Spinozas Stellung zur Religion: Eine Untersuchung auf der Grundlage des theologisch-politischen Traktats. Nebst einem Anhang: Spinoza in England (1670–1750) [Reprint 2019 ed.] 9783111557335, 9783111186832


184 84 6MB

German Pages 84 [92] Year 1914

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
I. Prolegomena zum Verständnis des theologisch-politischen Traktats
II. Staat, Kirche und Religion. Der politische Teil des Traktats
III. Der theologische Teil der Traktats
IV. Spinozas Stellung zur Religion
V. Anhang. Spinoza in England (670-1750)
Namenregister
Recommend Papers

Spinozas Stellung zur Religion: Eine Untersuchung auf der Grundlage des theologisch-politischen Traktats. Nebst einem Anhang: Spinoza in England (1670–1750) [Reprint 2019 ed.]
 9783111557335, 9783111186832

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Vie Studien zur Geschichte -es neueren Protestantismus wollen in zwangloser Folge Untersuchungen zur Entwicklung der protestantischen Theologie und Kirche innerhalb der modernen Welt darbieten. Sie wollen da­ durch dar Interesse für eine von der Forschung bisher vernachlässigte Epoche der Kirchengeschichte wachrufen helfen. Ganz besonders bedarf die so vielfach unter­ schätzte Aufklärung, die den neueren Protestantismus vom älteren scheidet, einer gründlichen Bearbeitung. Die Studien sollen sich aber nicht auf die Aufklärung beschränken. Sie wollen alle Erscheinungen ins Auge fassen, durch welche die moderne Lage im Protestantismus bedingt ist, also neben der Aufklärung im weitesten Sinne vor allem den Pietismus, die Romantik, den deutschen Idealis­ mus, die Erweckung und die Reaktion des 19. Jahrhunderts. Auch Außerkirchliches soll berücksichtigt werden, da ja die neuere theologische Entwicklung durch die Wandlungen der Gesamtkultur und besonders der Philosophie stark beeinflußt ist. Rur die jüngste Zeit bleibt ausgeschlossen, weil deren streng geschichtliche Behandlung noch nicht möglich ist. Es sollen problemgeschichtl. Untersuchungen, Biographien führender Theologen, Darstellungen der Entwicklung der wissenschaftlichen Theologie, der Frömmigkeit und der kirchlichen Institutionen gebracht werden. Daneben erscheinen Huellenhefte.

hest 1. Prof. Lic. horst Stephan: Luther in den Wandlungen seiner Kirche. IV, 136 S. 1907. IN. 2.60; geb. IN. 3.50 heft 2. Priv.-Doz. Lic. Karl Bornhausen: Die Ethik pascals. VIII, 171 §. 1907. IN. 4.heft 3. Priv.-Doz. Lic. Hermann INulert: Schleiermacher - Studien. I. Teil: Schleiermachers geschichtsphilosophische Ansichten in ihrer Bedeutung für seine Theologie. VIII, 92 5. 1907. IN. 2.50 heft 4. Geh. Kirchenrat Prof. D. Joh. Bauer: Schleiermacher als patriotischer Prediger. Lin Beitrag zur Geschichte der nationalen Erhebung vor 100 Jahren. XII, 364 S. 1908. IN. 10.-; geb. IN. 11.heft 5. Pfarrer Walter Wendland: Die Religiosität und die kirchenpolitischen Grundsätze Friedrich Wilhelms des Dritten in ihrer Bedeutung für die Ge­ schichte der kirchlichen Restauration. VII, 188 S. 1909. IN. 5.heft 6. Pfarrer Dr. Karl Aner: Der Aufklärer Friedrich Nicolai. IV, 196 S. 1912. IN. 6.heft 7. Prof. D. Dr. Martin Schian: Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die predigt. Lin Beitrag zur Geschichte des endenden 17. und des be­ ginnenden 18. Jahrhunderts. VII, 185 S. 1912. M. 4.80 heft 8. Kaiser!. Botschaftsprediger D. Dr. Ernst Schubert: Die evangelische predigt im Revolutionsjahr 1848. Lin Beitrag zur Geschichte der predigt wie zum Problem der Zeitpredigt. III, 180 S. 1913. M. 4.80

als weitere hefte der Studien sollen erscheinen: Vernunft und Offenbarung in der deutschen Aufklärungstheologie, von Professor Lic. Dr. Heinrich Hoffmann. Kants Einfluß auf die Theologie, von D. Dr. Paul Kalweit, Stadtsuper­ intendent in Danzig. Die Geschichtsschreibung der Aufklärungszeit, von Lic. Dr. Karl Völker, Priv.Doz. in Wien. Der Einfluß des Pietismus auf die Kirchlichkeit, von Lic. Johannes Witte, Missionsinspektor in Berlin. Kirchenlied und Gesangbuch in der Zeit der deutschen Aufklärung. — Rationa­ listische Liedertexte, von Prof. Lic. Leopold Zscharnack.

Verzeichnis der tzuellenhefte s. 3. Umschlagsette!

Spinozas Stellung zur Religion Eine Untersuchung auf der Grundlage des theologisch-politischen Traktats

Nebst einem Anhang:

Spinoza in England (1670-1750)

von

Dr. Georg Bohrmann Berlin

Verlag von Alfred Opelmann

vormals 3- Nicker . Gießen

1914

Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus herausgegeben von

Lic. Dr. Heinrich Hoffmann und Prof. Lic. Leopold Zscharnack ord. Professor an der Universität Vern

Privatdozent an der Universität Verlin

9. hest

Inhaltsverzeichnis Seite

L prolegomena zum Verständnis des theologisch-politischen Traktats .............................................................................................. I II. Staat, Kirche und Religion. Der politische Teil des Traktats 18 III. Der theologische Teil des Traktats ............................................... 24 1. Die Gffenbarungsreligion...................................................................24 a) Die Bibel als Grundlage der (vffenbarungsreligion .... 24 b) Vie religionspsychologische Grundlage der Gffenbarungsreligion 27 c) Der Kerngehalt der Gffenbarungsreligion.................................... 28 d) Das augenblickliche Zerrbild der Religion und die Ursachen ihrer Depravation.......................................................................30 e) Die positiven Bestandteile der Gffenbarungsreligion: Dogmen, Christologie, Zeremonien, Geschichten, Wunder.................... 32 f) Das Gewißheitsproblem in der Gffenbarungsreligion.... 41 2. Vie Vernunftreligion...........................................................................42

IV. Spinozas Stellung zur Religion.......................................................45 V. Rnhang: Spinoza in England (1670-1750)............................... 59 Namenregister..........................................................................................83

Kbkürzungen Freudenthal Lg.Freudenthal, Die Lebensgeschichte Spinozas, Leipzig 1899. Freudenthal 5p. — I. Freudenthal, Spinoza, Bb. I, Stuttgart 1904. Pollock — Fred. Pollock, Spinoza, bis life and philosophy. Second edition, London 1899. VL. — Benedicti de Spinoza opera ed. I. van Violen et I. P. N. Land, Hagae Comitum 1882—83.

Den theologisch-politischen Traktat zitiere ich nach der bequemen Ausgabe von T. tj. Bruder. Die Übersetzung der Belegstellen aus Spinozas Schriften wird nach den Verdeutschungen der Philosophischen Bibliothek gegeben. Die Übersetzung der Briefe schließt sich an Sterns Ausgabe an.

I.

prolegomena zum Verständnis des theologisch-politischen Traktats. Die Frage nach Spinozas Stellung zur (Gffenbarungs-) Religion

gehört mit zu den schwierigsten und meist umstrittenen Problemen der Spinozaforschung. Rian könnte geneigt sein, Spinoza selbst die Schuld an dem Streit der Meinungen zuzuschreiben; scheint es doch, als ob ge­ rade an diesem Punkt eine unerträgliche Diskrepanz in seinem Denken bestünde. Ruf der einen Seite ist er der naturalistische Pantheist, der keine Offenbarung kennt, es sei denn die sich im Geist des Menschen kundtuende; so in der Korte verhandeling und der Ethik. Ruch in den Briefen spricht der Philosoph zu uns, der die Ethik geschrieben hat; daneben aber finden sich, wie wir sehen werden, des öfteren Stellen, in denen er von der Bibel und ihrem Inhalt mit einem Ernst und einer Rchtung handelt, die sich mit seinen philosophischen Anschauungen nicht gut vereinigen lassen wollen. Und wie steht es im theologisch-poli­ tischen Traktat? Es ist klar, daß unser Problem vornehmlich im Zusammenhang mit dieser Schrift untersucht und gelöst werden mutz; sie ist die einzige, in der er es ex professo behandelt. Die Frage ist denn auch in allen möglichen Variationen aufgetaucht und beantwortet worden. Bald sah man in Spinoza den Propheten des Atheismus, der diese Lehre im Traktat „mit verdeckten und geschminkten Argumenten" vortrage;^) bald erklärte man ihn für einen Heuchlers

und behauptete, er lege während des ganzen Traktats die allerdings ziemlich durchsichtige Gffenbarungsmaske nicht d6;*8)* andere ** wieder hielten ihn für einen guten Thristenmenschen, der innerlich dem Christentum an­ gehört habe, ohne sich jedoch öffentlich dazu zu bekennen - eine Rufx) ep. 42; VL. II, $. 169. In gleichem Sinne urteilt u. a. auch Philipp van Limborch über den Traktat (j. Freudenthal £g., S. 193). 2) R. van der Linde, Spinoza, seine Lehre und deren erste Nachwirkungen in Holland, Göttingen 1862, S. 111. 8) Io6l, Spinozas Theologisch - politischer Traktat auf seine Duellen ge­ prüft, Breslau 1870, S. 6. 4) Ad. Menzel in seinem Aufsatz: Spinoza und die Tollegianten, im Archiv für Geschichte der Philosophie XV, 1902, $. 277-298, und T. B. hrfikema: Reformateurs, Bö. II, Haarlem 1902, S. 473 f. vohrmann, Spinozas Stellung zur Religion.

2

prolegomena.

fassung, der neuerdings von berufener Seite entschieden widersprochen worden ist;1) und der bedeutendste Spinozaforscher Englands, $. Pollock, begnügt sich damit, die Dissonanzen zwischen Traktat und Ethik hervor­ zuheben, ohne eine bündige Entscheidung in dieser Frage zu treffen.2)* Gibt es aus diesem bunten und zum Teil recht widerspruchsvollen Wirr­ warr der Meinungen überhaupt einen befriedigenden Ausweg? Die Beantwortung unseres Problems würde um ein Bedeutendes erleichtert werden, wenn wir eine einheitliche Überlieferung über Spinozas persönliche Stellung zum Thristentum hätten. Leider läßt uns aber die Tradition so gut wie ganz im Stich. Ist sie schon an sich naturgemäß nur von sekundärer Bedeutung, so wird sie vollends dadurch illusorisch, daß sie in sich durchaus widerspruchsvoll ist. Doch lassen wir zunächst die Duellen selbst zu Worte kommen. 3n dem berühmten Pamphlet „De tribus impostoribus“ von Ehr. Kortholt, Kiloni 1680, heißt es von Spinoza (S. 139-40): „vir initio Judaeus, sed postea, ob portentosas de ipso etiam Judaismo opiniones änoouvä'swi'og, atque sic landein, nescio quibus artibus et fraudibus, inter Christianos nomen professus.“ Das Buch erlebte eine zweite Auflage (Hamburg! 1700), in deren Vorrede uns der Sohn Seb. Kortholt zu erzählen weiß: „Se tarnen professus est Christianum, et vel Reformatorum vel Lutheranorum coetibus non modo ipse adluit, sed et aliis auctor saepenumero et hortator extitit, ut templa frequentarent, domesticisque verbi quosdam divini praecones maximopere commendavit.“8) 3n h. L. Benthems holländischem Kirch- und Schulen-Staat, Frankfurt 1698, findet sich die Stelle: „viel schlimmer war der Amsterdammer Spinosa, ob er wol die Synagoge verließ und ein Thrift ward" (II, S. 350); und Gottfried Arnold berichtet in seiner Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie (Frankfurt 1699, S. 611) von Spinoza: „Er war ein gebohrner Jude, und hatte in seiner fugend aus natürlicher begierde etwas zu wissen, sich gar sehr in den büchern umgesehen, auch seinen Rabbinen so viel Händel gemacht, daß sie ihn von sich ausgestossen hatten, hierauff gab er sich bey den Thristen an, und weil denen, welche ihn auffnahmen, der Geist der Prüfung mangeln mochte, wurde er von ihnen getaufft und vor einen Thristen gehalten." Daß die Kunde von Spinozas vermeintlichem Übertritt zum Thristentum auch in Frankreich bekannt war, zeigt Bayles Dictionaire (1702, S. 2783): „Je viens d’aprendre une chose assez curieuse, c’est que depuis qu’il eut renoncs ä la profession du JudaTsme, il professa ouver*) Freudenthal Sp., S. 168 ff. 2) Pollock, S. 338 f. ’) Abgedruckt bei Freudenthal Lg., S. 27.

tement l’Evangile et frequenta les assembldes des Mennonites ou celles des Arminiens d’Amsterdam. II aprouva mßme une confession de foi qu’un de ses intimes amis lui communiqua.“1) Vieser Überlieferung steht eine ganze Reihe zeitgenössischer Nach­ richten entgegen. 3n seiner 1673 zu Köln erschienenen Schrift „La religion des Hollandais“ erklärt Stouppe über Spinoza kurz und bündig: „II n'a point abjurd la Religion des Juifs, ni embrassd la Religion Chrdtienne.“2) Die zweite Hälfte dieser Nachricht bestätigt Jean Brun in seiner Schrift „La veritable religion des Hollandais“, Amsterdam 1675. Nachdem zunächst die Behauptung Stouppes, daß sich Spinoza nicht vom Judentum getrennt habe, als Irrtum zurückgewiesen wird, heißt es bei ihm: „II est vrai qu'il ne fait pas profession d’aucune autre (sc. religion), et il semble estre fort indifferent pour les Religions, si Dieu ne lui touche le cceur.“3) Joh. Chr. Sturm, Dissert. de Cartesianis etc., Altdorffi, 31. März 1677, weiß von Spinoza zu berichten: „hominem istum (ut ex relatione fide dignorum hominum, imo ex ipsius ore habemus) Judaeis parentibus Amstelodami natum, ob causam ridiculam de religione avita dubium primum, dein e Synagoga transfugam, Christianae tarnen religioni postea fidem nunquam aut nomen dedisse.“4) Der Vollständigkeit wegen sei auch eine Stelle aus Fr. Kettner, Dissert. de duobus impostoribus, Lipsiae 8. Sept. 1694, angeführt: „Postquam vero ob ciborum prohibitorum usum in Synagoga nudato corpore flagellis caederetur,5) aegre hoc ferens inter Christianos nomen professus est, sed mox illum facti poenir tuit et nulli plane religioni se addixit.“6) Dann erfahren wir in einer alten Reisebeschreibung, die im Jahre 1704 erschienen ist, aus dem Munde eines holländischen Gelehrten: „Daß sey gewiß, Spinosam nunquam fuisse Christianum, sed Judaeum .. ,“;7) und in der bekannten Spinoza­ biographie des Lolerus (Amsterdam 1705) lesen wir: „(Et hat bas Christen1) Freudenthal Lg., $. 32. Über den Inhalt dieses Glaubensbekenntnisses (von Spinozas Freund Jarig Jelles) s. Freudenthal 5p., S. 92f. Daß sich Spinoza für das Bekenntnis ausgesprochen haben soll, wie Bayle will, wird durch eine ganz anderslautende Mitteilung des jüngeren Rieuwertsz (des Sohnes von Spinozas Freund und Verleger) im höchsten Grade unwahrscheinlich gemacht. Siehe den Bericht bei Freudenthal Lg., S. 231 und Freudenthals Bemerkungen hierzu auf §. 303. 2) Freudenthal Lg., 5. 195. 3) Ebenda S. 199. 4) Ebenda S. 204. B) was Kettner von der Bestrafung Spinozas zu erzählen weiß, beruht wohl (wie Freudenthal Lg., S. 299 vermutet) auf einer Verwechselung desselben mit Uriel da Costa. 6) Freudenthal Lg., S. 217. 7) Ebenda S. 229.

tum niemals angenommen, nie die heilige Taufe empfangen und keiner bestimmten Religionspartei sich angeschlossen. Rur daß er nach seiner Abwendung vom Judentum viel mit einigen gelehrten Mennoniten ver­ kehrte, doch auch mit Anhängern anderer religiösen Bekenntnisse?)

Soweit die Tradition. Wir können mit ihr, wie gesagt, wegen ihres widerspruchsvollen Charakters zunächst wenig anfangen. Anstatt daß sie uns einen festen halt gäbe, bedürfen wir umgekehrt erst eines sicheren principium divisionis, das uns ermöglicht, die Spreu vom Weizen zu sondern und den historischen Kern aus der Überlieferung herauszuschälen. Unsere Aufgabe wird also darin bestehen, dies Prinzip, oder mit anderen Worten, die grundlegende Auffassung von Spinozas Stellung zur Gffenbarungsreligion aus dem theologisch-politischen Traktat zu erarbeiten und unser Ergebnis mit allen übrigen Lebens­ äußerungen des Denkers zu einem Gesamtbild zu vereinigen. ITtit diesem Ziel ist der Weg unserer Arbeit vorgezeichnet. (Es wird sich für uns zunächst und vor allem darum handeln, eine möglichst erschöpfende und dem Inhalt gerecht werdende Erklärung und Analyse des theologisch­ politischen Traktats, namentlich seines theologischen Teiles zu geben. ITtit oberflächlichen Eindrücken, von denen sich die meisten der oben genannten Kritiker haben leiten lassen, ist es nicht getan; hier kann nur eingehendes Sichversenken zum Ziel führen. Ist doch der theologisch-politische Traktat diejenige unter den Schriften Spinozas, die einer befriedigenden und rest­ los aufgehenden Exegese noch immer die größten Schwierigkeiten bereitet. Diese beruhen in einem Doppelten. Einmal besteht auf den ersten Blick eine unverkennbare Diskrepanz zwischen dem Traktat und den philoso­ phischen Schriften Spinozas. Kommt man von der Ethik, so hat man bei der Lektüre des Traktats den Eindruck, daß hier ein anderer Spinoza spricht. Gewiß verleugnet sich die philosophische Diktion und der Geist der Ethik nicht ganz, aber beides kommt nur mehr gelegentlich, man möchte meinen, fast störend, zum Durchbruch. Denn im ganzen ist der Gehalt und die Ausdrucksweise im Traktat biblisch-theologisch. Auf der andern Seite enthält der Traktat selbst so viel Unausgeglichenheiten, scheinbare oder wirkliche Widersprüche, Dunkelheiten und diplomatisch­ verhüllende Kunst des Ausdrucks, daß er schon für sich genommen ein Problem bedeutet. Man kann im Lichte dieses komplizierten Tatbestandes geradezu von einem literarischen Rätsel dieses eigenartigen und überaus schwer faßbaren Werkes reden. Indem wir uns in diesen einleitenden Bemerkungen nur mit der allgemeinen Exegese, dem Aufbau und dem Ziel des Traktats be­ schäftigen, müssen wir zunächst auf die Arbeiten von I- Freudenthal x) Freudenthal Lg., S. 40.

zurückgreifen, der in seiner mit liebevoller Sorgfalt und gründlicher Gelehrsamkeit geschriebenen Spinozabiographie zum erstenmal in um­ fassender Weise dieses Problem behandelt und neue Richtlinien zur Lö­ sung vorgezeichnet hat (Freudenthal Sp., Kap. VII). Der Traktat ist

nicht, wie die Ethik, sub quadam specie aeternitatis geschrieben; er ist politische Tendenzschrift: das ist der große Fortschritt, den seine eingehenden Untersuchungen erbracht haben/) hatte man früher in

Spinoza nur den stillen Denker gesehen, der fern von dem verwirrenden Lärm des Rlltagsgetriebes in seinem Kämmerlein ewige Gedanken dachte, so hat sich diese Vorstellung nachgerade als Legende mit nur beschränk­ tem historischen Wahrheitsgehalt erwiesen. Gewiß ist Spinoza der Philo­ soph, der in der einsamen höhe seiner abstrakten Gedankenwelt lebte; damit ist aber seine Art nur teilweise erschöpft. Er war Gegenwarts­ mensch wie die anderen. Er lebte in seiner Zeit und verfolgte ihre Entwicklung mit Interesse und Verständnis wie nur einer. Die großen inneren Kämpfe, die sein Vaterland erschütterten, sind nicht spurlos an ihm vorüber gegangen, konnten es auch nicht; denn jahrelang lebte er in enger Freundschaft mit dem Mann, der das Staatsschiff durch die Fährniffe und Klippen dieser Kämpfe, die zwischen Staat und Kirche entbrannt waren, mit sicherer Hand hindurchsteuerte, Jan de Witt. Und Spinoza begnügte sich nicht damit, seinen Freund mit Rat zu unterstützen, er griff vielmehr selbst in diesen Kampf ein und setzte sich mit jenen Mächten auseinander, die unter dem Deckmantel der Religion Kirche und Staat zum Tummelplatz ihres machtlüsternen Glaubensfanatismus zu degradieren suchten. So entstand der theologisch-politische Traktat. Er ist Tendenzschrift, er will auf die Gegenwart wirken. Er hat also die religiösen und politischen Verhältnisse seiner Zeit zur Voraussetzung. Es ist daher nötig, wenigstens mit einigen Worten auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund einzugehen. Wir folgen hierin der ausgezeichneten Dar­ stellung Freudenthals. Der Kampf zwischen Staat und Kirche kam in den Niederlanden

zum offnen Ausbruch, als Jan de Witt als Ratspensionär von Holland die Regierung antrat. Seine rücksichtslosen und unerbittlichen Gegner waren die fanatischen Prädikanten der reformierten Kirche. Sie fühlten sich durch theologische und politische Überzeugung von der herrschenden Regentenpartei und ihrem Haupt de Witt geschieden; sie waren orthodox und oranisch. Beides war für sie eins, seitdem Moritz von Naffau sich dem orthodoxen Lalvinismus verschrieben hatte. Die Waffen des Wortes x) Freudenthal ist hierin den Anregungen gefolgt, die der holländische Spinozaforscher lv. Meijer in seinem Aussatz: „Spinozas demokratische Gesinnung und sein Verhältnis zum Lhristentum" gegeben hat (Archiv für Geschichte der Philosophie XVI, 1903, S. 455—485).

und der Zeder muhten herhalten, um die freigesinnte Regierung des großen Staatsmannes als gottlos und geradezu staatsgefährlich hinzu­ stellen; eine Heimsuchung des Landes durch die Pest und schwere Nieder­ lagen im Kampf gegen die Engländer wurden als Gotteszeichen gegen ihn ausgebeutet. Vie Leidenschaft des Pöbels wuchs, geschürt durch die unermüdliche Hetzarbeit der kampfeslustigen Theologen; die Rlachtstellung Ian de Witts geriet ins Wanken, Unduldsamkeit und frommer Unver­ stand schienen zu triumphieren. Da unternahmen es in den sechziger Jahren Männer des freien Denkens, literarisch für die Politik des Großpenfionärs einzutreten; und er selbst scheute sich nicht, zur Zeder zu greifen, um die öffentliche Meinung in seinem Sinne zu beeinflussen. Die Tendenz dieser Schriften war überall die gleiche. Drei Thesen galt es mit aller Macht zu verfechten: der Staat ist unabhängig von kirch­ licher Autorität; die Geistlichen hingegen müssen Diener des Staates sein; im Interesse des Staates ist Toleranz unbedingt nötig. Diese drei Sätze waren das Schibboleth derer um de Witt. 3n die Zeit dieses Kampfes zwischen Staat und Kirche fällt die Konzeption des theologisch-politischen Traktats (1665; s. ep. 29 und 30). Die Ethik bleibt auffallenderweise unmittelbar vor ihrer Vollendung liegen; der Traktat wird in Angriff genommen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Spinoza mit seiner Schrift ebenfalls für die Grundsätze seines bedrängten Zreundes eintreten wollte: Gewiffensfreiheit und Kampf gegen Priesterzwang und -Herrschaft waren Zorderungen, die ihm aus dem Herzen gesprochen waren. So wollte also der Traktat der Gegen­ wart dienen; er „wollte dem Staate zu Hilfe kommen im Kampfe gegen die Anmaßungen der Prädikanten. Er war ein Appell an die vom Geiste der neuen Zeit erleuchteten Staatsmänner und an alle klarden­ kenden Bürger, die Zeffeln der Unduldsamkeit, des Vorurteils und des Glaubenszwanges, die sich wieder um die junge Republik gelegt hatten, abzuschütteln und den alten Grundsatz der Utrechter Union auftecht zu erhalten, daß kein Bürger um seiner religiösen oder wiffenschaftlichen Überzeugung willen geschädigt werden dürfe" (S. 157 f.). Daß Spinoza wirklich diese Absicht verfolgt, zeigt der Untertitel des Traktats, zeigt das Vorwort (§ 13) und schließlich jener Brief, in dem er sich über die Absichten des Traktats ausspricht (ep. 30): „Zur Abfassung der

Schrift veranlaßten mich erstlich die Vorurteile der Theologen. Denn ich weiß, daß sie am meisten die Rlenschen hindern, sich der Wiffenschaft zu widmen. Diese Vorurteile klarzulegen und sie aus den Köpfen der vernünftigeren zu entfernen, ist mein Bemühen. Sodann die Zreiheit zu philosophieren und zu sagen, was wir denken. Sie, die durch die zu große Autorität und Anmaßung der Prediger hier zu Lande ge­ radezu erdrückt wird, wünsche ich auf alle Weise zu verteidigen."

Wir eignen uns diese allgemeinen Resultate Freudenthals, die hier naturgemäß nur im Umritz wiedergegeben werden konnten, im vollen Umfang an; sie sind das Beste und Gründlichste, was jemals über diese IRaterie geschrieben worden ist. Sie lassen mit aller Ularheit die politische Abzweckung der Schrift erkennen und rücken damit weite Partien, nament­ lich den ganzen politischen Teil in die Beleuchtung, die überhaupt erst ein wirkliches Verständnis ermöglicht. Uber welche Stellung nimmt nun der theologische Teil im Rahmen des Ganzen ein? Bei dieser Frage beginnt der Streit der Meinungen, und in der Tat scheinen hier die Ausführungen Freudenthals der Er­

gänzung bedürftig zu sein. Der theologische Teil ist, so hören wir bei ihm, die theologische Begründung für die Lehre der Denkfreiheit. Wenn die Orthodoxen sich stets auf ihr übernatürliches Erkenntnissystem berufen, das sie in der Bibel besitzen, - wenn sie von hier aus eine unabhängige Philosophie anfeinden und auf den gleichen Grund ihre Herrschaftsgelüste zu stützen suchen, so tritt Spinoza im theologischen Teil diesen Ansprüchen entgegen und kommt zu dem in kritischer Bibelexegese gewonnenen Ergebnis, datz die Bibel keine übernatürliche Erkenntnis lehrt. Religion besteht nach der Bibel nur in Moral, zeigt also lediglich, was wir tun, nicht was wir denken sollen. Damit ist den Gegnern jeder Grund genommen, im Namen der Religion das freie Denken zu verbieten und die staatliche Autorität der kirchlichen unterzuordnen. Daneben haben wir aber auch gerade im theologischen Teil den (Einfluß einer andern Tendenz zu be­ achten. 3u den in den politischen und religiösen Verhältnissen der Nieder­ lande begründeten Antrieben zur Abfassung des Traktats kommen nämlich, so fährt Freudenthal weiter fort, Gründe rein persönlicher Natur hinzu. Auch hierüber gibt uns der oben erwähnte Brief Aufschluß. „Was mich", so sagt dort Spinoza, „zur Abfassung des Traktats veranlaßt hat, ist außerdem die Meinung, die der große Haufen des Volkes von mir hat, der mich der Gottlosigkeit unaufhörlich beschuldigt. Auch diese Meinung abzuwehren, soweit es möglich ist, bin ich genötigt" (ep. 30).

Wollte Spinoza wirklich auf seine Zeitgenossen wirken, ihre Meinung in seinem Sinn beeinflussen, dann mußte er sich von dem ehrenrührigen Makel, den der Vorwurf der Gottlosigkeit einschloß, frei machen. Auch diese apologetische Tendenz kommt in der Gesamthaltung des Traktats zum Ausdruck. Sie bringt es mit sich, daß wir die theologischen Aus­ führungen nicht unbefangen als seine wirkliche Meinung anzusehen haben; seine Ansichten in ihrer wahren Gestalt liegen uns in der Ethik vor. Indes lehrt der Traktat nichts anderes als die übrigen Schriften, aber nicht mit voller Rlarheit und Unumwundenheit. Zunächst stellt sich Spinoza auf den Standpunkt der Bibel und sucht von hier aus das Recht

des neuen Denkens zu beweisen. Schritt für Schritt aber führt er den Leser zu den eigenen Anschauungen hin, vorsichtig und zögernd, sie meist durch verdunkelnde Ausdrücke kirchlicher Färbung verhüllend, aber dann und wann durch gelegentliche Wendungen den Schleier zerreißend und sich in seiner wahren Natur zeigend. Diese Einkleidungsmethode ist aus seiner Tendenz, die üble Meinung zu zerstören und jeden Anstoß zu ver­ meiden, erklärlich, macht aber den Inhalt des Traktats oft dunkel und irreführend. „Nicht selten scheint Spinoza zu behaupten, was er später zurücknimmt, nicht selten anzuerkennen, was er an anderen Orten leugnet. Bisweilen zweifeln wir, ob er in eigenem Namen oder in fremdem Namen spricht. Oft gebraucht er bekannte Ausdrücke in einem von ihm erst ihnen gegebenen Sinne. So die Worte: heilige Schrift, Offenbarung, göttliches Gesetz, Prophetie. Und nicht immer gibt er deutlich und be­ stimmt an, was er unter diesen Worten versteht" ($. 175). „Man darf diese Behutsamkeit Furchtsamkeit nennen, schelte aber Spinoza dar­ um nicht einen Feigling . . . Wenn er die Schrift herausgab, in der er zwar mit schonender Hand, doch immer unsanft genug, das künstliche Gewebe zerriß, das der theologische Eifer vieler Jahrhunderte gewirkt hatte; wenn er gerade gegen die gefährlichsten feiner Gegner, die Prediger der reformierten Kirche, die heftigsten Angriffe richtete, so zeigte er damit, daß seine Tapferkeit größer war als seine Vorsicht. Aber es ist freilich ein Gemisch von Mut und Furchtsamkeit, von Tapferkeit und Ängstlich­ keit, das die vielfach schwankende Haltung des Traktats bestimmt hat" (S. 178). Es ist schon angedeutet worden, daß diese Ausführungen Freudenthals über den theologischen Teil nicht ganz befriedigen können. So treffend auch die Charakteristik im einzelnen ist, — wer es unternimmt, den theo­ logischen Teil zu analysieren, kann sich nicht damit zufrieden geben, den widerspruchsvollen Charakter und das geheimnisvolle Zwielicht, das über diesem Teil ausgebreitet liegt, zu betonen; er wird stets versuchen, hinter das Geheimnis des Buches zu kommen und sich nach einem Prinzip um­ tun, das womöglich eine Scheidung zwischen dem, was Spinoza in eigenem und in fremdem Namen sagt, zuläßt. C. Gebhardt ist auf diesem Wege weiter fortgeschritten und hat die Grenzlinie so gezogen, daß der Faktor Spinoza so gut wie ganz ausgeschaltet wird?) Nach seiner Meinung ist der gesamte Inhalt des

Traktats, der politische und der theologische Teil, im Intereffe und zur Verteidigung der Nirchenpolitik Jan de Vitts geschrieben. Indem Spinoza den Traktat verfaßte, „stellte er sich nicht nur in der kirchenpolitischen, J) Liehe die Einleitung zu seiner Ausgabe des theologisch-politischen Trak­ tats, Leipzig 1908. Die Ergebnisse seiner Forschung sind als Anhang ausgenommen in Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie, Bb. II, 5. Aufl., Heidelberg 1909.

sondern auch in der religiösen Frage auf den Standpunkt der Regenten­ partei". Die Glaubenssätze des 14. Kapitels sind „nicht das Produkt

einer philosophischen Abstraktion, oder wie man gemeint hat, der Ver­ nunftreligion Herberts von Lherbury nachgebildet; sie stellen eben den wirklichen Glauben der freidenkenden holländischen Regenten, das Glaubens­ programm der Neutralisten dar?) Vies ist der selbstgewählte religiöse Standpunkt, von dem aus Spinoza sein Werk geschrieben hat. Wir werden manchen Satz darin finden, der mit seiner philosophischen Über­ zeugung im Widerspruch steht, keinen aber, der mit diesem Credo im Widerspruch stünde. Nicht vom Standpunkt seines philosophischen Systems aus hat Spinoza die Begriffe des Traktats geformt, sondern im Sinne wie im Interesse der Partei de Witts. Er wollte in der Religionslehre des Traktats nicht Philosoph sein, sondern ein holländischer Neutralist". „Ein ungerechtfertigtes Unternehmen ist es darum, aus dem Traktate eine eigene Religionslehre oder Religionsphilosophie Spinozas zu konstruieren."*2)3 4 INan möchte int Interesse des Problems fast wünschen, daß Geb­

hardt mit diesen Ausführungen das letzte entscheidende Wort zum Ver­ ständnis des Traktats gefunden hat, so bestrickend einfach ist seine These, wer es aber unternimmt, im Sinne dieser Konstruktion den Traktat zu studieren, sieht sich wieder und wieder vor Schwierigkeiten gestellt, welche die Unzulänglichkeit auch dieser These mit Evidenz dartun. Der Grundfehler der Gebhardtschen These besteht darin, daß sie den Inhalt des theologischen Teils als eine sich im wesentlichen auf gleicher Höhenlage bewegende Gedankenentwicklung ansieht. Natürlich gibt Gebhardt unumwunden zu, „daß Spinoza die neutralistischen Be­ griffe seiner Schrift so weit als möglich den Begriffen seiner Lehre zu nähern sucht",2) und daß so manche Inkonsequenzen entstehen. Im Grunde kennt er aber bloß eine gerade Linie, die eben nur dann und wann durch jene Tendenz in einen Zickzackkurs gerät. Es kann aber m. E. einer zergliedernden Analyse nicht entgehen, daß im Traktat zwei völlig verschiedene Religionssysteme einander gegenüberstehen, die sich trotz aller Harmonisierungsbestrebungen Spinozas deutlich voneinander abheben, eine Vernunft- und eine Gffenbarungsreligion?) Beide zu

einer Einheit zu verschmelzen, geht unter keinen Umständen an.

Über

*) Neutralisten nennt Gebhardt - im Anschluß an L. Th. Wenzelburger, Geschichte der Niederlande, Bb. II, S. 813 - jene Männer, welche im Gegensatz zu den Zeloten, die bewußt ein dogmatische; Thristentum hervorkehren und den Glaubensfanatismur kultivieren, ein inter- oder überkonfessionelles Thristentum vertreten und Priesterzwang und prädikantenherrschaft verwerfen. 8) S. XVI f. seiner Ausgabe der Traktats. 3) Ebenda S. XVII. 4) vgl. hierzu die Dissertation von Th. Maurer, Die Religionrlehre Spinozas, Straßburg 1898.

Gebhardts These ließe sich diskutieren, wenn nicht das 4. Kapitel des Traktats (und alle anderen Stellen, die sich hierauf beziehen) geschrieben wären; diese ureigenen Anschauungen Spinozas, die wir als seine intellektualistische Sittenlehre in der Ethik wiederfinden, sind in einer Schrift, welche die Anschauungen der Kegentenpartei verteidigen will, völlig depla­ ziert. Der Hinweis auf den kompromißartigen Charakter des Buches ist nicht geeignet, dieses Votum zu entkräften. Schwerer noch wiegt ein zweites, das mit dem eben Gesagten eng zusammenhängt. Die vernunstreligion steht nicht nur neben der (Dffen« barungsreligion, sondern steht unverkennbar über ihr. 3n ihrer ganzen geistigen Art ist sie der Gffenbarungsreligion weit überlegen; diese do­ kumentiert sich damit als eine Größe zweiter Ordnung. Daß Spinoza selbst im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeit in der praktischen Betätigung eine Harmonisierung zwischen beiden Religionsformen anstrebt, ändert an dem Gesamturteil nichts; die Gffenbarungsreligion ist ihm letzten Endes nur ein notwendiges Surrogat. Und derselbe Spinoza hat in dem theologischen Teil des Traktats nur das eine Ziel verfolgt, diese Gffenbarungsreligion der „Neutralisten" als die allein bibelwahre zu verteidigen? Das heißt denn doch die diplomatische Kunst eines Spi­ noza gewaltig unterschätzen. Wir müssen also auch die These Gebhardts als unzureichend ab­ lehnen; sie wird in ihrer übergroßen Glätte und Einfachheit dem kom­ plizierten Tatbestand des theologischen Teils in keiner Weise gerecht. Aber was nun? Um zum Ziel zu kommen, sollen zunächst die Tat­ sachen zusammengestellt werden, die m. E. aller Kritik standhalten können; in ihrer Zusammenfassung und geistigen Durchdringung wird sich dann ein tieferes Verständnis der Eigenart des theologischen Teils ergeben: 1. 3m theologischen Teil hebt sich deutlich eine Gffenbarungs­ religion heraus, deren Nerv und Kern im Gehorsam gegen Gott und seine Gebote besteht (s. Kap. XIV). 3hr tritt (im IV. Kapitel) die Ver­ nunftreligion gegenüber: jene in dem mystischen Gedanken des amor Dei intellectualis gipfelnde intellektualistische Sittenlehre, die den krö­ nenden Abschluß von Spinozas Philosophie in der Ethik bildet und sich damit als seine wirkliche IReinung legitimiert. Beide Religions­ formen sind, wie unsere Analyse ergeben wird, in ihrer seelisch-geistigen Art voneinander total unterschieden; sie kennzeichnen sich damit trotz ihrer Übereinstimmung in der praktischen Frömmigkeit als gesonderte

Größen. Wenn Forscher wie Freudenthal und Gebhardt dieses Aus­ einanderliegen heterogener Elemente nicht zur Genüge betont haben,

wie es das Gegenüber zweier verschieden gestimmter Religionsformen erfordert, so kann dies nicht zufällig sein; es findet seine Erklärung in den folgenden Bemerkungen.

2. Beide Religionssysteme sind nicht reinlich voneinander geschieden; sie laufen zum Teil durcheinander und gehen ineinander über. 3n den gesamten Ausführungen über die Gffenbarungsreligion verleugnet sich niemals, daß Spinoza es ist, der die Gffenbarungsreli­ gion darstellt; immer fließen Gedanken und Wendungen in die Beweis­ führung, welche die biblischen, rein exegetisch gemeinten Auseinandersetzungen (1,7) und auch Probleme, die wie die Wunderfrage mit der Gffenbarungs­ religion eng Zusammenhängen, mit spinozistischem Geiste tränken (z. B. I, 44; III, 7-11; VII u. a.). werden schon hierdurch die Grenzen

zwischen den exegetischen Erörterungen und der Gedankenwelt Spinozas einigermaßen verwischt, so erhält dies eine Unterstützung durch das offensichtliche Bestreben, die Gffenbarungsreligion trotz ihrer irrationalen Grundlage von allem supranaturalen Gehalt zu befreien (s. den Ge­ samtinhalt der Gffenbarungsreligion) und sie zu einer Art Vernunft­ religion zu machen (XII an versch. Stellen). (Es ist dann nur ein konse­

quentes Fortschreiten auf der betretenen Bahn, den Unterschied zwischen beiden Religionssystemen nach Form und Inhalt abzuschwächen, wenn sich Spinoza bemüht, im Hinblick auf die Gemeinsamkeit in der praktischen Frömmigkeit das Wesensverwandte und Einende in der Vernunft- und Gffenbarungsreligion mit bewußter Absicht hervorzukehren (z. v. XV, 35) und damit letztlich beide als identisch und jede als vera religio hin­ zustellen (s. Praef. 23; XII an versch. Stellen; XIX, 5, 10, 17). Und

daß er es schließlich auf der andern Seite nicht für einen Raub hält, seine Vernunftreligion in die Bibel hineinzugeheimniffen, fügt sich un­ serer Betrachtung ebenfalls gut ein. - Natürlich wäre es psychologisch äußerst hölzern, behaupten zu wollen, daß alle diese verschiedenen Ele­ mente, die wir hier erarbeitet haben, in ihrer Isoliertheit Spinoza mit bewußter Ularheit vor Augen standen. Es ist ja stets Aufgabe einer kritischen Analyse, in Atome zu zerlegen, was ihr als organisches Ge­ bilde entgegentritt. Alle diese Differenzierungen sind nichts weiter als der Niederschlag einer einheitlichen Tendenz, die dem ganzen theologischen Teile sein unverkennbares Gepräge gibt; wir können sie formulieren: Akkommodation um jeden Preis. Beide Religionssysteme sind strekkenweise aneinander an- und miteinander ausgeglichen. Steht das bisherige Ergebnis unserer Untersuchungen auf sicherem Boden, so erhebt sich von selbst die Frage, welches Ziel Spinoza mit seiner Harmonisierungstendenz verfolgt hat. Es ist klar, daß die Ant­ wort auf diese Frage zugleich die gesuchte Lösung für das Verständnis des theologischen Teils in sich birgt. Und sie ist nun nicht eben schwer; sie drängt sich bei der ganzen Problemstellung fast von selbst auf. 3it der Tendenz liegt deutlich ein apologetisches Ziel: indem Spinoza es unternimmt, die Vernunftreligion als bibelwahr, gottgewollt

und mit der rechtverstandenen Gffenbarungsreligion im Kern« gehalt übereinstimmend hinzustellen, tritt er damit in stillschwei­ gender Absicht sür die vollwertige Daseinsberechtigung dieser seiner Re­ ligion ein. Seine Auseinandersetzungen tragen also mit anderen Worten den Charakter einer oratio pro domo. Wir müssen diesen schon von Freudenthal hervorgehobenen Gedanken, der bei Gebhardt von der Idee der Staatsschrift so gut wie ganz verschlungen wurde, im Sinne unserer eben gemachten Ausführungen wieder neu und Kräftig betonen, ja ihn zum Prinzip erheben, um dem eigenartig-nivellierenden Charakter des theologischen Teils in vollem Umfange gerecht zu werden und damit den Schlüssel für ein adäquates Verständnis in die Hand zu bekommen. Spinoza war seiner Zeit der große verfehmte, der Religionsschänder ohnegleichen; er galt als Gottesleugner und Verächter des Allerheiligsten, der scriptura sancta. 3m Jahre 1665, im gleichen Jahre, in welchem er den theologisch-politischen Traktat in Angriff nahm, wurde er in einer öffentlichen Petition an den IRagistrat von Delft gebrandmarkt als »Atheist und Religionsverächter von Gesinnung, als gemeinschädliches Subjekt, wie viele gelehrte Leute und Prediger bezeugen Rönnen."1) Der 30. Brief „Vas Volk hört nicht auf, mich des Atheismus zu beschuldigen" - und gelegentliche Wendungen im Traktat selbst (XII, 16, 6, 8) bestätigen das gleiche Urteil; man erhält fast den Eindruck, daß Worte wie Atheist und Religionsschänder stehende Bezeichnungen für den Crzketzer Spinoza waren. Spinoza konnte dieses moralische Verdikt unmöglich ruhig auf sich sitzen lassen; um so weniger, als noch immer dann und wann die Nacht des Mittelalters mit den grausen Schrecken der Inquisition in den holländischen Toleranzstaat hineindämmerte?) Wollte er also nicht eines Tages aus der beschaulichen Ruhe seines philosophischen Daseins unliebsam gestört werden, so hatte er allen Grund, sich beizeiten zur Wehr zu setzen. Und dazu kam noch eins. Spinoza hatte die Absicht,

auf seine Mitbürger zu wirken; er wollte ja gerade in diesem Augen­ blick eingreifen in den Streit, der die Geister der Zeit mächtig erregte, und wollte sie auf seine Seite herüberziehen. So mutzte ihm aus per« 0 Freudenthal Lg., S. 118 f. 2) Was damals noch alles möglich war, zeigen die Prozesse gegen die Brüder Koerbagh (s. Freudenthal Sp., S. 140 ff. und vor allem K. ©. Meinsma: Spinoza und sein Kreis, 1909, S. 349 ff. und Kap. X). Aber auch an die (Er« eignisse nach Veröffentlichung des Traktats dürfen wir erinnern; ob Spinoza dem Schicksal eines Adrian Koerbagh oder noch Schlimmerem entgangen wäre, wenn nicht Jan de Witt den ersten Sturm aufgefangen hätte, ist im höchsten Grade fraglich. (Es ist eine tragische Ironie im Leben Spinozas, daß das Buch, welches die theologischen Gegensätze mildern sollte, erst recht den Fanatismus gegen ihn mobil machte.

sönlichen und sachlichen Motiven alles daran liegen, die vorwürfe, mit denen ihn ein unverständiger Fanatismus immer wieder bedachte, in ihrer Haltlosigkeit darzutun. Indem wir in dieser Weise dem theologischen Teile des Traktats ein apologetisches Gepräge geben, tragen wir nicht mehr in ihn hinein, als Spinoza selbst bezweckt hat. In dem schon öfters herangezogenen 30. Brief spricht sich diese persönliche Note mit aller Klarheit aus: „Diese Meinung (sc. daß ich ein Atheist bin), soweit es möglich ist, von mir

abzuwehren, sehe ich mich genötigt." In den eben erwähnten Stellen des Traktats heißt es im gleichen Sinn: „Das eine weiß ich, daß ich nichts gesagt habe, was der Schrift oder des Gotteswortes nicht würdig wäre; denn ich habe nichts behauptet, das ich nicht mit den augenschein­ lichsten Gründen als wahr bewiesen habe. Darum kann ich es auch mit Bestimmtheit aussprechen, daß ich nichts gesagt habe, was gottlos wäre oder nach Gottlosigkeit aussähe" (XII, 6). Und im Anschluß daran ver­ wahrt er sich dagegen, daß seine Anschauungen zu einer laxen Lebens­ auffassung führen könnten (XII, 6f). wenige Seiten später kommt es ihm dann unwillig über die Lippen: „Man höre also auf, mich der Gott­ losigkeit zu beschuldigen, denn ich habe nichts gegen das Wort Gottes gesagt" (XII, 16). Und am Schluß des theologischen Teiles heißt es, gleichsam

resümierend, mit starkem Nachdruck: „Bevor ich zu anderem fortschreite, will ich hier noch ausdrücklich bemerken, obwohl es schon gesagt ist, daß ich die heilige Schrift oder die Offenbarung hinsichtlich ihrer Nützlichkeit und Notwendigkeit sehr hoch schätze" (XV, 44; s. auch II, 30; XII, 4, 8).

Aber mehr noch als in diesen gelegentlichen Äußerungen kommt der apologetische Charakter in der Gesamthaltung des theologischen Teils zum Ausdruck. Indem Spinoza zeigt, daß „die Schrift unbedingt die natürliche Erleuchtung und das natürliche göttliche Gesetz — so nennt er seine Vernunftreligion — empfiehlt" (IV, 50), indem er trotz des graduellen Unterschiedes, der sich nicht verleugnet, beide Religionsformen aneinander angleicht und im Hinblick auf den gemeinsamen praktischen Kein, d. h. also im Hinblick auf das wesentliche Ferment aller Religion geradezu eine Identifikation vornimmt und dann konsequent (und doch wieder inkonsequent genug) jede als vera religio anspricht, hat er einerseits der allgemeinen Hochschätzung der Bibel den für ihn höchst­ möglichen Tribut gezollt und aus der anderen Seite sich in höchst ge­ schickter Weise gegen die vorwürfe des Atheismus gedeckt, wer darf ihn jetzt noch der Gottlosigkeit zeihen, wenn er in dieser weise über

Bibel und Thristentum urteilt und in der Liebe zu Gott das Wesen seiner Religion, das doch nur das Wesen aller Religion ist, findet? Möglich auch, daß der gewiegte Politiker Spinoza mit seiner Gegen-

Überstellung der Vernunft- und Gffenbarungsreligion und seinem Bestreben,

sie ineinander zu flechten, zugleich noch ein anderes, weiterliegendes Siel verfolgt hat. Seine lex divina (im IV. Kapitel) ist, wie schon erwähnt, nichts anderes als der Grundstock seiner praktischen Philosophie; wir finden seine Ausführungen in zum Teil ganz ähnlicher Diktion in der Ethik (IV u. V) wieder. Wenn er nun im Traktat zeigt, daß dieses göttliche Gesetz nach seinem sittlichen Gehalt mit dem Kern der Offenbarungs­ religion identisch ist, und dann seine ganze Beweisführung auf die These hinausführt, daß man allen, „die nach Maßgabe ihres Verstandes und ihrer Fähigkeiten für Gerechtigkeit und Liebe eintreten", volle Freiheit in spekulativen Dingen zugestehen muß (XIV), sollte er dann nicht auch die Absicht gehabt haben, der Herausgabe seiner fast vollendeten Ethik die Wege zu bahnen? Daß auch dieser Gedanke bei der Rivellierungstaktik mitbestimmend gewesen ist, ist im höchsten Grade wahrschein­ lich ; ähnliche Überlegungen sind es gewesen, die ihn einst zur Veröffentlichung der cartesianischen Prinzipien veranlaßt haben (s. ep. 13; VL. II, S. 47).

Diese persönlich-apologetische Haltung, speziell des theologischen Teils, die dem Traktat den Charakter einer straffgeschlossenen Einheit nimmt, erhält noch eine gewisse Stütze durch einen Gedanken, den wir bisher nicht berührt haben. Der Traktat enthält nicht nur Spinozas Ver­ teidigungsversuch gegenüber dem Christentum, sondern auch seine Aus­ einandersetzung mit dem Judentum. Als er im Jahre 1656 von der Synagoge zu Amsterdam in Fluch und Bann getan war, schrieb er (in spanischer Sprache) eine Apologie, in der er gründlich mit dem Juden­ tum abrechnete und sich gegen die erhobenen vorwürfe verteidigte. Die Schrift ist uns leider nicht erhalten; wir wissen aber,1) daß ihr Inhalt

zum großen Teil in den theologisch-politischen Traktat übergegangen ist. Werden wir auch die in Betracht kommenden Partien des Traktats in unserer Analyse nur selten berühren (doch s. S. 29 Anm. 1 u. S. 35 Knm.), da sie für die religionsphilosophischen Probleme nicht von wesentlicher Bedeutung sind, so ist doch die Tatsache an sich nicht unwichtig. Sie zeigt das Eine, was in unserer Auffassung des Traktats schon zum Aus­ druck gekommen ist, mit voller Evidenz: wir haben kein Recht, in dem theologischen Teile eine einheitliche Größe zu erblicken, — einheitlich in dem Sinn, daß mit harter Konsequenz ein Gedanke durchgeführt würde, vielmehr gehen mehrere Tendenzen sichtlich nebeneinander her und geben gerade in dieser Mehrheit dem Traktat sein eigenartiges Gepräge?)

0 Vie Belegstellen bei Freudenthal Lg., S. 30 und S. 237. vgl. Bl. Derlei, De l’„Apologie“ de Spinoza. Revue des Etudes Juives, Bb. 65,1913, S. 231—242. 2) Blatt vermißt überhaupt im einzelnen den systematisch - zielstrebigen Charakter der Anlage; E}. Botttfas hat nicht unrichtig geurteilt: „II y a quelque confusion, trds peu d’ordre, dans cet 6crit“ (Siebe seine Blontaubaner Dissertation: Les idäes bibliques de Spinoza, Mazamet 1904, S. 23).

So viel über den theologischen Teil.

(Es handelt sich jetzt darum,

unsere Ergebnisse dem Rahmen des Ganzen einzuordnen und in kurzen Strichen ein Gesamtbild von dem Charakter und dem Aufbau

des theologisch-politischen Traktats zu entwerfen. Vie letzte Absicht Spinozas kommt in dem Untertitel des Buches zum klaren Ausdruck. (Er will zeigen, „daß die Freiheit zu philoso­ phieren nicht nur ohne Schaden für die Frömmigkeit und den Frieden

im Staate zugestanden werden kann, sondern daß sie nur zugleich mit dem Frieden im Staate und mit der Frömmigkeit selbst aufgehoben werden kann." Vas Recht der freien Meinungsäußerung war bisher durch die Orthodoxie geknechtet. In gespreiztem Selbstdünkel gebär­ dete sich diese als die alleinige Inhaberin der Wahrheit, die in der heiligen Schrift als der unfehlbaren Autorität ein für allemal ver­ siegelt sei. Alle anderen Meinungen sind zu unterdrücken; sie ge­ fährden das Fundament der Sittlichkeit und stellen damit den Be­ stand des Staates in Frage, „wenn die Pfeiler der Gerechtigkeit und Frömmigkeit erschüttert werden, so fallen Staat und Rirche dem Chaos anheim, wenn aber Moses der Richter und Aaron der Priester Hand in Hand gehen, wenn das Schwert und das Wort sich miteinander ver­ binden, dann werden beide blühen und Wurzel treiben, wie die Zedern des Stbanon."1) In dieser weise suchte man den Machthabern nach be­

kanntem Rezept Sand in die Augen zu streuen. Soweit die politische Seite in Frage kam, ist sie von Spinoza in der zweiten Hälfte des Traktats mit außerordentlicher Energie und Geisteskraft behandelt worden. Die Machtgelüste der Rirche werden im Sinne Jan de Witts in aller Entschiedenheit zurückgewiesen, die Rirche geradezu zu einem Attribut des Staates gemacht, und in vorbildlicher weife wird das Recht der Freiheit des Individuums proklamiert. Aber der Kampf gegen die Or­ thodoxie konnte nur dann mit vernichtender wucht geführt werden, wenn ihr das Fundament ihrer Anschauungen gleichsam unter den Füßen fort­ genommen wurde. Glauben und Wißen bildete für sie eine ungeschiedene Einheit; sie wähnte sich im Besitz eines untrüglichen Wahrheitssystems, das in der heiligen Schrift als dem Gotteswort fest verankert liege. Vas war der Punkt, wo der theologische Teil mit seiner Arbeit einzu­ setzen hatte, wollte Spinoza keinen Stotz ins Leere tun, so mutzte er den Gegnern auf ihr ureigenes Gebiet folgen und sie von ihren eigenen Voraussetzungen aus ad absurdum führen. So kommt er denn durch eine groß angelegte, mit dem Rüstzeug moderner Wisienschaftlichkeit aus­ gestattete Bibelexegese zu dem Ergebnis, daß die Rirche keine Akademie und die Religion keine wisienschaft ist (XIII, 4), daß nach der recht ver*) (E. B. hqlkema, Reformateurs, Bö. I, 1900, S. 180.

standenen Offenbarung Religion und Philosophie als zwei völlig getrennte Größen ohne Hatz und Liebe nebeneinander bestehen können; denn Religion ist im Grunde Moral und nichts anderes. Bei dieser Darstellung des Bibelinhalts bleibt aber Spinoza - wir wissen es schon — seinen exege­ tischen Prinzipien in keiner weise getreu; vielmehr wird ihm diese grund­

legende Vorarbeit für den politischen Teil zum Anlatz, die Berechtigung der eigenen „Religion" darzutun, dergestalt, daß sie, auch gemessen an

den Voraussetzungen der Orthodoxie, jeder Rritik standhalten kann. Am deutlichsten Kommt dies zum Ausdruck in dem versuch, die Grundzüge seiner eigenen intellektualistischen Sittenlehre durch die Autorität der Bibel zu stützen und in Anbetracht des gemeinsamen Kernes ihre wesent­ liche Übereinstimmung mit der Gffenbarungsreligion zu betonen. Damit hat er erreicht, was das unverkennbare Ziel dieser Beweisführung ist: die Existenzberechtigung der Vernunftreligion ist damit erwiesen, trotz ihrer andersartigen gedanklichen Einkleidung (s- XIV, 31 ff.). Denn

gläubig sind alle diejenigen und nur diejenigen, „die nach Maßgabe ihres Verstandes und ihrer Zähigkeiten für Gerechtigkeit und Liebe eintreten" (XIV, 39). Daß die wesentliche Identität zwischen beiden Größen auch ihre gleiche Stellung im Staatsleben einschlietzt, ist selbst­ verständliche Konsequenz (s. XIX, 5, 10, 17). Dürfen wir hoffen, durch diese Erörterungen den geheimnisvollen Schleier, der über dem theologischen Teil des Traktats ausgebreitet liegt, ein wenig gelüftet zu haben, so mutz doch sogleich hervorgehoben werden, daß sie nicht wie mit einem Zauberschlüssel das Verständnis jeder ein­ zelnen Stelle restlos erschlietzen; es bleiben immer noch manche Unklar­ heiten und Schwierigkeiten zurück. Aber ist dies bei einem so kompli­ zierten Gebilde wie dem theologisch-politischen Traktat anders möglich? Es pflegt ja stets das Schicksal von Kompromiffen zu sein, nach beiden

Seiten zu hinken. Und lassen sich überhaupt in Einzelfragen die An­ schauungen eines Mannes widerspruchslos auf eine glatte Formel bringen, der den methodischen Satz aufstellt: „Man rede nach der Fassungskraft der Menge und tue alles, was nicht an der Erreichung des Zieles hindert. Denn wir können nicht wenig Vorteil von der Menge erlangen, wenn wir soweit als möglich ihrer Fassungskraft Rechnung tragen. Dazu kommt, daß man die Menschen dadurch geneigt macht, der Wahrheit

ein williges Ohr zu leihen" (De Intellectus Emendatione Tractatus, VL. I, S. 7). wir dürfen bei der Lektüre des Traktats niemals ver­ gessen, daß ihn ein Mann geschrieben hat, der als Erbteil des Volkes, dem er entstammt, ein gut Teil diplomatischer Kunst besaß und diese Gabe bewußt seinen Zielen dienstbar machte. Diese Taktik wird uns psychologisch noch verständlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Spinoza nicht zu jenen Feuernaturen gehört, denen Kampf und Streit

Lebensbedürfnis ist; in seinem „temperamentlosen Ruhebedürfnis" das Ideal der stoischen „Apathia" verkörpernd, sucht er scheu, zurückhaltend, ja fast ängstlich jeden Rnstoß zu vermeiden und allen Streitigkeiten aus dem Wege zu gehen. „Rixas prorsus horreo“, sagt er einmal im Hin­ blick auf die hatzsüchtigen Theologen (ep. 6; VL. II, S. 27), und die Rufschrift auf seinem Siegelring „Laute" charakterisiert ihn nach dieser Seite zur Genüge?) So ist denn das Motiv seines Denkens, das ihn schon bei der Abfassung der Korte verhandeling, des Tractatus De Intellectus Emendatione und der Cogitata Metaphysica (s. ep. 13; VL. II, S. 46) leitete, im Traktat geradezu zum System erhoben; es heitzt, wie schon erwähnt: Akkommodation um jeden Preis. Wie weit diese Akkommodation im einzelnen Falle geht, wie viel doch wieder auf das Konto von Spinozas wirklicher Überzeugung zu setzen ist, ist zuweilen autzerordentlich schwer zu entscheiden. Ts kommt meist nur darauf an, wie die Akzente gesetzt werden; ohne eine gewisie Auslese und damit ohne eine gewisse Subjektivität geht es nicht ab. vatz Subjektivität in unserem Falle nicht gleichbedeutend ist mit Willkür, dürfte selbstver­ ständlich sein; sie beruht auf dem in eingehendem Studium der Gedanken­ welt des Traktats und der anderen Lebensäutzerungen Spinozas gewonnenen Gesamteindruck. Rach diesen einleitenden Bemerkungen gehen wir zur Analyse des Werkes über. Wir werden, um die Anschauungen Spinozas übersichtlich vorzutragen, nicht den Spuren folgen, die er selbst gegangen ist, sondern seine Gedanken in systematischer Gruppierung vorführen, wir beginnen mit der Darstellung der kirchenpolitischen Probleme. Gehören sie auch nur mehr mittelbar zu dem gestellten Thema, so lassen sie sich doch nach dem oben Gesagten von unseren Ausführungen nicht trennen. Sie bilden die allgemeine Abzweckung der Schrift: sie geben sich als das praktisch wichtigste und drängendste Problem der Seit. Die theologischen Partien wollen ja nach ihrer einen Seite nichts anderes sein als die Grundlage der kirchenpolitischen Erörterungen, diese der krönende Abschlutz, in den alles ausklingt. In ihren wesentlichen Grundgedanken sollen sie daher auch in unserem Zusammenhänge geboten werden.

*) Den Zusammenhang zwischen dem Menschen Spinoza und seiner Phi­ losophie beleuchtet die interessante, aber nicht immer einwandfreie psychologische Studie von (E. Lucka: Spinoza und Fichte. Preußische Jahrbücher, Bb. 153, 1913, S. 193—216.

vohrmann, Spinozas Stellung zur Religion.

2

II.

Staat, Kirche und Religion. Der politische Teil des Traktats, wie es Spinoza adäquat ist, geht er bei den staatsrechtlichen Er­ örterungen auf das Allgemeine, Natürliche, in der Vernunft Begründete und darum wefensvernünftige zurück. Er nimmt seinen weg von dem Rechte, „das mit uns geboren ist" (f. XVI, 9), vom Naturrecht. Dieses

Naturrecht enthält nach ihm als Kerngedanken den Satz, daß das Recht eines Individuums so weit reicht, wie seine Macht. Gemäß seiner na­ türlich-instinktiven Veranlagung kann jeder tun, was ihm beliebt; sein handeln findet eine Grenze nur in seiner faktischen Macht. Mit mensch­ licher Vernunft hat dieser Zustand, mit dem der Feiten Lauf begann, nichts zu schaffen; es herrscht in ihm der ungezügelte Naturtrieb. Bloße Nützlichkeitsintereffen sind es gewesen, welche die Menschen hernach veranlaßt haben, diesem Naturrecht zu entsagen und die Vernunft als Führerin anzuerkennen. Jtt einem Vertrag haben sie sich daher ge­ einigt, das Recht des Einzelnen auf die Gesamtheit zu übertragen Spinoza spricht zunächst nur von der Demokratie als der Urform des Staates - und die ganze Lebenshaltung dem Gesetz der Vernunft zu unterwerfen. Der Abschluß dieses Vertrages ist die Geburtsstunde des Staates. Ls liegt in der Ronsequenz dieser Entwicklung, daß die Gbrigkeit die höchste Macht und das höchste Recht in den Händen hat, während alle andern ihr in allen Beziehungen zu gehorchen haben (XVI, 1—36). wie haben wir nun im Lichte dieser Entwicklung über das Problem

Staat und Religion zu urteilen? Man mutz bei dieser Frage den Begriff der Religion klar und scharf fassen. Sofern Religion in äußeren Handlungen besteht, in Ausübung der Frömmigkeit und äußerem reli­

giösen Kult, mit einem Wort: sofern Religion Kirche ist, ist sie in ihrer Totalität dem Staat unterworfen; sofern Religion Frömmigkeit ist und in Einfalt und Wahrhaftigkeit des Gemüts besteht (s. VII, 90), ge­

hört sie zu den unveräußerlichen Rechten des Individuums. Die erste These wird sofort klar, wenn man bedenkt, daß die Religion nur durch den Beschluß der Gbrigkeit Rechtskraft erlangt.

3m Naturzustande gibt es keine Religion und kein Gesetz und daher

auch keine Sünde und kein Unrecht; daß der Mensch Gott Gehorsam schuldig ist, kann er ja nur aus der Offenbarung erfahren (XVI, 53 f.).

Damit nun die göttlichen Lehren unbedingte Rechtskraft erhielten, war

es nötig, daß der Einzelne sein natürliches Recht aufgab, und alle es auf alle oder auf einige oder auf einen übertrugen; erst von da an wußte man, was Gerechtigkeit und Billigkeit ist. Man kann gegen diese Ausführungen nicht einwenden, daß Gott es ist, der seinen Ge­ boten Rechtskraft verleiht. Gottes Reich ist ja überall da, wo Gerechtig­ keit und Liebe zur Norm des handelns erhoben werden. Es gibt also neben diesem Reich der Gerechtigkeit nicht noch eine besondere Gottes­ herrschast; vielmehr ist die Obrigkeit die Mittlerin zwischen Gott und den Menschen, sobald sie die genannten sozialen Grundtugenden zu Staatsgesetzen erhebt. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob wir die Reli­ gion als durch natürliche oder durch prophetische Erleuchtung offenbart faffen; denn der Beweis ist allgemeingültig, da die Religion ja ein und dieselbe ist und von Gott ganz ebenso offenbart, mag man sich nun die Rrt, wie sie den Menschen kund ward, so oder so vorstellen (XIX, 17-21).

von diesen grundlegenden Bemerkungen aus werden wir verstehen, daß nach Spinoza die Religion — immer sofern sie in äußeren Hand­ lungen besteht - niemals dem Staatsintereffe widersprechen darf. Durch die Regierung ist ja erst der Bestand alles Guten und vernünftigen ge­ sichert; mithin ist die Liebe zum Vaterlande die höchste Frömmigkeit, die man zeigen kann. Das Wohl der Gesamtheit mutz also stets höchstes

Gesetz sein; nicht was dem Einzelnen frommt, sondern dem Ganzen zu­ nütze ist, ist ein frommes Werk. Das Wohl und Interesse der Gesamt­ heit gehört aber zu den Obliegenheiten der Obrigkeit; folglich hat auch die Obrigkeit und nur sie allein das Recht zu bestimmen, in welcher Weise der Einzelne seine Frömmigkeit betätigen und somit seine Pflicht gegen Gott erfüllen soll. Spinoza kann den Satz auch so zuspitzen: Niemand kann in der richtigen Weise Frömmigkeit üben und Gott ge­ horchen, wenn er nicht allen Beschlüssen der Obrigkeit gehorcht (XVI, 22 — 27). Alle sogenannten geistlichen Angelegenheiten ge­ hören also samt und sonders zum Recht der Obrigkeit: sie hat Religionsdiener zu ernennen, die Grundlagen der Rirche und ihre Lehre zu bestimmen/) über die Sitten und Handlungen der Frömmigkeit zu urteilen, jemanden aus der Gemeinschaft der Rirche auszuschließen oder in sie aufzunehmen, die Ausbreitung der Religion zu übernehmen und

*) Unter der Lehre sind wohl die Uormalbogmata aus Kapitel XIV ge­ meint, ohne die der Gehorsam gegen Gott und seine Gebote unmöglich ist (s. unten S. 33 f ).

schließlich für die Armen zu sorgen. Kurz, der ganze Kirchliche Ver­ waltungsapparat und die Aufgaben der inneren und der äußeren Mission haben in den Händen der Gbrigkeit zu ruhen (XIX, 39; tract. pol. III, 10).

Daß mit dieser Lösung dem Staat wirklich am besten gedient ist, Kann nicht wohl bezweifelt werden. Wer die Macht in den geistlichen Angelegenheiten besitzt, genießt beim Volk eine unumschränkte Autorität;

man kann geradezu behaupten, daß er die höchste Herrschaft über die Herzen ausübt. So führen denn alle versuche, die geistlichen Ange­ legenheiten der staatlichen Kompetenz zu entziehen, zu einer Teilung der Herrschaft und damit zu nie endendem Streit, hat denn die Gbrigkeit noch irgendwelche Macht, wenn sie bei Krieg und Frieden oder sonstigen Angelegenheiten stets erst nach dem Urteil eines anderen fragen und sich ihm beugen mutz? Vie Konsequenzen eines derartigen Zustandes liegen klar zutage; man braucht nur an die Geschichte des Papsttums zu denken. Was alle Monarchen nicht mit Feuer und Schwert, das hat die Geistlichkeit mit der Feder allein vermocht. Schon daraus geht klar ihre große Macht hervor, aber ebenso die zwingende Notwendigkeit für die Regierung, sich diese Autorität zu wahren (XIX, 40 — 44).

(Ein Einwand könnte noch erhoben werden: Wer ist dann der be­ rufene Schützer von Religion und Frömmigkeit, wenn die Inhaber der Regierungsgewalt gottlos sein sollten? Man kann, so meint Spinoza, die Frage im Hinblick auf die Geistlichen mit gleichem Recht erheben. Und überdies: wenn die Gbrigkeit tun will, was ihr beliebt, dann wird sie alles ins verderben stürzen, ob sie nun das geistliche Recht hat oder nicht. Man wird eher behaupten dürfen, daß das Übel schlimmer wird, wenn man ihr das Recht vorenthält. Venn wie das Beispiel der hebräischen Könige zeigt, werden die Regierenden durch den Gegensatz zur Geistlichkeit zur Gottlosigkeit geradezu getrieben und aus dem mög­ lichen und drohenden Unglück wird also ein wirkliches (XIX, 46 ff.). Aber wie, wenn die Gbrigkeit etwas fordert, was mit unserem Gehorsam gegen Gott unvereinbar ist? Sollen wir dann der göttlichen oder der menschlichen Herrschaft gehorchen? Auch für diesen Fall for­

dert Spinoza Unterordnung unter die Entscheidung der Gbrigkeit. Zwar muß man natürlich Gott mehr gehorchen, denn den Menschen;*) da aber in Religionssachen die Menschen gewöhnlich am meisten irren und je nach ihrer geistigen Eigenart mancherlei erfinden, so würde damit das Recht des Staates völlig ins Belieben des Einzelnen gestellt und

*) Wenn Spinoza begründend hinzufügt: „da wir eine gewisse und un­ zweifelhafte Offenbarung (certam et indubitatam revelationem) besitzen", so zeigt diese Formulierung, wie weit er sich unter Umständen akkommodieren kann. Der theologische Teil ist im großen ganzen auf einen anderen Ton gestimmt.

seinen Launen untergeordnet werden. Um dieser groben Rechtsverletzung aus dem Wege zu gehen, gibt es nur das eine Mittel, daß der Gbrigkeit das unverkürzte Recht zugestanden wird, in staatlichen, wie in Religionsangelegenheiten zu entscheiden, wie sie es für gut hält; und alle sind verpflichtet, ihren Entscheidungen und Geboten zu gehorchen, Kraft der ihr gelobten Treue, die Gott allewege zu halten befiehlt (XVI, 66 ff.). Soviel über diese Seite des kirchenpolitischen Problems. Wir ver­ lassen es in dem Augenblick, wo die Frage ihre denkbar schärfste Zu­ spitzung fast im Sinne eines cäsareopapistischen Systems gefunden hat: Die Rirche ist für Spinoza ein bloßes Attribut des Staates. Aber hier biegt Spinoza ab, um dann für die psychische Seite der Re­ ligion eine ganz neue Gedankenlinie einzuschlagen. Der Staat ist nach ihm, wie wir oben ausgeführt haben, in der Weise konstituiert worden, daß die Einzelnen auf ihr Naturrecht Verzicht leisteten und es auf die Gesamtheit übertrugen. Diese Rechtsentäutzerung ist selbstverständlich keine totale gewesen; das hieße ja dem Menschen seine menschliche Würde rauben. Niemand kann so weit dem Willen eines anderen unterworfen werden, den zu hassen, der ihn durch Wohl­ taten verpflichtet, und den zu lieben, der ihm Schaden zufügt (XVII, 1 ff.). Zu diesen Dingen, die sich aus den Gesetzen der menschlichen Natur mit Notwendigkeit ergeben, gehört auch die Freiheit der religiösen Überzeugung. Sofern Religion nicht sowohl in äußeren Handlungen als in eigenartig betonten Grundstimmungen der Seele beruht, in Ein­ falt und Wahrhaftigkeit des Gemütes, fällt sie nicht unter das öffent­ liche Recht. Denn Einfalt und Wahrhaftigkeit des Gemüts kann dem Menschen nicht durch irgendwelche äußere Autorität aufgezwungen werden, wie denn auch, bemerkt Spinoza nicht ohne ironischen Seitenblick auf den Bekehrungseifer der Prädikanten, schlechterdings niemand gezwungen werden kann, selig zu werden; dazu ist vielmehr eine fromme und brü­ derliche Ermahnung, gute Erziehung und vor allem ein eigenes freies Urteil erforderlich (VII, 90 ff.). Dieses Recht des freien Urteils in der Religion ist aber nur ein Teil der vollkommenen Meinungsfreiheit, die der Staat seinen Untertanen zugestehen muß. Nach dem höchsten Naturrecht ist jeder Herr seiner Gedanken und hat die Freiheit zu urteilen und zu denken, was ihm gemäß ist. Es ist unmöglich, daß der Geist einem anderen verfällt; das Recht der freien Meinungsäußerung ist ein schlechthin un­ veräußerliches. Wenn wir einmal davon absehen, daß diese Freiheit zur Förderung der Künste und der Wissenschaften unerläßlich ist — denn diese kann man nur dann mit gutem Erfolge pflegen, wenn man ein freies und in keiner Weise voreingenommenes Urteil hat —, abgesehen

hiervon liegt diese Freiheit letztlich auch im Interesse des Staates selbst, wenn einer nachweist, daß ein Gesetz der gesunden Vernunft wider­ streitet, und deshalb für seine Abschaffung eintritt, so erwirbt er sich damit ein unbestreitbares Verdienst. Voraussetzung ist natürlich, daß er nicht auf dem revolutionären Wege einer wohlberechnet-zersetzenden Kritik vorgeht oder demonstrativ gleich gegen das Gesetz handelt; er hat sich zu bescheiden, in offener Weise seine Meinung vorzutragen. Sollte ihm in solchem Falle die Gbrigkeit den Mund verbieten? (Es kann doch wahrlich nicht Zweck des Staates sein, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu willenlosen Automaten zu degradieren; vielmehr hat er zu bewirken, daß ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann. Und in unserem Zusammenhang spricht Spinoza das schöne Wort aus: Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit. Das Recht der freien Meinungsäußerung ist also im Wesen des Staates begründet; sie wirkt ihr positiv Gutes. Auf der anderen Seite läßt sich nicht verkennen, daß ihre Beschränkung ihre großen Gefahren in sich birgt. (Eine Herrschaft, die sich auf die Geister ausdehnt, ist nichts anderes als eine Gewaltherrschaft und ist, wie jede Tyrannis, ihren Gefahren ausgesetzt. (Ein Blick auf die hebräische Geschichte zeigt, wie gefährlich es ist, rein spekulative Dinge dem jus divinum zu unter­ stellen; es bedeutet nichts anderes, als die Leidenschaft des Pöbels auf­ zustacheln und ihm die Besten und Tüchtigsten auszuliefern, was um so schlimmer ist, als sich dieses Gebaren mit dem Mäntelchen der Religion umhüllt (XVIII, 23 ff.). Und noch eins darf nicht außer acht gelassen werden: was die Gbrigkeit erreichen wollte, würde ihr doch nimmer­ mehr gelingen; je mehr die Redefreiheit unterdrückt würde, um so hart­ näckiger würde man darauf bestehen. Die Menschen sind ja so geartet, daß ihnen nichts unerträglicher ist, als wenn ihnen die Ansichten, welche sie für wahr halten, als verbrechen angerechnet werden. Der Druck erzeugt Gegendruck. Sie verachten die Gesetze, lehnen sich gegen die Gbrigkeit auf, und das Ziel der Gbrigkeit schlägt um ins Gegenteil. Und „läßt sich ein größeres Unglück für einen Staat denken, als daß achtbare Männer, bloß weil sie eine abweichende Meinung haben und nicht zu heucheln verstehen, wie Verbrecher des Landes verwiesen werden? was kann verderblicher sein, als wenn Männer nicht wegen eines verbrechens oder einer Freveltat, sondern nur weil sie freien Geistes sind, für Feinde erklärt und zum Tode geführt werden, wenn das Schafott, das Schreck­ bild des Bösen, zur schönsten Schaubühne wird, um das erhabenste Bei­ spiel der Selbstverleugnung und Tugend aller Majestät zum Hohne dar­ zubieten?" „Soll also nicht Kriecherei, sondern Treue gewertet sein, und sollen die höchsten Gewalten die Regierung in festen Händen halten,

so mutz die Freiheit foes Urteils notwendig gewährt und die Menschen

müssen so regiert werden, dah sie, mögen sie auch unverhohlen verschie­ dene und entgegengesetzte Meinungen haben, doch in Eintracht mit­ einander leben (XX). Mit begeistertem Pathos klingt der politische Teil aus in das hohe Lied der Freiheit; die Wucht der Diktion gemahnt an Fichte: ihr Völker, alles, alles gebt hin, nur nicht die venkfreiheit."

„Nein,

Wir haben mit diesen Gedanken den wesentlichen Gehalt der poli­ tischen Erörterungen wiedergegeben. Die beiden Korrespondierenden Mo­ mente jeder Staatsausfassung, die Idee der Autorität und die der Frei­ heit, sind von Spinoza im Sinne der Bekämpfung aller kirchlichen Machtansprüche mit voller Klarheit herausgearbeitet worden. Für die Kirche ist der Staat die absolute Autorität, der sie sich in allem zu fügen hat; auf der andern Seite ist der Staat der hort der Freiheit, der freies Denken und Reden zu gewähren und gegen kirchliche Vevormundungsgelüste zu verteidigen hat. Diese Anschauungen nun auch den Gegnern mundgerecht zu machen, ist das sachliche Siel des theologischen Teils.

III.

Der theologische Teil -er Traktats. 1. Dle Gffenbarungsreligion. a) Vie Bibel als Grundlage der Gffenbarungsreligion?) Welche Bedeutung das richtige Verständnis der Bibel für Spinoza hatte, ist oben (S. 15f.) schon angedeutet worden. Der große Kampf, der die Jahrhunderte beschäftigt hatte, der Streit zwischen Philosophie und Theo­ logie, sollte, das war die Meinung Spinozas, ein für alle Male entschieden werden. Vie Wucht des Angriffs konnte, wie er mit richtigem Blick erkannte, nur dann mit vernichtender Kraft erfolgen, wenn er die Gegner ganz objektiv und ganz sachlich von ihren eigenen Voraussetzungen aus eines Besseren belehrte. So wurde der Kampf der Meinungen auf das exegetische Gebiet hinübergetragen; alles handelte sich darum, ein festes, unerschütterliches Fundament für ein wirkliches Schriftverständnis zu gewinnen. hatte man bisher behauptet, daß zum Verständnis der Bibel ein lumen supranaturale nötig sei, daß das vom heiligen Geist In­ spirierte naturgemäß nur von übernatürlicher Eingebung adäquat erfaßt werden könne, und hatte man auf der anderen Seite die These ver­ fochten, daß der Inhalt der Bibel nach der Lehre vom mehrfachen Schrift­ sinn solange gepreßt werden müsse, bis er mit der Vernunft im Ein­ klang sei, so lehnt Spinoza beide Erklärungsversuche mit souveräner Überlegenheit ab (VII, 71 ff.) und entwickelt seinerseits mit genialer In­ tuition das Programm, das erst die Theologie des 19. Jahrhunderts verwirklicht hat. Er ist der erste, der immanente und also historische Kritik übt; er ist der Begründer der historisch-kritischen Bibel­ forschung. Wenn wir, so können wir seine Meinung formulieren, irgendwelche Objekte des natürlichen oder geschichtlichen Lebens begreifen wollen, so müssen wir sie als Glieder ihrer Gattung fassen und von hier aus zu erklären suchen. Wie wir die Kriterien zur Beurteilung der Natur aus der Natur selbst entnehmen, so haben wir unsere ganze Erkenntnis der Schrift aus der Schrift und nur aus ihr zu schöpfen (VII, 13). Wir 3 vgl. zu diesem Abschnitt L. Siegfried, Spinoza als Kritiker und Aus­ leger des Alten Testaments, Naumburg 1867, und 3- T. Matthes, De bijbelcritiek van Spinoza, in Tepler's Theologisch Tijdschrift VII, 1909, S. 151 — 173.

müssen uns geflissentlich hüten, irgendwelche fremden Vorstellungen in die Bibel hineinzutragen; denn das Wesen einer jeden Exegese besteht darin, nicht nach der Wahrheit des Inhalts zu fragen, sondern den

wahren, wirklichen Inhalt zu ermitteln (was natürlich nicht hindert, noch nachträglich die Wahrheitsfrage zu stellen; XV, 8). Was uns für die Erklärung nottut, ist, um es mit einem Wort zu sagen, eine „Ge­ schichte der Schrift", wie er es nennt, oder mit einem modernen Ausdruck: eine Literaturgeschichte des Alten und des Neuen Testaments (VII, 7 ff.). Die grundlegenden Vorarbeiten betreffen die Sprache der

Bibel.

Wir müssen die hebräische Sprache - Spinoza beschränkt sich auf

das Alte Testament — in ihrer Natur und allen ihren Eigentümlichkeiten kennen lernen; sie ist für ein wirkliches Schriftverständnis die conditio sine qua non (VII, 15). Wir brauchen daher ein Wörterbuch, eine Gram­ matik, eine Syntax (VII, 45), namentlich aber auch eine Phraseologie (VII, 46) und eine Konkordanz, die, nach Hauptgesichtspunkten geordnet,

alles enthält, was sich über einen und denselben Gegenstand in der Bibel findet (VII, 16). Erst nach diesen sprachlichen Studien kommen wir dann zur Literaturgeschichte im engeren Sinne des Wortes. Und nun entwickelt Spinoza in aller Klarheit das Ziel der drei wissenschaft­ lichen Disziplinen, die auch heute noch in ihrer Gesamtheit als unent­ behrliche Unterlage für das Verständnis der biblischen Schriften betrachtet werden: 1. eine Kritik und Geschichte des Textes, 2. eine (zeit- und kulturhistorisch orientierte) Geschichte der Ent­ stehung der einzelnen Bücher (Linleitungswissenschaft) und 3. schließlich: eine Kritik und Geschichte des Kanons (VII, 23-25; 58-63). Erst wenn diese „Geschichte der Schrift" in vollem Umfang vor­ liegt, können wir darangehen, den Sinn der Propheten und des heiligen Geistes zu erforschen, d.h. also: eine Theologie des Alten und des Neuen Testamentes zu schreiben. Sie hat vom Allgemeinen Stufe für Stufe zu den minder allgemeinen Dingen fortzuschreiten und so, von der gefun­ denen Grundlage aus alles Unklare beleuchtend, den ganzen Sinn der Schrift zu erklären und zu bestimmen (VII, 26 ff.). Aber angesichts dieser unendlichen Vorarbeiten, von denen zu seiner Zeit noch keine in Angriff genommen roar,1) gesteht Spinoza rundweg: *) Spinoza selbst sucht, so viel an ihm ist, diesen Mangel auszugleichen. Wie er eine allerdings unvollendet gebliebene hebräische Grammatik geschrieben hat (vgl. hierzu I. vernays' Aufsatz „über Spinozas hebräische Grammatik" in seinen „Gesammelten Abhandlungen", Berlin 1885, Bd. II, S. 342—350), so wendet er auch gleich seine methodischen Prinzipien auf die Einleitungs­ fragen zu den Büchern des Alten Testamentes an, und mit dem sicheren historischen Empfinden, das ihn schon bei der Ausstellung der Methode leitete,

bei den meisten Stellen kennen wir den Sinn der Schrift entweder gar

nicht oder vermuten nur aufs Geratewohl, ohne Gewißheit (VII, 65).

Indessen soll sich dieses Urteil nicht auf die zum heil notwendigen Be­ standteile der Schrift beziehen, d. h. auf die Lehren der wahren Frömmig­

keit. Diese sind so allgemeingültig, einfach und verständlich, daß in diesem Punkt der Sinn der Bibel niemals entstellt werden kann (VII, 65 ff.).1) gelingt es ihm auch hier, dauernde Werte zu schaffen und Antworten der kom­ menden Jahrhunderte vorwegzunehmen. Seine hauptsächlichsten Resultate sind folgende: Der Pentateuch ist nicht von Moses geschriebene so dekretiert er mit aller Bestimmtheit. Ebensowenig sind die Bücher Josua, der Richter, Samuelis und der Könige von denen verfaßt, die in der Überschrift angegeben sind. Und nun ein genialer Blick in den inneren Zusammenhang, der zwischen allen diesen Büchern waltet: Die Schriften von der Genesis bis zum II. Buch der Könige bilden einen großen, zusammenhängenden Geschichtsbericht, beginnend mit der Schöpfung der Welt und endend mit dem Untergang des jüdischen Reiches; das Ganze ein groß angelegtes Drama der Theodizee. Daß Spinoza diese Schriften insgesamt einem Verfasser zuschreibt und ihn - allerdings nur hypo­ thetisch — in Esra erblickt, vermag die Bewunderung für seinen historischen Takt nicht zu verkürzen. Der gleiche sichere Blick für das problematische zeigt sich bei der Kritik des Deuteronomiums; er spürt schon die Besonderheit der Stellung dieses Buches im Rahmen des Pentateuchs, ohne allerdings eine zulängliche Losung zu bieten. Daß die Schriften der Propheten uns nach seiner Meinung nur in Bruchstücken vorliegen, daß er die chronologischen Schwierigkeiten im Alten Testament mit aller Deutlichkeit erkennt, daß er sich noch eingehend und ftuchtbar mit den Randbemerkungen in den hebräischen Handschriften beschäftigt, alles dies soll hier nur angedeutet werden, um die Tiefe und den Umfang seiner kritischen Studien zu belegen (Kap. VIII—X). Sie auch auf das Neue Testa­ ment auszudehnen, lehnt er ab mit der Begründung, daß seine Kenntnis der griechischen Sprache für diesen Zweck nicht hinreichend sei (X, 48). Wenn man jedoch bedenkt, daß Spinoza eine ganze Reihe von Grammatiken und Wörter­ büchern der griechischen Sprache besessen hat (s. das Verzeichnis seiner Bibliothek bei Freudenthal Lg., S. 160ff.), wird man mit der Annahme nicht fehlgehen, daß die Beschränkung auf das Alte Testament lediglich taktischen Erwägungen entsprungen ist. *) Spinoza kann den gleichen Gedanken auch so ausdrücken: eine Ver­ fälschung des wesentlichen Bibelinhalts ist völlig unmöglich; denn er ist ja nichts anderes, als das ewige Gotteswort und die wahre Religion, die dem mensch­ lichen Geist von Gott her eingeschrieben ist (XII, 1 f.). Was menschliche Bös­ willigkeit hiervon in der Schrift hätte ausloschen wollen, hätte die allgemeine Grundlage sogleich wieder vorgeschrieben. So darf man also den Schluß ziehen, daß das allgemeine göttliche Gesetz in seiner Gesamtheit, wie die Schrift es lehrt, unverfälscht auf uns gekommen ist (XII, 37 f.). Und gerade sofern die Bibel die wahre Religion enthält, ist Gott ihr Urheber (XII, 23), heißt sie verbum Dei (Bis ostendimus Scripturam ratione religionis tantum sive ratione legis divinae universalis proprie vocari verbum Dei; XII, 32). Die Harmonisie­ rungstaktik hat an diesen Stellen, wie überhaupt in Kap. XII, einen geradezu sinnverwirrenden Ausdruck erhalten; die Vernunftreligion ist sans phrase an die Stelle der (vffenbarungsreligion getreten, beide sind nach Form und Inhalt ein und dasselbe. Gb wir wegen dieser schlechthinigen Identifikation beider

Wie beantworten sich nun für Spinoza die Fragen nach der Grund­ lage und dem Inhalt der Dffenbarungsreligion im Lichte seines exege­ tischen Kanons? b) Die religionspsychologische Grundlage der Gfsenbarungsreligion.

Spinoza will, wie er nochmals versichert, über die Offenbarungs­ religion eine ganz objektive Darstellung geben, die er lediglich der Bibel entnimmt. Denn für Fragen, die außerhalb des rationalen Erkennens liegen, ist die Vernunft nicht zuständig; wir haben uns daher an das zu halten, was uns die Propheten selbst über die Offenbarung sagen. Da es nun heute keine Propheten mehr gibt, so sind wir an das ge­ bunden, was sie uns schriftlich in der Bibel hinterlaffen haben (I, 7). Spinoza kommt bei dieser exegetischen Arbeit zu folgendem Ergebnis. Es gibt Offenbarung, denn es gibt Prophetie. Prophetie und Offenbarung sind identisch. Prophetie oder Offenbarung ist die von Gott geoffenbarte sichere Erkenntnis (certa cognitio; 1,1). Sie ist in den Grundlagen wie im Gegenstand von der natürlichen Erkenntnis völlig verschieden (Praef. 27). Sie findet sich wie die allgemeine Ver­ nunfterkenntnis zwar bei allen Völkern (III, 31), ist aber trotzdem eine Gabe, die nur wenigen und diesen wenigen nur selten verliehen wird (I, 47). Es ist dies eine Folge ihrer Eigenart. Die Bibel zeigt

ja mit Evidenz, daß die Propheten nicht Männer von hervorragender intellektueller Begabung waren; was sie auszeichnete, war moralisches Streben und Leben und - darauf ruht hier der Hauptton - eine hoch­ entwickelte Vorstellungskraft (II, 1). Sie haben die Offenbarungen

Gottes empfangen durch Vermittlung von Worten oder Bildern, wirk­ lichen oder imaginären (I, 43). Die Grundlage der Offenbarung ist also nicht die ratio, sondern die imaginatio.1) Es liegt im Wesen

Heligionsformen Kapitel XII für einen alteren Bestandteil des Traktats erklären muffen, wie Maurer (a. a. (D., S. 4, S. 29 Hnm. und 62 Hnm.) will, darf be­ zweifelt werden. Sie ist auch, worauf schon hingewiefen ist (f. oben $. 11), in der Praefatio und Kapitel XIX, übrigens auch ep. 43 (VL. II, S. 172) nachweis­ bar und findet, wie wir gezeigt haben, ihre hinreichende Erklärung in der apo­ logetischen Tendenz des Traktats. Die durchgehende Identifikation in Kapitel XII mag sich einfach aus dem gestellten Thema erklären: in welchem Sinne die Schrift als heilige Schrift und als Gotteswort anzufehen ist? *) Die imaginatio ist nach der Ethik (II, Prop. 13 ff.) die der ratio ent­ behrende, auf bloßer Sinneswahrnehmung beruhende Erkenntnis. Als solche erfaßt sie die Dinge bloß in ihrer Isoliertheit, nicht in ihrer Totalität, d. h. nicht als Glieder einer zusammenhängenden Ordnung und kann demgemäß auch das Wesen der Dinge nicht ergründen. Sie ist verworren, unvollständig, in­ adäquat, eine nach Ursprung und Inhalt durchaus unvollkommene Art des Er­ kennens.

dieser sich in der Sphäre der Phantasietätigkeit auswirkenden Offen­ barung, daß sie nicht reine und adäquate Erkenntnis bietet, sondern, rote alle durch das Medium der Sinnlichkeit aufgenommene Erkenntnis, getrübt und verworren ist. Gott patzte sich naturgemätz dem Vorstel­ lungsvermögen der Einzelnen an; und so finden wir, datz die im Tem­ perament, Beruf und Vorstellungsniveau gegebenen psychischen Grundlagen des Propheten der Offenbarung ihre eigenartige, subjektiv betonte Fär­ bung aufprägen (II, 13 ff.), wir werden also bei den Propheten Keine

besondere wiffenschastliche Belehrung suchen dürfen; auch bei ihnen gilt das Gesetz, datz dem plus an Vorstellungsvermögen (Phantasietätigkeit) ein Minus an Verstandeskräften entspricht (II, 1).

Aber hatten denn die Propheten irgendeine Gewähr dafür, datz die imaginatio nicht etwa täuschender Schein war, den ihnen eine er­ hitzte Einbildungskraft vorgaukelte? Es ist wahr, datz die Gewitzheit der rationalen Erkenntnis eine weit stärkere, weil unmittelbare ist (II, 6); die Offenbarung bedarf erst einer besonderen Bestätigung. Diese beruht auf einem Doppelten: Erstens auf einem Zeichen (signum; — miraoulum), das aber durchaus der Individualität des Einzelnen angepatzt ist (und daher auf Allgemeingültigkeit keinen Anspruch erheben kann; II, 12)?)

So bleibt als wesentliche Stütze der Offenbarung nur übrig jene dem Rechten und Guten zugewandte sittliche Gesinnung, die das grund­ legende Lharakteristikum aller Propheten gewesen ist (11,10; III, 37; VII,11). Vie Frommen betört Gott nie (II, 8). Wessen Ziel die sittliche Vollendung ist, der darf deffen sicher sein, datz er von Gott nicht getäuscht wird, datz er wirkliche Erkenntnis empfängt (II, 8f.). Die Gewitzheit der

Offenbarung ist also keine mathematisch absolute, sondern eine blotz moralische.

c) Der Rerngehalt der Gffenbarungsreligion. Was die Propheten zu Propheten machte, war also nicht eine stark ausgeprägte Intelligenz, sondern lediglich ein hochentwickeltes Vorstellungs­ vermögen. Damit ist gegeben, was die Offenbarung nicht lehren kann: alle spekulativ-theoretische Erkenntnis fällt aus dem Rahmen des Geoffenbarten heraus. Wer daher Weisheit und Erkenntnis

*) wenn Spinoza hier von einem Zeichen spricht und später dessen Realität leugnet (f. S. 37ff.), so stimmt dar mit unserer Auffassung des Traktats gut überein. Einmal spricht der Lxeget, der objektiv den Vibelinhalt wiedergeben will, das andere Rlal der Philosoph, der seine eigene Überzeugung vorträgt. In derselben Weise löst sich der Gegensatz im Gottesbegriff. Rach dem Schrift­ inhalt existiert ein höchster Wesen, dar höchst gerecht und barmherzig ist (f. S. 33); in seiner Vernunftreligion befreit Spinoza den Gottesbegriff von allen solchen Anthropomorphismen (s. S. 44). Der Philosoph darf nicht „phrasibus theologiae uti“ (ep. 25; VL. II, S. 106).

der natürlichen Dinge in den Büchern der Propheten suchen will, der ist auf falschem Wege (II, 2). Vie Prophetie hat die Propheten nie­ mals gelehrter gemacht (II, 3). was sich so auf dem Wege logischer Deduktion ergibt, geht auch mit aller Klarheit aus der Schrift hervor. In allen theoretischen Fragen hat sich Gott durchaus den Anschauungen und Vorurteilen der Propheten akkommodiert. Zahlreiche Beispiele zeigen uns die Propheten befangen in den Gedanken ihrer Zeit und in ihren persönlichen Vorurteilen und beherrscht von widersprechenden Anschauungen (II, 23 ff.), wenn z. B. Moses, um mit Gott zu sprechen, glaubte auf einen Berg steigen zu müssen, so zeigt dies, datz man selbst von dem Gottesbegriff keine adäquate Vorstellung hatte (II, 43)?) wir

dürfen also aus alledem den Schluß ziehen, daß wir in keiner Weise gehalten sind, den Propheten in ihren theoretischen Lehren irgendwelchen Glauben zu schenken; wir sind nur verpflichtet, das zu glauben, quod finis et substantia est revelationis; in allem übrigen steht es jedem frei, zu glauben, was ihm beliebt (II, 53). was ist nun unter der Absicht und der Substanz der Offenbarung zu verstehen? Es ist klar, daß der Kern der Schrift einen überaus einfachen Inhalt enthalten muß. Die Bibel ist ein Volksbuch, das auf eine breite Masse, ja auf die ganze Menschheit wirken will (V, 38); sie kann daher

in ihrem Kern nur Gedanken enthalten, die auch dem beschränktesten Menschen verständlich sind (XIII, 4). wer sie vorurteilslos liest, kann über ihren Inhalt nicht im unklaren sein; das ganze Gesetz besteht in dem einen, in der Liebe gegen den Nächsten (XIV, 8). Mit dieser Grund­

lage ist auch das Ziel der Schrift gegeben: sie will nicht gelehrt, sondern gehorsam machen (XIII, 7 f.).*2) Ls handelt sich also nach Spinoza in der Gffenbarungsreligion nicht um irgendwelche theoretischen Wahrheiten, T) Überhaupt wußten die Israeliten, meint Spinoza, von Gott so gut wie nichts, obgleich er ihnen offenbart war. Das bewiesen sie zur Genüge durch die Verehrung eines Kalbes, in welchem sie die Götter sahen, die sie aus Ägypten geführt hatten. Und mit Gedanken, die Lessings „Erziehung des Menschen­ geschlechts" schon im Keime enthalten, heißt es dann weiter: Ls wäre auch in der Lat kaum zu glauben, daß Menschen, an den Aberglauben der Ägypter gewöhnt, roh und durch die elendeste Knechtschaft verkommen, eine richtige Er­ kenntnis von Gott besessen haben sollten (II, 45 f.). Ihrem Bildungsniveau entsprach das pädagogische Verfahren Gottes: ihnen ist die Religion schriftlich als Gesetz übergeben worden, weil sie damals noch wie Kinder behandelt wurden. Aber Moses und Jeremias verkünden eine künftige Zeit, in der Gott ihnen sein Gesetz ins herz schreiben werde (XII, 3). 2) Die gleichen Anschauungen finden sich in den Briefen: die Schrift ist für das Volk bestimmt (ep. 19; VL. II, S. 68); mit tiefsinnigen Spekulationen hat sie daher nichts zu tun (ep. 21; VL. II, 5. 97). Ihre Absicht ist nicht, Philosophie zu lehren und die Menschen gelehrt, sondern sie gehorsam zu machen (ep. 78; VL. II, §. 252).

sondern um ein Motiv für eine gottgewollte Lebenshaltung.

Beide Testa­

mente stimmen mit aller Deutlichkeit in diesem Punkt überein; sie sind nichts anderes als ein Kompendium der „Lehre vom Gehorsam" (XIV,6). Diese Tatsache erscheint ihm als so selbstverständlich, daß er eines stützenden Beweises völlig entraten zu können meint (XIV, 8). Religion ist ihm

Lebenshaltung, Rechtbeschaffenheit, Moral; damit ist ihr Wesen bestimmt. Sollten sich in der Schrift spekulative Elemente finden — dieser Tatsache kann sich Spinoza nicht ganz verschließen —, so betreffen sie eben nur die „Wissenschaft vom Gehorsam", also jene Wiffenschast, die allen Menschen

nötig ist, um Gott nach seiner Vorschrift gehorchen zu Können, und ohne deren Kenntnis die Menschen notwendig widerspenstig wären oder doch ohne die Sucht des Gehorsams (XIII, 8).

d) Vas augenblickliche Zerrbild der Religion und die Ursachen ihrer Vepravation.

Wir haben hiermit den Kern der Offenbarung kennen gelernt, wie sie einst durch den Mund der Propheten und der Apostel verkündigt worden ist. Spinoza hätte blind sein muffen, wähnte er diese seine An­ schauungen in der Religion seiner Zeit wiederzufinden. Klaren Auges sieht er das Gewirrs und Geranks, das um diesen Kern emporgewuchert ist und ihn zu ersticken droht oder ihn gar schon erstickt hat. Vie Frömmigkeit, so ruft er beschwörend zugleich und im bitteren hohn aus, die Frömmigkeit, o ewiger Gott, und die Religion bestehen in wieder­ sinnigen Geheimnissen; und wer die Vernunft von Grund aus verachtet und den verstand, als seiner Natur nach verderbt, verwirft und ver­ abscheut, der gilt für - gotterleuchtet. Besäßen die Kirchenmänner wirk­ lich eine göttliche Erleuchtung, so müßte sich dies in der Lehre zeigen.

Und wie steht es damit? Gewiß wird man zugeben müssen, bemerkt Spinoza spöttisch, daß sie für die tiefen Geheimnisse der Schrift nicht genug Bewunderung haben zeigen können, aber sieht man näher zu, so lehren sie doch nichts anderes als die Spekulationen eines Aristoteles oder Plato, denen sie die Schrift gewaltsam anpaffen, um nicht dem Gdium heidnischer Denkungsart zu verfallen! Und wie steht es mit der sittlichen Lebenshaltung? Gb einer Christ, Türke, Jude oder Heide, das sieht man jetzt nur noch an der äußeren Erscheinung und dem Kultus oder daran, daß er fleißig auf die Worte dieses oder jenes Meisters schwört, im übrigen ist der Lebenswandel bei allen der gleiche (Praef. 14 — 18). Vie Religion besteht bei ihnen nicht mehr in Liebe, sondern geradezu in Zwietracht, haß, Streit und Aufruhr (VII, 3f.). Was Spinoza an der Kirche seiner Zeit geißelt, ist also: die Verstei­ fung auf ein unverständliches und nach seiner Meinung unverständiges

Mysterium und Hand in Hand damit eine allgemeine unterchristliche' Lax­ heit in der praktischen Lebenshaltung.

Wie hat nun der Kern der Dffenbarungsreligion so im Innersten entstellt werden können? welches sind die Faktoren, die diese Ent­ wicklung herbeigeführt haben? Es ist hier der Grt, Spinozas An­ schauungen über den Aberglauben darzulegen. Sie finden sich in der Vorrede seines Buches?) Sagt Spinoza an dieser Stelle auch nicht mit konkreter Bestimmtheit, welche Dinge ihm als Aberglauben erscheinen es gehört dies zu den Vorsichten oder Rücksichten, die an vielen Stellen die Haltung des Traktakts bestimmen -, so kann es doch nicht einen Augenblick zweifelhaft sein, daß er gerade in den „positiven" Bestand­ teilen der Religion ein Produkt abergläubischer Gesinnung erblickt?)

Doch lassen wir ihn selbst zu Worte kommen.

Der Aberglaube — so

meint er - ist ein Produkt der Furcht.

Es ist ein Eharakteristikum menschlicher Schwäche, die Dinge dieses Lebens nicht mit planvoller Besonnenheit und Stetigkeit auszuführen, sondern in maßlosem Streben nach ungewissen Glücksgütern bald 'nach diesem, bald nach jenem zu Haschen. So kommen die Menschen nicht zur inneren Ruhe, sondern schwanken zwischen Furcht und Hoffnung hin und her. Gerade diese schwankende Grundstimmung ihres seelischen Seins bringt es mit sich, daß sie ohnerachtet ihres sonstigen Allwissens­ dünkels alles Beliebige glauben, was man ihnen an unsinnigen und abenteuerlichen Ratschlägen auflischt, widerfährt ihnen in dieser ihrer Ratlosigkeit gar noch etwas Ungewohntes, was sie in großes Erstaunen versetzt, so halten sie dies in ihrer geistigen Verblendung für ein Wunder, das den Zorn der Götter oder des höchsten Wesens künde, und irreligiös, wie sie einmal sind, meinen sie, es mit Opfern, Gelübden und allerhand Zeremonien sühnen zu müssen. Anstatt der Vernunft zu vertrauen, 'schelten

sie diese eitel und glauben mehr den Ausgeburten ihrer Phantasie; suchen den Beschluß der Gottheit nicht etwa im Geiste, sondern wähnen ihn in x) Ich habe mich nicht von Paul-Louis Couchoud (Benoit de Spinoza, Paris 1902, S. 89 f.) überzeugen lassen, daß die Vorrede des Traktats — wie die einleitenden Bemerkungen zu den Prinzipien der cartesianischen Philoso­ phie — von Spinozas Freund Ludwig Meyer geschrieben worden sei. E§ wäre auch ein höchst sonderbares Verhallen Meyers, die Vorrede zu einem Buch zu verfassen, das sich in der Bibelexegese stillschweigend, aber deutlich gegen seine eigene Schrift „Philosophia 8. Scripturae Interpres“ wendet, und das, wie es scheint, eine Entfremdung zwischen beiden Männern zur Folge hatte. Übrigens

gesteht Couchoud selbst, daß einige Partien der Vorrede von Spinoza herrühren müssen. 2) Sn diesem Sinne heißt es ep. 76 (VL. II, S. 246), „daß alles, was die römische ttirche von anderen unterscheidet, ganz und gar überflüssig ist und folglich allein vom Aberglauben herrührt."

den Eingeweiden der Tiere oder bei Toren, Narren und Vögeln zu finden (Praef. 1—4). Der Aberglaube ruht also im Affekt und zwar im allerwirksamsten. Es liegt daher in seinem Wesen, daß die Menschen nicht bei den einmal angenommenen Phantasiegebilden verharren, sondern sich bald diesen, bald jenen neuen Wahnvorstellungen hingeben, die sich noch nicht als trü­ gerisch erwiesen haben. So bleiben sie in beständiger Unruhe; Aufruhr und Kriege sind schon oft die Folgen dieser Unbeständigkeit gewesen. Unter dem Schein der Religion lassen sie sich dazu verleiten, bald ihre Könige als Götter zu verehren, bald ihnen zu fluchen und sie gleich einer Pest der Menschheit zu verabscheuen. Um solchem Übel vorzubeugen, hat man große Mühe darauf verwandt, die Religion mit soviel Formen und Gebräuchen auszustatten, daß sie über alles bedeutungsvoll erschiene und jeder ihr stets die höchste Ehrerbietung entgegenbrächte. Damit sollte die Ruhe gesichert sein (Praef. 7—9). Aber die Herrscher sind es nicht allein, die dazu beigetragen haben, die Religion zu verschlechtern; nicht minder sind die Priester deffen schuldig: so urteilt Spinoza, unhistorisch genug, mit einer weit verbrei­ teten Überzeugung des aufklärerischen Denkens. Seitdem es in der Kirche Mode geworden, die Geistlichen über alle Maßen in Ehren zu halten, haben sich ehrstrebende und habsüchtige Elemente in ihr breit gemacht; das Gotteshaus sank zum Theater herab, in welchem die Priester in marktschreierischer Pose um die Gunst der Massen buhlten und deren niederen Instinkten ihr Gpfer brachten. Kein Wunder daher, daß von der alten Religion nichts mehr geblieben ist als ihr äußerer Kultus, und daß der Glaube in Leichtgläubigkeit und Vorurteilen besteht (Praef. 15 f.).

Die Herrscher und vor allem die Priester sind also nach Spinoza die Förderer und Anwälte des Aberglaubens; alle drei Faktoren im Bunde haben das heutige Zerrbild der Religion geschaffen. Wie haben wir nun, so fragen wir weiter, über diese entstellten, d. h. also über die positiven Bestandteile der Religion zu urteilen? Wir stellen, wie billig, die Betrachtung der Dogmen an die Spitze dieser Ausführungen, e) Die positiven Bestandteile der Gffenbarungsreligion. Dogmen.

Für Spinoza ist — wir erinnern uns daran - Religion Gehorsam gegen Gott und seine Gebote; theoretische Fragen spielen in ihr keine Rolle, sie gehören in das Gebiet der ratio. Damit ist gesagt, daß die Dogmen kein integrierender Bestandteil der Religion find, vernunftge­ mäße Erkenntnis Gottes z. B. ist, wie die Schrift zeigt, keine Gabe, die allen Gläubigen gemeinsam ist. Die Schrift spricht von Händen, Füßen, Augen, Ghren Gottes usf. und zeigt damit, daß in diesen speku­ lativen Fragen die Gläubigen durchaus keine adäquate Erkenntnis be-

sahen (XIII, 25).

was die Gläubigen zu Gläubigen macht, ist nicht

die Erkenntnis Gottes, sondern der Gehorsam gegen Gott, d. h. also praktisch: die Liebesbetätigung gegen den Nächsten. Dieses Gebot ist die einzige Norm des ganzen allgemeinen Glaubens (kille! catholicae),

und danach allein sind alle Glaubenssätze zu bestimmen, die jeder anzu­ nehmen verpflichtet ist (XIV, 8-10). Ghne gewisse Normalwahrheiten geht es nämlich nicht ab; denn Glauben ist für Spinoza nichts anderes, als dasjenige von Gott denken, mit dessen Unkenntnis der Gehorsam gegen Gott hinfällig wird, und was mit diesem Gehorsam notwendig gegeben ist (XIV, 13). Sind aber die Dogmen nichts anderes als Po­ stulate der praktischen Vernunft - wie wir die Dichtung Spinozas um­ schreiben können -, so folgt, datz es bei ihnen nicht auf intellektuelle Wahrheit ankommt, sondern lediglich darauf, datz sie sittliche Impulse auslösen. Nlögen sie auch nicht einen Schatten von Wahrheit besitzen; das tut nichts, sobald sie die Triebfeder sittlichen handelns sind. Die Schrift verurteilt ja auch ihrem unintellektualistischen Tharakter ent­ sprechend nicht die Unwissenheit, sondern den Ungehorsam (XIV, 20 f.). Spinoza geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er andeutet: wahr ist nur der Glaube, der die INenschen zum Gehorsam vermag (XIV, 14 ff.). Er nähert sich damit, ohne allerdings mit diesem Gedanken Ernst zu machen, dem Standpunkt des modernen Pragmatismus, der ja auch in den (Glaubens-)Uberzeugungen der Menschen nur Leitmotive für ihr praktisches handeln sieht und den Beweis für die Wahrheit eines Ge­ dankens in den praktischen Uonsequenzen erblickt. Es liegt in der Natur der Sache, daß es dann ein für alle verbindliches Glaubenssqstem im Sinne der Uirche nicht geben kann: die Motivationskraft der Dogmen ist ja völlig abhängig von der psychischen Eigenart des Einzelnen. Was den einen zur Verehrung stimmt, reizt den andern zur Verachtung und zum Lachen. 3um allgemeinen Glauben gehören darum nur solche Dogmen, über die kein Streit sein kann, d. h. die Dogmen, die der Ge­ horsam gegen Gott unbedingt voraussetzt, und mit deren Unkenntnis der Gehorsam gegen Gott schlechthin unmöglich wäre (XIV, 22 f.). (Es sind deren sieben; sie stellen nach Spinoza den Sinn der ganzen Schrift dar (XV, 24):

1. Es gibt einen Gott, d. h. ein höchstes wesen, das höchst gerecht und barmherzig oder ein Vorbild wahrhaftigen Lebens ist.

2. 3. 4. 5. bloß in 6.

Gott ist einzig. Gott ist allgegenwärtig. Gott hat das höchste Recht und die höchste Herrschaft über alles. Die Verehrung Gottes und der Gehorsam gegen ihn besteht der Gerechtigkeit und in der Liebe oder der Nächstenliebe. Alle, die in dieser Lebensweise Gott gehorchen, sind selig, die

übrigen aber, die unter der Herrschaft der Lüste leben, verworfen. Vohrmann, Spinozas Stellung zur Religion.

3

7. Gott verzeiht den Reuigen ihre Sünden. Diese Glaubensartikel sind die Fundamentaldogmen, ohne die eine rechte Gehorsamserfüüung gegen Gott nicht möglich ist. Etwas davon wegnehmen, heißt den Gehorsam aufheben; sie sind, um den Ausdruck noch einmal anzuwenden, die unentbehrlichen Postulate der praktischen Vernunft. Alle sonstigen metaphysischen Spekulationen sind dem Belieben des Einzelnen zu überlassen. Gb einer annimmt, daß Gott Feuer, Geist, Licht, Gedanke ist, daß Gott die Dinge aus Freiheit oder nach Natur­ notwendigkeit leitet, daß er die Gesetze als Herrscher vorschreibt oder sie als ewige Wahrheiten verkündet, datz der Mensch aus freiem Willen oder aus der Notwendigkeit des göttlichen Ratschlusies Gott gehorcht, und daß endlich die Belohnung der Guten und die Bestrafung der Bösen auf natürlichem oder auf übernatürlichem Wege erfolgt uff., — diese und ähnliche Fragen sind absolut freizugeben?) Ja jeder ist geradezu verpflichtet, diese Gedanken seiner Fasiungskraft anzupaffen und sie sich so auszulegen, wie er glaubt, daß er sie leichter und ohne jedes Be­ denken annehmen kann, um Gott aus ganzem Herzen zu gehorchen (XIV, 30 ff.). Venn es kommt, wie Spinoza immer wieder betont, nicht

auf die objektive Wahrheit der Dogmen an. Wahrheit ist das Ziel rationalen Erkennens; der Glaube (—Theologie) hat es einzig und allein mit Frömmigkeit und Gehorsam zu tun (XIV, 47 f.). Richt wer die

besten Gründe für sich hat, hat deshalb auch notwendig den besten Glauben, sondern derjenige, der die besten werke der Gerechtigkeit und der Liebe aukuweisen hat. Glaube, was du willst, und tue, was du sollst: das ist die goldene Lebensregel, in die letzten Endes die ganze Beweis­ führung ausmündet. Croyez mille vdritds: si votre vie est mauvaise, vous serez damnd. Croyez mille erreurs: si votre vie est chrötienne, vous serez sauvä?) Christologie.

3it der Dogmatik der Kirche nimmt die Lehre über Christus, seine Person und sein Werk, die vornehmste Stellung ein; sie bildet den Angel­ punkt ihres ganzen Glaubenssystems. Wie stellt sich Spinoza dazu? wir dürfen von vornherein annehmen, daß dieser ganze Bau voll scharfsinniger Subtilitäten, an dem 1500 Jahre mit rastlosem Eifer ge­ arbeitet hatten, für Spinoza nicht existiert. Mit dürren Worten erklärt er im Hinblick auf die Lehre von dem menschgewordenen Gott, daß er diese nicht begreife (I, 24). „Ja offengestanden", so fügt er erläuternd

in einem Briefe hinzu, „offengestanden scheint mir diese Rede nicht weniger widersinnig zu sein, als wenn mir jemand sagte, der Kreis habe die

*) Man beachte, daß diese Fragen in ihrer einen Hälfte konstitutive Ge­ danken der Vernunftreligion sind und also echt spinozistisches Gut: ein beiläu­ figer Beweis für das deutliche Bestreben Spinozas, seiner Vernunftreligion die lvege zu ebnen. 2) Touchoud, a. a. ®., S. 122.

Natur des Quadrats angenommen" (ep. 73; VL. II, S. 240).

(Es ist

die einzige Kritik, die wir über diesen Punkt bei Spinoza finden; er

gilt ihm damit für abgetan. Umfassender ist die positive Darstellung, die er von Christi Person

und Werk entwirft, hatten die Propheten, wie wir hörten, nur ope imaginationis ihre Offenbarungen empfangen, hatte INoses, wie die Schrift berichtet, mit Gott von Angesicht zu Angesicht gesprochen (I, 24), so nimmt Christus eine ganz einzigartige Stellung ein.

Ihm ist der Heilsplan Gottes ohne Worte und Gesichte, ganz unmittelbar geoffenbart worden (I, 23); Christus ist also nicht sowohl Prophet, als vielmehr der Mund Gottes; durch seinen Geist hat Gott der Menschheit Offenbarungen zuteil werden laffen (IV, 31).1) In diesem Sinn können wir auch sayen, die Weisheit Gottes, d. h. eine Weisheit, die über alle menschliche er­ haben ist, habe in Christo menschliche Natur angenommen und Christus sei der Weg des Heils gewesen (I, 23). Damit ist etwas anderes ge­ geben. Christus hat, wie wir annehmen müssen, die geoffenbarten Dinge wahr und adäquat, weil pura mente begriffen; von einer Akkommodation Gottes an seine Anschauungen kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil Christus ja nicht nur für die Juden, sondern für die ganze Menschheit be­ stimmt war, sein Geist also den allgemeinen und wahren Begriffen (notionibus communibus et veris) angepatzt sein mutzte. (Er hat also auch nicht, wie die Propheten, von Gott die imaginäre Vorstellung eines Fürsten und Herrschers gehabt, wenn er trotzdem einmal seine Offen­ barungen in Gesetzesform verkündete, so patzte er sich damit lediglich dem Geist des Volkes an (IV, 31 ff.; vgl. II, 56). Christus ist ja nicht gesandt worden, um Gesetze zu geben, sondern um das allgemeine Sitten­ gesetz, die lex universalis zu lehren (V, 9). Sofern also Christus die geoffenbarten Dinge wahr und adäquat ergriffen hat, ist er für Spinoza -er grötzte Heros der Gffenbarungsreligion; als Prediger des allgemeinen Sittengesetzes ist er der Lehrer der vernunstreligion. Bei der Frage nach dem wert oder Unwert der Zeremonien scheidet s«-m»nien. *) In dieser Unterschiedenheit zwischen Christus einerseits und Moses und den Propheten andererseits liegt die überragende Bedeutung des Neuen Testa­ ments. Die Unterscheidung zwischen Altem und Neuem Testament hat ihren Grund nicht in einer Verschiedenheit der Lehre, sondern darin, daß die Pro­ pheten die Religion als partikulares Landesgesetz verkündigten, während Thristus und die Apostel sie als allgemeines Gesetz und allen Menschen predigten (XII, 24). In dieser Formulierung liegt schon, daß die Gesetze des Alten Testamentes eben nur für die Juden bestimmt waren (s. III, 22). Aber Spinoza geht in seiner antijüdischen Stimmung noch weiter und bestreitet geradezu die Zulänglichkeit des Alten Testamentes: daß zum ewigen Leben die Beobachtung der Gebote des Alten Testamentes nicht ausreicht, geht für ihn aus Markus XV, 21 hervor (Annotatio zu III, 21).

Spinoza zwischen denen des Alten und des Neuen Testaments.

Vie alttestamentlichen Zeremonien sind, wie die Schrift zeigt, Landesgesetze, die nur für die Hebräer eingesetzt sind und demnach nur für sie Geltung haben. Sie verfolgen den ausgesprochenen Zweck, das leiblich-zeitliche Dasein des Volkes zu sichern und zu fördern und dem Staat einen festen innern halt zu geben (V, 2, 6, 10, 17 ff.). Sie haben, so etwa könnten wir im Sinne Spinozas sagen, den Wert von Polizeimatzregeln, die als solche die Menschen stets daran erinnern sollen: seid untertan der Obrig­ keit, die Gewalt über euch hat (V, 30 f; vgl. XVII, 88). In dieser Absicht

sind sie von Moses eingeführt worden; in blindem Gehorsam sollte das Volk dem Regierenden folgen, zur Stärkung des Staates und damit letztlich zur Förderung des eigenen leiblichen Wohlergehens (ebenda). Die Glückseligkeit hat mit ihnen nichts zu schaffen (V, 31).

Was die christlichen Zeremonien anlangt, wie Taufe, Abendmahl, Feste, äutzerliche Gebete usf., so sind sie - falls sie überhaupt von Christus oder den Aposteln eingesetzt sind! —'nur äussere Zeichen der Zugehörig­

keit zur allgemeinen Kirche. An ihnen hängt also die Glückseligkeit ebensowenig wie an den alttestamentlichen Zeremonien (V, 32 f.). Geschichten.

Milder urteilt Spinoza, in dem richtigen Verständnis des in ihnen steckenden erzieherischen Wertes, über die Geschichten. Vie Bibel, so argumentiert er, ist ein Volksbuch und verfolgt daher diejenige Päda­ gogik, die zur Erziehung des Volkes nötig ist: d. h. sie sucht die Menschen nicht zu überzeugen auf dem für die Menge unfaßbaren Wege logischer Deduktionen; vielmehr sucht sie ihr Ziel zu erreichen durch erbauliche Erzählungen, die aus der Erfahrung geschöpft und daher der Fassungskraft des Volkes angemessen sind. So werden die rein spekulativen Lehren der Schrift nur aus der Erfahrung begründet, ohne datz De­ finitionen von diesen Dingen gegeben würden. Zwar kann die Erfahrung keine klare Erkenntnis vermitteln; aber sie kann die Menschen so weit belehren und erleuchten, als erforderlich ist, ihrem Sinn Gehorsam und Demut einzuprägen. Der Glaube an Geschichten ist demnach höchst not­ wendig und verbindlich für die, die nicht imstande sind, die Dinge klar und deutlich zu erfaffen. Wer aber das Charisma rationalen Erkennens besitzt, ist ohne diese Geschichten weit glückseliger als das Volk; hat er doch zu den wahren Anschauungen noch den klaren und deutlichen Begriff (V.35-41). Natürlich darf der Satz: die Kenntnis der Geschichten ist für das Volk notwendig, nicht dahin gepreßt werden, als ob nun sämtliche Ge­

schichten, die in der Bibel erzählt werden, gekannt werden müßten. Die Erfüllung dieser Forderung würde die Fassungskraft nicht nur des Volkes, sondern der Menschen überhaupt übersteigen. (Es handelt sich nur um die hauptsächlichsten. Das Kriterium ihrer Güte und Brauch-

barkeit ist ihr pädagogischer Gehalt. Vas Volk braucht nur die Ge­ schichten zu kennen, die am meisten seinen Sinn zum Gehorsam und zur Demut zu bewegen vermögen. Da es aber überdies nicht hinreichend befähigt ist, sich selbst ein Urteil zu bilden, bedarf es der Geistlichen, die es bei der Schwachheit seines Geistes belehren. Die Geschichten an sich tragen also zur Glückseligkeit nichts aus; ihr Wert besteht nur in den heilsamen Anschauungen, die sie vermitteln. Wer die Geschichten -er heiligen Schrift liest, ohne seine Lebenshaltung hierdurch beeinflussen zu lassen, der hätte ebensogut den Koran oder Theaterstücke und Chro­ niken lesen können (V, 41 —46). wer sie dagegen nicht kennt, aber reich ist an Früchten wie Liebe, Freude, Friedfertigkeit, Freundlichkeit, Güte, Glaube, Sanftmut und Keuschheit, der ist in Wahrheit von Gott belehrt und allerwege glückselig, mag er nun durch die Vernunft oder durch die Schrift belehrt sein (V, 50). Den kräftigsten Stoß in seiner kritischen Arbeit führt Spinoza wunder, gegen das wunder; mit unerschrockener Kühnheit legt er die Axt an die Wurzel des Baumes, unter dessen schützendem Geäst die Menschen in den Nöten ihres Glaubens noch stets die Ruhe der Seele gesucht und gefunden hatten. Zu Wundern seine Zuflucht nehmen, heißt ihm nichts anderes, als ein asylum ignorantiae aufsuchen. Cr geht, wie es seinem pantheistischen Denken gemäß ist, bei der Erörterung dieser Frage vom Gottesbegriff aus?) Das kosmologische Problem, so können wir in seinem Sinn beginnen, wird zumeist im Sinne eines Dualismus beantwortet: Gott und Natur seien zwei voll­ kommen getrennte Potenzen dergestalt, daß die Tätigkeit der einen die der anderen ausschließe. Solange die Natur in gewohnter Ordnung dahingehe, ruhe Gott von seinen Werken; erst in ganz außergewöhn­ lichen Ereignissen komme Gottes Wesen und Art zur klaren Entfaltung. Diese naive Vorstellung ist nach Spinoza völlig unhaltbar; ihr liegt eine falsche Auffaffung von Gott und der Natur zugrunde (VI, 1 — 3).

Gott und Natur sind keineswegs gesonderte Kräfte. Die Natur­ gesetze sind mit Gottes Willen durchaus identisch; dieser tritt in jenen in sichtbare Erscheinung. Wenn daher in der Natur etwas geschähe, *) Daß Spinoza auch im Traktat, wenn er philosophice redet, auf pan­ theistischem Boden steht, sollte keinem Zweifel unterliegen. Man kann zum Überfluß auf den 73. Brief (VL. II, S. 239) verweisen, der einige Stellen des Traktats klarstellen und Mißverständnisse beseitigen will. (Es heißt da wört­ lich: „Meine Auffassung von Gott und Natur weicht von derjenigen weit ab, die von neueren Thristen vertreten zu werden pflegt. Ich behaupte nämlich, Gott ist die innerliche - immanente, wie man sagt — Ursache aller Dinge, nicht aber die äußerliche. Alles, sage ich, ist in Gott, und alles bewegt sich in Gott... Wenn aber gewisse Leute meinen, der theologisch-politische Traktat setze die Annahme voraus, Gott und Natur wären eins und dasselbe, so irren sie gründlich."

das mit ihrem Gesetz in Widerspruch stünde, würde es auch dem Rat­ schluß und der Natur Gottes widersprechen, d. h. Gesetzen, die ewige Notwendigkeit und Wahrheit in sich schließen. Ein Wunder annehmen heißt demnach einen Zwiespalt in Gott voraussetzen, wir dürfen also den Schluß ziehen, daß in der Natur nichts geschieht, was aus dem Rahmen unwandelbarer Gesetzmäßigkeit herausfällt; in jener festen und unerschütterlichen Ordnung, die das Naturgeschehen darstellt, wo alles nach ewigen ehernen Gesetzen verläuft, bleibt kein Platz für Ereignisse, welche die Kontinuität und den Zusammenhang des Ganzen sprengen. Wunder sind objektiv schlechthin unmöglich (VI, 7 — 12).

Darüber hilft uns auch die subtile Distinktion zwischen wider­ natürlichen und übernatürlichen Dingen nicht fort; sie läuft letzten Endes auf ein bloßes Sophisma hinaus. Gb wider die Natur oder über die Natur, beides fällt in gleicher weise aus dem Kausalnexus heraus und widerstreitet daher den ewigen Naturgesetzen (VI, 27 f.). Es bleibt also dabei: Wunder sind objektiv unmöglich. Sie bedeuten nur das Geständnis der Nlenschen, staunend vor Dingen zu stehen, deren Ursachen sie sich auf natürlichem Wege nicht erklären können. Und in diesem Sinn mag der Ausdruck hingehen (VI, 13).

In dem Gesagten liegt schon, daß den Wundern unmöglich irgend­ welche Beweiskraft für die Existenz und das Wesen Gottes zukommen kann. Das Dasein Gottes, das nicht an sich bekannt ist, kann nur aus Begriffen erschlosien werden, deren Wahrheit unerschütterlich feststeht. „Diese Begriffe sind dieselben, mittelst deren wir auch die Natur be­ greifen; sie sind nur der subjektive Widerschein der objektiven Natur­ gesetze in uns: durch jeden Widerspruch gegen die Naturgesetze mithin, dergleichen die wunder wären, würden jene allgemeinen Begriffe er­ schüttert und mit ihnen unsere auf sie gebaute Überzeugung vom Dasein Gottes wankend gemacht. "*) versteht man unter den wundern dagegen Vorgänge, welche die menschliche Fassungskraft übersteigen, so ist der Glaube an ihre Beweis­ kraft erst recht absurd, wer es unternimmt, Gottes Dasein und Sosein aus Vorgängen zu erklären, die uns unverständlich sind, tut nichts anderes, als eine Unbekannte aus einer anderen abzuleiten?) Unsere *) So umschreibt D. $. Strauß die etwas verworrenen und sich im Kreise bewegenden Gedanken Spinozas, vergl. dessen „Lhristliche Glaubenslehre", Tübingen 1840, S. 233. 2) In diesem Sinne heißt es ep. 75 (VL. II, S. 243): „Wunder und Un­ wissenheit habe ich als gleichbedeutend genommen, weil diejenigen, die das Da­ sein Dotter und die Religion auf Wunder zu stützen suchen, eine dunkle Sach« durch eine andere noch dunklere, von der sie gar kein Verständnis haben, be­ weisen wollen."

(Botteserkenntnis wächst nur in dem Matze, als unser Geist ins Innere der Natur bringt und sie klar und deutlich erkennt (VI, 20 ff.). Diesen philosophischen Ausführungen lätzt Spinoza noch einen exe­ getischen Teil folgen, der von den biblischen Wundererzählungen handelt. (Es ist nach seiner Meinung eine Eigentümlichkeit jüdischen Denkens, bei der (Erklärung von natürlichen Dingen niemals die Mittel- oder Teilursachen zu erwähnen, sondern in frommer (Besinnung alles auf Gott zu beziehen, wenn sie im handel Geld verdienen, behaupten sie, Gott habe es ihnen gegeben; hegen sie irgend welche Wünsche, so meinen sie, Gott habe ihr herz darauf gelenkt. Gott erscheint ihnen als die un­ mittelbare Ursache alles Geschehens (1,8). Wer diese ihre Besonderheit nicht beachtet, mutz glauben, datz in der Bibel lauter Wunder erzählt werden (VI, 63), während derartige Wendungen, wie: (Bottes Ratschluß, Geheitz, Spruch und Wort habe dies oder jenes hervorgebracht, lediglich Anpassungen an landläufige Vorstellungen sind und nichts anderes be­ deuten als das Wirken und die Ordnung der Natur selbst (VI, 43). wenn z. B. im Johannesevangelium Rap. 9 von verschiedenen Neben­ umständen berichtet wird, deren sich Jesus bediente, um den Blinden zu heilen, so zeigen sich hierin solche natürlichen Mittelursachen; wir werden daher diese die Geschichtlichkeit der Wunder verbürgenden Neben­ umstände auch da voraussetzen dürfen, wo sie in der Bibel nicht be­ sonders angegeben sind (VI, 47 f.).1) Spinozas Meinung ist also, datz *) $ür e i n wunder ist ihm selbst dies Argument kein Beweis für seine Geschichtlichkeit, nämlich für die Auferstehung Jesu. (Er sagt darüber in seinen Briefen: „Ich gebe zwar zu, daß auch sie von den Evangelisten mit solchen Nebenumständen erzählt wird, die nicht bestreiten lassen, daß die Evangelisten selbst geglaubt haben, der Leib Christi sei auferstanden und gen Himmel ge­ fahren und sitze zur Rechten Gottes, und daß dies nach ihrer Meinung auch von Ungläubigen hätte gesehen werden können, wenn sie ebenfalls da zugegen gewesen waren, wo Christus den Jüngern erschien. Indessen unbeschadet der Lehre des Evangeliums konnten sie sich hierin getäuscht haben, wie dies auch bei anderen Propheten vorkam" (ep. 78; VL. II, S. 252). „Auch Abraham hat geglaubt, Gott habe bei ihm gespeist, und alle Israeliten haben geglaubt, Gott wäre, in Feuer gehüllt, vom Himmel auf den Berg Sinai herabgestiegen und habe mit ihnen unmittelbar gesprochen; während doch das und vieles andere dieser Art Erscheinungen oder Offenbarungen waren, der Fassungskraft und den Meinungen derjenigen Menschen angepaßt, denen Gott damit seinen Geist offen­ baren wollte. Daher ziehe ich den Schluß, datz die Auferstehung Christi von den Toten in Wahrheit eine geistige gewesen und allein den Gläubigen gemäß ihrer Fassungskraft offenbart worden ist; nämlich daß Christus mit Ewigkeit begabt war und von den Toten (ich verstehe hier die Toten in dem Sinne, in welchem Christus sagte: „Lasset die Toten ihre Toten begraben") auferstand, indem er im Leben ebenso wie im Tode ein Vorbild außerordentlicher Heiligkeit gab. Und insofern hat er seine Jünger vom Tode erweckt, sofern sie selbst diesem Vorbild seines Lebens und Todes nachfolgten. (Es würde nicht schwer

sich alles, was in der Bibel erzählt wird, auf natürlichem Wege zu­ getragen hat (VI, 44). Nun finden sich allerdings Erzählungen, die sich augenscheinlich nicht auf natürliche Ursachen zurückführen lassen: daß

die Sünde der Menschen oder ihre Gebete die Ursache von Regen oder der Fruchtbarkeit der Erde seien, daß Glaube Blinde zu heilen vermag und dergleichen mehr. Derartige Wendungen haben wir eben wieder, meint Spinoza, auf das Konto der Einkleidung zu setzen. Die Bibel erzählt die Dinge in pädagogischer Abzweckung und patzt sich daher den Vorstellungen der Hörer und Leser an, ujn desto leichter und inten­ siver ihre Phantasie beeinflusien zu Können. -Mithin haben wir in solchen Geschichten dichterische Ausmalungen von natürlichen Vorgängen zu sehen oder auch nur Produkte der Anschauungen und Vorurteile des Schreibers (VI, 49 f.). Gerade mit dem letzten Faktor haben wir um so mehr zu rechnen, als die Gabe objektiver Geschichtsdarstellung nur sehr wenigen Menschen verliehen ist. Die meisten werden so sehr von ihren vorgefahten Meinungen beherrscht, datz sie, was sie sehen oder hören, unwillkürlich mit ihren Vorurteilen amalgamieren und so ein mehr oder minder neues Gebilde hervorbringen, das den Stempel ihrer persönlichen Eigenart trägt (VI, 53 f.). Um daher aus allen subjek­ tiven Zutaten den Kern der Erzählung herauszuschälen, müssen wir den Jdeenkreis der Erzähler kennen lernen und uns auch mit den Aus­ drücken und Redewendungen der Juden bekannt machen. Erst dann werden wir ein gesichertes Urteil über die Wundererzählungen fällen können; aber dann werden wir auch zu der Erkenntnis kommen, datz sich in der Schrift fast nichts findet, was der natürlichen Erleuchtung widerspräche. Sollten sich aber trotzdem, so fügt Spinoza einschränkend hinzu, Dinge nachweisen lassen, die den Naturgesetzen Widerstreiten, so sind sie von ruchlosen Händen nachträglich eingefügt worden. Denn was gegen die Natur ist, ist auch gegen die Vernunft, und was gegen die Vernunft ist, ist widersinnig und darum auch zu verwerfen (VI, 51). Wir können es uns nach diesen theoretischen Auseinandersetzungen ersparen, eine Probe von Spinozas Wunderexegese zu geben; er steht hierin, wie aus dem Gesagten leicht erkenntlich ist, ganz auf dem Stand­ punkt der Kritik oder vielmehr der Halbkritik des Rationalismus, der „die Wirklichkeit des erzählten Vorgangs voraussetzt und nur die Er­

klärung desselben in natürlichen statt übernatürlichen Ursachen sucht; er tut noch nicht den letzten Schritt der konsequenten Kritik, welche die

fein, die gesamte Lehre des Evangeliums nach dieser Hypothese zu erklären. Ja, nur mit dieser Hypothese kann man das 15. Kapitel der I. Epistel an die Korinther erklären und die Beweisgründe des Paulus verstehen, während diese nach der gewöhnlichen Hypothese als unhaltbar erscheinen und sich leicht wider­ legen lassen" (ep. 75; VL. II, S. 244).

ganze Wundererzählung aus dem Gebiet des Wirklichen in das der Vor­ stellung verweist und, statt die Wundergeschichten aus Ursachen der Natur erklären zu wollen, vielmehr den Wunderglauben aus Gründen und Motiven des Bewußtseins erklärlich macht"?)

f) Das Gewißheitsproblem in der Gffenbarungsreligion.

Es bleibt für unsere Betrachtung der Gffenbarungsreligion nur noch eine Frage übrig, freilich die wichtigste und schwierigste: wie steht es mit der Gewißheit des Gffenbarungsgehalts? Vas Grunddogma der Theologie, daß der Mensch auch durch Gehorsam gegen die göttlichen Gebote selig werde, entzieht sich, so argumentiert Spinoza, unserer rationalen Beurteilung, hierin liegt, daß ihm mathematische Ge­ wißheit nicht zukommt. Dessenungeachtet können wir im Blick auf die Propheten und den Inhalt der (Offenbarung ihr wenigstens mora­ lische Gewißheit zuerkennen. Denn naturgemäß können wir rott der Offenbarung keine höhere Gewißheit erwarten als die Propheten selbst, deren Gewißheit ja, wie wir wissen (s. oben S. 28), gleichfalls nur eine moralische war (XV, 26 ff.). Da sich die Propheten stets durch eine dem Rechten und Guten zugewandte Gesinnung auszeichneten, da sie Liebe und Gerechtigkeit über alles empfahlen, so dürfen wir davon überzeugt sein, daß sie nicht Betrogene und Betrüger waren. Und dieser unser Glaube an den Wahrheitsgehalt ihrer Verkündigung wird noch ver­ stärkt, wenn wir sehen, daß sie keine Moral gelehrt haben, die mit der Vernunft nicht vollkommen im Einklang stünde?) Stimmt doch das Wort Gottes in den Propheten ganz und gar überein mit dem Wort Gottes, das in unserem Innern spricht. So dürfen wir also die Offenbarung ruhig annehmen: „(Es wäre ja Torheit, wollte man etwas, was durch das Zeugnis so vieler Propheten beglaubigt worden ist, was den nicht eben Starken im Geiste so vielen Trost gebracht hat, was für den Staat nicht geringen Nutzen bedeutet, und was wir ruhig ohne Gefahr und Schaden glauben dürfen, trotzdem nicht anerkennen und zwar bloß deshalb, weil es nicht mathematisch zu beweisen ist. AIs ob wir, um unser Leben weise einzurichten, nur das als wahr gelten lassen dürften, was sich durch keinen Zweifelsgrund in Zweifel ziehen läßt, und als ob nicht die meisten unserer Handlungen sehr ungewiß wären und eine Beute des Zufalls" (XV, 35—37). *) (0. Pfleiderer, Geschichte der Religionrphilosophie, 3. Ausl., Berlin 1893, S. 40 f.

2) So auch ep. 73 (VL. II, S. 239): Die Gewißheit der göttlichen (Offen« barung beruht aus der Weisheit ihrer Lehre.

2. Vie vernunstreli-ion. Wir stehen hiermit am Ende unserer Betrachtung der Gffenbarungs-

religion, die — wir wissen es schon - nur die eine Seite des Gedanken­ gehalts des theologischen Teiles enthält. Neben und über ihr steht (int IV. Kapitel) die vernunstreligion. Wir schicken ihrer Analyse einige kurze Bemerkungen über ihre erkenntnistheoretische Grundlage voraus. Vie Basis aller wahren, adäquaten Erkenntnis ist für Spinoza die

natürliche Erleuchtung, die Vernunfterkenntnis, die sich auf Grund­ sätzen und Begriffen aufbaut (1, 45). Allen Menschen gemeinsam (I, 2), kann sie geradezu als das erste Mittel der göttlichen Offenbarung an­ gesehen werden (I, 5). Dieses natürliche Wissen hat zum Inhalt nicht

nur alle spekulative Erkenntnis, also die theoretischen Wahrheiten mit Einschluß der Gotteserkenntnis (IV, 19), sondern auch die Ethik und die wahre Tugend (IV, 46). So ist ihm die Vernunft die kostbarste Gabe und das göttliche Licht (XV, 10), oder wie er auch sagen kann, sie ist das w'ahre Licht des Geistes, ohne welches der Geist nur Traumgestalten und Trugbilder sieht (XV, 23). Ihr wohnt daher unmittelbare, mathe­ matischer Evidenz gleichkommende Gewißheit inne (II, 6). Vie Vernunft und ihre Vervollkommnung ist mithin für Spinoza ein und alles (IV, 10);

mit grandiosem Pathos ruft er aus: „Welchen Altar kann der sich bauen, der die Majestät der Vernunft beleidigt?" (XV, 42.)

Nun zur Analyse der Vernunftreligion. Vie lex divina - wie Spinoza, wohl nicht ohne apologetische Absicht, seine Vernunftreligion nennt - hat zum Inhalt das höchste Gut, die wahre Erkenntnis und die Liebe Gottes. Der bessere Teil des menschlichen Selbst ist der verstand; in der Vervollkommnung des Intellekts liegt daher sein höchstes Gut. Da nun alle unsere Erkenntnis und ihre Gewißheit von der Erkenntnis Gottes abhängt, so ist damit gegeben, daß auch unsere Vollkommenheit von der Gotteserkenntnis abhängt. Denn Gott und Natur - so dürfen wir im Sinne Spinozas hinzufügen - sind nicht voneinander getrennte Größen; in dem Maße als unsere Naturerkenntnis wächst und umfasiender wird, wird auch unsere begriffliche Erkenntnis von Gott immer klarer und deutlicher. So geht also letztlich unsere ganze Erkenntnis, d. h. also unser höchstes Gut in der Gotteserkenntnis auf. Da nun offenbar die Voll­ kommenheit des Subjekts abhängig ist von der Vollkommenheit des Objekts,

dem man seine Liebe entgegenbringt, so muß notwendigerweise derjenige die höchste Vollkommenheit besitzen und damit an der höchsten Glückseligkeit teilhaben, der die geistige Erkenntnis Gottes, des allervollkommensten Wesens, über alles liebt. Der amor Dei intellectualis1) ist Grund und ') Dieser Ausdruck der Ethik findet sich im theologisch-politischen Traktat nicht; die Sache selbst liegt aber auch hier vor.

Ziel der Seligkeit des Menschen. Die Lebensweise, die zu diesem Ziele der Gottseligkeit führt, heißt mit Recht „lex divina“. Ihre Quintessenz ist der Satz: Tue das Gute um des Guten willen. Nur derjenige erfüllt in Wahrheit dieses Gesetz, der Gott zu lieben trachtet nicht aus Furcht vor Strafe oder aus Liebe zu anderen Dingen wie Vergnügungen, Ruhm usf., sondern in der Erkenntnis, daß die Liebe zu Gott das höchste Gut ist, der letzte Zweck und das Endziel alles menschlichen Seins. Zwar wird dem sinnlichen Menschen diese auf Erkenntnis gegründete Liebe zu Gott völlig eitel und nichtig erscheinen; findet er doch nichts in ihr, was er mit den Händen greifen und essen könnte, oder was seiner Sinnenlust Freude machte. Wer aber weiß, daß es nichts vorzüglicheres gibt als Erkenntnis und einen gesunden Geist, der wird dies zweifellos für das Zuverlässigste halten (IV, 10—16). Wie verhält sich nun diese lex divina zu den Dingen, die nach landläufiger Überzeugung für die Gottesverehrung wesentlich sind, zu dem Historienglauben und den Zeremonien? Es ist ein ebenso großer wie kühner Gedanke, wenn Spinoza nachdrücklich betont, daß Religion kein historischer Glaube sei. Dieses göttliche Gesetz hat ja universale Gültigkeit: denn es folgt, wie wir gesehen haben, unmittelbar aus der Menschennatur, die überall und stets die gleiche ist, ob sie uns nun in Rdam oder sonstwem entgegentritt. Zudem kann auch der Glaube an Geschichten, so gewiß er auch sein mag, uns niemals die Erkenntnis Gottes und folglich auch nicht die Liebe Gottes geben. (Ober, um mit Lessing zu reden: Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden. Damit soll aber, fährt Spinoza fort, dem Glauben an Geschichten ein gewisser Wert für das bürgerliche Leben nicht abgesprochen werden. Sie lehren menschliche Sitten und Verhältnisse in ihrer Vielgestaltigkeit Kennen und haben so für die praktische Lebenshaltung des Einzelnen ihren erzieherischen Wert (IV, 18 f.). Über auch nur dafür, nicht, wie er nochmals hervor­

hebt, für die Gotteserkenntnis. Wer von diesen Geschichten gar nichts weiß, aber durch natürliche Erleuchtung das Dasein Gottes und die Pflicht seiner Verehrung erkennt, der ist völlig glückselig, ja er ist glückseliger als das gewöhnliche Volk, weil er außer den wahren Rnschauungen noch den klaren und deutlichen Begriff hat (V, 40). Ebensowenig bedarf die in der lex divina gegründete Religion der Zeremonien. Rdiaphora, die nur auf Grund einer Satzung für nütz­ lich und gut erklärt worden, nicht von Natur aus gut sind, Können nie und nimmermehr von der Vernunft als notwendiges heilsgut an­ erkannt werden. Denn die natürliche Erleuchtung fordert nichts, was außerhalb ihres Bereiches läge, sondern nur das, was sich mit völliger Rlarheit als ein Mittel zu unserer Glückseligkeit offenbart. Was aber

auf Grund einer Satzung gut ist, kann unseren verstand nicht vervoll­ kommnen. Und der höchste Lohn dieses Gesetzes, so fügt Spinoza abschließend hinzu, ist das Gesetz selbst; es trägt seinen Lohn in sich selbst, in der Erkenntnis und Liebe Gottes; seine Strafe ist der Mangel dieses Gutes, die Unechtschaft unter der Macht der Sinnlichkeit (IV, 30 f.). Die ge­ wöhnlichen Vorstellungen von Strafe und Lohn haben ihren Grund darin, daß man Gott als Gesetzgeber und Herrscher auffaßt; das ent­ spricht ganz dem gesetzlich-statutarischen Charakter der Gffenbarungsreligion. Indes widerstreitet eine solche Anschauung der begrifflichen Idee Gottes. In Gott ist Wollen und Denken notwendig eins; was Gott bejaht oder verneint, schließt daher immer ewige Notwendigkeit und Wahrheit in sich. So wird der Gottesbegriff von allen anthropomorphen Zutaten befreit; über dem Gott der Willkür, der nach Gut­ dünken Gesetze dekretiert, der gerecht und barmherzig usf. ist, erhebt sich der Eine, Ewig-Unwandelbare, der — aus der Notwendigkeit und Vollkommenheit seiner Natur handelnd — seine Ratschlüsse als ewige Wahrheiten kundtut?) *) flm Schluß von Kapitel IV führt Spinoza den Nachweis, daß die Schrift unbedingt die natürliche Erleuchtung und das natürliche göttliche Gesetz empfiehlt IV, 38—50). Die Tendenz ist handgreiflich.

IV.

Spinozas Stellung zur Religion. Wir stehen hiermit am Ende unserer Analyse des theologisch-poli­ tischen Traktats. Sie hat, wie wir uns erinnern, im Rahmen unserer Arbeit nur propädeutischen Wert; ihr Zweck war, uns den Weg zu bahnen zu der Beantwortung der Frage, die den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildete: der Frage nach der Stellung Spinozas zur (Gffenbarungs-)Religion. Wie steht es nun hiermit? Ist Spinoza, um gleich mit der Kernfrage zu beginnen, zu den Vertretern christlicher Welt- und Lebensanschauung zu rechnen oder nicht? Es ist klar, daß wir mit unserer Auffassung des Traktats der Lösung dieser Frage bis zu einem gewissen Grade schon vorgearbeitet haben. Mögen bei der Auffassung und Wertung einzelner Stellen immer noch Schwierigkeiten vorhanden sein - sie ganz zu bereinigen, dürste wohl überhaupt unmöglich sein —, ein sicheres Ergebnis hat unsere Unter­ suchung mit voller Evidenz gebracht: jeden versuch, Spinoza als über­ zeugten Thristen hinzustellen, müssen wir als schlechthin verfehlt ablehnen. Vas Nebeneinander von Vernunft- und Gffenbarungsreligion im Traktat zeigt zur Genüge, auf welcher Seite wir Spinoza zu suchen haben. Denn der Gegensatz zwischen beiden Religionsformen ist ein fundamentaler; er läßt sich nicht forteskamotieren. Wer auf dem Boden der vernunstreligion steht, kann nicht zugleich die Gffenbarungsreligion als Religion seines Herzens anerkennen und umgekehrt; es handelt sich um ein Entweder — Gder. Um die Differenz in ihrer vollen Stärke zum Bewußtsein zu bringen, stellen wir die unterscheidenden Merkmale in Kürze zusammen. Der Kern der Besonderheit jeder Religion beruht in der religionspsychologischen Fundamentierung. Die Gffenbarungsreligion hat, wie die Exegese der Bibel ergibt, zum Grgan die imaginatio, während die Quelle der lex divina das Licht der natürlichen Vernunft, der Intellekt ist. Aus diesem fundamentalen Unterschiede ergeben sich alle weiteren Differenzen: das pädagogische Erziehungsmittel der einen ist die in Geschichte und Geschichten niedergelegte Erfahrung; die andere bedient sich des schwierigeren, aber vollkommeneren Mittels der logi­ schen Deduktion (V, 35 ff.). Der erkenntnistheoretischen Besonderheit

entspricht auch der psychische Grundton auf beiden Seiten: hüben der

amor Dei intellectualis, drüben der Glaubensgehorsam gegen Gott und seine Gebote oder mit anderen Worten: auf der einen Seite eine im Geist des Menschen wurzelnde und damit autonome, auf der andern eine von außen herangetragene, anempfohlene und somit heteronome Moral. Daß schließlich der Gewißheitsgrad auf beiden Seiten ebenfalls völlig verschieden ist, hängt hiermit innig zusammen; das aus dem Geist des Menschen Rammende ist das absolut Sichere, während die imaginatio der Propheten nur moralische Gewißheit besitzt. So bilden Ver­ nunft- und Gffenbarungsreligion in ihrer seelisch-geistigen Struktur zwei völlig getrennte Größen; daß sich die beiden divergierenden Linien in einem Punkt treffen, in der praktischen Frömmigkeit, ändert natürlich nichts an der grundverschiedenen Art beider Religionsformen. Indem sich im Geiste Spinozas die Unterschiede zwischen beiden Religionsarten in dieser Weise spiegeln, indem er die Gffenbarungs­ religion der Vernunftreligion so unmißverständlich unterordnet, bestimmt sich damit von selbst die Stellung, die er zu beiden einnimmt: seine Religion ist die Vernunftreligion. Vas geht aus dem Traktat mit aller Deutlichkeit hervor; der Legimation durch die Ethik bedürfte es nicht erst. Vie Gffenbarungsreligion lehnt er für seine Person jeden­ falls rundweg ab; sie ist ihm ein Anderssein, sie ist für die „nicht eben Starken im Geist".

Dabei müssen wir uns vergegenwärtigen, daß dieses Urteil nicht einmal die Gffenbarungsreligion betrifft, wie sie ist, sondern wie sie war und sein sollte; mit anderen Worten: es ist das Urteil über das dürre Gedankengebilde, das Spinoza von der Gffenbarungsreligion Übriggelaffen hat. Die geschichtlich gewordene Religion mit ihren reichen Lebens­ formen ist ihm, wie wir gehört haben, eine bloße Vepravation; sie er­ scheint ihm als Produkt des Aberglaubens, den Könige und Priester in ihrem Jntereffe großgezüchtet haben (s. oben S. 31 f.).1)

Diese ablehnende Stellung Spinozas zur Gffenbarungsreligion steht in einem seltsamen Kontrast mit seinem Urteil über den größten Propheten der Offenbarung, über Thristus (s. oben S. 34s.)?) hier tut sich ein Problem auf, das geradezu ein Musterbeispiel ist für

*) Daß bei dieser Betrachtung der Katholizismus besonders schlecht weg­ kommt, zeigt die bittere Epistel an den Konvertiten vurgh (ep. 76). — Gegen positive Bestandteile des Ehristentums wendet sich auch Eth. V. Prop. XXXIV Sokol, und Eth. V. Prop. XLI. Sokol, (s. Kuno Fischer, 5. stuft 1909, S. 617). 2) vergl. hierzu Freudenthal 8p., S. 167 und den Abschnitt: Despinoza und Christus bei St. von Dunin-Borkowrki, 8. J., Der junge De Spinoza, Mün­ ster 1910, S. 460-465.

die Schwierigkeiten, die der theologisch-politische Traktat in sich birgt. Christus hat, so werden wir von Spinoza belehrt, die Offenbarungen Gottes ohne Worte und Gesichte, pura mente, empfangen; er hat die Dinge wahr und adäquat begriffen; er ist gekommen, der Menschheit die lex universalis zu predigen; mit einem Wort: er ist der Lehrer der Vernunftreligion. Was heißt das aber anders, als daß Christus die Philosophie Spinozas, die ja die allein wahre ist (ep. 76; VL. II, S. 247), verkündet hat? Ist dies nun wirklich Spinozas Überzeugung, oder be­ deutet die Annahme einer einzigartigen Offenbarung für Christus weiter nichts als tendenziöse Akkommodation? Tatsache ist, daß die eben ge­ nannten Formulierungen im Traktat ihr völlig isoliertes Dasein fristen; sie werden nirgends für den Gehalt der Gffenbarungsreligion fruchtbar gemacht. Vie Lehre der Schrift wird stets als eine Einheit betrachtet (vgl. oben S. 35 Anm.); sie enthält, wie Kapitel XIII, 1—4, die einzelnen Ergebnisse der vorhergehenden Kapitel zusammenfassend, aus­ drücklich betont, „nicht erhabene Spekulationen noch überhaupt philo­ sophische Gedanken, sondern bloß die einfachsten Dinge, die auch dem beschränktesten Menschen verständlich sind". Und dies, obwohl Christus der Lehrer der Vernunftreligion, d. h. also eines durch und durch spe­ kulativen Systems gewesen sein soll? hier klafft ein Zwiespalt, der von Spinoza nicht ausgeglichen worden ist. Also handelt es sich doch um bloße Akkommodation, wenn er Christus adäquate Erkenntnis zuge­ steht? Der Gedanke der Akkommodation bildet gewiß die ultima ratio bei der Lösung so mancher Schwierigkeiten des Traktats, und er liegt auch in diesem Zusammenhangs durchaus nahe. Spinoza würde sich sicher jeden Erfolg seines Buches von vornherein verscherzt haben, wenn er es gewagt hätte, dem Gottmenschen die adäquate Gotteserkenntnis abzusprechen, und seine apologetische Tendenz hätte er hierdurch nicht minder aufs Spiel gesetzt. Aber wer für den Gedanken der Akkommo­ dation plädiert, kommt in harten Konflikt mit einer Äußerung, die sich — in völliger Übereinstimmung mit den Ausführungen des Traktats — im 73. Brief findet, hier heißt es von „Gottes ewiger Weisheit", daß sie sich „in allen Dingen und am meisten im menschlichen Geiste offen­ bart, vor allem aber in Christo Jesu" (VL. II, S. 240; ähnlich ep. 75, S. 245). Der Brief will Spinozas Anschauungen offen darlegen (mentem meam aperiam; S. 239) und enthält wirklich in allen übrigen Punkten seine ehrliche Überzeugung. Sollen wir nun für diese eine Äußerung eine Ausnahme machen und sie für tendenziöse Wache erklären? Wan wird sich zu diesem Schritt kaum entschließen können; er grenzt an unwiffenschaftliche Willkür. Aber was dann? Zwang vielleicht „die gewaltige Persönlichkeit Jesu, der seines Gottes so gewiß war, den Philosophen seinen erkenntnistheoretischen Prinzipien zum Trotz, ihm

die adäquate Gotteserkenntnis zuzugestehen"?*)

Nach allem, was wir

von Spinoza wissen, dürfen wir vermuten, daß ihm die erhabene Moral, die in Jesu Worten zum Ausdruck kommt, nur sympathisch gewesen sein kann; an ihr mag ihm der Gedanke der Wahlverwandtschaft aufgegangen sein. Indessen löst auch diese Annahme nicht alle Schwierigkeiten; sehen wir einmal von der erkenntnistheoretischen Inkonsequenz ganz ab, so bleibt doch immer noch die höchst auffällige Tatsache bestehen, daß der Gedanke der adäquaten Erkenntnis Jesu für den Inhalt der Gffenbarungsreligion in Keiner Weise nutzbar gemacht worden ist. Und darauf haben wir in unserem Zusammenhänge den Hauptton zu legen: Mögen die Aussprüche Spinozas über seine Stellung zu Christus wie nur immer gedeutet werden, das Urteil über die Gffenbarungsreligion bleibt davon völlig unberührt; sie ist ihm nach wie vor eine Größe zweiten Ranges. Mit diesen Ausführungen haben wir zuviel und zu wenig behauptet. Zuviel insofern, als wir die Realität der übernatürlichen Offenbarung für Spinoza als zugestanden voraussetzten; zu wenig, als wir den Ge­ danken, der ihm eine relative Würdigung der Gffenbarungsreligion möglich macht, noch nicht genügend hervorgehoben haben. Erst wenn wir diese beiden einander scheinbar ausschlietzenden Gedankengänge ent­ wickelt haben, schließt sich der Kreis unserer Untersuchungen, und die religionsphilosophische Stellung Spinozas tritt in ihrer ganzen Eigen­ art zutage. Können wir also Spinoza, um mit der ersten Frage zu beginnen, zu denen rechnen, die den Supranaturalismus - nun nicht für ihre Person

vertreten, aber doch — in seiner Wirklichkeit anerkennen, sei es auch nur in der schwächlichen Form des rationalen Supranaturalismus,

etwa des von Locke beeinflußten englischen Deismus oder der in Leibniz' Spuren wandelnden aufgeklärten Theologie und konservativ-rationalen Philosophie Deutschlands im l 8. Jahrhundert? Oder ist ihm die Offen­ barung (im Sinne eines übernatürlichen Eingreifens der Gottheit durch Worte und Zeichen) etwas Unmögliches und Unwirkliches? Es könnte auf den ersten Blick scheinen, als sei diese letzte Frage nicht mehr recht am Platze. Wir haben eben das Urteil Spinozas über die Gffen­ barungsreligion kennen gelernt; sie ist ihm eine Größe zweiter Ordnung. Darin liegt, so sollte man meinen, die Frage nach der Realität der Offenbarung eingeschloffen. Mitnichten. Ein anderes ist es, Bibel­ exegese treiben und über den eruierten Bibelinhalt Urteile fällen, ein anderes metaphysische Probleme erörtern. Wenn Spinoza die Bibel zum Ausgangspunkt und zur Grundlage seiner Ausführungen macht ')