wichtig zu sehen, dass die beiden großen Lexikographen um 1800, Adelung und Campe,¹⁰² studentensprachlichen Wortschatz weitgehend ausklammerten, weil das von beiden angewendete Stilebenen-Modell diese Wörter fast automatisch als „niedrig“ einstufte – oder gar nicht zuließ. Freilich ist zu bedenken, dass die Teile A bis V des Adelungschen Wörterbuchs bereits 1780, d. h. vor Kindlebens ‚Studenten-Lexicon‘ vorlagen, dass überhaupt zu jener Zeit der Literarisierungs- und Bekanntheitsgrad der Studentensprache noch recht bescheiden war. Für Wörter wie Jux, mogeln, Moneten, petzen, Pump, Schwulitäten oder Wichs hat die historische Wortforschung kaum Belege erbracht, die über Kindleben zurückreichen. Besonders bei Campe wirkt sich außerdem noch der Vorbehalt gegenüber Fremdwörtern und Mischbildungen aus: Wörter wie burschikos, fidel oder Kommers erscheinen nur in seinem ‚Verdeut-
Annalen, T., , S. f. Vollmann/Gräßli ist folgerichtig eine der Quellen für E. Bornemann: Sex im Volksmund. Die sexuelle Umgangssprache des deutschen Volkes. Wörterbuch und Thesaurus, Reinbek . Fabricius , S. ; Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. . Vgl. Waas ; Haupt ; speziell zum Sprachlichen Eilenberger , bes. S. – (Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. – ). Adelung – und – , Campe – .
2.3 Sprachsoziologisch-stilistische Aspekte
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schungswörterbuch‘.¹⁰³ Explizite Hinweise auf den spezifisch studentensprachlichen Charakter von Wörtern oder Bedeutungen findet man in beiden Auflagen Adelungs sehr selten (z. B. bei Fuchs, Philister). Campe geht darin in den vergleichbaren Fällen verschiedentlich über Adelung hinaus (z. B. bei Jux, Schnurre M.). Vor allem im ‚Verdeutschungswörterbuch‘ läßt Campe bei der Kommentierung studentischer Lexik keinen Zweifel an seinem Wertesystem. So schlägt er für Burschencomment (unter Comment) als Ersatzwort Burschennarrenkappe vor, erklärt die studentensprachliche Bedeutung von fidel nicht nur mit „lustig“, sondern mit einem Schwenk zur moralischen Perspektive auch mit „locker oder liederlich“, und nimmt die aus Bürger belegte Hybridbildung Schwulitäten zum Anlass, von der „abgeschmackten Sprache der Beflissenen“ zu reden. Dass Adelung und Campe sich bei ihren sehr ähnlich geratenen Versuchen einer normsetzenden Kodifikation des deutschen Wortschatzes nicht nur stilistische Einordnungen der Wörter vornahmen, sondern auch moralisch wertende Kriterien ins Spiel brachten, die sich nicht nur auf die Denotate von Sprachzeichen, sondern auch auf ganze Sprechergruppen beziehen, braucht hier nicht weiter belegt und kritisiert zu werden. Jacob Grimm stellte die Weichen für eine andere Praxis, indem er in der Vorrede (1854) zum ‚Deutschen Wörterbuch‘ betonte: „Das Wörterbuch ist kein sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches, allen zwecken gerechtes unternehmen.“¹⁰⁴ Die Grimms selbst und die nachfolgenden wissenschaftlichen Lexikographen registrierten denn auch Studentensprachliches in ausgiebigem Maße. Man kann sogar feststellen, dass die großen allgemeinsprachlichen Wörterbücher des 19. Jahrhunderts das Anwachsen des studentensprachlichen Wortschatzes und natürlich seine Literarisierung und sprachsoziologische Verbreitung insgesamt zuverlässiger spiegeln als die laienhaften Spezialwörterbücher. Den quantitativen Höhepunkt in der Erfassung von Studentensprache stellt das Wörterbuch von Daniel Sanders dar.¹⁰⁵ Aus einer den Spezialwörterbüchern entnommenen Stichprobe von 257 Studentenausdrücken, verteilt auf die kommunikativen Sektoren Komment/Verbindungswesen, Ehre/ Duell, Universität, Trinkwesen, zwischenmenschliche Beziehungen, persönliche Verhältnisse, bietet Sanders immerhin 202, davon rund ein Drittel mit der Markierung als spezifisch studentisch.¹⁰⁶
Campe . Bd. , Sp. XXXIV. Sanders /. U. Viebach: Studentensprache und ihre lexikalische Dokumentation in den allgemeinsprachlichen Wörterbüchern des . und . Jahrhunderts, Magisterarbeit (masch.) Braunschweig , S. .
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2 Wörterbuchkritik
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist in der allgemeinen Lexikographie bei (ursprünglich) studentensprachlichen Wörtern, Wortbedeutungen oder Wendungen eine Zunahme mehrfacher Markierung, z. B. durch „burschikos“/„Volkssprache“, „studentisch“/„Umgangssprache“ oder „Studentenausdruck“/„auch in der Schriftsprache“, zu beobachten, die auf Verschiebungen im Gefüge der Sprachvarietäten und -normen hindeutet.¹⁰⁷ Im Zuge der Entstehung von (städtischen, regionalen) Umgangssprachen dient Studentensprachliches in besonderem Maße zur Rekrutierung von Ausdrucksmitteln mit Stilmerkmalen wie „ungezwungen“, „lustig“, „forsch“, „salopp“ oder „derb“. Zu dieser Transformation passt, dass die um 1900 beliebte, aber doppeldeutige Stilkennzeichnung „burschikos“ (1. ‚studentensprachlich‘ – 2. ‚ungezwungen, salopp‘) allmählich durch andere Stilmarker, vor allem „umgangssprachlich“, ersetzt wurde.¹⁰⁸
Schon an der quantitativen Verteilung solcher Beschreibungstermini wird ersichtlich, welch bedeutende Rolle die Studentensprache in den allgemeinen Wörterbüchern um spielte. Nach einer Stichprobe bei der Wortstrecke unter K in der . Aufl. des Wörterbuchs von H. Paul () wird mit „Studentensprache“, „studentisch“ und „Kommentsprache“ mal auf Studentensprachliches hingewiesen (dazu noch mal „burschikos“) – insgesamt deutlich häufiger als auf jedes andere spezialsprachliche Repertoire (z. B. „Umgangssprache“, „Gaunersprache“, „Seemannnsprache“/„Schifferwort“ je mal, „Rechtssprache“ mal). So ersetzte W. Betz in seiner Neubearbeitung des Wörterbuchs von H. Paul (. Aufl.) „burschikos“ vielfach durch „umgangssprachlich“, besonders bei aktueller Lexik (z. B. bei Kerl, Knasterbart).
3 Zusammenfassung und Ausblick Der Blick auf die Behandlung von Studentensprache in den großen repräsentativen Wörterbüchern bis um 1900 vermittelt das Bild einer aufsteigenden Linie: Ein ehemals verpönter Wortschatz findet Aufnahme in die breitere Umgangssprache und in die allgemeine Schriftsprache. Demgegenüber vermittelte der Gang durch die Reihe der studentensprachlichen Wörterbücher den Eindruck einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts hin absteigenden Linie: Die regenerative Kraft der alttradierten Studentensprache lässt nach, die aktive Sprecherbasis in Relation zur Gesamtheit der Studenten wird schmaler, die kommunikativen Anwendungsbereiche schrumpfen. Dass ‚Studentensprache‘ aber auch um 1900 noch lebendig ist, sucht John Meier mit seinem Wörterbuch der ‚Basler Studentensprache‘ zu erweisen. Hier spielt allerdings das „Idiom der einzelnen Verbindungen“ die tragende Rolle,¹⁰⁹ so dass – abgesehen von der durchgängig baseldeutschen Sprachform – nur ein verschobener und verengter Begriff von ‚Studentensprache‘ übrigbleibt. Die Frage, was an neuen Kommunikationsstilen und Sonderwortschätzen sich unter den Studentinnen und Studenten im Zuge der epochalen Umwälzungen um die Jahrhundertwende und in den folgenden Jahrzehnten herausbildete, dürfte weiterer Untersuchung wert sein, führt aber über den hier gesteckten Zeitrahmen hinaus.¹¹⁰
Reprint in: Henne/Objartel , Bd. , S. . Für einen ersten Überblick vgl. Nail .
Literaturverzeichnis Aufgeführt sind die für den Untersuchungsbereich wichtigen, in der Regel mehrfach herangezogenen Quellen und Darstellungen. Anderes ist jeweils zur Stelle in bibliographisch hinreichender Form angegeben.
A Quellen Unter den Punkten 1 bis 3 sind die Zitierformen der benutzten Quellen aufgelöst; die Anordnung ist jeweils chronologisch.
1 Wörterbücher und lexikalische Beiträge zur Studentensprache Salmasius/Prokax 1749 Kompendiöses Handlexikon der unter den Herren Purschen auf Universitäten gebräuchlichsten Kunstwörter, Zum Nuzzen der angehenden Herren Studenten, und aller kuriösen Liebhaber nach alphabetischer Ordnung verfertiget von Robert Salmasius, JCto. In: Vergnügte Abendstunden, in stillen Betrachtungen über die Vorfälle in dem Reiche der Natur, Künste und Wissenschaften zugebracht [Hrsg. v. Rudolf Wedekind]. 2. Teil. Erfurt, S. 65 – 79. [Lizentius Prokax:] Beitrag zu des Herrn Robert Salmasius Wörterbuche der akademischen Kunstwörter. Ebd., S. 353 – 357, 361 – 365. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 2, S. 1 – 25. Lichtenberg (um 1770) Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hrsg. v. W. Promies. Bd. 1: Sudelbücher. München 1968, S. 91 – 97 („Lexidion für junge Studenten“). Traitteur 1780 [Karl Theodor Traitteur:] Das Purschenleben nach der Natur gezeichnet, ein Schauspiel in vier Aufzügen. Frankfurt und Leipzig. (Liste von Studentenwörtern nach der unpag. ‚Vorrede‘). – Anhang A 1. Kindleben, Studenten-Lexicon 1781 Studenten-Lexicon. Aus den hinterlassenen Papieren eines unglücklichen Philosophen Florido genannt, ans Tageslicht gestellt von Christian Wilhelm Kindleben, der Weltweisheit Doktor und der freyen Künste Magister. Halle. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 2, S. 27 – 312. Augustin 1795 [Christian Friedrich Bernhard Augustin:] Idiotikon der Burschensprache. In: Ders.: Bemerkungen eines Akademikers über Halle und dessen Bewohner, in Briefen, nebst einem Anhange, enthaltend die Statuten und Gesetze der Friedrichsuniversität, ein Idiotikon der Burschensprache, und den sogenannten Burschenkomment. Germanien
A Quellen
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[Quedlinburg], S. 343 – 438. Reprint des mit Anmerkungen versehenen Neudrucks in ‚Studentensprache und Studentenlied‘ (s. u. A.4), ergänzt um die ‚Vorerinnerung‘ des Originaldrucks: Henne/Objartel 1984, Bd. 2, S. 315 – 443. Laukhard 1798 Friedrich Christian Laukhard: Annalen […]. T. 1 (s. A. 4), S. 191 f. (Proben eines „Burschenlexikons“). – Anhang A 2. Scheitlin 1807 Peter Scheitlin: Beobachtungen und Fantasien auf einer Reise durch Sachsen und Brandenburg im Herbst 1802. Bd. 1. St. Gallen, S. 114 – 118 („Burschenlexikon“). – Anhang A 3. Goethe (1808/09?) Johann Wolfgang von Goethe: Studenten Comment. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 42. Bd. 2. Abt. Weimar 1907, S. 516. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 313. Kloß 1808 Das Idiotikon der Burschensprache des Georg Franz Burghard Kloß. o. O. [Frankfurt/M.] 1931 [Mit einem Vorwort hrsg. v. C. M. Frommel]. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 1 – 44. Wallis 1813 [Daniel Ludwig Wallis:] Gebräuchlichste Ausdrücke und Redensarten der Studenten. In: Der Göttinger Student. Oder Bemerkungen, Rathschläge und Belehrungen über Göttingen und das Studenten-Leben auf der Georgia Augusta. Göttingen, S. 140 – 181. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 47 – 96. München 1815 Fragmente eines Dictionarali accademici nebst Erklärung einiger Zeichen. In: Allemannia. Für Recht und Wahrheit. Bd. 4. o. O. [München], S. 299 f. (Beilage Nr. 3 zu dem Aufsatz ‚Etwas über Bildung und Unterricht der Jugend auf unsern Universitäten‘, ebd. S. 280 – 300). Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 97 f. Sondershausen 1822 Verzeichniß aller burschikosen Ausdrücke. In: Das Leben auf Universitäten oder Darstellung aller Sitten und Gebräuche der Studenten, ihrer Verbindungen und Comments bei Duellen u. s. w., nebst einem Verzeichniß aller burschikosen Ausdrücke und einer Auswahl der beliebtesten Burschenlieder. Sondershausen, S. 209 – 219. Reprint nebst ‚Vorwort‘ und ‚Einleitung‘: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 99 – 120. Leipzig 1825 Studentikoses Conversationslexicon oder Leben, Sitten, Einrichtungen, Verhältnisse und Redensarten der Studenten beschrieben, erklärt und alphabetisch geordnet. Leipzig. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 121 – 190. Leipzig 1831 Der flotte Bursch oder Neueste durchaus vollständige Sammlung von sämmtlichen jetzt gebräuchlichen burschicosen Redensarten und Wörtern […]. Ein Product froher Laune für
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alle Universitäten Deutschlands von C. B. von Rag—y. u. a. Leipzig. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 191 – 304. Weber 1840 Carl Julius Weber: Sämmtliche Werke. Bd, 26. Stuttgart, S. 188 – 191 (‚Idiotikon der Herren Studenten‘). – Anhang A 4. Korth 1841 Dr. Johann Georg Krünitz’s ökonomisch-technologische Encyklopädie […] fortgesetzt von […] Johann David Wilhelm Korth. 177. T. Berlin, S. 20 – 32 (Artikel ‚Studentenwörter‘). Jena 1841 Studentikoses Idiotikon oder Allgemeine deutsche Burschensprache. Herausgegeben von einem bemoosten Haupte. Jena. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 305 – 352. Bonn 1841 Burschikoses Wörterbuch oder Studentensprache. Allen deutschen Studenten, insbesondere dem jungen Zuwachs gewidmet von einem bemooßten Haupte. Bonn. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 354 – 400. Gräßli 1846 [Johannes Gräßli:] Burschicoses Wörterbuch oder: Erklärung aller im Studentenleben vorkommenden Sitten, Ausdrüke, Wörter, Redensarten und des Comments, nebst Angabe der auf allen Universitäten bestehenden Corps, ihrer Farben und der Kneipen. Ein unentbehrliches Hand- und Hilfsbuch […]. Von J. Vollmann […] Ragaz. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 4. Jena 1860 Allgemeine Deutsche Studentensprache. Herausgegeben von A. H. Zweite vermehrte Auflage [von Jena 1841]. Jena. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 401 – 456. Breslau 1862 Die deutsche Burschensprache. Ein studentikoses Hand- und Taschen-Wörterbuch. Allen fidelen Häusern von einem fidelen Hause. Breslau. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 457 – 516. Bonn 1865 Burschikoses Wörterbuch oder Studentensprache. Allen deutschen Studenten, insbesondere dem jungen Zuwachs gewidmet von einem bemoosten Haupte. Bonn. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 518 – 544. Conrad 1875 Studentisches Conversationslexicon. In: Allgemeiner Biercomment und Studentisches Conversationslexicon. Aufs neue bearbeitet von einem alten Hause Hans Conrad. Leipzig. Reprint, nebst der ‚Vorrede für Nichtstudenten‘: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 545 – 626. München 1878 Burschikoses Wörterbuch oder Studentensprache. Allen deutschen Studenten,
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insbesondere dem jungen Zuwachs gewidmet von einem bemoosten Haupte. München o. J. [1878]. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 627 – 655. Celle und Leipzig 1887 Academica juventus. Die deutschen Studenten nach Sprache und Sitte. Lexicographisch, histo- und anthropologisch dargestellt von Herodotus junior aus Halikaparnaß. Celle und Leipzig. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 657 – 749. Wien 1888 Neues Wörterbuch der Studenten-Sprache. Ein Vademecum für deutsche Studenten. Zusammengestellt von einem bemoosten Haupte. Zweite gänzlich umgearbeitete Auflage [von München 1878]. Wien. Reprint: Henne/Objartel 1984, Bd. 3, S. 751 – 780.
2 Liederbücher und -sammlungen Kindleben, Studentenlieder 1781 [Christian Wilhelm Kindleben:] Studentenlieder. Aus den hinterlassenen Papieren eines unglücklichen Philosophen Florido genannt, gesammlet und verbessert von C. W. K. Halle. Neudruck in: Studentensprache und Studentenlied (s. A. 4.). Wolke 1782 Christian Heinrich Wolke: Zweihundert und zehn Lider frölicher Geselschaft und einsamer Frölichkeit. Dessau. Niemann 1782 [August Christian Heinrich Niemann:] Akademisches Liederbuch. Erstes Bändchen. Dessau und Leipzig. (Dazu: Notenbuch zu des akademischen Liederbuchs erstem Bändchen. Altona 1783). Koehler 1791 Sammlung von Purschen- Wein- u. Commerce-Liedern, die in den Jahren meines academischen Lebens in Tübingen gebräuchlich waren. Anno 1786 bis 91. Gesammelt von F.[riedrich] A.[ugust] Koehler, Theol. Cand. Oppid. 1791 (Württembergische LB Stuttgart: Cod.poet.8° 47). Vgl. dazu Objartel 1988. – Die Lieder Nr. VI, VII und IX in Anhang B. Rüdiger 1791 [Johann Christian Christoph Rüdiger:] Auswahl guter Trinklieder, oder Töne der Freude und des Weins, beym freundschaftlichen Mahle anzustimmen. Aus den besten Dichtern gesammlet. Nebst 19 auf Noten gesetzten Melodien. Halle. (Zweites Titelblatt: Trink- oder Commersch-Lieder, beym freundschaftlichen Mahle zu singen, aus den besten Dichtern gesammlet. Nebst 19 Melodieen auf Noten gesetzt). Raufseisen [Pseud.] 1794 Akademisches Lustwäldlein; das ist: Ausbund lieblicher Burschenlieder. Gesammelt durch Herkules Raufseisen und als Manuscript für seine Freunde abgedruckt. Altdorf bey Nürnberg. Neudruck: Kopp 1918 (s. A. 4.). Rüdiger 1795 [Johann Christian Christoph Rüdiger:] Auswahl guter Trinklieder, oder Töne der Freude
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Literaturverzeichnis
und des Weins, beym freundschaftlichen Mahle anzustimmen. Aus den besten Dichtern gesammlet. Zweyte stark vermehrte Auflage. Halle. (Zweites Titelblatt wie Rüdiger 1791). (Dazu: Erster Nachtrag mit Musik, zur Auswahl guter Trinklieder […]. Halle 1795). Commersch Buch. o. O. [Halle] 1795 Taschenbuch 1797 Taschenbuch für Studenten und ihre Freunde. Halle. (S. 225 – 256: „Auswahl der beliebtesten Commersch- und Gesellschafts-Lieder der Studenten“). Commerschlieder 1810 Die neuesten und besten Commerschlieder. Ein Nachtrag [i. e. zu Rüdiger 1795]. Neue vermehrte Auflage. Halle o. J. [1810]. (Anderer Titel: Auswahl froher Gesänge bey feierlichen Ereignissen. Mit Melodien. Halle 1810). Commers Buch 1810 Allgemeines Commers Buch. Frankfurt a. M. Schwab 1815 [Gustav Schwab, Hrsg.:] Neues deutsches allgemeines Commers- und Liederbuch. Germania [Tübingen]. ADC 1858 Allgemeines Deutsches Commersbuch (Hrsg. von Hermann und Moritz Schauenburg; musikalische Leitung von Friedrich Erk und Friedrich Silcher). Lahr und Leipzig.
3 Komments E. Bauer (Hrsg.): Einst und Jetzt. Jb. Sonderheft 1967: 14 der ältesten SC-Komments vor 1820: Frankfurt/O. 1798, S. 5 – 8; Halle/S. 1799, S. 9 – 16; Erlangen 1802, S. 17 – 23; Heidelberg 1803/06, S. 24 – 49; Gießen 1806, S. 50 – 55; Marburg 1807, S. 56 – 69; Leipzig 1808, S. 70 – 81; Tübingen 1808/15, S. 82 – 104; Jena 1809, S. 105 – 120; Göttingen 1809, S. 121 – 134; Landshut 1809, S. 135 – 145; Freiburg/Br. 1818, S. 146 – 166; Rostock 1812, S. 167 – 187; Kiel 1813, S. 188 – 208. Helmstedt 1798 NSA Wolfenbüttel: 37 Alt 2598. Bl. 3 – 31 „Gesetze der Harmonisten“ (2. T., 2. Abt., Kap. 1
A Quellen
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A Beiträge zum Studentenwortschatz (1780 – 1840)
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A Beiträge zum Studentenwortschatz (1780 – 1840) 1 Traitteur, Das Purschenleben, 1780, nach der unpaginierten ‚Vorrede‘ Viducit, Schmolles, Sadonk, Flupp, Schwapp, sind eingeführte Worte ohne Sinn. Floriren, Provociren, Pereat, Freyheit, Purschenhilfe: sind theils Losungen zum Raufen, theils schon erhaltene Siege. – Philister, Manichäer, Hospes, werden alle unstudirte Bürger, Juden, und Wirthe genennet. Schnurr- Schaarwache, Häscherpack, Trott, Gewaltsbotte; sind bürgerliche Wachen. Renommist, Gewaltspursche, Pursche, Fükse, ist der Rang, damit unterscheiden sich alle Studenten nach ihrem längern Daseyn auf hohen Schulen etc. etc.
2 Laukhard, Annalen der Universität zu Schilda, T. 1, 1798, S. 191 – 193 Auch beschäftigte sich der thätige und geschickte Herr Obervorsteher [des „Kränzchens der Fidelität“, Anm.] mit Verfertigung eines Burschenlexikons, das über 6000 Burschenwörter, und unter jedem Worte eine hinlängliche Phraseologie enthielt. Es sey mir erlaubt, einige Artikel daraus anzuführen. Hund, animal notissimum. Als Schimpfwort ist es unter Burschen nicht sehr gebräuchlich. Man merke nur folgende Redensarten: Auf den Hund kommen, oder auf dem Hund seyn, bedeutet, in schlechten Umständen der Gesundheit, des Beutels u. s. w. sich befinden. Das ist kein Hund, heißt: die Sache ist vortrefflich. Das Mädel ist kein Hund, soll sagen: es ist ein sehr schönes Mädchen. Ochs, animal satis notum. Von daher stammt ochsig, oder sehr, außerordentlich, z. B. Ich freue mich ganz ochsig; es ist ochsig kalt. Der Karl ist gelehrt ganz ochsig. Luder, animalis cadaver. In der Burschensprache heißt es: 1) Ein Pferd z. B. was für ‚n Luder reutest du heute? 2) Fleisch z. B. Ich esse lieber Schweineluder als Schafluder. 3) Eine Hure, z. B. höre du: es sind drey frische Luder bey der Gevatterin angekommen. Luderös heißt sehr, stark. Kerl du hast dich ja ganz Luderös in Wichs geworfen, das ist: du bist prächtig gekleidet. Niederträchtig significat proprie mores turpes et abjectos. Bey den Burschen heißt es so viel als gar sehr. Z. B. Es ist ganz niederträchtig warm: Oberon ist doch ein niederträchtig schön Ding. Muse nomen Dearum Pieridum. Bey den Burschen bedeutet Muse: 1) Einen Studenten, 2) Ein Pferd. –
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Dieses mag zur Probe genug seyn, zumal da wir schon von mehrern Universitäten dergleichen Onomastika und Idiotika haben, worunter vielleicht das des Magisters Kindleben, wegen der Zotologischen Artikel, den Vorzug verdient. Daß aber auch Herr Simon die zotologischen Wörter und Phrasen nicht ausgelasen habe, läßt sich schon daraus abnehmen, daß eben diese gleichsam die Quintessenz der Burschensprache ausmachen. Am Ende des Werkes waren Gespräche in diesem Dialekt angehängt, welche gar artig und erbaulich sich lesen ließen, wie man leicht denken kann.
3 Scheitlin, Beobachtungen und Fantasien, Bd. 1, 1807, S. 114 – 120 O sollte also der Geist, der auf Universitäten herrscht, uns nicht wichtig seyn? sollte uns nicht alles interessiren, was auf Studiosen sich bezieht, das Gute und Böse und sogenante Indifferente? Wohlan, laßt uns eine halbe Stunde der Betrachtung des Geistes der Studenten in Jena widmen. Jedoch, vom guten Geiste wird hier nicht gesprochen, […] von dem Geiste nur ist hier die Rede, der sich selbst in der Studentensprache ausspricht, vom tadelhaften Raufgeiste hernach besonders. Wir wählen jedoch nur die höflichsten Ausdrüke aus dem oft freylich ziemlich sittenlosen Burschenlexikon. Fidel und flott bedeutet: heiter, lustig auf Studentenart, ein flotter Bursche ist gerade das, was wir im bürgerlichen Leben einen erzliederlichen Schlingel nennen, jedoch unter den fidelen Studenten ein wahrer Ehrentitel. Filister bedeutet dreyerley: Erstens das, was in einer nicht ausgerauchten Pfeife zurükbleibt, Zweytens des Bürgers Reitgaul, und Drittens den Bürger selbst; dieß leztere deßwegen: die Studenten sehn sich selbst an als das Völklein Israel in der Filister Hände. Holz in der Bank haben: das benöthigte Geld haben. Auf den Strümpfen seyn: viel Geld haben. Kalte Füße haben: an Geld Mangel leiden. Auf den Wind gepfropft seyn: nichts mehr haben. Die Hausmägde und Aufwärterinnen nennt man Besen. Die Bürgersmädchen: Minken. Die Mädchen aus den höhern Ständen: Floren. Pumpen heißt: borgen. Mein Filister hat mir einen Pump aufgethan, heißt: der Bürger, bey dem ich zur Miethe wohne, hat mir angefangen zu borgen oder will mir borgen. Und ein Bürger kann sich auf keine Weise besser bey den Studenten empfehlen, als wenn er rechts und links ohne Unterlaß aus seinem Beutel oder auch aus seinem Waarenlager pumpt; sein Pumpen macht die Bursche wieder flott, er selbst jedoch wird bald genug auf einer Sandbank sizen, da sicherlich
A Beiträge zum Studentenwortschatz (1780 – 1840)
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mancher seiner Debitoren am Ende per geht oder exkneift, das heißt: bey Nacht und Nebel sich aus dem Staube macht. Zwar ergözt ein wakrer Pump die Bursche außerordentlich, dennoch bezeichnen sie die Kreditoren mit einem Kezernamen: Manichäer, und thun sich stets ein rechtes bene darauf, sie für ihr Prellen zu betrügen. Sich aus dem Staube machen wird denn auch noch durch: sich drehen [wohl fälschlich statt: sich drücken, Anm.], ausgedrükt. Im Wix seyn, was: schön gekleidet seyn; aufwixen, so viel als auftischen; wixen, sein Ehrenwort geben; verwixen, sein Ehrenwort brechen. Die Studentenwächter heißen Schnurren, die Handwerksbursche Knoten, die Kaufmanns- oder Ladendiener Ladenschwengel, weil sie, wie die Schwengel in den Gloken, keine eigne Thatkraft haben, selten durch eignen Willen, sondern fast allemal durch die Stimme oder den sicherer würkenden Stok ihres Patrons in Bewegung gesezt werden. Kanonen sind Stiefel, so genannt, weil sie so groß und plump und steif wie Kanonen sind. Sie reichen beynahe bis an den Leib hinauf, an diese befestigt man klirrende Pfundsporren; man nennt sie so theils wegen ihres gewaltigen Gewichtes, theils weil sie von flotten Reutern den Filistern beynahe nach dem Pfund in die Gedärme eingerannt werden, daß in dem Bauch des Gaules die Sporren aneinander schlagen und hängen bleiben. Er hat Manschetten, heißt: er fürchtet sich; ein Manschettarius ist ein Hasenfuß. Bursche lassen die Studenten auf allen Universitäten sich betiteln. Der Name Studenten hat einen verdrießlichen Nebenbegriff. Jeder Bursche heißt im ersten Halbjahre Fuchs oder Goldfuchs, von wegen der Goldpfennige, die jedes Söhnchen von der Muter beym herben Schmerz der Trennung in die Tasche kriegt und auf die Universität mitbringt; im zweyten Halbjahre ist er Brandfuchs oder Brander, das zweyte Jahr durch: Bursche im besondern Sinne, im dritten Jahre alter Bursche, im vierten ein alter Herr, im fünften ein moosiger Kandidat, das ist das non plus ultra der Studentenstufen; freylich je länger man noch ausharrt, um desto bemooster wird man auch, gleich einem alten Kirchthurm. Alle Geseze der Studenten unter sich, ihre Gebräuche, Gewohnheiten, z. B. bey Rebellionen, Schlägereyen, bey Kommerschen oder Trinkgelagen u. s. w.; mit Einem Worte: das Wie es unter ihnen gehalten werden soll, wird mit dem Ausdruk: Comment, Burschenkomment bezeichnet. Das Burschenwie ist also ein ungedrukter immaginärer Kodex der Studentenrechte und Gebräuche, und sicher wird in dem bürgerlichen Leben keinem Kodex und Gesezbuch so gerne und so strenge nachgelebt. Hiemit sey auch die Probe aus dem Studentenlexikon beendigt, nur Weniges noch vom Karakter der Jenenserbursche. Sie rechnen es sich hoch zur Ehre an, daß Jena des Burschenkomments Centrum sey, und Rohheit zeichnet Jena vor vielen, wo
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nicht allen andern Universitäten aus; zur Ehre sey es jedoch ihnen nachgesagt, daß die Jenenser muthvoll und gerade dem Freunde und dem Feinde die Stirne zeigen, und – jedoch dieß nicht zur Ehre, nirgends schlägt man sich so häufig. […] Ja, ziemlich wild geht’s noch in Jena her, die Studenten sind hier Könige und stark durch Einen Geist und Einen Willen, beynahe völlig frey […]. Auf jede Schlägerey z. B. folgt dem Geseze nach die Verbannung von der Universität oder die Relegation, doch, während meines Hierseyns schlugen sich die zwey russischen Landsmannschaften Kurland und Liefland mit einander […]. Doch, man begnadigte sie alle und strafte […] nicht um Geld, nicht mit dem Studentengefängniß oder dem Karzer. Nicht lange hernach, so hielten vier deutsche Landsmannschaften ein großes Trinkgelag, Kommersch genannt […]. Da wagte es ein halbbetrunkner Fuchs einen allgemeinen Schmollis, das heißt verdolmetscht: allgemeine Duzkammeradschaft auszurufen […]. Die Folge dieses Streites war: die vier Landsmannschaften, jede etwa dreyßig Mann stark, schlugen sich Mann für Mann.
4 Weber, Democritos, 1840, S. 188 – 190 Hier spielt auch das komische Idioticon der Herren Studenten seine Rolle, das, Gott sey gedankt! sehr abgekürzt, wenigstens nicht erweitert worden ist; es sind doch die zotigen Artikel ausgefallen. Auf dem Hunde seyn heißt sich in schlechten Umständen befinden, niederträchtig oder liederlich ist ein Superlativ für gar sehr, und was sich am ehesten hören läßt, eine feile Dirne – Luder. Avantage, Desavantage, Comment, Commerce, Couche, Recouche, Contrecouche sind mehr Gebräuche, als Worte, ächtdeutsch aber Versch…, ankeilen, kaufen, verkeilen, verkaufen, und Manichäer, die Gläubiger, die mahnen. – Im Wix seyn und aufwixen, gut gekleidet seyn und auftischen, schießen, stehlen, und schwänzen, fortgehen ohne Zahlung. Ein flotter fideler Kerl ist das, was in gemeiner Sprache Bruder Liederlich heißt, und Bursche kommt nicht von voller Börse, sondern a contrario zu verstehen! daher wird gepumpt, d. h. geborgt, und dann sich skißirt oder gedrückt; fort! fort! ist er. Fleißige Studenten heißen Stubensitzer und waren so verachtet als die Schißer, d. h. die bessere Gesellschaften besuchten als die studentischen, oder die Hospitia, d. h. Saufgelage. So war es noch in den 1770 – 80er Jahren, und die Menschen, die verächtlich Knoten heißen, d. h. Handwerksbursche, waren hundertmal besser als diese Herren Bursche! Ein tüchtiger ächter Bursche sagte nie Ja – ein „es versteht sich“ war schon höflich – sondern schnurrte „Natur.“ Nein aber wurde durch Sakerment! oder Donnerwetter! schmetternd ausgedrückt, aber selbst die Burschenwelt verfeinerte sich mit dem neunzehnten Jahrhundert, man sprach nicht mehr von Commerciren, sondern mit einem gewissen Air deutsch vom Saufen, vom Ansaufen, jedoch auch vom Anstudiren, man sprach nicht mehr von durchprügeln, sondern von holzen, und recht ungalant verwandelten sie die Mädchen in Besen,
B Studentenlieder nach F. A. Koehlers Liederhandschrift (1791)
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und theilten sie in drei Klassen: Florbesen, die höhere Klassen, Kehrbesen die dienende, und öffentliche Dirnen Saubesen, mit denen sie aber gerade am meisten sich abgaben. Jeder, der in keiner Verbindung stand, hieß Renonce, der Eingeborne Quark, der Nachbar Kümmeltürk, der Ankömmling Goldfuchs, der nach einem halben Jahr Brander war, wenn er den alten Rektor recht oft herausgegeben d. h. vomirt und recht viele Smollis mit den alten Burschen getrunken hatte, die bemooste Herren hießen. Jeder war honorisch, der nicht im Vers….. war, dummer Junge die höchste Verbalinjurie, man mußte fordern, und sich durch eine Ohrfeige in Avantage setzen, die Hetzpeitsche setzte dann aber den andern in Desavantage, die man aber noch in dritter Instanz superlative abwenden konnte, wenn man ins Gesicht spuckte, oder den Nachttopf über den Kopf ausleerte! So stand es mit dem Point d‘honneur der Burschenwelt, die schwerlich je ganz aussterben kann in der – komischen Welt! In das Wort rasend waren die Herren recht ominös ganz rasend verliebt, das Wetter war rasend schön, man erzeigte ihnen rasend viel Ehre, ihr Geld nahm rasend ab, diejenigen ausgenommen, die von rasendem Fleiße waren, und rasend im Zimmer saßen. In ihrer in der That oft komischguten Sprache hieß der Pedell Pudel, das Reitpferd Muse, und die Kupplerin Commerzienräthin, faul hieß pomadig, Unglück Pech, Glück Schwein, schlecht unhonorisch, und statt zu sagen „das versteht sich von selbst“ sagten sie: „das läßt sich auf dem A…. abklavieren!“ Wer Lust hat, sich noch gründlicher in das komische Idioticon einzustudiren, der lese die Bemerkungen eines Akademikers über Halle ib. 1795. 8. Wie mancher, der dasselbe in succum et sanguinem vertirt, und selbst vom Minister nur als von einem Kerl, Knochen von Philister, ohne alle Fidelität gesprochen hatte, mag große Augen machen, wenn er nach drei Jährchen trotz aller Krümmlinge, von dessen Kammerdiener – abgewiesen wird?
B Studentenlieder nach F. A. Koehlers Liederhandschrift (1791) VI Landes Vater! Tutti. Brüder lärmet! Sauft und schwärmet! Nur vermeidet Zank und Streit; Laßt die Blitz-Philister lachen, Laßt sie saure Miene machen, Nur zum saufen seyd bereit!
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Gram und Sorgen Spart auf Morgen Werft den ganzen Plunder hin, Blitz Philister, Lumpenhunde! Paket euch zu dieser Stunde! Wo wir Bursche lustig sind! Solo. Wilhelmine! Meine Schöne! Sey bey jedem Kampf und Schmaus; Vivat! wer sie – veneriret, Pereat! wer sie – touchiret; Pereat zu Staub und Graus!! Solo. Landes Vater, Schutz und Rather, Es lebe N. mein – hoch! N. mein – der soll leben, Und mein Mädchen hoch darneben, Er für alle, sie für mich! oder: Ausbund, auserles’ner Prinzen, Herr von -s Provinzen, Macht und Hoheit kröne dich! oder: Wirst du einen Dienst mir geben, Laß ich dich noch höher leben, Bey dem edlen Rebensaft! oder: Nimmst du uns die Schnurren wieder, Singen wir dir frohe Lieder, Danken dir beym teutschen Wein!
B Studentenlieder nach F. A. Koehlers Liederhandschrift (1791)
oder: Herr du bist gerecht und weise, Knick’ die Knoten wie die Läuse, Denn die Flögel sind zu grob! oder: Herr, du bist ein Burschen Retter, Schlag mit tausend Donner-Wetter, Die verfluchten Schnurren tod! oder: Herr, du hast so viele Gulden, Komm und zahle meine Schulden, Daß ich neue machen kann! oder: Herr, du hast so viele Thaler, Sey auch meiner Schulden-Zahler, Daß ich wieder pumpsen kann! oder: Herr, du bist von großer Güte, Komm und schaff’ uns neue Hüte, Denn die alten sind durchbohrt! oder: Herr, damit mich nichts mehr irre, Mach mein Mädchen mir recht kirre! Dann erst kann ich ganz mich freu’n. oder: Herr, du bist von großen Gnaden, Komm und schaff uns neue Waden, Denn die alten sind verhurt! oder: Herr du kriegest mit Panduren, Komm und schaff’ uns neue Huren, Denn die alten sind verfuchst!
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Tutti. Landes Väter Schutz und Räther, Es leben unsre Fürsten hoch! Unsre Fürsten sollen leben, Unsre Mädchen auch darneben! Sie für alle, sie für uns!! [General Schmollis.]
VII Beym Hut absingen. [Die Hüte werden in den Degen von jedem geschlagen wenn er die 3. erste Zeilen der Strophe Landes Vater p. p. gesungen hat und sie der Chor repetirt. Beym Ausziehen muß der anfangen der zunächst an dem sitzt, der den Hut zuletzt eingeschlagen, damit dann der Degen zurückwandle biß zu dem, dessen Hut der unterste ist.] Solo. Ri – Ra! – Rum! Will dir den Hut aufsetzen, Und mich daran ergötzen, Es lebe Bruder N. N. hoch! Ein Hundsvott, der ihn schimpfen soll! So lange wir ihn kennen, Woll’n wir ihn Bruder nennen, Es lebe Bruder N. N. hoch! Tutti. Ein Hundsvott der ihn p. p. p. Oder: Wir alle feyren diesen Wunsch; Als ächte teutsche Zecher, Beym vaterländschen Becher, Es lebe Bruder N. N. hoch!!! (das der Chor auch repet.) Tutti. Es leben wahre Freunde hoch! Sasa! –
B Studentenlieder nach F. A. Koehlers Liederhandschrift (1791)
Drum lebe auch mein Mädchen hoch! Sasa! – Auf Brüder trinkt, Der Becher blinkt Biß euch des Lebens Abend winkt, Sasa, Sasa, Sasa! Oder: Auf poculirt und commercirt. Biß euch der Minner ins Carzer führt, Sasa, Sasa, Sasa! Oder: Auf! Brüder, auf! Auf! auf! und sauft Biß euch der T… die Haar ausrauft Sasa! Sasa! Sasa! Oder: Auf Brüder stecht Die Mädels recht So lang’ biß ihr die Route zerbrecht, Sasa! Sasa! Sasa!
IX Das Purschen Leben. Solo. Die Gläser sind nun alle leer, (Chor repet.) Die Krüge aber voll, Fallera. Drum reicht mir jetzt ein frisches her, Ich trinks auf euer Wohl! Tutti. Falleri, Fallera, Du trinkst’s auf unser Wohl!
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Der Bursch von altem Schrot und Korn, Glüht voll von Edelmuth, Am schweren Stiefel klirrt der Sporn, Die Feder strotzt am Hut. Als Bursche führt er stets bey sich, Den Schmuk woran ihm gnügt, Den Hieber der sich fürchterlich An seiner Seite wiegt. Was kümmert’s ihn, wenn auch ein Loch Den Ellenbogen zeigt, Man kennt den teutschen Burschen doch, Vor dem sich alles neigt! Er höhnt Senat, Magnificum Und Rector ins Gesicht; Was kümmert ihn’s Consilium! Das beugt den Burschen nicht. Wenn gleich der Donner oben rollt, Und Erd’ und Himmel kracht, Hatt nur der Bursche Wein und Gold, So ist er froh und lacht! In seinen Adern fließet leicht Und ungehemmt sein Blut; Er hasset, was im finstern schleicht, Ist feind der Lügen-Brut. Wer sah es jemahls, daß er wich? Wer sah ihn jemals feig? Die Schande nähm’ er nicht auf sich, Nicht um ein Königreich. Wenn ihm in einer Luna Nacht Ein rasches Mädchen winkt, Dann wird ein teutscher Bursch gemacht, Der wie sein Vater trinkt!
C Comment nach dem Statutenbuch der Helmstedter ‚Harmonisten‘
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Drum lebe jeder teutsche Mann! Der wie er denkt, auch spricht, Wer je auf Trug und Bosheit sann, Verlösche wie ein Licht! Will endlich der Philister-Hauf Das lang geborgte Geld, Sitzt er bey Nacht und Nebel auf Und reut’ ins freye Feld!
C Comment nach dem Statutenbuch der Helmstedter ‚Harmonisten‘ (1798), T. 2, Bl. 22 – 24, 27 – 29. Zweyte Abtheilung Vom Verhalten der Harmonisten gegen Exharmonisten, oder überhaupt vom Comment
Caput I. Von den Beleidigungen §.1. Bey Beleidigungen, die Harmonisten und Exharmonisten betreffen, haben die verbundenen Brüder ganz anders zu verfahren, wie bey denen die blos unter letzteren vorfallen. §.2. Sie zerfallen, wie schon oben in Abth. 1. bemerkt worden, in zwey Arten, nämlich in wörtliche und thätliche. §.3. Zu den wörtlichen Beleidigungen gehören vorzüglich die Ausdrücke, dummer Junge, Hundsfott, dumm, sonderbar und dergleichen mehr. Es müssen diese Worte von einem Burschen nie anders gehört werden, als wenn er wirklich die Absicht hat, einen andern damit zu beleidigen. Die Worte dummer Junge, Hundsfott und dumm dürfen daher niemals unbemerkt bleiben; sondern es erfordert die Ehre eines jeden rechtlichen Burschen, einen solchen, der sich dergleichen Ausdrücke bedient hat, entweder selbst darüber zur Rede zu stellen, oder ihn coramiren zu
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lassen. Bey Gebrauch des Wortes sonderbar, ist immer auf Absicht und Umstände Rücksicht zu nehmen. §.4. Wörtliche Beleidigungen können mit Bewilligung beyder Theile in Güte beygelegt werden. Thätige Beleidigungen, die im Rausch geschehen, können gleichfalls zwischen Harmonisten und Exharmonisten mit Bewilligung beyder Theile noch in Güte beygelegt werden. §.5. Thätliche Beleidigungen, die in nüchternem Muthe geschehen sind, können auf keine Art und Weise in Güte beygelegt werden, sondern sind blos mit dem Schwerdt auszumachen. §.6. Ist nun ein Harmonist von einem Exharmonisten und umgekehrt ein Exharmonist von einem Harmonisten beleidigt, so ist es Pflicht für den Harmonisten solches dem Senior oder Secretair auf der Stelle anzuzeigen, und ist der beleidigte Theil, mit der erlaubten Zurücknahme zufrieden, seinen Gegner durch einen Chargirten coramiren, und die Beleidigung zurücknehmen zu lassen. §.7. Versteht sich der beleidigende Theil nicht zur Beylegung des Streites durch die Zurücknahme seiner Beleidigung, oder ist der beleidigte Theil damit nicht zufrieden, oder ist es sonst dabey zu Thätigkeiten gekommen, die kein Zurücknehmen der Beleidigung verstatten; so läßt der Beleidigte (der in avantage ist) den Beleidigenden (der in desavantage ist) wenn er ein Harmonist ist, durch einen Chargirten fodern, und ihm durch diesen, Zeit und Ort bestimmen, wo sie sich schlagen wollen.
Zweytes Kapitel Von der Avantage §.1. Die Avantagen zerfallen in 3 Arten 1.) der dumme Junge, Hundsfott u. s. w. 2.) die Ohrfeige und 3.) die Hetzpeitsche
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§.2. Fühlt sich ein Bursch von einem andern stark beleidigt, und traut er diesem nicht hinlänglichen Muth, hinlängliche Verschwiegenheit und Burschenehre genug zu, um sich zu schlagen, so kann er sich in avantage setzen, d. h. im ersten Falle, er setzt dadurch, daß er jenem einen dummen Jungen oder Hundsfott giebt, in die Stelle des Beleidigenden, und bringt jenen an die Reihe ihn zu fodern. Alles weitere Schimpfen des Beleidigten ist Verstoß wider den Comment und setzt ihn übrigens nicht avantage. §.3. Hat nun ein Bursch von einem andern einen dummen Jungen erhalten, so kann sich ersterer in Zeit von 3 Tagen (als welche Zeit der höchste Termin ist) sich in avantage zu setzen, oder wo das nicht ist, sich zu schlagen, dadurch, daß er den Beleidigenden eine Ohrfeige giebt wiederum in avantage zu setzen. Anmerkung 1. ad §.3. Auf das bloße Anbieten der Ohrfeigen ist nicht Rücksicht zu nehmen; sondern es muß sich jeder thätig beweisen, um sich in avantage zu setzen. – Alles weitere Schlagen dessen, der die Ohrfeige erhalten hat, ist Comment widrig, und hilft zu nichts als sich in übles renomée zu bringen. Anmerkung 2. ad §.3. Das bloße Schupsen auf der Straße, oder sonstwo, es geschehe nun absichtlich, oder nicht, darf nicht als avantage, sondern als Anlaß zur Beleidigung, oder als die erste Beleidigung, die noch unter der des dummen Jungen ist, angesehen werden. §.4. Unter der letzten und höchsten avantage versteht man jetzt allgemein, so wie auch wir, die Hetzpeitsche. Sie ist das non plus ultra, und darf nur im höchsten Nothfall angewandt werden, z. B. bey solchen, die nahe an den Verschiß, oder wohl gar schon in dem Verschiß sind; so wie denn auch bey unsichern Subjekten, die sich durch Ohrfeigen in avantage gesetzt haben, und von denen wir vermuthen, daß wenn wir von ihnen Satisfaction verlangen, sie uns solche bey dem Prorector zu verschaffen suchen.
Drittes Kapitel Von dem Duell. […]
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Viertes Kapitel Vom Verschiß. §.1. Den Verschiß hat, wie schon oben in Abth. I. bemerkt worden, besonders derjenige verwirkt, der Beleidigungen in der bis zum Duell festgesetzten Zwischenzeit von 3 Tagen, unbemerkt und ungeahndet läßt; der einen andern Burschen niedrig hintergeht oder gar bestiehlt, der petzt, vorzüglich aber, wer sein gegebenes Ehrenwort bricht. §.2. Der Verschiß eines Burschen ist derjenige schreckliche Zustand, worinn er als Student aus allen Burschenverhältnissen herausgerissen wird. Es darf sich zu dem Ende, ein verschissener Student, in keiner öffentlichen Studentengesellschaft (ausgenommen die Collegia), es sey bey Commerschen, auf öffentlichen Wirthshäußern u. s. w. sehen lassen. Es erfordert die Ehre eines jeden braven Burschen, einen solchen, der sich erdreistet in dergleichen Gesellschaften zu kommen, ohne weitere Umstände herauszuwerfen. Kein Student darf mit einem solchen sprechen, oder wohl gar Umgang haben, letzteres zieht ihm ebenfalls den Verschiß zu. §.3. Kein Student darf einem Verschißnen Satisfaction geben, letzterer kann ihn nicht beleidigen, glaubt er sich aber wirklich von ihm beleidigt, so zeige er es in jedem Fall, wenn er ein Harmonist ist, dem Senior an, dieser hat alsdann weitere Verfügungen zu treffen, und solche mit der Hetzpeitsche, als der höchsten avantage zur Ruhe bringen. §.4. Wer petzt, d. h. bey dem akademischen Senat Hülfe sucht, um sich durch dieses Mittel gegen Angriffe zu sichern, hat ohne weiteres Bedenken, den strengsten Verschiß verwirkt. §.5. Wer sich nicht schlagen will, oder die zum Schlagen bestimmte Zeit, wissentlich vorbeystreichen läßt, hat den Verschiß zu erwarten. §.6. In Absicht des Ehrenworts gilt auch hier, was in der ersten Abth. davon angemerkt ist. Die Vernachlässigung desselben wird unmittelbar mit Verschiß bestraft.
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§.7. Wird einem Harmonisten von einem Exharmonisten etwas auf sein Ehrenwort anvertraut, das das allgemeine Interesse betrifft, oder das selbst nur einige Exharmonisten betrifft und angeht, und auf den Comment Bezug hat, oder mit einem Wort, was die Harmonie wissen muß, z. B. ein Duell u. s. w., so muß dieser Harmonist seine Ehre im Nahmen der ganzen Harmonie verpfänden, und keinen Anstand nehmen, solches der Harmonie zu entdecken. §.8. Noch ist des Verschisses bey Commerschen zu gedenken. Jeder Praeses kann bey vorgefallenen Fehlern im Singen, oder sonstigen Unordnungen nach Gutdünken so und so viel Gläser Verschiß oder pro poena dictiren, welchem sich jedes Subjekt zu unterwerfen hat, wofern er den Verschiß nicht beybehalten will. §.9. Ein Philister, er mag Hauswirth, oder Pferdeverleiher, oder Caffetier, oder überhaupt Handwerksmann seyn, der einen oder mehrere Burschen schlecht und niederträchtig behandelt, kommt nach Beschaffenheit der Umstände ein halbes Jahr oder auch wohl noch länger in Verschiß. §.10. Der Verschiß der Philister erstreckt sich so weit: Kein Bursch darf einen solchen Philister auf irgend eine Art in Nahrung setzen; je nachdem er Hauswirth ist, weder bey ihm ins Haus ziehen, noch wenn er Gewerb treibt, bey ihm arbeiten lassen, Pferde von einem solchen leihen; so wie auch kein öffentlich verschissenes Haus besuchen. §.11. Was das von der Akademie gegebene Edikt wider den Verschiß anbetrifft, so ist solches der Ausführung dieses Gesetzes gar nicht im Wege. Wird jemand von der Harmonie in Verschiß gebracht, es mag dieser ein Bursch, oder Philister seyn, so wird solches, nachdem es vorher im Convent von sämmtlichen Harmonisten beschlossen ist, durch diese den Exharmonisten auf alle mögliche Art kund und zu Wissen gethan. §.12 Exharmonisten dürfen für sich keinen in Verschiß bringen, es muß dieses mit Bewilligung und Übereinstimmung sämmtlicher Harmonie geschehen. Sollte denn der Fall eintreten, daß die Exharmonisten dieses thun wollten, und die Mehrheit der Stimmen der Harmonie setzte das Gegentheil fest, so müssen
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nothwendig die verbundenen Brüder, sey es durch Güte oder mit dem Schwerdte ihr Gutachten, und den einmal gefaßten Entschluß durchsetzen. Dieses erstreckt sich indessen nicht blos auf den Verschiß, sondern auch jedes anderweitige Dekret von Wichtigkeit.
D Studentenzettel in Ehrensachen (1785 – 1807) 1 Hermanni – Buch (Göttingen 1794; C/XCI 5; a und b auf demselben Blatt) a Da du dich gestern abend bey Felner gegen mich eines Ausdrucks bedientest, der wahrscheinlich aus Uebereilung deinem Munde entflossen, welches mich unsere bisherige Freundschaft vermuthen läßt, so kann er mir in dieser Rücksicht auch keineswegs beleidigend gewesen sey, zumalen ich dir keine Gelegenheit dazu gab. Freundschaftlichst muß ich dich indessen bitten, mir schriftlich entweder durch Ueberbringerin, oder doch bald (nicht zu meiner Satisfaction) sondern weil es den andern dabey gegenwärtig gewesenen Freunden auffallend war, die Versicherung zu geben, daß du mich nicht hattest beleidigen wollen und können. Desto ehender hoffe ich dieses von dir, da es gewis keine Schande ist,wenn Freunde mit Freunden so verfahren. F. Hermanni pp
b N.B. Dein gestriges Betragen war einen Burschen nicht, sondern einen andren ich mag ihn nicht nennen ähnlich; – da ich aus mehr Erfahrung weis, daß du derjenige bist der über Kindereyen trotzig wird, so war ich gezwungen dir die Meinung zu sagen.
Kinder weinen, wenn ihnen was genommen wird [Buch hatte H. eine Flasche Bier ausgetrunken, Anm.] aber kein ordentlicher Kerl –. Verlangst du mehr von mir so bin ich bereit Buch
c Da du mich gestern abend also (wie ich aus deinem Billet schließe) würklich hast beleidigen wollen, so handeltest du wie ein furchtsamer dummer Junge, daß du
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dich gleich aus dem Staube machtest, und mir dadurch die Gelegenheit nahmest, dir nach Verdienst ein paar Ohrfeigen zu geben, Ich erwarte Nachricht, ob du dich dazu verstehst, mir Satisfaction dafür zu geben. Ueberbringerin dieses darfst du nur Ort und Zeit bestimmen. F. H.
2 Stackelberg – Neuburg (Göttingen 1798; C/XCV 12) a Sie werden sich hoffentlich noch wohl erinnern, wie ungesittet Sie sich heute frühe gegen mich benommen haben. Ich verlange daher, daß Sie morgen Nachmittag um drei Uhr, auf dem Zimmer des Herrn von Engelhardt, im Beysein der Herren, die mit Ihnen gingen (die Sie also mit sich bringen werden) und meiner Freunde, mich um Verzeihung bitten. C. Stackelberg wohnhaft im Spicermannschen Hause
b Bloß aus dem mir zugeschickten Billet, und aus dem Munde der mich gestern begleitenden Freunde habe ich vernommen, daß ich Sie gestern Vormittag beleydigt haben solle. Daß dieses in einem höchst betrunkenen Zustande geschehen sey, werden Sie wahrscheinlich selbst bemerkt haben; ich stehe also keinen Augenblick an, Sie wegen der, etwa von mir ausgestoßenen Worten, hiemit um Verzeihung zu bitten. Sollten Sie aber mit dieser meiner Erklärung nicht zufrieden sein, so versichere, daß ich Ihnen auf jede andere honette Art Genugthuung geben werde. Neuburg.
3 Neuburg – von Engelhard (Göttingen 1798; C/XCV 12) Ich würde nicht das mindeste Bedenken tragen Sie wegen der gestrigen, in trunkenem Muthe ausgestoßenen Schimpfreden, so wie den Herrn Stakelberg (der sich übrigens als ein gesitteter und ordentlicher Mensch gegen mich betragen hat) um Verzeihung zu bitten, wenn Sie nicht ein so pöbelhaftes Billet an mich geschrieben. Aus diesem muß ich schließen daß die von mir ausgeübten Beleydigungen gerade an den rechten Mann gekommen, und ich sehe mich deswegen genöthigt dieselben nochmals zu wiederholen. Neuburg.
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N.S. In Ansehung der von Ihnen auf die niedrigste Weise gebrauchten Ausdrücke finde ich bloß für gut zu erinnern, daß, da Sie einmal von mir beleydigt sind, keine retorsion derselben statt findet, und es wird deshalb bloß auf einen Wink von Ihnen ankommen, wo alsdann pünktlich zu erscheinen nicht ermangeln wird dero Diener G. Neuburg.
4 Hillegeist – Floeckher (Helmstedt 1785; 37 Alt 2660, Bl. 137) [Der Zettel zeigt die Handschrift Hillegeists und wurde von dreien seiner Landsleute dem Kontrahenten Floeckher vorgelegt, Anm.] Da ich mich unterfangen habe durch allerlei anstößige Bilder und Ausdrücke in dem Auditorio des Herrn Professor du Roi den Herrn Hillegeist der Rechte Beflissenen, zu kränken, und ihn noch kürzlich in obbesagtem Auditorio einen dummen Jungen zu heißen: so lasse ich mich willig finden, auf das Verlangen des Herrn Hillegeist, und seiner Herrn Landes Leute hiemit zu erklären, daß alle ob besagte Bildermahlerei und anzügliche Namen zur Kränkung des Herrn Hillegeist aus Einfalt und Unüberlegtheit von mir geschehen; ferner daß ich einen sehr unbesonnenen Streich begangen, indem ich den Herrn Hillegeist einen dummen Jungen hieß. Ich erkläre hiemit also feierlich, daß ich nicht im Stande war der Ehre des Herrn Hillegeist, den ich iezt für einen sehr honetten und rechtschaffenen Mann erkenne, Abbruch zu thun. Solches bescheinige hiemit durch meines Namens Unterschrift und Beisetzung meines gewöhnlichen Pettschaftes. Helmstedt den 12ten Jul. 1785 [Unterschrift und Siegel Floeckhers fehlen, Anm.]
5 Anschlag am Schwarzen Brett (Helmstedt 1807; 37 Alt 2598, Bl. 36. Der Prorektor vermutet den „Konstantisten-Orden“ als Urheber) Allen hiesigen rechtlichen von wahrem Ehrgefühle beseelten Studiosen wird hierdurch oeffentlich bekannt gemacht, dass der Studiosus Juris Drebing wegen seines feigen niederträchtigen Betragens hierdurch förmlich in Verschiss erklärt wird; und ein jeder anderer Studiosus wird wohlmeinend gewarnt sich vor seinem Umgange auf immer zu hüten wenn er nicht mit ihm ein gleiches Schicksal haben will. In consilio omnium decretum.
Register (Wörter, Sachen und Personen in Auswahl)
Abbitte 160, 198ff. Abbitte 199f. abklavieren s. Arsch Abkürzung 121, 225 Abschiedskommers 46, 96, 105 Abschiedssatz 116, 120 Abschiedssegen 95f. abstechen 80 Adelung, J. C. 24f., 266f. ad locum 57 ad patres reisen 250 Adressierung 79, 91 Affaire 192 Akademiker 229 Akademikerjargon 228 Aktiver 224 Alltagspragmatik 159 Alte, der 65 Alterssprache 21 Altherrenverband 227, 230 Amicisten 19, 26, 102 amitié. Bon – trinken 171 A bon – 101 anbinden mit jdm. 205 Anfrage 159 anführen 60 ankeilen 68, 292 anpumpen 60 Anrede 52f. 229 Anredeform 97, 233f. ansaufen 292 anscheißen 60, 248 Anschiss 167, 223 anschmieren 60 anstoßen 78, 86 anstudieren 292 antiburschius 65 Antiduellbewegung 146, 207f. Antrittskommers 234 anwachsen 252 Arndt, E. M. 223
Arsch. Das läßt sich auf dem – abklavieren 293 Attribut, semiotisches 217 Auditorium 306 auftun s. Pump Aufwärterin 248 aufwichsen 240, 291 aufziehen 182 Ausdrucksverkürzung 119 ausfordern 152 Ausforderungsbrief 168 auskneifen 236 ausspeien 164 Aussprache 123 ausstoßen 97 Avantage 162, 203, 206, 248 sich in – setzen 293, 300f. Avantage 163ff., 189, 203 Barbarismus 24 Barbarolexis 56 Bedeutungsentwicklung 61, 116ff., 206, 228f. Beleidigungswortschatz 163 bemoost 291 bene tun, sich 61 sich ein Bene (auf etw.) tun 61, 291 Besen 290 Besenschlittenfahrt 121 Bespitzelung 166 Bestimmungsmensur 146 Bezugsgruppe 178 Bibelhusar 178 Bibelton 227 Bi(e)n 236 bienvoll 236 Bierbaum, O. J. 215 Bierduell 121 Bierkomment 124, 164, 226, 231 Biername 258 Biertouche 164 Bierzeitung 221
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Register
Bild-Text-Memorabilie 114 Bildungsjargon 123, 238 bip 236 Blitzphilister 293f. Brander 94, 178, 291, 293 Brandfuchs 291 Brenner 112, 249 Bretzner, C. F. 99 Brockenruck 118 Bruder 97 – Studio 178 Herr – 97, 101, 174 Bruderbund 101f. Bruderkuss 100 Bruderkuss 97ff., 174 Brüderschaft 98ff., 156 Brüderschaft 100, 186 Büchsier 224 Bürger, G. A. 38 Bürgersprache 263 Bürokratisierung 223 Bursch(e) 178, 289, 291f., 297f. alter – 156, 291 junger – 15 Burschenehre 301 Burschenehre 29 Burschenfeind 65 Burschenfreiheit 29 Burschenfreund 77 Burschengeist 70 Burschengemeinde 94 Burschenhasser 65 Burschenhilfe 289 Burschenkasse 40 Burschenkomment 150f., 207, 267, 289, 291 Burschenleben 10, 52f., 154, 297 Burschenlexikon 289f. Burschenlied 41, 54 Bursch(en)manier 192, 198, 203 Burschenschaft 219 Burschenschaft 9f., 32, 138, 159, 161, 180, 208, 214f., 220ff., 254 Burschenschafter, alter 224 Burschenschaftsphilister 224 Burschensprache 1, 290 Burschenstand 53 Burschenton 23, 31
Burschenwort 289 Burschenzeit 19, 69 burschikos 11, 23, 268 Burschikosität 23, 70 Bürstung 118 C s. auch K Campe, J. H. 223, 266f. Campusslang 212 Cerevisiologie 123 Cerevisname 258 Charge 225 Chargierter 300 Charmante 80, 87, 175 Chiffre 27, 186 Cicisbeo 248 Claudius, M. 39 Collegium s. Kollegium Comment s. Komment Commercium 84 Compagnie 84, 87 Concordienorden 186 Consilium 123, 298 Contrecouche 292 Corps s. Korps Corpsier 224 Corvin, O. v. 196 couche 167, 292 Couleurstudent 230 Curio, J. C. D. 188ff. Curl-Murl-Puff 247 Damm. auf dem – sein 236 Dämmerfürst 252f. dämmern 252f. Deckname 27 Degentragen 262 Deklination 171ff. deklinieren 172 Denunziation 150, 170 deponieren 177 Deprekation 155, 202 Deprekation 160, 199 deprezieren 202 Desavantage 164, 292, 300 Deutung, maximalisierende 187, 191f. Dialekt 58, 122, 268
Register
Dialogizität 114, 131 dicke 120 Donnerwetter! 292 Drastikum 11 Dreierformel 84f. drücken, sich 252, 292 Duell 136, 248, 301 Duell 145, 205 Duellforderung 165, 188, 198, 200ff. Duellort 136 Duellsucht 208 Duellverweigerung 204 Duellwesen 145, 248 Dukomment 265 dumm s. a. Junge 162, 168, 223, 299 durchprügeln 292 Dutzbruder 100 Dynamisierung 117 Ehre 146 Ehrenerklärung 160, 198 Ehrenerklärung 200 Ehrengenugtuung 189 Ehrengericht, studentisches 208 einweihen 177 Ellipse 57, 120, 122, 206 Entlehnung 16, 116, 206 Enttabuisierung 71 erklären, sich 135, 173 Erklärung 159 Erzfuchs 177 exkneifen 291 fabelhaft 238f. Fachrichtung 178, 215 Fachsprachlichkeit 222 Fachzugehörigkeit Fackelzug 235 Familienähnlichkeit 82 Farbenstudent 215 Fechtart 203 Fechtboden 165, 171 Fegung 118 Feix 176 fidel 68, 117f., 250, 267, 290, 292 Fidelität 107, 289, 293 Fidelité 69, 115f.
fiducit/viducit s. a. Schmolles 289 Fink(e) 178, 255 Fischer, W. G. 92, 249 Florbesen 293 Floren 290 florieren 289 Floskeln, französische 55 flott 72, 290, 292 fordern 156, 167, 300 auf Pistolen – 136, 201 Forderung 134 Formfehler 205 Förmlichkeit 156f. Französisch 55, 123, 206, 221 Frauenstudium 213 Freiheit 53 Freimaurer 37, 39 Freischmiedeorden 168 Freizeitvergnügung 109 Freund 97ff., 174 Freundschaft 97ff., 115 Freundschaftskult 41, 109, 232 Frühschoppen 236 Fuchs 177ff., 255, 289, 291 Fuchskommers 46, 223 Fuchskrassheit 121 Fuchssatz 116 Füße. kalte – haben 290 Gang 167 Gebrauchsbedingungen, textualisierte 73 Gebrauchsgeschichte 48f. Gebrauchstradition 48f. Geheimcode 27 Gelegenheitsdruck 67 gelehrt s. Herr Gelehrter, junger 167 Generalschmollis 98, 296 Gesellschaftslied 38 Gespräch, erinnertes 122f., 182ff. Gesprächsakt 135 Gesprächsbeitrag, verschütteter 135 Gesprächsnotat 139 Gesprächsorganisation 131 Gesprächsrhetorik 197 Gesprächsschritt 137 Gesprächssituation 184
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Register
Gesprächsstereotyp 19f. Gesprächswiedergabe 183ff. Gesundheit 26, 86 –, kniende 79 Gesundheittrinken 79 Gevatterin 289 Gewaltsbursch 289 Gleim, J. W. L. 38f. Gnote s. Knote Goethe, J. W. v. 16, 31, 96, 208, 252f. Goldfuchs 291, 293 Gossenrecht 203 Göttinger Hain 38, 55 Grimm, J. 1, 239, 267 Großvater 124 Gruppe 3 Außenabgrenzung 178 Binnengliederung 93f., 178, 255 Gruppenhierarchie 94, 100, 178, 181, 289, 291 Gruppenjargon 117f. Gruppensprache 3, 59, 178, 211, 213, 241 Gruß 92 Günther, J. C. 38 Gymnasiastensprache 237 Hagedorn, F. v. 38f. Händedruck 101f. Händel 171f. Handlungskonzept 74 Handlungsorganisation 152 Handlungsprogramm 75 Handlungswissen 177 Handwerksgeselle 146, 213 hänseln 177 Hardenberg, K. A. v. 177f., 180f. Harmonisten 26, 207 Haupthahn 236 Haus, altes 229 Hausbursch 178 Hebel, J. P. 194 Heil! 89f. Heine, H. 135ff. Heldenepos, komisches 19 herausfordern 203 Herausforderung 136 Hermetik 111, 121
Herr, alter 224, 229, 252, 291 –, bemooster 293 –, gelehrter 121 Hetzpeitsche 164, 293, 300f. Hieber 175, 249, 298 Hoch 85, 87f. Hoffmann, E. T. A. 97 Höflichkeitsnorm 174, 200 Hofmann, J. M. 98 Hölty, L. C. H. 38 Holz in der Bank haben 290 holzen 292 honorig/-isch 249, 293 Hospes 79f., 289 Hospitium 79, 116, 292 Hospiz 116 hudeln 177 Hund. kein – 123, 289 auf dem – sein 289, 292 auf den – kommen 289 Hundepeitsche/Hundspeitsche 134, 203 Hyperbolisierung 16, 123, 238 Illustrationen zur Studentensprache 245 Immermann, K. 147 Imponiergehabe 176, 181 Improvisation 48, 56, 67, 87 Inaktiver 224 Infamie, akademische 154, 223 Intensivierung 84 Interaktionsmodus 131, 175, 181, 184, 187, 191, 197 Interaktionsproblem 152, 203 Interdictum 204 Intonation 122, 184 Israel 290 Wohl dir, –! 54 Jäger, A. 258 Jahn, F. L. 112, 223, 251 Jakobinerei 32 Jugendliche 237 Jugendsprache 212f., 230, 237 Jugendsprachlichkeit 237 Junge, dummer 162f., 166ff., 193ff., 197, 223, 293, 299ff., 304 –, verschissner 162
Register
Jungphilister 224 Juvenilismus 228 Jux 266f. K s. auch C Kamel 235 Kandidat, moosiger 291 Kanonen 291 Karbatschen-Klatschen 114 Karikatur 133 Kartell 70, 198, 206 Kartellgesetz 207 Kartellträger 198 Karzer 250, 292, 297 Karzer 214 Kasino 116 Kasuallyrik 93 Kehrbesen 293 keilen 236 Keilsystem 256 Kennenlernen 99f., 112 Kerl 293 Kernritual 217 Kernwortschatz 264 Kindleben, C. W. 18, 37ff., 62ff., 84ff., 93ff., 98ff., 177, 256, 290 Kleingruppe 116 Kluppe 118 Knasterbart 68 Kneipe 116, 118 kneipen 116f., 236 Kneiperei 116f., 120 Kneipgast 224 Kneipname s. a. Biername, Cerevisname 233f., 236 Knigge, A. v. 23 Knochen 293 Knote/Gnote 64f., 178, 197, 291f., 295 Knotenlied 54 Kodifikation 219ff. Kollegium 84, 177, 302 Komitat 96, 120 Komment 10, 291f., 299 Komment 150f., 207, 219f. Kommentreiterei 256 kommentwidrig 301 Kommers 116, 292, 302f.
–, großer 223 –, öffentlicher 46 Kommersbuch 41, 231 kommersieren 292, 297 Kommerslied 45 Kommerslied 46 Kommerzienrätin 293 Kommunikation, nonverbale 27 Kommunikationsbereich 4, 225f., 232 Komplimentierwesen 77f., 184 Kondition 116 Konkneipant 224 Konstantisten 26f., 306 Konstellation, kommunikative 232f. konstituieren 34, 135, 206 Konstituierung 155 Konstitution 218f., 222 Kontaktgruppe 3, 237 Kontextfaktoren 132, 185 Konvent 303 Konvivium 116, 172 Konzilium 68 Kooperativität 158, 176 Koramation 155ff., 206 Koramation 156ff., 172, 199 koramieren 157, 206, 300 Körner, T. 204 Körpersprache 186 Korporationsjargon 212 Korporierungsgrad 216 Korps 109, 220, 224 Korpsbursch 224 Korpskomment 235 Korpsphilister 224 Korpsstudent, alter 224 Kortum, C. A. 21 Koteriesprache 236 krampfhaft 236, 238 Kränzchen 40, 70, 111, 289 Kränzchenzwang 234 Kränzianer 162, 164, 178 krass 248f. Kümmelruck 118 Kümmeltürk 293 Kurri-Murri 247 Ladenschwengel 65, 291
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Landesvater-Lied 41, 75, 194, 232, 293ff. Landsmann 178 Landsmannschaft 292 Landsmannschaft 10, 154, 215 Latein 54ff., 123 –, verballhorntes 57 –, makkaronisches 22, 56 Laukhard, C. F. 19, 22, 33, 99, 202, 251, 257f., 266 Lebensbund 26 Lebensform 10 Lebensform 9ff., 177 Lesart, realistische 74 Lexikalisierung 16 Lichtenberg, G. C. 248, 254 Lieblingswort 238f. liederlich 292 Liedreform 37 Lokalbindung 70 losgehen 201 Luder 289, 292 luderös 289
mogeln 249, 266 Moneten 68, 266 moosig s. Kandidat Mopsorden 168, 198, 247 Moritz, K. P. 24 Mosellaner s. a. Amicisten 168 Mucker 178 Mundart s. Dialekt Mündlichkeit s. a. Schriftlichkeit 7f., 160f., 176, 189f., 237 Muse 52, 54, 289, 293 Musenlied 41 Musenschar 52 Musensohn 52, 68, 178, 250
Magnificus 57, 77, 298 Manichäer 65f., 68, 178, 289, 291f. Mann, H. 196 Männersprache 21 Manschettarius 252, 291 Manschetten haben 291 Marktschlägerei 205 Martinsschmaus 116 Martinsstoß 116 Memorabilientext, französischer 123 Mensur 170 Mensurboden 236 Metakommunikation 186 Metaphorik 116, 235f. Metaphorisierung 16 Metonymik 116 Miller, J. M. 38, 55, 74, 96 Mimik 184 Minderjährigkeit 169 Minken 252, 290 Mischvokabular 68 Mist. auf den – gesetzt sein 69 Mitbruder 155 Modeausdruck 236
Obligation 6, 100, 203 Obszönes 58, 71f., 123, 265f. Ochse 165 ochsig 165, 289 Offiziersideale 226 Orden s. Studentenorden Ordensbruder 27, 154 Ordensmeister 26 Overbeck, C. A. 38
Natur 292 Neubedeutung 117 Neujahrskommers 46, 116 Niebergall, E. E. 97 Niederdeutsch 58, 122, 264f. niederträchtig 289, 292 Nietzsche, F. 215, 237, 239
Pallas-Sohn 52, 54 Pandektenritter 178 Parodie 39, 56, 58 Pasquill 187 Pasquill 187, 190 Pasquillant 188 Paukbuch 221 pauken, sich 206 Paukerei 236 Paukkomment 221 Paulskirchen-Parlament 32 Pech 293 Pennälersprache 230 Pennälerverbindung 252
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per gehen 252, 291 Petitmaitre 55, 65f., 178 Petitmäterei 22 petzen 266, 302 pferdemäßig 165 Pflastertreter 255 Pförtnerspritze 237 Pfundsporen 291 Philister 64ff., 178, 223, 228, 289f., 293, 303 Philisterverein 228 Phraseologismus 68 Pistolenduell 136 Pistolenduell 164, 196 Point d’honneur 293 pokulieren 297 Politisierung 235 pomadig 293 Präses 99, 303 prellen 177, 180, 291 Privatkommers 46 Profilierung, sprachliche 22, 117f. pro poena 303 Prost! 92, 122 Protokoll 220 Protokollbuch 220 Protokolliertechnik 129 Provokation 206 Provokationsbillet 200 provozieren 168, 289 Pudel 65, 293 Pump 266 jdm. einen – auftun 290 pumpen/pumpsen 290, 292, 295 pursikalisch 114 pyramidal 238
reconciliieren 189 Recouche 292 Redewiedergabe s. a. Gesprächswiedergabe 19, 122, 135, 193 Reforderung 156 Reisebericht 115 reißen. eine Negoce – 122 Rektor. den alten – herausgeben 293 Relegation 292 Relexikalisierung 16 Rencontre 182 Renommage 176 renommieren 162 Renommist 178, 289 Renonce 154, 178, 224, 293 Respektlosigkeit 72 Re-Sturz 206 Retorsion 200, 306 Retour-Chaise 162, 197 Retour-Kutsche 197 Retourkutsche 195 Revanche 172f. Revokation 159f. Revokation 160, 199 Revolution, Französische 30ff., 215 –, 48er 235 Revolutionsgedanke 141 revozieren 200, 206 Richtungskampf s. a. Antiduellbewegung 10, 26, 234f. Rindvieh 165 Ritualismus 226 Rousseau, J. J. 208 Ruck 118 Rundgesang 58, 99
Quark 293
Sackerment! 292 Salamander. – reiben 236 Sanders, D. 267 Satisfaktion 152, 154, 181f., 201, 205f., 301, 305 Satisfaktion 164 satisfaktionsfähig 154 Satisfaktionsfähigkeit 175 Satz 116, 252 Satzabbruch 122 Saubesen 293
Rabener, G. W. 79 Ramler, K. W. 39 Rasade 120 rasend 293 Räuberlied s. Schiller Raue, J. 77, 192ff. Realavantage 156, 164 Realinjurie 164 Rebmann, G. F. 22f.
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saufen 292 Sauferei 116 Saufgemeinde 94 Saufmesse 58 schassen 205 Scheffel, V. v. 221, 228, 233ff. scheinen 252 Scheißjunge 162 Scherzbildung 118 schießen 292 Schiller, F. v. 19, 72 Schisser 154, 162, 201, 292 schlagen, sich 134, 183, 201, 292, 300, 302 Schlägerei 292 Schmaus 68, 116 schmausen 68 Schmiss 259 Schmolles/-is/Smollis 62f., 92, 97ff., 117, 124, 289 allgemeiner – 292 – verwichsen 257 Schmolles! : fiducit! 97, 99 schmollieren/smollieren 63 Schmollisbruder 97 Schmollisbüchlein 100 Schniepel 178 Schnorr, H. T. L. 78 schnuppe 259, 264 Schnurre 64, 106, 178, 291, 294f. Schnurrwache 289 Schoch, J. G. 79 Schöne 87 Schreibsituation 110, 160, 184 Schriftlichkeit s. a. Mündlichkeit 7, 198 Schriftlosigkeit 198 Schüleridiom 237 schuppen/schupsen 203, 301 Schwab, G. 65 schwänzen 250, 292 Schwefelbande 204 Schwein 293 Schwulitäten 266 Seelöwe 165 Sekundant 205 Selbstgespräch 123 Semi-Oralität 8 Senior 300, 302
Seniorenkonvent 154 Simpelei 236 Singfehler 46, 303 Singgruppe 48 Singrolle s. a. Rund-, Wechselgesang 57, 67 Situationsanalyse 25 sitzen. etw. auf sich – lassen 203 Skandal 156, 206 skisieren, sich 69, 192 Soff 250 Sonderzeichen 225 Spießer 259, 264 Sprache, gesprochene 7, 121 Sprachenwechsel 56f. Sprachmode, lokale 72, 117 Sprachprofil 133 Sprachpurismus 223 Sprachritual 226 Sprachspiel 6, 12, 118 Sprachwert 23 Sprechakt 184 Sprecherbasis 269 Sprechweise 122 Stadtsprache 263 Stammbuchkupfer 110 Stammbuchsitte 105, 108, 232 Standesehre 167 Standeslied 51 Standeslob 53 Standessprache 21, 213 Stecher 252 Steigerungswort 238 Stiefelwuchs 259 Stilebene 266 Stilistik, normative 23, 266f. Stilmarker 268 Stilmerkmal 124, 268 Stilnorm 69, 119 Stoff 249 Stolberg, F. L. v. 38f. Stoß 116, 203 Stößer 175 Strich 252 Strümpfe. auf den -n sein 290 Stubenbursch 178 Stubensitzer 292 Studentenbann 204
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Studentenjunge 168 Studentenkomment 252 Studentenleben 53 Studentenorden s. a. Amicisten, Concordienorden, Harmonisten, Konstantisten, Mopsorden, Mosellaner, Unitisten 26f., 32, 109, 154, 215, 219 Studentenphilister 224 Studentensprache 1 Studententon 23 Studententypen 23, 178 studentikos 11 Studio s. a. Bruder – 122 Sturz 164, 206 stürzen 206 Stutzer 248 Subkultur 151, 207, 211 Suite 116f., 156, 206 Suitenreißerei 115 Synonymik 16, 116 Tagebuchsitte 232 Teekessel 11 Teekneipe 116 Terminologisierung 223 Textgliederung 221f. Texthandlung, dominante 119 Textsorte 202, 218ff. Textsortenrepertoire 221 theek 66, 250 Töne-Theorie 25 Touche 164 touchieren 174, 206 Trägersprache 233 Traitteur, K. T. 97, 249 Transfer, lexikalischer 235f. Treitschke, H. v. 170, 233ff. Trinkmonarchie 79 Trumpf 194 Tumult 46, 248 Übergangsritus 97, 99 Überlexikalisierung 16 Übername s. a. Kneipname 120 Umgangssprache 60, 261ff, 268 umstoßen 248 Umtriebe, demagogische 133
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unhonorisch 293 Unitisten 26f. Universitätsgericht 149, 171 urbinvoll 236 Varietät 3f., 241 Varietätenmischung 225 Variolekt 22 Verbalavantage 162, 165 Verbalinjurie 161, 223, 293 Verbindungssprache 230, 235ff., 241, 261 Verbindungszirkel 234 verbitten 167, 186 verbummelt 236 Verein 208, 219 Vereinswesen 215 Verfachsprachlichung 218, 223 verfuchst 295 verkeilen 61, 68, 292 Verknappung, syntaktische 119 vermickern 117f. Vermickerung 117f. verpetzen 70 Verruf 204 Verruf 204 Verschiebung, semantische 228 Verschiss 201, 204, 222f., 292f., 302ff. in – erklären 306 verschissen 302f. Verschissener 162, 302 Verschmelzung 122 versimpelt 236 Versimpelung 236 Verwaltungssprache, studentische 223ff. –, universitäre 221 Verweis 222 –, intertextueller 114 verwichsen/verwixen s. a. Schmolles 257, 291 vexieren 177 viducit s. fiducit Vivat 85, 88 vivat, floreat, crescat 84f. Volkskultur 189 Vollsein! 91 vorreiten 252 Voß, J. H. 38
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Wallfahrt 118 Wandervogel-Deutsch 231 Wartburgfest 227 Wechselgesang 57, 99, 101f. Wedekind, R. 248 Weichsel 117 Weichselei 117 wetzen 262 Whistkneipe 116 Wichs/Wix 266, 291f. Widerruf 159f. Widerruf 199f. widerrufen 136 Wilder 154f., 178 Wind. auf den – gepfropft sein 290 Wix s. Wichs wixen 292 Wolff, O. L. B. 258, 261 Wortbildung 16, 118, 225, 229 –, ephemere 121
–, hybride 22 Wortbildungsmuster 118 Worteinführung 223 Wortform, regionale 265 Wortkonzept 180 Wortschatz 4, 179 wühlen für etw. 235 Zachariä, J. F. W. 98 Zechgemeinde 89 Zeichensetzung 120 Zensur 38, 265 Zeremonie 98, 102 Zersingen 47 Ziegenhainer 157, 164 ziehen 162, 165 Zielperson 81f., 88, 91ff., 100 Zirkumflex 248 Zurückbürstung 118