Sport: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2020, Heft 01 [1 ed.] 9783666800320, 9783205207825, 9783205232735, 9783525800324


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Sport: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2020, Heft 01 [1 ed.]
 9783666800320, 9783205207825, 9783205232735, 9783525800324

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 1 | 2020 | ISSN 2191-995X | € 22,–

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

SPORT Anke Hilbrenner  Sport im »Jahrhundert der Lager«  Wolfram Pyta  Über Sport und Nation  Bernd Wedemeyer-Kolwe  Zeitalter der Fitness?  Deniz Ertin  Soziale Medien

als Gefahr für unsere Demokratie?  ­ aike Cotterell / Henning Vöpel  Sport und M Ökonomie

ALS KIND AUS DER HEIMAT VERTRIEBEN, ALS FUSSBALLER BEJUBELT, MIT HOLLYWOOD-STARS BEFREUNDET

Alexander Juraske | Agnes Meisinger | Peter Menasse Hans Menasse: The Austrian Boy Ein Leben zwischen Wien, London und Hollywood 2019. 180 Seiten, mit zahlreichen s/w-Abb. und einem Nachwort von Eva, Robert und Tina Menasse, gebunden

€ 23,00 D ISBN 978-3-205-20782-5 E-Book € 18,99 D | ISBN 978-3-205-23273-5 Geboren als Sohn eines jüdischen Vaters 1930 in Wien musste Hans Menasse im Alter von acht Jahren mit einem „Kindertransport“ vor der Nazi-Verfolgung nach Großbritannien flüchten. Er wuchs dort bei einer Pflegefamilie auf und fand durch den Fußballsport einen Weg zur gesellschaftlichen Integration und Anerkennung. Nach Kriegsende kehrte Hans 1947 zu seinen Eltern nach Wien zurück. Was er mitbrachte waren außerordentliche fußballerische Fähigkeiten. Als Spieler des First Vienna Football Club 1894 und der Wiener Austria stieg Hans zum gefeierten Fußballstar auf, 15 Jahre nach seiner Vertreibung debütierte er in der Nationalmannschaft. Parallel zum Sport begann er seine berufliche Karriere. Vier Jahrzehnte lang betreute er als Pressechef eines US-amerikanischen Filmverleihs Hollywood-Stars bei ihren Besuchen in Wien und freundete sich mit vielen von ihnen an. Mit einem Nachwort seiner Kinder Eva, Robert und Tina Menasse.

EDITORIAL Ξ  Matthias Micus / Luisa Rolfes Auf etwas schmerzhafte Weise ist im Vorfeld dieser Ausgabe, so scheint es uns, die Funktion der INDES auf uns zurückgeschlagen. Besteht diese doch dem Selbstverständnis der Zeitschrift zufolge darin, über den akademischen Arkandiskurs hinausgreifend die Informationsbedürfnisse der interessierten Öffentlichkeit zu adressieren und an gesellschaftlichen Debatten teilzuhaben, was unter den Rahmenbedingungen einer Vierteljahreszeitschrift zwangsläufig auf die Antizipation in nächster Zeit plausibel zu erwartender Diskussionsthemen hinausläuft. Ein solches Thema, so stand im Herbst 2019 zu erwarten, wäre in einem Jahr mit Olympischen Spielen und Fußballeuropameisterschaft der »Sport«, weshalb wir uns entschieden, dazu ein Heft zu machen. Doch dann kam die Corona-Pandemie dazwischen, auch sämtliche sportiven Großereignisse wurden mittlerweile abgesagt, sodass das Schwerpunktthema der vorliegenden INDES nun etwas anachronistisch anmuten mag. Freilich lässt sich auch Gegenteiliges behaupten – und begründen. Dabei geht es nicht so sehr darum, dass der Sport auch ohne spektakuläre Gipfeltreffen der Athletenelite ein Massenphänomen ist und schon insofern mehr als nur ephemere Bedeutung für die Gegenwartsgesellschaft besitzt. Vielmehr lässt sich die Begeisterung für den Sport mit Helmuth Plessner essenziell mit der modernen Gesellschaft und der ihr entsprechenden Sozialverfassung verbinden. Plessners Darstellung in dem Aufsatz »Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft«1 aus dem Jahr 1956 zufolge ist der Sport eine »Ausgleichsreaktion« auf die im Arbeits- und Alltagsleben unbefriedigten Bedürfnisse nach Erholung und sozialem Kontakt, Aggression und Spiel, Selbstbestätigung und Heldenverehrung. Zunächst insofern, als die Menschen in den arbeitsteiligen, mechanisierten, bürokratisierten Gesellschaften zu bloßen »Rädern in einem Getriebe« geworden seien, »das sie selbst kaum noch überblicken und in dem sie nur noch eine Teilfunktion in einer unpersönlichen Einrichtung, in hochspezialisierter Verantwortung für irgendeine Teilaufgabe« besäßen. Die Folge sei ein Leiden an der eigenen Unsichtbarkeit, an individueller Anonymität und subjektivem Untergehen in der Masse – ein Leiden, das sportliche Siege zu 1  Helmuth Plessner, Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft (1956), in: Günter Dux u. a. (Hg.), Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 2003, S. 147–166.

kurieren versprächen. Sodann böte der Sport einen Raum, in dem die Versprechen demokratischer Gesellschaften von gleichen Rechten und gleichen Lebenschancen, die hier trotz aller rechtlichen Garantien durch die wirkungsmächtigen Effekte sozialer Herkunft, ethnischer Abstammung und

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geschlechtlicher Zugehörigkeit weithin und in den letzten Jahrzehnten wieder zunehmend konterkariert werden, eingelöst würden. Denn nur hier, im Sport, finde der »entwurzelte Städter, vereinsamt und den anonymen Institutionen ausgeliefert«, eine »echte Kameradschaft« und einen »Kreis, der ihn achtet und auf ihn zählt, dem er etwas bedeutet, und zwar durch die Qualitäten, die im Alltag verborgen bleiben«, wodurch der »gleiche Anspruch auf sozialen Aufstieg, auf Anerkennung und gleiche Chance im Leben« verwirklicht werde. Wenn sich nun aber nicht zuletzt daraus, aus der Unübersichtlichkeit und sozialen Spaltung der Gesellschaft, die Bedeutung des Sports ebenso wie die Begeisterung für ihn herleiten lassen, dann dürfte beides angesichts der Corona-Pandemie, die einerseits das totale Ausgeliefertsein des Einzelnen an individuell vollkommen unkontrollierbare Phänomene markiert und andererseits in ihren Auswirkungen die sozial Schwachen besonders hart trifft, eine neue Zuspitzung erfahren. Und auch diesbezüglich, mit Blick auf die durch das Coronavirus verursachten Gefahren für die Gesundheit, lassen sich Verknüpfungen zum Sport herstellen. Schließlich hat der Sport unzweifelhaft einen Einfluss auf die Gesundheit. Mehr noch: Dass die sportliche Betätigung zu jenen Freiheiten gehört, die den Bürgern nur in letzter Konsequenz verwehrt bleiben sollen, dürfte ganz wesentlich mit dem zugeschriebenen Nutzen des Sports für Gesundheit und Wohlbefinden zusammenhängen. Doch im Zuge der Coronabedingten vorübergehenden Beschränkung auf den Individualsport wird der Sport eines Großteils seiner Facetten und damit seiner gesellschaftlichen und politischen Potenziale beraubt. So mögen dem Einzelnen etwa mit dem zeitweiligen Ruhen des Vereinssports zentrale Gemeinschaftserfahrungen fehlen. Und das Beispiel Olympia zeigt, dass die Bedeutung von Sportgroßereignissen vielschichtiger ist als der entspannungsselige und unterhaltungsheischende Fernsehkonsum derselben wahrscheinlich spontan vermuten ließe. Erstmals in der Geschichte wird in diesem Jahr außerhalb von Kriegszeiten mit der olympischen Tradition gebrochen. Vier Jahre nach den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro können 2020 keine Spiele stattfinden. Was für die einen nur ein wiederkehrendes Sportgroßereignis ist, ist für die anderen unter politischen, religiösen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten kaum wegzudenken. So hielten die Olympischen Winterspiele 2018 auf sportlicher Ebene mit dem Sieg Norwegens im Medaillenspiegel nicht unbedingt eine Überraschung bereit, dafür aber umso mehr unter symbolpolitischen Gesichtspunkten, stellten Nord- und Südkorea bei den Frauen doch ein gemeinsames Eishockey-Team auf. Was im Bereich der harten Realpolitik vollkommen abwegig erscheint – eine Vereinigung der beiden Koreas –, das macht(e)

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EDITORIAL

der Sport möglich. Damit reiht sich die Neuauflage der Spiele des Jahres 2018 durchaus in eine Tradition der olympischen Wettkämpfe ein, besaßen sie doch seit ihren Anfängen immer auch politische, religiöse und gesellschaftliche Implikationen. So herrschte im antiken Griechenland während ihrer Dauer das Gebot, die Region rund um Olympia ohne Waffen zu betreten. Das Ereignis galt als diplomatisches Forum und diente dem gesellschaftlichen Austausch. Bis heute wohnt dem Sport ein integratives Potential inne, auch gegenwärtig noch dient er als Kommunikationsgelegenheit über Ländergrenzen, Sprachbarrieren und (sub-)kulturelle Trennungslinien hinweg und fungiert darüber hinaus als eine Form des zivilisierten Wettbewerbs. Freilich zeigen sich hier auch Widersprüche: Sport soll einen und ist dennoch ein Wettkampf. Er ermöglicht Austausch, Verständigung und Solidarität, ist aber zugleich Ursache für Zwietracht und Hass. Er kanalisiert Energien und beugt Gewalt vor, doch sind sportliche Spiele auch immer wieder Anlass für gewalttätige Auseinandersetzungen, sei es auf dem Platz oder an dessen Rand, wenn enthemmte Fanszenen aufeinandertreffen. Sport soll zur Völkerverständigung beitragen und stärkt gleichzeitig Nationalismen – wodurch sich nicht zuletzt auch der von den nationalen Sportverbänden auf die Athleten ausgeübte Leistungsdruck und eine Vielzahl an Beispielen für staatlich geförderte oder zumindest stillschweigend in Kauf genommene Dopingstrukturen erklären lassen. Der schon zitierte Plessner meinte gar, dass die wettbewerbsmäßige Gesinnung des Sports in einer Gesellschaft, die sich durch die »Geringschätzung alles dessen [auszeichnet], was sich nicht in Leistung offenbart und an Leistungsmaßstäben fassen läßt«, das Wettkampfdenken noch verstärkt. Bis hin zu kriegerischen Tendenzen, die ihrerseits »eine ideelle, um nicht zu sagen eine ideologische Rechtfertigung durch das Ethos der Sportlichkeit« erführen. Dieses Ethos begünstige mithin – ohne es zu beabsichtigen und ganz gegen jede friedliche Intention von Sportfunktionären – eher die Bereitschaft zur Kriegsführung, als dass sie sie vermindere. So oder so verbietet es die Vielschichtigkeit des Phänomens Sport, ausschließlich Lobgesänge auf ihn anzustimmen. Die Geschichte und Gegenwart des Sports, seine vielfältigen Verbindungen mit Kultur, Ökonomie, Politik und Gesellschaft zeichnen ein spannungsreiches Bild. Die vorliegende Ausgabe der INDES ist darum umso mehr bestrebt, ebendiese Vielschichtigkeit und Amivalenz des Sports unter verschiedenen Blickwinkeln abzubilden und in einem nur auf den ersten Blick ereignisarmen Sportjahr neu über seine Ansprüche, Erscheinungsweisen und Effekte nachzudenken. Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre. EDITORIAL

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INHALT





Editorial >> INTERVIEW 7 »Die politische Mission des olympischen Sports ist im Grunde der Kampf gegen den Rassismus« 1

Ein Gespräch mit Gunter Gebauer über sich wandelnde ­Körperverständnisse, Sport als Selbstzweck, seine politische ­Dimension und die Notwendigkeit einer neuen Sportethik

>> ANALYSE 24 Sport und Identität



Über Grenzen, Möglichkeiten und ­Bedingungen nationaler Aufladung Ξ Wolfram Pyta

33 »Jahrhundert der Lager« Sport als Gewaltpraxis Ξ Anke Hilbrenner

40 Verehrt, Verfolgt, ­Vergessen

Juden im deutschen Fußball und der lange Weg zur aktiven Erinnerungsarbeit Ξ Lorenz Peiffer / Henry Wahlig

51 Alltag und Gewalt

Jugend und Sport im besetzten Elsass ­während des Zweiten Weltkriegs Ξ Jan Hassink

60 »Zeitalter der Fitness«?

Körperkultur und Fitness – gestern und heute Ξ Bernd Wedemeyer-Kolwe

69 Sport und Ökonomie Ein ambivalentes Verhältnis

Ξ Maike Cotterell / Henning Vöpel

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77 Mediensport und Politik

Über Medialisierung, Arenen und Stimmungen Ξ Lutz Hagen / Reimar Zeh

88 Sport und soziale Ungleichheit

Individualisierung, Öffnung und die Bedeutung traditioneller Unterschiede Ξ Jan Haut

99 Männerbund Fussball

Homosexualität als »tabuisierte Männlichkeit« Ξ Katja Sabisch

113 Trainieren für den Tag x

Die extreme Rechte und der Kampfsport Ξ Robert Claus

121 Sportunterricht

Ansprüche, Legitimierungen, Realisierungsformen und Erfahrungen Ξ Ina Hunger / Benjamin Zander



>> PORTRAIT 134 »Messias« Messi

Freud und Leid mit einem Jahrhundertfußballer Ξ Eckhard Jesse

146 Muhammad Ali

Oder: Frage nicht, was du für dein Land, ­sondern was du für deinen Sport tun kannst Ξ Sven Güldenpfennig

PERSPEKTIVEN >> ANALYSE 163 Kommunikation, ­Öffentlichkeit und Recht im Zeitalter von Tweets und Likes

Soziale Medien als Gefahr für unsere ­Demokratie? Ξ Deniz Ertin

Inhalt

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SCHWERPUNKT: SPORT

INTERVIEW

»DIE POLITISCHE MISSION DES OLYMPISCHEN SPORTS IST IM GRUNDE DER KAMPF GEGEN DEN RASSISMUS« Ξ  Ein Gespräch mit Gunter Gebauer über sich wandelnde ­Körperverständnisse, Sport als Selbstzweck, seine politische ­Dimension und die Notwendigkeit einer neuen Sportethik Wenn wir über Sport sprechen, dann reden wir auch über den menschlichen Körper. Sie schreiben über die Veränderung der Körperordnung vom feudalen ins bürgerliche Zeitalter. Wenn nun Historiker diagnostizieren, dass das bürgerliche Zeitalter seinen Zenit überschritten hat, gilt das auch für das bürgerliche Körperverständnis oder haben wir mit dem Ideal des trainierten, fitten Körpers heute im Gegenteil die Hochphase des bürgerlichen Verständnisses vom Körper als einem Symbol und Ausdrucksmedium erreicht? Der Übergang vom aristokratischen zum bürgerlichen Körperverständnis vollzog sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, teilweise noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die große Veränderung von einer aristokratischen Gesellschaft oder, anders gesagt, einer Gesellschaft mit aristokratischer Führungsschicht hin zu einer Gesellschaft mit bürgerlicher Führungsschicht bestand darin, dass die bürgerliche Schicht arbeitete. Entscheidend war damit nicht mehr ein Titel, die Abstammung, die Mythologie der Familie und des Geschlechts, sondern die Leistung des Einzelnen. Das schlug sich etwas zeitversetzt in der Vorstellung der Körperbildung nieder. Im ausgehenden 19. Jahrhundert spielte der Körper bereits eine bedeutende Rolle für das, was eine Person darstellt. Anstelle der Repräsentation im adeligen Sinne, durch Thron, Wappen und dergleichen oder durch eine Gemahlin, die man den Familienkonventionen entsprechend heiratete, rückte die individuelle Selbstdarstellung vermittels der eigenen Arbeit und des eigenen Körpers ins Zentrum. Diese Entwicklung ist in Deutschland von der Gruppe der Philanthropen befördert worden, die an die körperliche Bildung des antiken Griechenlands

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anknüpften und sich eine damals neuartige Erziehung ausgedacht haben. Diese sollte anders sein als die Erziehung von jungen Adligen. Sie sollte die Körperbildung mit einschließen, etwa in Form von Gymnastik für die Jugend. Anfangs waren die Philanthropen eine kleine Gruppe von Bildungstheoretikern und Schulreformern, die in einem Internat in Schnepfenthal mit ihrer Pädagogik zunächst auf Aristokraten und hohe Beamten gewirkt haben. Die Kinder, die nach Schnepfenthal geschickt wurden, waren etwa Söhne von Ministern. Früh haben die Reformer aber auch Anklang bei Adligen gefunden, welche die aufgeklärten Bildungsideale des Bürgertums übernommen hatten. Zahlenmäßig viel stärker wirkte die neue Körperbildung jedoch in der Befreiungsbewegung gegen die Franzosen von Friedrich Ludwig Jahn, den »Turnvater«, eine skurrile Person, die aber die jungen Leute begeistern konnte. Und inwiefern haben Jahn und die Befreiungskriege das neue Körperverständnis geprägt? Jahn hat eine Art paramilitärische Jungenerziehung auf freiwilliger Basis eingeführt, die im Wesentlichen aus Übungen im Gelände bestand. Das Turnen, das wir heute kennen, mit Pferdspringen, Reckturnen, Barren und dergleichen, war ebenfalls seine Erfindung, hatte aber keine militärische Bedeutung. Das Körperverständnis beeinflusste dieses Turnen insofern, als es nicht den mit Kleidern bedeckten Körper in den Mittelpunkt stellte, sondern einen, der sich in grauer Turnkleidung halbnackt darbot. Paramilitärische Züge fanden sich im Antreten in Reih und Glied sowie in der Bedeutung, welche der Haltung, Kraft und Disziplin beigemessen wurde. Turnen ist historisch immer mit Disziplin verbunden gewesen und ist es im Grunde heute noch. Gerade das Geräteturnen drückt eine Körperbeherrschung aus, die es vorher nur im rein militärischen Sinne gegeben hat – wenn es darum ging, eine Muskete richtig halten, genau zielen und soldatisch marschieren zu können. Nach den Befreiungskriegen gegen die Franzosen hatte der preußische König die Einsicht, dass er die Gesundheit seiner Jugend befördern sollte; gemeint waren erst einmal die Jungen. Es gab Ärzte, die davor warnten, dass die Jugend mit einem Haltungsschäden aufwachse – und dadurch nicht einsatzfähig, sprich: militärisch untauglich sei. Und so wurde an den preußischen Jungengymnasien Turnen eingeführt. Etwas später, aber noch im 19. Jahrhundert, wurde auch das Turnen für Mädchen eingeführt. Die dahinter­stehende Idee, die Jugend eines Landes körperlich fit zu machen, hatte eine rein politische, in diesem Fall wehrpolitische Bedeutung. Die Jugend wurde zwar nicht zu kleinen Kriegern ausgebildet, aber durch den Sport wurden sportliche Werte vermittelt: die Leistungsfähigkeit des Körpers

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Sport — Interview

und der Ehrgeiz im (Wett-)Kampf. Der Wettkampf verweist nun aber auf ein weiteres politisch bedeutsames Merkmal des Sports: die Idee der Gleichheit. Denn wer gemeinsam in einer Riege turnt oder auch gegeneinander antritt, begegnet sich auf Augenhöhe. Die Hierarchien, die hier fortbestehen – etwa die Differenz zwischen einfachen Turnern und Vorturnern –, sind Hierarchien des Alters oder der Meriten. Jahn selbst hat eine Art Meritensystem zur Hierarchisierung von verdienten und weniger verdienten Turnern eingeführt, aber dem lagen originär bürgerliche Vorstellungen von Leistung, Verdienst und Gleichheit zugrunde. Angesichts dieser skizzierten wertebasierten Verknüpfung von Sport und bürgerlicher Gleichheit bzw. Sport und Demokratie: Waren jene Gesellschaften, die früh schon demokratische Elemente in ihre Herrschaftssysteme integriert haben, zugleich Vorreiter beim Sport? Vorreiter und Vorbild der weiteren Entwicklung war der englische Sport. In England wurde Sport sehr früh an bekannten Public Schools eingeführt, an den Schulen zukünftiger Gentlemen. Dies waren Adelige und hoch gestellte Bürgerliche, die durch Reichtum, durch Können und Leistung zu den Adligen aufgeschlossen hatten und, insofern sie in denselben Erziehungs­institutionen ausgebildet worden waren, eine Art gemeinsame Klassenfraktion bildeten. Diese Mischung aus Adligen und verdienten Bürgerlichen spiegelt sich noch heute im englischen Oberhaus wider, das einerseits aus Angehörigen alter Adelsgeschlechter besteht und andererseits aus Bürgern, die von der Queen geadelt worden sind – darunter auch der Olympiasieger Sebastian Coe, heute Präsident des Weltleichtathletikverbandes. Sie sagen, dass die wesentlichen Kennzeichen des bürgerlichen Körperverständnisses die Leistung, der Wettkampf und damit die formale Gleichheit sind. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat demgegenüber die »feinen Unterschiede« betont, die sich über Haltung, Auftreten, Habitus vermitteln, also nicht zuletzt über Körperliches, und darüber soziale Hierarchien und Machtverhältnisse festschreiben. Besteht hier nicht ein Widerspruch zu Ihrer Deutung des Sports als großem Gleichmacher? Nein, die Vorgeschichte ist wichtig! Man musste erst einmal dahinkommen, dass der leistungsfähige Körper überhaupt als ein relevanter Faktor wahrgenommen wird. In dieser Entwicklung, die mit der Turnbewegung einsetzte, findet sich die Gleichheitsidee. Welcher Natur diese ist, lässt sich durch die Geschichte des englischen Fußballs verdeutlichen: Schon in den 1870er und 1880er Jahren war der Fußball dort etabliert und verbandsmäßig organisiert, Ein Gespräch mit Gunter Gebauer

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zunächst aber beschränkt auf die Absolventen der Public Schools und jener Universitäten, an denen sie studierten, nämlich Oxford und Cambridge. Fußball war ein Sport der Oberklasse. Daneben hat sich aber nicht die bürgerliche, sondern die Arbeiterklasse dafür interessiert. Auch sie hat angefangen, Fußball zu spielen und Kontakt zu den Absolventen der Public Schools aufgenommen. Beide Seiten wollten gegeneinander spielen. Es ist typisch englisch, dass sich eine solche klassenübergreifende, teilweise ganz unwahrscheinliche Wettkampfkonstellation herausbildete, bei der ein Herr gegen den Diener lief und man darum wettete, wer wohl gewinnen möge. Das ist die Vorgeschichte. In dem Moment aber, wo man gegeneinander Fußball spielte und gemeinsam Wettkämpfe austrug, herrschte eine Gleichheitsvorstellung. In England blieben die Klassendifferenzen bestehen, so dass diese Gleichheit auf die Dauer des Spiels begrenzt blieb. Auch war der englische Sport lange Zeit klassenbestimmt; sollten etwa beim Rudern bestimmte Gruppen nicht dabei sein. Der Sport, der sich auf dem Kontinent entwickelte, war sozial offener. Wer sich etwa in der Leichtathletik, der Königsdisziplin der Olympischen Spiele, aufgrund seiner Leistung qualifiziert hatte, konnte auch an den Wettkämpfen teilnehmen. Sobald die Leute in Sportkleidung antraten, gab es keine sozialen Unterschiede mehr. Solche Unterschiede wollten gerade auch die oberen Klassen im Sport nicht haben, war Ihnen doch viel daran gelegen, ehrlich zu gewinnen, ob die Gegner nun aus einer anderen Nation oder aus einer anderen Klasse kamen. In dieser Hinsicht wirkte der Sport tatsächlich als Gleichmacher, besonders dann im frühen 20. Jahrhundert, als die Arbeiter zum Fußballspiel vorgestoßen waren. Dass etwa der FC Sankt Pauli zuweilen immer noch als »Prollverein« gilt, während dem Hamburger SV der Ruf des feinen Pinkelvereins anhaftet, ist heute nur noch Folklore. In den 1950er Jahren dagegen waren solche Unterschiede noch deutlich spürbar. Entscheidend war aber, dass das im Wettkampf keine Rolle spielte und der Sport es verstanden hat, die Klassendifferenzen zwar nicht unsichtbar, aber sekundär zu machen. Das ist sicher eine große Leistung des Sports. Die »feinen Unterschiede« sind also bloß »sekundär«? Was wir mit der Distinktion benennen, steht im Zeichen größerer historischer Veränderungen. Dass die Aufmerksamkeit auf den Körper gerichtet wurde, lag zunächst einmal nicht am Sport. Sportler waren Außenseiter. Wenn ich als Sportler während meiner Studienzeit Mitte der 1960er Jahre durch den Park lief, haben einige ältere Damen ihre Hunde losgelassen, damit sie mir in die Haxen bissen. Noch vor fünfzig Jahren kannten auch viele den Unterschied zwischen Sportmedaillen und Sportabzeichen nicht – und in

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Sport — Interview

Philosophenkreisen erschien es lange Zeit vollkommen absurd, dass ich mich für Sport interessierte. Doch sukzessive spielte das Körperliche eine immer größere Rolle. Mit der aufkommenden Fitnesswelle begannen immer mehr Leute dann einerseits, selbst Sport zu betreiben, andererseits wurde ein sportliches Aussehen wichtig. Ein durchtrainierter Körper wurde auch für Frauen zum Schönheitsideal. Mit dem kalifornischen Modetrend änderten sich auch die Kleidungsstandards. Während man zu Beginn der 1960er Jahre keinesfalls in Sportschuhen zur Uni gegangen wäre, war Sportkleidung Ende desselben Jahrzehnts bereits alltagstauglich, waren Polohemd und kurze Hosen nicht mehr verpönt. Als ich 1966, in den Anfängen der Studentenbewegung, zum Studium nach Berlin ging, haben wir uns unter Kommilitonen noch gesiezt. An der Universität ging es sehr formell zu, zwar egalitär im Anspruch, aber Reste von Standesdenken und Ressentiments bezüglich sozialer Schicht­ zugehörigkeiten hatten noch Bestand, auch ausgedrückt durch Kleidung. Die Jeans, Polohemden und T-Shirts wirkten dem entgegen; neue, sportliche Kleidernormen sickerten allmählich auch in die gehobene Gesellschaft ein und das zunehmend von körperlicher Fitness geprägte Frauenbild stand dem Bild des Fräuleins mit hohen Absätzen gegenüber. Fitness als Begriff hat sich damals überhaupt erst etabliert. Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1972 in München begann dann, angestoßen vom Deutschen Sportbund, eine große Fitnessbewegung. Zahlreiche Trimm-Dich-Pfade wurden im Zuge dessen eingerichtet und von der Bevölkerung auch angenommen. Das Interesse an Sport, an sportlichen Leistungen und einem entsprechenden Aussehen, nahm in den 1970er Jahren gewaltig zu, besonders auch die deutlich höhere Beteiligung von Frauen am Sport. Es kam zu einer zunehmenden Beachtung des Körperlichen. Attraktivität und Ansehen von Studenten bemaßen sich weniger daran, etwa zu den Besten eines Seminars zu gehören, stattdessen trat die sportliche Erscheinung in den Vordergrund. Mit dem Sport und durch ihn werden immer auch Werte vermittelt. Wenn nun dem Sport im Allgemeinen und dem Profisport im Besonderen heute eine höhere Aufmerksamkeit zukommt, läge es dann nicht nahe, die als Sportler erworbene Prominenz für politische Zwecke zu nutzen? Es gibt eine ganze Reihe von berühmten Fußballspielern, die sich intensiv um die Förderung von Kindern kümmern. Einige von ihnen haben Stiftungen gegründet, wie Per Mertesacker, der Kindern und Jugendlichen mit sozialen Problemen Integration durch Sport zu ermöglichen versucht, oder Toni Kroos, dessen Stiftung ein Kinderhospiz tatkräftig unterstützt. Ich finde es beachtlich, wenn sich begabte Sportler für solche Dinge einsetzen. Sport Ein Gespräch mit Gunter Gebauer

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ist aber nicht per se problemlösend und Sport ist nicht per se politisch. Die Resonanz von politisch tätigen Sportlern und Sportlerinnen etwa ist nicht unproblematisch. Schließlich wird prominenten Sportlern vielfach nicht zugetraut, dass sie sich vernünftige politische Meinungen bilden können. Nicht ganz grundlos, bleibt dafür doch, bei zehn Trainingseinheiten und mehr pro Woche, auch nicht unbedingt die Zeit. Zudem sehe ich ganz generell keinen Grund, warum Sportler in der politischen Willens- und Meinungsbildung versierter sein sollten als andere Prominente oder Durchschnittsbürger. Prominenz in den Dienst einer politischen Sache zu stellen, kann insbesondere dann äußerst sinnvoll sein, wenn es einen Bezug zu dem gibt, was ein Prominenter macht. Ich halte es etwa für sehr glaubwürdig, wenn ein Sportler wie Jérôme Boateng, der selbst Opfer von rassistischen Bemerkungen des AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland geworden ist, sich gegen Rassismus einsetzt. Auch schon vorher haben er und sein Bruder Kevin-Prince Boateng sich massiv gegen Rassismus im Stadion einsetzt. Kevin-Prince hat bei einem Spiel der italienischen Liga den Ball mit voller Wucht in die Zuschauermenge gedroschen, nachdem ihn die Fans mit Affenlauten begrüßt hatten. Das finde ich nicht nur verständlich, sondern auch berechtigt. Und, natürlich hat der Sport aufgrund seiner Gleichheitsidee auch eine politische Mission. Das gilt ganz besonders für den Olympismus, der durch und durch politisch ist, was von den Sportverbänden, auch vom Internationalen Olympischen Komitee, nicht genügend gesehen wird, wie ich finde. Die politische Mission des olympischen Sports, die Idee, Sportler aller Nationen, aller Herkünfte, aller ethnischen Zugehörigkeiten zusammen starten zu lassen, ist im Grunde der Kampf gegen den Rassismus. Als 1936 Juden von den Olympischen Spielen ausgeschlossen wurden, wurde diskutiert, ob die amerikanische Nationalmannschaft die Spiele boykottieren sollte. Der Präsident des Olympischen Komitees der USA , Avery Brundage, gab sich schließlich überzeugt, dass es in Deutschland keinen Rassismus gebe. Er bemerkte dazu: In seinem Sportclub in New York herrsche die gleiche Zurückhaltung gegenüber Juden wie im Nazi-Deutschland. Ein solcher Mann war hinterher jahrzehntelang Präsident des Internationalen Olympischen Komitees! Als sich 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexico City nach den Rassenunruhen in den USA zwei amerikanische Sprinter auf dem Siegerpodest eine Faust in den Himmel reckten, die Geste der Black-Power-Bewegung, hat das IOC darin einen politischen Akt gesehen und sie sofort ausgeschlossen. Dabei war es eine politische und, wie ich meine, notwendige Geste, um dagegen zu protestieren, dass in den USA die Rassenunterdrückung fortbestand. Es ist zwar eine Grundregel, die Siegerehrung bei Olympischen Spielen nicht für

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Sport — Interview

politische Manifestationen nutzen zu dürfen, aber wenn es um den Grundsatz der Olympischen Spiele selbst geht, finde ich so etwas durchaus gerechtfertigt. Für die Gleichheit aller und gegen jede Form von Diskriminierung zu protestieren, und zwar bei allen Gelegenheiten, halte ich für eine Notwendigkeit! Solche Akte wurden immer wieder zurückgewiesen, indem das Internationale Olympische Komitee deklariert hat, nicht politisch zu sein. Aber es ist natürlich politisch, das steht schon in seiner Gründungsurkunde, wenn es heißt, alle Nationen sollen zusammenkommen und miteinander wettkämpfen. Was heißt eine Nation? Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Europa mit einem Mal etwa zwanzig neue Nationen – und alle wurden zu den Olympischen Spielen zugelassen. Den Ländern, die aus dem zerfallenen Habsburgerreich hervorgingen, bot die Teilnahme an den Wettkämpfen die Möglichkeit, in der Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, dass sie eigene Nationen waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die UdSSR erstmalig teil und trat sofort mit einer riesigen Delegation von staatlich finanzierten Sportlern auf. Das alles ist doch in unglaublicher Weise politisch aufgeladen. Erstens können die Olympischen Spiele dazu verhelfen, als Nation auf der internationalen Bühne überhaupt wahrgenommen zu werden. Was sie aber auch geschafft haben: Schon kurz nach den beiden Weltkriegen hat man sich wieder friedlich getroffen. Austragungsort der Olympischen Spiele 1920 war Antwerpen, eine durch den Krieg schwer zerstörte Stadt. Auf den großen flandrischen Schlachtfeldern in unmittelbarer Nähe hatten die Briten – natürlich auch die Deutschen, die jedoch in Antwerpen ausgeschlossen waren – Zehntausende Menschen verloren, zwanzig Prozent der britischen Olympia-Mannschaft waren dort umgekommen. Trotzdem haben die Briten teilgenommen. Später nahmen auch die alten Feinde wieder teil und wurden als Gegner akzeptiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Situation ganz ähnlich. Für die Spiele, die 1948 in London ausgetragen wurden, war Deutschland nicht zugelassen, 1952 in Helsinki, als auch die Sowjetunion erstmals teilnahm, waren die Deutschen aber wieder dabei, ebenso Italien und Japan. Und nicht nur das: Die drei ehemaligen Achsenmächte haben die Olympischen Spiele 1960, 1964 und 1972 ausrichten können. Hierin zeigt sich, was Sport auch politisch leisten kann. Angesichts der völkerverständigenden Funktion von Olympia und der friedensorientierten Rhetorik ist es erstaunlich, dass der Nationalsozialismus 1936 die Olympischen Spiele so erfolgreich in den Dienst seiner Propagandamaschinerie stellen konnte. Welche Aspekte des Olympismus haben das begünstigt? Erstens ist diese Friedensrhetorik eben weitgehend Rhetorik. In dem Moment, als der Erste Weltkrieg ausbrach, sind alle Nationen zu den Waffen Ein Gespräch mit Gunter Gebauer

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geeilt. Und Pierre de Coubertin, der die Olympischen Spiele mit der Gründung des Internationalen Olympischen Komitees 1894 wiederbelebt hatte, fand das auch völlig richtig! Man müsse, meinte er, im ritterlichen Geiste gegeneinander kämpfen. Ebendiese Vorstellung von einem ritterlichen Kampf, die vor dem Ersten Weltkrieg herrschte, erlaubte es, im Krieg keinen Widerspruch zur olympischen Idee zu sehen, wenn sich die Gegner nach seinem Ende wieder versöhnten. Dieser Kampf konnte auch mit dem Tode enden. Schon die antiken Olympischen Spiele waren zwar friedliche Spiele, aber es gab keinen olympischen Frieden, keinen Frieden zwischen den griechischen Poleis. Das ist eine spätere Erfindung. Die Friedensrhetorik diente nur dazu, die Olympischen Spiele in einer Zeit der Kriegstreiberei, nämlich vor dem Ersten Weltkrieg, für breite, insbesondere für die führenden Schichten in den wichtigen Ländern Europas attraktiv zu machen. Coubertin hatte die kluge Idee, die führenden Vertreter der Friedensbewegung seiner Zeit ins Olympische Komitee aufzunehmen. Da war sehr viel Propaganda dabei. Was nun den Nationalsozialismus angeht: 1936 war Deutschland im Vorfeld der Spiele kriegerisch aufgerüstet worden, mit sehr viel sportlicher Aktivität, aber auch mit paramilitärischer und militärischer Disziplin. Das hat nicht wenigen unheimlich imponiert. Es ist immer die Achillesferse von Sportverbänden gewesen, dass sie autoritären Regimes gegenüber empfänglich sind; dass sie Sport und Körperertüchtigung so sehr schätzen und damit auch Disziplin, Ordnung, gute Organisation und Kriegsfähigkeit. Es hat die Leute überall, auch im Ausland, beeindruckt, dass Deutschland relativ schnell wieder auf die Beine gekommen war und sich innerhalb kurzer Zeit so wehrhaft und stark darstellte. Die enorme Aggressivität, die damit einherging, war eigentlich nicht zu übersehen. Keine drei Wochen nach den Olympischen Winterspielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen hat Hitler seine Truppen ins Rheinland einmarschieren lassen. Das war ein eklatanter Verstoß gegen den Versailler Friedensvertrag. Zugleich aber hat das Deutsche Reich damit geworben, im Sommer 1936 die größten und prächtigsten Spiele aller Zeiten zu veranstalten – mit dem größten Stadion, der besten Organisation, der fantastischsten Pressearbeit und zahlreichem Entgegenkommen gegenüber den Gästen. Das hat gewirkt. Den meisten Sportfunktionären im Ausland war die politische Orientierung des Nationalsozialismus egal. Und die meisten Sportfans waren politische Naivlinge, denen es darum ging, Sport anzuschauen. Schon lange bevor Hitler von mächtigen und großartigen Spielen fabulierte und tatsächlich in kurzer Zeit gewaltige Bauten errichten ließ, hatte Carl Diem, der Organisator der Spiele, den Reichswehrgenerälen eine paramilitärische Sporterziehung angeboten. Zur Zeit des 100.000-Mann-Heeres in der Weimarer

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Republik war die Vorbereitung der Olympischen Spiele natürlich eine ideale Gelegenheit, die Jungen zu mobilisieren und paramilitärisch auf den Krieg vorzubereiten. All das hat im Ausland nur wenigen Sorge bereitet. Auch in Italien hatte Mussolini ein Volk, das sportlich nicht als außerordentlich tüchtig galt, so fit gemacht, dass es 1932 in Los Angeles die zweitstärkste Nation nach den Amerikanern wurde. Diesen Erfolg hatte Mussolini in den Jahren zuvor durch eine entsprechende Sporterziehung forciert. All diese autoritären und, wie wir heute sagen würden, faschistischen Merkmale einer solchen Bewegung wie in Italien haben den Autoritäten und Sportpolitikern in demokratischen Ländern wie Frankreich, England und teilweise auch den USA durchaus nicht missfallen. Man hat darin eher ein Vorbild gesehen …

… auch unabhängig von der ausgefeilten Olympia-Propaganda im national­ sozialistischen Deutschland … … worauf dann die Propaganda, die im Vorfeld der Olympischen Spiele in Deutschland 1936 betrieben wurde, aufbauen konnte. Es war vor allem Carl Diem, der losgezogen ist und überall in der Welt den Olympiabotschafter gespielt hat. Diem war zwar militaristisch orientiert, sah jedoch nicht sehr martialisch aus. Er war ein rhetorischer Feuerkopf, der alle mitriss. In Deutschland trieb er ein großes Volksbildungs- und Volksbewegungsprogramm zugunsten des Sports voran, erhob die tägliche Sportstunde zum politischen Programm, propagierte, dass jede Kommune ein Schwimmbad haben müsse, und vieles mehr. Das hat Sport- und Gesundheitsinteressierten gefallen. Und so sahen die meisten im In- und Ausland in den Olympischen Spielen 1936 nicht ihre unverkennbaren nationalsozialistischen Züge, sondern ein wundervolles Ereignis. Die Propagandafachleute der Nazis, darunter Goebbels und Teile des Innenministeriums, haben die Olympischen Symbole und die Vorstellungen davon, wie das Fest der Olympische Spiele ausgetragen werden sollte, angenommen und mit Nazibrauchtümern vermischt. Das olympische Feuer wurde erst mit den Nazis für den olympischen Fackellauf eingesetzt, der die Leute entzückte. Die Neunte Sinfonie von Beethoven wurde ­Coubertins Wunsch entsprechend gespielt – zur Eröffnung durch die Berliner Philharmoniker, eines der berühmtesten Orchester der Welt, zudem unter Wilhelm Furtwängler, einem der größten Dirigenten seiner Zeit. Olympisch nicht vorgesehen war, sie in einer Art Nachtfeier zu spielen und mit FlakScheinwerfern einen Lichterdom über dem Stadion entstehen zu lassen. Das hatte martialische Züge und war eine Perversion. Die Neunte Sinfonie von Beethoven war ja in der Vorstellung geschrieben worden, die Menschen durch Musik zusammenzubringen und dadurch zu besseren Menschen zu machen. Ein Gespräch mit Gunter Gebauer

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Beethoven war ein großer Verehrer Schillers. Die Ode an die Freude enthält Anklänge an das Schiller’sche Spielverständnis, das da lautet, der Mensch sei nur da im vollsten Sinne Mensch, wo er spiele. Nun ließe sich sagen, bei den Olympischen Spielen gebe es diesen spielenden Menschen, den Homo ludens. Und man kann hoffen, dass Menschen dadurch besser werden. Aber das war eben Rhetorik, Propaganda. Von Sportfunktionären wird Sport gerne als Schule für demokratisches Verhalten gesehen. Es gab auch Versuche, den Sport als Förderziel ins Grundgesetz aufzunehmen. Gleichzeitig sind es auch und gerade heute autoritäre Herrscher, die sich öffentlich in athletischer Pose zur Schau stellen. Woher kommt die Instrumentalisierungsanfälligkeit des Sports durch Diktatoren? Ihre Frage adressiert solche Diktatoren, die ihre Macht auf autoritäre Herrschaft aufbauen, also auf Massenaufmärsche und Massenereignisse, auf Disziplin und körperliche Stärke. Durch die Teilnahme an Massenaufmärschen sollen die Menschen das Gefühl von Größe und Macht erlangen, was natürlich auch einen mittelbaren Nutzeffekt für kriegerische Handlungen hat. Es gibt andere Regime, die stärker auf religiösen Riten aufbauen, etwa auf gemeinsamen Gebeten oder dem siebenmaligen Umrunden der Kaaba. Diese bringen eine andere Art von autoritären Herrschern hervor als jene, an die Sie denken. Es waren historisch insbesondere die faschistischen und die kommunistischen Herrscher, die auf Massenaufmärsche setzten. Nun ist ein Mann wie Wladimir Putin, der sich in athletischer Pose inszeniert, oder jemand wie Recep Tayyip Erdogan, kein kommunistischer oder faschistischer Herrscher, doch es gibt eine gewisse Nähe. Putin ist nicht Stalin, aber er ist ein autoritärer Herrscher, der sein Land unterjocht. Und auch Erdogan tritt den Rechtsstaat mit Füßen und setzt alles daran, seine Herrschaft zu stabilisieren, selbst wenn er dabei illegale Tricks anwenden muss. Hier findet sich einiges aus dem Arsenal, das sich der Faschismus ausgedacht hat, darunter auch Paramilitärisches und das Eingreifen in Kriege. Das sehen wir gegenwärtig in Syrien, wo Putin wie auch Erdogan ihre Truppen eindeutig völkerrechtswidrig einsetzen. Um solch eine Politik durchzuführen, braucht man Leute, die wie menschliche Panzer vorgehen, denen man das Gewissen abtrainiert hat. Und es braucht Leute, die Gehorsam gewohnt sind. In der Bundesrepublik haben wir eine Bundeswehrarmee, in der grundsätzlich jeder demokratisch nachfragen kann, ob das Handeln der politischen Führung richtig ist. Der militärische Drill der türkischen oder russischen Militärausbildung aber lässt solche Fragen nicht zu. Sie werden, ebenso wie das Bewusstsein eigener Rechte, nicht zugelassen. Die autoritären Herrscher setzen offensichtlich auf

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solche Leute, die in der Lage sind, im Verbund miteinander – und im modernen Krieg auch im Verbund mit Maschinen – einzugreifen, ohne Befehle zu hinterfragen und ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung oder die Genfer Konvention zu nehmen. Das macht die erwähnte Nähe aus. Dieser Typus des blinden Gefolgsmannes, der wenige grundlegende Befehle mechanisch ausführt, scheint aber doch in einem ziemlichen Kontrast zu jenem zu stehen, den Sie als modernen Sportler bezeichnen würden. Dieser braucht situative Intelligenz und einen gewissen Eigensinn, um komplexe Strukturen in Spiel­ momenten durchschauen zu können. Ist der soldatisch und blind Gehorsame dafür nicht absolut ungeeignet? Richtig. Zum bloßen Gehorsam ist dieser Sportler-Typus wahrscheinlich ungeeignet, aber er könnte in eigenständigen kleinen Kampfverbänden agieren. Dafür braucht es dezentrale Intelligenz, das heißt, man muss auf spezielle Kampfsituationen reagieren, auch fern von einer Zentrale agieren und sich im Wesentlichen über elektronische Verbindungen mit anderen verständigen können. Das ist eine ganz andere Form des Kämpfens. Aber sie müssen, wenn sie im Feld eingesetzt werden, natürlich auch kämpfen können, also auch schweres Gerät tragen. Und auch heute müssen Kämpfer noch als Bodentruppen agieren. Die Amerikaner machen das ungern, sie bevorzugen Luftangriffe. Aber auch in modernen Kriegen bleibt ihnen nichts anderes ü ­ brig, als Entscheidungsschlachten auch am Boden zu suchen. Auch das sehen wir im Augenblick in Syrien. Dort werden im Bodeneinsatz lieber andere, die Kurdenverbände oder Iraker, vorgeschickt, man selbst greift aus der Luft an. Gegenüber Kampfverbänden, die blind gehorchen, sind Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung einfacher zu rechtfertigen. Gleichwohl: Das Modell des Faschismus mit Massenarmeen, die im Gleichschritt antreten und abmarschieren, hat nichts mehr mit dem zu tun, was diese Verbände heute beherrschen und wie sie kriegerisch eingesetzt werden. Wird also in der modernen Kriegsführung die Präsenz von körperlichen Kräften zunehmend entbehrlich? Erübrigt sich damit perspektivisch die politisch-militärische Bedeutung des durchtrainierten Körpers und des Sports? Nicht völlig. Um schweres Material tragen zu können, braucht es weiterhin Ausdauer und Kraft. Dennoch stimmt schon, dass diese Eigenschaften zum Teil entbehrlich geworden sind, etwa in der Feinsteuerung von Drohnen­ angriffen, die interessanterweise häufig auch von Frauen gesteuert werden. Im Großen und Ganzen hat die reine Körperkraft also ihre Bedeutung eingebüßt. Das ist vielleicht zu vergleichen mit der menschlichen Arbeitskraft Ein Gespräch mit Gunter Gebauer

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in der postindustriellen Produktion, in der die körperliche Arbeitskraft tendenziell überflüssig wird, sodass der Körper freigesetzt wird für andere Tätigkeiten: für einen Marathonlauf, für Boxen oder Sonstiges. Die Kräfte, die man dabei gewinnt – Ausdauer, Schlaghärte etc. – werden zwar nicht mehr in Kriegen gebraucht, diese Vorstellung wäre antiquiert. Aber gerade das Antiquierte macht die Sache natürlich wieder reizvoll. Wo braucht es noch die reine Körperkraft? Wo ließe sie sich noch einsetzen? In Prügeleien, die angeblich zumeist in Mittelschicht-Ehen passieren? Aber diese Dinge sind geächtet, als Überbleibsel in einer Gesellschaft, in der die Menschen am Computer sitzen, über soziale Medien kommunizieren und dort anonym ihre Beleidigungen oder Falschmeldungen in die Welt setzen. Wenn heute jemand vor seinem Computer sitzt und Sauereien verbreitet, wird man ihn nicht heroisieren. Wenn dagegen einer, wie in so manchen Filmen, als Einzelkämpfer durch die Welt geht und alle möglichen Dinge demoliert, sind das Reminiszenzen an das alte Heroentum, das jedoch absolut mythisiert wird. Das gibt es, abgesehen von Nah- und Bodenkämpfen, im Grunde nicht mehr. Sport ist in der Moderne in einer paradoxen Weise überhaupt eine antiquierte Sache. Schon als die Olympischen Spiele wiedererfunden wurden, war die Körperkraft derjenigen, die gegeneinander kämpften, nirgendwo mehr richtig einsetzbar – zumal es sich um Mittelschichtbürger und Angehörige der Oberschicht handelte. Die Wettkämpfe waren also eine körperliche Tätigkeit, die ihren Sinn in sich selbst hatte. Hier kommt der Sport in die Nähe von ästhetischen Formen. Pierre Bourdieu hat dies einmal – in Anlehnung an eine Kunstauffassung vom Ende des 19. Jahrhunderts, die die Essenz der künstlerischen Handlung im Kunstmachen um seiner selbst willen sah – als l’art pour l’art des Körpers bezeichnet. Der teilweise funktionslos gewordene Körper sucht sich also eigene ästhetische Funktionen. Das findet auch im Sport einen Ausdruck. Wenn man sich andererseits die politischen Einflussnahmen auf sportliche Leistungen anschaut, fällt es schwer, von einem rein selbstzweckhaften Sport auszugehen. Zeigt uns nicht zum Beispiel das russische Staatsdoping, dass Sport und Politik heute kaum trennbar sind? Es ist ja evident: Wenn ein Staat alles daransetzt, seine Sportler so fitzumachen, dass sie im Wettkampf besser abschneiden, als sie eigentlich sind – das ist ja, was Doping bezweckt –, wenn er die Mittel besorgt, Personal und Logistik bereitstellt und die Beteiligten dann auch noch deckt, wie es in Sotschi offenbar passiert ist, dann wird von staatlich organisiertem Doping zu sprechen sein. Das zeigte sich sehr deutlich beim jüngsten

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russischen Dopingskandal – wenn auch nicht sofort, denn die Russen haben alles getan, um das Spiel zu verwirren. Sie haben Listen vorgezeigt, auf denen einige Sportler als gedopt, die meisten aber als nicht gedopt gelistet waren. Diese stellten sich jedoch als falsch heraus und so wurden Labor­ dokumente angefordert. Solange dies nicht geschah, sollte Russland nicht mehr für Olympische Spiele und Weltmeisterschaften zugelassen werden. Die Laborbefunde wurden schließlich ausgehändigt, doch auch diese stellten sich als gefälscht heraus. Hier offenbarte sich also eine regelrechte Kette von Fälschungen. Und jedes Mal kamen wieder neue Sportler dazu. Nach meinen letzten Informationen sind über tausend russische Sportler des Dopings überführt und etliche Medaillen aberkannt worden. Russland hat den ersten Platz der Nationenwertung bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi verloren – das bedeutet einen unglaublichen Prestigeverlust für das Land. Und natürlich kann kein Mensch glauben, dass all das ohne Wissen des Sportministers passiert ist und dieser wiederum ohne Wissen der Staatspitze gehandelt hat. Vermutlich wollte Putin im Detail gar nicht wissen, was dort passierte, aber er wird deutlich gemacht haben, dass er damit einverstanden war, ein wenig an der Schraube zu drehen. Es wird also versucht, den Sport einzusetzen, um das nationale Prestige zu erhöhen, und zwar nicht nur dem Ausland gegenüber, sondern auch im Hinblick auf die eigene Bevölkerung. Gerade in Russland dient Doping vor allem innerpolitischen Zwecken. Sporterfolge haben die Russen immer mit viel Stolz erfüllt, ähnlich war es in der DDR . Es erschüttert den Nationalstolz, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass ein großer Teil dieser Erfolge auf Betrug basierte. Allerdings hatte die UdSSR , schon seitdem sie 1952 in Helsinki zum ersten Mal bei olympischenen Wettkämpfen angetreten war, das Ziel, durch Sporterfolge internationale Anerkennung, Prestige und Macht in internationalen Gremien zu erhalten. Die Russen haben aufgrund der Erfolge ihrer Sportler und ihrer intelligenten Sportinstitutionenpolitik wichtige Positionen im Weltsport besetzt, die sie auch immer noch innehaben. Es gibt noch immer bestimmte internationale Sportverbände, in denen der Präsident oder Vizepräsident ein Russe ist. Deshalb traut sich das IOC nicht, Russland – zumindest auf Zeit – auszuschließen. Die Übertrumpfungslogik in internationalen Sportwettkämpfen leuchtet in Situationen wie dem Kalten Krieg, also der Systemkonkurrenz, unmittelbar ein. Hier steht sie im Dienste der Herrschaftslegitimation nach innen und des Prestige­ gewinns nach außen. Ob aber deutsche Sportler heute Medaillen gewinnen oder nicht, spielt doch aber für die Demokratiezufriedenheit in Deutschland und das Ein Gespräch mit Gunter Gebauer

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internationale Prestige, die Stellung des Landes in der Welt, keine Rolle. Woher kommt dann die Medaillenorientierung auch der gegenwärtigen Sportpolitik? Ihr Befund entspricht genau meinem eigenen. Ich sehe darin wenig Sinn. Das habe ich den Leuten vom Innenministerium und vom Deutschen Olympischen Sportbund auch gesagt. Die meisten Leute aber, die dort die Politik bestimmen, sind von der Zeit geprägt, als die Bundesrepublik von der DDR herausgefordert worden ist. Damals wurde es als Niederlage, als Demütigung empfunden, dass die DDR mit ihren 17 Millionen Einwohnern die 52 Millionen Einwohner zählende Bundesrepublik in der Medaillenbilanz glatt abgehängt hatte – und das, als die DDR zum ersten Mal mit einer eigenen Olympiamannschaft angetreten war, 1972 bei den Olympischen Spielen in München. Dabei hatte die Bundesrepublik in der Erwartung möglichst vieler Medaillen entsprechend viel investiert. Man war stolz auf seine Medaillengewinner und wollte zeigen, dass die Bundesrepublik im internationalen Sportwettkampf eine Rolle spielt, ein starker Sportstaat war und Sport hier sehr gefördert wurde. Dass die DDR der Bundesrepublik 1972 ganz klar den Rang ablief, kränkte viele Politiker und Sportfunktionäre so sehr, dass – im Wissen, dass in anderen Ländern auch Doping betrieben wird – ein Nachdenken darüber einsetzte, sich dieselben Vorteile zu verschaffen. Somit gab es eine Zeit lang ein unausgesprochenes Einverständnis des Innenministeriums Doping betreffend. Aber auch die Presse spielte hier eine Rolle. Die vielen Millionen Euro für den Spitzensport, das sind Steuergelder. Dafür wollen Steuerzahlende angeblich auch Medaillen sehen. Und natürlich lässt man sich zusammen mit den Olympiasiegern gerne feiern, der Verteidigungsminister etwa mit seinen Biathletinnen oder sonstigen Sportlern, die im Sportförderprogramm der Bundeswehr sind. Und so kam Thomas de Maizière in seiner Ministerzeit auf die törichte Forderung, eine stärkere finanzielle Förderung des Spitzensports müsse auch entsprechend mehr Medaillen zur Folge haben. Offensichtlich hat er sich den öffentlichen Diskurs zu eigen gemacht hat. Die Sportfunktionäre selbst sind Getriebene. Sie stehen als Vertreter eines deutschen Sportverbandes da, fordern mehr Fördergelder für ihre Trainer und müssen dann auch entsprechend liefern. Also machen sie Druck auf ihre Trainer. Hier wird es dann unfair, weil die Trainer zum großen Teil hauptamtlich arbeiten: Ihre oft kurzfristigen Verträge und ihre Bezahlung hängen von ihrer Erfolgsquote ab. Um aber jemanden oder eine ganze Sportart richtig aufzubauen, reichen die vertraglich zugesicherten ein oder zwei Jahre aber nicht. Die Trainer stehen also unter enormem Druck, haben auch keine Lobby. Deshalb sollte umso nachdrücklicher betonet werden, dass es auch im Sinne langfristiger Erfolge besser wäre, Nachwuchssportler langsam aufzubauen, anstatt sie – lapidar

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gesagt – zu verheizen, indem sie schnellstmöglich zu Medaillenkandidaten gemacht werden. In einem Vortrag bei einer Trainerakademie habe ich einmal gesagt, es braucht hier eine bestimmte Ethik: Der Trainer muss sich gegenüber seinen Schützlingen verantwortlich fühlen; und die Sportler müssen die Gelegenheit haben, sich zu überlegen, ob sie dabeibleiben wollen. Viele Sportler bei uns sind Studierende. Eine ganze Menge von ihnen sind bei der Bundeswehr und haben dort Sechs- oder Achtjahresverträge. Nach Ablauf der Verträge bekommen sie eine Abfindung und dann müssen sie schauen, wo sie bleiben. Sehr viele Athleten in den Sommersportarten sind ehrgeizige Leute, angehende Juristen, Geistes- und Ingenieurswissenschaftler. Für die ist der Sport nicht alles. Sie neigen bei Konflikten zwischen Sport- und ­Berufskarriere dazu, das Sportprojekt aufzugeben. Wenn Sport und Politik nicht voneinander zu trennen sind, müssten internationale Sportverbände nicht die Konsequenz ziehen, Wettkämpfe und Meisterschaften in Ländern, in denen Menschenrechte missachtet werden, zu boykottieren? Erstens müsste man dafür sorgen, dass Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele gar nicht erst an solche Länder gegeben werden. Die Leichtathletik-WM 2019 hätte nicht in Katar stattfinden dürfen, doch Sebastian Coe, Präsident des Leichtathletik Dachverbandes, hat das Ganze so gesteuert, dass das Emirat die Weltmeisterschaft bekommen hat. Alles, was an negativen Dingen passiert ist, war absehbar. Es war auch absehbar, dass die Wettkämpfe vor leeren Rängen ausgetragen werden. Schließlich weiß man, dass Katarer keinen Leichtathletiksport betreiben. Zweitens sind Boykotte immer eine schwierige Angelegenheit. Dafür muss es schon sehr hart kommen, denn gegen Menschenrechte verstoßen viele Länder. Hiernach dürften zum Beispiel keine internationalen Meisterschaften in den USA stattfinden, man müsste eigentlich auch die Mannschaft der USA ausschließen – denn dort gibt es die Todesstrafe. Und sie führen Kriege, sie haben auch ungerechte Kriege geführt, ohne Kriegserklärung. Um internationale Ächtung scheren sie sich nicht. Dass Trump nun zum Beispiel Landminen zugelassen hat, wäre eigentlich ein Grund, amerikanische Mannschaften auszuschließen. Wenn man streng vorginge, würde man genügend Ausschlussgründe auch für zahlreiche andere Länder finden. Hierzulande werden Frauen schlechter bezahlt als Männer, Korruption ist recht weit verbreitet – damit könnten auch in Deutschland keine internationalen Meisterschaften stattfinden. Genau betrachtet, kämen dafür dann nur sehr wenige Länder überhaupt infrage. Das macht die Sache schwierig, bedeutet aber nicht, dass man Menschenrechte in diesem Zusammenhang unbeachtet lassen sollte. Ein erster Schritt wäre, Ein Gespräch mit Gunter Gebauer

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zunächst die Länder zu ächten, in denen es gravierende Menschenrechtsbrüche gibt: Institutioneller Rassismus, die Todesstrafe oder fehlende Rechtsnormen müssten Ausschlusskriterien sein. Darüber hinaus sind Boykotte zweischneidige Angelegenheiten. Sie bedeuten den Abbruch allen Verkehrs, dessen Aufrechterhaltung womöglich auch etwas bewirken kann. So argumentiert der Präsident des IOC, Thomas Bach, bei jeder Gelegenheit. Derart pauschal finde ich aber auch diese Gegenposition wenig überzeugend. Ob eine Beteiligung etwas bewirken kann oder man auf diese Weise nur gutheißt, was die anderen machen, das kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Zum Beispiel hätte 1936 die US-amerikanische Mannschaft nicht nach Deutschland fahren sollen. Der Gedanke, dass die Teilnahme gegen den Faschismus wirken könne, war ein großer Irrtum. Das Gegenteil ist eingetreten: Innenpolitisch wurde der Nationalsozialismus durch die Spiele stabilisiert. Sie haben Sport einmal als das Andere der Arbeit beschrieben, als die Utopie der Arbeitsgesellschaft, in der Genuss, Anerkennung, Gemeinschaft und Solidarität ihren Ort hätten. Wenn wir aber an die Fitnesswelle und den mit ihr verbundenen Leistungs- und Selbstoptimierungsimperativ denken, ist dann Sport nicht vielmehr, wenn man so will, Arbeit mit anderen Mitteln? Nein, es ist eine andere Seite, wenngleich ähnliche Motive sichtbar werden. Sport ist keine Arbeit. Er ist anders organisiert, anders bezahlt, in der Regel leben Sporttreibende nicht davon und er ist freiwillig. Und doch unterliegt er zum Teil ähnlichen Normen. Die Selbstoptimierung und Selbstvermessung im Zusammenhang mit Sport haben inzwischen enorme Auswüchse angenommen. Wie Menschen sich derart selbst überwachen, bis zur letzten Kalorie und dergleichen, halte ich teilweise für problematischer als die Verhältnisse in der Arbeitswelt. Ich behaupte auch gar nicht, dass Sport in der Gesellschaft, wie sie ist, das Andere der Arbeitswelt darstellt. Sport wurde aber immer zu einer besseren Welt verklärt. Das ist es, was ich mit Sport als Utopie meine. Diese bessere Welt wurde nie realisiert, aber der Sport war lange Zeit – und das ist er vielleicht hier und da heute noch – eine Welt, in der viel Freude gewonnen werden kann. Natürlich variiert das mit der Art der sportlichen Betätigung, aber dass beispielsweise mit dem Fitnessboom keine Freude verbunden ist, würde ich auf keinen Fall behaupten. Diese Freude kann natürlich auch eine masochistische sein, aber es ist trotzdem eine Freude. Zudem ist Sport oft mit Freundschaft verbunden, was überhaupt erst den Gedanken hervorbringt, dass es eine solche Utopie im Kontrast zur Arbeitswelt geben kann. Arbeitsverhältnisse sind in der Regel keine Freundschaftsverhältnisse. Im Sport ist das anders, und zwar nicht nur in der eigenen Trainingsgruppe,

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sondern teilweise auch zwischen Konkurrenten. Die Sportwelt hat viele humane Züge, andernfalls würde man so etwas gar nicht durchhalten. Ebendas macht sie zu einer utopischen Welt. Man sieht all die schönen Dinge, die dem Sport anhaften und wünscht sich, die Welt wäre grundsätzlich so beschaffen … … ein Paradies auf Erden … … aber die Welt ist nie so beschaffen, und auch die positiven Elemente des Prof. Dr. Gunter Gebauer, geb. 1944, ist Philosoph und Sportsoziologe. Seit 1978 ist er Professor an der Freien Universität Berlin (seit 2012 emeritiert). Zu seinen Forschungsgebieten gehören historische Anthropologie, Sozial- und Sprachphilosophie sowie Geschichte und Soziologie des Körpers. U.a. ist er Mitgründer und Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie.

Sports sind weniger allgemein denn punktuell. Konkurrenz im Sport bleibt Konkurrenz. Sie kann freundlicher sein als jene zwischen Geschäftsfeinden, die sich gegenseitig den Ruin wünschen. Ein Sportler wünscht sich in der Regel nicht, dass sein Gegner zusammenbricht. Aber dass man seinem Gegner nur das Beste wünscht, lässt sich nun auch nicht behaupten. Wer so denkt, ist für den Sport nicht geeignet. Denn trotz seiner humanen Züge geht es am Ende darum, zu gewinnen. Das Gespräch führten Matthias Micus und Katharina Heise.

Ein Gespräch mit Gunter Gebauer

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ANALYSE

SPORT UND IDENTITÄT ÜBER GRENZEN, MÖGLICHKEITEN UND ­BEDINGUNGEN NATIONALER AUFLADUNG Ξ  Wolfram Pyta

Als Historiker ihre Scheu vor dem Gegenstand »Sport« überwanden und sich daran machten, das in diesem Kulturphänomen enthaltene Erkenntnispotenzial freizulegen, geriet die Frage nach der identitätskonstituierenden Kraft des Sports ins Zentrum ihres Interesses. Dies lag daran, dass sich historisch vorgehende Wissenschaften bei dieser Entdeckung des Sports von disziplinären Zugriffen leiten ließen. Kultursoziologen, Kulturhistoriker und historisch vorgehende Literatur- und Medienwissenschaftler konnten dabei eine gemeinsame Leitfrage als heuristisch besonders ergiebig identifizieren: Indem sie von der Beobachtung ausgingen, dass »Sport nicht als eine selbstzweckhafte Körperpraxis angesehen«1 werden kann, kam der Aspekt einer außerhalb der sportlichen Eigenlogik angesiedelten Bedeutungszuweisung in ihr Blickfeld. Solche Sport-Wissenschaftler sind mithin nicht erpicht, eine sportimmanente Antwort darauf zu finden, warum am 4. Juli 1954 das deutsche Team entgegen allen Erwartungen die »ungarische Wunderelf« im Endspiel der Fußball-­Weltmeisterschaft besiegen konnte. Sie konzentrieren sich vielmehr auf die Frage, warum diese zunächst rein sportliche Begebenheit kulturell veredelt wurde und eine symbolische Güte erhielt, die sie zum Wendepunkt nationaler Selbstverständigungsdiskurse in der jungen Bundesrepublik macht.2 In sportlichen Praxen ist also außersportlicher Sinn verborgen – und die sinnhafte Aneignung durch eine Öffentlichkeit, die in vielen Fällen gar keine praktische Beziehung zur kulturell aufgewerteten Sportart besitzt, ist ein legitimer Erkenntnisgegenstand. Die Bilanz der Forschung fällt dabei eindeutig aus: Nicht alle, aber bestimmte Sportarten, die sich in die nationale Sportkultur eingegraben haben, leisten einen wichtigen Beitrag zur Gemeinschaftsstiftung. Gemeinschaften bilden sich über kollektiv geteilte Dispositionen, die emotionale Valenz besitzen, zur sinnhaften Expression fähig sind und in

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1  Wolfram Pyta, Sportgeschichte aus der Sicht des Allgemein­ historikers – Methodische Zu­ griffe und Erkenntnispotentiale, in: Andrea Bruns u. Wolfang Buss (Hg.), Sportgeschichte erforschen und vermitteln, Hamburg 2009, S. 9–21, hier S. 10. 2  Vgl. Thomas Raithel, Fußballweltmeisterschaft 1954. Sport – Geschichte – ­Mythos, München 2004.

Prozesse medialer Massenkommunikation eingespeist werden. Sie sind keine gleichsam naturalen Zugehörigkeitskollektive, sondern unterliegen einem Prozess beständiger Konstruktion und Neuaneignung durch diejenigen, die sich als Angehörige solcher Gemeinschaften bekennen. Sport verfügt über die ausgeprägte Fähigkeit, an alle wichtigen Gemeinschaftsofferten anschließbar zu sein: Er kann sich mit dem Bekenntnis zur »Heimat« vermählen3, der Großgemeinschaft »Nation« zur Expression verhelfen wie auch für das Konstrukt »Europa«4 Aufbauhilfe leisten. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich damit, wie bestimmte sportliche Praxen mit nationaler Bedeutung aufgeladen wurden. Er lässt sich dabei von der Prämisse leiten, dass Nation als Bekenntnisgemeinschaft nach symbolischer Expression verlangt. Symbole erbringen eine Konzentrations- und Verknappungsleistung, indem sie kollektiv geteilte Sinnmuster zum Ausdruck bringen.5 Der Nationsdiskurs speist sich aus lebendiger Kommunikation über solche sinnenfälligen Expressionen kollektiver Identität – und der Sport fungiert in diesem Kontext als kulturelles Phänomen, das in reichem Maße über symbolfähige Offerten verfügt. Es versteht sich von selbst, dass angesichts der Komplexität des Gegenstandes und der erheblichen Forschungsdesiderate nicht mehr als ein Streifzug durch dieses so reichhaltige Terrain unternommen werden kann. Dazu wollen wir uns in eine Stadt begeben, die sich in doppelter Weise als Ausgangsstation eignet – nach Barcelona. Verfügt diese Stadt doch gleich über zwei Erinnerungsorte, welche die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Sports zur Sinnstiftung in weltweit einzigartiger Weise zum Ausdruck bringen: das Museu Olimpic i de L’esport und das Fußballstadion Camp Nou. Damit haben wir zugleich diejenigen sportlichen Wettkampfformate ausgewählt, die für solche Sinnstiftungsprozesse besonders geeignete Gegenstände bilden: die »Olympischen Spiele der Neuzeit« auf der einen Seite sowie die 3  Vgl. Sebastian Hösch, ­Heimattage, Paderborn 2019, vor allem S. 17–41. 4  Dazu Wolfram Pyta, Football Memory in a European Perspective, in: Historical Social Research, Jg. 40 (2015), H. 4, S. 255–269.

weltweit populärste Sportart, den Fußball, auf der anderen. NATIONALE SELBSTDARSTELLUNG UND INTERNATIONALE ­KONFLIKTKONSTELLATIONEN Die Olympischen Spiele der Neuzeit, die 1896 erstmals ausgetragen wurden, hatten sich von Anfang an dem modernen Wettbewerbsgedanken geöffnet. Damit konnten sie im Laufe ihres Bestehens immer wieder als Foren der na-

5  Zur Funktion von Symbolen in Hinblick auf kollektive Identität vgl. Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, Weilerswist 2000, vor allem S. 529–532 sowie S. 574–576.

tionalen Selbstdarstellung dienen. Von Berlin 1936 bis Peking 2008 haben diktatorische Regime die Gelegenheit genutzt, das weltweite Megaevent als Plattform für eine medial geschickt inszenierte Imagekampagne zu nutzen. Die Olympischen Spiele in Berlin können als Paradebeispiel dafür gelten, Wolfram Pyta  —  Sport und Identität

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wie eine Diktatur in doppelter Weise ein großes internationales Sportevent in ihrem Sinne zu nutzen vermag: Zum einen, indem das Regime den Fokus der Medienöffentlichkeit nutzt, um sich als ein Land zu präsentieren, das organisatorisch perfekte Spiele ausrichtet. In der Tat waren die Spiele in Berlin 1936 ein Markstein nicht zuletzt hinsichtlich der kommunikativen Verbreitung eines transnationalen Medienereignisses. Zum anderen, indem das olympische Team des Gastgeberlandes die inoffizielle Nationenwertung – abzulesen im Spiegel der errungenen Medaillen – für sich entscheidet. Zum ersten (und einzigen) Male errang eine deutsche Olympiamannschaft die meisten Goldmedaillen – eine Mannschaft, deren Athleten mit dem Hitlergruß auftraten.6 Zwischen 1952 und 1988 waren Olympische Spiele den Zwängen der internationalen Politik immer mehr ausgeliefert. Der dominierende Ost-WestKonflikt drückte auch den Spielen ihren Stempel auf, die sich vergeblich dem Zugriff des Kalten Krieges zu entwinden trachteten. Ihren sichtbarsten Ausdruck fand diese Entwicklung in den beiden Boykotten, welche den sport­ lichen Wert der Olympischen Spiele 1980 und 1984 radikal verminderten. 1980 entschieden sich die olympischen Komitees fast aller NATO-Staaten, die in der sowjetischen Hauptstadt Moskau stattfindenden Olympischen Spiele zu boykottieren, um die Sowjetunion für deren Invasion in Afghanistan zur Rechenschaft zu ziehen. 1984 kam die Revanche der Staaten des Warschauer Paktes: Sie erteilten Los Angeles als Gastgeberstadt der folgenden Spiele eine Absage – allerdings mit einer bezeichnenden Ausnahme. Rumänien schickte eine Mannschaft an die US-amerikanische Westküste, weil der rumänische Staats- und Parteichef Nicolae Ceaus¸escu gerne nationale Alleingänge einschlug und in der Teilnahme einer rumänischen Mannschaft eine perfekte Gelegenheit zur nationalen Profilierung erblickte. Zudem war er bemüht, das rumänische Sonderverhältnis zu den Vereinigten Staaten auf diese Weise zu pflegen.7 Der Lohn blieb nicht aus: Rumänien belegte in der Rangliste der Goldmedaillen hinter dem Gastgeberland den zweiten Platz und hatte mit der Kunstturnerin und vierfachen Olympiasiegerin Ecaterina Szabó die erfolgreichste Einzelathletin dieser Spiele in seinen Reihen. Dieser rumänische Sonderweg war auch deswegen möglich gewesen, weil Rumänien in einer Sportart weltweit führend war und daher die Olympischen Spiele als Schaufenster nationaler Imagepolitik nutzen konnte: dem Frauenturnen. Das weibliche Kunstturnen war eine Sportart, die durch ästhetisch anmutige Beherrschung den weiblichen Körper medial so präsentierte, dass rumänischen Turnerinnen die Herzen des internationalen Sportpublikums nur so zuflogen. Die erst 14-jährige Nadia Comaneci hatte bei den Spielen

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Sport — Analyse

6  Zur politischen Instrumentalisierung der Olympischen Spiele in Berlin vgl. Arnd Krüger u. William Murray (Hg.), The Nazi Olympics, Urbana 2003. 7  Vgl. Roger Kirk u. Mircea Raceanu, România împotriva Statelor Unite. Diplomat· ia Absurdului 1985–1989, Bukarest 1995, S. 24–28 sowie Harold E. Wilson, The Golden Opportunity. Romania’s Political Manipulation of the 1984 Los Angeles Olympic Games, in: OLYMPIKA. The Internationale Journal of Olympic Studies, Jg. 3 (1994), H. 1, S. 83–97.

1976 in Montreal eine rumänische Sporttradition begründet, welche acht Jahre später in den turnbegeisterten USA ihre Krönung erlebte. BEDINGUNGEN NATIONALER PROFILIERUNG Daraus lässt sich der systematische Befund ableiten, dass olympische Spiele immer dann als Schauplatz nationaler Profilierung besonders geeignet waren, wenn Individualsportler auftraten, die herausragende Leistungen erbrachten in Sportarten, die auch bei sportlichen Ignoranten hinsichtlich ihres ästhetischen Reizes Eindruck hinterließen. Auch aus diesem Grunde waren die sportlichen Erfolge, welche die Mannschaft der Deutschen Demokratischen Republik errang, nur bedingt geeignet, das krampfhafte Bemühen des SEDRegimes, die Außendarstellung ihres Staates vom Grauton einer überalterten Parteiführung zu befreien, zu forcieren. Gewiss war die DDR im olympischen Sport eine Weltmacht, die den innerdeutschen Klassenkampf gegen die westliche Bundesrepublik um Längen gewann. Der erbitterte Systemwettbewerb zwischen den beiden deutschen Staaten hatte es dem DDR-Sport erst ab 1972 ermöglicht, unter eigener Fahne und Hymne bei Olympischen Spielen aufzutreten und damit als sportlicher Botschafter des zweiten deutschen Staates zu fungieren.8 Doch welchen Eindruck hinterließ es, wenn ostdeutsche Athleten mit versteinerter Miene auf dem Siegerpodest in ihren einheitsblauen Trainingsanzügen standen und die Lippen nicht bewegten, weil das Absingen der eigenen Hymne nicht opportun war? Schließlich kam darin »Deutschland einig Vaterland« als zentrale Botschaft vor. Was war gewonnen, wenn die DDR beim Kanufahren und Schwimmen Medaillen en gros einsammelte – also in Sportarten, deren medialer Effekt eher gering war? Und welchen Eindruck nahm der Fernsehzuschauer mit, wenn Dauersiegerinnen im Schwimmen wie Andrea Pollack oder Kornelia Ender als muskelbestückte Kraftpakete nach ihrem Sieg aus dem Wasser tauchten und damit nicht dem damaligen Idealbild von Weiblichkeit entsprachen? Der deutsch-deutsche Systemwettbewerb wurde nicht im Sport entschieden. Es lässt sich vielmehr bilanzieren, dass die Versuche der DDR-Führung, über eine gezielte Förderung olympischer Sportarten internationales Prestige zu ernten und zugleich eine sportliche Legitimitätsressource zu schaffen, per Saldo erfolglos blieben. Eine eigene DDR-Identität ließ sich über den olympischen Sport auch deswegen nicht stiften, weil die DDR in der auch im Osten beliebtesten Sportart – dem Fußball – dem Westen um Längen hin8  Vgl. Uta Andrea Balbier, Kalter Krieg auf der Aschenbahn, Paderborn 2006.

terherhinkte und fast alle Fußballfans der DDR geistige Republikflucht betrieben, weil sie mit der westdeutschen Nationalmannschaft bangten und Wolfram Pyta  —  Sport und Identität

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einem Verein der westdeutschen Bundesliga verbunden waren.9 Wo nationale Substanz nicht vorhanden war, konnte auch der Sport keine nationale Entwicklungshilfe leisten. Anders sieht es bei Nationen aus, die nicht auf der sportlichen Landkarte existieren, weil sie den Sprung zum Nationalstaat nicht geschafft haben. In diesem Fall kann der olympische Sport eine Vorreiterrolle einnehmen, um der Weltöffentlichkeit die Existenz einer Nation ohne Staat zur Kenntnis zu bringen – und damit haben wir den Bogen zum Museu Olimpico in Barcelona geschlagen. Dieses Museum, günstig gelegen gegenüber dem Olympia­ stadion, dem Austragungsplatz der Olympischen Spiele von 1992, ist im Kern eine Hommage an Juan Antonio Samaranch, der von 1980 bis 2001 an der Spitze des Internationalen Olympischen Komitees ( IOC) stand und damit die Leitung der olympischen sports governance innehatte. Der Katalane Samaranch setzte mit diesem Museum nicht nur seiner Person ein Denkmal; er hob damit zugleich den genuin katalanischen Beitrag zur Entwicklung nicht zuletzt des Designs olympischer Spiele hervor. In nuce erzählt das Museum, das als olympisches Museum getarnt ist, die Geschichte eines katalanischen Eigenwegs im Sport – und gibt so unter der Hand die olympischen Spiele 1992 nicht als spanische, sondern als katalanische Spiele

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Sport — Analyse

9  Vgl. René Wiese u. Jutta Braun, DDR-Fußball und gesamtdeutsche Identität im Kalten Krieg, in: Historical Social Research, Jg. 30 (2005), H. 4, S. 191–210.

aus. Es versteht sich daher von selbst, dass Samaranch in einer Videobotschaft die Besucher nicht nur in der traditionellen Sprache des IOC – also in französischer Sprache – willkommen heißt, sondern direkt danach außerdem in katalanischer Sprache, die naturgemäß auch den offiziellen Namen des Museums bestimmt. Samaranch gelang es, der katalanischen Nationalbewegung mächtigen Auftrieb zu verschaffen, indem er seine institutionelle Position im IOC nutzte, um die Olympischen Spiele nicht in die spanische Hauptstadt

Madrid, sondern in seine Heimatstadt Barcelona zu holen.10 DER FC BARCELONA ALS BOTSCHAFTER EINER EIGENSTÄNDIGEN IDENTITÄT Die bedeutendste Pilgerstätte für Sportfans ist allerdings das Stadion des Fußballvereins FC Barcelona, Camp Nou. Am Beispiel des FC Barcelona lässt sich besonders eindrucksvoll demonstrieren, zu welchen Sinnstiftungen der Sport fähig ist. Seit dem Entstehen einer modernen Fußballkultur fungiert er als Aushängeschild katalanischer Identität. Gerade in Zeiten der FrancoDiktatur konservierte dieser Club katalanische Selbstbehauptung auf die einzige vom Zentralstaat tolerierbare Weise – nämlich durch seine Stellung in der spanischen Liga und seit den 1960er Jahren durch seine Präsenz in den europäischen Fußballwettbewerben. Die Entstehung eines europäischen Fußballraums mit einer europäischen Fußballöffentlichkeit11 nutzte der FC Barcelona dazu, die Existenz einer katalanischen Nation über Spanien hinaus zu kommunizieren. Auch als der Verein seit 2006 der Champions League seinen Stempel aufdrückte und damit endgültig zu einem der wenigen Clubs aufstieg, die kontinuierlich um die begehrteste Trophäe des Vereinsfußballs mitspielen, verleugnete er seine katalanische Mission nicht. Damit ist der FC Barcelona das vielleicht eindrücklichste Beispiel dafür, dass der Fußball auf Vereinsebene zwar internationale Stars versammelt (hier wären die Brasilianer Romario, Rivaldo und Ronaldo 10  Vgl. John Hargreaves, Freedom for Catalonia? Catalan Nationalism, Spanish Identity and the Barcelona Olympic Games, Cambridge 2000.

zu nennen sowie der Argentinier Messi), die allesamt in den Nationalmannschaften ihrer Herkunftsländer Endspielteilnahmen bei Fußballweltmeisterschaften verzeichnen, er aber in der Außendarstellung und Rezeption als Botschafter einer eigenständigen Identität auftritt.

11 

Hierzu am Beispiel von Real Madrid Borja Garcia u. a., The Contribution of Real Madrid’s First Five European Cups to the Emergence of a Common Football Space, in: Wolfram Pyta u. Nils Havemann (Hg.), European Football and Collective Memory, Houndmills 2015, S. 85–100.

Gelegentlich gelingen dabei auch erstaunliche Erfolge bei der Akkulturation ausländischer Spieler. So wurde der niederländische Weltstar Johan Cruyff zwischen 1973 und 1978 so sehr in Barcelona heimisch, dass er seinen Sohn nach dem katalanischen Nationalheiligen Jordi nannte. Er übernahm wichtige Positionen im Club nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn und trainierte zwischen 2009 und 2015 die katalanische Fußballauswahl. Cruyff Wolfram Pyta  —  Sport und Identität

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besaß eine Vision von einem technisch anspruchsvollen, offensiv ausgerichteten Fußballspiel, die er auch auf die Politik übertrug. Seine überragende Autorität als Spieler wie als Trainer verschafften Cruyff politische Freiräume, die es den Anhängern katalanischer Eigenständigkeit bis heute gestatten, ihn für ihre Zwecke zu vereinnahmen, ohne dass Cruyffs sportlicher Ruf Schaden genommen hätte. DIE FUSSBALL-WM 1974 UND DIE NATIONALE FRAGE Doch die wichtigste Bühne für nationale Selbstdarstellung im Sport sind Fußballweltmeisterschaften. Seit 1966 sind sie unbestreitbar die transnationalen Medienereignisse auf dem Gebiet des Sports mit dem weltweit höchsten Verbreitungsgrad. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass sie zu einem Politikum ersten Ranges aufsteigen können, wie am Beispiel der Fußballweltmeisterschaft 1974 gezeigt werden soll, die im Grund der einzige World Cup ist, der wissenschaftlich einigermaßen erforscht ist.12 Die Fußballweltmeisterschaft 1974 ist deswegen systematisch ertragreich, weil an ihr das spannungsreiche Verhältnis der Westdeutschen und der Ostdeutschen zur nationalen Frage aufgezeigt werden kann. Die Bundesrepublik Deutschland hatte das Luxusproblem zu bewältigen, zwei Jahre nach den Olympischen Spielen in München ein weiteres internationales Großereignis auszurichten, das der Welt deutsche Organisationskraft demonstrieren sollte. Die Olympischen Spiele 1972 hatten sich eines übergreifenden Konsenses in der Bundesrepublik erfreut: die Stadt München, der Freistaat Bayern und die Bundesrepublik Deutschland zogen an einem Strang, um der Welt ein entspanntes, weltoffenes, sympathisches Deutschland zu präsentieren. Dass dieses Konzept der »heiteren Spiele« jäh daran scheiterte, dass palästinensische Terroristen die Spiele zu einem feigen Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft missbrauchten und sich die deutschen Sicherheitsbehörden heillos überfordert zeigten, das Leben der israelischen Geiseln zu retten, gehört zur Tragik eines Bemühens der west-

12  Die maßgebliche Studie stammt von Kay Schiller, WM 74. Als der Fußball modern wurde, Berlin 2014.

deutschen Politik, bloß keine Assoziationen an die Spiele von 1936 zu wecken, an eine Nation, die im Gleichschritt dem Krieg entgegenmarschierte.13 Der Schock des Olympia-Attentats saß tief und trug im Verein mit hausgemachten Problemen der Bundesliga (»Bundesligaskandal 1971«)14 dazu bei, dass die bundesdeutsche Politik das Projekt Fußballweltmeisterschaft bei weitem nicht so engagiert mittrug wie das der Olympischen Spiele zwei Jahre zuvor. Dabei steckten im Fußball unvergleichlich mehr national ausbeutbare Ressourcen – galt doch das bundesdeutsche Team als Favorit und ein Triumph auf dem grünen Rasen konnte möglicherweise dazu beitragen,

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13  Grundlegend zu den Spielen von 1972 ist Kay Schiller u. Christopher Young, The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany, Berkeley 2010. 14  Rot-Weiß Oberhausen und Arminia Bielefeld verblieben in der Saison 1970/71 mit Hilfe manipulierter Spiele in der ersten Bundesliga.

der Bundesrepublik auf der Suche nach ihrer Identität eine wertvolle Standortbestimmung zu ermöglichen. In der Tat wurde die Weltmeisterschaft im eigenen Land zum Seismographen für das ambivalente Verhältnis der Westdeutschen zur gesamtdeutschen Nation. Dies lag auch daran, dass sich zum ersten und einzigen Mal ein DDR-Auswahlteam für die Fußballweltmeisterschaft qualifiziert hatte und es der Zufall der Auslosung wollte, dass sich beide deutschen Mannschaften in der Vorrunde begegneten. Die peinliche Niederlage (0:1) des DFB-Teams gegen eine hochmotivierte DDR-Auswahl sicherte dem Torschützen, dem Magdeburger Jürgen Sparwasser, einen Eintrag in die Sportgeschichte. Zugleich legte dieses Spiel wie der gesamte Verlauf der Weltmeisterschaft den komplexen Umgang der Deutschen in West und Ost mit der nationalen Frage frei: Die Bundesdeutschen richteten sich zunehmend in der Teilung ein und verabschiedeten sich daher vom provisorischen Charakter15 der Bundesrepublik. Der westdeutsche Teilstaat erschien immer mehr Westdeutschen, die in diesem Staat aufgewachsen waren und das geeinte Deutschland nie lebensweltlich erfahren hatten, als Endstation einer historischen Entwicklung, in welcher das Wiedervereinigungsbestreben als rituelle Beschwörung einer längst erloschenen Vergangenheit aufgefasst wurde. Das Agieren der Funktionäre des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), des Bundestrainers Helmut Schön und der westdeutschen Spieler kann hierfür als symptomatisch gelten: Die Funktionäre des DFB, einer anderen Generation angehörend, sahen in der Nationalmannschaft immer auch einen Träger nationaler Selbstvergewisserung. Daher ließen sie sich nicht auf das in den 1970er Jahren immer mehr um sich greifende Bestreben ein, den eigenen Staat auf das seelenlose Kürzel BRD zu reduzieren und damit jede semantische Referenz an Deutschland zu vermeiden. Der Mannschaftsbus, mit dem das eigene Team während der Weltmeisterschaft reiste, trug daher die Aufschrift BR Deutschland. Bundestrainer Helmut Schön, aus Dresden stammend, war das Spiel gegen das DDR-Auswahlteam ein Herzensanliegen. Doch bei den eigenen Spielern, 15  Vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, ­Stuttgart  2006. 16  Vgl. Schiller, WM 74, S. 152–163. 17  Siehe Nils Havemann, Samstags um halb 4. Die Geschichte der Fußballbundesliga, München 2013, S. 445 f.

welche die erste Generation der in der Bundesrepublik Sozialisierten repräsentierten, stießen solche nationalen Reminiszenzen auf Unverständnis. Es standen elf Individualisten auf dem Platz, die eine Zweckgemeinschaft bildeten und die im Vorfeld des Turniers mit der DFB-Spitze derart um pekuniäre Gratifikationen für den Erfolgsfall gestritten hatten, dass sogar mit Abreise gedroht worden war.16 Die Vorstellung, auch als Aushängeschild einer nationalen Gemeinschaft aufzulaufen, war den Kickern des Jahres 1974 wesensfremd. Dazu passte, dass sie konsequent darauf verzichteten, beim Abspielen der Nationalhymne mitzusingen.17 Wolfram Pyta  —  Sport und Identität

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Während selbst in Teams wie den Niederlanden und Schweden – also Staaten, die sich gerade in den 1970er Jahren als besonders weltoffen präsentierten – nicht wenige Spieler die Nationalhymne mitsangen und damit ein nationales Bekenntnis ablegten, blieben die bundesdeutschen Spieler stumm und erweckten auch körperlich den Anschein, als würden sie das Abspielen der Hymnen notgedrungen über sich ergehen lassen. SPIEGEL STATT KATALYSATOR Das Beispiel der Fußballweltmeisterschaft 1974 zeigt, dass Sport nur Ausdruck, niemals aber treibende Kraft nationaler Selbstverständigung sein kann. Wenn – wie in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland – der kulturelle Nährboden für einen genuin nationalen Diskurs ausgetrocknet ist, dann kann auch der Sport nationale Lebensgeister nicht aufwecken. Doch als sich in den ausgehenden 1980er Jahren die von vielen Westdeutschen abgeschriebene Nation wieder mächtig zu Wort meldete, bildete der Sport – und hier insbesondere das Auftreten der Fußballnationalmannschaft – einen überaus sensiblen Seismographen für die Verschiebung der kulturellen Tektonik. Wie in einem Brennglas lässt sich dies ablesen am Eröffnungsspiel der Fußballeuropameisterschaft 1988, als sich im Düsseldorfer Rheinstadion das bundesdeutsche Team und Italien gegenüberstanden. Die Politik machte in Gestalt von Bundespräsident und Bundeskanzler der westdeutschen Mannschaft unmittelbar vor Spielbeginn auf dem grünen Rasen ihre Aufwartung; und die Spieler erfüllten die in sie gesetzten Erwartungen, als Repräsentanten des Gemeinwesens aufzutreten, indem sie aus voller Brust »Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland« anstimmten.18 So lässt sich hinsichtlich des Verhältnisses von Sport und nationaler Identität folgende Bilanz ziehen: Die Nation als sich immer wieder zu erneuernde Bekenntnisgemeinschaft verlangt nach symbolischer Repräsentation. Der Sport kann dafür als reichhaltiges Reservoir dienen, weil er Individualsportler und – noch besser geeignet – Mannschaften hervorbringt, die mit genuin nationaler Bedeutung aufgeladen werden können. Ob und wie dies geschieht, ist von spezifischen historischen Konstellationen sowie von der medialen Repräsentanz der jeweiligen Sportart abhängig. Universitätsprofessor Dr. Wolfram Pyta, geb. 1960, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie, Dr. phil 1987, 1994 Habilitation im Fach Neuere Geschichte, seit 1999 Leiter der Abteilung Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart, zahlreiche Veröffentlichungen zur europäischen Geschichte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, besonderes Forschungsinteresse: Kulturgeschichte des Sports.

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18  Siehe Havemann, Samstags um halb 4, S. 447 sowie Eindrücke, die der damals live im Stadion anwesende Autor gesammelt und für sein Privatarchiv gesichert hat.

1  Vgl. zu diesem mittlerweile geflügelten Wort stellvertretend für viele: Joël Kotek u. Pierre Rigoulot, Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung, Berlin 2001. Dieser Text ist ein Ergebnis aus vielen Diskussionen im Umfeld einer Tagung zum Sport im Lager im Jahr 2015 und dem daraus folgenden Sammelband aus dem Jahr 2018: »Sport Under Unexpected Circumstances. Violence, Discipline, and Leisure in Penal and Internment Camps«, der bei V&R und Open Access erschienen ist. Ich möchte mich bei den Autorinnen und Autoren für die vielen inspirierenden Gespräche und die intensive Arbeit an den Texten bedanken. Mein besonderer Dank gilt meinen Mitherausgebern Dittmar Dahlmann und Gregor Feindt. Bei dem einen habe ich studiert, der andere hat bei mir studiert. Von beiden habe ich viel gelernt. 2  Friedrich Maase, Archiv Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Jd 2/7, Bl. 68; zitiert nach Veronika Springmann, »Sport machen«: eine Praxis der Gewalt im Konzentrationslager, in: Wojciech Lenarczyk u. a. (Hg.), KZ-Verbrechen: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager und ihrer Erinnerung, Berlin 2007, S. 92 f.

»JAHRHUNDERT DER LAGER« SPORT ALS GEWALTPRAXIS1 Ξ  Anke Hilbrenner »Nachmittags mussten wir zum Exerzieren antreten. Die alten Lagerinsassen nannten es ›Sport‹. […] Auf dem riesigen Appellplatz lag heiße Sonne, vier SSScharführer erwarteten uns, empfingen uns und vor allem die heranhumpelnden Fußkranken […]: wir werden Euch schon fertig machen! Dann hieß es Laufschritt, marsch, marsch!«2 Sport im Lager unter den Bedingungen von Repression, Hunger, Gewalt und Ermordung löst bei den Beobachtern häufig genug einen Abwehrreflex aus. Unter diesen Bedingungen muss Sport erzwungen werden und ist damit Teil des Repressions- und Gewaltapparates. Dennoch gab es auch freiwilligen Sport in Lagern, auch in Konzentrations- und sogar in Vernichtungslagern. Doch diese Praxis wirft erst recht Fragen auf: Wie können Menschen unter diesen Bedingungen freiwillig Sport treiben? Wie ihrem Körper, der von Entbehrungen durch Arbeit und Folter ohnehin strapaziert ist, weitere Belastungen zumuten? Zudem wird Sport vor allem in Bezug auf die anderen Lagerinsassen, die möglicherweise nicht oder nicht mehr stark genug sind, zum moralischen Dilemma, wie in den (fiktiven) Erzählungen aus den

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Vernichtungslagern von Tadeusz Borowski mit dem Titel »This way for the gas, ladies and gentleman«, in denen er einen Fußballtorwart in AuschwitzBirkenau sagen lässt: »Zwischen zwei Einwürfen in das Fußballspiel wurden direkt hinter unserem Rücken 3.000 Menschen ermordet.«3 »STACHELDRAHTKRANKHEIT« UND PERVERTIERTER MILITÄRISCHER DRILL Aber das ist nur eine Perspektive auf Sport in den unterschiedlichen Lagererfahrungen im 20. Jahrhundert. Das Lager ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts4, es ist als »Nomos der Moderne« bezeichnet worden.5 Das Lager steht als solches für die Entgrenzung von Gewalt und Krieg in der Moderne und wurde bereits im sogenannten Zweiten Burenkrieg (1899–1902) in Südafrika zur Internierung von Zivilist*innen genutzt. Auch während des Großen Krieges 1914 bis 1918, der später aufgrund der Häufung dieser Konflikte »Erster Weltkrieg« genannt wurde, wurden Lager etabliert. Sie dienten dem Aufenthalt von Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Von Anfang an wohnte den Lagern ein militärischer Charakter inne. Sie wurden von Militärs geplant und kamen zunächst im Kontext militärischer Ereignisse zum Einsatz. Auch deshalb spielte Sport von Anfang an eine wichtige Rolle. Im Militär diente zunächst Turnen und später dann Sport zur körperlichen Ertüchtigung und zum Drill. Bereits die frühen Lager konzentrierten relativ viele Menschen auf geringem Raum, die dort häufig keine rechte Beschäftigung hatten. Deshalb war die sogenannte »Stacheldrahtkrankheit« (barbed wire disease)6 in den Kriegsgefangenenlagern verbreitet. Die Gefangenen fühlten sich nutzlos und deprimiert, das ständige Beisammensein mit den anderen – fast ausschließlich männlichen – Insassen, fehlende (Hetero-)Sexualität, mangelnde Rückzugsmöglichkeiten und die ungewisse Zukunft verstärkten die Lagerdepression, die auch »Stacheldrahtfieber« oder »Grauer Vogel« genannt wurde.7 Sport wurde rasch als probates Mittel gegen dieses massenhafte Auftreten psychischer Erkrankungen in den Kriegsgefangenenlagern angesehen.8 Internationale Hilfsorganisationen wie

3  Tadeusz Borowski, This Way for the Gas, Ladies and Gentleman, New York 1967, S. 84. Auch für Primo Levi wurde ein Fußballspiel zur Metapher für die Komplizenschaft und Schuld, die sich mit dem Überleben des Konzentrationslagers generell verband; vgl. dazu auch: Debarati Sanyal, A Soccer Match in Auschwitz. Passing Culpability in Holocaust Criticism, in: Representations, Bd. 79 (Summer 2002/1), S. 1–27. 4  Alan Kramer, The World of Camps. A Protean Institution in War and Peace, in: Gregor Feindt u. a. (Hg.), Sport Under Unexpected Circumstances. Violence, Discipline, and Leisure in Penal and Internment Camps, Göttingen 2018, S. 23–41. 5  Zygmunt Bauman, ­Modernity and the Holocaust, Cambridge 1989; Giorgio Agamben, Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, Stanford 1998, siehe exemplarisch das Kapitel »The Camp as the Nomos of the Modern«. Vgl. dazu auch das Kapitel von Gregor Feindt und mir: Camps as Nomos of Modernity?, Feindt u. a. (Hg.), Sport Under Unexpected Circumstances, S. 43–47. 6  Adolf Lucas Vischer, Barbed Wire Disease. A Psychological Study of the Prisoner of War, London 1919, S. 54. 7  O. V., Die Stacheldrahtkrankheit. Beitrag zur Psychologie der Kriegsgefangenen, in: Dresdner Anzeiger, 31.08.1918.

das Rote Kreuz empfahlen sportliche Beschäftigung und versorgten Lagerinsassen mit Sportgeräten.9 Sport war deshalb auch im Interesse der Lagerverwaltung, sorgte er doch für reibungslose Abläufe und konnte gegenüber den internationalen Hilfsorganisationen als Beleg für die gute Behandlung der Häftlinge dienen. Deshalb stellten die Lagerverwaltungen Kriegsgefangenen und anderen Internierten sowohl Anlagen als auch andere organisatorische Hilfsmittel und Sportgeräte zur Verfügung, die den Sport im Lager ermöglichten. Die Tatsache, dass

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8  Vgl. Christoph Jahr, »We are Pursuing Sport because Such Work is not Demeaning«: Forms and Functions of Sport in Internment Camps during the First World War, in: Feindt u. a. (Hg.), Sport Under Unexpected Circumstances, S. 88–89. 9  Vgl. Vischer, Barbed Wire.

Sport mit militärischen Gewohnheiten gut zu vereinbaren war, half dem militärisch sozialisierten Lagerpersonal bei der Umsetzung in die Praxis. So war Sport im Lager keine Besonderheit, sondern eher die Regel und bei der Etablierung neuer Lager wurden die Möglichkeiten zu sportlicher Praxis häufig gleich mitbedacht. Als in den 1930er Jahren in Deutschland Raum zur Inhaftierung von politischen Gegnern und jüdischen Deutschen gebraucht wurde, griffen die neuen Machthaber auf die aus dem Weltkrieg vertraute militärische Praxis des Lagers zurück, wie Kim Wünschmann mit ihrer Arbeit zu den frühen Konzen­t rationslagern (KL, wie die zeitgenössische Abkürzung lautete) zeigen konnte.10 Im August 1933 zum Beispiel richtete die sogenannte Schutzstaffel (SS), die in der Regel für die KL zuständig war, auf einem alten Gefängnisgelände in Brandenburg an der Havel ein Lager ein, in dem bald 1000 Häftlinge – meist Regimegegner – einsaßen. Zunächst mussten die Insassen bei der Herrichtung der Lagergebäude mitarbeiten. Danach machten sich Untätigkeit und Langeweile breit. Als diese 10  Vgl. Kim Wünschmann, Before Auschwitz. Jewish Prisoners in the Prewar Concentration Camps, Cambridge 2015.

11  Vgl. Dies., »Judenexerzieren«: The Role of Sports for Constructions of Race, Body, and Gender in the Concentration Camps, in: Feindt u. a. (Hg.), Sport Under Unexpected Circumstances, S. 153–173.

begann, sowohl für die Insassen als auch für die Wärter »beschämend« zu werden, führte die SS Turnstunden ein, die zunächst aus Praktiken bestanden, die von den Insassen in den Erinnerungen als »normal« und sogar als willkommene Abwechslung empfunden wurden. Doch diese »normalen« Übungen radikalisierten sich und wurden schnell zu einer Form der Folter, wenn die Häftlinge über lange Phasen die Arme ausstrecken oder in der ­Hocke gehen mussten, bis sie nicht mehr konnten.11 Vor allem die im Lager festgehaltenen Juden wurden Opfer dieser pervertierten Form des militärischen Drills, mit dem die SS-Männer die vermeint-

12  Veronika Springmann, »Sport machen«. Eine Praxis der Gewalt im Konzentrationslager, in: Wojciech Lenarczyk u. a. (Hg.), KZ-Verbrechen. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager und ihrer Erinnerung, Berlin 2007, S. 89–101; Veronika Springmann, »Das ist die Moorolympiade«. »Lagersport« als Differenzpro­ duktion in Konzentrationslagern, in: Falk Bretschneider u. a. (Hg.), Personal und Insassen von »Totalen Institutionen«. Zwischen Konfrontation und Verflechtung, Leipzig 2011, S. 381–394.

liche Schwäche bzw. mangelnde männliche Kraft des jüdischen Körpers vor aller Augen zur Schau stellen wollten.12 Diese Praxis blieb in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern bis zuletzt stabil und findet sich nicht zuletzt in den quälend langen Zählappellen, von denen die Überlebenden berichten, und im Strafstehen, das genau wie das Strafexerzieren auch zur Selektion von »Arbeitsunfähigen« genutzt wurde.13 FUNKTIONEN DES LAGERSPORTS Dennoch gab es selbst zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, als die nationalsozialistischen Lager zum Symbol für Massenmord und entgrenzte Gewalt geworden waren, sportliche Praktiken, die jenseits von Folter und Qual den Häftlingen zumindest partielle Selbstbestimmung oder auch die Verbesse-

13  Vgl. etwa: Stanislav ­Zámecník, Das war Dachau, Luxemburg 2002, S. 142–143.

rung der eigenen Situation, das Erleben von Kameradschaft oder das Unterwerfen unter selbstgewählte Regeln ermöglichten. Veronika Springmann hat Anke Hilbrenner  —  »Jahrhundert der Lager«

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etwa am Beispiel des Lagers Mauthausen untersucht, welche Rolle sportliche Praxis im Alltag der Gefangenen spielte.14 Mauthausen war ein KL mit besonders schwierigen Lebensbedingungen für die Gefangenen. Die Zwangsarbeit musste in den Granitsteinbrüchen verrichtet werden, in denen viele Häftlinge zu Tode kamen. Mauthausen war das einzige Lager der Kategorie III im Reichsgebiet. Kategorie III bedeutete »Vernichtung durch Arbeit«. Am Beispiel einer Gruppe spanischer Häftlinge um Manuel Garcia-Barrado, der als Republikaner im Bürgerkrieg gekämpft und zunächst in Frankreich und dann in Mauthausen inhaftiert worden war, zeigt Veronika Springmann, warum sportliche Praxis im Interesse der Lagerinsassen und der Lagerleitung zugleich sein konnte. Arbeit und Sport waren zwei Säulen des Konzeptes »arischer Männlichkeit«, deshalb wurde beides in Form von Zwangsarbeit und Strafexerzieren zunächst genutzt, um die Häftlinge als das nicht-arische und nicht-männliche Gegenüber zu inszenieren. Als aber im Verlauf des Krieges Arbeitskraft eine immer wertvollere Ressource wurde, wandelte sich die Zwangsarbeit im Lager vom Missbrauch zu einer Notwendigkeit. In diesem Zusammenhang änderte sich auch der Charakter des »Lagersports«. Um produktive Arbeit zu belohnen und die guten Arbeiter in der Verfassung zu halten, weiterhin gut zu arbeiten, etablierte die Lagerverwaltung ein Prämiensystem, zu dem bessere Versorgung, Zigaretten, die Erlaubnis, die Haare länger zu tragen, und sogar Bordellbesuche gehörten. Zugleich winkte den Häftlingen, die als gute Arbeiter galten, die Möglichkeit, weniger beschwerliche Arbeit in den Lagerwerkstätten zu verrichten und von der lebensbedrohenden Schwerstarbeit in den Granitsteinbrüchen verschont zu werden. Unter den Häftlingen, die diese Privilegien genießen durften, waren auch die Mitglieder der spanischen Fußballmannschaft. Das legt den Schluss nahe, dass die Möglichkeit, Sport zu treiben, vor allem den so genannten Funktionshäftlingen zugutekam. Manuel Garcia-Barrado, der zunächst im Steinbruch arbeiten musste, stieg etwa zum Bauzeichner auf. Als solcher hatte er Zeit und konnte die Ausrüstung beschaffen, in Mauthausen Sport zu treiben. Überhaupt war der Zugang zum Fußballplatz laut den Regularien nur den Mitgliedern der »wichtigen« Arbeitskommandos erlaubt. Ab 1943 kam es in Mauthausen nicht nur zu Konzerten, sondern auch zu Fußballspielen, wobei die Mannschaften aus Spaniern, Polen, Deutschen und Jugoslawen bestanden. Wien hatte eine eigene Fußballmannschaft in Mauthausen. Veronika Springmann kann zeigen, dass Sport nicht nur ein Privileg für die Funktionshäftlinge darstellte, sondern auch eine Möglichkeit für die Insassen

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14  Veronika Springmann, »He Liked Us, Because We Were Good Athletes, Good Workers«. Productive Bodies in Nazi Camps, in: Feindt u. a. (Hg.), Sport Under Unexpected Circumstances, S. 175–191. Vgl. auch Veronika Springmanns Monographie zum Thema: Gunst und Gewalt, Sport in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Berlin 2019.

war, sich als stark und damit geeignet für produktive Arbeit zu inszenieren. Als solcher konnte der Zwangsarbeiter zum Funktionshäftling werden – und damit die Chancen für das eigene Überleben verbessern. Zugleich sorgten die Mannschaften für Netzwerke innerhalb des Lagers, die ebenfalls bessere Versorgung und schnelle Hilfe in Notsituationen bedeuten konnten. Sport bedeutete aber nicht nur für die Mitspieler eine willkommene Ablenkung im brutalen und tödlichen Lageralltag, sondern auch für die Zuschauer. Zudem wurden die Lagerorte, die zum Spielfeld wurden, zumindest temporär mit anderen Inhalten überschrieben. So wurde in manchen Lagern der Appellplatz vom Ort der Folter zeitweise zum Ort des Spiels. Bei diesem Spiel konnten die Häftlinge zumindest für den Augenblick selbstgewählten Regeln folgen, und nicht denen, die das Lagerregime für sie aufgestellt hatte. Nicht nur die Häftlinge, sondern auch die Lagerleitung, die meist aus Angehörigen der SS bestand, verfolgten die sportlichen Ereignisse als Zuschauer. Neben Fußball wird häufig von Boxkämpfen berichtet. Die Lagerwärter konnten ebenso wie die Insassen Favoriten haben. Im Gegensatz zu den Gefangenen hatten aber die SS-Männer die Möglichkeit, diese Sportler fit für den sportlichen Wettkampf zu machen, etwa indem sie von allzu harter Arbeit verschont wurden oder in den Genuss einer besseren Versorgung kamen. Von dieser Praxis wird auch aus dem sowjetischen GUL ag (diese gängige Abkürzung steht eigentlich für Glavnoe upravlenie lagerej, Hauptverwaltung Lager) berichtet, der neben den nationalsozialistischen Lagern als besonders gewaltsames und tödliches Lagersystem gilt. Körperkultur und Sport waren zumindest in der Propaganda wichtige Aspekte der angestrebten »Umerziehung« im sowjetischen Lager.15 Im Lageralltag erfüllte Sport andere Funktionen. Kriegsgefangene berichten in ihren Erinnerungen aus dem GUL ag von sportlichen Aktivitäten, in deren Rahmen einflussreiche Lagerleiter etwa erfolgreiche Fußballspieler »sammelten« und privilegierten, damit sie im Wettkampf mit anderen Lagern bestehen konnten. Oftmals wird in den Akten deutlich, dass die Sportstätten sowohl von Häftlingen als auch vom Lagerpersonal genutzt wurden. Reisen zwischen unterschiedlichen Lagern waren für die Fußballmannschaften durchaus üblich, wodurch die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen 15  Felicitas Fischer von Weikersthal, Between Coercion and Athletic Ambition. The Form and Function of Physical Culture in Soviet Forced Labour Camps, in: Feindt u. a. (Hg.), Sport Under Unexpected Circumstances, S. 131–151.

Lagerverwaltung und Lagerinsassen verschwammen. Der Sport im Lager prägte auch die Welt außerhalb der Lager. Nach der Befreiung der Konzentrationslager 1945 blieben die wenigen überlebenden Häftlinge zunächst dort. Auch die Alliierten benötigten die Lager, um die zahlreichen Verschleppten und Heimatlosen vorübergehend unterzubringen und sie von dort aus zu repatriieren oder ihnen die Ausreise in eine neue Heimat Anke Hilbrenner  —  »Jahrhundert der Lager«

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zu ermöglichen, wenn eine Rückkehr nicht möglich oder nicht erwünscht war. Aus Konzentrationslagern wurden Displaced Persons (DP) Camps.16 Und auch wenn sich vieles änderte – der politische Kontext, die Quälerei durch die SS, die Ermordungen – blieb doch einiges erstaunlich stabil, wie z. B. der Ort der Unterbringung, die Lagerhierarchie unter den Häftlingen, die hygienischen Schwierigkeiten, Versorgungsprobleme und auch die sportliche Praxis. Sport wurde in den Lagern weitergetrieben und auch neu aufgebaut. Wieder galt es, die Stacheldrahtkrankheit zu überwinden. Unter jüdischen DPs wurden nun die zionistischen Sportorganisationen, die es bereits vor dem Krieg gegeben hatte, einflussreich. Diese organisierten für zahlreiche Häftlinge die Auswanderung nach Eretz Israel, so dass der Spielbetrieb in den DP Camps immer wieder empfindlich durch Auswanderungswellen gestört wurde. Die Mannschaften schufen den Menschen wiederum persönliche Netzwerke, die zum Teil bei der Ankunft in den Auswanderungsländern, also etwa auch in Palästina, weiterexistierten. WARUM »SPORT IM LAGER«? Sport im Lager war durch das »Jahrhundert der Lager« hindurch ein stabiles Phänomen. Dennoch hat es lange gedauert, bis sich die Lagerforschung mit diesem vitalen Bestandteil des Lagerlebens beschäftigte. Vielen Forscher*innen und auch den Überlebenden selbst erschien der Sport als allzu banal, um der Realität der Menschheitsverbrechen der Lager gerecht zu werden. Die mit dem Sport verbundene Feier des gesunden Körpers schien im Angesicht von Hunger und Entbehrung, von körperlicher Qual und Folter, ungehörig. Vor allem in den Erinnerungen von Überlebenden finden wir selten Spuren sportlicher Praxis, und wenn, dann erinnern sich die Menschen mit Unverständnis an jene, die scheinbar nichts Besseres zu tun hatten, als im Ghetto oder im Lager zu turnen oder zu spielen. Diejenigen, die selbst Sport getrieben haben, erinnerten sich lange nicht daran, zu sehr schien die Fähigkeit, Fußball zu spielen, zu boxen oder zu turnen mit der »Schuld des Überlebens«17 verbunden, der Schuld gegenüber denjenigen, die es nicht geschafft haben, die ermordet wurden. Im GUL ag kam zusätzlich eine gewisse generelle Geringschätzung des Sports durch die meist intellektuellen inhaftierten Oppositionellen hinzu, die sich in vielerlei Hinsicht von den kriminellen Häftlingen abgrenzen wollten – und dies nicht zuletzt eben auch durch die Negierung von Körperlichkeit taten. Tatsächlich transzendiert Sport die Grenzen zwischen widerständigem Verhalten und Teilhabe an dem Gewaltsystem des Lagers, die scheinbar zwischen verschiedenen Gruppen verlaufen, so wie der Sport auch andere analytische

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16  Markus Velke, Recreation, Nationalization, and Integration. Sport in Camps for Estonian and Jewish DPs in Postwar Germany, in: Feindt u. a. (Hg.), Sport Under Unexpected Circumstances, S. 223–243. 17  Vgl. dazu etwa: Günter Blöcker, Die Schuld des Überlebens, in: Merkur, Jg. 17 (1963), H. 184, S. 590–594.

Grenzen verwischt, etwa die zwischen Innen und Außen, die für das Lager genauso konstituierend erscheinen wie der Stacheldraht. Auch in der Sportgeschichte blieb die sportliche Praxis im Lager lange unberücksichtigt. Das lag daran, dass die Sporthistoriker (und auch die viel selteneren Sporthistorikerinnen), die häufig als »Fans an Schreibmaschinen« geschmäht wurden, zuvorderst die Errungenschaften und Rekorde von Athleten und Funktionären feierten. Die Akteur*innen der Sportgeschichte in der Nachfolge von Pierre de Coubertin, dem Vater der Olympischen Spiele der Neuzeit, wurden nicht müde, vor allem die völkerverbindende Kraft des Sports zu rühmen. Sport gilt als friedensstiftend und ausgleichend, noch heute behaupten Sportfunktionäre und Politiker stereotyp, Sport habe mit Politik nichts zu tun. Wir Sporthistoriker*innen müssen uns fragen lassen, ob wir diese Postulate mit unserer Art, Sportgeschichte vor allem als Geschichte von Verständigung über die Grenzen von Nationen, sozialen und ethnischen Gruppen, Geschlechtern und Gesunden und Kranken hinweg zu schreiben, nicht affirmativ verstärkt haben. Deshalb ist es an der Zeit, die Geschichte von Sport auch als Gewaltpraxis in Kriegen und Lagern zu schreiben und zu erzählen. Zugleich ermöglicht die Untersuchung von Sport in Lagern einen neuen Blick auf das Lager, gerade weil damit die Grenzen von Innen und Außen, von Wärtern und Insassen sowie von Kollaboration und Widerstand überwunden werden können. Denn Sport war beides zugleich: Er half den Lagerleitungen, die Lager am Laufen zu halten und damit noch reibungsloser zu quälen, auszubeuten und zu morden. Er half aber auch den Lagerinsassen, sich selbst zu ermächtigen, aktiv ihr Schicksal, ihre Versorgung und ihren Lageralltag zu gestalten und ihr Überleben zu sichern. Lagersport ermöglicht es uns, die Geschichte der Lager aus der Perspektive von Tätern und Opfern zugleich zu erzählen, und damit der Geschichte des Sports eine bedeutende Rolle in der Gewaltgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts zu verleihen. Prof. Dr. Anke Hilbrenner, geb. 1972, ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Göttingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Jüdische Geschichte, Geschichte des Terrorismus und die Geschichte des Sports. Sie leitet ein Forschungsprojekt zum Sport während des Zweiten Weltkriegs in den von Deutschland besetzten Gebieten in Europa, das von der DFG gefördert wird. 2018 erschien der von Gregor Feindt, Dittmar Dahlmann und ihr herausgegebene Sammelband »Sport Under Unexpected Circumstances. Violence, Discipline, and Leisure in Penal and Internment Camps« im V&R Verlag in Göttingen.

Anke Hilbrenner  —  »Jahrhundert der Lager«

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VEREHRT, VERFOLGT, ­VERGESSEN JUDEN IM DEUTSCHEN FUSSBALL UND DER LANGE WEG ZUR AKTIVEN ERINNERUNGSARBEIT Ξ  Lorenz Peiffer / Henry Wahlig

In den ersten Jahrzehnten der Fußballgeschichte in Deutschland waren viele Menschen jüdischen Glaubens ein selbstverständlicher Teil der Fußballkultur: Juden waren gefeierte Spieler, geachtete Funktionäre, großzügige Förderer und Fans in ihren Vereinen. All dies änderte sich im Jahr 1933: Nur wenige Wochen nach der Machtübernahme der NSDAP begannen viele Vereine im vorauseilenden Gehorsam mit dem Ausschluss ihrer jüdischen Mitglieder und der Entfernung der bisherigen Teamkameraden aus dem kollektiven Vereinsgedächtnis. Im folgenden Beitrag sollen die vielfältigen Aktivitäten deutscher Juden in der Geschichte des deutschen Fußballsports nachgezeichnet werden. Der Spannungsbogen dieser Untersuchung bewegt sich zwischen den Polen der Inklusion und Exklusion jüdischer Fußballer in bzw. aus der bürgerlichen Fußballkultur. Bis 1933 war der Großteil der jüdischen Fußballer in den sogenannten paritätischen Vereinen des Deutschen Fußball-Bundes ( DFB) organisiert. Vor diesem Hintergrund stellen sich insbesondere Fragen nach dem Ausschluss jüdischer Mitglieder aus den Vereinen des DFB: Auf welche Weise trennten sich DFB-Vereine nach der NS-Machtübernahme von ihren jüdischen Mitgliedern und wie fügte sich diese Entwicklung in den gesamtgesellschaftlichen Prozess der Arisierung ein? Übernahm der Fußball eine Vorreiterrolle oder bot er besondere Freiräume, in denen Juden länger einen gewissen Schutz vor der NS-Verfolgung erhielten? Die Selbstorganisation jüdischer Vereine in NS-Deutschland ist bislang ein nur in seinen Grundzügen erforschtes Kapitel deutscher Fußballgeschichte.1 Mit der Rekonstruktion der Geschichte des jüdischen Fußballs in den Jahren zwischen 1933 bis 1938 soll eine besondere Form der Selbstbehauptung der deutschen Juden in der Zeit der Diskriminierung und Verfolgung in den Blick genommen und dem »Narrativ der jüdischen Massen, die passiv geblieben und ›wie die Schafe zur Schlachtbank‹ gegangen seien«2 – ein Narrativ, das lange Zeit viele Studien zum jüdischen Leben in der NS-Zeit dominierte3 –, gegenübergestellt werden.

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1  Lorenz Peiffer u. Henry Wahlig, Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland. Eine Spurensuche, Göttingen 2015. 2  Andrea Löw, Widerstand und Selbstbehauptung von Juden im Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 27/2014, S. 25–30, hier S. 25. 3  Vgl. Monika Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918–1945, Stuttgart 1982, S. 7.

VEREHRT! – DIE VORGESCHICHTE Als das Fußballspiel Ende des 18. Jahrhunderts aus England auf den europäischen Kontinent und damit auch nach Deutschland kam, war es noch ein wildes Spiel. Es gab kaum Regeln, keine Schiedsrichter, nicht selten endeten Spiele in Raufereien. Im Vergleich zu den wohlgeordneten Formen und der Disziplin des deutschen Turnens wurde dieses englische Spiel von dem deutschen Bürgertum mit sehr viel Argwohn und Skepsis betrachtet. Das neuartige Fußballspiel wurde als »Fußlümmelei«, als »englische Krankheit«, bezeichnet und galt als undeutsch, unelegant und ausländisch.4 Dies waren ähnliche Stereotype, mit denen auch Juden in Deutschland in dieser Zeit von den bürgerlichen Eliten diffamiert wurden. Trotz ihrer offiziellen rechtlichen Gleichstellung in der Verfassung von 1871 stießen Juden bei ihren Bemühungen, als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden, immer wieder an ihre Grenzen.5 Vor diesem Hintergrund eröffnete gerade der bei den traditionellen deutschen Eliten ebenfalls als »fremdartig« verpönte Fußballsport jüdischen Mitbürgern ungeahnte Partizipations- und Aufstiegsmöglichkeiten. Außer4  Vgl. u. a. Karl Planck, Fusslümmelei. Über Stauchballspiel und englische Krankheiten, Stuttgart 1898. 5  Für Borut bildeten vor allem die 1890er Jahre den Turning-­ Point in den Beziehungen zwischen der deutschen Mehrheitsbevölkerung und den jüdischen Deutschen. Vgl. Jacov Borut, The 1890s as a Turning-Point in German-Jewish History, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, Jg. 18–19 (2008/09), H. 1, S. 41–58. 6  Zu Bensemann siehe Bernd-M. Beyer, Der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte. Das Leben des Walther Bensemann. Ein biographischer Roman, Göttingen 2003; ders., Walther Bensemann – Der jüdische Fußball-Idealist, in: Diethelm Blecking u. Lorenz Peiffer (Hg.), Sportler im »Jahrhundert der Lager«. Profiteure, Widerständler und Opfer, Göttingen 2012, S. 143–148; ders., Walther Bensemann. Kosmopolit des Fußballs. Gründer des »Kicker«, Berlin 2019.

gewöhnlich viele heute noch bekannte deutsche Spitzenvereine gehen auf Fußballpioniere jüdischer Herkunft zurück. Sie waren in ihren Klubs als Spieler, Trainer, Manager oder Funktionäre aktiv. Eine der wichtigsten Persönlichkeiten und Gründungsfiguren des Fußballs in Deutschland war Walther Bensemann. Er war ein Visionär, der von der völkerverbindenden und friedenstiftenden Kraft des Fußballspiels überzeugt war. Im Alter von 14 Jahren gründete er mit englischen Mitschülern in der Schweiz den Football Club Montreux. Wenig später wechselte er auf ein Gymnasium in Karlsruhe. Damit begann seine fußballerische Mission in Deutschland: In den folgenden Jahren war er an der Gründung zahlreicher bis heute bekannter Vereine in Süddeutschland, wie Eintracht Frankfurt oder dem FC Bayern München, beteiligt. Im Jahr 1900 gehörte er neben den aus England stammenden Brüdern Gus und Fred Manning sowie John Bloch zu den jüdischen Gründungsvätern des DFB. Mit seinen liberalen und kosmopolitischen Überzeugungen war er einer der Urheber internationaler Begegnungen im Sport. Im Jahre 1920 rief er die noch heute populäre Zeitschrift Der Kicker ins Leben. Bis zu seiner Vertreibung im Jahr 1933 ins Schweizer Exil, wo er nur ein Jahr später verstarb, blieb er eine der prägenden Persönlichkeiten des deutschen Fußballsports.6 Auch jüdische Spieler wurden in diesen Jahren zu gefeierten Helden ihrer Klubs. Im Jahr 1911 wurden die beiden Karlsruher Stürmer Julius Hirsch und Gottfried Fuchs als erste und bis heute einzige Spieler jüdischer Herkunft in Lorenz Peiffer / Henry Wahlig  —  Verehrt, Verfolgt, ­Vergessen

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die deutsche Nationalmannschaft berufen. Insgesamt bestritten sie 13 Länderspiele und erzielten 17 Treffer.7 Gottfried Fuchs stellte dabei einen außergewöhnlichen und bis heute unerreichten DFB-Rekord auf: Beim 16:0-Sieg gegen Russland während der Olympischen Spiele 1912 gelangen ihm in einem Spiel zehn (!) Tore. Jüdische Fußballteams waren in Deutschland bis 1933 eine Ausnahme. Trotz der weitgehend gelungenen Integration der jüdischen Sportler in den DFB-Vereinen zeigten sich in den Krisenjahren der Weimarer Republik je-

doch auch im Fußballsport immer deutlichere Tendenzen des wachsenden Antisemitismus. 1924 verweigerte der Westdeutsche Spielverband ( WSV ) dem jüdischen Verein Hakoah Essen die Aufnahme und die damit verbundene Möglichkeit, an Rundenspielen und Meisterschaften teilzunehmen. Die Aufforderung des WSV, sich einem nichtjüdischen Verein anzuschließen, wertete die Vereinsführung als antisemitisch motivierte Absage. Als Reaktion darauf gründeten sich in weiteren westdeutschen Städten jüdische Vereine, die sich im VINTUS (Verband jüdisch-neutraler Turn- und Sportvereine Westdeutschlands) zusammenschlossen. Im November 1925 startete der V ­ INTUS die erste selbstorganisierte jüdische Fußball-Liga auf deutschem Boden.8 VERFOLGT! – DER AUSSCHLUSS DER JÜDISCHEN FUSSBALLSPIELER AUS DEN VEREINEN DES DFB Der Ausschluss der Juden aus der deutschen – und später der europäischen – Gesellschaft war von Beginn an der zentrale Aspekt der nationalsozialistischen Politik mit dem Ziel der Schaffung einer »rassisch homogenen Volksgemeinschaft«. Er erfolgte durch »Negativmaßnahmen [wie] Diskriminierung, Entfernung, Ausschaltung und Beseitigung von Fremden«. Für diesen Prozess bedurfte es einerseits der »Hilfe bloßer Befehlsempfänger« und andererseits »solcher Akteure, die Eigeninitiative entwickelten und intuitiv verstanden, was die Führung [NS-Regierung] von ihnen wollte«.9 Deutsche Turn- und Sportvereine sowie ihre Verbände zählten zu diesen Organisationen, die ab dem 30. Januar 1933 die »Arisierung« des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland in eigener Verantwortung vorantrieben und damit die Herrschaft der NSDAP zementierten. Wegbereiter und Motor dieses Prozesses im deutschen Sport war die Deutsche Turnerschaft.10 Aber auch im DFB gab es schnell Initiativen, die jüdischen Mitglieder aus den Vereinen zu entfernen. Am 9. April 1933 bekundeten 14 DFB-Vereine aus dem Süden und Südwesten der Republik, sich »der nationalen Regierung […] freudig und entschieden« zur Verfügung zu stellen und boten ihre Mitarbeit »insbesondere

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7  Zu Julius Hirsch und ­Gottfried Fuchs siehe u. a. Werner Skrentny, Julius Hirsch. ­Nationalspieler. Ermordet. ­Biografie eines jüdischen Fußballers, Göttingen 2012. 8  Vgl. Lorenz Peiffer u. Henry Wahlig, Die Geschichte des jüdischen Sports in Westfalen vor und während der NS-Zeit, in: Westfälische Forschungen, Jg. 63 (2013), S. 77–102. Zur Geschichte des Vintus siehe auch Lorenz Peiffer, Einleitung, in: Lorenz Peiffer u. Arthur Heinrich, Juden im Sport in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Ein historisches Handbuch für Nordrhein-Westfalen, Göttingen 2019, S. 24–35.

9  Peter Longerich, Tendenzen und Perspektiven der Täterforschung. Ein Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 14–15/2007, S. 3–7. 10  Siehe dazu Lorenz Peiffer u. Henry Wahlig, »Unser Verein ist judenfrei!« Ausgrenzung im Deutschen Sport. Eine Quellensammlung, Berlin 2017, S. LIIIff.

in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen« an.11 Der Kreis der unterzeichnenden Vereine dieser sogenannten »Stuttgarter Erklärung« liest sich wie das Who’s who des südwestdeutschen Fußballsports: von den Stuttgarter Kickers über Eintracht Frankfurt und den 1. FC Nürnberg bis hin zu Bayern München. Zehn Tage später veröffentlichten der DFB und die Deutsche Sportbehörde (der heutige Deutsche Leichtathletikverband) im Verbandsorgan Der Leichtathlet folgende Mitteilung: »Der Vorstand des DFB und der Vorstand der Deutschen Sportbehörde halten Angehörige der jüdischen Rasse, ebenso auch Personen, die sich als Mitglieder der marxistischen Bewegung herausgestellt haben, in führenden Stellungen der Landesverbände und Vereine nicht für tragbar. Die Landesverbände und Vereine werden aufgefordert, die entsprechenden Maßnahmen, soweit diese nicht bereits getroffen wurden, zu veranlassen.«12 Mit dieser Anordnung wurde ein reichsweiter Arisierungsprozess auf den Führungsebenen des DFB und der Deutschen Sportbehörde, in den Vereinen und Untergliederungen in Gang gesetzt. Aus den einstigen Förderern, Initia11  Der Kicker, 11.04.1933, S. 565.

12  Der Leichtathlet, 19.04.1933, S. 3.

toren und Spielern wurden jetzt Geächtete und Verfolgte. Wenige Tage nach dieser Erklärung des DFB rief der Süddeutsche Fußball- und LeichtathletikVerband (SFLV ) in der Allgemeinen Sportzeitung seine Vereine dazu auf, »die vom Vorstand des Deutschen Fußball-Bundes […] erlassenen Bestimmungen bezüglich Angehörigen der jüdischen Rasse bzw. der marxistischen Bewe-

13  Allgemeine Sportzeitung, 23.04.1933.

gung [sofort] zur Durchführung zu bringen«.13

14  Vgl. Hajo Bernett, Der jüdische Sport im nationalsozialistischen Deutschland, Schorndorf 1978, S. 20.

verbänden bereits im Laufe des Jahres 1933 eingeführt wurde, ist für den

15  Jüdische Rundschau, 09.05.1933.

Ein genereller »Arierparagraph«, wie er in vielen anderen Turn- und SportDFB bislang nicht nachgewiesen. Überliefert sind regionale Initiativen der DFB-Landesverbände, die zunächst auf den schnellen Ausschluss der jüdi-

schen Vereine abzielten. So wurden die beiden jüdischen Mitgliedsvereine des Verbandes Berliner Athletik Vereine ( VBAV ), BK Hakoah und JTSC 05 Berlin, bereits Ende März/Anfang April 1933 aus dem bis dahin überkonfes-

16  Innerhalb der jüdischen Verbände gab es bis Mitte 1933 fast keinen Spielverkehr. Der Deutsche Makkabikreis spielte seit der Saison 1928/29 zwar jährlich einen Reichsmeister aus, dieser wurde jedoch unter den wenigen fußballerisch aktiven Makkabi-Klubs im Rahmen eines Turniers an einem Wochenende ausgespielt. Einen jüdischen Ligabetrieb o. ä. gab es bis dahin lediglich in Westdeutschland in der sog. Vintus-Liga.

sionellen Verband gedrängt.14 Der SFLV, dem zu diesem Zeitpunkt immerhin noch sieben jüdische Vereine angehörten, zog nur wenige Wochen später nach.15 Da auch in anderen Regionalorganisationen des DFB in diesen Wochen ähnliche Beschlüsse gefasst wurden, waren die wenigen zu diesem Zeitpunkt existierenden jüdischen Vereine Mitte 1933 faktisch ohne jede Spielmöglichkeit.16 Zusätzlich zu der Entfernung der jüdischen Vereine wurde in einigen Regionalorganisationen des DFB auch der Ausschluss einzelner jüdischer Mitglieder aus ihren Mitgliedsvereinen veranlasst. Im Mai 1933 verkündete der Lorenz Peiffer / Henry Wahlig  —  Verehrt, Verfolgt, ­Vergessen

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Verbandsführer des WSV, Josef Klein, dass künftig »nur Deutschstämmige« an den Meisterschaftsspielen des Verbandes teilnehmen durften.17 Auch die Führung des DFB machte im Februar 1934 deutlich, was sie in der Frage der Mitgliedschaft von Juden von ihren Vereinen erwartete. Der Führer des DFB, Felix Linnemann, veröffentlichte im Reichssportblatt die »Aufgaben des

Deutschen Fußball-Bundes«. Danach war es eine der wichtigsten Aufgaben, »seine Mitglieder zu staatsbejahenden, einsatzbereiten Volksgenossen des nationalsozialistischen Staates heranzubilden«.18 Doch wer konnte überhaupt »Volksgenosse« nach der Definition der Nationalsozialisten sein? Die »nationalsozialistische Volksgemeinschaft« wurde von den Nazis rassistisch und politisch definiert: rassistisch heißt, dass nur »gesunde« Angehörige der arischen Rasse Mitglieder der zukünftigen Volksgemeinschaft sein konnten, also keine Juden, Sinti und Roma, keine Homosexuellen, keine Behinderten sowie politische Gegner des Regimes. Damit kann die Veröffentlichung der »Aufgaben des Deutschen Fußball-Bundes« in dem zentralen Organ der Reichssportführung als eine indirekte Aufforderung der Führung des DFB verstanden werden, die noch in den Vereinen verbliebenen jüdischen Mitglieder aus ihren Reihen auszuschließen. Bereits einige Monate zuvor hatte Felix Linnemann einen Entwurf für eine neue Mustersatzung der Vereine des DFB im Deutschen Fußballsport vorgestellt. Danach sollte auch die Religionszugehörigkeit der Mitglieder angegeben werden. Der angefügte Kommentar machte deutlich, welches Ziel Linnemann damit verfolgte: »Die Frage nach der Religion ist so auszubauen, daß die Abstammung rassenmäßig überprüft werden kann«.19 Generell verlief der Ausschluss der jüdischen Mitglieder in den Vereinen des DFB sehr unterschiedlich. Nur in den seltensten Fällen sind Beschlüsse des Vorstandes oder anderer offizieller Vereinsorgane überliefert wie beim 1. FC Nürnberg, der bereits wenige Tage nach der Unterzeichnung der »Stuttgarter Erklärung« den sofortigen Ausschluss seiner jüdischen Mitglieder per

17  Fußballwoche, 15.05.1933, S. 20.

Vorstandsbeschluss umsetzte. Den betroffenen Mitgliedern wurde in einem Schreiben mitgeteilt:

18  Reichssportblatt, Nr. 1/1934 (18.02.1934), S. 24.

»Wertes Mitglied, Wir beehren uns, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß der

19  Deutscher Fußballsport, 19.10.1933.

Verwaltungs-Ausschuß in seiner Sitzung vom 27. April d. J. gemäß § 32 Ziff. II folgenden Beschluß gefaßt hat: Der 1. FC Nürnberg streicht die ihm angehörenden jüdischen Mitglieder mit Wirkung vom 1. Mai 1933 aus seiner Mitgliederliste.«20 Festzuhalten ist, dass kein Fußballklub in dieser Phase der politischen Entwicklung in Deutschland zum Ausschluss seiner jüdischen Mitglieder

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20  Vgl. Bernd Siegler, Eine Fahrkarte nach Jerusalem. Der 1. FC Nürnberg wird »judenfrei«, in: Jim G. Tobias u. Peter Zinke (Hg.), Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Nürnberg 2006, S. 13–34.

gezwungen wurde. Dennoch sind nur wenige Fälle bekannt, in denen Vereine einen wesentlich toleranteren Umgang mit ihren jüdischen Mitgliedern pflegten. Dies zeigt unter anderem das Beispiel von Eintracht Frankfurt: Obwohl auch dieser Klub im April 1933 die »Stuttgarter Erklärung« unterzeichnet hatte, verzichtete er zunächst offensichtlich auf die Anwendung radikaler judenfeindlicher Bestimmung. Recherchen von Matthias Thoma zeigen, dass der Verein noch bis mindestens 1935 einzelne jüdische Mitglieder deckte und sogar Nichtarier neu aufnahm, die in anderen Klubs ausgestoßen worden waren. Die letzten Sportler jüdischer Herkunft mussten die Eintracht demnach erst im Jahr 1937 verlassen.21 Im historischen Vergleich sind solche Fälle aber eine seltene Ausnahme. DER AUFBAU EIGENER JÜDISCHER SPORTORGANISATIONEN Aus heutiger Sicht ist nicht mehr zu rekonstruieren, wie viele jüdische Fußballspieler in den ersten Monaten nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten aus ihren Vereinen ausgeschlossen wurden. Es dürften jedoch viele Tausende gewesen sein, da die jüdischen Sportvereine bereits seit dem Frühjahr 1933 einen wahren Mitgliederansturm erlebten. Die wenigen zu diesem Zeitpunkt existierenden jüdischen Klubs vervielfachten innerhalb weniger Monate ihre Mitgliederzahlen, in vielen deutschen Städten und Gemeinden entstanden neue Gruppen. So meldete Der Schild am 31. August 1933 die Existenz von 64 Sportgruppen. Am 31. Dezember 1933 waren es bereits 90 Sportgruppen mit mehr als 7.000 Mitgliedern22, von denen 34 Vereine eine eigene Fußballabteilung hatten.23 Die Leitung des Deutschen Makkabikreises hatte bereits Anfang Mai 1933 dessen Vereine aufgefordert, »allen jüdischen Turnern und Sportlern, die heimatlos geworden sind, [die eigenen] Reihen zu öffnen.«24 Im Februar 1934 hatte sich die Zahl der Makkabivereine von 26 (1928) auf 53 Vereine verdoppelt.25 Jüdische Sportvereine wurden zum letzten Zufluchtsort, an dem fußballbegeisterte Juden in Deutschland noch 21  Vgl. Matthias Thoma, »Wir waren die Juddebubbe«. Eintracht Frankfurt in der NSZeit, Göttingen 2007, S. 89 f. 22  Schild, 31.12.1933.

ihrem geliebten Hobby nachgehen durften. Die neugegründeten Vereine standen allerdings vor großen Problemen. Wo gab es Verantwortliche, die bereit waren und das Know-how hatten, einen neuen Verein aufzubauen und zu führen? Wo waren Übungsleiter und Trainer zur Betreuung der Sportler zu finden? Nicht jeder Verein hatte

23  Schild, 13.04.1933.

das Glück, dass ihm erfahrene Kräfte zur Verfügung standen, die früher in den überkonfessionellen Sportfachverbänden schon führende Rollen ge-

24  Jüdische Rundschau, 05.05.1933. 25  Makkabi, Februar 1934.

spielt hatten und damit über Organisationserfahrungen verfügten. Eine weitere zentrale Frage war, wo Sport betrieben und welche Sportstätte genutzt werden konnte. Lorenz Peiffer / Henry Wahlig  —  Verehrt, Verfolgt, ­Vergessen

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Darüber hinaus war die Zukunft des jüdischen Sports zu diesem Zeitpunkt noch völlig ungewiss. Erst gegen Ende des Jahres 1933 verbesserten sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für die ausgeschlossenen Sportler. Vor dem Hintergrund der Drohungen aus den USA , England und Frankreich, die Olympischen Spiele in Berlin 1936 wegen der antisemitischen Politik der neuen nationalsozialistischen Regierung zu boykottieren,26 räumte der von Hitler eingesetzte Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten in zwei Direktiven von Ende 1933 und Mitte 1934 die »Bildung und Betätigung« jüdischer Sportvereine ein und erlaubte ihnen auch, sich in Verbänden zusammenzuschließen. Darüber hinaus wies er u. a. die Kommunen an, fortan den jüdischen Vereinen wieder öffentliche Sportplätze zur Verfügung zu stellen.27 In der täglichen Praxis bedeutete dies dennoch, dass jüdische Fußballspieler schon in den ersten Jahren der NS-Herrschaft in eine Art »sportliches Ghetto« abgedrängt wurden: Sie mussten in getrennten Ligen und auf abgelegenen Plätzen vor den Toren der Stadt spielen und hatten fast keine Berührungspunkte mehr mit dem übrigen »deutschen Sport«.28 Innerhalb dieser Parallelwelt entwickelte sich jedoch zunächst ein überaus aktives und aus heutiger Sicht beeindruckend vielfältiges jüdisches Sportleben. In keiner Sportart zeigte sich dies so deutlich wie im Fußball: Bereits Ende 1933 nahmen erste Vereine in Berlin und in Südwestdeutschland einen regelmäßigen Spielbetrieb auf, nach deren Vorbild in den folgenden Monaten auch in anderen Regionen Deutschlands ähnliche Ligen eingerichtet wurden. Zwei konkurrierende Verbände warben um die Sportler: Auf der einen Seite stand der zionistische Deutsche Makkabikreis, der sich für eine baldige Auswanderung seiner Mitglieder aus NS-Deutschland und den Aufbau eines jüdischen Staates auf dem Gebiet des heutigen Israel einsetzte. Ihm gegenüber verstand sich der Sportbund Schild des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF) als Sammelbecken der deutsch-national orientierten Juden, die trotz der NS-Herrschaft weiterhin an ihren Assimilationsbestrebungen festhielten. Ihren höchsten Mitgliederstand erreichten beide Verbände in den Jahren 1935 und 1936. Sowohl dem Sportbund Schild wie dem Deutschen Makkabi­ kreis gehörten in dieser Zeit über 20.000 Mitglieder an, sodass der Sport mit knapp 50.000 Aktiven in dieser Zeit zu den größten Bereichen des jüdischen Lebens zählte.29 Unter den Sportlern befanden sich gut 10.000 Fußballspieler, die in mehr als 200 (!) Vereinen organisiert waren.30 Während sich Großvereine wie Bar Kochba – Hakoah Berlin mit mehr als 20 Jugend- und SeniorenMannschaften am Spielbetrieb beteiligten, kamen in kleinen Landgemeinden wie Twistringen in Niedersachsen fast alle jüdischen Jugendlichen aus

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26  Vgl. u. a. Hans Joachim Teichler, Das IOC und der Ausschluss der deutschen Juden von den Olympischen Spielen 1936, in: Berno Bahro u. a. (Hg.), Vergessene Rekorde. Jüdische Leichtathletinnen vor und nach 1933, Berlin 2009, S. 124–137. 27  Ein Abdruck der beiden Direktiven erfolgte in: Israelitisches Familienblatt, 23.11.1933 sowie Israelitisches Familienblatt, 11.10.1934. 28  Vgl. Henry Wahlig, Die Verdrängung jüdischer Sportler aus dem öffentlichen Raum in NS-Deutschland, in: Dietmar von Reeken u. Malte Thießen (Hg.), »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn 2013, S. 257–274. 29  Die Zahl von 50.000 Sportlern wird genannt in: Israelitisches Familienblatt, 23.05.1935. 30  Siehe dazu Peiffer u. Wahlig, Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland.

einem Umkreis von über 50 km zusammen, um ein paar Stunden gemeinsam Fußball zu spielen.31 Die Deutsche Meisterschaft wurde nach dem Abschluss der Rundenspiele in einem Playoff-System unter den verschiedenen Regionalmeistern ausgespielt. Dominierende Mannschaften im Makkabi waren BK Hakoah Berlin und vor allem BK Frankfurt, der zweifache Makkabi-Meister in den Spielzeiten 1935/36 und 1936/37. Im RjF-Sportbund gehörten die Berliner Sportgemeinschaft 1933, eine Neugründung der aus bürgerlichen Vereinen ausgeschlossenen Sportler, sowie Schild Frankfurt und Schild Stuttgart zu den erfolgreichsten Teams. Die Organisation und Durchführung eines solchen Spielverkehrs waren für die jüdischen Klubs mit großen Anstrengungen verbunden. Einige Vereine legten pro Saison rund 2.500 km für Auswärtsspiele zurück, wobei als Transportmittel in erster Linie Lastwagen dienten.32 Der Stellenwert des jüdischen Sports innerhalb der jüdischen Gemeinden ist daran zu erkennen, dass ab Mitte der 1930er Jahre – trotz großer Geldnöte und akuter Probleme in allen Lebensbereichen – fast jede Gemeinde einen eigenen Haushaltsposten für ihren Sportverein bereitstellte.33 Es mag aus heutiger Sicht zunächst verwunderlich erscheinen, warum der Sport im Leben der jüdischen Bevölkerung während der NS-Zeit eine so große Bedeutung einnahm. Erinnerungen von Zeitzeugen lassen vor allem zwei Schlüsse zu: Zum einen wurde der Sportplatz zu einem Schutzraum, in dem Aktive und Zuschauer die Sorgen ihres Alltags für ein paar Stunden vergessen konnten. Zum anderen bot der Sport für Juden in der NS-Zeit eine fast einzigartige Möglichkeit, ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstbewusstsein 31  Dies., Twistringen und Umgebung, in: Dies., Juden im Sport während des Nationalsozialismus. Ein historisches Handbuch für Niedersachsen und Bremen, Göttingen 2012, S. 338–347. 32  Schild, 31.12.1937.

zu stärken und zu erhalten. Von den Nationalsozialisten als körperlich degeneriert und minderwertig gebrandmarkt, konnten Juden durch den Sport sich selbst und ihrer Umwelt demonstrieren, zu welchen Leistungen sie imstande waren. Auf diese Weise wurde Sport zu einer Form des Widerstands gegen die NS-Rassenpolitik.34 Nach den Olympischen Spielen 1936 endete diese Hochzeit des jüdischen Sports in Deutschland. Für die Nazis bestand kein Grund mehr, den Sport von

33  Vgl. Henry Wahlig, Sport im Abseits. Die Geschichte der jüdischen Sportbewegung im nationalsozialistischen Deutschland, Göttingen 2015, S. 221–224. 34  Vgl. ebd., S. 219–235 sowie S. 258–260. 35  Gemeindeblatt Rheinpfalz, 2/1937.

den Repressalien ihrer antisemitischen Politik auszunehmen. Ab Ende 1936 verbot die Gestapo immer mehr jüdische Sportveranstaltungen oder sperrte den Vereinen die Sportplätze. Zugleich verloren viele Klubs ihre Mitgliederbasis, weil immer mehr Juden ins Ausland flüchteten: Vielfach waren vor Ort nun nicht mehr genügend Spieler vorhanden, um noch eine Fußballelf zusammenzustellen. So musste z. B. der Allgemeine Jüdische Jugend- und Sport­ verein Pirmasens im Frühjahr 1937 seine Fußballmannschaft »infolge Auswanderung 30 aktive(r) Sportler« aus dem Rundenspielbetrieb zurückziehen.35 Lorenz Peiffer / Henry Wahlig  —  Verehrt, Verfolgt, ­Vergessen

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Mitte des Jahres 1938 war der einst rege Spielbetrieb in den jüdischen Fußball-Ligen auf nur noch ca. 40 Klubs zusammengeschrumpft. Letzter SchildFußballmeister wurde in der Saison 1937/38 das Team von Schild Bochum.36 Nur wenige Monate später, kurz nach Beginn der Fußballsaison 1938/39, besiegelten die Pogrome des 9. November 1938 endgültig das Schicksal der jüdischen Sportbewegung. Spätestens von diesem Zeitpunkt an wurde Sport für Juden zu einer Nebensache in ihrem Kampf um das nackte Überleben. Im Jahr 1942 begannen die Deportationen der deutschen Juden in die Ghettos und Vernichtungslager des Ostens. Wie für Millionen anderer Menschen wurden diese Lager auch für viele Gründer, Spieler oder Förderer des deutschen Fußballs zur letzten Station auf ihrem Leidensweg der Entrechtung und Verfolgung. Eines der vielen Opfer der NS-Vernichtungsmaschinerie ist der siebenfache deutsche Nationalspieler Julius Hirsch, der 1943 im KZ Auschwitz ermordet wurde. VERGESSEN! Der DFB und seine Vereine beließen es nicht dabei, ihre Mitglieder auszuschließen, sie sorgten noch in den 1930er Jahren dafür, auch die Erinnerung an die jüdischen Sportler, Funktionäre und Mäzene aus dem Gedächtnis der deutschen Fußballgeschichte zu tilgen. So wurden in einem vom DFB und dem Kicker-Sportmagazin 1939 veröffentlichten Sammelalbum die Konterfeis aller Spieler abgedruckt, die bis dahin mindestens ein Spiel für die deutsche Nationalmannschaft bestritten hatten – ausgenommen jedoch die Bilder der beiden Nationalspieler jüdischer Herkunft, Julius Hirsch und Gottfried Fuchs.37 Das Andenken an seinen Nationalspieler Hirsch, der nur wenige Jahre später im KZ Auschwitz ermordet wurde, hatte der deutsche Fußball damit bereits vor Kriegsbeginn ausgelöscht. Nach der Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verfiel das deutsche Fußballgedächtnis in eine kollektive Amnesie. Die aktive Rolle des DFB und seiner Vereine bei der Umsetzung der rassistischen und antisemitischen Politik der Nationalsozialisten wurde in dem im Jahr 1949 wiedergegründeten DFB nicht thematisiert. Der DFB stellte sich zwar in die Tradition des 1900 gegründeten Verbandes, eine kritische Aufarbeitung der eigenen Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus unterblieb jedoch. Anlässlich seiner 75-Jahr-Feier hielt der Festredner Walter Jens dem DFB im Jahr 1975 den Spiegel seiner bisherigen Geschichtspolitik vor: »Das ist ja ein Aberwitz! Die Machtergreifung der Nationalsozialisten sei für den Fußballsport eher Befreiung als Fessel gewesen? […] Gab’s denn keine Fußballspieler, die Bar-Kochba-Mitglieder und Arbeitersportler, die damals aus politischen

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36  Vgl. Henry Wahlig, Die vergessenen Meister: Die jüdische Sportgruppe Bochum 1925–1938, in: SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft, Jg. 8 (2008), H. 2, S. 61–80. 37  Vgl. Hanns J. Müllenbach u. Friedebert Becker (Hg.), Kicker Bilderwerk – Die deutschen Nationalspieler, Nürnberg 1939.

oder rassistischen Gründen verfolgt worden sind? (Es gab sie. Ihre Zahl ist beträchtlich. Dies ist die Stunde, wo das ›Nicht gedacht soll ihrer werden‹ aufgehoben werden muss). Wurde kein Sportler, da er Antifaschist war, ermordet? (Doch. Einer hieß Seelenbinder.) War kein Emigrant unter den DFBFunktionären? (Doch. Man kennt sogar ihre Namen.)«38. Der emphatische Aufruf von Walter Jens an den DFB, seine »gesellschaftliche Funktion« zu begreifen und sich endlich der eigenen Vergangenheit zu stellen, verhallte in den Reihen des Verbandes jedoch zunächst ungehört. So wurden auch bei einer Neuauflage des Kicker-Sammelalbums im Jahr 1988 (!) erneut Gottfried Fuchs und Julius Hirsch »vergessen«. Kein Herausgeber oder Fußball-Funktionär hatte bis zu diesem Zeitpunkt das Fehlen der jüdischen Nationalspieler bemerkt. Erst unter dem zunehmenden öffentlichen Druck im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland sah sich auch der DFB veranlasst, seine Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus erfor-

schen zu lassen. Den Auftrag dazu erhielt der Mainzer Historiker Nils Havemann, der seine Studie »Fußball unterm Hakenkreuz« im Jahr 2005 vorlegte.39 ERINNERN! Seit der Veröffentlichung dieser Studie hat sich die Geschichtspolitik des DFB völlig verändert: Aus Verdrängung und Leugnung der eigenen NS-Vergan­ genheit ist eine aktive und engagierte Erinnerungsarbeit geworden. Mit der Stiftung des Julius-Hirsch-Preises im Jahre 2005 erinnert der DFB nicht nur stellvertretend an die jüdischen Fußballspieler, Trainer und Funktionäre, die den deutschen Fußball maßgeblich mitgeprägt haben und Opfer der na38  Walter Jens, Fußball: »Versöhnung mitten im Streit?«, in: Ders. (Hg.), Reden zum Sport. Nachdenkliches und Kritisches 1964–1999, Schorndorf 2009, S. 7–15, hier S. 11. 39  Nils Havemann, Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, Frankfurt a. M. 2005.

tionalsozialistischen Rassenpolitik wurden. Der DFB setzt mit der Stiftung und Vergabe dieses Preises auch ein »öffentliches Zeichen für die Unverletzbarbeit der Würde des Menschen« und fordert »seine Mitgliedsverbände und Vereine, seine mehr als sechs Millionen Spieler, Trainer, Funktionäre und besonders die Jugend in seinen Reihen auf, sich gegen Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen auf dem Fußballplatz, im Stadion und in der Gesellschaft zu stellen«.40 Auch das 2015 vom Verband in Dortmund eröffnete Deutsche Fußballmuseum richtet regelmäßig Gedenkveranstaltungen aus und erinnert in seiner Dauerausstellung an das Schicksal verfolgter

40  DFB, Der Julius Hirsch Preis des DFB, URL: http:// www.antidiskriminierungsforum. eu/fileadmin/bilder/dfb-juliushirsch-preis.pdf; vgl. auch DFB, Julius-Hirsch-Preis, URL: https:// www.dfb.de/preisewettbewerbe/julius-hirsch-preis/ [beide eingesehen am 08.04.2020].

jüdischer Fußballspieler. Die Wiederentdeckung der jüdischen Vergangenheit und die kritische Aufarbeitung der eigenen NS-Geschichte ist jedoch kein Prozess, der sich innerhalb des deutschen Fußballs ausschließlich von oben nach unten entwickelte. In den vergangenen gut zehn Jahren haben zahllose Fanklubs, Fanprojekte oder auch ganz einfache Mitglieder damit begonnen, vor Ort die Geschichte Lorenz Peiffer / Henry Wahlig  —  Verehrt, Verfolgt, ­Vergessen

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ihrer Vereine vor 1945 und das Schicksal verfolgter jüdischer Mitglieder in den eigenen Reihen aufzuarbeiten. Vielfach gaben sogar erst diese lokalen Initiativen den Anstoß dafür, dass sich später auch die Klubführungen erstmals öffentlich mit diesem Teil ihrer Geschichte auseinandersetzten. So geht die Wiederentdeckung des früheren FC Bayern-Präsidenten Kurt Landauer, der in der Historie des Rekordmeisters heute wieder mit an führender Stelle steht, ganz entscheidend auf das Engagement verschiedener ­U ltra-Bewegungen des FCB zurück.41 Auch die Nürnberger Ultras setzten 2012 mit einer riesigen Stadion-Choreographie für ihren ehemaligen Trainer Jenö Konrad, der bereits 1932 nach antisemitischen Angriffen im NS-Hetzblatt Der Stürmer aus der Stadt vertrieben worden war, ein unübersehbares Zeichen gegen Rassismus und für Toleranz in den eigenen Reihen.42 Diese Welle aktiver Fanarbeit ist mittlerweile auch längst in unterklassigen Vereinen angekommen: So organisierte – als ein Beispiel unter vielen – die »Supporters Crew 05« Göttingen eine gesamte Aktionswoche, ein Fußballturnier und die Anbringung einer Gedenktafel für ihr ehemaliges Mitglied Ludolf Katz. Die Fangruppe wurde dafür 2015 mit dem Julius-Hirsch-Preis ausgezeichnet.43 Zahlreiche Fanprojekte organisieren heute regelmäßig Fahrten in ehemalige Konzentrationslager und NS-Gedenkstätten. Auf diese Weise sollen gerade jugendliche Anhänger dafür sensibilisiert werden, sich aktiv gegen ein Wiederaufflammen rechtsradikaler und antisemitischer Tendenzen einzusetzen. In Zeiten, in denen viele Experten ein entsprechendes Rollback erkennen, kann der deutsche Fußball damit heute ein wichtiges gesellschaftliches Zeichen setzen, das weit über den eigentlichen Spielfeldrand der Stadien ­h inausweist.

Dr. Lorenz Peiffer, geb. 1947, war bis 2015 Universitätsprofessor am Institut für Sportwissenschaft der Leibniz-Universität Hannover. Seine Schwerpunkte in der historischen Forschung sind Geschichte des Sports im Nationalsozialismus sowie Juden im deutschen Sport. Er ist geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift »SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft« seit 2001. Dr. Henry Wahlig, geb. 1980, hat Geschichtswissen­ schaft in Düsseldorf, Vancouver und Lausanne studiert. Von 2008 bis 2015 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Seit Oktober 2015 ­Leiter des Kultur- und Veranstaltungsprogrammes im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund.

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41  Zur Geschichte Landauers vgl. Dietrich Schulze-Marmeling, Der FC Bayern und seine Juden, Göttingen 2013. 42  Zur Lebensgeschichte Konrads vgl. Katharina Wildermuth u. Bernd Siegler, Jenö Konrad, Franz Salomon und der Club. Der Umgang des 1. FC Nürnberg mit seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus, in: Alexandra Hildebrandt (Hg.), CSR und Sportmanagement. Jenseits von Sieg und Niederlage. Sport als gesellschaftliche Aufgabe verstehen und umsetzen, Heidelberg 2014. 43  DFB, Julius-Hirsch-Preis 2015 geht nach Göttingen, Oldenburg und Halle, URL: https://www. dfb.de/news/detail/julius-hirschpreis-2015-nach-goettingen-­ oldenburg-und-halle-129298 [eingesehen am 15.03.2020].

ALLTAG UND GEWALT JUGEND UND SPORT IM BESETZTEN ELSASS ­ ÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS W Ξ  Jan Hassink

In ihrem Tagebuch beschreibt Deyna Sackenreiter, Tochter eines Straßburger Chirurgen, ihren Alltag unter der deutschen Besatzung des Elsass während des Zweiten Weltkriegs. Am 16. Mai 1942 notiert die 15-Jährige: »Heute Nachmittag habe ich in der A.S.S. [Association sportive de Strasbourg, SV Straßburg 1890] zusammen mit Line, Véra, Simone und Denise de Miquette Tennis gespielt. Wir haben uns abgewechselt und, glaube ich, mehr Zeit damit verbracht, die Bälle aufzusammeln als richtige Schläge zu spielen. Es war auch das erste Mal, dass ich dieses Jahr gespielt habe. Daher war unser Spiel nicht eben überwältigend; aber wir haben uns amüsiert, und das war das wichtigste. […] Der Zustand der Bälle ist tragisch; meine sind ebenso wie mein Schläger während des Krieges verloren gegangen oder wurden gestohlen, und man findet keine neuen mehr. Kurz und gut, wir arrangieren uns.«1 Auch unter so krisenhaften Bedingungen wie während der Besatzung im Zweiten Weltkrieg stellte Sport zu treiben, sich mit Gleichaltrigen zu treffen, dabei Ablenkung zu finden, die eigene körperliche Leistung zu verbessern und sich mit anderen zu vergleichen für Kinder und Jugendliche einen wichtigen Aspekt von Freizeit und Alltagsgestaltung dar. In dem Tagebuch der jungen Elsässerin stören der Krieg und die nationalsozialistische Herrschaft nur am Rande, durch den Mangel an geeignetem Sportmaterial, die Normalität ihrer Sportaktivitäten: Sie und ihre Freundinnen »arrangierten« sich mit den Bedingungen auf dem Tennisplatz. Gleichzeitig war Sport unter der Besatzung ein Herrschaftsmittel, er diente als Strafmaßnahme und In­ strument zur Kontrolle und Disziplinierung gerade junger Menschen; unfreiwillige »Sportübungen« konnten Formen von körperlicher Misshandlung und Gewalt annehmen. Im Folgenden sollen anhand des Sports die so unterschiedlichen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen im besetzten Elsass während des 1 

Das Tagebuch befindet sich im Bestand der Association pour l’autobiographie et le patrimoine autobiographique (APA) unter der Nummer 625. Orig. französisch, Übersetzung J. H.

Zweiten Weltkriegs beleuchtet werden. Wie erlitten und erfuhren die jungen Akteure die Besatzung im Sport, welchen Zwängen unterwarf er die einen, welche Möglichkeiten und Handlungsnischen eröffnete er den anderen? In welchen Kontexten trieben Jugendliche während der Besatzung Sport, welche

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politischen und ideologischen Erwartungen knüpften politische Instanzen daran, wo bot er Raum für individuelles Aneignen durch die Akteure? Es soll dabei nicht darum gehen, systematische oder strukturelle Aussagen über Sport von Jugendlichen während der NS-Besatzung des Elsass zu treffen, sondern vielmehr die Dynamik und Vielschichtigkeit des Besatzungsalltags junger Menschen im Sport auszuleuchten, ohne dabei die sozialen Machtbeziehungen und die rassistische Hierarchie der Besatzungsgesellschaft zu ignorieren. SPORT ALS INSTRUMENT DES WIDERSTANDES UND DER KONTROLLE Die deutsche Zivilverwaltung des seit Juni 1940 faktisch annektierten Elsass betrachtete Kinder- und Jugendsport vor allem als Möglichkeit der Disziplinierung und politischen Erziehung im Sinne einer Germanisierung des Grenzraums nach nationalsozialistischen Ordnungsvorstellungen. »Wir können die Jugend vorläufig nur auf dem Weg des Sports begeistern, da uns eine ausgebildete Führerschicht für die weltanschauliche Führung noch fehlt«, brachte der HJ-Führer des süd-elsässischen Altkirch im Juni 1941 gegenüber dem lokalen Landkommissar seine Erwartungen an den Sport zum Ausdruck.2 Allein über den Sport könne eine emotionale Verbundenheit der Jugend mit dem Besatzungsregime im Elsass hergestellt werden; über ihn ließen sich gerade die junge Menschen erreichen und dadurch eine noch fehlende oder im Aufbau befindliche »weltanschauliche Führung« kompensieren. Zu diesem Zweck versuchte die Zivilverwaltung seit dem Sommer 1940, den öffentlichen Sport so umfassend wie möglich zu kontrollieren. Im August 1940 löste sie alle Jugendverbände im Elsass auf, enteignete sie und verbot »die Aufrechterhaltung des verbandsmäßigen Zusammenhalts unter den Mitgliedern«.3 Insbesondere die elsässischen Pfadfindergruppen wurden verdächtigt, Orte des Widerstands junger Menschen zu sein. Daher standen sie unter besonderer Beobachtung und waren der Verfolgung durch die Polizeibehörden ausgesetzt. Der Zusammenhalt dieser Gruppen und anderer Vereine hatte sich vor allem im gemeinsamen Sport manifestiert: Als die Sicherheitspolizei im Spätsommer 1940 in der Gemeinde Thann am Fuße der Vogesen lokale Jugendgruppen verfolgte und auflöste, befand sie die »sportliche Ertüchtigung« als den Zweck nahezu aller aufgelösten Verbände.4 Ihre Aktivitäten bestanden hauptsächlich aus Wanderungen und Zeltlagern in den Vogesen, oft verbunden mit musikalischer Förderung – Aktivitäten, die vor allem dem Zusammenhalt der Gemeinschaft und einer allgemeinen Naturverbundenheit

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Sport — Analyse

2  Archives départementales du Haut-Rhin, AL/199. Schreiben des Führers des HJ-Bannes Altkirch an den Landkommissar von Altkirch vom 12.06.1941. 3  Verordnungsblatt des Chefs der Zivilverwaltung im Elsass Nr. 1 vom 24.8.1940 (Bundesarchiv (BArch) Berlin R 83-ELSASS/2, Bl. 4).

4   BArch Berlin R 83-ELSASS/2, Bl. 7–17.

verpflichtet waren und weniger einem rein sportlichen Leistungsgedanken. Jenseits ausgeprägter konfessioneller Besonderheiten und Konkurrenzen der Gruppierungen untereinander vertraten sie zudem eine frankophile, patriotische Grundhaltung.5 Die Bedeutung des gemeinsamen Sports lässt sich nicht zuletzt am beschlagnahmten Material der Jugendvereine ablesen – dies bestand etwa bei den 26 zerschlagenen Jugendgruppen in Thann aus einer »große[n] Anzahl Turn- und Sportgeräte«.6 Einige dieser Gruppen trafen sich auch weiterhin, nun im erzwungenen Untergrund, und hielten so an ihren gewachsenen Netzwerken fest – immer in der Angst, denunziert und enttarnt zu werden. Der Sport blieb für diesen Zusammenhalt der klandestinen Jugendgruppen auch nach 1940 von großer Bedeutung, indem er ihnen alternative Gemeinschaftserfahrungen auch unter den repressiven Bedingungen der Besatzung ermöglichte. Gleichzeitig politisierten sich die Gruppenpraktiken durch die Verbote und Verfolgungen, denen die jungen Menschen ausgesetzt waren. Diese deuteten ihre Aktivitäten selbst dezidiert politisch – Sport als ein Exerzierfeld von Subversion und Widerständigkeit –, vor allem in der späteren Erinnerung: »wir wurden uns der politischen Dimension unseres Handelns bewusst«, wie es ein ehemaliger Pfadfinder ausdrückte.7 Während Pfadfindergruppen sich schon in der Zwischenkriegszeit als Träger eines patriotischen, der französischen Nation zugehörigen Elsass verstanden hatten, so gewannen derartige Normen, 5  Vgl. Julien Fuchs, La jeunesse alsacienne et la France: mouvements de jeunes et nation, 1918–50, in: European Review of History: Revue européenne d’histoire, 02.11.2017, S. 1–19, hier S. 3–9, URL: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/ 13507486.2017.1384800 [eingesehen am 09.04.2020], abgedruckt in: Ebd., Jg. 26 (2019), H. 2, S. 178–196. 6  Bericht des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD Straßburg vom 18.09.1940, BArch Berlin R 83-ELSASS/3, Bl. 36v.

Überzeugungen und daraus resultierende Handlungsmuster während der Besatzung für die Akteure noch an Bedeutung. SPORT ALS PARAMILITÄRISCHE ÜBUNG An die Stelle der verbotenen Jugendverbände und Pfadfindergruppen im Elsass sollten die Hitlerjugend (HJ) und der Bund Deutscher Mädel ( BDM) treten. Erste lokale Gruppierungen der HJ bildeten sich im Sommer 1940. Wie das »HJ-Leistungsabzeichen« des 14-jährigen Colmarer Hans Asselborn aus dem Jahr 1942 zeigt, bestanden die Sportübungen neben klassischen Disziplinen wie 100-Meter-Lauf, Weitsprung, Kugelstoßen und Schwimmen auch aus »Ziel- und Marschübungen« sowie »Geländesport« – darunter »Schießen«, »Tarnung«, »Kartenkunde« und »Entfernungsschätzen«.8 Anders als bei den primär auf Gemeinschaft und Naturerfahrung ausge-

7  »[…] nous avons pris conscience de la dimension politique de notre action.«, zit. n. Fuchs, S. 12.

8  Archives départementales du Haut-Rhin, 42J6/1.

richteten Sportpraktiken der Pfadfinder standen der Leistungs- und Wettkampfgedanke klar im Vordergrund. Durch das äußere Erscheinungsbild sowie mittels der praktizierten Übungen selbst sollte der Sport in der HJ die elsässischen Jungen dabei vor allem für den Krieg vorbereiten. Der Kriegsmetaphorik, aber auch den ganz konkreten, auf militärischen Einsatz hinweisenden Jan Hassink  —  Alltag und Gewalt

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Sportaktivitäten konnten sich die jungen Mitglieder in diesen Vereinigungen schwerlich entziehen – wollten dies teilweise aber auch gar nicht. HJ-Führer verstanden sich zuweilen als Vollstrecker eines paramilitärischen Drills im Sport und füllten diese Rolle übereifrig aus. So zeigte sich der HJ-Führer im unterelsässischen Hochfelden gegenüber den Jugendlichen extrem schroff und autoritär. Wie der Vater des HJ-Führers angab, würde sein Sohn »die Jugendlichen etwas zu grob behandeln«. An anderer Stelle heißt es, »seine Söhne [könnten] in ihrem Idealismus den Bogen etwas zu straff gespannt haben«.9

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9  Lagebericht über Hochfelden, 27.07.1941, S. 3, 1.2.7.17/82195975, ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

Für andere Jungen waren das Tragen der Uniform, das gemeinsame Marschieren und die körperlichen Aktivitäten, dokumentiert und mit Stempel beglaubigt durch die Vergabe von »Leistungsabzeichen«, durchaus attraktiv, wobei in der persönlichen Rückschau die politischen Implikationen dieser Praktiken oft zweitrangig waren: Das Abenteuer, die Sportübungen und damit verbunden das Gefühl von jugendlicher Freiheit und Unabhängigkeit von der Familie überlagerten hier die Erfahrungen ideologischer Manipulation.10 Ein Beispiel hierfür bieten die Erinnerungen des späteren Autors und Zeichners Tomi Ungerer, der, 1931 in Straßburg geboren, seine Kindheit in einem Dorf nahe Colmar verbrachte und berichtet, dass er seine »Schulkameraden mit Neid [beobachtete], wie sie sich in ihren Uniformen im Gleichschritt zum Fußballplatz begaben.« Er selbst war wegen eines Schädelbruchs von der Hitlerjugend freigestellt, »und wenn man [ihn] am Sonnabend oder Sonntag zur Übung abholen wollte, scheuchte [ihn seine] Mutter ins Bett und erklärte, dass ihr armer kleiner Junge unter entsetzlichen Schmerzen litt.«11 Fußballspielen und andere Sportaktivitäten waren jungen Menschen daneben weiterhin in zivilen Sportvereinen möglich. Zwar hatte die Zivilverwaltung neben den Jugendverbänden Anfang September 1940 auch alle »politischen und konfessionellen Turn- und Sportvereine« aufgelöst; nach schriftlicher Genehmigung des »Beauftragten für Leibesübungen« durften 10  Vgl. Lisbeth Matzer, ­Manipulation durch Gemeinschaft und Führung. Das Wirken der Hitlerjugend als ideologische Vermittlungsinstanz im Gebiet Steiermark, 1938–1945, in: Francesca Weil u. a. (Hg.), Kindheiten im Zweiten Weltkrieg, Halle 2018, S. 280–296, hier S. 296. 11  Tomi Ungerer, Die Gedanken sind frei. Meine Kindheit im Elsaß, Zürich 1993, S. 54. 12   BArch Berlin R 83-ELSASS/2, Bl. 22–24. 13  Lagebericht über Hochfelden, 27.7.41, S. 2., 1.2.7.17/82195974, ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

allerdings bestimmte, als politisch »zuverlässig« eingestufte Vereine weiterbestehen.12 Deren Sportangebot stand nicht selten in Konkurrenz zu den politischen Organisationen. In Hochfelden konstatierte ein SA-Sturmführer im Juli 1941, »dass die jüngeren Leute lieber den Sportvereinen beitreten« würden als der HJ oder der SA, hinzu kam noch das gewaltsame und brutale Auftreten des jugendlichen HJ-Führers: Die lokale HJ löste sich dann auch nach einer kurzen Zeit des »regen Zuspruch[s]« aufgrund fehlender Teilnahme der Jungen auf, was wohl sowohl am tyrannischen Umgang des HJ-Führers als auch am parallelen Sportangebot der genehmigten Vereine gelegen hatte.13 Auch der Jugendsport in den zivilen Vereinigungen erfuhr, jedenfalls rhetorisch, eine paramilitärische Ausrichtung: So befand ein Straßburger Leichtathletikverein etwa »die Herrichtung eines Sportplatzes in gewissem Sinne [für] kriegswichtig, da ja auf dem Sportplatze unsere Jugend zum Einsatz herangebildet wird.«14 Auffällig ist hierbei auch, wie eilfertig manche Sportvereine sich ideologische Versatzstücke nationalsozialistischer Propa-

14  Archives municipales de Strasbourg, 7 MW 1045, Schreiben Jenner vom 1.5.42.

ganda aneigneten, um etwa bei der Vergabe von Sportplätzen bevorzugt behandelt zu werden. Jan Hassink  —  Alltag und Gewalt

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»DIENST UND SPORT OHNE SCHONUNG« Sportpraktiken waren fester Bestandteil des Tagesablaufs junger, zum Reichsarbeitsdienst ( RAD) und Kriegshilfsdienst verpflichteter Elsässerinnen und Elsässer. Zwangseingezogene Elsässerinnen erinnerten den Sport – er bestand aus Geländemärschen, Läufen, Ball- und Gymnastikübungen sowie Wettkämpfen mit benachbarten RAD-Lagern – vor allem als Repräsentation und Einübung von Disziplin, Gehorsam und Uniformität. Dieser Normierungscharakter des Sports konnte jedoch für manche jungen Frauen auch gegenüber positiven Erfahrungen in den Hintergrund treten: »Am frühen Morgen rund um das Dorf zu laufen gefiel uns: Es war ein gutes Mittel, um einmal aus unserem Lager herauszukommen«, wie sich die 1924 in Hagenau geborene Madeleine Kauffmann an die Morgenläufe im RAD erinnerte.15 In der Wahrnehmung vieler Elsässerinnen im RAD unterstrich der gemeinsame Sport zu festgelegten Uhrzeiten am frühen Morgen und nachmittags aber vor allem den normierten, weitestgehend fremdbestimmten Tagesablauf im Lager.16 Wie schnell in den obligatorischen Sportübungen junger Menschen aber die Disziplin und der militärische Drill durch Übereifer und Zwang auch in physische Gewalt umschlagen konnten, berichtete Marie-Joseph Bopp, Lehrer für Latein und Griechisch am Jungengymnasium in Colmar, der während der Besatzung intensiv Tagebuch führte. Über die direkten Kontakte und den Austausch mit seinen Schülern flossen unterschiedliche Eindrücke aus deren Lebenswelt in seine Aufzeichnungen ein. Die Einberufung vieler elsässischer Jugendlicher in den Reichsarbeitsdienst ab Mai 1941 beschrieb er als einen tiefen Einschnitt. Am 3. Februar 1942 gab er Schilderungen eines Freundes über die Behandlung junger Menschen in einem RAD-Lager wieder: »Die jungen Elsässer werden ständig schikaniert. Um sie zu bestrafen, lässt man sie in der kalten Jahreszeit in den Hof heruntergehen, in sehr leichter Kleidung, dem Trainingsanzug [im Original deutsch], und dann befiehlt der Lagerkommandant ihnen, sich in den Schnee zu legen bis sie nass bis auf die Haut sind. Zwei Kameraden, Stocker und Stambach, sind infolge dieser Misshandlung mit einer Angina im Krankenhaus.«17 Während das Tragen des Trainingsanzugs noch entfernt auf die sportlichen Aktivitäten im Lager verweist, so wird dieser Handlungszusammenhang in der konkreten Strafsituation durch körperliche Schikane gesprengt. Auch der Fall der 17-jährigen Anneliese Bennert, BDM-Führerin aus der vierzig Kilometer südlich von Straßburg gelegenen Gemeinde Schlettstadt (heute Sélestat), verwies darauf, wie leicht und schnell in den Sportpraktiken die Grenze zu offener Gewalt überschritten werden konnte. Bennert war als sogenannte Arbeitsmaid zum RAD im Bezirk Baden-Elsass eingezogen

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15  M. Madeleine Kaufmann, 1939–1945. Ah! Si Mado avait pu s’échapper. Jeunes filles incorporées de force, Strasbourg 2016, S. 37. 16  Vgl. die Erinnerungen in Nina Barbier, Malgré-elles. Les Alsaciennes et Mosellanes incorporées de force dans la machine de guerre nazie, Paris 2018. 17  Eintrag vom 3. Februar 1942. Marie-Joseph Bopp, Ma ­ville à l'heure nazie. Colmar 1940–1945, Strasbourg 2004, S. 159. Orig. französisch, Übers. J.H.

worden. Am 29. Juni 1944 meldete der Schlettstädter Kreisleiter dem Straßburger Gaustabsamt den Tod der jungen RAD-Maid, wobei, wie sich zeigen sollte, hier auch der exzessive Sport in dem Lager eine Rolle gespielt hatte.18 Die BDM-Führerin war im März 1944 aus ihrem RAD-Lager im oberschwäbischen Guggenhausen mit einer Scharlacherkrankung in die Medizinische Klinik Straßburg eingeliefert worden. Nach ihrer Behandlung und Genesung war sie in das RAD-Lager zurückgekehrt, dort jedoch wieder erkrankt und im Juni zum zweiten Mal in die Straßburger Klinik eingewiesen worden, wo sie kurze Zeit später verstarb.19 Wohl auch, weil es sich bei der Jugendlichen um die Tochter eines NSDAP-Kreisamtsleiters handelte, veranlasste das Schlettstädter Amt für Volksgesundheit daraufhin, »die Gesundheitsführung in RAD- und Wehrertüchtigungslagern« genauer zu prüfen. Zudem hatte die

17-Jährige kurz vor ihrem Tod noch zu Protokoll gegeben, sie habe im RADLager »Dienst und Sport ohne Schonung« mitmachen müssen, darunter, wie der Leiter des Amts für Volksgesundheit berichtete, »barfuß laufen […] usf.« Die Prüfung ergab, dass die mangelnde körperliche Schonung der jungen Arbeitsmaid keinesfalls ein Einzelfall war: So meldete der Amtsleiter, »dass mancherorts (das gilt für den weiblichen RAD so gut wie für die Wehrertüchtigungslager) hinsichtlich der jungen Menschen nicht immer das notwendige Fingerspitzengefühl vorhanden« sei. Dies sei umso schwerwiegender, »als die Jugend gerade im Entwicklungsalter für gesundheitliche Schäden bei Überanstrengung besonders empfänglich« sei, und er führte mehrere Fälle auf, bei denen die körperliche Überanstrengung der Jugendlichen durch den erzwungenen »Dienst und Sport ohne Schonung« im RAD zu schweren Krankheiten geführt habe. Die Lagerführerin hatte Anneliese Bennert beschrieben »als ein sehr einsatzfreudiges Mädchen, das […] immer wieder an die notwendige Schonung ermahnt werden musste.« Was hier als »Einsatzfreude« bezeichnet wurde, deutet wohl eher auf die übersteigerte Erwartung der Tochter eines NSDAP-Funktionärs und einer BDM-Führerin hin, die an sie und ihren Körper gestellten Forderungen zu erfüllen und in dem ganz auf physische »Stärke« und Durch18  »Gesundheitsführung im RAD- und Wehrertüchtigungslager«, Bericht der Kreisleitung Schlettstadt vom 29.06.1944. Archives nationales Paris, AJ/40/1486. 19  Schreiben des Schlettstädter Amts für Volksgesundheit vom 26.08.1944, Archives nationales Paris, AJ/40/1486 (dort auch die folgenden Zitate).

halten ausgerichteten System des RAD-Lagers keine »Schwäche« zu zeigen. Der Tod der Schlettstädter BDM-Führerin im RAD-Lager war neben einer allgemein mangelhaften Gesundheitspflege im Lager und den übrigen Anstrengungen des Arbeitsdienstes insofern mitverschuldet durch ihre körperliche Überanstrengung im Sport. Der häufige Verweis auf den Sport in den Berichten verdeutlicht insgesamt, dass die Körper junger Menschen teilweise extreme physische Gewalt erlitten. In den Einlassungen der Ärzte erscheinen die jungen Körper dabei gleichzeitig als besonders zu schützen, dies aufgrund Jan Hassink  —  Alltag und Gewalt

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ihrer noch nicht abgeschlossenen Entwicklung, und als form- und erziehbar. Sollten die Körper der Kinder und Jugendlichen einerseits durch Training, Sport und Gymnastik erzogen und diszipliniert, gestärkt und optimiert werden, konnten derartige Praktiken diese Körper andererseits auch schwächen. Nur in Einzelfällen wurden Elsässerinnen und Elsässer wie etwa der junge Tomi Ungerer krankheitsbedingt vom Sport in den NS-Organisationen befreit. Als Vergleichsgröße dieser Optimierung der jungen Körper wurde regelmäßig das »Altreich« herangezogen, an dessen Standards sich das Elsass zu orientieren habe: Die vermeintliche physische Unterlegenheit der elsässischen Jugend gegenüber der »deutschen« war ein verbreiteter Topos seit Beginn der Besatzung. Die Straßburger Neuesten Nachrichten, die amtliche Tageszeitung der NSDAP im Elsass, wollte schon im August 1940 in der »Vernachlässigung des

Nachwuchses« einen »rote[n] Faden durch alle Sportzweige« ausmachen.20 Das Motiv der Rückständigkeit junger Elsässerinnen und Elsässer im Sport ging dabei regelmäßig mit dem Postulat überlegener »deutscher Körperkraft« einher. KIPPMOMENTE Dem Besatzungsregime im Elsass diente der Sport damit als eine Projektionsfläche nationalsozialistischer Ordnungsvorstellungen von Kindheit und Jugend, wobei diese Vorstellungen geschlechtsspezifisch codiert waren: Junge männliche Körper sollten im Sport Kraft und Kampfbereitschaft trainieren, weibliche vor allem ihre Gesundheit pflegen, aber auch Disziplin und Unterordnung praktizieren. Sportliche Praktiken junger Menschen verweisen im transnationalen Grenzraum auf die utopische Vision einer als ethnisch homogen, wehrhaften und gesund gedachten Gemeinschaft, die sich gerade hier, an ihren räumlichen Grenzen, als eine solche zu definieren suchte. Sport bot dabei Zugriffsmöglichkeiten und suggerierte Verfügungsgewalt über junge Körper in unterschiedlicher Weise und mit verschiedenen Absichten: Er weckte Emotionen, manche jungen Menschen konnten daran partizipieren und Gruppenzugehörigkeit erfahren, andere, wie etwa die vielen elsässischen Pfadfinder, wurden durch Verbote und Auflösungen gewaltsam aus ihren gewohnten Vertrauensgruppen im Sport gelöst. Sport repräsentierte Disziplin, Formierung und Optimierung im Sinne einer körperlichen Vorbereitung auf den Krieg und im Vergleich mit dem »Altreich«. Manche der jungen Akteure erfüllten diese im Sport an ihren Körper gestellten Erwartungen, gingen darin auf, übererfüllten sie gar. Andere entzogen sich diesen Zugriffen, wurden wie im Fall Tomi Ungerers von ihren Eltern davon abgehalten oder versahen sie wie die junge Madeleine

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20  Straßburger Neueste Nachrichten vom 24.08.1940, S. 8.

Kauffmann mit einem eigenen Sinn und subjektiver Bedeutung: Sie fanden darin Spaß, Aufmerksamkeit und Anerkennung, Ausdrucksformen von Unangepasstheit und Subversion oder Flucht aus familiären Bindungen. Deyna Sackenreiter, die mit ihren Freundinnen während der Besatzungszeit Tennis spielte, schwimmen ging und Schlittschuh lief, pflegte im Sport ihre sozialen Kontakte, beobachtete und bewertete ihre persönlichen Erfolge und projizierte ihre Wünsche auf den Sport. Er half ihr, »sich im Unübersichtlichen einzurichten«,21 und bot ihr einen relativ stabilen Erfahrungsraum, eine Orientierung in der Gegenwart, an die sie Zukunftserwartungen knüpfte. Viele andere junge Menschen aber wurden von solchen Erfahrungen ausgeschlossen oder erlebten Sport als einen gewaltsamen Angriff auf ihre körperliche Unversehrtheit: Trotz der relativ gehobenen Position ihres Vaters in der NS-Hierarchie 21  Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, München 2009, S. 66. 22  Auf der Tagung »Societies under German Occupation during the Second World War: Housing, Leisure and Everyday Life« in Jena am 17. und 18. Oktober 2019. Vgl. auch Martin Borkowski-­ Saruhan, Tagungsbericht: Housing, Leisure and Everyday Life: Societies under German Occupation/Wohnen, Freizeit, Alltag: Besatzungsgesellschaften im Europa des Zweiten Weltkrieg, 17.10.2019–18.10.2019 Jena, in: H-Soz-Kult, 24.02.2020, URL: . den Tagungsbericht von Martin Borkowski-Saruhan, in: H-Soz-Kult, 24.02.2020 [eingesehen am 31.03.2020].

als Kreisamtsleiter konnte sich die junge RAD-Maid aus Schlettstadt dem körperlichen Zwang und der Gewalt, der Sport für sie bedeutete, nicht entziehen. Sport als scheinbar banale Praktik konnte für die jungen Akteure gleichsam in verschiedene Richtungen »kippen«: Der Disziplinierungsversuch junger Körper kippte vom begeisterten Mitmachen in Übereifer und in Gewalt; Sportaktivitäten schlugen vom Abenteuercharakter in Zwang, Optimierung und Ausgrenzung um. Tatjana Tönsmeyer hat diese Denkfigur der »Kippmomente« für die Beschreibung des Besatzungsalltags im Zweiten Weltkrieg in die Diskussion gebracht.22 Der Blick auf den Sport bietet die Möglichkeit, derartige Kippmomente sichtbar zu machen, in denen sich die Normalität und alltägliche Routinen als besonders fragil erwiesen. Er lässt Dissonanzen und die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Erwartungen und Erfahrungen zu und wird damit der Komplexität des Besatzungsalltags junger Menschen während des Zweiten Weltkriegs gerecht. Im Sport wird zudem deutlich: Kinder und Jugendliche sind, wie auch Nicholas Stargardt einfordert, nicht bloß als passive Opfer von Gewalt, als »stumme und traumatisierte Zeugen« des Krieges zu betrachten, sondern als eigenständige Akteure.23 Sport ermöglicht es, diese individuellen Jugend- und

23  Nicholas Stargardt, Kinder in Hitlers Krieg, München 2008, S. 36.

Kindheitserfahrungen jenseits der einen, »großen« Besatzungsgeschichte zu rekonstruieren. Jan Hassink, geb. 1989, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand im DFG-Projekt »Alltag im Krieg jenseits von Kollaboration und ­Widerstand. Sport und Gewalt in den von Deutschland besetzten Gebieten ­während des Zweiten Weltkriegs in Ost- und Westuropa« an der Universität Göttingen. Er hat in Marburg und Poitiers Geschichte, Französisch und Latein studiert und das Referendariat für das Lehramt an Gymnasien absolviert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die transnationale Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 20. Jahrhundert und die Alltagsgeschichte der Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg.

Jan Hassink  —  Alltag und Gewalt

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»ZEITALTER DER FITNESS«? KÖRPERKULTUR UND FITNESS – GESTERN UND HEUTE Ξ  Bernd Wedemeyer-Kolwe Sport und Turnen in Deutschland sind seit ihrer Etablierung im (späten) 19. Jahrhundert bis heute organisatorisch im Vereins- und Verbandswesen verortet: Die Sport- und Turnvereine ordnen sich sportartenspezifisch Fachverbänden zu und sind gleichzeitig noch geografisch verankert – in der DDR in Betriebssportgemeinschaften, Kreisen und Bezirken und in der Bundesrepublik in Stadt-, Kreis- und Landessportbünden. National wurden und werden die Vereine von entsprechenden, zum Teil nur schwach ausgeprägten Dachorganisationen betreut: bis 1933 im Deutschen Reichsausschuss für Leibesübungen, bis 1945 im (Nationalsozialis­ tischen) Reichsbund für Leibesübungen, nach 1945 im Deutschen Sportbund ( DSB) der BRD bzw. im Deutschen Turn- und Sportbund ( DTSB) der DDR und gegenwärtig im übergeordneten Deutschen Olympischen Sportbund ( DOSB). Kurz vor dem Ersten Weltkrieg umfassten die Vereine und Verbände etwa 1,5 Millionen männliche und weibliche Mitglieder, in der Weimarer Republik trieben schon ungefähr vier Millionen Personen Sport und Turnen im Verein, in der BRD und DDR umfasste der organisierte Sport je nach Zeitpunkt zwischen fünf und 20 Millionen Mitglieder, und aktuell betreut der DOSB über 27 Millionen Turn- und Sportvereinsangehörige. ZWEIERLEI SPORT Der Fokus in Vereinen und Verbänden lag und liegt im Wesentlichen auf Breiten- und Leistungssport gängiger traditioneller Mannschafts- und Einzelsportarten; Sport (und in Maßen auch Turnen) unterliegt damit dem Vergleichsprinzip des »Schneller, höher, weiter« mit Leistung, Wettkampf, Konkurrenz und Rekord. Eine weitere wichtige Bedeutung des traditionellen Vereinswesens war und ist seine Funktion als lokaler Ort der Geselligkeit. Innerhalb der Regionalstruktur fungier(t)en Vereine zudem als feste Bestandteile sozialer, kultureller und politischer Zugehörigkeiten.1 Außerhalb dieses üblichen, in historischen Vereinen und Verbänden organisierten Sports gab und gibt es in Deutschland aber immer noch andere körpergeschichtliche Strömungen, deren Organisation, Ideologie und Praxis ab 1900 zunächst als »Körperkultur« bekannt wurden und seit einigen Jahrzehnten als »Fitness« bezeichnet werden. Sie unterscheiden sich (historisch)

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1  Als historische Übersicht geeignet ist immer noch Michael Krüger, Geschichte der Leibesübungen und des Sports, Schorndorf 2005; historische Statistiken und Zahlen finden sich gebündelt in Heike Wolter u. Bernd Wedemeyer-Kolwe, Kultur, Tourismus und Sport, in: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, S. 154–171, hier S. 168 ff.

vom Vereins- und Verbandssport – vereinfacht gesagt – in ihrer entweder kommerziellen und/oder privaten Organisationstruktur, in ihren auf (körperliche) Selbstoptimierung und weniger bzw. gar nicht auf Wettkampf und Vergleich ausgerichteten Körperübungen und in ihrer soziokulturellen Funktion als Element individueller Körpererfahrung sowie als Symbol sozial und gesellschaftlich angestrebter Werte. Dabei gelten die Körperübungen – Bodybuilding, Fitnesssport, Kraftgymnastik, esoterische und asiatisch orientierte Körperpraktiken, Extrem- und Actionsportarten (gegenwärtig) und Freikörperkultur (Weimarer Republik) – auch aufgrund des tendenziellen Fehlens eines konventionellen Wettkampfund Konkurrenzbezugs zumindest in Turn- und Sportkreisen nicht als klas2  Vgl. dazu die Übersichten von Bernd Wedemeyer-Kolwe, »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004; Erika Dilger, Die Fitnessbewegung in Deutschland, Schorndorf 2008 für die BRD sowie Andreas Müller, Kulturistik. Bodybuilding und Kraftsport in der DDR. Eine sporthistorische Analyse, Köln 2011; vgl. auch Mischa Kläber, Moderner Muskelkult. Zur Sozialgeschichte des Bodybuildings, Bielefeld 2013; wiederholt in weiten Teilen bereits Bekanntes. Jürgen Martschukat, Das Zeitalter der Fitness. Wie der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde, Frankfurt a. M. 2019, legt den Fokus eher auf amerikanische Verhältnisse und bezieht nur marginal die Forschungsliteratur zur deutschen Sport- und Fitnessgeschichte mit ein. 3  Vgl. zu Nordamerika ausführlich Martschukat und aus der Fülle an Literatur z. B. James Whorton, Crusaders for Fitness. The History of American Health Reformers, Princeton 1982 oder John Kasson, Houdini, Tarzan and the Perfect Man. The White Male Body and the Challenge of Modernity in America, New York 2001 sowie beispielhaft zu Frankreich Gilbert Andrieu, Accord à Corps. Edmond ­Desbonnet et la culture physique. Photographies de la collection Desbonnet, Paris 1993.

sische Sportarten im herkömmlichen Sinn. Mit anderen Worten: Während im traditionellen Sport und Turnen das Ziel eine bestimmte Wettkampfleistung in einer definierten Sportart ist, das über den speziell trainierten Körper erreicht wird, stellt in der Körperkultur- und Fitnessbewegung der trainierte und ausgetestete bzw. der gestaltbare und gestaltete Körper das Ziel der Übung dar. Und: Während es sich im Turn- und Sportverein um eine zeitlich begrenzte sportliche Freizeitbeschäftigung handelt, ist die Fitnessidee im Sinne einer Sorge um den Körper eine ganztägig und lebenslang zu verrichtende Praxis.2 DIE FITNESSBEWEGUNG IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT Die Geschichte der kommerziellen Fitnessbewegung in Deutschland beginnt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und weist mit der Zeit um 1900 bis etwa 1933 und der Epoche ab den 1970er/1980er Jahren bis heute zwei ausgeprägte Höhepunkte auf. Zwar ist das Phänomen beileibe keine genuin deutsche, sondern eine tendenziell europäische und nordamerikanische – mithin eine moderne westliche – Erscheinung, in anderen Ländern verliefen die historischen Entwicklungen aber teilweise unterschiedlich.3 Die erste »Fitnessbewegung« – der Begriff Fitness wurde schon vereinzelt ab 1900 auf die Körperkulturbewegung angewendet – entwickelte sich zunächst subkulturell im Zirkusmilieu, im Berufssport sowie in den unterbürgerlichen frühen städtischen Gewichthebervereinen, deren Protagonistinnen und Protagonisten ihre starken und muskulösen Körper aufwendigen Trainingsprozessen unterzogen und sie auf internationalen Shows, in Filmen und auf Postkartenserien zeigten. Die Vorbildfunktion und die Popularisierung dieser Körper eröffneten den Protagonistinnen und Protagonisten die Möglichkeit, einen internationalen Markt mit Sportstudioketten, Heimtraining und mobilen Kursangeboten, einen Versandhandel mit Fitnessgeräten Bernd Wedemeyer-Kolwe  —  »Zeitalter der Fitness«?

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und Hanteln und einen Vertrieb von Körperübungsbüchern sowie öffentliche Körpervergleichswettbewerbe zu etablieren. In Deutschland dürfte es in der Zeit zwischen 1900 und den späten 1920er bzw. frühen 1930er Jahren Hunderte städtischer kommerzieller Sportstudios (für beide Geschlechter) sowie ebenfalls Hunderte von Anleitungsbüchern mit manchmal fünfstelliger Auflagenzahl gegeben haben. Insgesamt dürfte die Körperkulturbewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zwischen mehreren Zehntausend und etwa einer knappen Million Absolventinnen und Absolventen umfasst und damit ungefähr 20–25 % aller weiblichen und männlichen Sporttreibenden jener Epoche ausgemacht haben.4 Das Interesse der Fitnessunternehmer an der Zurichtung des Körpers traf sich bald mit dem Interesse ihrer Kunden aus den bürgerlichen Schichten an der Formung, Funktionsverbesserung und Optimierung sowie an Gesundheits- und Entspannungstechniken des Körpers, so dass ab den 1920er Jahren zusätzliche Körpertechniken wie Yoga und yogaähnliche Körperübungen, (Rhythmische) Gymnastik, Kraftgymnastik, Tanz und Freikörperkultur in die Übungspalette mitaufgenommen wurden. Selbstverständlich gab es für diese Körpertechniken ebenfalls bald Übungsgruppen, Schulen, Kurse und Anleitungsbücher. Gerade die Anleitungsbücher boten zusätzlich noch Ernährungs-, Verhaltens- und Gesundheitstipps an und entpuppten sich mit ihrem erweiterten Lebensführungsprogramm inklusive Karriere- und Erfolgshinweisen als Teil der veritablen Ratgeberliteratur des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Gleichzeitig wuchs in der industriellen modernen Gesellschaft und ihren wissenschaftlichen, politischen und sozialen Motoren und Leitsegmenten – Medizin, Arbeitsphysiologie, Wirtschaft, Militär, Sport sowie Kunst – das Interesse an funktionsfähigen, attraktiven und muskulösen – mit anderen Worten: fitten – Körpern beiderlei Geschlechts. Dabei standen Formen, Praktiken und Theorien der Verbesserung von Leistung, Gesundheit und Fitness im Brennpunkt der damaligen Biopolitik, und zwar sowohl als individuelles Projekt am eigenen Körper als auch als gesellschaftlich-politisches Phänomen zur Optimierung der jeweiligen (nationalen) Bevölkerung.5 DIE FITNESSWELLE SEIT DEN 1970ER/1980ER JAHREN Die zweite – und gegenwärtige – Fitnesswelle in Deutschland entstand in den 1970er und 1980er Jahren, und ihre frühe Entwicklung ähnelt den Anfängen der ersten deutschen Körperkulturbewegung des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis weit in die 1970er Jahre hinein blieben in der Sportlandschaft der BRD die traditionellen vereinsgebundenen

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Sport — Analyse

4  Vgl. zu dieser frühen Fitnessbewegung grundsätzlich Wedemeyer-Kolwe, Mensch, sowie Franz Bockrath u. Kathrin Schultz (Hg.), Kraft, Muskeln und Geschlecht. Performanz muskulöser Körper im Spitzensport, Berlin 2018, S. 25–36 und Bernd Wedemeyer-Kolwe, Frauen im bürgerlichen Kraftsport des Fin de Siècle. Eine kulturgeschichtliche Annäherung, in: SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft, Jg. 19 (2019), H. 2, S. 53–66. 5  Vgl. dazu WedemeyerKolwe, Mensch, sowie zur Körpergeschichte Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a. M. 2001 und aus der Fülle an jüngerer (sporthistorischer) Literatur Stefan Scholl (Hg.), Körperführung. Historische Perspektiven auf das Verhältnis von Biopolitik und Sport, Frankfurt a. M. 2018.

Turn- und Sportorganisationen weitgehend alternativlos – und in der DDR gab es bis 1989 ohnehin fast nur Betriebssportgemeinschaften ( BSG). In den 1970er Jahren waren über sieben Millionen weibliche und männliche Mitglieder in 40.000 Vereinen des DSB der BRD organisiert, in der DDR ungefähr fünf Millionen Personen in etwa 10.000 BSG des DTSB, Tendenz weiter steigend. Aber ab den 1960er und 1970er Jahren kamen in der BRD zunehmend kommerzielle Sportanbieter ins Spiel, wenn sie auch lange Zeit noch ein Außenseiterphänomen blieben. In den späten 1960er Jahren – die Zahlen sind unsicher – sind zwar lediglich etwa 40 Bodybuildingstudios in der BRD nachweisbar, in den frühen 1980er Jahren zählte man aber schon über 3.000 und in den späten 1980er Jahren über 4.000 jetzt »Fitnessstudios« genannte Einrichtungen, während in der DDR private und kommerzielle Bodybuildingund Fitnessstudios bis 1989 die Ausnahme blieben und sich hier die Szene weitgehend im kulturellen Abseits abspielte. In den 1990er Jahren erhöhte sich dann die Zahl der Studios schnell von über 5.000 auf über 6.000; für 2016 wurden 8.700 Studios mit zehn Millionen weiblichen und männlichen Mitgliedern gezählt.6 Ab den 1970er Jahren traten zusätzlich auch kommerzielle Aerobic- und ­Yogaanbieter auf, später entwickelte sich die vereinsfremde Laufbewegung, noch später kam der Action- und Extremsport hinzu. Dabei werden die Fitnessstudios im Zuge der Bedeutungsverschiebung zum Gesundheitssport kaum noch von klassischen Bodybuildern bevölkert, sondern sie halten mittlerweile eine Vielzahl an Fitness-, Wellness-, Gesundheits- und Entspannungsofferten für eine interessierte bürgerliche Mittelschicht bereit. Gleichzeitig stieg – ähnlich wie in der Zeit zwischen 1900 und 1933 – das Angebot an Körperanleitungsbüchern und Fitnessmagazinen mit monoma6  Vgl. dazu Dilger, S. 280 ff.; Eike Emrich, Bodybuilding aus Athletensicht. Analysen, Interpretationen und Assoziationen, Witten 1992, S. 13 f.; Müller, S. 303 ff. zur »Kulturistik« der DDR; Martschukat, S. 55 sowie Arnd Krüger u. Bernd Wedemeyer (Hg.), Kraft-Körper, Körper-Kraft. Zum Verständnis von Körper­ kultur und Fitness gestern und heute, Göttingen 1995; Bernd Wedemeyer, Starke Männer, ­starke Frauen. Eine Kulturgeschichte des Bodybuildings, München 1996 sowie Jörg Scheller, No Sports! Zur Ästhetik des Bodybuildings, Stuttgart 2010.

ner Lebensratgeberfunktion auf der Basis leistungsorientierter Selbstoptimierung; ein ausgedehnter Geräte- und Nahrungsversandhandel schloss sich an. Schon ab den 1960er Jahren hatten sich konkurrierende Bodybuilding- und Fitnessverbände gegründet, die – häufig in Verbindung mit Bodybuilding­ studios – Fitness- und Bodybuildingwettbewerbe sowie Fitnessmessen initiierten. Später formierten sich noch entsprechende Berufsverbände und Bildungsinstitute, die die Ausbildung von Fitness- und Gesundheitssportfachkräften in der nun »Fitnessbranche« genannten Szene übernahmen und professionalisierten. Wenn auch das Milieu der privaten weiblichen und männlichen Sporttreibenden und der kommerziellen Sportanbieter bis heute extrem stark angewachsen ist und diese in der Sportlandschaft mittlerweile einen geschätzten Anteil Bernd Wedemeyer-Kolwe  —  »Zeitalter der Fitness«?

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von ca. 25–30 % haben – wobei mögliche Doppelmitgliedschaften in Verein und Fitnessstudio berücksichtigt werden müssten –, dominieren zahlenmäßig doch immer noch die ehrenamtlich geführten Sportvereine und -verbände.7 FITNESS ALS SCHUTZ GEGEN DIE UNSICHERHEITEN EINER WELT IM UMBRUCH Auffällig ist, dass beide deutschen Fitnesswellen gleichzeitig mit extremen gesellschaftlichen Umbruchzeiten auftraten, im späten Kaiserreich mit der Modernisierung und ab den 1970er und 1980er Jahren mit der Globalisierung, Digitalisierung und Neoliberalisierung. Es liegt daher nahe, das Phänomen der Fitnesswellen sowie die kulturellen Motivlagen und sozialen Strukturen in den entsprechenden Fitnessmilieus mit den gesellschaftlichen Veränderungen durch die beiden Modernisierungsschübe in Beziehung zu setzen. Der Modernisierungsschub ab dem späten Kaiserreich, der die traditionelle Agrargesellschaft abzulösen begann, erbrachte mit Industrialisierung und Verstädterung, Spezialisierung und Technisierung, Rationalisierung und Säkularisierung sowie mit Professionalisierung und Bürokratisierung einen raschen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel und eine Vielzahl an neuartigen ökonomischen, ästhetischen und kulturellen Individualisierungs- und Standardisierungsprozessen. Im Zuge dieses Wandels entstanden neue bürgerliche städtische Mittelschichten mit dazu passenden Lebenskonzepten und Körperbildern, zu denen Leistung, Durchsetzungsvermögen, Unabhängigkeit, Selbstfindung und Individualität gehörten und die in entsprechende (auch körperliche) Leitbilder wie »Ganzheit« oder »Spiritualität« übersetzt wurden. Diese neuen bürgerlichen Konzepte wurden über entsprechende Körperpraktiken (Körperkultur), Gestaltungsräume (Fitnessstudios), Lebensstile (»natürliche« Lebensweisen und alternative Gesundheitspraktiken) sowie Lebensentwürfe (»Einheit von Körper, Geist und Seele«) umgesetzt und dienten über ihre genuin bürgerlichen Theorie- und Praxismodelle und durch die Betonung der »feinen Unterschiede« auch als Mittel der sozialen Abgrenzung nach oben und unten.8 Zugleich fungierten dergleichen körperorientierte Lebensstile auch als Therapeutikum gegen die als »unsicher« und »fragmentiert« erfahrene neue Welt der raschen Modernisierung. In einer als unüberschaubar empfundenen Umgebung ist der eigene, positiv veränderbare Körper die einzige Möglichkeit, individuelle Selbstgestaltung und persönliche Sicherheit zu garantieren. Daher spielte (nicht nur) in dieser Phase die Ratgeberliteratur, deren Argumentationsstruktur oft durch eine äußerst stereotype Weltsicht konstruiert war, eine so zentrale Rolle.

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Sport — Analyse

7  Vgl. Martschukat, S. 54 ff. u. S. 210 ff.; Dilger, S. 245 ff. u. S. 374 ff.; Wedemeyer, Kulturgeschichte, S. 129 ff.; Pierre Pfütsch, Zwischen Gesundheit und Schönheit: Fitness als biopolitische Praktik zur Modellierung des Körpers in bundesrepublikanischen Gesundheitspublikationen der 1970er und 1980er Jahre, in: Scholl, S. 265–290; ein zeitgenössisches Beispiel wäre Eva Apraku u. Stephan Nelles, Körperkult. Reportagen über ein Phänomen, Frankfurt a. M. 1988. 8  Vgl. zu diesem Zusammenhang Christiane Eisenberg, »English Sports« und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn 1999, S. 216–260; Eva Barlösius, Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1997, S.  168  f.; ­Wedemeyer-Kolwe, Mensch, S. 16 ff.

So priesen viele zeitgenössische Körperratgeber »die Vervollkommnung des Körpers« als einzigen Weg zur »Erhöhung des Individuums«. Körperkultur sei, so die pauschalierende Phrase, »Allheilmittel« und führe zur »Neugeburt«, sie helfe zudem, »die schwierigsten Lebensfragen zu lösen und gibt Zufriedenheit und echte Lebensfreude«. Wer dagegen in »Untätigkeit und Schwäche verharre«, dem sei keine »Möglichkeit zum Erfolg« geboten: »Jeder9  Die zeitgenössischen Zitate von Körperratgeberautoren und Fitnessunternehmern wie Lionel Strongfort, Eugen Sandow oder J. P. Müller in Wedemeyer-­Kolwe, Mensch, S. 379 ff.; vgl. zum Kontext der neuen modernen Gesundheits- und Körperkonzepte auch Bernd Wedemeyer-Kolwe, Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017, S. 150 ff. sowie Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, hier S. 332 ff. zum sozialen Distinktionsmechanismus der bürgerlichen Gymnastik zum (damals) nichtbürgerlichen Bodybuilding der 1960er und 1970er Jahre in Frankreich.

mann«, so die kapitalistische und darwinistische, gleichwohl aber auch Reste aufklärerischen Gedankenguts beinhaltende Überzeugung der Ratgeberautoren, »hat die Möglichkeit zum Erfolg […], wenn er nur den Willen dazu hat«. Denn »jeder ist seines Glückes Schmied«, und daher sei es, so die positive Botschaft an die Leserschaft, egal, »ob man »in guten Verhältnissen geboren [sei] oder nicht«9. Die Selbstgestaltung und Sakralisierung des Körpers, seine Optimierung und Einpassung in einen modernen bürgerlichen, auf Individualisierung und Authentizität ausgerichteten Lebensstil waren demnach die zentralen Elemente der Körperkultur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Ähnliche Motive, Strukturen und Begründungszusammenhänge kennzeichnen auch die aktuelle Fitnesswelle. Auch hier wurden in den 1970er Jahren die westlichen Gesellschaften rasch und nachhaltig umgestaltet, parzelliert und fragmentiert und mit neuartigen, die alten Normen ablösenden Werten Bernd Wedemeyer-Kolwe  —  »Zeitalter der Fitness«?

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und Regeln konfrontiert – in diesem Fall durch die einsetzende Epoche der Globalisierung, Neoliberalisierung und Digitalisierung, die einher ging mit der Herausbildung einer neuen städtisch-globalen bürgerlichen Mittelschicht, deren Ursprünge für gewöhnlich in der Alternativ- und Protestbewegung der 1970er Jahren verortet werden. SELBSTVERWIRKLICHUNG UND DIE AKADEMISCHE MITTELSCHICHT Auch diese zweite Epoche weitreichender wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Umgestaltung brachte Chancen und Möglichkeiten, aber auch Ängste und Verluste mit sich und löste weitreichende soziale Unsicherheiten und emotionale Krisen in Bezug auf den eigenen sozialen Standort aus. Auch hier übertrug vor allem die akademisierte Mittelschicht als gesellschaftliches Leitsegment der neuen Epoche ihre Werte und Normen auf den Körper, dessen Beherrschung und Optimierung zwar auch Ausdruck eines Lebensstiles ist, zusätzlich aber als stabile Orientierung in einer als unsicher erlebten Welt fungiert und damit ebenfalls eine therapeutische Funktion besitzt. In diesem Sinne nahmen die neuen bürgerlichen akademisierten Mittelschichten eine Neubewertung und Umwertung des modernen Körpers vor, die von meditativ-­esoterischen und selbstverwirklichenden bis hin zu selbstkontrollierenden und selbstoptimierenden Praktiken reichen – eine breite Melange aus »Ganzheitlichkeit« und Enhancement, die sich nur scheinbar widerspricht.10 Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz charakterisiert den körperorientierten Lebensstil dieser spätmodernen bürgerlichen Klasse als »Suche nach Erlebnissen und Erfahrungen«, die sich auf die »reichhaltigen, heterogenen Kultur- und Erlebnisofferten der globalen Welt« richten würden, und kennzeichnet diese Praxis als »weltzugewandte Selbstverwirklichung« im Gegensatz zur »weltabgewandten Selbstverwirklichung« der Alternativkulturen der 1970er Jahre, ihres partiellen Vorläufers. Dabei werde der spätmoderne Körper (der Mittelschicht) »zum Gegenstand alltäglicher Sorge«. Die über Körperarbeit erzielte physische Attraktivität sei die Grundlage »für das subjektive Gefühl des Selbstwertes«, wobei das »Ausprobieren der Möglichkeiten des Körpers« einen »ästhetischen und ludisch-spielerischen Wert« erfülle. Die Körpertechniken selbst versprächen durch ihr fremdes kulturelles Universum (z. B. Tai Chi), ihre »ekstatische Grenzerfahrung« (z. B. Freeclimbing), experimentelle Improvisationen (z. B. Surfen) und Erfahrungen im urbanen Raum (z. B. Joggen), durch ihren heroischen Stil (z. B. Marathon) sowie ihre an antiken Vorbildern orientierte Körperoberfläche (Muskelrelief, Ganz­körperrasur) eine subjektiv erlebte Singularisierung. Jedoch produziere

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Sport — Analyse

10  Vgl. dazu aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Ansätzen Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 285 ff. u. S. 325 ff. (Lebensstile und Körperkulturen); Sven Reichardt, Authentizität und Gesellschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 794 ff. u. S. 823 ff. (Körpertechniken) sowie trotz des Vorwurfs des Plagiats erhellend und konzise Cornelia Koppetsch, Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Bielefeld 2019, S. 215 ff. (Lebensstile).

diese angeblich individuelle Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung über ihre flächendeckende Praxis wiederum Standarisierungs- und Rationalisierungsprozesse.11 Diese »herrschende Klasse der Gegenwart« sei dabei gleichzeitig von der »bourgeoisen Welt des Kapitalismus und der Gegenkultur der Bohème« geprägt, aus deren Verschmelzung eine neue hybride Kultur entstanden sei. Ihr fitnessorientierter Lebensstil gelte zugleich als perfekt und erfolgreich sowie als rebellisch und unorthodox. Letzteres stelle freilich keine politische Kategorie mehr dar wie in den 1970er Jahren, sondern habe nun eine ästhetische Funktion, wobei die nach innen gerichtete anti-institutionelle Authentizität der counterculture der 1970er Jahre in den neuen Mittelschichten nach außen als Element gesellschaftlicher Institutionen auftrete. Selbstverwirklichung wird nun in den »Dienst [neoliberalen] ökonomischen Handelns und in den Dienst der subjektiven Kultur gestellt«.12 Besonders ausgeprägte Formen nimmt diese Melange aus Selbstoptimierung, Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung offenbar in der globalen Technologiebranche an. Das Bewusstsein für körperliche und geistige Fitness führt mittlerweile zu Extremdiäten, Intervallfasten, Dauermeditationen, Verjüngungskuren und permanenten Kontrollen über die eigenen Körperwerte, um die Leistungsfähigkeit noch weiter zu erhöhen (Biohacking). Damit werden Körpertechniken, die ursprünglich als individuelle antikapitalistische Gegenkultur praktiziert wurden, nun als probates Mittel für neoliberale und spätkapitalistische Zwecke eingesetzt.13 Bemerkenswert ist auch hier, dass einer der Ursprünge der gegenwärti11  Reckwitz, S. 291, S. 293 u. S. 326–329.

gen Optimierungs- und Fitnesswelle – genau wie schon in der Körperkultur um 1900 – im frühen Bodybuilding, diesmal der 1960er und 1970er Jahre,

12 

Koppetsch, S. 215 f.

13 

Roland Lindner, Hungern zur Selbstoptimierung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.2020; schon der Schriftsteller Gustav Meyrink hat um 1900 bereits achtstündiges Daueryoga und Intervallfasten praktiziert, vgl. Karl Baier, Yoga auf dem Weg nach Westen. Beiträge zur ­Rezeptionsgeschichte, Würzburg 1998, S. 132. 14  Vgl. Bourdieu, S. 332 ff.; Reckwitz, S. 326; ­Koppetsch, S. 215; ­Martschukat, S. 218 f.; ­Wedemeyer, Kultur­ geschichte, S. 129 ff.

liegt. Während dessen soziale Klientel durch ihren Unterschichts- und Außenseiterstatus gekennzeichnet war, dienen aktuell die Körperpraktiken der ­Fitnesswelle der neuen bürgerlichen Mittelschicht als Element der Nobilitierung und des sozialen Habitus. Der optimierte Körper fungiert als Abgrenzungsbestandteil sowohl zum Körperstil der alten bürgerlichen Klasse, die Korpulenz noch als Zeichen des Wohlstandes und der Seriosität betrachtete, als auch zum Körperstil der sozialen Unterschichten, deren Körper zum Zeichen für soziale Benachteiligung, Undiszipliniertheit und mangelndem Gesundheitsbewusstsein stigmatisiert wird.14 KEIN »ZEITALTER DER FITNESS« Betrachtet man die (deutsche) Fitnessgeschichte abschließend im Überblick, so fallen drei wesentliche Dinge ins Auge: Erstens ist der Anteil derjenigen, Bernd Wedemeyer-Kolwe  —  »Zeitalter der Fitness«?

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die – kommerziell oder privat organisierte – Fitness als individuelle selbstoptimierende und selbstverwirklichende Praxis ausüben, gemessen an der Zahl der in herkömmlichen Turn und Sportvereinen organisierten und Breiten- oder Leistungssport betreibenden Personen, relativ gering. Selbst in den beiden diagnostizierten historischen Hochkonjunkturen dieser Fitnesswellen liegt der Gesamtanteil der Anhängerinnen und Anhänger derartiger Körperpraktiken und Lebenswelten immer noch deutlich unter der Mitgliederzahl in den konventionellen Turn- und Sportvereinen. Dieses Mengenverhältnis dürfte, zweitens, mit der jeweiligen Verankerung in den unterschiedlichen sozialen Gruppen zusammenhängen, die die entsprechenden Körperpraktiken ausgeübt haben und ausüben: auf der einen Seite die relativ geringe Zahl der jeweils neuen bürgerlichen akademisierten Mittelschichten, die Körperkultur und Fitness praktizier(t)en – und auf der anderen Seite die relativ hohe Zahl im jeweils alten Mittelstand und aus den unter- bzw. nichtbürgerlichen Schichten, die Breiten- und Wettkampfsport in Turn- und Sportvereinen bevorzug(t)en. Die jeweilige soziale Zuordnung zum Vereins- bzw. zum Fitnesssport erklärt sich, drittens, aus der Motivlage der sozialen Gruppen: auf der einen Seite die sozial und kulturell intendierte Zugehörigkeit der Milieus des traditionellen Mittelstands und der unterbürgerlichen Schichten zum gruppenorientierten und freizeitbezogenen Vereinssport; auf der anderen Seite dem sich aus Selbstverwirklichung, Individualisierung, Selbstoptimierung und Gesundheitsanspruch speisenden Lebensstil des jeweils neuen akademisierten und sich als Elite betrachtenden Mittelstands. Berücksichtigt man diese historischen, sozialen und motivbezogenen Prämissen, so kann man wohl kaum pauschal, wie Jürgen Martschukat, von einem übergreifenden »Zeitalter der Fitness« und damit von einem zeitlich durchgehenden Massen-Phänomen sprechen. Im Gegenteil scheint hier eine detaillierte Differenzierung besonders geboten zu sein.

Apl. Prof. Dr. Dr. Bernd Wedemeyer-Kolwe, geb. 1961, ist Volkskundler und Sporthistoriker und Wissenschaftlicher Leiter des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte (NISH) in ­Hannover. Neben Sportgeschichte gehören zu seinen Forschungsschwerpunkten Lebensreform­ bewegung, völkische Bewegung und Okkultismus.

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Sport — Analyse

SPORT UND ÖKONOMIE EIN AMBIVALENTES VERHÄLTNIS Ξ  Maike Cotterell / Henning Vöpel Die zwei Gegenstandsbereiche Sport und Ökonomie stehen in einem durchaus komplexen Verhältnis zueinander, das einem kontinuierlichen sozialen und politischen Wandel unterworfen ist. Das Phänomen Sport hat über ganz unterschiedliche Funktionen im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht nur eine immer größere gesellschaftliche, sondern genauso eine enorme ökonomische Bedeutung erlangt. Da Sportmärkte durch Eigentümlichkeiten gekennzeichnet sind, die sich auf anderen Märkten nicht finden, ist nach den regulatorischen und institutionellen Rahmenbedingungen zu fragen, innerhalb derer sich Sport kommerziell entwickeln kann, ohne zugleich seinen ursprünglichen, nicht-warenförmigen Charakter zu verlieren. Sodann gilt es, aktuelle sportinterne und -externe Entwicklungen wie auch Zukunftstrends in den Blick zu nehmen, um deren Auswirkungen auf das Phänomen Sport zu erfassen. Da gesellschaftliche und technologische Umbrüche immer auch Veränderungen im lebensweltlichen Bereich nach sich ziehen, soll das zukünftige Verhältnis zwischen Sport und Ökonomie ausgelotet werden, um mögliche Spannungsfelder, aber auch wechselseitige Chancen zu identifizieren. UNSCHÄRFE DES SPORTBEGRIFFS Sport war und ist in seinen verschiedenen Ausprägungen ein fester Bestandteil menschlichen Zusammenlebens und erzeugt auf diese Weise ökonomisch relevante Werte. Wie andere Kulturbereiche entwickelte sich auch die Sportkultur in der Gesellschaft kontinuierlich weiter, wodurch sich immer auch ihr ökonomischer Stellenwert veränderte. Vor dem Hintergrund seines ständigen Wandels sowie einer damit verbundenen terminologischen Unschärfe ist es schwierig, eine einheitliche, allgemeingültige Definition für das Phänomen Sport zu finden. Ein jüngerer Lexikoneintrag hält beispielweise fest: »Eine präzise oder gar eindeutige begriffliche Abgrenzung [dessen, was] im Allgemeinen unter Sport verstanden wird, ist weniger eine Frage wissenschaftlicher Dimensionsanalysen, sondern wird weit mehr vom alltagstheoretischen Gebrauch sowie von den historisch gewachsenen und tradierten Einbindungen in soziale, ökonomische, politische und rechtliche Gegebenheiten bestimmt. Darüber hinaus verändert, erweitert und differenziert das faktische Geschehen des Sporttreibens selbst das Begriffsverständnis von

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Sport.«1 Demgegenüber steht in Meyers Konversations-Lexikon von 1888, das wesentliche Merkmal von Sport sei »dessen Ausübung nicht um des Gelderwerbs wegen«2. Heute ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass kommerzielle Aspekte in vielen Facetten des Sports eine maßgebliche Rolle spielen. Professionelle, oft gut bezahlte Sportler, ökonomische Interessen Dritter (Sponsoren, Förderer, Mäzene), hohe Ausgaben für Sportausrüstungen und Sportbekleidung zeigen, dass die ökonomische Bedeutung des Sports kontinuierlich zugenommen hat. Kurzum: Sport ist ein Wirtschaftsfaktor mit steigender Relevanz geworden. Zugleich steht der Sport gesellschaftlich, technologisch und ökonomisch vor großen, richtungsweisenden Veränderungen. Es ist daher erneut an der Zeit, sich dem Zusammenhang zwischen Sport und Ökonomie unter Berücksichtigung dieser erweiterten Perspektiven zu widmen. FORMEN UND FUNKTIONEN DES SPORTS Um Sport – bei aller definitorischen Vagheit des Begriffs – als mehrdimensionales ökonomisches Phänomen erfassen zu können, ist es sinnvoll, von Funktionen und Erscheinungsformen des Sports in einer sich dynamisch verändernden Gesellschaft auszugehen (vgl. Abbildung 1). Formen des Sports sind der Alltags-, der Freizeit- und der Gesundheitssport, die sich allgemein als Breitensport zusammenfassen lassen, der mehr oder weniger allen Menschen zugänglich ist. Dieser geht über in den Leistungssport, der wiederum die Brücke zum kommerziellen Sport darstellt, welcher professionell und meist zum Erwerbszweck ausgeübt wird. Eng verknüpft damit sind wiederum Sportevents, über die der Profisport als mediales Ereignis vermarktet wird. Die Funktionen des Sports sind sehr vielfältig und oft nicht eindeutig abgrenzbar von weiteren Funktionen, die nicht zwingend auf den Sport zurückzuführen sein müssen, wie etwa jenen Aufgaben, die Vereine als Institutionen und Teile der sozialen Infrastruktur übernehmen. Sport dient der Freizeitbeschäftigung und Unterhaltung, sowohl aktiv in der Sportausübung als auch passiv im Sportkonsum. Und Sport hat darüber hinaus Effekte auf Gesundheit und Produktivität. Alle diese Funktionen des Sports stellen im Wesentlichen einen privaten Nutzen dar, weshalb sie über private Märkte bereitgestellt und gehandelt werden können. Soziale Effekte des Sports bestehen in der Ausbildung von Sozialkompetenz, die wiederum positiv auf Integration und Inklusion wirkt. Diese Effekte haben den Charakter von öffentlichen Gütern, können also nicht immer effizient über private Märkte bereitgestellt werden. Eine rein private Bereitstellung von Sport würde demgegenüber zu einer Unterversorgung von

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Sport — Analyse

1  Peter Röthig u. a. (Hg.), Sportwissenschaftliches Lexikon, Schorndorf 2003, S. 493. 2  Meyers KonversationsLexikon, Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, Bd. 15, Leipzig 1888, S. 176.

sportbezogenen Gütern in einer Volkswirtschaft führen und insbesondere die sozialen Funktionen des Sports unzureichend widerspiegeln. Daher sind beispielsweise Vereine, die in der Regel nicht gewinnmaximierend agieren, für die Infrastruktur des Sports so bedeutsam. Hingegen würden allein privatwirtschaftliche Konsum- oder Investitionsentscheidungen im Sport diese positiven externen Effekte des Sports nur unzureichend erzeugen. Neben dem privaten und öffentlichen Nutzen von Sport existieren außerdem zunehmend Standort-Effekte durch den Sport, insbesondere durch Sportevents und Profisportclubs, aber auch durch das Sportimage einer Stadt oder einer Region. Hierunter fallen vor allem Bekanntheits- und Image-Effekte, die sich in höherer Identifikation und Markenbildung niederschlagen. Städte mit einem spezifischen Sportimage sind beispielsweise Melbourne oder Vancouver, die nicht von ungefähr auch regelmäßig zu den lebenswertesten Städten weltweit gekürt werden. In Hamburg wurde nach der gescheiterten Olympia-­ Bewerbung mit der Active-City-Strategie wohl auch deshalb bewusst ein Ansatz der nachhaltigen und breitenwirksamen Sportentwicklung gewählt.3 Formen des Sports

Funktionen des Sports

• Alltagssport

• Freizeit und Unterhaltung

• Freizeitsport

• Gesundheit und Produktivität

Breitensport

• Gesundheitssport

• Sozialkompetenz

• Leistungssport

• Integration und Inklusion

• Profisport • Sportevents

Kommerzieller Sport

• Identifikation und Civic Pride • Bekanntheit und Image

Privater Nutzen Soziale Effekte StandortEffekte

Abbildung 1: Formen und Funktionen des Sports

In der Gesamtheit seiner sozialen Funktionen kommt dem Sport darüber hinaus insofern eine kulturelle Bedeutung zu, als dieser das Zusammenleben von Menschen über die Gemeinschaft und die Werte, die er vermittelt, kultiviert. Anders als oft behauptet, lässt sich Sport also gerade nicht als weicher, sondern umgekehrt, langfristig als harter Standortfaktor begreifen. Wer aufhört, in den Sport zu investieren, bekommt langfristig eine andere Gesellschaft, weshalb Sport zu einem wichtigen Politikfeld in der Entwicklung von Gesellschaft und Städten gezählt werden muss. ÖKONOMISCHE BEDEUTUNG DES SPORTS 3  Vgl. Freie und Hansestadt Hamburg u. a., Masterplan Active City. Für mehr Bewegung in Hamburg, Frankfurt a. M. 2016.

Ein wichtiger Aspekt ist die Messung der ökonomischen Bedeutung des Sports. Da Sport als Querschnittsbranche keine eindeutige statistische Abgrenzung kennt, ist das sogenannte Sportsatellitenkonto entwickelt worden, Maike Cotterell / Henning Vöpel  —  Sport und Ökonomie

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welches eine Aggregationsmethode zur Erfassung des Sports aus seinen Einzelbeiträgen in unterschiedlichen Branchen darzustellen versucht. Die jüngste Anwendung dieser Konvention hat ergeben, dass die Sportwirtschaft in Deutschland einen Anteil am Bruttoinlandsprodukt von rund 2,3 Prozent hat,4 wobei über diese Modellierung lediglich die sogenannten tangiblen, also die über Marktpreise bewertbaren Effekte des Sports erfasst werden. Der öffentliche Nutzen des Sports besteht jedoch zumeist in intangiblen, eben nicht über Marktpreise abbildbaren Effekten – hierunter fallen zum Beispiel die Freude am Sport und vermiedene Krankheitskosten, die im ökonomischen Sinne bedeutsame Wohlfahrtseffekte sind, obgleich sie keine direkt messbare Wertschöpfung nach sich ziehen. Eine Studie für Österreich hat ergeben, dass diese Effekte rund ein bis zwei Prozent am Bruttoinlandsprodukt ausmachen.5 Ein ebenso interessanter wie wichtiger Forschungszweig in der Ökonomik versucht überdies, die langfristigen gesellschaftlichen Renditen von Investitionen in frühkindliche Erziehung und (Aus-)Bildung zu berechnen. So heißt es bei dem Nobelpreisträger James Heckman, einem Vertreter dieses Forschungsfeldes, dass bei Kindern, die eine qualitativ hochwertige frühkindliche Ausbildung erhalten, eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit auf ein besseres Leben besteht und diese positiven Effekte außerdem an die eigenen Kinder weitergereicht werden.6 Diese Aussage bezieht sich primär auf Bildungsinvestitionen, jedoch gilt sie auch in Bezug auf Investitionen in Gesundheit und Bewegung, insbesondere im Lichte von bewegungswissenschaftlichen Studien, die gezeigt haben, dass jene, die im Kindesalter Übergewicht und deutlich unterdurchschnittliche koordinative Fähigkeiten aufgewiesen haben (wie beispielsweise Rückwärtslaufen, Auf-einem-Bein-Stehen oder Auge-Hand-Koordination), später häufiger an Erkrankungen des Bewegungsapparates litten.7 SPORT ALS ÖKONOMISCHES GUT UND DIE KOMMERZIALISIERUNG DES SPORTS Der Sport weist einige bedeutsame Besonderheiten auf, die dazu führen, dass zwischen ihm und der Ökonomie in Teilen ein ambivalentes Verhältnis besteht. Die Ökonomie organisiert den Umgang mit knappen Ressourcen. Ist Sport ein zunehmend wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens, steigt deshalb in gewisser Weise auch die Ökonomisierung des Sports – sowohl in der Produktion als auch im Konsum von Sport. Die Kommerzialisierung des Sports wurde wesentlich durch seine Privatisierung als ökonomisches Gut begünstigt, etwa im Bereich der Sportausrüstung, aber vor allem auch in den Sportmedien und im Profisport. Gleichwohl

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4  Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Sportwirtschaft – Fakten und Zahlen, Ausgabe 2018, Berlin 2018. 5  Vgl. Otmar Weiß u. a., Sport ist die beste Medizin. Die Auswirkung des Sports auf die Gesundheit. Eine sozio-ökonomische Analyse des Breiten- und Freizeitsports in Österreich 1998 und 2013, in: schule & sportstätte, Jg. 38 (2016), H. 2, S. 15–17. 6  Vgl. James Heckman, The Heckman Equation, URL: https://heckmanequation.org/ resource/research-summarylifecycle-benefits-influential-­ early-childhood-program/ [eingesehen am 19.04.2020]. 7  Vgl. hierzu beispielsweise Robert Koch-Institut (Hg.), Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, Berlin 2004.

ist Sport aufgrund seiner historischen Wurzeln und ethischen Bedeutung zugleich ein öffentliches Gut – Fairness, Sportsgeist und Solidarität sind inhärente Bestandteile des archaischen sportlichen Wettkampfes und machen den Sport zu einem Kulturgut. Wie viele andere Kulturgüter ist auch der Sport in vielen Fällen ein Gut, welches in seinem Nutzen von den Konsumenten unterschätzt wird, weshalb der Staat oftmals Anreize zum Sporttreiben zu setzen sich genötigt sieht. Die beschriebene Mischform aus privatem und öffentlichem Gut erzeugt dabei ein Spannungsfeld für die Kommerzialisierung des Sports, denn Sport­vereine oder auch die Veranstalter eines Sportevents produzieren letztlich nicht nur ein privates Gut, für das ein Markt existiert, sondern sie erhöhen oder reduzieren darüber hinaus auch den öffentlichen Wert des Sports. Insofern der öffentliche Wert des Sports ein Kollektivgut ist, besteht die latente Gefahr seiner Überkommerzialisierung, verstanden als Maximierung des privaten Wertes von Sport. Aus dem Charakter des Sports als Kollektivgut wiederum resultiert die Problematik des Anreizes, es selbst in Anspruch zu nehmen, ohne zu dessen Aufbau oder Erhalt beizutragen. Um diesen Ambivalenzen entgegenzuwirken, sollten Sportmärkte daher durch eine geeignete Regulierung und einen entsprechenden institutionellen Rahmen flankiert werden. Aus ökonomischer Sicht bestehen neben ambivalenten Entwicklungen zudem verschiedene Formen des Marktversagens, etwa in Gestalt von Monopolisierungsprozessen und Koordinationsdefiziten, die ein wesentliches Spannungsverhältnis gerade in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Wechselbeziehung von Sport und Ökonomie darstellen (siehe Abbildung 2). Diese Probleme betreffen vor allem Profisportligen, in denen es, bedingt vor allem durch (Fehl-)Anreize in sogenannten Rat-race-Wettbewerben, eine inhärente Tendenz zur Monopolisierung und Überschuldung gibt: Der Sieger bekommt das weitaus meiste Geld, wodurch dieser seine sportliche Überlegenheit noch weiter ausbauen kann. Zugleich erzeugt diese Art des Wett­ bewerbs den individuellen Anreiz, sich für den sportlichen Erfolg zu verschulden, was sich jedoch am Ende nur für wenige auszahlt. Ein weiteres Problem stellen internationale Verbände wie beispielsweise die FIFA oder das IOC dar, denen als Monopolisten nicht nur hohe Monopolrenten zufließen, sondern die ein hiermit verwandtes Problem, das sogenannte Prinzipal-Agenten-Problem, hervorrufen. Demnach handeln die Vertreter des Sports nicht immer im Sinne des Sports, sondern verfolgen dem Sport langfristig Schaden zufügende, eigennützige Interessen. Daraus erwächst die Frage, wem der Sport eigentlich gehöre? Ein gutes Beispiel für die Bedeutung dieser Frage sind die Anstoßzeiten in der Maike Cotterell / Henning Vöpel  —  Sport und Ökonomie

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Fußball-Bundesliga. Während die echten Fans offenkundig mehrheitlich für die Beibehaltung kompakter Spieltage sind, wollen die Fußball-Funktionäre, als die Agenten des Fußballs, eine Aufsplittung der Spieltage zugunsten höherer Vermarktungserlöse. Schließlich verdienen die Superstars im Sport ein – wie es häufig heißt – unmoralisch hohes Einkommen. Ist schon in der normalen Wirtschaft die Akzeptanz hoher Gehälter gering, werden diese im Sport besonders kritisch gesehen, weil sie sich mit dem Ethos im Sport vermeintlich nicht vertragen. Tatsächlich lässt sich dieses Phänomen ökonomisch leicht erklären: Die wenigen Superstars verdienen aufgrund ihrer besonderen, bisweilen spielentscheidenden Fähigkeiten, eine ökonomische Knappheitsrente. Zwar würden sie im Angesicht eines deutlich geringeren Einkommen mutmaßlich weiter ihrer sportlichen Betätigung nachgehen, doch weil diese Superstars den Unterschied ausmachen – sowohl beim sportlichen Erfolg als auch bei dem Zuschauer- und Medieninteresse sowie letztlich den Sponsoren – sind Vereine oder Veranstalter oftmals bereit, bisweilen sehr hohe Summen zu zahlen.8 Dieser sogenannte Superstar-Effekt ist durch die Globalisierung des Sports um ein Vielfaches gestiegen, schließlich sind die Sportmärkte gerade dadurch im Hinblick auf die Vermarktung von Fernsehrechten und Merchandising stark gewachsen.9 Insgesamt haben also zunächst die Privatisierung und danach die Globalisierung des Sports wesentlich zu dessen Ökonomisierung beigetragen – mit

Sport

Monopole privates Gut

PrinzipalAgentenproblem SuperstarGehälter

Abbildung 2: Der Sport als privates, öffentliches und Mischgut

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Sport — Analyse

öffentliches Gut 8  Vgl. Sherwin Rosen, The Economics of Superstars, in: American Economic Review, Jg. 71 (1981), H. 5, S. 845–858. 9  Vgl. Arne Feddersen, Steuerungsmöglichkeiten der Wettbewerbsintensität von Sportligen. Eine ökonomische Analyse sportpolitischer Regulierung, Hamburg 2005.

allen Vor- und Nachteilen. So hat sich einerseits der Vermarktungsdruck für den Sport erhöht, zugleich ist andererseits die Versorgung der Konsumenten mit Sport in Teilen besser geworden – jedenfalls dort, wo private Märkte die Leistungen verbessert haben (so kann man heute jedes Bundesligaspiel live sehen) und das öffentlich-rechtliche Angebot für Randsportarten ausgeweitet oder zumindest beibehalten wird. Ökonomische Besonderheiten und Wettbewerbsanreize im Sport führen jedoch latent zu einer Überkommerzialisierung des Sports. AUSBLICK: WOHIN ENTWICKELT SICH DER SPORT? Die Privatisierung und die Globalisierung des Sports haben in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich zu seiner Ökonomisierung beigetragen. Das ist per se weder gut noch schlecht, sondern zunächst ein natürlicher Prozess. Die Diskussion über das gesunde Maß an Kommerzialisierung im Sport ist indes notwendig und wird auch in Zukunft weiter geführt werden, stehen doch gesellschaftliche und technologische Umbrüche an, die den Sport wesentlich beeinflussen dürften (vgl. Abbildung 3). So wird es, dies betrifft insbesondere den nicht-organisierten Sport außerhalb von Vereinen, zu einer weiteren Individualisierung des Sports und der Sportnachfrage kommen. Auch wird die Digitalisierung als ein technologischer Angebotsfaktor eine völlig neue Sportinfrastruktur erzeugen. Das betrifft sowohl den aktiven Sport in Form von digitalen Angeboten, Coachings, Trackings etc. als auch die digitale Vermarktung und den Vertrieb.

Coronakrise

Privatisierung

Globalisierung

Digitalisierung

Abbildung 3: Phasen der Kommerzialisierung des Sports

Maike Cotterell / Henning Vöpel  —  Sport und Ökonomie

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Ein wesentlicher Treiber im Sport wird des Weiteren die Entstehung eines übergreifenden Ökosystems sein, das neben dem Sport zunehmend die Bereiche Tourismus, Ernährung und (psychische und physische) Gesundheit integriert. In diesem Ökosystem werden sogenannte synthetische Dienstleistungen aus mehreren Bereichen zu individuellen Erlebnissen kollaborativ produziert, wodurch der Sport – wie andere Bereiche der Wirtschaft auch – nicht zuletzt sehr viel stärker kundenzentriert werden dürfte. Eine Frage, die sich heute noch nicht beantworten lässt, richtet sich auf die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Sport. So könnten in den nächsten Jahren infolge der Krise deutlich weniger Sponsoring- und Fernsehgelder in den Sport fließen, wodurch Gehälter und Ablösesummen sinken würden. Es kann sich darüber hinaus insgesamt eine solidarischere Gesellschaft entwickeln, in der sich auch der Sport erneuert und sich nach anderen, dem Sport nicht nur bekannten, sondern ihm eigentlich inhärenten Werten ausrichtet. Dadurch könnte sich das Verhältnis zwischen Sport und Ökonomie insgesamt verändern. Schließlich wird die Corona-Krise auch die Beziehungen zwischen den Menschen und der Menschen zur Gesellschaft neu definieren sowie neue Identitäten stiften und stärken. Eine wieder stärkere Grundwerteorientierung und Regionalisierung des Sports sind zumindest denkbar. Der Sport wird aber, so unsere Prognose, in der Tendenz nicht nur eine weiterhin wachsende Bedeutung in Ökonomie und Gesellschaft erhalten, es spricht auch einiges dafür, dass der Sport die technologischen und gesellschaftlichen Chancen der nächsten Monate und Jahre aktiv zu nutzen versteht. So ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis der entsprechenden Forschung jene, dass das Verhältnis zwischen Sport und Ökonomie am Ende immer die Gesellschaft selbst definiert. Es ist weder der Sport, der sich auf Dauer von der Gesellschaft separieren kann, noch die Ökonomie, die dem Sport irgendetwas aufzudrängen vermag. Der Sport sollte daher eine aktiv gestaltende und selbstbewusste Rolle einnehmen, denn er ist wesentlicher Teil der sozialen und kulturellen Infrastruktur einer modernen Gesellschaft.

Maike Cotterell, geb. 1973, ist studierte Dipl. Volkswirtin und Dipl. Sportökonomin und war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am volkswirtschaftlichen Lehrstuhl für Außenhandel und Wirtschaftsintegration der Universität Hamburg. Anschließend wechselte sie in die freie Wirtschaft. Maike Cotterell war lange Jahre als Triathletin im Amateur-Leistungssport unterwegs. Heute arbeitet sie in Hamburg unter anderem als freie Autorin.

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Prof. Dr. Henning Vöpel, geb. 1972, ist seit 2014 Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI). Im Jahr 2010 wurde Vöpel als Professor für Volkswirtschaftslehre an die HSBA Hamburg School of Business Administration berufen. Seine Forschungs- und Themenschwerpunkte sind Konjunkturanalyse, Geld- und Währungspolitik, Digitalökonomie sowie Sportökonomie.

MEDIENSPORT UND POLITIK ÜBER MEDIALISIERUNG, ARENEN UND STIMMUNGEN Ξ  Lutz Hagen / Reimar Zeh Sport gehört seit Anbeginn der Zivilisation zu allen Hochkulturen – von den ersten organisierten Körperballspielen durch Azteken und Maya und Fußball als Militärübung im alten China über die Olympischen Spiele der Antike und die Ritterturniere des Mittelalters, den Calcio der italienischen Renaissance, bis hin zum massenhaften, ökonomisierten und medialisierten Sport unserer Tage.1 Sport besteht dabei nach alltagssprachlichem Verständnis immer in körperlicher Betätigung. Drei wesentliche Funktionen für Menschen und Gesellschaften werden dem Sport in der Wissenschaft außerdem zugeschrieben und definieren ihn: Er dient erstens der Leibeserziehung und der Fitness, zweitens der Leistungsschau, gerade in der Form des Wettbewerbs, und drittens dem unterhaltsamen Zeitvertreib. Diese letztgenannte Funktion ist der Ursprung für seine Bezeichnung im Deutschen, die vom mittelfranzösischen Begriff desport für Ablenkung, Vergnügung und Zeitvertreib abstammt.2 MEDIENSPORT ALS SOZIALES SYSTEM Erst in der Moderne verschmelzen Wettbewerb, Ertüchtigung und Unterhaltung zu einer Einheit. Dabei wird der Sport nach dem Verständnis der funktionell-strukturalistischen Systemtheorie zu einem zentralen gesellschaftlichen Subsystem. Damit ist zugleich eine Ausdifferenzierung in untergeordnete Subsysteme verbunden wie den Hochleistungs-, Leistungs-, Breiten- und 1  Vgl. z. B. Christoph Teves, Fußballgeschichte. Frühe Ballspiele, in: Planet Wissen, 18.06.2018, URL: https://www. planet-wissen.de/gesellschaft/ sport/fussballgeschichte/ pwiefruehe­ballspiele100.html [eingesehen am 30.04.2020]. 2  Rudolf Stichweh, Sport – Ausdifferenzierung, Funktion, Code, in: Sportwissenschaft, Jg. 20 (1990), H. 4, S. 373–389. 3  Ebd., vgl. auch Daniel Beck u. Louis Bosshart, Media and Sports, in: Communication Research Trends, Jg. 22 (2003), H. 4, S. 3–27, insbes. S. 3 u. S. 27.

Freizeitsport, zuletzt auch E-Sports. Es wird sogar von einer Sportifizierung der Gesellschaft gesprochen, die zusammen mit anderen Megatrends wie Ökonomisierung, Individualisierung und Medialisierung als weiterer Kernprozess der Modernisierung gesehen wird. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass das Leistungsprinzip zum Wesen des Sports gehört und zugleich moderne Gesellschaften generell prägt. Auf alle Fälle hat Sport verschiedene gesellschaftliche Zusammenhänge im Lauf der vergangenen Jahrhunderte zunehmend geformt. Als wichtigste Entwicklung ist im Zug der Modernisierung des Sports seine Verschmelzung mit den Massenmedien anzusehen, die in dem kulminiert, was als SportMedien-Komplex bezeichnet wird.3 Dieser Komplex verarbeitet gewerbsmäßig ungeheure Mengen Auf­ merk­samkeit und stellt sie Akteuren aus anderen Systemen für Zwecke der

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Beeinflussung zur Verfügung. Dabei erreicht er insbesondere im Rahmen sportlicher Großereignisse so viele Menschen auf einmal wie kein anderes gesellschaftliches Subsystem und kein anderer Inhalt der Massenmedien. 4,8 Milliarden, also zwei Drittel der Weltbevölkerung, sollen 2012 die Londoner Sommer-Olympiade am Fernseher verfolgt haben, die letzten Winterspiele in Sotchi sollen immerhin 4,1 Milliarden Menschen gesehen haben. Die letzte Fußball-Weltmeisterschaft von 2018 bringt es auf eine Reichweite von 3,2 Milliarden TV-Zuschauer*innen für das gesamte Turnier und 1,1 Milliarde allein beim Endspiel.4 Während bei der gleichen Weltmeisterschaft das Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Süd-Korea zuhause von 27,5 Millionen Zuschauern verfolgt wurde – Public Viewing nicht eingerechnet –, hatten ein Jahr zuvor vergleichsweise wenige 16,3 Millionen das Fernseh-Duell zwischen den Spitzenkandidaten Angela Merkel und Martin Schulz bei der Bundestagswahl 2017 gesehen.5 Vor dem Hintergrund dieser einzigartigen gesellschaftlichen Reichweite und Bedeutsamkeit ist es nicht erstaunlich, dass die Politik den Mediensport für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versucht. Dieses politische Interesse ist durch den Aufstieg des Sport-Medien-Komplexes stark forciert worden, es ist aber prinzipiell keineswegs neu, sondern stellt vielmehr eine historische Konstante dar, wie etwa der bekannte satirische Kommentar des römischen Dichters Juvenal über »Brot und Spiele« als dominierende Faktoren der Regierungspopularität Inhalt des Regierungshandelns belegt.6 Die Mechanis-

4  O. V., A Window for the World: London 2012 Olympic Games to set broadcasting milestone, in: IOC News, 29.07.2012, URL: https://www.Olympic.org/ news/a-window-for-the-worldlondon-2012-Olympic-gamesto-set-broadcasting-milestone [eingesehen am 30.04.2020]; o. V., More than half the world watched record-breaking 2018 World Cup, in: FIFA.com, 21.12.2018, URL: https://www. fifa.com/worldcup/news/morethan-half-the-world-watchedrecord-breaking-2018-world-cup [eingesehen am 30.04.2020].

men des Mediensports, die zugleich seinen Aufstieg begründen, sowie die Motive und Formen seiner Instrumentalisierung durch die Politik werden im Folgenden eingehender beleuchtet. MEDIALISIERUNG – DER GLEICHRICHTER VON POLITIK UND SPORT Medialisierung gilt in der Medien- und Kommunikationswissenschaft als Kernprozess des sozialen Wandels und der Modernisierung. In ihrem Verlauf setzen Akteure die Medien zunehmend für die eigene Wahrnehmung und

5  Camille Zubayr u. Heinz Gerhard, Tendenzen im Zuschauerverhalten. Fernsehgewohnheiten und Fernsehreichweiten im Jahr 2017, in: Media Perspektiven, H. 3/2018, S. 102–117; dies., Tendenzen im Zuschauerverhalten. Fernsehgewohnheiten und Fernsehreichweiten im Jahr 2018, in Media Perspektiven, H. 3/2019, S. 90–106.

das eigene Handeln ein, richten dasselbe zunehmend auf die Erzeugung von Inhalten für die Medien aus und orientieren sich in unterschiedlichen Kontexten und gesellschaftlichen Subsystemen vermehrt an der Logik von Medien.7 Im Fall des Mediensportes manifestiert sich die Medialisierung zum Beispiel darin, dass die Regeln verschiedener Sportarten an die Notwendigkeiten der Medienberichterstattung angepasst werden, zuvorderst an die Übertragung im Fernsehen. Manche Trend- oder Lifestyle-Sportarten sind möglicherweise nur für die Medien erfunden (wie z. B. Rodeln auf Koch-Woks im Eiskanal), zumindest aber in ihrer Diffusion durch die Medien stark gefördert worden.

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Sport — Analyse

6  Juvenal, Satiren 10, 81. 7  Winfried Schulz, Reconstructing mediatization as an analytical concept, in: European Journal of Communication, Jg. 19 (2004), H. 1, S. 87–101; im Englischen ist für Medialisierung der Begriff mediatization gebräuchlich, dessen deutsche Variante von einigen Autor*innen ebenfalls synonym gebraucht wird.

Auch in traditionellen, aber medialisierten Sportarten finden Wettkämpfe häufig nur für die Medien statt und ließen sich ohne deren Einbindung gar nicht finanzieren. Es handelt sich also definitionsgemäß entweder um Pseudoereignisse, die nur für die Medien stattfinden, oder um mediatisierte Ereignisse, die in ihrem Ablauf speziell auf die Bedarfe der Medien zugeschnitten sind.8 Medialisiert wurde auch die Nutzungs- bzw. Publikumsseite: Fernsehzuschauer in Deutschland schauen sich schon in Jahren ohne Olympiaden sowie Welt- und Europameisterschaften der Fußballer wöchentlich im Durchschnitt rund eineinhalb Stunden Fernsehsport an – dies alleine im traditionellen linearen Fernsehen. Dem steht pro Woche eine eigene freizeitsportliche Tätigkeit von rund einer halben Stunde gegenüber.9 Hand in Hand einher geht die Medialisierung des Sports mit seiner Ökonomisierung. So stieg zum Beispiel der Preis für die Lizenzrechte zur Übertragung der Fußball-Bundesliga zwischen der Saison 1965/66 und der Saison 1996/97 – inflationsbereinigt – um das Hundertfache. Seither ist er nochmals um fast 8  Vgl. Marco Dohle u. Gerhard Vowe, Der Sport auf der »Mediatisierungstreppe«? Ein Modell zur Analyse medienbedingter Veränderungen des Sports, in: merz medien+erziehung, Jg. 50 (2006), H. 6, S. 18–28. 9  Camille Zubayr u. a., Tendenzen im Zuschauerverhalten. Fernsehgewohnheiten und Fernsehreichweiten im Jahr 2019, in: Media Perspektiven, H. 3/2020, S. 110–125, hier S. 111 u. S. 116, eigene Berechnungen; Ingo Froböse u. a., Wie gesund lebt Deutschland? Der DKVReport, Köln 2018, hier S. 19. 10  O. V., Das kosten die TV-Rechte der Bundesliga seit 1965, in: RP Online, ohne Datum, URL: https://rp-online. de/sport/fussball/bundesliga/ bundesliga-das-kosten-die-tvrechte-seit-1965_iid-9198597 [eingesehen am 21.04.2020]; eigene Berechnungen. 11  Lutz Hagen u. Christian Schäfer-Hock, Mass Media Communication. Massenkommunikation als Wirtschaftsgut, in: Jan Krone u. Tassilo Pellegrini (Hg.), Handbuch Medienökonomie, Wiesbaden 2020.

das Zehnfache gewachsen, um ab der Saison 2016/2017 bei über einer Milliarde Euro zu liegen.10 Eine grundlegende ökonomische Besonderheit der Medien besteht darin, dass sie wegen der besonderen Eigenschaften des Gutes Information, mit dem sie ihr Geschäft machen, oft keine direkten Einnahmen von Mediennutzern erzielen können. Daher bieten sie ihre Inhalte nach dem free media-Modell kostenlos an und erzielen ihre monetären Erlöse stattdessen, indem sie die Aufmerksamkeit der Rezipient*innen an Werbetreibende weiterveräußern. Im Zuge der Medialisierung wurde dieses Modell auf den Profi-Sport übertragen: Mittlerweile – und im Übrigen seit längerem schon – wird hier der größte Teil der Einnahmen aus Werbung, Sponsoring und der Lizenzierung von Publikationsrechten erzielt, während Vertriebserlöse von Zuschauern nurmehr einen kleineren Teil ausmachen.11 Die in der Vergangenheit zunehmend in den Vordergrund gerückten Medienpolitiker künden nun von ganz ähnlichen Medialisierungsprozessen auch im Politischen: Ronald Reagan, Silvio Berlusconi oder Donald Trump, selbst als Darsteller, Manager oder Eigentümer aus den Medien kommend, wären hier ebenso zu nennen wie Gerhard Schröder als Beispiel für jene Politiker, die (»Bild, BamS und Glotze«) die Regeln der Medienlogik nicht nur genau kennen, sondern diese mit einigem Talent für sich zu nutzen verstehen. Die größte Gemeinsamkeit von Sport und Politik, die die Medialisierung hervorgebracht hat, ist mithin die Orientierung an der regelhaften sogenannten Medienlogik, nach denen die Medien Aufmerksamkeit an Themen und Akteure verteilen und diesen Raum in ihren Inhalten und Formaten gewähren. Lutz Hagen / Reimar Zeh  —  Mediensport und Politik

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MEDIENLOGIK – SCHNELLER, HÖHER, STÄRKER Wenn ein Gesellschaftsbereich medialisiert wird, so heißt das auch: Handlungen mit primärem Bezug zu anderen Subsystemen müssen sich einer eigentlich systemfremden Medienlogik unterwerfen oder diese zumindest auch berücksichtigen, um ihre Ziele im ursprünglichen System zu erreichen. Diese Logik wird bei den Medien vor allen durch Nachrichtenfaktoren zum Ausdruck gebracht. Darunter werden Merkmale verstanden, die ein Geschehen für die Medien veröffentlichenswert machen. Hierzu gehören z. B. die Ungewöhnlichkeit und die Bedeutsamkeit von Ereignissen, ihre Dramatik, kulturelle Nähe zu verbreiteten Narrativen und Passung ins zeitliche Produktionsraster der Medien sowie ihre Anschaulichkeit und spezifische Ästhetik. Am meisten ist sicher über den Nachrichtenfaktor Negativismus geschrieben worden, der zusammen mit einigen weiteren boulevardesken Faktoren wie z. B. Personalisierung und Fokus auf Prominente mit dem Wandel des Mediensystems an Einfluss gewonnen hat.12 Die ursprüngliche Logik des Leistungs- und Wettkampfsports korreliert nun freilich auch ohne Zwang und Unterwerfung ganz hervorragend mit der Medienlogik: Höher, schneller, weiter lautet das medienaffine Motto der Olympischen Spiele in der Neuzeit. Sport folgt in Zeiten zunehmender Komplexität einfachen, althergebrachten Regeln und schließt an große Narrative und Mythen an, die seit jeher kennzeichnend auch für erfolgreiche fiktionale Medieninhalte sind: Helden bewegen die Welt; Leistung lohnt sich; Triumph des Willens; wir gegen die; David gegen Goliath und der American Dream sind einflussreiche Beispiele. Diese Übereinstimmungen haben eine Verschmelzung beider Systeme begünstigt und dazu geführt, dass die Medialisierung des Sports auf der inhaltlichen Ebene vor allem als eine Akzentuierung bereits vorhandener Merkmale zu verstehen ist. Anders ist es im Fall der Politik, die durch die Anpassung an die Medienlogik ureigene Qualitäten eher weniger gut entfalten kann. Die Möglichkeiten zur dialogischen Aushandlung und pluralistischen Willensbildung leiden nun mal, wenn im Zuge der Boulevardisierung der Fokus auf Persönliches gestellt wird und politische Inhalte in den Hintergrund treten. Die Medienlogik hat das öffentliche Erscheinungsbild von Sport und Politik einander angeglichen. Das spiegelt sich auch in Ähnlichkeiten, mit denen Medien über Politik- und Sport berichten, was die Forschung im Hinblick auf die Personalisierung, die Konzentration auf Prominenz und Eliten, die spezifische Visualisierung und den Umgang mit Siegen bzw. Niederlagen belegt hat.13

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12  Vgl. Tony Harcup u. Deirdre O’Neill, What is News?, in: Journalism Studies, Jg. 18 (2017), H. 12, S. 1470–1488, insbes. S. 1478. 13  Thorsten Schauerte, Kanzler oder Kaiser – Hauptsache investigativ! Ein Strukturvergleich zwischen den Mustern der Medienberichterstattung über politische Ereignisse und Sportereignisse, in: Jürgen Schwier u. Claus Legge­wie (Hg.), Wettbewerbsspiele. Die Inszenierung von Sport und Politik in den Medien, Frankfurt a. M. 2006, S. 42–63.

GRATIFIKATIONEN DES MEDIENSPORTS – »YOU’LL NEVER WATCH ALONE« Ein entscheidender Grund für die Wirksamkeit von Nachrichtenfaktoren und anderen Regeln der Medienlogik liegt darin, dass sie die Zuwendung der Aufmerksamkeit durch die Zuschauer*innen gewährleisten. Dabei befriedigt Mediensport zuvorderst verschiedene Unterhaltungsbedürfnisse. Er appelliert direkt an Affekte, erzeugt Spannung durch Unvorhersehbarkeit und bietet Möglichkeiten zur Zerstreuung. Damit eignet er sich hervorragend dazu, die eigene Aktivierung und Stimmung zu regulieren,14 also zum Mood Management, zugleich einer der wichtigsten Ansätze aus der Kommunikationswissenschaft, der die Steuerung der Stimmung durch Medienkonsum analysiert und Inhalt und Ausmaß der Mediennutzung erklärt.15 In affektiver und zugleich auch kognitiver Hinsicht befriedigt Sport in hohem Maße Bedürfnisse nach Identifikation. Das ist am häufigsten für den Fall von Nationalismus untersucht und bestätigt worden.16 Nationalismus als zentrales Motiv des medialen Sportkonsums lässt sich schon an den Reichweiten ablesen: Tennis, Formel 1, Handball – die schwankenden Medienreichweiten dieser Sportarten korrespondierten in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland stark mit dem Ausmaß des Erfolgs nationaler Repräsentanten. Darüber hinaus und in enger Verbindung mit dem Identifikationsmotiv ist Mediensport besser als die meisten anderen Genres dazu geeignet, Bedürfnisse nach Interaktion mit anderen zu befriedigen. Dies geschieht zum einen durch simulierte, sogenannte parasoziale Interaktionen – etwa durch 14  Beck u. Bosshart, S. 5; Holger Schramm u. Christoph Klimmt, »Nach dem Spiel ist vor dem Spiel«. Die Rezeption der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 im Fernsehen: Eine Panel-Studie zur Entwicklung von Rezeptionsmotiven im Turnierverlauf, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 51 (2003), H. 1, S. 55–81. 15  Dolf Zillmann, Mood Management Through Communication Choices, in: American Behavioral Scientist, Jg. 31 (1988), H. 3, S. 327–340. 16  Vgl. Ørnulf Seippel, Sports and Nationalism in a Globalized World, in: International Journal of Sociology, Jg. 47 (2017), H. 1, S. 43–61.

innerliche Dialoge mit Mediensportler*innen oder dem Mitgehen mit einem nur medial präsenten Co-Publikum. Doch auch in direkter Hinsicht ermöglicht und erleichtert Mediensport die Interaktion mit anderen, indem er eines der beliebtesten und aufgrund seiner herausragenden Reichweite anschlussfähigsten Gesprächsthemen darstellt. STIMMUNGEN UND STIMMEN – WENN DIE WELLE ALLE ERFASST Insofern Sport in starkem Maße der Regulation von Stimmungen dient, ermöglicht er es im Zusammenhang mit den konkurrenzlos hohen Reichweiten mancher Sportereignisse und Sportler in der Öffentlichkeit, die Stimmung in ganzen Ländern und bisweilen auch darüber hinaus zu synchronisieren. Durch Stimmungen vermögen vordergründig unpolitische Sportereignisse einen Einfluss auf politisches Empfinden und Handeln auszuüben. Das wird durch Wendy Rahns Konzept Public Mood veranschaulicht. Damit ist eine Stimmung gemeint, die Menschen als Konsequenz ihrer Zugehörigkeit zu einer großen sozialen Gruppierung oder Nation erleben. Lutz Hagen / Reimar Zeh  —  Mediensport und Politik

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Rahn weist darauf hin, dass Public Mood eng mit sozialer, vor allem nationaler Identität verknüpft ist und Wahrnehmungen und Handlungen von emotionalen Zuständen abhängen. Soziale oder nationale Identität wird ständig und unbewusst durch omnipräsente Medieninhalte wie Werbung oder Sportberichterstattung erneuert.17 Empirisch ist nachgewiesen, dass eine positive gesellschaftliche Grundstimmung Wähler*innen dazu veranlassen kann, die Leistungen des politischen Systems und seiner Entscheidungs­t räger positiver zu beurteilen.18 Vor dem Hintergrund von Individualisierungsprozessen und dem Schwinden traditioneller politischer Bindungen wird politische Popularität volatiler, sind elektorale Voten schwerer prognostizierbar. Der Einfluss flüchtiger Stimmungen wächst. Die ebenso kurzfristigen wie erheblichen Veränderungen der politischen Präferenzen im Verlauf der Bundestagswahlkämpfe von 2002 und 2005 belegen dies ebenso wie der gleichermaßen massive und jäh verpuffte »Schulz-Effekt« im Wahlkampf von 2017. Aus dem Ausland können die letzte amerikanische Präsidentschaftswahl und das seinerzeit überraschende Brexit-Votum als relativ aktuelle Beispiele dienen. Zwischen 1990 und 2002 fanden Bundestagswahlen im Anschluss an Fußball-Weltmeisterschaften statt, dabei war der zeitliche Abstand zwischen beiden Ereignissen 1998 und 2002 sehr gering. »Wir können nur gemeinsam gewinnen« sagte Helmut Kohl 1998 vor der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich und der Bundestagswahl in Deutschland in einem Radiointerview, die Bundestagswahl im September mit Sicherheit im Blick habend. Nach dem frühen Aus der deutschen Elf bei der WM in Frankreich und dem offenkundig missglückten Neustart trat der Bundestrainer Berti Vogts zurück. Und nicht nur das, an diesem Tag verbuchte auch die Union die schlechtesten Umfragewerte in der heißen Wahlkampfphase – für uns der Ausgangspunkt, die Beziehung zwischen Fußballsport und politischen Wahlen empirisch zu untersuchen.19 Für den Zeitraum von 1994 bis 2005 konnten wir auf der Grundlage täglicher Messungen das Interesse für Fußball mit der Sonntagsfrage in Beziehung setzen. Zusammenhänge zeigten sich dann, wenn die deutsche Elf gespielt und vor allem gewonnen hatte. Bei Siegen nahm die Wahlabsicht zugunsten der Volksparteien zu, unterm Strich profitierte insbesondere die SPD von den Erfolgen, mehr noch als die Union.

Niederlagen hatten nicht den gleichen, deutlichen Effekt. Siege hoben die Stimmung, Niederlangen verschlechterten sie aber nicht zwingend. Das überraschend gute Abschneiden der DFB-Elf bei der WM 2002 in Japan und Süd-Korea wurde von den Deutschen gefeiert. Die Stimmung im Land des

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17  Wendy Rahn u. Rebecca Hirshorn, Political Advertising and Public Mood: A Study of Children’s Political Orientations, in: Political Communication, Jg. 16 (1999), H. 4, S. 387–407. 18  Daniel Stevens, The Relationship between Negative Political Advertising and Public Mood: Effects and C ­ onsequences, in: Journal of Elections, Public Opinion and Parties, Jg. 18 (2008), H. 2, S. 153–177. 19  Reimar Zeh u. Lutz Hagen, »Nun zum Sport …« und andere kurzfristige Effekte von Fernsehnachrichten auf die Wahlabsicht im Bundestagswahlkampf 1998, in: Christina Holtz-Bacha (Hg.), Wahlkampf in den Medien – Wahlkampf mit den Medien, Opladen 2000, S. 191–220; Lutz Hagen u. a., Fußball in den Medien, Public Mood und wie der Acker dann doch noch gewann, in: Christina Holtz-Bacha (Hg.), Die Massenmedien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2002, Wiesbaden 2003, S. 264–281; Reimar Zeh u. Lutz Hagen, Fußball als Wahlentscheider? Wie die deutsche Nationalmannschaft politische Popularität beeinflusst, in: Christina Holtz-Bacha (Hg.), Fußball-Fernsehen-Politik, Wiesbaden 2006, S. 193–213.

Vize-Weltmeisters hellte sich auf und davon profitierte die Regierung Schröder, wenngleich dieser Impuls (noch) nicht reichte, die SPD in der Wählergunst vor die CDU/CSU zu schieben. Gerhard Schröder setzte dementsprechend wohl auch große Hoffnungen in die WM 2006 im eigenen Land, als er im November 2004 die Kampagne »FC Deutschland 06« vor Wirtschaftsvertretern vorstellte. Der Spiegel hatte dem Vorhaben bei Bekanntwerden einen groß aufgemachten und langen Beitrag gewidmet, in dem das Motiv der Regierung vor allem darin gesehen wurde, durch die Fußballweltmeisterschaft im Sommer 2006 die eigene Popularität und damit die Chancen bei den Bundestagswahlen im Herbst desselben Jahres zu verbessern.20 Von der guten Stimmung profierte dann aufgrund der vorgezogenen Neuwahlen 2005 und des anschließenden Regierungswechsels Angela Merkel, wenngleich nicht an der Wahlurne, sondern nur in Umfragen. Diese Erkenntnisse über die Effekte der großen internationalen Fußballturniere auf die politische Popularität werden durch rezente Befunde gestützt, wonach in den entsprechenden Wahlkreisen auch das gute Abschneiden von Fußballvereinen in der Bundesliga die Wahlergebnisse der Regierungsparteien bei der Bundestagswahl 2013 verbessert hat.21 POLITISCHE INSTRUMENTALISIERUNG – DABEI SEIN IST ALLES »Arbeiten über den politischen Missbrauch des Sports durch Nationalsozialisten und Stalinisten«, so der vor einigen Jahren verstorbene Göttinger Politikwissenschaftler Peter Lösche, und »Untersuchungen über den Sport als 20  Konstantin von Hammerstein u. a., FC Wahlkampf 06, in: Der Spiegel, 22.11.2004. 21  Achim Goerres u. a., Fußball und die Bundestagswahl 2013. Der kausale Einfluss von ursprünglich nicht-politischen Emotionen auf Wahlen, in: Politische Vierteljahresschrift, J. 60 (2019), H. 3, S. 561–586.

Nebenschauplatz im Kalten Krieg, über nationale oder regionale Identitätsstiftung durch den Sport sind Legion«.22 Dabei interessieren die Wissenschaft vor allem die politisch motivierte Ausrichtung und staatlich gesteuerte Medialisierung von großen Sportveranstaltungen und die eventuelle Gegenreaktion durch politische Opponenten. Den Prototyp bilden die Olympischen Spiele von Berlin 1936, denen Leni Riefenstahl mit ihrer Dokumentation »Olympia« ein Denkmal gesetzt hat, das die ästhetisierende Darstellung von Sport und Heldentum in Kino und Fernsehen bis heute stark prägt. Der Kalte Krieg führte zu einem weiteren Höhepunkt der Politisierung von

22  Peter Lösche, Sport und Politik(wissenschaft). Das dreidimensionale Verhältnis von Sport und politischem System der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. u. a. (Hg.), Fußball­ welten. Jahrbuch für Europa- und ­Nordamerika-Studien, Wiesbaden 2002, S. 45–63.

Olympischen Spielen: Als Reaktion auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan boykottierten viele westliche Staaten die Spiele 1980 in Moskau, im Gegenzug blieben die Staaten des Warschauer Paktes den Spielen in Los Angeles 1984 fern. Das Thema flaute nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ab, um im neuen Jahrtausend im Kontext der Olympischen Spiele von Peking 2008 und Sotschi 2014 sowie des im Rückblick unschön verzerrten Lutz Hagen / Reimar Zeh  —  Mediensport und Politik

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deutschen Sommermärchens der Fußballweltmeisterschaft 2006 erneut auf die Agenda zu kommen. Es ist kennzeichnend für diese jüngste Phase, dass die politische Instrumentalisierung in den Medien selbst stark thematisiert wird. Die Betrachtung des Sport-Politik-Nexus aus einer ethischen Per­spektive ist zunehmend zum Bestandteil der Arbeit von Sportjournalist*innen geworden. Die politische Instrumentalisierung von Sport beschränkt sich aber bei weitem nicht auf die staatlich geförderte oder gesteuerte Ausrichtung von Großveranstaltungen. Weitere Formen finden sich vor allem im Bereich der symbolischen Politik. Sie bestehen darin, dass Arenen des Sports genutzt werden, um Aufmerksamkeit und Wohlwollen für politische Belange zu erhalten. Dies kann auf ganz unterschiedliche Art und Weise geschehen, etwa indem Politiker*innen ihre eigene Sportlichkeit inszenieren. Gerhard Schröder und Joschka Fischer spielten Fußball. Schröder wurde auch als Kanzler noch gelegentlich »Acker« genannt – ein Kampfname, den er sich als Stürmer des TuS Talle in Ostwestfalen-Lippe erworben hatte. Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko zeigten sich in voller Montur in der Eishockey-Arena, Putin präsentiert sich auch gern beim Judo, Angeln und Reiten, während sich Donald Trump mit Wrestling-Unternehmer Vince McMahon in der Wrestling-Arena duellierte. Arnold Schwarzenegger und Jesse Ventura wiederum nutzen ihre erfolgreichen Sportkarrieren zum Sprung in die Politik, der Ex-CricketWeltstar Imran Khan amtiert sogar als Premier in Pakistan und Afrikas Fußballer des Jahrhunderts, George Weah, regiert Liberia. Silvio Berlusconi schließlich war immerhin Präsident des AC Milan, bevor er zum Ministerpräsidenten von Italien gewählt wurde. Eine eigene Nähe zum Sport kann durch Politiker*innen aber auch rein metaphorisch hergestellt Lutz Hagen / Reimar Zeh  —  Mediensport und Politik

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werden. Eine Sportsprache und Bilder aus dem Sport werden in der Politik häufig gebraucht. Silvio Berlusconi nannte seine neugegründete Partei Forza Italia! – nach einem Schlachtruf italienischer Tifosi. Aber auch Politiker*innen mit einer geringeren Neigung zum Populismus verwenden sehr oft Fußballfloskeln, gerade im Wahlkampf. So versprach Jürgen Trittin »eine neue Spielweise« unter Rot-Grün, Franz Müntefering sprach im Wahlkampf von 2002, der für die SPD lange verloren zu gehen schien, über die Chancen »in der zweiten Halbzeit« und Edmund Stoiber wollte sich im selben Wahlkampf als »Bundestrainer« profilieren.23 Das Feuilleton sieht Kanzler und Bundestrainer ohnehin als Schicksalsgemeinschaft, von Konrad Adenauer und Sepp Herberger bis Angela Merkel und Jogi Löw.24 Helmut Kohl und Angela Merkel haben auch ihrerseits stets die Nähe zur Fußball-Nationalmannschaft gesucht. Ebenso Recep Tayyip Erdogan, der sich für den türkischen Präsidentschaftswahlkampf 2018 mit den deutschen Nationalspielern Mesut Özil und Ilkay Gündogan fotografieren ließ – mit erheblichen Folgen für den öffentlichen Diskurs und in personeller, wie vermutlich auch sportlicher, Hinsicht für die deutsche Fußballnationalmannschaft. Neben Politiker*innen, die sich solcherart in den Arenen des Sports sonnen, können umgekehrt auch Sportler*innen die Arenen des Mediensports für Politik nutzen. Dass Spitzensportler*innen das Privileg ihrer medialen Reichweite für persönliche politische Intentionen einsetzen, ist kein neues Phänomen. Als eines der folgenreichsten Beispiele, zumindest für die Akteure selbst, gilt die Black-Power-Faust, die die afroamerikanischen Leichtathleten Tommie Smith und John Carlos bei der Medaillenverleihung während der Olympischen Spiele in Mexico 1968 in den Nachthimmel und für die Kameras reckten. Ganz in dieser Tradition hat die Weigerung des AmericanFootball-­Stars Colin Kaepernick, sich für die Nationalhymne zu erheben, 2016 für Furore gesorgt – und dazu, dass Kaepernick entlassen wurde und bis heute keinen neuen Verein finden konnte. Weniger spektakulär sind die Fälle des Fußballspielers Xherdan Shaqiri, der ein Tor für die Nati genannte Schweizer Nationalmannschaft mit einer pro-albanischen Geste feierte, und der türkischen Nationalmannschaft, die im Stadion jüngst mehrfach für den Einmarsch der türkischen Armee in Syrien salutierte. AUSBLICK – MEDIENSPORT UND POLITIK IM ZWEITEN ­S TRUKTURWANDEL DER ÖFFENTLICHKEIT Im vergangenen Jahrzehnt ist die Medialisierung in eine neue Phase getreten, die durch den Aufstieg des Web 2.0, seine Interaktionsmöglichkeiten

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23  Hagen u. a., Fußball in den Medien; Hagen u. Zeh, Fußball als Wahlentscheider? 24  Lutz Lichtenberger, Fußball als Modell der deutschen Politik, in: Berliner Zeitung, 06.06.2008.

und Algorithmen geprägt wird. Im Verlauf dieses zweiten Strukturwandels der Öffentlichkeit haben die zuvor stark homogenisierenden, gesellschaftlich eher einigend wirkenden Medien nun zunehmend zentrifugale Wirkungen entfaltet, welche die Individualisierung und Polarisierung der politischen Kommunikation zusätzlich vorangetrieben haben. Im Internet ist eine zweite Öffentlichkeit entstanden, die nicht mehr dem Gatekeeping der traditionellen Massenmedien und professionellen Journalisten unterliegt, was neo-bonapartistische Medienpolitiker wie Donald Trump sehr erfolgreich nutzen und die Macht der Parteien im politischen Prozess weiter schwächt. Der Mediensport und sein Nexus zur Politik sind hierdurch vielleicht weniger verändert worden als andere Bereiche der Politik und der Gesellschaft. Die Erklärung hierfür liegt in der integrativen Macht des Mediensports und seiner Großereignisse, die per se eher zentripetal wirkt. Sichtbare Veränderungen betreffen allerdings schon jetzt einerseits den stark wachsenden Einfluss von Sportveranstaltern auf die Übertragung und Vermarktung von Sport, gerade durch eigene Medien, und andererseits die Emanzipation von Sportstars, die weniger als bisher von Medienkonzernen und politischen Organisationen abhängig sind, sondern über ihre Social Media-Kanäle und mit der Zustimmung ihrer Fans im Rücken die Grenzen zwischen den beiden Systemen Sport und Politik nun leichter überschreiten können. Zugleich aber entfesselt der zweite Strukturwandel der Öffentlichkeit das Publikum, dessen Mitglieder nun mit wenig Aufwand selbst als Massenkommunikator*innen agieren können. Was das für die Amalgamierung von Sport und Politik bedeutet, ist noch unklar.

Prof. Dr. Lutz M. Hagen, geb. 1962, ist an der Technischen Universität Dresden als Direktor des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Direktor des Zentrums für sozialwissenschaftliche Methoden tätig. Seine Forschung gilt vor allem dem Nachrichtensystem – im Hinblick auf Produktion, Rezeption und Wirkung. Speziell befasst er sich mit der Qualität von Journalismus und Veränderung des Nachrichtenwesens durch die digitale Revolution. Prof. Dr. Reimar Zeh, geb. 1970, vertritt den Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der politischen Kommunikation. Derzeit befasst er sich mit der Implementierung korpuslinguistischer Methoden in die Medieninhaltsforschung.

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SPORT UND SOZIALE UNGLEICHHEIT INDIVIDUALISIERUNG, ÖFFNUNG UND DIE BEDEUTUNG TRADITIONELLER UNTERSCHIEDE1 Ξ  Jan Haut

Spielen Manager Golf und Arbeiter Fußball? Steigt die Sportaktivität mit dem Bildungsgrad? Treiben Männer mehr Sport als Frauen? Sind Migranten in Sportvereinen gleichermaßen vertreten wie »autochthone Deutsche«? Und wenn sich solche Differenzen zeigen: Wie sind sie zu erklären und zu bewerten? Handelt es sich um frei gewählte, individuelle Präferenzen oder um soziale Determinierungen, die dazu führen, dass bestimmte soziale Gruppen beim Zugang zum Sport allgemein benachteiligt bzw. vom Zugang zu spezifischen Formen des Sporttreibens ausgeschlossen werden? Solche Fragen versuchen sozialwissenschaftliche Perspektiven auf den Sport mithilfe von Theorien sozialer Ungleichheit zu beantworten, deren Gegenstand die unterschiedliche Verfügbarkeit gesellschaftlich relevanter Ressourcen und die damit zusammenhängenden Unterschiede in den Teil­ habemöglichkeiten an Gesellschaft sind.2 Während sich ökonomische Ansätze traditionell primär auf monetäre Ungleichheiten konzentrieren3, messen soziologische Ansätze neben Indikatoren wie Einkommen, Bildung und Beruf vor allem auch gruppenspezifischen Einstellungen, Habitus oder Mentalitäten größere Bedeutung bei. Je nach theoretischer Auffassung werden diese als

1  Redaktionell überarbeitet und erstmals erschienen unter dem Titel Sport und soziale Ungleichheit in Arne Güllich u. Michael Krüger (Hg.), Sport in Kultur und Gesellschaft. Handbuch Sport und Sport­ wissenschaft, Heidelberg 2018.

mehr oder weniger von der objektiven sozialen Position abhängig gesehen. SOZIALE UNGLEICHHEIT IN DER SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN DISKUSSION Obgleich der Begriff der sozialen Ungleichheit mitunter auch heute noch als ideologisch kritisiert wird – etwa weil damit vermeintlich frei gewählte Unterschiede zu gesellschaftlich determinierten Ungerechtigkeiten verklärt würden –, ist die sozialwissenschaftliche Diskussion um passende Theorien und Konzepte inzwischen weitgehend versachlicht und der Gebrauch des Begriffs nicht mehr eindeutig politisch besetzt. Das war keineswegs immer so – vielmehr waren theoriegeschichtlich erste systematische Ansätze zur Erklärung sozialer Ungleichheit eng mit gesellschaftspolitischen und weltanschaulichen Kontroversen verknüpft.4 So

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2  Vgl. Detlef Krause, Soziale Ungleichheit, in: Werner FuchsHeinritz u. a. (Hg.), Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden 2011, S. 709. 3  Auch wenn Faktoren wie Humankapital oder soziale Mobilität inzwischen regelmäßig Beachtung finden, vgl. Marcel Fratzscher, Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird, München 2016. 4  Nicole Burzan, Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien, Wiesbaden 2011, S. 7–9.

kritisierten liberale Strömungen die feudal-ständische Ordnung, die ungleiche Lebensbedingungen als quasi-natürlichen oder gottgegebenen Zustand legitimierte, erachteten jedoch jene Unterschiede (insbesondere ökonomischer Art) als gerechtfertigt, die Resultat unterschiedlicher (Arbeits-)Leistungen seien. Sozialistische Kritiker insistierten demgegenüber darauf, dass der formalen rechtlichen Gleichheit eine derart ausgeprägte ökonomisch-­soziale Ungleichheit entgegenstehe, dass die bürgerliche Gesellschaft nur als Klassen-Gesellschaft zu verstehen sei. Diese These wurde insbesondere von Karl Marx und Friedrich Engels zu einer – vorrangig politisch motivierten, aber z. T. durchaus empirisch fundierten – Theorie entwickelt5, an der sich sukzessive auch stärker wissenschaftlich orientierte Theorien abarbeiteten. Während Marx die Klassenzugehörigkeit vorrangig an der wirtschaftlichen Lage bzw. der »Stellung im Produktionsprozess« (Kapitalist oder Arbeiter) festmachte und aus dieser auch ein bestimmtes (Klassen-)Bewusstsein ableitete, relativierte Max Weber die Bedeutung der Ökonomie: Der Differenzierung nach Klassen stellte er eine nach (politischen) Parteien und eine nach Ständen an die Seite. Ein Stand zeichnet sich dabei vor allem durch eine spezifische kulturelle Lebensführung aus, mit der auch ein bestimmtes Prestige (»soziale Ehre«) verbunden ist.6 Die ständische Lage war für ­Weber somit nicht zwangsläufig mit der ökonomisch geprägten Klassenlage deckungsgleich, sondern von dieser relativ unabhängig – man denke z. B. an den verarmten Adeligen, der an einem »standesgemäßen« Lebensstil festhält, obwohl dieser eigentlich nicht mehr zu seiner ökonomischen Situation passt. Theodor Geiger führte demgegenüber mit seinem Konzept sozialer Schichtung eine Differenzierungskategorie ein, die noch allgemeiner gedacht war. Demnach kann Schichtung auf verschiedenen Prinzipien beruhen, denen in der Entwicklung von Gesellschaften unterschiedlich starke Bedeutung zu5  Karl Marx, Das Kapital – ­Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werke (Bd. 23), Berlin 1972; Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klassen in England, in: Marx-EngelsWerke (Bd. 2), Berlin 1972, S. 225–506.

kommen kann. Stand oder Klasse wären demnach historisch einmal »dominante Schichtungsprinzipien« gewesen, jedoch nicht mehr in der zeitgenössischen Gesellschaft. In dieser müsse man die soziale Schichtung empirisch erforschen, was Geiger anhand von Bevölkerungsdaten aus den 1920er Jahren versuchte. Den so ermittelten Schichten könnten dann auch typische »Mentalitäten« zugeordnet werden, d. h. geistige Dispositionen, die sich in einem

6  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2005, S. 223–227 u. S. 678–689. 7  Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1987, S. 5 u. S. 80.

bestimmten »Lebensduktus« niederschlügen.7 Mit den Ansätzen von Marx, Weber und Geiger sind die Eckpfeiler der Diskussion um soziale Ungleichheiten markiert. Nachfolgende Analysen haben diese grundlegenden Positionen variiert, ausdifferenziert und für zeitgenössische Gesellschaften aktualisiert, wodurch eine Vielzahl von Modellen mit diversen Akzentuierungen entstand. Die bundesrepublikanische Soziologie Jan Haut  —  Sport und soziale Ungleichheit

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der Nachkriegszeit bemühte sich um differenziertere, entweder primär empiriegeleitete Schicht- oder primär theoretisch orientierte Klassenmodelle – beide Strömungen orientierten sich aber weiterhin an den klassischen Indikatoren Beruf, Bildung und Einkommen.8 Ab den 1980er Jahren gerieten solche traditionellen Ansätze jedoch zunehmend in die Kritik: Spätestens seit Ulrich Becks These einer »Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen […], die das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterlaufen«9, wurden Perspektiven »jenseits von Klasse und Stand«10 eingefordert, die sich auch stärker an der konkreten, alltäglichen Lebensführung orientieren sollten denn an vermeintlich bloß abstrakten Gruppierungen. So kamen die Lebensstile als eigenständige Kategorie in den Fokus, die dann nicht mehr nur als Ausdruck von Schicht oder Klasse, sondern z. T. als »entstrukturierte«, frei gewählte Zusammenschlüsse interpretiert wurden.

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»Horizontalen« Ungleichheiten (Geschlecht, Alter etc.) wurde zunehmend mehr Beachtung geschenkt, für die »vertikale« Differenzierung wurden neue Modelle wie das der sozialen Lagen und Milieus entworfen12 oder klassische Schichtkonzepte aktualisiert13.

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8  vgl. den Überblick bei ­Burzan, S.  40–69. 9  Ulrich Beck, Jenseits von Klasse und Stand? Soziale Ungleichheit, soziale Indivi­ dualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhart Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983, S. 35–74, hier S. 36. 10  Ebd. 11  Vgl. die Bilanz in Jörg Rössel u. Gunnar Otte (Hg.), Lebensstilforschung, Wiesbaden 2012. 12  Stefan Hradil, Sozial­ strukturanaylse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus, Opladen 1987. 13  Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, Wiesbaden 2014.

Ein Ansatz, der auch in der Sportsoziologie häufig herangezogen wird, ist jener von Pierre Bourdieu14. In der Absicht, »den Weberschen Gegensatz von Klasse und Stand neu zu überdenken«15, verbindet er empirisch die Analyse von Klassen und Lebensstilen und versucht, die Bedeutung kultureller Praktiken für die Reproduktion sozialer Ungleichheiten theoretisch herauszuarbeiten. Demnach bilden Menschen in Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunft einen spezifischen Habitus aus – der einen bestimmten Geschmack prägt – und haben ihrer sozialen Position entsprechend ein spezifisches (ökonomisches, kulturelles, soziales) Kapital zur Verfügung, wodurch spezifische Lebensstile realisiert werden, die wiederum den Erwerb von Kapital bzw. den Auf- oder Abstieg in bestimmte soziale Positionen erschweren oder begünstigen.16 Während insgesamt zwar stets umstritten blieb, inwieweit alte Ungleichheiten verschwunden und neue Erklärungsansätze notwendig waren,17 lässt 14  Pierre Bourdieu, Rede und Antwort, Frankfurt a. M. 1992, S. 193–207; Ders., Soziologische Fragen, Frankfurt a. M. 1993, S. 165–186. 15  Ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1999, S. 12, Herv. i. O. 16  Für eine ausführlichere Diskussion siehe Haut, Soziale Ungleichheiten in Sportverhalten und kulturellem Geschmack. Eine empirische Aktualisierung der Bourdieu’schen Theorie sozialer Differenzierung, Münster 2011, S. 16–49. 17  Vgl. Günter Endruweit, Milieu und Lebensstilgruppe. Nachfolger des Schichtenkonzepts?, München 2000. 18  Hans-Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013. 19  Grundlegend zu den sportbezogenen Ausgaben der Bevölkerung siehe Gerd Ahlert u. Holger Preuß, Sport als Wirtschaftsbranche. Der Sportkonsum privater Haushalte in Deutschland, Wiesbaden 2012.

sich dennoch für die 1980er und 1990er Jahre eine gewisse Dominanz von Individualisierungs- und Entstrukturierungstheorien feststellen. Seit einigen Jahren wird hingegen wieder verstärkt die Kontinuität vertikaler Hierarchien und klassischer Ungleichheiten betont.18 THEORIEN ZUM EINFLUSS SOZIALER UNGLEICHHEITEN AUF DAS SPORTVERHALTEN Inwieweit können soziale Ungleichheiten nun das Sportverhalten prägen? Ein erster Zusammenhang liegt auf der Hand: Das materielle Einkommen setzt Grenzen, insofern das zur Realisierung von Sportaktivitäten notwendige Maß an Geld verfügbar sein muss. Prinzipiell kann man natürlich sehr kostengünstig Sport treiben, z. B. hat man beim Nacktschwimmen im Waldsee nur die Opportunitätskosten der Zeitverwendung. Für die meisten Aktivitäten sind jedoch neben der Zeit gewisse Mindestbeträge für Ausrüstung, Mitgliedsbeiträge, Nutzungsgebühren, Übungsstunden, Reisekosten usw. notwendig. Der Beitrag für einen Turn- oder Fußballverein und ein Paar Schuhe sind hierzulande für die meisten, eine Golfausrüstung und entsprechende Clubmitgliedschaft schon für deutlich weniger Menschen finanzierbar.19 Bildung kann z. B. in Form von Wissen um gesundheitliche Vor- oder Nachteile eine Rolle spielen: Rentner A wird vielleicht durch den Gedanken abgeschreckt, dass nur Training mit viel Schweiß und maximaler Anstrengung etwas bringen würde – und lässt es dann lieber gleich sein. Rentner B dagegen ist motiviert, weil er weiß, dass schon Nordic Walking mit moderater Belastung ein effektives Herz-Kreislauf-Training sein kann. Jan Haut  —  Sport und soziale Ungleichheit

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Isolierte Betrachtungen von einzelnen Einflussfaktoren wie Bildungsabschluss oder Einkommen erklären jedoch nicht, warum z. B. Personen mit gleichem Bildungsgrad unterschiedlich häufig Sport treiben oder Personen mit einem deutlich verschiedenen Budget die gleiche Sportart präferieren. Diesbezüglich versuchen Schicht- und andere Modelle Kombinationen verschiedener Merkmale zu integrieren, die für Unterschiede im Sportverhalten mitunter relevanter sind als einzelne Faktoren. Vor allem aber suchen Theorien sozialer Ungleichheit Erklärungen für verschiedene Formen der Sportaktivität, die nicht allein auf eine unterschiedliche Ressourcenausstattung zurückzuführen sind. Hierzu wird auf Aspekte wie Werte, Einstellungen, Mentalitäten oder Habitus rekurriert, die konzeptionell ähnlich sind, im Detail jedoch mitunter deutlich verschieden. So wurde etwa häufig argumentiert, dass bürgerliche Mittelschichten aktiver seien als andere, weil Sport Werte wie Disziplin, Leistungsbereitschaft, Aufstiegsorientierung und Wettbewerbsgeist voraussetzen bzw. honorieren würde, die in dieser Gruppe stärker ausgeprägt seien.20 Während dies eine Erklärung für unterschiedliche Beteiligung speziell im leistungsorientierten Wettkampfsport wäre, sind allgemein für die bevorzugte Sportaktivität vor allem unterschiedliche Haltungen zum eigenen Körper relevant: Daher dürften ältere Menschen aufgrund einer stärkeren Gesundheitsorientierung andere Sportarten betreiben als jüngere und Männer andere Fitnessprogramme bevorzugen als Frauen (Krafttraining vs. Zumba), weil sich die Körperbilder unterscheiden (stark, kräftig vs. schön, elegant).21 Solche Differenzen beruhen nicht nur auf dem Alter oder dem Geschlecht, sondern können auch auf verschiedene »somatische Kulturen«22 von Schichten oder Klassen zurückzuführen sein. Nach Bourdieu ist der durch Essgewohnheiten, Kleidungsstil und eben Sportverhalten geprägte Körper gar die »unwiderlegbarste Objektivierung des Klassengeschmacks«23. Neben dem Verhältnis zum eigenen Körper können aber auch andere soziale Faktoren schichtspezifische Sportartpräferenzen hervorbringen: So suchen vielleicht die einen im Fußball Geselligkeit und Kameradschaft, während die anderen durch Polo oder andere exklusive Sportaktivitäten Distinktionsgewinne erzielen wollen.24 Es werden also gegenüber dem Sport bzw. gegenüber spezifischen Sportarten, Organisationsformen usw. spezifische Erwartungen gehegt. Während manche (traditionell eher ökonomische) Ansätze nun davon ausgehen, dass die Akteure rational kalkulieren, wie ihre Präferenzen im Sinne größtmöglichen Nutzens mit ihren verfügbaren Ressourcen vereinbar sind, betonen andere (eher soziologisch geprägte) Ansätze die Grenzen rationaler Entscheidungen. So wäre mit Bourdieu davon auszugehen, dass Präferenzen bezüglich

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20  Klaus Heinemann, Einführung in die Soziologie des Sports, Schorndorf 2007, S. 64–65. 21  Haut, Soziale Ungleich­ heiten, S. 160–163. 22  Luc Boltanski, Die soziale Verwendung des Körpers, in: Dietmar Kamper u. Volker Rittner (Hg.), Zur Geschichte des Körpers. Perspektiven der Anthropologie, München 1976, S. 138–177. 23  Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 307. 24  Bourdieu, Rede und Antwort, Ders., Die feinen Unterschiede, S. 332–354; Michael Nagel, Soziale Ungleichheiten im Sport, Aachen 2003, S. 78–81.

des Sportverhaltens habituell geprägt sind, diesbezügliche Entscheidungen (welche Sportart, in welchem Verein, welche Schuhe usw.) oft also eher praktisch denn völlig durchdacht getroffen werden. Es mag Fälle geben, in denen jemand sein Leben grundlegend reflektiert und die Frage erörtert: Welcher Sport passt angesichts meiner Interessen, Ziele und finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten am besten zu mir? Oder: Welcher Club bringt mir die nützlichsten sozialen Kontakte? Nach Bourdieu wäre dies in der Praxis aber nicht unbedingt die Regel. Vielmehr beruht demzufolge das gegebene Sportverhalten zumeist auf spontanen, mithilfe vorreflexiver »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata« des Habi25  Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 333. 26  Vgl. auch Jürgen Baur u. Ulrike Burrmann, Sozialisation zum und durch Sport, in: Kurt Weis u. Robert Gugutzer (Hg.), Handbuch Sportsoziologie, Schorndorf 2008, S. 230–238. 27  Christoph Breuer u. a., Determinants of sport participation in different sports, in: Managing Leisure, Jg. 16 (2011), H. 4, S. 269–286; Tanja Rohrer u. Max Haller, Sport und soziale Ungleichheit – Neue Befunde aus dem internationalen Vergleich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 67 (2015), H. 1, S. 57–82. 28  Michael Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports. Teil 3: Leibesübungen im 20. Jahrhundert. Sport für alle, Schorndorf 2005, S. 18–24. 29  Nach Thorstein Veblen, Die Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Frankfurt a. M. 2007, S. 60. 30  Jan Haut, Completing sportisation: Elias on the diffusion and differentiation of sport in ›modern‹ society, in: Ders. u. a. (Hg.), Excitement Processes. Norbert Elias’ Unpublished Works on Sports, Leisure, Body, Culture, Wiesbaden 2018, S. 136–151.

tus getroffenen Entscheidungen.25 So ist ein gängiger Weg zum Sport eben auch, von Bekannten mal zum Training mitgenommen zu werden und irgendwann einfach dabei zu bleiben – oft ohne genau zu wissen, warum man gerade diese Sportart oder diesen Verein und nicht andere Alternativen wählt. Sowohl die Bekannten als auch die Entscheidungskriterien sind jedoch in Teilen Resultat einer klassen-, schicht- oder milieuspezifischen Sozialisation26, die somit auch das Sportverhalten bzw. die Vorstellungen vom »richtigen Sport« prägt. Analog zu der Entwicklung in den Fachdisziplinen, wo in der Wirtschaftswissenschaft inzwischen auch Ansätze, die soziale und psychologische As­ pekte ökonomischen Verhaltens berücksichtigen, und in der Soziologie Rational-­Choice-Modelle etabliert sind, gibt es in der empirischen Sozialforschung zum Sportverhalten zusehends auch Untersuchungen, die Ansätze aus beiden Disziplinen zu integrieren suchen.27 WANDEL UND KONTINUITÄT SOZIALER UNGLEICHHEIT IM SPORT »Sport« war ab dem 17./18. Jahrhundert ein Sammelbegriff für allerlei Formen des Zeitvertreibs – neben Boxen oder Cricket gehörten dazu z. B. auch die Jagd oder das Zuschauen und Wetten bei Pferde- und Hunderennen oder Hahnenkämpfen –, die von wohlhabenden englischen Gentlemen gepflegt wurden.28 Er war also zunächst mal eine recht exklusive Praxis, gar eine Form des demonstrativen Müßiggangs der privilegierten Klasse.29 Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste der Sport in Großbritannien – dank seiner Etablierung an Schulen und Universitäten und im Zusammenhang mit Industrialisierungs- und Demokratisierungsprozessen – weitere Teile der Bevölkerung. Sukzessive entwickelte er sich unter dem zunehmenden Einfluss aufsteigender, bürgerlicher Schichten zu jenem breiten Spektrum regulierter, körperlicher Wettkämpfe, das auch für das heutige Verständnis von Sport noch maßgeblich ist.30 Jan Haut  —  Sport und soziale Ungleichheit

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In Deutschland, wo im 19. Jahrhundert das durch Arbeiter und untere Mittelschichten geprägte Turnen die am weitesten verbreitete Form der Körperkultur war, blieb der sich um die Jahrhundertwende entfaltende englische Sport zunächst wiederum auf relativ kleine, bürgerliche Kreise beschränkt, ehe in den 1920er Jahren Sportarten wie Fußball oder Leichtathletik zum Massenphänomen wurden.31 Auch der Nationalsozialismus hatte durchaus Interesse an der körperlichen Aktivität des Volkes, sofern sie den Zielen der Wehrertüchtigung und Rassenhygiene diente. Die Konkurrenz zwischen Turnen und Sport wurde nach der Gleichschaltung der Verbände obsolet, etwaige klassen- oder schichtspezifische Ausprägungen des Sportverhaltens galten als mit der Ideologie der »Volksgemeinschaft« unvereinbar.32 Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Sportaktivität zunächst auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Der 1950 neu gegründete Deutsche Sportbund hatte anfangs gut 3,2 Mio. Mitgliedschaften, was einem Anteil von knapp sieben Prozent der westdeutschen Bevölkerung entsprach.33 Das Allensbacher Jahrbuch für Demoskopie berichtete für dasselbe Jahr 1950, dass neun Prozent der erwachsenen Bevölkerung der Bundesrepublik angaben, »regel­mäßig« Sport zu treiben und weitere 14 Prozent »gelegentlich«.34 Für die 1960er und 1970er Jahre erlauben weitere, mit gleichen Indikatoren arbeitende Erhebungen des Allensbach-Instituts35 Rückschlüsse auf die Entwicklung der Sportaktivität. Ab den 1980er Jahren liegen dann repräsentative Längsschnittdaten zum Sportverhalten aus dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) bzw. der Gesundheitsberichterstattung vor.36 Eine derartige Betrachtung birgt neben den üblichen Problemen der Erfassung von Sportaktivität (soziale Erwünschtheit, unterschiedliche Operationalisierung)37 zusätzlich die Schwierigkeit, dass sich der Sportbegriff selbst wandelt, ist aber dennoch aufschlussreich. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Sportbeteiligung demnach an, wobei ab den 1960er Jahren – auch dank der Förderung durch sportpolitische Initiativen (»Goldener Plan«, »Zweiter Weg«, »Sport für alle«, »Trimm Dich«) – insbesondere der vereinsorganisierte Breitensport drastisch hinzugewann, dessen Mitgliedszahlen erst seit der Jahrtausendwende stagnieren bzw. leicht rückläufig sind. Insgesamt sind die Anteile der Sportaktiven allerdings weiterhin steigend, d. h. die Zuwächse der letzten Jahre sind auf Aktivitäten außerhalb der Sportvereine, also in informellen Kontexten oder bei kommerziellen und sonstigen Anbietern, zurückzuführen.38 Aktuell treibt eigenen Angaben zufolge fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung mindestens einmal pro Woche und ein weiteres Viertel seltener, aber zumindest gelegentlich, Sport.

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31  Krüger, S. 42–63 u. S. 101–105. 32  Ebd., S. 158–163. 33  Deutscher Sportbund (Hg.), Sport in Deutschland Frankfurt a. M. 2003, S. 77. 34  Elisabeth Noelle u. Erich Peter Neumann (Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung. 1947– 1955, Allensbach 1956, S. 46. 35  Dies. (Hg.), Jahrbuch der ­öffentlichen Meinung. 1958–1964, Allensbach 1965, Dies. (Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung. 1968–1973, Allensbach 1974. 36  Marcel Erlinghagen, Wer treibt Sport im geteilten und vereinten Deutschland? Eine quantitative Analyse sozio-ökonomischer Determinanten des Brei­ tensports, Gelsenkirchen 2003; Simone Becker u. a., Sportaktivität in Deutschland im 10-Jahres-Vergleich: Veränderungen und soziale Unterschiede, in: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, Jg. 57 (2006), H. 9, 226–232; Thomas Lampert u. a., Sport und Gesundheit bei Erwachsenen in Deutschland, in: Bundes­ gesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, Jg. 48 (2005), H. 12, S. 1357–1364. 37  Jan Haut u. Eike Emrich, Sport für alle, Sport für manche. Soziale Ungleichheiten im »pluralisierten« Sport, in: Sportwissenschaft, Jg. 41 (2011), H. 4, S. 315–326, hier S. 319.

Inwieweit ist dann aber der Sport, wenn er sich doch offenbar für immer 38  Vgl. etwa Claudia Klostermann u. Siegfried Nagel, Changes in German sport participation: Historical trends in individual sports, in: International Review for the Sociology of Sport, Jg. 49 (2014), H. 5, S. 609–634; vgl. ähnlich herausgearbeitet für Flandern Jeroen Scheerder u. Steven Vos, Social stratification in adults’ sports participation from a timetrend perspective. Results from a 40-year household study. European Journal for Sport and Society, Jg. 8 (2011), H. 1–2, S. 31–44. 39  Karl Schlagenhauf, Sportvereine in der Bundesrepublik Deutschland. Teil 1: Strukturelemente und Verhaltensdeterminaten im organisierten Freizeitbereich, Schorndorf 1977. 40  Ebd., S. 139–150 u. S. 207. 41  Ebd., S. 150–159.

mehr Menschen geöffnet hat, heute noch durch soziale Ungleichheit geprägt? Eine der ersten detaillierten Untersuchungen zu Sportverhalten und -vereinen, die für viele spätere Studien grundlegend war, legte Karl Schlagenhauf vor.39 Trotz der damals schon weit fortgeschrittenen Verbreitung des Sports stellte er fest, dass das Sportverhalten elementar durch Merkmale sozialer Ungleichheit geprägt sei: Demnach sank der Anteil der Sportaktiven von den jüngsten zu den ältesten Altersgruppen kontinuierlich und bei Männern war er höher als bei Frauen.40 Schichteffekte zeigten sich im Sinne von mehr Sporttreibenden bei steigender Position und in Form spezifischer Sportartpräferenzen.41 An diesen Zusammenhängen wurden vor allem im Gefolge der oben genannten Diskussionen um die vermeintliche Auflösung traditioneller Ungleichheiten Zweifel geäußert,42 das Aufkommen von Trend- und Risikosportarten erschien zudem als sinnfälliger Ausdruck von Individualisierungstendenzen.43 Der Verweis auf sozialstrukturelle Prägungen kam im wahrsten Sinne des Wortes aus der Mode. So etablierte sich auch in Teilen der sportsoziologischen Forschung eine Zeit lang die Auffassung, »dass soziale Ungleichheiten sportbezogene Aktivitäten nicht sehr stark prägen«44 oder kein »fundamentales gesellschaftliches Differenzierungsprinzip« mehr

42  Reinhard Bachleitner, Soziale Schichtung im Sport. Eine Problem­ analyse, in: Sportwissenschaft, Jg. 18 (1988), H. 3, S. 237–253. 43  Karl-Heinrich Bette, Sport und Individualisierung, in: Spectrum der Sportwissenschaften, Jg. 11 (1993), H. 1, S. 34–55. 44  Uwe Schimank u. Nadine M. Schöneck, Sport im Inklusionsprofil der Bevölkerung Deutschlands – Ergebnisse einer differenzierungstheoretisch angelegten empirischen Untersuchung, in: Sport und Gesellschaft, Jg. 3 (2006), H. 1, S. 5–32, hier S. 22. 45  Klaus Cachay u. Ansgar Thiel, Soziale Ungleichheit im Sport, Weis u. Gugutzer (Hg.), S. 189–199, hier S. 196. 46  Niklas Luhmann, Soziale Differenzierung. Zur Ge­schichte einer Idee, Opladen 1985, S. 119–162, hier S. 131. 47  Cachay u. Thiel, S. 196.

seien.45 Diese Kritik wurde also nicht nur aus dem Individualisierungsdiskurs, sondern auch aus grundlegenden systemtheoretischen Überlegungen heraus formuliert, wonach moderne Gesellschaften durch ein Primat funktionaler Differenzierung gekennzeichnet und vertikale Hierarchien als zweitrangig zu erachten seien. Gemäß dem Diktum, dass ja auch die höheren Klassen einkaufen würden wie jedermann – bloß teurer –,46 lässt sich auch mit Blick auf den Sport argumentieren, dass von der Teilhabe per se niemand ausgeschlossen ist. Eine solche Perspektive blendet jedoch aus, dass unterschiedliche Formen der Beteiligung am Sport auch unterschiedliche (z. B. gesundheitliche, ökonomische, soziale) Vorteile mit sich bringen – und diese Teilhabeformen eben nicht rein zufällig verteilt sind, sondern mit sozialen Ungleichheiten zusammenhängen. So bleibt der Sport, auch wenn er die relative Autonomie eines funktional ausdifferenzierten Teilsystems hat, mit vertikalen Hierarchien und letztlich auch spezifischen Machtkämpfen verknüpft. Die Kritik, dass weder alte noch neuere Ungleichheitsvariablen Kausalanalysen und Vorhersagen des Sportverhaltens ermöglichten,47 träfe allenfalls zu, wenn die Schichtzugehörigkeit oder das Geschlecht als alleinige Ursachen, die quasi automatisch ein bestimmtes Sportverhalten auslösten, Jan Haut  —  Sport und soziale Ungleichheit

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aufgefasst würden. Einen derartig »harten Determinismus« hat indes kaum eine relevante Theorie, geschweige denn die empirische Sozialforschung, je vertreten: Selbst Marx und Engels gingen davon aus, dass die theoretisch gegebene Klasse »an sich« nicht deckungsgleich mit der »Klasse für sich«, also den handelnden Akteuren sei – ansonsten hätten sie sich ja die politische Agitation der Arbeiter auch sparen können. Vielmehr wurden und werden Merkmale sozialer Ungleichheit genutzt, um signifikante Unterschiede aufzuzeigen und Wahrscheinlichkeiten vorherzusagen. In diesem Sinne hat sich die Relevanz der vermeintlich bedeutungslos gewordenen Schichtkategorie für das Sportverhalten in zahlreichen Studien bestätigt.48 Laut einer aktuellen Untersuchung ist etwa die Hälfte der Personen aus der unteren Schicht sportlich inaktiv, aber nur ein Drittel aus der mittleren und nur ein Fünftel aus der höheren Schicht. Die Wahrscheinlichkeit, überhaupt keinen Sport zu treiben, ist unten fast fünfmal und in der Mitte immer noch doppelt so hoch wie oben.49 Zudem weisen Längsschnittanalysen darauf hin, dass vertikale Faktoren (Bildung, Einkommen etc.) nicht etwa zeitweilig irrelevant waren und nun wieder erstarken, sondern die Sportaktivität vielmehr kontinuierlich und epochenübergreifend geprägt haben.50 Was sich hingegen zweifellos in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat, ist der Einfluss der »horizontalen« Ungleichheitsmerkmale Alter und Geschlecht: Der Anteil der Sporttreibenden war bis in die 1970er Jahre bei Männern zehn bis zwanzig Prozentpunkte höher, mittlerweile ist der Anteil aktiver Frauen etwa gleichhoch51 bzw. in manchen Untersuchungen sogar etwas höher. Die Aktivitätsquote bei Jüngeren ist zwar weiterhin höher als bei Älteren, sie sinkt jedoch in deutlich geringerem Maße bzw. erst in einem höheren Alter als früher (und bei Frauen nicht so stark wie bei Männern).52 Eine Erklärung für diese Tendenzen dürfte u. a. mit einem gewandelten Sportverständnis zusammenhängen: Früher waren die Leistungs- und die Wettkampforientierung zentral – und wie Lutz Thieme anhand der relativ stabilen Beteiligung von Jugendlichen zeigt,53 sind sie das für bestimmte Gruppen auch heute noch. Aber inzwischen gelten auch andere, insbesondere auf Fitness und Ausdauer zielende körperliche Aktivitäten ohne Wettkampfund Leistungsorientierung selbstverständlich als Sport. Gerade in dieses Segment sind Frauen und Ältere bevorzugt involviert,54 während der Wettkampfsport nach wie vor eine Domäne der Männer und der Jüngeren ist.55 Diese »Öffnung« des Sports hat (bisher) jedoch nur zur Verminderung von Geschlechts- und Altersunterschieden geführt, während sich der Rückstand unterer Sozialschichten bezüglich der Sportpartizipation kaum verringerte.

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48  Vgl. den Überblick von Nagel, Soziale Ungleichheit, S. 73–75; sowie Haut, Soziale Ungleichheit, S. 140–157. 49  Thomas Lampert u. a., Sozioökonomischer Status und Gesundheit: Ergebnisse der Stu­ die zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1), in: Bundesgesundheitsblatt, Jg. 56 (2013), H. 5–6, S. 814–821. 50  Vgl. Erlinghagen; Scheerder u. Vos; Tina Nobis u. Katrin Albert, Kinder- und Jugendsport in einer geschichteten Gesellschaft? Aufarbeitung und Diskussion des aktuellen Forschungsstandes in Deutschland, in: Sport und Gesellschaft, Jg. 15 (2018), H. 1, S. 63–92. 51  European Comission, Sport and physical activity. Report, Special Eurobaro­ meter 412, Brüssel 2014. 52  Ilse Hartmann-Tews u. a., Bewegtes Alter(n). Sozialstrukturelle Analysen von Sport im Alter, Opladen 2012, S. 32–38. 53  Lutz Thieme, Die Wettkampf­­ teilnahme 17-jähriger Jugendlicher: Demografie oder Zustrom?, in: Sport und Gesellschaft, Jg. 12 (2015), H. 3, S. 241–269. 54  Hartmann-Tews u. a., Bewegtes Alter(n), S. 42 f. 55  Haut u. Emrich, S. 321 f.

Diese Annahmen zum Zusammenhang zwischen der Sportaktivität und sozialen Ungleichheiten lassen sich auch durch Daten aus internationalen Studien stützen: So zeigt eine Analyse der EU-Mitgliedstaaten,56 dass die Sportaktivität folgerichtig in jenen (vorrangig nordeuropäischen) Ländern höher ist, die auch eine höhere Beteiligung von Frauen und Älteren aufweisen. Ein Vergleich von Ländergruppen bestätigt diese Tendenz,57 überdies zeigt sich hier, dass die vertikalen sozialen Ungleichheiten (in diesem Fall Bildung und Beruf) in allen untersuchten Ländergruppen weiterhin signifikanten Einfluss auf die Sportbeteiligung haben. Für Flandern können Jeroen Scheerder und Steven Vos anhand einer seit 1969 alle zehn Jahre wiederholten Befragung zeigen,58 dass früher Ballsportarten und Rückschlagspiele häufiger unter den beliebtesten Sportarten vertreten waren. Diese wurden jedoch sukzessive von Sportarten verdrängt, die häufig ohne Wettkampfbeteiligung und mit selbst gewählter Aktivität betrieben werden: 2009 waren Laufen, Radfahren, Schwimmen, Walking und Fitness die Top 5, erst dann gefolgt von Tennis und Fußball. Für Deutschland zeigen die vorhandenen Daten zur Sportartenpräferenz aus regionalen Erhebungen ähnliche Tendenzen59 – etwa eine höhere Wahr56  Ilse Hartmann-Tews, Social stratification in sport and sport policy in the European Union, in; European Journal for Sport and Society, Jg. 3 (2006), H. 2, S. 109–124; vgl. Eurobarometer.

scheinlichkeit von Tennis und eine niedrigere von Fußball bei Personen mit höherer Bildung.60 Weitere detaillierte Informationen zur bundesweiten Entwicklung der Sportarten sind spärlich, da die verfügbaren Langzeitdaten zum Sport entweder – wie allgemeine Bevölkerungsumfragen (ALLBUS, SOEP) – das Sportverhalten nur mit wenigen Indikatoren erfassen, oder sich – wie die Bestandserhebungen des DOSB und die Sportentwicklungsberichte – nur

57  Rohrer u. Haller, S. 75–77. 58  Scheeren u. Vos., S. 36. 59  Dominik Röding u. a., Sportpartizipation in nordostdeutschen Landgemeinden in den Jahren 1973, 1994 und 2008, in: Sportwissenschaft, Jg. 46 (2016), H. 2), S. 116–129. 60  Breuer u. a.

auf Entwicklungen im Vereinssport beschränken und somit gerade für den zunehmenden informellen Bereich kaum aussagekräftig sind. Spezifischere Erkenntnisse zur Frage schichttypischer Sportarten, aber auch zu genutzten Sporträumen, zum finanziellen und zeitlichen Aufwand, zu den Motiven oder zur Wettkampfbeteiligung sind oft nur aus Untersuchungen spezieller Populationen vorhanden,61 für die gesamte deutsche Bevölkerung repräsentative Daten fehlen jedoch weitgehend. AKTUELLE FORSCHUNG ZU SOZIALEN UNGLEICHHEITEN IM SPORT Während also einige grundlegende Fragen zum Einfluss sozialer Ungleich-

61  Vgl. Haut, Soziale Ungleichheit, S. 157–181. 62  Auf Nachweise muss an dieser Stelle aus Platzgründen verzichtet werden. Vgl. Haut, Sport und soziale Ungleichheit

heit auf das Sportverhalten weiterhin offen sind, ist die Forschung in anderer Hinsicht umfassender bzw. detaillierter geworden.62 Während die Erforschung von Geschlechterverhältnissen oder der Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen im Sport schon seit Längerem etabliert ist, lag der Fokus zuletzt auf Sport im Alter bzw. im Lebensverlauf und vor allem auf der Integration Jan Haut  —  Sport und soziale Ungleichheit

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von Migrantinnen und Migranten in und durch den Sport. Im Zuge der Inklusionsdiskussion ist auch die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Sport verstärkt in den Blick geraten, wobei diesbezüglich belastbare Zahlen für Deutschland noch weitgehend fehlen. Die zunehmend spezifizierte Betrachtung besonderer Gruppen birgt natürlich die Gefahr, im Umkehrschluss übergreifende Mechanismen und Entwicklungen sozialer Ungleichheit aus dem Blick zu verlieren. Als Korrektiv wurden daher auch allgemeinere Perspektiven auf Heterogenität oder Diversität im Sport entwickelt bzw. Ansätze eingefordert, die spezifische Kombinationen verschiedener (Diskriminierungs-)Merkmale berücksichtigen. FAZIT Obwohl der Sport im Laufe der Zeit für immer breitere Personenkreise zugänglich wurde, ist auch heute noch die Beteiligung am Sport durch soziale Ungleichheiten geprägt. Sowohl die Verfügbarkeit relevanter materieller Ressourcen als auch spezifische Dispositionen begünstigen eine höhere Sportaktivität mit steigender sozialer Schicht. Während sich dieser Einfluss vertikaler Ungleichheiten in den letzten Jahren als überaus konstant erwiesen hat, haben sich »horizontale« Geschlechter- und Alters-Effekte deutlich abgeschwächt. Dabei ist zu beachten, dass sich auch das Sportverständnis gewandelt hat: Neben die früher dominante, engere Auffassung, die Sport in der Regel mit Wettkampf und Leistung verknüpfte, ist eine weitere Auffassung getreten, in der Sport stärker mit gesundheits- oder körperorientierten Aktivitäten wie (nicht wettkampfmäßigem) Laufen, Radfahren, Schwimmen oder Fitness assoziiert ist. Die damit einhergehende Steigerung der Sportbeteiligung insgesamt macht die Frage nach sozialen Ungleichheiten indes nicht obsolet: Inwieweit Einkommen und Bildung, aber auch Alter, Geschlecht oder Migrationserfahrung die Wahrscheinlichkeit erhöhen bzw. verringern, an bestimmten Formen der Sportaktivität zu partizipieren, ist ein kontinuierliches Thema der sozialwissenschaftlichen Sportforschung. Derzeit erweisen sich gerade die – von 63

manchen schon als überholt erklärten – traditionellen (Schicht-)Unterschiede als überaus relevant für das Sportverhalten. Dr. Jan Haut, geb. 1980, studierte Soziologie und Politikwissenschaft in Gießen und Leicester und befasst sich seitdem mit sozialwissenschaftlichen Fragen des Sports. Er promovierte über Soziale Ungleichheiten in Sport und Kultur an der Universität des Saarlandes, seit einigen Jahren lehrt er an der Goethe Universität Frankfurt und forscht dort zu gesellschaftlichen Funktionen des Spitzensports.

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63  aktuellste Diskussionen und Forschungsergebnisse finden sich in Ilse Hartmann-Tews u. Bettina Rulofs (Hg.), Schwerpunktheft Soziale Ungleichheit. Sport und Gesellschaft, Jg. 15 (2018), H. 1.

MÄNNERBUND FUSSBALL HOMOSEXUALITÄT ALS »TABUISIERTE MÄNNLICHKEIT«1 Ξ  Katja Sabisch

Seit Mitte der 1990er Jahre spekuliert die deutsche Medienlandschaft in schöner Regelmäßigkeit darüber, warum sich homosexuelle Fußballprofis nicht öffentlich zu ihrer sexuellen Orientierung bekennen: »In Deutschland gibt es 36 Bundesligavereine mit jeweils einem Kader von rund 30 Leuten. Das sind ungefähr tausend Profis, jeder elfte wären rund 90 schwule Spieler. Eine stattliche Anzahl«, findet der Stern und schlägt prompt ein kollektives Outing vor.2 Mit dieser Idee steht er keinesfalls allein da. Seien es die taz oder Die Welt, der Focus oder Der Spiegel – sie alle verbinden ihr Rätselraten über das andauernde Stay In zumeist mit Ratschlägen für ein erfolgversprechendes ­Coming-out. So findet es ein Kommentator »bedauerlich«, dass Thomas Hitzlsperger erst »nach Abpfiff« Mut bewiesen habe, und auch Michael Vesper als 1  Redaktionell überarbeitet und erstmals erschienen unter dem Titel Tabuisierte Männlichkeiten: der öffentliche Diskurs über Homosexualität in der deutschen Fußballbundesliga, in: Soziale Probleme, Jg. 25 (2014), H. 1, S. 52–74. 2  Katrin Buchner, »Ein Coming-out wäre zu riskant«, in: Stern, 23.11.2006. 3  Malte Göbel, Wut, Trotz und Solidarität, in: taz.de, 10.01.2014 URL: https://taz.de/Reaktionauf-Hitzlsperger-Kritik/!5051055/ [eingesehen am 18.04.2020]. 4  Patrick Krull, Steilvorlage für ein Leben ohne Geheimnisse und Angst, in: Die Welt, 13.10.2007. 5  Vgl. Nina Degele u. Caroline Janz, Hetero, weiß und männlich? Fußball ist viel mehr! Studie der FriedrichEbert-Stiftung, Berlin 2011.

Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes findet ein Outing nach Karriereende wenig sensationell.3 Alles in allem, da ist sich nochmals der Stern sicher, blieb dem deutschen Fußball der Ernstfall vorerst erspart. Während also die öffentliche Berichterstattung seit fast zwanzig Jahren in mehr oder weniger emanzipatorischer Absicht die Fußballer zum Bekenntnis aufruft – der ehemalige Sportfunktionär und CDU-Politiker Gerhard Mayer-­ Vorfelder hatte angesichts dieser Omnipräsenz gar den Eindruck, »dass man sich heute schon fast dafür entschuldigen müsse, wenn man nicht homo­ sexuell ist«4 –, beschäftigt sich der Deutsche Fußball-Bund ( DFB) erst seit 2007 eingehender mit der Homophobie in den eigenen Reihen. Die Gespräche, Projekte und Tagungen, die vor allem von dem ehemaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger initiiert wurden, zeigen jedoch vornehmlich auf der formalen Ebene Wirkung, indem einige Funktionäre mittlerweile Homophobie als Problem benennen. Die Aktivitätsebene der Spieler, Fans und Trainer ist dabei aber noch lange nicht erreicht. Vielmehr zeigen qualitative Untersuchungen, dass Homophobie ein fester struktureller Bestandteil des Fußball-­ Dispositivs zu sein scheint.5 Zunächst wird also zu klären sein, worauf die Ungleichzeitigkeit des medialen Tabubruchs und des fußballerischen Tabubeharrens gründet. Ausgehend von der Frage, welche diskursiven Regelmäßigkeiten sich auf der

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Ebene der Medien ausmachen lassen und was über Homosexualität und Fußball jenseits des allgemein konstatierten Tabubruchs sagbar ist, wurden alle großen Tages- und Wochenzeitungen indexiert und ausgewertet. Auffällig ist hier, dass die Forderung nach zeitnahen Coming-outs in fast allen Diskursfragmenten aufkommt, was letztlich die Frage nach der Funktion des Bekenntnisses aufwirft.6 ZUR THEORIE DES FUSSBALLS ALS MÄNNERBÜNDISCHES ­D ISPOSITIV Warum lässt sich Fußball überhaupt als ein genuin männliches Dispositiv beschreiben, wo doch Frauen – spätestens seit der Kommerzialisierung dieser Sportart ab Mitte der 1990er Jahre – immer öfter als Fans und Spielerinnen in Erscheinung treten? Die Antwort ist einfach: Weil die strategische Funktion dieses spezifischen Dispositivs darin besteht, das Männliche gegenüber allem anderen zu privilegieren. Zuletzt zeigten die Soziologinnen Nina D ­ egele und Caroline Janz in ihrer qualitativen Studie »Hetero, weiß und männlich? Fußball ist viel mehr«, dass Frauen und schwule Männer noch immer als das Andere des Fußballs fungieren. Sexismus und Homophobie sind jedoch nicht nur als »funktionale Äquivalente«7 dieser Exklusions-Prozesse zu verstehen, sondern stellen zugleich die Bindungskräfte des Fußball-Dispositivs dar. Denn versteht man mit Foucault ein Dispositiv als »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen […], kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes«8 umfasst, so wird schnell deutlich, dass die exemplarisch aufgezählten Elemente im Falle des Fußballs allesamt durch männerbündische Praktiken gekennzeichnet sind.

6  Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1983, S. 50–66; Eve Kosofsky Sedgwick, Epistemologie des Verstecks, in: Andreas Kraß, (Hg.), Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität, Frankfurt a. M. 2003, S. 113–143. 7  Degele u. Janz, S. 23.

Die Diskurse über die Frauenfußball-WM im Jahr 2011 haben die Distinktion »Fußball/Frauenfußball« als zwei inkommensurable Sportarten fortgeführt; es ist offenkundig, dass mächtige Institutionen wie der DFB fest in

8  Michel Foucault, Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 119.

Männerhand sind. Ethnografische Studien zeigen, dass architekturale Einrichtungen wie das Stadion, der Platz und die Duschen das fußballerische Berührungssystem,9 welches auf einer rigiden Desexuierung beruht, erst ermöglichen. Und nicht zuletzt weisen einige reglementierende Entscheidungen darauf hin, dass Homophobie und Sexismus eher selten sanktioniert werden. Zwar sind es weiterhin die Diskurse, welche »systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«10 und daher ist soziale Wirklichkeit auch weiterhin – in diskurstheoretischer Perspektive – diskursiv konstituiert und diskursanalytisch zu untersuchen. Dennoch kann am Beispiel Fußball gezeigt werden, dass Dinge ebenso strukturierend wirken.11 Zentral ist zudem,

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9  Vgl. Marion Müller, Fußball als Paradoxon der Moderne, Wiesbaden 2009. 10  Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 74. 11  Vgl. Andrea D. Bührmann u. Werner Schneider, Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008.

dass mit dem Dispositiv-Begriff das »Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann«12, als verbindendes Charakteristikum kenntlich wird. Im Falle des Fußball-Dispositivs besteht dieses Netz aus männerbündischen Interessen, die eine – ebenfalls mit Foucault formuliert – »vorwiegend strategische Funktion« einnehmen, um auf einen »Notstand« antworten zu können. Hieraus lässt sich vermuten, dass das Fußball-Dispositiv Sexismus und Homophobie systemisch benötigt, um den Männerbund gegen anderes zu verteidigen und zu schützen. Im Rahmen dieses Beitrages sollen vor allem die männerbündischen Strukturen hervorgehoben werden, die auf je spezifische Weise die verschiedenen Ebenen des Fußballs wie z. B. Mannschaft, Fankultur oder Organisationen kennzeichnen. Zunächst ist festzustellen, dass Männerbünde auf dem programmatischen Ausschluss von Frauen gründen. Dem Ethnologen Thomas Schweizer zufolge existieren drei Charakteristika, die den Männerbund von 12  Hierzu und im Folgenden Foucault, Über Sexualität, S. 120. 13  Vgl. Thomas ­Schweizer, Männerbünde und ihr kultureller Kontext im weltweiten interkulturellen Vergleich, in: Gisela Völger u. Karin von Welck, K. (Hg.), Männerbünde – Männerbande. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich. Band 1, Köln 1990, S. 23–30. 14  Vgl. Helmut ­Blazek, Männerbünde. Eine ­Geschichte von Faszination und Macht, Berlin 2001. 15  Vgl. Eva Kreisky, Der Stoff, aus dem die Staaten sind. Zur männerbündischen Fundierung politischer Ordnung, in: Kathrin Braun u. a. (Hg), Feministische Perspektiven der Politikwissenschaft, München 2000, S. 144–181. 16  Ebd., S. 172. 17  Michael Meuser, It’s a Men’s World. Ernste Spiele männlicher Vergemeinschaftung, in: Gabriele Klein u. ders. (Hg.), Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs, Bielefeld 2008, S. 113–134, hier S. 113.

einfachen Männervereinigungen unterscheiden: das aggressive Moment, die räumliche und gesellschaftliche Absonderung sowie die Dramatisierung der Männerrolle, welche auch in Gewalt münden kann.13 Oft werden diese Merkmale von männlichen Überlegenheitsideologien, kriegerischen Ausrichtungen und Initiationsriten flankiert.14 Die Politikwissenschaftlerin und Staatstheoretikerin Eva Kreisky definiert Männerbünde vor diesem Hintergrund als homosoziale, hierarchisch organisierte Wertegemeinschaften, die neben einer rationalen auch eine emotionale und affektive Basis haben.15 Insbesondere hebt sie hervor, dass Männerbünde neben eigenen Verkehrsformen, Wertmaßstäben und Denkfiguren wie Treue, Ehre, Gefolgschaft und Gehorsam oftmals auch eine »Aura des Geheimnisvollen«16 pflegen. Dabei lässt sich das Magische und Zeremonielle besonders anschaulich anhand des Fußball-Dispositivs illustrieren, führt man sich die spezielle Fankleidung, unrasierte Spielergesichter oder manche rituellen Torjubel vor Augen. Zentral ist zudem, dass auch hier dem aggressiven Moment in Form von künstlich erzeugten Feindbildern wie dem gegnerischen Verein oder dem Schiedsrichter Rechnung getragen wird. So gelingt es, jenseits von internen Differenzen wie Alter, Herkunft, Einkommen oder Bildungshintergrund Gemeinsamkeit zu betonen und zu (er)leben. Der Soziologe Michael Meuser beschreibt Fußball daher als ein »ernstes Spiel männlicher Vergemeinschaftung«17 und verweist hiermit nicht nur auf die dem Fußball innewohnende Strukturlogik von Wettbewerb und Solidarität, sondern auch auf seine zentrale Funktion als Sozialisationsinstanz. Denn wenn sich der männliche Habitus »nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum« herausbildet, »in dem sich, unter Männern, Katja Sabisch  —  Männerbund Fussball

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die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen«18, ist Fußball als homosozialer, authentischer Raum der ideale Ort, um männliche Identität einzuüben und abzusichern.19 Für die hier behandelte Fragestellung ist jedoch von besonderem Interesse, dass sich Männerbünde durch spezifische Dominanz- und Distinktionsstrukturen von Frauen und homosexuellen Männern abgrenzen. Diese Abgrenzung geschieht zuallererst durch eine rigide Desexuierung. Die damit einhergehende Dethematisierung von sexuellem Begehren verschiebt sexuelle Identität oder sexuelle Orientierung in den Bereich dessen, was nicht gesagt werden darf. Entscheidend ist zudem eine strenge Reglementierung dessen, was innerhalb des Dispositivs getan werden darf – oder besser: wo, in welchen architekturalen Einrichtungen, was getan werden darf. Es ist offenkundig: Inniges Umarmen und anerkennendes Tätscheln ist auf dem Platz erwünscht, für die berühmte Dusche gilt dies keineswegs. Das »fußballerische Berührungssystem«20 gebietet und verbietet Intimität gleichermaßen; entscheidend ist dabei der Raum, in dem sich die Spieler befinden. Zudem bestehen Regeln, wie berührt werden darf: Findet Körperkontakt statt, so wird dieser nur in seltenen Fällen durch Blickkontakt begleitet. Hierdurch wird betont, dass die Berührung ausnahmslos aufgrund des Spiels stattfindet und keinesfalls in anderer Absicht geschieht. All dies – also das, was (nicht) gesagt und getan werden darf – gründet auf dem Definitivum der Zwangsheterosexualität. Das Fußball-Dispositv unterliegt damit einem Tabu: Während Heterosexualität als unhinterfragt vorausgesetzt und deshalb auch wieder de-thematisiert werden kann, ist Homosexualität von vorneherein nicht thematisierbar. Sie unterliegt damit einem Meidungsgebot und wirkt als Tabu verhaltensregulierend und zugleich ermöglichend.21 Demzufolge markiert das Tabu die Grenze der Gemeinschaft,

18  Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, in: Irene Dölling u. Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis, Frankfurt a. M. 1997, S. 153–217, hier S. 203. 19  Vgl. Michael Meuser, Junge Männer. Aneignung und Reproduktion von Männlichkeit, in: Ruth Becker u. Beate Kortendiek, (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2010, S. 428–435.

indem es Homosexualität ent-thematisiert. Ent-Thematisierung von Homosexualität meint ihren Ausschluss aus dem Bereich des Sag- und Denkbaren und erlaubt damit den Jubel im fußballerischen Berührungssystem, erlaubt die homosoziale Vergemeinschaftung, den Wettbewerb, die Solidarität und die Kameradschaft; pointiert formuliert: Wäre Homosexualität dispositional, wäre der Männerbund einer seiner Grundlagen beraubt. Das Tabu der Homosexualität ist zudem eng an einen bestimmten Männlichkeitstypus geknüpft. Mit der Soziologin Raewyn Connell gehe ich davon aus, dass jede Gesellschaft einen speziellen Typus hegemonialer Männlichkeit ausbildet, dem Weiblichkeit und alle anderen Formen von Männlichkeit – wie die »marginalisierte« bzw. homosexuelle – untergeordnet sind.22 Im Fall von funktional

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20  Müller, Paradoxon der Moderne, S. 160. 21  Vgl. Claudia Benthien u. Ortrud Gutjahr (Hg.), Tabu. Interkulturalität und Gender, Paderborn 2008; Ute Frietsch u. a., Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht, Bielefeld 2007. 22  Vgl. Robert W. Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999.

ausdifferenzierten Gesellschaften können dies zum Beispiel international agierende Manager oder Politiker sein; im Fall von Fußball, dem viel zitierten »Spiegel der Gesellschaft«, wären international erfolgreiche und anerkannte Spieler und Trainer wie Lionel Messi und Josep Guardiola anzuführen. Zentral ist hierbei, dass hegemoniale Männlichkeit durch eine normative Gültigkeit gekennzeichnet ist, die über das jeweilige soziale Feld hinausreicht.23 Wenn sich also die heterogene Fanszene ebenso wie die Spieler unterschiedlicher Ligen an einem bestimmten Fußballertypus orientieren, so zeugt dies von einer fußballerischen hegemonialen Männlichkeit, die identitätsstiftend, aber auch identitätsregulierend wirken kann. Diese Männlichkeit ist per definitionem eine heterosexuelle. Kurzum: Fußball ist als ein männerbündisches Dispositiv zu beschreiben, welches durch Diskurse, Praktiken und architekturale Einrichtungen Homosexualität tabuisiert. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, wenn sich die mediale Berichterstattung über Homosexualität und Fußball immer wieder als ein Tabubruch in Szene setzt. ZWISCHEN BUNDESTAG UND DSCHUNGELCAMP: DER ÖFFENTLICHE DISKURS ÜBER HOMOSEXUALITÄT UND FUSSBALL SEIT 1995 Zunächst ist festzustellen, dass mit der neuen Popularität des Fußballs seit den 1990er Jahren und der damit einhergehenden medialen und kommerziellen Verwertbarkeit auch der Gegenstand »Homosexualität und Fußball« verstärkt in der Presse verhandelt wurde. Die Auseinandersetzung findet zu Beginn vor allem in links-liberalen Tageszeitungen statt, die sich dem Thema in einer aufklärerischen Absicht annehmen. Denn dass der »harte Kampf Mann gegen Mann hetero« ist, steht für die taz bereits 1995 außer Frage. Sie berichtet als eine der ersten Tageszeitungen über Homosexualität und Fußball – allerdings über den Umweg von heterosexuellen Ausschweifungen. 23  Vgl. Michael Meuser u. Sylka Scholz, Hegemoniale Männlichkeit. Versuch einer Begriffsklärung aus soziologischer Perspektive. in: Martin Dinges (Hg.), Männer-Macht-Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a. M. 2005, S. 211–228. 24  Jan Feddersen, Der harte Kampf Mann gegen Mann ist hetero, in: die tageszeitung, 07.07.1995.

Anlass eines der ersten taz-Artikel zum Thema war ein Ausspruch Otto Rehhagels über die frühen Ehen der Fußballspieler. Denn, so Rehhagel: »Wenn die Spieler im Bett regelmäßig und gut versorgt sind, laufen sie nachts nicht rum und suchen was zum Bumsen« – worauf, so die Vermutung der taz, schwule Männer anscheinend angewiesen wären. Die taz spekulierte weiter: Wäre es nicht absurd, sich einen Nationalspieler vorzustellen, der von seinem Freund vom Training abgeholt wird und ihn gar zur Weihnachtsfeier begleitet? Frank Rohde, einst DDR-National-Libero, später Spieler des HSV und von Hertha BSC Berlin, meinte dazu: »Ist alles Gewöhnungssache. Aber was soll man dagegen haben? Hauptsache, der würde was vom Fußball verstehen.«24 Katja Sabisch  —  Männerbund Fussball

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Diese Unvoreingenommenheit stellt freilich eine Ausnahme dar. Als der Diskurs acht Jahre später an Fahrt gewinnt – vor allem durch ein Spiegel-Interview mit der Fußballspielerin Martina Voss, die fünf Monate vor den Olympischen Spielen 2000 in Sydney aus der Nationalmannschaft ausgeschlossen wurde, weil sie ein Verhältnis mit einer Mitspielerin hatte25 –, wird schnell deutlich, dass sich die Mehrzahl der Fußballspieler, Trainer und Funktionäre bereits durch vorsichtiges Nachfragen in ihrem Männerbund bedroht fühlen. Exemplarisch führt der Spiegel die Aussage der »Vereinigung der Vertragsspieler« ( VDV ) an, die sich als Fußballer-Gewerkschaft versteht und mit einem eher rückständigen Verständnis von Homosexualität aufwartet: »Es hat sich noch kein Spieler mit derartigen sexuellen Problemen Hilfe suchend an die VDV gewandt.«26 Der Artikel »Homosexualität im Fußball: Warten auf das Coming-out« kommt demzufolge zu dem Ergebnis, dass im Fußball ein »Klima der Angst« herrsche, welches es den Spielern unmöglich mache, über ihre sexuellen Neigungen zu sprechen. Und nicht nur dies: Das Tabu wirke so umfassend, dass sich selbst der investigative Journalismus an dem Thema die Zähne ausbeiße. Der Spiegel erklärt die Suche nach dem ersten Fall damit für gescheitert.27 Als es dann zwei Jahre später dem Fußballmagazin RUND gelingt, einen schwulen Fußball-Profi zu interviewen, ist der mediale Aufschrei groß. Denn das Unwahrscheinliche ist wahr geworden: Es gibt sie, die Fälle, und sie vertrauen einzig und allein dem Journalisten Rainer Schäfer. Dieser ist von nun an ein gefragter Gesprächspartner und wird von nahezu allen deutschen Leitmedien zu Interviews eingeladen. Der taz erzählt er, dass er keinem homosexuellen Profi zu einem Outing raten würde: »Das Medieninteresse und die Folgen wären nicht abzusehen. Wir wissen von einem Journalisten, dem von einem großen Boulevardblatt zweimal eine sehr beachtliche Summe angeboten wurde, wenn er einen Spieler zwangsouten würde. So ist das Medieninteresse gelagert.«28 Der Stern fragt schon etwas genauer und bezweifelt die von Rainer Schäfer aufgestellte These, dass einer von elf Profis schwul sei. Nach Adam Riese würde das ja heißen, dass es rund 90 schwule Spieler gibt – wie er denn so etwas behaupten könne? Er behaupte das nicht einfach so, meint Rainer Schäfer, dieser statistische Wert beruhe vielmehr auf einer Aussage eines Sportpsychologen, der seit Jahr und Tag homosexuelle Profis in seiner Praxis beraten würde. Der Stern reagiert pragmatisch: »Wäre denn ein kollektives Outing eine Möglichkeit? Haben schwule Fußballer untereinander Kontakt?«

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Diese Frage weist auf ein Spezifikum des Diskursstrangs »Homosexualität und Fußball« hin, welches im Folgenden genauer beschrieben werden soll:

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25  Vgl. Maik Großekathöfer u. Michael Wulzinger, »Ich habe Hass verspürt«, in: Der Spiegel, 14.07.2003. 26  Oliver Lück u. Rainer Schäfer, Warten auf das Coming-out, in: Spiegel Online, 29.10.2004, URL: https://www.spiegel.de/ sport/fussball/homosexualitaet-­ im-fussball-warten-auf-dascoming-out-a-324932.html [eingesehen am 18.04.2020]. 27  Vgl. ebd. 28  Andreas Rüttenauer, »Sie sind verzweifelt«, in: die tageszeitung, 11.11.2006. 29  Buchner.

Die Suche nach der Sensation erfordert augenscheinlich ein geschicktes Ausfragen der wissenden Kollegen und Kolleginnen. Das Aufdecken der Identität der schwulen Spieler ist das Movens dieser Fragepraktiken. Die Kulturwissenschaftlerin und DFB-Beraterin Tatjana Eggeling, die ebenfalls Kontakt zu homosexuellen Spielern hat, sieht sich noch offensichtlicher mit geradezu kriminalistischen Verhörmethoden konfrontiert. In einem Interview mit dem Tagesspiegel wird sie gefragt, ob sie Situationen schildern könne, wann die schwulen Profis im Spiel versagt hätten. Ob sie in Zweikämpfen den starken Mann markieren würden, um nicht aufzufallen. Ob die Spieler von anderen schwulen Spielern wüssten.30 Und auch der Filmmacher Aljoscha Pause, der 2008 die Reportage »Das große Tabu: Homosexualität und Fußball« für das Deutsche Sportfernsehen ( DSF) drehte, wird in der Welt gefragt, ob man den schwulen Fußballer vielleicht am zärtlichen Auftritt erkenne.31 All diese Fragen zielen darauf, profundes Fußballwissen mit verräterischen Bemerkungen der interviewten Kenner und Kennerinnen zu kombinieren, um so auf die Identität der homosexuellen Fußballer schließen zu können. Ein Charakteristikum des Diskursstrangs »Homosexualität und Fußball« ist damit die Vernehmung, die mit Foucault als wichtiger Modus der Wissensproduktion bezeichnet werden kann. Vernommen wird einerseits, um Wahrheiten über Sexualität zu produzieren und andererseits, um die Ordnung der Sexualität zu regulieren.32 Für den untersuchten Diskursstrang heißt dies, dass das Erkenntnisinteresse – wer ist schwul? – von einem kontrollierenden Gestus begleitet wird, anders formuliert: Der Wille zum Wissen wird flankiert von dem Willen zur Ordnung oder besser: dem Willen zum Outing. Denn der Umstand, dass Homosexualität im Dispositiv sagbar ist, bedeutet nicht, dass sich männerbündische Regeln lockern. Das Gegenteil ist der Fall: Die zu beobachtende »geschwätzige Aufmerksamkeit«, die nach Foucault »den Lärm um den Sex 30  Vgl. Frank Bachner, »Manche steigen betont hart ein«. Interview mit Tatjana Eggeling, in: Der Tagesspiegel, 03.05.2009.

macht«33, zeugt von einer »strengeren Ordnung und dem Bemühen um eine genauere Kontrolle«. Sie ist damit als eine »gerissenere Version der alten Härte« zu verstehen, denn sie verbietet und bestraft nicht durch Gesetze, sondern reguliert den Sex durch den Zwang zum Geständnis. Homosexu-

31  Vgl. Till-Reimer Stoldt, »Nichts am Torjubel darf zärtlich wirken.« Interview mit Aljoscha Pause, in: Die Welt, 26.03.2010. 32  Vgl. Foucault, Der Wille zum Wissen. 33  Hierzu und im ­Folgenden ebd., S. 50.

elle Spieler »sollen gestehen, wer sie sind« – und damit das männerbündische Dispositiv stabilisieren und zementieren. Denn erst, wenn das Geheimnis gelüftet ist, wenn die homosexuelle Wahrheit ans Licht kommt, kann die heterosexuelle Ordnung wiederhergestellt werden. Dies geschieht vor allem durch die von Foucault beschriebene »Einkörperung der Perversion«: Der homosexuelle Spieler ist nach seinem Outing ganz seiner Sexualität verpflichtet; »nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität«. Vergangene Katja Sabisch  —  Männerbund Fussball

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und gegenwärtige Torchancen, Schwalben und Flanken werden nun als das Andere in das Dispositiv integriert. Die durch Vernehmung und Geständnis offenbarte homosexuelle Wahrheit ermöglicht durch Identifizierung die Alterisierung des Anderen. Ein solch alterierender Gestus kündigt sich bereits in den weiter oben vorgestellten kriminalistischen Fragefiguren an: Spielt der homosexuelle Spieler aggressiver als der heterosexuelle? Gibt er sich männlich, um nicht aufzufallen? Oder ist er eher zärtlich? Wie sich das Spiel mit den Klischees also auch darstellen mag: Alterisierung ist in jedem Fall möglich; pointiert formuliert: Alles ist schwul. Das Diskurs-Charakteristikum der Vernehmung korrespondiert mit der Omnipräsenz der Thematik Coming-out innerhalb des Diskursstrangs »Homosexualität und Fußball«. Dabei ist auffällig, dass die meisten Experten und Expertinnen von Coming-outs im Profi-Fußball abraten – »wer sich outet, wird platt gemacht«, bringt es Spiegel Online am 11. März 2010 auf den Punkt.34 Im Gegensatz dazu befürworten die meisten Fußball-Funktionäre und -spieler seit Theo Zwanzigers vermehrten Initiativen gegen Homophobie ab 2007 ein öffentliches Bekenntnis zur Homosexualität. Teile des Männerbundes reagieren jedoch weiterhin mit diskriminierenden und sexistischen Aussagen. So setzte Christoph Daum, seinerzeit Trainer des 1. FC Köln, homosexuelle Männer mit Vergewaltigern gleich35 – und der ehemalige Präsident des FC Schalke 04, Rudi Assauer, betonte, dass er zwar nichts gegen Homosexuelle habe, aber dass »das« im Fußball nicht funktionieren könne: »›Als ich noch in Bremen war, hörte ich, dass unser Masseur schwul ist.‹ Auf die Frage, was er gemacht habe, antwortete Assauer: ›Ich bin zu ihm gegangen und habe ihm gesagt: Junge, tu mir einen Gefallen: Such Dir einen neuen Job.‹«

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Als Mitte 2010 ein Schnappschuss durch das Internet kursierte, welcher die FC Barcelona-Fußballstars Gerard Piqué und Zlatan Ibrahimovic bei einer vermeintlich zärtlichen Berührung zeigt, folgte eine hypersexualisierte heterosexuelle Reaktion seitens der verdächtigten Spieler: Ibrahimovic brüllte einer Fernsehreporterin, die ihn zum wiederholten Male nach dem Foto fragte, entgegen: »Komm doch zu mir nach Hause, dann wirst du sehen, dass ich keine Schwuchtel bin. Und bring auch deine Schwester mit.«37 Der Deutsche Fußball-Bund – allen voran der damalige DFB-Präsident Theo Zwanziger – schien das Thema Homophobie mit mehr Gelassenheit bearbeiten zu wollen. Auf dem Fankongress 2007 in Leipzig sei ihm klar geworden, dass der DFB diesbezüglich Nachholbedarf hätte. Die Aufforderung zum

34  Vgl. o. V., Wer sich outet, wird plattgemacht, in: Spiegel Online, 11.03.2010, URL: https:// www.spiegel.de/panorama/ leute/assauer-ueber-schwulefussballer-wer-sich-outet-wirdplattgemacht-a-683002.html [eingesehen am 18.04.2020]. 35  Vgl. Daniel Theweleit, Daum-Äußerungen verärgern Homosexuelle, in: ebd., URL: https://www.spiegel.de/sport/ fussball/traineransichten-daumaeusserungen-veraergernhomosexuelle-a-555239.html [eingesehen am 18.04.2020]. 36  O. V., Schwule sollen nicht Fußballer werden, in: taz.de, 11.03.2010, URL: https://taz.de/Rudi-Assauer-­ redet-Tacheles/!5146181/ [eingesehen am 18.04.2020]. 37  Michael König, Das böse Wort, in: Süddeutsche Zeitung, 12.07.2010.

Outing – »Hab’ doch den Mut« – ging mit dem Versprechen seitens des Vorsitzenden einher, dass negative Reaktionen auf das sexuelle Bekenntnis vom DFB geahndet werden würden.38 Auch die deutschen Nationalspieler zeigten

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38  Vgl. o. V., DFB-Chef fördert Homosexuellen-Outing, in: Die Welt, 23.05.2008.

sich offen: Mario Gomez munterte in einem Interview mit der Zeitschrift Bunte schwule Fußballer dazu auf, zu ihrer Sexualität zu stehen. »Wir haben einen schwulen Vizekanzler, der Berliner Bürgermeister ist schwul. Also sollten sich auch Fußballprofis zu ihrer Neigung bekennen«. Seiner Meinung nach müssten sich diese Profis auch keine Sorgen machen, anschließend im Stadion übermäßig angefeindet zu werden. »Sie würden dann wie befreit aufspielen. Schwulsein ist doch längst kein Tabuthema mehr«, ist Gomez überzeugt.39 Im Gegensatz dazu rieten sein Mannschaftskollege Philipp Lahm und der Torwart Tim Wiese homosexuellen Profis von einem Outing ab: »Der Spieler, der sich jetzt outen würde, der geht jedes Wochenende vor zigtausend Zuschauern seinem Job nach. Ein Guido Westerwelle spielt nicht jedes Wochenende vor 60.000 Zuschauern Fußball«, sagte Philipp Lahm dem Playboy. Und Tim Wiese fügte in einem Interview mit der Bunten hinzu: »Der würde von den Fans niedergemacht. Fußball ist trotz der vielen Frauen im 39  Christian Spiller, Gomez fordert zum Outing auf, in: Zeit online, 10.11.2010, URL: https://www.zeit.de/ sport/2010-11/gomez-homosexualitaet-schwul-zwanziger [eingesehen am 18.04.2020]. 40  Ebd. 41  Vgl. Ronny Blaschke, Versteckspieler: Die Geschichte des schwulen Fußballers Marcus Urban, Göttingen 2008. 42  O. V., »Homophobie ist im Sport noch stark ausgeprägt«, in: Deutscher Bundestag, 2011, URL: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/34054431_ kw15_pa_sport-205136 [eingesehen am 20.04.2020]. 43  Jens Uthoff, Köcheln bis zum Überkochen, in: die tageszeitung, 27.08.2011. 44  Vgl. Nicole Hulka, Wann das Coming-out besonders glücklich macht, in: Spiegel Online, 21.06.2011, URL: https:// www.spiegel.de/gesundheit/ sex/homosexuelle-wann-dascoming-out-besonders-gluecklich-macht-a-864795.html [eingesehen am 18.04.2020].

Stadion ein Machosport.«40 Die öffentliche Anhörung des Sportausschusses des Deutschen Bundestages, der am 13. April 2011 mit mehreren Experten und Expertinnen über »Homosexualität im Sport« beriet, zeichnet ein ähnliches Bild. Homophobie sei im Sport, insbesondere im Fußball, noch immer stark ausgeprägt, bestätigt der Ex-Profi-Fußballer Markus Urban, der sich nach seiner aktiven Zeit mit dem Buch »Versteckspieler«41 outete und nun dem DFB als Berater zur Verfügung steht. Die geladenen Sachverständigen sind sich einig, dass sich die »gewachsene gesellschaftliche Toleranz gegenüber Homosexualität« im Fußball nicht wiederspiegle. Michael Gabriel von der Koordinierungsstelle Fanprojekte bringt es auf den Punkt: Homosexuelle könnten zwar »Fernsehsendungen moderieren, Bücher schreiben und Städte regieren«42, nicht aber Profifußball spielen. Neben der politischen Auseinandersetzung über Homophobie und Fußball lassen die Medien »das Thema Homosexualität im Fußball bei niedriger Hitze köcheln, in der Hoffnung, es möge bald überkochen«43. In den letzten Jahren sind mehrere Berichte und Interviews erschienen, die nochmals die Spannweite des Sagbaren verdeutlichen: Während Philipp Lahm die Spekulationen über seine Sexualität damit kommentiert, dass es ihm egal sei, wenn man ihm Homosexualität unterstelle, denn das sei ja schließlich nichts Verwerfliches (und in Form einer Parenthese hinzufügt, er sei mit seiner Frau Claudia nicht zum Schein verheiratet),44 möchte der Dortmunder Torwart ­Roman Weidenfeller den Bundestrainer Joachim Löw diskreditieren, indem er ihm unterstellt, er lade nur bestimmte Spieler in die Nationalmannschaft ein: »Ich hatte früher schon mal einen Spruch auf den Lippen, der sehr böse ist. Katja Sabisch  —  Männerbund Fussball

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Aber den verkneife ich mir lieber. Vielleicht sollte ich mir einfach die Haare schneiden. Oder etwas zierlicher werden. Ich weiß es nicht.«45 Dass diese Äußerung von mehreren Medien als »schwulenfeindlich« rezipiert wird, ist anschlussfähig an das weiter oben beschriebene Diskurs-­ Charakteristikum der Vernehmung. Hier wird allerdings nicht nach homosexuellen Fußballern gesucht, sondern schlicht und einfach nach Meldungen über Homosexualität und Fußball. Die mediale Aufgeregtheit findet im September 2012 ihren Höhepunkt – als nämlich in dem Magazin der Bundeszentrale für Politische Bildung Fluter ein Interview mit einem schwulen Profi zu lesen ist. Unter der Überschrift »Ein Mann, den es eigentlich nicht gibt. Gespräch mit einem schwulen Fußballbundesligaspieler«46 wird das disziplinierende und normierende Moment des männerbündischen Dispositivs ausbuchstabiert. Fußball und schwul passe einfach nicht zueinander, weshalb alle schwulen Profis ihre sexuelle Orientierung leugnen würden. Denn Fußballer »sind das männliche Stereotyp schlechthin. Sie müssen Sport lieben, aggressiv kämpfen und gleichzeitig das große Vorbild sein. Schwule sind das alles einfach nicht. Punkt. Oder soll jemand eine aufgebrachte Menge von Fans vor dem Spiel aufklären, dass ›die Schwulen‹ eigentlich auch nur ganz normale Männer sind und gleich mitspielen? Unvorstellbar. In der Situation im Stadion oder nach dem Spiel wird jeder kleine Anlass in der Gruppe zu einer ganz großen Angelegenheit. Ich wäre nicht mehr sicher, wenn meine Sexualität an die Öffentlichkeit käme.« Die Medienlandschaft gibt sich angesichts des Interviews enttäuscht: »Kein Name, kein Klub, nichts, was auf die Identität hindeutet.«47 Und auch der Spiegel ist ratlos und begnügt sich vorerst mit der Berichterstattung über einen schwulen Kreisklasse-Trainer, der in seinem Dorf allerdings kaum Probleme nach dem Outing hatte.48 Selbst die redseligen Bewohner und Bewohnerinnen der RTL-Realityshow Dschungelcamp geben sich diskret. Die sich als It-Girl bezeichnende Giorgina Fleur, die durch die Kuppelsendung »Der Bachelor« bekannt wurde, berichtete am 23. Januar 2013 der Hamburger Travestiekünstlerin Olivia Jones im australischen Busch von einem verdächtigen Rekrutierungsversuch: »Giorgina: Da gibt’s doch so Leute, die machen dir was mit den Beziehungen klar, um gewisse Leute zu pushen. Ich war auch für so was angefragt für so einen schwulen Fußballer. Olivia: Echt? Giorgina: Ich weiß aber den Namen nicht von dem. Olivia: Du warst angefragt als Freundin für einen schwulen Fußballer? Weißt du denn, aus

45  Markus Bark, »­Besonders widerwärtig«, in: die tageszeitung, 25.08.2011. 46  Adrian Bechtold, Ein Mann, den es eigentlich nicht gibt, in: Fluter, 11.09.2012, URL: [http://www.fluter.de/ de/114/thema/10768/ [eingesehen am 20.04.2020]. 47  Anja Schramm, Die tägliche Selbstverleugnung des schwulen Profis, in: Welt Online, 12.09.2012, URL: https://www.welt.de/sport/ fussball/article109171821/ Die-taegliche-Selbstverleugnung-des-schwulen-Profis.html [eingesehen am 18.04.2020].

welchem Verein? Giorgina: Weiß ich nicht. Das geht über so eine Art Agenten, der hat mich gefragt. Olivia: Da gibt es Agenten?!? Was kriegt man denn da? Giorgina: Ich war essen mit dem in Frankfurt. Olivia: Und hatte

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48  Vgl. o. V., Wie lebt man als schwuler Fußballer, Herr Sievers?, in: Der Spiegel, 24.09.2012.

der noch andere, oder nur diesen schwulen Fußballer? Kann man sich die aussuchen?«49 Dieses Gespräch zeigt zweierlei: Zum einen offenbart sich hier abermals das Diskurs-Charakteristikum der Vernehmung, wenn nämlich Olivia Jones nach dem Verein und damit nach der Identität des Spielers fragt; zum anderen wird hier darauf verwiesen, wie sich das disziplinierende und normierende Moment des männerbündischen Dispositivs organisational umsetzen ließe. Denn möchte man Giorgina Fleur Glauben schenken, so wird Heterosexualität als unhinterfragte Norm mit Hilfe professioneller Agenturen inszeniert. Neben diesen Spekulationen in den Boulevardmedien beschäftigte sich auch die Politik im Jahr 2012 verstärkt mit dem Thema Homosexualität und Fußball. So sprach sogar Kanzlerin Merkel im Rahmen der Aktion »Geh deinen Weg« homosexuellen Spielern Mut zu – »dass immer noch Ängste bestehen, was das eigene Umfeld anbelangt, müssen wir zur Kenntnis nehmen. Aber wir können ein Signal geben: Ihr müsst keine Angst haben« – und der Präsident des 1. FC Bayern Ulli Hoeneß gab anlässlich derselben Veranstal49  Zit. nach o. V., Georgina, die Alibi-Frau für den Gay-Fußballer, in: queer.de, 23.01.2013, URL: https://www.queer.de/ detail.php?article_id=18395 [eingesehen am 18.04.2020].

tung zu bedenken, dass sich die Fußballvereine in Deutschland langsam auf das erste Outing einstellen sollten: »Das wird über kurz oder lang kommen. Alle Vereine sind gut beraten, sich auf dieses Thema vorzubereiten, damit sie dann gute Antworten haben.«50 Das geschah auch: Zunächst veranstaltete der DFB am 17. und 18. Januar

50  Manuel Schwarz, Merkel ermutigt schwule Profis, Hoeneß erwartet Fall eins, in: Hamburger Abendblatt Online, 13.9.2012, URL: https://www.abendblatt. de/sport/article109199039/ Merkel-ermutigt-schwule-ProfisHoeness-erwartet-Fall-eins.html [eingesehen am 18.04.2020]. 51  O. V., DFB plant »ComingOut-Leitfaden« für Vereine, in: Die Welt 06.02.2013, URL: https://www.welt.de/sport/ fussball/article113426375/ DFB-plant-Coming-OutLeitfaden-fuer-Vereine.html [eingesehen am 18.04.2020]. 52  Ullrich Kroemer, Schwule Fußballer: So plant der DFB das erste Coming-out, in: news.de, 06.02.2013, URL: https://www. news.de/sport/855387516/schwule-fussballer-dfb-bereitet-erstescoming-out-im-fussball-vor/1/ [eingesehen am 14.05.2020].

2012 das Dialogforum »Vor dem Ball sind alle gleich – sexuelle Identitäten im Fußball«, um mit Experten und Expertinnen darüber zu beraten, wie Homophobie im Sport eingedämmt werden kann; ein Jahr später wurde gemeldet, dass der DFB einen »Coming-Out-Leitfaden für Vereine« plane.51 DFB-Berater Marcus Urban nannte neben der Sensibilisierung für das Thema vor allem Kommunikations- und Medientrainings, um »ein Stück Sicherheit und Ent-Dramatisierung« zu gewährleisten. Auf die Frage, welche Auswirkungen das erste Outing eines schwulen Fußballers haben könnte, gab sich Urban wenig bescheiden: »Ich prophezeie: Das Resultat wird eine gesellschaftliche Veränderung sein, die weit über die Dimension Fußball hinausgeht. Die Einführung einer Frauenquote, das Outing von Klaus Wowereit, die Homoehe sind nichts dagegen. Meine These lautet: Wenn uns diese Akzeptanz schwuler Fußballprofis gelingt, werden Anfragen aus dem Ausland kommen, wie diese Kultur in Deutschland etabliert wurde. Deutschland könnte ein Modell für Geschlechtergerechtigkeit werden – das wäre ein Exportschlager, eine Chance für unser Land.«52 Es gibt allerdings einen Haken: Der Sportsoziologe und Fanforscher Gunter A. Pilz, der den Leitfaden für den DFB erarbeitet hat, sagte vor einigen Katja Sabisch  —  Männerbund Fussball

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Jahren, nicht einen Spieler zu kennen, der über ein Outing nachdenke.53 Einige Tage später lief die Meldung über die Ticker, dass der 18-fache USFußball-Nationalspieler Robbie Rogers »sich offen zu seiner Homosexualität bekannt und seine Karriere beendet« hat. Was folgte, war eine mediale »Welle der Solidarität«54, die fast lehrbuchmäßig das Dialogforum von 2012 widerspiegelte. Selbst FIFA-Präsident Josef Blatter twitterte ergriffen »Das ist 2013. Danke« und liefert damit den meist zitierten Satz der deutschen Fußballpresse. Bemerkenswert ist nun, dass sich Robbie Rogers im Februar 2013 zwar dazu entschieden hatte, sein Coming-out mit einem Karriereende zu verbinden, diesen Entschluss aber drei Monate später revidierte. Er unterzeichnete im Mai 2013 einen Vertrag mit dem US-amerikanischen Verein Los Angeles Galaxy und kehrte unmittelbar darauf auf das Spielfeld zurück. Noch bemerkenswerter ist, dass diese Meldung in der deutschen Presselandschaft auf wenig Resonanz stieß. Obwohl nun der Beweis erbracht war, dass es aktive bekennende schwule Fußballer gibt, wurde Robbie Rogers nicht als Ernstfall behandelt. Ein Grund hierfür könnte der Umstand sein, dass Robbie Rogers in den USA spielte – einem Land, in dem Soccer eine eher marginalisierte Sportart ist – und dass er dem Verein angehörte, in dem schon der metro­ sexuelle David Beckham für Furore sorgte. Ein Jahr nach dem Coming-out von Robbie Rogers ließ der ehemalige Nationalspieler Thomas Hitzlsperger die Bombe platzen: Am 9. Januar 2014 erschien ein Interview mit ihm in der Zeit, in dem er sich zu seiner Homosexualität bekannte, um die Diskussion über das Thema voranzubringen.55 Dies ist ihm gelungen. Bis auf den kicker, der sich weigert, über das Privatleben von Spielern zu berichten, gab es wohl kaum ein Blatt, welches sich nicht in anerkennender Art und Weise zu Hitzlspergers Vorstoß äußerte. Die taz sprach treffenderweise von einem »Candy-Storm«56, der ab dem 9. Januar

53  Vgl. ebd.

über Hitzlsperger hineinbrach und resümierte: »Jetzt ist es raus! […] Alle finden toll, dass er sich geoutet hat. Zu Recht!«57 Besonders aufschlussreich war Hitzlspergers persönliche Stellungnahme, in der er auf die Ent-Thematisierung von Homosexualität im Fußball verwies: »Egal ob in Deutschland, England oder Italien – in der Kabine gibt es ganz andere Themen. Da steht die Mannschaft im Vordergrund. Profispieler haben andere Prioritäten. Es geht um Einsatzchancen, um Tribüne oder Platz, um Karriere und Fitness, Anforderung und Leistungen, Verlet-

54  O. V., Solidarität für US-Profi Robbie Rogers, in: Rheinische Post, 17.02. 55  Carolin Emcke u. Moritz Müller-Wirth, »Homosexualität wird im Fußball ignoriert«, in: Die Zeit, 09.01.2014. 56  Göbel.

zungen und oft auch um Medienkritik«. Homosexualität werde im Fußball schlichtweg ignoriert. Mehr noch: »Da wurde ein grundsätzlicher Widerspruch aufgebaut«.

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57  Andreas Rüttenauer, Olé, olé, Super Thomas, olé, in: die tageszeitung, 09.01.2014.

Dass sich dieser Widerspruch fortschreibt, zeigen geradezu klassisch anmutende Kommentare wie der des ehemaligen Nationaltorwarts Jens Lehmann, der im Focus mit den Worten zitiert wurde: »Hätte mich beim Duschen komisch gefühlt«58, oder der des ehemaligen AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke, der es sich nicht nehmen ließ, auf die familienpolitische Brisanz des Comingouts zu verweisen: »Ich hätte es gut gefunden, wenn Herr Hitzlsperger sein Bekenntnis zu seiner Homosexualität verbunden hätte mit einem Bekenntnis dazu, dass Ehe und Familie für unsere Gesellschaft konstitutiv sind«59. Angesichts dieser Äußerungen erscheint der Stern-Artikel, in dem Hitzlspergers Coming-out »nach Abpfiff« kritisiert wurde, geradezu anmaßend: »Ist es nicht ziemlich feige, sich sechs Jahre lang, wie Hitzlsperger im Interview mit der Zeit berichtet, mit der Frage nach seinem Coming-out zu beschäftigen, um dann doch den Schwanz einzuziehen und bis zum Ende der Karriere zu warten, um es endlich zu tun?«60 Zwar sind die Diskursstimmen, die Hitzlspergers Bekenntnis als Comingout zweiter Klasse bezeichnen, in der Minderheit. Dennoch verweisen sie auf ein wesentliches Charakteristikum des Diskurses, wenn sie konstatieren, dass dem deutschen Fußball der »Ernstfall« vorerst erspart geblieben sei. Zu fragen bleibt an dieser Stelle, wer letztlich die Definitionsmacht über 58  O. V., Thomas Hitzlsperger: »Bin übelst beschimpft worden«, in: Focus, 14.01.2014, URL: https://www.focus.de/ sport/fussball/bundesliga1/ nach-ueberraschendem-outingthomas-hitzlsperger-bin-uebelstbeschimpft-worden_id_3615809. html [eingesehen am 18.04.2020].

ein ernstzunehmendes Coming-out hat – denn der Spieler hat sie augenscheinlich nicht. COMING OUT OF THE SHOWER! – DER AUFRUF ZUM OUTING ALS AUFRUF ZUR ORDNUNG Die Analyse des medialen Diskursstrangs »Homosexualität und Fußball« seit 1995 hat verdeutlicht, dass der diskursive Konnex, der die Aussagen mitein-

59  O. V., Parteichef Bernd Lucke kritisiert Hitzlsperger Coming-Out, in: Der Tagesspiegel, 11.01.2014, URL: https:// www.tagesspiegel.de/politik/ parteitag-der-afd-parteichefbernd-lucke-kritisiert-hitzlsperger-coming-out/9318980.html [eingesehen am 18.04.2020]. 60  Jens Maier, Mutig erst nach Abpfiff, in: Stern.de, 08.01.2014, URL: http://www.stern.de/sport/ thomas-hitzlspergers-coming-outmutig-erst-nach-abpfiff-2082011. html [eingesehen am 18.04.2020]. 61  Vgl. Foucault, ­Archäologie des Wissens, S. 58.

ander verbindet, das Outing ist. In nahezu allen Leitartikeln des Untersuchungszeitraums wird entweder grundsätzlich über die Möglichkeiten und Folgen eines Coming-outs spekuliert oder es werden verschiedene OutingModelle diskutiert und – wie im Fall Hitzlsperger – kritisiert. So hat es den Anschein, als ob der Diskurs eine Art Ratgeberfunktion übernimmt: Er gibt Antworten auf die Frage, ob ein Outing sinnvoll ist und, wenn ja, wo, wann und wie es stattfinden sollte. Während sich die einzelnen Diskursfragmente um den diskursiven Knotenpunkt Outing formieren und so sichtbar wird, dass das Sprechen über das Outing Existenzbedingung für den Diskurs ist,61 lässt sich innerhalb des Sagbaren ein Charakteristikum identifizieren, welches signifikant für das Sprechen über Homosexualität und Fußball zu sein scheint: die Vernehmung. Wie oben beschrieben, ist diese Fragetechnik ein wichtiger Modus Katja Sabisch  —  Männerbund Fussball

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der Wissensproduktion und wird von einem kontrollierenden Gestus begleitet: Der Wille zum sexuellen Wissen ist der Wille zur sexuellen Ordnung.62 Homosexuelle Spieler sind zu identifizieren, um den Männerbund zu stabilisieren; die (nachträgliche) Alterisierung gewährleistet den Zusammenhalt des Männerbundes. Damit stabilisieren der Diskurs-Konnex Outing und das Diskurs-Charakteristikum Vernehmung das männerbündische Dispositiv des Fußballs. Zwar findet vordergründig ein Tabubruch statt – immerhin existiert seit den 1990er Jahren eine »geschwätzige Aufmerksamkeit«63 bezüglich der Thematik Homosexualität und Fußball –, dieser nimmt jedoch für das Dispositiv eine strategisch-protektionistische Funktion ein. Denn der dem vermeintlichen Tabubruch innewohnende unermüdliche Aufruf zum Outing korrespondiert mit dem »Gebot zur Ehrlichkeit«64, welchem der homosexuelle Spieler unterliegt und welches die Identifikation seines Andersseins moralisch erforderlich macht. Ein Coming-out ist vor diesem Hintergrund nicht länger als ein emanzipatorischer Akt zu verstehen, der befreiend und bestärkend ist. Coming-out bedeutet hier vielmehr die Annahme des Stigmas »fremd« mit all seinen Konsequenzen.65 Dem Soziologen Henning Bech zufolge kann dieser diskursiven Vorgabe der abwertenden Alterisierung durch drei Maximen entgegengewirkt werden: Sag nichts. Sag nicht das Gewöhnliche. Sag etwas anderes,66 wobei innerhalb des männerbündischen Dispositivs nur der erste Leitsatz »Sag nichts« möglich wäre. Denn im Kontext der rigiden Desexuierung in Form einer Ent-Thematisierung von Homosexualität unterliegt die Kategorie »schwul« einem Meidungsgebot. Aus diesem Grund sind homosexuelle Spieler weiterhin als tabuisierte Männlichkeiten zu begreifen, ganz gleich, wie häufig in den Medien über sie gesprochen wird. Daher bleiben sie Männer, die es eigentlich nicht gibt.

Prof. Dr. Katja Sabisch, geb. 1975, ist Professorin für Gender Studies an der Ruhr-Universität Bochum. Sie ist Sprecherin des Marie Jahoda Centers for International Gender Studies und forscht u. a. zu Fußball und Geschlecht.

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62  Vgl. Foucault, Der Wille zum Wissen. 63  Ebd., S. 50. 64  Volker Woltersdorff u. Lore Logorrhöe, Listiges Erzählen. Strategien schwulen Stigma-­ Managements, in: Florian Steger, (Hg.), Was ist krank? Stigmatisierung und Diskriminierung in Medizin und Psychotherapie, Gießen 2007, S. 221–241, hier S. 223. 65  Vgl. Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1975. 66  Vgl. Henning Bech, ­Homosexuelle Politik am fin de siècle. Das Verschwinden der Homosexuellen und das »­Queere«, in: Ursula Ferdinand u. a. (Hg.), Verqueere Wissenschaft? Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexualreformbewegung in Geschichte und Wissenschaft, Münster 1998, S. 25–34, hier S. 34.

TRAINIEREN FÜR DEN TAG X DIE EXTREME RECHTE UND DER KAMPFSPORT Ξ  Robert Claus Martin Krause dominiert seinen Gegner sichtlich. Immer wieder misst er mit seiner Führhand die Entfernung zum Gegner aus, bewegt sich gut im hell ausgeleuchteten, achteckigen Käfig, täuscht an und schlägt überraschend zu. Er ist der deutlich bessere Boxer im neunten Mixed-Martial-Arts (MMA)Kampf des Abends beim Event »Sprawl and Brawl« in Berlin. Sein Gegner – der Berliner Feuerwehrmann Andre Lenke – hat kaum eine Chance. Die rund 500 Zuschauer*innen sehen einen ungleichen Kampf. Es ist das 4. MMA-Event am 12. November 2016 im Ostberliner Stadtteil Weißensee. Mehrere Wochen hat es der Veranstalter öffentlich beworben, vor der Halle einen Burger-Stand aufbauen lassen, drinnen gab es Motorräder zu bewundern. Lenke hatte seine Unterstützer mitgebracht, die ihn lautstark anfeuerten. Doch auch Krause kam nicht alleine. Kurz nachdem der Ringrichter den Kampf nach 1:56 Minuten zugunsten Krauses abbrach, rannten gut zwei Dutzend junge Männer von den Rängen in Richtung des Käfigs. Sie skandierten »HooNaRa«. Die Abkürzung steht für »Hooligans Nazis Rassisten« und geht auf einen Zusammenschluss von sächsischen Hooligans in den 1990er und 2000er Jahren zurück, vorrangig aus Chemnitz und Zwickau. Seinerzeit galt die Gruppe in der Hooliganszene als sportlich führend in Deutschland, politisch als militant rechts. Zwar hat sie sich 2007 aufgelöst, doch die Netzwerke bestehen weiter, der Slogan hat sich in der Szene verselbstständigt. Und die Verbindung zu Krause kommt nicht von ungefähr. Er trägt den Leitspruch der Waffen-SS »Ruhm und Ehre« groß auf seinem Schlüsselbein. Zwar tritt er für das Leipziger »Bushido Free Fight Team« an, doch trainierte er zuvor im Boxclub Chemnitz 94 e. V. Diese etablierten Netzwerke scheinen jederzeit mobilisierbar: Im Januar 2016, am Rande des ersten Jahrestages des Leipziger Ablegers der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida) namens »Legida«, griffen knapp 250 Neonazis und Hooligans den alternativ gepräg1  Aiko Kempen, »Es ist Krieg« – Der »Sturm« auf Leipzig Connewitz und die sächsischen Behörden, in: Heike Kleffner u. Matthias Meisner (Hg.), Extreme Sicherheit, Freiburg 2019.

ten Leipziger Stadtteil Connewitz an und zerstörten mehrere Geschäfte1. Es sollte eine Machtdemonstration gegenüber der linken Fanszene der BSG Chemie Leipzig werden. Letztlich konnte die Polizei knapp über 200 Randalierer festsetzen, unter ihnen Martin Krause.

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KAMPFSPORT UND DER FITNESSBOOM Das Interesse von Neonazis an Gewalt und Kampf ist keineswegs neu. Vielmehr gehören sie zum sozialdarwinistischen Grundrepertoire extrem rechter Ideologie.2 Historisch gibt es eine lange Tradition darin, wie (Neo-)Nazis ihre Gewalt trainier(t)en – vom Boxen in der nationalsozialistischen SA über die Wehrsportübungen seit den 1970er Jahren3 bis hin zum Kampfsport in der extremen Rechten heute. Weiterentwickelt haben sich jedoch die Rahmenbedingungen, insbesondere der Kampfsport und der Fitnesssektor sind tiefgreifend durch neoliberale Logiken auf einem globalisierten Markt geprägt. Spielen wir ein kleines Quiz, um dies zu verdeutlichen. Die Frage lautet: Was stammt von wem? 1: Wer wirbt mit dem Spruch »Wo ein Wille ist, ist auch ein Gerät« und fordert dazu auf, den Schweinehund draußen zu lassen? 2: Wer unterstreicht die Werte »Wille, Disziplin und Fleiß«? 3: Welches Unternehmen appelliert »Fühle den Unterschied«? 4: Und wer appelliert: »Mach dich wahr«? Das erste Zitat stammt von FitX, das zweite vom neonazistischen »Kampf der Nibelungen« (KdN), das dritte von CrunchFit und Nummer vier vom Marktführer McFit. Mit dieser Auflistung soll nicht im Geringsten angedeutet werden, all diese Unternehmen seien neonazistisch. Denn das ist – mit Ausnahme des Kampfes der Nibelungen – nicht der Fall. Ganz im Gegenteil werben die drei Fitnessanbieter mit schwarzen Models und CrunchFit hebt gar hervor: »Vielfalt ist oberstes Gebot – dadurch findest auch du garantiert deinen Wohlfühlraum.«4 Jedoch betonen alle vier durch ihre Werbeslogans einen sehr ähnlichen Ansatz in Bezug auf Fitness und Gesundheit. Im Zentrum steht stets die individuelle Verantwortung für die eigene Leistungs­ fähigkeit. Es geht darum, sich selbst zu disziplinieren, um Authentizität, Selbstverwirklichung und -optimierung zu erreichen. NEOLIBERALE GESUNDHEITSPOLITIK So sind die Werbeanzeigen gängiger Fitnessstudiobetreiber nicht nur ein modischer Trend, sondern Hochglanzausdruck einer tiefen Neoliberalisierung staatlicher Politiken – auch im Gesundheitssektor – seit den 2000er Jahren. Diese umfasst zwei zentrale Aspekte: Zum einen wird der staatliche Eingriff in den Markt auf ein Minimum reduziert, zum anderen die Ausdifferenzierung einer Gesellschaft finanziell verarbeitet: Je mehr spezifische Kundenwünsche es gibt, desto stärker reagiert der Markt mit Angeboten darauf und betont die individuelle Verantwortung, welche als Kaufappell in Werbung verarbeitet wird. All dies täuscht über die strukturelle Ebene von Gesundheit gänzlich hinweg. Studien weisen seit Jahren auf den Zusammenhang

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2  Gideon Botsch, Was ist Rechtsterrorismus?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 49–50/2019, S. 9–14. 3  Fabian Virchow, Nicht nur der NSU. Eine kleine Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland, Erfurt 2016; vgl. auch Barbara Manthe, Rechtsterroristische Gewalt in den 1970er Jahren, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 68 (2020), H. 1, S. 63–93. 4  Facebook-Seite von FitX, 17.11.2015, URL: https://www. facebook.com/xuperdrauf/photos/ unsere-trainingsbereiche-welcherist-dein-favorit-ein-fitx-fitnessstudio-bietet-/1003099759731411/ [eingesehen am 08.04.2020].

zwischen Einkommen und Ernährung, Beruf und Lebenserwartung, Drogengebrauch und sozialer Schicht, letztlich also Vermögen und Gesundheit hin.5 Diese politische Verschiebung von einem sozialstrukturellen zu einem individualisierten Blick geht auf die zweite Hälfte der 1990er Jahre und die 2000er Jahre zurück. Die Gesundheitsreform wurde zum Dauerbrenner einer politischen Debatte, die vor allem die Privatisierung des Gesundheits­sektors, also den Verkauf öffentlicher Einrichtungen – wie Krankenhäuser – an marktwirtschaftliche Unternehmen, diskutierte. Ullrich Bauer bringt dies bereits 2007 auf den Punkt: »Privatisierung ist einerseits Ausdruck einer Intensivierung von Ökonomisierungstendenzen, die privatwirtschaftliche Gewinninteressen im Gesundheitsbereich immer deutlicher hervortreten lassen. Diese Entwicklung verweist auf Veränderungen der Versorgungsorganisation. Privatisierung steht andererseits für eine Entwicklung, durch die jedem Versicherten, Patienten oder Nutzer des Gesundheitswesens ein höheres Maß an Eigenverantwortung übertragen wird.«6 Kurzum, es ist jedenfalls kein historischer Zufall, dass der Boom der Fitnessbranche in jene Zeit fiel, in der bei einigen Krankenkassen schon die Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio als Vorsorgemaßnahme angerechnet werden konnte. Quasi zeitgleich entwickelte sich Mixed-Martial-Arts (MMA) durch die Ultimate Fighting Championship ( UFC) zu einem professionellen Sportevent und überholte Schritt für Schritt das klassische Boxen bei Antrittsgagen und 5  Klaus Hurrelmann u. M ­ atthias Richter (Hg.), ­Gesundheitliche Ungleichheit, Wiesbaden 2009. 6  Ullrich Bauer, Die sozialen Kosten der Ökonomisierung von Gesundheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 8–9/2006, S. 17–24. 7  Thomas Tuma, Internationaler und exklusiver: FitnessstudioKette McFit erfindet sich neu, in: Handelsblatt, 28.02.2019, URL: https://www.handelsblatt. com/unternehmen/mittelstand/ familienunternehmer/fitnessbranche-internationaler-und-exklusiver-fitnessstudio-kette-mcfiterfindet-sich-neu/24045326. html?ticket=ST-715064-XC3F QzwpnxmAXwpAXYJE-ap3 [eingesehen am 08.04.2020].

PayPerView-Zahlen. MMA ist dabei Teil eines breit angelegten Sektors von Extremsportarten. Es verbindet verschiedene Kampftechniken aus unterschiedlichen Regionen der Welt: Vom Brasilian Ju-Jitsu bis zum Thai-Boxen. Im Windschatten der UFC wächst der Kampfsportbereich auch in Deutschland – jenseits des klassischen Boxens. Durch diese parallelen Entwicklungen differenziert sich der Markt in den Bereichen Fitness, Kampfsport und auch Wellness massiv aus. Nicht wenige Anbieter verbinden Elemente daraus, offerieren z. B. Kampfsport und Yoga. Dementsprechend schreibt das Handelsblatt über Rainer Schaller, den Gründer von McFit, und dessen Expansionspläne im Februar 2019: »Von den Billig-Butzen namens High 5 (Klientel: eher Türsteher und arbeitslose Bodybuilder) über den puristischen Klassiker McFit, die deutlich plüschigere Pop-Variante John Reed und John’s Bootcamp für die TrainingsMasochisten bis zum Yoga-Studio soll dann für jedes Haushalts-Budget und Fitness-Faible etwas Adäquates dabei sein.«7 Ganz entlang neoliberaler Vermarktungshoffnungen entstehen Kundenklientele für verschiedene Teilmärkte. Robert Claus  —  Trainieren für den Tag x

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WHITE REX UND KAMPF DER NIBELUNGEN (KDN): DER EXTREM RECHTE RAND DER FITNESSBEWEGUNG In diesem breit gefächerten Markt versuchen auch Neonazis ihren Platz zu finden. Denis »Nikitin« Kapustin – deutsch-russischer Hooligan und führender Kopf der 2008 gegründeten extrem rechten Kampfsportmarke »White Rex« – sagt im Interview mit der 2017 noch existierenden, ukrainischen Hooligan-Website www.troublemakers.com: »Meine Aufgabe ist global, ich muss alle Lebensbereiche eines modernen Menschen abdecken. White Rex ist eine alternative Lebenseinstellung, die ich zu 100 % schaffen möchte. Mit Kleidung, Turnieren, Sportnahrung und Fitnessstudios.«8 Und er appelliert an seine Kundschaft: »Du musst selbst gesünder und stärker werden«9. Zu seinem Geschäftsnetzwerk zählt auch PPDM Straight Edge, die Kraftsportsektion in der russischen Neonaziszene, sowie das Label »Vandals – Wanderer Division«, das den Part Outdoor und Naturabenteuer abdeckt. Dabei wird auch Wandern und Klettern zu einer quasi-militärischen Disziplin erklärt. Kapustin will den ganz großen Wurf, eine Art nationalsozialistischer Komplettausrüster werden.10 Kapustin hat eine Strategie formuliert, die europaweit, national, regional und auch lokal umgesetzt wird. So entstanden etwa aus der Szene Cottbusser Hooligans heraus nicht nur das Kleidungsgeschäft »Blickfang Store«, die Marken »Label 23 – Boxing Connection« und »Black Legion«, sondern auch mehrere Kampfsportgyms und Fitnessstudios, ein veganes Restaurant, ein Anbieter für Outdoor-Survivaltrips sowie ein Vertrieb für Nahrungsergänzungsmittel und Proteine. Man hat sich im gesamten Sektor etabliert und eigene Geschäftszweige aufgebaut. Auch auf europäischer Ebene floriert das Geschäft: Gemeinsam mit einer Reihe europaweiter, extrem rechter Marken vertreibt White Rex seine Ware u. a. über den Internetversand 2yt4u. Das Kürzel steht für die Lautsprache des englischen Slogans »Too White For You« (dt. »Zu weiß für dich«). Dort verkaufen »Greifvogel Wear« aus Deutschland (gegründet 2014) mit dem Slogan »Strength against the modern world«, »Pride France« (2013), »Sva Stone« aus der Ukraine (2010) und »Rodobran« aus Bulgarien (2018) alles von Alltagskleidung wie Mützen und T-Shirts bis Kampfsportausstattung wie Handschuhe, Mundschutz und Handtücher.11 Sie alle wollen ein Stück vom großen Kuchen des Fitnessbooms abbekommen. Auch bei dem Berliner Event »Sprawl and Brawl« tauchte die »Greifvogel Eskadron« in Teamstärke mit einheitlichen T-Shirts auf, Markteroberung durch massive Präsenz ist das Ziel. Zudem hat Kapustin europaweit extrem rechte Kampfsportturniere aufgebaut, zuerst in Russland, später auch Italien, Ungarn, Griechenland und

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8  www.troublemakers.com, Das große Interview mit Denis Nikitin, Kiew 2017. Homepage nicht mehr aufrufbar. 9  Ebd. 10  Robert Claus, Hooligans – Eine Welt zwischen Fußball, Gewalt und Politik, Göttingen 2017. 11  Robert Claus, Der extrem rechte Kampfsportboom, in: Dossier Rechtsextremismus, Bundeszentrale für politische Bildung, 05.11.2018, URL: https:// www.bpb.de/politik/extremismus/ rechtsextremismus/279552/derextrem-rechte-kampfsportboom [eingesehen am 08.04.2020].

der Ukraine, sowie in Deutschland: Hierzulande füllt der »Kampf der Nibelungen« den Platz des nationalsozialistischen Events in einem grundsätzlich rechtsoffenen Kampfsportmarkt aus. Als »Ring der Nibelungen« 2013 vor 120 Zuschauer*innen gestartet, entwickelte sich mit dem Einstieg von White Rex als Sponsor und Mitorganisator »Kampf der Nibelungen« (der Ring im Namen wich 2015 dem Kampf) zu einem professionellen Event, das darauf abzielt, über 1.000 Menschen anzuziehen. Zwar wurde der KdN 2019 im sächsischen Ostritz von staatlichen Behörden untersagt, weil dort staatsgefährdende Gewalttechniken vorgeführt werden sollten, so der Vorwurf. Doch die Organisation existiert weiter: Das beschriebene Sponsorennetzwerk hatte ein Event für Juni 2020 im europäischen Ausland angekündigt und rührte eifrig die Werbetrommel bis es aufgrund der Coronakrise abgesagt bzw. verschoben werden musste. Darüber hinaus wird gemeinsam mit Hooligan-Accounts auf Instagram für den KdN geworben; man will die Gewaltaffinität der Hooliganszene nutzen, um sie eng an den militanten Neonazismus zu binden. SZENEKONFLIKTE UM STRAIGHT-EDGE Zu den gewachsenen Aktivitäten rund um den Kampfsport zählt auch die 2017 entstandene Trainingsgruppe »Wardon 21«, welche sich der neonazistischen Auslegung von »Straight Edge« verschreibt und eigene T-Shirts verkauft. Mit viel Pathos versucht sie, in der Neonaziszene einen Typus des politischen Fitness-Kämpfers zu etablieren. So heißt es auf der Facebook-Seite: »Ein Soldat verachtet jede Art von Drogen, einschließlich Rauchen, Alkoholkonsum und permanent ungesunde Nahrung. Wenn wir nicht selbst nach unseren eigenen Idealen leben und das Erbe unserer Groß- und Urgroßväter bewahren, pflegen und erneuern, wieso sollten die Menschen dann zu uns aufblicken, geschweige denn uns folgen?«12 Zur Umsetzung bot das Team von Wardon auf dem KdN im Herbst 2018 Verpflegung gegen sportliche Übungen an: Für 50 Liegestütze gab es einen Eintopf, für 35 ein Stück Kuchen. »Wir sind entschlossen, einen neuen Menschenschlag heranzuziehen!« stand darunter auf dem Menü. Keinen Zweifel will Wardon aufkommen lassen an der Abgrenzung von der kapitalistischen Moderne und deren liberalen, »dekadenten« Folgen – mit dem Ziel der Herausbildung einer neonazistischen Kämpfer-Elite. Auf dem zu Wardon gehörigen Kongress »Heureka« 2019 gab es gar einen Vortrag zum »veganen Germanen«. Auch hier greift die neoliberale Logik der Distinktion. Frühere Generatio12  www.facebook.com/ wardon21 [eingesehen am 22.04.2020].

nen der extremen Rechten waren zum Teil durch die stark proletarisch orientierte Skinheadszene geprägt. »Ich will doch nichts anderes«, erzählte der Robert Claus  —  Trainieren für den Tag x

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Hamburger Skin-Führer Franz dem Spiegel 1983, »als ein einfacher ­SA-Mann sein, der sich auf der Straße prügeln darf. Ich könnte ja auch in den Boxverein eintreten, aber da hab‘ ich eben keine Lust zu.«13 Vor diesem szenehistorischen Hintergrund kann Wardon als Absage an die vermeintlich anspruchslose Randale früherer Tage gelesen werden, die nicht nur den Bezug auf die zu mobilisierenden, proletarischen Massen vollständig vermissen lässt, sondern versucht, sich in einem Stil von der Masse abzuheben, der anderen Teilen der extrem rechten Szene kaum noch vermittelbar ist. Darüber hinaus wird das ambivalente Verhältnis des KdN zur Basis der extrem rechten Szene in Bezug auf den Rechtsrock deutlich. Einerseits entstammen viele Organisatoren der Rechtsrockszene und ihren Konzertveranstaltern. Kampfsport und Musik dienen der Szene schon länger recht erfolgreich als niedrigschwellige Kulturangebote mit hohem Vernetzungspotential und als Geldquelle. Doch stößt das oft dem Alkohol in nicht geringen Mengen zusprechende, grölende Publikum auf so manchem Rechtsrockkonzert den Kampfsportlern übel auf. Als der »Kampf der Nibelungen« im April 2018 erstmals nicht klandestin, sondern als Teil des extrem rechten Festivals »Schild und Schwert« im sächsischen Ostritz stattfand, diskutierten die Organisatoren vorab intern kritisch die Frage des Auftritts vor einem zum Teil hoch alkoholisierten Publikum. Es setzte sich dann jene Position durch, die prinzipielle Bedenken dem finanziellen Erfolg unterordnete. Nicht zuletzt steht das monströs vor sich getragene Straight-Edge-Ideal überdies in krassem Widerspruch zu den eigenen Drogenschäften. Gerade neonazistische Kampfsportkreise sind meist mit Gruppen des sogenannten Rotlicht-Milieus und der Organisierten Kriminalität verwoben. Im Oktober 2018 – kurz nach dem KdN in Ostritz – nahmen die ukrainischen Behörden Denis Kapustin wegen des Verdachts fest, er habe Amphetamine hergestellt. Seither durfte er den Schengenraum nicht mehr betreten. GEWALTTÄTIGE MÄNNLICHKEIT UND TRAINING FÜR DEN TAG X Zusammengehalten werden all diese Widersprüche durch das alles dominierende Ideal gewalttätiger Männlichkeit sowie die Ablehnung der Demokratie. In unzähligen, professionell gestalteten Bildstrecken und schnell geschnittenen Videosequenzen inszeniert sich die Szene als kämpferisch, trainiert und kraftvoll. Mit dem Versprechen, eine »echte« und harte Männlichkeit (er)leben zu können, werben rechte Kampfsportgruppen und -schulen auch ­Hooligans und andere gewaltaffine Männer, die nicht aus der politischen Szene kommen – und in dieser nun immer mehr aufgehen. Diese Ideale von Männlichkeit und gemeinsamem Kampf halten die Szenengeflechte aus

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13  Peter Seewald, »Meine Ratte ist riesig«, in: Der Spiegel, 11.07.1983.

Rockern, Hooligans und Kampfsportlern zusammen, in denen vielerorts extrem Rechte teilhaben oder gar tonangebend sind. Und mancherorts sorgen Neonazis über ihre Kampfsportschulen gar für deren Ausbildung. Wenn über einen »neuen Menschenschlag« philosophiert wird, ist damit vor allem ein trainierter politischer Soldat gemeint, der Volk und Nation schütze. In der Dortmunder Szene-Zeitschrift N.S. heute beschäftigte sich Autor Arnulf Brahm mit der Frage, »weshalb deutsche Männer in der berüchtigten Kölner Silvesternacht 2015/16 ihre Frauen nicht vor den Angriffen […] schützen konnten«. In klassisch rassistischer Hetze und entgegen aller empirischen und statistischen Realität wird das Thema sexualisierte Gewalt auf »Fremde« und Einwanderer projiziert, denen nur gewalttätige deutsche Männlichkeit entgegengestellt werden könnten: »Diese Gruppen (KdN und Wardon, Anm. RC) erschaffen eine neue Wehrhaftigkeit, die nach außen strahlt.«14 Eine militante Kampfansage. Zugleich machen die Veranstalter des KdN aus ihrer Ablehnung der Demokratie keinen Hehl: »Während bei den meisten ›Fight Nights‹ im bundesweiten Raum die Teilnahme des jeweiligen Sportlers allzu oft mit dem abverlangten Bekenntnis zur freien demokratischen Grundordnung steht oder fällt, will der ›Kampf der Nibelungen‹ den Sport nicht als Teil eines faulenden politischen Systems verstehen, sondern diesen als fundamentales Element einer Alternative zu eben jenem etablieren und in die Breite tragen«, steht auf der Homepage.15 Der KdN boomt seit 2017. Das bringt einerseits interne Querelen um die neu entdeckten Finanzquellen mit sich. Andererseits hat das Team des KdN eine Vielzahl an neuen Aktivitäten entwickelt, u. a. ein Seminar zu »Selbstverteidigung« im März 2019. Auf dem Plakat dazu stand unverhohlen im 14  Arnulf Brahm, Bis hierhin und nicht weiter, in: N.S. heute, H. 14/2019, S. 36–41. 15  Kampf der Nibelungen. Boxen – K1 – MMA, URL: https://www.kampf-der-nibelungen.com/start/ [eingesehen am 08.04.2020]. 16  Endstation Rechts, Im Kampf für die »völkische Wiedergeburt«: Extrem rechte Kampfsportstrukturen in Thüringen, 04.06.2019, URL: https://www. endstation-rechts.de/news/imkampf-fuer-die-voelkische-wiedergeburt-extrem-rechte-kampfsportstrukturen-in-thueringen. html eingesehen am 08.04.2020].

Untertitel, worum es geht: Straßenkampf. Die Szene macht mobil für den politischen Umsturz, für den viel beschworenen Tag X. Der Glaube an diesen baldigen Zusammenbruch des politischen Systems steigt in der Szene seit einigen Jahren enorm an. So hat sich der »Kampf der Nibelungen« zu einem professionellen Sportevent weiterentwickelt, das menschenfeindlichen Hass, die Inszenierung wehrhafter Männlichkeit, die nationalsozialistische Auslegung von Fitness und das Training für den politischen Umsturz mit einem einträglichen Geschäft mit der Gewalt verbindet. Eine dieser Weiterentwicklungen ist auch die Ausweitung über die Events selbst, längst erstrecken sich die angesprochenen Verbindungen auch auf szeneeigene Gyms: Im thüringischen Verein »Barbaria Sportgemeinschaft e. V.« – dessen Kämpfer beim KdN antraten – wird bspw. auch Training für Kinder angeboten.16 Robert Claus  —  Trainieren für den Tag x

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EXTREM RECHTER KAMPFSPORT ALS TEIL DES NEOLIBERALEN MARKTES Letztlich kommen so im extrem rechten Kampfsport unterschiedliche Strömungen der Szene sowie verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen zusammen: Militante Neonazis und Hooligans satteln auf den gesellschaftlichen Fitnessboom auf und trainieren gemeinsam für den sogenannten Tag X. Der Blog Runter von der Matte! – Kein Handshake mit Nazis, auf dem Informationen über Neonazis im Kampfsport bereitgestellt werden, nennt es deshalb »Wehrsport 2.0«.17 Dieser wird durch extrem rechte Medienmacher als modernes Kriegertum inszeniert – dem bei weitem nicht alle Neonazis entsprechen – und ist international vernetzt. Durch seinen Wertekanon – Wille, Disziplin und Fleiß – positioniert er sich zugleich am rechten Rand einer gesellschaftlichen Fitnessbewegung, deren neoliberale Grundannahmen im extrem rechten Kampfsport nahezu uneingeschränkt geteilt werden. Es geht um Selbstoptimierung für den politischen Straßenkampf. Das Credo dafür lautet: Wer scheitert, ist selber schuld. Zudem versuchen auch extrem rechte Vermarkter unterschiedliche Kundensegmente gezielt anzusprechen, darunter naturfixierte Outdoor-Survival-­ Anbieter, kraftsporttreibende Proteinpumper und vegane Elite-Ideologen. Letztlich ignoriert der extrem rechte Kampfsport jegliche Klassenbezüge, macht sich selbst zum neoliberalsten Spektrum der eigenen Szene. Und treibt so mit seinen Geschäften voran, was er scheinheilig zu bekämpfen vorgibt. Weniger gefährlich ist die Entwicklung deshalb keineswegs. Denn am Ende steht immer die neonationalsozialistische Gewalt.

Robert Claus, geb. 1983 in Rostock, hat Europäische Ethnologie und Gender Studies in Berlin, Buenos ­Aires und Istanbul studiert. Seit 2013 arbeitet er bei der »Kompetenzgruppe Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit« (KoFaS gGmbH) in Hannover. Er forscht und publiziert zu den Themen Extreme Rechte, Sport, Fankulturen und Hooliganismus. 2017 erschien sein Buch »Hooligans. Eine Welt zwischen Fußball, Gewalt und Politik« beim Verlag Die Werkstatt.

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17  Vgl. etwa Runter von der Matte! – Kein Handshake mit Nazis, Neuigkeiten von der Matte #2, 17.11.2017, URL: https:// runtervondermatte.noblogs.org/ neuigkeiten-von-der-matte-2/ [eingesehen am 08.04.2020].

SPORTUNTERRICHT ANSPRÜCHE, LEGITIMIERUNGEN, REALISIERUNGSFORMEN UND ERFAHRUNGEN Ξ  Ina Hunger / Benjamin Zander

Sportunterricht, als staatlich geförderter Bildungsbereich, ist in Deutschland in allen Schulformen des Landes und allen Schulstufen ein durchgängiges Pflichtfach für Kinder und Jugendliche. Im Kontext des schulischen Fächer­ kanons leistet er einen den anderen Fächern formal gleichgestellten Bildungsbeitrag und ist mithin zensur- und versetzungsrelevant. Gleichwohl unterliegt Sportunterricht in Theorie und Praxis einer ausgewiesenen Sonderstellung im schulischen Fächerkanon – einerseits bezogen auf die vielfältigen besonderen Ansprüche, die von verschiedenen Seiten an dieses Fach gerichtet werden, andererseits mit Blick auf sein konstitutives Merkmal der Bewegungsaktivierung und expliziten Körperbezogenheit. Das Fach Sport polarisiert in vielerlei Hinsicht. So gilt Sport wie kein anderer Unterricht unter Schüler_innen als Lieblings-, für andere aber auch als ausgewiesenes Horrorfach. Entsprechend vielfältig sind auch die Typisierungen von Sportlehrer_innen. Diese reichen von der coolen Sportlehrerin bis hin zum Sadisten in Ballonseide.1 Nicht zuletzt zeigt sich die Polarisierung auch im Hinblick auf die diesem Fach zugeschriebene schulische Relevanz: Wird von öffentlicher Seite einerseits regelmäßig die Unersetzbarkeit dieses Faches und seine zentrale kulturelle und gesundheitliche Bedeutung für die Heranwachsenden betont, wird Sportunterricht andererseits mehr oder weniger unverhohlen als randständig im Vergleich zu anderen (Haupt-)Fächern im Hinblick auf seine Bildungsrelevanz verhandelt. 1  Derartig zugespitzte Typisierungen finden sich insbesondere im Internet, siehe hierzu z. B. Yannah Alfering, 10 Fragen an einen Sportlehrer, die du dich niemals trauen würdest zu stellen, in: Vice, 15.06.2019, URL: https://www.vice.com/de/article/ neak3b/10-fragen-an-einen-sportlehrer [eingesehen am 29.03.20].

Der vorliegende Beitrag greift in Form eines Streifzugs ausgewählte Aspekte einer formalen Gleichstellung und inhaltlichen Sonderstellung des Faches auf. Mit Blick auf das polarisierende Potenzial von Sportunterricht werden divergierende Ansprüche, Legitimierungen, Realisierungsformen und Erfahrungen gekennzeichnet und damit exemplarisch neuralgische Potenziale des Faches markiert. Alles in allem wird versucht, für die komplexe Verfasstheit der Perspektiven auf das Fach Sport zu sensibilisieren.

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ÖFFENTLICHE ANSPRÜCHE AN DAS FACH: ZWISCHEN KOMPENSATION UND HEILSERWARTUNG An das Fach Sport werden im öffentlichen Diskurs – im Vergleich zu anderen Schulfächern – auffallend häufig von verschiedenen Akteur_innengruppen weitreichende Ansprüche gerichtet. Während Sportdidaktiker_innen ihre konzeptionellen Vorstellungen von Sportunterricht eher in dezenter Ruhe veröffentlichen und die Kultusministerien die Rahmenrichtlinien für das Fach Sport in den unterschiedlichen Schulformen und -stufen zum Teil lautlos erlassen, sind über die Massenmedien zugleich lautstark erhobene Stimmen zu vernehmen. Öffentlichkeitswirksam kommunizieren insbesondere große – primär nicht dem Bildungssektor zuzurechnende – Organisationen wie der Deutsche Olympische Sportbund, Krankenkassenverbände, die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft sowie andere an Sicherheit, Gesundheit und sportivem Engagement interessierte Verbände ihre Ansprüche an das Fach. Auch bekannte Sportler_innen des öffentlichen Lebens fühlen sich vielfach aufgefordert, ihre normativen Vorstellungen von Sportunterricht medial kundzutun.2 Und nicht zuletzt durch die neuen technischen Möglichkeiten des Internets begünstigt, äußern obendrein vom Sport überzeugte Privatpersonen ihre Vorstellungen von der Aufgabe des Sportunterrichts mit ebenso großem Nachdruck wie Selbstbewusstsein.3 Die Argumentationszusammenhänge für die Ausrichtung des Sportunterrichts heben dabei auf die jeweiligen Partikularinteressen der genannten, dem Sport, der Sicherheit und der Gesundheit zugewandten Organisationen und Verbände ab. Die sich als Privatpersonen selbst ermächtigenden Protagonist_ innen öffentlicher Debatten über den Sportunterricht verweisen dagegen in ihren Erklärungen vornehmlich auf die Evidenz ihrer persönlichen Erlebnisse (z. B. Erfolgserlebnisse, Leistungsbereitschaft, Gemeinschaftserlebnisse) und veranschlagen diese normativ als Zielgröße für das Fach insgesamt. Alles in allem zeigt sich eine komplexe Gemengelage an öffentlich kommunizierten Vorstellungen zu den Zielsetzungen des Faches: Vermittlung motorischen Könnens, Sportartenkompetenz, lebenslanges Sporttreiben, soziales Lernen, Selbstbewusstsein, Fairness, Anstrengungsbereitschaft etc. – die Liste der in der Öffentlichkeit geäußerten Ansprüche ist lang. Sie reicht von schlichter körperlicher Aktivierung über hoch anspruchsvolle Ziele bis hin zu klischeehaften Heilserwartungen. Dabei ragen aus dieser Gemengelage an Ansprüchen vor allem zwei thematische Zielgrößen hervor: Zum einen die Dimension »Gesundheitsförderung«, die im Kontext eines gesamtgesellschaftlich attestierten Bewegungsmangels eine im Vergleich zu anderen Fächern hohe öffentliche Aufmerksamkeit

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2  Siehe u. a. die Initiativen von Philipp Lahm: Philipp Lahm Stiftung für Sport und Bildung, URL: http://www. philipp-lahm-stiftung.de/stiftung/ [eingesehen am 29.03.2020]. 3  Siehe hierzu u. a. die im Internet 2015 begonnene Debatte um die Bundesjugendspiele auf dem Blog Mama arbeitet von Christine Finke, URL: https://mama-arbeitet.de/ [eingesehen am 29.03.2020].

erfährt. Das heißt, insofern (allein) das Unterrichtsfach Sport alle Heranwachsenden wöchentlich bewegungsbezogen erreicht, wird hier ein großes – den allgemeinen Bewegungsmangel kompensierendes – Potenzial gesehen, zugleich wird die Sonderstellung des Sports in einer kognitiv ausgerichteten Sitzschule postuliert. Die kompensatorische Wirkung soll dabei nicht nur über Bewegungsaktivität während des Unterrichts erreicht werden. Der Anspruch reicht darüber hinaus – mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche an körperliche Aktivität und eine sportlich aktive, vulgo: gesunde, Lebensweise heranzuführen. In diesem Zusammenhang wird zum anderen immer wieder auch die Zielgröße »Persönlichkeitsentwicklung« bemüht und z. T. heilversprechend im Rekurs auf die dem Sport zugeschriebenen Potenziale für ein insgesamt gelingendes Leben herausgestellt. Dabei ist auffällig, dass bei beiden Argumentationssträngen auf einen Sport rekurriert wird, der inhaltlich kaum weiter ausdifferenziert wird und so mehr oder weniger gleichbedeutend mit dem außerschulischen Sport zu sein scheint. Das öffentliche Interesse an der Ausrichtung von Sportunterricht ist mithin einerseits erfreulich, verdeutlicht es doch die gesellschaftliche Relevanz des Faches und seiner Potenziale. Die aufgeführten, vornehmlich wissenschaftsfernen Kriterien sind andererseits nicht unproblematisch. Sie bergen nicht nur die Gefahr, dass sie den Erziehungs- und Bildungsauftrag von Schule verfehlen, die Grenzen zum außerschulischen Sport verwischen und Irritationen bei der Frage nach Zuständigkeiten erzeugen. Sie befördern in der Scientific Community zum Teil auch Reaktanz, insofern die den Positionen zugrunde liegenden Annahmen, wie »Sport fördert die Gesundheit« oder »durch Sport entwickelt sich die Persönlichkeit«, in ihrer Pauschalität nicht richtig sind und unrealistische Erwartungen schüren. Sportunterricht, das gilt es an dieser Stelle grundsätzlich zu betonen, hat zwar durchaus Auswirkungen auf die Heranwachsenden, denn: Sportives Handeln manipuliert unmittelbar den Körper, wirkt auf die Psyche der Heranwachsenden ein, geht in der Gruppe mit spürbaren sozialen Effekten einher – aber eben nicht zwangsläufig in einer positiven Art und Weise. So kann Sportunterricht selbstwertsteigernd sein, aber auch als demütigend oder repressiv erlebt werden. Er kann der Fairnessbildung nutzen, aber auch Neid und Missgunst schüren; er kann der Gesundheit dienen, aber auch Verletzungen bedingen oder degenerativ wirken; er kann Spaß machen, aber auch Angst und Depressionen verursachen. Ursächlich dafür, wie der Sportunterricht erfahren wird, ist einerseits die didaktische Vorstrukturierung und Aufbereitung von motorischen und Ina Hunger / Benjamin Zander  —  Sportunterricht

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psychosozialen Lerngelegenheiten seitens der Lehrkraft; andererseits (aber nicht unabhängig von ersterem) das individuelle Erleben der einzelnen Schüler_innen im Kontext des praktischen Vollzugs. Mit anderen Worten: Schulsport führt kein quasi-organisches Eigenleben mit quasi-automatisch positiver Wirkkraft. Er wird vielmehr hergestellt und steht dabei in der didaktischen und sozialen Verantwortung von Lehrer_innen. Die geläufige öffentliche Rede über das, was Sportunterricht alles leisten soll, überdeckt diesen Konstruktionscharakter des Sportunterrichtes und die Frage nach den Bedingungen, die herrschen müssen, damit der Sportunterricht die veranschlagten Ansprüche einlösen könnte. DIDAKTISCHE LEGITIMIERUNGEN: ERZIEHUNG ZUM UND DURCH SPORT Während die bildungsinteressierte Öffentlichkeit Sportunterricht vielfach auf übergeordnete Zielgrößen wie Gesundheitsförderung und Persönlichkeitsentwicklung abhebt, wird – in der Regel jenseits der öffentlichen Wahrnehmung – innerhalb der wissenschaftlichen Disziplin der Sportdidaktik ein ausdifferenzierter Diskurs über die Legitimation des Sportunterrichts und seiner Bildungspotenziale geführt.4 Die fachdidaktisch fundierten Legitimierungen, die seit der Einführung der Sportwissenschaft als universitärem Fach seit den 1970er Jahren vorangetrieben werden, variieren im Zeitverlauf.5 Je nach eingenommener Per­ spektive, wahrgenommenen gesellschaftlichen Notwendigkeiten sowie theoretisch abgeleiteten Potenzialen von Sport werden Zielgrößen benannt, die, abhängig von ihrer Überzeugungskraft, in die offiziellen Rahmenrichtlinien Eingang finden. Eine für die inhaltliche Ausrichtung des Faches grundlegende Debatte war in der ersten Hälfte der 1990er Jahre vor dem Hintergrund einer zunehmenden Pluralität westdeutscher Schulsportentwürfe entbrannt. Kern der kon­troversen Diskussion war vor allem die Frage gewesen, ob der – als Kulturgut zu verstehende – Sport zum Mittel pädagogischer Zwecke gemacht werden dürfe, oder ob er einem Selbstweck verpflichtet sei. Die jeweiligen Einseitigkeiten einer ausschließlichen Bezugnahme auf den Sport oder das Individuum wurden nach langen Diskussionen seinerzeit kategorial im Sinne der Verschränkung formaler und materialer Bildung überwunden. Mit dieser Auslegung war der Grundstein für den Doppelauftrag »Erziehung zum Sport und Erziehung durch Sport« sowie für die fachdidaktische Entwicklung des »erziehenden Sportunterrichts« gelegt. Es hieß: »Wer nur einer Erziehung zum Sport das Wort redet, unterstellt allein der Ausübung

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4  Dieser findet auch im Austausch mit den eingangs genannten großen Organisationen des Sports statt. Siehe hierzu das im Herbst 2019 beschlossene »Memorandum Schulsport«, Deutscher Sportlehrerverband u. a., Memorandum Schulsport, Krefeld 2019, URL: https://www. sportwissenschaft.de/fileadmin/ pdf/download/Memorandum_ Schulsport_2019.pdf [eingesehen am 29.03.20]. 5  Sportunterricht ist seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht ein Teil von Schule. Er hat verschiedene inhaltliche Ausrichtungen gehabt, die sich auch in seinen unterschiedlichen Bezeichnungen wie Turnunterricht oder Leibeserziehung niederschlagen.

des Sports förderliche Auswirkungen auf die Entwicklung. Wer nur für eine Erziehung durch Sport eintritt, vernachlässigt die Erschließung der Bewegungskultur. Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern 6  Karlheinz Scherler, Erziehung zum und durch Sport – Leitidee oder Leerformel?, in: Spectrum der Sportwissenschaften, Jg. 17 (2005), H. 1, S. 38–51, Herv. i. O. 7 

Schüler_innen sollen Sport also vor allem unter Sinn-Per­ spektiven erleben. Als sechs pädagogische Perspektiven werden sie zu Zielstellungen des Unterrichts und z. B. in den Rahmenvorgaben für den Schulsport in Nordrhein-Westfalen wie folgt formuliert: Wahrnehmungsfähigkeit verbessern, Bewegungserfahrungen erweitern; Sich körperlich ausdrücken, Bewegungen gestalten; Etwas wagen und verantworten; Das Leisten erfahren, verstehen und einschätzen; Kooperieren, wettkämpfen und sich verständigen; Gesundheit fördern, Gesundheitsbewusstsein entwickeln (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2014, S. 8ff).

und ihnen die zeitgenössische Bewegungskultur zu erschließen, müssen sich gegenseitig bedingen«6. Der Doppelauftrag, also die Erschließung der Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur einerseits und die Entwicklungsförderung durch Bewegung, Spiel und Sport anderseits, kann als didaktischer Konsens gewertet werden und gilt bis dato als schulstufen- und schulformübergreifender Bildungsauftrag für alle schulischen Sportangebote. Damit hat der Sportunterricht sowohl einen fachspezifischen als auch einen allgemeinbildenden Auftrag. Beide gelten in ihrem pädagogischen Stellenwert formal als gleichberechtigt. Der Doppelauftrag ist seit den 2000er Jahren in den meisten deutschen Lehrplänen verankert und wird auch noch aktuell in vielfältige Kompetenzerwartungen (vor allem im Sinne einer Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz) übersetzt. Zentral ist dabei das didaktische Prinzip der Mehrperspekti­v ität. Hierbei werden Zieldimensionen mit dem Anspruch formuliert, dass die Heranwachsenden unterschiedliche Sinnperspektiven von Sport und Bewegung – also etwa Leistung, Gesundheit, Geselligkeit, Wagnis, Eindruck und Ausdruck – kennenlernen.7 Dies einerseits im praktischen Vollzug bzw. in der körperlichen Teilhabe, andererseits im »Verstehen«, dass Sport (bzw. Bewegung) unterschiedliche Zugänge bzw. Potenziale erschließt.

8  Vgl. Dietrich Kurz, Von der Vielfalt sportlichen Sinns zu den pädagogischen Perspektiven im Schulsport, in: Peter Neumann u. Eckart Balz (Hg.), Mehrperspektivischer Sportunterricht. Orientierungen und Beispiele, Schorndorf 2004, S. 57–70; Michael Bräutigam, Sportdidaktik. Ein Lehrbuch in 12 Lektionen, Aachen 2011; Robert Prohl u. Volker Scheid (Hg.), Sportdidaktik: Grundlagen – Vermittlungsformen – Bewegungsfelder, Wiebelsheim 2012. 9  Jörg Thiele u. Matthias Schierz, Weiter denken – Umdenken – Neu denken? Argumente zur Fortentwicklung der sportdidaktischen Leitidee der Handlungsfähigkeit, in: Heinz Aschebrock u. Günter Stibbe (Hg.), Didaktische Konzepte für den Schulsport, Aachen 2013, S. 123–147, hier S. 136 ff.

Die Schüler_innen sollen also in die Lage versetzt werden, sowohl einen individuellen Zugang als auch die Befähigung zur (körperlich-motorischen) Teilhabe an einer für sie passenden Sportkultur zu erlangen. Die vorgeschlagenen Inhalte, die sowohl tradierte Sportarten als auch Angebote einer breiten Bewegungskultur umfassen, sind dabei als exemplarisch zu verstehen. Das heißt, je nach didaktischer Inszenierung kann ein Inhalt unterschiedliche Sinndimensionen entfalten bzw. unterschiedliche Lern- und Erfahrungsgelegenheiten vorhalten.8 Erweitert wird diese Grundfigur einer mehrperspektivischen Ausrichtung des Sportunterrichts um den Gedanken einer reflexiven Handlungsbefähigung9. Anders als eine basale Handlungsfähigkeit, die die Befähigung zur (körperlich-motorischen) Teilhabe an einer soziohistorisch konkreten Sportkultur meint, soll die reflexive Handlungsbefähigung ermöglichen, dass der Sinn des Sports und seine mehrdeutigen Konstruktionen auch für die eigene Biografie und Gesellschaft verstanden werden kann. Genau an dieser Stelle bricht derzeit eine (öffentlich gemachte) Kontro­ verse auf, die wiederum die zwei Pole einer als überwunden gedachten Ina Hunger / Benjamin Zander  —  Sportunterricht

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Legitimierungsdebatte verdeutlicht. Nämlich einerseits das Postulat eines Sportunterrichts, der einer stark bewegungs- und körperbildenden Einführung in eine tradierte Sportkultur entlang von Sportarten das Wort redet; andererseits eines Sportunterrichts, der eine reflexive In-Verhältnissetzung mit bedeutsamen Phänomenen der außerschulisch vorfindlichen Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur befördert. Protagonist_innen des Ersteren bemühen sich, Sportunterricht als Praxisfach (wieder) stark zu machen und betonen seine Sonderstellung. Sie verweisen – teilweise analog zu Positionen in öffentlichen Debatten – argumentativ auf als defizitär eingeschätzte Bewegungskompetenzen, auf gesundheitsgefährdende Gewohnheiten der Heranwachsenden und Praktiken des außerschulischen Sports, die zu erlernen seien. Letztere betonen die formale Gleichstellung des Faches mit Blick auf den Bildungsauftrag, der sich weder in körperlicher Ertüchtigung noch in bloßer Erziehung erschöpfe, sondern sich klassischerweise (auch) in kognitiver Aktivierung erweise. Die Argumentation greift hier auf die zunehmende Diversität der Schüler_innenschaft und auch auf die Ausdifferenzierung der sportiven Bewegungskultur zurück und will die Engführung einer Adressierung von Schüler_innen als Sportler_innen überwinden. Polemisch werden diese (zum Teil künstlich befeuerten) Sportunterrichtsszenarien der interessierten Fachöffentlichkeit als Pole des »Turnens« oder »Quatschens« präsentiert.10 REALISIERUNGSFORMEN: ZWISCHEN GANZHEITLICHER BILDUNG UND BOOTCAMP Stärker als es für die meisten anderen Fächer gilt und vielleicht auch möglich ist, haben Sportlehrer_innen tendenziell einen biographisch sehr früh angelegten Bezug zum Fach und eine vergleichsweise hohe emotionale Bindung.11 Schon sehr früh, also bevor sie ihr sportwissenschaftliches Studium aufnehmen, haben sie in der Regel im Kontext der institutionalisierten Ordnung des Vereins- und Wettkampfsports typische Aufbereitungsformen von Sport kennengelernt und in Form von Übungsleitertätigkeiten oftmals bereits auch angewandt. Das heißt, schon vor der Lehrer_innenausbildung hat sich für viele Sportstudierende in einem langjährigen Teilhabeprozess ein komplexes, quasi einverleibtes Verständnis vom Gegenstandsbereich herausgebildet. Dieses

10  Michael Krüger u. Albrecht Hummel, Quatschen oder turnen? Zur Kritik am reflective turn der deutschen Sportpädagogik, in: sportunterricht, Jg. 68 (2019), H. 10, S. 469–473, hier S. 469.

stellt ein mehr oder weniger latentes Orientierungspotenzial für sie dar und konkurriert oftmals mit dem im Studium vermittelten Wissen. Ziel des sportwissenschaftlichen Lehramtsstudiums ist es (u. a.), genau dieses Orientierungswissen bewusst zu machen und eine wissenschaftlich fundierte und praxisreflexive Haltung auszubilden.

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11  Vera Volkmann, Biographisches Wissen von Lehrerinnen und Lehrern. Der Einfluss lebensgeschichtlicher Erfahrungen auf berufliches Handeln und Deuten im Fach Sport, Wiesbaden 2008.

Pauschale Aussagen darüber treffen zu wollen, wie Sportunterricht in der schulischen Alltagspraxis umgesetzt wird und welche Orientierungsgrößen beim unterrichtlichen Handeln eine Rolle spielen, wäre nicht nur mit Blick auf die Varianz innerhalb des Schulsystems mit seinen unterschiedlichen Schulformen und Akteur_innen vermessen. Es liegt zwar eine Vielzahl an empirischen Untersuchungen zum Alltag von Sportunterricht und über das Handeln der Lehrer_innen vor12, die Studien divergieren jedoch im Hinblick auf den gesetzten Untersuchungsfokus, die angelegten Perspektiven, die angestrebten Reichweiten. In diesem Sinne können die Befunde an dieser Stelle weder angemessen zusammengefasst, noch mit Blick auf die Qualität von Sportunterricht differenziert bilanziert werden. Nichtsdestotrotz dürfte es sich gleichsam als Gegengewicht zu den öffentlich artikulierten Ansprüchen lohnen, die Qualität des Sportunterrichts anhand der Realisierungsformen des Unterrichts und der dabei zur Geltung kommenden Rolle der Sportlehrer_innen näher zu thematisieren. Im Fach Sport gibt es, wie in allen anderen Fächern auch, Lehrer_innen, die ihrer unterrichtlichen Aufgabe mit unterschiedlicher Professionalität, persönlicher Überzeugung, sozialer Sensibilität und divergierendem Engagement nachkommen. Die beiden Enden des Poles von Realisierung und Qualität sollen im Folgenden schlaglichtartig konturiert werden. Pointiert formuliert, kann man den einen Pol dadurch kennzeichnen, dass Lehrer_innen adressatengerecht, zweckmäßig und folgerichtig den im dritten Kapitel skizzierten Doppelauftrag als einen schulischen Bildungsauftrag erfüllen und die hierzu im Sportunterricht veranschlagten pädagogischen Dimensionen durch eine reflexive Planung und Umsetzung von u. a. mehrperspektivischen Unterrichtsstunden aufgehen lassen. So wird bei den Schüler_innen das Interesse geweckt, sich sportlich auch außerhalb der Schule zu betätigen, durch entsprechend aufbereitete Bewegungsangebote wird den Schüler_innen die Einsicht ermöglicht, dass sie körperlich etwas leisten können, dass kooperatives oder kompetitives sportives Handeln sozial bereichernd sein kann, dass körperliche Belastungen mit einem positiven Effekt einhergehen können etc. Hier lernen die Heran12  Vgl. zusammenfassend etwa Eckart Balz u. a. (Hg.), Empirie des Schulsports, Aachen 2011; Rüdiger Heim u. Jan Sohnsmeyer, Schulsport, in: Werner Schmidt u. a. (Hg.), Dritter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Kinder- und Jugendsport im Umbruch, Schorndorf 2015, S. 118–139.

wachsenden im Sinne einer ganzheitlichen (Allgemein-)Bildung, dass Sport als kulturelle Praxis verstanden werden kann, von Menschen gemacht und durch die Schüler_innen gedeutet, die sich individuell angeeignet oder gemeinsam mit anderen verändert werden kann. Sportlehrer_innen einer solchen Unterrichtung haben erkannt, dass, auch wenn sich beim Elternsprechtag kaum ein Elternteil ernsthaft nach dem Leistungsstand des Zöglings beim Zombieball oder Reckturnen erkundigt, die Ina Hunger / Benjamin Zander  —  Sportunterricht

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Verantwortung dieses Faches eine große ist. Ihnen ist neben dem Bildungs-, Erziehungs- und Entwicklungspotenzial das gleichsam neuralgische Potenzial des Faches bewusst. Sie wissen, dass in ihrem Fach auch reale Unfallgefahren existieren, dass hier die Schülerinnen anfällig für Stolz und Scham sind, dass ein sportives Versagen mit einem sozialen Prestigeverlust unter den Schüler_innen verbunden ist und die biologisch-körperliche Materialität der Schüler_innen ihre Leistungen unmittelbar beeinflusst. Um den anderen (Extrem-)Pol zur groben Bestimmung von Realisierungsformen des Sportunterrichtes wiederum pointiert zu kennzeichnen, kann an folgende Szenarien gedacht werden: ein Sportunterricht, in dem sich die

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Lehrer_innen vornehmlich an den Schüler_innen orientieren, mit denen sie sich identifizieren können – nämlich den sportlichen Schüler_innen. Ein Sportunterricht, der (trotz Bildungsauftrag) Woche für Woche, Monat für Monat wie irgendein Vereinstraining aussieht oder wie ein Fitnesstraining in einem Bootcamp abläuft. Ein Sportunterricht, der sich darin erschöpft, dass der berühmte »Ball in die Mitte« geworfen wird, in dem sogenannte Mädchentore doppelt zählen, Kinder mit Förderbedarf bei dem Unterrichtsgeschehen außen vor bleiben oder bei körperlichen Einschränkungen beim Sprint beispielsweise zehn Meter Vorsprung bekommen. Ein Sportunterricht, in dem vermeintlich lockere Sprüche oder didaktisch unnötige Berührungen Schamgrenzen überschreiten, oder in dem die Lehrer_innen die Kinder regelmäßig Mannschaften selbst wählen lassen und damit eine öffentliche soziale Selektierung in Gang setzen. Alles in allem also ein Sportunterricht, in dem die Förderung von Selbstbewusstsein, Fairness etc. vernachlässigt wird, – weil der Unterricht vielleicht überhaupt kaum planvoll angegangen wird, in Routinen verharrt oder auf falschen Gewissheiten beruht. An diesem Ende des Poles finden wir oftmals Sportlehrer_innen, die immer schon wissen, wie man etwa Leichtathletik, Turnen oder Badminton anbietet, wie solche Unterrichtsstunden abzulaufen haben und was die Schüler_innen dabei lernen. Sie überprüfen sich und ihr Handeln ebenso wenig wie die Effekte ihres Tuns. Sie prüfen nicht, ob nicht unter anderen Kon­ stellationen vielleicht bessere Ergebnisse erzielt werden könnten. In diesem Sinne werden immer und immer wieder typische Aufbereitungsformen von Sport abgespult, damit Chancen vertan und in der Struktur des Unterrichts eingelassene Diskriminierungen wiederholt. ERFAHRUNGEN VON SCHÜLER_INNEN: ZWISCHEN LIEBLINGS- UND HORRORFACH Schüler_innen haben zu den formalen Zielsetzungen von Sportunterricht in der Regel keinen Zugang. Welchem staatlichen Auftrag Sportunterricht folgt, welche öffentlichen Ansprüche sich an ihn richten oder welcher theoretischen Plausibilität Sportunterricht geschuldet ist, ist ihnen weitgehend egal. Bedeutend ist für sie vielmehr das, was sie in der unmittelbaren Handlungspraxis erleben und ihr als Erfahrung entnehmen können. Auch diesbezüglich liegen diverse empirische Untersuchungen vor.13 Aufgrund der Bandbreite der Studien kann an dieser Stelle jedoch nur ein ausschnitthaf13 

Vgl. z. B. Michael Bräutigam, Schülerforschung, in Balz u. a. (Hg.), Empirie des Schulsports, Aachen 2011, S. 65–94.

ter Einblick erfolgen. In diversen qualitativen Studien zeigt sich, dass der Sinn von Sportunterricht bei Schüler_innen übereinstimmend im Sinne von »Sporttreiben« Ina Hunger / Benjamin Zander  —  Sportunterricht

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bilanziert wird.14 Im Mittelpunkt des Unterrichts steht aus ihrer Sicht der körperlich praktische Vollzug des Sports unter zentralen sportiven Sinnmustern, die u. a. mit körperlichen Anforderungen, dem Üben von Fertigkeiten, Streben nach Bewegungskönnen oder Spielen im Kontext von Sieg und Niederlage einhergehen. Dabei wird Sportunterricht gleichsam selbstbezüglich und unhinterfragt in Anlehnung an den richtigen Sport der außerschulischen Lebenswelten von den Beteiligten wahrgenommen, (re-)produziert und auch bewertet. Anders (oder zumindest stärker) als bei allen anderen Fächern erfolgt also beim Sportunterricht seitens der Schüler_innen ein Abgleich zwischen Schule und dem, was sie aus der Freizeit kennen. Dadurch entsteht ein eigentümliches Zerrbild, denn Sportunterricht konterkariert geradezu die typischen Merkmale von Freizeitsport, die sich durch Freiwilligkeit der Teilnahme, klare Sinndimensionen der Angebote (z. B. Leistungs- oder Spaßorientierung), thematische Spezialisierung (ausgewählte Sportarten, Bewegungsformen) und eine weitgehende Homogenität der Sportgruppen in Bezug auf körperliche Voraussetzungen oder sportive Interessen auszeichnen. Der Sportunterricht dagegen ist Pflicht und wird benotet, er adressiert Schüler_innen unterschiedlichen Geschlechts, mit unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen, unterschiedlichen Einstellungen zur körperlichen Exponierung und Nähe sowie unterschiedlichen Sportinteressen. Auch inhaltlich nimmt Sportunterricht im Vergleich zu den anderen Unterrichtsfächern für Schüler_innen eine Sonderstellung ein. Statt der sonst im Unterricht typischerweise abgeforderten Leistungen, nämlich Wissen und Denken preiszugeben, sind sie im Sportunterricht gefordert, mit ihrem Körper etwas zu leisten, zu wagen, auszudrücken oder zu kooperieren. Es gilt, den Körper in gesonderter Kleidung zu inszenieren und zu präsentieren, ihn berühren zu lassen (bei Hilfestellungen, im Zweikampf etc.), ihn (subjektiv wahrgenommenen) Verletzungsgefahren auszusetzen, ihn mit anderen zu vergleichen, ihn in sozialer Hinsicht beobachten, kommentieren und bewerten zu lassen etc. Nicht zuletzt sind auch die Interaktionsbeziehungen zu der Lehrkraft aus Schüler_innensicht besondere: Das in den anderen Fächern sonst geltende Tabu der körperlichen Bezugnahme ist hier formal aufgeweicht. Die Lehrkraft darf, ja »muss« teilweise Schüler_innenkörper berühren, ausgewählte Körperteile der Schüler_innen fokussieren, körperliche Bewegungen kommentieren oder auch sich selbst körperlich gegenüber den Schüler_innen präsentieren. Gezielte Beobachtungen des Körpers und Kommentierungen seiner Bewegungsfähigkeiten sind also didaktisch explizit vorgesehen, darüber hinaus aber auch informell unter Schüler_innen durchaus nicht ungewöhnlich: Insofern Körperbilder außerschulischen Ansprüchen unterliegen und Sportivität und

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14  Vgl. u. a. Matthias Schierz u. Esther Serwe-Pandrick, Schulische Teilnahme am Unterricht oder entschulte Teilhabe am Sport? Ein Forschungsbeitrag zur Konstitution und Nichtkonstitution von »Unterricht« im sozialen Geschehen von Sportstunden, in: Zeitschrift für sportpädagogische Forschung, Jg. 6 (2018), H. 2., S. 53–71; Benjamin Zander, Sportunterricht als konjunktiver Erfahrungsraum. Rekonstruktion kollektiver Orientierungen zum Sportunterricht von Schüler_innen im 7. Schuljahr, in: Zeitschrift für sportpädagogische Forschung, Jg. 6 (2018), H. 2., S. 5–30.

Bewegungskönnen bei Schüler_innen in der Regel als übergreifende Leitwerte gelten, messen, bewerten und kommentieren die Schüler_innen oft untereinander ihre juvenilen Körper im Unterrichtsgeschehen in Bezug auf normative Kriterien wie sportives Können, Gewicht, Proportionalität, Fitness etc. Insofern das Fach Sport ebenjene Körperlichkeit und die im Kontext von Sport agierende Persönlichkeit in den Fokus stellt, spielen für das Reüssieren der Schüler_innen in diesem Fach (auch jenseits der unterrichtlichen Inszenierung) folglich ihre außerschulische Sportsozialisation, ihre kulturell geprägte Einstellung zum Körper (und der Umgang mit diesem) sowie die materielle Verfassung ihres Körpers eine tragende Rolle. Klar im Vorteil bei der Teilhabe am Sportunterricht scheinen vornehmlich die zu sein, die im außerschulischen Sport sozialisiert sind und für die – aus der Logik des Freizeitsports heraus – der geforderte Umgang mit dem Körper kein unbekannter ist. Positive Erfahrungen machen vor allem auch diejenigen, die aufgrund ihrer körperlichen Voraussetzungen den motorischen Anforderungen per se gewachsen sind. All jenen erscheint Sportunterricht vielfach als kompensatorische Abwechslung zum Sitzunterricht, als willkommener Anlass, ihre (in der Schule ansonsten kaum relevanten) körperlichen Fähigkeiten zu präsentieren, freizeitbezogene Aktionsstile einzubringen oder zu erweitern, mit anderen zu interagieren und zu konkurrieren. In diesem Sinne birgt der Sportunterricht für sie besondere Potenziale, indem er z. B. ihr Selbstbewusstsein im Rahmen von Gemeinschaftserlebnissen stärkt. 15  Siehe hierzu auch Bernd Kramer, In der Turnhölle, in fluter. de, 17.06.2016, URL: https:// www.fluter.de/in-der-turnhoelle [eingesehen am 29.03.20]. 16 

Ina Hunger, Erst Lust, dann Frust… Schulsport aus Sicht sportschwacher SchülerInnen, in: sportpädagogik, Jg. 24 (2000), H. 6, S. 28–32.

17  Ina Hunger u. Nicola Böhlke, Über die Grenzen von Scham. Eine qualitative Studie zu (scham-) grenzüberschreitenden Situationen im Sportunterricht aus der Perspektive von Schüler/ innen, in: Forum Qualitative Sozialforschung, Jg. 18 (2017), H. 2.; David Wiesche u. Antje Klinge (Hg.), Scham und Beschämung im Schulsport. Facetten eines unbeachteten Phänomens, Aachen 2017.

Während die eben gekennzeichneten Schüler_innen Sport vielfach als Lieblingsfach benennen, haben es jene deutlich schwieriger, die den expliziten oder auch implizit gesetzten körperlichen Ansprüchen nicht entsprechen (im Hinblick auf vermeintliche motorische Schwächen, Übergewicht, eine von der Norm abweichende körperliche Konstitution, eine »Behinderung« o. Ä.) oder welche die im Sportunterricht veranschlagten körperumgangsbezogenen Ansprüche aufgrund ihrer Einstellung zu körperlicher Nähe oder Exponierung in dem angesetzten Maß kaum einlösen können. Für all jene strukturiert der Sportunterricht vielfach Situationen, die sie psychosozial belasten und in ihrer weiteren Entwicklung beeinträchtigen.15 In den bislang noch wenigen Untersuchungen, die dieses Thema aufgreifen, zeigt sich, dass im Sportunterricht regelmäßig Gefühle wie Scham, Angst, Hilflosigkeit, das Erleben von körperlicher Überforderung, sozialer Ausgrenzung oder persönlicher Abwertung entstehen. Für ebenjene Schüler_innen wird Sportunterricht vielfach zum Horrorfach16. Ausgewählte Studien17 zeigen eine Bandbreite von Situationen auf, die von Schüler_innen als grenzüberschreitend und peinlich wahrgenommen werden. Ina Hunger / Benjamin Zander  —  Sportunterricht

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Sie reichen von der fast nackten Exponierung des Körpers (in Schwimmkleidung) vor Lehrkraft und Klasse über belastende Berührungen, unangenehme körperbezogene Kommentierungen und Rituale bis hin zu als sexualisiert wahrgenommenen Handlungen. Auffällig erscheint bei nahezu allen Situationen das Dilemma, in dem sich die Schüler_innen befinden: In dem vermeintlichen Wissen, dass die als grenzüberschreitend erlebten Situationen fast durchgängig didaktisch plausibilisiert oder durch den Verweis auf Gepflogenheiten im Sport (z. B. »lockerer Umgang mit dem Körper«) als normal gekennzeichnet werden können, ist es den betroffenen Schüler_innen kaum möglich, sich davon abzugrenzen oder sich zu widersetzen. Vielmehr suchen sie – trotz des z. T. schamvollen Erlebens – oft die Ursache bei sich selbst und attestieren sich fehlende Lockerheit oder sonstige dem Sport widersprechende individuelle Empfindsamkeiten.18 Ein Sich-Widersetzen ohne verlässliche Mitstreiter_innen ist letztlich auch insofern kaum denkbar, als sich Schüler_innen hinsichtlich der Machtstellung der Lehrkraft und der für sich selbst vorgenommenen Verortung als Minderheit nicht in der Lage sehen, die Handlungen aus dem legitimierten unterrichtlichen Rahmen herauszulösen und sie für andere plausibel (und ohne Gesichtsverlust) im Bereich des Grenzüberschreitenden zu verorten. FAZIT Sportunterricht, so kann nach dem kurzen Streifzug zusammengefasst werden, unterliegt einem besonderen Erwartungshorizont. Mit seiner assoziierten Nähe zu einer der beliebtesten Freizeitformen der Gesellschaft und im Hinblick auf das »dem Sport« zugeschriebene gesundheits- und persönlichkeitsfördernde Potenzial erreicht ihn eine Vielzahl an öffentlichen Ansprüchen. Mit Blick auf den Bildungsauftrag von Schule und die zugeschriebenen Potenziale des Gegenstandsbereichs untersteht er zudem einem weitumspannenden fachdidaktischen Auftrag. In diesem Spannungsfeld von Ansprüchen fachlicher Sonderstellung und formaler Gleichstellung des Faches zeigen sich auf der Praxisebene wiederum sehr unterschiedliche Formen der Unterrichtung. Diese differieren je nach Professionalität der Lehrkraft und ihrer Auslegung von Sport deutlich. Von den Schüler_innen wird das Fach sehr unterschiedlich bewertet. Je nach unterrichtlicher Aufbereitung, Professionalität und sozialer Sensibilität der Lehrkraft und entsprechend der Schnittmengen zur eigenen außerschulischen Körper- und Bewegungssozialisation der Schüler_innen wird das Fach als besonders bereichernd oder besonders negativ für das eigene körperliche und soziale Wohlbefinden bilanziert. Dabei stellen sich im Sportunterricht

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Hunger u. Böhlke.

insbesondere durch den genuinen und konstitutiven Bezug zum Körper besondere Herausforderungen: Die erforderliche Exponierung, Beobachtung und Berührung des Körpers weichen hier von den unterrichtlichen Routinen des sonstigen Fächerkanons ab und begünstigen neuralgische Momente. So kann das, was aus Sicht der Lehrkraft ggf. ein kleiner methodischer Hinweis (»achtet mal drauf, ob das Gesäß bei ihr angespannt ist«) ist, für eine Schülerin zu einem Moment werden, an den sie sich jahrelang schamhaft erinnert. Was für die Lehrkraft ggf. ein notwendiger, unterstützender Handgriff ist, wird von dem Schüler als unangemessene, intime Berührung erlebt. Was die Lehrkraft spontan auf den Körper bezogen kommentiert, wird von Schüler_innen als persönliche Verletzung wahrgenommen. Aber auch: Was als grenzüberschreitender Akt der Lehrkraft intendiert ist, kann von der Schülerin/dem Schüler als sportunterrichtliche Gepflogenheit plausibilisiert werden. Alles in allem stellen sich im Sportunterricht also besondere Herausforderungen. Dabei muss bedacht werden, dass es vornehmlich die Sportlehrkräfte sind, die Tag für Tag – im Rahmen eines großen Auslegungsfreiraums – Sportunterricht herstellen und somit in der genuin hohen didaktischen und sozialen Verantwortung dieses Unterrichts stehen. Auf diese Verantwortung müssen das sportwissenschaftliche Lehramtsstudium und die zweite Ausbildungsphase qualitativ hochwertig vorbereiten, auf sie müssen berufs­flankierende Maßnahmen, wie Fortbildungen und Evaluationen, gezielt abheben. Gerecht werden muss dieser Verantwortung vor allem aber auch die Einstellungspolitik. Frei nach dem Motto »Sportinteressierte first« arbeiten im Fach Sport derzeit die meisten Fachfremden. Die hohe Zahl der fachfremd Unterrichtenden steigt dabei mit jedem Halbjahr – insbesondere in den Settings, die erzieherisch besonders anspruchsvoll sind, wie zum Beispiel in der Haupt- oder auch Grundschule. »Es ist ja nur Sport«, hört man in diesem Zusammenhang hin und wieder.

Prof. Dr. Ina Hunger, geb. 1965, ist Professorin für Sportpädagogik und -didaktik an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Sie forscht u. a. zu Themen des Schulsports, ›Kindheit und Bewegung‹ sowie zu geschlechts- und diversitätsbezogenen Fragestellungen im Kontext von Sport und Bewegung. Dr. Benjamin Zander, geb. 1985, lehrt und forscht im Arbeitsbereich Sportpädagogik und -didaktik am Institut für Sportwissenschaften der Georg-­AugustUniversität Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen u. a. in der Schulsport- und Ungleichheitsforschung.

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PORTRAIT

»MESSIAS« MESSI FREUD UND LEID MIT EINEM JAHRHUNDERTFUSSBALLER Ξ  Eckhard Jesse

MADRID, 23. APRIL 2017 Der Clásico im Madrider Bernabéu-Stadion vor 81.044 Zuschauern beim Stand von 2:2 dauert noch ganze 20 Sekunden bis zum Ende der Nachspielzeit: Sergio Roberto vom FC Barcelona bekommt den Ball in der eigenen Hälfte, sprintet mit ihm 40 Meter, ohne sonderlich angegriffen zu werden, gibt ihn an André Gomes ab, der sofort auf dem linken Flügel Jordi Alba bedient – dieser flankt nicht, spielt das Leder vielmehr in die Mitte zurück, von wo der heranrauschende Lionel Messi es aus 14 Metern direkt mit seinem linken Zauberfuß halbhoch, knapp neben dem linken Pfosten, in das Gehäuse schlenzt, Keylor Navas keine Chance lassend, 13 Sekunden vor dem Abpfiff. Messi, der sich wie immer demütig bekreuzigt, zieht sofort das Trikot aus und hält es – die Hände hochgestreckt – in Siegerpose demonstrativ dem schweigenden (nicht: pfeifenden) Madrider Zuschauerblock hin: ikonenhaft. Mit der Gelben Karte für ihn endet Messis Madrider Magie. Christiano ­Ronaldo kann das Geschehen nicht fassen und schreit sein Entsetzen heraus. Ausgerechnet mit diesem Schluss-Schuss erzielt Messi seinen 500. Pflichtspieltreffer für den FC Barcelona, der so das Ausscheiden im Achtelfinale der Champions League gegen Juventus Turin wenige Tage zuvor zumindest kurzzeitig vergessen machen kann. Meine Freunde und Kollegen Adriaan Kühn und Tom Mannewitz, die in Madrid eine Konferenz veranstalten, deren Vorträge später in einem Buch dokumentiert sind,1 sehen im hiesigen Stadion als Fans von Madrid und Ronaldo (die Reihenfolge ist eine Rangfolge) mit mir, einem Messi- und Barcelona-Fan (diese Reihenfolge ist auch hier eine Rangfolge), das Spiel, das jeden von uns zwar mehr als 500 Euro kostet, aber unvergessen bleibt: nicht zuletzt wegen Messi!

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1  Vgl. Adriaan Kühn u. Tom Mannewitz (Hg.), Protest on the Rise? Political After­ shocks of the Financial and the Migrant Crisis in Germany and Spain, Madrid 2018.

In der 21. Minute trifft Marcelos ausgefahrener Ellenbogen Messi, der zu Boden geht, blutet und am Spielfeldrand behandelt wird. Mit einem Papiertaschentuch im Mund zurückgekehrt, schiebt der »Zauberfloh«, nun das Taschentuch in der Hand haltend, in der 31. Minute flach und unhaltbar zum 1:1 ein, nachdem er zwei Spieler, Daniel Carvajal und Luka Modric, ausgetrickst und umkurvt hatte. Faszinierend zu sehen, wie der eingekesselte Messi, der dominierende, nur durch Foul zu bremsende Mann auf dem Feld, seine freistehenden Mannschaftskameraden bedient. Als Sergio Ramos nach einem schlimmen Foul, natürlich wiederum an Messi, beim Stand von 1:2 die Rote Karte sieht, scheint Barcelona das Spiel der Giganten zu gewinnen, doch fünf Minuten vor Schluss gelingt dem dezimierten Madrider Team durch den Kolumbianer James Rodriguez der Ausgleich, zur Freude meiner beiden Freunde, die mich nun necken. Der leise Spott vergeht ihnen bald, folgt aber die erwähnte letzte Spielszene. Ins Hotel zurückgekehrt – meine Frau Christa zieht mich noch heute wegen meines verklärten Gesichtsausdrucks beim Betreten des Hotelzimmers auf –, verfolge ich stundenlang im Fernsehen das Spiel wieder und wieder, vor allem einzelne Szenen, aufgewühlt von dem dramatischen Geschehen. In dieser Nacht kann ich kein Auge zumachen. Am nächsten und übernächsten Tag studiere ich mühsam die spanischen Sportzeitungen. Die aus Barcelona (Sport, El Mundo Deportivo) schwärmen überschwänglich von den Großtaten Messis, doch selbst die Madrider Zeitungen, Marca, As, die klar mit Real sympathisieren, kommen nicht umhin, dessen Leistungen gebührend herauszustreichen. Der 266. prestigeträchtige Clásico am 33. Spieltag endet also mit einem 3:2Sieg der Gäste, denen so zwar die Chance auf die Meisterschaft noch bleibt, aber da Real Madrid in der Saison alle Spiele bis zum Ende gewinnt, ist dem Ronaldo-Team die spanische Fußballmeisterschaft im Jahr 2017 nicht mehr zu nehmen. Eine Webseite hat die zehn besten Fußballduelle der 2010er Jahre aufgelistet,2 darunter dieses Spiel auf dem fünften Platz. Auch wenn ein solches Ranking höchst subjektiv ausfällt und wenig aussagekräftig sein mag, illustriert es doch die Faszination des Duells vom 23. April 2017 zwischen 20.45 und 22.35 Uhr. Zum ersten Mal konnte ich – endlich – Messi im Stadion erleben, nachdem ich bereits mehr als hundert seiner Spiele im Fernsehen oder am Computer verfolgt hatte und bisweilen auch bloß am Live2  Redaktion Männersache, Die 10 besten Fußball-Spiele der 2010er, in: Männersache, 27.12.2019, URL: https://www. maennersache.de/die-10-bestenfussball-spiele-der-2010er-23916. html [eingesehen am 15.04.2020].

Ticker auf dem Smartphone. MESSIS LAUFBAHN Messis sensationelle Leistungen bei der U-20-Weltmeisterschft im Jahre 2005, die ihn mit sechs Treffern nicht nur zum Torschützenkönig, sondern Eckhard Jesse  —  »Messias« Messi

135

auch zum Spieler des Turniers machten, müssen mir entgangen sein. Wohl das erste Mal fiel mir sein Name bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland auf, als ein Reporter das »Wunderkind« erwähnte, wenn mich nicht alles täuscht: im Spiel Argentiniens gegen Serbien-Montenegro, in dem der erst spät eingewechselte 18-Jährige zu einem Tor kam. Allerdings war die Weltmeisterschaft für ihn kein »Sommermärchen«. Er bestritt nur drei Spiele, und sein Einsatz im Viertelfinalspiel gegen Deutschland – das Argentinien nach Elfmeterschießen verlor – blieb aus. Spätestens mit dem 18. April 2007, also fast genau ein Dezennium vor seinem »Traumspiel« im erwähnten Clásico, als ihm gegen den FC Getafe nach einem Dribbling über den halben Platz ein »Traumtor« gelang, gleich dem Diego Maradonas bei der Fußballweltmeisterschaft 1986 gegen England, habe ich seine Laufbahn genauer verfolgt. Als der FC Barcelona den 13-jährigen Argentinier Lionel Andrés Messi Cuccittini von den Newells Old Boys Rosario verpflichtete, mit einem auf einer Papierserviette besiegelten Vertrag, wusste der spanische Verein zwar vom immensen Talent des Jungen, aber wohl nicht um dessen fußballerische Einmaligkeit. Anders lässt sich das anfängliche Hin und Her nicht erklären, das die Messi-Seite bereits Gespräche mit Real Madrid, dem ewigen Konkurrenten, führen ließ. »Manch einer hält Leo für zu klein und glaubt, dass es hier nur um einen kleinen Schönspieler geht.«3 Immerhin fand sich der Verein bereit, dem mit 140 cm kleinwüchsigen Messi eine Hormonbehandlung angedeihen zu lassen und seinen Vater für die Tätigkeit beim Verein großzügig zu honorieren. Messis Karriere nahm, nach den Anlaufschwierigkeiten, schnell Fahrt auf. Am 1. Mai 2005, noch 17 Jahre alt, gelang ihm der erste Treffer für den FC Barcelona. Bereits 2007 kam er beim Ballon d’Or, bei dem Journalisten den weltbesten Fußballer ermitteln, auf den dritten, 2008 auf den zweiten und 2009 – in diesem Jahr gelang ihm das Triple: Sieger in der Liga, im Pokal und in der Champions League – schon auf den ersten Platz. Es ist müßig, seine vielen Rekorde aufzuzählen. Aber ein Statistikfreund wie ich hat daran seine Freude, kann sie stundenlag auswerten. Einen kleinen Einblick in das von Messi Geleistete erhält, wer die Zahl seiner Spiele, seiner Treffer und Assists, seinen Torquotienten (gespielte Minuten geteilt durch Tore) sowie seine Einsatzminuten in einer Saison der Primera Division betrachtet, und zwar von Anfang bis heute. Nichts macht seine fulminante Beständigkeit über 15 Jahre so deutlich.4

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Sport — Portrait

3  So Luca Caioli, Messi. Der Weg zur Legende, Göttingen 2019, S. 39; Guillem Balagué, Messi, Hamburg 2014, S. 164, der vor allem Messis frühe Karriere beschreibt, bestätigt dies, hält die Geschichte von der P ­ apierserviette aber für eine Legende. 4  Quelle: transfermarkt. de, Messi, Leistungsdaten nach Wettbewerben, ­Nationale Ligen, URL: https://www. transfermarkt.de/lionel-messi/ detaillierteleistungsdaten/spieler/ [eingesehen am 10.03.2020].

Tor­

Spiel­

quotient

minuten

0

75

75

6

2

152

912

26

14

2

143

2001

2007/08

28

10

14

200

2003

2008/09

31

23

12

109

2513

2009/10

35

34

12

84

2840

2010/11

33

31

18

92

2861

2011/12

37

50

16

65

3269

2012/13

32

46

12

57

2626

2013/14

31

28

11

89

2501

2014/15

38

43

18

78

3374

2015/16

33

26

16

105

2729

2016/17

34

37

9

77

2832

2017/18

36

34

12

88

2996

2018/19

34

36

15

75

2709

2019/20

22

19

12

99

18895

Saison

Spiele

Tore

Assists

2004/05

7

1

2005/06

17

2006/07

Messi absolvierte bis zum 7. März 2020 474 Spiele, schoss 438 Tore (darunter 55 verwandelte Elfmeter), steuerte 181 Assists bei, war 38.130 Minuten auf dem Platz, wobei jede 87. Minute ein Tor durch ihn fiel. In den Saisons 2009/10, 2011/12, 2012/13, 2016/17, 2017/18, 2018/19 erhielt er, obwohl mehr Spielmacher als Stoßstürmer, die Pichichi-Trophäe für den Torschützen­ 5  Die Saison 2019/20 musste wegen des grassierenden Coronavirus nach dem 27. Spieltag (6. bis 8. März 2020) unterbrochen werden. Messi führt bei den Scorer-Punkten (19 Tore und 12 Assists) mit 31 Punkten haushoch vor Karim Benzema (20 Punkte – 14 Tore und 6 Assists) und Luis Suarez (18 Punkte – 11 Tore und 7 Assists), obwohl er verletzungsbedingt in fünf der ersten sieben Spiele pausieren musste.

könig (sowie zugleich die Golden Shoe-Auszeichnung für den besten Schützen in den europäischen Spitzenligen) – und wohl auch 2019/20 gehört sie ihm. Zwischen dem 11. November 2012 und dem 5. Mai 2013 gelang es ihm, bei jedem Punktspiel mindestens ein Tor zu erzielen, 33 Tore in 21 Matches. Allerdings sind diese Daten in mannigfacher Hinsicht unvollständig. So ist die Zahl der durch Messi kreierten Torschussflanken weitaus höher als die seiner Flanken, die zu Toren geführt haben. Und: Wer viele Spiele mit ihm gesehen hat, weiß nur zu gut um seine Urheberschaft beim vorletzten Pass. Überhaupt lässt sich die Kreativität eines Spielers nicht einfach durch Zahlen einfangen, Eckhard Jesse  —  »Messias« Messi

137

schon gar nicht bei Messi, der mit seinen 91 Toren im Kalenderjahr 2012 die 85 Tore des »Bombers der Nation«, Gerd Müller, von 1972 übertroffen hat.6 Im Gegensatz zu seinen Auftritten beim FC Barcelona in den karminrotblau gestreiften Trikots wirkten die im Trikot der Albiceste zuweilen eigentümlich gehemmt. Fehlten ihm die richtigen Mitspieler? Belastete ihn die hohe Erwartungshaltung des Landes oder der Weltmeisterschaftstriumph Maradonas 1986? Auch wenn mittlerweile seine Leistungen in der Nationalmannschaft sich denen im Verein nahezu angeglichen haben, blieb ihm bisher ein großer Titel versagt, anders als Diego Maradona. Der Olympiasieg 2008 zählt nicht dazu.7 Am nächsten war Messi dem Titel bei der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien im Endspiel gegen Deutschland. Das Geschehen wogte hin und her, bis Mario Götze am 13. Juli in der 113. Minute das goldene 1:0 gelang. Als Argentinien am Spielende einen Freistoß in aussichtsreicher Position zugesprochen bekam, hoffte ich auf ein Freistoßtor durch Messi (keineswegs auf einen argentinischen Sieg), doch ging sein Schuss in der Nachspielzeit der Verlängerung über das von Manuel Neuer gehütete Tor. Die Auszeichnung als bester Spieler des Turniers war für ihn ein schwacher Trost. Messis wohl letzte Chance, um nicht als »Unvollendeter« in die Fußball-Annalen einzugehen: seine fünfte Weltmeisterschaft 2022 in Katar, wenn er denn durchhält. Gewiss, »Katar müsste nicht sein«8, aber nun muss es sein. 2005 hat Messi auch die spanische Staatsbürgerschaft erhalten, doch für ihn gibt es keine Zweifel: Die Heimat bleibt Argentinien. Erst später habe ich von dem ersten Länderspieleinsatz des 18-Jährigen erfahren, als er im August 2005 45 Sekunden nach seiner Einwechslung vom Platz flog. Der Spitzenschiedsrichter Markus Merk hatte Messis Versuch, sich von dem ihn unfair haltenden ungarischen Spieler Vilmos Vanczák zu befreien, zu Unrecht als Tätlichkeit gedeutet. Ebenso ungerechtfertigt war seine Hinausstellung beim Spiel um den dritten Platz gegen Chile anlässlich der Copa América im Juli 2019 durch den Paraguayer Mario Diaz de Vivar. Gary Medel hatte den passiv bleibenden Messi außerhalb des Spielfeldes mehrfach geschubst. Die Spiele endeten trotzdem jeweils 2:1 für Argentinien. Der faire und untadelige Sportsmann, der keine Elfmeter herausschindet und außerhalb des Strafraums weder Freistöße noch Gelbe bzw. Rote Karten beim Gegner provoziert, flog beim FC Barcelona in 718 Pflichtspielen kein einziges Mal vom Platz. REIZ DES FUSSBALLS Wie ist der Reiz des Fußballs, einem Bonmot zufolge die schönste Nebensache der Welt, zu erklären – mit oder ohne Messi? 22 Spieler rennen dem Ball

138

Sport — Portrait

6  Möge ihm (und Ronaldo) Gerd Müllers schweres Schicksal erspart bleiben. Vgl. dazu Hans Woller, Gerd Müller oder wie das große Geld in den Fußball kam. Eine Biografie, München 2019. 7  Die fünf Spiele Messis bei den Olympischen Spielen 2008 sind nicht bei seinen Länderspielen aufgeführt. 8  Jürgen Kaube, Lob des Fußballs, München 2018, S. 112.

hinterher. Dabei versuchen sie, ihn ins gegnerische Torgehäuse zu befördern. Zugleich wollen sie verhindern, dass dieser in das eigene gelangt. Die Einfachheit der Regeln fasziniert, aber auch, was oft übersehen wird, die geringe Trefferzahl in einem Spiel.9 Das mutet paradox an, denn Tore sind doch das Salz in der Fußball-Suppe. Gerade deshalb kommt ihnen besonderes Gewicht zu. Und weil in der Regel wenig Tore fallen, jedenfalls dann, wenn Messi und Ronaldo nicht auf dem Spielfeld agieren, kann auch ein Außenseiter den Favoriten mal düpieren, so Nordkorea Italien bei der Fußballweltmeisterschaft 1966 mit 1:0. Im Basketball etwa ist dies kaum möglich. Und von Messi geht noch einmal ein besonderer Reiz aus. Wie der scheinbar Teilnahmslose plötzlich explodiert! Wie er sich mit dem an den Füßen »klebenden« Leder durch die dicht gestaffelte gegnerische Mannschaft schlängelt! Wie er passgenau seine Mitspieler bedient! Wie er einen Ball für den Nebenmann sekundenschnell »abtropfen« lässt! Wie ein akkurat geschossener Ball nach einem Freistoß – über die Mauer hinweg und am Torhüter vorbei – mehr als einmal im Netz zappelt! Pep Guardiola, der Trainer Messis von 2008 bis 2012, vielleicht der beste Trainer der Welt10, im Gegensatz zum unpolitischen Messi vehement für die Unabhängigkeit Kataloniens streitend, schwärmte immer wieder mit diesen 9  Hingegen beklagen viele Amerikaner, von Baseball, Basketball und Football verwöhnt, gerade die wenigen Tore. Es passiere ja nichts auf dem Feld, 10  Vgl. Guillem Balagué, Pep Guardiola. Die Biografie, München 2013; Albert Jumilla, Tu, was Du kannst – und sei mutig. Pep Guardiolas Erfolgsgeheimnis, München 2013; Dietrich Schulze-­ Marmeling, Guardiola. Der Fußball-Philosoph, Essen 2014. 11 

Zitiert nach Luca Caioli, S. 174. 13 

So Jordi Punti, S. 11.

und anderen Worten von ihm: »Er ist der beste Spieler, den ich jemals gesehen habe und jemals sehen werde. Wir können auf sehr hohem Niveau spielen, aber ohne ihn hätten wir nicht diesen letzten großen Sprung nach vorne gemacht. Wir haben Fähigkeiten, und wir haben Messi.«11 Für Jordi Punti, der jüngst eine einschlägige »Stilkunde« vorgelegt und hierin den Spieler Messi mit fünf Eigenschaften charakterisiert hat (Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielschichtigkeit)12, liegt einer der Gründe, weswegen Messi sein »Lieblingsfußballer aller Zeiten« sei, vor allem darin, dass er »manchmal von ihm träume«.13 Nun träume ich zwar nicht von ihm, aber Messi ist auch mein Lieblingsfußballer. Bei ihm sieht das Schwere leicht aus, seine Spielintelligenz, die Lücken in der gegnerischen Abwehr bei einem neuen Spielzug erspäht und aufreißt, überfordert manchmal sogar die eigenen Mannschaftskameraden. Er zieht mit virtuoser Ballbehandlung gegnerische Spieler auf sich, die ihn zu stoppen versuchen,

12  Vgl. Jordi Punti, Messi. Eine Stilkunde, München 2020, S. 71– 81. Er entlehnt diese Eigenschaften einem Buch des Schriftstellers Italo Calvino (Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, Frankfurt a. M. 2012), die für die Kunst und Literatur des 21. Jahrhunderts charakteristisch sind.

und flankt dann blitzschnell an Freistehende aus den eigenen Reihen. Seiner Aura ist schwer zu widerstehen. Aber im Fußball kann »Überreizung« im Extremfall sogar zu Mord und Totschlag führen. Das bekannteste Beispiel: der Fußballkrieg zwischen Honduras und El Salvador 1969 mit Hunderten von Todesopfern. Nach dem Sieg von Honduras auf heimischem Boden im ersten Halbfinalspiel (1:0) revanchiert Eckhard Jesse  —  »Messias« Messi

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sich El Salvador im Rückspiel mit 3:0. Das Entscheidungsspiel gewinnt El Salvador nach Verlängerung mit 3:2.14 Schwere Ausschreitungen folgen. Salvadorianer, die in den 1950er Jahren aus ihrem überbevölkerten Land in das dünnbesiedelte Honduras gegangen waren, werden überfallen, vertrieben und getötet. Daraufhin besetzt El Salvador Teile von Honduras, muss aber aufgrund des Drucks der Organisation Amerikanischer Staaten seine Soldaten innerhalb weniger Tage aus dem Hoheitsgebiet von Honduras zurückziehen. Der Anlass des erst viel später beigelegten Krieges ist fußballbedingt, die Ursache nicht. Und dass bei solchen Vorgängen Mythen entstehen, liegt in der Natur der Sache. So basiert das bekannte Buch des polnischen Publizisten Ryszard Kapus´cin´ski über den »Fußballkrieg« auf unbewiesenen Spekulationen.15 Der von ihm geschilderte (und von anderen Autoren als wahr übernommene) Selbstmord einer 18-jährigen Jugendlichen aus El Salvador aus Scham über das verlorene erste Spiel war offenbar ausgedacht.16 MESSI VS. RONALDO Die Zahl der Beispiele für Präferenzen, die Kompromisse ausschließen, ist Legion. Wer für Wolfgang von Goethe schwärmt, lässt Friedrich Schiller nicht gelten (und umgekehrt). In Frankreich rivalisierte in den 1950er Jahren JeanPaul Sartre mit Albert Camus, dem Autor der »Pest«. Das Bonmot »lieber mit Sartre irren als mit Camus Recht haben«17 spielt auf manche Linksintellektuelle an, die nichts von den kommunistischen Verbrechen wissen wollten. Und wessen Herz in den 1980er Jahren für den smarten Mittelstreckenläufer Sebastian Coe schlug, der konnte mit seinem britischen Landsmann Steve Ovett wenig anfangen (und abermals umgekehrt). Ähnlich ist es bei den Fans mit der Rivalität zwischen Lionel Messi und Christiano Ronaldo.18 Die einen sind für den anderen, die anderen für den einen. Nur wenige Sportenthusiasten schwanken. Und zunehmend heißt die Antwort, nicht bloß bei Spitzentrainern wie Jürgen Klopp und Arsène Wenger, auf die Frage nach dem GOAT (»Greatest of all times«): Messi! Das Paradoxe: Obwohl Fußball ein Mannschaftssport ist, kreist die Faszination vielfach doch um den Einzelspieler. Der Zufall will es, dass mit Messi, geboren am 24. Juni 1987 in Rosario/Argentinien, und Ronaldo, geboren am 5. Februar 1985 in Funchal/Portugal, zwei herausragende Spieler zur selben Zeit aktiv sind. LM10 läuft oft als Rechtsaußen auf, CR7 mitunter als Halblinker. Lässt sich der technisch versiertere Messi häufig zurückfallen, um

14  El Salvador gewann anschließend die Qualifikation gegen Haiti und durfte an der Weltmeisterschaft teilnehmen. Dort blieb die Mannschaft aber erfolglos: tor- und punktlos. 15  Vgl. Ryszard Kapus´cin´ski, Der Fußballkrieg. Berichte aus der Dritten Welt, Frankfurt a. M. 1990. 16  Vgl. Dennis Melzer, Der 100-stündige Fußballkrieg zwischen El Salvador und Honduras. Erst fielen die Tore, dann die Bomben (22. März 2020), unter: https://www-goal.com/de/meldungen/ (25. März 2020). Siehe auch Artur Domoslawski, Ryszard Kapus´cin´ski, Leben und Wahrheit eines »Jahrhundertreporters«, Zürich 2014. 17  Bei dem griffigen Diktum wurde der Name Camus’ später durch den Raymond Arons und Michel Houellebecqs ersetzt.

mit inspirierenden Pässen dem Spiel der eigenen Mannschaft größere Dynamik zu verleihen, so wartet Ronaldo »vorne« auf den Ball. Spricht hier der Messi-Fan, der die fußballerischen Qualitäten des Portugiesen verschmäht?

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Sport — Portrait

18  Vgl. Luca Caioli, Messi vs. Ronaldo. The Greatest Rivalry, London 2015.

Nein, ich bin zwar ein Verfechter der Spielweise Messis, aber kein Verächter jener Ronaldos. Beim Ballon d’Or kam Messi bisher sechsmal auf den ersten Platz (2009, 2010, 2011, 2012, 2015, 2019), fünfmal auf den zweiten (2008, 2013, 2014, 2016, 2017) und einmal auf den dritten (2007), Ronaldo fünfmal auf den ersten (2008, 2013, 2014, 2016, 2017), sechsmal auf den zweiten (2007, 2009, 2011, 2012, 2015, 2018) und einmal auf den dritten Platz (2019). Während Messi dem FC Barcelona treu geblieben ist, hat Ronaldo stets neue Herausforderungen gesucht. Er war vor seiner Zeit bei Real Madrid bei Manchester United aktiv und ist es jetzt bei Juventus Turin (seit 2018) Es fällt schwer zu sagen, was da stärker ins Gewicht fällt: die Treue Messis oder der Aufbruch Ronaldos zu neuen Ufern? Das Soziale muss sich nicht mit dem Sportlichen decken. Wer die neun Spieljahre vergleicht, in denen Messi und Ronaldo in der Primera Division zur selben Zeit kickten (in den Saisons 2009/10 bis 2017/18), erkennt kaum einen Unterschied, bezogen auf die nackten Zahlen. Aber das reicht eben zur Beurteilung der Leistungsstärke eines Fußballers nicht aus. Messi verbuchte in 309 Spielen für den FC Barcelona 329 Tore und 119 Torvorlagen, Ronaldo in 292 Spielen für Real Madrid 311 Tore und 86 Torvorlagen. Wer die Pflichtpartien samt aller Länderspiele der beiden addiert, gelangt zu einem für Messi deutlich günstigeren Befund mit Blick auf die Torausbeute (Stand: 9. März 2020, bis zu den Spielabsagen aufgrund des Corona-Virus). In den Vereinen hat er bereits jetzt ein Tor mehr geschossen (0,92 Tore pro Spiel) als Ronaldo (0,80 Tore pro Spiel), obwohl dieser 540 Einsätze aufweist, Messi nur 422. Der Argentinier traf jede 93. Minute, der Portugiese jede 109. Minute.19 Bei den Länderspielen dagegen netzte Ronaldo jede 131. Minute ein, Messi jede 161. Minute.

19  Vgl. transfermarkt.de, Spielervergleich, URL: https:// www.transfermarkt.de/vergleich/ spielervergleich/statistik/def/ spieler/8198&28003 [eingesehen am 10.03.2020]. Die Angaben bei den Assists weichen in den Statistiken etwas voneinander ab.

Messi:

718 Spiele (Verein)

627 Tore

261 Assists



138 Spiele (Land)

70 Tore

45 Assists



856 Spiele (gesamt)

697 Tore

306 Assists

Ronaldo:

836 Spiele (Verein)

626 Tore

215 Assists



164 Spiele (Land)

99 Tore

37 Assists



1000 Spiele (gesamt)

725 Tore

252 Assists

Gewiss, Ronaldo ist auch für mich der bessere Kopfballspieler, der bessere Elfmeterschütze, der physisch Durchsetzungsstärkere mit dem härteren Schuss, aber Messi ist der bessere Dribbler, der bei weitem Mannschaftsdienlichere, der erfolgreichere Freistoßschütze, der deutlich Diszipliniertere, dessen Disziplin sich zugleich paart mit einer größeren Zahl an Einfällen. Und Eckhard Jesse  —  »Messias« Messi

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die magische Fähigkeit der Antizipation steht über allem. Hingegen fällt das Defensiverhalten beider Stars überschaubar aus, euphemistisch formuliert. Messi ist durch und durch unprätentiös, wenngleich er längst nicht mehr so schüchtern wirkt wie in seinen Anfangszeiten. Ronaldo, keineswegs frei von Provokationssucht, stolziert inner- und außerhalb des Spielfeldes oft wie ein Gockel. Seine Liebesaffären tun ebenso wenig zur Sache wie die Finanzaffären des Rivalen. Gleichwohl bestimmen solche außersportlichen Vorkommnisse Urteile der Fans mit. Erhielt Ronaldo in Funchal 2014 eine überlebensgroße Statue, so folgte 2016 in Buenos Aires eine lebensgroße für Messi. Zufall oder nicht: Die eine Skulptur zeigt einen Dynamischen mit dem Ball am Fuß, die andere – von mir angeschaute – einen Breitbeinigen mit seinem besten Stück, das vor lauter Anfassen glänzt. FUSSBALL GEGEN SOZIALE KRISE Die Corona-Pandemie bringt die Fußballspiele vorerst zum Erliegen. Ein Mitgliederverein wie der FC Barcelona, der ohne einen steinreichen Sponsor auskommen muss, erleidet dadurch einen Schaden von vielen, vielen Millionen.20 Ein mehr oder weniger freiwilliger Verzicht Lionel Messis und anderer Spieler auf einen Teil des Gehalts kompensiert die herben finanziellen Verluste des Vereins aus den fehlenden Fernseh- und Zuschauereinnahmen nur teilweise. Selbst die Erlöse aus dem Besuch des Vereinsmuseums und der Stadionführung – als ich am 22. Januar 2020 im Camp Nou weilte, wurde dort gerade der (sich schnell als Flop entpuppende) neuverpflichtete KevinPrince Boateng präsentiert – entfallen nun. Mir war die heikle F ­ inanzlage selbst bekannter Klubs so nicht bewusst. Fußballstars wie Messi und Ronaldo spenden und rufen die Sportfans dazu auf, den Weisungen der Politik zu folgen. Das ändert an den schweren finanziellen Engpässen selbst von Spitzenklubs wenig. Der FC Barcelona will sogar Kurzarbeit beantragen, um so neue Geldquellen zu erschließen. Mit Blick auf das Corona-Virus ist zu Recht von einer gesundheitlichen Krise, einer politischen Krise (die Zusammenarbeit in der EU klappt nicht recht, nationale Souveränitäten dominieren) und, auch im Fußball, einer ökonomischen Krise die Rede. Zu wenig wird von der sozialen Krise gesprochen. Viele Menschen sind es gar nicht gewohnt, auf engem Raum zusammenzuleben: ohne Ablenkung, etwa durch Fußball. Schlechte Stimmung entsteht bei überschaubaren sozialen Kontakten, nicht so sehr Gemeinsinn, wie manche meinen; Spannungen grassieren, aufgestaute Aggressionen brechen zuweilen auf, münden mitunter in häuslicher Gewalt. Eine

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Sport — Portrait

20  Vgl. Javier Cáceres, 1210 Euro für den Kurzarbeiter Messi, in: Süddeutsche Zeitung, 26.03.2020.

Ausgangsbeschränkung bzw. ein Kontaktverbot, wie immer die Termini heißen mögen, dürfte nur für eine begrenzte Zeit verkraftbar sein, zumal niemand weiß, wie lange die Krise anhält und wann es gelingt, einen wirksamen und einsetzbaren Impfstoff zu entwickeln. Einsamkeit ist schlimm (wer will schon Robinson Crusoe sein?), Ungewissheit ebenso. An sich wenig reizvolle Geisterspiele sind daher für mich im Mai nicht nur aus ökonomischen Gründen wichtig – die Klubs benötigen die deutlich über den Zuschauereinnahmen liegenden TV-Gelder21 –, sondern auch unter sozialen Aspekten, sofern dies für Spieler und sonstiges Personal gesundheitlich verantwortbar ist. Fußball regt auf, lenkt ab und trägt gerade dadurch zur Beruhigung erhitzter Gemüter bei. »Maßnahmen der sozialen Entleerung« führen zu einer »Verdichtung des Privaten«. »Das Soziale wird ausgetrocknet, die Kultur als kollektives Ereignis abgeschafft, die Religion vor den Hausaltar verbannt.«22 Vielleicht ist es ungerecht, den Spruch panem et circenses des römischen Dichters Juvenal ausschließlich pejorativ zu deuten, weil aus ihm eine gewisse Überheblichkeit kosmopolitisch Gesinnter spricht. Abwechslung gehört nun einmal zum Leben. Weltweit möge bald wieder Anstoß sein, der Ausnahmefußballer Messi, fürwahr ein Kleinod, bald erneut auflaufen! MELANCHOLIE Es ist eine Binsenweisheit: »Messias« Messi, dem Experten aufgrund seiner wenig kräfteraubenden Spielweise eine lange Karriere vorhersagen, muss irgendwann dem Alter Tribut zollen. Möge er mit seinem Spielwitz und seinen Finten noch viele Gegner vor unlösbare Aufgaben stellen. Selbst ein vehementer Anhänger seiner Spielkunst wie ich muss sich in einer ehrlichen Stunde eingestehen, er habe, mittlerweile ohne die kongenialen Andrés Iniesta, Neymar und Xavi, den Zenit wohl überschritten. Die bitteren Auswärtsniederlagen in der Champions League 2017 im Achtelfinale (0:4 gegen Paris Saint Germain)23 und im Viertelfinale (0:3 gegen Juventus Turin), 2018 im Viertelfinale (0:3 gegen AS Rom) und 2019 im Halbfinale (0:4 gegen FC Liverpool) 21  Vgl. Tobisa Altschäffl u. a., Jetzt platzt die Transfer-Blase!, in: Sport Bild, 26.03.2020.

sprechen Bände. Seine Spritzigkeit ist schwächer geworden, die Zahl seiner unaufhaltsamen Dribblings zurückgegangen. Hingegen ist die ohnehin unglaublich gute Quote seiner fulminanten Freistöße, die zu Toren führen, in

22  So Wolfgang Sofsky, Eine neue Zeit beginnt, in: Neue Zürcher Zeitung, 24.03.2020.

den letzten Jahren weiter gestiegen. Werde ich noch je ein Spiel mit Messi im Stadion sehen? Vielleicht geschieht dies schneller als erhofft, sollten im Viertelfinale der Champions League der

23  Ein Ausscheiden konnte im Rückspiel mit einem 6:1-Sieg dank Neymar verhindert werden.

FC Barcelona und RB Leipzig aufeinandertreffen. Ein Loyalitätskonflikt wäre für mich – den gebürtigen Leipziger und den Messi-Fan – programmiert. Die Eckhard Jesse  —  »Messias« Messi

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salomonische Lösung: RB Leipzig zieht ins Halbfinale ein, obwohl Messi einen Hattrick fabriziert. Früher oder später kommt der Tag, »an dem wir uns dem Gedanken stellen müssen, wie das Leben ohne ihn auf dem Platz sein wird, ohne den Kleinen. Aber ehe uns die Traurigkeit übermannt, sollten wir uns die Worte des britischen Fußballjournalisten Sion Kuper zu Herzen nehmen: ›Wir leben in den Messi-Jahren, und die beste Art sie zu verbringen, ist, uns jedes einzelne seiner Spiele anzuschauen.‹ Mir kommt auch keine bessere Idee, um das Glück zu verlängern und nicht ständig an den Tag zu denken, an dem Messi seinen letzten Auftritt hat und von der Bühne geht. Dann ist er endgültig unsterblich.«24 Kann es einen besseren Schluss bei einem Text über Messi geben, als den, den Jordi Punti gewählt hat? BARCELONA, 29. APRIL 2017 Die Erinnerung an das zweite von mir im Stadion verfolgte Spiel Messis ist für mich ebenso unvergessen, aber aus ganz anderen, weniger erquicklichen Gründen. Wegen der Teilnahme an der Tagung kann ich am 26. April dem Spiel gegen das mit 7:1 deklassierte Schlusslicht Osasuna im Camp Nou nicht beiwohnen. Ein Lupfer Messis nach Alleingang bringt das frühe 1:0, ein Fernschuss von ihm das 4:1, dann folgt seine Auswechslung. Am 29. April tritt der FC erneut in Barcelona an – und doch auswärts, im Stadion des Lokalrivalen Espanyol Barcelona. Am 16. Oktober 2004 hatte ein »Milchbubengesicht« dort25 sein Debüt in der Primera Division, mit Ronaldhino und Xavi. In einem Hochgeschwindigkeits-Zug legen wir die mehr als 600 km lange Strecke von Madrid nach Barcelona in 2,5 Stunden zurück. Genießt meine Frau, eine Geographin, bei atemberaubender Fahrtgeschwindigkeit den Anblick der an sich eintönigen Gebirgslandschaft, denke ich gleich an drei Spiele mit Messi: an das gesehene, das verpasste und das noch zu sehende. Das Hotel liegt in der Nähe vom Camp Nou, weil derjenige, der es für uns besorgt hatte, irrtümlich von einem Heimspiel für den FC Barcelona ausgegangen war. Dies merken wir erst während der Taxifahrt zum etwa zehn Kilometer südlich vom Camp Nou entfernt liegen RCDE Stadium, außerhalb Barcelonas. Wir sehen einen 3:0-Sieg des FC Barcelona mit einem erneut quicklebendigen Messi und einem noch besser aufgelegten Luis Suarez, während mich der nun nicht mehr gesperrte Neymar mit seiner egoistischen Spielweise enttäuscht. Am Ende zwingt mich ein fanatischer und frustrierter Espanyol-Fan durch allerlei Drohgebärden, meinen Messi-Schal nicht nur abzunehmen, sondern auch so zu verstecken, dass ihn keiner mehr sieht. Ganz anders reagierten

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24  Jordi P ­ unti, S. 181, Herv. i. O. 25  Allerdings spielte Espanyol seinerzeit im Olympiastadion.

Espanyol-Fans in einer Bar vor dem Stadion: Als sie den Messi-Schal sehen, stimmen die Periquitos, so genannt nach ihrem Maskottchen, einem Wellensittich, spontan die Vereinshymne an. Nach dem Spielende gegen 22.40 Uhr gehen wir wohl in eine verkehrte Richtung. Schnell ist es um uns menschenleer, die ständige Suche auf der Straße nach einem Taxi bleibt ebenso erfolglos wie die telefonische Bestellung bei Taxiunternehmen. Als Regen einsetzt, finden wir eine unscheinbare Pizzeria. Von dort lassen wir ein Taxi bestellen, doch es kommt trotz aller Versprechungen keines. Schließlich schließt die Pizzeria, weit nach Mitternacht, und wir stehen bei nasskaltem Wetter einigermaßen hilflos draußen, etwas fröstelnd. Ein junger Kellner aus der Pizzeria, der nur spanisch spricht, erbarmt sich unser. Er werde mit seinem Moped jetzt nach Hause fahren und uns dann mit einem Auto zum Hotel bringen. Und siehe da: Nach dreißig Minuten kreuzt der Hilfsbereite tatsächlich auf, nach weiteren dreißig Minuten, einer kleinen Irrfahrt, sind wir am Hotel. Die Entlohnung verwehrt der Sohn eines Taxifahrers, weil wir von der Taxi-Zunft im Stich gelassen worden seien. Ein Geldgeschenk akzeptiert er nur widerwillig, unser Lob hingegen gerne. Mittlerweile ist es drei Uhr. Um den Zug nach Barcelona wie das Flugzeug nach Deutschland zu erreichen, müssen wir in aller Herrgottsfrühe aufstehen und auf das Hotelfrühstück verzichten. Bei der Taxifahrt zum Bahnhof erfahren wir: Samstagnacht kommen im Großraum Barcelona kaum Taxis zum Einsatz. Gesundheitlich angeschlagen, hüstelnd und niesend, sitzen wir am Sonntag im Flugzeug, das uns nach Berlin bringt, von wo es dann flugs nach Hause geht. Eine heftige Erkältung, ein grippaler Infekt, das scheint klar zu sein, wird mich heimsuchen. So kommt es dann auch. Ich kann soeben noch den Doktorandenkreis – mit einem Messi-Schal, der hier nicht verborgen werden muss, – an den nächsten Tagen leiten. Als danach Bettlägerigkeit für Wochen unausweichlich ist, steht mein erst drei Jahre später umgesetzter Entschluss fest: Ich schreibe – etwas augenzwinkernd – über Freud und Leid mit Messi.

Prof. Dr. Eckhard Jesse, geb. 1948, ist Politik­ wissenschaftler und Extremismusforscher. Der ­leidenschaftliche Fußballfan hatte von 1993 bis 2014 den Lehrstuhl für Politische Systeme und Politische Institutionen an der Technischen ­Universität Chemnitz inne.

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MUHAMMAD ALI ODER: FRAGE NICHT, WAS DU FÜR DEIN LAND, ­SONDERN WAS DU FÜR DEINEN SPORT TUN KANNST Ξ  Sven Güldenpfennig



»Du bist zeitlebens für das verantwortlich,



was du dir vertraut gemacht hast.«



(Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz)

IST BOXEN SPORT? ZUR EINFÜHRUNG Der Sport generell ist eine Form von kulturellem Grenzgängertum zwischen Kunst und Leben. Diese Formel umfasst vier grundsätzliche Aussagen. Erstens: Sport bewegt sich innerhalb der kulturellen Sphäre ästhetisch-schöpferischen Handelns als eine der Künste. Zweitens: Die aktive Teilhabe an dieser Sphäre stellt ihre Protagonist*innen vor qualitativ und quantitativ hohe außeralltägliche Herausforderungen. Drittens: Diese Sphäre wird nach einer Richtung hin verlassen, wenn die sportlichen Herausforderungen an die Akteure so gering und unspezifisch werden, dass sie vom alltäglich-gewöhnlichen Leben nicht mehr prinzipiell zu unterscheiden sind. Viertens: Diese Sphäre wird nach der entgegengesetzten Richtung hin verlassen, wenn die Anforderungen an die Akteure so weit über das sportsinnspezifische Maß hinausgehen, dass die Grenze sowohl zum Ernstkampf mit alltäglicher Gewalt wie zur Todesgefahr überschritten wird. Eine der extremsten Formen dieses sporttypischen Grenzgängertums ist das Boxen. Die besondere – zwischen Begeisterung und Abscheu changierende – Faszination, die es auf breite Menschenmassen wie auf Teile der kulturellen Elite ausübt, ist der Tatsache geschuldet, dass dieser Sport wie kein anderer sphinxhaft die Antwort auf jene Frage verweigert, auf welcher Seite der Grenze er bei der letzten der vier Eigenarten des Sports angesiedelt ist: diesseits oder jenseits der Grenze sowohl zum real-gewaltsamen Ernstkampf wie zur Todesgefahr?1 Boxen kann freilich nur dann Sport sein, wenn sein von dem Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht angesprochener, atavistisch anmutender existentieller Inhalt unter der Führung und Kontrolle der ästhetik-­typischen Form-Inszenierung verbleibt, wenn er eingehegt und am Umschlagen in

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1  Vgl. u. v. a. Norman Mailer, Der Kampf, München 1976; Wolf Wondratschek, Im Dickicht der Fäuste. Vom Boxen, München 2005; Birk Meinhardt, Boxen in Deutschland, Hamburg 1996; Bertolt Brecht, Der Kinnhaken – und andere Box- und Sportgeschichten, hg. von Günter Berg, Frankfurt a. M. 1995; Hans Ulrich Gumbrecht, Warum eine soziologische Analyse die Ästhetik des Boxens verfehlt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.5.2001; ders., Lob des Sports. Frankfurt a. M. 2005.

manifeste Gewalt gehindert wird. Genau dies aber haben manche der »üblichen Verdächtigen« unter den intellektuellen Boxfans wie Brecht oder Hemingway notorisch von sich gewiesen. Anders ihr in Bezug auf die Boxbegeisterung Geistesverwandter Norman Mailer: »Wenn ein Mann im Ring kämpft, bringt er nicht Brutalität zum Ausdruck. Er zeigt eine komplexe, scharfsinnige Natur wie die eines echten Intellektuellen, eines wahren Aristokraten. Mit seinen Fäusten verwandelt ein Pugilist Gewalt in etwas Nobles, Diszipliniertes. Es ist in Wahrheit ein Triumph des Geistes.«2 Wobei die Boxszene mittlerweile nicht mehr darauf beschränkt ist, dass ein Mann im Ring kämpft, denn im Windschatten einiger Pionierinnen hat sich schon längst auch eine weibliche Szene etabliert. Jan Philipp Reemtsma betont in seiner Hommage zum 60. Geburtstag von Muhammad Ali, geboren unter dem Namen Cassius Marcellus Clay, gerade das Gelingen jener Balance, welches erst Alis herausragenden Rang in der Sportwelt begründet habe: Keiner konnte wie er »das simple Szenario zweier Männer, die versuchen, einander zu Boden zu schlagen, in ein atemberaubendes Drama voll Spannung, Eleganz, Mut und Durchhaltekraft verwandeln – und ihm etwas geben, was ich ›Choreographie des Siegens‹ nennen möchte. So wurden seine größten Kämpfe […] wirklich so etwas wie Kunstwerke.«3 2  Zitiert bei Hartmut Scherzer, Wehrlos, willenlos, chancenlos. Boxprofi Arthur Abraham geht im WM-Kampf gegen Carl Froch sang- und klanglos unter, Frankfurter Allgemein Zeitung, 29.11.2010.

Und: »Was an Clay und Ali so sehr faszinierte, war das Anstrengungslose seiner Arbeit – sie war zuallererst ein ästhetisches Phänomen«, wobei »er seinen Sport transzendierte, indem er aus einer gut bezahlten Schlägerei eine Kunst zu machen verstand. Er war Mittelpunkt wie Ziel dieser Kunst, war ihr Erfinder, ihr Narr und ihr Held zugleich.«4 »On Boxing« hat die Schriftstellerin Joyce Carol Oates ihr Ringen um

3  Jan Philipp Reemtsma, Mehr als ein Champion. Eine Hommage an Muhammad Ali, in: Frankfurter Allgemein Zeitung, 17.01.2002

eine angemessene Deutung dieses Kulturphänomens überschrieben.5 Ähnlich wie Reemtsma über den Stil des Boxers Muhammad Ali geschrieben hat und nicht über den Boxer Ali6, so erzählt und reflektiert auch Oates über Boxen und nicht über Boxer, wie dies anders bei den meisten der zahlreichen

4  Jochen Hieber, Ich bin’s, bin Faust, bin keinesgleichen, in: Frankfurter Allgemein Zeitung, 17.01.2002 5  Joyce Carol Oates, Über Boxen. Ein Essay, Zürich 1988. 6  Jan Philipp Reemtsma, Mehr als ein Champion. Über den Stil des Boxers Muhammad Ali, Stuttgart 1995. 7 

Oates, S. 7.

Boxer-Biographien der Fall ist. Und sie bringt dabei genau jene distanzierte Neugier zum Ausdruck, die allein der zivilisatorischen Ambivalenz dieses Kulturmusters angemessen ist und ohne die eine kulturell gehaltvolle Beobachtung sich diesem Phänomen nicht nähern kann: »Jedenfalls finde ich am Boxen nicht im üblichen Sinn des Wortes ›Gefallen‹ […], und für mich ist es kein ›Sport‹.«7 Mit diesem Hinweis, dass für sie Boxen kein Sport sei, unterscheidet sich Oates zugleich von Reemtsma und teilt eher jene Distanzierung, die auch der Extremalpinist Reinhold Messner für sich in Anspruch nimmt, wenn er sagt, er habe sich nie als Sportler definiert: Dessen Selbst- und Naturerkundungen Sven Güldenpfennig  —  Muhammad Ali

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sind in ihrem Grenzgängertum der Selbstherausforderung und Selbsterprobung durchaus Sport, auch wenn er den Aspekt der duellartigen Auseinandersetzung, der auch zum Sportbegriff gehört, sowie insbesondere die mediale und kommerzielle Einbindung des heutigen Profisports für seine Art der Naturbegegnung strikt ablehnt. Umgekehrt kann das Gesamtmuster des extremen Höhenalpinismus selbst nicht als Sport gelten, weil er seine Umweltbedingungen nicht hinreichend beherrschen und deshalb allzu leicht sportwidrig die Grenze zum tödlichen Risiko überschreiten kann.8 In diesem spannungshaltigen, schon in rein sportimmanenter Sicht hoch umstrittenen Umfeld bewegt sich das Thema des vorliegenden Beitrages. Um die auf das sportliche Sinnmuster bezogene Strittigkeit zu illustrieren, sei nur darauf verwiesen, dass ein Martin Luther King dem Boxer Cassius Clay, einem Bruder im bürgerrechtlichen Geiste, die Anerkennung seines boxerischen Engagements verweigerte. Der Fotojournalist Flip Schulke berichtet von seinem vergeblichen Versuch, Clay mit King ins Gespräch zu bringen: »Ich sagte: ›Der Mann ist phantastisch. Ich würde euch beide gern zusammenbringen. Ich glaube, King würde dich mögen.‹ Ich werde das nie vergessen – er war nicht ärgerlich oder so etwas, er war einfach ehrlich. Er sagte: ›Ich bin ein Boxer, und ich will im Augenblick nichts mit der Bürgerrechtsbewegung zu tun haben.‹ Also, er lehnte ein Treffen nicht grundsätzlich ab, aber das nächste Mal, als ich King traf und ihm erzählte, ich hätte gerade eine Geschichte über einen jungen Boxer gemacht, den er treffen sollte, weil vor allem junge Leute ihn schätzten, da sagte er: ›Flip, Boxen ist Gewalt. Egal, wie nett der Typ ist, es ist dennoch Gewalt.‹ Ich kann Kings Standpunkt verstehen – er vertrat die Gewaltlosigkeit und Cassius war ein Boxer.«9 Nicht jedoch die internen Spannungspotentiale dieses extremen Sports – also das darin gebundene destruktive Potential, das King in die Worte »Boxen ist Gewalt« fasste – sollen hier im Mittelpunkt des Interesses stehen. Es soll vielmehr – entsprechend Clays Selbstwahrnehmung »Ich bin ein Boxer, und ich will im Augenblick nichts mit der Bürgerrechtsbewegung zu tun haben« – darum gehen, in welchem politisch-kulturellen Kontext dieser herausragende Protagonist der Boxgeschichte seine Karriere bestritt: Wie hat er sich selbst in diesem Kontext positioniert? Und wie hat er damit »seinen« Sport in und gegenüber seiner Umwelt repräsentiert und dessen Eigensinn behauptet? Cassius Clay alias Muhammad Ali ist aufgrund seiner außergewöhnlichen sportlichen Performance, verbunden mit einem zuvor nicht dagewesenen Stil der Selbstinszenierung und seinem unbeirrten Eintreten für außersportliche Ziele, zu einer der wenigen weltweiten Sportikonen überhaupt aufgestiegen. Er

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8  Zur weiteren Annäherung an das Boxen als die »äußerste Grenzmark« der zivilisierten Welt des Sportreiches vgl. das Kapitel »Über Boxen« in: Sven Güldenpfennig, Sport: Kunst oder Leben? Sportsoziologie als Kulturwissenschaft, Sankt Augustin 1996. 9  Zitiert in Benedikt Taschen (Hg.), Greatest Of All Times. A tribute to Muhammad Ali, Köln 2010, S. 53.

hat das unbedingte Primat für seine Sportkarriere gegen einen starken Anpassungsdruck seiner nationalen Öffentlichkeit behauptet: im Protest zunächst gegen die Diskriminierung der schwarzen Minderheit in den USA , dann im Widerstand gegen die US-Militärpolitik. Dies hat ihm Beeinträchtigungen seiner sportlichen Karriere, zugleich aber den Nimbus des unerschrockenen Kämpfers für seine Sache eingetragen, ihm freilich obendrein erhebliche Zugeständnisse an die politisch-ideologischen Ziele der Black Muslims abgefordert. Insofern hat er sich mit der fragwürdigen Politik zwar nicht seines Staates, wohl aber seiner späteren Glaubensgemeinschaft arrangiert. Dabei ist Ali trotz allem ein unbedingter Vorkämpfer der Idee seines Sports geblieben, dies durch alle Anfechtungen hindurch, denen er aus seiner gesellschaftlichen und politischen Umwelt heraus ausgesetzt war. Zwar ist das für diesen Beitrag titelgebende, John F. Kennedy freihändig entlehnte Motto »Frage nicht danach, was du für dein Land, sondern was du für deine Kunst des Boxsports tun kannst« weder von Ali noch von irgendjemandem explizit formuliert worden. Aber man kann einen solchen Appell, der Kennedys patriotisches Wort in eine ästhetisch-ethische Maxime umwandelt, als die Botschaft schlechthin aus Alis Karriere herauslesen. Im Zweifelsfall (und im Idealbild) steht für Protagonist*innen des Sports die Verpflichtung auf ihre sportlich-kulturelle Mission über allen Versuchen, sie für einen darüber hinausgehenden Dienst an ihrer Nation oder einer anderen außersportlichen Sache, wie auch immer dieser geartet sein möge, heranzuziehen. Diese Maxime wirkte deutlich erkennbar durch alle persönlichen Motive und Rücksichtnahmen hindurch, die selbstverständlich eine Rolle gespielt und die Gradlinigkeit seines Handelns bisweilen belastet haben, vor allem weil er als Minderheiten-Angehöriger dem Staat und einer stark rassistisch geprägten Gesellschaft, mit ihrem Hass auf den »Nigger«, der den »weißen« WM-Thron usurpiert hatte, vieles abtrotzen musste. Der größte Erfolg – und das größte Rätsel – in Alis sportlicher Karriere ist dabei geblieben, dass und wie es ihm gelingen konnte, selbst unbeschadet den Schwergewichts-Boxsport aus dem Tal der Finsternis voll mafiöser Korruption und Gewalt herauszuführen. Angesichts der damaligen Gewaltbereitschaft der weißen Ultras wie der Mafia grenzt es an ein Wunder, dass Ali das Sakrileg seiner hartnäckigen Provokation des weißen Establishments in der Gesellschaft wie insbesondere auch im Boxsport überhaupt überleben konnte. Den Brüdern Jack und Bob Kennedy, seinen gleichermaßen herausragenden politischen Zeitgenossen, ist dies bekanntlich nicht gelungen. Vielleicht war es wirklich die bizarre indirekte Koalition aus zunächst elf wohlhabenden Geschäftsleuten aus seiner Heimatstadt Louisville, die sich in Sven Güldenpfennig  —  Muhammad Ali

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den Kopf gesetzt hatten, durch ihre ökonomische Protektion zu verhindern, dass er in die Hände korrupter und krimineller Manager fiel – und später die Glaubensgemeinschaft der Black Muslims, die schützend ihre Hand dort über ihn hielt, wo seine Faust im Ring nicht hinreichte. EINE AMERIKANISCHE, JA GLOBALE IKONE Eröffnet wird der von Benedikt Taschen in seinem eigenen Verlag herausgegebene Bildband GOAT über das Leben von Muhammad Ali mit einer über mehrere Seiten des Vorspanns sich hinziehenden Darstellung des Lebensmottos Alis: »I’d like to be remembered as a black man who won the heavyweight title and who was humorous und who treated everyone right. As a man who never looked down on those who looked up to him and who helped as many of people as he could – financially and also in their fight for freedom, justice and equality.«10 Es versteht sich von selbst, dass diese Selbstbeschreibung als eine Programmatik zu lesen ist, nicht als eine empirische Beschreibung dessen, was stets und überall in seinem Handeln ungeschmälert Wirklichkeit geworden wäre. Auch auf der Biographie des Menschen Ali liegen manche Schatten, die er allerdings – was die Ernsthaftigkeit seines Selbstanspruches unterstreicht – durchaus selbstkritisch registriert und in vielen späteren Äußerungen entschuldigend zugegeben hat. CASSIUS CLAY IM ALLTÄGLICHEN RASSISMUS DER USA Cassius Clay wuchs in den 1940er Jahren im amerikanischen Louisville/­ Kentucky auf, damals »ein Ort, in dem sich das rassische Kräftespiel von dem im tieferen Süden nur in Nuancen unterschied. Das rigide Kastensystem, das das Leben der schwarzen Menschen in den Südstaaten bestimmte, war ein scheußliches Überbleibsel aus der Sklavenzeit. […] Die Trennung erstreckte sich auf jede Facette des täglichen Lebens.« Aber immerhin: Louisville war »nicht wirklich der tiefe Süden«, »im Louisville des jungen Cassius Clay zeigte sich der Rassismus eher passiv.«11 Dennoch gab es hier »zwei schwarze Männer, die beide auf ihre Weise versuchten, die Rassenschranken zu durchbrechen und frei zu sein«: Cassius Clay Sr., der Schildermaler, der sich zu Höherem berufen fühlte und nebenher Wandmalereien schuf, und Cassius Clay Jr., sein Sohn. »Der erste Clay, der den Satz ›Ich bin der Größte‹ aussprach, war nicht der Sohn, sondern der Vater.« Clay Jr. hingegen war schon seit seinem 12. Lebensjahr »ein Mönch des Boxens. Er wollte kein frustrierter Träumer sein wie sein Vater. Seine Träume sollten wahr werden.«12

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10  Hierzu und im Folgenden Taschen, S. 3 ff. Der Spiegel kommentierte das Erscheinen des Werkes »Greatest of All Times« 2003 mit den Worten: »Dies ist kein Buch, es ist ein Monument aus Papier. Das größenwahnsinnigste Buch der Kulturgeschichte, das größte, schwerste und schillerndste Ding, das je gedruckt wurde.« Thomas Hüetlin, Alis letzter Sieg, in: Der Spiegel, 06.10.2003. 11 

Taschen, S. 38.

12 

Ebd., S. 38.

MÖNCH, MISSIONAR UND RETTER DES BOXSPORTS Cassius Clay lebte asketisch und leidenschaftlich auf sein sportliches Ziel hin – und vollbrachte gleichsam nebenbei nicht weniger als die Auferstehung des Berufsboxens. »Tatsächlich war Boxen in den 50er Jahren tot. Umgebracht von einem giftigen Mafia-Nebel aus Absprachen, Fehlentscheidungen und absichtlich verlorenen Kämpfen. Boxen war hässlich – im Ring und außerhalb.«13 Als 18-jähriger Golden-Gloves-Sieger war Clay Jr. ready for take-off, nachdem er in Rom Olympiasieger im Halbschwergewicht geworden war. Alle seine Talente waren schon da. Er veranstaltete im ganzen Olympischen Dorf ein derartiges Ballyhoo, dass er bald als heimlicher Bürgermeister galt – und schwärmte, vergeblich, für Wilma Rudolph, die »schwarze Gazelle«, 13 

Ebd., S. 39.

14 

Ebd., S. 47.

den Sprintstar dieser Spiele. Aus Rom brachte er das Fazit seiner »Doppel­ karriere« mit: »dass auch das olympische Gold die Rassentrennung im Süden nicht abschafft«14. Trotz aller Hindernisse gab Clay mit dem Beginn Sven Güldenpfennig  —  Muhammad Ali

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seines Aufstiegs das Startsignal für die Renaissance eines respektablen Berufsboxsports. DER INNOVATIVSTE BOXER ALLER ZEITEN Das Fifth Street Gym in Miami Beach erlebte mit dem Einzug von Cassius Clay einen Stil, wie ihn der Boxsport noch nicht gesehen hatte. Der junge Olympiasieger entwickelte sich mit dem Übertritt ins Profilager an denkbar konventionellem Ort zum innovativsten Boxer überhaupt: ein »Nurejew in Boxerhosen«15. Er interpretierte den Faustkampf so, »wie es zuvor keiner konnte und je können wird«16. Reemtsmas bereits zitierte Studie zeigt einen Kämpfer, der in seiner Kampfführung mit bis dahin unbekannten Mitteln der Boxtechnik arbeitete und der zudem über außergewöhnliche Nehmerqualitäten verfügte, die von der scheinbaren Leichtigkeit seines Kampfstils überdeckt wurden und mit zu seinem späteren gesundheitlichen Schicksal beigetragen haben mögen. Der schier unsterbliche Nimbus des Muhammad Ali gründet sich auf ein Gesamtkunstwerk, zusammengesetzt aus überbordendem Talent, herausragender sportlicher Einstellung, Innovationskraft des Künstlers, einer Mischung aus privater Schüchternheit und vermeintlichem Narzissmus, der tatsächlich eher ein schalkhaftes Show- und Selbstinszenierungsvermögen verriet und dessen scheinbarer Aggressivität man stets das Als-Ob, das Augenzwinkern ansah – all dies verbunden mit dem entschiedenen Willen zu glaubwürdig vertretenen humanen Botschaften. DIE GEBURT DES MUHAMMAD ALI – UND WEITERHIN GILT BOXING FIRST In Miami erfolgte auch die Annäherung an die Nation of Islam: »Die Muslims predigten Rassentrennung, schwarzen Stolz, Unabhängigkeit und ein sauberes Leben, was Clay besonders ansprach.«17 Clay, längst über die Enge von Louisville hinausgewachsen und der Erfahrungen des alltäglichen Rassismus überdrüssig, suchte und fand hier eine neue Heimat – und begab sich in die Abhängigkeit dieser Glaubensgemeinschaft, der er fortan ergeben dienen würde, samt deren umgekehrtem Rassismus, den er nicht nur in Kauf nahm, sondern für berechtigt hielt.18 Der religiöse Führer Elijah Muhammad wies ihm 1964 den Namen Muhammad Ali zu. Und sein Boxtrainer Dundee? Der kümmerte sich nicht darum, welche Religion sein Kämpfer hatte, sondern konzentrierte sich auf das, was im Ring passierte, mithin das Wesentliche, auf das er direkten Einfluss nehmen konnte. Auch Ali setzte bei allem erklärten Engagement für außersportliche Belange

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15  Hartmut Scherzer, 2000 Dollar und ein Punktsieg für den »Nurejew in Boxerhosen«. Vor 50 Jahren gab Muhammad Ali sein Debüt als Profi, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.10.2010. 16  Hans-Joachim Leyenberg, Der Gepriesene, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.01.2012. 17  Taschen, S. 52 f. 18  Aus Anlass eines zeitgeschichtlichen Halbjahrhundert-Datums erinnert der Historiker Manfred Berg an die verwandte und politisch ähnlich widersprüchliche Bewegung der Black Panther, in deren Namen die Sprinter John Carlos und Tommie Smith bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexico City ihre spektakuläre Demonstration auf dem Siegerpodest inszenierten; vgl. Manfred Berg, Schwarz, stolz und bewaffnet, in: Die Zeit, 28.11.2019

letztlich stets eine klare Priorität: boxing first, wenngleich nicht unter demütiger Hinnahme aller Bedingungen. Insbesondere zu Beginn wollte er sich noch gänzlich auf den Aufbau seiner Karriere konzentrieren und lehnte deshalb vorerst ein aktives Engagement für die Bürgerrechtsbewegung ab, für das man ihn zu gewinnen versuchte. Er setzte damit ein Zeichen für seine persönlichen Ambitionen ebenso wie für sein Verständnis vom Dienst an seiner kulturellen Mission. Das blieb, durch alles Bohei im ökonomischen, medialen und sportlichen Tagesgeschäft hindurch, auch für die Klarsichtigen unter seinen Gegnern deutlich. DIE ZÄSUR Die Biographie Muhammad Alis gewann – trotz dessen sportlicher Exzellenz, die allein »nur« für einen herausragenden Sportstatus hingereicht hätte – ihre darüber hinausreichende Außergewöhnlichkeit erst infolge einer durch sein Land, durch seinen eigenen Staat mutwillig vom Zaun gebrochenen Zäsur. Erst durch sie wurde der Sportler zu einem Monument. Die aktenkundige Bezeichnung des Prozesses, der von Staats wegen gegen Ali unter der Anklage der Wehrdienstverweigerung angestrengt wurde und mit seiner Verurteilung endete: »The United States of America versus Cassius Marcellus Clay«. Die Standhaftigkeit, mit der er für seine Überzeugung nicht nur die persönlichen Nachteile der Verurteilung hinnahm, sondern seinen gesamten Lebensinhalt in Gestalt der noch vor ihm liegenden sportlichen Karriere in die Waagschale warf, begründete seinen seither unerschütterten Nimbus. Die Verurteilung aufgrund seiner »unamerikanisch-unpatriotischen« Haltung zog den Entzug der Boxlizenz nach sich und schnitt ihn für unbestimmte Zeit – es wurden drei seiner mutmaßlich besten Jahre – von der Möglichkeit ab, seinen WM-Titel zu verteidigen. Dass der dadurch absehbare Bruch in seiner Karriere letztlich nicht eintrat, sondern sich diese Zeit im Nachhinein nur als eine Art Ruhe vor dem Sturm, als erzwungene Atempause für eine Reihe von Sternstunden der Box- und der Sportgeschichte erwies, welche die Sportwelt für Jahre in Atem halten und in Staunen versetzen würden, bestätigte und verstärkte seinen Aufstieg zu einer Art Jahrhundert-Ereignis. Dass – und wie – er zurückkam, glich einer Wiedergeburt, menschlich und sportlich. Alis erster Kampf »danach« gegen Jerry Quarry im Herbst 1970 »war kein gewöhnlicher Kampf, sondern eine Auferstehung« und zugleich eine Deklassierung der nächsten »großen weißen Hoffnung«, des »zweiten Rocky Marciano«19. Ali eröffnete diesen Neuanfang mit – einem Abgesang! »Ich habe genug. Ich möchte der erste schwarze Champion sein, der aufhört, 19 

Taschen, S. 354 f.

ohne verprügelt worden zu sein. Ihr habt euren Spaß mit mir gehabt. Jetzt Sven Güldenpfennig  —  Muhammad Ali

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müssen wir das Spiel zuende spielen. […] Boxen ist für mich nur noch eine Vorstufe, Kinderkram. Der Ruhm, das sogenannte Ansehen, ist nichts im Vergleich zu dem, was ein Mann empfängt, der aufsteht für die Freiheit seiner Leute. Boxen ist nur ein Sport.«20 Aber genau das ist es. Und die Tatsache, dass dies hinreichen kann, um zu einer historischen (Kultur-)Größe heranzuwachsen, zeigt, dass das nichts Geringes bedeuten muss. Alis Boxkarriere enthielt ein solches Anregungspotential, dass Norman Mailer 1971 im Magazin Life aus Alis boxerischen Kunstwerken unter dem Titel »Ego« literarische Kunst machen konnte, Startschuss für ein ganzes Genre. Ali hat schließlich keine seiner beiden Ankündigungen wahrgemacht: Boxen, obwohl nur ein Sport, blieb das treibende Zentrum dieses außerordentlichen Lebenslaufes. Und dessen Protagonist musste sich am viel zu späten Ende seiner Sportbahn durchaus unrühmlich verprügeln lassen – nachdem er zuvor in unvergessliche Ringschlachten verwickelt war, die er nicht mehr allein mit seinem überlegenen Stil hat dominieren können, in denen er sich aber letztlich stets behauptet hatte. Gerade dass er aber jene Ankündigungen nicht wahrgemacht hat, erwies sich als ein Glücksfall für die Sportgeschichte. »DER GEIST DES 20. JAHRHUNDERTS«? Eine Schlüsselpassage, einer der herausragenden unter den zahlreichen Essays, die GOAT neben biographischen Daten, Kampfberichten und Fotos versammelt, ist eine Betrachtung unter dem Titel »Der Geist des 20. Jahrhunderts« von David Remnick, ebenfalls Autor der stilbildenden Ali-Biographie King of the World21. »Ali war sich der historischen Ursprünge seines Sports bewusst«, schreibt Remnick. Und: »Der tiefere Hintergrund des Boxens ist der Unterton Amerikas: die Rasse.«22 Spätestens seit dem fulminanten Auftritt von Jack Johnson zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Schwarz-WeißDuell aus dem Kampf um die Krone des Boxsports nicht mehr wegzudenken.

20  Ebd., S. 348.

Und seit Joe Louis, mit dem Interregnum eines Rocky Marciano, dann aber wieder Floyd Patterson, Sonny Liston und vor allem Muhammad Ali samt seiner grandiosen Kontrahenten und nicht mehr ganz so grandiosen Nachfolger war aus dem Duell ein schwarzes Monopol geworden. Ein Schriftsteller wie Eldridge Cleaver hat eine fulminante Hymne auf die symbolische Bedeutung des ersten Kampfes Muhammad Ali vs. Floyd Patterson als »Rassenkampf« oder gar als »interne Affäre des Negervolkes« geschrieben.23 Die provozierenden Demütigungen durch Ali, die Patterson im Umfeld dieses Kampfes hinnehmen musste, als jener ihn als »schwarze weiße Hoffnung« beschimpfte, hat dieser souverän zurückgewiesen. Und der gereifte

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21  David Remnick, King of the World. Der Aufstieg des Cassius Clay oder Die Geburt des Muhammad Ali, Berlin 2000. Einige, über Remnick hinausführende Beobachtungen finden sich z. B. auch bei Harald Krämer u. Fritz K. Heering, Muhammad Ali, Reinbek bei Hamburg 2001. 22  Ebd. 23  Ebd., S. 241 ff.

Ali selbst hat dem später zugestimmt. Unübersehbar blieben jedoch stets die Versuche, über jenes boxing first hinauszugehen und diesen Sport über sich selbst hinaus und in größere gesellschaftliche Dimensionen zu heben. Für Malcolm X, den Black-Muslim-Führer, von dem Ali sich dann zu seinem späteren Bedauern losgesagt hat, war der Kampf Sonny Liston vs. Cassius Clay »nicht einfach ein Kampf zweier Boxer, sondern […] ein moderner Kreuzzug«.24 Doch scheint entgegen Remnicks Postulat bei genauerem Hinsehen nicht der Rassenkonflikt im Boxsport zum Ausdruck zu kommen, sondern die Emanzipation davon dadurch, dass langsam, aber beharrlich die Macht des sportlichen Eigensinns die Herrschaft in dieser Szene übernimmt. Nicht die gesellschaftliche Akzeptanz bzw. Ablehnung einer jeweiligen Rassenzugehörigkeit und -repräsentanz der Kämpfer entscheiden über ihren Stellenwert in diesem Sport. Sondern immer mehr allein die Überlegenheit der sportlichen Mittel, welche die Kämpfer in das Ringgeschehen einbringen, sowie die Leidenschaft, mit der sie ihre sportlichen Ziele verfolgen. Dass diese Überlegenheit bis zur Zeitenwende von 1989 gleichwohl immer stärker mit schwarzen Boxern verbunden war, signalisiert natürlich auch die mit der rassistischen Diskriminierung verbundenen sozialen und ökonomischen Aufstiegs-Ambitionen gerade von schwarzen Kämpfern, gleichsam deren Fluchtversuche aus dem Getto. Aber dies ändert prinzipiell nichts an der Tatsache, dass sich in diesem Prozess letztlich der Sieg der Kulturidee Sport über die soziale Tatsache der rassischen Diskriminierung ausdrückt. Zur tragischen Seite von Alis neben der Sportlerexistenz gelebten Doppelkarriere als zum islamischen Glauben konvertierter Vorkämpfer gegen die rassische Diskriminierung seiner schwarzen Brüder und Schwestern wird man rechnen müssen, dass ihm bei allem Bewusstsein für die historischen Bedingungen seiner eigenen Rolle offenbar ein wichtiger Zusammenhang stets verborgen geblieben ist: Die historisch zutreffende Lehre seines Meister Elijah Muhammad lautet, »dass Afrika die Heimat des ersten Menschen ist, des schwarzen Menschen, und dass Afrika, von wo die Sklaven gestohlen wurden, eine vielfältige und reiche Geschichte hat.«25 Diese Lehre jedoch enthält nur die halbe Wahrheit. Hinter ihr verbirgt sich, dass das historische Problem der Sklavenfrage nicht nur durch die christlich-abendländischen Abnehmer der lebenden »Güter« des Sklavenhandels erzeugt worden ist, sondern gleichermaßen durch deren Anbieter – und das waren zu wesentlichen Teilen ausgerechnet die historischen Vorgänger seiner neuen Glaubensbrü24  Krämer u. Heering, S., 44 25  Taschen, S. 204.

der, die arabisch-muslimischen Sklavenräuber und -verkäufer auf den großen Sklavenmärkten Afrikas und des Orients. Ein historisches Problem, das seine letzten Ausläufer bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts zeitigt. Sven Güldenpfennig  —  Muhammad Ali

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Remnicks Trotzdem-und-alledem-Fazit lautet: Ali schuf »eine amerikanische Persönlichkeit, ein Original, das stolz, stark, amüsant, überraschend, instinktiv, intelligent, großzügig und sich selbst gegenüber völlig ehrlich war. Und während er zu einem Symbol wurde, blieb er immer zugänglich und menschlich. Muhammad Ali hat sich selbst geschaffen, und er wollte immer seine Freude darüber, was er erreicht hatte, mit anderen teilen.«26 Zusammen mit den Beatles wurde er »Teil der Phantasmagorie der sechziger Jahre«. Man erblickte nach deren Besuch im Gym in ihm »den fünften Beatle, allesamt Parallelspieler in dem großen sozialen Generationsumbruch der amerikanischen Gesellschaft. Das Land befand sich mitten in einer gewaltigen Umwälzung, einem Erdbeben, und dieser Boxer aus Louisville und diese Band aus Liverpool waren ein Teil davon, sogar ihr Anführer, ob sie es schon wussten oder nicht.«27 ZWEI DENKMÄLER AUS WORTEN – ZU LEBZEITEN Einer seiner größten, vielleicht der größte seiner Gegner überhaupt, Smokin’ Joe Frazier, hat Ali ein Denkmal in Worten gesetzt. Abermals zeigt sich, dass der harte Kern des Monuments, das hier in schlichten Worten besungen wird, aus dem flüchtigen Stoff einer Idee gegossen ist: der Sportidee. Mit ihr steht und fällt die gesamte Legende. In einem späten Interview zeigte, ja zelebrierte Frazier noch einmal seinen ganzen Zorn, Ernst und Respekt, die seine Kämpfe gegen diese schier übermächtige Gegnergestalt geprägt haben. »Haben Sie Muhammad Ali gehasst? Aber sicher. Vor unserem ersten Kampf im Madison Square Garden im März 1971 bin ich auf die Knie gefallen und habe den Allmächtigen gebeten, mir die Kraft zu geben, jenen Cassius Clay oder Muhammad Ali aus dem Ring zu schlagen. Zu vernichten. […] Es war kein Kampf. Es war Krieg. […] Nach jeder Runde habe ich Yank Durham in meiner Ecke gefragt: ›Warum steht der noch? Warum fällt er nicht um?‹ […] Hat er Sie mit all dem, was er über Sie sagte, doch mehr getroffen, als Sie damals eingestehen mochten? Machen Sie Scherze? Keine Frage. Er wollte mich provozieren und hat dabei Grenzen überschritten. […] Das hat mich wenig gestört. Ich selbst konnte mit dem üblichen Ali-Mist umgehen. Womit ich nicht umgehen konnte, waren die Folgen für meine Kinder in der Schule. […] Ich wollte kämpfen, nicht quatschen. Ich habe mir deshalb immer wieder gesagt, lass dich nicht von ihm verrückt machen, rechne mit ihm im Ring ab. Glauben Sie mir, es gibt niemanden, den ich so sehr verprügeln – wirklich verprügeln – wollte wie Muhammad Ali. Über all die anderen Gegner habe ich mir keine Gedanken gemacht. Durch die bin ich durchmarschiert wie General Grant durch Richmond. […] War der Triumph über Ali 1971 einer der

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26  Ebd. 27  Ebd., S. 149.

Höhepunkte Ihrer Karriere? Was für eine Frage – natürlich. Es wäre für jeden der Höhepunkt gewesen. Ich bin ein Privilegierter. Ich habe dreimal gegen Ali gekämpft. Gemeinsam haben wir das Geschäft angekurbelt. […] Wir mussten beide schlechte Zeiten durchmachen, Krankheiten, alle möglichen Probleme. Aber wir haben der Welt einige wunderbare Stunden beschert, oder? Und wir gehen gemeinsam in die Boxgeschichte ein. War es da nicht an der Zeit, die Vergangenheit zu vergessen? Ich erinnere mich, dass Muhammad einmal sagte, wir sollten diese Dinge hinter uns lassen. ›Joe, was auch immer geschehen ist, wir sind Blutsbrüder.‹ Ja, das sind wir.«28 Ein zweites verbales Denkmal stammt von einem weiteren Gegner, dem Ali 1974 in einem scheinbar aussichtslosen Gefecht als damals klarer Außenseiter gegenübertrat – und der sich rückblickend doch in geradezu demütiger Geste dem Größeren beugt. Es ist George Foreman. »Herr Foreman, Muhammad Ali leidet am Parkinson-Syndrom […]. Er leidet, ja, aber er kämpft weiter. Für mich ist er ein Held. Und wird es immer bleiben. Tut er Ihnen leid? Nein. Ich bin eifersüchtig auf ihn – wie vor dreißig Jahren. Was für ein Kerl! Ich sehe ihn noch jetzt in Atlanta mit zitternden Händen die olympische Flamme entzünden. Wie kann man einen solchen Mann nicht bewundern. Er hat sich nicht versteckt, sondern sich seiner Krankheit gestellt. Für mich ist er noch immer der größte Sportler, dem ich je begegnet bin. Es gab Zeiten, da haben Sie ihn gehasst. Weil ich so werden wollte wie er und es nicht schaffen konnte. […] Als wir in Afrika gegeneinander antraten, war ich unglaublich fixiert, weil ich mir gesagt habe, sobald du ihn umgehauen hast, übertragen sich der Respekt und die Bewunderung auf dich. […] Hat es Sie eigentlich nie gestört, dass der ›Rumble in the Jungle‹ auch eine Werbeveranstaltung für Mobutus korrupte und repressive Diktatur sein sollte? Ich war da, um zu boxen. […] Ich war in Afrika nur aus einem Grund, und der hieß Muhammad Ali. […] Sind Sie jemals mit dem Gedanken in den Ring gestiegen, Sie würden damit Ihrem Gott dienen, so wie es Ali offenbar verstanden hat, der für Allah auf Mission war? Nein, Gott braucht für sein Werk weder Ringer noch Boxer. Boxen war für mich ein Beruf. Punkt. Ich musste Geld verdienen. […] Wie wichtig ist Muhammad Ali in Ihrem Leben? Muhammad Ali ist Teil meines Lebens geworden. […] Eine Welt mit ihm ist eine bessere Welt.«29 »Boxen war für mich ein Beruf. Punkt.«, und: »Ich war in Zaire, um zu boxen.« – ist das nicht zu wenig angesichts des allfälligen Elends und der zahllosen menschengemachten Übel in der Welt? Nein, es ist sehr viel, weil 28  Taschen, S. 586 f. 29  Ebd., S. 588 f.

es trotz alledem stattfindet. Gespräche wie diese mit den früheren Champions singen bei aller Schlichtheit ihrer Aussagen zugleich eine pathetische Ode auf die Phantasie und die fein verästelte Dramaturgie von Boxkämpfen Sven Güldenpfennig  —  Muhammad Ali

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als gelingenden Aufführungen der Sportidee. Und man darf über Foremans persönlich gemeinte Hommage an Ali hinaus sagen: Eine Welt mit einer gelingenden Umsetzung der Sportidee, so wie mit allen gelingenden Kulturgütern, ermöglicht durch herausragende Schöpfer*innen und Repräsentant*innen dieser Ideen, ist eine bessere Welt. Jedenfalls hat Ali ungemein viel für sein Land getan, indem er unbeirrt seinen sportlichen Weg ging – und darüber hinaus nicht etwa dort, wo sein Staat ihn später zu ungelenken diplomatischen Missionen in die Welt sandte, sondern gerade dann, wenn er diesem Staat energisch widersprach, wo dieser im Unrecht war. WAS LEHRT DAS BEISPIEL MUHAMMAD ALI? IN WELCHEM KONTEXT STEHT ES? In diesem Text wird der exemplarische Fall eines Sportlers vergegenwärtigt, welcher die gesellschaftliche Bedeutung seines Sports, ja des Sports überhaupt, demonstriert. Diese Bedeutung besteht vor allem anderen darin, dass Sport als Kulturgut, als ästhetisch-schöpferische Errungenschaft durch permanente Neuschöpfung in praktischen Ereignissen erhalten wird. Sie besteht nicht primär darin, dass sie für etwas anderes stehen als sich selbst, sondern dass sie sich gegen alle gesellschaftlichen Versuche behaupten – seien sie konstruktiv oder destruktiv gemeint –, sich ihrer zu bemächtigen, sie für außerhalb ihrer selbst liegende Ziele zu vereinnahmen und sie dadurch in der Geltung und der Ausstrahlung ihres Eigenwertes zu beeinträchtigen. Das gelingt nur dann, wenn Menschen bereit und in der Lage sind, ihr Talent und ihre ganze Kraft in die Hervorbringung des Ausnahmezustandes zu investieren, den solche kulturellen Schöpfungen bedeuten; und nur insofern, als sie ihre Berufung für diese Mission über alle anderen Rücksichtnahmen stellen, soweit dies mit den allgemein in der menschlichen Welt geltenden moralischen Normen vereinbar ist.30 Das heißt auch: In ihrer kulturellen Mission sind sie den Imperativen dieser Kultursphäre des Sports mehr verpflichtet als außersportlichen Imperativen, die ihnen ihr Staat oder die Gemeinschaft ihrer kommunalen, regionalen und nationalen Zugehörigkeit aufzuerlegen versuchen. Muhammad Ali wird hier vorgestellt als eine Gestalt der SportZeitgeschichte, an der sich diese Konstellation beispielhaft studieren lässt. Sein Beispiel belegt eine meist übersehene Tatsache: Es gibt eine innere Widerständigkeit von kulturellen Gütern gegen externe, aus der gesellschaftlichen Umwelt kommende, mit dem Eigensinn dieser Kulturgüter nicht vereinbare Zumutungen. Der Sport zählt zur Familie dieser Kulturgüter, die man mit guten Gründen im engeren Sinne zu den Künsten zählen kann.31 Diese

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30  Vgl. Sven Güldenpfennig, Auf’m Platz – und daneben. Das sportliche Kunstwerk im Ringen mit seinen Umwelten. Sankt Augustin 2011, S. 376. 31  Vgl. ebd., S. 365–377.

innere Widerständigkeit ist nicht gleichbedeutend mit manifestem politischem Widerstand gegen herrschendes Unrecht, ist aber zugleich keinesfalls unbedeutend. Sie wird gespeist aus der Treue der Verantwortungsträger*innen in einem jeweiligen Kulturbereich zu »ihrer« Sache und verweigert sich, sperrt sich gegen offene Kollaboration mit dem Unrecht. Immanente Widerständigkeit und manifester Widerstand sind zwei unterschiedliche Formen des Widerspruchs gegen ungerechte, gewaltsame und insofern inhumane gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen. Politischer Widerstand richtet sich direkt gegen personelle oder institutionelle Träger der Ungerechtigkeit. Kulturelle Widerständigkeit bedeutet die (Selbst-) Verteidigung des Eigensinns partikularer Sinnfelder gegen den totalisierenden und nivellierenden Übergriff des politischen Systems auf die Kultursphäre. Die erste Haltung ist heroischer, getragen von der Hoffnung auf kurzfristige Erzwingung des gewünschten Ziels, begibt sich jedoch in die Gefahr, auf dieselbe Ebene der Respektsverweigerung gegenüber dem kulturellen Eigensinn wie die bekämpften Unterdrücker zu geraten. Die zweite Haltung ist zaghafter und kompromittierender, denn sie scheint sich mit der unterdrückenden Gewalt und mit ihrer eigenen Machtschwäche zu arrangieren. Aber sie kann unter Umständen den Eigensinn (und damit indirekt auch die unterdrückten Menschen, in deren Dienst die Behauptung dieses Eigensinns steht) glaubwürdiger verteidigen als seinerseits gewaltsamer und auf die politische Dimension verengter Widerstand. Immer noch gilt Saint-Exupérys Satz: Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Harald Martenstein hat in seiner Rezeption festgehalten: »Von allen Sätzen im Kleinen Prinzen mag ich diesen Satz am meisten und verteidige ihn am ehesten. Ich finde, es ist ein Satz gegen moderne Wegwerfbeziehungen und, nun ja, eben für Verantwortung. […] Was mich an diesem Satz stört, ist nicht das Utopische, sondern das Unbedingte. Es geht von einer heilen Welt aus, in der nichts geschehen kann, was jede Verpflichtung – und zwar jede – zunichtemacht.«32 Dies Letztgenannte aber ist zugleich das, was die Verantwortung für den Eigensinn einer Sache von der Verantwortung für die Beziehung zu einem individuellen Menschen – worauf jener Satz ursprünglich gemünzt ist – unterscheidet: Die Beziehung zu einer individuellen Person kann zerbrechen, die Verantwortung für die Erhaltung des Eigensinns der kulturellen Errungenschaften der Menschheit nicht. 32  Vgl. Harald Martenstein, Das Evangelium nach Saint-Exupéry. Zum großen Buch der guten Vorsätze – dem Jahrhundertwerk »Der kleine Prinz«, in: Die Zeit, 29.12.2011.

Legte man einen Maßstab zugrunde, nach dem jene »schiefe Schlachtordnung« gilt – dass individuelle Kulturschaffende und nicht ein politisch schlagkräftiges, ebenbürtiges Kollektiv als Gegenmacht einer gesellschaftspolitischstaatlichen Herrschaftsordnung und »Volksgemeinschaft« gegenüberstehen Sven Güldenpfennig  —  Muhammad Ali

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und ihr Handeln gegenüber deren Übermacht rechtfertigen müssen –, so müsste ein solches Verfahren eine radikale Revision der gesamten Kulturgeschichte nach sich ziehen. Denn nahezu alle kulturellen Schöpfungen und Errungenschaften, die einen über den Tag hinausreichenden Wert und Bestand aufweisen, sind durch Künstler*innen unter politischen Herrschaftsbedingungen entstanden, die vor dem Gericht einer republikanisch-humanen politischen Moral nicht bestehen können. Man müsste die Werke Goethes einstampfen, die Partituren Mozarts verbrennen, die Schlösser in Versailles, an der Loire und überall schleifen. Denn sie alle sind maßgeblich gerade wegen der politischen Intentionen und Umstände fragwürdiger Herrschaften entstanden. Weiter gedacht und anders gefragt: Wie hätte das Weltkulturerbe der Menschheit bis heute überleben können, wenn stets die folgende Zeit nach ihren Maßstäben der politischen Korrektheit die politischen Umstände der Entstehung ihrer Güter bewertet (und gegebenenfalls verurteilt) hätte? Oder wenn die Künstler schon selbst aufgrund der Umstände auf die Schöpfung ihrer Werke verzichtet hätten? Sprich: Sind Kunsthistoriker und Kunstkritiker – und die Künstler*innen selbst! – zum Zensor und Scharfrichter in einem politischen Prozess gegen ästhetische Werke bestellt? Wäre überhaupt irgendetwas von ihnen auf uns gekommen, wenn stets die Taliban, die Komintern oder die Reichskulturkammer der Weltgeschichte nach religiösen, politischen oder rassistischen Maßstäben über das Existenzrecht von auch ästhetischen religiösen Werken wie den Statuen von Bamijan und der Oasenstadt Palmyra, den »volksfremden« Kompositionen eines Dmitri Schostakowitsch oder den »entarteten« Bildern jüdischer Künstler hätten urteilen und sie in Akten des Kulturfrevels ächten und zerstören dürfen? Wie man weiß, ist dies allzu oft tatsächlich geschehen!33 Ist nicht das Welterbekomitee der UNESCO geschaffen worden, um diese historisch überkommene Praxis des

Kulturbanausentums so weit wie möglich für alle Zukunft auszuschließen? Nun mag man einwenden: Wie bitte – Boxkämpfe, Autorennen, Film­ komödien, Operetten-Aufführungen als ästhetische Werke?! Gar als legitime, ja konstitutive und deshalb schützenswerte Teile des Weltkulturerbes? Die Antwort muss lauten: Selbstverständlich, wenn auch nicht unbedingt gleich auf Weltniveau. Auch immaterielle und entsprechend flüchtige, auch »nur« an die Performance hochtrainierter Körper gebundene Künste – sei es im Konzertsaal, auf der Ballettbühne oder im Boxring – können hochrangige kulturelle Errungenschaften sein. Und zwar immer dann, wenn ihre Entstehung tatsächlich dem Eigensinn des jeweiligen Sinnfeldes und hohen ästhetischen Maßstäben gerecht werden.

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33  Vgl. Gary Schwartz, Denn alle Kunst will Ewigkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.08.1996; Alexander Demanst, Vandalismus. Gewalt gegen Kultur, Berlin 1997.

Legt man solche Grundsätze und Maßstäbe an, so kann es für den Umgang mit unserem Thema eigentlich nur einen zweigleisigen Weg geben: als ersten Schritt Respekt, Anerkennung kritische Würdigung unter ästhetischen Kriterien für herausragende und daher förderungswürdige und bewahrenswerte ästhetische Leistungen und Werke ebenso wie für deren Schöpfer*innen; und als zweiten Schritt kritische Würdigung der Haltung der Schöpfer*innen dieser Werke unter politischen und allgemeinmoralischen Kriterien. Erst durch die gestufte Gemeinsamkeit dieser beiden unterschiedlichen und daher getrennt zu gehenden Schritte kann es, anstelle reflexhaft-simplifizierender Parteinahmen und geschichtspolitischer Urteilssprüche, eine zugleich gehaltvolle und pragmatisch handhabbare Urteilsbildung über ästhetische Schöpfungsprozesse und damit befasste Menschen geben. Vor allem anderen steht der hier vorgestellte Muhammad Ali des Sportes als ein globales Kulturgut für die richtungweisende Bedeutung ebenjenes Weges, der bestimmt ist von der Maxime: Frage nicht, was du für dein Land, 34  Geradezu ein Musterbeispiel für diesen defizitären Diskurs-Modus wird erörtert bei Sven Güldenpfennig, Weltsport in der Weltpolitik. Über die Autonomie und Abhängigkeit des Sports, Hildesheim 2015, hier S. 257–312.

sondern was du für deinen Sport tun kannst! Damit werden Sportlerinnen und Sportler, wenn ihr sportliches Handeln sinngerecht ausfällt, dann zusätzlich auch Ehre für ihr Land erringen können – nicht weil sie vielleicht Medaillen und Titel »für ihr Land« gewonnen, sondern weil sie in seinem Namen demonstriert haben, dass ihr Land danach strebt, seinen Beitrag zur Ent­w icklung der Weltkultur zu leisten. Nicht zuletzt lässt sich an Muhammad Alis Werdegang zeigen, wie ertragreich es sein kann, die Beobachtung und Beurteilung kulturpolitischer Ereignisse theoretisch anders zu modellieren als die allgemeinpolitischer Vorkommnisse. Diese Unterscheidung erst eröffnet einen aufschlussreichen Zugang zu den realen Handlungsbedingungen auch auf den Feldern der Sportpolitik

Dr. phil. habil. Sven Güldenpfennig, geboren 1943, ist Sport und Kulturwissenschaftler. Nach Promotion und Habilitation vielfältige Lehrstuhlvertretungen und Gastprofessuren u.a. an der FU und HU Berlin und an der Deutschen Sporthochschule Köln und 1997 bis 2002 Wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Olympischen Instituts in Berlin. Seit 1970 zahlreiche Buch- und Zeitschriftenpublikationen, u.a. in der eigenen Schriftenreihe »Sport als Kultur. Studien zum Sinn des Sports«. Seit 2014 im Ruhestand und u.a. Schulbegleiter für behinderte Kinder bei Regens ­Wagner  Pfaffenhofen.

sowie zu einer fairen Kritik an der Art, wie Verantwortungsträger*innen in diesem Feld die durch diese Bedingungen gesetzten Grenzen für eine humane Verteidigung »ihrer Sache« tatsächlich verdienstvoll ausgeschöpft haben oder dabei eben kritikwürdig unter den gegebenen Möglichkeiten geblieben sind. Der sportpolitische Diskurs verirrt sich in einer analytischen und pragmatischen Sackgasse immer dann, wenn er – und dies ist beklagenswert häufig der Fall –, in dem armselig unterkomplexen Modus »Enthüllung besiegt Aufklärung«34 geführt wird, statt jene »Kultur der Unterscheidung« hochzuhalten. Die nicht selten anzutreffende Unterstellung, die Ansprüche kultureller Anliegen seien gegenüber handfesten materiellen Interessen im Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein nachrangiger und im Konfliktfall zu vernachlässigender Luxus – und erst recht das hier erörterte Thema betreffe dementsprechend ja »nur Sport« –, ist nicht haltbar. Sven Güldenpfennig  —  Muhammad Ali

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PERSPEKTIVEN

ANALYSE

KOMMUNIKATION, ­ÖFFENTLICHKEIT UND RECHT IM ZEITALTER VON TWEETS UND LIKES SOZIALE MEDIEN ALS GEFAHR FÜR UNSERE ­DEMOKRATIE? Ξ  Deniz Ertin In der Bundesrepublik Deutschland haben wir im letzten Jahr gleich mehrere Jubiläen unserer Demokratie gefeiert. Im Jahr 2019 bestand das Frauenwahlrecht bereits seit hundert Jahren, unser Grundgesetz seit siebzig Jahren und zum dreißigsten Mal durften wir die Wiedervereinigung und damit den Zusammenschluss zweier Staaten zu einem gemeinsamen Rechtsrahmen feiern. Ein solcher Blick in die Vergangenheit lässt unsere Demokratie gefestigt und den Rechtsstaat stabil wirken. Doch schauen wir uns die vielen neuen Herausforderungen an, die vor uns liegen und die Demokratie womöglich bedrohen, dann müssen wir uns eingestehen, dass demokratische Recht­staaten nicht einfach implementiert werden und dann ohne eine Anpassung an die globalen und gesellschaftlichen Veränderungen weiterbestehen können, sondern das Recht ständig reformiert und verbessert werden muss. Dies ist und war eigentlich die Aufgabe der Politik – doch, wie im Folgenden ausgeführt werden soll, hat sie diese Aufgabe in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht adäquat wahrgenommen. Die neuen Medien, die Digitalisierung und allen voran die mit dem Schlagwort Globalisierung erfassten Entwicklungen zeigen immer klarer, dass zwischen den Nationalstaaten immer mehr Interdependenzen entstehen, welche nationales Recht aushebeln oder gar ad absurdum führen können. Das heutige Informations- und Internetzeitalter, das eine Flut von Informationen und Daten mit sich bringt, und die Sozialen Medien, die viele neue Online-Unternehmensformen hervorbringen, fordern den Rechtsstaat täglich mit neuen

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Produkten und Innovationen heraus. Darüber hinaus wirken diese Herausforderungen auch auf die Gesellschaft, verändern und prägen diese. So befindet sich die Gesellschaft stetig im Wandel, wie dies bereits in unterschiedlichen Studien für viele Bereiche des sozialen Lebens erforscht wurde.1 Die Sozialen Medien können dabei Plattformen, Netzwerke oder für den Einzelnen einfach nur eine Form der Kommunikation darstellen, welche jedoch in einem neuen, parallelen und virtuellen öffentlichen Raum stattfindet. Der vorliegende Beitrag möchte die Herausforderungen für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat am Beispiel der Sozialen Medien exemplifizieren. Dabei soll herausgestellt werden, welche Bedrohungen aus einem Mangel an Regulierung resultieren, aber auch welche Chancen eine Regulierung des Internets und der Sozialen Medien für die Menschen und die Demokratie bringen könnten. Im Fokus der Analyse stehen die Kommunikation, die neue Öffentlichkeit, die rechtlichen Aspekte, aber vor allem die Bedeutung und Gefahren der Sozialen Medien für unsere Demokratie. SOZIALE MEDIEN UND KOMMUNIKATION Die Sozialen Medien von Facebook, YouTube über Twitter bis hin zu Whats­ App und Snapchat haben die Kommunikation unseres Zeitalters stark verändert.2 So wurden Influencer und neue Filmformate durch YouTube vermarktet, politische Kampagnen mit Facebook gestartet und der erste Twitter-Präsident geboren.3 Sicherlich erfreuen sich viele an den Bildern und Videos von Freunden und Bekannten oder fühlen sich besser und schneller informiert als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Manchmal kommt es dank Facebook sogar zu Familienzusammenführungen oder ähnlichem. Manch kleine Bürgerinitiative, weltweit agierende Nicht-Regierungsorganisation ( NGO) oder politische Partei konnte erst durch intelligente Kampagnen­führung mittels Sozialer Medien Erfolge erzielen, alte sowie verkrustete Strukturen des politischen Systems aufbrechen und sich Gehör verschaffen. In Deutschland konnten so z. B. Organisationen wie Campact, LobbyControl und Mehr Demokratie ihre Mitglieder und ihr Protestpotenzial deutlich ausweiten und so zu einer Mehrung demokratischer Partizipation in diesem Land beitragen. Auch in den USA gab es ähnliche zivil­ gesellschaftliche Entwicklungen durch neue Organisationen wie AVAAZ.org oder ONE , die erst durch die Sozialen Medien groß geworden sind. Bereits bekannte Zivilgesellschaftliche Organisationen (ZGO) wie Human Rights Watch, Greenpeace oder die Gates Foundation konnten ihre Bekanntheit durch die Sozialen Medien steigern und so zur Entwicklung einer globalen Online-Zivilgesellschaft beitragen.4

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Perspektiven — Analyse

1  Vgl. Achim Bühl, Die virtuelle Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Sozialer Wandel im digitalen Zeitalter, Wiesbaden 2002; Samuel P. Huntington, Political Order in Changing Societies, New Haven 2006; Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977; Ders. u. Christian Welzel, Modernization, Cultural Change, and Democracy. The Human Development Sequence, Cambridge 2005; Joachim Matthes (Hg.), Verhandlungen des 19. Deutschen Soziologentages. Berlin 1979, Frankfurt a. M. 1979. 2  Vgl. Joshua A. Tucker u. a., From Liberation to Turmoil: Social Media And Democracy, in: Journal of Democracy, Jg. 28 (2017), H. 4, S. 46–59, hier S. 48. 3  Vgl. Anne Whitesell, Interest groups and social media in the age of the Twitter president, in: Politics, Groups, and Identities, 06.09.2018, S. 1–12, hier S. 1, URL: https:// doi.org/10.1080/21565503.201 8.1518785, abgedruckt in: Ebd. Jg. 7 (2019), H. 1, S. 219–230. 4  Eine Rangliste der Likes und Follower der einzelnen ZGO ist zu finden unter TopNonprofits, Top Nonprofits on Social Media, URL: https://topnonprofits.com/lists/ top-nonprofits-on-social-media/ [eingesehen am 05.01.2019].

Doch trotz all dieser Vorteile Sozialer Medien: Die Geschwindigkeit der Kommunikation wird durch das Internet und die Sozialen Medien immer schneller, die Informationen werden zugleich immer verkürzter dargestellt.5 Sowohl die Kommunikation als auch die Informationen verbreiten sich dank Sozialer Medien schneller als manchem lieb ist und schneller als diese Informationen überprüft werden können. Die User liken oder teilen dabei immer häufiger Falschinformationen, so genannte Fake News, da Informationen weniger kritisch reflektiert oder Quellen nicht hinterfragt werden können. Auch werden Falschinformationen immer professioneller aufbereitet und täuschend echt als Nachrichteninformation getarnt an das ganze Netzwerk geteilt, sodass es teilweise nur noch Journalisten und fortgeschrittenen Usern gelingt, manche dieser Fehlinformationen zu enttarnen. Um diesem Problem Einhalt zu gebieten, bräuchte es vor allem mehr medienpädagogische Bildung sowohl für Kinder und Jugendliche in der Schule als auch für Erwachsene durch gezielte Angebote in der Erwachsenenbildung. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, aber auch der Journalismus allgemein müssten sich zudem vermehrt daran beteiligen, gezielt Aufklärung über den Missbrauch von Sozialen Medien zu schaffen und Fake News und unkritische Kommentare im Netz kollektiv zu demaskieren. Dies würde auch helfen, die Glaubwürdigkeit des Qualitätsjournalismus zu untermauern und Menschen davon abzubringen, sich nur noch über Soziale Medien zu informieren. Eine Kennzeichnungspflicht, die über den Unter5  Vgl. Marcel Bernet, Social Media in der Medienarbeit. Online-PR im Zeitalter von Google, Facebook und Co, Wiesbaden 2010, S. 9. 6  Vgl. Leonhard Dobusch, Die Aufgabe öffentlich-rechtlicher Medien im digitalen Zeitalter, in: www.boell.de, 23.11.2018, URL: https://www. boell.de/de/2018/11/23/dieaufgabe-oeffentlich-rechtlichermedien-im-digitalen-zeitalter [eingesehen am 06.04.2020]. 7  Vgl. Beate Frees u. Wolfgang Koch, ARD/ZDF-Onlinestudie 2018: Zuwachs bei medialer Internetnutzung und Kommunikation, in: Media Perspektiven, H. 9/2018, S. 398–413. 8  Vgl. ebd. S. 409.

schied zwischen persönlicher Meinung und verifizierter Quelle mit Nachrichtengehalt aufklärt, wäre eine weitere Möglichkeit, der Fake-News-Epidemie entgegenzutreten. Hier bedarf es dringend innovativer Konzepte aus der Politik, welche gemeinsam mit den unterschiedlichen MedienvertreterInnen und der Zivilgesellschaft entwickelt werden müssten. SOZIALE MEDIEN UND ÖFFENTLICHKEIT Die demokratischer Entscheidungsfindung zugrunde liegenden Debatten bedürfen einer in allen Bereichen gleichberechtigten medialen Öffentlichkeit. Daher stellt sich die Frage, wodurch und wie diese mediale Öffentlichkeit in der heutigen Medienwelt dargestellt wird.6 Der Blick auf die Zahlen der aktuellen ARD/ZDF-Onlinestudie von 2018 offenbart einen deutlichen Zuwachs bei der medialen Internetnutzung und Kommunikation.7 Beispielsweise nutzen 31 Prozent der gesamten Bevölkerung mindestens einmal wöchentlich das Soziale Medium Facebook.8 Das klingt erstmal überschaubar, differiert aber stark nach Altersgruppen. So ist die wöchentliche Nutzungszeit von Facebook bei den 20- bis 29-Jäh­r igen

Deniz Ertin  —  Kommunikation, Öffentlichkeit und Recht im Zeitalter von Tweets und Likes

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mit 63 Prozent am höchsten und macht deutlich, welches Potenzial dieses Medium zum Beispiel bei JungwählerInnen hat. Neben Facebook sind aber auch weitere Soziale Medien wie Instagram mit 50 Prozent und Twitter mit 36 Prozent bei jener Altersgruppe sehr beliebt. Die Sozialen Medien haben demnach, zumindest für manche Altersgruppen, einen neuen öffentlichen Raum für den politischen Diskurs, somit aber auch eine neue segregierte mediale Öffentlichkeit geschaffen, die den intergenerationalen Diskurs deutlich erschwert. Die Form der Kommunikation, die im Netz und in den Sozialen Medien verwendet wird, ist unverbindlich und oft unkontrolliert. Posts, Tweets oder auch nur Likes können trotzdem eine große Reichweite erhalten und somit als Formen »neuer medialer Öffentlichkeit« verstanden werden.9 Aus dieser medialen Öffentlichkeit kann ein neues Instrument der politischen Partizipation erwachsen, das Millionen von Menschen miteinander verbindet und ihnen eine Stimme gibt. Seit den Anfängen des Internets haben von diesen Formen der politischen Partizipation vor allem soziale Bewegungen profitiert.10 Mithin: Die neue mediale Öffentlichkeit durch Facebook und Twitter hat der Protest- und Demokratiebewegung international Auftrieb gegeben.11 Gleichzeitig kann sie aber auch als ein Werkzeug für anti-demokratische Bewegungen und rechtsradikale Hetze genutzt werden. Das Internet hat im Laufe seiner Entwicklung Muster ausgebildet, die eine echte und egalitäre Öffentlichkeit unterminieren. Nach einer ersten Phase der demokratischen und privaten Nutzung von Foren, Chatrooms und Netzwerken wurden diese zunehmend privatisiert, kommerzialisiert und damit entdemokratisiert. Ähnliches lässt sich bei den Sozialen Medien beobachten, die erst nur privat, dann aber sehr schnell vermehrt auch professionell genutzt wurden, was zu einer Kommerzialisierung dieser das gesellschaftliche Gemeinwohl im Namen tragenden Plattformen führte. Diese Kommerzialisierung der Sozialen Medien ermöglicht es, für zahlungsfreudige Kunden Werbung zu schalten, Beiträge für eine große Zielgruppe sichtbar zu machen oder eben

9  Vgl. Cheris A. Carpenter, The Obamachine: Technopolitics 2.0, in: Journal of Information Technology & Politics, Jg. 7 (2010), H. 2–3, S. 216–225, hier S. 221.

auch private und politische Kommunikation ins Abseits zu drängen. Die Entwicklungen und Innovationen des Internets scheinen zudem keine Grenzen zu kennen. So werden vermehrt sogenannte Social Bots – automatisierte Programme für Soziale Medien wie Twitter und Facebook – auf den Sozialen Plattformen eingesetzt, die menschliches Kommunikationsverhalten imitieren und so auch Verhalten, Meinungen und Wahlen beeinflussen können. Mit den ausgewerteten Daten können Social Bots Kunden, aber auch Wählerinnen und Wähler, besser finden und deren Bedürfnisse und Interessen stimulieren.

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Perspektiven — Analyse

10  Vgl. Wim van de Donk u. a. (Hg.), Cyberprotest. New Media, Citizens and Social Movements, London 2004. 11  Vgl. ZeynepTufekci u. Christopher Wilson, Social Media and the Decision to Participate in Political Protest: Observations From Tahrir Square, in: Journal of Communication, Jg. 62 (2012), H. 2, S. 363–379, hier S. 375.

Die datenrechtswidrige Analyse von solchen sensiblen persönlichen Daten, die Datenprofile erstellt und nach Zielgruppen sortiert, kann neben der Werbung auch für eine Platzierung von vorsätzlichen Falschmeldungen sorgen. Diese Täuschungsmanöver von Social Bots können die Zustimmung zu bestimmten politischen Lagern befördern, damit die Meinungsbildung manipulieren und die Abbildung einer echten Öffentlichkeit konterkarieren. Programme, denen es möglich ist, millionenfach Daten von Facebook-­ 12  Vgl. Caja Thimm, Digitale Demokratie, in: Böll.Thema, H. 1/2018, S. 18–19, hier S. 18. 13  Vgl. Marko Skoric u. a., Social media and citizen engagement: A meta-analytic review, in: New Media & Society, Jg. 18 (2016), H. 9, S. 1817–1839; Sebastián Valenzuela, Unpacking the Use of Social Media for Protest Behavior: The Roles of Information, Opinion Expression, and Activism, in: American Behavioral Scientist, Jg. 57 (2013), H. 7, S. 920–942.

NutzerInnen auszuwerten, können schwere Schäden für die Marktwirtschaft und den demokratisch verfassten Staat bewirken, da sie Meinungsbilder verzerren und manipulieren. Demnach darf bezweifelt werden, dass sich ohne eine angemessene Regulierung der Sozialen Medien die erhofften positiven Effekte für eine »neue mediale Öffentlichkeit« entfalten. Vielmehr ist mit neuen Problemen und Herausforderungen für den Gesetzgeber und die Öffentlichkeit zu rechnen. SOZIALE MEDIEN UND DEMOKRATIE Die Sozialen Medien besitzen generell das Potenzial, durch die digitale Partizipation und Vernetzung das politische Handeln zu beeinflussen.12 Einige Studien haben sich daher mit den Effekten der Sozialen Medien auf die poli-

14  Vgl. Marija Anna Bekafigo u. Allan McBride, Who Tweets About Politics?, in: Social Science Computer Review, Jg. 31 (2013), H. 5, S. 625–643; Shelley Boulianne, Does Internet Use Affect Engagement? A Meta-Analysis of Research, in: Political Communication, Jg. 26 (2009), H. 2, S. 193–211; Kay L. Schlozman u. a., Unheavenly Chorus: Unequal Political Voice and the Broken Promise of American Democracy, Princeton 2013.

tische Beteiligung beschäftigt. Dabei kommen nicht wenige zu dem Ergebnis, dass Soziale Medien einen positiven Effekt auf die politische Beteiligung haben.13 Eine Reihe anderer Studien kommt hingegen zu dem Ergebnis, dass Soziale Medien nur die gesellschaftlichen Strukturen replizieren und verfestigen; denn vor allem diejenigen mit einem höheren sozioökonomischen Status würden sich an den politischen Diskursen in den Sozialen Medien beteiligen.14 Spätestens während des Arabischen Frühlings im Jahr 2010 zeigte sich das Potential von Sozialen Medien für Revolutionen und demokratische Transformationsprozesse. In Tunesien konnten beispielsweise erst durch die Sozialen Medien die unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen kommunikativ mit-

15  Vgl. Anita Breuer, The Role of Social Media in Mobilizing Political Protest. Evidence from the Tunisian, Discussion Paper 10/2012, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Bonn 2012, S. 25, Tufekci u. Wilson, S. 375. 16  Vgl. Albrecht Hofheinz, Soziale Medien im Arabischen Frühling, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Der Arabische Frühling. Hintergründe und Analysen, Wiesbaden 2013, S. 117–126, hier S. 125.

einander verbunden werden, was eine Solidarisierung und eine massenhafte Protestbewegung, die von allen Schichten getragen wurde, erst ermöglichte.15 Auch in Ägypten und anderen arabischen Staaten war es die junge Generation, welche durch die Sozialen Medien den Protest herbeiführten.16 Selbst wenn dieser Protest nicht überall zu einem nachhaltigen, demokratischen Transformationsprozess geführt haben mag, liefern die Effekte der Sozialen Medien bei der Arabellion trotzdem erste Belege für Möglichkeiten, autokratische Staaten und Diktaturen durch Soziale Medien zu Fall zu bringen. Diese positiven Effekte von Sozialen Medien auf politische Prozesse wurden wiederum durch die Massenmorde an den Rohingya in Myanmar 2017,

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die ebenfalls durch Soziale Medien befeuert wurden, konterkariert. Das Militär in Myanmar benutzte Facebook für seine Propaganda17 und stachelte so die buddhistische Bevölkerung gegen die muslimische Minderheit auf, was letztlich eine ethnische Säuberung und eine humanitäre Katastrophe zur Folge hatte.18 Auch das Wiedererstarken des Populismus und Nationalismus in der westlichen Welt, das durch Fake News von Gruppen, Organisationen und zumeist rechtsgerichteten und anti-demokratischen Politikern befeuert wird, zeigt bedenkliche Effekte von Sozialen Medien. Die Kampagnen 2016 um den Brexit und die Präsidentschaftswahlen in den USA wären ohne Soziale Medien nicht denkbar gewesen. Und auch deren Erfolg bliebe bis heute fraglich. Aus diesem Grund machte sich spätestens im Nachgang dieser beiden politischen Abstimmungen erstmals ein Umdenken der politischen Elite gegenüber den Sozialen Medien breit.19 Der Fall Myanmar, der leider kein Einzelfall bleiben sollte, wie sich 2018 in Nigeria zeigte,20 setzte die politische Elite auch international unter Zugzwang. Es zeigt sich, dass Soziale Medien eine große Mobilisierungs- aber auch Manipulationsfähigkeit besitzen, wenn sie nicht reguliert und kontrolliert werden. Diese Eigenschaft kann für demokratische Entwicklungen, aber eben auch gegen demokratische Prinzipien genutzt werden. Letzteres bedeutet eine Gefahr für die Demokratie und Verfassung. Um diese Gefahren besser einschätzen und Probleme besser verstehen zu können, bedarf es dringend weiterer Forschung. Ebenso dringend braucht es politisches Handeln, welches Maßnahmen trifft, positive Effekte bestärkt und negative Effekte weitgehend verhindert. Die Forschung stellt dabei einen Kern der Lösung dar, denn erst durch die umfassende Analyse der Gefahren können adäquate rechtliche Verordnungen und Gesetze entstehen, welche die negativen Effekte verhindern und die positiven Aspekte der Sozialen Medien bestärken. Dementsprechend sollte die wissenschaftliche Gemeinschaft nicht müde werden, Forschungsprojekte zu diesem Themenfeld zu entwickeln und deren Förderung zu akquirieren. Zudem sollte vor allem eine interdisziplinäre Ausrichtung bei der Erforschung der Problematik und der Entwicklung von Konzepten vorangetrieben werden, damit das komplexe Themenfeld angemessen bearbeitet werden kann. SOZIALE MEDIEN UND RECHT Aufgrund der vielen Hasskommentare im Netz, die lange Zeit ungeahndet blieben, wurde vor einem Jahr das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ( NetzDG) eingeführt, welches den Unternehmen der Sozialen Medien auferlegt, ethische

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Perspektiven — Analyse

17  Propaganda durch Medien ist nichts Neues oder den Sozialen Medien Inhärentes. Vielmehr haben Massenmedien generell das Potenzial für Propagandazwecke ausgenutzt zu werden. So hatten andere Massenmedien wie die Zeitung während den Weltkriegen, das Fernsehen während des Kalten Krieges oder das Radio, wie Allan Thompson dies am Beispiel Ruanda aufzeigt (Ders., (Hg.), The Media and the Rwanda Genocide, London 2007), immer wieder als Mittel der Propaganda gedient. 18  Vgl. Paul Mozur, A Genocide Incited on Facebook, With Posts From Myanmar’s Military, in: The New York Times, 15.10.2018, URL: https://www. nytimes.com/2018/10/15/technology/myanmar-facebook-genocide. html [eingesehen am 06.04.2020]. 19  Siehe hierzu die Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG), URL: https:// www.bmjv.de/SharedDocs/ Gesetzgebungsverfahren/ Dokumente/RegE_NetzDG. pdf?__blob=publicationFile&v=2 [eingesehen am 06.04.2020]. 20  Vgl. Yemisi Adegoke u. BBC Africa Eye, Like. Share. Kill. Nigerian police say false information on Facebook is killing people, in: BBC News, 13.11.2018, URL: https://www.bbc.co.uk/ news/resources/idt-sh/nigeria_ fake_news?ocid=socialflow_twitter [eingesehen am 06.04.2020].

Maßstäbe an das Verhalten ihrer Nutzer anzulegen und bei Nichteinhaltung gefährdende Inhalte binnen kürzester Zeit zu löschen. Es handelt sich bei dieser Richtlinie um ein Gesetz, das Opfer von Verleumdungen und Beleidigungen schützen soll. Nutzer können bei den Sozialen Medien nun Löschanträge stellen. Das NetzDG schreibt dabei vor, dass die Plattformen klar strafbare Inhalte binnen 24 Stunden nach einem Hinweis löschen müssen sowie in weniger eindeutigen Fällen bis zu einer Woche Zeit zur Löschung haben. Sollten solche Löschanträge nicht umgesetzt werden, dürfen Kunden in Zukunft die Unternehmen dafür verklagen. Die Geldbußen können bis zu fünf Mio. Euro betragen (§ 4, Absatz 8, NetzDG). Trotzdem hat das NetzDG die Erwartungen bisher nicht erfüllen können, denn auch ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes sind beim Bundesamt für Justiz (BfJ) über das Online-Formular gerade einmal 704 Meldungen eingegangen.21 Daher sind in den nächsten Jahren sicherlich weitere Anpassungen und Verbesserungen des Gesetzes vonnöten. Hinsichtlich der Auswüchse der Social Bots hat das Bundesland Hessen jüngst im Bundesrat eine Kennzeichnungspflicht gefordert.22 Hieran zeigt sich einmal mehr, dass der Gesetzgeber immer wieder nur reaktiv in den Internetmarkt eingreift und sich von den Unternehmen vorführen lässt. Wettbewerbsrechtlich sind zudem die Dominanz einiger weniger Plattformen wie Facebook, Twitter & Co. sowie deren willkürliche und intransparente Regelungen, mit denen Datenschutzrechte immer wieder zu umgehen versucht werden, ebenfalls ein eklatantes Problem, das es dringend zu lösen gilt. 21  Vgl. Dietmar Neururer, »Nicht alles perfekt, aber vieles gut« – Justizministerium zeigt sich zufrieden mit dem NetzDG, in: Handelsblatt, 13.12.2018, URL: https://www.handelsblatt.com/ politik/deutschland/gesetz-gegenhass-im-netz-nicht-alles-perfektaber-vieles-gut-­justizministeriumzeigt-sich-zufrieden-mitdem-netzdg/23752306.html [eingesehen am 06.04.2020]. 22  Entschließung des Bundesrates zu Transparenz und klaren Regeln auf digitalen Märkten, Bundesrat, Drucksache 519/18, 23.11.2018, URL: https://www.bundesrat. de/SharedDocs/drucksachen/2018/0501-0600/519-18(B). pdf?__blob=publicationFile&v=1 [eingesehen am 06.04.2020].

Diese Probleme sind aber keine originären Probleme der Sozialen Medien, sondern gelten vielmehr für die ganze E-Commerce-Branche. Um das Wettbewerbsrecht bei den Internet-Giganten zu wahren, müsste das Kartellrecht für den Internetmarkt modernisiert und angepasst werden und ebenfalls eine Aufstockung des Beamtenapparats finanziert werden. Hinsichtlich der Finanzierung, die für die Kontrolle der Unternehmen und den Rechtsapparat benötigt würde, zeigt sich deutlich, welche volkswirtschaftliche Schieflage diese Unternehmen verursachen. Durch Steuervermeidungspraktiken unterlaufen sie zuhauf de facto nationales Recht, indem sie wenig bis keine Steuern in Niedrigsteuerländern auf ihre Umsätze und Gewinne zahlen. Gleichzeitig verursachen sie durch die zusätzlich benötigte Bürokratie und den Rechtsapparat immense Kosten für die Volkswirtschaft jenes Landes, in dem sie ihre Geschäfte machen. Letztlich wird es einer Aufstockung der Polizei sowie einer Verbesserung der bürokratischen Verfahren in diesem Zusammenhang bedürfen und im besten Fall einer daraus folgenden Aufstockung der Justiz, um die große

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Anzahl der Straftaten bearbeiten zu können und vor allem beschleunigte Verfahren zu ermöglichen. Diese Maßnahmen erfordern viel Geld und müssten von den Unternehmen, die von ihnen profitieren, in vollem Maße getragen werden. Somit bedürfte es auch steuerrechtlicher Neuerungen, wie einer Digitalsteuer, welche aktuell auf europäischer Ebene durch die Europäische Kommission vorangetrieben wird.23 Trotz der klaren Vereinbarung im Koalitions­vertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom 7. Februar 2018 »für eine Besteuerung der digitalen Wirtschaft«24 bremst der Bundesfinanzminister Olaf Scholz die Einführung der EU-Digitalsteuer weithin aus, da er eine internationale Mindestbesteuerung auf Ebene der OECD favorisiert und für realisierbar hält. Es bleiben also viele rechtliche Fragen bestehen. Deshalb ist zunehmend die Rechtswissenschaft, allen voran die Forschungsgemeinschaft, welche sich mit dem Medien- und Steuerrecht befasst, gefragt, Vorschläge auszuarbeiten, die zu einer gerechten Beteiligung der digitalen Wirtschaft an den von ihr verursachten Kosten beitragen können und die den Rechtsstaat mit Persönlichkeitsrechten und Antidiskriminierungsrechten schützen. Vor allem aber ist die Politikwissenschaft zu diskutieren aufgefordert, welche Rolle den Sozialen Medien in der politischen Kommunikation und demokratischen Partizipation zukommt und in welchem Maße diese das politische System stärken oder schwächen können. SCHLUSS Der Diskurs und die Gesprächskultur in den Sozialen Medien sind nicht die gleichen wie im analogen Leben, wie die ganze Bandbreite von hemmungslosen Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen aufzeigt. Es hat nicht nur eine Verrohung des Miteinanders und der Kommunikationskultur stattgefunden, wie sie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache 2018 thematisierte,25 sondern mit dieser Verrohung der Sprache, die mittlerweile auch auf der Straße und nicht mehr nur im Netz stattfindet, hat sich zugleich das Klima in der Gesellschaft gewandelt. Daher stellt sich die Frage, ob diese negative Entwicklung, die natürlich nicht allein auf die Sozialen Medien zurückgeführt werden kann, einer sukzessiven Spaltung der Gesellschaft den Weg bereitet. Kann diese Verrohung des Miteinanders, gepaart mit einer sich verschärfenden sozialen Frage, sogar den sozialen Frieden bedrohen? Sicherlich haben die Sozialen Medien auf der einen Seite eine Emanzipation bewirkt und einen »Beitrag zur demokratisch-medialen Öffentlichkeit«

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Perspektiven — Analyse

23  Siehe Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Vorschriften für die Unternehmensbesteuerung einer signifikanten digitalen Präsenz, 21.03.2018, URL: https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/ proposal_significant_digital_ presence_21032018_de.pdf [eingesehen am 06.04.2020]. 24  Siehe Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 19. Legislaturperiode, S. 69, URL: https:// www.bundesregierung.de/ resource/blob/656734/847984/ 5b8bc23590d4cb2892b31c987a d672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1 [eingesehen am 06.04.2020]. 25  Vgl. Bundespräsidialamt, Weihnachtsansprache von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 25. Dezember2018 in Schloss Bellevue, URL: http://www.bundespraesident. de/SharedDocs/Downloads/ DE/Reden/2018/12/181225Weihnachtsansprache-2018. pdf;jsessionid=000413ACB2EF9F802A6A6910C52EAD5F.1_ cid362?__blob=publicationFile [eingesehen am 06.04.2020].

geleistet.26 Gleichzeitig haben die Sozialen Medien aber auch neue Probleme und Gefahren geschaffen. Daher sprechen einige ExpertInnen differenzierend sowohl von pro-demokratischen Effekten als auch von gegen die Demokratie instrumentalisierbaren Möglichkeitsräumen der Sozialen Medien.27 Die Debatte um die Gefahren der Sozialen Medien wird vor allem in der Politikwissenschaft und der Medienwissenschaft geführt, da diese die Potenziale der Massenmedien kennen und theoretisch und methodisch bereits seit vielen Jahrzehnten analysieren. Es fehlt jedoch ein interdisziplinärer Ansatz und vor allem mehr interdisziplinäre Forschung. Die Beispiele in diesem Beitrag haben die Probleme von Sozialen Medien aufgezeigt, einen ersten Überblick geliefert und die Bedeutung dieser Thematik herausgearbeitet. Die politischen Repräsentanten sind gut beraten, sich eng mit der Wissenschaft auszutauschen und diese viel stärker als bisher zu fördern. Der Beitrag appelliert daher an die Forschungsgemeinschaft, sich möglichst interdisziplinär – psychologisch, soziologisch, politologisch, medienwissenschaftlich und auch rechtswissenschaftlich – dieser Thematik anzunehmen, um unsere hart erkämpfte demokratisch verfasste Gesellschaft zu schützen. Moderne Medien sind schnelllebig und die jetzige politische Klasse ist offensichtlich nicht im Stande, sich an die Geschwindigkeit der modernen Medien anzupassen und entsprechend schnell in Form von Gesetzgebung zu agieren. So ließe sich argumentieren, dass nicht die Sozialen Medien selbst die eigentliche Bedrohung für unsere Demokratie darstellen, sondern eine lückenhafte Rechtsetzung durch die Politik. Das Jubiläum unserer Verfassung 26  Vgl. Dobusch.

im vergangenen Jahr sollte uns daran erinnern, dringend notwendige Gesetze zügig auf den Weg zu bringen, um unsere Gesellschaft vor undemo-

27  Vgl. Tucker u. a., S. 47.

kratischen Entwicklungen zu schützen.

Deniz Ertin, geb. 1983, M.A. Politikwissenschaft, Philosophie und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, ist Doktorand am Jean Monnet Lehrstuhl von Prof. Dr. Wessels, CETEUS – Centre for Turkey and European Union Studies, Institut für Politikwissenschaft und Europäische Studien an der Universität zu Köln. Seit 2016 ist er Referent des Fraktionsvorsitzenden und Leiter das Wahlkreisbüro von Arndt Klocke (MdL).

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

BEBILDERUNG

Herausgegeben durch das Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen. Redaktion: Alexander Deycke, Jens Gmeiner, Tom Pflicke, Luisa Rolfes. Konzeption dieser Ausgabe: Marika Przybilla-Voß. Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß (vertreten durch Luisa Rolfes). Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung, unter [email protected] (Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder unter [email protected]. Jahresbezugspreis print + online € 73,– D; ermäßig ter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D; Inst.-Preis print + online ab € 150,– D Einzelheftpreis € 22,– D. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-80032-0 ISSN 2191-995X © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

Die Illustratorin und Künstlerin Naheema Daniela Blankenburg v­ isualisiert die unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Themenfelder. Dabei kombiniert sie Handzeichnungen mit digitaler Kolorierung und Bildbearbeitung im Spannungsfeld von figurativer Darstellung und abstrakten Elementen. Wichtig in allen Arbeiten ist ihr dabei stets die Narrative. Die gezeigten Illustrationen sind eigens für die INDES-Ausgabe 1/2020 zum Thema Sport entstanden.

Bildnachweise: Portrait Lutz M. Hagen: Jörg Wagner

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