Das Noumenon Religion: Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants [Reprint 2013 ed.] 9783110807127, 3110162881, 9783110162882

The study examines the noumenal, the spiritual essence of religion. Starting from Kant's practical philosophy, it s

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German Pages 246 [248] Year 1998

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Table of contents :
1. Einführung
1.1. Vorwort
1.2. Einleitung
1.2.1. Eingrenzung des Themas
1.2.2. Untersuchungsgegenstand
1.2.3. Ziel der Arbeit
1.2.4. Methode und Gang der Untersuchung
1.3. Grundlegung
1.3.1. Kritische Philosophic und sittliches Handeln
1.3.2. Die Struktur der praktischen Vernunft
1.3.3. Die Kategorien der Freiheit
1.3.4. Die Postulatenlehre
1.3.5. Schematismus versus Symbolisierung
1.3.6. Die Varianten des höchsten Guts
2. Durchführung
2.1. Inneres Handeln
2.1.1. Gesinnungsethik
2.1.2. Zweckeethik
2.2. Religionsphilosophie
2.2.1. Der transzendentale Konflikt
2.2.2. Religion und Moralphilosophie
2.2.3. Das religiöse Symbol
2.2.4. Glaube und Fundamentalismus
2.2.5. Das religiöse Gefühl
2.2.6. Das ethische Gemeinwesen
2.3. Äußeres Handeln
2.3.1. Recht
2.3.2. Politik
2.4. Geschichtsphilosophie
2.4.1. Fundamentalismus und Kritik
2.4.2. Die Teleologie öffentlichen Handelns
2.4.3. Philosophie als öffentliche Meinung
2.4.4. Die Institutionen der Vernunft
3. Verhältnisbestimmungen
3.1. Religionsphilosophie und Orientierung
3.1.1. Lebenssinn und Lebenszeit
3.1.2. Nicht-normative Sinnfindung
3.1.3. Kultur und Religion
3.2. Die Wissenschaften von der Religion
3.2.1. Phänomen versus Noumenon Religion
3.2.2. Theologie und Philosophie
3.2.3. Praktische Gotteslehre und Religionswissenschaften
3.3. Religion und öffentliches Handeln
3.3.1. Staatskirchenrecht
3.3.2. Gesellschaftspolitik
3.3.3. Religiöser Dialog in der Moderne
3.4. Religion und Anthropologie
3.4.1. Religion und Geschichte
3.4.2. Gotteslehre und Anthropologie
3.4.3. Religion – Funktion des menschlichen Geistes
4. Anhang
4.1. Schaubild
4.2. Literaturverzeichnis
4.3. Register
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Das Noumenon Religion: Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants [Reprint 2013 ed.]
 9783110807127, 3110162881, 9783110162882

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Claus Dierksmeier Das Noumenon Religion

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G

Kants tudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum und Thomas M. Seebohm

133

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

Claus Dierksmeier

Das Noumenon Religion Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Dierksmeier, Claus: Das Noumenon Religion : eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants / Claus Dierksmeier. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Kantstudien : Ergänzungshefte ; 133) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-11-016288-1

© C o p y r i g h t 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Buchbinderei Stein, Berlin

Meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis 1. Einführung

1

1.1. Vorwort

1

1.2. Einleitung 1.2.1. Eingrenzung des Themas 1.2.2. Untersuchungsgegenstand 1.2.3. Ziel der Arbeit 1.2.4. Methode und Gang der Untersuchung

3 3 7 9 12

1.3. Grundlegung 1.3.1. Kritische Philosophie und sittliches Handeln 1.3.2. Die Struktur der praktischen Vernunft 1.3.3. Die Kategorien der Freiheit 1.3.4. Die Postulatenlehre 1.3.5. Schematismus versus Symbolisierung 1.3.6. Die Varianten des höchsten Guts

16 16 21 26 29 40 48

2. Durchführung 2.1. Inneres Handeln 2.1.1. Gesinnungsethik 2.1.2. Zweckeethik

52 52 53 67

2.2. Religionsphilosophie 2.2.1. Der transzendentale Konflikt 2.2.2. Religion und Moralphilosophie 2.2.3. Das religiöse Symbol 2.2.4. Glaube und Fundamentalismus 2.2.5. Das religiöse Gefühl 2.2.6. Das ethische Gemeinwesen

75 77 81 85 96 106 118

2.3. Äußeres Handeln 2.3.1. Recht 2.3.2. Politik

122 123 133

Vili

Inhaltsverzeichnis

2.4. Geschichtsphilosophie 2.4.1. Fundamentalismus und Kritik 2.4.2. Die Teleologie öffentlichen Handelns 2.4.3. Philosophie als öffentliche Meinung 2.4.4. Die Institutionen der Vernunft 3. Verhältnisbestimmungen

142 144 147 152 154 158

3.1. Religionsphilosophie und Orientierung 3.1.1. Lebenssinn und Lebenszeit 3.1.2. Nicht-normative Sinnfindung 3.1.3. Kultur und Religion

158 159 164 168

3.2. Die Wissenschaften von der Religion 3.2.1. Phänomen versus Noumenon Religion 3.2.2. Theologie und Philosophie 3.2.3. Praktische Gotteslehre und Religionswissenschaften . .

172 172 176 180

3.3. Religion und öffentliches Handeln 3.3.1. Staatskirchenrecht 3.3.2. Gesellschaftspolitik 3.3.3. Religiöser Dialog in der Moderne

185 186 192 195

3.4. Religion und Anthropologie 3.4.1. Religion und Geschichte 3.4.2. Gotteslehre und Anthropologie 3.4.3. Religion — Funktion des menschlichen Geistes

203 203 207 211

4. Anhang

217

4.1. Schaubild

217

4.2. Literaturverzeichnis

218

4.3. Register

237

„Es klingt zwar bedenklich, ist aber keineswegs verwerflich, zu sagen: dafl ein jeder Mensch sich einen G o t t m a c h e , ja nach moralischen Begriffen (...) sich einen solchen selbst machen m ü s s e . " (Rei. Β 257, Anm.) 1

1. Einführung 1.1.

Vorwort

Wer heute sich theoretisch mit der Religion befaßt, kommt an Immanuel Kant nicht vorbei. Kein anderer Philosoph wird in der Fachliteratur und auch im allgemeinen Bewußtsein so oft mit der Problematik von Denken und Glauben in Verbindung gebracht wie er. Es verwundert nicht, daß es eine schon unübersehbare Fülle von Schriften gibt, die sich in der einen oder anderen Weise dem Themenkreis 'Kant und die Religion' widmen." Das heißt aber leider nicht, daß das Thema bereits zufriedenstellend aufgeklärt wäre. Damit meine ich nicht, daß etwa noch Einzelfragen der Forschung offen seien, ein Grundkonsens aber bestehe. Vielmehr fehlt der Grundkonsens bei durchaus anzutreffender Übereinstimmung in exegetischen Einzelfragen. Es besteht in der Forschung immer noch Streit um den prinzipiellen und systematischen Stellenwert der Religion bei Kant.3 Dies ist verwunderlich, da es sich bei Kant um einen Denker handelt, der von seinem 1 Kants Schriften werden, soweit sie zu seinen Lebzeiten erschienen, nach der Ausgabe von Willhelm Weischedel zitiert und die Zitate gemäß den sich dort befindenden Seitenangaben, die Erst- und Zweitausgabe betreifend ( ' A ' oder 'B'), lokalisiert: Werke in sechs Bänden, Wiesbaden 1956ff.. Darmstadt 1983 ff.: desgleichen in zwölf Bänden, Frankfurt 1968 u.ö.). Außerdem erfolgt die Angabe des Orts der Zitate in der von der ursprünglich Preußischen, dann Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin besorgten Ausgabe der Gesammelten Schriften (Berlin 1902ff.) mit Band- und Seitenzahl (AA x. y). Die nachgelassenen Schriften Kants werden ausnahmslos nach der Akademieausgabe zitiert. Die Hauptwerke Kants werden mit den gängigen Abkürzungen angeführt. (K.d.r.V. = Kritik der reinen Vernunft, usw.). Die Hervorhebung durch Sperrung folgt dem Original. Meine Hervorhebung erfolgt durch Kursivsetzung. " Eine gute Übersicht über die Hauptwerke findet sich bei: Fischer, Norbert: Zur neueren Diskussion um Kants Religionsphilosophie, in: Theologie und Glaube, Paderborn. 1993, Nr.2, S. 170-199. J Paradigmatisch sind Picht und Kersting. Während Picht, zurückgehend auf eine These seines Lehres Heidegger (Kants These über das Sein, Frankfurt 1963. S. 14) es unternimmt, Kants gesamte Philosophie als Religionsphilosophie zu lesen, (vgl. Kants Religionsphilosophie, Stuttgart 1985), meint Kersting, die Religionsphilosophie bei Kant sei peripher und halte zusammen mit der Geschichtsphilosophie durch Postulate lediglich „Ohnmachtsbefürchtungen" gegenüber der praktischen Vernunft fem. (vgl. Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit - Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Zweite Auflage. Frankfurt 1993, S. 86/87).

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Einführung

eigenen Anspruch her in allererster Linie Systemdenker ist, bei dem mithin die Systematik der Argumente Darstellungsvorrang haben müßte vor dem sachlichen Gehalt dieser Argumente. Die Systematik des religionsphilosophischen Arguments ist das Thema dieser Untersuchung. Ausgehend von den kantischen Grundlagen soll das systematische Anliegen transparent gemacht werden, das zu Kants kritischer Religionsphilosophie den hermeneutischen Schlüssel liefert. Dieser Schlüssel liegt im notwendigen Zusammenhang von Kants philosophischem System und seinem Begriff von Religion. Die Herausarbeitung dieses Zusammenhangs kann auch als eine Vorarbeit zu einem systematischen Konzept von transzendentalphilosophischer Religionsphilosophie überhaupt verstanden werden. Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden Kants Systemschriften zur praktischen Philosophie, da sie den systematischen Ort der einzelnen praktischen Disziplinen und der Religion bestimmen. Die religionsphilosophischen Schriften und Vorlesungen Kants haben für das hier verfolgte Projekt einen eher abgeleiteten Status. Eine Darstellung derselben ist nicht beabsichtigt. 4 Selbstverständlich nimmt die vorliegende Arbeit inhaltlich Stellung zur wissenschaftlichen Debatte. Der informierte Leser wird die Kritik an anderen Positionen, die der hier vorgelegte Ansatz in sich trägt, unschwer erkennen. In der Begründung und Rechtfertigung der hier ausgearbeiteten Lesart der systematischen Funktion der Religion im Zusammenhang der praktischen Philosophie Kants liegt daher der wissenschaftliche Schwerpunkt der Arbeit. Der von mir ins Zentrum gerückte Systemgedanke soll einen verläßlichen Leitfaden angeben, die verschiedenen religionsphilosophischen Äußerungen Kants auf einen einheitlichen Grundgedanken zu beziehen, und verhindern, daß hinter vordergründigen textlichen Inkongruenzen der hintergründige sachliche Zusammenhang aus dem Auge verloren wird. Um die Lesbarkeit des fortlaufenden Textes zu verbessern, habe ich die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur in den beigegebenen Anmerkungen gefuhrt. Die dort gemachten Hinweise eröffnen mitsamt dem Literaturverzeichnis im Anhang den sekundärliterarischen Zugang zur kantischen Religionsphilosophie und weisen besonders auf Interpreten hin, die die bearbeiteten Themen anders bewerten. Dank gebührt allen, die die Arbeit in der vorliegenden Form ermöglicht haben. Meinen akademischen Lehrern danke ich die Freiheit, die sie mir bei der Gestaltung und Durchführung der Arbeit ließen, meinen Diskussionspartnern, insbesondere Sven Block und Krischan Heinemann, danke ich für ihre Anregungen. Herausgehobener Dank gilt meinen Eltern, die mir stets wahre und sittliche Religiosität vorlebten.

4

Die dazu angebotene Literatur scheint mir ausreichend zu sein. Vgl. dazu das Literaturverzeichnis im Anhang.

Einführung

3

1.2. Einleitung 1.2.1. Eingrenzung des Themas Bereits 1938 schreibt Josef Bohatec: „Bei dem Vorhandensein eines zahlreichen und bedeutsamen Schrifttums über die Religionsphilosophie Kants muß jeder Versuch, denselben Gegenstand zu behandeln, begründet werden."5 Dies gilt heute ebenso wie damals. Seit Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre erlebt die kantische Religionsphilosophie gesteigerte Aufmerksamkeit bei den Interpreten. Gute und umfassende Arbeiten sind zu ihr veröffentlicht worden.6 Während anfangs die Debatte auf die Bundesrepublik konzentriert war, weitet sie sich zunehmend auch auf den anglo-amerikanischen Diskurskreis aus.7 Eine weitere Betrachtung der kantischen Religionsphilosophie muß sachlich gerechtfertigt sein, soll sie nicht redundant neben andere treten. Ich will im folgenden versuchen, mein philosophisches Projekt von denen anderer abzuheben, nicht über eine Kritik des Geleisteten, sondern in der Werbung für das hier verfolgte Alternativprojekt. Vorliegende Arbeit versteht sich dezidiert als religionsphilosophische Untersuchung. Sie ist keine theologische Untersuchung der Philosophie Immanuel Kants. Das heißt, sie ist nicht bestrebt, im Interesse an oder im Ausgang von primär dogmatischen Fragestellungen die materielle Deckungsgleichheit kantischer und christlicher Lehre in Abgleich zu bringen.8 Sie ist auch keine eingeschränkt philosophische Arbeit, die sich dabei begnügte, die Religion als nicht weiter beachtliches Epiphänomen praktisch philosophischen Denkens anzusehen. Sie ist vielmehr religionsphilosophisch: Es wird versucht, die Religion als eigenständigen Gegenstand philosophischer Betrachtung zu gewinnen.9 Dieser 5

In ders.: Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft". Mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch-dogmatischen Quellen, Hamburg 1938 (repr. Hildesheim 1966), S. 7. 6 Beispiele sind sicherlich die Untersuchungen von Wimmer (Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York 1990) und Langthaler (Kants Ethik als „System der Zwecke" - Perspektiven einer modifizierten Idee der "moralischen Teleologie" und Ethikotheologie, Berlin/New York 1991) in den Ergänzungsbänden zu den Kant-Studien. 7 Vgl. Davidovich, Adina: Religion as a province of meaning·, the Kantian foundations of modern theology. Minneapolis, 1993, sowie Dell'Oro, Regina: From existence to the ideal·, continuity and development in Kant's theology. N e w York 1994. 8 Vgl.: Galbraith, Elizabeth: Was Kant a closet theologian?, in: Theology. A monthly review. Evanston, 1992, Vol 95. n. 766, S. 245ff. Gegen eine solche Herangehensweise verwahrt sich: Winter, Alois: Theologische Hintergründe der Philosophie Kants, in: Theologie und Philosophie 51 (1976), S. 1-51. m.w.N. 9 Die Religionsphilosophie „hat zu untersuchen, wie Religion und religiöse Überzeugung und religiöses Erleben im vernünftigen Geiste selber entspringt, aus welchen Vermögen und Anlagen

4

Einführung

Gegenstand und diese Betrachtung beeinflussen sich gegenseitig. Die philosophische Weise der Betrachtung verbietet, den Gegenstand zu verabsolutieren, so daß sich - wie in manchen Theologoumena - nach ihm die Methode zu richten habe.10 Der Gegenstand aber verbietet es, das im religiösen Geschehen sich aussprechende unbedingte Geltungsmoment herabzuziehen auf eine ihm nur äußerliche Funktion. Hier ist gegen Theorien zu denken, die Recht und Sinn der Religion nicht nach ihrem inneren Begriff, sondern nach ihrer äußerlichen (sozialen) Nützlichkeit und Rolle bestimmen." Wenn hier stattdessen von dem inneren Begriff der Religion gesprochen wird, so liegt darin eine weitere Abgrenzung.12 In vielen philosophischen Untersuchungen zum Gebäude der praktischen Philosophie Kants wird den verschiedenen Disziplinen: Moral, Recht, Politik, Geschichte und Religion je nach dem materiellen Gehalt, der ihnen nach hergebrachtem Vorverständnis zukommt, ein Ort im Theoriegefüge äußerlich zugewiesen. Die Einordnung der Religion in das System der praktischen Vernunft kann dann beispielsweise in Abhängigkeit davon geraten, wo und wie der jeweilige Verfasser gerade die Grenze zwischen Moral und Recht, zwischen Moral und Geschichte oder zwischen Natur und Ethik insgesamt zieht. In Ableitung von diesen Vorentscheidungen wird dann extern die Funktion der Religion bestimmt: als Bindeglied und Lückenfuller. Religion als eigene Größe ist so nicht zu erfassen. Die Schwäche solcher Ansätze liegt darin, daß sie sich dem Phänomen Religion äußerlich nähern. Es wird vorausgesetzt, man kenne das ja, was Religion sei, es frage sich nur, wo man es im philosophischen System sinnvoll unter" bringe.13 Die Vielgestaltigkeit der vorgefundenen Religionen wird dann gerne durch Abstraktion nivelliert. Die Religionen werden dabei blutarm und auf ihre eher unwesentlichenGemeinsamkeiten reduziert.14 Das darin nicht zur Deckung zu desselben sie hervorgeht und welchen Anspruch auf Gültigkeit sie dadurch hat." Otto, Rudolf: Kantisch-Fries 'sehe Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S. VI. 10 Vgl. Weischedel, Willhelm: Religionsphilosophie als Lehre vom religiösen Verhalten, in: Der Gott der Philosophen, Band I, Reprod. der dritten Auflage, Darmstadt 1994, S.10. " Vgl. Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, in: Höhn, Hans-Joachim: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 245. 12 Zur Abgrenzung gegenüber religionssoziologischen Ansätzen vgl. hier den Abschnitt „Die Wissenschaften von der Religion", sowie: Matthes, Joachim: Auf der Suche nach dem 'Religiösen '. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologia Intemationalis 30 (1992), S 129-142. 13 Vgl. Schellong, Dieter: Was zählt als Religion?, in: Wahrheitsansprüche der Religionen heute, Paderborn, 1986, S. 134-155. 14 Vgl. Paul Tillich: Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919, 1921), später in: Gesammelte Werke IX, S. 13-31, 1992: Es ist „unmöglich, brauchbare Allgemeinbegriffe von Kulturideen zu entwickeln. Was Religion oder Kunst seien, ist auf dem Wege der Abstraktion nicht zu erfahren: sie vernichtet das Wesentliche, die konkreten Formen, und muß alle noch kommenden

Einführung

5

bringende Widersprüchliche verschiedener religiöser Ansätze wird anstatt als Argument gegen solche Vereinnahmung von außen als Argument gegen die Religionen gewendet. Ein haltbarer äußerer Begriff der Religion wird gesucht und - zumindest auf der Basis wirklich voraussetzungsfreier Deskription - nicht gefunden. 15 Präjudizien fließen ein, Hierarchien werden gebildet. Maßgenommen wird dann doch an einer bestimmten ('hochentwickelten') Religion. Andersgeartete Religionen sind kulturell mit einem Male 'auf dem Weg' zu dieser Religionsform, - sie wissen es nur noch nicht. Stufentheorien machen Kulturfuhrer in Sachen religiöse Wahrheit aus und sehen es als mißliebige Dialektik an, daß selbst in der präferierten (eigenen) Religion gerade diejenigen Elemente, die sich dem abstrahierend gewonnenen äußerlichen Begriff der Religion eben nicht fügen, den spirituellen Geschehensmittelpunkt16 auszumachen scheinen: geradezu ein empirischer Dolchstoß in das Herz des phänomenologischen Zugangs. Das Phänomen Religion fügt sich nicht dem äußeren Begriff. Ein innerer Begriff von Religion dagegen ist entweder aus dem Internum phänomenaler Religion selbst zu gewinnen, mithin aus der Quelle ihres objektivierten Selbstverständnisses, beispielsweise aus ihrer Offenbarung. Dann aber liegt eben ein theologischer und kein philosophischer Zugang vor. Oder aber der innere Begriff der Religion wird vom empirischen Selbstverständnis religiöser Menschen aus gesucht. Dann aber ist keine Kritik der Religion möglich, die vom religiösen Standpunkt unabhängig ist.17 Das Selbstverständnis der Religion kann nicht philosophischer Ausgangspunkt sein, vom dem aus dann kritische Distanz und normative Kriterien gegenüber dieser Religion gewonnen werden könnten. Stattdessen ist das objektivierte (theologische) sowie das subjektive (religiöse) Selbstverständnis von dort zu erklären, woher es gerechtfertigt wird: aus der menschlichen Vernunft.

Konkretionen außer acht lassen. Jeder kulturwissenschaftliche Allgemeinbegriff ist entweder unbrauchbar, oder er ist ein verhüllter Normbegriff, er ist entweder Umschreibung eines Nichts oder er ist Ausdruck eines Standpunktes." (S. 28/29 der Originialpaginierung, Hervorhebungen gem. Original.) 15 Vgl. Mensching, Gustav: Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze. Stuttgart 1959, S. 11 und S. 77ff. 16 Gustav Mensching spricht in diesem Zusammenhang von der „Lebensmitte" der Religionen, in: Mensching, Gustav: Die Religion. a.a.O., S. 12. 17 Vielfach wird argumentiert, die religionsphilosophische Untersuchung dürfe nicht vom religiösen Standpunkt unabhängig sein, sonst könne sie ihn gar nicht begreifen. Das Gegenteil, so wird unsere Untersuchung zum religiösen Denken und zum religiösen Gefühl zeigen (vgl. S. 105ff.), ist der Fall. Während eine Theorie, die den religiösen Standpunkt voraussetzt, niemals unbedingt unterscheiden kann zwischen gesunder und kranker Religiosität, und dennoch diese Unterscheidung braucht, um nicht unkritisch alles als Religion gelten zu lassen, was sich selbst so nennt, gelingt es der vorliegenden Untersuchung, die dem religiösen Selbstverständnis nicht verpflichtet ist, über ihren normativen Zugang, den religiösen Geist in seinem Wesen kritisch zu erfassen.

6

Einführung

Damit zeigt sich die eigentliche Aufgabe einer religionsphilosophischen Untersuchung der Religion. Es ist der systematische Ort der Religion in der Vernunft - mit den Mitteln der vernunftkritischen Philosophie - aufzuzeigen und als Standpunkt der Betrachtung einzunehmen. Der noumenale Standpunkt ist kein Präjudiz, sondern - als reflektierter Standpunkt - Bedingung der Möglichkeit sachlicher Authentie. Die Frage ist nicht, was wir über unsere Vernunft denken müssen, um das, was wir schon immer über die Religion zu wissen glaubten, rechtzufertigen. Sondern die Frage ist, ob wir ein 'Etwas' denken müssen, das wir, um unsere Vernunft als ein systematisches Ganzes denken zu können, als Religion, besser: als Noumenon Religion, ansprechen müssen. Kurz: Die Frage ist, ob Religion transzendental oder transzendent für eine sich kritisch selbst erfassende Vernunft ist. Hierzu ist keine Untersuchung des Gottesbegriffes bei Kant intendiert oder vonnöten.18 Denn wenn man von einem auf lebendige Religion letztlich unbezüglichen philosophiesystematischen Gebrauch des Gottesbegriffes bei Kant einmal absieht,19 so kann gesagt werden, daß bei Kant eben nicht die Religionsphilosophie aus einem voraufgehenden Gottesbegriff abgeleitet wird, sondern umgekehrt dieser - in religiösen Belangen - aus den Gründen der Religionsphilosophie sich bestimmt. Die Stärke der kantischen Religionsphilosophie, so wird gezeigt werden können, ist es gerade, daß sie unabhängig von einer vorauszusetzenden philosophischen oder geoffenbarten Theologie bestehen kann.20 Zwar ist das Noumenon Religion bei Kant nicht ohne jeden Bezug auf 18 Anderer Ansicht ist Willhelm Weischedel, der meint, eine sich derart beschränkende und von philosophischer Theologie absehende Religionsphilosophie „verstellt, wenn man bei ihr verharrt, die Möglichkeit, nach der Wahrheit und Wirklichkeit des in solchem Verhalten Intendierten auch nur zu fragen." (Weischedel, Willhelm: Religionsphilosophie als Lehre vom religiösen Verhalten, in: Der Gott der Philosophen, Band 1, Reprod. der dritten Auflage, Darmstadt 1994, S. 11). Es ist im folgenden zu zeigen, daß dies zwar für eine deskriptiv verfahrende Religionsphilosophie zutreffen wird, nicht aber für die vorliegend intendierte normative Religionsphilosophie. 19 Hierzu näher auf S. 19. Eine präzise Untersuchung des theoretischen Gottesbegriffes findet sich bei: Andersen, Svend: Ideal und Singularität. Über die Funktion des Gottesbegriffs in Kants theoretischer Philosophie. Berlin / N.Y. 1983, insbs. 21 Iff. Eine Untersuchung, die die Verbindung von philosophiesystematischem und religiösem Gottesbegriff sucht, findet sich bei: Sala, Giovanni B.: Kant über die menschliche Vernunft - Die Kritik der reinen Vernunft und die Erkennbarkeit Gottes durch die praktische Vernunft, Weilheim-Bierbronnen, 1993. 20 Damit ist der vorliegende Ansatz auch deutlich abzusetzen von Ansätzen, die den normativen Standpunkt der Religionsphilosophie gewinnen wollen, indem sie diese im Ausgang von einer bestimmten Glaubensposition oder im Ausblick auf eine solche konzipieren, wie z.B. Emil Brunner als Repräsentant einer sog. „protest. Religionsphilosophie" und Heinrich Fries als Repräsentant sog. „katholischer Religionsphilosophie". Zur Darstellung ihrer Positionen vgl. zusammenfassend: Weischedel, Willhelm: Der Gott der Philosophen, a.a.O. S. 3-10. Vgl. auch den Artikel zur Religionsphilosophie in: „Die Religion in Geschichte und Gegenwart - Handwörterbuch für Theologie und ReligionswissenschaftDritte Auflage, Tübingen 1961, Bd. V, S. lOlOff, insbs. S. 1013, der Religionsphilosophie mit Verweisen auf Brunner, Heim, Mehl u.a. als standpunktnehmende Propädeutik der Theologie verstanden wissen will.

Einfuhrung

7

einen Gottesbegriff, aber es ist von ihm geltungstheoretisch unabhängig. Die integrative Kraft der kantischen Theorie liegt gerade darin, das Noumenon Religion von seinen jeweiligen Gestalten zu entkoppeln und an sich selbst zu legitimieren.

1.2.2. Untersuchungsgegenstand Damit ist der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit gewonnen: das Noumenon Religion. Nur ein transzendental-kritisch fundiertes Noumenon Religion kann einen tragenden Rechtfertigungsgrund des Religiösen liefern. Die Frage nach dem Rechtfertigungsgrund des Religiösen wird heutzutage gerne vernachlässigt, da Waffenstillstand herrscht zwischen Philosophie und Theologie.21 Aber im erneut aktuellen Problem staatlichen Umgangs mit religiösen Sekten22 und im Hinblick auf das Wiedererstarken theokratischer Fundamentalismen in der arabischen Welt23 wird deutlich, wie wichtig es ist, allgemeinheitsfähig normativ zu bestimmen, was legitimen Anspruch erheben darf, staatlich geschützte Ausübung der Gewissens- und Religionsfreiheit zu sein, und was nicht. Betrachtet man das Phänomen Religion von außen, so unterstellt man es leicht heteronomen Nützlichkeitserwägungen und ist geneigt, die Religion um ihr transzendentes Moment auf soziale Hilfsethik oder auf ästhetische bzw. teleologische Weltanschauung zu verkürzen.24 Nimmt man dagegen den Standpunkt der Religion ein, die die von ihr verkündete Transzendenz zu ihrem eigentlichen Fundament macht, verfahrt man unkritisch, ja fundamentalistisch. Und tatsächlich stehen sich ja auf der Weltbühne verschiedene Offenbarungsreligionen in gleicher Weise absolut gegenüber und begreifen die ihnen gesellschaftlich abgenötigte Toleranz des Nebeneinander als uneigentliches Moment ihrer auf Wahrheitsgewißheit gestützten Seinsweise. Die vorliegende Untersuchung will diese auseinanderfallenden Sichtweisen vermitteln. Könnte aus der Struktur der Selbsterfassung der menschlichen Vernunft heraus gezeigt werden, daß das Noumenon Religion notwendig zu jedem menschlich-geistigen Sein 21

Vgl. Wuchterl, Kurt: Religion und Philosophie, - Zur Aktualität der Religionsphilosophie, Stuttgart 1982, S. 1 Iff. 22 Zur Wertung des Umgangs mit Sekten als ein für die Religonsphilosophie beachtenswertes Moment in der gesellschaftlichen Realität, vgl. Schieder, Rolf: Über Zivilreligion, politische Religionskompetenz und die Zivilisierung der Religion, in: Höhn, Hans-Joachim: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 74. 23 Eine begriffliche Herausforderung der kritischen Religionsphilosophie im religiösen Fundamentalismus erblickt: Küenzlen, Gottfried: Religiöser Fundamentalismus - Aufstand gegen die Moderne?, in: Höhn, Hans-Joachim: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 68. 24

Gegen derartige Verkürzungen: Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S. 245 ff.

8

Einführung

gehört, so wäre die prinzipielle Berechtigung des religiösen Insistierens auf einem nicht in der Alltäglichkeit aufgehenden transzendenten Moment gezeigt.25 Ferner wäre von der vernunftkritischen Untersuchung eines solchen Noumenon Auskunft zu erwarten über Sinn und konkrete Grenzen des religiösen Bekenntnisses und seiner Äußerungsformen. Gibt es nur eine menschliche Vernunft, so gibt es nur ein Noumenon Reli" gion.26 Es wäre gleichermaßen Geltungsgrund und Schranke jedes religiösen Anspruchs: Legitimation und Limitation religiösen Geschehens könnten aus ihm abgeleitet werden. Die Philosophie des Noumenon Religion wäre Apologetik und Kritik des religiösen Phänomens in einem. Dies ist der Sinn der kantischen Rede von der einen Vernunftreligion.27 Es geht ihr nicht darum, Religion auf Rationalität zu reduzieren, sondern darum, die allgemeine Vernunftnotwendigkeit einer nicht mit Mitteln bloßer Vernunft operierenden Selbstvergewisserung aufzuzeigen. Die Untersuchung einer bestimmten historischen Religion mit den Mitteln der reinen Vernunft ist begrifflich davon abzuheben.28 Um Stelle und Stellenwert der Religion im menschlichen Geist auszumachen, ist die systematische Selbstvermittlung der menschlichen Vernunft im Weltbezug zu rekonstruieren. Der menschliche Geist eignet sich im religiösen Vollzug die nicht-bewußte Welt an und macht sie zu einer geistigen Welt. Er durchwirkt das Universum auf der Suche danach, sich im Geist dieser Welt selbst zu begegnen.29 Die harmonisierende Verfremdung, die die Um-Welt in der religiösen Aneignung erfährt, ist ein fur die Philosophie höchst interessantes Geschehen, dessen Analyse sie zur Klärung ihres eigenen Selbstverständnisses bedarf. Hierin liegt ein „Für etwas einzustehen, was mit den Mitteln der Vernunft unableitbar ist, macht die Eigenständigkeit des Religiösen aus. Daß sich diese Unableitbarkeit aber in einer für das Vernünftige nachvollziehbaren Weise einsichtig machen läßt, ist die Voraussetzung dafür, daß das Religiöse nicht zum Stellvertreter des Irrationalen und Vernunftwidrigen wird." Höhn, HansJoachim, Einleitung zu: ders. (Hg.): Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 18. 26 „In dem, was eigentlich Religion genannt zu werden verdient, kann es keine Sektenverschiedenheit geben (denn sie ist einig, allgemein und notwendig, mithin unveränderlich), wohl aber in dem, was den Kirchenglauben betrifft, er mag nun bloß auf die Bibel, oder auch auf Tradition gegründet sein: so fern der Glaube an das, was bloß Vehikel der Religion ist, für Artikel derselben gehalten wird." Der Streit der Fakultäten, A 70/71. 27 Zum Verhältnis des Begriffs Noumenon Religion und des kantischen Begriffs der Vernunftreligion kann erst auf der Grundlage der sachlichen Explikation des Noumenon Religion eingegangen werden, vgl. dazu S. 158f. 28 Man kann Kant kritisieren, (so z.B. Sala, Giovanna Β.: Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religionslehre, in: Marty F. / Ricken F.: Kant über Religion, Münchener philosophische Studien, Band 7, Stuttgart 1992, S.143), daß bei ihm allgemeine Religionsphilosophie und philosophische Interpretation des Christentums nicht sauber getrennt sind. Warum dies so ist, wird hier auf S. 82ff. näher untersucht werden. 29

Vgl. Otto, Rudolf: Kantisch-Fries'sche Theologie, Tübingen 1909, S. 117.

Religionsphilosophie

und ihre Anwendung

auf die

Einführung

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synthetisches Vermögen der Religion, das fur den Vollzug sittlicher Geistigkeit augenscheinlich typisch ist. Damit erweist sich ein Teil dessen, was in der religiösen Selbsterfassung des Menschen geschieht, als nicht-substituierbares Moment sittlich durchbestimmten Menschseins. Das wiederum bedeutet, die Religion als äußeres Geschehen verdankt ihre Geltung einem a priori im Menschsein angelegten, gerechtfertigten inneren Geschehen. Wenn dieses innere Geschehen aber der sinnlichen Äußerung bedarf, um sich zu vollziehen, so ist damit auch dem äußerlichen Vollzug religiöser Orientierung eine begrifflich bestimmte Rechtfertigung zu geben. Deshalb wird eben jener synthetische Aspekt menschlicher Vernunft, dem der im folgenden auszufüllende Begriff des Noumenon Religion beigeordnet ist, vor allen anderen wichtigen Fragen an die kantische Religionsphilosophie der zentrale Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein. Dieser synthetische Aspekt wird verstanden nur vor dem Hintergrund des Systems der praktischen Philosophie, in dem er seine regulative Funktion hat. Ebenso wie sich die Disziplinen der praktischen Philosophie ergänzend zueinander verhalten, so stehen im sittlich handelnden Subjekt die einzelnen Momente seines sittlichen Bewußtseins in einer Funktion der Einheit, der das Subjekt bedarf, um vollständiges Selbst zu sein. Das Noumenon Religion ist darum gleichermaßen als Moment in der praktischen Philosophie Kants wie in der Selbsterfassung des praktischen Bewußtseins zu verstehen.

1.2.3. Ziel der Arbeit Im Kreise dessen, was man als die kantische Religionsphilosophie bezeichnet, siedeln mehrere sachlich unterschiedene Themen, deren Verhältnis zueinander in der Literatur mindestens unklar beschrieben und zum Teil in der Sache ungeklärt ist. Da ist zum einen die Gottesbeweiskritik der „Kritik der reinen Vernunft", die in derselben Schrift durch die Rede vom „Ideal der reinen Vernunft" kontrastiert wird. 30 Da sind zum anderen die angeblich notwendigen Postulate der praktischen Vernunft, zu denen, neben der Freiheit, 31 „Gott und die Unsterblichkeit der Seele" 32 gehören, und ebenso die interpretationsbedürftige Aussage, hierbei handele es sich lediglich um regulative Ideen. 33 Ferner: Die Religion soll Teil der praktischen Philosophie sein und dennoch findet sie sich in der Metaphysik der Sitten34 nicht als eigenständiger Gegenstand wieder. Die Religion soll auf das 30

Vgl. K.d.r.V. Β 595 ff. Vgl. zum systemischen Sonderstatus der Freiheit innerhalb der Postulate: Beck, Lewis W.: Kants "Kritik der praktischen Vernunft". Ein Kommentar. Dritte Auflage, München 1995, S. 195ff., sowie: Albrecht, Michael: Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim 1978, S. 109ff. 32 K.d.p.V. A 2 2 0 ff. 33 Vgl. K.d.p.V. A 238 und öfter. 34 Vgl. M.d.S. A 109. 31

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Engste mit der Moral verbunden sein, dennoch jene von dieser unabhängig.35 Die Moral soll notwendigzur Religion fuhren, der Gottlose aber dennoch moralisch sein können.36 Die Religion soll das moralische Gesetz als Gottes Gebot vorstellen und trotzdem die Autonomie des Menschen nicht gefährden.37 Sie soll Ideale der moralischen Vollkommenheit liefern, nicht aber Idole.38 Sie soll den sittlichen Menschen aufrichten, nicht aber durch den Prospekt auf die ihm wünschenswerten Folgen seines guten Handelns.39 Das Religiöse soll vernunftunabhängiges Phänomen bleiben, dennoch aber vernunftgemäße Formen annehmen.40 Wie paßt dies alles zusammen? Und wie läßt es sich angesichts Kants Verweigerung, den PhânomenbesXanà des Religiösen überhaupt zum Gegenstand transzendental-metaphysischer Fundierung zu machen, erklären, daß Kant dafür in seinen späten Aufsätzen41 und in der Religionsschrift bis ins Kleinste zu Fragen der christlichen Dogmatik und Glaubenspraxis Stellung nimmt.42 Und wie wiederum verträgt sich das mitunter engagierte Christentum Kants43 mit seiner scheinbaren geschichtsphilosophischen Nivellierung44 des geoffenbarten Gehalts der historischen Religionen insgesamt im Verhältnis zur einen und einzigen Vernunftreligion? Meines Erachtens kann es hier nur eine einzige plausible Auflösung geben. Entweder die soeben aufgeführten Aspekte stehen tatsächlich unvereint nebeneinander, und der Sinn des kantischen religionsphilosophischen Bemühens bleibt damit opak,45 oder aber diese Aspekte erschließen sich als Stationen in 35

Vgl. Rei Β IX-XI. Wiewohl Kant in dieser Frage schwankt, wie die K.d.U. zeigt, in der er einem jedem „rechtschaffenen Mann (wie etwa de[m] Spinoza)" andemonstriert, daß dieser, so er sich selbst nur richtig verstände, „das Dasein eines m o r a l i s c h e n Welturhebers, d.i. Gottes, annehmen" muß. K.d.U. Β 428/429. 37 Vgl. Rei Β III. 38 Vgl. Rei Β 74. 39 Vgl. K.d.p.V. A 232. 40 Vgl. Rei Β 182, 183 Anm. 41 Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, 1791, insbs. A 212/213, Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz' und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? (1791), 1804, insbs. A 109 ff., Das Ende aller Dinge, 1794, insbs. A 517 ff., Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktates zum ewigen Frieden in der Philosphie, 1796, insbs. A 497/498, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, 1796, insbs. A 406/407, Anm. 42 Vgl. z.B. Rei Β 267 ff. 43 Vgl. K.d.p.V. A 232. Näher: Joachim Kopper, Kants Gotteslehre, in: Kant-Studien 47, 1955/56, S. 31-61. 44 Vgl. Rei Β 180 ff. Vgl. dazu: Reiner Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin / N e w York 1990. S. 180 ff. Vgl. auch bei Ernst Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, in: Kant-Studien 9, 1904, S. 97. 45 So wertet: Heinrich Scholz, Religionsphilosophie, Zweite Auflage, Berlin 1922, S. 82-88, insbs. S.83. 36

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einem Zu-sich-selber-Kommen der Vernunft. Das heißt, alle soeben genannten Positionen müßten, trotz ihrer konträren Gehalte, miteinander solcherart verträglich sein, daß die Angabe ihrer Verträglichkeitsbedingungen ein gedankliches System ergibt, in dem sich diese Positionen gegenseitig stützen und benötigen. Ich bezweifle, daß man dieses System induktiv von einzelnen Textstellen her aufschlüsseln kann, 46 und versuche deshalb, den gedanklichen Weg Kants zu rekonstruieren: nicht genetisch von den frühesten Reflexionen bis hin zu den dunkelsten Stellen des Opus Postumum, 47 sondern geltungstheoretisch. Es ist der Voraussetzungsboden auszuarbeiten, von dem aus mit nachvollziehbaren Schritten Aussagen über Religion innerhalb eines Systems der kritischen Vernunft überprüft werden können. Diesen Boden zu bereiten, indem der systematische Ort der Religion im Weg der Vernunft zu sich selbst angegeben wird, ist das die vorliegende Untersuchung leitende Ziel. Und nur dieses Ziel wird hier verfolgt. Diese Arbeit erfüllt sich im Aufzeigen eines plausiblen systematischen Zugangs zu einer normativen Religionsphilosophie innerhalb der Philosophie Kants. Sie zieht diesen Ansatz nicht doktrinal zu einer philosophischen Gottes- oder Religionslehre aus. 48 Die religionspolitischen Konsequenzen eines solchen Unternehmens dürften auf der Hand liegen. Könnte gezeigt werden, daß noumenale Religiosität der menschlichen Vernunft notwendig zugehört, und wo Funktionen und Grenzen dieses normativen Begriffs der Religion liegen, so wäre damit dem religiösen wie dem antireligiösen Fundamentalismus zu begegnen. Mittels eines ausgewiesenen vernunftkritischen Begriffs zu den Geltungsgründen des Religiösen zu gelangen, müßte dem aufgeklärten Interesse sowohl der Religionsverfechter als auch der Religionskritiker begegnen. So könnten Berechtigung und Grenzen des Geltungs-

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Die Untersuchung von Sala (Kant und die Frage nach Gott, Berlin 1990) mutet so an. Unproportional intensiv finden vorkritische Schriften Kants Beachtung, eine system-immanente Verhältnisbestimmung der Aussagen zueinander aber unterbleibt. Vgl. kritisch zu Sala: Fischer, Norbert: Zur neueren Diskussion um Kants Religionsphilosophie, in: Theologie und Glaube, Paderborn, 1993, Nr.2, S. 170-199, S. 171-179. 47 Beachtenswert ist Wimmers Beitrag: Die Religionsphilosphie des 'Opus Postumum', in: Marty F. / Ricken F.: Kant über Religion, Münchener philosophische Studien, Band 7, Stuttgart 1992, S. 195-229. Er steht in kritischer Spannung zu Wimmers vormaliger zweifelhafter Ansicht, Kant hätte „am Ende seines Lebens seine gesamte kritische Philosophie als Religionsphilosophie zu verstehen" unternommen, (in ders.: Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin / N e w York 1990. S. 15). 48

Dagegen vertritt Rudolf Otto die Ansicht, Religionsphilosophie könne und müsse in „Metaphysik der Religion", vergleichbar der Metaphysik der Sitten und der Natur münden, die ihrerseits der Theologie verpflichtet wisse und als Basis einer „christlichen GlaubensSittenlehre" verstehe. Vgl. Otto, Rudolf: Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S. VII/VIII und S. 195..

eine sich und ihre

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anspruchs der Religionen innerhalb der rechtlichen Gemeinwesen untersucht werden. Intra- und interreligiose Dialoge bekämen eine gesicherte Grundlage.49 Die soziale Konsensstärke des hier angezielten transzendentalphilosophischen Begriffs von Religion ist darin zu sehen, daß ihm weder von der einen noch von der anderen Seite der Vorwurf der Voreingenommenheit gemacht werden kann. Denn als kritisch-normativer Begriff ist er per se unvoreingenommen, das heißt, ein Begriff, der die Geltungsvoraussetzungen seiner selbst zum Regulativ seines inhaltlichen Anspruchs nimmt. Dieses diskursive Ziel kann nur erreicht werden, wenn eine negative und eine positive Bedingung erfüllt sind. Es muß negativ gelingen, den theologisch-normativen Absolutheitsanspruch zu depotenzieren, ohne die transzendente Qualität der Religion wegzukürzen. Und es muß positiv glücken, die religiösen Phänomene gerade in ihrer jeweiligen Besonderung zum Gegenstand angewandter Religionsphilosophie zu machen, ohne darüber den unvoreingenommen allgemeinen Standpunkt der Transzendentalphilosophie aufzugeben. Das Erreichen dieser Bedingungen und mithin des Ziels der vorliegenden Untersuchung hängt also von einer philosophischen Methode ab, die sich von den religiösen Phänomenen zwar leiten, nicht aber lenken läßt, der es mithin gelingt, sich nach eigenen, apriorischen Maßstäben auf konkrete Religion hin zu erweitern.50

1.2.4. Methode und Gang der Untersuchung Vorliegende Arbeit versteht sich als Interpretation des kantischen Religionsbegriffs. Sie ist aber auch Konstruktion einer Theorie des Noumenon der Religion. Konstruktion und Interpretation beeinflussen sich wechselseitig. Die Interpretation ist nicht Selbstzweck, etwa: eine vertretbare Deutung der kantischen Texte neben andere treten zu lassen. Sie versteht sich als Vorarbeit zu einer tragbaren normativen Religionsphilosophie. Ebenso ist die Konstruktion nicht selbstgenügsam. Sie will die Interpretation heuristisch leiten, wo diese in Deutungsaporien stecken bleibt. Der konstruktive theoretische Ansatz systematisiert die Interpretation der kantischen Schriften; er gibt der Interpretation hermeneutische Hilfe an die Hand, wo diese mit einer sich widerstreitenden und uneinheitlichen Textbasis ringt. Über den konstruktiven Ansatz einer dem System der praktischen Philosophie bei Kant verpflichteten Theorie können die unterschiedlichen religionsphilosophischen Voten und Thesen Kants zueinander ins Verhältnis 49

Vgl. zu den soeben angedeuteten Konsequenzen das Kapitel „Religion und öffentliches Handeln". 50 Die angezielte Methode kann also keinesfalls die der „Selbstbeobachtung des religiösen Bewußtseins" sein, wie sie Rudolf Otto empfiehlt, in ders.: Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S. V. Zur Auseinandersetzung mit Otto vgl. ausführlich den Abschnitt „Das religiöse Gefühl".

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gesetzt und in ihrer systematischen Bedeutung gewichtet werden. Dabei wird das kritische System Kants als gegebene Bezugsgröße angesetzt, das eine nicht mehr im Rahmen dieser Arbeit sinnvoll zu hinterfragende Grundlage der Selbstreflexion der Vernunft bietet. Die daraus entstehende Theorie der Religion, so sie sich denn konsistent aus den Grundlagen der Transzendentalphilosophie und den kantischen Texten herleiten ließe, darf in ihrem sachlichen Ertrag und Begründungsgang letztlich mit Kant über Kant hinausgehen. Insofern es mit ihr gelingt, den sachlichen Zusammenhang von Kants religionsphilosophischen und systemphilosophischen Anliegen sichtbar werden zu lassen, kann man sie dennoch als kantische Theorie der Religion ansprechen. Als vernunftkritische Religionsphilosophie im Ausgang von Kant könnte sie allerdings auch unabhängig vom historischen Bezug auf ihren Verfasser Bestand haben.51 Historisch-kritische Textexegese kantischer Spätschriften ist für die so gewonnene Theorie nicht das Maß aller Dinge, das über Stehen oder Fallen einer transzendentalphilosophischen Geltungstheorie der Religion überhaupt entscheidet. Durch ihre nachzuweisende Systemstelle in der Transzendentalphilosophie wird die Philosophie des Noumenon Religion geltungstheoretisch selbständig. Aus diesem Ansatz läßt sich der Gang der vorliegenden Untersuchung nachvollziehen. Im ersten Teil der Arbeit ist das metaphysische Anliegen der kritischen Philosophie insoweit zu charakterisieren, wie es in die religionsphilosophische Problematik eingeht. Dazu wird die gemeinsame argumentative Grundstruktur der drei kantischen Kritiken herausgestellt und im Begriff der Synthesis a priori focusiert. Da die theoretische und die ästhetisch-teleologische Philosophie keineswegs ohne jeden Bezug zur Religion sind, ist zu verdeutlichen, warum einer Philosophie, die konkrete kritische Sachaussagen zu historisch vorfindlichen Religionsphänomenen leisten will, zentral die praktische Philosophie den methodischen Apparat bietet. Ferner ist in Kants praktischer Philosophie eine Lesart stark zu machen, die das Sittengesetz ohne Rückgriff auf eine Theorie transzendenter Wesen und Vermögen versteht. Nur dann nämlich kann kritische Religionsphilosophie von moralisch benötigter Gotteslehre geschieden werden.52 Nur dann kann auch der sittliche Gehalt von Religion unabhängig von historischen Gotteslehren erfaßt werden. Die zu dieser Entflechtung von Gotteslehre und sittlicher Religionsphilosophie erforderliche Ablösung der transzendenten Momente im transzendentalen Ansatz der praktischen Philosophie Kants wird durch eine Untersuchung erbracht, die statt der Schematisierung die Symbolisie-

51

Dasselbe Anliegen äußert Hermann Cohen in der Einleitung zu: ders.: Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Glessen 1915, der in dieser Schrift allerdings den Zugang zum Begriff der Religionsphilosophie vorrangig über eine Abgrenzung zu den Nachbardisziplinen der Religion sucht, als über ihren eigenen transzendentalphilosophischen Grundbegriff. 52 Anders Walter Jaeschke, der meint, daß bei Kant „die Geltung des Sittengesetzes wiederum von der Religion abhängig" ist. In: Artikel 'Religion', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band IIX, Basel 1992, S. 674.

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rung des Sittengesetzes als Gegenstand der kategorisch sittlichen Forderung ausweist. Während die Schematisierung des Sittengesetzes tatsächlich nur von einem unendlichen unbedingt-sittlichen Willen geleistet werden kann, ist die Symbolisierung des Sittengesetzes auch einem endlichen unbedingten Willen möglich. Es wird gezeigt werden, daß die in der Lehre von den Postulaten und in der Lehre vom höchsten Gut irritierenden transzendenten Momente an einem schematistischen Verständnis des Sittengesetzes hängen, das im System kantischen Denkens aufzuheben ist. Dadurch werden Moralphilosophie und Religionsphilosophie in prinzipiellen Selbststand gesetzt. Der Bezug, den dennoch zwischen praktischer Grundlegung des Sittengesetzes und sittlich abgeschlossener Handlung die Religion auf die sittliche Handlung hat, soll hier nicht aus etwaigen Mängeln der Moralphilosophie begriffen werden, 53 sondern aus der konstruktiven Funktion, die der Religion im System der praktischen Disziplinen zukommt. Dazu wird ein einheitlicher interpretativer Zugriff auf Kants Philosophie der Praxis im Ganzen erfordert, der seine praktische Philosophie als metaphysisches System begreift, dessen Teile, deren die Religion eines ist, in wechselseitigem inneren Bezug stehen. Dieser einheitliche Zugriff ist im zweiten Teil dieser Arbeit vorzunehmen: die praktische Philosophie Kants ist von ihrem inneren Prinzip her aufzuschlüsseln. Es ist zu zeigen, wie das System der praktischen Disziplinen Gesinnungsethik und Zweckeethik, Recht und Politik, sowie Geschichte und Religion nichts anderes ist als die Selbstentfaltung des transzendentalen Begriffs sittlicher Handlung. Es erweisen sich die Disziplinen der praktischen Philosophie als Stationen im Weg des sittlichen Bewußtseins zu sich selbst. Insbesondere kann so gezeigt werden, daß und welche Aufgaben der Religion aus der Struktur praktischer Vernunft zukommen. Vernunftnotwendigkeit und Vernunftunabhängigkeit der Religion ist zu erklären im Hinblick auf ihre Funktion im Vollzug menschlicher Sittlichkeit. Die für die Sittlichkeit konstitutiven Disziplinen (Gesinnungsethik, Zweckeethik, Recht, Politik) stehen nach der hier verfolgten Interpretation in einem Verhältnis der wechselseitigen Vervollkommnung. Zwar können sie die ihnen zukommenden normativen Aufgaben selbständig lösen, sie gewinnen ihren lebensweltlichen Sinn aber erst im geordneten Miteinander in der sittlich-harmonisierten Person. Zu dieser Sinnverleihung, die den sittlichen Selbstbezug des Subjekts abschließt und ordnet, leistet das religiöse ebenso wie das geschichtliche Denken einen regulativen Beitrag. Das innere wie-das äußere sittliche Handeln des guten Menschen stellt diesen vielfach in Opposition zu einer nicht nach sittlichen Maximen geordneten Welt. 53

Auch wenn diese Mängel im Einzelnen durchaus zu konzedieren sind, kann es nicht Sinn und Zweck einer kritischen Theorie der Religion sein, deren Grundlegung an solchen Defizienzen aufzuhängen. Im Gegenteil: grundgelegt ist eine Theorie der Religion erst dann, wenn sie trotz und wegen einer selbstgenügsamen Moralphilosophie nichtsdestoweniger als notwendig für kritischreflexive Vernunft erscheint.

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Die Verträglichkeit der sittlichen Orientierung mit der sinnlichen Welt und die Sinnhaftigkeit der Abstinenz von materiell greifbarer Nützlichkeit zugunsten der guten Tat wird dem sittlichen Subjekt stets aufs neue fraglich. Die Natur und die Mitmenschen folgen häufig nicht-sittlichen Regeln, sondern prämieren zweifelhafte Tugenden. Hier muß sich der sittliche Mensch besinnen. Er muß sich zu seiner eigenen Sittlichkeit intellektuell verhalten und ihr einen Sinn beilegen, der über den Parameter der sinnlichen Neigungsbefriedigung hinausgeht, ohne ihn gleichwohl zu übersehen. Um eine terminologische Grenze zu der eudämonistischen Lesart der kantischen Religionsphilosophie zu ziehen, wird der Begriff der „ethischen Asymmetrie" eingeführt. 54 Religiöse Reflexion wird hier gerade nicht als Substitut für verlorenes Lebensglück verstanden, sondern als sittliche Reaktion auf ethische Asymmetrien in der Welt. Diese Asymmetrien sind nicht zufällig. Sie resultieren aus einem „transzendentalen Konflikt", 55 in dem sich prinzipiell jeder Mensch befindet. Näherhin ist zu zeigen, warum im System der praktischen Vernunft gerade der Religion die Aufgabe zufällt, das durch den transzendentalen Konflikt herausgeforderte menschliche Leben zu besinnen, und warum dies nicht die normensetzende reine praktische Vernunft ebenfalls übernimmt. So wird ein Verständnis der Religion vorbereitet, das sie als sittliches Regulativ zur Welt begreift. Dazu ist das Erscheinungsbild (Phänomen) der Religionen in der Welt vorerst unerheblich. Das Noumenon der Religion jedenfalls erweist sich statt als Reflex unerfüllter Sinnlichkeit, als eine Spontaneität sich erfüllender Sittlichkeit. Als solche kann Religion einen gerechtfertigten Platz in einer kritischen Theorie der Praxis haben. Vor dem systematischen Hintergrund, auf den der Begriff des Noumenon Religion verweist, kann die kantische Religionsphilosophie interpretiert und auf ihre genuin religionsphilosophische Aussagekraft hin untersucht werden. Daß hierbei christliche Symbole zur Diskussionsgrundlage genommen werden, verdankt sich der Tatsache, daß Kant dieselben zum Ausgang seiner konkret religionskritischen Überlegungen nahm. Die christlichen Symbole genießen aber, wie nicht anders zu erwarten, vor dem Richterstuhl einer normativen Religionsphilosophie keine Privilegien. 56 Insgesamt wird durch diese Bezugnahme das wechselseitige Verhältnis von religiösem Phänomen und religiösem Noumenon verdeutlicht: der epistemische Status sowohl konkreter religiöser als auch religionsphilosophischer Aussagen kann bestimmt werden. Dem folgt der Übergang zum religiösen Phänomen in der Außenwelt. Im Raum des Rechts und der Politik, sowie vor den Augen der Geschichte sind die Religionen bedeutende 54

Kant weist den „Eudämonism, mit seinen sanguinischen Hoffnungen" weit von sich. Der Streit der Fakultäten, A 137. Zur argumentativen Klärung vgl. insgs. den Abschnitt zur „Gesinnungsethik ", insbs. Anmerkung Nr. 288 55 Zum Begriff des „transzendentalen Konfliktes" näher im gleichnamigen Abschnitt 2.2.1. 56 Vgl. Tillich, Paul: Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, in: Die Frage nach dem Unbedingten, Gesammelte Werke V, Stuttgart, 1964, S. 5Iff.

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Institutionen sittlicher und nicht-sittlicher Handlungsmacht. Der gerechtfertigte soziale Ort religiöser Phänomene ist aus dem rechtfertigenden systematischen Ort des Noumenon Religion im Verhältnis zu den reinen praktischen Begriffen von Recht, Politik und Geschichte zu gewinnen. Im dritten Teil der Arbeit wird abschließend eine kritische begriffliche Verhältnisbestimmung des Noumenon Religion zu bestimmten religiösen Einzelphänomenen vorgenommen. Das Noumenon Religion ist nicht formalabstraktes Prinzip, sondern zeigt sich anhand gewordener Wirklichkeit normativ konkretisiert. Es wird zunächst die Religion qualitativ von sonstiger menschlicher Selbstorientierung abgesetzt und im Rahmen einer philosophischen Theorie symbolischer Kultur verortet. Anschließend wird die Möglichkeit und Wirklichkeit religionsbezogener Wissenschaft thematisiert. Der insoweit konkretisierte Religionsbegriff wird dann reflektiert in seiner Bedeutung fur öffentliches Handeln. Die Heranziehung bundesrepublikanischen Staatskirchenrechts und die Diskussion der Bedeutung des Noumenon Religion fur inter- und intrareligiöse Diskurse ermöglichen einen Ausblick auf den konkreten religionspolitischen Ertrag dieses Begriffs. Dieses Vorgehen erschließt die äußere Vernunft der Religion, nachdem die innere Vernunft der Religion im Rückgriff auf das sittlich-innere Handeln gefunden wurde. Die äußere Vernunft der Religion ist des näheren zu bestimmen im Spannungsfeld des Anspruchs der Religion auf eine ihr eigene Vernünftigkeit und der äußeren Inanspruchnahme der Religion auf Vernunft. Im Ergebnis kann die essentielle Vernunft der Religion herausgestellt werden, die auch und gerade seitens des religiösen Bewußtseins ergriffen werden kann. Es zeigt sich, daß im normativen Noumenon der Religion, was sie sein soll, das Wesen der Religion liegt, nach dem sie selber, wie sie ist, strebt. Was in der religionsphilosophisch-normativen Reflexion durchsichtig wird, ist der Geist der Religion als religiöser Geist des Menschen. Den Abschluß der vorliegenden Untersuchung bildet daher ein Ausblick auf die anthropologische Relevanz des Noumenon Religion, der die philosophisch-theologischen Implikationen einer Deutung der Religion als Funktion des menschlichen Geistes reflektiert.

1.3.

Grundlegung

1.3.1. Kritische Philosophie und sittliches Handeln Kants transzendentale Philosophie ist eine Theorie des menschlichen Selbst. Sie nimmt ihren Ausgang beim Selbst und fuhrt zu ihm zurück. Die Sachaussagen seiner Philosophie zu den Gegenständen der Metaphysik gewinnen innerhalb dieser Konzeption ihren Ort und ihren Sinn. Kant schrieb in seinen drei Kritiken über die drei transzendentalen Vermögen Verstand, Vernunft und Urteilskraft, die die elementaren Weisen menschlichen Selbstvollzugs sind. Was also ist das

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menschliche Selbst bei Kant? Es ist nicht das transzendentale, reine Selbst, das Kants Philosophie als die Bedingung der Möglichkeit von endlichem Selbstsein ausmacht.57 Es ist ebenfalls nicht dessen materiale sinnliche Aufladung im Hier und Jetzt, für die Kant den Begriff „Zustand der Person" reservierte.58 Ein Selbst ist ein platzhaltender Begriff für eine Struktur des Zusichkommens reiner Vermögen an Gegenständen der Endlichkeit. Ein Selbst ist die aktualisierte Möglichkeit der Synthese von Fremdem am Orte eines Subjekts. Ein Subjekt ist dann ein Selbst, wenn es die Aneignung des Nicht-Eigenen als eigenes Ziel begreift und sich dabei an seinen eigenen Gesetzen orientiert. Insofern ist ein Selbst nur in der Verwirklichung von Gesetzen, die zwar autonom gelten, aber wirken können nur in Beziehung auf Anderes. Diese Selbstverwirklichung ist eine Leistung des Subjekts, durch die es erst ein Selbst wird. Es ist die Einheit der Subjektgeschichte des sich von innen korrigierenden Denkens, Handelns und Erschauens. Einheitliche Struktur dieser Selbstvollzüge ist (a) der Ausgang eines Selbst auf ein Anderes, (b) der Vollzug von Gesetzen in der Aneignung dieses Anderen, (c) die Rückkehr des erweiterten Selbst auf sich. Kant nennt solche Vollzüge Synthesen. Vollzieht das Subjekt dabei Gesetze, die es mittels der Erfahrung der Welt entlehnt, spricht Kant von Synthesis a posteriori, anderenfalls von Synthesis a priori. Synthesis a priori, also: die Weltaneignung mittels reiner innerer Gesetze, ist die Kant vor allen Dingen interessierende Struktur.59 Kann sie rein herausgearbeitet werden, so ist zeitloses und zweifelsfreies Wissen über das menschliche Selbst gewonnen, das durch keine Vorkommnisse in der Welt tangiert wird. Klar ist: ein Subjekt kann diese reinen Gesetze auch verfehlen. Dann konstituiert es sich nicht als Selbst, sondern als bloßes Produkt seiner Lebenswelt, indem es deren Gesetze unverwandelt und als fremde übernimmt (Heteronomie). Hier ist der Scheideweg von inadäquater und adäquater Selbstverwirklichung. Der adäquate Weg des Denkens führt zum Wahren, nicht zum Falschen. Der adäquate Weg des Handelns führt zum Guten, nicht zum Bösen. Inadäquate Selbstverwirklichung verwirklicht nicht das Selbst, das als Möglichkeit in jedem menschlichen Subjekt liegt, sondern verwirkt diese Möglichkeit, indem es an die Stelle von Selbstsein Heteronomie setzt. Daraus erklärt sich Ähnlichkeit und Unterschied von Irrtum und Bösem. Ähnlich sind sie sich in der Struktur des Sich-Verfehlens von adäquatem Menschsein, unterschieden sind sie in der Sache. Einheitliches Anliegen der kantischen Philosophie ist es, den adäquaten Weg der Verwirklichung des Selbst aufzuzeigen. Der Mensch betätigt seinen Verstand, er denkt die Welt. Der Mensch betätigt seinen Willen, er handelt und verändert die Welt. Der Mensch betätigt seine ästhetische und teleologische Urteilskraft, er erschaut und deutet die Welt. Kant 57

K.d.r.V.A 125. Vgl. Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik - Nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte, Zweite Auflage, Berlin 1910, S. 127. 58 K.d.p.V. A 117. 59 Vgl. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, (...), A 41.

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untersucht die subjektiven Strukturen, mit denen der Mensch sich der Welt zuwendet und er untersucht, inwieweit sie die Ergebnisse dieser Betätigung vorherbestimmen. Zur Beschreibung dieser Strukturen wählt Kant eine eigene Begriffssprache: Kategorien, Reflexionsbegriffe, Urteilsformen; dies sind Titel, unter denen der Philosoph die Arbeit des menschlichen Geistes erkennend beschreibt. Die Kritiken Kants sind der Analyse dieser Begriffe gewidmet. Sie klären die transzendentalen Bedingungen menschlicher Selbstwerdung, nämlich die geistgesetzlichen Voraussetzungen für den adäquaten Weltbezug des menschlichen Subjekts. Das menschliche Selbst, nicht 'Gott' oder 'die Welt', ist somit Ausgangspunkt und normativer Fluchtpunkt der kantischen Theorie. In Begriff und Wirklichkeit der Religion liegt der Anspruch, das Ganze der Realität unter einen einheitlichen Zugriff zu bringen. Religion muß deshalb sowohl auf das Denken, als auch auf das Handeln, ebenso wie auf das Erschauen und Deuten der Welt zugreifen. In der Tat gibt wohl jede Religion eine Theorie der Welt, erläßt sittliche Handlungsanweisungen und weist einen bestimmten ästhetischen Umgang mit dem unterstellten sensus communis als heilig oder tabu aus. Es ist zu zeigen, daß Religion damit einem zentralen Bedürfnis des menschlichen Selbst nachkommt, und daß die Tatsache, daß Religion diese Funktionen im Normalfall einheitlich erfüllt, ihre lebensweltliche Stärke ausmacht. Dennoch konzentriert sich Kant und mit ihm die vorliegende Arbeit auf die Fundierung der Religion in der praktischen Philosophie. Wenn man darin keine Verarmung des Ansatzes, keine Verfälschung des Phänomens erblicken will, so muß man diese Reduktion 60 als Stärke interpretieren. Man kann dies auch. Zwar läßt Kant religiösem Denken und Erleben in der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft mehr Raum als dies gemeinhin gesehen wird, 61 und man kann auch diese Stellen stark machen in apologetischem Interesse. 62 Dennoch liegt in Kants immer wiederholter Behauptung, daß die Thematisierung der Religion für die praktische Philosophie notwendig sei, ein Moment, das die eher gelegentliche Betrachtungsweise der ersten und der dritten Kritik übersteigt. Deswegen ist im folgenden kurz zu verdeutlichen, warum die Religion nicht im Rahmen der theoretischen Philosophie fundiert werden soll, um dann, als

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Der Reduktionsvorwurf ist alt und geht bis auf Schleiermacher („Über die Religion - Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern", 1799) zurück. Auch namhafte Vertreter folgen dieser Lesart, so Walter Jaeschke, in seinem Artikel 'Religion', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band IIX, Basel 1992, S. 674. Die Diskussion hält bis in unsere Tage an. Vgl. Palmquist, Stephen: Does Kant reduce religion to morality?, in: Kant-Studien, 83, 1992, S. 129 148, klärend insbs. 145-148. 61 Insbs. K.d.r.V. Β 595 ff. und K.d.U. Β 419 ff. 62 Für die theoretische Philosophie kann man hier Picht nennen: Kants Religionsphilosophie, Stuttgart 1985. Für die Philosophie des Ästhetischen: Davidovich, Adina: Religion as a province of meaning: the Kantian foundations of modem theology. Minneapolis, 1993. Zusammengefaßt in: Davidovich, Adina: How to read religion within the limits of reason atone, in: Kant-Studien 1994, S. 1-14.

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Mittelpunkt dieser Untersuchung, die schrittweise Einbettung des Noumenon Religion in eine Theorie der Selbstverwirklichung des Subjekts durch sittliches Handeln vorzunehmen. In der theoretischen Philosophie bei Kant spielt zwar 'Gott' eine wichtige Rolle, nicht aber die Religion. Zu unterscheiden ist zwischen Gotteserscheinung, Gottesbegriff und Gottesidee. Eine Gotteserscheinung wäre etwa das private Erlebnis der Gegenwart eines so-und-so attributierten Gottwesens, wovon religiöse Menschen bisweilen berichten.63 Derartige Gottesvorstellungen thematisiert die theoretische Philosophie Kants nicht. Sie stellt lediglich klar, daß die Art und Weise des sinnlichen Erkennens es mit sich bringt, daß, was immer sinnlich erkannt wird, als sinnlich erkannt wird und damit gerade nicht als Ausweis übersinnlichen Seins herhalten kann. Der Gottesbegriff dagegen ist ein in der klassischen theoretischen Philosophie gängiges Erklärungsprinzip. Mit dem Begriff eines mächtigen und voluntativen Wesens wird das Dasein und das Sosein der Welt begründet. Diese Verwendungsweise thematisiert Kant in der Transzendentalen Dialektik. Er zeigt, man kann annehmen, daß es solch ein Wesen gibt, man kann es aber auch unterlassen. Theoretisch erhärten läßt sich der Gottesbegriff bzw. die Existenz seines Gegenstandes, nicht. Die Gottesidee dagegen steht ganz außer jeder Frage: sie ist - als Idee spezifischen Inhalts. Zwar ist der genaue Inhalt dieser Idee als „Ideal der reinen Vernunft" 64 in der Literatur nicht unumstritten.65 Klar aber ist: es handelt sich um so etwas wie einen regulativen Fluchtpunkt, der über die dem Menschen theoretisch einholbare Welt hinaussteht, (1) in welchem die antinomischen Gegensätze als zusammengehend gedacht werden, (2) in dem die Summe aller Prädikate liegt, (3) in dem 63

Kant beschäftigte sich mit solchen Phänomenen bereits 1766 in seiner Schrift: Träume eines Geislersehers, erläutert durch die Metaphysik und lehnte die Möglichkeit derartiger Erfahrungen ab. Eine komprimierte Darstellung seiner Position zur Möglichkeit einer übersinnlichen Erfahrung als Gottesbeweis gibt er später: „Dieser Beweis ist unmöglich. Denn der Mensch miißte beweisen, daß in ihm eine übernatürliche Erfahrung, die an sich selbst ein Widerspruch ist, vorgegangen sei. Es könnte allenfalls eingeräumt werden, daß der Mensch in sich eine Erfahrung (z.B. von neuen und besseren Willensbestimmungen) gemacht hätte, von einer Veränderung, die er sich nicht anders als durch ein Wunder zu erklären w e i ß , also v o n etwas Übernatürlichen. Aber von einer Erfahrung, von der er sich so gar nicht einmal, daß sie in der Tat Erfahrung sei, überfuhren kann, weil sie (als übernatürlich) auf keine Regel der Natur unseres Verstandes zurückgeführt, und dadurch bewährt werden kann, ist eine Ausdeutung gewisser Empfindungen, von denen man nicht weiß, was man aus ihnen machen soll, ob sie als zum Erkenntnis gehörig einen wirklichen Gegenstand haben, oder bloße Träumereien seien mögen. Den unmittelbaren Einfluß der Gottheit als einer solchen f ü h 1 e η wollen, ist, weil die Idee von dieser bloß in der Vernunft liegt, eine sich selbst widersprechende Anmaßung." Der Streit der Fakultäten, A 90. Hervorhebung von mir. 64

K.d.r.V. Β 595 ff. Eine gute Darstellung bietet: Andersen, Svend: Ideal und Singularität. Über die Funktion des Gottesbegriffs in Kants theoretischer Philosophie. Berlin / N.Y. 1983, S. 185-255. Grundlegend: Heinz Heimsoeth: Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants „Kritik der reinen Vernunft", Bd. III. Berlin 1969, S. 423ff. Mit stärkerem theologischen Bezug: Dell'Oro, Regina: From existence to the ideal: continuity and development in Kant's theology. N e w York 1994. 65

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Einfuhrung

Unbedingtheit und Bedingtheit, Freiheit und Natur konvergieren. Als Idee, die von ihrer Struktur her als real-existierend vorgestellt wird, gibt dieses Ideal der reinen Vernunft den imaginativen Schlußstein, welcher die transzendentalen Vermögen des menschlichen Geistes zusammenhält. Und damit, mit dieser Rolle als logisch regulatives Prinzip, verträgt sich keine dezidiert religiöse Thematisierung dieser Idee. Daraus folgt: Eine Philosophie der Religion sieht sich in Kants theoretischer Philosophie lediglich negativ freigestellt, positiv anknüpfen an sie kann sie nicht. Religiöse Sätze sind keine theoretischen Sätze.66 Dieses Ergebnis mag befremden. Gerade weil religiöse Sätze oft die Form theoretischer Sätze haben ('Gott schuf die Welt', 'Christus ist auferstanden'), scheint es kontraintuitiv zu sein, die Wahrheit solcher Sätze gänzlich fernab von Wirklichkeitsdaten anzusiedeln, für die sich diese Sätze doch zu verbürgen scheinen. Dennoch, so wird sich zeigen, ist die Verankerung religiöser Sätze in der praktischen Philosophie die einzige Möglichkeit, ihren Geltungssinn zu eruieren. Es ist heutzutage allgemein anerkannt, daß das vorrangige Ziel von Kants theoretischer Philosophie keineswegs die Destruktion des Religionsglaubens, sondern die epistemische Befreiung des wissenschaftlich-theoretischen Welterkennens war.67 Dies ist richtig: Kant wollte ein Nebeneinander, nicht ein Gegeneinander von religiöser und wissenschaftlicher Weltdeutung. Es ist aber mißlich, in diesem Zusammenhang den Satz zu überstrapazieren: Kant habe das Denken zo

zurückdrängen wollen, um dem Glauben Platz zu verschaffen. Insofern damit gemeint sein sollte, Kant habe sagen wollen, da, wo wissenschaftlich nichts gewußt werden könne, dürfe wildwüchsig geglaubt werden, ist sicherlich Kants Intention verfehlt. Das Ziel des kritischen Zurückdrängens ungestützter Spekulation ist nicht größtmögliche theologische Willkürfreiheit. Kant sagt stattdessen, die angemessene inhaltliche Vorgehensweise sei, mit der praktischphilosophischen Fundierung der Religion zu beginnen und anschließend zu zeigen, daß die theoretische Philosophie gegen sie nichts einzuwenden habe,69 lediglich aus aufbausystematischen Gründen sei er anders verfahren. Diesem Gedanken folgend kann gesehen werden, wie sich in Kants praktischer Philosophie die Religion als integrales Moment entfaltet, das einer theoretischen Beglaubigung nicht bedarf.

66

Vgl. Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O., S. 240/241. 67 Vgl. K.d.r.V. Β XXVI (Vorrede zur zweiten Auflage). 68 Vgl. K.d.r.V. Β XXX (Vorrede zur zweiten Auflage). 69 Vgl. K.d.p.V. A 219.

Systematische

Einführung

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1.3.2. Die Struktur der praktischen Vernunft Kants praktische Philosophie gliedert sich in sechs Disziplinen zu zwei Gruppen, die je dem inneren und dem äußeren Handeln des Subjekts zugeordnet werden können.70 Dabei sind, das Schaubild im Anhang zeigt es, jeweils Gesinnungsethik und Zweckeethik, wie auch Recht und Politik als gleichgeordnet zu betrachten, während Religion und Geschichte in einem Unterordnungsverhältnis dazu stehen. Der Gesamtkomplex bildet konstruktiv die Struktur sittlichen Handelns ab und ist als ein Rahmenbild der praktischen Philosophie Kants zu verstehen, in das seine Sachaussagen eingetragen werden können. Insofern liegt das im folgenden Vorzutragende quer zu einigen Strömungen in der Literatur. Sehen nahezu alle Interpreten Recht und Gesinnungsethik im System der praktischen Philosophie Kants beheimatet,71 so ist dies schon im Feld der Zweckeethik umstritten;72 und im Feld der Politik wird mehrheitlich dafür plädiert, sie habe keine Stelle im System.73 Auch Religionsphilosophie und Geschichtsphilosophie werden meist nicht als Teile des Systembaus angesehen, sondern eher als eigenwillige Anhängsel.74 Meines Erachtens aber bestehen konstruktive Übereinstimmungen nicht-zufalliger Art zwischen Gesinnungsethik und Recht wie auch zwischen Zweckeethik und Politik einerseits und zwischen Religionsphilosophie und Geschichtsphilosophie andererseits, die sich nicht anders als durch einen, alle diese Teile umfassenden Systemplan erklären lassen. Auf einige dieser Strukturkonvergenzen wurde in der Literatur hingewiesen, ihrem systematischen Zusammenhang im Ganzen ist im folgenden nachzugehen. 70

Die hier zugrundegelegte Gliederung der kantischen praktischen Philosophie als System wird im folgenden antizipierend vorgestellt. Ihren Ausweis an den Gegenständen der praktischen Philosophie erfährt diese Gliederung im Durchgang der Arbeit am systematischen Ort der jeweiligen praktischen Disziplinen. Zur Herleitung dieser Gliederung aus einer Interpretation des Systems der praktischen Philosophie Kants vgl. Dierksmeier, Claus: Der politische Imperativ Zum systematischen Ort der Politischen Philosophie in der praktischen Philosophie Kants, Magisterarbeit Hamburg, 1995, auch: Marburg 1996 / Microfiche. 71 Basis dieser Zuordnung ist die hierin unmißverständliche Einleitung in die Metaphysik der Sitten von 1797/98, A 13-18. 72 Der Formalismus-Vorwurf (neben Hegel vor allem seit Scheler in: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, ständig wiederholt) beruht ja gerade darauf, daß angenommen wird, Kants Ethik erlaube, bzw. ermögliche nicht die Aufnahme sittlicher Zwecke in den unbedingtmoralischen Willen. Zur Darstellung und Kritik vgl. Friedrich von Freier: Kritik der Hegeischen Formalismuskritik, in: Kant-Studien, 1991, S. 304-323. 73

So: Schmitz, Heinz-G.: Moral oder Klugheit? - Überlegungen zur Gestalt der Autonomie des Politischen im Denken Kants, in: Kant-Studien 1990, S. 413-434. Bekannt ist Vollraths These, daß die politische Philosophie der Philosophie der Urteilskraft zuzurechnen sei, anstatt der praktischen Philosophie, in: Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987, bes. S. 263ff. 74 Vgl. Kersting, Wolfgang: Kant und die politische Philosophie der Gegenwarf. Zweite Einleitung, in: Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit - Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt, Zweite Auflage, 1993, S. 86/87.

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Einführung

Kants zentrales Projekt in der Kritik der reinen Vernunft ist die Suche nach „synthetischen Sätzen a priori",75 genauer: nach ihren Ermöglichungsbedingungen, noch genauer: nach derjenigen Struktur von Vernunft, die erkennende Selbstund Fremdbezüglichkeit der Vernunft ermöglicht. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft wird mittels dieser Struktur gezeigt, wie naturwissenschaftliches Weltwissen apriorisch in Geltung gesetzt und somit von synthetisch-aposteriorischem Weltwissen geschieden werden kann.76 Kants Projekt in der Kritik der praktischen Vernunft müßte es demnach sein, synthetisch praktische Sätze a priori auszumachen,77 genauer: deren Ermöglichungsbedingungen, noch genauer: diejenige Struktur von Vernunft, die handelnden Selbstund Fremdbezug des vernünftigen Menschen möglich macht. Diese Struktur, gefaßt als ein synthetisch-praktischer Satz a priori, gibt nach Kants eigener Aussage der kategorische Imperativ an.78 Das Projekt der Metaphysik der Sitten ist anzugeben als die geltungstheoretische Aufarbeitung gelebter Sittlichkeit in synthetisch-praktischen Sätzen a priori, mithin die apriorisch-reine Fundierung der normativen Sätze der ethischen Einzeldisziplinen. Unter dieser Voraussetzung käme der 'eine' kategorische Imperativ in so vielen Gestalten wieder, wie es sittliche Disziplinen gibt: gemäß obiger Skizze also erstens in der Ethik der sittlichen Gesinnung, zweitens in derjenigen der sittlichen Zwecke, drittens im Recht und viertens in der Politik. Diese Ausdifferenzierung des kategorischen Imperativs muß, um keine zufällige zu sein, für ihn selbst notwendig sein.79 Das ist sie nur dann, wenn er ohne diese Entfaltung selber nichts ist.80 Er ist aber nur dann nichts für sich allein, wenn er, um sich auf sich zu beziehen, etwas anderen bedarf, als er selber ist. Dies ist der Fall. Der kategorische Imperativ bedarf des inneren und äußeren Handelns des Menschen, um zu Inhalt und damit zu sich selbst zu kommen. So kommt über Inhalte die sich im synthetisierenden

75

K.d.r.V. Β 19 und: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, A 41. 76 Vgl. Schäfer, Lothar: Kants Metaphysik der Natur, Berlin 1966, S. 18-24. 77 Vgl. G.z.M.d.S. A 50, K.d.p.V. A 55. 78 Vgl. dazu: Es ist „bei diesem kategorischen Imperativ oder Gesetze der Sittlichkeit der Grund der Schwierigkeit (die Möglichkeit desselben einzusehen) auch sehr groß. Er ist ein synthetischpraktischer Satz a priori, und da die Möglichkeit der Sätze dieser Art einzusehen, so viel Schwierigkeiten im theoretischen Erkenntnisse hat, so läßt sich leicht abnehmen, daß sie im praktischen nicht weniger haben werde. [...] Wenn nun aus diesem einigen Imperativ alle Imperative der Pflicht, als aus ihrem Prinzip, abgeleitet werden können, so werden wir, [...] doch wenigstens anzeigen können, was wir dadurch denken und was dieser Begriff sagen wolle." G.z.M.d.S. A 50. Hervorhebungen von mir. 79

Vgl. M.d.S. TL A 30. An diesem Punkt setzt die Formalismuskritik an. Sie verkennt in ihren wesentlichen Vertretern, daß die Entfaltung des kategorischen Imperativs auf außer ihm Liegendes ihm nicht äußerlich, sondern innerlich notwendiges Moment ist. Die Prinzipiierung des Sinnlichen gehört zum Sittengesetz dazu, welches allerdings nur unbezüglich auf besondere Sinnlichkeit als allgemeines Gesetz der reinen praktischen Vernunft erkannt werden kann. Vgl. zur Literatur Fn. 72. 80

Einfuhrung

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Vernunftschluß 81 aus sich heraussetzende Vernunft im Anderen ihrer selbst zu sich zurück. Der aus dem Vernunftschluß erhobene Imperativ gebietet genau dann etwas unbedingt, wenn er etwas gebietet und wenn er dies unbedingt tut.82 Dazu muß er nicht-bedingt sein (a priori) und über sich hinaus gehen (synthetisch) auf ein bestimmtes Feld. Dieses Feld ist das sittliche Handeln, das sich entweder auf den Handelnden selbst (inneres Handeln) oder auf Fremdes (äußeres Handeln) beziehen kann. Handeln kann nie unbestimmt sein. Es ist bestimmt entweder gegen etwas oder für etwas, entweder negativ oder positiv. Als sittlichunbedingtes Handeln kann es also entweder sittlich-negativ (verbietend, ausschließend) oder sittlich-positiv (gebietend, auswählend) sein. Und damit gibt es a priori vier Felder sittlichen Handelns: negativ-inneres Handeln (hier Gesinnungsethik genannt), ergänzt durch positiv-inneres Handeln (Zweckeethik), negativäußeres Handeln (Recht), ergänzt durch positiv-äußeres Handeln (Politik). Den Handlungsfeldern des Inneren und des Äußeren gehören Reflexionsformen zu: dem inneren Handeln das religiöse Denken und dem äußeren Handeln das geschichtliche Denken. Mit dieser Einteilung will ich im folgenden arbeiten und die genannten Felder von Kants praktischer Philosophie zueinander ins Verhältnis setzen. Die Unterscheidung inneren Handelns und äußeren Handelns verdankt sich den unterschiedlichen Sphären, auf die menschliche Willkür sich bestimmend beziehen kann. Gegenstand menschlicher Willkür kann zum einen alles Äußere sein: das sind alle auch für andere sinnlich präsenten facta, die durch ein Subjekt beeinflußt werden können. Hier kann ein Subjekt in Kollision mit der Willkür eines anderen Subjekts treten: im forum externum ist ein ausformuliertes System der Regeln äußerlichen Willkürverhaltens notwendig.83 Zum anderen kann sich menschliche Willkür auf Innerliches richten: auf die eigenen Gedanken, Gefühle, Stimmungen, Haltungen, auf die ein Subjekt gestaltenden Einfluß nehmen kann. Das sittlich innere Handeln findet im forum internum der Person statt. Es gewinnt sich im Bezug des Subjekts auf den „Zustand [sjeiner Person".84 Dieser Bezug des reinen Selbst auf den empirischen Menschen kann an der in der Literatur mittlerweile gängigen Differenzierung der Begriffe „Wille und Willkür"85 verdeutlicht werden. Der reine Wille ist praktische Vernunft, Vernunft also, die rein ist, selbstgesetzgebend, und ihren Begriffen Wirklichkeit verschafft. 86 Der " Vgl. K.d.p.V. A 162. Vgl. G.z.M.d.S. Β 71. 83 Vgl. M.d.S. RL A 33. Vgl. auch Naturrecht Feyerabend, A A 27,2.2, 1320. 84 K.d.p.V. A 117. 85 Eine deutliche Stelle dazu bei Kant ist: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie A 406/407, Anm. Vgl. auch Hudson, Hud: Wille, Willkür, and the Imputability of Immoral Actions, in: Kant-Studien, 82, 1991, S. 179-196. 86 K.d.p.V. A 116. „Man kann sie also auch durch das Vermögen nach Grundsätzen zu u r t e i 1 e η und (in praktischer Hinsicht) zu h a η d e 1 η , erklären" Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 120. 82

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Einführung

Wille erfüllt sich nicht als empirisches Phänomen, bzw. als deskriptiv zu erfassende Größe von psychophysischer Indeterminiertheit, sondern als ein transzendentales Vermögen, das gedacht werden muß, um Willkür zu erklären. Willkür ist die vorfindliche Freiheit des Menschen, so oder anders zu entscheiden, so oder anders zu handeln. Willkür umfaßt also Willensfreiheit und Handlungsfreiheit. Sie ist jedem Menschen als Möglichkeit des Alternativverhaltens latent bewußt und verliert sich auch nicht aus dessen Bewußtsein, wenn er sich als ein in endlichen Bedingungen stehendes sinnliches Wesen begreifen lernt.87 Willkür ist, das ist die Pointe der kantischen Theorie, nur möglich, wenn Wille wirklich ist, „denn sonst würde sie selbst dem Naturgesetz der Erscheinungen, so fern es Kausalreihen der Zeit nach bestimmt, unterworfen sein".88 „Die [sc. praktische] Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint."89 Das heißt: Die Möglichkeit, so oder auch anders zu entscheiden, verfällt genau dann, wenn ein Subjekt nach einem festen Begriff eines Guten, Lustvollen, Anzustrebenden lediglich sinnliche Bedingungen verrechnet und einem relativen Optimum nachgeht. Eine Entscheidung gegen das jeweilige Optimum wäre nicht frei, sondern falsch. Willentliche Wahl, Will-kür, fände nicht statt. Der Wille, so wie Kant ihn denkt, enthebt den Menschen aus seiner Bedingtheit und setzt ihn in einen Geltungshorizont ein, der unabhängig vom Sinnlichen ist. Dieser Horizont ist das sittliche Sollen, das quer zu allen Pragmatismen steht. In ihn gehen die sinnlichen Bedingungen des Handelns ein, ohne ihn notwendig zu bestimmen. In ihm wertet der Mensch seine Möglichkeiten, anstatt sie zu messen, und er entscheidet, anstatt zu wählen. Diese Fähigkeit hat er nur deshalb, so Kant, weil er unbedingt gefordert ist.90 Der kategorische Imperativ fordert „auf Seiten des Menschen Gehorsam und Unterwerfung seiner W i l l k ü r unter dem Gesetz, von Seiten des ihm einen Zweck gebietenden W i l l e n s . " 9 1 Die Forderung der Sittlichkeit setzt ihn frei von allen äußeren Gesetzen, indem sie ihm seine Autonomie durch das sittliche Verpflichtungsbewußtsein vor Augen führt.92 Selbst die drohende Negation der vitalen Interessen des Subjekts kann dieses nicht dazu bringen, die bewußte Möglichkeit zur freien sittlichen Entschließung zu verlieren.93 Was sich in der sittlichen Selbstbestimmung vollzieht, beschreibt Kant mit den sprachlichen Mitteln des Syllogismus: „Denn weil es r e i n e V e r n u n f t ist, die

87

Vgl. K.d.p.V. A 54. K.d.r.V. Β 579. 89 K.d.r.V. Β 581. 90 Vgl. K.d.p.V. A 52. 91 Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 406/407, Anm. 92 Vgl. K.d.p.V. A 53 und K.d.p.V. A 5: „so will ich nur erinnern: daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die r a t i o c o g n o s c e n d i der Freiheit sei." 93 Vgl. K.d.p.V. A 54. 88

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hier in ihrem praktischem Gebrauche, mithin von Grundsätzen a priori und nicht von empirischen Bestimmungsgründen ausgehend, betrachtet wird: so wird die Einteilung der Analytik der r. pr. V. der eines Vemunftschlusses ähnlich ausfallen müssen, nämlich vom Allgemeinen im O b e r s a t z e (dem moralischen Prinzip), durch eine im U n t e r s a t z e vorgenommene Subsumtion möglicher Handlungen (als guter und böser) unter jenen, zu dem S c h l u ß s a t z e , nämlich der subjektiven Willensbestimmung (einem Interesse an dem praktisch-möglichen Guten und der darauf gegründeten Maxime) fortgehend."94 Nicht gemeint ist in diesem Zusammenhang der logische Syllogismus als Mittel der Urteilslogik.95 Gemeint ist ein transzendentales Schlußgefuge, in dem sich die Vermögen der menschlichen Vernunft zueinander systematisch in Einheit setzen. Dieses Gefuge ist Bedingung der Möglichkeit der Einheit des Selbst. In der theoretischen Philosophie entstehen synthetische Sätze a priori dadurch, daß das Übereinkommen von bedingter Anschauung und unbedingtem Begriff an den vermittelnden Kategorien erklärlich wird. Die Kategorien sind die unbedingten Formen der Sinnlichkeit, weil sie die apriorischen Formen des Denkens sind, unter denen die Sinnlichkeit begriffen wird. Die sinnliche Situation wird durch Schemata unter Kategorien gebracht und dann begriffen als umfaßt von einer über die Situation hinausgehenden strukturgesetzlichen Geltung. Das Urteil über Bedingtes kann so unbedingt und synthetisch zugleich sein.96 In der praktischen Philosophie sind die Kategorien die Formen der Freiheit, die die sittliche Form von Sinnlichkeit angeben. Sie vermitteln das unbedingte Sittengesetz mit der sinnlichen Realität, indem sie diese nach Gesetzen der Freiheit ordnen.97 Um den Gesetzen der Freiheit Anschaulichkeit zu verschaffen, die ihren normativen Charakter verdeutlicht, bedient sich die praktische Vernunft der „Typik der praktischen Urteilskraft".98 Die Typenlehre nimmt den Symbolbegriff der Kritik der Urteilskraft inhaltlich vorweg und macht ihn fur die sittliche Praxis fruchtbar. 99 Soll das Sittengesetz und das ihm gemäße materiale Handeln in seiner Gänze vorstellbar gemacht werden, so ist es zu diesem Zwecke erlaubt, regulativ nach dem Typus der sinnlichen Natur eine intelligible Natur vorzustellen und mittels der reflektierenden Urteilskraft die Utopie einer sinnlich realisierten

94

K.d.p.V. A 162. Vgl. Logik A 188 ff. 96 Vgl. Silber, John R.: Der Schematismus der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 56, 1965, S. 253-273 (257), sowie Bubner, Rüdiger: Was heißt Synthesis?, in: Prauss, Gerold (Hg.): Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt 1986, S. 27-40. 97 Vgl. K.d.p.V. A 116. 98 Vgl. K.d.p.V. A 119. 99 Vgl. Pieper, Annemarie: Kant und die Methode der Analogie, in: Kant in der Diskussion der Moderne, hrsg. v. Schönrich, Gerhard und Kato, Yasushi, Frankfurt 1996, S. 108/109. Anders: Beck, Lewis W.: Kants "Kritik der praktischen Vernunft". Dritte Auflage, München 1995, S. 151 fT. 95

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Sittlichkeit in sie einzutragen.100 Dies gibt dann das Bild einer Welt, in der Glückseligkeit dem glückswürdigen Menschen zuteil wird und in der die Natur nach Gesetzen der Freiheit geordnet ist.

1.3.3. Die Kategorien der Freiheit Wir haben zwei Funktionen des transzendentalen sittlichen Syllogismus zu unterscheiden. Zum einen die kategoriale Vermittlung des Sittengesetzes über Formen der Freiheit, zum anderen die materiale Bestimmung des Sittengesetzes vor dem Hintergrund eines utopischen Ortes, der durch regulative Ideen ausgezeichnet ist. Ein Scheitern oder Gelingen der sittlichen Handlung muß sich auf ein Scheitern oder Gelingen der Vermittlung und / oder der Bestimmung des Sittengesetzes zurückfuhren lassen. Im Hinblick darauf ist die systematische Funktion der Kategorien der Freiheit (Vermittlung) und des höchsten Gutes (Bestimmung) genauer zu untersuchen. Dabei ist im Auge zu behalten, wie in der theoretischen Philosophie die Kategorien der Natur verwendet werden. So wie in der theoretischen Sphäre vermeidbarer Irrtum möglich ist, so in der praktischen verfehltes Handeln (das Böse). Wenn aber erkennendes oder sittliches Handeln doch immer schon unter kategorialer Formung steht, so muß diese Möglichkeit des Sich-selbst-Verfehlens des Subjekts erklärt werden. Nun besteht in der theoretischen Philosophie ein Unterschied zwischen Vor-Urteilen und kontrollierten Urteilen. Das kontrollierte Urteilen geht gegen die Irrtumsanfalligkeit des Urteilens an: was sich beispielsweise in der Kategorialisierung von bloß empirisch-sinnlicher Gegebenheit (z.B. in Sukzession) zum Anspruch auf überempirische Geltung (z.B. als Kausalität) erhebt, muß sich ausweisen unter Rückbeziehung auf seine allgemeinen Geltungsgründe. Dies sind hier die Bedingungen der Möglichkeit unserer Erfahrung als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt. Analog wäre die praktische Fehlbarkeit durch das Rückbeziehen des sittliche Autonomie verfehlenden Handelns auf diejenigen Geltungsgründe, die es als Handlung aus Freiheit immer schon beansprucht, zu korrigieren. Das Subjekt muß demnach überprüfen, ob die Bedingung der Möglichkeit seiner freien Handlung der Bedingung der Möglichkeit freier Handlung überhaupt gemäß ist. Das heißt, es muß seine innere oder äußere Willkürbestimmung daraufhin befragen, ob sie so ist, daß sie als „Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."101 Der kategorische Imperativ, bzw. die sich in ihm aussprechende praktische Vernunft, ist mithin nicht nur Beurteilungskriterium von Handlungen, sondern 100

Vgl. K.d.p.V. A 122-125. Vgl. zur Bestimmung der Inhalte des sittlichen Wollens vermittels der Urteilskraft: Silber: Der Schematismus der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 56, 1965, S. 253-273. 101 K.d.p.V. A 54.

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Möglichkeitsbedingung freien Handelns überhaupt.102 Denn wäre es nicht möglich, dem kategorischen Imperativ gemäß zu handeln, so wäre es gar nicht möglich, unter dem Anspruch der Freiheit zu handeln. Die Überprüfung der Maximen durch den kategorischen Imperativ ist sowohl negativer als auch positiver Natur.103 Die negative Überprüfung stellt die Widerspruchslosigkeit einer Maxime mit dem allgemeinen Begriff der Willensbestimmung fest.104 Bei dieser Überprüfung spielen die Kategorien der Freiheit ihre ausgezeichnete Rolle: Sie bestimmen formal eine Handlung hinreichend, so daß von ihr, ohne Ansehung ihres Zweckes, gesagt werden kann, sie steht oder steht nicht im Widerspruch zu dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit.105 Die Rolle der Kategorien der Freiheit ist dabei eine zweifache. 106 Einerseits geht es darum, menschliche Handlung als Handlung im engeren Sinne (gegen bloße actio101) zu bestimmen und zuzurechnen (imputatio facti), und zweitens darum, Handlung überhaupt sittliche Bestimmung zu geben. Allerdings baut hier das erste auf dem zweiten auf und nicht umgekehrt. Weil ich Handlung sittlich bestimmen kann und somit in der Lage bin, meine (innere oder äußere) Handlungsform gemäß den Kategorien der Freiheit auszurichten, deshalb kann ich eine Möglichkeit zur sittlichen Handlung als empirisches Subjekt auch nicht ergreifen und darin mich, d.h. die Einheit des Selbst in seinem praktischen Bewußtsein, verfehlen. Weil ich sittlich handeln kann, kann ich mich überhaupt über naturale Bedingtheit erheben und insofern zurechenbar unsittlich handeln. Insofern ich gegen die sittliche Form verstoße, dienen die Kategorien der Freiheit als hanàìungsdeskriptive Kategorien dazu, mich negativ als Verantwortlichen meines Handelns zu begreifen und anzuzeigen, daß ich die sittliche Handlungsform verfehlt habe.108 Diese Zuschreibung leisten die Kategorien der Qualität, der

102

Vgl. K.d.p.V. A 52/53. Vgl. M.d.S. TL A 19. 104 Vgl. G.z.M.d.S. Β 99/100. 105 Vgl. Riedel, Manfred: Imputation der Handlung und Applikation des Sittengesetzes, in: Zur Rekonstruktion der praktischen Philosophie, Gedenkschrift für K.-H. Ilting, hg. von K.-O. Apel und R. Pozzo, Stuttgart 1990, S. 418-445, (438). 106 Vgl. Schönrich, Gerhard: Die Kategorien der Freiheit als handlungstheoretische Elementarbegriffe, in: Prauss, Gerold (Hg.): Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt 1986, S. 246-270 und Bobzien, Susanne: Die Kategorien der Freiheit bei Kant, in: Oberer, H. / Seel, Gerhard (Hgg.), Kant. Analyse - Probleme - Kritik, Würzburg 1988, S. 193-220. Beide stellen auf eine Zweistufigkeit der Kategorientafel ab und interpretieren sie einmal als Durchgang von Handlung überhaupt und zum zweiten als Durchgang von näherhin sittlicher Handlung, allerdings unter Angabe unterschiedlicher Begründungen. 103

107

Zum Begriff der „actio" in Abgrenzung vom Begriff der Handlung vgl. Gerhardt, Volker: Handlung als Verhältnis von Ursache zu Wirkung. Zur Entwicklung des Handlungsbegriffs bei Kant, in: Prauss, Gerold (Hg.): Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt 1986, S. 98-131. 108 Vgl. Benton, Robert J.: Kant's Categories of Practical Reason as Such, Kant-Studien 71, 1980, S. 181-210.

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Quantität und der Relation, die aus dem factum brutum des sinnlichen Geschehens eine klassifizierte und zuschreibbare innere oder äußere Handlung machen.109 Zugleich geben sie damit via negationis eine formale Handlungspräskription: sittlich ist diejenige Handlung, die der unbedingten Form der Freiheit nicht widerspricht. Damit ist die Möglichkeit unbedingt sittlicher Handlungs/orw gesichert. Ungeklärt bleibt dabei aber, ob und wie eine materiale sittliche Handlung einen durch den kategorischen Imperativ ausgezeichneten sittlichen Inhalt haben könne. Hier liegt der systematische Übergang zur Theorie des höchsten Gutes. Wie in der theoretischen Philosophie die Modalkategorien nicht der Gegenstandsbestimmung dienen,110 sondern das Verhältnis dieses Gegenstands zum Bewußtsein thematisieren, so stellen die Modalkategorien der praktischen Philosophie das Verhältnis einer Handlung zum normativen Bewußtsein vor. So werden Handlungen der praktischen Selbstbestimmung der Modalität des Sollens nach „Das E r l a u b t e und U n e r l a u b t e / Die P f l i c h t und das P f l i c h t w i d r i g e / V o l l k o m m e n e und u n v o l l k o m m e n e P f l i c ht" 1 1 1 vorstellen. Wie in der theoretischen Philosophie die dritte Modalkategorie den Übergang zu einem Gegenstand der reinen theoretischen Vernunft ebnet (subjektive Notwendigkeit des Ideals der reinen Vernunft als „transzendentales Substratum" der „omnitudo realitatis"112), so tritt kategorial (d.h. als Moment der freiheitlichen Form der Handlung) zu der vollkommenen sittlichen Pflicht der Begriff des anzustrebenden höchsten Gutes als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft hinzu, den zu setzen in praktischer Hinsicht subjektiv-/Jofwwd/g ist.113 Dies ist von entscheidender, nicht nur religionsphilosophischer Bedeutung.114 Es ist die durch sittlich-unbedingte Zweckgebundenheit a priori gekennzeichnete Struktur sittlichen Handelns und nicht das Glückseligkeitsbedürfnis der Menschen, die das höchste Gut als Moment kritisch-praktischer Philosophie

109

So auch: Riedel, Manfred: Imputation der Handlung und Applikation des Sittengesetzes, in: Zur Rekonstruktion der praktischen Philosophie, Gedenkschrift für K.-H. Ilting, hg. von Apel, K.-O. und Pozzo, R., Stuttgart 1990, S. 438. 1,0 Vgl. K.d.r.V. Β 9 9 / 100. '" K.d.p.V. A 116. " 2 K.d.r.V. Β 604f. 113 Vgl. K.d.p.V. A 214 f. " 4 Hier liegt ein Desiderat der religionsphilosophischen Literatur zu Kant. Während die rein philosophisch interessierten Autoren hier längst Konsens erzielt haben, (vgl. bereits 1971: Düsing, Klaus: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62, S. 5-42), leiten die meisten theologischen und religionsphilosophischen Interpreten den Begriff des höchsten Gutes immer noch systematisch ungenügend ab, indem sie die Einfuhrung dieses Begriffs als Zugeständnis Kants an eudämonistische Theorien werten. Dies (die Hoffnung auf Glückseligkeit als Triebfeder der Exekution des Sittengesetzes) ist aber eine Position, die Kant schon mit der G.z.M.d.S., spätestens aber mit der K.d.p.V. aufgegeben hat. Vgl. Düsing, Klaus: ebd., S. 28/29.

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notwendig macht. Der eine Glückseligkeitskomponente enthaltende Begriff des höchsten Gutes kommt nicht heteronom in den sittlichen Willen. Da der Begriff des höchsten Gutes sinnlich nicht gegeben ist, läßt sich die Wirklichkeit dieses Begriffs nicht zu theoretisch-kategorialer Erkenntnis schematisieren.115 Dennoch muß ihm notwendig Wirklichkeit zukommen, wenn sittliche Vernunft sich selbst durch ihn bestimmen will. Kann die Totalität eines endlichen Begehrungsvermögens nur durch das höchste Gut in die Einheit eines sittlichen Willens gebracht werden, so hat das höchste Gut den Status einer regulativen Idee. Sollte die Wirklichkeit des Gegenstandes dieser Idee nur unter gewissen Voraussetzungen möglich sein, käme diesen Voraussetzungen zunächst der Status praktischer Postulate zu.

1.3.4. Die Postulatenlehre In der Literatur wird zwischen einer Postulatenlehre im engeren Sinne und einer erweiterten Postulatenlehre unterschieden.116 Die engere ist die in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelte, die als Postulate der praktischen Vernunft Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nennt. Die erweiterte umfaßt alle sonst von Kant mit dem Titel des praktischen Postulates belegten, theoretisch transzendenten Gegenstände. Aus der erweiterten Postulatenlehre wird zumeist in Richtung Religionsphilosophie geschlossen. Eine solche Trennung ist jedoch wenig hilfreich. Wenn es einen einheitlichen Begriff und eine einheitliche Funktion des praktischen Postulates bei Kant gibt, dann sind dieser Begriff und diese Funktion herauszuarbeiten, und es ist zu zeigen, wie die einzelnen Postulate daraus folgen. Wenn es dieses einheitliche Konzept nicht gibt,117 dann ist der Begriff der Postulate aufzugeben und eine neue Begrifflichkeit zu wählen.118 Postulate verschiedener Dignität einzuführen, - die einen als Momente einer

115

Vgl. John R. Silber: Der Schematismus der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 56, 1965/66, S. 260. 116 Vgl. Langthaler, Rudolf: Kants Ethik als „System der Zwecke", Berlin u.a. 1990, S. 355ff. Ebenso: Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O., S. 245. " 7 Man kann auch diese Position mit guten Gründen vertreten. Kants Verwendung des Postulatbegriffs ist sehr uneinheitlich. In späten Schriften häuft sich ein Sprachgebrauch, der unter 'Postulat' oft nicht mehr faßt als 'Forderung'. Zum Beispiel spricht Kant auch von dem „Postulat des Gewissen", daß ich der Sittlichkeit der von mir vorzunehmenden Taten gewiß sein solle, bevor ich sie unternähme. (Rei Β 288). Hier kommt dem Postulat erkennbar keine systematische Funktion zu. Angesichts solcher terminologischer Nachlässigkeiten ist ein einheitlicher, systematisch abgeleiteter Begriff des Postulats erst zu erarbeiten. 118 Vgl. Bartuschat, Wolfgang: Was ist kritische Metaphysik?, in: Schlaglichter der Forschung. Zum 75. Jahrestag der Universität Hamburg, 1994, S. 144.

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kritischen Transzendentalphilosophie, die anderen als Versatzstücke einer christlich inspirierten Religionsphilosophie, - führt nicht weiter. Die Postulatenlehre schließt begrifflich an die Theorie des höchsten Gutes an. Aufbauend auf der geläufigen Interpretation soll im folgenden eine transzendentale von einer transzendenten Lesart geschieden werden. Von einer Kritik der Schematisierung der Sittlichkeit aus wird eine Theorie der Symbolisierung des Sittengesetzes entwickelt, die es erlaubt, die transzendenten Momente der Postulatenlehre im Rahmen einer transzendentalen Interpretation zu reformulieren. Zuerst die allgemeine Lesart:119 Im höchsten Gut sollen subjektiv Glückswürdigkeit und Glückseligkeit und objektiv Freiheit und Natur zusammenfallen.120 Als diese Synthese soll es Grund und Objekt des sittlichen Handelns sein.121 Hierfür muß die Wirklichkeit des höchsten Gutes, in der sich jedes sittliche Subjekt befriedigt finden wird, jedem sittlichen Handeln logisch voraus sein, um für jedes endliche Subjekt etwas sein zu können. Sie kann also nicht nur als ein politisches Biotop verstanden werden, das erst in der Geschichte noch zu schaffen ist.122 Andernfalls - so ein Argument vieler Interpreten - bliebe die Sittlichkeit der nicht in das historisch irgendwann realisierte Reich der intelligiblen Zwecke einziehenden Bürger unbelohnt.123 Der Glaube an Gott als Garant der proportionierlichen Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit werde, obwohl nur Folge der moralischen Selbstbestimmung,124 wichtig für die Widerspruchsfreiheit der Novmsnbegründung,125 Ausschließlich Gott sei es, der die durch die sittliche Handlung stets zu wahrende Einheit des sinnlich-sittlichen Subjekts garantiere.126 Und nur durch den Gedanken an seine Ausgleichsmacht ließe sich die Unbedingtheit der sittlichen Selbstbestimmung angesichts der Endlichkeit des moralischen Subjekts logisch durchhalten. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, daß die Postulate vor einer übereilten Interpretation, die sie einseitig auf ihre religionsermöglichende 119

Zur Darstellung vgl. Kuehn, Manfred: Kant's Transzendental Deduction of God's Existence as a Postulate of Pure Practical Reason, in: Kant-Studien 76, 1985, S. 152-169. 120 Vgl. K.d.p.V. A 213. 121 Vgl. K.d.p.V. A 214. 122 Yovel rückt meines Erachtens die geschichtsphilosophische Perspektive unverhältnismäßig in den Vordergrund in: Yovel, Yirmiahu: The Highest Good and History in Kant's Thought, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 54, 1972, S. 238-283. 123 Vgl. Landgrebe, Ludwig: Die Geschichte im Denken Kants, in: Studium Generale 7, 1954, S.540/541. 124 Vgl. Diising, Klaus: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, a.a.O., S. 35f. 125 Vgl. Jaeschke, Walter, in: Artikel 'Religion', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band IIX, Basel 1992, S. 675. Bei Kant vgl. K.d.p.V. A 259, Anm. 126 Vgl. Sala, Giovanni B.: Kant über die menschliche Vernunft - Die Kritik der reinen Vernunft und die Erkennbarkeit Gottes durch die praktische Vernunft, Weilheim-Bierbronnen, 1993, S. 121. Vgl. K.d.p.V. A 235 ff.

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Funktion hin liest,127 in ihrer systemischen Rolle bedacht werden müssen. Hier fällt ein direkter Zusammenhang mit der Theorie der Synthesis a priori auf. Das Handeln auf die eine Welt hin, welches sich normativ bloß nach der intelligiblen Welt ausrichten soll, muß vom handelnden Subjekt als ein solches, das ihm tatsächlich möglich ist, begriffen werden. Dazu gehört, daß es sich als einheitliches in seinem Handeln durchhält, was unter anderem schlicht meint, daß das endliche Subjekt in seinem Handeln sich auch und gerade in seiner Sinnlichkeit erhält und diese befriedigt. Für die objektive Harmonie beider Welten (Natur und Freiheit) kann aber die dem sittlichen Selbst gegenüberstehende Natur nicht einstehen. Ebensowenig kann das Selbst diese von ihm angestrebte Einheit in toto selbst stiften, weil es ja nicht das Sittengesetz der Natur im Ganzen implementieren kann. Anstatt nun vorschnell auf eine transzendente dritte Instanz zu schließen, sollte erst einmal unterschieden werden zwischen einer Einheit von Natur und Freiheit als Kommensurabilitätm und als Harmonie}29 Die bloße Verträglichkeit beider Welten muß bei jeder Handlung vorausgesetzt werden, will überhaupt Synthesis a priori oder a posteriori gedacht werden können. Mithin ist die Einheit von Natur und Freiheit als Kommensurabilität ohne Frage transzendentale Bedingung für menschliches Handeln. Diese Einheit ist es, die Kant in der Zweiten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft unter dem Titel eines „intelligiblen Substrates" anspricht,130 das die Möglichkeit des Übereinkommens der theoretischen und praktischen Spontaneität mit der rezeptiv aufzunehmenden Sinnenwelt sicherstellt. Dieses gedankliche Konzept ist in der Kritik der praktischen Vernunft noch nicht auszuweisen, da die transzendentale Funktion der Urteilskraft noch nicht untersucht ist. Deshalb holen - am systematischen Ort der Kritik der praktischen Vernunft - die Postulate im Modus des Glaubens für uns das ein, was an sich 127

So: Langthaler, Kants Ethik als „System der Zwecke", a.a.O., S. 355ff. Äußerst kritisch zu einer derartigen Lesart bereits: Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik, a.a.O., S. 363. 128 Den Begriff führte in diesem Zusammenhang John R. Silber ein, in: ders.: Schematismus der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 56, 1965/66, S. 257. 129 In Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, A 134, zeigt Kant beide Varianten des Natur-Freiheit-Übergangs in EngfUhrung, die Kommensurabilität als „Angemessenheit (...) zu einem Ganzen der Zwecke (...) als Natur überhaupt" und die Harmonie in Form von „Endursachen (...)" als „natürliche Teleologie". Zum Vergleich die Stelle im Gesamtzusammenhang: „Weil aber eine reine praktische Teleologie, d.i. eine Moral, ihre Zwecke in der Welt wirklich zu machen bestimmt ist, so wird sie deren M ö g l i c h k e i t in derselben, sowohl was die darin gegebene E n d u r s a c h e n betrifft, als auch die Angemessenheit der o b e r s t e n W e l t u r s a c h e zu einem Ganzen aller Zwecke, als Wirkung, mithin so wohl die natürliche T e l e o l o g i e , als auch die Möglichkeit einer Natur überhaupt, d.i. die Transzendental-Philosophie, nicht verabsäumen dürfen, um der praktischen reinen Zweckslehre objektive Realität, in Absicht auf die Möglichkeit des Objekts in der Ausübung, nämlich die des Zwecks, den sie als in der Welt zu bewirken vorschreibt, zu sichern." 130

K.d.U. Einl. B, LVI1. Eine frühere Stelle, an der Kant bereits sich dieses Terminus bedient, ist K.d.p.V. A 178. Dort findet der Terminus allerdings keine inhaltliche Ausführung.

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schon immer grundgelegt ist: die Kommensurabilität beider Welten. Die Möglichkeit praktischer wie theoretischer Synthesis a priori soll so vor theoretisch-skeptizistischen Einwänden sichergestellt werden. Daß diese Funktion der Postulate systematisch vorrangig ist, dafür spricht auch, daß neben den drei in der Kritik der praktischen Vernunft ausgeführten Postulaten: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, sich in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten durchaus auch ein so prosaisches und gar nicht religiös qualifiziertes Postulat findet wie das „Rechtliche Postulat der reinen Vernunft", einen Jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben",131 das sich lediglich durch seine Funktion, die rechtliche Synthesis zu sichern, wird erklären lassen.132 Von der Kommensurabilität von Natur und Freiheit ist deren Harmonie abzusetzen. Erstere sichert die prinzipielle Verträglichkeit von Intelligiblität und Sensibilität, so daß moralisch-unbedingtes Selbstbestimmen als Grund überhaupt Folgen in der sinnlichen Welt zeitigen kann. Dagegen deutet letztere auf eine Einheit hin, in der das naturale Sein in einer Ordnung aus Freiheit restlos aufgeht; sie setzt das höchste Gut als konstitutiven Begriff an. Diese Einheit ist Fiktion. Während die Kommensurabilität für sittliches Handeln transzendental und theoretisch-real ist, ist die harmonische Einheitskonzeption, theoretisch genommen, transzendent. Fraglich ist, ob und inwieweit sie dennoch, praktisch genommen, von theorieimmanentem Nutzen sein kann. Beide Formen der Einheit treten sowohl subjektiv als auch objektiv in der Theorie des höchsten Gutes und der Postulate in Erscheinung. Meines Erachtens nach lassen sie sich nicht anders als mittels der vorliegenden Systematisierung auseinanderhalten. Erkennen wir eine Kommensurabilität von Natur und Freiheit subjektiv an, so ist gemeint, wir gehen davon aus, ein Subjekt könne sich nach sittlichen Noumena selber phänomenal bestimmen. Sprechen wir von derselben Einheit als objektiver, so ist die Möglichkeit gemeint, daß menschlich-geistiges Handeln als Ganzes das Gesicht der Welt verwandeln könne, also: das historische Projekt eines Reiches der Zwecke. Kommensurabilität ermöglicht sittliches Handeln. Dagegen hebt sich die Harmoniekonzeption ab. Die subjektivharmonische Einheit von Natur und Freiheit wäre diejenige, in der Glückswürdigkeit und Glückseligkeit als Momente der sittlichen Tat im Subjekt gänzlich übereinkommen. 0¿>/etóv-harmonisch wäre diejenige Einheit zu nennen, in der das ganze Naturgeschehen ausschließlich gemäß Freiheitsgesetzen verliefe. Dieser Einheitsbegriff stellt die Erfüllung des sittlichen Projektes vor. Beide Einheitsbegriffe haben Ort und Funktion im kantischen Konzept. Lediglich eine falsche Zuordnung fuhrt zu entweder transzendenten oder aber reduktionistischen 131

M.d.S. RLA 57. Diese Funktion ist in aller Kürze die folgende: Die rechtliche Vernunft will sich sittlichunbedingt auf sinnlich Äußeres erweitern. Daß dieses sinnliche Äußere tatsächlich Gegenstand der Freiheit und mithin rechtliches „Ding an sich" werden kann, ist das Postulat, das das Wirklichwerden der rechtlichen Vernunft erst sicherstellt. Vgl. näher den Abschnitt „Recht. 132

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Mißinterpretationen. Wir werden im folgenden sehen, daß der harmonistische Einheitsbegriff seine angemessene Stelle nur erhält, wenn er weder auf bloße Immanenz verkürzt wird, noch als schlechte Transzendenz der endlichen Welt entgegengestellt wird. Man sollte sich vorsehen, in den Postulaten praktische Sätze zu erblicken, auf deren Inhalt es nicht so sehr ankomme.133 Man kann sie keineswegs beliebig anfüllen mit dem Verweis auf ihre nur praktische und regulative Funktion. Das Regulative bezeichnet lediglich die Verwendungsweise der Postulate, ihr epistemischer Status ist der des theoretischen Satzes.134 Wäre ihr epistemischer Status praktisch, so machten sie dem sittlich Handelnden diese Gegenstände (Gott und Unsterblichkeit) zu Zwecken seines sittlichen Sollens. Das ist undenkbar. Ferner gibt Kant ausdrücklich an, daß er unter einem „ P o s t u l a t der reinen praktischen Vernunft einen t h e o r e t i s c h e n , als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, so fern er einem a priori unbedingt geltenden p r a k t i s c h e n Gesetze unzertrennlich anhängt."135 Die Leichtfertigkeit, mit der in der religionsphilosophischen Literatur in aller Regel die Inhalte der Postulate gestreift werden,136 kann sich wohl nur daraus erklären, daß man die Postulate mißversteht als theoretisch ohnehin nicht bedeutsame Sätze. Die theoretische NichtErweislichkeit eines theoretischen Satzes macht ihn aber nicht zu einem theoretisch Unbedeutenden. Das heißt zum einen, daß dasjenige, was die praktische Vernunft postulieren muß, für uns tatsächlich ist. Und daraus folgt zum anderen, daß alles, dessen Wirklichkeit die praktische Vernunft nicht notwendig bedarf, um sittlich wirkend zu sein, keinesfalls Inhalt eines Postulates werden (bleiben) darf. Dies wird insbesondere am strengen moralischen Gottesbeweis deutlich: „Der Satz: es ist ein Gott, mithin es ist ein höchstes Gut in der Welt (...) ist ein synthetischer a priori."137 Gemeint ist: ein synthetisch-theoretischer Satz a priori.138 Das Entscheidende daran ist, daß, handelte es sich hierbei nicht um einen 133 Vgl. Dtlsing, Klaus: Die Rezeption der kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels, in: Bubner, Rüdiger (Hg.): Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus, Hegel-Studien Beihefte 9, Bonn 1973, S. 53-90, S. 54. 134 „Ein solcher Glaube ist das Fürwahrhalten eines theoretischen Satzes, z.B. e s i s t e i n G o t t , durch praktische Vernunft." Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz ' und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? A 114. Hervorhebungen von mir. 135 K.d.p.V. A 220. 136 Anders die gründliche Untersuchung von: Albrecht, Michael: Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim 1978, insbs. S. 121 ff. 137 Rei Β X, Anm. Vgl. zur Bedeutung der „Gott-ist"-Aussage für das System der kantischen Philosophie Picht, Georg: Kants Religionsphilosophie, Stuttgart 1985, S. 597ff. 138 Und hierbei handelt es sich keineswegs einfach darum, daß „Kant die Gottesfrage in sein Lieblings-Begriffsmittel [sie!] der synthetischen Urteile a priori hinzuzwängen versucht," wie Sala leichtfertig schreibt, (Kant und die Frage nach Gott - Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants, Berlin u.a. 1990, S. 453), sondern um die transzendentale Verankerung des Transzendenten in Kants Philosophie: also mehr noch für die philosophische Theologie als für die

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theoretischen, sondern um einen praktischen Satz, dieser Satz ein Sollen formulieren müßte. Dies ist aber nicht der Fall. Das Sollen fuhrt Kant wenige Zeilen später ein: „Daß aber jedermann sich das höchste in der Welt mögliche Gut zum Endzwecke machen solle, ist ein synthetisch praktischer Satz a priori."139 Sicherlich ist vom Ableitungsverhältnis her gesehen zuerst das Gebot zur Verwirklichung des höchsten Gutes als praktischer Satz gegeben und daraus folgend - als Möglichkeitsbedingung - der theoretische Satz: es ist ein Gott. Dies tut der epistemischen Qualität des Satzes: es ist ein Gott, allerdings keinen Abbruch. Hier liegt, durch praktische Vernunft, ein gültiger Beweis der theoretischen Aussage: es ist ein Gott, vor. Dieser Beweis hängt inhaltlich einzig an der Bedingung, daß das zu Beweisende, hier: Gott, transzendental für die sich sittlich apriorisch synthetisierende Vernunft ist. Daraus folgt zum einen, daß genau angegeben werden muß, welche Momente im Gottesbegriff transzendental für Sittlichkeit sind und welche nicht. Dann erst läßt sich fragen, ob hier wirklich 'Gott', im gängigen Wortverständnis, bewiesen wurde oder nur das Vorhandensein einer schwächeren Einheit von Natur und Freiheit außerhalb und innerhalb des Menschen, die auch bescheidener benannt werden kann. Man muß Kant soweit zustimmen, daß Handlung (im Sinne von verantworteter Tat) überhaupt unmöglich wäre, erwiese sich jede menschliche Zwecksetzung als entweder unsittlich oder sinnlich unerfüllbar. Bei gleichzeitiger Beibehaltung der unbedingten Aufgabe und der endlichen Vermögen des Menschen leitet Kant dann aber die Unsterblichkeit der Seele als Möglichkeitsbedingung lauterer Gesinnung und Gott als Möglichkeitsbedingung der Erreichung des unbedingten sittlichen Zwecks ab. Ohne sie erschiene, laut Kant, sittliches Bemühen absurd. Wäre dies tatsächlich der Fall, so gewänne das Transzendente unmittelbar transzendentale Funktion, indem es konstitutiv am sittlichen Akt beteiligt würde. Wir lassen das Argument, daß die Seele unsterblich und ein gerechter und gnädiger Gott existent sein müsse, um unbedingte Sittlichkeit unwidersprüchlich einzufordern, vorerst noch ungeprüft. Doch läßt sich bereits jetzt sagen, daß ein solcher Schluß die Begriffe 'Gott' und 'Unsterblichkeit' nicht konkretisiert. Ihr Inhalt läßt sich aus einer theoretischen Analyse überhaupt nicht herleiten. Wir wissen gar nicht, was mit 'Gott' und 'Seelenunsterblichkeit' gemeint ist, solange wir nicht freigelegt haben, für welche praktische Funktion sie stehen. Vor einer unkritischen Übernahme des gängigen Wortgebrauchs muß deshalb dringlich gewarnt werden, wenn diese Begriffe als Postulate Verwendung finden. Festzuhalten ist: Die in den Postulaten in Anspruch genommene Möglichkeit der Konvergenz von Natur und Freiheit wird nach der Systematik des kritischen Systems in der Kritik der praktischen Vernunft lediglich in Anspruch genommen,

Religionsphilosophie um den für sie schlechthin Philosophie. 139 Rei Β XII, Anm. Hervorhebung von mir.

zentralen

Gedankengang

der

kritischen

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nicht erwiesen. Da die Vernunft nur eine ist, kann zwar gefolgert werden, daß ein Begriff, dessen eines ihrer transzendentalen Vermögen (hier: die Vernunft als praktisch-gesetzgebende) bedarf, um überhaupt tätig zu sein, notwendig in keinem Widerspruch zu den anderen Vermögen der Vernunft stehen kann.140 Der Gegenstand des Begriffs dieser notwendigen Einheit kann deshalb als wirklich vorausgesetzt werden. Im Sinne kritischer Philosophie konkretisiert sich allerdings der Begriff dieser Einheit erst durch eine Untersuchung dessen, was theoretisch erforderlich ist, die praktische Arbeit der Vernunft zu gewährleisten. Das heißt, der dem praktisch legitimierten Begriff zukommende theoretische Inhalt ist a priori beschränkt auf die für das Praktische funktionalen Momente und wird aus ihnen, nicht aus Beständen überlieferter Religion, gewonnen. Das Postulat wäre dann zulässiges Kürzel für den Gedanken, aus der Transzendentalität der praktischen Vernunft heraus auf die Wirklichkeit ihrer notwendigen Vollzugsbedingungen zu schließen. Das Postulat wendet insofern den Gedanken der Einheit der Vernunft lediglich in praktischer Hinsicht an. Es bringt nicht den Primat des Praktischen zur Geltung und steht nicht auf der Stufe eines Für-wahr-Haltens 'aus Interesse'. 141 Dies ist die sinnvolle und transzendentale Funktion der Postulate. Ein abgeschlossenes System der reinen Vernunft in allen ihren Vermögen bedarf dieser Hilfe allerdings nicht mehr. Mit der Kritik der Urteilskraft werden die transzendental gebrauchten Postulate philosophisch hinfällig, denn die durch sie in einem selbständigen Untersuchungsgang theoretisch ausgewiesene Einheit ist die Einheit der Kommensurabilität, für die die Faktizität der Urteilskraft hinreichender Beleg ist. Insofern die Postulate diese Einheit thematisierten, sind sie nun überflüssig.142 Sie haben nurmehr bedingte Relevanz für Theoreme, die allein im Feld der praktischen Philosophie operieren und und sie haben ideengeschichtlich ihren Ort im 140 „Das, was zur Möglichkeit eines Vernunftgebrauchs überhaupt erforderlich ist, nämlich daß die Prinzipien und Behauptungen derselben einander nicht widersprechen müssen, macht keinen Teil ihres Interesses aus, sondern ist die Bedingung überhaupt Vernunft zu haben; nur die Erweiterung, nicht die bloße Zusammenstimmung mit sich selbst, wird zum Interesse derselben gezählt." K.d.p.V. A 216. Hervorhebung von mir. 141 Es ist wichtig, daß theoretische und praktische Philosophie in einem inhaltlichen Entsprechungsverhältnis verbleiben. Man macht es sich zu leicht, wenn man theoretische Hürden einfach mit praktischen Postulaten überspringen will. Wohl können praktische Ideen die theoretischen ergänzen, nicht aber ersetzen oder überfliegen. Vgl. Bondelli, Martin: Zu Kants Behauptung der Unentbehrlichkeit der Vernunftideen, Kant-Studien 87, 1996, S. 166-183. Vgl. auch die Kritik von Rudolf Ottos, die religiöse Wahrheit in vermeintlicher Nachfolge Kants auf ein Für-wahr-Halten aus Interesse zurückzuführen, in ders.: Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S. 81/82. 142 Und so erklärt sich, was Kant noch (K.d.U. Β 468) als „merkwürdig" anführt, „daß unter den drei reinen Vernunftideen, G o t t , F r e i h e i t u n d U n s t e r b l i c h k e i t , die der Freiheit der einzige Begriff eines Übersinnlichen ist, welcher seine objektive Realität (vermittelst der Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur, durch ihre in derselben mögliche Wirkung, beweiset."

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(genetischen) Weg des kantischen Systems zur Religionsphilosophie, ohne daß aber in der Sache eine (geltungstheoretische) Abhängigkeit der Religionsphilosophie von der Postulatenlehre bestünde. So ließe sich erklären, daß in Kants späten Schriften die Postulate nur noch vermindert Erwähnung finden.143 Sie können nach der Kritik der Urteilskraft nur noch im Sinne einer transzendenten Verwendung eigenständige Relevanz haben.144 Dann nämlich thematisieren sie die Einheit von Natur und Freiheit als Harmonie und stellen diese jenseits des Hier und Jetzt in Aussicht. In dieser Lesart wird die Einheit, die als transzendentale jeder sittlichen Handlung zugrundeliegen muß, damit die Handlung lebensweltliche Einheit stiften kann, als transzendente Einheit verstanden, die dem Subjekt von einem handelnden Gott her zufällt. Aus der Ermöglichungsbedingung sinnhaft sittlichen Handelns wird ein Erfüllungsversprechen. Dem sittlichen Subjekt wird mittels der Postulate eine postmortale Existenz der Seele in Aussicht gestellt, und der Menschheit insgesamt eine übersinnliche Hilfestellung bei der Verwirklichung des höchsten Gutes suggeriert.145 Nur jenseits des menschlichen Lebens holen die transzendent gebrauchten Postulate die Sinngegenwart der moralischen Selbstbestimmung ein. Die Postulate verkommen so von Prospekten sinnhafter Sittlichkeit zu sinnlosen Projektionen. In dieser zweiten Bedeutung ist die Postulatenlehre eindeutig abzulehnen.146 Ein derartiges Verständnis der Postulate läßt sich auch nicht aus dem Primat des Praktischen rechtfertigen, denn es verstößt gegen Kants eigene Bestimmung der Begriffe von Bedingtheit und Unbedingtheit. Dies läßt sich am Beispiel des Postulats der Unsterblichkeit der Seele gut zeigen. Es liegt quer zum Argumentationsgang der Kritik der praktischen Vernunft,147 Kants Argumentation, daß der 143 Auch zu dieser Frage herrscht in der Literatur Konfusion. Vom Standpunkt, daß die Religionsphilosophie Kants nur existieren könne, weil Kant die Postulate für seine Moralbegründung gebraucht habe, bis zur entgegengesetzten Behauptung, Kant habe seine Postulatenlehre aufgegeben, um den Blick frei zu machen für die letztlich umfasssend religionsverhaftete Abhängigkeit des kritischen Systems, wird so ziemlich alles nur Denkbare vertreten, um Kants unterschiedliche Verwendungen der Postulatenlehre zu erklären. 144 Vgl. Bartuschat, Wolfgang: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, Philosophische Abhandlungen, Band 43, Frankfurt 1972, S. 67-79. 145 Vgl. Reflexion 6607, AA 19, 106f. und Reflexion 6838, AA 19, 176. 146 Hier handelt es sich dann in der Tat um einen „einer dogmatischen Metaphysik sich anpassenden Rückfall in die Metaphysik des Transzendenten", wie Wolfgang Bartuschat schreibt: Was ist kritische Metaphysik?, in: Schlaglichter der Forschung. Zum 75. Jahrestag der Universität Hamburg, 1994, S. 144. 147 „Eine einfache Gegenüberstellung zeigt, daß das Unsterblichkeitspostulat sich nicht in den bisherigen Gedankengang einfügt. Wenn auf die Frage der 'Dialektik': 'Was ist die Bedingung der Möglichkeit, daß Tugend eine ihr proportionierte Glückseligkeit zur Folge hat?' geantwortet wird: 'Die Seele ist unsterblich.', dann geht die Antwort an der Frage vorbei. Sie trägt zur Auflösung erstens schon deshalb nichts bei, weil sie sich gar nicht auf das Verhältnis zwischen Tugend und Glückseligkeit bezieht. Eine Fragestellung, deren Schwierigkeit aber in der Verbindung zweier

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Wille heilig sein müsse, ein heiliger Wille aber nur in unendlicher Zeitfolge erreichbar sei und deshalb die praktische Vernunft in der Setzung ihres sittlichen Gebotes es rechtfertige, die Annahme der Seelenunsterblichkeit zu machen, ist nicht stimmig. Kant verpflichtet hier den Menschen unvermittelt auf Heiligkeit als Phänomen, mithin auf eine Schematisierung der Sinnlichkeit, wie sie im Widerspruch zu seiner gesamten Ethik steht.14 Dann stellt er deren prinzipielle Erreichbarkeit per unendlicher empirischer Sukzession in Aussicht. Dies ist aber eine Vertauschung der Begriffe von Unendlichkeit und Unbedingtheit. Ein unbedingt sittlicher Wille ist etwas anderes als ein unendlicher. Ein unbedingt sittlicher Wille kann von einem endlichen Subjekt in seinem Handeln realisiert werden, ein unendlicher selbstverständlich nicht, auch nicht in unendlicher Zeitfolge. Ohne Not wird hier über das Unsterblichkeitspostulat ein Mißverständnis der kantischen Ethik im Ganzen nahegelegt. Hielte man sich nur an die in diesem Zusammenhang stehenden Äußerungen, die den Menschen auf die phänomenale Erreichung des Guten festlegen, so wären die Forderungen der praktischen Vernunft tatsächlich nur mit Gottes Hilfe zu realisieren und ohne diese Hilfe nicht nur unerfüllt, sondern unerfüllbar und mithin widersprüchlich. Dies aber sprengte das gesamte auf Autonomie ruhende Konzept der kantischen Ethik. Kant täuscht sich, wenn er schreibt, daß der Satz über die nur durch Seelenunsterblichkeit zu erlangende Sittlichkeit „von dem größten Nutzen [...] auch in Ansehung der Religion"149 sei. Im Gegenteil: die Religion übernimmt dabei eine Hypothek, die sie nicht tragen kann.150 Der transzendentale Konflikt,151 dessen praktisch-philosophische Seite hier thematisiert ist, wird dadurch gerade nicht einer immanenten Lösung zugeführt, sondern durch seine bloß scheinbare, transzendente Auflösung verstärkt. Das Individuum, dessen zentrale Aufgabe es sein sollte, Sinnlichkeit und Sittlichkeit in sich zu versöhnen, wird so gegen seine eigene Diesseitigkeit ausgespielt zugunsten einer ungewissen Jenseitigkeit. Die Postulate degenerieren dabei von Funktionsbedingungen des sittlichen Handelns zu leeren Versprechungen. Demgegenüber, - so man dies als Kants Position ansprechen kann,152 - scheint heute eine Reformulierung der Postulate dringend

Begriffe lag, wird durch die Bearbeitung nur eines Begriffs nicht zur Hälfte, sondern gar nicht beantwortet. Daß dabei noch dieser Begriff (Tugend) durch einen anderen (Heiligkeit) ersetzt wird, bringt den Gedankengang nicht weiter, sondern führt vom Wege ab." Albrecht, Michael: Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim 1978, S. 125. 148 Dazu näher im anschließenden Abschnitt „Schematismus versus Symbolisierung". 149 K.d.p.V. A 220. Vgl. dazu die nachhaltige Kritik bei Scholz, Heinrich: Religionsphilosophie, Zweite Auflage, Berlin 1922, auf den S. 85-88. 150 Vgl. Lübbe, Hermann: Religion nach der Außlärung, in: Höhn, Hans-Joachim: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S.104. 151 Näher zum Begriff des transzendentalen Konfliktes im gleichnamigen Abschnitt 2.2.1. 152 Hierüber herrscht - wie nicht anders zu erwarten - Streit in der Literatur. Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist lediglich, daß man die transzendente Lesart des Argumentes mit kantischen Argumenten gewinnen kann und deshalb ihr gegenüber eine philosophische

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angezeigt.153 Man kann es auch nicht dabei bewenden lassen, ihnen den Status metaphorischer Rede zuzubilligen. Postulate sind keine Symbole, sondern funktionale Momente eines Philosophems. Bildhafte Rede steht ihnen nicht an.154 Die der Wahrheit zustrebende kritische Philosophie muß sich wissenschaftlich ausweisen, nicht metaphorisch.155 Dieser Ausweis wird mißlingen, wenn nicht eine transzendentale Reformulierung der transzendenten Gehalte der Postulate gelingt. Diese Reformulierung ist genau dann möglich, wenn die transzendentale Verwendungsweise der Postulate die theoretisch-transzendenten Aussagen über Seelenunsterblichkeit und göttliche Hilfestellung gar nicht benötigt, um mit sich übereinzustimmen. Mithin wäre das Argument zu depotenzieren, nur die transzendente Aufhebung der Endlichkeit bewahre unbedingte Sittlichkeit unter endlichen Bedingungen vor dem Selbstwiderspruch. Dies wird im anschließenden Abschnitt zu Schematismus versus Symbolisierung" in Angriff genommen. Die mögliche Reformulierung zu der der folgende Abschnitt die argumentative Grundlage stellt, soll allerdings schon hier entwickelt werden, um das beabsichtigte Ziel der Unternehmung herauszustellen; In den Postulaten liegt ein Versprechen auf Sinnhaftigkeit und Stabilität der moralischen Existenz. So wird versprochen, daß die sich sittlich ausrichtende Seele als sittliche fortbestehe, daß durch Gott die Erreichbarkeit des Guten gesichert und daß durch die Freiheit Moralität als Autonomie real sei. Es wird also zugesichert, daß sich im Bedingten das Unbedingte zur Geltung bringe, mithin daß Synthesis a priori stattfinde. Dabei wird allerdings eine über die Möglichkeit der Einheit von Natur und Freiheit als Kommensurabilität hinausgehende Harmonie beider Welten jenseits der menschlichen Endlichkeit in Aussicht gestellt. Diese Harmonie unter diesseitigen Bedingungen reformuliert hieße: das Subjekt darf auf den Fortschritt seiner eigenen Versittlichung vertrauen: es muß nicht fürchten, nach jeder Verfehlung zu den Anfangen zurückgeworfen zu werden. Es darf glauben, die Substanz des Selbst, die Seele, nehme die Wandlung zum Sittlichen wie ein Gedächtnis auf und das eigene Selbst als Phänomen übertrage die noumenale Sittlichkeit nach

Stellungnahme erforderlich wird. Vgl. exemplarisch: Patrick Shade: Does Kant's ethics imply reincarnation?, in: The Southern Journal of Philosophy, Memphis, 1995, Vol. 33, No. 3, p. 347360. 153 Überlegungen zu einer solchen, endlichkeitsaffirmativen Reformulierung stellt bereits Diising an, vgl., ders.: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62 (1971), S. 39, Fn. 150. Auch Langthaler (a.a.O., S. 373) bemüht sich um eine Lesart jenseits der „schlechten Unendlichkeit", bleibt meines Erachtens aber unklar in der Durchführung. 154 Man macht es sich ebenfalls zu leicht, wenn man die Postulate einfach als Aussagen im Rahmen einer Philosophie der Hoffnung affirmiert, wie Alfred Habichler in: Das Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant, Mainz 1991, S. 39-42. 155

Die Philosophie sollte sich hüten, „die Sprache des Mythos zu lallen, anstatt in der gegliederten Rede eines wissenschaftlichen Zusammenhanges ihren Spruch zu fällen." Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik - Nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte, Zweite Auflage, Berlin 1910, S. 363. Zur Rolle der Postulate allgemein, vgl. ebd. S. 355-366.

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außen.156 Ferner darf das Subjekt hoffen, daß sittlicher Freiheitsgebrauch ein selbstverstärkender Prozeß ist, der die Befolgung des Sittengesetzes von einer Pflicht schrittweise in eine Lebensweise umwandelt, die der sittliche Mensch um ihrer selbst willen beibehält157 und in welcher Tugend mehr und mehr ihr eigener Lohn ist. Und der sittliche Mensch darf begründet hoffen, daß der Sinn, den er in die Welt trägt, indem er die Natur nach Freiheitsgesetzen gestaltet, von dieser nicht abgewiesen, sondern in die Geschichte aufgenommen und in den anderen vernünftigen Sinnenwesen gespiegelt wird.158 Zusammengefaßt: es wird die Möglichkeit einer über bloße Kommensurabilität hinausgehenden Annäherung an das Ideal einer subjektiven wie objektiven Harmonie von Natur und Freiheit in Aussicht gestellt. Diese Reformulierung käme dem Zweck der Postulate, einer normativ orientierten Vernunft die Realisierbarkeit und die Sinnhaftigkeit sittlicher Bemühungen aufzuzeigen, nach, ohne uneinholbare Aussagen über etwas zu machen, was jenseits zu diesen sittlichen Bemühungen steht. Das transzendente Moment der harmonischen Einheitsvorstellung würde nicht getilgt, sondern eingebaut in eine diesseitige Konzeption sinnvollen sittlichen Handelns. Die Transzendenz in der Lehre vom höchsten Gut und den Postulaten würde nicht ersatzlos gestrichen, sondern in ihrer systematischen Kompetenz erhalten werden. Denn eine bloße Reduktion der Transzendenz auf Immanenz159 würde eine systematische Leerstelle in der Struktur sittlicher Selbstbestimmung schaffen. Welche exakte systematische Funktion der Transzendenz positiv zugewiesen werden kann innerhalb eines insgesamt transzendentalen Konzeptes sittlicher Handlung, wird aber erst die Philosophie der Religion und der Geschichte genauer zeigen können. Im Vorgriff kann gesagt werden: Das harmonische Einheitsmoment soll weiterhin die Realität auf einen außerhalb ihrer liegenden Fluchtpunkt hin überschreiten, aber nicht, um die Endlichkeit, aus der der Entwurf stammt, zu nivellieren, sondern um sie systematisch zu reformieren. Eine solche Lesart der Postulate rechtfertigt Religion, insoweit mit Religion die autonome Sinnverleihung, die orientierende Besinnung der Welt gemeint ist. Sie verwirft Religion, insofern diese die Postulate benützt, um mit ihnen ungedeckte Versprechen über postmortale Seinsweisen abzustützen.

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Vgl. Rei Β 54 ff. ' " V g l . Rei Β 12, Anm. 158 Vgl. Rei Β 135. 159 Die Position Silbers in: Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes bei Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 18, 1964, S. 386-407, wird von ihm vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Beck (vgl. dazu: Murphy, Jeffrie G.: The Highest Good as Content for Kant's Ethical Formalism. Beck versus Silber, Kant-Studien 56, 1965/66, S. 102-110) zu diesem Thema geklärt in: Der Schematismus der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 56, 1965, S. 253273. Diese Position wird im folgenden affirmativ aufgegriffen werden.

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Unsere Reformulierung der Postulate setzt, wie gesagt, die Gültigkeit des Abhebens ihrer transzendenten von ihrer transzendentalen Funktion voraus. Diese Gültigkeit ist bisher nur behauptet, nicht aber erwiesen worden. Sie steht und fallt damit, ob es innerhalb der praktischen Philosophie Kants möglich ist, das unbedingte Gebot des Sittengesetzes als sich am Orte des endlichen Menschen erfüllend zu denken, ohne eine endlichkeitsaufhebende Transzendenz in der Hinterhand zu haben. Mit den folgenden Überlegungen soll dazu der Nachweis erbracht werden.

1.3.5. Schematismus versus Symbolisierung Im Akt theoretischen Erkennens gelangt der Verstand zur Anwendung der Kategorien des Verstandes auf einen sinnlichen Fall durch ein Schematisieren derselben seitens der Einbildungskraft.160 So gelingt dem Verstand ein unbedingtes Urteil über bedingte Erscheinungen. Im Akt praktischen Handelns verfahrt die Vernunft umgekehrt, von Grundsätzen zum sinnlichen Fall. Ihr Ziel ist es, ihren Grundsätzen Wirklichkeit, d.h. Sinnlichkeit, zu geben. Deshalb müssen die Kategorien der Vernunft, die Formen der Freiheit, schematisiert werden. Das ist aber unmöglich.161 Gäbe es ein Schema zu den Kategorien, so wäre die Aufgabe der Sittlichkeit nicht mehr, das höchste Gut zu schaffen. Denn ein Schema bringt ein Vorhandenes nur auf den Begriff, es erzeugt es nicht. Wir würden demnach im Sittengesetz nicht die Forderung haben, das Gute zu verwirklichen, sondern das bereits umfassend existente höchste Gut als gut zu begreifen.162 Das aber kann nicht gemeint sein, wenn Kant sagt, wir müßten den Begriffen der praktischen Vernunft Wirklichkeit verschaffen, indem wir deren Begriffe durch „Analogie mit etwas Sinnlichem faßlich machen" 163 sollen. Kant schreibt: „Folglich hat das Sittengesetz kein anderes, die Anwendung desselben auf Gegenstände der Natur vermittelndes Erkenntnisvermögen, als den Verstand (nicht die Einbildungskraft), welcher einer Idee der Vernunft nicht ein S c h e m a der Sinnlichkeit, sondern ein Gesetz, welches aber doch ein solches, das an 160

Zur Schematisierung in der theoretischen Philosophie Kants ausführlich und mit umfassenden Literaturnachweisen: Busmann, Hans: Eine systemanalytische Betrachtung des Schematismuskapitels in der Kritik der reinen Vernunft, in: Kant-Studien, 85, 1994, S. 394-418. 161 Vgl. John R. Silber: Der Schematismus der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 56, 1965/66, S. 260. Ich versuche im folgenden, gemäß dem Rahmen der Analytik der reinen praktischen Vernunft, näher an Kant zu bleiben, als Silber es tut. Silber schreibt ausdrücklich, (a.a.O. S. 266) daß er Kants „Schematisierung" des Sittengesetzes ohne Rückgriff auf die Typenlehre (K.d.p.V. A 120 ff.) rekonstruieren will, allein mit Mitteln der K.d.U. und der K.r.V. Ich dagegen halte es für angezeigt, die kantischen Begriffe des Symbols und des Typus in Übereinstimmung zu bringen und im systematischen Rahmen der K.d.p.V. zu diskutieren. 162 163

Vgl. Cohen, Hermann: Kants Begründung Rei. Β 83, Anm.

der Ethik, a.a.O., S. 90.

Einñlhrung

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Gegenständen der Sinne in concreto dargestellt werden kann, mithin ein Naturgesetz, aber nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urteilskraft unterlegen kann, und dieses können wir daher den T y p u s des Sittengesetzes nennen."164 Dieser Typus zielt nicht bloß auf Verallgemeinerung von Maximen unter naturalen Bedingungen, sondern ist zugleich Moment im Begriff des höchsten Gutes. Das höchste Gut ist genau dann ein den sittlichen Willen bestimmender Begriff, wenn es diesen Willen inhaltlich konkretisieren kann. Unvermittelt ist dies nicht möglich, denn das höchste Gut ist kein konstitutiver Begriff des menschlichen Verstandes, sondern eine Idee der Vernunft. Als Idee eignet ihm keine sinnliche Konkretion. Als Idee, die durch die Modalkategorien der Freiheit zu einem notwendigen Gegenstand der praktischen Vernunft gemacht wird, muß die Idee aber eine Wirklichkeit in concreto haben. Und eine Idee in concreto nennt Kant Ideal.165 Das Ideal des höchsten Gutes hat nun, dies sagt der Begriff, Konkretion bei sich. Wie anders als heteronom kann diese in den Begriff des höchsten Gutes eingehen? Die Antwort lautet: im Ausgang vom autonomen Willen. Der autonome Wille muß sich sittlich-inhaltlich bestimmen. Da er nicht auf einen gegebenen Begriff eines höchsten Gutes hin handeln kann, muß er anstreben, das, woraufhin er von sich aus handelt, zu etwas zu machen, das dem Ideal eines höchsten Gutes entspricht. Er kann nun über das höchste Gut materiell nichts wissen, wohl aber über das normative Verhältnis von Sittengesetz und höchstem Gut. Dieses Verhältnis ist das einer qualitativen Analogie. Kant erklärt: „In der Philosophie aber ist die Analogie nicht die Gleichheit zweier q u a n t i t a t i v e n , sondern q u a l i t a t i v e n Verhältnisse, wo ich aus drei gegebenen Gliedern nur das V e r h ä l t n i s zu einem vierten, nicht aber dieses vierte Glied selbst erkennen, und a priori geben kann, wohl aber eine Regel habe, es in der Erfahrung zu suchen, und ein Merkmal, es in derselben aufzufinden." 166 Das heißt vorliegend, die Sinnlichkeit, die wir zu unseren Kategorien der Freiheit finden müssen, ist eine so noch nicht bestimmte Sinnlichkeit: eine Wirklichkeit von Sinnlichkeit, die zwar möglich, aber nicht notwendig durch die Existenz des Sittengesetzes ist. Die gesuchte Sinnlichkeit wird erst durch unsere sittlich spontane Bestimmung zu einer sittlichen Sinnlichkeit. Der Verstand gibt also ein Gesetz zur Beurteilung einer sinnlichen Gegebenheit, nicht als sinnliche Gegebenheit, sondern als Realisierung, genauer: als Typus des Sittengesetzes.167

164

K.d.p.V. A 122. „Idee bedeutet einen VernunftbegrifF, und Ideal die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens." K.d.U. Β 55. Vgl. auch Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik, a.a.O., S. 90. 166 K.d.r.V. Β 222. 167 Vgl. K.d.p.V. A 122. 165

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In diesem Fall muß eigentlich nicht mehr von einem Schema, sondern vielmehr von einem Symbol der Sittlichkeit geredet werden.168 Ein Symbol kann die gesollte Verwirklichung des Sittengesetzes repräsentieren, ohne dabei die Sittlichkeit als solche auf ihre Realisationen zu reduzieren.169 Es ist nicht sittliches Faktum an sich selbst, sondern Bedingung der Möglichkeit reflektierter sittlicher Synthesen. Der Zusammenhang von Typus und Symbol ist eng:170 ein Symbol gibt einen konkreten Typus des Sittengesetzes, wie ein Ideal eine Idee verkörpert. Ein Symbol kann die Wirklichkeit des Sittlichen nie absolut realisieren (schematisieren), und es darf diese Wirklichkeit dennoch nicht herabziehen auf etwas, das dem unbedingten Gehalt der sittlichen Forderung nicht mehr entspricht. Das heißt, wenn ein Symbol zum Beispiel sittlichen Handelns genommen werden sollte, so doch als keines, dem man durch bloßes Nachahmen entsprechen könnte. Es darf aber auch nicht nur ein Zeichen des Sittlichen sein, dessen sinnlicher Gestalt der Gehalt des Sittlichen ganz äußerlich wäre. Sondern, indem es Symbol ist, ist es zwar nicht das Intendierte selbst, aber auch nicht ein völlig anderes, sondern ein phänomenaler Hinweis auf das ihm zugrundeliegende Noumenon.171 Die Urteilskraft wird durch das Symbol angeleitet, „vermittelst einer Analogie (zu welcher man sich auch empirischer Anschauungen bedient) [...] die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden."172 Damit ermöglicht es die sinnliche Darstellung eines Möglichen mit Mitteln des Wirklichen zum Zwecke einer sittlichen Notwendigkeit. Solche Darstellung anhand einer „subiectio sub adspectum", nennt Kant später in der Kritik der Urteilskraft „Hypotypose".173 Hypotyposen sind „entweder schematisch, da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird; oder symbolisch, da einem Begriff, den nur die Vernunft denken und [dem] keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird [...]".174 Damit das 168 Vgl. John R. Silber: Der Schematismus der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 56, 1965/66, S. 265. 169 „Unsere Sprache ist voll von dergleichen indirekten Darstellungen, nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält." K.d.U. Β 257. Hervorhebungen von mir. 170 Wie schon erwähnt, sieht Silber diesen Zusammenhang leider nicht (a.a.O., S. 266) Anders aber Annemarie Pieper, die ausdrücklich darauf hinweist: „Die gleiche Analogie [sc. wie die des Symbols] liegt auch dem Kapitel „Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft" zugrunde, in welchem Kant vorschlägt, man solle „die Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligibelen Natur brauchen.", in: dies.: Kant und die Methode der Analogie, in: Kant in der Diskussion der Moderne, hrsg. v. Schönrich, Gerhard und Kato, Yasushi, Frankfurt 1996, S. 108/109. Der Zusammenhang wird bei ihr aber nicht näher untersucht. 171 Vgl. Tillich, Paul: Recht und Bedeutung religiöser Symbole, Unbedingten, Gesammelte Werke V, Stuttgart, 1964, S. 237. 172 K.d.U. Β 257. 173 K.d.U. Β 255/256. 174 K.d.U. Β 256.

in: Die Frage nach dem

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Symbol den unbedingten Begriff der praktischen Vernunft mit Mitteln der Sinnlichkeit vorstellen kann, bedarf es eines inventiven Gebrauchs der Urteilskraft, da das höchste Gut als Moment des moralischen Gesetzes noumenal ist, hier aber phänomenale Repräsentation erfahren soll. Es handelt sich hierbei um eine qualitative Analogie im oben beschriebenen Sinne: Es werden nicht die anschaulichen Komponenten der Symbole auf ein anderes Objekt übertragen, sondern das in den Symbolen veranschaulichte Verhältnis der Komponenten zum Sittengesetz. Das Symbol erfüllt sich daher nicht in der Anschauung, sondern in der Reflexion auf dieses Verhältnis.175 Nun kann natürlich nicht jede beliebige sinnliche Gegebenheit zum Symbol des Sittlichen gekürt werden. Die Reflexion, zu der das Symbol auffordern soll, wird sich nur von bestimmten sinnlichen Gegebenheiten erheben. Sie müssen die Urteilskraft geradezu herausfordern, mit Ideen der praktischen Vernunft zu arbeiten, um den Gehalt des sinnlich Gegebenen auf sinnvolle Begriffe zu bringen. Das Sinnliche muß durch eine Überforderung des Verstandes und der Einbildungskraft zu einer Überformung der gewöhnlichen Norm kommen, welche es der reflektierenden Urteilskraft nahelegt, dem Sinnlichen eine Intentionalität auf ein Nicht-Sinnliches, auf das unbedingte Sittengesetz, beizulegen. Den Ideen der reinen praktischen Vernunft eignet diese Überformung der sinnlichen Norm. Um bestimmend sein zu können, müssen sich diese Ideen zu Idealen konkretisieren, die als Symbole die noumenal intendierte Synthese veranschaulichen: die subjektiv-harmonische Einheit von Natur und Freiheit in Symbolen des vollkommenen Menschen und die objektiv-harmonische Einheit von Natur und Freiheit in Symbolen der vollkommenen Welt. Die konkrete sinnliche Gestalt dieser Symbole ist keine in der Welt oder der reinen Vernunft aufzugreifende, sondern wird ihnen je nach dem Handlungserfordernis, das sie bedienen, beigelegt: sie antizipieren die jeweils beabsichtigte endliche Verbindung von Unbedingtem und Bedingtem in unendlicher Weise. Anders gewendet: Symbole des unendlich Sittlichen sagen nur dem etwas Bestimmtes, der selber im Rahmen seiner endlichen Möglichkeiten das Sittengesetz verwirklichen will; sie werden erfordert und angemessen verstanden nur im Rahmen sittlicher Synthesen, nicht außerhalb dieser. Durch ihre Abhängigkeit vom Akt des Symbolisierens bleiben die Symbole in ihrer (auf Allgemeingültigkeit Anspruch erhebenden) Geltungskraft abhängig von den Symbolisierenden und damit indirekt von deren Lebenswelt, in die sie sich einfügen. Das zum subjektiv und objektiv höchsten Gut konkretisierte Sittengesetz wandelt sich an und mit der von ihm verwandelten Welt: es läßt sich niemals und nirgends endgültig schematisieren.176 Könnten wir das Gute schematisieren, so 175

Vgl. Pieper, Annemarie: Kant und die Methode der Analogie, in: Kant in der Diskussion der Moderne, hrsg. v. Schönrich, Gerhard und Kato, Yasushi, Frankfurt 1996, S. 106. 176 Vgl. John R. Silber: Der Schematismus der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 56, 1965/66, S. 267.

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wären wir, wie gesagt, der aneignenden Reflexion über orientierende Symbole enthoben und bräuchten nur die darin gegebenen sinnlichen Präsentationen des Guten phänomenal nachzuahmen. Dann auch könnten wir den Inhalt dieser Symbole begrifflich fixieren und diskursiv vermitteln, mithin eine feste materiale Moral schreiben. Stattdessen bleibt unsere sinnliche Erkenntnis des Sittlichen, wenn sie nicht bloß negativ ist, nur intuitiv und damit trotz ihres Allgemeinheitsanspruchs subjektiv. Die positive Bestimmung des Sittengesetzes über das Regulativ des höchsten Gutes bleibt ständige Aufgabe eines jeden, angemessene Symbole zu finden, - auch und gerade religiöse Symbole zählen hierzu,177 - und handelnd umzusetzen. Die prinzipielle Überlastung der endlichen Sinnlichkeit, die im unbedingtmoralischen Gebot dann liegt, wenn die Einheit von Natur und Freiheit als Harmonie durch eine Leistung der Subjekte erbracht werden soll, wird so aufgehoben. Das Sittengesetz muß nun nicht verwirklicht werden bis es konstitutiv-anschaulich (schematisiert) gegeben ist, was die endlichen Möglichkeiten des Menschen sprengt, sondern es muß insoweit wirklich werden, daß es sich sinnlich veranschaulicht (symbolisiert) in der sittlichen Person oder Welt. Das Bild der Sittlichkeit wird so von einem transzendenten zu einem immanenten. Anstatt mittels unanschaulicher Begriffe die absolute harmonische Wirklichkeit des Sittengesetzes als eine mit der als endlich-sinnlich erfahrenen Welt und Subjektivität inkommensurable zu entwerfen und deshalb erst im Jenseits dieser Zeit und im Jenseits dieses Raumes eine Verwirklichung der Sittlichkeit anzusetzen, wird das Subjekt so zu mundaner Sittlichkeit befähigt, indem es in den endlichen Bedingungen von Raum und Zeit die Wirklichkeit des unbedingten Sittengesetzes nicht schematisiert, sondern symbolisiert. Das Gute wird damit nicht etwa völlig einholbar. Es überschießt weiterhin regulativ unser sittliches Bemühen. Aber es erweist sich als ein in der Endlichkeit seine Bedeutung gewinnendes höchstes Gut. Das sittliche Vermögen des moralischen Subjekts wird nie unendlich sein. Aber in seiner Endlichkeit kann es dennoch zu einem symbolischen Ausdruck des Unbedingten kommen. Menschliche Vollkommenheit, als subjektive Seite des höchsten moralischen Gutes, liegt daher nicht in einem schematisch aufzugreifenden Zustand von Personen, sondern in deren Geschichte symbolischer Konkretisierungen des Sittengesetzes.178 177

Kant schreibt: „Wenn man eine bloße Vorstellungsart schon Erkenntnis nennen darf (welches, wenn sie ein Prinzip nicht der theoretischen Bestimmung des Gegenstandes ist, was er an sich, sondern der praktischen, was die Idee von ihm für uns und den zweckmäßigen Gebrauch derselben werden soll, wohl erlaubt ist): so ist alle unsere Erkenntnis von Gott bloß symbolisch; und der welcher sie mit den Eigenschaften Verstand, Wille, u.s.w., die allein Weltwesen ihre objektive Realität beweisen, für schematisch nimmt, gerät in den Anthropormorphism, so wie, wenn er alles Intuitive wegläßt, in den Deism, wodurch überall nichts, auch nicht in praktischer Absicht erkannt wird." K.d.U. Β 258. Hervorhebungen von mir. 178

Vgl. John R. Silber: Der Schematismus S. 269/70.

der praktischen

Vernunft, in: Kant-Studien 56, 1965/66,

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Vor diesem begrifflichen Hintergrund können wir die schlechte Transzendenz im Konzept der harmonischen Einheit von Natur und Freiheit ausgrenzen. Wäre nur der erlangte Status der schematisierten Sittlichkeit einer, in dem sich der endliche Mensch sinnlich befriedigt und sittlich realisiert sehen dürfte, dann wäre das Sittengesetz tatsächlich nur - mittels transzendenter Postulate - als theologisch abgestütztes aufrechtzuerhalten.179 Dann nämlich diente der kategorische Imperativ nicht dazu, den Menschen seine Autonomie und Würde fühlen zu lassen, sondern ihm seine sittliche Ohnmacht und seine Abhängigkeit von übersinnlicher Hilfeleistung vor Augen zu fuhren. 180 Die Absurdität endlichen Seins wäre nicht ein Ausdruck sittlich gescheiterten menschlichen Lebens, sondern konstitutiv für endliches Leben überhaupt. Es wäre ausschließlich über einen gnädigen, allmächtigen Weltherren zu retten. Ein solches Verständnis ist im Rahmen kritischer Transzendentalphilosophie abzulehnen. Dies ist auch Kants später eindeutig formulierte Position: „Das Tun muß als aus des Menschen eigenem Gebrauch seiner moralischen Kräfte entspringend, und nicht als Wirkung vom Einfluß einer äußeren höheren wirkenden Ursache, in Ansehung deren sich der Mensch leidend verhielte, vorgestellt werden."181 In der regulativen Orientierung an utopischen Zielen erschöpft sich der endliche Mensch nicht, sondern er erweitert sich über sie. Das, wozu er aufgerufen ist, kann er leisten: die Ausrichtung seiner inneren und äußeren Welt auf das höchste Gut. Die harmonische Einheit von Natur und Freiheit kann er sinnbildlich repräsentieren. Daß er sie nicht perpetuierend schematisieren kann, ist weder ein Manko seiner Sittlichkeit, noch ein widerspruchstiftendes Moment in der sittlichen Willensbildung, sondern angemessener Ausdruck der Endlichkeit von Willensbestimmung überhaupt. Nicht Gott,182 sondern der Mensch gerät zum Ort der regulativ-harmonischen Vereinigung des Sinnlichen und Vernünftigen. Er erfahrt sich als Instanz eines nicht selbst gesetzten Konfliktes zwischen Natur und 179 Vgl. gegen eine solche Lesart der kantischen Ethik die harsche, aber sachlich durchgreifende Kritik von: Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik, a.a.O., S. 363. 180 Dies ist die frappierende Lesart Emanuel Hirschs in seinem Aufsatz: Luthers Rechtfertigungslehre bei Kant, zuerst in: Jahrbuch der Luther-Gesellschaft 1922, S. 47 ff., später in: Lutherstudien, dort S. 104-120, insbesondere S. 114/115. 181 Der Streit der Fakultäten, A 59. 182 In Gott läßt sich sicherlich eine konstitutive Harmonie von Natur und Freiheit denken. Diese kann, muß aber nicht Einfluß haben auf die sittliche Maximenbildung, da die sittliche Aufgabe des Menschen auch ohne diesen Begriff als widerspruchsfrei und sinnhaft zu denken ist. Zur Voraussetzung der sittlichen Selbstbestimmung benötigt der Mensch Kommensurabilität von Natur und Freiheit und die Möglichkeit, das Harmonisieren beider zu symbolisieren. Daß eine Schematisierung des Guten, wie sie im theistischen Gottesbegriff angelegt ist, für sittliches Selbstbestimmen nicht erforderlich ist, heißt religionsphilosophisch gewendet, daß zwar religiöses Symbolisieren Uberhaupt, nicht aber ein bestimmtes Gottesverständnis aus der Kritik der praktischen Vernunft seine Rechtfertigung erfährt. Damit steht diese Interpretation quer zu Kants eigener Lesart seiner Theorie, die sich dem christlichen Gottesbegriff verpflichtet weiß. Vgl. dazu näher den Abschnitt praktische Gotteslehre".

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Freiheit und wird sich so seiner Doppelnatur bewußt.183 In der Selbstbestimmung über Symbole der Sittlichkeit lernt er aber gleichzeitig seine Potenz, diesen Konflikt zu bewältigen, kennen. Die Lösung der sittlichen Aufgabe liegt nicht außerhalb seiner, sondern immer neu in der in jedem sittlichen Akt anklingenden Einheit beider Welten, die das sittliche Symbol als Fluchtpunkt menschlichen Strebens repräsentiert. Indem der Mensch somit die Einlösung des Sittengesetzes unter endlich-sinnlichen Bedingungen konzipiert und dies mittels eines freien Aktes seiner Urteilskraft, gewinnt er seinen Selbststand gegenüber dem sittlichen Gebot zurück. Er selbst kann die Verwirklichung des Sittlichen sein, er selbst bestimmt die Art und Weise, wie Sittliches in Sinnliches eingeht.184 Der Mensch bestimmt das Antlitz des höchsten Gutes, nicht kraft loser Willkür, aber kraft seines sittlichen Willens. Indem die Urteilskraft das von ihr gesuchte sittliche Allgemeine nicht als Begriff denkt, sondern reflektierend entwirft, wahrt sie die Möglichkeit der steten inhaltlichen Reform der sachlichen Bestimmungen des höchsten Guts.185 Das Unbedingte wird regulativ bestimmt, nicht konstitutiv verdinglicht. Eine Auslieferung des Individuums an ein Absolutes, dessen Wert die Würde des endlichen Lebens überragt, bleibt aus, weil das höchste Gut erst als Funktion dieses Lebens Wirklichkeit erlangt. Das sittliche Subjekt findet sich gewiß im höchsten Gut wieder, da es nur unter Einbeziehung seiner privaten Subjektivität zu einem konkreten Begriff desselben kommt, der das Subjekt sich selbst in sittlich gesteigerter Form zurückgibt. Bezogen auf die Moralphilosophie heißt das: die Postulate der Unsterblichkeit und Gottes sind systematisch überflüssig und zu tilgen. Religionsphilosophisch wird daraus folgen, daß nicht der Gottesbegriff, der der Postulierung nicht bedarf, wohl aber der Gedanke postmortaler Individuiertheit, der sich, ob nun postuliert oder nicht, als eine 1

contradictio in adjecto entpuppt, aufzugeben ist. Fassen wir den bisherigen Gedankengang zusammen: Der Mensch soll Sittlichkeit symbolisiere.ι. Er muß sie sich veranschaulichen, ohne dabei das Sittengesetz in seiner Unbedingtheit durch heteronome Verwirklichungsbedingungen auf Bedingtheit herabzuziehen. Er kann sich der Postulate in ihrer transzendenten Funktion bedienen: Dann schematisiert er die Wirklichkeit des 183

Vgl. John R. Silber: Der Schematismus der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 56, 1965/66, S. 272. 184 Die „soteriologische Ohnmacht" (zum Begriff vgl. Rosenau, Hartmut: Allversöhnung - Ein transzendentaltheologischer Grundlegungsversuch, Berlin u.a., 1993, S. 41ff.) des Menschen bleibt unbehoben, bedeutet aber keinen Einwand gegen eine solche Theorie, die die umfassende Erlösung des Menschen gar nicht zum Ziel hat. Dazu unten mehr. 185 Vgl. Pieper, Annemarie: Kant und die Methode der Analogie, in: Kant in der Diskussion der Moderne, hrsg. v. Schönrich, Gerhard und Kato, Yasushi, Frankfurt 1996, S. 112. 186 Ein ausführliches Referat m.w.N. zur durchgehenden Ablehnung der Kantforschung gegenüber dem Unsterblichkeitspostulat liefert Michael Albrecht in: Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim 1978, S. 126, Fn. 380. Vgl. auch Kants späte Umwandlung des Unsterblichkeitpostulats in: A A 28, 2.2, 1091.

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Sittengesetzes unter unendlichen Bedingungen (höchstes Gut als realisierte Utopie unter den Bedingungen der Seelenunsterblichkeit und der ausgleichenden Hilfe und Gerechtigkeit Gottes). Das irreale Bild dieses höchsten Gutes setzt er sich als Fluchtpunkt voraus. Er gerät ins Überschwängliche187 und verabsolutiert sein Ideal zum Idol.188 Die Gefahr besteht, daß der Mensch in gläubiger Unterwerfung unter sein Idol die Reinheit seiner Bestimmungsgründe einbüßt, daß er seinen besonderen Weg zum höchsten Gut absolut setzt und den Weg zu einem Reich der intelligiblen Zwecke durch Fundamentalismus verbaut. Dagegen hebt sich deutlich die transzendentale Funktion der Postulate ab. Ein Bild in der endlichen Wirklichkeit kann von der reflektierenden Urteilskraft eines sittlichen Menschen als Symbol der Sittlichkeit erfaßt werden, in welchem das phänomenale Sein als intentionaler Ausdruck noumenalen Sinns aufscheint. Im Gegensatz zum fiktionalen Bild ist dieses Symbol aber nicht irreal. An diesem Symbol kann sich der sittliche Mensch das Wirken der Sittlichkeit in der endlichen Sinnlichkeit veranschaulichen. Dem im Symbol zum Ausdruck kommenden sittlichen Geist (dem Noumenon des Sittlichen) kann er nachstreben. Ihn kann er für sich realisieren. Nur dies, daß es dem endlichen Menschen möglich ist, den unbedingten Gehalt des Sittengesetzes in seinem endlichen Leben stets erneut zur Geltung zu bringen, sichern im Rahmen kritischer praktischer Philosophie die Postulate, transzendental verstanden, ab. Das sittliche Symbol stellt, - stets von neuem, eine lösbare Aufgabe. Der Mensch ist es wesentlich selbst, der dem Sittengesetz die sinnliche Wirklichkeit verleiht. Seine Reflexion ist es, die etwas Sinnliches zum Symbol des Sittlichen erhebt, wenn er auch dieses Symbol gemeinsam mit vielen anderen verehrt. Fraglich ist nur, ob er zu diesem Sachverhalt ein reflexives Verhältnis gewinnen kann, das die Wirkmächtigkeit des sittlichen Symbols nicht aufhebt. Fraglich ist, wozu später mehr, ob der Mensch begreifen kann, daß der Wert des Symbols im Noumenon, nicht im Phänomen desselben liegt. Fraglich ist, ob er also begreifen kann, daß sein Weg zum höchsten Gut nur einer unter vielen und dennoch nicht gleichgültig ist. Die nachfolgende Untersuchung, wie sich der Begriff des höchsten Gutes entfaltet, macht den Prozeß sittlicher Selbstfindung deutlicher. Sie hat auch den Zweck, anzuzeigen, daß das, was hier unter Aufbietung der systematischen Mittel sowohl der theoretischen Philosophie als auch der Kritik der Urteilskraft

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K.d.p.V. A 125. So kommt es daß, , j e länger man dieses wahre (nicht erdachte) I d e a l ansieht, [es] nur immer desto höher steigt: so daß diejenigen wohl zu entschuldigen sind, welche, durch die Unbegreiflichkeit desselben verleitet, dieses Ü b e r s i n n l i c h e in uns, weil es doch praktisch ist, für ü b e r n a t ü r l i c h , d.i. für etwas, was gar nicht in unserer Macht steht, und uns als eigen zugehört, sondern vielmehr für den Einfluß von einem andern und höhern Geiste halten; worin sie aber sehr fehlen, weil die Wirkung dieses Vermögens alsdann nicht unsere Tat sein, mithin uns auch nicht zugerechnet werden könnte, das Vermögen dazu also nicht das unsrige sein würde." Der Streit der Fakultäten, A 93. 188

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ausgeführt wurde, von Kant bereits in der Kritik der praktischen Vernunft angelegt ist. Die hier vorgestellte Lesart erweist sich somit als keine extern an einen anders systematisierten Kontext herangetragene, sondern als eine, die aus dem System der reinen praktischen Vernunft selbst schlüssig hervorgeht.

1.3.6. Die Varianten des höchsten Guts Die inhaltliche Gestaltung des Begriffes des höchsten Gutes ist, wie bereits erwähnt, nicht konstitutiver Art, als daß bestimmende Urteilskraft Handlungen als Fälle unter diesen Begriff subsumieren könnte. 189 Sondern das höchste Gut wird praktisch bestimmt, indem Maximen, beurteilt am Typus einer nach Freiheitsgesetzen verlaufenden Sinnenwelt, sich als zweckmäßig zu einem möglichen Reich der intelligiblen Zwecke erweisen. 190 Die Seinsgesetze sind als systematische Ordnung umfassender Zweckmäßigkeit das Modell für eine sittliche Natur, in der alles dem Sittengesetz folgt, nicht durch fremde Macht genötigt, sondern jedes um seines wirklichen Selbst willen. 191 Dies ist der angemessene Gebrauch der kantischen Zwei-Welten-Lehre. Das Individuum setzt sich als intelligibles Wesen in eine Welt intelligibler Wesen ein und befragt mittels der kategorischen Verallgemeinerung seine Handlungsentwürfe, ob sie sich zweckmäßig in diese Welt einfügen, bzw. es entwirft sie erst unter diesem Horizont. „Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein S t a n d p u n k t , den die Vernunft sich genötigt sieht außer den Erscheinungen zu nehmen, u m s i c h s e l b s t a l s p r a k t i s c h z u d e n k e n , welches, wenn die Einflüsse der Sinnlichkeit für den Menschen bestimmend wären, nicht möglich sein würde f...]." 192 Es handelt sich also um einen methodisch-funktionalen, nicht um einen ontologischen Gebrauch der beiden Weltperspektiven. 193 So sichert die Typik der reinen praktischen Urteilskraft das ethische Projekt nach zwei Seiten ab. Einmal bewahrt sie vor dem „E m ρ i r i s m der praktischen Vernunft, der die praktischen Begriffe, des Guten und des Bösen, bloß in Erfahrungsfolgen (der sogenannten Glückseligkeit) setzt." Zum anderen bewahrt die Typik „auch vor dem M y s t i ζ i s m der praktischen Vernunft, welcher das, was nur zum S y m b o l diente, zum S c h e m a macht, d.i. wirkliche und doch nicht sinnliche Anschauungen (eines unsichtbaren Reiches Gottes) der Anwendung der

'"Vgl. K.d.U. H 17. Vgl. K.d.p.V. A 124. 191 Vgl. Pieper, Annemarie: Kant und die Methode der Analogie, a.a.O., S. 109. 192 G.z.M.d.S. Β 119. " 3 Vgl dazu: Kaulbach, Friedrich: Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, Berlin u.a. 1978, S. 197 und erneut: Lenk, Hans: Freies Handeln als Interpretationskonstrukt. Zu Kants Theorie des normativen Handelns, in: Kant in der Diskussion der Moderne, hrsg. v. Schönrich, Gerhard und Kato, Yasushi, Frankfurt 1996, S. 257. 190

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moralischen Begriffe unterlegt, und ins Überschwängliche hinausgreift."194 Neben der epistemischen Subreption, als einer „Verwechselung einer Achtung für das Objekt statt der für die Idee der Menschheit in unserm Subjekte,"195 fuhrt es zu einem moralischen Scheitern, wenn der regulative Charakter des angenommenen höchsten Gutes als konstitutiv verkannt und zum Ausgangspunkt der sittlichen Selbstbestimmung gemacht wird.196 Mit einer solchen Umwendung der Bestimmungsgründe wird der Boden der kantischen Theorie verlassen, deren Eigentümlichkeit es ja ist, den Begriff des Guten aus dem Begriff des praktischen Gesetzes folgen zu lassen und nicht umgekehrt.197 Die meisten Interpretationsschwierigkeiten des Begriffs des höchsten Gutes liegen darin, daß er sich - ähnlich den Postulaten - je nach systematischem Ort in verschiedene Bedeutungsgehalte entfaltet.198 So nennt Kant Grund, Objekt, regulative Idee, Zweck, Produkt und Endzweck des sittlichen Handelns bisweilen das höchste Gut. Hierin vermengen sich die praktische Vernunft, die von dieser notwendig hinzuziehende reflektierende Urteilskraft und die von sich aus tätige teleologische Urteilskraft. Und dadurch vermengen sich transzendentale und transzendente Funktion des höchsten Gutes. Um sie auseinanderzuhalten, ist hier zu sondern: Das höchste Gut ist Grund des sittlichen Handelns, insofern mit ihm das intelligible Substrat gemeint ist, das die Möglichkeit eines sittlichen Wirkens in der Sinnenwelt überhaupt sichert. Als Objekt des Handelns meint der Terminus höchstes Gut diejenige Synthesis, die sich im sich unbedingt bestimmenden Willen auf einen Zweck hin vollzieht, welcher Wille zwar Endlichkeit enthält, aber nicht durch diese, sondern durch das als „oberstes Gut" 199 in ihm enthaltene Sittengesetz bestimmt ist.200 In beiden Fällen ist das höchste Gut ein strukturelles Abstraktum und ein Begriff und Moment der praktischen Vernunft selbst, die sich als synthetisch a priori gesetzgebend begreift.201 Beide Male setzt der Begriff nicht mehr als die Kommensurabilität von Natur und Freiheit voraus und verläßt den

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Beide Stellen: K.d.p.V. A 125/126. K.d.U. Β 97. Vgl. auch K.d.p.V. A 209. 196 In M.d.S. TL A 106 gibt Kant dem den Namen der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe." 197 Vgl. K.d.p.V. A 113/114. 198 Zentral K.d.p.V. A 223-225. Differenzierte Untersuchungen zu den verschiedenen Schattierungen des Begriffs finden sich bei: Murphy, Jeffrie G.: The Highest Good as Content for Kant's Ethical Formalism. Beck versus Silber, in: Kant-Studien 56, 1965/66, S. 102-110. Silber, John R.: Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes bei Kant, in: Zeitschrift fiir philosophische Forschung 18, 1964, S. 386-407. Yovel, Yirmiahu: The Highest Good and History in Kant's Thought, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 54, 1972, S. 238-283. 199 K.d.p.V. A 200, A 214. 200 Vgl. Langthaler, Rudolf: Kants Ethik als "System der Zwecke" a.a.O., S. 371/372. 201 Vgl. Silber, John R.: Der Schematismus der praktischen Vernunft, a.a.O., S. 259: Aus dem Begriff eines moralischen Gesetzes überhaupt wird vor dem Hintergrund der Struktur endlichen Handelns „durchaus noch auf theoretischer Ebene der Begriff des höchsten Gutes" gewonnen. 195

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Rahmen des kritischen Systems nicht. Dann ist das höchste Gut auch regulative Idee religions- und geschichtsphilosophischen Charakters, die eine dem Gehalt des Begriffs des höchsten Gutes unablässig sich annähernde Menschengemeinschaft vorstellt.202 Die sinnliche Wirklichkeit dieser Idee kann nicht postuliert werden. Daß aber eine Annäherung an sie in der Realität überhaupt möglich sei, stellt praktische Vernunft sicher.203 Als sittlich-notwendiger Zweck des Handelns (Harmonie) ist das höchste Gut zu nennen, insofern sich ein endlicher menschlicher Wille unter Zuhilfenahme seiner reflektierenden Urteilskraft mittels dieser regulativen Idee sittlich konkret bestimmt. Dann nimmt das sittliche Subjekt den Gehalt der Idee in Form eines bestimmten Zweckes in seinen endlichen Willen auf. Auch in diesen beiden Fällen ist der konkretisierende Gebrauch der Urteilskraft sittlichkeitsermöglichend. Das hinzugedachte Transzendente wird als Regulativ der Diesseitigkeit transzendental verwendet. Die Suspension der Endlichkeit im transzendenten Regulativ ist nicht Selbstzweck, sondern zurückgebunden an die Reformierung der Endlichkeit anhand eben dieses Regulativs. In eine andere Klasse gehören die folgenden Lesarten des Begriffs des höchsten Gutes: Als Produkt sittlichen Handelns, als realisierte Harmonie von Natur und Freiheit, tritt das höchste Gut genau dann in sinnliche Erscheinung, wenn eine göttliche Macht dem endlichen menschlichen Bemühen beitritt und das höchste Gut realisieren hilft. 204 Und daß es in unserer Lebenswelt zu einer solchen Schematisierung des Ideals des höchsten Gutes kommt, ist die Intension des höchsten Gutes - als Begriff des objektiven Endzwecks menschlichen Seins, wie ihn die von sich aus tätige teleologische Urteilskraft entwerfen kann.205 Die teleologische Reflexion allerdings, die das höchste Gut als sinnliches Produkt sittlichen Handelns und dieses Produkt wiederum als Endzweck der Welt („Endzweck der Schöpfung" 206 ) ansieht, ist kein transzendentales Moment des sittlichen Vollzuges mehr. Sie tritt äußerlich hinzu, ist regulative Idee der Urteilskraft, nicht der praktischen Vernunft: sie kann nicht den epistemischen Status eines praktischen Postulates beanspruchen. Wird sie als objektive Teleologie theoretisch-konstitutiv oder praktisch-konstitutiv gebraucht, verdirbt sie die theoretische oder praktische Selbstbestimmung. Die Endzwecklehre, die keine eigenständige sittliche Funktion hat, ist aus der kantischen Moralphilosophie auszusondern, damit nicht durch sie die Autonomie des moralischen (und auch des religionsphilosophischen) Projektes gefährdet ist. Diese Aussonderung ist negativ

202

Vgl. Yovel, Yirmiahu: The Highest Good and History in Kant's Thought, a.a.O., S. 239. Vgl. K.d.p.V. A 261; K.d.U. Β 422, Anm. 204 Vgl. Blumenberg, Hans: Kant und die Frage nach dem gnädigen Gott, in: Studium Generale 7, 1954, S. 568. 205 Vgl. Landgrebe, Ludwig: Die Geschichte im Denken Kants, in: Studium Generale 7, 1954, S.540/541. 206 K.d.U. Β 462, Anm. 203

Einführung

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bereits vor dem Hintergrund der Theorie der sittlichen Symbolisierung möglich. Ergänzend kann die Untersuchung der Religions- und Geschichtsphilosophie die positive Funktion der Teleologie näher beleuchten. Dort erhalten die transzendenten Momente des höchsten Gutes ihre endgültige und produktive Funktion und Stelle im Ganzen der Theorie. Nun kann die Struktur der nachfolgenden Untersuchung plausibel gemacht werden. Es wird die Vermittlung des Sittengesetzes durch die Kategorien der Freiheit und die Bestimmung des Sittengesetzes in Zwecken in den jeweiligen Formen der Verbindung von Sinnlichkeit und Freiheit konstruktiv gesondert untersucht werden. So gelangen wir im Innern zur Gesinnungsethik als vermittelnder und zur Zweckeethik als bestimmender sittlicher Handlung. Und im Feld äußerer Handlungen werden Recht und Politik als freiheitsvermittelnde und freiheitsbestimmende Funktionen äußerer Sittlichkeit unterschieden. Die Funktion des höchsten Gutes und der Symbole im inneren und äußeren Handeln wird im Rahmen der Religionsphilosophie und der Geschichtsphilosophie bestimmt werden können. Die begrifflichen Differenzierungen (Vermittlung und Bestimmung / inneres und äußeres Handeln) helfen, exakt aufzuzeigen, wo und wie die Religion sittliche Handlungen beeinflußt. Das Verhältnis von Unabhängigkeit und Zugehörigkeit zur praktischen Philosophie, das die Religion bei Kant einnimmt, wird an der Funktion sichtbar, die sie im Vollzug sittlicher Selbstbestimmung wahrnehmen soll.201 Es wird sich zeigen, daß durch die regulative Konzeption des höchsten Gutes und seiner Symbole die in der Konstruktion gesonderten Momente des Sittengesetzes in die Einheit einer sittlichen Handlung zu bringen sind.

207

Vgl. Rei Β (Vorrede I) III, IV, sowie K.d.U. Β 476 u.ö.

2. Durchführung 2.1. Inneres Handeln Während es Aufgabe der Ethik ist, sittliche Willensbestimmung anzuleiten, ist es Aufgabe der Theorie der Ethik zu erklären, wie reiner Wille die Willkür sittlich bestimmen kann. Dazu wird im folgenden das Phänomen des sittlich inneren Handelns in ein gesinnungsethisches und ein zweckeethisches Handeln aufgeteilt. Die Unterscheidung ist konstruktionslogisch bedingt. Sie will die unterschiedlichen Aufgaben, die der inneren Sittlichkeit aus Vermittlung und Bestimmung des unbedingten Sittengesetzes erwachsen, getrennt in den Blick bekommen und anhand beider die Verflechtung von Religion und Moral im sittlichen Subjekt verdeutlichen. Sie fuhrt damit eine Anwendung der in der vorangegangenen Untersuchung herausgestellten Systembegriffe auf das ethische Handeln durch. Die Vermittlung des Sittengesetzes mittels der Kategorien der Freiheit und die Bestimmung des Sittengesetzes mittels des höchsten Gutes werden nun inhaltlich ausgezeichnet als Weisen der moralischen Selbstbestimmung des Subjekts. Die hier zugrundegelegte Trennung der Moral in einen auf die moralische Gesinnung und einen auf die sittlichen Zwecke ausgerichteten Teil findet sich bei Kant in der Einleitung zur Tugendlehre der Metaphysik der Sitten. Dort trennt er die ethische Pflicht überhaupt einerseits in die Tugendverpflichtung, die nur eine sei: die reine Gesinnung hervorzubringen, und andererseits in die Tugendpflichten, die zu der Verwirklichung der Tugendzwecke mahnen.208 Die Selbstbestimmung der Vernunft im Medium der inneren Sinnlichkeit findet in den ethischen Disziplinen nicht ihren Abschluß. Sie ist verwiesen auf eine das sittliche Handeln ordnend überformende Perspektive: die Religion als Reflexionsform innerer Sittlichkeit, über die das sittliche Subjekt zur inneren Einheit seines sittlichen Bewußtseins (Charakter209) und des auf ihm gegründeten Lebenswandels kommt.

208

Vgl. M.d.S. TL A 56. „Die Gründung eines Charakters aber ist absolute Einheit des inneren Lebenswandels überhaupt." Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 271.

209

Prinzips

des

Durchführung

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2.1.1. Gesinnungsethik Die sittliche Gesinnung wird durch die Funktionen der Kategorien der Freiheit - Imputation und Formung von Handlung - bestimmt.210 Im Falle unsittlichen Handelns ermöglichen sie die Zurechnung einer inneren Handlung als durch Freiheit verantwortet, im Falle sittlichen Handelns realisieren sie sich als Formen der Freiheit in der sittlichen Selbstbestimmung. Es ist nicht zufallig so, daß einige Formulierungen des kategorischen Imperativ sich als Reformulierungen der Kategorientripel lesen lassen.211 Die Naturgesetzformel lehnt beispielsweise an der Kategoriengruppe der Quantität an, die Zweckreichformel ist an den Kategorien der Relation orientiert.212 Entscheidend für uns ist, daß so der Zusammenhang des sittlichen Gebotes mit seiner Repräsentationsform, dem transzendentalen Syllogismus, sichtbar wird, mithin die Rückfuhrbarkeit der Gesinnungsethik auf den kategorischen Imperativ.213 Dies ist zu zeigen anhand der Frage nach der Möglichkeit einer syllogistischen Repräsentation der Gesinnungsethik - als Subsumtion innerer Selbstbestimmung unter Freiheitsformen. Gesetzgeber ist die reine praktische Vernunft als Wille, Richter die bestimmende Urteilskraft, die das einzelne innere Geschehen unter die formalen Regeln bringt, und Ausführende ist die endliche Willkür. Gemäß der Satzlogik: Im Obersatz gibt der Wille das allgemeine Gesetz, im Untersatz stehen mit den Kategorien der Freiheit die formalen Bedingungen bereit, unter die in der Konklusion die einzelne innere Willkürbestimmung gebracht wird.214 Das Ergebnis ist der kategorische Imperativ „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" 215 als Imperativ der Gesinnungsethik: „Handle pflichtmäßig aus Pflicht"™ den Kant aber, wie alle anderen besonderten Formulierungen des kategorischen Imperativs, unter dem Vorbehalt der Zusammenstimmung mit der allgemeinen Form, die Kant die 'strengere' nennt, beläßt. Warum Kant die einzelnen Imperative nicht aus dieser Rückverpflichtung entläßt, ja, warum er sie

210

Vgl. auch M.d.S. Vigilantius (1793/94), AA 27, 559 ff. und hier S. 25. Vgl. z.B. Kaulbach, der in seinem Kommentar zur G.z.M.d.S. an mehreren Stellen versucht, die einzelnen Formulierungen des kategorischen Imperativs an die verschiedenen Kategoriengruppen zurückzubinden, vgl. ders.: Immanuel Kants 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten'. Interpretation und Kommentar. Zweite unveränderte Auflage, Darmstadt 1996, S. 82f., 97f., 145ff. 212 Vgl. Kaulbach ebd. Andere Ansicht: Beck, Lewis W.: Kants "Kritik der praktischen Vernunft". Ein Kommentar. Dritte unveränderte Auflage, München 1995.S. 143ff. Andere Ansicht: Beck, Lewis W.: a.a.O. S. 145f. 213 Zur Bedeutung der Syllogistik für die Systematik der kantischen Argumentation vgl. Picht, Georg: Kants Religionsphilosophie, Stuttgart 1985, S. 119ff. 214 Vgl. M.d.S. TL A 99. 215 G.z.M.d.S. A 52. 216 M.d.S. TL A 23. Hervorhebung von mir. 211

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Durchführung

in der Kritik der praktischen Vernunft mehr noch als in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten an den allgemeinen kategorischen Imperativ zurückbindet, wird eine kurze Überlegung zur Möglichkeit einer kategorialen sittlichen Formenlehre der inneren Willkürbestimmung zeigen. Nach Kant kann keine solche Formenlehre gegeben werden. Entscheidend dafür ist, daß eine empirische 217

Psychologie als strenge Wissenschaft nach Kant nicht möglich ist: „Wir verfahren überhaupt methodisch durch Observieren oder Experimentieren. Das erste ist schwer und das letztere unmöglich; denn das Experiment, was wir machen, ändert schon unsern Gemütszustand."218 Es ist für uns schlechterdings nicht auszumachen, was genau uns empirisch motiviert,219 und ob wirklich das, was wir als Auftreten des transzendentalen Selbst am Orte des empirischen Selbst identifizieren: das Bewußtsein des Sittengesetzes als Faktum der Vernunft, Bestimmungsgrund unserer Gesinnung ist. Diese Uneinsehbarkeit liegt darin, 110 daß hier dasselbe empirische Ich Untersucher und Untersuchter zugleich ist. Man hat beim Menschen keinen objektiven, sondern nur einen subjektiven Zugriff auf die freiheitswidersprüchlichen Formen der „inneren Hindernisse (eines bösen in ihm genistelten Willens)."221 Die Unfähigkeit des empirischen Ichs, eine theoretische Selbstbeschreibung von der Qualität eines allgemeingültigen Erkenntnisurteils zu leisten, ist der technische Grund dafür, daß man das Ich in Ansehung der Moralität nach seiner Subjektivität nehmen muß: „Wenn aber jemand sich bewußt ist, nach Gewissen gehandelt zu haben, so kann von ihm, was Schuld oder Unschuld betrifft, nichts mehr verlangt werden."222 So ist die Lehre von der Gesinnungsethik nicht in jenem Sinne doktrinaler Teil der Metaphysik der Sitten, wie es die verbindlich zu formulierende Zweckeethik ist.223 Dem korrespondiert der Begriff von der sittlichen Würde des Gewissens. Sittlichkeit in der Gesinnung besteht ja eben darin, daß man selbst und aus freien Stücken sich unbedingt sittlich bestimmt. Einem jeden anderen, der uns immer nur gemäß zeitlich-äußeren Bedingungen auffassen kann, ist darüber (über das Vorliegen eines unbedingten Grund-Folge-Verhältnisses von Sittengesetz und moralisch autonomer Willensbe217

Vgl. Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz' und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat?, A 67. 218 Metaphysik-Vorlesung 1792/93, Ziff. 150, in: Kowalewski, Arnold: Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants, München 1924, Neudruck Hildesheim 1965, S. 602. 219 Das Dilemma des Menschen als Selbstbeobachter ist, daß „wenn die Triebfedern in Aktion sind, er sich nicht beobachtet, und wenn er sich beobachtet, die Triebfedern ruhen." Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A XI. 220 Vgl. M.d.S. TL A 100. 221 M.d.S. A 104. 222 M.d.S. TL A 39. 223 Die Paragraphen 13-18 der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten enthalten keine doktrinale Bestimmung, wie eine gute innere Gesinnung konkret auszusehen habe, sondern eine Reflexion auf die Bedingungen der prinzipiellen Möglichkeiten die eigene Gesinnung zu beeinflussen; sie gehören mithin nicht zur Ethik, sondern zur Theorie der Ethik.

Durchführung

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Stimmung) ein gültiges Urteil weder möglich noch erlaubt. Entscheidend ist und bleibt das subjektive Gewissen als „Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist."224 Nun muß sich das sittlich verpflichtete empirische Ich dennoch bei seiner sittlichen Selbstbestimmung objektiv orientieren können, und das tut es, laut Kant, mit religiösen Mitteln. In Gewissensfragen setzt es sein transzendentales Selbst aus sich heraus und stellt es sich als göttlichen Richter gegenüber, um zu überprüfen, ob es mit seiner Gesinnung vor ihm bestehen könne. „Also wird sich das Gewissen des Menschen [...] einen anderen [...] als sich selbst zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich im Widerspruch stehen soll."225 Im Widerspruch mit sich stünde das Ich, wenn es als „derselbe Mensch (numero idem)" 226 Richter und Kläger wäre und die Unabhängigkeit des Urteils unterliefe. Die empirisch Anderen fallen in Gesinnungsfragen falsche, man selbst fallt parteiliche Urteile. Der sittliche Richter muß dagegen unbestechlich und allwissend zugleich sein. Kant versucht deshalb zu zeigen, wie das Subjekt sich selbst gegenüber im Gewissen einen neutralen Standpunkt gewinnen könne: „Diese ursprüngliche intellektuelle und (weil sie Pflichtvorstellung ist) moralische Anlage, G e w i s s e n genannt, hat nun das Besondere in sich, daß ob zwar dieses sein Geschäft ein Geschäft des Menschen mit sich selbst ist, dieser sich doch durch seine Vernunft genötigt sieht, es als auf das Geheiß e i n e r a n d e r e n P e r s o n zu treiben."227 Der sittliche Akteur soll sich in der Gewissensprüfung dazu die sittliche Tugendverpflichtung als „göttliches Gebot" repräsentieren. Dann kann die bestimmende Urteilskraft sozusagen 'von oben' die Gesinnung daraufhin untersuchen, ob sie Fall des negativ-formalen kategorischen Imperativs der Gesinnungsethik ist: „Handle pflichtmäßig aus Pflicht." 228 In der Orientierung am göttlichen Richter, dem „Herzenskündiger", übergibt das empirische Ich das Urteil über sich dem am anderen Ort vorgestellten transzendentalen Subjekt und vermeidet so, Richter in eigener Sache zu sein. „So wird das Gewissen als subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen." 229 Diese Selbstüberschreitung befreit das Subjekt, von den ihn ansonsten heteronomisierenden endlichen Bedingungen, in denen sein Handeln immer schon steht, zu einem unbedingten und sittlich-autonomen Urteil über sich selbst. Die subjektive Seite dieser sittlichen Selbstgestaltung, „die Gewissenhaftigkeit (welche auch religio genannt wird) [ist] als Veranwortlichkeit vor einem von uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen (der

224 225 226 227 228 229

Rei Β 287. M.d.S. TL A 100. Hervorhebung von mir. M.d.S. T L A 100. M.d.S. T L A 100. M.d.S. TL A 23. M.d.S. A 101/102.

Durchführung

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moralisch-praktischen Vernunft) sich vorzustellen".230 Der sittliche Mensch übersteigt zum Zwecke der sittlichen Selbstverwirklichung sein privates forum internum auf ein forum internum publicum hin, vor dessen Urteil er sich gerechtfertigt finden will. „In diesem ( p r a k t i s c h e n ) Sinn kann es also lauten: Religion zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst."231 Die transzendentale Selbstvergewisserung des praktischen Bewußtseins vollzieht sich nach Kant also mittels des Transzendenten. Dieser Punkt ist näher zu beleuchten. Warum wählt Kant - ansonsten um möglichste Autonomie der Moral besorgt - hier den Übergang zur religiösen Metaphorik? Es ist wenig wahrscheinlich, daß er nur habe irgendein Bild geben wollen, wie gesinnungsethisch gehandelt werden solle. Dann nämlich müßte die Figur des göttlichen Richters und des himmlischen Herzenskündigers ebensogut gegen ein mundanes Vorbild vertauscht werden können. Dies ist aber nicht der Fall, wie nachstehende Überlegungen verdeutlichen. Jedem endlichen Subjekt stellt sich in der Gewissensgestaltung ein Problem 'ethischer Asymmetrie ', das immanent nicht zu lösen ist. Es entsteht folgendermaßen: Handeln, sittliches wie unsittliches, geht notwendig aus einem Entwurf hervor, der sich auf ein ungewisses Zukünftiges bezieht. Kein Handelnder hat im Moment der Handlung Gewähr dafür, daß sich die in und mit seiner Handlung beabsichtigten Zwecke erfüllen, daß sich die von ihm in die Handlung gelegten Energien und Kräfte für ihn auszahlen werden. Insofern besteht immer ein Handlungsrisiko und - zum Zeitpunkt der Handlung - eine Asymmetrie aus Aufwand und Entschädigung. Müßte ein Handelnder davon ausgehen, daß sich sein Projekt garantiert nicht werde realisieren lassen, würde er es unterlassen, sich im Bemühen darum zu erschöpfen. Ansonsten würde er sich im Selbstwiderspruch empirisch auflösen. Hierin liegt nichts Geheimnisvolles, es ist lediglich die Konsequenz einer bedingten Welt, die zwar auf der Kommensurabilität von Natur und Freiheit aufbaut, aber deswegen noch lange keine Harmonie der beiden darstellt. Das ist auch jedem Handelnden bewußt. Man geht ja willentlich vorübergehende Asymmetrien ein, um der damit verfolgten Zwecke willen. Ob nun die verfolgten Zwecke sittlicher oder unsittlicher Natur sind, jedenfalls sind Menschen empirisch in der Lage, sich vernünftig für das Eingehen von Asymmetrien zu entscheiden. Und da sittliche Glückwürdigkeit und sinnliche Glückseligkeit auf begrifflich inkommensurablen Ebenen stehen, ist ein direkter Selbstwiderspruch in einer asymmetrischen Selbstgesetzgebung, zum eigenen sinnlichen Nachteil sittlich zu sein, auf den ersten Blick nicht zu sehen. Hieraus allein erhellt schon, daß es ein ungenügendes Unternehmen ist, den Gottesbegriff in die praktische Philosophie einfuhren zu wollen mit dem Argument, er sei durch die Asymmetrie von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit 230 231

M.d.S. A 103. M.d.S. TLA 110.

Durchfìlhrung

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in der Welt 'notwendig' gemacht. Ein Auseinanderfallen von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit ist konstitutiv fur die endliche Welt. Und ohne daß gezeigt ist, daß diese gewöhnliche Asymmetrie (Mangel an Harmonie) einen Widerspruch zum Sittengesetz bildet, - was so nicht der Fall ist -, ist es eine petitio principii aus der (wohl zuzugestehenden) Ungerechtigkeit des Weltenlaufs auf die Notwendigkeit einer göttlichen Ausgleichsmacht zu schließen.232 Nun läßt Kant es als unbestreitbar gelten, daß der Mensch als endliches Wesen notwendig und ständig sein eigenes Wohlergehen zum Zwecke hat. Kant faßt sämtliche Aspekte der Wohlfahrt, Gesundheit, des emotionalen Glücks und der sinnlichen Lust unter den einen Begriff der Glückseligkeit.233 Zwar unterscheidet er gemäß der philosophischen Tradition zwischen einer verfeinerten Sinnesart und gröberen Sinnesfreuden, er macht aber keine qualitative Differenz zwischen ihnen auf. Alles dies ist Glückseligkeit, der die endlichen Wesen notwendig bedürfen. Der Mensch als endliches Wesen wird zwangsläufig seine Glückseligkeit verfolgen und dazu bisweilen quantitative Asymmetrien aus sinnlichem Aufwand und sinnlichem Erfolg eingehen. Durch diese Struktur negiert sich der Mensch keineswegs, im Gegenteil: nur so positiviert er sich in der Welt. Nur durch Vorsorge, Planung und gelegentlichen Verzicht kann er sich einer veränderlichen Umwelt gegenüber durchhalten. Das zeitverechnende Kalkül mit der Zukunft ist es, das die Bilanz solchen Handelns positiv beläßt. Gegenüber dieser gewöhnlichen, handlungsstrukturellen Asymmetrie kennt ein jeder sittlich Handelnde aber auch ein näherhin ethisches Asymmetrieverhältnis. Die ethische Asymmetrie ist - im Gegensatz zur gewöhnlichen - keine, die ein vernünftiger Mensch als solche bejahen könnte. Wie der unsittlich Handelnde kennt der sittlich Handelnde die Bedingungen der Welt in etwa, unter denen sich phänomenal seine Handlung vollziehen wird. Er kann und muß abschätzen, welche Chancen sein Unternehmen hat, welche Folgen es hervorrufen wird, welche Bedeutung es für ihn als phänomenal-zeitliche Existenz gewinnen wird.234 Nun ist es einem 232

Diesen Einwand formulierte ähnlich bereits Ephraim Gotthold Dominici in einem Brief an Kant vom 28 Juli 1796: „Nun glaube ich berechtigt zu seyn, nach dem Grunde des Satzes: Ich muß glückselig werden können [...] zu fragen. Und diesen Grund finde ich nicht. [...] [So] meine ich fragen zu müssen, was uns berechtige, [diese Voraussetzung] gleichsam als Axiom anzunehmen, da, wenn kein Gott ist, das Gegentheil desselben ganz wohl möglich ist? Die Antwort auf diese Frage finde ich nirgends. Ich halte deswegen die Ethicotheologie für unbefriedigend." AA12, 8891. 233

„Glückseligkeit" wird von Kant als Sammelbegriff dieser sinnlichen Befriedigung eines jeden endlichen Vernunftwesens eingeführt. Sie umfaßt „die Befriedigung aller unserer Neigungen (so wohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als auch intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)." K.d.r.V. Β 834. Vgl. zu den verschiedenen Versionen des Terminus auch: Sala, Giovanni B.: Kant über die menschliche Vernunft - Die Kritik der reinen Vernunft und die Erkennbarkeit Gottes durch die praktische Vernunft, Weilheim-Bierbronnen, 1993, S. 117-121. 234

Er tut dies mittels der „Vorhererwartung (praesagitio), [...] [die] ein durch Reflexion über das Gesetz der Folge der Begebenheiten nach einander (das der Kausalität) erzeugtes Bewußtsein des Künftigen" ist. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 100.

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Durchführung

endlichen Wesen nicht nur sinnlich vonnöten, sondern auch sittlich zukommend, seine Glückseligkeit zu verfolgen. Die Glückseligkeit umfaßt den vernünftigen Selbsterhalt und den sittlich berechtigten Lebensgenuß. Eine Welt, in der der Gute leidet und der Böse frohlockt, wird nicht nur als unangenehm, sie wird auch als ungerecht empfunden. Eine solche Welt ist unsittlich und von keinem sittlichen Willen anzuerkennen. Es entspricht daher bereits der sittlichen menschlichen Konstitution, auf eine Symmetrie von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit in der Welt zu drängen. Hierin liegt der entscheidende Punkt, der die kantische Theorie vom Eudämonismusverdacht befreit. Zwar ist bereits jede Situation, in der Glückseligkeit und Glückswürdigkeit nicht gänzlich harmonisieren, asymmetrisch zu nennen. Doch nicht darin liegt das eigentliche Problem ethischer Asymmetrie. Denn was hindert begrifflich einen sittlichen Menschen, auf die Gefahr weltlicher Nachteile hin eine sittliche Tat zu begehen? Es ist nicht widersprüchlich zu wollen, daß ein jeder jedenorts die sichere Sittlichkeit dem zweifelhaften Lebensglück vorziehe. Jedenfalls ist auch solches Handeln empirisch wirklich, und kann daher nicht unmöglich sein. Ethisch asymmetrisch und mithin vernunftwidersprüchlich ist erst eine strukturelle Kontradiktion dieser Komponenten zu nennen, die von keinem Vernunftwesen anerkannt werden kann. Nun muß sich der weltkundige Mensch eingestehen, daß die Verhältnisse der Welt des öfteren so sind, daß es gerade die sittliche Tat ist, die den Menschen um den Selbsterhalt bringt. Es ist ja nicht nur so, daß die Glückseligkeit in der Welt ungleich und allem Anschein nach zufällig und nicht nach sittlicher Würde verteilt ist. Sondern vielmehr scheint es bisweilen so, daß es gerade die sittlich-glückswürdige Lebensweise ist, die den anständigen Menschen vor dem Hintergrund einer depravierten Umwelt um seinen berechtigten sinnlichen Selbststand bringt. Sollte also ein endliches Wesen angesichts dessen eine durchgehend sittliche Willens- und Handlungsbestimmung nach immanenten Bedingungen beurteilen: es würde sie verwerfen müssen. „Denn mit der Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) anderen ihre zu befördern, würde an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte."235 Eine Situation, wo das glückswürdige Handeln nur als personale Negation des sittlich Handelnden möglich scheint, ist ethisch asymmetrisch zu nennen. Zu wiederholen ist, daß es hier nicht um quantitativ anzusetzende Asymmetrien von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit geht, sondern um qualitative. Quantitative Asymmetrie sinnlicher Aufwendung und sinnlichen Gewinns kann ohne Selbstwiderspruch gewollt sein. Es ist nicht die quantitative Perspektive von Aufwand und Entlohnung, die ein Verhältnis ethisch asymmetrisch macht, sondern die qualitative Perspektive von Sittlichkeit und Selbstnegation. Ansonsten könnten zum Beispiel Eltern-Kind-Verhältnisse überhaupt nicht erklärt werden. 235

M.d.S. TL A 27.

Durchführung

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An diesem Beispiel wird deutlich, daß selbst ein Handeln, welches quantitativ extrem asymmetrisch, im Sinne von: sinnlich unbelohnt, ist, von seiner Qualität her keineswegs ethisch asymmetrisch zu nennen wäre. Denn gerade in der Sorge um die eigenen Kinder gewinnt sich der Erwachsene ja als sinnhaftes Subjekt zurück, anstatt sich durch die Sorge zu negieren. (Auch wenn diese Selbsterweiterung nicht der Bestimmungsgrund elterlicher Sorge sein dürfte.) Von einer qualitativen ethischen Asymmetrie ist erst dann zu sprechen, wenn die sittliche Handlung in ihren phänomenalen Folgen eine noumenale Negation des sinnlichen Subjekts bedeutet. Dann sieht sich ein und dieselbe sittliche Person, die durch das Sittengesetz zum Handeln aufgefordert ist, von der Seite ihrer sittlich-notwendigen Zwecke her betrachtet, in derselben sittlichen Maxime negiert. Damit wird das Ganze der prognostizierten Handlung in Frage gestellt. Die sittliche Person kann sich als weltliches Subjekt nicht mehr widerspruchsfrei als Adressaten der sittlichen Pflicht begreifen; was nicht heißt, daß sie sich sogleich als nicht mehr verpflichtet anzusehen hat. Es geht hier nicht um den performativen Widerspruch, daß ein sittlich angesprochenes Subjekt, wenn es sich selbst vernichtet, das den sittlichen Anspruch erhebende Subjekt auslöscht. Sondern es geht um den nomologischen Widerspruch, daß ein Selbst sich sittlich nur universalisieren kann, indem es sich, sofern es sittlich ist, als Bestandteil der zu konstitutierenden Allgemeinheit mitsetzt. Deshalb, - nicht um seinem weltklugen Verstand zu genügen, sondern um nicht in sittlichen Widerspruch zur eigenen normativen Vernunft zu treten, - bedient sich das sittliche Subjekt des Transzendenten. Es muß die noumenale Qualität seiner sittlichen Selbstbestimmung zu etwas für sich machen, das regulativ die sinnlich-quantitative Weltorientierung überbietet. Es muß seine eigene Sittlichkeit in ihrem im Subjekt ja realen qualitativen Wert fur das Subjekt symbolisieren, d.h. als Sinn begreifen und gegen das Kalkül durchsetzen, das ihm seine sinnliche Natur aufdrängt. Um die unbedingte Würde, die ihnen aus dem Sittengesetz zuwächst, gegenüber den Ansinnen ihres Glücksverlangens zu verdeutlichen, symbolisieren Menschen das Gesetz ihrer transzendentalen Subjektivität als Gesetz eines transzendenten Subjekts. Kant schreibt: „Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nötigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen a n d e r e n und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken." 237 Anders gesagt: Das sittliche Subjekt kann gar nicht wollen, als endlich-sinnliches Subjekt 'Richter in eigener Sache' zu sein. Es muß sich als eine unendlich-sittliche Potenz wollen und denken, die nicht an den empirischen Widersprüchen der ethischen Asymmetrien zerbricht.238 Es muß, um seiner

236

Vgl. Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S. 255. 237 M.d.S. T L A 181. 238 „Denn der Mensch, seiner Moralität nach betrachtet, wird als übersinnlicher Gegenstand vor einem übersinnlichen Richter nicht nach Zeitbedingungen beurteilt." M.d.S. TL A 187, Anm.

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Durchführung

eigenen Sittlichkeit eine Chance zu lassen, in einer schlechten Welt dennoch sinnhaft zu erscheinen, ein unbedingtes Urteil über seine sittlichen Maximen einholen, weil es weiß, daß sie sich, mit dem Verstand der Welt betrachtet, als unsinnig ansehen lassen. Das Subjekt muß trotz und gerade wegen der ethischen Asymmetrien in sich einen unbedingten Sinn sittlichen Lebens auffinden und in sich zur Geltung bringen, was es nicht könnte, wäre die Ebene, aus der es den Sinn schöpft eine irreale. Dabei hilft der „Herzenskündiger" als „Menschenfreund [...], der seinen Mitmenschen ihren eigenen wohlverstandenen Willen (d.i. wonach sie von selbst freiwillig handeln würden, wenn sie sich selbst gehörig prüften) ans Herz legt."239 Noch einmal: der angemessene Übergang zur religiösen Metaphorik stützt sich nicht auf das schlechte Argument, daß das Sittengesetz quantitativ nicht gegen die Glückseligkeitsinteressen ankomme 240 und sinnlicher oder übersinnlicher Triebfedern bedürfe. Der Widerspruch gegen ethisch asymmetrische Ausformungen des Sittengesetzes ist nicht empirischer Natur, sondern ein Widerspruch in der sittlichen Vernunft selbst, der aufgehoben werden muß. Deshalb muß die noumenale Seite der sittlichen Person eine Gestalt annehmen, die die Immanenz des konkreten Subjekts regulativ durchbricht. So kann das sittlich-sinnliche Subjekt von seiner sinnlich-quantitativen Seite abstrahieren und unbezüglich auf seine Situation in der Welt den Sinn sittlicher Selbstbestimmung fur sich einholen. Das Subjekt wird so die Welt in ihrer Asymmetrie erkennen und dennoch sein kontrafaktisch sittliches Handeln durchhalten, was es, als nur immanent sittlich wollendes, nicht könnte.241 Das heißt aber nicht, daß die ethisch reine Gesinnung die Welt in ihrer ethischen Asymmetrie stehen läßt. Die die asymmetrische Welt transzendierende Bejahung des Sittengesetztes ist vielmehr auf die Aufhebung dieser Asymmetrien durch sittliche Selbst- und Weltveränderung ausgerichtet. Religion fungiert zwar als transzendent vermittelte Anerkennung von Unverfügbarkeit, nicht aber als Kapitulation vor einer als schlecht empfundenen Welt. Die Erfüllung der religiösen Bejahung eines sittlichen Lebens liegt in der Weltverbesserung, nicht in der Weltflucht. Die Anerkennung der Unverfügbarkeit ethisch asymmetrischer Weltverfassung umwillen des Sittengesetzes ist eine zunächst rein geistige, wenn man so will: meditative Leistung. Sie verändert prima facie nichts in der Welt, wohl aber unsere Stellung zur Welt.242 In ihr setzt sich das ethisch239

Das Ende aller Dinge, A 519. So aber beständig: Sala, Giovanni B.: Kant über die menschliche Vernunft - Die Kritik der reinen Vernunft und die Erkennbarkeit Gottes durch die praktische Vernunft, WeilheimBierbronnen, 1993, S. 114-116. 241 „Religion ließe sich so bestimmen als Aufklärung über sinnkonstitutive Unverfügbarkeit." Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S. 258. 242 Ich sehe hier Ähnlichkeiten zu Lübbes Konzeptualisierung der Religion als Kontingenzbewältigung. Er schreibt: „In Anerkennung dessen, was indisponibel ohnehin ist, lassen wir alles sein, wie es ohnehin schon ist, und das einzige, was sich im Akt dieser Anerkennung ändert, sind wir 240

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unbedingte Wollen über seine Hindernisse geistig hinweg, aber nur, um sie anschließend so gut als möglich lebensweltlich zu meistern. Das Vermögen zu solcher Abstraktion von sich selbst ist endlich. Es hat in Krisensituationen von handlungskonstitutiver ethischer Asymmetrie seinen Ort, nicht aber als verfestigt kartäuserhafte Lebenshaltung.243 Jede dieser Abstraktionen erzeugt eine biotische Leerstelle. Das Individuum muß und wird und soll darauf dringen, daß es nicht die Konsequenz der Sittlichkeit sein darf, daß sich das sittliche Subjekt dauerhaft von seiner sinnlichen Seite abkehrt. Darin liegt gerade die weltliche Stärke der kantischen Ethik: sie erfüllt ihre Radikalität nicht im Märtyrium, sondern im gebotenen Ausgang auf eine bessere Welt, in der ethische Asymmetrien fortschreitend weniger vorkommen. Die konsequent unabhängig von der Welt konzipierte Ethik der Gesinnung greift notwendig über sich hinaus auf die Gestaltung der Welt zu einem Zweckreich, in dem die konsequente sittliche Gesinnung positiv aufgehoben und das sittliche Subjekt saturiert ist (höchstes Gut). Die religiöse Selbsttranszendierung dient der vermittelten sittlichen Selbstfindung, nicht dem empirischen Selbstverlust. Die wahre religiöse Orientierung folgt deshalb der moralischen Gesinnung und nicht umgekehrt. Das Transzendente wird nicht zur Moral gebraucht, sondern durch die Moral ergriffen, bzw. in Angriff genommen.244 Das Transzendente, auf das sich der sittliche Mensch in der sittlichen Selbstbestimmung bezieht, tritt damit transzendental als regulative Instanz der Selbstergreifung des sittlichen Subjekts auf. Das Transzendente kann die gute Welt nicht ersetzen, sondern nur antizipieren. Die religiöse Metapher ist „Vehikel" im Selbstgespräch des Menschen mit seinem sittlichen Fundament: dialogische Selbstbegegnung als Alternative zum monologischen Ichverlust. Es ist die bereits erwachte Sittlichkeit, die nach einer Reformierung der sinnlichen Lebenswelt verlangt, um als sittliche bei sich zu bleiben. Nicht ist es das Sinneninteresse, das das Sittengesetz heteronomisiert. Religiöse Selbstorientierung ist somit bereits im Felde der Gesinnungsethik als etwas ausgewiesen, das weder gestiftet noch ersonnen werden muß, um in die Realität zu treten. Sie erwächst aus einem Konflikt, den man transzendental nennen kann, weil in ihm das Subjekt im Wege der sittlichen Selbstwerdung einen unbedingten Zugang zu sich finden muß, der die Immanenz des empirischen Subjekts sprengt. Tragisch ist, - eine einsame Einsicht der Philosophie -, daß es aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist, Moralität in anderen Menschen zu erkennen. Wenn der sittliche Mensch mit psychologisch geschultem Blick seine Mitmenschen und ihr, den Anspruch auf Moralität bisweilen ja erhebendes Handeln vor seinem inneren selbst, nämlich in unserem Verhältnis zu diesem Bestand.f...] und die Selbstveränderungen, die dabei eintreten mögen, sind, wie Lebensglück, nicht Handlungszweckrealisationen, vielmehr Wirkungen richtigen Lebens." Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung, a.a.O. S. 106. 243 Vgl. Rei Β 10, Anm. 244 Vgl. K.d.U. Β 425, Anm.

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Auge zurückfuhrt auf dessen empirische Anlässe, Bedingungen und Ursachen, muß er geradezu verzweifeln, denn er erblickt eine Welt, in der er der einzig Anständige ist. Es ist die mangelnde Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erkennbarkeit von Moralität, die hier den Blick verstellt. Während er selbst seinen Mitmenschen nur als sinnlich-räumliches Wesen erscheint, dessen Einschätzung sie über seine äußerliche Erscheinung, über Erfahrungsregeln im Umgang mit ihm und über allgemeine Ansichten über Motivation und Handlung bei Menschen überhaupt gewinnen, sieht er sich von innen her nicht nur nach seinen Wünschen und Trieben, Hoffnungen und Sehnsüchten an. Er selbst gewinnt sein Bild aus seinem eigenen Freiheits- und Handlungsbewußtsein. Während die anderen ihn aus seinen Umständen erklären, ihn als Geschichte begreifen, die sich aus ihren vorangegangenen Bedingungen erschließt, so sieht er sich als immer neue und freie Wahl seiner selbst an. Er definiert sich neu, er ändert sich, er entscheidet sich. Ja, er handelt verdienstlich moralisch, obwohl er anders könnte, wie er meint. Kurz: er nimmt sich aus einer intelligiblen Warte wahr, fur die seine Noumenalität genauso gegenwärtig ist, wie seine Phänomenalität. Daß er nach außen nur Phänomene abstrahlt, daß die moralische Reflexion als etwas Unräumliches und Unzeitliches nicht an ihm erkannt werden kann, daß die Entscheidung, die er mit sich gegen Widerstände durchrang von außen als eine erscheint, die sich aus der Geschichte seiner phänomenalen Bedingungen folgern läßt, als wäre er ein bloßes Substrat psychomechanischer Reaktionsverläufe, ist ihm in aller Regel nicht bewußt. Und falls doch, nimmt er seiner Umwelt diese Fehleinschätzung übel. Jedenfalls, so meint er, ist er der einzige, in welchem die noumenale Perspektive, mithin die Moralität, zur Wirkung kommt. Alle anderen scheinen sie zu missen. Man muß schon viel guten Willen - oder philosophische Reflexion - mitbringen, um sie ihnen dennoch zuzuerkennen. Dies ist eine Situation so notwendiger Disharmonie und Verkennung zwischen den Menschen, daß man sie als griechisch-tragisch bezeichnen möchte: Das ethisch asymmetrische Leid des Menschen an der Welt wird um so schlimmer, je weiter er sich versittlicht und damit meint, in immer größeren Widerspruch zur 'realen' Welt zu treten. Diese Erfahrung ist ebenso unverdient, wie unvermeidbar. Sein Leiden an der Noumenalität wird den Menschen über sich hinaustreiben. Er kann die metaphysische Spannung nicht in sich zum Ausgleich bringen, den ethischen Konflikt des Lebens nicht im Alleingang meistern. Er wird deshalb mit seinem religiösen Bild nicht alleine bleiben wollen. Der an die Wurzeln seines Selbst gehende Zweifel des sittlichen Menschen, er führe 'nur' ein Selbstgespräch mittels seiner religiösen Metaphern, wird erst dadurch beschwichtigt, daß andere dazu gebracht werden können, an dasselbe zu glauben und ähnliche Gespräche zu führen. Und dies wiederum ist deshalb so gut möglich, weil die anderen von innen her notwendig vor derselben Problematik stehen, so sie sich nur willentlich versittlichen. Wir werden weiter unten noch genauer sehen, wie die einzelnen unaufgelösten Momente der individual-ethischen Asymmetrie zum Konzept des

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ethischen Gemeinwesens geradezu hindrängen. Vorab aber dürfte klar geworden sein, daß Gesinnungsethik, - wenn auch in Dijudikation und Exekution autonom orientiert, - sich dennoch nicht genug ist, ihre eigene Welt zu bilden. Das ethische Gemeinwesen als wechselseitige Vergewisserung der unbedingten Anlage im je anderen Selbst stellt sich der als ausschließlich sinnlich orientierten Welt entgegen, indem es unter der „Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben",245 die durch ethische Asymmetrien in der Welt verstörten Menschen sammelt. Es liegt darin der rührende Versuch endlicher Individuen, sich mittels Vergemeinschaftung und sinnlicher Zeichen wechselseitig ihres nichtsinnlichen Selbst zu vergewissern. Dies wird besonders dann deutlich, wenn der religionsphänomenologische Blick einmal den eigenen Kulturkreis verläßt (und damit die Vertrautheit der Mythen und Riten) und sich mit ethnologischer Naivität den religiösen Vollzügen fremder Kulturen hingibt. Der (sittliche) Geist scheint uns Menschen immer noch so unselbstverständlich zu sein, daß es das vordringlichste Anliegen mancher Kulte zu sein scheint, ihn so handgreiflich und so sinnlich anschaulich zu machen, daß er darüber nahezu verloren geht. Der Wunsch, das Noumenale konstitutiv im Phänomenalen darzustellen, kann nicht aufgehen und fuhrt, statt zu sittlichen Symbolen, allzuhäufig zu einer Mystifizierung phänomenaler Gegenstände. Totem und Tabu erhalten Einzug. Statt einer Vergeistigung der Sinnenwelt wird eine Versinnlichung des Geistes herbeigezwungen. Die im religiösen Symbol abgelegte Pflicht wird als eine Pflicht dem Symbol gegenüber dargestellt. Es kommt - mit Kant zu reden - zu einer „Amphibolie der Reflexionsbegriffe". 246 Damit tritt ein in jeder Hinsicht eigentümliches Phänomen zutage: ein Umschlag einer an sich produktiven sittlichen Orientierung in eine erneute Heteronomisierung, die fundamentaler und gefährlicher ist als die bloße sinnenweltliche Korrumption des Willens, da sie übersinnlich ansetzt: religiöse Unsittlichkeit.247 Sie wird in der Untersuchung der kantischen Religionsphilosophie am Begriff des Fundamentalismus näher analysiert werden. In der Zusammenschau: genau an jener systematischen Stelle, an der der reine Wille die innere Seite der Willkür bestimmen will, wird diese Synthese des Sittengesetzes dem nach ihr suchenden Bewußtsein zum Problem. Abstrakt formuliert liegt das Problem darin, wie ein endlicher Wille sich als unbedingt bestimmend denken können soll. Eine erste Voraussetzung dazu ist der Übergang vom Konzept des Schematismus zu dem der Symbolisierung. Eine weitere liegt in der Theorie der Selbstwerdung in der (ethischen) Selbstüberschreitung. Sie ist ein spätes Ergebnis der Metaphysik der Sitten und der Religionsschrift. Das ihr zugrundeliegende Problem hat Kant 1788 mit den Mitteln der Kritik der

245 246 247

Rei Β 129. M.d.S. T L A 106. Vgl. Der Streit der Fakultäten,

A 64/65.

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praktischen Vernunft allein nicht zu lösen vermocht, da es eine Deutung des kausalen Überganges zwischen intelligibler und sensibler Welt verlangt. Es wird hier mit Vorbedacht von einer Deutung dieses Überganges gesprochen. Mehr kann transzendentale Philosophie, die sich der Sepkulation enthält, nicht erbringen.„Denn über das Kausal-Verhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen gibt es keine Theorie."248 Bis zu dieser Einsicht verwendet Kant verschiedene Erklärungsvarianten neben- und durcheinander, deren Grundtypen die folgenden sind. Erstens: Kant verweist die Frage ins Unausmachbare und zieht sich auf die praktische Gebotenheit des „guten Willens" zurück,249- eine unbefriedigende Antwort. Zweitens: Er bringt eine transzendente Instanz der Exekution (das „übersinnliche" Vermögen im Menschen) ins Spiel,250- eine unhaltbare Position. Drittens: Er erklärt das Projekt der vollkommen reinen Gesinnung für letztlich uneinholbar251 und verpflichtet den Menschen lediglich, „darauf nach allen Kräften auszugehen".252 Man kann dies - im Rahmen der kritisch -praktischen Philosophie - als sein abschließendes Votum ansehen.253 Es kann uns hier genügen.254 Eine über diese negativ-kritische Pflicht, sein „Gewissen zu kultivieren"255 ausgreifende deskriptive Lehre, die eine Art Kasuistik der Gesinnungsgestaltung bieten wollte, wäre nach Kant sowohl „mikrologisch",256 als auch, aufgrund der Ungenauigkeit empirischer Psychologie, unergiebig. Wichtiger als das Wie der gesinnungsethisch unbedingten Selbstbestimmung ist für das Weitere das Was der Bestimmung, das die bloß gesinnungsethische Selbstbestimmung zu einer auf das höchste Gut ausgerichteten ethischen Zwecksetzung erweitert. Das Verhältnis von Gesinnungsethik und Zweckeethik ist wechselseitig. So wie die Ethik der reinen Gesinnung begrifflich über sich hinausgetrieben wird, genügt sich auch die Ethik der sittlichen Zwecke nicht selbst. Sie nämlich schöpft ihre Zwecke nicht aus einem materialen Begriff 248

M.d.S. A 101, Anm. Vgl. G.z.M.d.S. A 8. 250 Es soll ein dem unbedingt-sittlichen Zweck der moralisch-praktischen Vernunft „angemessenes Vermögen (das nicht das menschliche ist)" sein. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 406/407, Anm. Vgl. auch die Ausführungen zu der „Triebfeder aus der andern Welt" in Reflexion 6838, AA 19, 176. 251 Vgl. Rei. A 34 / 35 252 M.d.S. TL A 2 5 / 2 6 . 253 In der Religionsschrift entwickelt Kant seine Gedanken unter Zuhilfenahme des ChristusSymbols ganz im Sinne der hier vorliegenden Untersuchung weiter. Dazu mehr in den Abschnitten zur Religionsphilosophie. 254 Später gibt Kant seinen Gedanken eine bestimmtere Fassung: „Das Tun muß als aus des Menschen eigenem Gebrauch seiner moralischen Kräfte entspringend, und nicht als Wirkung vom Einfluß einer äußeren höheren wirkenden Ursache, in Ansehung deren sich der Mensch leidend verhielte, vorgestellt werden;" Der Streit der Fakultäten, A 59. 255 M.d.S. TL A 39. 256 Vgl. M.d.S. A 103, w o Kant den angemessenen Gebrauch der Gewissensprüfung erörtert. 249

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sinnlicher Zweckmäßigkeit, sondern aus dem formalen Konzept sittlichen Wollens, welches sie der Ethik der Gesinnung verdankt. Anders herum formuliert: nur im sittlichen Zweck vollendet sich die gute Gesinnung, und nur diejenigen Zwecke sind unbedingt sittlich, die aus einer reinen Gesinnung heraus entworfen werden. Gesinnungsethik und Zweckeethik stehen in einem unauflöslichen begrifflichen und sachlichen Verweisungszusammenhang. Hier liegt der noumenale Grund für den phänomenalen Befund, daß es nicht zwei separate ethische Phänomene gibt, sondern nur eine einheitliche sittliche Handlung, die im Idealfall gesinnungsethisch und zweckeethisch zugleich ist. Phänomenal entspricht der Ethik der lauteren Gesinnung das subjektive Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz. Die Achtung ist eines der moralischen Gefühle. Der systemische Status der moralischen Gefühle bei Kant ist bedeutsam. Sie sind von Relevanz für die praktische Philosophie gerade nicht als Gefühle, sondern als Indikatoren des Vorhandenseins von „Gemütsanlagen (praedispositio), durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden, [...] kraft derer er [sc. der Mensch] verpflichtet werden kann." 257 Sie sind subjektive Bedingungen, „sich der Nötigung, die im Pflichtbegriffe liegt, bewußt zu werden."258 Die moralischen Gefühle beruhen auf keiner Anlage eigener Art,259 sondern sind die phänomenale Realisierung des noumenalen Sittengesetzes am Orte der sinnlichen Selbstwahrnehmung des Menschen. Die Achtung, als ein Gefühl, das erst die logische Folge des bereits sich gegenüber der Sinnlichkeit durchgesetzt habenden Sittengesetzes darstellt, kann selber nicht die Synthesis vollziehen, da sie ihr nachgeordnet ist.260 Sie stellt deswegen auch keine positive Triebfeder in Beziehung auf ihr nachfolgende sittliche Handlungen dar. Sie ist ein negatives sittliches Gefühl der Negation von Maximen. Kant qualifiziert sie auch beiläufig als „negative Lust".261 Sie bringt nicht das Gebotene aus sich heraus, sondern weist das Unsittliche in seine Schranken. Damit ist sie die genaue phänomenale Entsprechung der noumenal herausgearbeiteten Struktur der negativ-inneren Sittlichkeit der Gesinnungsethik. Diese noumenale Struktur zeigt sich auch darin, daß die gelungene negativ-innere Sittlichkeit, der „Zuspruch seines Gewissens nicht p o s i t i v (als Freude), sondern nur n e g a t i v (Beruhigung nach vorhergegangener Bangigkeit) ist;"262 weil das Sittengesetz hier als Negation der Negation seiner selbst zur Geltung gebracht wird. Die Achtung vor dem Sittengesetz verhindert, daß der Sittlichkeit Abbruch 257

M.d.S. TL A 35. M.d.S. TL A 36. 259 „Wir haben aber für das (sittlich-) Gute und Böse ebensowenig einen besonderen S i η η , als wir einen solchen für die W a h r h e i t haben, ob man sich gleich oft so ausdrückt". M.d.S. TL A 37. Dennoch aber ist sie ein „Gefilhl eigener Art" (M.d.S. TL A 42), da sie durch ihre Vemunftgewirktheit nicht-pathologischen Ursprungs ist. 260 Es ist deswegen verfehlt, die Achtung bei Kant als Movens der Moralität auszumachen. Ebenso: Beck, Lewis W.: Kants "Kritik der praktischen Vernunft". a.a.O., S. 207. 261 K.d.U. Β 76. 262 M.d.S. T L A 104. 258

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geschieht, sie bestimmt Maximen aber nicht positiv. Zwar läßt sie uns fühlen, daß in uns etwas größer ist, als die niedergeschlagene Sinnlichkeit. Sie gibt uns dieses 'etwas' aber nicht inhaltlich bestimmt zu erkennen. Zu eben dieser Bestimmung will Kant aber gelangen: „Die Maximen werden hier als solche subjektive Grundsätze angesehen, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung bloß qualifizieren; welches nur ein negatives Prinzip (einem Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten) ist. - Wie kann es aber dann noch ein Gesetz für die Maxime der Handlung geben?" 263 Das positiv-sittliche Sich-Bestimmen muß sowohl einen anderen begrifflichen, als auch einen anderen emotionalen Charakter im Subjekt haben, als die negative Ethik der Gesinnung und das ihr zugehörige Gefühl der Achtung. So wie der Begriff der positiven Ethik ein sittlich-positives und nicht bloß ein sittlich-freigestelltes Handeln anzeigt, so muß das entsprechende Gefühlsphänomen das freigewollte Aufnehmen des Gesollten in die Bestimmungsgründe erkennen lassen. Wenn das Gefühl der Achtung dem des Erhabenen ähnelt,264 weil in ihm eine Niederschlagung einer ansonsten überwältigenden Sinnlichkeit durch eigene Vernunft gelingt,265 so wäre das Analogon des positiven sittlichen Interessses beim Gefühl des Schönen zu suchen. Denn das Schöne und das Gute empfehlen sich frei jeder Eigennützigkeit der Anerkennung des Subjekts. Allerdings unterscheiden sie sich darin, daß das sittliche Subjekt nur an der Existenz des Gegenstands des Guten ein notwendiges Vernunftinteresse nimmt. Es müßte also ein dem Gefühl des Schönen verwandtes Gefühl des positiven Gutseinwollens geben; die Untersuchung zum Begriff der praktischen Liebe im nächsten Abschnitt wird dem nachgehen. Als Ergebnis dieses Abschnittes bleibt festzuhalten: Pflicht ist nicht, bis in den regressus ad infinitum hinein über die Reinheit der eigenen Bestimmungsgründe zu grübeln, - das hieße das Beurteilen von Moralität mit dem moralischen Handeln verwechseln, - sondern aus Pflicht auf die Tugendzwecke hin zu handeln}66 Pflicht ist ferner nicht, eine bestimmte Religion zu haben, sondern aus der Pflicht,

263

M.d.S. TL A 19. Κ.d.U. Β 76. Vgl. Beck, Lewis W.: Kants "Kritik der praktischen Vernunft", a.a.O., S. 208. 265 Das Erhabene kann dabei als ein Gefühl interpretiert werden, daß trotz umweltlicher Kontingenz ein Gefühl der Sicherheit vermittelt aufgrund un-bedingten sittlichen Selbstbezuges. Es wandelt quasi außenweltliche Ohnmacht in innenweltlich-selbstgewisse sittliche Macht. So: Briese, Olaf: Ethik der Endlichkeit. Zum Verweisungscharakter des Erhabenen bei Kant, Kant-Studien 87, 1996, S. 325-347. 264

266

Deshalb faßt Kant die inhaltlichen Ergebnisse seiner Ethik formelhaft so zusammen: Die ethische Pflicht „besteht e r s t l i c h , subjektiv, in der L a u t e r k e i t (puritas moralis) der Pflichtgesinnung: da nämlich, auch ohne Beimischung der von der Sinnlichkeit hergenommenen Absichten, das Gesetz für sich allein Triebfeder ist, und die Handlungen nicht bloß pflichtmäßig, sondern auch a u s P f l i c h t geschehen. 'Seid heilig' ist hier das Gebot. Z w e i t e n s , objektiv, in Ansehung des ganzen moralischen Zwecks, der die Vollkommenheit, d.i. seine ganze Pflicht und die Erreichung der Vollständigkeit des moralischen Zwecks in Ansehung seiner selbst betrifft, 'seid vollkommen'." M.d.S. TL A 113.

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die eigene Gesinnung zu läutern, folgt die Selbstüberschreitung des eigenen Innenlebens auf ein forum internum publicum hin, 267 das sich im religiösen Bild vom „göttlichen Richter" als „Herzenskündiger" 268 symbolisiert. Pflicht ist es, den Geist dieses Symbols in sich zur Geltung zu bringen. Und Pflicht ist es, dies über sittliche Zwecksetzung zu tun.

2.1.2. Zweckeethik Die Ethik der Zwecke bestimmt die Zwecke reiner praktischer Vernunft. Die Theorie der Zweckeethik erklärt, warum reine praktische Vernunft in ihre kategorische Selbstäußerung Zwecke aufnimmt. Wichtig ist, daß die Aufnahme der Zwecke als Materie der Willensbestimmung als sittlich notwendiges Moment der Synthesis von Unbedingtheit und Bedingtheit verstanden werden kann. Es reicht nicht aus zu zeigen, daß dem Menschen als Naturwesen gewisse Zwecke unausweichlich eignen, so daß eine Theorie der sittlichen Zwecksetzung darauf reagieren müsse. 269 So würde nur die reine Theorie durch die Heteronomie ihrer Verwirklichungsbedingungen gebrochen.Vielmehr muß eine geltungsorientierte Theorie der Praxis zeigen, daß „es ein Akt der F r e i h e i t des handelnden Subjektes, nicht eine Wirkung der N a t u r , [ist,] irgend einen Zweck der Handlungen zu haben." 270 Diese Unbedingtheit der Zwecke, das heißt, ihre innere Zugehörigkeit zum Sittengesetz selbst, liegt, wie gezeigt, im Begriff des höchsten Gutes begründet. Es ist nach seiner praktischen Modalität notwendiger Gegenstand des Sittengesetzes und deshalb mit diesem den Individuen als zu bewirkender Gegenstand ihrer freien Willkür aufgegeben. Insofern läßt sich sagen, daß das Prinzip, das den „Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet, [...] ein kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft [ist], mithin ein solcher, der einen P f l i c h t b e g r i f f mit dem eines Zwecks überhaupt verbindet." 271 Kant nennt dies auch einen „kategorischen Imperativ der der Materie nach praktischen Vernunft, welcher zum Menschen sagt: ich will, daß deine Handlungen zum Endzweck aller Dinge zusammenstimmen." 272 Sittengesetz, sittlicher Endzweck und reflektierende Urteilskraft, welche bestimmte Maximen zu Zwecken anhand von Symbolen als Typus des Sittengesetzes entwirft, bilden den sittlichen Syllogismus der Zweckeethik, in dem sich das Sittengesetz repräsentiert und besondert.

267 268 269 270 271 272

Vgl. M.d.S. T L A 100. Vgl. M.d.S. T L A 101. So Kant in Rei.Β XV und K.d.p.V. A 46 f. M.d.S. TL A 11. M.d.S. T L A 12. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 406/407, Anm.

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Vom allgemeinen Erfordernis, daß sich das Sittengesetz konkretisiere, ist nun überzugehen zu einer systematischen Ableitung der kantischen Pflichtzwecke, eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit,273 gemäß der freien Typik der reflektierenden Urteilskraft: Eine Natur, die objektiv und subjektiv so harmonisch eingerichtet wäre, daß das, was nach dem Sittengesetz moralisch notwendige Folge des moralischen Handelns sein müßte, auch dessen naturale Folge wäre, ist das Regulativ, auf das hin die reflektierende Urteilskraft jeden Typ möglicher innerer Zwecksetzung beurteilt. Wäre nun dieses Regulativ ein gegebener Begriff, so könnte bestimmende Urteilskraft unter ihn subsumieren. Die „Analytik der reinen praktischen Vernunft" hatte aber gezeigt, daß jeder derartige materiale Bestimmungsgrund letztlich bedingt wäre.274 Stattdessen inkorporiert sich der Zweck der sittlichen Handlung so, daß vom endlichen Subjekt aus die Initiative der Willkürbestimmung ergeht, welche dann in ihrer Struktur positiv dadurch bestätigt werden kann, daß sie als Typus des Sittengesetzes erkannt wird. Dies ist dann der Fall, wenn der Typus des in dieser besonderen Zwecksetzung von der reflektierenden Urteilskraft erst zu findenden Allgemeinen symbolisch die Idee eines Reiches der Zwecke gibt. So wie dem sittlichen Subjekt nicht die Gesinnung selbst, sondern die Maxime zu lauteren inneren Handlungen geboten war, so ist in der Ethik der Zwecke nicht die äußerliche Verwirklichung der Zweckobjekte geboten (etwa das so-und-so beschaffene 'Zweckreich'), sondern die Maxime zu sittlichen Zwecken, die zu einem Reich der intelligiblen Zwecke zusammenstimmen.275 Hierin liegt der wichtige Unterschied zwischen ethischer und juridischer Willkürbestimmung. Die ethische Bestimmung der Willkür geht auf den Zweck als inneres Faktum aus, nicht auf seine äußerliche Realität. Die ethische Qualität des sittlichen Zweckes bemißt sich an seiner Funktion im Selbstbezug des Subjekts im Sittengesetz, nicht an der äußerlichen Realisation dieses Zwecks.276 Die moralisch-äußerliche Folge gehört als innerliches Moment der Willensbestimmung durchaus zur moralischen Gesinnung selbst. Sie taugt aber als äußerliches Moment der Handlung nicht zum Kriterium der Moralitätsbeurteilung. Insofern ist 273

Vgl. M.d.S. T L A 13. Vgl. K.d.p.V. A 38. 275 Vgl. M.d.S. TL A 30. 276 Es ist dies die Eigentümlichkeit der Moralität, zu deren „Behuf die menschliche Vernunft zwar die Handlungen, aber nicht den Erfolg der Handlungen (die Erreichung des Zwecks gebieten kann), als der nicht immer, oder ganz, in der Gewalt des Menschen ist." Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 406/407, Anm. Ebenso: ,,[D]enn wenn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst, gebieten kann, so ist's ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d.i. nicht bestimmt angegeben werden könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle." M.d.S. TL A 20. Es ist allerdings keineswegs so, daß dem ethischen Bewußtsein die Realisierung des sittlichen Zwecks gleichgültig ist. Vielmehr geht es mit allen Kräften daraus auf. Vgl. G.z.M.d.S. A 3. 274

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es weder der äußerlich gute Zweck als solcher, noch die äußerlich gute Handlung als solche, die im Felde der Ethik relevant ist. Die Perspektive der Äußerlichkeit steht in der Ethik in einem Ableitungsverhältnis zur Innerlichkeit des jeweiligen Subjekts im moralischen Selbstbezug. Interpersonalität hat daher in der Ethik, anders als in Recht und Politik, nur regulativen, nicht konstitutiven Status. Sie kann, je nach Reflektiertheit des Subjekts, in die materiale Konzeption moralischer Selbstbestimmung eingehen, muß es aber nicht. Deswegen ist es die Form, bzw. Maxime der Zweckwahl wonach ethische Sittlichkeit beurteilt wird, und nicht der jeweilige Zweck an sich selbst: „Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist: handle nach einer Maxime der Ζ w e c k e , die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz werden kann. [...] Dieser Grundsatz der Tugendlehre verstattet, als ein kategorischer Imperativ, keinen Beweis, aber wohl eine Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft. - Was im Verhältnis der Menschen, zu sich selbst und anderen, Zweck sein k a n n , das i s t Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt; in Ansehung derselben indifferent sein, d.i. kein Interesse daran nehmen, ist also ein Widerspruch; weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde".277 Schlaglichtartig erhellt diese Stelle den tieferen Sinn, der darin liegt, daß Kant seine doktrinale Zweckeethik normativ nicht an einem vorgegebenen Kanon ausrichtet, sondern an der reflektierenden Urteilskraft, die zu der unbedingt sittlichen Gesinnung das sittliche Allgemeine immer erst finden muß. So gilt vor jedem lebensweltlichen Hintergrund neu: was nach Art sittlicher Zweckwahl Zweck der Freiheit sein kann, das ist ein Zweck der praktischen Vernunft. Auf die Frage des normativ auszurichtenden Bewußtseins, welche Handlung moralisch geboten sei, lautet die Antwort zunächst: Es ist derjenige Typ von Handlung, der den Bedingungen der Möglichkeit eines Zweckreiches der reinen praktischen Vernunft hier und heute gemäß ist. Dann muß reflektiert werden, ob diesen Handlungstyp unabhängig von Zeit und Ort angebbare allgemeine Merkmale kennzeichnen. Das Zweckreich der reinen praktischen Vernunft, als Ideal konzipiert, ist ein Reich, in dem objektiv ohne Abbruch der Naturgesetze die sensible Natur dem intelligiblen Gesetz folgt, das heißt subjektiv gewendet, in dem die Glückseligkeit notwendig aus der Glückswürdigkeit folgt. Ein Handeln, das als Typ einer Handlung 'in' diesem Reich, also vom utopischen Standort aus, konzipiert wird, ist zum einen ein solches, das fremden Subjekten Glückseligkeit (Fördern ihrer Zwecke) zukommen läßt, sofern diese Subjekte nicht unsittliche Zwecke verfolgen. Und es ist zum anderen derjenige Typus von Handlung, der die besonderen Möglichkeitsbedingungen sittlichen Tuns fordert: die Steigerung der

277

M.d.S. TL A 30. Hervorhebung (kursiv) von mir.

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qualitativen Vollkommenheit278 des Selbst. Das Subjekt, noumenal an ihr ausrichtet, gelangt so sukzessive zur phänomenalen Einheit innerer Zweckmäßigkeit219 zu sittlichen Zwecken. 280 Das Gute soll habitualisiert, Sittlichkeit soll Sitte werden. Anders herum formuliert: die eigene Glückseligkeit, auf die ich natural immer schon aus bin, kann ich mir nicht nur deshalb nicht ohne Widerspruch zum Pflichtzweck denken, weil ich ohne alle Pflicht bereits auf sie aus bin, 281 sondern weil sie ein Typ von innerer Bestimmung ist, der am utopischen Standort des Zweckreiches keinen Sinn macht. 282 Denn dort werde ich mich, so ich sittlich bin, bereits befriedigt finden. Ebenso kann ich fremde Vollkommenheit nicht zum Pflichtzweck nehmen. Nicht nur, weil es mir technisch schlecht möglich ist, die in der Privatheit des Anderen liegende Moralität zu gestalten. Sondern auch, weil ich dadurch, - selbst wenn ich es könnte, - den Anderen statt als gleichwürdiges Subjekt als bloßes Objekt meiner Zweckreichidee behandele. Nur eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit lassen sich daher als (moralisch) notwendige, unbedingte Erweiterungen des Sittengesetzes fassen, ohne die Ethik durch ein ihr äußeres Gut fremdzubestimmen. Die Pflichtzwecke sind die einzigen konkret-allgemeinen Bestimmungen des höchsten Gutes, 283 - symbolisiert in den Idealen des vollkommenen Menschen und der vollkommenen Welt. Mit anderen Worten: das Ideal des höchsten Guts ist derjenige Zustand der Welt, in dem die Pflichtzwecke vollauf realisiert sind. Fraglich bleibt aber, wie ein sittlich dementsprechend entworfener Zweck im Subjekt gegen ein gegenläufiges sinnliches Interesse durchgesetzt werden kann. Man könnte im Fahrwasser der „schlechten Metaphysik" 284 eine Erklärung dieser 278 Die qualitative Vollkommenheit eines Dinges wird nach Kant, „so verstanden, daß [sie] die Zusammenstimmung der Beschaffenheit eines Dinges zu einem Z w e c k e bedeutet." M.d.S. TL A 14. 279 Vgl. zur Abgrenzung des Begriffs der Beurteilung nach der inneren Zweckmäßigkeit von der nach der äußeren Zweckmäßigkeit K.d.U. Β 296ff. 280 In M.d.S. TL A 33 verweist Kant nachdrücklich darauf, daß Tugend als Erfahrungsgegenstand, also als „ S t ä r k e (robur) etwas [ist], was erworben werden muß, ... [u.a.] durch Ü b u n g (exercitio)". Auch die Definition der Tugend als „Fertigkeit der Neigung zum Wohltun überhaupt" weist in diese Richtung. M.d.S. TL A 41. 281 Vgl. K.d.p.V. A 46 f. 282 Hierin stimmt vorliegende Interpretation weitgehend mit derjenigen Kaulbachs überein, wenn er vom „transzendentalen Standnehmen" (in: Kaulbach, Friedrich: Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, Berlin / New York, 1978, S. 296ff.) spricht. 283 „Diese Gegenstände des sittlichen Wollens in ihrer Vollständigkeit unter einem Prinzip vorgestellt, ergeben [sc. erst] den Begriff des höchsten Gutes als des höchsten sittlichen Zwecks." Düsing, Klaus: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62(1971), S. 31. 284 Diesen Terminus beansprucht Erich Heintel, in die Diskussion eingebracht zu haben, in: Heintel, Erich: Das "Faktum" des "zweifachen Ich" bei Kant, in: Hegel und die "Kritik der Urteilskraft", hg. von H.-F. Fulda, R.-P. Horstmann, Stuttgart 1990, S. 243f. Eine ähnliche Verwendung des Terminus findet sich auch durchgängig beim Heintel-Schüler Langthaler, in:

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Durchsetzung des Unbedingten am Bedingten auf dem Wege „übersinnlicher Vermögen" suchen, und man wird auch Stellen im kantischen Werk finden, die diese Interpretation tragen. 285 Hier soll ein anderer Weg verfolgt werden. In moralpraktischen Belangen muß es dem gewöhnlichen endlichen Subjekt möglich sein, den Übergang vom Unbedingten zum Bedingten, - wenn er ihm theoretisch auch nicht durchsichtig ist, - dennoch soweit zu verstehen, daß es weiß, wie es ihn praktisch vollziehen kann. Das endliche Subjekt will berechtigtermaßen wissen, was zu tun ist, wenn es die sittliche Bestimmung in sich gegen seine sinnliche Natur zur Geltung bringen will. Nun ist es, wie gezeigt, selbstverständlich, daß sich das endliche Subjekt in seinem sittlichen Handeln erhalten und befriedigen können muß. Technisch, weil das Subjekt sonst gar nicht sittlich sein kann. Normativ, weil die sittliche Handlung eine solche sein muß, die sich das endliche Subjekt frei selbst setzt und mit der es sich in Einheit bringt. Diese Einheit des transzendentalen Selbst mit dem empirischen Selbst ist verloren, wenn eines der Teile (hier: das Ich als sinnliches) in der Einheit nivelliert wird. Deshalb verlangt auch Kants Ethik der Zwecke nicht die Selbstaufopferung des sittlichen Menschen. 286 Es fehlt aber auch ihr die systematische Ausarbeitung dieses Gedankens. Es bleibt unklar, wie Kant sich im einzelnen die Konzeption der „Humanität" als der Tugend zur Bewerkstelligung einer „gesitteten Glückseligkeit" im Abschnitt „Von dem höchsten moralisch-physischen Gut" in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, denkt. 2 8 7 Der Begriff des höchsten Guts hilft hier insofern nicht weiter, als er zwar regulativ die geglückte Durchsetzung der Sittlichkeit enthält, nicht aber das Subjekt von der vorgängigen Konstitution des Guten entbindet. Die Durchsetzung des Guten kann sich nicht aus dem erst durchzusetzenden Guten speisen, wenn es nicht als spekulativ antizipiertes Gut zur empirisch-heteronomen Triebfeder degenerieren soll. Außerdem: Die Tugend wird ihren angemessenen Lohn regelmäßig nicht in den sinnlich-äußeren Wirkungen der tugendhaften Handlung finden.288 Die positiven

Langthaler, Rudolf: Kants Ethik als "System der Zwecke" - Perspektiven einer modifizierten Idee der "moralischen Teleologie" und Ethikotheologie, Berlin/New York 1991. 285 Vgl. Reflexion 6838, AA 19, 176. 286 Ebd. A 245.Vgl. auch M.d.S. TL A 27. 287 Vgl. K.d.p.V. A 60-62. 288 Nur wenn man unter Kants unbedingtem Sollen eines versteht, das sich per se gegen die eigene Sinnlichkeit zu setzen hat, wird man suchen, die damit im schlechten Sinne negierte Sinnlichkeit im Begriff des höchsten Gutes (als Lohn) aufzufangen. So versteht Schopenauer Kant: „Dieser Lohn, der für die Tugend, welche also nur scheinbar unentgeldlich arbeitete, hinterdrein postuliert wird, tritt aber anständig verschleiert auf, unter dem Namen des h ö c h s t e n G u t s , welches die Vereinigung der Tugend und Glückseligkeit ist. Dieses ist aber im Grund nichts Anderes, als die auf Glückseligkeit ausgehende, folglich auf Eigennutz gestützte Moral oder Eudämonismus, welche K a n t als heteronomisch feierlich zur Haupttüre seines Systems hinausgeworfen hatte, und

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Durchführung

Folgen, die unser sittliches Handeln in der Welt haben mag, sind erstens nicht sicher und zweitens nichts, was das Eingehen ethischer Asymmetrien aus Moralität erklären könnte. Im übrigen geht das angesichts ethischer Asymmetrie dennoch stabile Subjekt ja gerade davon aus, keinen weltlichen Lohn zu erhalten. Ein Blick auf die emotionale Seite des sittlichen Zweckhandelns kann die nichtsdestoweniger offene Möglichkeit der gesuchten sittlichen Glückseligkeit erläutern. So wie die Achtung als negativ-moralisches Gefühl der Niederschlagung der unsittlichen Selbstbestimmung beschrieben werden konnte und somit das phänomenale Pendant zur Gesinnungsethik darstellte, kann auch nach einem emotionalen Pendant zur Zweckeethik gefragt werden. Für diese Rolle scheint zunächst die Nächstenliebe die beste Besetzung zu sein, schreibt Kant doch, Liebe, im praktischen Sinne, sei „die Pflicht anderer ihre Z w e c k e (sofern sie nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen." 289 Und diese Liebespflicht, die als Pflicht natürlich nicht-pathologische, sondern bloß reine praktische, nicht die auf das phänomenale, sondern die auf das noumenale Subjekt gerichtete Liebe gebietet,290 schließt „in ihrer Idee der Menschheit überhaupt die ganze Gattung (mich also mit) [...]" ein und „erlaubt es dir, dir selbst wohlzutun, unter der Bedingung, daß du auch jedem anderen wohl willst."291 „Wenn es also heißt: du sollst deinen Nächsten l i e b e n als dich selbst, so heißt das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohltun, sondern: t u e deinem Nebenmenschen w o h l , und dieses Wohltun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohltun überhaupt) in dir bewirken!"292 Praktische Liebe (freies Wohltun) ist das phänomenale Pendant der „freie [n] Ergebung aller seiner Zwecke" gemäß der noumenalen Pflicht. Das heißt, sie ist das Ergebnis einer bereits geglückten sittlichen Umgestaltung eines Selbst aus dem Sittengesetz. Sie ist das Selbstempfinden der schon sittlichen Persönlichkeit, die am Orte des empirischen Charakters „das Gute auch lieb gewonnen" hat.293 Denn: „Was man aus Zwang tut, das geschieht nicht aus Liebe."294 Die Notwendigkeit des Selbstzwangs ist also Ausdruck der noch offenen Differenz des empirischen Selbst zum normativen Gesetz des transzendentalen Selbst. Die praktische Liebe der Pflicht dagegen ist das Sich-befriedigt-Finden des endlichen Subjekts in der sittlichen Selbstausdie sich nun unter dem Namen h ö c h s t e s G u t zur Hintertüre wider hereinschleicht." Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: ders.: Kleinere Schriften, Band II, Zürich 1977, S. 163/64. 289 M.d.S. T L A 120. 290 Über Liebe als Phänomen sagt Kant: „ L i e b e ist eine Sache der E m p f i n d u n g , nicht des W o 11 e η s , und ich kann nicht lieben, weil ich w i 11, noch weniger, weil ich s o l l (zur Liebe genötigt werden); mithin ist eine P f l i c h t z u l i e b e n ein Unding." M.d.S. TL A 39. 291 M.d.S. T L A 121. 292 M.d.S. TL A 41. 293 Rei. Β 12, Anm. 294 M.d.S. TL A 41.

Durchführung

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richtung.295 Sie stellt demnach etwas Gelungenes vor, dessen Möglichkeit dem vollziehenden Subjekt aus der bloßen Forderung des Gesetzes heraus noch nicht klar gemacht werden konnte. So fehlt bei Kant eine ausgearbeitete Theorie, die das Sich-befriedigt-Finden im sittlichen Handeln nicht schwach als ein Sich-zufrieden-Geben, sondern stark interpretiert als ein Mit-sich-Frieden-finden. Dieser innere Frieden könnte eine Komponente im höchsten Gut sein, welche die sittliche Selbstausrichtung auf das diese Komponente enthaltende höchste Gut fur das konkrete Subjekt zu einer anerkennungsfahigen und sinnvollen sittlichen Selbstbestimmung qualifiziert. So könnte ein Verständnis vorbereitet werden, nach dem noumenal-sittliche Selbstbestimmung zu einem phänomenalen Wohlbefinden den Grundstein legt, welches das mit sich durch sittlich-unbedingte Selbstbestimmung einige Subjekt, anders als das in sich gespaltene und heteronom getriebene Subjekt, als „vernünftige Selbstliebe" kennt.296 Dabei ist die durch Moralität gestiftete Seelenruhe und Herzensfreude eine solche, die gerade nicht erreicht wird, wenn es nicht die Moralität (als unbedingter Bestimmungsgrund) ist, die im Handeln angestrebt wird, sondern die aus ihr resultierende Selbstliebe (als bedingter Bestimmungsgrund). Das ist Kants zentrales Argument gegen jede epikureische Wendung zur Exekution des Sittlichen.297 Es konzentriert sich am Begriff der sittlichen Selbstzufriedenheit als gerechtfertigte „Lust an der eigenen Person". 298

295

Vgl. Reflexion 6831, AA 19, 174. K.d.p.V. A 130. 297 Während Kant in frühen Jahren lediglich das epikureische principium diiudicationis ablehnte, die Exekekutionstheorie aber übernahm (- gegen die 'selbstherrliche' Stoa gerichtet -), hat er in der vollendeten Gestalt seiner Moralphilosophie auch diese prinzipiell überwunden. Vgl. Düsing, Klaus: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62, S. 27 f. 298 In der von Pölitz herausgegebenen Vorlesung zur Religionsphilosophie findet sich (AA 28, 2.2, 1089) die folgende aufschlußreiche Passage: „[Glückseligkeit] i s t d i e L u s t a n u n s e r e m gesammten Zustande. Die L u s t an s e i n e r e i g e n e n Person heißt S e l b s t z u f r i e d e n h e i t . Das Eigenthümliche aber in uns macht die Freiheit aus. Folglich ist die Lust an seiner Freiheit, oder an der Beschaffenheit seines Willens die Selbstzufriedenheit. Erstrecket sich diese Selbstzufriedenheit auf unsere g a n z e E x i s t e n z , so heißt sie S e l i g k e i t . Dieser Unterschied zwischen Selbstzufriedenheit und Glückseligkeit ist eben so nöthig, als wichtig. Denn man kann glücklich sein, ohne selig zu sein, wiewohl zu einer vollkommenen Glückseligkeit (Selbstzufriedenheit) auch das B e w u ß t s e i n seiner e i g e n e n W ü r d e , oder die Selbstzufriedenheit gehöret. Aber Selbstzufriedenheit kann ohne Glück wohl stattfinden, weil Wohlverhalten, wenigstens in diesem Leben, nicht allemal mit Wohlbefinden verbunden ist. Die Selbstzufriedenheit entstehet aus der Moralität, da hingegen die Glückseligkeit von p h y s i s c h e n Bedingungen abhänget." Wenn man zeigen könnte, daß zum widerspruchsfreien Vollzug der Sittlichkeit der Mensch lediglich der Selbstzufriedenheit mitsamt seiner sinnlichen Selbsterhaltung bedürfe, nicht aber der äußerlichen Glückseligkeit durch Glücksgüter und Fortune, dann wäre mit diesem Begriff von sittlicher Selbstzufriedenheit die Lücke in Kants Moralphilosophie geschlossen, die das Argument für die göttliche Ausgleichsmacht 296

74

Durchführung

Hier gewinnt die kantische Theorie der Zweckeethik ihr höchstes Reflexionsniveau. Aber gerade weil derartige Wendungen der Theorie, die unter den Begriffen der sittlichen Selbstzufriedenheit 299 und der moralischen Glückseligkeit 300 sich ankündigen, letztlich unausgeführt bleiben, erscheint vielen in Kants Theorie der Moral das sinnliche mit dem sittlichen Individuum unversöhnt. Dies legt den Griff nach einer Kompensation nahe. Es ist nicht zufällig, daß schon bald Interpreten hier die Verflechtung von Moral und Religion dingfest machten und kritisierten. 301 Wird aber der Wert der Religion aus der vermeintlichen Defizienz der Moralphilosophie gewonnen, so wird diese wie jene fehlbestimmt. 302 Im Interesse einer kritischen Philosophie sowohl der Religion als auch der Moral sind solche Anleihen zurückzuweisen. 303 Zur Abgrenzung sei der eigentliche und gültige Zusammenhang zwischen Zweckeethik und Religion herausgestellt: Das sittliche Subjekt will und muß sein sittliches Wollen in Zwecken konkretisieren. Es kann eine unbedingt sittliche Zwecksetzung nur erreichen, wenn es in seine Maximen einen unbedingt sittlichen Gegenstand aufnimmt. Dieser Gegenstand ist das höchste Gut. Es ist kein gegebener Begriff, sondern die regulative Idee eines Zweckreiches. Dieses Reich ist am Typus einer nach Freiheitsgesetzen verfahrenden Natur zu imaginieren. In ihm harmonisieren Natur und Freiheit so, daß durch Naturkausalität die Glückseligkeit aus der glückswürdigen sittlichen Handlung folgt. Vor dem Horizont eines solchen Ortes machen nur zwei Zwecke sittlichen Sinn: das Handeln auf eigene Vollkommenheit und das Handeln auf fremde Glückseligkeit hin. Diese Zwecke sind sittlich geboten. Ihre vollkommene Realisierung würde phänomenal das Reich Gottes auf Erden errichten als Reich sittlicher Subjekte. Das Noumenon höchstes Gut ist so Realisationsbedingung seiner selbst als Phänomen. In diesem höchsten Gut kann sich das sittlich reflektierende Subjekt enthalten und erhalten denken. Ferner: Indem das höchste Gut nicht in Immanenz hergibt. Kant allerdings wendet ebd. seine Theorie wieder um in die transzendente Fassung, g e m ä ß der ein weltlicher Lustverzicht einen Lustgewinn im Himmel erhoffen läßt (ebd. S. 1090). 299

Vgl. K.d.p.V. A 2 1 2 / 2 1 3 .

300

Vgl. Rei. Β 87.

301

D i e wohl stärkste Nachwirkung hat die Kritik Heines und Schopenhauers gehabt. Während

Heine äußerlich ansetzte und Kant unterstellte, daß Kant „der P o l i z e y w e g e n " oder für „den alten Lampe" sich Philosophie

Gottes in

„erbarmt" habe,

Deutschland,

(Heine,

Heinrich: Zur

Historisch-kritische

Geschichte

(Düsseldorfer)

der

Religion

Gesamtausgabe,

Band

und 8/1,

Hamburg 1979, S. 8 9 ) will Schopenhauer zeigen, daß die kantische Morallehre ohne theologischeudämonistische W e n d u n g widersprüchlich bleibe (Schopenhauer, Arthur: Preisschrift Grundlage 302

der Moral,

In Reaktion auf Kant wurde diese Kritik erstmalig von Schleiermacher („Über

Reden

Uber

die

in: ders.: Kleinere Schriften, Band II, Zürich 1977, S. 160 ff.).

an die Gebildeteten

unter ihren

Verächtern",

die Religion

-

1799) vorgebracht. D a s in dieser Kritik sich

äußernde t h e o l o g i s c h e Interesse ist als berechtigt anzuerkennen. 303

Vgl.

Paul Tillich:

Über

die

Idee

einer

G e s a m m e l t e Werke ( 1992), Band IX, S. 13-31.

Theologie

der

Kultur

(1919,

1921),

später

in:

Durchführung

75

aufgeht, kann es auch nicht an Immanenz untergehen und somit ethisch asymmetrische Handlungssituationen transzendieren. Das sich an die Verwirklichung des höchsten Gutes machende Subjekt sichert damit seine sittliche Selbstausrichtung und sein sittlich erweitertes Selbst vor weltlicher Zerstörung ab, ohne seine Zwecke und sein Selbst außerhalb dieser Welt anzusetzen. Die nähere Bestimmung der auf die Pflichtzwecke gerichteten Maximen gewinnt das Subjekt über seine am höchsten Gut orientierte Deutung der Welt. Sie muß das unter endlichen Bedingungen unerreichbare Ideal des höchsten Gutes sowie die eigene, als Unbedingtheit erfahrene Anlage zur Sittlichkeit in Symbolen verdeutlichen, welche die Vorstellungskraft anleiten können, ohne die sittliche Idee des Selbst und der Welt auf mundanes Niveau herunterzuziehen. Die Sinnhaftigkeit der nicht in Immanenz aufgehenden sittlichen Selbstausrichtung muß sich als etwas dem gegenständlichen Bewußtsein Faßliches präsentieren. In zu reflektierenden Symbolen wird die anzustrebende Einheit des Selbst und der Welt deshalb antizipiert mit Hilfe transzendenter Vorstellungen. Dazu muß sich das sittliche Individuum imaginativ mittels seiner reflektierenden Urteilskraft an einen utopischen Standort begeben: in das intelligible Reich der Zwecke, in religiöser Symbolsprache: in das Reich Gottes auf Erden. Und eine regulative Theorie des Transzendenten in geltungskräftigen Symbolen zu geben, ist zuinnerst Aufgabe der Religion.304 Eine Aufgabe, die die Ethik der religiösen Reflexion stellt und die das rechtfertigende Noumenon der Religion als Reflexionsform innerer Sittlichkeit ausmacht.

2.2.

Religionsphilosophie

Religion artikuliert nicht ein Sollen anstelle einer Ethik, sie deutet die mit dem unbedingten Selbstverständnis des Menschen sich nicht deckende Verfaßtheit seiner selbst und der Welt. Normative Religionsphilosophie bestimmt deshalb Religion nicht einfach als System moralischer Sätze.305 Trotz ausgesprochener Nähe zur Gesinnungs- und Zweckeethik bewahrt Religion doch eine die Moral übergreifende Eigenständigkeit. Da die konstitutiv-normativen Momente in der Moralbegründung der kantischen Theorie aufgehen, bedarf es der Religion nicht mehr als zweiter und schlechterer Moral, die verheißt und droht.306 Der Selbststand der Religion ist also negativ freigesetzt. Zur positiven Freilegung ihres 304

Vgl. zur Abgrenzung des religiösen vom gemeinen Symbolbegriff auch die „Analyse des Symbolbegriffs" von Gustav Mensching, in: ders.: Topos und Typos. Motive und Strukturen religiösen Lebens, Bonn 1971, S. 197-206. 305 Vgl. Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S.252. 306 Vgl. die Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift, Rei Β III, IV.

76

Durchführung

Noumenon ist aber noch erforderlich, die regulative sittliche Funktion der Religion auch im Phänomenbezug auszuweisen. Zuerst wird hier im Ausgang vom Begriff des transzendentalen Konfliktes die formale Funktion der Religion als reflexives Regulativ der Lebenswelt bestimmt. Das ermöglicht eine Verhältnisbestimmung von regulativer Religionsphilosophie und konstitutiver Moralphilosophie mittels einer Theorie religiöser Symbole. Diese Theorie kann ihrerseits nicht gegeben werden ohne eine Untersuchung von Geltungskraft versus Geltungsanspruch solcher Symbole. Anhand der kantischen Deutung des Christus-Symbols wird der intensionale und extensionale Sinn religiöser Rede bestimmt und ein sittlich gerechtfertigter Religionsvollzug von seinen Depravationen unterschieden. Adäquate wie depravierte Religiosität spiegelt sich in den religiösen Gefühlen religiöser Menschen wieder; religiöse Gefühle gehören für den Gläubigen zum spirituellen Zentrum seiner selbst als eines religiösen Menschen. Um dieser Selbstwahrnehmung, die als emotives Selbst Verständnis häufig gegen die Zulässigkeit einer normativen Betrachtung der Religion ins Feld geführt wird, kritisch begegnen zu können, ist ferner eine Reflexion auf die apriorischen Bedingungen spezifisch religiöser Empfindungen erforderlich. Es wird sich zeigen, daß zwischen dem religiösen Denken und Fühlen interne Verweisungszusammenhänge dazu führen, daß fundamentalistisches religiöses Denken und fundamentalisisierte religiöse Empfindungen einander entsprechen. Die Struktur dieser Entsprechung widerspricht der Intention des Noumenon Religion, gehört aber zum unvermittelten Phänomen religiösen Lebens dazu. Religionskritik, auch solche, die affirmativ zur Religion steht, tritt lebensweltlich als Negation bestimmter religiöser Entwürfe auf. Fraglich ist, ob und wie diese Kritik zu einem Moment der Religion selbst werden kann, das diese ihrem Wesen näherbringt. So die noumenale Unterscheidung guter von schlechter Religion etwas für den religiösen Menschen werden kann, läßt sich das ethische Gemeinwesen als intersubjektives Korrektiv religiösen Denkens und Empfindens, mithin als autokritisches System verstehen. Das ethische Gemeinwesen übersetzt religiöse Innerlichkeit in soziale Äußerlichkeit. Die Negation, die die rechtlich verfaßte Allgemeinheit überbordenden religiösen Verwirklichungsansprüchen entgegenstellt, kann von der Religion zur inneren Selbstfindung genutzt werden. Dabei wird sich zeigen, daß die rechtsphilosophisch ohnehin gerechtfertigte Zurückdrängung religiöser Fundamentalismen bereits religionsphilosophisch gerechtfertigt und erfordert ist. Die lebensweltliche Negation religiöser Absolutismen ist das von der Religion selbst gesuchte Korrektiv, über das sie extern zu ihrem wahren Selbst, zu ihrem Noumenon findet. Der Legitimationsdruck der sittlichen Allgemeinheit bindet religiöse Äußerlichkeit an die Quelle zurück, von der her sie sich rechtfertigt und versteht, indem er religiöse Gemeinwesen mahnt, dem Anspruch, ethische Gemeinwesen zu sein, zu entsprechen.

Durchführung

77

2.2.1. Der transzendentale Konflikt Ein zugleich unbedingtes und bedingtes Wesen, das sich auf seine dichotome Situation bezieht, befindet sich im transzendentalen Konflikt. Das transzendentale Moment ist, daß sich ein jedes gespaltenes Subjekt in irgendeiner Weise zu seiner Verfaßtheit verhalten muß und innerhalb dieser Rückbeugung auf sich notwendig seine Privatheit transzendiert. Konfliktcharakter kommt der jeweiligen individuellen Gegegebenheitsweise der Spaltungs als allgemein-subjektivem Moment zu. Die Jeweiligkeit der Konflikterfahrung ist subjektiv, allgemein ist, daß es notwendig zu je subjektiver Auseinandersetzung kommt. Daß und warum der Mensch auf seine Gespaltenheit reflexiv reagieren muß, ist transzendentalphilosophisch, wie er im einzelnen reagiert, anthropologisch zu untersuchen. Die Religionsphilosophie, die sich mit dem 'Was' möglicher Antworten auf den transzendentalen Konflikt beschäftigt, muß sich zwischen Anthropologie und Transzendentalphilosophie bewegen, wenn sie dieses 'Was' nach seinem 'Woher' (transzendental) sowohl als auch nach seinem 'Wohin' (anthropologisch) verstehen will. Sie tut dies, indem sie die Situationen, anläßlich derer Menschen beginnen, religiös zu reflektieren, auf ihnen etwa zugrundeliegende ethische Asymmetrien hin analysiert. Der transzendentale Konflikt kann an objektiven ethischen Asymmetrien, wie der Ungerechtigkeit des Weltenlaufs, bewußt werden, er kann aber auch durch subjektive ethische Asymmetrien, etwa das Zurückbleiben hinter selbstgesetzten Normen, leidvoll erfahren werden. Ist es noch Sache der Moralphilosophie zu entdecken, daß Subjekte sich reflexiv transzendieren müssen, um angesichts ethischer Asymmetrie als sittliche Subjekte bei sich zu bleiben, so sieht die Religionsphilosophie nun näher auf das 'Was' solcher Reflexionen hin. Das endliche Subjekt scheitert durch seine Schuld alltäglich an der sittlichen Aufgabe. Es ist wichtig, nochmals herauszuheben, daß damit kein konstitutives Scheiternmüssen an einer als unendlich gedachten Aufgabe (Schematisieren des Sittengesetzes) gemeint ist, sondern ein je selbstverantwortetes Scheitern an der steten unbedingten, aber je für sich lösbaren Aufgabe (Symbolisieren) der Sittlichkeit. Deshalb bedarf Kants philosophische Theorie des Menschen auch keiner konstitutiven Theorie der Erbsünde oder des selbstmächtigen Bösen, 307 die das Schlechte in die Menschheit bringen, sondern es genügt eine regulative Theorie des Bösen, die die Zuschreibung der sittlichen Verfehlung ermöglicht. Damit die Vernachlässigung des Guten im menschlichen Handeln nicht als bloße privatio boni erscheint, die etwa der sinnlichen Natur des Menschen anstelle seiner freiheitlichen Verantwortlichkeit zugeschrieben werden müßte, sondern damit die böse Wahl oder die böse Tat als freie Setzung eines das Gute negierenden Bestimmungsgrundes zugerechnet werden kann, fungiert begrifflich

307

Vgl. Simm, Christoph: Kants Ablehnung jeglicher Erbsündenlehre,

Münster 1991, S. 20-23.

78

Durchführung

das Böse als menschliche Option und Opposition des Guten.308 Das Böse markiert die begriffliche Gegenposition zum immer möglichen Guten. Es hat keinen ontologischen Status, weder außerhalb noch innerhalb des Menschen. Das sittliche Scheitern verdankt sich allein der Willkürfreiheit des einzelnen Subjekts, das sein sittliches Selbst jederzeit auch verfehlen kann.309 Wie im einzelnen Wahl und Durchführung der Tat beschaffen sind, ist für die Moralphilosophie unerheblich. Sie nimmt die subjektive Innenperspektive nur als allgemeine auf, klammert aber das je Individuelle im moralischen oder unmoralischen Tun aus. Anders die Religionsphilosophie. Sie thematisiert, was das moralische Gelingen oder Scheitern fur ein endlich-unbedingtes Wesen bedeutet. Das Subjekt, das anstelle des Guten das Böse wählt, zweifelt nicht an seiner prinzipiellen Möglichkeit, sich stattdessen rechtmäßig zu verhalten. Es fühlt sich stark in der Betätigung seiner Willkürfreiheit. Indem es sich als wählendes Subjekt begreift, erkennt es die Möglichkeit an, anders und sittlich zu wählen, - und verwirft sie. Dagegen tritt beim Scheitern der Umsetzung des tatsächlich gewählten Guten die menschliche Schwäche unverstellbar zutage. Im Scheitern der freien sittlichen Selbstbestimmung - im Hiat zwischen Wollen und Können310 - nimmt sich der Mensch selber als ethisch asymmetrisch wahr. Wie kann ein Subjekt, das das Gute will, sich anerkennen, wenn es am Sittlichen scheitert? Die Frage entspricht derjenigen, wie es eine Welt anerkennen könne, die das Gute erkennt, nicht aber umsetzt? Während in einer rein sensibel oder einer rein intelligibel geordneten Welt „niemand würde sich einfallen lassen, auch nur nach der Ursache [sc. einer so verfaßten Welt] zu fragen",311 so ist das offene Miteinander beider Welten etwas, das das Subjekt zu fundamentalen Fragen nach seiner Bestimmung nötigt. Der Mensch weiß sich als jemand, dem es nicht möglich ist, die moralische Verpflichtung, die im kategorischen Imperativ liegt, prinizipiell zu leugnen. Er weiß sich ebenso als jemand, dem es nicht gegeben ist, die Gesetze der Natur .îach seinem moralischen Entschluß zu ändern. Damit

308

Vgl. Rei Β 7, Anm. Die kantische Position wird deutlich im Abgleich mit der Position Schopenhauers. Während nach Schopenhauer das Verfehlen des Guten - an sich betrachtet - notwendig ist aus der Summe der Bedingungen, die im Subjekt und außerhalb des Subjekts vorliegen und das Subjekt lediglich als zeitübergreifende Instanz der Verantwortung für sich selbst angesprochen werden kann, würde Kant die stete Möglichkeit des Alternativverhaltens, anders als Schopenhauer, wenn auch nicht für wahrscheinlich, so doch für immer möglich ausgeben. Vgl. dazu Schopenhauers „ Über die Freiheit des menschlichen Willens", in: ders.: Kleinere Schriften, Band II, Zürich 1977, S. 130-142. 310 In seinem gleichnamigen Aufsatz führt Hartmut Rosenau aus, daß und wie der Konflikt zwischen „Wollen und Können" den begrifflichen Zugang zur inneren Dogmatik des Christentums eröffnet, da dieser Konflikt der beiden Welten im einen Subjekt den Menschen über ein Verhältnis belehrt, in dem er sich immer schon befindet, ohne aber sich selbst in es begeben zu haben. Vgl. Rosenau, Hartmut: Der Mensch zwischen Wollen und Können, in: Theologie und Philosophie 65/1990, S. 1-30 3,1 Rei Β 72, Anm. 309

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79

erfahrt der Mensch sich als ein Individuum, das im gelingenden sittlichen Handeln eine Einheit zwischen Natur und Freiheit zur Geltung bringt, die es als solche (Kommensurabilität) nicht gestiftet hat. Und er erfährt dennoch sich als dasjenige Prinzip, von dem her das jeweilige Zustandekommen der besonderen Synthese im sittlichen Akt zu erklären ist. In Ansehung der Reihe der Bedingungen der sittlichen Tat ist sich das Individuum (via Imputation) als der intelligible Grund der Reihe der sinnlichen Erscheinungen durchaus, wenn auch irreflexiv, bewußt. 'Zuschreibung' und 'Verantwortung' sind Begriffe, mit denen das gemeine Individuum umgehen muß und kann. Moralpraktisch findet Zurechnung 'immer schon' statt.312 Damit muß sich jedes Subjekt in der Verantwortungsübernahme für sein je besonderes Handeln immer auch die in die besondere Handlung eingehenden allgemeinen Strukturbedingungen menschlichen Handelns zurechnen lassen. Das heißt unter anderem: der moralischen Relevanz seines Verhalten kann der Mensch nicht, auch nicht durch Passivität, entgehen. Da sich das gemeine lebensweltliche Individuum nicht von einem transzendentalkritischen Subjektbegriff her begreift, sondern von der Welt und seiner Stelle in ihr, wird es das Unverfügbare im moralischen Gelingen und das Unverfügbare im moralischen Verfehlen, das im Guten und Bösen seiner Handlungen liegt, von dort her zu erklären suchen. Und da es sich nicht selbst zu demjenigen Prinzip eingesetzt hat, von dem her die konfliktträchtigen Strukturbedingungen menschlichen Handelns ihren Ausgang nehmen, wird es seinen sittlichen Selbstkonflikt aus seiner Umwelt erklären. So kommt es zu der für das gegenständliche Bewußtsein typischen Ontologisierung des Bösen als lebensweltliche Verführungsmacht im Spiel der Kräfte. Religion als lebensweltliche Selbst- und Weltauslegung des gegenständlichen Bewußtseins kann verstanden werden als eine reflexive Reaktion auf den transzendentalen Konflikt, in dem sich jedes Ich als Bürger zweier Welten befindet. Der Mensch fühlt, daß er hinter sich und seinen sittlichen Möglichkeiten zurückbleibt und er sieht, daß die Welt im Ganzen nicht besser bestellt ist. Er fühlt sich sittlich verpflichtet und kann doch kein weltlich-immanentes Subjekt ausmachen, das würdig wäre, die Einlösung dieser Verpflichtung einzuklagen. Er fühlt sich angesprochen auf das Gute, doch allein gelassen bei dessen Verwirklichung. Dieser Konflikt, den jeder Mensch zwischen der unbedingten Verpflichtung aus dem transzendentalen Subjektbegriff und der endlichen Realität seines Selbst ertragen muß, zeigt sich phänomenal an emotionalen Differenzerfahrungen.

312

Eine andere Frage ist, mittels welcher Begründung einem unter sinnlichen Bedingungen stehenden Individuum Erscheinungen als 'Dinge an sich' moniphilosophisch zugerechnet werden können. Diese Frage wurde anhand der Imputationsfiinktion der Kategorien der Freiheit geklärt (Vgl. S. 25ff.).

80

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Differenzerfahrungen werden in aller Regel anhand der tragischen Grundsituationen des menschlichen Lebens - Krankheit, Leid, Verlust, Tod - gemacht.313 Es wäre aber verfehlt, Differenzerfahrungen nur auf ein jeweilig innerweltliches Leiden des Subjekts zurückfuhren zu wollen. Auch im Rahmen gelingender Weltbezüge, kann ein Subjekt das 'Leid der Welt' erfahren. Der spezifische Charakter derjenigen Erfahrungen, die zur Religion hin treiben, läßt sich besser aus der allgemeinen Struktur des transzendentalen Konfliktes verdeutlichen. Differenzerfahrungen lassen, anders als innerweltliches Unwohlsein, abhebend von ihrem je bedingten Anlaß das Subjekt die unbedingte Zerrissenheit seiner Lebenswelt wahrnehmen. Differenzerfahrungen zeigen an einer exemplarischen Situation die generelle Unerlöstheit des endlichen Daseins auf. Der Mensch muß angesichts ihrer sein Dasein trotz der Erfahrung umfassender Differenz anzuerkennen suchen.314 Es ist gerade die prinzipielle innerweltliche Unauflöslichkeit des transzendentalen Konfliktes, welche Leiderfahrungen zu Differenzerfahrungen macht. Differenzerfahrungen erschöpfen sich nicht im Leid, sondern das Leid schöpft seine Tiefe aus der fundamentalen Differenz, die das Subjekt auf dem Weg zum Selbst erfahren muß. Daß Differenz erfahren wird, ist transzendentalphilosophisch evident; ob sie als Differenzerfahrung vom Subjekt wahrgenommen und explizit religiös gedeutet wird, muß anthropologisch geklärt werden. Religionsphilosophisch ist herauszustellen, daß diejenigen Erfahrungen, wo das Subjekt sein Leid gerade nicht aus dessen endlichen Bedingungen herleitet, sondern unter unbedingter Perspektive nach seinem Sinn befragt, ex post als Differenzerfahrungen angesprochen werden dürfen. Differenzerfahrungen sind somit keine separate Klasse von Erfahrungen, sondern eine besondere Weise, Erfahrungen zu machen. Ist aber gezeigt, daß kein Subjekt unter dem Anspruch der Freiheit handeln kann, ohne sich seiner sittlichen Pficht bewußt zu sein, daß kein Bewußtsein von Pflicht möglich ist ohne Bewußtsein ihrer nur endlichen Realisierbarkeit und gleichzeitiger Reflexion auf die darin liegende Asymmetrie, daß ferner durch eine Reflexion auf den transzendentalen Konflikt eine Erfahrung zur Einsicht in die lebensweltfundamentale Differenz und zur Frage nach deren Transzendierbarkeit führt, so kann geschlossen werden, daß jedes im emphatischen Sinne praktische

313

Die Endlichkeit und Zerbrechlichkeit der eigenen Existenz, die Ferne und Fremdheit des Anderen, die Unvollkommenheit der Welt, Ekel, Überdruß, Apathie, auch dies sind DifFerenzerfahrungen, deren Charakter weniger von einem gemeinsamen emotionalen Substrat her zu erklären ist, als von der in ihnen sich artikulierenden Einsicht in die Unerlöstheit der Welt. Vgl. Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S.250 ff. 3,4 „Die hier gemeinte Anerkennung ist, als Anerkennung unverfllgbarer Daseinskontingenz, ein grundsätzlich lebenslagenindifferenter Akt." Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung, a.a.O. S. 108.

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Subjekt im hier etablierten Verständnis 'religiös' reflektiert. In diesem Sinne sind Differenzerfahrungen ein Existential vernunftbegabter Sinnenwesen.315 Von der eingesehenen Differenz her fragt das weltliche Subjekt nach dem Woher seiner Weltstellung, nach dem Wohin seiner Weltgestaltung und nach dem Wie seiner Weltorientierung. Diese Fragen laufen in der Frage nach dem Sinn des Lebens, des besonderen eigenen Lebens und des Lebens im allgemeinen, zusammen. Das Entscheidende an diesen Fragen ist dabei, daß sie keinen Konflikt für Fachphilosophen darstellen, sondern jedem handelnden Individuum entstehen. Und die Antworten, die sich das Individuum geben wird, sind keine wissenschaftlich-theoretischen Antworten, und können es auch gar nicht sein, da sie praktisch etwas für das Individuum heranziehen, was ihm theoretisch gar nicht zugänglich ist: eine Theorie des Transzendenten.

2.2.2. Religion und Moralphilosophie Wenn tatsächlich die Religion nicht aus Vernunft erwächst und dennoch innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft eine Theorie des Transzendenten gibt, dann muß sich mittels der Systemschriften Kants der eigentümliche epistemische Status religiös-transzendenter Aussagen angeben lassen. Die kantischen Ausführungen zum Übergang von Moral zu Religion sind Legion.316 Das mag nicht zuletzt daran gelegen haben, daß das Religiöse gegenüber der reinen praktischen Vernunft ein ambivalentes Verhältnis von Zugehörigkeit und Selbständigkeit einnimmt. Dieses Verhältnis gilt es noch näher einzukreisen: Insofern Religion, als eine Selbstauslegung des sittlichen Bewußtseins, eine notwendige und unumgängliche Folge der sittlich-inneren Willkürbestimmung ist, muß Religion von der Vernunftwissenschaft erfaßt und als zur praktischen Philosophie gehörig eingestuft werden. Insofern Religion aber sie selbst ist, indem sie das Andere der Vernunft zu ihrem specificum macht, und folglich nicht aus reiner Vernunft allein herzuleiten ist wie

3,5

„In der Tat fühlen, nicht ohne Ursache, die Menschen die Last ihrer Existenz, ob sie gleich selbst die Ursache derselben sind." Das Ende aller Dinge, A 506. 316 Es ist der Kritik Langthalers (a.a.O. S. 358 und öfter) zuzustimmen, daß leider zur Interpretation des Übergangs von der Moral zur Religion bei Kant meist nur die K.d.p.V., der Fakultätenstreit und die erste Einleitung in die Religionsschrift herangezogen werden, während sich systematisch reflektierte Ausführungen Kants gerade in den konzentrierten Zusammenfassungen seiner Theorie finden, die er in den folgenden späteren Texten gibt: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, 1791, insbs. A 212/213, Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz' und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? (1791), 1804, insbs. A 109 ff., Das Ende aller Dinge, 1794, insbs. A 517 ff., Friede in der Philosophie, 1796, insbs. A 497/498, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, 1796, insbs. A 406/407, Anm.

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etwa reines Recht und reine Ethik,317 kann sie nicht Teil einer doktrinal entfalteten Metaphysik der Sitten sein, die sich als unhistorisch begreifen will.318 Religiöse Ideengebilde, die zum einen auf historischer Kontingenz aufbauen, 319 und zum anderen in ihrem Selbstbezug nicht innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft verbleiben, können mittels reiner Vernunft nicht adäquat beschrieben werden. Eine Deskription ist allerdings auch von Kant nicht beabsichtigt.320 Es geht, wie gesagt, einer praktischen Philosophie der Religion nicht um Religion als Phänomen, sondern um Religion als Ausdruck der Frage nach Bedingungen der Möglichkeit von lebensweltlich sich vollziehender innerer Sittlichkeit. So leistet die praktische Philosophie eine Wesensbeschreibung des praktischen Noumenon Religion, die, angewandt auf historisch-religiöse Phänomene, diese unter die normative Beurteilung (Präskription) der reinen praktischen Vernunft bringt.321 Der Theoriestatus der religiösen Ideengebilde ist damit weder als a priori noch als a posteriori, sondern besser unter dem Kunstbegriff „per posterius"322 anzusprechen. Vermittels (per) eines Gegebenen (posterius), eines religiösen Topos, wird auf ein a priori auszumachendes, allgemeines Bedürfnis der Vernunft besonders geantwortet. Diese Antwort kann dann nachträglich zum Gegenstand metaphysischer Betrachtungen gemacht werden. Es gibt somit ein Erkennen und Handeln anhand und im Rahmen von Religion, das synthetisch und dennoch nicht a posteriori ist. Dennoch gibt religiöse Rede keine synthetischen Sätze a priori bekannt. Religiöse Symbole fuhren zu synthetischer Erkenntnis, insofern und insoweit sie vermittels des synthetisch-praktischen Satzes des kategorischen Imperativs per posterius ausgelegt werden können. Die aus den Symbolen 317 Genaugenommen können auch Recht und Ethik nicht völlig aus reiner praktischer Vernunft genetisiert werden. Es bedarf dafür der Hinzunahme des allgemeinen Begriffs äußerer und innerer Sinnlichkeit als Gegenstand der vernünftigen Prinzipiierung. Damit sind reines Recht und reine Ethik allerdings auf einer weit allgemeineren und abstrakteren Ebene anzusiedeln, als die immer schon auf historisch-kulturell besonderte Situativität aufsetzende Philosophie der Religion. 318 Vgl. M.d.S. T L A 181. 3,9 Vgl. M.d.S. T L A 183. 320 Vgl. Palmquist, Stephen: Does Kant reduce religion to morality?, in: Kant-Studien, 83, 1992, S. 129-148, insbs. 145-148. 321 Vgl. Rei Β XVII. 322 Es ist nicht unproblematisch, diesen Schellingschen Terminus (Philosophie der Offenbarung, Sämtliche Werke: Stuttgart-Augsburg 1856-61, Band XIII, S. 129) bei Kant zu verwenden. Zwar gleicht sich die Theorie der Aufnahme der historischen Religion in den Diskurs der Vernunft bei beiden Philosophen. Auch Kant nimmt das religiöse Bild nicht als Fiktion a posteriori auf, sondern gibt ihm per posterius typologische Bedeutung. Dennoch ist die philosophiesystematische Bedeutung dieses so gewonnenen Bildes bei Kant und Schelling eine ganz andere. (Vgl. zur Verwendung des Terminus bei Schelling: Hartmut Rosenau: Die Differenz im christologischen Denken Schellings, Frankfurt, 1985, S. 113.) Die Mittelstellung des religiösen Datums bedeutet für Schelling, daß (nur) aufgrund eines religiösen Datums sich das in ihm realisierende Vernunftbedürfhis nach „positiver Philosophie" verstehen lasse und damit die Ohnmacht bloßer Vernunft heile. Kant dagegen hält die Synthesisproblematik prinzipiell für abstrakt einsehbar, steht aber dafür ein, daß sie nicht extern zu heilen sei.

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gewonnenen Einsichten überschreiten das in den Symbolen als sinnlichen Zeichen liegende, aposteriorische Weltwissen, und sie überschreiten das ohne Symbole zu gewinnende apriorische Selbstwissen des Subjekts, indem sie ihm ermöglichen, sich anhand ihrer (per posterius) in einer neuen und anderen Weise auf die Welt und auf sich selbst erkennend zu beziehen. Religion ist synthetisch - nicht an ihr selbst, sondern insofern sie im subjektiven Selbstbezug in synthetischer Funktion tätig wird.323 Damit wird das symbolisch tätige Subjekt zur zentralen Instanz der religiösen Wahrheit, ohne welche diese ebensowenig zustandekommt, wie ohne die überprivate Allgemeinheit der religiösen Symbole. Daraus folgt, daß Religion zwar über das System der reinen Vernunft transzendental fundiert, nicht aber aus ihm deduziert werden kann.324 Vor diesem Hintergrund wird Kants systemische Verortung der Religion in seiner Philosophie verständlich: ,,[D]aß R e l i g i o n s l e h r e ein integrierender Teil der allgemeinen P f l i c h t e n l e h r e sei, eingeräumet, ist jetzt nun die Frage von der Grenzbestimmung der W i s s e n s c h a f t , z u der sie gehöret: ob sie als ein Teil der Ethik (...) angesehen [...] müsse werden."325 Darauf antwortet derselbe Passus: „Es ist zwar von einer 'Religion i n n e r h a l b d e n G r e n z e n der bloßen Vernunft' 323 Hier liegt ein entscheidender Fehler Rudolf Ottos in seiner sonst in weiten Teilen Uberzeugenden Aneignung der kantischen Religionsphilosophie (in: Kantisch-Fries 'sehe Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S.119ff. Der Terminus der Synthesis a priori fällt in ders.: Das Heilige ..., a.a.O. S. 179). Otto meint, daß religiöses Fühlen zu einer der intellektuellen Anschauung in etwa vergleichbaren synthetischen Erkenntnis a priori führe, die höherstufig sei als die theoretische und praktische synthetische Erkenntnis a priori. Er siedelt dieses höhere Erkennen im Rahmen der ästhetischen Urteilskraft beim Gefühl des Schönen und Erhabenen an. Die Einheit, die im sinnlich Mannigfaltigen dem Urteilenden gelinge, lasse ihn zutreffend Gott als das Prinzip dieser Einheit ahnen. Da nun gefühlsmäßige Urteile und Ahnungen zwar ihre Wahrheit hätten, andererseits aber nicht diskursiv zu vermitteln seien, so käme auch der religiösen Wahrheit prinzipiell ein synthetisch-apriorischer Status zu, der allerdings weltlich nicht unmittelbar, sondern nur in der intersubjektiv vermittelten Anstrengung der religiösen Kultgemeinschaften eingeholt werden könne. Otto übersieht dabei, daß es bei Kant richtigerweise nicht Gott, sondern der Mensch ist, der sich in der gelingenden Einheit im ästhetischen Urteil als Prinzip dieser Einheit und damit seiner selbst als einzigartige Instanz von Unbedingtheit durchsichtig wird. Gott fungiert in Kants Urteilstheorie nicht als Vermittler der harmonischen Einheit im ästhetischen Urteilsvollzug, sondern in der Rolle des intelligiblen Substrates lediglich als Garant der Kommensurabilität von Unbedingtheit und Bedingtheit. Deshalb ist damit, daß weltliche Subjekte mit gewissen ästhetischen Erlebnissen bisweilen religiöse Spekulationen verknüpfen, für eine Theorie des religiösen Gefühls nichts gewonnen. Denn eine Theorie des genuin religiösen Gefühls sollte nicht bekannte Gefühle zu religiösen Gefühlen umbenennen oder einfachhin phänomenal-religiöse Gefühle als Gefühle eigener Art klassifizieren, sondern vielmehr die spezifische (noumenale) Differenz angeben, die ein Gefühl zu einem religiösen Gefiihl macht. Vgl. dazu den Abschnitt „Das religiöse Gefühl". 324

Darum auch spricht Kant von Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft - „Diese Betitelung war absichtlich so gestellt; damit man jene Abhandlung nicht dahin deutete: als sollte sie die Religion a u s bloßer Vernunft (ohne Offenbarung) bedeuten." Der Streit der Fakultäten, A IX, Anm. 325 M.d.S. T L A 181.

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die aber nicht aus bloßer Vernunft abgeleitet, sondern zugleich auf Geschichtsund Offenbarungslehren gegründet ist und die nur die Ü b e r e i n s t i m m u n g der reinen praktischen Vernunft mit denselben (daß sie jener nicht widerstreite) enthält, die Rede. Aber alsdann ist sie auch nicht r e i n e , sondern auf eine vorliegende Geschichte a n g e w a n d t e Religionslehre, für welche in einer Ethik, als reiner praktischer Philosophie, kein Platz ist."326 Es ist dies - die Applikation - aber nicht der einzige Grund, warum konkrete Religion, ebenso wie konkretes geschichtliches Denken, nicht zum philosophischen System gehört. Tiefer setzt eine andere Überlegung an: Die „Amphibolie der Reflexionsbegriffe", 327 die im konkreten religiösen Denken stattfindet, ist - in einem zunächst wertfreien Sinne des Wortes - unphilosophisch. Sie stellt die in den religiösen Symbolen phänomenalisierte Pflicht als Pflicht diesen Symbolen gegenüber vor. Sie wendet damit den Standpunkt von der subjektabkömmigen Sittlichkeit zur weltlich vermittelten. Damit aber verläßt sie in substantieller Weise die Prinzipien der kantischen Philosophie. Und wenn religiöses oder historisches Denken diese Position statt regulativ konstitutiv einnimmt, steht es im Widerspruch zu ihr. Aus dem Bisherigen folgt für eine Philosophie des Noumenon Religion zweierlei: Sie müßte diejenigen Vernunftfunktionen namhaft machen können, die jeder Mensch beansprucht, wenn er nach Antworten sucht, die ihm weder die Empirie (naturwissenschaftliche Welterklärung) noch reine praktische Vernunft allein geben kann. Relativ darauf müßte das Phänomen Religion, für Kant also das Christentum des ausgehenden 18. Jahrhunderts, symbolische Topoi bieten, die von dem Philosophen, „von ihrer mystischen Hülle entkleidet",328 als Selbstdeutungen der Vernunft am Orte des Anderen ihrer selbst verstanden werden können. Es müßten diejenigen Begrifflichkeiten der reinen praktischen Philosophie, die den sittlichen Vollzug als Zusammenschluß dreier transzendentaler Vermögen kennzeichnen, auftauchen und im Rahmen der Synthesisproblematik wieder virulent werden. Dieses Ineinander von reiner und angewandter philosophischer Religionslehre läßt sich gut am Beispiel der kantischen Reformulierungen der Trinitätslehre verdeutlichen.329 An der Lehre von den drei Personen Gottes kann gezeigt werden, daß beides gemeinsam, - das Vorhandensein einer von sich aus auf das Andere ihrer selbst verweisenden Vernunftsystematik und ein philosophisches Erkennen der historischen Religion (per posterius) als vernunftgemäßes Korrelat der sittlichen Selbstergreifung des gegenständlichen Bewußtseins, - in Kants Philosophie der Religion den systematischen Schwerpunkt bildet. Dies erfordert 326

M.d.S. T L A 183. M.d.S. T L A 106. 328 Rei. Β 114. 329 Um jeden Zweifel am regulativen epistemischen Status der trinitätstheologischen Überlegungen Kants auszuschließen vgl. Der Streit der Fakultäten, A 51. 327

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eine Untersuchung des systematischen Zusammenhangs der drei kategorial gewonnenen Vernunftideen, die in der Religionsschrift als die drei religiösen Ideale der reinen Vernunft, vorgestellt in den drei Personen Gottes, wiederkeh" ren.330 Deren systematisches Aufeinanderzurückgehen ist bisher in keiner ausfuhrlichen Interpretation der kantischen Religionsschrift ausgearbeitet worden.331

2.2.3. Das religiöse Symbol Kant macht mehrfach Ausführungen zu einer philosophischen Interpretation der Trintitätslehre gemäß den im sittlichen Handeln beteiligten Vernunftvermögen, wobei er zumeist wie folgt gliedert: moralische Gesetzgebung (Gott-Vater), Regierung (-Sohn) und Rechtsprechung (-Geist). Allerdings sind die entscheidenden Textstellen 332 uneinheitlich und mehrdeutig. Anders ist dies nur beim Paradigma des „Menschensohnes", da Kant hier explizit und ausfuhrlich die Anbindung an das Begriffssystem der Kritik der praktischen Vernunft vor" nimmt.333 Deshalb ist die Frage zu stellen: Welche Bedeutung hat Jesus als Christus für die menschliche Vernunft?334 Um Mißverständnisse auszuschließen: Es geht hier nicht um die Heiligsprechung des historischen Jesus von Nazareth durch reine praktische Vernunft, sondern um die Entfaltung des philosophischen Begriffs der personifizierten Idee der sittlichen Freiheit - am Beispiel des Christusbegriffs (vere homo, vere deus)325 Der gedankliche Fortschritt, den diese

330

Zum Interesse der systematischen Rückführung der religionsphilosophischen Topoi in der Religionsschrift auf die Systematik der Vernunftideen sei nochmals auf die bereits (in Anmerkung 316) erwähnten Aufsätze Kants aus den 90er Jahren verwiesen, in denen er bereits auf seine eigenen Überlegungen in der Religionsschrift reflektiert und weitgehende systematische Hinweise zum Verständnis der logischen Folge der religionsphilosophischen Denkfiguren gibt. 331 Man muß allerdings auch die vielfältigen Unklarheiten in Rechnung stellen, die sich daraus ergeben, daß Kant stets aufs neue und systematisch ungeordnet sich dieser Materie annahm. Erste trinitätstheoretische Distinktionen finden sich bereits in den Vorarbeiten zur K.d.p.V. und in dieser selbst, vgl. K.d.p.V. A 237, Anm., letzte im Opus Postumum. Vgl. auch den Beitrag von Wimmer: Die Religionsphilosphie des Opus Postumum', in: Marty F. / Ricken F.: Kant über Religion, Münchener philosophische Studien, Band 7, Stuttgart 1992, S. 195-229. 332 Vgl. Rei. Β 21 If. und Β 221, Anm. 333 Vgl. Rei. Β 74 ff. 334 Die bislang komprimierteste Zusammenstellung der christologisch relevanten Äußerungen Kans liefert: Sala, Giovanni B.: Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religonsschrift, in: in: Ricken, Friedo / Marty, Francois: Kant über Religion, Köln 1992, S. 143-155. 335 Seit dem Konzil von Nizäa (325 n.Chr.) zieht sich die Begrifflichkeit des vere deus / vere homo durch die christologische Tradition. Die Akten des Konzils von Chalkedon (451 n. Chr.) enthalten den ursprünglichen Text, der hier auszugsweise wiedergegeben wird: „Credo in unum Deum [...] Et in unum Dominum Jesum Christum, filium Dei unigenitum et ex patre natum ante omnia saecula, Deum de Deo vero, genitum, non factum, consubstantialem patri, [...] qui descendit [...] et homo

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Untersuchung über den christlichen Rahmen hinaus erbringen wird, ist die Ausleuchtung des Verhältnisses von Begriff und Wirklichkeit in einer normativ sich verstehenden Religionsphilosophie. Dazu sind zuerst aus der bisherigen Untersuchung die Funktionen des religiösen Symbols im Selbstbezug der sittlichen Person herauszuheben. Es liegt dem sittlichen Bewußtsein notwendig durch reine praktische Vernunft die Idee ethisch unbedingter Selbstbestimmung zugrunde. Diese Idee muß nun, soll sich das endliche Subjekt in der auf positive Willkürbestimmung zielenden Selbsterfassung nach ihr richten können, etwas für das Subjekt sein. Es muß sich vorstellen können, daß es möglich ist, unter und gemäß dieser Idee zu handeln. Kurz: das endliche Individuum kann die Idee für sich nur einholen, wenn es sie als wirklich in der Sinnenwelt annimmt. Es muß sich die Idee notwendig so denken, daß sie in concreto, und das meint hier: in individuo,336 realisiert ist. Die ethische Vollkommenheit, die die Idee fordert, muß, um nicht leerer Appell zu bleiben, in ihrer Synthesisleistung als bereits geleistet gedacht werden, damit das endliche Subjekt sie als auch von ihm leistbar ergreifen kann.337 Die regulative Idee wird das sie moralisch ergreifende Subjekt notwendig nach einem „Urbild"338 der von ihm zu leistenden Synthese Ausschau halten lassen, damit es das für es Unbegreifliche (hier: die unbedingt ethische Selbstbestimmung) lebensweltlich veranschauliche. So muß der regulativen „Idee der moralischen Vollkommenheit in einer Person" ein „Ideal der moralischen Vollkommenheit" als Symbolisierung entsprechen. Denn: „Idee bedeutet einen Vernunftbegriff, und Ideal die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens." 339 Während die Idee allgemeines Prinzip ist, ist das Ideal bereits besondert, so daß es ohne den normativen Gehalt der Idee zum Idol verfallt.340 Das Subjekt gewinnt, so die Religionsschrift, das Bild der Idee als Ideal durch den „Schematism der Analogie."341 In der Kritik der Urteilskraft wird statt des von Kant selbst fur mißverständlich erachteten Ausdrucks342 des „Schematismus

factus est;" Die Verbindung des Christus „incarnatus" und des Vaters leistet der Heilige Geist, der „ex patre filioque procedit". 336 Zum Begriffverhältnis Idee / Ideal vgl. Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik a.a.O., S. 50. 337 Hieraus erklärt sich auch Kants Ablehnung, Christus so sehr zu vergöttlichen, daß sich die Durchsetzung der Moralität in ihm nicht als hervorragende menschliche Leistung, sondern als göttliches Wunder versteht. Denn dann entfiele ja der symbolische Beweis der Erreichbarkeit des Guten in der Welt, der in der „Idee der moralischen Vollkommenheit in einer Person" angelegt ist. Vgl. Rei Β 75. 338 Rei. Β 75. 339 Κ.d.U. Β 55. 340 Kants Kritik an der Idolatrie der Kirchen bei gleichzeitiger Affirmation der Symbole des Christentums läßt sich so konsistent durchhalten. Vgl. beispielsweise Rei Β 192, Anm., Rei Β 287. 341 Rei Β 82. 342 Vgl. Rei. Β 82, Anm.

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der Analogie" der des „Symbols"343 eingeführt. Bei diesem Begriff besteht, laut Kant, nicht mehr die Gefahr der anthropomorphistischen ,,μεταβασισ εισ αλλο γενοσ", 344 die das zu praktischen Zwecken phänomenalisierte Noumenon zum Gegenstand phänomenaler Erkenntnis nimmt. Im Kapitel zu Schematismus versus Symbolisierung wurde die kantische Sprachkorrektur noch nicht in Anspruch genommen, da es dort grundlegungstheoretisch darum ging, den Symbolbegriff systematisch im transzendentalkritischen Ansatz zu verankern, anstatt einfachhin Kants sprachlicher Neufassung zu folgen. So kann gesehen werden, daß die Bezeichnung religiöser Bilder als Symbole nicht nur eine neue Redeweise Kants ist, sondern seiner Theorie folgt. In philosophischen Termini liest sich der Übergang von der sittlichen Idee zum Ideal also: das gegenständliche Bewußtsein phänomenalisiert die harmonische Einheit von Natur und Freiheit in religiösen Symbolen und realisiert im Vollzug eigener sittlicher Anstrengung die an sich seiende Kommensurabilität beider Welten für sich. Die transzendente Orientierung wird im Akt sittlichen Handelns über die Zwecke dieses Handelns wieder auf die zu reformierende endliche Welt zurückbezogen. Das gesinnungsethisch reflektierende Individuum findet im Symbol Christus durch Reflexion das Ideal moralischer Vollkommenheit in einer Person, das die Idee moralischer Vollkommenheit trotz und in menschlicher Endlichkeit verkörpert. Das Subjekt kann sich das sittliche Gelingen, das in Christi Leben vorgeführt ist, zum Fluchtpunkt seiner eigenen Anstrengungen nehmen, und die weltlichen Anfechtungen zurückweisen aus der vertrauenden Gewißheit, daß Jesus als Mensch noch größeren Versuchungen widerstand. Das Wissen, daß die weltliche Anfechtung keine Entschuldigung ist vor dem „göttlichen Richter" und das Vertrauen, daß sie mit menschlichen Kräften zu bewältigen ist, macht den „Herzenskündiger" zum „Menschenfreund", 345 der antizipiert, was zu realisieren die Erfüllung des Subjekts als Selbst bedeutet. Dieselbe formale Struktur gilt auch für die zweckeethische religiöse Reflexion. Sie richtet die zweckeethische Suche nach dem höchsten Gut auf das Symbol des „Reiches Gottes auf Erden" aus.346 Auch hier antwortet die Religion auf die Frage nach der Möglichkeit der Bewahrung der Endlichkeit im unbedingt sittlichen Handeln. Das höchste Gut als Moment und Ziel dieses Handelns gibt sich, in religiösen Termini formuliert, genau dann dem Handelnden als Teilhabe am Reiche Gottes auf Erden zu erkennen, wenn dieser gerade nicht um dieser Teilhabe willen, sondern im unbedingten Vertrauen auf die Sinnhafitigkeit der 343

K.d.U. Β 254 ff. Rei. Β 83, Anm.: „Zwischen dem Verhältnisse aber eines Schema zu seinem Begriffe und dem Verhältnisse eben dieses Schema des Begriffs zur Sache selbst ist gar keine Analogie, sondern ein gewaltiger Sprung (metabasis eis alio genos), der gerade in den Anthropomorphism hinein führt, wovon ich die Beweise anderwärts gegeben habe." 345 Vgl. Das Ende aller Dinge, A 519. 346 Vgl. Rei Β 131 ff., K.d.p.V. A 231. 344

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sittlichen Entschließung seine Zwecktätigkeit ausrichtet. Auch hier wird vom religiösen Bewußtsein die Vorgängigkeit der geglückten Synthesis geglaubt. Im Reich Gottes ist für das religiöse Bewußtsein objektiv Freiheit mit Natur und subjektiv Glückswürdigkeit mit Glückseligkeit harmonisiert. Damit herrscht zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit im Reich Gottes kein sukzessives Belohnungsverhältnis, sondern eine (auch zeitlich) unbedingte Sinn-Einheit. Das sittliche Subjekt erhält dort keine Prämie für gute Taten, sondern ihm erfüllt sich unmittelbar der Sinn des Sittlichen, indem das Sittliche dort in vollkommener (naturaler) Zweckmäßigkeit aufgeht. Das heißt: das Reich Gottes ist die gedachte Umkehr aller ethischen Asymmetrieverhältnisse. Das Subjekt kann sich unbedingt auf die Symbolisierung dieses Zweckreiches ausrichten, weil unter dem Standpunkt des Reiches Gottes nur die sittliche Tat eine sinnvolle Tat ist. Damit handelt das Individuum auf eine Einheit hin, die es als bereits gestiftet ansehen muß, um sich angesichts seiner endlichen Möglichkeiten in ihr aufgehoben denken zu können, so transzendiert das religiöse Symbol des Reiches Gottes auf Erden die weltlichen Verhältnisse, nicht um sie zu überfliegen, sondern um sie zu reformieren. Damit geben Gesinnungsethik und Zweckeethik je einen bestimmten reflexiven Geltungssinn religiöser Symbole vor. Der Bezug zur Moral ist der Religion mithin kein äußerlicher, dem seine Funktion erst extern zugeschrieben werden muß, sondern innerlicher Natur. Zwar gewinnen die Symbole der Religion gegenüber der Moral ihren Selbststand in der sozialen und in der kulturellen Welt, und es ist auch zu konzedieren, daß die sittliche Autonomie des Menschen die religiösen Symbole weltvermittelt aufgreift, anstatt sie autonom zu entwerfen, dennoch aber ist das rechtfertigende Noumenon der religiösen Symboltätigkeit eines, das im Selbstbezug subjektiver Sittlichkeit seinen Ort hat und weder in der Transzendenz (Theologie) noch in der Immanenz (Sozialnützlichkeit) eines religiösen Symbols seine angemessene „Rektifikation" 347 findet. Als weltvermitteltes Symbolsystem ist Religion immer relativ auf ihren kulturellen Ursprung, nicht aber durch ihn relativiert.348 Ansonsten wäre beispielsweise ein Religionsexport in eine andere als die Ursprungskultur, wie auch inhaltliche Konvergenz ursprungsdifferenter Religionen nicht zu erklären.349 Im Ausdruck des Lebenssinns können religiöse Sätze eine selbständige orientierende Wahrheit haben, die, wenn religiöse Sätze

347

Der Streit der Fakultäten, A 76. Auch für religiöse Sätze gilt die Scheidung von Geltung und Genese. Deshalb sind entfremdungstheoretische und projektionstheoretische Ansätze nicht geeignet, die originäre Sinnebene religiöser Sätze zu untergraben. Vgl. Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S. 249. 348

349

Beides aber bezeugt die geschichtliche Wirklichkeit: sowohl bspw. der erfolgreiche Export des abendländischen Christentums nach Afrika und Lateinamerika, als auch die augenfälligen inhaltlichen Konvergenzen von spätmittelalterlicher Mystik, islamischem Sufismus und verschiedenen Formen des Buddhismus.

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sich auch inhaltlich integrativ zu menschlicher Geisttätigkeit verhalten, performativ sektoral neben andere Sprach- und Aussageformen tritt. Religiöse Sätze artikulieren praktische Lebenswahrheit anhand historischer Kontingenz in der Form des personalen Bekenntnisses zu einem überpersonalen Deutungshorizont. Dieses Bekenntnis schafft sich seine eigentümlichen Sprachformen solcher Lebensorientierung, zu der auch die Personalisierung des dialogischen Gegenübers gehören kann. Mittels der bisher erarbeiteten Grundlage kann nun der Geltungssinn eines konkreten religiösen Symbols religionsphilosophisch bestimmt werden. Die Deutung, die Kant dem Christussymbol gab, läßt sich als Anwendung seiner noumenalen Religionstheorie auf ein religiöses Phänomen rekonstruieren. Sie muß nicht als Konfusion philosophischer Theorie und christlicher Dogmatik verstanden werden. Die Art und Weise, wie Kant dabei mit der für sich selbständigen theologischen Christologie umgeht, ist das hier vorrangig Interessierende.350 Die christologische Lehre vom vere homo, vere deus wird per posterius auf das Bedürfnis der endlichen Vernunft bezogen, sich positiv die geglückte Synthesis sittlichen Handelns vorzustellen.351 Christus wird an der dem Ideal der moralischen Vollkommenheit noumenal zugewiesenen Funktion gemessen.352 Seine sittliche Legitimation ist gleichzeitig Limitation seiner Numinosität. Denn er ist ja nicht mehr und nicht weniger als die symbolische „Idee der moralischen Vollkommenheit in einer Person." Wenn Christus so gewissermaßen den Schlußstein ethischer Selbstbestimmung bilden soll, ist zu fragen: Wie kann eine gelungene private Beziehung zu dieser verkörperten Idee aussehen? Antwortend transformiert Kant den theologischen Topos der Nachahmung Christi (τψποσ μιμετεσ) zu einer religionsphilosophischen Lehre über den rechten Umgang mit religiösen Symbolen überhaupt.353

350

„Auf solche Weise müssen alle Schriftauslegungen, s o f e r n s i e d i e Religion b e t r e f f e n , nach dem Prinzip der in der Offenbarung abgezweckten Sittlichkeit gemacht werden, und sind ohne das entweder praktisch leer oder gar Hindernisse des Guten.- Auch sind sie alsdann nur eigentlich a u t h e n t i s c h , d.i. der Gott in uns ist selbst der Ausleger, weil wir niemand verstehen, als den, der durch unsem eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangengen Lehre also durch nichts, als durch Begriffe u n s e r e r Vernunft, so ferne sie rein-moralisch und hiermit untrüglich sind, erkannt werden kann." Der Streit der Fakultäten, A 70. Kursive Hervorhebung von mir. 351

Vgl. Rei. Β 77. Vgl. Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik, a.a.O., S. 474. 353 Kants Interpretation steht dabei in interessanter Entsprechung zur paulinischen „typos mimetes"-Lehre. Anders als die überwiegende Position der Evangelien und der deuteropaulinischen Schriften bestimmt Paulus (im 1. Thessalonier- und im Philliperbrief) mit seiner Grundlegung der Ethik aus dem typos mimetes (der Nachahmung Christi) eine Position, die auf die geistige Nachahmung der christlichen Idee, weniger auf den sinnlichen Nachvollzug der jesuanischen Werke ausgerichtet ist, und formuliert so eine Position, für welche der die Realität überschießende ideale Gehalt des Christussymbols konstitutiv ist. Darin liegt die sowohl 352

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Christus als Ideal der moralischen Vollkommenheit fungiert als Symbol des Sittengesetzes. Das heißt für den Nachvollzug der endlichen Individuen, daß sie nicht ihm, insofern er ihnen sinnlich erscheint (Phänomen), nachfolgen sollen, sondern insofern sich in ihm die Idee der moralischen Vollkommenheit in einer Person (Noumenon) repräsentiert. Die Idee der moralischen Vollkommenheit äußert sich im Ideal Christus in einer Weise, die überdies gar nicht phänomenal nachgeahmt werden kann (Auferstehung354 und Sündlosigkeit). Entscheidend ist, daß dennoch nicht beabsichtigt ist, Christus auf den Status eines innerweltlichen Vorbildes herabzuziehen und dann das Gebot auszugeben, so zu handeln wie dieses.355 Hier liegt die entscheidende Stärke der kantischen Symboltheorie, welche den die Realität überschießenden Sinngehalt, den ein religiöses Symbol mit sich führt, aufnimmt. Der vere deus im Christusbild wird von Kant nicht unterschlagen.356 Christus ist nicht nur beispielhafter Mensch, sondern Symbol einer anderen Welt. Diese andere Welt ist aber keine jenseitige, sondern die sittliche Utopie des Reichs der Zwecke, die jedem genuin sittlichen Handlungsentwurf zugrunde liegt. Der Gedanke ist der, daß die Überweltlichkeit, die zum Beispiel im Symbol 'Christi Auferstehung' liegt, durchaus akzeptiert wird, da sie nicht theoretisch-konstitutiv, sondern praktisch-regulativ als Symbol der Überwindung des Fleisches (der Fremdgesetzlichkeit) durch den Geist (die Freiheitsgesetzlichkeit) gedeutet werden kann.357 Das Symbol Christus will die Idee der moralischen Vollkommenheit in einer Person nicht versinnlichen (Jesus von Nazareth als Schema der Sittlichkeit), sondern versinnbildlichen. Im Ideal können wir die Idee nicht anschauen, wohl aber veranschaulichen (Christus als Symbol theologische als auch ethische Neuheit seines Ansatzes im Vergleich mit den seinerzeit traditionellen judenchristlichen Gedankenkonzepten, sowie seine Nähe zu Kant. 354 Deshalb würde auch Kant nie der Aussage Paulus (1 Kor. 15, 14) zustimmen, daß an diesem Symbol als phänomenalem Wunder die Sinnhaftigkeit des Glaubens hänge. Vgl. Rei Β 192 und Der Streit der Fakultäten, A 53. 355 Das ist eine unangemessene Wiedergabe der kantischen Christologie zu sein, die den systematischen Unterschied zwischen Beispiel und Symbol verkennt, beispielsweise bei: Sala, Giovanni B.: Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religonsschrift, in: Ricken, Friedo / Marty, Francois: Kant über Religion, Köln 1992, S. 154, wenn er schreibt, daß „Kants Jesus nichts mehr als ein Mensch ist, der das in jedem Menschen eingeschriebene Sittengesetz verkündigt und exemplarisch vorgelebt hat". Dabei hätte sich Sala doch bereits wenige Seiten weiter bei Bohatec, auf den Sala sich ebd. (S. 154, Fn. 12) sogar bezieht (!), ausführlich über Kants Verwendung der Begriffe Idee und Ideal informieren können. Vgl. Bohatec, Josef: Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft". Mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch-dogmatischen Quellen, Hamburg 1938 (repr. Hildesheim 1966), S. 361-364. 356

Anders: Hartmut Rosenau: Philosophie und Christologie, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 29/1987, insbs. S. 53/54. 357 Der noumenale Gehalt der Auferstehung kann sehr wohl mit der kantischen Religionsphilosophie bejaht werden. Was der - berechtigt scharfen - Kritik Kants (Rei Β 192, Anm.) verfällt, ist lediglich der phänomenale Gehalt dieser Idee, insofern er in irgendeiner Art theoretisch oder konstitutiv gebraucht wird. Die kantische Nähe zu Paulus (Röm. 8, 1-17) ist also durchaus kritischer Natur.

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der Sittlichkeit). Das Wort 'Ideal' indiziert ja bereits, daß es zur Idee der moralischen Vollkommenheit in einer Person keine konstitutive phänomenale Entsprechung geben kann.358 Dennoch repräsentiert das Ideal das Noumenon der Idee als Faktum der Sinnlichkeit. Es kann damit systematisch gar nichts anderes sein als eine symbolische Hypotypose. Selbst wenn Jesus historisch der Christus gewesen wäre, so stünde die Vorabbedingtheit der menschlichen Erkenntnis a priori dafür ein, daß er uns als dieser unerkennbar geblieben wäre.359 Wir hätten durch kein 'Wunder' dies erfahren, durch keine 'Offenbarung' dies begreifen können, wenn wir nicht schon zuvor dafür ausgelegt gewesen wären, die Synthesis zwischen Unbedingtem und Bedingtem in Symbolen aufzusuchen. Ein Gedanke, wie der des vere homo / vere deus kann also gar nicht empirischen, sondern nur noumenalen Ursprungs sein.360 Das Wissen um die Vermittlungsbedürftigkeit des Geistes kann nur ein Wissen des Geistes selbst sein, dem die Vermittlung zum Problem wird. Und nur eines endlichen Geistes Selbstvermittlung ist problematisch, muß Kontingenz überwinden und wird sich so ihrer Selbst-Bedürftigkeit bewußt. Die Quelle der Religion liegt so gleichermaßen in der Endlichkeit und in der Unbedingtheit der menschlichen Vernunftsubjektivität. Der religiös gewonnene Sinn ist es, der für das menschliche Individuum das fraglich gewordene Verhältnis beider vermittelt. Für die sittliche Nachahmung Christi folgt aus dem Vorangegangenen: Man kann Christus nicht auf Christi Wegen, sondern nur auf dem je eigenen Weg folgen. Geboten ist nicht der phänomenale Nachvollzug seiner Werke, sondern, den Geist (noumenal) in sich zur Geltung zu bringen, aus dem heraus er handelte.361 Geboten ist nicht, an ihn zu glauben, sondern an das, was er symbolisiert: die Möglichkeit sinnhafter Sittlichkeit in einer nicht schon nach Freiheitsgesetzen geordneten Welt, an das „moralische Wunder", das er verkörpert.362 Christus ist damit nicht konstitutiv für den moralisch-praktischen 358

Vgl. K.d.U. Β 55. „Vielmehr müßten wir eine Weisheit, die uns persönlich erschiene, zuerst an jenen von uns selbst gemachten Begriff, als das Urbild, halten, um zu sehen, ob diese Person auch dem Charakter dieses selbstgemachten Urbildes entspreche; und selbst alsdann noch, wenn wir nichts an ihr antreffen, was diesem widerspricht, ist es doch schlechterdings unmöglich die Angemessenheit mit demselben anders als durch übersinnliche Erfahrung (weil der Gegenstand übersinnlich ist) zu erkennen: welches sich widerspricht." Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 415, Anm. 360 Selbst wenn uns die Erfahrung ein „B e i s ρ i e 1 eines Gott wohlgefälligen Menschen an sich gegeben hätte, so weit man dies nur von äußerer Erfahrung verlangen kann", wäre „das U r b i l d eines solchen immer doch nirgends anders als in unserer Vernunft zu suchen." Rei Β 79. 359

361

„Der N a c h a h m e r (im Sittlichen) ist ohne Charakter: denn dieser besteht eben in der Originalität der Denkungsart. [...] Jener ist der Ν a c h ä f f e r des Mannes, der einen Charakter hat." Anthropologie in pragmalischer Hinsicht, A 267. 362

Wimmer faßt dieses Vertrauen zu sinnhafter Sittlichkeit unter der Formulierung des Glaubens an „moralische Wunder". Wimmer, Rainer: Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin / N e w York, 1990, S. 210.

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Glauben, sondern regulativ für die sittliche Selbstorientierung. Nicht weil Christus ist, soll geglaubt werden, sondern weil an den Sinn sittlichen Seins geglaubt wird, kann Jesus als Christus religiöses Symbol sein. Der Christus hat die Dignität seiner Stellung als Ideal der moralischen Vollkommenheit nicht aus sich heraus, sondern aus der Eignung des von ihm durch die Religion skizzierten Bildes, die Idee der moralischen Vollkommenheit in einer Person sinnlich zu repräsentieren. Wem in anderen Bildern dieser ideelle Gehalt sich offenbart, bediene sich also dieser zum Symbol.363 Viel spricht dafür, daß nur ein menschliches Symbol diese Funktion erfüllen kann.364 Nur an reflexiven Wesen kann die Problematik der menschlich-sittlichen Synthesis angemessen phänomenalisiert werden. Das soll nicht heißen, beliebige Menschen könnten willkürlich zu Symbolen der Sittlichkeit verklärt werden. Symbole sind keine Setzungen und keine bloße Sache der Zweckmäßigkeit und Konvention, wie etwa Zeichen. Selbst wenn ein Symbol von einem einzelnen Menschen gestiftet wird, zum Beispiel durch künstlerisches, politisches oder prophetisches Tun, so wird es zum Symbol erst dadurch, daß es von der religiösen Gemeinschaft als normatives Leitbild angenommen wird.365 Denn das Symbol hat seine geltungstheoretische Seinsquelle in seiner (transzendentalen) Funktion, nicht aber in einer ihm innewohnenden transzendenten Substanz. Es läßt sich nun bestimmen, welche Stellung Kants Religionsphilosophie zwischen Theologie und Philosophie einnimmt. Anhand des christologischen Paradigmas läßt sich das Verweisungsverhältnis von theologischem Dogma und philosophischem Satz bestimmend klären. Vor dem Hintergrund christlicher Tradition läßt sich beispielsweise fragen, ob Kants Theorie mehr dem Modell einer „episodischen Christologie" oder dem Modell einer „konstitutiven Christologie"366 entspricht. In einer episodischen Christologie kann die Rolle Christi prinzipiell auch durch jeden anderen heiligmäßigen Menschen vertreten werden, da Christus nur zum Bild dient für etwas mit diesem Bild Gemeintes: der sittliche Subtext überschießt und relativiert das christliche Symbol. Stattdessen macht konstitutive Christologie den historischen Jesus zur Einbruchsteile der göttlichen Erlösung in die Weltgeschichte, die damit zur Heilsgeschichte wird: das Christussymbol überschießt und relativiert den sittlichen Subtext. Sicher ist, daß Kant letzteres weit von sich wies. Seine gesamte Lehre ist gegen diese Art der „Afterreligion" gerichtet. Dennoch, meine ich, kann man Kant nicht einfachhin unter dem Modell einer episodischen Christologie rubrizieren. Mit seinen begrifflichen Mitteln gelingt es ihm, eine Zwischenstellung zwischen beiden 363

Vgl. Der Streit der Fakultäten, A 46/47. Vgl. Tillich, Paul: Recht und Bedeutung religiöser Symbole, in: Die Frage nach dem Unbedingten, Gesammelte Werke V, Stuttgart, 1964, S. 243/244. 365 Vgl. Tillich, Paul: Recht und Bedeutung religiöser Symbole, a.a.O., S. 238. 366 Zu den Begriffen: Hartmut Rosenau: Philosophie und Christologie, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 29/1987, S. 54. 364

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Modellen einzunehmen, die weder philosophistisch,367 noch theologisch, sondern genuin religionsphilosophisch ist. Während der dogmatisch-theologische Ansatz innerhalb der Philosophie zu einem „salto mortale" der reinen Vernunft führt, und während ein rein vernunftapriorischer Methodismus in der Theologie zur totalen Relativierung ihrer Symbolik überleitet, gelingt es dem normativ-kritischen religionsphilosophischen Ansatz durch Integration, die Konfrontation aufzuheben. Unsere religionsphilosophische Analyse war soweit gekommen, den noumenalen Gehalt des Christussymbols getrennt von dessen phänomenalem Gehalt zu erfassen. Nun ist es aber keineswegs so, daß der noumenale Gehalt damit diskursiv herausgestellt und das Symbol verabschiedet werden könnte, sondern gerade das Symbol ist es, durch das erst die Vernunft per posterius zu sich selbst gefuhrt wird und mittels dessen sie sich immer aufs neue reflektierend begegnet. Das im Symbol angedeutete Ziel sittlicher Selbstbestimmung ist eben eines, dem nicht mit stehenden Begriffen, sondern nur mit situationsrelativem Reflektieren der Urteilskraft entsprochen wird.368 Das heißt nicht, daß unbedingte Vernunft von bedingten historischen Phänomenen abhängig gemacht wird, wie etwa dem Auftauchen eines Jesus von Nazareth in der Menschheitsgeschichte, das heißt aber wohl, daß der in dem Symbol Christus ausgesprochene Gehalt einer ist, der so nur in diesem Symbol Ausdruck finden kann und nicht durch beliebige Formulierungen ersetzbar ist. Es ist der entscheidende Vorzug der kantischen Theorie, daß sie insofern das Christusgeschehen noumenal unreduziert und als einzigartig erfaßt, und es dennoch nicht zum phänomenal-konstitutiven Fundament der Selbstvermittlung der Vernunft kürt. Das heißt nicht, daß Kant die Ohnmacht der menschlichen Vernunft, sich selbst durch absolute Synthesis zu erlösen, nicht sieht. Für Kant läßt sich die in der Theologie durch die Christologie aufgefangene soteriologische Ohnmacht369 des Menschen keineswegs durch die Selbsterlösung der Vernunft aufheben. Aber er akzeptiert die Endlichkeit des Menschseins und lehnt es ab, ihr durch historische Religion auszuweichen.370 367

Zum Begriff des Philosophismus im vorliegenden Kontext vgl. Koslowski, Peter: Imperative bewußten Seins. Gnosis und Mystik als andere Aufklärung, in: Höhn, Hans-Joachim: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 177. 368 Vgl. dazu die Ausführungen im Abschnitt Schematismus versus Symbolisierung. 369 Zur theologischen Funktion der Christologie als Reaktion auf die soteriologische Ohnmacht des Menschen vgl. Rosenau, Hartmut: Allversöhnung - Ein transzendentaltheologischer Grundlegungsversuch, Berlin 1993, S. 41fF. 370 Dies muß in aller Deutlichkeit herausgehoben werden angesichts der streckenweisen Übereinstimmung der kantischen Theorie mit der Schellings, deren Umschlag in positive Gotteslehre sie allerdings fernsteht. Übrigens: Der „Sprung" der philosophischen Vernunft bei Schelling ist keineswegs so unvermeidlich, wie Schelling glauben machen möchte. Vgl. Hutter, Axel: Die Spannung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft - Schellings späte Anknüpfung an Kant, in: Kant-Studien 86, 1995, S. 431-445. Er ist es nur dann, wenn man es als unbewiesene Voraussetzung annimmt, daß die endliche menschliche Existenz erlöst werden müsse, wenn nun nicht aus Vernunft, dann eben durch Offenbarung. Mit Kant dagegen ist die Unerlöstheit des Menschen als ein Existential des Menschseins zu akzeptieren.

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Damit steht Kants symbolische Christologie distinkt zwischen den Modellen der episodischen und der konstitutiven Christologie.371 Während in der episodischen Christologie sowohl phänomenal als auch noumenal sich auf den vere homo konzentriert wird, nimmt Kants symbolische Christologie das Noumenon des vere deus - als praktische Unbedingtheit - auf. Während aber die konstitutive Christologie sowohl noumenal als auch phänomenal auf den vere deus abstellt und damit die Gesetze des Geistes und der Natur über Bord wirft, reduziert Kant die Christologie um das widersinnige Moment phänomenaler Göttlichkeit (d.h. den Wunderglauben) auf Vernunftverträglichkeit.372 Es gelingt seiner Theorie damit, die über die Bedeutung eines mundanen Beispiels gelungener Sittlichkeit hinausgehende Einzigartigkeit des Christus-Symbols zu erfassen, ohne in fundamentalistische Schablonen umzuschlagen. Die Bedeutung, die der Möglichkeit einer solchen freiheitlichen Religionssymbolik als Konsequenz eines vernunftkritischen Systems zukommt, kann gar nicht hoch genug angesetzt werden. Sie bietet eine zuverlässige religionskritische Hermeneutik für alle sich auf die Geltungskraft menschlicher Vernunft berufenden und stützenden Diskurse. Die anhand des Christussymbols gewonnenen religionsphilosophischen Bestimmungen können nun auf andere religiöse Symbole, christliche wie nichtchristliche, übertragen werden. So ist zum Beispiel im Anschluß an die Kategorientafel eine moralisch-praktische Reformulierung der christlichen Trinitätslehre möglich. Anhand der die Differenz von Natur und Freiheit vermittelnden Kategorientafel läßt sich eine Systematisierung der kantischen Spekulationen zur Trinitätslehre erreichen, die den Bezug der religiösen Symbole auf den durch sie zu vermittelnden transzendentalen Konflikt augenfällig macht. Selbstverständlich hat dieser Bezug auf die Kategorientafel keinerlei konstitutive, religionsbegründende Funktion.373 Nicht folgt die Religion aus System der Kategorien, sondern weil Religion ein notwendiger Bestandteil menschlicher 371

Keineswegs also findet sich bei Kant ein ungeklärtes „Hin und Her [...] zwischen dem Ideal der moralischen Vollkommenheit und dem historischen Jesus", wie Sala schreibt (in: ders.: Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religonsschrift, a.a.O., S. 146. 372 Kant macht sich lustig über derartige Ansätze zu einem phänomenalen Christus, die, wie Kant an der „Schwärmerei des Postellus in Venedig" zeigt, dazu führen müßten, dessen feminines Pendant „in der Person einer frommen Jungfrau in Venedig" erkennen zu wollen. Der Streit der Fakultäten, A 52, Anm. Im Rahmen kantischer Religionsphilosophie muß das Wunder als symbolische Metapher der religiösen Rede nicht unbedingt eliminiert werden. Sofern das Wunder statt konstitutiver regulative Funktion erhält und statt kognitiv sittlich ausgelegt wird, kann das religiöse Wunder als metaphorischer Hinweis auf das „ganz Andere", das die religiöse Rede meint und in Anspruch nimmt, durchaus akzeptiert werden. So, im Rückgriff auf Gedanken von Fries: Otto, Rudolf: Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S. 115. 373

Vgl. bereits den Hinweis auf den Zusammenhang von Kategorienlehre und Trinitätskonstrukten bei: Bohatec, Josef: Die Religionsphilosophie Kants in der „ Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", a.a.O., S. 13.

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Vernunftsynthesis ist, kann vor dem Hintergrund historischer Überlieferungen und Symbole versucht werden, einen gegebenen Gottesbegriff orientiert an Kategorien zu reformulieren. 374 Das könnte in weitgehender Übereinstimmung mit den kantischen Stellen wie folgt geschehen:375 Gott-Vater vertritt die Synthesis von Natur und Freiheit in der Welt als zur göttlichen Substanz gehörend. Er stiftet in ihr in einem apriorisch-kategorischen Vernunftverhältnis die Inhärenz aller Weltdinge: also die Welt als Schöpfung und als Reich Gottes. Gott-Sohn vertritt die Synthesis von Freiheit und Natur in der sittlichen Selbstbestimmung des Menschen. Er stiftet in der Form eines apriorisch-hypothetischen Vernunftverhältnisses die Möglichkeit eines intelligibel gegründeten Grund-Folge-Verhältnisses von unbedingtem Bestimmungsgrund und endlicher Handlung: er verkörpert den unbedingt sittlichen Menschen. Gott-Heiliger Geist vertritt die Synthesis zwischen Natur und Freiheit im commercium der aufeinander sinnlich aus Freiheit wirkenden noumenalen Individuen. Er begründet ein apriorisch-disjunktives Vernunftverhältnis der Gemeinschaft des je besonderen moralischen Geistes von jedermann: also die noumenale Grundlage (Bedingung der Möglichkeit) eines jeden ethischen Gemeinwesens. Zusammen bilden die drei Personen Gottes ein komplettes Symbolgebilde zur deutenden Umfassung der Synthesisproblematik der praktischen Vernunft ab. Der hier durchgeführte Übergang von der gesinnungsethischen Idee der moralischen Vollkommenheit in einer Person zu einem „Ideal der moralischen Vollkommenheit" 376 und der Übergang der zweckeethischen Idee des höchsten Gutes in ein Ideal eines „Reiches Gottes auf Erden"377 klärt auch den epistemischen Status des moralischen Gottesbeweises der Kritik der praktischen Vernunft. Mit dem bisher erarbeiteten begrifflichen Material ist nun zu belegen, was zuvor nur Andeutung blieb:378 Was in der Kritik der praktischen Vernunft wirklich bewiesen wird, ist die objektive wie subjektive Kommensurabilität von Natur und Freiheit (das intelligible Substrat). Nicht bewiesen wird aber objektive und subjektive Harmonie von Natur und Freiheit in einem beide durch Macht einenden (göttlichen) Subjekt. Zwar gibt es in der Vernunft die Idee dieser Harmonie. Sie ist aber als Ideal der praktischen Vernunft nur in symbolischer, d.h. antizipatorischer Form real. Der Begriff Gottes ist philosophisch unbestimmt und kann erst 374

Vgl. Troeltsch, Emst: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, in: Kant-Studien 9, 1904, S. 130. 375 Zu diesen Überlegungen vgl. bei Kant Rei. Β 21 If. und Β 221, Anm. Allerdings gliedert Kant auch anders. Sala spricht von vier verschiedenen solcher Interpretationen, vgl. ders.: Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religonsschrift, a.a.O., S. 146. Das von mir hier intendierte Ergebnis ist nicht die Entfaltung einer Trinitätslehre, sondern der Aufweis, daß, wenn Vernunft Trinität angemessen begreifen will, sie dies nur so, das heißt, von ihrer eigenen Systematik her, erreichen kann. 376 Rei Β 74 ff. 377 Vg. K.d.p.V. A 230-235, Rei. Β 131 ff. 378 Vgl. S. 34.

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als Folgeprodukt einer ihm vorgeordneten Religionsphilosophie funktional konkretisiert werden. Deshalb ist Religionsphilosophie nicht in einem vorangestellten Gottesbegriff zu begründen, sondern ein religiös bestimmter Gottesbegriff nur im Anschluß an eine kritisch-normative Religionsphilosophie zu geben. Das Noumenon Religion erst läßt uns einsehen, daß zwar eine subjektive Notwendigkeit der symbolischen Transformation regulativer Ideen in Ideale besteht, nicht aber eine objektive (ontologische) Notwendigkeit des Übergangs ideeller in ideale Existenz. Die normative Religionsphilosophie liest die die Ideen repräsentierenden Symbole eben als regulative Bestimmungen des Sittengesetzes und nicht - wie die Theologie - die Ideen als dürftige Abstraktionen eines bildhaft bestimmten Absoluten. Die Philosophie läßt den Geltungssinn eines religiösen Symbols als einzigartig gelten, sie verneint aber den theologischen Anspruch der Einzigkeit.

2.2.4. Glaube und Fundamentalismus Man mag die Annahme, die religiöse Orientierungsleistung sei unersetzbar, bezweifeln mit der Begründung, daß in einer säkularisierten Welt schulische Bildung und kritisches Bewußtsein 'religiöse' Weltauslegung verunmöglichten oder aber überflüssig machten. Meines Erachtens wird aber hierbei der Begriff des Religiösen viel zu sehr vom Phänomen der Religionen her gesehen. Daß in einer säkularisierten Welt die lebensweltliche Selbstorientierung sittlicher Individuen andere Formen annehmen wird als die vielfach prärationalen Offerten mancher Religionsgemeinschaften, spricht noch lange nicht gegen religiöse Selbstvergewisserung überhaupt. Ist der Konflikt des sittlichen Menschen in der sinnlichen Welt transzendentaler Natur, so wird er nach einer Antwort verlangen, die das Vermögen zur immanenten Welterklärung übersteigt und nichtsdestoweniger gegeben werden muß. Die reflektierend-spekulative Welt- und Selbstbetrachtung, welche allein diesen Sinnhorizont vermitteln kann, ist prinzipiell nicht durch kausales oder rein-normatives Denken zu ersetzen und hat ihre Orientierungsfunktion noch immer, wenn auch unter veränderten weltkulturellen Voraussetzungen, behauptet. Die Beweislast, daß Orientierung auch anders möglich sei, hat der Opponent. Wenn auch die philosophische Theorie a priori keine bestimmten Symbole präferriert, so sagt sie dennoch nicht, daß religiöse Symbole, wie die Verabredung von Zeichen, der konventionalen Beliebigkeit unterliegen. Religiöse Metaphern müssen durchaus eine ihnen eigentümliche Form der Allgemeingültigkeit erreichen, um als Symbole zu gelten. Das private Moment der Glaubensgestaltung mit Hilfe religiöser Symbole spricht keineswegs gegen die subjektiv-allgemeine Struktur und Geltung dieser religiösen Orientierung. Wenn Kant schreibt, daß sich

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„ein jeder Mensch sich einen G o t t m a c h e , " 3 7 9 so ist damit kein Rekurs auf eine unvermittelte Willkür angestrebt, etwa: „Was Gott ist, bestimme ich!"380 Derartige Platitüden sind, weil sittlich unvermittelt, keineswegs als Religion zu adeln.381 Religion kann als private nur in der Auseinandersetzung mit der positivierten Religion der Umwelt entstehen, die die überprivate Vernunft des Subjekts artikuliert.382 Diese Auseinandersetzung allerdings, auch und gerade wenn sie auf dem Wege kommunikativer Rationalität geschieht, muß, um wahrhaft religiös zu sein, eine freie Auseinandersetzung sein. Aus diesem Befund folgt, daß es keinen religiösen „Imperativ (kein crede)"383 geben kann; ein bestimmter Glaube, „der geboten wird, ist ein Unding."384 Geboten ist „nicht das Glauben, sondern das Handeln."385 Notwendig dazu ist die religiös zu nennende reflexive Selbstverortung. Diese kann aber nur sittlich gültig sein, insofern das Subjekt im Rahmen seiner Ideologie 386 von Welt und Selbst sein subjektivallgemeines Differenzproblem persönlich löst. 387 Die Religion muß sich in einer Weise ausbilden, die es erlaubt, daß den Subjekten anhand der religiösen Vorgabe eine Interpretation ihrer Situation gelingt, die um ihre gesinnungsethische und zweckeethische Lebenszielbestimmung konzentriert ist. Diese Vorgabe darf aber keine sein, die die gestaltende Freiheit des religiösen Subjekts so weit einschränkt, daß dieses die Anerkennung der religiös symbolisierten Lebensziele nicht mehr als 379

Rei. Β 257, Anm. Später sah sich Kant genötigt, diese Formulierung zu verteidigen gegen einen „von den Kraftmännem, (...) [der] sagt: er verachte denjenigen, der sich seinen G o t t zu m a c h e n denkt." Kant hält dagegen: „Denn es ist für sich selbst klar, daß ein Begriff, der aus unserer Vernunft hervorgehen muß, von uns selbst gemacht sein müsse. Hätten wir ihn von irgend einer Erscheinung (einem Erfahrungsgegenstande) abnehmen wollen, so wäre unser Erkenntnisgrund empirisch, und zur Gültigkeit für jedermann, mithin zur apodiktisch praktischen Gewißheit, die ein allgemein verbindendes Gesetz haben muß, untauglich." Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 415, Anm. 380 So die Überschrift der „Psychologie heute" im Juli 1993, deren Leitartikel sich mit der synkretistischen Religiosität der Jugend auseinandersetzt. 381 Vgl. Durkheim, Emile: Zur Definition religiöser Phänomene, in: Matthes, Joachim (Hg.): Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Hamburg 1967, S. 140. 382 Vgl. Schieder, Rolf: Über Zivilreligion, politische Religionskompetenz und die Zivilisierung der Religion, in: Höhn, Hans-Joachim: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 84/85. 383 Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz ' und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? A 116. 384 K.d.p.V. A 259. 385 Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 406/407, Anm. 386 Die terminologischen Schwierigkeiten, die mit der Verwendung des Begriffs der Ideologie im vorliegenden Kontext einhergehen, sind unzählig. Vgl. Schiette, Heinz Robert: Philosophie Theologie - Ideologie. Erläuterung der Differenzen, Köln 1968, S. 42ff. Hier soll der Begriff nicht mehr bedeuten als 'selbstbezügliches nicht-philosophisches Ideengebilde'. 387 Das muß nicht immer theoretisch hochstufig geschehen. Auch primitive Formen der Welt- und Selbstverständnisse fallen hierunter. Vgl. Schönrich, Gerhard: Vernunft und kultureller Schematismus, in: Kant in der Diskussion der Moderne, hrsg. v. Schönrich, Gerhard und Kato, Yasushi, Frankfurt 1996, S. 574.

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eine ihm selbst gelingende Anverwandlung derselben erfahrt. Religiöse Heilslehre ist rechtverstanden nicht Anweisung, sondern ein Angebot, das produktiv nicht anders als durch subjektive Aneignung angenommen werden kann. Es kann an dieser Stelle noch nicht näher auf das theologische Binnenverhältnis der eschatologischen und der soteriologischen Heilslehre eingegangen werden.388 Augenfällig wird aber jedem sein, daß der sittlich-inneren Willkürbestimmung als Reflexionsform eine individualistische Heilslehre (Soteriologie) und der sittlichäußeren Willkürbestimmung als Reflexionsform eine kommunitaristische Heilslehre (Eschatologie) entspricht.389 Ziel normativen religionsphilosophischen Denkens ist es, Kriterien anzugeben, mit denen solche Heilslehren sittlichallgemein beurteilt werden können. Nach der kantischen Religionsphilosophie kann die endliche Selbstsauslegung aus einem religiösen principium a quo nicht durch eine vernunftimmanente Selbstauslegung des philosophierenden Bewußtseins substituiert werden, das sich mit einem unbestimmt bleibenden principium ad quem zufriedengibt. Die Unbestimmtheit des philosophisch regressiv zu erreichenden Prinzips vereitelt das an die Religion herangetragene Bedürfnis nach konkreter Handlungsorientierung und muß deshalb von jedem Subjekt im Akt seiner Selbstdeutung überschritten werden. Das Eigentliche und das Andere am religiösen Übergang zum idealischen Symbol im Unterschied zum philosophischen Gedankengang ist, daß das religiöse Subjekt sein jeweiliges Ideal eben keineswegs als idealtypisch antizipierte Repräsentation der Synthesis a priori zum Zwecke eben dieser Synthesis einholt, sondern für das weltliche Individuum ist das Ideal etwas, von dem her kommend es sich die Auflösung seines Zwei-Welten-Dilemmas verspricht. Hier fallen die philosophische Betrachtung und die religiöse Verwendung des religiösen Symbols eklatant auseinander. Philosophisch gesehen ist es, neben der subjektiv-allgemeinen Notwendigkeit, irgendein taugliches Ideal zur Orientierung in der ethischen Selbstbestimmung zu haben, eine davon ablösbare und der Zufälligkeit der soziohistorischen Entwicklung anheimzustellende Frage, welcher Vorbilder sich die Subjekte als religiöser Orientierungsfolien bedienen. Dennoch ist es der Religionsphilosophie nicht darum zu tun, das Andere der Vernunft im Phänomen der Religion zu relativieren. Sie weiß, daß dieses Andere von der wissenschaftlichen Philosophie keinesfalls substituiert werden kann.390 Die

388

Vgl. dazu insbs. den Abschnitt „Religion und Geschichte". Es kann deshalb zurecht behauptet werden, daß in der messianischen Eschatologie das speziell jüdische Element der christlichen Tradition liegt, da in ihr ein der genuin religiösen Sphäre eigentlich externes theokratisch-politisches Motiv in die Dogmatik Einzug erhält. So auch Kant: „Der j ü d i s c h e Glaube ist, seiner ursprünglichen Einrichtung nach, ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war; denn welche moralische Zusätze entweder damals schon, oder auch in der Folge ihm a n g e h ä n g t worden sind, die sind schlechterdings nicht zum Judentum, als einem solchen, gehörig." Rei Β 186. 389

390

Vgl. Der Streit der Fakultäten (Vorrede) A XVIII / XIX.

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Besinnung der Welt im religiösen Denken ist weder ein Minus, noch ein Plus zur wissenschaftlichen Welterklärung, sondern ein Aliud. Das Subjekt transponiert die von ihm erst herzustellende Einheit mit der Welt aus sich heraus als die feste Grundlage seines Weltvertrauens. Die idealtypische Deutung dieser Ureinheit kann sublimste, auch wissenschaftliche Formen annehmen, und das soll sie auch. Unter den Bedingungen der Moderne sollte sicherlich ein regulatives Moment von Wissenschaftlichkeit in die je subjektive Weltorientierung eingehen.391 Unvernünftigkeit ist kein Qualitätsmerkmal religiösen Orientierungsdenkens. Das lebensweltliche Orientierungsdenken bleibt jedoch unwirksam, solange es nicht dem Subjekt das Unbedingte als etwas für das Subjekt vorstellen kann. Kann sich das Subjekt, als dieses besondere Subjekt, nicht in persönliche Beziehung zu dem Unbedingten setzen, so brechen alle Pfade seiner Selbstorientierung im Nirgendwo ab.392 Wie immer theoretisch hochwertig und der Weltsicht des Verstandes angenähert der Weltentwurf des Subjekts ist, es muß in ihm sich selbst eine für sich sinnvolle Weltstelle zum Leben geben können, sonst ist es ortlos und kommt auf dem Weg in die Welt nicht zu sich zurück, sondern verliert sich an ihr. Fraglich ist angesichts der regulativen Funktion, die das religiöse Selbstverständnis nach der hier ausgeführten Interpretation hat, wie es sein kann, daß religiöse Gruppen sich keineswegs als bloß regulative Selbstinterpreten verstehen, sondern bisweilen mit krudem Fundamentalismus auftreten. Fundamentalist ist nicht der naiv Gläubige, sondern derjenige, der sein besonderes Glaubensverhältnis wissentlich und willentlich gegen andere absolut setzt.393 Wie kann das in vielen Religionsgemeinschaften verfestigte Moment fundamentalistischer Unvernunft aus einer Interpretation erklärt werden, die Religion als vernünftigen Bestandteil menschlichen Lebens versteht? Und wo liegt phänomenal die differentia specifica zwischen zulässiger regulativ-besonderter und unzulässig fundamentalistischer Religiosität? Muß zugunsten der Vernunftgemäßheit der Religion auf eine Destruktion des Nicht-Vernünftigen in der Religion gedrungen werden? Zur Klärung dieser Fragen verhilft ein Blick auf das bisher verfolgte Theoriekonzept. Die Analyse näherte sich dem Phänomen des religiösen Selbstverständnisses transzendentalregressiv und kam zuletzt zu einem Prinzip, auf das hin die Unaufgelöstheit menschlichen Weltstandes hinzuweisen scheint, das aber, um die Einheit der in ihm beschlossenen Momente wahrhaft stiften zu können, selbst unbedingt sein muß und ein nicht mehr zu hinterschreitendes Absolutes im Denken vorstellt. Doch nicht nur für den Philosophen muß das letzte Prinzip durch Unbedingtheit gekennzeichnet sein. Nur wenn das Prinzip auch für das 391

Vgl. Baumgartner, Hans M.: Endliche Vernunft. Verständigung der Philosophie selbst, Bonn u.a. 1991, S. 38. 392 Vgl. dazu näher den Abschnitt „Das religiöse Gefühl 393 Vgl. Kiienzlen, Gottfried: Religiöser Fundamentalismus - Aufstand gegen die a.a.O., S. 64.

über

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religiöse Bewußtsein ein absolutes (sprich: allmächtiges) ist, kann das weltliche Subjekt mittels seiner die Totalität der ungelösten Fragen angehen, die sich ihm aufdrängen. Dabei darf aber nicht außeracht gelassen werden, daß dieses unbedingte Prinzip für das religiöse Sich-Verstehen des gewöhnlichen Menschen ein principium a quo vorstellt. Und ein solches Prinzip, von dem her also zu denken ist, kann aus Sicht der Gläubigen seine jeweilige Bestimmung nur aus sich haben. Es sind für den Gläubigen nicht die Subjekte, die Bestimmung in das Absolute eintragen, sondern fur ihn hat das Absolute sich auf die Subjekte hin bestimmt. Man kann das Resultat dieses Umschlags des pincipium ad quem in das principium a quo „(nach Menschenart) auch so ausdrücken: Gott hat vernünftige Wesen erschaffen, gleichsam aus dem Bedürfnis, etwas außer sich zu haben, was er lieben könne, oder auch von dem er geliebt werde."394 Wohlgemerkt: nach Menschenart. Darin liegt, was Kant immer wieder unter dem Titel des „Anthropomorphismus" kritisiert.395 Die Differenz, von der her transzendentallogisch erst die Einheit notwendig wurde, wird hier (nach Menschenart) in das Unbedingte selbst eingetragen, als ob sie aus dem (Willen des) Absoluten folgte: zum Beispiel im Gedanken der Schöpfung. 396 Das so verstandene Transzendente eröffnet sich der Welt in einem Modus der Vermittlung, der, da der Gläubige ihn nicht von den Subjekten her versteht, keine Privatheit (Kontingenz) im religiösen Konzept erlaubt. Das einzelne religiöse Subjekt kann sich nur dann als Besonderes seines religiösen Allgemeinen verstehen, wenn es zugleich jedes Einzelne als ein Besonderes dieses besonderten Allgemeinen begreift, das sich eigens in Vermittlungstaten den Subjekten darstellt. Für das religiöse Bewußtsein ist die Allgemeingültigkeit des religiös besonderten Allgemeinen nur aus dessen Selbstvermittlung (Offenbarung) zu ersehen und gerade nicht vom Standpunkt 'hochmütiger' endlicher Vernunft aus. Vom Absoluten her gedacht wird dem jeweiligen Vermittlungsgegenstand (der Offenbarungsquelle) und dem jeweiligen Vermittlungsgehalt (der Offenbarungsbotschaft) die aller Kritik entzogene Dignität des Absoluten beigegeben. Das durch kontingente Offenbarung besonderte religiöse Phänomen rückt an die Stelle des Noumenon Religion. Der regulative religiöse Impuls der praktischen Vernunft wird in sein konstitutives Gegenteil verkehrt. Im Christentum hat diese Denkweise des offenbarungsfundamentalistischen Umschlags unter dem Namen des 'pneumatologischen Zirkels' Furore gemacht. 394

M.d.S. T L A 184. Vgl. Rei Β 83 und öfter. 396 Schelling charakterisiert das fundamentalistisch-religiöse Bewußtsein meines Erachtens sehr treffend, wenn er schreibt: „Ihn, ihn will es haben, den Gott, der handelt, bei dem eine Vorsehung ist, [...] kurz der Herr des Seyns ist (nicht transmundan nur, wie es der Gott der Finalursache ist, sondern supramundan). In diesem sieht es allein das wirklich höchste Gut." Philosophie der Mythologie, Sämtliche Werke: Stuttgart-Augsburg 1856-61, Band I, S. 566. 395

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Der Gedanke ist, in aller Kürze, der folgende: Der heilige Geist Gottes offenbart sich selbst im Text der Bibel. Daß es der heilige Geist Gottes ist, der sich in der Bibel ausspricht und nicht bloß die Altersweisheit jüdischer Stammespropheten, erkennt man genau dann unzweifelhaft, wenn man bei der Lektüre bereits vom heiligen Geist inspiriert ist. Daß man vom heiligen Geist inspiriert ist, zeigt sich darin, daß die eigenen Vorstellungen vom heiligen Geist mit den in der Bibel niedergelegten konvergieren, denn das dort Niedergeschriebene gibt ja genau den Geist Gottes wieder, was zu erkennen ist, wenn man vom heiligen Geist Gottes inspiriert ist, - et in infinitum.397 Toleranz gegenüber anderen (besonderen) Ansätzen der Darstellung des religiösen Absoluten ist gemäß einem solchen offenbarungsfundamentalistischen Ansatz nicht nur nicht notwendig, sondern - konsequent gedacht - schlicht widersprüchlich, sie ist als Einschränkung heilbringender Wahrheit zugunsten Unheil bringender Unwahrheit nicht zu wollen.398 Notwendiges Moment des fundamentalistisch-religiösen Bewußtseins ist es ja, das subjektiv besonderte Allgemeine für eine objektive Besonderung des Allgemeinen zu halten. Da diese Besonderung lebensweltlich nicht schon allgemein anerkannt ist, wird gefolgert, daß das Erkennen der höchsten Wahrheit einen besonderen Zugang erfordere, der gegen jedweden anderen Entwurf vom und Zugang zum religiösen Allgemeinen durchgesetzt und verteidigt werden muß: das Privileg der Rechtgläubigkeit, religiöse Denkverbote, das Vermittlungsmonopol der Priesterschaft und der (ansonsten) absurde Auftrag der Mission sind unschwer abzuleiten.399 Der fundamentalistische Absolutheitsanspruch erscheint als ein dem offenbarungstheologischen, in Abgrenzung gegen das sogenannte natürlich-theologische400

397

Bei Kant findet sich dieser Gedanke diskutiert und kritisiert als „Einwurf wider die Vernunftreligion in: Der Streit der Fakultäten, A 66f. 398 Vgl. den Gesprächsbeitrag von Wolfgang Welsch (inbs. S. 81) in: Liberalismus und Fundamentalismus - ein Podiumsgespräch, in: Zweckmäßigkeit und menschliches Glück, Veröffentlichung zu den Bamberger Hegelwochen 1993, Bamberg, 1994. 399 „Es geht um eine Besonderheit für alle Menschen, das menschlich Allgemeine erscheint aber als eingebettet in die jeweilige Eigenheit, wird verankert in der jeweiligen Lebenszielbestimmung. Die Geschichte der Ausbreitung der Religionen und der Auseinandersetzungen zwischen Religionen (und Konfessionen) bis auf den heutigen Tag zeigt, wie sich um dieses Zieles willen den Wegen, also der Form, der Art und Weise, wie die Ziele erreicht werden, oft wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde und wird." Schrödter, Hermann: Religion - Menschenrechte - Weltethos. Ein philosophischer Versuch über den Weg zur 'einen Welt', in: Höhn, Hans-Joachim: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 287. 400

Für die Abgrenzung der heute in Systematischer Theologie und Fundamentaltheologie gebräuchlichen Begriffe bietet Kant ein einfaches Kriterium an: „Diejenige, in welcher ich vorher wissen muß, daß etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen, ist die g e o f f e n b a r t e (oder einer Offenbarung benötigte) Religion: dagegen diejenige, in der ich zuvor wissen muß, daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann, ist die η a t ü r 1 i c h e Religion". Rei Β 230.

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Denken notwendig zugehöriges Moment,401 das über eine externe Kritik gebrochen werden muß. Fundamentalismus ist unsittlich. Es muß der Fundamentalismus nicht erst schlechte Ziele verfolgen, um als unsittlich ausgemacht zu werden.402 Der Fundamentalismus kehrt sich strukturell gegen die Form sittlicher Handlung. Mögen die Zwecke des Fundamentalisten auch mit denen sittlicher Menschen konvergieren, das Prozedere der Sittlichkeit wird vom Fundamentalisten negiert. Politisch-historischer und religiöser Fundamentalismus entsprechen sich hierin. Es ist ein Vorzug der hier zugrundegelegten systematischen Trennung innerer und äußerer Sittlichkeit, diese Entsprechung begründen zu können. So wie sich der religiöse Fundamentalismus über die formale Sittlichkeit der negativ-inneren Willkürbestimmung erhebt mittels eines vermeintlich absoluten materialen Endzwecks und sich nicht aus Sittlichkeit Zwecke setzt, sondern aus seinen Zwecken Sittlichkeit bestimmen will, so erhebt sich politisch-historischer Fundamentalismus über das formal-sittliche Prozedere der negativ-äußeren Willkürbestimmung durch Rechtsformen und nimmt das vermeintlich 'höhere Recht' seiner Ideologie wahr. Damit negiert innerer wie äußerer Fundamentalismus unabhängig von der materiellen Qualität der von ihm verfolgten Zwecke notwendig die formale Vermittlung des Sittengesetzes im Selbst und in der Welt, er ist mithin an sich selbst unsittlich. Der unsittliche innere Fundamentalismus ist Moment phänomenaler Religiosität, diese ist umwillen des Noumenon Religion und dieses korrespondiert dem Sittengesetz, - ein Widerspruch? Es liegt genau dann kein Widerspruch im Begriff des sich selbst auf Phänomenalität hin erweiternden Sittengesetzes vor, wenn der strukturellen Verflechtung von phänomenaler Religion und Fundamentalismus aus noumenaler Religion und Kritizismus ein vernünftiges Korrektiv gegenübersteht, das, wenn auch extern (über die Philosophie) vermittelt, dennoch im Internum des Religionsbegriffes anzusiedeln ist. Dieses Korrektiv kann sowohl in theoretischer wie in praktischer Weise in Erscheinung treten. Ein theoretisches Korrektiv wäre eine gedankliche Kehre des religiösen Denkens, die sich auf das Noumenon der Religion besinnt. Inwiefern es innerreligiös zu einer solchen Kehre kommen kann, ist zu bestimmen angesichts der intellektuellen Herausforderung der phänomenalen Religion durch andere Religionen und durch religionsexterne Religionskri" tik.403 Praktisch findet sich dieses Korrektiv in der sozialen Wirklichkeit wieder. Die absoluten Geltungsansprüche der Religionen sind - selbst in fundamentalistischen und theokratischen Systemen - bereits faktisch gebrochen und mit den anderen sozialen Systemen vermittelt, selbst wenn sie theoretisch fraglos in

401

Vgl. dazu Weischedel, Willhelm: Der Gott der Philosophen, Bd. II, Darmstadt, 1994, S. 4-11. Vgl. Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S. 235. 403 Vgl. den Abschnitt „Die moderne westliche Religion". 402

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Geltung stehen.404 Daß die Religion über Religion philosophiert, kann weder allgemein behauptet noch gefordert werden, wohl aber daß sie auf ihre weltlichen Grenzen reflektiert. Wie also kann diese Reflexion als empirische Selbstkritik wirken? Beschränkt auf das interreligiöse Verhältnis ist die Antwort schon von Kant gegeben worden:405 Da mehrere Glaubensgemeinschaften miteinander um die freie Anhängerschaft der Menschen konkurrieren, müssen sie nolens volens ihre Weltauslegung aneinander messen.406 Zwar ist es nicht so, daß das einzelne Subjekt als mündiger Bürger den Markt der religiösen Wahrheiten betritt und nach verobjektivierten Maßstäben und reflektierten Bedürfnissen sich eine Religion wählt. Vielmehr werden die Menschen in Umwelten hineingeboren, denen die religiöse Weltauslegung in einer Weise inkulturiert ist, daß sie dem einzelnen Subjekt zu Gebote steht, ehe er sie als religiöses Angebot überhaupt wahrnehmen kann. Dennoch aber ist damit ein religiöser Wettbewerb um die angemessenste Weltdeutung nicht ausgeschlossen. Denn die Fähigkeit einer Religion, sich in einer je besonderen zeitlichen und räumlichen Umgebung zu inkulturieren hängt wiederum davon ab, inwieweit die bereits in der Religion beheimateten Subjekte mittels dieser Religion die sich ihnen stets erneut stellenden Probleme aus transzendentalem Konflikt und ethischer Asymmetrie lösen können. Das konkrete Deutungsvermögen einer Religion ist umso höher, je näher sie den noumenalreligiösen Fundamenten ist. Und je höher das Erklärungsvermögen einer Religion ist, desto tiefer verwebt sie sich mit dem Ganzen der subjektiven Lebenswelten, desto erfolgreicher hält und verbreitet sie sich. Das sittlich Produktive am Faktum des religiösen Wettbewerbs ist, daß aufgrund der religiösen Alternativen jede Religion ihre Subjekte in deren subjektivem Selbst- und Weltverständnis hinreichend ernst nehmen muß, um von ihnen als ihre Religion anerkannt zu sein. Dies entspricht einerseits dem guten Recht dieser Subjekte als Personen und andererseits beinhaltet es für sie die Chance, sich selbst bei ihrem Gemeinschaftsbewußtsein zu ergreifen und auf dieses hin zu handeln. Dies muß und wird zumeist religiösen Menschen nicht bewußt sein. Selbst wenn der Gläubige den religiösen Wettbewerb nicht oder als uneigentlich wahrnimmt, selbst wenn er ihn aus Sorge um das Seelenheil seiner Mitmenschen unterbinden möchte, ist doch das externe Faktum religiöser Pluralität etwas, das die Selbstverständlichkeit der einzelnen religiösen Lehre aufhebt und das allgemeine Wandlungspotential religiöser Rede sichtbar macht. Aufgrund der sachlichen, vom transzendentalen Konflikt her gestellten Problematik, zu deren Auflösung die religiösen Weltauslegungen beitragen, steht zu erwarten, daß das konkurrierende Miteinander der Glaubengemeinschaften zu 404

Vgl. Luhmann, Niklas: Funktion der Religion, Vierte Auflage, Frankfurt 1996, S. 33 ff. Vgl. Rei. Β 212/213, Anm. und Der Streit der Fakultäten, A 103 ff. 406 Für Kant stand allerdings das Christentum als klarer Sieger dieses religiösen Wettbewerbs fest. Vgl. Rei Β 237, auch: Rei Β 153 und Der Streit der Fakultäten, A 45. 405

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einer Läuterung der religiösen Lehren fuhrt. 407 Trotz all ihrer phänomenalen Unterschiedlichkeit könnten die einzelnen Religionen anhand ihres gemeinsamen Rechtfertigungsgrundes im sittlichen Ethos fortschreitend aneinandergefuhrt werden. Kant wenigstens sah diese Entwicklung für die großen monotheistischen Glaubensgemeinschaften voraus.408 Im wettbewerblichen Miteinander der Religionen würde sich sittlich depravierte Religiosität selbst ausmerzen und allein das (vernünftige) Gute sich als mehrheitsfahig erweisen, wenn nur nicht Gewalt und Lüge über die Menschen herrschten.409 In einer jeden zwangsfreien Wahl werden, so Kant, zwar partikulare Interessen zur Geltung gebracht, jedoch können sie als bloß partikulare im Felde der Intersubjektivität nicht bestimmend werden. Dies können nur diejenigen Entwürfe, die den wahren Bedürfnissen der Menschen entgegenkommen. Nur sie werden eine empirische Mehrzahl von Menschen auf sich vereinigen können. Bereits deshalb ist, zum Wohle der wahren Religion, auf eine Trennung von Staat und Kirche zu drängen, damit die phänomenalen Bedingungen eines freien Wettbewerbs religiöser Weltdeutungen gewährt sind. Daß aus innerreligiösen Motiven heraus auf Säkularisierung zu dringen ist, ist im Hinblick auf das Staatskirchenrecht festzuhalten. Der klerikale Vorwurf, so würden weltliche Ansprüche aus der Kontingenz der Macht heraus gegen kirchliche Ansprüche durchgesetzt, ist unreflektiert. Der säkularisierte Rechtsstaat ist vielmehr auch vom Noumenon der Religion aus gesehen die sittliche Grenze jeder positivierten Religion. Daß diese Einsicht faktisch gegen die Religionen erfochten werden muß, offenbart mehr als alles andere die sittliche Unselbständigkeit religiöser Orientierung, welche sich nicht dem Noumenon Religion verpflichtet weiß. Die Sinndeutung des transzendentalen Konfliktes, die die einzelnen Glaubensgemeinschaften anbieten, ist also deren (notwendiger) kleinster gemeinsamer Nenner und das sittliche Substrat, von dem her sie sich die Menschen verpflichten. Vor allem in sozialen Systemen, die pluralistisch eingerichtet sind, werden sich die absoluten Geltungsansprüche der Religionen, unabhängig von deren religiöser Selbstdeutung immer schon gebrochen sehen. Es ist darin eine radikale Herausforderung des religiösen Selbstverständnisses zu erblicken, das nun kein selbstverständliches mehr ist. Insofern ist es zwar richtig, daß Fundamentalismus

407

Vgl. auch die aktuellen Entwicklungsprognosen für den religiösen Sektor bei: Gabriel, Kurt: Gesellschaft im Umbruch - Wandel des Religiösen, in: Höhn, Hans-Joachim: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 47. 408 Vgl. Das Ende aller Dinge, A 522. 409 Es ist darum nur konsequent, wenn Pierre Laberge fordert, daß, da das Recht ja das Herrschen von Gewalt über Freiheit im Außenverhältnis bekämpfe, es die vornehmliche öffentliche Aufgabe der Religion und der Religionsgemeinschaften sei, die Lüge in allen ihren Formen zu bekämpfen, so: Laberge, Pierre: Das radikale Böse und der Völkerzustand, in: Marty F. / Ricken F.: Kant über Religion, in: Münchener philosophische Studien, Band 7, Stuttgart 1992, S. 112-123.

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selbstverständliches mehr ist. Insofern ist es zwar richtig, daß Fundamentalismus eine Erscheinung ist, die den Ausgang aus der religiösen Selbstverständlichkeit voraussetzt, es darf aber bezweifelt werden, daß je eine phänomenale Religion ohne geltungstheoretische Grenzkonflikte existiert hat.410 Phänomenale Religion ist immer schon angefochtene Religion. So wäre eher zu konstatieren, daß Fundamentalismus eine prinzipielle Antwort religiöser Systeme auf geltungstheoretische Herausforderung ist. Eine andere prinzipielle Antwort ist die religiöse Selbstrelativierung. Es überzeugt aber keineswegs, daß Fundamentalismus und postmoderne Beliebigkeit die einzigen Perspektiven phänomenal-religiöser Entwicklung sind, die unter den Vorzeichen der Moderne offen bleiben. Man fehlbestimmt die Religion als in ihren äußerlichen Funktionen aufgehend, wenn man annimmt, ihr bliebe angesichts theoretischer Herausforderung ihrer Glaubenssätze nur die Wahl der Kapitulation oder der Bornierung. Wenn die Religion tatsächlich keine andere Wahrheit hätte als die der verblendeten Projektion, so wäre diese Aporie von Relativismus und Fundamentalismus tatsächlich gegeben. Angesichts des entfalteten Begriffs des Noumenon Religion darf aber angenommen werden, daß die dialektische Herausforderung der Religion eher zu einer qualitativen Klärung ihrer selbst als zu ihrem Verschwinden führen wird. Phänomenale Religion hat immer auch die Möglichkeit, die externe Herausforderung durch oppositionelle Religion, philosophische Religionskritik und atheistische Verneinung intern zu vermitteln und zur Klärung der eigenen Position heranzuziehen. Vielleicht ist es gerade die Herausforderung und Kritik der Religion, die den spezifischen Geltungssinn religiöser Sätze und mithin das Noumenon Religion phänomenal zur Geltung bringt. Es ist daher phänomenale Religion daraufhin zu untersuchen, ob und wie es ihr gelingt, externe Kritik positiv so zu internalisieren, daß sie sich vom religiösen Bewußtsein aus als notwendige Korrektur der Religion durch die Religion verstehen läßt.411 Zuvor aber muß geklärt werden, wie sich der fundamentalisierte und der kritisch-religiöse Standpunkt fur die religiösen Subjekte selbst unterscheiden. Ihre emotionale religiöse Selbstwahrnehmung, die ihnen als scheinbar unmittelbare höherwertig gegenüber der scheinbar vermitteiteren rationalen Vergegenwärtigung ihres Glaubens zu sein scheint, soll daraufhin untersucht werden, inwieweit das verfehlte religiöse Denken sich im emotionalen Erleben fundamentalreligiöser Menschen verfestigt.

410

Vgl. Schrödter, Hermann: Religion - Menschenrechte - Weltethos. über den Weg zur 'einen Welt'. a.a.O. S. 299. 411 Vgl. dazu den Abschnitt „Die moderne westliche Religion".

Ein philosophischer Versuch

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2.2.5. Das religiöse Gefühl Kant hat keine Theorie des religösen Empfindens gegeben. Vereinzelt finden sich Anmerkungen zu den Gefühlen religiöser Menschen oder zur Selbstwahrnehmung der praktischen Unbedingtheit angesichts transzendenter Vorstellungen. Im ganzen jedoch bleiben diese Ansätze unausgearbeitet. 412 Eine Theorie der phänomenalen Präsentation des Noumenon Religion ist jedoch wichtig für eine kritische Religionsphilosophie, zeigt sie doch auf, wie wahre und falsche Religiosität lebenweltlich auseinanderfallen. Ferner kann eine Untersuchung des religiösen Gefühls zeigen, daß der kantische Ansatz keineswegs einem vereinseitigten Vernunftverständnis folgt, das den religiösen Vollzug als Kette logisch richtiger oder logisch falscher Gedankenoperationen begreift. Vielmehr wird deutlich werden, inwiefern die hier noumenal herausgearbeiteten Strukturen tatsächlich die phänomenale Wirklichkeit von Religion grundlegen und korrigieren können. Deshalb ist im Ausgang von Kants Theorie der ästhetischen Wahrnehmung und seiner Theorie der intelligibel gewirkten Gefühle ein Zugang zum religiösen Erleben zu suchen. Gefühlslehre - im Sinne Kants - ist zunächst neutral gegenüber der Religion. 413 Sie setzt sich damit ab sowohl gegenüber Positionen, die einen psychologischen Gottesbeweis beabsichtigen anhand der die religiösen Gefühle angeblich erregenden außersubjektiven Ursache, als auch gegenüber Positionen, die allein in der Tatsache der Gefühlshaftigkeit religiösen Lebens dessen kritikwürdigen Charakter erkennen wollen. Nicht die Gefühlsbezogenheit religiösen Lebens überhaupt rechtfertigt inhaltliche Religionskritik im Sinne Kants, sondern erst psychische Deformationen phänomenal-religiöser Menschen als Indizien noumenaler Selbstentfremdung. Kants Religionstheorie kritisiert nicht, daß Religion sich phänomenal in emotionalen Bezügen zu Ungegenständlichem vollzieht, sondern was in diesen Bezügen zur Geltung gebracht wird. Diese Kritik kommt nicht äußerlich zu der Religionstheorie hinzu. Vielmehr kann die Theorie religiösen Gefühls nur in der Form der Kritik gegeben werden. Wenn nicht ein unabgeleitetes Vorverständnis den Gegenstandsbereich 'religiöses Gefühl' extensional bestimmen soll, so muß von einer Theorie der Religion allererst gezeigt werden, was ein religiöses

412

Im Anschluß an diesen Abschnitt kann verstanden werden, warum Kant keine Theorie des spezifisch religiösen Gefühls gab, bzw. geben mußte. Es wird gezeigt werden, wie sich religiöses Empfinden nicht als Vermögen sui generis qualifiziert, sondern mit den von Kant aufgedeckten Strukturen menschlicher Subjektivität zureichend begriffen werden kann. 413 Es wird hier bewußt nicht von Psychologie gesprochen. Denn für Kant sind alle Gefühle, über die sich nur empirisch reden läßt, Gegenstand der Psychologie, und für den Philosophen von geringem Interesse. Gefühle interessieren im kritischen Rahmen nicht selbst, sondern als phänomenale Anzeichen noumenaler Strukturen; sie werden nur insofern Gegenstand philosophischer Rede, „als an ihnen ein Prinzip a priori kenntlich" gemacht werden kann. K.d.U. Β 113.

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Gefühl ist. Und diese Intension des Begriffs des religiösen Gefühls wird nicht anders als über die Intention religiösen Empfindens zu gewinnen sein. Damit schließt sich der Kreis: Die Intention religiösen Gefühls erfüllt sich nicht im Fühlen, sondern verweist auf ein zugrundeliegendes praktisches Noumenon. Entgegen jeder üblichen phänomenologischen und religionspsychologischen Praxis kommt man so zu einer normativen Lehre vom religiösen Gefühl. Diese durchbricht die gängige Meinung, ein religiöser Mensch sei, was sein Fühlen anbelangt, jeder Kritik entzogen. Sie bestreitet das Klischee, im religiösen Erleben sei ein Bezirk beschrieben, der der menschlichen Vernunft verschlossen und als ein Höheres übergeordnet oder aber als ein Niederes untergeordnet sei. Tatsächlich, so wird zu zeigen sein, kann menschliche Vernunft im religiösen Gefühl zu einer phänomenalen Selbstwahrnehmung ihrer noumenal religiösen Verfassung gelangen. Das heißt, die gesuchte Vernünftigkeit religiösen Empfindens überhaupt ist nicht anders als im normativen und kritischen Begriff des vernünftigen religiösen Gefühls zu erkennen. Das religiöse Gefühl ist der Kritik unterworfen, weil das von ihm intendierte religiöse Ideal kritischer Natur ist, die die Kritik an der phänomenal-emotionalen Repräsentation dieses Ideals miteinschließt. Das religiöse Seinsvertrauen versteht sich, wie gezeigt wurde, wesentlich von einer Einheit her, die von dem sie erlebenden Subjekt als dem Erleben vorgängig und un verfügbar angesetzt werden muß, um für das Subjekt etwas Festes sein zu können. Ob diese Einheit nun authentisch-religiöser oder abergläubischer Natur ist, zeigt sich, - unabhängig vom diskursiven Niveau religiöser Selbstdarstellung, in der emotionalen Reaktion des durch Religion entweder zu sich befreiten oder von sich entfremdeten Subjekts auf die es überschreitende Transzendenz. Die gelingende religiöse Weltaneignung beschreibt Kant an vielen Stellen als Selbstempfinden der Anlage zur unbedingten Selbstbestimmung gegenüber einer als bedingt erlebten Natur.414 Das adäquate religiöse Empfinden ist demnach eines, das die glückende Beheimatung des Subjekts in seiner Welt anzeigt: das Beisichsein im Anderen seiner selbst. Es geht einher mit einem Bewußtsein unverfügbarer Einzigartigkeit und selbsteigener Würde, „sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns, überlegen zu sein uns bewußt werden können."415 Damit ist dieses Empfinden der transzendent vermittelten Position des Selbst eindeutig positiver und freiheitlicher Natur. Eine Religion, deren emotionaler Charakter dagegen neurotischer und psychotischer Natur ist, eine Religion, die die Menschen feindselig macht und ihrer Würde beraubt, eine Religion, die sie an ihrer sittlichen Freiheit und Potenz zweifeln läßt, zeigt augenscheinlich an, daß sie das ihr anvertraute Subjekt an ein schlechtes Transzendentes ausgeliefert hat.416 Indem sie die heilige Unendlichkeit des 4,4

Vgl. K.d.p.V. A 285, ähnlich: Rei Β 115. K.d.U. Β 109. 416 „In der [sc. phänomenalen] Religion überhaupt scheint Niederwerfen, Anbetung mit niederhängendem Haupte, mit zerknirschten angstvollen Gebärden und Stimmen, das einzigschickliche

415

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Transzendenten um den Preis der Erniedrigung des Gläubigen einholt, unterbietet sie performativ ihren eigenen Anspruch, Platzhalterin einer für die Menschen geoffenbarten transzendenten Wahrheit zu sein.417 Wann und warum aber das, was der religiöse Mensch fühlt, verfehlt und irreligiös ist, kann deskriptiv weder über, noch gegen das subjektive Selbstempfinden bestimmt werden.418 Eine Untersuchung über den Charakter der phänomenalen Selbstwahrnehmung religiöser Menschen, die den Anspruch aufrechterhalten will, leligionsphilosophisch zu sein, muß den Unterschied zwischen gesundem und offensichtlich krankem religiösen Empfinden nicht über extern (psycho-pathologisch) herangezogene Kriterien, sondern aus dem normativen Begriff des religiösen Gefühls erklären. Von den Gefühlen religiöser Menschen insgesamt wird allgemein 'das religiöse Gefühl' unterschieden. Gemeinhin wird es als Gefühl für das transzendente Objekt der Religion, d.h. als Gottesliebe und Gottesfurcht, verstanden. Das religiöse Gefühl sei dabei die phänomenale Quelle subjektiver Religiosität, der objektiv der im Gefühl aufscheinende Gegenstand entspreche. Dieser Gegenstand soll sich im Empfinden des religiösen Menschen als mysterium tremendum et fascinosum offenbaren. 419 Das Zustandekommen des religiösen Gefühls wäre damit aus einem Wirken des religiösen Objektes auf ein empfangliches Subjekt zu erklären. Aus kantischer Perspektive ist ein solches Verständnis zu bezweifeln. Dieser Zweifel ist einmal erkenntnistheoretischer Natur und richtet sich gegen die Möglichkeit einer emotional-sinnlichen Wahrnehmung transzendenter Objekte, bzw. deren (willkürlicher oder unwillkürlicher) Einwirkung auf uns. 420 Er läßt sich aber auch durch Überlegungen aus der praktischen Systematik vertiefen, die zeigen, daß es einer „Amphibolie der Reflexionsbegriffe" gleichkommt, unter dem religiösen Gefühl ein Gefühl für transzendente Objekte zu verstehen. Dieser Überlegung ist hier nachzugehen. Das religiöse Gefühl wird auch im theologischen Verständnis kaum ein bedingtes Gefühl sein können. Denn ansonsten wäre ja beispielsweise die Gottesliebe abhängig gemacht von einer bestimmten sinnlichen Gegebenheit, aufgrund derer erst das Gefühlsobjekt Gott vom Gefühlssubjekt Mensch geliebt Benehmen in Gegenwart der Gottheit zu sein, welches daher auch die meisten Völker angenommen haben und noch beobachten. Allein diese Gemütsstimmung ist auch bei weitem nicht mit der Idee der Erhabenheit einer Religion und ihres Gegenstandes an sich und notwendig verbunden. [...]." K.d.U. Β 109. 417 Vgl. Vorlesung über Pädagogik, hg, v. Rink, 1803, A 110. 418 Gegen das religiöse Empfinden ist reUgionspsychologisch insofern wenig auszurichten, als, selbst wenn der Einzelne dem Psychologen eine normative Kompetenz auf menschliches Gefühlsleben im allgemeinen zugesteht, er doch gerade seine religiösen Gefühle im besonderen als auf Gott ausgerichtete und von Gott kommende ihrem inneren Sinn nach nicht einer irdischen Korrektur unterwerfen wird. 419

Zur Auseinandersetzung mit Rudolf Ottos Schrift ,ßas Heilige" vgl. unten. Diese Argumentation wird hier vorausgesetzt. Kant gibt eine Zusammenfassung seiner eigenen diesbezüglichen Theorie in: Der Streit der Fakultäten, A 90. 420

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würde. Das gerade Gegenteil aber ist theologische Lehre. Auch wenn das Offenbarungsereignis im Rahmen zum Beispiel der konstitutiven Christologie durchaus als Faktum der Sinnenwelt dargestellt wird, qualifiziert es sich gerade nicht als sinnliches, sondern als übersinnliches Ereignis dazu, dem Menschen seine Gottesbeziehung zu eröffnen. Die Offenbarung wird verstanden nicht als bedingte, sondern als freie Tat Gottes, und muß sich dem Menschen auch als diese im religiösen Gefühl zu erkennen geben. Als insofern unbedingtes Gefühl aber wird das religiöse Empfinden sich einer unbedingten Spontaneität verdanken, die in der Lage ist, phänomenale Wirkungen als Folge ihrer selbst im menschlichen Subjekt zu zeitigen. Auf der Objektebene religiösen Empfindens scheiden also rein sinnenweltliche und rein übersinnliche Objekte von vorneherein aus, da sich in ihnen nicht Unbedingtes mit Bedingtem vermittelt. Gegenstand des religiösen Gefühls können nunmehr das religiöse Ideal und das religiöse Idol sein. Wenn die vorliegende Systematik aufgeht, wird das Gefühl für religiöse Idole den Verfall des sittlichen Ideals, der im Idol liegt, phänomenal wiederspiegeln. Als möglicher Gegenstand eines anzuerkennenden sittlich-religiösen Gefühls verbliebe das religiöse Ideal in seiner symbolhaften Gegenständlichkeit. Nun ist vorab zu bedenken, daß die gängigen Objekte von Gefühlen sinnenweltlich gegeben sind. Auch die intelligibel gewirkten Gefühle der Achtung und der praktischen Liebe bilden da keine Ausnahme. Zwar entspringen sie aus der Unbedingtheit der sittlichen Willensbestimmung, und in ihrer Objektbindung ist das Entscheidende nicht das Objekt als solches, auf das sie sich beziehen, sondern seine Teilhabe am Sittengesetz. Aber auch diese Gefühle sind durch ihre Objektorientiertheit auf ein menschliches Maß an realisierter negativer wie positiver Sittlichkeit abgestimmt. Praktische Achtung zeigt sich als freie Negation von etwas Bösem, praktische Liebe ist freie Setzung von etwas Gutem in einem Menschen. Wenn auch das Sittengesetz über dem Menschen steht, so steht doch immer der Mensch über seiner einzelnen, begrenzten sittlichen oder unsittlichen Tat. Liebe und Achtung sind damit seine Gefühle, weil er durch praktisches Tun ihnen Wirklichkeit gibt oder verweigert. Dieses Maß wird nun im Ideal der Sittlichkeit, wie es in den religiösen Symbolen vorliegt, gesprengt. Das religiöse Symbol zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß es nicht eine endlich-unbedingte Sittlichkeit, sondern eine unendliche Sittlichkeit veranschaulicht, die - aus der Sicht des gegenständlichen Bewußtseins - nicht erst durch menschliches Tun ins Leben gerufen wird. Das Eigentümliche des religiösen Ideals ist, daß, obwohl die Idee der Sittlichkeit als sinnlich-unbegrenzte für Gefühle ungeeignet ist, sie in der sinnlich repräsentierten Form des Ideals dem menschlichen Empfinden kommensurabel gemacht wird. Das religiöse Ideal ist also der Form nach, nicht aber der Sache nach ein geeigneter Gegenstand menschlicher Gefühlsbeziehung. Das religiöse Ideal wird vom menschlichen Gefühl erfaßt, aber nicht bewältigt, geschaut, aber nicht überblickt. Die unendliche Negation des Bösen, die im religiösen Ideal liegt,

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überfordert die sinnliche Vorstellungskraft ähnlich w i e b e i m Gefühl des Erhabenen. 4 2 1 D i e unendliche Integration des Guten i m Reich der Z w e c k e veranschaulicht sich in einer höchsten Zweckmäßigkeit, die d e m Schönen gleich käme, überstiege sie nicht j e d e s ästhetisch in Einheit zu bringende Maß. D a s religiös-sittliche Ideal muß geschaut, kann aber nur gedacht werden. A l s gedachtes erhebt es Anspruch auf unendliche Achtung und unendliche praktische Liebe für sich. 4 2 2 Seine v o l l k o m m e n e ästhetisch-symbolische U m s e t z u n g dagegen kann nur gedacht, nicht aber gezeigt werden. A l s geschautes Ideal müßte es in jeder seiner immer wieder zu überbietenden sinnlichen Darstellungen schön und erhaben sein. 4 2 3 Insofern dem religiösen Ideal sinnliche Realität zukäme, verwiese das religiöse Gefühl phänomenal tatsächlich auf ein mysterium tremendum, das Achtung und Erhabenes vereint, indem es sittlich-negative Sinnlichkeit unendlich verneint. U n d es verwiese auf ein mysterium fascinosum, das praktische Liebe und das Schöne übereinbringt, indem es, in höchster und freier Zweckmäßigkeit, sittlich-positive Sinnlichkeit unendlich vereint,424 D a s unendliche M o m e n t in der sinnlich-fiktionalen Verwirklichung des Sittengesetzes, ist es, w a s das mysterium

421

Das direkte Auftreten des Schönen und Erhabenen im Rahmen der religiösen Kultur wird hier vernachlässigt. Hier geht es uns um die indirekt schöne und erhabene religiös-symbolische Weltund Selbsterfahrung, die nicht im Gefühl des Schönen und Erhabenen aufgeht, aber deren Momente in einer noch näher zu bestimmenden Weise aufnimmt. Kant schreibt: „Zum Schönen in der Natur müssen wir einen Grund außer uns suchen, zum Erhabenen aber bloß in uns und der Denkungsart, die in die Vorstellung der ersteren Erhabenheit hineinbringt;" K.d.U. Β 78. Hervorhebungen von mir. Im Ausgang von dieser Stelle (sowie K.d.U. Β 76/77) wird häufig in zwei Richtungen interpretiert. Diejenigen (z.B. bereits Fries), die sich mit dem Gedanken einer schöpferbedingten objektiven Naturteleologie anfreunden können, kaprizieren sich auf das Schöne als das religiöse Gefühl, während diejenigen (vor allem modernen) Interpreten, die auf Immanenz bedacht sind, im Gefühl des Erhabenen den Quell des Religiösen zu erblicken meinen. Dagegen ist einzuwenden, daß das Schöne schön und nicht religiös und daß das Erhabene erhaben und nicht religiös ist. Ziel religionphilosophischer Überlegungen zum religiösen Empfinden muß es sein, weder einzelne Gefühle dem religiösen Gefühl unterzuordnen und zu vergöttlichen, noch dieses jenen zu subsumieren und zu verweltlichen, sondern zu zeigen, wie das Schöne als Schönes und das Erhabene als Erhabenes Anteil hat an der religiösen Empfindung, die weltlich und überweltlich zugleich ist. 422 Inwieweit im Gedanken unendlicher Liebe und Achtung ein widersprüchliches Moment liegt, klärt das folgende. 423 Daß in phänomenaler Religiosität auch das Häßliche und Niedrige eine Rolle spielt, ist für die Entwicklung des Noumenon unerheblich. Es kann im Rahmen der hier vorgelegten Theorie verstanden werden als negatives Moment fundamentalistischer Religiosität. Vgl. dazu unten mehr. 424 „Das tremendum, das abdrängende Moment des Numinosen, schematisiert sich durch die rationalen Ideen von Gerechtigkeit, sittlichem Willen und Ausschließung des Widersittlichen und wird, so schematisiert, der heilige 'Zorn Gottes', den Schrift und christliche Predigt verkündigen. Das fascinans, das zusichreißende Moment des Numiosen, schematisiert sich durch Güte, Erbarmen, Liebe, und wird, so schematisiert, zu dem satten Inbegriffe der 'Gnade', die zum heiligen Zorn in Kontrastharmonie tritt und die wie dieser, durch den numiosen Einschlag, mystische Färbung hat." Otto, Rudolf: Das Heilige - Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 22. Auflage, München 1932, S. 181.

Durchführung

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ausmacht: es sprengt die menschlichen Verhältnisgrößen und deutet eine Verwirklichung des Sittlichen an, die, konstitutiv genommen, einer Schematisierung des Sittengesetzes gleichkäme.425 Als reale Negativität stieße diese ideale Sittlichkeit den endlichen Menschen unendlich zurück, als reale Positivität zöge sie ihn unendlich an. Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, hier würden das moralische und das ästhetische Urteil konfundiert. Das gerade Gegenteil ist beabsichtigt: statt einer Rückführung der moralischen Komponente des religiösen Symbols auf die ästhetische oder umgekehrt, wird hier versucht, das Zusammenspiel beider in religiösen Vollzügen gerade aus ihrer eigentümlichen Differenz zu verstehen, aus der heraus auch erst das menschliche Streben verstanden werden kann, die für sich bestehenden Ideen des Guten und des Schönen in religiösen Idealen übereinzubringen. Kant beharrt eindringlich in der Kritik der Urteilskraft darauf, daß Sittliches und Ästhetisches nicht aufeinander zurückgeführt werden können.426 Die Idee des Guten und die Idee des Schönen sind, wie auch das Gute und das Schöne in der Welt, von einander unabhängig.427 Dennoch identifiziert Kant als das Ideal der Schönheit einen sittlich-schönen Menschen.428 Man kann ergänzen: dennoch ist das Ideal des Sittlichen eine auf schöne Weise sittliche Welt. Der Schlüssel zu diesen Gedanken liegt in Kants Theorie der intuitiven Urteile. Die Idee des Schönen kann nicht ausformuliert werden, sie kann aber im Ideal des Schönen mit begrifflichen Mitteln angedeutet werden. Die Idee des Guten liegt nicht anschaulich vor, sie kann aber über das Ideal der Sittlichkeit mit sinnlichen Mitteln verdeutlicht werden. Fällt das Ideal des Guten mit dem des Schönen zusammen? Der Idee des Guten kommt objektive Notwendigkeit zu, ihre ideale Verwirklichung müßte, um keine Nötigung stehen zu lassen, dem Subjekt als freie subjektive Notwendigkeit erscheinen. Dies ist dann der Fall, wenn das Gute etwas ist, dem das Subjekt von sich her bereits ganz entspricht, in dem also seine subjektive Zweckmäßigkeit und die objektiv-praktische Notwendigkeit konvergieren. Dasjenige, dem das Subjekt sowohl von außen her (gegen Heteronomie) als auch von innen her (gegen Selbstnötigung) frei und dennoch subjektiv-notwendig seine Gunst erweist, ist aber das Schöne. Anders herum gewendet: Schön ist das, dem subjektiv notwendig Anerkennung als freie Gunst zukommt, das nicht aber objektiv notwendig anzuerkennen ist. Um die Idee des Schönen idealiter zu verwirklichen, müßten die Unterschiede, die zwischen der jeweiligen subjektiven Notwendigkeit der einzelnen Subjekte im ästhetischen 425

Vgl. Otto, Rudolf: Das Heilige.... a.a.O., S. 181/182. Vgl. K.d.U. Β 44. 427 Vgl. zum folgenden insgesamt: Bartuschat, Wolfgang: Zum Verhältnis von Ästhetik und Ethik bei Kant und Schiller, in: Journal of the Faculty of Letters, The University of Tokyo, Aesthetics, Vol. 13 (1988), S. 47-69, insbesondere S. 55-57. 428 Vgl. K.d.U. Β 56. 426

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Durchführung

Urteilen bestehen, aufgehoben werden zu einer allgemeinen subjektiven Notwendigkeit. Nun existiert aber kein sensus communis. Eine Vereinheitlichung des Schönen ist deshalb nur unter dem Leitfaden unbedingt-objektiver, also sittlicher Notwendigkeit zu denken: in einem Ideal des Sittlich-Schönen. Der vereinheitlichende Begriff, der der ästhetischen Idee fehlt, um zu idealgerechter Wirklichkeit zu kommen, ist praktischer Natur; die Vorstellung, die der sittlichen Idee fehlt, um ideale Präsenz zu haben, ist ästhetischer Natur. 429 Im symbolisch-intuitiven Urteil werden die Pole regulativ zusammengebracht. Das Schöne gefallt ohne jeden Begriff, das Gute allein aufgrund seines Begriffes. Das religiöse Ideal, dem symbolisch entsprochen werden soll, muß gleichermaßen begrifflich und unbegrifflich sein. Es muß ohne jeden Begriff und Zweck gefallen und es muß gleichzeitig dem sittlichen Begriff und Zweck entsprechen. Von seiten der Idee des Guten müßte demnach nicht die Natur gegen ihr eigenes Gesetz der Sittlichkeit untergeordnet werden, sondern die Natur müßte sittlich zweckhaft sein in einer Weise, die deshalb als schön empfunden werden kann, indem sie nicht abgezweckt auf unsere Zustimmung, sondern aus sich heraus sittlich-zweckmäßig wäre. Ferner müßte von seiten der Idee des Schönen nicht das Sittliche sich dem Schönen anpassen, sondern das Ideal müßte eine Zweckmäßigkeit aufweisen, die notwendig ein jeder frei anerkennt. Diese Zweckmäßigkeit wäre objektiv schön; sie liegt als - gebotene - Einheit des freien Urteils aller im Begriff des sittlich Guten. Das Ideal des Guten und des Schönen fallen im Ideal des vollkommenen Menschen und im Ideal der vollkommenen Welt zusammen. Diese Ideale, die genaugenommen ein einheitliches, aber zweiseitiges Ideal bilden,430 repräsentieren die Vorstellung einer subjektiven und objektiven Harmonie aus Natur und Freiheit. Wäre sie Wirklichkeit, käme ihr objektiv- und jwò/etóv-notwendig die freie Zustimmung aller Subjekte zu. In einer endlichen Welt dagegen konvergieren

429

Zu dem hier in Angriff genommenen Versuch, die Konvergenz des sittlichen und ästhetischen Ideals für eine Theorie des (symbolgeleiteten) religiösen Gefühls nutzbar zu machen, vgl. die folgende Textpassage bei Kant: „Das S c h l e c h t h i n - G u t e , subjektiv nach dem Gefühle, welches es einflößt, beurteilt, (das Objekt des moralischen Gefühls) als die Bestimmbarkeit der Kräfte des Subjekts durch die Vorstellung eines s c h l e c h t h i n - n ö t i g e n d e n Gesetzes, unterscheidet sich vornehmlich durch die M o d a l i t ä t einer auf Begriffen a priori beruhenden Notwendigkeit, die nicht bloß Anspruch, sondern auch das G e b o t des Beifalls für jedermann in sich enthält, und gehört an sich zwar nicht für die ästhetische, sondern die reine intellektuelle Urteilskraft; wird auch nicht in einem bloß reflektierenden, sondern bestimmenden Urteile, nicht der Natur, sondern der Freiheit beigelegt. Aber die B e s t i m m b a r k e i t d e s Subjekts durch diese Idee, und zwar eines Subjekts, welches in sich an der Sinnlichkeit Hindernisse, zugleich aber Überlegenheit über dieselbe durch die Überwindung derselben als M o d i f i k a t i o n e n s e i n e s Z u s t a n d e s empfinden kann, d.i. das moralische Gefühl, ist doch mit der ästhetischen Urteilskraft und deren f o r m a l e n B e d i n g u n g e n sofern verwandt, daß es dazu dienen kann, die Gesetzmäßigkeit der Handlung aus Pflicht zugleich als ästhetisch, d.i. als erhaben, oder auch als schön vorstellig zu machen, ohne an seiner Reinigkeit einzubüßen:" K.d.U. Β 114. 430

Vgl. dazu näher den Abschnitt „Religion

und

Geschichte".

Durchführung

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Gutes und Schönes nicht, bzw. nur in den religiösen Symbolen der Menschen deutet sich deren harmonische Einheit an, die aber als geschaute nur subjektivnotwendig und als begriffene nur objektiv-notwendig die Zustimmung der Subjekte erhält. Eben deshalb 'macht' sich ein jeder sein Gottesbild und kann dennoch berechtigtermaßen mit anderen über den 'richtigen' GoXXesbegriff streiten. Denn die intuitiven Momente im Gottesbezug müssen subjektivnotwendiger, die diskursiven Momente (wegen ihres praktischen Geltungsanspruchs) objektiv-notwendiger Natur sein. Das religiöse Gefühl schillert zwischen den Polen des Schönen und der Liebe, und des Erhabenen und der Achtung. Dieses Schillern resultiert nicht aus einer ungenauen Beschreibung des Phänomens, sondern aus einem in der Sache liegenden Oszillieren der adäquaten religiösen Empfindung. Diese wäre phänomenal auf sittlich-immanente Maße reduziert, wenn sie bei Achtung und Liebe verbliebe. Sie wäre noumenal herabgesetzt, wenn sie allein auf ästhetische Wahrnehmung zurückgeführt würde. Und sie ist als genuin religiöse Empfindung unwahr, wenn sie sich in einer sinnlichen Zuneigung äußert, wie sie endlichen Wesen gegenüber empfunden wird, und nach Wechselseitigkeit verlangt. Dennoch ist es nur zu menschlich, sich der positiven Seite des über alle Maßen erstrebenswerten 'Objektes' des religiösen Gefühls nähern zu wollen, bzw. es in seiner Negativität zu fürchten. Der Versuch, das als Objekt der religiösen Empfindung gedachte göttliche Subjekt zu verendlichen, ist die grundlegende religiösemotionale Versuchung. Die versuchte Vereinnahmung des transzendenten Gegenstandes in eine sinnlich-wechselseitige Beziehung verletzt aber die durch die sittliche Idee gesetzte sinnliche Entgrenzung und fuhrt begrifflich zur Idolatrie, emotional zum religiösen Wahn und theologisch zum Aberglauben. Zwischen diesen von Kant gleichermaßen abgelehnten irreligiösen Religionsphänomenen besteht ein systematischer Zusammenhang, der im subreptiven Verfehlen adäquater Religiosität gründet. Das Idol ist die noumenale Perversion des Ideals, Idolatrie (Götzendienst) die phänomenale Perversion idealer Religion. Das Bilderverbot mancher Religionen ist - religionsphilosophisch verstanden - kein Verbot, das Göttliche zu versinnbildlichen, sondern ein Verbot, das Sinnbild zu vergöttern.431 Denn ein veräußerlichtes Heiliges kann die eigentlich dem subjektiv-sittlichen Selbstbezug zukommenden Energien des religiösen Subjekts nicht zurückgeben. Anstatt über das Bild zum Heiligen geleitet zu werden, leitet das abergläubische Subjekt das Heilige aus dem Bild ab. Es richtet sich nach seinem Idol aus und verfehlt so sich und das Heilige gleichermaßen. Das gute religiöse Gefühl richtet sich dagegen auf das symbolisierte Ideal aus. Es gründet in der sittlichen Intentionalität des Subjekts, die passiv sichert, daß das Subjekt Symbole kraft seiner sittlichen Unbedingtheit überhaupt als sittliche Ideale erfassen kann, und aktiv sichert, daß es sich ihrem sittlichen Gehalt gemäß 431

Vgl. rigoroser Kant: K.d.U. Β 124.

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Durchführung

bestimmen kann. Damit ist es ein Gefühl, das zwischen der ästhetischen Wahrnehmung dieses Ideals in seiner symbolischen Gestalt und dem sittlichen Nachvollzug des anhand seiner erkannten sittlichen Gebotes hin- und herwandert. Diese Bewegung des religiösen Gefühls ist die phänomenale Entsprechung zu dem Prozeß der noumenal unabgeschlossenen und unabschließbaren Reflexion, zu der das religiöse Symbol den Menschen anleitet. So wie das religiöse Symbol die unter seinem Leitbild positivierte Sittlichkeit nicht als abschließende Verwirklichung des Sittengesetzes stehen läßt, sondern stets aufs neue die gewordene Wirklichkeit regulativ überschießt, um dadurch zu neuer konkreter Wirklichkeit zu kommen, so changiert das religiöse Gefühl zwischen der meditativen Kontemplation (ästhetische Komponente) und der tätigen Anerkennung (moralische Komponente) des religiösen Ideals, die sich wechselseitig beleuch" ten.432 Die theoretische Seite des religiösen Ideals (kognitive Komponente) dagegen spielt nicht positiv in das religiöse Erleben hinein. Sie ist der begriffliche Nachtrag zum Erlebten, nicht dessen Auslöser. Ihr epistemisches Niveau ist für das religiöse Empfinden nahezu unerheblich, da dieses Niveau immer gleichauf mit dem (vor den jeweiligen kulturellen Voraussetzungen möglichen) individuellen Begriffsvermögen liegen wird und somit mit dem sittlich-praktischen Niveau gelebter Religiosität unverbunden ist. Die oft zu hörende Bemerkung, daß nicht derjenige den tiefsten Glauben habe, der am gelehrtesten darüber reden könne, gehört hierher, wie auch das vermeintliche oder tatsächliche Auffinden 'moderner' religiöser Einsichten in alten Dokumenten vergangener religiöser Kulturen. Zwar ist eine der eigenen Lebens- und Gedankenwelt angemessene begriffliche Fassung des subjektiven Glaubens eine negative Bedingung von phänomenaler Religiosität. Denn ein Glaube, den man ob eingesehener theoretischer Schwächen nicht glauben kann, wirkt auch nicht aufs Gemüt. Die theoretischen Begriffe religiöser Lehre sind aber nicht die positive Quelle religiösen Lebens.433 Theoretische Aufklärung wird deshalb niemals noumenale Religiosität vernichten, wohl aber unwahre Vorstellungen. Der durch das religiöse Gefühl ausgewiesene Gehalt des religiösen Symbols ist keiner, der als übersinnliches Geheimnis dem symbolhaften Objekt des religiösen Gefühls zukommt, sondern einer, der aus dem Zusammenspiel der Kräfte des

432

Das Wechselverhältnis ist in der Tat noch differenzierter. Denn Kant sieht, daß die ästhetische Wahrnehmung des Erhabenen das Gemüt bewegt, nicht aber in ruhiger Kontemplation verharren läßt. Insofern gehören phänomenal eher Achtung und Erhabenes zusammen, da in ihnen das Subjekt, um zu sich zu kommen, erst noch etwas leisten, nämlich etwas Negatives überwinden muß, während bei Liebe und Schönem sich das Subjekt in einem Gefühl der Ruhe einem Positiven widmet. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um passives Hinnehmen, sondern um aktives Aufnehmen des Guten, bzw. Schönen, wodurch das Schöne/Gute erst als Schönes/Gutes für das Subjekt konstituiert wird. Vgl. K.d.U. Β 75, Β 89, Β 118. 433

Vgl. K.d.U. Β 258.

Durchführung

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religiösen Subjekts beim Wahrnehmen und Annehmen des religiösen Symbols entsteht. Das mysterium im Gefühl ist ein Phänomen des Fühlenden, nicht des gefühlten Objektes.434 Das religiöse Gefühl ist deshalb nicht als emotionale Objektbeziehung zu kennzeichnen, sondern das religiöse Gefühl ist die phänomenale Seite einer Beziehung des Subjekts auf sein transzendentales Selbst. Die Unmittelbarkeit religiösen Empfindens, die es von allen sinnlichen Gefühlen absetzt, liegt im Apriori der sittlichen Selbsterfahrung, nicht in einem magischen Zugriff transzendenter Mächte auf unsere Herzen. Der Unterschied des religiösen Gefühls 434

Hierin unterscheidet sich die vorliegende Theorie entschieden von Rudolf Ottos Ansätzen (in: Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und in: Das Heilige). Meines Erachtens ist Ottos Position, die nach seinen eigenen Worten (Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie, a.a.O., S. 122) dann doch in eine „objektive Teleologie in der Natur und Einzelerscheinung" unter der Herrschaft eines objektivierten Gottes mündet, durch ein fehlerhaftes Kantverständnis verursacht. Richtig erkennt Otto gängige Verkürzungen der kantischen Lehre und richtet seine Religionsphilosophie auf dasjenige Moment aus, das das Religiöse im vernünftigen Bewußtsein spielt. Damit hofft er eine Theorie geben zu können, die das Irrationale in der Religion nicht als Verfall von Rationalität, sondern als deren notwendige Ergänzung ansehen kann. Er stellt darum zentral auf das religiöse Erleben ab, das ein gefühlsmäßiger Ausblick von Seiten des Zeitlichen auf das Ewige sei. Dieser Ausblick sei möglich, da das Ewige - als eine dem Zeitlichen irgendwie korrespondierende ontologische Sphäre - dem Subjekt nicht gänzlich verschlossen sei. Zwar sei der Mensch generell durch die Schematisierung, die die Kategorien in der Zeit erfahren, in eine endliche Welt gestellt, allerdings erlaube ihm das religiöse Ahnen einen Ausblick auf die wahre Welt, in der die Kategorien eben nicht schematisiert seien. Die Religion sei nun eine Schematisierung eigener Art dieser spezifisch emotionalen Erkenntnis und schaffe eine Synthesis a priori, mit der der Mensch über seine wahre Wirklichkeit belehrt werde. Sie stehe als höhere Erkenntnis über der niederen Erkenntnis aus sinnlicher Erfahrung. (Vgl. Das Heilige, a.a.O., S. 180ff.) Man ahnt, worin der entscheidende Mangel dieser Theorie liegt. Insbesondere in der Schrift Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie klingt an, daß die Schematisierung als Weise der praktischen Verwirklichung des Sittengesetzes gedacht ist, die möglich ist, weil der sinnlich aufgenommenen Wirklichkeit noch eine zweite, tiefere Wirklichkeit unterliegt. Otto behauptet explizit, daß, wenn nur die Schematisierung der Kategorien außerkraft gesetzt sei, die Ewigkeit walte. Hier wirft er allerdings noumenale Unterscheidung und phänomenale Trennung von Wirklichkeiten durcheinander. Zwar ist es von philosophischer Bedeutung, zwischen den Kategorien einerseits und ihrer Schematisierung andererseits zu trennen, es ist aber nicht so, daß für uns neben unserer als schematisiert aufgefaßten Wirklichkeit noch eine zweite, nicht schematisierte Wirklichkeit existiert. Otto sucht diese zweite Wirklichkeit, auf die ihn das religiöse Gefühl vermeintlich hinweist, und er meint sie im religiösen Objekt, mithin in Gott und im Reich Gottes auf Erden, zu finden. Damit untergräbt er aber gründlich seinen mühevoll in der kritischen Philosophie und in Absetzung von Hegel und anderen gewählten religionsphilosophischen Ansatz. Wenn es das religiöse Objekt ist, dem wir die Perspektive der Ewigkeit verdanken, dann muß entweder eine schlecht-transzendente Wirklichkeit Gottes angenommen werden oder eine privilegierte Erkenntnis der wahren Wirklichkeit im religiösen Erkennen, die nicht anders als durch Wirkung des Objektes, d.h. letztlich durch Inspiration erklärlich ist. Diese im Rahmen kritischer Philosophie absurden Konsequenzen hätten vermieden werden können, wäre die Religion nicht als Schematisierung des Unendlichen, sondern als Symbolisierung des Unbedingten begriffen worden, und wäre die Wirklichkeit der Unbedingtheit, nicht als unendliches Objekt, sondern als subjektive Unbedingtheit im Selbstbezug angesetzt worden.

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Durchführung

zu den moralischen Gefühlen, die sich ebenfalls aus einer Beziehung des empirischen Subjekts auf sein transzendentales Selbst verstehen lassen, liegt darin, daß im religiösen Gefühl sich das Subjekt nicht wie dort, vermittelt durch Unbedingtheit, sich selbst begrenzend auf Endlichkeit bezieht, sondern, vermittelt durch Endlichkeit, sich entgrenzend auf Unbedingtheit. Moralische Empfindungen spiegeln die Selbstfestlegungen eines Menschen, religiöse seine grenzüberschreitende Offenheit. Wenn im moralischen Selbstbezug das Unbedingte etwas an sich ist, indem es etwas für uns wird, so ist im religiösen Bezug das Unbedingte etwas für uns, wenn es etwas an sich ist. Etwas an sich ist das Unbedingte aber für das religiöse Empfinden nur dann, wenn es als - zumindest in seiner Präsenz - unbezüglich auf uns empfunden wird. Diese Unbezüglichkeit auf Endliches erreicht das Unbedingte aber nur als Unendliches, das des Endlichen nicht mehr bedarf, um etwas an und für sich zu sein, d.h. als übersinnliche Macht. Daher siedelt für das religiöse Bewußtsein das Unbedingte außerhalb seiner selbst und die Beziehung zu ihm, - ob nun interpretiert als ahnendes Erkennen, fühlendes Erfahren oder intellektuelle Anschauung, - wird, wie gezeigt, nicht als Akt des menschlichen Selbst angesehen, sondern, bildlich gesprochen, als unableitbares Geschenk seitens des Unendlichen. Das Gefühl gegenüber einer solchen Übermacht ist umfassende Abhängigkeit, die mit dankbarer Unterwerfung auf das Geschenk der emotionalen Gegenwart des Göttlichen in der Welt reagiert. Die Begrenzung auf Personen und Handlungen, die Achtung und Liebe als konkretisierten unbedingten Gefühlen zukommt, fallt in der Versenkung des religiösen Gefühls in die gegenstandslose Unendlichkeit weg. Alles und nichts kann Objekt des religiösen Gefühls, d.h. religiöses Gegenüber, sein, in jedem noch so nichtigen Stück Realität kann unendliche Seinserfüllung sich offenbaren. Die verführerische Aussicht auf umfassendes Heil, das man selbst unter Aufbietung der gesamten Existenz anders nicht einholen könnte, verführt dazu, die gesamte Existenz für dieses Heil, bzw. seine in Aussicht gestellte Erlangung, aufzubieten. Damit aber verkehrt sich das Verhältnis von Realität und Fiktion. Die reale Welt wird als uneigentlich und als zu überwinden empfunden um einer anderen Welt willen, in der es sich wahrhaft leben läßt. Aus der entgrenzten Liebe zur Unendlichkeit entspringt ein ausgrenzender Haß auf das Endliche.435 Verselbständigte und abstrakte Achtung des Heiligen äußert sich als selbstlos-konkrete Verachtung des Profanen. Die Freuden dieser Welt, die sich zwischen die religiöse Weltverneinung und das Subjekt zu stellen drohen, werden negativ besetzt: als Hindernisse auf dem Weg zur Überwindung der Welt des Scheins. Das Leiden dagegen wird verklärt und bisweilen gesucht, um die eigene Unabhängigkeit von 'dieser' Welt

435

Streng genommen ist eine Liebe zu Unendlichem gar nicht, d.h. nur via negationis: als Haß auf das Endliche möglich, da jede Gefiihlswahrnehmung die Aufnahme von 'etwas' und nicht, (da Unendliches nicht wahrgenommen wird,) von 'nichts' voraussetzt.

Durchführung

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zugunsten 'jener' zu beweisen. Das Weltenende wird zur eigenen Erlösung herbeigesehnt und in seiner vernichtenden Potenz begrüßt. Die Zukunft der Welt wird nicht mehr in schönen und erhabenen Symbolen ausgemalt, sondern als Ende der Zeit mit den Mitteln des Häßlichen und des Niedrigen beschworen. Der gegen die Endlichkeit des eigenen, nicht mehr in der endlichen Welt zu sich zurückfindenden Selbst gerichtete Haß erweitert sich, - in seiner schlechten Selbstlosigkeit vermeintlich sittlich-religiös gerechtfertigt, - zu einer vernichtenden Wut auf jedes und jeden, dem das endliche Leben gelingt. Aus verabsolutierter Gottesliebe wird absolute Misanthropie. Dem fundamentalistischen religiösen Denken entsprechen also fundamentalisierte religiöse Empfindungen,436 die in ähnlicher Weise wie jenes über das religiöse Subjekt hinweggehen und es rauschhaft sich und seiner Welt entgrenzen. Die Entgrenzung religiösen Fühlens, bzw. die Grenzenlosigkeit der anziehenden und abstoßenden Komponenten im religiösen Symbol, entspricht für den, für den diese Beziehung wahr ist, keiner sonstigen phänomenalen Gefühlsbeziehung. Das Streben nach dem Objekt, das vermeintlich dieses Gefühl verursacht, und das eben aufgrund der Entgrenzung des Gefühlten, ein entgrenztes Objekt sein muß, steht mit dem fundamentalistischen religiösen Denken in einer sich wechselseitig steigernden Beziehung. So wie das Denken des Unbedingten als unendliches und dennoch sich verendlichendes Subjekt-Objekt zu einer tiefgreifenden Irritation des weltbezogenen Denkens fuhrt, so fuhrt das Empfinden eines vermeintlichen Bezuges zu einem über allen Bezügen stehenden Wesen, zu einem emotionalen Schaudern. Irritation und Schaudern gründen in der Vernichtung der anthropologischen Verhältnisgrößen. Während die regulative Aufhebung des Vertrauten zu jeder echten Selbstorientierung gehört, wirkt die konstitutive Suspension aller weltlichen Bezüge auf das Subjekt zerrüttend. So wie im guten religiösen Denken der Schritt zur Verabsolutierung der religiösen Wahrheit durch die eingesehene Unmöglichkeit, sie definitiv auszubuchstabieren, relativiert wird, was den Umgang mit stets nur relativen Wahrheiten erzwingt, so wird im gesunden religiösen Fühlen der Schritt zur Verabsolutierung des religiösen Objektes dadurch zurückgenommen, daß die angestrebte Wechselseitigkeit der Gottesliebe nur in der Nächstenliebe praktisch, daß also die erstrebte affirmative Erfahrung des Unbedingten nur in endlicher, nicht in unendlicher Weise möglich ist. Die Rückbindung der religiösen Orientierung an den Menschen ist Moment des Noumenon Religion und mithin ein jeder Religion intern zukommendes Ziel, das nicht erst normative Religionsphilosophie ihr aufnötigt. Jedoch ist das praktische Relativieren und Mediatisieren religiöser Absolutismen gerade nicht notwendigerweise eine Leistung der Religion selbst, sondern eine Leistung religiöser 436

Zwar hat Kant keine Theorie des religiösen Gefühls gegeben, er ist aber an geeigneter Stelle ausführlich auf Verfallsformen religiösen Selbstempfindens in aller Deutlichkeit eingegangen und hat das noumenaler Religion innerlich angemessene Erleben, von dem auf religiöser „Superstition" beruhenden abgegrenzt. Vgl. K.d.U. Β 108/109 und Β 123-126.

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Durchführung

Menschen, die zum Teil erst gegen phänomenale Religionsformen durchzusetzen ist. Die Vernachlässigung menschlicher Endlichkeit im religiösen Fühlen und Denken ist und bleibt eine stete Bedrohung des wahrhaft religiösen Lebens, das, um als religiöses Leben bei sich zu bleiben, die Kritik seiner Entartung zu einem Moment seiner selbst machen muß. Die Möglichkeit solcher Selbstkritik gewinnt die Religion, wenn es ihr gelingt, die positive Religionskritik des Noumenon Religion zu einem Moment vergemeinschafteten religiösen Lebens zu machen. Dann nämlich wird der sittliche Gehalt religiöser Symbole, der positiv wie negativ die Grenzen verhältnisgerechter Versinnlichung sprengt, zu einer im guten Sinne irritierenden Versinnbildlichung eines Mysteriums: des erschreckenden und faszinierenden Geheimnisses der moralischen Freiheit.

2.2.6. Das ethische Gemeinwesen Aus der noumenal-allgemeinen Struktur hinter den scheinbar bloß privaten Momenten des religiösen Sich-Verstehens folgt phänomenal die Sehnsucht nach der Vergemeinschaftung in der religiösen Ideenbildung. Sie schränkt die Beliebigkeit religiöser Symbolverwendung in positiver Weise ein. Denn es will sich das besondere Subjekt gerade in seiner besonderen Auseinandersetzung mit den Differenzerfahrungen seines Lebens der mitmenschlichen Allgemeinheit versichern, um nicht der von ihm nicht gestifteten Differenz in ungeschützter Privatheit gegenüberzustehen. So kommt es nicht nur zu intersubjektivem Konsens in der Symbolsprache, sondern, vermittelt über diesen, zu einer höheren Kohärenz der privaten Lebensdeutung. Die Suche nach einem tragenden Sinn, der gemeinschaftlich gelebt wird, fuhrt dazu, die abweichenden Ansichten anderer nicht einfach stehenzulassen, sondern in das eigene Denken, wenn auch nur zum Zwecke der Abgrenzung, aufzunehmen. Angestrebt bleibt dabei der allgemeine Glaube an einen für alle verbindlichen Sinn. Dieses Streben hat seinen Grund darin, daß das Erlebnis der Fraglichkeit des eigenen Seins eines ist, das sich nicht privatem Verfehlen verdankt, sondern als allgemeines auf jedem sinnlichintelligiblen Wesen lastet. Es ist darum nur natürlich, daß sich die Individuen in ihrer Weltdeutung zu Gemeinschaften zusammenschließen, in denen sie sich gegenseitig der Richtigkeit ihrer Weltauslegung versichern und vor der Ungeschütztheit eines sinnlosen Lebens Zuflucht suchen durch regulative Verendlichung (Eingrenzung) des Unverfugbaren in Bildern, Riten und Kulten. Der Gemeinschaft kommt hierbei eine wichtige kritische Funktion zu, die es rechtfertigt, daß die Gemeinschaft sich für sich in einer Weise verfaßt, die sicherstellen soll, daß das für alle bedeutsame Ziel der wechselseitigen Kritik und Hilfe weitestmöglich unabhängig von der Absichtlichkeit und Befähigung Einzelner erreicht wird. Die kritische Funktion des ethischen Gemeinwesens im Rahmen der Symbolkommunikation geht in zwei Richtungen. Zum einen richtet

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sie sich gegen die privatistische Vereinseitigung individueller Deutungswelten: sie kämpft gegen Mystizismus, Schwärmertum und Magie als Formen nicht intersubjektiv-geltungskräftiger Sinnfindung.437 Zum anderen richtet sie sich gegen die Verunendlichung des Transzendenten. Dies geschieht praktisch, indem das ethische Gemeinwesen zum Zwecke der Selbstverständigung und Selbstfindung einen Gemeinschaftswillen bildet, der für das Gemeinwesen deutend und zweckbestimmend tätig wird. Theoretisch bedeutet dies eine Konkretisierung des Heiligen in Projekten und Symbolen, die, wenn sie sittlich sind, den Selbstbezug der Subjekte wahren, der anders - bei Strafe kognitiver und emotionaler Fundamentalisierung - verloren ist. Diese regulative Konkretisierung ist das gerade Gegenteil einer schlechten Verendlichung des Heiligen, die der Gemeinschaft der sittlichen Geister von Seiten der Endlichkeit droht: eine Auflösung entweder der sittlichen Komponenten der religiösen Symbole im religiösen Ästhetizismus oder eine Vernachlässigung der unaufgelöst-ästhetischen Komponenten in profanisiertem Moralismus. Wenn das ethische Gemeinwesen normativ gesehen den Sinn von Sittlichkeit deutlich machen und stabilisieren soll, so ist zu fragen, wie sich das ethische Gemeinwesen seinem philosophischen Begriff nach zu subjektiven Akten der sittlich-inneren Willkürbestimmung verhalten sollte. Da lautere Gesinnung und gute Zwecke nun nicht 'sichtbar' sind, steht hier das ethische Gemeinwesen vor Problemen, die das politische Gemeinwesen nicht hat, wenn es um die Anerkennung von Handeln geht, das normativ 'gut' ist. Gutes äußeres Handeln kann 'gesehen' werden und ist somit der öffentlichen Evaluation prinzipiell zugänglich. Gutes inneres Handeln muß im ethischen Gemeinwesen deshalb regulativ an den Hindernissen, die es überwand, erkannt werden. Die Anerkennung der unterstellten sittlich-inneren Willkürbestimmung durch das ethische Gemeinwesen kann wiederum nur eine sein, die, dem Wesen der Gemeinschaft gemäß, innerlich-geistig ist. Eine solche Anerkennung wäre zum Beispiel der ideelle Lohn, der sich in einer Ehrung, repektive in Ehrentiteln, als berechtigtermaßen zu fuhrenden Symbolen ideeller Anerkennung, ausdrückt. Es ist zwar nicht auszuschließen, daß sich ein Individuum in einer Verkehrung der sittlichen Bestimmungsgründe zur Ableistung sozialen Handelns einfindet, umwillen der als Anerkennungsfolge durch das Gemeinwesen zu erwartenden Ehrung. Da aber die Rangordnung der Bestimmungsgründe in der subjektiven Gesinnung nicht zu sehen ist, kann man seitens des Gemeinwesens gar nicht anders verfahren, als sittlichen Taten einen sittlich-inneren Bestimmungsgrund zu unterstellen und sie 437

„Denn die Phantasie verläuft sich bei Religionsdingen unvermeidlich ins Überschwengliche, wenn sie das Übersinnliche (was in allem, was Religion heißt, gedacht werden muß) nicht an bestimmte Begriffe der Vernunft, dergleichen die moralischen sind, knüpft, und führt zu einem llluminatism innerer Offenbarungen, deren ein jeder alsdenn seine eigene hat und kein öffentlicher Probierstein der Wahrheit mehr Statt findet." Der Streit der Fakultäten, A 64/65. Hervorhebungen von mir.

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sittlich anzuerkennen. Die Anerkennung ist rechtverstanden nicht als Lohn, sondern - vom utopischen Standort aus - als noumenales Korrelat der Tat zu anzusehen. Darin spricht sich dann der Umstand aus, daß sich ein Individuum nicht mehr im „ethischen Naturzustand" 438 befindet. Der ethische Naturzustand besteht nicht nur negativ nicht mehr, so daß das Subjekt im Handeln der anderen Individuen auf sich nicht mehr die heteronom-unsittlichen Kräfte wirken sieht und seine eigene Moralität als tragische Solitude empfindet. 439 Der ethische Naturzustand ist auch positiv überwunden, dadurch daß die Subjekte in ihrem Miteinander die Bedingungen der Möglichkeit sittlich-sinnlicher Selbsterhaltung im Rahmen des sittlich-inneren Selbstbestimmens mitschaffen, indem sie im Raum der ethischen Gemeinschaft ihre Noumenalität zu sinnlicher Präsenz bringen. Damit wären alle solche Institutionen als ethische Gemeinwesen anzusprechen, deren erklärtes Ziel es ist, sittliche Zwecke zu realisieren und ethische Asymmetrie abzubauen. In einem solchen Begriff des ethischen Gemeinwesens liegt ein weiterer Vorzug der systematischen vor der wortgetreuen Interpretation. Dem bloß textorientierten Interpretieren bleibt nämlich aufgrund der unmißverständlich geäußerten Ansicht Kants, daß (nur) die Kirchen dieses ethische Gemeinwesen darstellen,440 keine Wahl, mit diesem Begriff anders als kirchenkritisch umzugehen, was denn in der Literatur auch reichlich geschieht.441 Anders stellt sich der Begriff im Rahmen der systematisch durchgeführten Interpretation dar. In ihrem Kontext, in dem er die Instiutionalisierung einer intendierten Geistgemeinschaft zur lebensweltlich-sittlichen Selbstorientierung und Verarbeitung der ihr zugehörigen Diffferenzerfahrungen meint, ist er offen, auch nicht-kirchlichen ethischen Gemeinwesen zum philosophischen Konzept zu dienen. Die Familie, die Turnerschaft (im Sinne des 19. Jahrhunderts), Sekten, Studentenverbindungen, die Freimaurerlogen, berufliche Stände, Stiftungen etc. wären immerhin mögliche Kandidaten. Die ethische Selbstbestimmung könnte auch in ihnen aufgehen.442 Dies ist auch insofern ein wichtiges Ergebnis, als daß man so die augenscheinlich absurde Folgerung: 'Nur Kirchenmitglieder sind sittlich durchbestimmte Menschen!' vermeiden kann, ohne die gute und tragfahige Theorie des sittlichkeitstragenden ethischen Gemeinwesens durch willkürliche Ausnahmen zu relativieren. Angesichts eines erweiterten Begriffs des ethischen Gemeinwesens läßt sich weiterhin sagen, daß jemand, der sich vorsätzlich außerhalb jeder ethischen Gemeinschaft bewegt, es an konkreter Sittlichkeit mangeln läßt. Was aber genau ethische Gemeinwesen ausmacht und was sie von

438

Rei. Β 134. Vgl. S. 62. 440 Vgl. Rei Β Β 141-145. 441 Vgl. exempl.: Baumgartner, Hans Michael: Das "ethische gemeine Wesen" und die Kirche in Kants Religionsschrift, in: Marty F. / Ricken F.: Kant Uber Religion, in: Münchener philosophische Studien, Band 7, Stuttgart 1992, S. 156-165. 442 Näher wird auf diesen Gedanken im Abschnitt „Die Institutionen der Vernunft" eingegangen. 439

Durchführung

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sonstigen sozialen Vereinigungen unterscheidet, ist genauer erst nach der Rekonstruktion der Theorie des äußeren Handelns anzugeben. Damit ist in einem ersten Focus ein Durchgang durch das sittliche Handeln im Innern des Subjekts geleistet. Es wurde in einer geltungstheoretischen Konstruktion das Phänomen sittlich-inneren Handelns vom Noumenon des sittlich-synthetischen Gebotes her aufgebaut. Den wesentlichen Aspekten der Willkürbestimmung des Inneren, der Gesinnungsläuterung, der sittlichen Zwecksetzung und der religiösen Sinnreflexion auf das eigene Selbst und die Welt, wurde aus der einheitlichen Struktur menschlicher Vernunft transzendentale Rechtfertigung zuteil. Die Religion als Moment der sittlichen Selbstbestimmung und auch ihre äußere Verfestigung in ethischen Gemeinwesen konnte als ein der Vernunft notwendiges und dennoch nicht aus der Vernunft abzuleitendes Phänomen erwiesen werden, welches seine Rechtfertigung am Noumenon Religion erfährt. Zu zeigen ist nun, wie sich das sittliche Handeln im Feld des Äußeren aufbaut, und welche Funktion die Religion hier im sittlichen Rekurs der Vernunft auf sich haben wird, bzw. welche Funktion die für sich selbständigen normativen Disziplinen des äußeren Handelns in ihrer die phänomenale Religion einschränkenden Rolle für das religiöse Selbstverständnis haben.

2.3. À ußeres

Handeln

Der Mensch bestimmt seine Willkür innerlich. Sein willkürlich bestimmtes Handeln kann sich auf seine eigene Innerlichkeit richten, als auch auf alles Äußere. Das Feld der Handlungen, die über die Innerlichkeit des Subjekts hinausgehen, ist nun zu untersuchen. Die Äußerlichkeit als solche ist Gegenstand der Philosophie des Rechts und der Politik. Recht und Politik haben nicht für die Realisierung der moralischen Zwecke einzustehen. 443 Sondern Äußerliches muß als Feld eigenständiger Sittlichkeit begriffen werden. Wie ist aber eine Erweiterung des Sittengesetzes auf außerhalb des Menschen Liegendes überhaupt zu denken? Wie kann unsittlich-Äußeres negiert, wie kann sittlich-Äußeres gesetzt werden? Konsequenz des hier verfolgten konstruierenden Ansatzes ist es, daß das einheitliche Phänomen äußeren Handelns nach seinen einzelnen noumenalen Momenten zerlegt wird. So gliedert sich gemäß der verfolgten Methode das äußere Handeln in das Feld des Rechts als negativer Überprüfung der Handlungsform (Vermittlung des Sittengesetzes über die Kategorien der Freiheit) und in das der Politik als material-positiver Zwecksetzung (Bestimmung des Sittengesetzes über das Konzept des höchsten Guts) auf. Als regulative

443

Vgl. Ellscheid, Günther: Die Verrechtlichung sozialer Beziehungen als Problem praktischer Philosophie, in: Bubner / Cramer / Wiehl (Hg.): Neue Hefte für Philosophie, Heft 17, Tübingen 1979, S. 37-61.

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Reflexionsform sucht das geschichtliche Denken für das äußere Handeln eine Sinnstelle in der geschichtlichen Gegenwart und einen sittlichen Fluchtpunkt in der Zukunft. 444 Geschichtliches Sich-Orientieren entspricht damit auf begrifflicher Ebene der Religion als der Reflexionsform innerer Sittlichkeit und die Philosophie der Geschichte reflektiert auf die Möglichkeitsbedingungen dieses Tuns in systematisch der Religionsphilosophie vergleichbarer Weise. Zu untersuchen ist, inwieweit äußeres Handeln Begriff und Wirklichkeit der Religion berührt und beeinflußt. Von vorneherein ist klar, daß weder das äußere Handeln eine konstitutive Rolle für das Noumenon Religion spielen kann, noch die Religion für jenes, da die den Begriff des Noumenon Religion erfordernde Synthesis a priori, wie gezeigt, eine solche des sittlich inneren Handelns ist. Allerdings tritt das Phänomen Religion in vielerlei Beziehungen zu den Phänomenen des Rechts und der Politik, 445 so daß zu untersuchen ist, ob und wie diese Überschneidungen mit einem kritisch-normativen Begriff von sowohl Religion als auch von Recht und Politik zu vereinbaren sind. Dazu ist es zunächst erforderlich, die Noumena Recht und Politik begrifflich von deren Phänomenen abzusetzen und unbezüglich auf Religion zu bestimmen. Auf diese Weise kann die vorliegende Untersuchung begrifflich Notwendiges von kontingent Faktischem in der Berührungszone von Religion und äußerem Handeln sondern und in diesem sensiblen Bereich gültige normative Leitbegriffe anbieten. Dies Verfahren ist insbesondere deshalb geboten, weil die Grenze zwischen Religion und äußerem Handeln nicht phänomenaler, sondern noumenaler Natur ist. Es findet sich ja empirisch gar keine Religion, die keinerlei soziale Handlungsmacht hat und kein Staat, der frei von jeglichem weltanschaulichen Einfluß wäre. Es ist deshalb sowohl für den Staat als auch für die reflektierte Religion selbst wichtig, die noumenale Eigentlichkeit ihrer selbst und des jeweils Anderen zu erkennen, um in der phänomenalen Begegnung die Handlungsrechte des jeweils Anderen verstehen und achten zu können. Zwar führt die Konstruktion der vorliegenden Arbeit zuerst zu einer Negativabgrenzung phänomenaler Religion in den Feldern des Rechtes und der Politik, in denen die Religion als eine Handlungmacht unter anderen, nicht aber als die entscheidende Kraft sittlich-äußerer Handlungsbestimmung auftritt. Dennoch setzen die Noumena von Recht und Politik der Religion keine Grenzen, die ihrem eigenen noumenalen Begriff widersprechen, im Gegenteil: erst durch die sittlichunbedingte Limitation erreicht wahre Religion sich selbst. Religion benötigt eine Umwelt, deren Widerstand sie läutert, indem er sie zwingt, sich zu besinnen, was 444

Hier ist ein weiter Begriff von Geschichtsdeutung intendiert, der durchaus auch Momente religiöser Reflexion aufnimmt. Deutlich gemacht werden soll durch die geschichtsphilosophische Reflexion allerdings, daß das Geschehen über dessen ethische Asymmetrien reflektiert wird, ein äußerliches ist und damit prinzipiell andersartig als der Quell genuin religiösen Reflektierens aus innerer ethischer Asymmetrie. 445 Vgl. Luhmann, Niklas: Funktion der Religion, Vierte Auflage, Frankfurt 1996, S. 315.

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ihr wesentlich ist, sonst verfehlt sie sich selbst. Die Wechselseitigkeit von sozialer Allgemeinheit und religiöser Besonderheit wird insbesondere an vier systematisch herzuleitenden Fällen deutlich: Im Staatskirchenrecht gewinnt die Religion ein Sonderrechtsgebiet, das als Vermittlung der Noumena von Religion und Recht bestimmt werden kann. In der Gesellschaftspolitik kommt es den Religionen zu, Sachwalter insbesondere der moralisch-kritischen und unterrepräsentierten Entscheidungen der Gesellschaft zu sein. Im Blick auf die ethisch-reflexive Selbstbestimmung von sozialen Vereinigungen wird die rechtlich-äußere Seite des Begriffs des ethischen Gemeinwesens über eine Theorie sittlicher Institutionen gewonnen. Ferner ist zu klären, inwieweit Religion als Orientierung eine Rolle im geschichtlichpolitischen Selbstverständnis des Menschen spielt, bzw. ob und inwieweit geschichtlich-regulatives Denken und religiös-regulative Selbstorientierung konvergieren. Diese Fälle, in denen der Religion mehr als nur eine abgeleitete Funktion im äußeren sittlichen Handeln zukommt, werden allerdings verständlich erst vor dem Hintergrund einer systematischen Entfaltung des an sich selbst auf Religion unbezüglichen Begriffes äußerer sittlicher Handlung, wie er in den folgenden Abschnitten zu Recht und Politik nun vorgestellt wird.

2.3.1. Recht Ein von moralischen Kriterien unterschiedenes normatives Konzept äußerer Sittlichkeit ist unerläßlich, weil nicht jede moralische Bestimmung der Willkür auch äußere Sittlichkeit nach sich zieht, 446 und weil auch eine unmoralische Bestimmung der Willkür zu äußerlich-sittlichen Handlungen fuhren kann. 447 Grundlegend für eine noumenale Rechtsbetrachtung ist, daß überhaupt das Äußere als Akt sittlicher Freiheit gestaltet werden und gelten kann. Kant thematisiert die Voraussetzungen dafür unter dem Titel des rechtlichen Postulates. 448 Die durch die praktische Vernunft allein nicht sicherzustellende Möglichkeit, daß im Bezug des sittlichen Subjekts auf äußere Sinnlichkeit Natur- und Freiheitsgeschehen 446

Einer der Interpreten, die mit guten Gründen nicht der Tradition folgen, daß, wenn die Menschen nur anständiger wären, man des staatlichen Rechtszwanges nicht bedürfe, ist Wolfgang Bartuschat, in: ders: Praktische Philosophie und Rechtsphilosophie bei Kant, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft (94), 1987, S. 24-41. Vgl. bei Kant auch M.d.S. § 44 RL. 447

Vgl. Zum Ewigen Frieden, A 59/60. Zentrale These: selbst ein „Volk von Teufeln" wird den Rechtsstaat errichten, selbst ein „Staat der Engel" wird nicht ohne ihn auskommen. Näher dazu: Höffe, Otfried: Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln - Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik, Stuttgart 1988, S. 56ff. 448 M.d.S. RL A 55ff. Zur Rolle des Rechtspostulates bei Kant vgl. auch: Bartuschat, Wolfgang: Apriorität und Empirie in Kants Rechtsphilosophie, in: Philosophische Rundschau 34, 1987, S. 3149.

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übereinkommen, wird zunächst dadurch gesetzt, daß es dem Rechtssubjekt durch ein „Postulat der praktischen Vernunft" 449 gestattet wird, sinnliche Fakten als „Dinge an sich"450 zu behandeln, das heißt, Freiheit in sie hineinzulegen. Nur dann nämlich, wenn sich unbedingte Freiheit äußerlich positivieren kann, kann Äußeres von einer res nullius451 zu einer res mea werden und meine Freiheit verwirklichen. Nur dann aber kann es auch zu Konflikten kommen, die, obwohl sinnlich-konkreten Orts und Ursprungs, dennoch von allgemeiner sittlicher Bedeutung sind, da sie als Konflikte zwischen Freiheitsdingen, also als Widerspruch positivierter allgemeiner Freiheit mit sich, verstanden werden müssen. Diese Freiheitswidersprüche sind sittlich-autonom nicht anders als durch Gesetze der allgemeinen Freiheit beizulegen, die die besondere Freiheit beschränken. Das heißt, die Äußerungsbedingung besonderer Freiheit ist gleichzeitig die Einschränkung dieser Freiheit auf allgemeingesetzliche Formen. Es geht nicht ein Begriff von loser Willkür voraus, der dann auf allgemeine Verträglichkeitsbedingungen zurückgeschnitten wird, sondern die Freiheit, die sich legitim besondern darf, ist bereits begrifflich auf die Möglichkeitsbedingungen allseitiger Freiheitsbesonderung eingeschränkt. Die praktische Vernunft ist gleichursprünglich Grund und Grenze der Freiheit äußerlichen Handelns. Hier, im Recht, wird besonders deutlich, wie bedeutsam es ist, sinnliches Geschehen als freiheitlich-unbedingtes erfassen zu können. Nur wenn es gelingt, das äußere Handeln der Menschen mit Kategorien der Freiheit zu beschreiben, kann so etwas wie Zuschreibung von Verantwortung stattfinden. Nur wenn es gelingt, Menschen unter sittlichen Formen der Freiheit zu vereinen, können sie diese Verantwortung leben. Andernfalls geriete das Recht von einer im Vernunftschluß von mir (noumenal) über mich (phänomenal) zu beschließenden Selbstbeschränkung452 meiner Äußerlichkeit zu einem bloßen Gewaltrecht. Hier liegt die fundamentale Differenz Kants zur Rechtsphilosophie sowohl der empirisch-naturrechtlichen als auch der empirisch-vertragstheoretischen Tradition,453 die seinen Ansatz auch gegenüber rechtstheologischen Begründungsentwürfen immunisiert. Kants Rechtsphilosophie muß als Gegenentwurf verstanden werden zu sämtlichen Rechtsbegründungen, die nicht von einem unbedingten Gesetz der 449

M.d.S. RL A 67. So M.d.S. RL A 62/63: „obgleich der Gegenstand [...] nicht wie es in der transzendentalen Analytik geschieht, selbst als Erscheinung, sondern als Sache an sich selbst betrachtet wird". Ebenso im Anhang der zweiten Auflage Β 185. 451 M.d.S. RL A 57. 452 Vgl. beispielsweise: „Wenn ich also ein Strafgesetz gegen mich, als einen Verbrecher, abfasse, so ist es in mir die reine rechtlich-gesetzgebende Vernunft (homo noumenon), die mich als einen des Verbrechens Fähigen (homo phaenomenon), samt allen übrigen in einem Bürgerverein dem Strafgesetz unterwirft." M.d.S. RL A 203. 453 Davon abzusetzen sind metaphysisch-naturrechtliche Ansätze (Aristoteles) und metaphysischvertragstheoretische Ansätze (Rousseau), die dem kantischen Ansatz näher stehen. 450

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Freiheit ausgehen. Deren gedanklicher Kern ist mutatis mutandis folgender: Es wird die Rechtsgeltung eines mich beschränkenden Rechtes vom anderen Subjekt her und damit bedingt begründet, indem meine Willkür durch die empirische Willkür des anderen negativ begrenzt wird. Der positive Kern des Rechtes (aus der Perspektive des Berechtigten) findet demnach im Abwehrgedanken seinen Ausdruck. 454 Der negative Kern des Rechtes (aus der Perspektive des Verpflichteten) ist Verlust von Handlungsmacht. In diesem agonalen Modell sieht sich das einzelne Subjekt durch die gegenläufigen Rechte des anderen Subjekts im wesentlichen negiert. Dem negativ verstandenen anderen Subjekt gegenüber ist das Individuum verpflichtet, und es wird ihm zugemutet, den Anderen in seiner ihm begegnenden Negativität ebenso als abwehrberechtigtes Subjekt anzuerkennen, wie sich selbst. Da somit im Recht das Selbst negiert wird, muß die Rechtsmacht die Selbstmacht jeweils brechen, um zur Durchsetzung zu gelangen. Da die konkrete Anerkennung des Anderen als Anspruchssubjekt stets Negation des ursprünglichen (empirisch rechtsfundierenden) Selbst ist, wird das schwache wie das starke Subjekt solches Recht als kontingente Beschränkung seines Selbstseins erfahren, die es zurückdrängen wird, wo es nur kann. Damit wird der Zwang zum Definiens des Rechtes. Positiver Rechtsgehorsam ist aus einem solchen Rechtsbegriff nicht zu erklären, er muß der Moral, bzw. der Religion angelastet werden. Die Anerkennung nicht erzwingbaren oder unvertretenen Rechts ist noumenal wie phänomenal zufallig. 455 Denn damit die staatliche Rechtsmacht negierend tätig werden kann, muß zuerst ein empirisches Subjekt seine Abwehrrechte geltend machen. Mit dem verpflichtenden, bzw. anspruchserhebenden anderen Subjekt fällt folglich auch das Recht weg. Eine rechtliche Verpflichtung zu einer Beschränkung äußerer Willkür, die erkennbar nicht auf ein mit Rechtsmitteln ausgestattetes Anspruchssubjekt referiert, ist schwer zu begründen. Generationengerechtigkeit, Minderheitenschutz, Lastenausgleiche, Umwelt- und Ressourcenschutz lassen sich kaum über den Topos der Abwehrrechte formulieren, 456 es sei denn, man nimmt extern vermittelte sittliche Gehalte moralische Zwecke, religiöse Anschauungen - als heteronome Materie in den Rechtsbegriff auf. Einem jeden Subjekt gegenüber, das diese Zwecke und Anschauungen nicht teilt, bleibt ein solches Recht jedoch äußerlich. Anders die kantische Theorie. Sie geht davon aus, daß die Äußerlichkeit des Menschen deshalb eingeschränkt werden kann, weil sie bereits (begrifflich) eingeschränkt ist. Das heißt, die Grenzen, die das Freiheitsrecht mir auferlegt, sind 454

Auch heute noch ist in Auslegung und Anwendung der Verfassung unter Juristen die sogenannte „Abwehrtheorie" stark vertreten, die das Verhältnis von Subjekt und Subjekt, von Subjekt und Staat und das Verhältnis von Staat und Staat aus einem Modell wechselseitiger Abwehr erklärt. 455 Vgl. Bartuschat, Wolfgang: Recht, Vernunft und Gerechtigkeit, in: Theorien der Gerechtigkeit, hg. von Koch / Köhler / Seelmann, ARSP-Beiheft 56, 1994, S. 18. 456 Vgl. Köhler, Michael: lustitia distributiva - Zum Begriff und den Formen der Gerechtigkeit, in: ARSP 79 (1993), S. 455-482.

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Grenzen, die ich als freies Subjekt über mich selbst beschließen könnte. 457 Zwang ist mithin kein vorgängiges Definiens des Rechts, sondern muß, als Definiendum, aus der Applikation des unbedingten Rechtsprinzips auf ein endliches Subjekt gefolgert und dem gezwungenen Subjekt gegenüber als freiheitsverträgliche und freiheitsnotwendige „ V e r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s der Freiheit", 458 geltend gemacht werden. Von diesem Subjekt aus muß sich das Recht als noumenale sittliche Selbstnötigung durch andere verstehen lassen. Nur dann wird das Subjekt im Rechtszwang nicht verneint, sondern als Freiheitssubjekt bestätigt. Gerade weil der Rechtszwang eine sinnlich-äw/fere Nötigung ist, muß er so begründet werden, daß er keine dem Subjekt als sittlichem Selbst äußerliche Nötigung ist. 459 Nur sekundär dazu steht der gemeinnützige (heteronome) Aspekt von Zwang und Strafe. 460 Die reine praktische Vernunft beschreibt das Recht syllogistisch als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." 461 Auf das endliche Subjekt gewendet, schreibt die sittliche Vernunft ihm ihr negativ-äußeres Gesetz als rechtlichen Imperativ vor: „Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne [...]." 462 Nur weil der Wirkraum des Rechts als Raum der Freiheit begriffen wird, die ihren Zweck in sich selbst und nicht in außer ihr liegenden materialen Zwecken hat, kann überhaupt schlüssig begründet werden, warum ,,[d]ie Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung [...] nur äußere Pflichten sein [...]" können, 463 und nicht etwa auch auf inneren Zwang zum Schutz und Wohle der Menschheit ausgehen. Wäre das Recht als normative Formenlehre der Handlungfreiheit 464 nicht schon aus seinem freiheitlichen Begriff beschränkt auf das Feld der äußeren und negativen Willkürbestimmung, wie anders ließe sich begründen, daß es vor dem 457

Vgl. M.d.S. R L A 1 6 3 / 164. M.d.S. R L A 35. 459 Es ist keineswegs zynisch, sondern nur konsequent, wenn dieser Gedanke auf die Formel gebracht wird, daß es das Recht der Menschheit gerade am Orte des zu Zwingenden verletze, wenn der gerechte Zwang gegen ihn aus heteronomen Gründen unterbleibt. Kants vielkritisiertes Beispiel des zum Tode verurteilten Insulaners bringt diesen Gehalt des Freiheitsrechts lediglich auf die begriffliche Spitze. Vgl. M.d.S. RL A 200f. 458

460

,,[D]a nämlich das Argument der Strafbarkeit moralisch ist (quia peccatum est), muß hier von der Strafklugheit, da es bloß pragmatisch ist (ne peccetur) und sich auf Erfahrung von dem gründet, was am stärksten wirkt, Verbrechen abzuhalten, unterschieden werden." M.d.S. RL, Anhang, Β 171. 461 M.d.S. RL A 33. 462 M.d.S. R L A 34. ""M.d.S. R L A 15. 464 Zur Unmöglichkeit einer strukturparallelen Formenlehre der inneren Freiheit vgl. hier S. 54. Zur Erläuterung der Funktion der Kategorien der Freiheit als vernunftrechtliche Formenlehre vgl. hier S. 25.

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Binnenraum des Subjekts sittlich-notwendig halt zu machen habe? Warum sollten dann nicht sozialmoralische Überzeugungen und religiöse Anschauungen vorgeben, zu welchen Zwecken und in welcher Weise das Recht instrumentalisiert werden sollte? 465 Wenn man das Recht als etwas konzipiert, dem es um einen dem Freiheitsbegriff externen Zweck geht, dann ist nicht zu sehen, warum nicht die Anwendung des Zwangs als Mittel zur Verwirklichung des jeweiligen Rechtszwecks erfolgen sollte. 466 Ein «ormaft'v-rechtliches Argument gegen die Totalisierung äußerlich-materialer Gesetzgebung ist von zweckverpflichteten Ansätzen aus nicht zu gewinnen. Zwar kennzeichnen die meisten Rechtszwecktheorien absolutistische Auswüchse als ungewollt. Jedoch können sie diese nur über technische oder pragmatische Argumente (performativer Widerspruch zum Rechtszweck u.a.) zurücknehmen, die stets, als aposteriorische Argumente, strittig sind und nicht unbedingt gelten können. Das Recht in Kants Verständnis zwingt und bestraft unbedingt. Wenn empirisch mittels des Rechtsí^íewí äußeres Verhalten geködert und belohnt wird, so fallt dies begrifflich unter Politik. Das Noumenon Recht nennt nur diejenigen minimalen Verhaltenserfordernisse, ohne die die rechtsfÖrmige Freiheit aller sich nicht positivieren kann. Damit hat der Rechtszwang enge Grenzen. Alles, was nicht notwendige Bedingung der Erhaltung eines Systems rechtsstaatlicher Freiheit ist, darf nicht erzwungen werden, sondern ist Gegenstand der Politik. In der Politik bedient sich das Gemeinwesen der gesetzgeberischen Instrumente auch, um materielle Zwecke des Gemeinwohls umzusetzen. Dort wirbt der Staat um die Interessen der Bevölkerung, dort handelt er situationsrelativ. Bedient sich ein Staat allerdings des Rechtszwangs für seine materiellen Ziele, wird er uno acto zum Unrechtsstaat. Dabei ist es argumentativ unerheblich, ob die so verfolgten Ziele sich aus religiös gestimmter Innerlichkeit ergeben oder aus terroristischem Kalkül. Das vernunftbegrifflich ausgewogene Verhältnis zwischen sinnlicher Willkürmachtbeschränkung und sittlichem Freiheitsgewinn, das im Rechtsbegriff liegt, wird so asymmetrisch und die transzendentalsubjektive Geltungsbasis des Rechts untergraben. Nur dann, wenn das Recht in erster Linie ein normatives Verhältnis des Subjeks zu sich selbst darstellt, sind außerdem rechtliche Pflichten des Subjekts gegen sich selbst zu konzipieren. 467 Diese Rechtspflichten am eigenen Subjekt sind äußerst wichtig. Sie helfen zu scheiden zwischen einer moralischen Überfrachtung des Rechtssystems und subjektiv-rechtlicher Rechtswürde, wie sie ein Subjekt sich als Teilnehmer am Rechtssystem schuldet. Signifikant wird diese 465

Vgl. Köhler, Michael: Zur Begründung des Rechtszwanges im Anschluß an Kant und Fichte, in: Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, hg. von Michael Kahlo, Frankfurt 1992, S. 105. 466 Gerade rechtstheologische Positionen sind anfällig, einem religiösen Absolutismus den Weg zu ebnen, indem sie, geblendet von der Erhabenheit der religiösen Zwecke, den staatlichen Säkularismus unterminieren. 467 Vgl. M.d.S. RL A 44f.

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Trennung beispielsweise in der Frage nach dem Suicid. Ethisch betrachtet ist die innere Willkürbestimmung zum Suicid unzweifelhaft unsittlich, 468 weil sie den auf das einzelne Subjekt gerichteten Anspruch des Sittengesetzes negiert. Religiös ist sie tabu, da sie die Annahme des religiösen Lebensgeschenks verweigert. Rechtlich ist der Suicid unsträflich, aber dennoch verboten. 469 Dieses Verbot, das im Ausgang vom Begriff der Menschenwürde mit religiösen oder moralischen Vorstellungen koinzidieren mag, setzt allerdings gerade nicht das moralische oder religiöse Unwerturteil um, sondern folgt als rechtliches aus dem begrifflichen Widerspruch, in den sich eine sich selbst gesetzgebende Vernunftsubjektivität mit ihrer, als freiheitliches Ding an sich zu betrachtenden Äußerlichkeit begibt, wenn sie diese negiert und den Suicid vollzieht. Das Recht betrachtet den Suicid nicht als defiziente innere Einstellung zur Welt, die poenalisiert werden müßte. Sondern es sieht darin ein Faktum, das gegen die Wirklichkeitsbedingungen äußerer Freiheit verstößt, welche ein jedes Subjekt, indem es überhaupt äußerlich handelt, in Anspruch nimmt. Hieran wird deutlich, wie vorsichtig im Feld von Moral und Recht, bzw. Religion und Recht zu formulieren ist. Unbestritten haben geltende Moralsysteme und religiös fundierter Ethos eine heuristisch-regulative Funktion für ein sich sittlich bestimmendes Rechtssystem. 470 Das Rechte und Gerechte wird oft erst am Leitfaden des Guten und Heiligen erkannt. Moral und Religion können allerdings nicht konstitutiv fur die rechtsbegriffliche Normbegründung werden. Denn dazu müßte das Recht an sich 'leer' sein, so daß es der Aufnahme extern vermittelter Sittlichkeit als Inhalt bedürfte. 471 Hiervon gehen auch viele rechtstheologische Positionen aus und vertreten, daß sich der normative Gehalt des Rechtsbegriffs nur (über Rechtszwecke) im Zusammenhang einer religiösen Seins- und Heilsordnung inhaltlich bestimmen lasse. Das kantische Rechtsprinzip ist aber nicht leer, sondern intern gegliedert. Und diese Gliederung gewinnt sich begrifflich über die Kategorien der Freiheit. 472 Die Kategorien der Freiheit leisten Imputation und Formung des sinnlichen Geschehens als Freiheitsfakten. Sie ordnen die Rechtsmaterie in Felder, innerhalb deren die begriffliche Vermittlung von Sittengesetz und sinnlicher Äußerlichkeit geleistet wird. Apriorität des Sittengesetzes und Aposteriorität des singulären Falls werden an den Rechtsbegriffen vermittelt, die sich über das System der katego-

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Vgl. M.d.S. TL A 72-75. Vgl. M.d.S. RL A 72. 470 Vgl. Vollrath, Emst: Die Kultur des Politischen - Konzepte politischer Wahrnehmung in Deutschland, in: Gerhardt, Volker: Der Begriff der Politik - Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990,S. 268-290, insbs.S. 270f. 471 Das allerdings meint der (normative) Rechtspositivismus, wie er am reinsten bei Hans Kelsen in der „Reinen Rechtslehre" zum Ausdruck kommt. 472 Vgl. Sänger, Monika: Die kategoriale Systematik in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre", Berlin 1992,21 Off. 469

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rialen Freiheitsformen gewinnen. 473 Hieran wird deutlich, daß sich die normativkritische Rechtsphilosophie Kants nicht von der Rechtswirklichkeit bestimmen läßt, sondern bemüht ist, diese mittels eines begrifflichen Apparates zu erfassen, der selber unabhängig von historischen Bedingungen ist. 474 Die normative rechtliche Bestimmung der sinnlichen Wirklichkeit kann so rekonstruiert werden als transzendentaler Syllogismus des Sittengesetzes auf die Wirklichkeit mittels der bestimmenden Urteilskraft, die unter die apriorischen Rechtsbegriffe subsumiert. Dies gilt für alle drei rechtlichen Gewalten, deren Gewalt mit Freiheit und Gesetz „analogisch dem medius terminus in einem Syllogism" verbunden sein muß. 4 7 5 Zwar ist es augenfällig, daß es in der Genese konkreten rechtlichen Geschehens (d.h. phänomenal), einer nicht bloß subsumierenden Urteilskraft bedarf. 476 Entscheidend ist aber, daß die noumenale Geltung des rechtlichen Urteilsspruchs sich als Subsumtion unter stehende und feste Rechtsgesetze fassen lassen muß. 4 7 7 Die Rechtslehre der Metaphysik der Sitten ist eine vor dem Hintergrund ausdifferenzierten Rechtes vorgenommene Deduktion (quid iuris) der wesentlichen Rechtsprinzipien. Sie genetisiert keine positiven Normen aus reiner praktischer Vernunft, sondern sie überprüft die vom positiven Recht in Anspruch genommenen Voraussetzungen auf ihre Vernunftverträglichkeit hin und bestimmt den normativen Begriff des Rechtes als System fort, so daß er dem positiven Recht zum Regulativ dienen kann. Dieser Rechtsbegriff muß hier nicht näher ausgezeichnet werden. Deutlich ist, daß er ein zu Moral und Religion différentes und eigenständiges Feld von Sittlichkeit eröffnet. Kein Subjekt, auch nicht das sich als göttlich inspiriert verstehende, steht, insofern es in der Spähre des Rechts sich bewegt, über dem Recht. Recht ist nicht niedere Sittlichkeit, die durch ein 'höheres Recht' moralischer oder religiöser Abkunft aufgehoben wird. Recht ist Sittlichkeit eigener Art. Nur so kann verstanden werden, wie es trotz der prinzipiellen Einheit des Sittengesetzes dazu kommen kann, daß zum Beispiel eine aus unmoralischen Motiven (z.B. Sanktionsfurcht) hervorgehende Tat (z.B. Hilfeleistung bei einem Verkehrsunfall gem. § 323c StGB) rechtlich 'gut' zu

473

In § 10 der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten wird beispielsweise die kategorial geordnete „Einteilung der Erwerbung des äußeren Mein und Dein" vorgenommen nach 1) der Materie (Relation) Substanz-Kausalität-Commercium, 2) der Form (Qualität) persönliches-sachlichesdinglich/persönliches Recht, 3) dem Rechtsgrund (Quantität) einseitig-doppelseitig-allseitig (facto, pacto, lege)." M.d.S. A 79/80. 474 Vgl. in den Vorarbeiten zur Rechtslehre: AA 23, 218. 475 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 331, Anm. 476 Vgl. Bartuschat, Wolfgang: Recht, Vernunft und Gerechtigkeit, in: Theorien der Gerechtigkeit, hg. von Koch / Köhler / Seelmann, ARSP-Beiheft 56, 1994, S. 12. 477 Vgl. AA 23, 166. Anders: Luf, Gerhard: Die „Typik der reinen praktischen Urteilskraft" und ihre Anwendung auf Kants Rechtslehre, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. 8, hg. von Erich Heintel, Wien, 1975, S. 54-71.

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nennen ist, ohne daß deshalb das Rechtssystem der Unsittlichkeit oder positivistischen Formalität gescholten werden müßte. Kant gibt für die Distinktion von Recht und Moral eine wertvolle begriffliche Unterscheidung an die Hand. Er unterscheidet zwischen dem principium obligationis, diiudicationis und executionis des Sittengesetzes. Das für Recht und Moral gleichermaßen geltende Sittengesetz fungiert als allgemeines principium obligationis. 478 Angesichts der Felder, auf die sich das Sittengesetz erweitern kann, dirimiert es in zwei unterschiedene Beurteilungsprinzipien (principii diiudicationis): sittlich-innere Willkürbestimmung und sittlich-äußeres Handeln. Das principium executionis schließlich ist die logische Folge (Negation der Negation) des Sittengesetzes unter den Bedingungen seiner jeweiligen Anwendung: also einmal als Selbstzwang des Subjekts zu innerer Sittlichkeit und einmal als Rechtszwang zu äußerer Sittlichkeit. Das heißt: Moral und Recht sind auf prinzipieller Ebene gleichwertig und von gleicher Verpflichtungskraft. Auf performativer Ebene sind sie ungleichartig und haben keine konstitutive Bedeutung füreinander. Weder ist die Moral (oder Religion) heimlicher Gesetzgeber des Rechts, noch ist das Recht der Wächter der moralischen (oder religiösen) Sittlichkeit. Diese begriffliche Unterscheidung ist in der Wirklichkeit bedroht einerseits durch die stets akute Tendenz von politischen Gesellschaften, ihr Mehrheitsethos rechtlich fest- und vorzuschreiben, und andererseits durch den privilegierten Rechtsstatus mancher Religionsgesellschaften 479 gegenüber anderen gesellschaftlichen Vereinigungen. Sie muß daher als noumenale Unterscheidung normativ der Wirklichkeit zum Korrektiv dienen. Wenn auch das Noumenon Religion nicht konstitutiv wird für den Rechtsbegriff, so ist dennoch dem Phänomen Religion von Staats wegen ein besonderer Rechtsstatus zuzuweisen, der sich aus der regulativen Funktion der Religion erklärt. Die religiösen Handlungen als Äußerungen sich selbst bestimmender Innerlichkeit genießen zurecht den Schutz des Staates. Das Gewissen als phänomenaler Ausdruck der Autonomie, die auch im Recht bestimmendes Prinzip ist, wird staatlich geachtet. Ihm darf in (rechtsförmigen) religiösen Handlungen gefolgt werden, auch wenn äußerlich kein tieferer Sinn im jeweiligen gewissensmotivierten Geschehen gefunden werden kann. 480 Der Staat macht sich nicht zum 478

Andere Ansicht zum folgenden: Sandermann, Edmund: Die Moral der Vernunft Transzendentale Handlungs- und Legitimationstheorie in der Philosophie Kants, Freiburg, 1989, S. 243ff. 479 Zum Begriff der Religionsgesellschaften ist anzumerken, daß dieser in der juristischen Literatur in Abgrenzung zum Begriff der Religionsgemeinschaften verwendet wird. Er soll indizieren, daß vornehmlich der Rechtscharakter der Organisation gemäß Gesellschaftsrecht betrachtet wird. Der Begriff verhält sich also äußerlich zum Zweck der Vereinigung, der in der eher sozialwissenschaftlichen Betrachtung Bedeutung gewinnt, und abgrenzungsweise im Begriff der Religionsgemeinschaft angesprochen wird. 480 Dies greift in der bundesrepublikanischen Rechtsordnung bspw. sehr weit. Während bei der Kriegsdientsverweigerungsanerkennung eine Gewissensentscheidung nur grundsätzlicher, nicht

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Richter über Sinn und Unsinn religiösen Gebärdens. Für die wichtige Abgrenzungsfrage von staatlicher Souveränität und religiöser Selbstbestimmung bietet die kantische Philosophie ein trennscharfes Instrument an. 481 Alles, was nicht im Widerspruch zum Rechtsbegriff steht, alles also, was nicht durch sinnliche Fakta Rechte anderer Bürger mehr als nur unerheblich beeinträchtigt, ist gestattet. Alles, was aber in diesen Widerspruch tritt, ihn sucht oder die Souveränität des Staates über das äußere Geschehen untergräbt, ist verboten, unbeachtlich, aus welcher Gesinnung oder um welcher Zwecke willen es geschieht. 482 Die Religion wird also zivilisiert, nicht nach ihren Inhalten, sondern nach ihren sozialerheblichen Handlungen. In ihre legitime Domäne wird nicht eingegriffen; sie wird vielmehr als inneres und äußeres Rechtsgut durch den Staat vor Übergriffen Dritter geschützt. Die systematische Begründung dafür liegt darin, daß das Noumenon Recht und das Noumenon Religion, obschon auf verschiedenen Ebenen der sittlichen Selbstbestimmung angesiedelt, normativ gleichrangig sind. Deshalb darf es phänomenal zu keiner normativen Dominanz des einen Phänomens über den Geltungsbereich des anderen kommen (weder Staatskirche noch Kirchenstaat). Ihre noumenale Gleichwertigkeit verlangt vernunftbegrifflich ihre phänomenale Selbständigkeit und wechselseitige Achtung. Sie erfordert aber auch die exakte Angabe ihrer Verträglichkeitsbedingungen, insofern beide sich, wie im Feld äußeren Handelns, phänomenal berühren, bzw. überschneiden, wie im Staatskirchenrecht. 483 Schuld und Verantwortung sind zweierlei. Es ist deswegen sittlich-notwendig, daß die Rechtsordnung bisweilen die Handlungswillkür auch der sittlich motivierten Subjekte durchbricht. Das Subjekt wird dies nicht wünschen und durch rechtmäßiges Verhalten vermeiden wollen. Deshalb wird es den sittlichautonomen Charakter des Rechts in aller Regel erst erkennen, wenn es das Recht

aber aktueller oder politischer Natur als Rechtfertigungsgrund der Geltendmachung des Rechts aus Art. 4 III GG anerkannt wird, gilt die Berufung auf die dem Waffendienst entgegenstehende Religionsausübung (bspw. Zeugen Jehovas) als nicht weiter zu hinterfragender Geltungsgrund der Verweigerung, selbst wenn die innerreligiöse Begründung der Ablehnung des Waffendienstes weit weniger Rationalität erkennen läßt, als eine säkulare, aber politische Entscheidung gegen eine bestimmte Form des Waffengebrauchs. 481 Vgl. „Die Frage ist hier: ob die Kirche dem Staat oder der Staat der Kirche als das Seine angehören könne: denn zwei oberste Gewalten können einander ohne Widerspruch nicht untergeordnet sein. Daß nur d i e e r s t e r e V e r f a s s u n g (politico-hierarchica) Bestand an sich haben könne, ist an sich k l a r , denn alle bürgerliche Verfassung ist von d i e s e r Welt, weil sie eine irdische Gewalt (der Menschen) ist, die sich samt ihren Folgen in der Erfahrung dokumentieren läßt. Die Gläubigen, deren R e i c h im Himmel und in j e n e r W e l t ist, müssen, insofern man ihnen eine sich auf dieses beziehende Verfassung (hierarchico-politica) zugesteht, sich den Leiden dieser Zeit unter der Obergewalt der Weltmenschen unterwerfen. - Also findet nur die erstere Verfassung statt." M.d.S. RL Anhang Β 179/180. 482 Vgl. auch Rei Β 290. 483 Hierzu vgl. den Abschnitt „Staatskirchenrecht".

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zu seinen Gunsten anruft. „Unschuldig leiden entrüstet, " schreibt Kant. 484 Es fugt dem sinnlichen Ungemach die Entrüstung über die sittliche Freiheitsverletzung hinzu, gegen welche das Subjekt aufbegehrt. Der insofern negative Gerechtigkeitssinn ist das phänomenale Pendant zum Gefühl der Achtung in der negativinneren Willkürbestimmung. Der Gerechtigkeitssinn macht das Recht zu etwas für das Subjekt. Es sieht im Recht seine eigenen Interessen, wenn auch nur negativ vertreten. Wenn es die dabei gewonnene Rechtseinsicht kritisch auf sich anwendet, kann es zu sittlich-positivem Rechtsrespekt 485 als phänomenalem Indiz für eine geglückte Synthesis aus Sinnlichkeit und Sittlichkeit kommen. Damit das Recht aber durchgängig und auch gegen die partikularen Interessen uneinsichtiger Individuen befolgt wird, muß die Negation des Rechtsbruchs in der staatlichen Strafdrohung mehr Nachteil befürchten lassen, als die Rechtsübertretung Vorteil verspricht. Darin wird die Asymmetrie rechtstreuen Verhaltens im Naturzustand aufgehoben. Das Ungleichgewicht der sinnlichen Kräfte der Rechtsteilnehmer wird begrifflich und empirisch aufgefangen durch die qualitativ symmetrische, aber quantitativ asymmetrische Strafandrohung, die den Grad selbst des im glückenden Unrecht erreichten sinnlichen Vorteils negativ übersteigt. 486 Es bedarf daher weder der Religion als sozialer Kontrollinstanz, noch als Gesinnungspolizei, noch als Sittengericht, das durch überirdische Strafdrohung die Rechtsbefolgung begünstigt. Durch religiöse Rede wird weder eine gerechtfertigte Strafe gerechter, noch eine nicht gerechtfertigte Strafe gerecht. Nach dem kantischen Rechtsverständnis ist in einem Rechtsstaat eine qualitative ethische Asymmetrie als sinnlich äußere Selbstnegation des Subjekts durch rechtliches Handeln begrifflich unmöglich. Das faktische Bestehen sittlicher Asymmetrie (Folter, Dissidentenverfolgung, religiöser Absolutismus, Rechtsbeugung u.ä.) als 'Rechtsform', d.h. durch staatliche Organe, bzw. per Gesetz, ist damit untrügliches Indiz für das Vorliegen eines vernunftrechtswidrigen Unrechtssystems, dem der sittliche Bürger keinen rechtlichen Gehorsam schuldet. 487 Die Macht eines 484

„Unschuldig leiden e n t r ü s t e t ; weil es Beleidigung von einem anderen ist. - Schuldig leiden s c h l ä g t n i e d e r ; weil es innerer Vorwurf ist." Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 181.

485

„Aber wenn [...] das Recht laut spricht, dann zeigt sich die 'menschliche Natur nicht so verunartet, daß sie seine Stimme von derselben nicht mit Ehrerbietung angehört werde." Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, A 270. 486 In diesem Sinne ist Kants Straftheorie zu deuten, wenn man sie nicht als ius talionis verkürzen will. Daß und in welcher Weise gestraft wird, muß sittlich qualitativ symmetrisch zur Tat bestimmt werden, das Quantum, welches innerhalb des Quale bemessen wird, darf asymmetrisch zur Tat sein (z.B. Geldstrafen für Vermögensdelikte, die den angerichteten Vermögensschaden übersteigen), um abschreckende Wirkung zu entfalten. So macht sich ein qualitativ vernunftbegrifflich fundiertes Rechtssystem unabhängig von der Moralität und der empirischen Interessenlage seiner Teilnehmer. Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 331. 487 Dieses Argument wird äußerst kontrovers behandelt in der Diskussion um das Widerstandsrecht bei Kant. Instruktiv dazu: Köhler, Michael: Die Lehre vom Widerstandsrecht in der Deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der I. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1973.

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Rechtssystems ist nur dann gerecht und nicht Gewalt, wenn es tatsächlich das Recht der Individuen ist, was rechtszwanghaft zur Geltung gebracht wird. 488 In die rechtliche, das rechtsetzende Verfahren reglementierende Verfassung der vereinigt-äußeren Willkürbestimmung muß die Idee der Mitgesetzgeberschaft der Vernunftsubjekte miteingehen. 489 Aus dieser Verpflichtung auf die Idee des Regierens, die einem substantiellen Gerechtigkeitsbegriff folgt, 490 ist die anzustrebende Regierungsart, als Modus der vereinigt-äußeren sittlichen Willkürbestimmung notwendigerweise Republikanismus: „die einzige bleibende Staatsverfassung, wo das G e s e t z selbstherrschend ist, und an keiner besonderen Person hängt." 491 Recht als äußere Form der Freiheit ist Zweck an und für sich selbst und nicht Mittel zur Durchsetzung einer anders fundierten Ordnung. Das von Fremdbestimmung freie Recht ist noch kein selbstbestimmtes Recht; es ist nicht autark, insofern es auch auf solchen Voraussetzungen aufruht, die es nicht stiftet, und es ist autonom nur, insofern ihm inhaltliche Bestimmung aus rechtsförmiger Politik zuwächst.

2.3.2. Politik Die begriffliche Trennung von Recht und Politik entspricht nicht dem Phänomen politischen Handelns. Dieses vollzieht sich immer an und in rechtlichen Formen, ebenso wie rechtliches Handeln ohne jede politische Implikation wohl selten auftritt. 492 Doch hilft die Unterscheidung, den reinen und normativen Begriff von Recht und Politik zu bestimmen. 493 Kant verwendet den Begriff der Politik auch im Sinne eines technisch-politischen, unrechtlich-politischen und

488

Es ist „meine äußere (rechtliche) Freiheit so zu erklären: sie ist die Befugnis, keinen äußerern Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Bestimmung habe geben können." Zum Ewigen Frieden, A 21, Anm. 489 Kant schreibt: „Das allgemeine Prinzip aber, wonach ein Volk seine Rechte n e g a t i v , d.i. bloß zu beurteilen hat, was von der höchsten Gewalt als mit ihrem besten Willen n i c h t verordnet anzusehen sein möchte, ist in dem Satz enthalten: W a s e i n V o l k ü b e r s i c h selbst nicht beschließen kann, das kann der G e s e t z g e b e r auch nicht ü b e r d a s V o l k b e s c h l i e ß e n . " Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, A 266. 490 Anders: Kersting, Wolfgang: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein", in: Kant - Zum Ewigen Frieden, hg. von Ottfried Höffe, Berlin 1995, S. 87-108, der bei Kant lediglich e i n e p r o z e d u r a l e Gerechtigkeitskonzeption begründet sieht. 491 M.d.S. RL A 213. 492 Vgl. Brandt, Reinhard: Kant als Metaphysiker, in: Gerhardt, Volker: Der Begriff der Politik Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, S. 57-94, insbs. S. 86-89. 493 Vgl. Gerhardt, Volker: Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik, in: Kant in der Diskussion der Moderne, hrsg. v. Schönrich, Gerhard und Kato, Yasushi, Frankfurt 1996, S. 646488, insbs. S. 478f.

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eines unmoralisch-politischen Handelns. 494 Doch reserviert er nur sittlicher Politik eine Systemstelle und einen zugehörigen kategorischen Imperativ. 495 Während im reinen Recht die Handlungen auf Formen der Freiheit gebracht werden, gibt ihnen die Politik die sittliche Materie. Ihr stellt sich die Aufgabe, die Zwecke zu bestimmen, die sich äußerliches Handeln setzen soll. Zweierlei ist zu klären: erstens welche Zwecke sittliche Politik hat und zweitens wie sie diese Zwecke in der Bevölkerung durchsetzt. Für unsere Fragestellung ist dabei auf die regulative Rolle der Religion einzugehen, die sie in beiden Belangen spielt. Dem vorgeordnet ist eine Bestimmung des Begriffs politischen Handelns. Politisches Handeln ist ein eigenständiges Feld der Sittlichkeit, das nicht durch die Felder des Rechtes und der Moral abgedeckt werden kann. Die Politik hat zur Aufgabe, Zwecke des äußeren Handelns zu finden, in die sich das Glückseligkeitsstreben der Individuen in rechtsförmiger Weise eintragen kann. 496 Damit ist eine gute politische Handlung eine solche, die die Initiative übernimmt für äußeres Geschehen und der es in rechtmäßiger Weise gelingt, die Bevölkerung in ihre Projekte einzubinden. Indem die politische Tat Zwecke verwirklicht, die außerhalb der Tat selbst liegen, verwirklicht sie auch dann Gutes, wenn dies nicht um des Guten willen geschieht. Die Gesinnung der politischen Subjekte spielt für den politisch-sittlichen Wert ihres Handelns keine Rolle. 497 Die Politik erlaubt nicht nur den Individuen, im politischen Handeln ihren eigenen Vorteil zu suchen, sie fordert sie geradezu dazu auf. 498 Diese Aufforderung läßt sich als sittliches Gebot und nicht nur als pragmatische Hinsicht verstehen: Wie gezeigt werden konnte, weist praktische Vernunft keinen konstitutiven Endzweck inneren wie äußeren Zwecksetzens aus. Alle Zwecke sind bedingt, sie zu verfolgen ist von relativem Wert. Zwecke politischen Handelns werden aus einem regulativen Ideal politischer Wirklichkeit gewonnen. Dieses Ideal muß begrifflich bestimmt werden, um integrierend und konkretisierend zu wirken, und: die Bestimmung des Ideals muß von den politischen Subjekten selbst stammen. 499 Um allgemeine Bedeutung zu erlangen, muß diese Bestimmung die Partikularität der jeweilig initiativen Subjekte überschreiten und dennoch so faßlich bleiben, daß sie die

494

Man kann diese Schattierungen des Begriffs des politischen Handelns gut aus der Passage A 6692 in der Schrift Zum Ewigen Frieden gewinnen. 495 Vgl. Zum Ewigen Frieden, A 104. Dazu unten mehr. Vgl. Dierksmeier, Claus: Der politische Imperativ - Zum systematischen Ort der Politischen Philosophie in der praktischen Philosophie Kants, Magisterarbeit Hamburg, 1995, auch: Marburg, 1996 / Microfiche. 496 Vgl. Zum Ewigen Frieden, A 104. 497 Vgl. Reflexion 7687, AA 19, 490. und Gerhardt, Volker: Politisches Handeln. Über einen Zugang zum Begriff der Politik, in: Gerhardt, Volker: Der Begriff der Politik - Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, S. 291-309, insbs. S. 305. 498 Vgl. Gerhardt, Volker: Politisches Handeln. Über einen Zugang zum Begriff der Politik, a.a.O., S. 298. 499 Vgl. Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf „Zum Ewigen Frieden". Eine Theorie der Politik, Darmstadt, 1996, S. 223.

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Vorstellungskraft anderer Subjekte affizieren kann. Das heißt, mit bloßen Abstraktionen ist nichts gewonnen, eher schon mit politischen Visionen. Diese werden, symbolisch verdichtet, Richtungsgeber politischen Handelns. Zu klären ist, wie mittels politischer Symbole ein sozialer Interessenabgleich der verschiedentlich interessierten Subjekte möglich ist, so daß letztlich das staatliche Handeln auf die Subjekte von diesen als ein Handeln für die Subjekte verstanden, gebilligt und von ihnen getragen wird. Die empirischen Subjekte haben schon immer einen Zweck: Glückseligkeit. 500 Glückseligkeit erstreben und erreichen sie aber auf unterschiedliche Weise. Es gibt keine sittliche Pflicht des Staats, dieses Streben zu befriedigen. 501 Allerdings gehört es nicht nur aus pragmatischen, sondern auch aus normativen Gründen zur „Staatsweisheit", 502 dieses Streben in das staatliche Handeln aufzunehmen. In der Philosophie des Rechts hatte gezeigt werden können, daß der Rechtsstaat für Freiheitssubjekte normativ notwendig ist. Sie benötigen ihn aber auch sinnlich zur gesicherten Erhaltung und Steigerung ihrer Existenz. Seinerseits bedarf der Staat der Individuen, um staatliches Handeln auszuführen. Der Staat kann dabei nicht auf die vernünftige Einsicht aller Gesellschaftsbürger setzen, daß sie in ihrem eigenen Interesse als Staatsbürger handeln, wenn sie durch Verzicht und Leistung den Staat auf ihren Schultern tragen. Er muß nicht von den Bürgern, sondern vielmehr durch die Bürger leben. Dazu muß er ihnen etwas anbieten, was sie zu ihm vereint. Während das Recht seine Subjekte aus der Furcht vor der Rechtslosigkeit gewinnt, muß die Politik, als selbstgesetzlich normatives System, ein lebensweltliches Positivum enthalten, um dessentwillen sie in der Praxis betrieben wird, welches zudem der sittlichen Perspektive genügt. Die meisten menschlichen Interessen lassen sich nicht auf eigene Faust befriedigen. Es bedarf der Überlegung, der Koordination von Handlungen und der Kooperation von Handelnden. Vergemeinschaftung ist der einzig gangbare Weg zu einem ausdifferenzierten Lebens- und Genußstil. Arbeitsteilung ist dafür nur ein Stichwort. Ebenso wichtig ist die gemeinschaftliche Verständigung über das Anzustrebende. Deren Wert liegt nicht nur im konfliktvermeidenden Konsens. Sie trägt auch zur Kohärenz der je eigenen Maximen bei, indem sie das eigene Denken durch Kritik und Opposition fordert und schärft. Die Dialektik der Interessen führt zu einem Qualitätssprung in Belangen der sinnlichen Selbst500

Vgl. zur Extension des Begriffes der Glückseligkeit: K.d.r.V. Β 834. „Wohlfahrt aber hat kein Prinzip, weder für den, der sie empfängt, noch der sie austeilt (der eine setzt sie hierin, der andere setzt sie darin); weil es dabei auf das M a t e r i a l e des Willens ankommt, welches empirisch, und so der Allgemeinheit einer Regel unfähig ist." Der Streit der Fakultäten, A 147, Anm. Zur Abgrenzung: sehr wohl gibt es eine staatliche Pflicht, den Subjekten die materiellen Bedingungen der Möglichkeit einer Freiheitsexistenz aus dem gesellschaftlichen Vermögen zu sichern (iustitia distributiva). Nicht aber gibt es eine staatliche Pflicht, die Bürger zu beglücken. Vgl. Köhler, Michael: Iustitia distributiva - Zum Begriff und den Formen der Gerechtigkeit, in: ARSP 79 (1993), S. 455-482. 501

502

Zum Ewigen Frieden, Β 94.

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Verwirklichung. Subjekte finden empirisch zu ihren wahren Bedürfnissen in Wettbewerb und Vergleich mit anderen Subjekten. Die Politik macht sich das darin liegende Bedürfnis nach Organisation zunutze. Sie nimmt die Initiativen der Gesellschaft auf und transformiert sie in Optionen gemeinschaftlichen Handelns. Diese stellt sie zur Wahl. Die Individuen sehen ihre eigenen Interessen vertreten und tragen mit ihrem Egoismus das Allgemeine, das durch sie gestiftet wird, mit. Sie suchen nach gemeinsamen Nennern, übergreifenden Zielen, nach Ideen, Projekten und Aktionen, hinter denen sich viele vereinigen können. Sie benutzen die anderen, wie sie von den anderen benutzt werden. Sie sind sich zugleich Zweck und Mittel ihres Handelns. Sie haben die Materie ihres Handelns vor Augen und die rechtlich allgemeine Form staatlicher Veränderung in den Händen. Indem die Individuen den Staat nutzen, nutzt der Staat die Individuen. Läßt sich diese Verschränkung sittlich gestalten, so gewinnt man ein gutes Gemeinwesen. Die Maxime jedes Einzelnen muß, als allgemeine genommen, den Staat in einen vernunftgemäßen verwandeln. Dazu muß der Einzelne so handeln, als ob der Staat bereits vernunftgemäß wäre, denn ansonsten setzte er durch seine Maxime einen Grund für die Vernunftwidrigkeit des Staates.503 Dieses Sollen wird sich aber nicht über die moralische Inanspruchnahme der einzelnen Subjekte realisieren, sondern nur über Strukturen öffentlicher Willensbildung, die ein rechtsförmiges Prozedere voraussetzen, sich aber nicht in ihm erfüllen. Eine oft unterschätzte Aufgabe der Politik ist das Formulieren von Zielen und Zwecken. Der Eindruck, das jedenfalls könnten die Politiker, wohingegen es dann am Handeln mangele, täuscht bei näherem Hinsehen. Kant gibt dafür Gründe an. Zwar sind das Einschießen privater Motivation und kausales Weltwissen unerläßliche Momente im Prozeß politischer Zweckfindung, jedoch darf sich politisches Orientieren darin nicht erschöpfen. Sonst kommt es zu einer Unterbewertung der Reflexions- und Zukunftsmomente menschlichen Denkens, die insbesondere mittels transzendenter Entwürfe die Möglichkeit offenhalten, Wirklichkeit neu zu entwerfen.504 Weder der Rechtsbegriff allein, noch das private Interesse am eigenen Wohlergehen, gepaart mit technischem und politischem Know-How, bieten für sich eine Anleitung zum Handeln. Beides muß verbunden und überformt werden durch eine Deutung der Welt im Ganzen, damit es zu einem stimmigen Programm politischen Handelns kommen kann.505 Der regulative Entwurf der Urteilskraft auf eine politische Utopie hin, ist konstitutives Moment gelingenden politischen Handelns. Doch wie kommt es zu einem solchen Entwurf? 503

Vgl. Alexander Gurwitsch: Immanuel Kant und die Aufklärung, in: Batscha, Zwi (Hg.): Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt 1976, S 342. 504 Vgl. Schrödter, Hermann: Religion - Menschenrechte - Weltethos. Ein philosophischer Versuch über den Weg zur 'einen Welt'. a.a.O. S. 289. 505 Vgl. Henrich, Dieter: Über den Sinn vernünftigen Handelns im Staat, in: Kant-Gentz-Rehberg. Über Theorie und Praxis, Frankfurt, 1967, S. 35

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Zum Vergleich: Die innere Sittlichkeit bestimmt sich auf sittliche Zwecke mittels der reflektierenden Urteilskraft, die miteinander übereinstimmende Zwecke im Kontext eines religiösen Zweckreiches findet. Diese werden gewonnen erstens vor dem Hintergrund der inneren Geschichte des Selbst, zweitens angesichts der Möglichkeitsbedingungen der Veränderung des Selbst und drittens mittels einer (religiösen) Interpretation des transzendentalen Konflikts und seiner Manifestationen in ethischer Asymmetrie und Differenzerfahrung. Wenn nun die Sittlichkeit äußeren Handelns zur Zweckbestimmung derselben Momente bedarf, so ist klar, warum rein pragmatisch-politisches Handeln nicht mit erfolgreichem politischen Handeln gleichzusetzen ist. Über die technischen Kenntnisse des Wie der politischen Machtausübung hinaus muß der Politiker die äußere Geschichte seines Gemeinwesens angemessen deuten und in den von ihm angegangenen Problemen mit dem Problemempfinden des Volkes zusammentreffen. Er muß spüren, welche Asymmetrie in der Gesellschaft als ungerecht begriffen wird, und mittels welcher Ideale eine stimmige Alternative zu formulieren wäre. Politik ist damit mehr als bloße Rechtswirklichkeit, mehr als nur ein Technician zur Beförderung des normativen Rechtsfortschritts,506 mehr als bloße Kunst der £(\η

{Λβ

Staatsklugheit, der Friedenswahrung und der wechselseitigen gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung. Das ist sie alles auch. Im Eigentlichen aber ist Politik dem normativen philosophischen Begriffe nach „Staatsweisheit":509 ein normatives Konzept der reinen praktischen Vernunft, 510 in das der Regeln ausbildende Verstand, die bestimmende sowohl als auch die reflektierende Urteilskraft eingehen, um die sittlich-äußere Willkürbestimmung zu ihrem systematischen Abschluß zu bringen. Der in der normativ bestimmten Politik zum Ausdruck kommende Vernunftschluß ist Repräsentant der Einheit zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, die in der äußeren Willkürbestimmung erst durch Zwecke gestiftet werden muß. So wie der Rechtsstaat die Instanz der kategorialen Vermittlung von Intelligibilität und Sensibilität ist, so stellt sich die politische Öffentlichkeit als die Instanz der sittlich-konkreten Bestimmung der öffentlich praktischen Vernunft dar. So wie in der inneren Selbstbestimmung Wille und Willkür zur Kohärenz zu bringen sind, so sollen im Medium öffentlichen Handelns die äußeren Willküren Konsens erzielen. 5 " Daß die Subjektwillküren 506

Vgl. Brandt, Reinhard: Kant als Metaphysiker, in: Gerhardt, Volker: Der Begriff der Politik Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, S. 90. 507 So aber: Schmitz, Heinz-Gerhard: Moral oder Klugheit? - Überlegungen zur Gestalt der Autonomie des Politischen im Denken Kants, in: Kant-Studien 1990, S. 413-434. 508 So aber: Laberge, Pierre: Von der Garantie des Ewigen Friedens, in: Kant - Zum Ewigen Frieden, hg. von Höffe, Otfried, Berlin 1995, S. 149-170. 509 Zum Ewigen Frieden, A 84f. 510 Vgl. Gerhardt, Volker: Der Thronverzicht der Philosophie, in: Kant - Zum Ewigen Frieden, hg. von Ottfried Höffe, Berlin 1995, S. 186. 511 Vgl. Habermas, Jürgen: Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral (Kant), in: ders., Strukturwandel der Öffentlichkeit - Untersuchungen zu einer Theorie der bürgerlichen

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im Staatswillen übereinkommen, ist eine Leistung, nicht eine Voraussetzung der Politik. Diese Leistung ist nicht ohne eine Einheit der Deutung der konkreten Lebenswelt zustandezubringen. Damit nicht diese Einheit verspielt wird durch die je besonderen Zugänge, die notwendig die Subjekte zur Welt als ihrer Welt haben, muß die Politik sich freimachen von der Bedingtheit dieser Zugänge, ohne gleichwohl ortlos zu politisieren. Gelungene Politik ist demnach positiv-äußere Willkürbestimmung, der die Synthese zwischen Noumenalität und Phänomenalität als herzustellende Verbindung von normativen Zielen und sinnlichen Interessen in der Figur eines zu einer sittlichen Willensperson geeinten Staatswesen glückt. Der als das Allgemeine dieser Person herauszubildende gemeinsame Wille wird über die Aufnahme der Interessen der Staatsbürger regulativ bestimmt und somit handlungsbefähigt. Der Staatswille soll nicht kleinster gemeinsamer Nenner der gesellschaftlichen Willküren sein, sondern das sittlich-Allgemeine artikulieren. 512 Er ist mithin nicht einfach Resultat rechtsstaatlicher Prozeduren, sondern als konkret-allgemeiner Wille einer zivilen Kultur zu denken, über die das politische System bereits verfügen muß. 513 Gute Politik baut ethische Asymmetrie ab. Die Bildung des Staatswillens aus den gesellschaftlichen Willküren kommt über ein Ideal einer versittlichten Sinnlichkeit oder, wie Kant es nennt, einer „gesitteten Glückseligkeit" zustande. 514 Gesittete Glückseligkeit ist das Konzept, von dem her das, was in der Philosophie der inneren Willkürbestimmung unaufgelöst blieb, das Sich-befriedigt-Finden im sittlichen Vollzug, denkbar wird. 515 Gutes politisches Handeln beinhaltet eine Umverteilung von Naturzufälligkeit, welche ethische Asymmetrieverhältnisse fernerhin unmöglich macht oder nachträglich aufhebt. Gesittete Glückseligkeit, die den Respekt vor dem Recht dem Interesse an einer vorteilhaften Politik überordnet, entspricht dem normativen Entwurf Kants zu Öffentlichkeit, Neuwied-Berlin, 1962, S. 118-132; zitiert nach der Neuauflage 1990, S. 178-195, S. 184. 512 So ist festzustellen, daß die Sentenz: „Salus civitatis (nicht civium) suprema lex esto nicht bedeutet: Das Sinnenwohl des gemeinen Wesens (die G l ü c k s e l i g k e i t der Bürger) solle zum obersten Prinzip der Staatsverfassung dienen; denn dieses Wohlergehen, was ein jeder nach seiner Privatneigung, so oder anders, sich vormalt, taugt gar nicht zu einem objektiven Prinzip, als welches Allgemeinheit fordert; sondern jene Sentenz sagt nichts weiter, als: Das V e r s t a n d e s w o h l , die Erhaltung der einmal bestehenden S t a a t s v e r f a s s u n g ist das höchste Gesetz einer bürgerlichen Gesellschaft überhaupt; denn diese besteht nur durch jene." Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 331. 513

Vgl. dazu den Abschnitt „Die Teleologie öffentlichen Handelns. " Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 245. 515 Eine Befriedigung im äußerlich-sittlichen Handeln kann die nach der kantischen Theorie moralisch notwendige Befriedigung im innerlich-sittlichen Handeln nicht ersetzen. Das heißt, prinzipiell ist Kants Theorie auf zwei Weisen (innerlich wie äußerlich) ausgelegt auf das Sich-Erfüllen in der guten Tat. Es findet aber lediglich das äußere Moment der Selbstbezüglichkeit bei ihm hinreichende Gestaltung. 514

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Liebe und Achtung in der inneren Willkürbestimmung. So wie die wahre praktische und nicht-pathologische Liebe des Guten erst auf die begrifflich zugrundeliegende Achtung vor dem Sittengesetz aufbauen muß und dann zu einem freien Vollzug innerer Sittlichkeit fuhrt und so zu einem gelingenden und guten Leben, so führt auf der Grundlage des Rechtsrespekts das materiale Interesse an glückseligkeitsfördernder Politik zu einem freien Vollzug äußerer Sittlichkeit. Das sich im Handeln erfüllende Selbstinteresse der Individuen ist mithin das emotionale Pendant der sittlich-äußeren Selbstbestimmung und ein Indiz für die reale Möglichkeit politisch-sittlicher Synthesen. So ist es zu verstehen, daß Kant es zur Pflicht staatlichen Handelns machen kann, das Glückseligkeitsinteresse des Volkes in die Staatswillensbildung aufzunehmen. 516 Kant geht davon aus, „daß es nur auf eine gute Organisation des Staats ankommt (die allerdings im Vermögen der Menschen ist), jener ihre Kräfte so gegen einander zu richten, daß eine die anderen in ihrer zerstörenden Wirkung aufhält, oder diese aufhebt; so daß der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenn gleich nicht ein moralischguter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird."517 Zentrale Annahme ist, man könne a priori einsehen, daß sich empirisch die bösen menschlichen Kräfte so gegeneinander richteten, daß letztendlich nur das Gute, als kleinster gemeinsamer Nenner der Handlungsmaximen übrig bleibe.518 Die „a priori einzusehende Gegenbearbeitung aller gegen mich" 519 kommt allerdings nur zustande, wenn die Ungerechtigkeit meiner Vorhaben publik wird. Die Meinungsäußerungsfreiheit ist daher für Kant zentrales Institut rechtsstaatlicher Wirklichkeit. Denn sie schafft ein Forum, „wo die Vernunft öffentlich zu sprechen berechtigt sein muß; weil ohne eine solche die Wahrheit (zum Schaden der Regierung) nicht an den Tag kommen würde."520 Die Publizität der politischen Maximen ist so das Institut, in dem sich die Kritik der Vernunft äußerlich verfestigt. Anfänglich war die „Fähigkeit der Publizität"521 bei der „ t r a n s z e n d e n t a l e f n ] Formel des öffentlichen Rechtes"522 „bloß negativ"523 516

Abzulehnen ist Habermas' Deutung (ebd.), daß die Inkorporation der Glückseligkeit in den Prozeß der Maximenbestimmung lediglich Surrogat einer ansonsten ausschließlich sittlichen Bestimmung des öffentlichen Willens ist. Damit wird das affirmative Moment im „obersten (aber empirischen) Prinzip der Staatsweisheit", der Wohlfahrt, unterbestimmt. Vielmehr läßt sich durch eine Theorie der Teleologie öffentlichen Handelns zeigen, daß die Einbindung der individuellen Glücksverfolgung ein produktives Moment im politischen Prozeß ist. Dazu näher in den Abschnitten zur „Geschichtsphilosophie". 517 Zum Ewigen Frieden, A 59 / 60. 518 Vgl. Reflexion 7687, AA 15, 491; Zum Ewigen Frieden, A 88; Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, A 282. 519 Zum Ewigen Frieden, A 94. 520 Der Streit der Fakultäten, A 10. 521 Zum Ewigen Frieden, A 92.

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konzipiert und stellte lediglich ein „a priori in der Vernunft anzutreffendes Kriterium ... [dar], die Falschheit (Rechtswidrigkeit) des gedachten Anspruchs (praetensio iuris), gleichsam durch ein Experiment der reinen Vernunft so fort zu erkennen".524 Das heißt, sie war ein Institut der Einzelvernunft. Im Gedanken der gesellschaftlichen Willensbildung aber wird die „Fähigkeit der Publizität" zu einem Institut der vergemeinschafteten Vernunft, zu einem Institut des öffentlichen Lebens, das gesichert werden muß. Hier ist die politische Öffentlichkeit gefordert.525 Sie muß als daseiende Kritik einer solchen Theorie und Praxis fungieren, welche den Bürgern die Möglichkeit abspricht, nach der Freiheit regiert zu werden.526 Es ist immerhin möglich, daß der Fortschritt der Menschheit durch Publizität gefördert wird, 527 und es ist sicher, daß ein Verbot der Publizität ihn hemmt.528 Die Kritik an falschen Regeln und Vorhaben der Politik ist Aufgabe der zu institutionalisierenden Publizität, an ihr müssen alle gesellschaftlichen Kräfte auf ihre Weise mitwirken. Wenn es, wie Kant sagt, Aufgabe der Politik und aller politischen Institutionen ist, die Bürger mit ihrem Zustande zufrieden zu machen, so doch eine, die geltungslogisch der Pflicht zu republikanischer Rechtsstaatlichkeit untergeordnet ist. In diesem Sinne geht bei Kant Recht vor und nicht gegen Nutzen, Legalität vor und nicht gegen Gutskonzeptionen, iustitia distributiva vor und nicht gegen Wohlfahrtspflege.529 Nicht an sich selbst ist reines Recht zu schaffen, sondern nur in je besonderen Gesetzen, die neben ihrer Vernunftförmigkeit immer noch ein normativ nicht der Zufälligkeit überlassenes 'Mehr' gegenüber dem reinen Rechtsgedanken sind. Ein Handeln, daß statt Zwecken bloße Form (Moralität oder

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Zum Ewigen Frieden, A 93. Zum Ewigen Frieden, A 94. 524 Zum Ewigen Frieden, A 94. 525 Vgl. Gerhardt, Volker: Der Thronverzicht der Philosophie, in: Kant - Zum Ewigen Frieden, hg. von Ottfried Höffe, Berlin 1995, S. 191f. 526 Kant schreibt: „Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif; die Leibeigenen eines Gutseigentümers sind zur Freiheit noch nicht reif; und so auch die Menschen überhaupt sind zur Glaubensfreiheit noch nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können)." Rei Β 292, Anm. 523

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„Menschen können durch eine gerechte Regierung immer besser werden, also können durch eine Gute Regel die Hindemisse ihrer execution immer weniger werden; aber ist die Regel lächerlich gemacht oder verfälscht, so ist der Keim des Guten ausgerottet." Reflexion 7721, AA 15, 500. 528 „So verhindert das V e r b o t der Publizität den Fortschritt eines Volkes zum Besseren" Der Streit der Fakultäten, A 153. 529 „Das Recht der Menschen, welche gehorchen sollen, muß notwendig vor aller Rücksicht auf Wohlbefinden vorhergehen" Der Streit der Fakultäten, A 148, Anm. Herborhebung von mir.

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Legalität der Willkürbestimmung) sich zum Ziel setzt, verschwebt in Nichtigkeit. 530 Vor diesem Hintergrund schließen die Ausführungen Kants, mit denen er das „andere tranzendentale und bejahende Prinzip des öffentlichen Rechts" 531 als kategorischen Imperativ der Politik einführt, die hier entwickelten Gedanken systematisch ab. Auf die Frage, wie über ein bloß negativ-rechtliches Kriterium im Umgang mit politischen Zwecksetzungen hinauszugelangen sei, 532 entwickelt er seine höchst interessante, wenn auch bisher noch kaum unter systematischen Gesichtspunkten untersuchte Theorie öffentlicher Zustimmung: 533 „'Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen'. Denn wenn sie nur durch die Publizität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie dem allgemeinen Zweck des Publikums (der Glückseligkeit) gemäß sein, womit zusammenzustimmen (es mit seinem Zustande zufrieden zu machen) die eigentliche Aufgabe der Politik ist. Wenn aber dieser Zweck nur durch die Publizität, d.i. durch die Entfernung alles Mißtrauens gegen die Maximen derselben, erreichbar sein soll, so müssen diese auch mit dem Recht des Publikums in Eintracht stehen; denn in diesem allein ist die Vereinigung der Zwecke aller möglich." 534 Aufgrund der Integration der endlichen Interessen in den unbedingten politischen Willen sind transzendente Übertragungsakte, welche die Befriedigung der Subjekte auf ein zeitliches oder räumliches Jenseits verschieben, überflüssig. Dennoch spielen im Prozeß dieser geschichtlich-politischen Orientierung die Religionsgemeinschaften eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die souveränitätstheoretische Trennung von Kirche und Staat ist nicht gleichbedeutend mit einer phänomenalen Trennung von Politik und Religion. 535 Institutionalisierte Religionsgemeinschaften sind mächtige soziale Institutionen und Lobbies. Indem sie dies sind, nehmen sie zurecht am politischen Geschehen teil, als sozialintegrative Subsysteme, vergleichbar den Gewerkschaften. Und als soziale Größen im politischen Geschehen haben sie die gleiche Berechtigung, ihre und fremde Interessen zur Geltung zu bringen, wie jede andere gesellschaftliche Korporation. Zudem ist es ein dem religiösen Selbstverständnis natürliches Moment von Religion, aktiv an der sozialen Welt teilzunehmen. Die Bestimmung des höchsten 530

Ein solches Kantverständnis erliegt gültig der Hegeischen Kritik, vgl. GPhR §§ 135ff. Zum Ewigen Frieden, A 103. Hervorhebung von mir. 532 Vgl. Zum Ewigen Frieden, A 93 / 94. 533 Eine Arbeit, die allerdings explizit auf diese Theorie Kants Bezug nimmt, legt Ulrich Sassenbach vor: Der Begriff des Politischen bei Immanuel Kant, Würzburg 1992. Eine systematisch ansetzende Untersuchung des 'politischen Imperativs' als Theorie öffentlicher Zustimmung habe ich versucht, in: Dierksmeier, Claus: Der politische Imperativ, a.a.O., S. 146175. 534 Zum Ewigen Frieden, A 104. 535 Vgl. Schieder, Rolf: Über Zivilreligion, politische Religionskompetenz und die Zivilisierung der Religion, a.a.O. S. 74. 531

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Durchführung

Guts politischen Handelns läßt sich gar nicht denken, ohne eine Reflexion darauf, was die Menschen ethisch bewegt, bzw. um welcher Ideale willen sie zu sozialem Verzicht und Dienst bereit sind. Religiös inspirierte Kultur liefert orientierende Endzweckhorizonte, reflexive Deutungsmuster für ethische Asymmetrie, sowie sittlich-konkrete Handlungsanweisungen, die das politisch-historische Denken anleiten können, indem sie es unter anderem auf immaterielle und ökonomisch unzugängliche Sehnsüchte und Bedürfnisse der Menschen hinweisen. Das Symbol des Reiches Gottes auf Erden, ist - transformiert zur politischen Maxime: ethisch symmetrische Lebensverhältnisse zu schaffen, - beispielsweise geeignet, das Gutstreben vieler Menschen rechtsförmig zu inkorporieren. Ferner verfügen Religionsgemeinschaften über die Kompetenz, politische Maximen auf ihre sittliche Tragweite zu überprüfen und der Lüge als Mittel schlechter Politik mit organisierter Öffentlichkeit zu begegnen.536 Gerade sie haben ein Interesse daran, daß die Politik nicht auf amoralische und visionslose Technokratie verkürzt wird. Gerade sie sind in Gesellschaften, deren Maximenbestimmung faktisch über die Verallgemeinerung von Partikularinteressen gesucht wird, ausgleichende Instanzen und wichtige Vertreter übergeordneter Interessen. Ihre Kompetenz, das Ganze zu vertreten, liegt wesentlich in ihrer Ungebundenheit an einzelne Gruppen oder Zwecke. Die Religionsgemeinschaften sind deshalb gehalten, Publizität zu schaffen für Interessen, die zu vertreten kein wirtschaftlicher oder politischer Eigennutz anrät. Systematisch gesehen fungiert die Publizität hier ganz so wie der „Herzenskündiger" als Prüfinstanz der eigenen Gesinnung.537 Sie gewährt die Unbestechlichkeit der Maximenprüfung durch die am anderen Ort präsente eigene Vernunft. So wie das religiöse Gewissen im Absehen von der privaten Handlungssituation die sittliche Allgemeinheit zu etwas für sich gewinnt und gegen die eigene Besonderheit zur Geltung bringt, so nehmen sich die zweckfrei-sittlichen Gemeinwesen der noch unvertretenen sittlich-allgemeinen Interessen als besonderer an und machen sie als religiöse Zwecke zu etwas für sich.538

2.4.

Geschichtsphilosophie

Die Leistung, die nach der hier vorliegenden Systematisierung durch die Geschichtsphilosophie zu erbringen ist, wird bei Kant durch Geschichtsphilosophie,539 Naturspekulation540 und Anthropologie541 erbracht. Es geht hier also um

536

Vgl. Laberge, Pierre: Das radikale Böse und der Völkerzustand, in: Marty F. / Ricken F.: Kant über Religion, in: Münchener philosophische Studien, Band 7, Stuttgart 1992, S. 112-123. 537 Vgl. hier S. 55 und M.d.S. TL A 101-110. 538 Vgl. dazu näher den Abschnitt „Gesellschaftspolitik". 539 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht 1784; Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 1784; Das Ende aller Dinge 1794.

Durchführung

143

einen weiten Begriff von Geschichtsdeutung, der nicht von einem Phänomen 'Geschichte' aus gedacht wird, sondern vom äußeren Orientierungsbedürfnis sittlich handelnder Subjekte her. 'Die Geschichte' ist der räumliche und zeitliche Horizont, auf den äußeres Handeln in sinnvoller Weise bezogen werden kann und muß. Die Art und Weise der Orientierung in der äußeren Welt entspricht strukturell weitgehend der religiösen Orientierung. Allerdings geht geschichtliches Denken zum Zwecke der handlungspolitischen Orientierung auf einen anderen Gegenstand aus als die Religion. Während diese eine reflexive Reaktion auf die Differenzerfahrungen zwischen endlichem Individuum und dem unbedingten forum internum publicum darstellt, antwortet 'die Geschichte' auf Fragen, die zwischen dem Individuum und dem es übergreifenden forum externum publicum auftreten. Ähnlich der Religion wird die Geschichte von den Menschen befragt nach dem richtigen Umgang mit dem Leben im Ganzen und den einzelnen Lebensentscheidungen im besonderen. Ähnlich der Religion gibt die Geschichte nicht an ihr selbst normative Lehren an die Hand, sondern bietet dem normativ ausgerichteten Bewußtsein einen Reflexionsboden zur kommunikativen symbolischen Klärung seines Welt- und Selbstverständnisses. So läßt sich sagen, daß die Menschen nicht aus der Geschichte lernen, sondern an ihr, indem es nicht die Geschichte ist, die die Menschen belehrt, sondern indem es die Menschen sind, die die Datenvielfalt der Vergangenheitszeugnisse im lernenden Deuten ihrer selbst zu einer lehrreichen Geschichte ordnen. 542 Bei 'der Geschichte' fällt es uns ungleich leichter als bei der Religion, zwischen einem Phänomen und einem Noumenon derselben zu trennen. Es ist geradezu ein geisteswissenschaftlicher Gemeinplatz geworden, daß es 'die Geschichte' als separiertes Phänomen nicht gibt, sondern nur 'Geschichten', Prozesse u.ä., die wir vor dem zumeist nicht reflektierten Hintergrund eines zugrundeliegenden noumenalen Geschichtsbegriffs als Geschichte ansprechen. Dieser Kontext bestätigt das Verfahren, die noumenale LTntersuchung des Begriffs zur Grundlage der phänomenalen zu machen und nicht umgekehrt. Die Analyse des normativen Begriffs der Geschichte ist Beitrag zur Klärung des Noumenon Religion. Erst auf der Grundlage der Gemeinsamkeiten religiösen und geschichtlichen Denkens wird deren notwendige systematische Differenz

540

Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte 1786; Ober den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie 1788; Kritik der Urteilskraft, Zweiter Teil, 1790; Physische Geographie, hrsg. von Rink 1802-03. 541 Von den verschiedenen Rassen der Menschen 1775; Über die Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse 1785; Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 1798; Vorlesungen: Anweisung zur Menschen und Weltkenntnis, Winterhalbjahr 1790-91, Menschenkunde, hrsg. v. Starke 1831, Über Pädagogik, hrsg. von Rink 1803. 542 Vgl. Feger, Hans: Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers, Heidelberg 1995, S. 273.

144

Durchführung

sichtbar und bedeutsam. 543 Die hier vorgenommene Parallelisierung und Auseinandersetzung von Religion und Geschichte findet sich bei Kant auf interessante Weise bestätigt, wenn er Ausblick nimmt auf den möglichen Fortschritt der Menschheit. Während Kant in der Religionsschrift über Bedingungen und Möglichkeiten nachsinnt, die Moralität der Menschen zu entwickeln und freizusetzen, so schränkt er im Rahmen geschichtsphilosophischer Betrachtungen die spekulative Perspektive ganz auf den Aspekt der Legalität ein, von deren Ausbau ein besserer Zustand in der Welt zu erhoffen sei. Hierin ist Kant keineswegs inkonsequent, vielmehr erschließt sich dieser perspektivische Dualismus aus seiner Theorie des höchsten Gutes, die dessen individualethische und dessen geschichtsphilosophische Seite nicht aufeinander zurückfuhrt, sondern in Wechselbeziehung bringt. 544

2.4.1. Fundamentalismus und Kritik Auf dem Hintergrund der zur Politik gemachten Untersuchungen steht fest, daß das Moment des tatsächlichen Übereinkommens von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit im Felde der sittlich-äußeren Willkürbestimmung keine Leistung ist, die vom geschichtlichen Denken substituiert werden müßte, sondern die bereits konstitutives Moment einer jeden sich positivierenden politischen Maxime darstellt. Nur wenn sich die Individuen im politischen Handeln sinnlich und sittlich befriedigen können, werden sie sich überhaupt dazu bereit finden, da sie ja die Alternative der Passivität haben. Damit ist die Theorie der Geschichte von einer Aufgabe frei, die zu lösen sie qua Theorie auch gar nicht in der Lage ist. Es ist kein Zufall, daß noch jede Theorie, die sich anschickte, die Aufgabe fundamentaler Versöhnung anzugehen, früher oder später zu einer fundamentalistischen Ideologie degenerierte, die den historischen Menschen zugunsten ihm historisch unzugänglicher Projekte vergewaltigte. Strukturparallel zu schlechter Religion steigert schlechte geschichtliche Ideologie den regulativen politischen Endzweck zu einem konstitutiven und setzt diesen über das politische Subjekt. Das Subjekt wird sich selbst entfremdet. Dieses Umkippen regulativer Reflexion in konstitutive Ideologie ist eine dem teleologischen Denken als solchem immanente Tendenz, die gleichermaßen im religiösen wie im historischpolitischen Kontext beheimatet ist. Das höchste Gut, das sich ein gegenständliches Bewußtsein setzt, ist, immer dann, wenn das Sittengesetz nicht schon „als oberste Bedingung schon mit eingeschlossen ist", ohne freiheitswahrendes Korrektiv: 545 ,,[D]as Volk setzt sein Heil zu oberst nicht in der Freiheit, sondern in seinen 543

Vgl. Essen, Günther: Geschichte als Sinnproblem. Zum Verhältnis von Theologie und in: Theologie und Philosophie 71, 1996, S. 321-333, insbs. S. 326 ff. 544 Vgl. dazu näher den Abschnitt Religion und Geschichte als Orientierungswisserí\ 545 K.d.p.V. A 197.

Historie,

Durchführung

145

natürlichen Zwecken."546 Die reflexiv ungebrochene Willkür zieht die direkte Realisierung ihrer Zwecke der sittlich-vermittelten indirekten Realisierung vor. Und gerade totalitäre Ideologien des höchsten Gutes begünstigen die Hoffnung auf eine direkte und absolute Erfüllung dieser natürlichen Zwecke. Die Absolutheit des vermeintlichen Endzwecks soll die die Gegenwart vergewaltigenden Mittel heiligen. Die Fundamentalisierung der Lebenswelt unter den einen, ihr den absoluten Sinn zuweisenden Aspekt, hat kein immanentes Korrektiv und kann nur durch externe Kritik gebrochen werden. Diese externe Kritik, das sind im politischen Kontext in erster Linie die Anderen und erst in zweiter Linie ist dies die Philosophie, bzw. die Reflexivität der politischen Kräfte. 547 Die anderen Menschen mit ihren differenten Sinnkonzepten und gegenläufigen Handlungsvorhaben, die anderen Rollen gegenüber Loyalität wahren und alternative Zwecke verfolgen, verhindern im Rahmen rechtsgeschützter Publizität die Totalisierung des Besonderen durch ein vermeintlich konstitutiv bestimmtes Allgemeines. Sie retten die Besonderheit des je Einzelnen durch die bloße Alterität ihrer zumeist ebenso unreflektierten Parteinahme: sie sind empirisch daseiende Kritik. Ihre kritische Funktion hängt mitnichten an dem Grad ihrer intellektuellen Reflektiertheit, sondern an ihrer lebensweltlichen und weltmächtigen Option für ein je anderes summum bonum. Eine wesentliche Rolle fällt hierbei den Religionsgemeinschaften zu. Sie sind es, - und nicht die politischen Kräfte, - die zurecht die soteriologische Reflexion verwalten und gestalten. Sie reagieren aus Selbsterhaltungsgründen feinnervig auf politisch-ideologische Versuche, die rechtliche Welt spirituell zu fundamentalisieren. Genau dann, wenn politische Eschatologien dazu übergehen, soteriologisches Heil als Gegenleistung für Rechtsbruch und Selbstaufgabe anzubieten, ist die Aufmerksamkeit der Religionsgemeinschaften geboten und gegeben. Allen bisherigen totalitären Politikkonzeptionen gemeinsam ist ein kultisches Verständnis von Politik und eine machtpolitische Funktionalisierung der menschlichen Heilserwartung.548 Personenkult und politischer Messianismus sind die äußeren Zeichen der inneren Tendenz solcher Systeme, sich außerhalb der diskursiv-rechtsstaatlichen Ebene um Legitimation zu bemühen. Der politische Fundamentalismus greift mangels rationaler Fundamente notwendig auf die Ressource der privaten Heilssehnsucht zurück. Die Religionsgemeinschaften, dadurch in ihrem Eigensten bedroht, agieren hier mithin als willkommene Agenten der Rechtsstaatlichkeit, wenn sie machtkritisch gegen die Hybris solcher Unternehmungen zum intellektuellen und zivilen Ungehorsam rufen und - in sonst seltener Selbstbeschränkung - die Säkularisierung des Politischen einfordern. Diese rechtsstaatliche Funktion übernehmen die an sich selbst ebenfalls 546

Der Streit der Fakultäten, A 30. Vgl. Gerhardt, Volker: Der Thronverzicht der Philosophie, a.a.O., S. 188ff. 548 Vgl. Küenzlen, Gottfried: Religiöser Fundamentalismus - Aufstand gegen die Moderne?, a.a.O. S. 56-58.

547

146

Durchführung

ungebremsten religiösen Kräfte allerdings nur in Gemeinwesen, in denen es nicht sie selbst sind, die das gesellschaftliche Handeln bestimmen. Machthabende Religion ist keine machtkritische Religion, da sie als machthabende ihr Besonderes unvermittelt umsetzen kann. Reflexiv wird daraus das Argument, daß der optimal verfaßte Staat keiner religiösen oder sonstigen partikularen Kraft ein Privileg bei der Staatswillensbestimmung zukommen läßt und damit praktisch alle substaatlichen Kräfte in die rechtsfunktionale Rolle wechselseitiger Kontrolle und Kritik bringt. Es ist geradezu ein Charakteristikum politisch-historischer Endzwecktheorien, daß sie anhand empirischen Widerspruchs nicht selbstkritisch die Möglichkeitsbedingungen eines konstitutiven Endzwecks äußeren Handelns überhaupt in Frage stellen. Stattdessen werden die alternativen Optionen der Mitstreiter im Meinungskampf als Bestätigung der Unerläßlichkeit der jeweils eigenen Erringung von Meinungsfuhrerschaft umgedeutet. Es ist ein Zeichen eines bereits modernitätsgebrochenen politischen Bewußtseins, die Andersartigkeit alternativer Ansätze mit dem eigenen Gewißheitsanspruch begrifflich wie sachlich zu vermitteln. Diese Reflexion auf die eigenen Geltungsansprüche und deren Möglichkeitsbedingungen ist im politischen Geschehen weder die Regel, noch das die Liberalisierung tragende Moment, auf das sich eine Gesellschaft verlassen dürfte. Die Kritik der öffentlich-praktischen Vernunft an totalitaristischen Konzepten realisiert sich eher indirekt:549 Der Anspruch, aus Gründen, die allen einsichtig sind, Politik zu gestalten, muß es sich gefallen lassen, auf die Umsetzung dieser Gründe in Theorie und Praxis festgelegt zu werden.550 Die Durchsetzbarkeit politischer Maximen über Publizität steht und fällt damit, daß sie sich als Subsumtionen unter anerkannte Gründe politischen Sich-Bestimmens begreifen lassen. So müssen die normativen Erwartungen nicht erst äußerlich dem politischen Geschehen angetragen werden, sondern entspringen bereits der Logik der von den politischen Akteuren geltend gemachten Ansprüche.551 Pluralismus wirkt in erster Linie praktisch, seine Aufnahme in die Theorien der pluralistisch im Wettbewerb um die öffentliche Meinung stehenden Kräfte, also seine theoretisch-regulative Bedeutung, steht dahinter weit zurück. Die theoretische Geltung des Pluralismus als gesolltes Modell der Staatswillensbildung zeigt sich in der politischen Wirklichkeit erst als Folgeprodukt seiner praktischen

549

Vgl. zur staatstragenden Funktion der Meinungsäußerungsfreiheit: Der Streit der Fakultäten,

A

10. 550

„Wer vorgibt, aus Gründen zu handeln, die anderen einsichtig sind, der muß sich auch auf diese Gründe ansprechen lassen, wenn er seine öffentliche Glaubwürdigkeit nicht verlieren will". Gerhardt, Volker: Politisches Handeln. Über einen Zugang zum Begriff der Politik, in: Gerhardt, Volker: Der Begriff der Politik - Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, S.300. 551

Vgl. Gerhardt, Volker: Immanuel Politik, Darmstadt, 1996, S. 223.

Kants Entwurf „Zum Ewigen

Frieden".

Eine Theorie

der

Durchführung

147

Durchsetzung. Die Philosophie hat demgegenüber die sekundäre Funktion, die Notwendigkeit dieses sich über Publizität vermittelnden Gegeneinanders auf den Begriff zu bringen und die im normativen Begriff liegende formale Einheit im Streit der Meinungen in Sicht zu bringen. Diese Einheit ist mehr als die quantitative Summe des Vertretenen, nämlich die erst performative und dann reflexive Anerkennung von Pluralität: eine neue Qualität des gesellschaftlichpolitischen Selbstbezugs.

2.4.2. Die Teleologie öffentlichen Handelns In der religiösen Ideologie wurde das Subjekt als endliches Vernunftwesen in der inneren Willkürbestimmung thematisch, das notwendig auf das innerliche Sich-Wiederfinden im Anderen seiner selbst aus ist. Das zentrale Thema war die innere Situation des Subjekts, mithin die im Inneren des Subjekts zur Instanz werdende reine praktische Vernunft, die sich beispielsweise in der trias theologica ausdrückt. In der geschichtlich-politischen Ideologie kommt vornehmlich die äußere Situation des Subjekts in den Blick. Wie kann das Andere seiner selbst, das dem Subjekt in den anderen Individuen und in der Sphäre der äußeren Sinnlichkeit gegenübertritt, wie können Instanzen und Institutionen der gemeinschaftlich äußeren Willkürbestimmung etwas für das Subjekt werden, so daß es sich, indem es sich an sie entäußert, an ihnen wiedergewinnt? Wenn es äußerlichsittliches Handeln geben soll, dann darf das materiale Moment öffentlicher Willensbestimmung nicht zufällig und gegenüber dem Allgemeinen minderwertig sein.552 Die Aufnahme der Glückseligkeitsinteressen der sinnlichen Subjekte in die politischen Maximen muß zu sittlicher, nicht nur zu sinnlicher Konkretheit gelangen. Es muß von einer philosophischen Betrachtung der Geschichte erwartet werden können, daß sie zeigt, wie geschichtliche Deutungsversuche die normative Philosophie der sittlich äußeren Praxis ergänzen. Es ist zu zeigen, wie gebotene, aber aus normativen Begriffen allein nicht zu ersehende Momente in die politische Willensbestimmung eingehen und seitens der historischen Subjekte reflektiert werden. Geschichtsdenken muß einen lebensweltlichen Reflexionsboden bieten, von dem her die konkrete sittlich-äußere Praxis politischer Individuen eine inhaltliche Orientierung erhält und eine formulierbare Perspektive bekommt. Die Idee sittlich 552

Vollrath verfehlt den kantischen Ansatz und macht dann 'gegen' Kant Momente der Berücksichtigung des Besonderen als unersetzbares Einzelnes stark, die bei Kant jedoch von vorneherein angelegt sind. Vgl. insbesondere S. 263, auf der er schreibt, bei Kant finde sich die „Wiederholung der stereotypen Annahme: alles, was an einem Einzelnen-Besonderen nicht der Allgemeinheit subsumiert werden kann, ist als Kontingent-Zufälliges ontologisch inferior und daher eliminierbar als ein Negatives", in: Vollrath, Emst: Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987.

148

Durchführung

zu gestaltender Rechts- und Politikgeschichte bedarf der Konkretion durch geschichtliche Ideale. Um den Status dieser Ideale in der Rangordnung der Bestimmungsgründe politischen Willens festzulegen, benötigt man auch hier den Begriff des regulativen Symbols. Kant stellt heraus, daß das geschichtliche Symbol in drei Funktionen „als G e s c h i c h t s z e i c h e n (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticum) angesehen werden müsse". 553 Als signum rememorativum bringt es die Vergangenheit auf den deutenden Begriff, zum Beispiel der Limes als Symbol römischer Kultur- und Besatzungspolitik. Als signum demonstrativum stellt es überzeitlich einen ideellen Gehalt phänomenal dar, zum Beispiel die französische Revolution als Symbol der Selbstergreifung der politischen Autonomie durch die Vernunftsubjekte. 554 Aus der Vergleichung eines signum rememorativum mit einem die Gegenwart kennzeichnenden signum demonstrativum läßt sich eine Deutung der Geschichte als sittlicher Fortschritt gewinnen.555 Das Verhältnis der Gegenwart zum Zukünftigen wird im signum prognosticum verdeutlicht. Bilder einer zukünftigen Welt fungieren als symbolischer Fluchtpunkt gemeinschaftlicher Willkürbestimmung. Das Material solcher symbolisch geleiteter Willensbestimmung wird historisch, d.h. lebensweltlich-konkret aufgegriffen. 556 Sinngehalt und Orientierung beziehen diese Konzepte aus dem von ihnen auszuzeichnenden utopischen Standort, auf den hin sie die politischen Maximen ausrichten. Das utopische Ziel muß sich als letztlich historisch realisierbares Projekt denken lassen, denn es stellt im Modus des Symbols die Idee der sittlich äußeren Vollkommenheit in concreto als höchstes Gut äußeren Handelns dar. Die Idee des höchsten Gutes hat demnach auch eine klare geschichtsphilosophische Dimension,557 die im politischen Handeln konzeptive und integrative Wirkung entfalten kann.558 Wie im höchsten Gut der Moral innere Glückswürdigkeit und innere Glückseligkeit zusammengeführt werden sollen, so vermittelt das höchste Gut des äußeren Handelns äußere Sittlichkeit mit äußeren Glücksgütern. Statt ethischer Asymmetrien soll gerechtes

553

Der Streit der Fakultäten, A 142. Kant bestimmt den begrifflichen Status dieses geschichtlichen Symbols analog dem des religiösen Symbols: „Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte v e r g i ß t sich n i c h t m e h r , weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte." Der Streit der Fakultäten, A 150. 554

555

Vgl. Der Streit der Fakultäten, A 156. Vgl. Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf „Zum Ewigen Frieden". Eine Theorie der Politik, Darmstadt, 1996, S. 223ff. 557 Vgl. Landgrebe, Ludwig: Die Geschichte im Denken Kants, in: Studium Generale 7, 1954, S. 538ff; auch in: Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh 1968, S. 46 ff. 558 Vgl., Landgrebe folgend, Düsing, Klaus : Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62 (1971), S. 41. 556

Durchführung

149

Wohlergehen herrschen im Reich der Zukunft, das Kant als das „Ideal der Menschheit"559 anspricht. Die Interpretation der Geschichte durch die Gesellschaft verändert dabei die Geschichte der Gesellschaft, indem sie in das Handeln der Gesellschaft eingeht. Sie gewinnt sich vermittelst normativer Ideale, die als „Zeichen der Zeit"560 geschichtlichen Sinn benennen. Erfolgreiche Modelle geschichtsbezogenen Handelns lassen sich nicht ungeschichtlich gewinnen, sondern nur aus geschichtlichem Handeln, das diese Modelle nicht voraussetzen kann, sondern erzeugt, indem es sie erfordert. Die Unabgeschlossenheit geschichtlichen Reflektierens schließt den Irrtum in der Deutung der Vergangenheit ebenso ein, wie die verfehlte Prognose; jedoch ist gerade diese Erkenntnisweise zukunftsoffen, da sie reflektierend anstatt subsumierend vorgeht. Gelingende geschichtliche Sinnorientierung ist kontingenzfähig, weil regulativ.561 Die notwendige Fortentwicklung bereits bekannter Parameter historischer Orientierung zu neuen Selbstverständnissen hängt dabei ganz wesentlich an der offenen Wechselseitigkeit überzeugenden geschichtlichen Handelns und Deutens. Geschichtliches Denken ist Moment im geschichtlichen Handeln und kann in die Verbindung von Natur und Freiheit, die dieses Handeln beabsichtigt, eingehen, indem es das geschichtliche Handeln anleitet und deutet. Als sinnvolles Ganzes geht also Geschichte der sittlichen Standpunktnahme in der Welt nicht voraus, sondern folgt aus ihr.562 Die konkreten politischen Werte sind der historischen Wirklichkeit zu entnehmen und 'per posterius' 563 auf den Begriff zu bringen. Ihre normative Geltung muß zwar so rekonstruiert werden können, daß sie sich als Explikationen der reinen praktischen Vernunft am sinnlich-äußeren Ort lesen lassen.564 Aber genausowenig wie reine praktische Vernunft eine Religion zu entwerfen hat, genausowenig soll sie eine Ideologie geschichtlich richtigen Handelns skizzieren. Sie soll lediglich zeigen, wie zum einen normativ gültig und zum anderen sinnlich durchsetzbar zu einer solchen Konkretisierung politischer Maximen gelangt werden kann. Entsprechend den vielen nicht aus reiner Vernunft zu entwickelnden Strukturbedingungen, unter denen menschliches Handeln je steht, gibt es eine Fülle von Deutungsansätzen, die menschlich-äußeres Handeln von verschiedenen 559

Anthropologie in pragmalischer Hinsicht, A 316, Anm. AA 22, 623. 561 Vgl. Feger, Hans: Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers, Heidelberg 1995, S. 265. 562 „Die Einheit der Geschichte aus einer solchen Idee macht aus ihr ein System." Reflexion 1420, AA 1 5 , 6 1 8 . 563 Zur Verwendung des Terminus per posterius vgl. S. 82. 564 Wenn wir bei Hegel und späteren Theoretikern lesen, wie sich die großen politischen Strömungen Liberalismus, Sozialismus, Konservativismus als Explikationen der partialisierten Vernunft in der Geschichte lesen lassen, so haben wir es mit solchen Reflexionen 'per posterius' zu tun, die zwar von Philosophen unternommen werden können, deshalb aber doch nicht die epistemische Dignität systematisch-philosphischer Aussagen besitzen. 560

150

Durchführung

empirischen Ausgangspunkten her und auf verschiedene Endzwecke hin verstehen und lenken wollen. Gleichberechtigung und Ergänzungsverhältnis dieser teils normativ geprägten Interpretationen gemeinschaftlichen Handelns im politischen Raum sind zu akzeptieren: Der Mensch ist ja nicht nur endliches Vernunftwesen unter dem Sittengesetz, er ist Familienmitglied, Berufstätiger, Nations- und Kulturkreiszugehöriger, Mann oder Frau. Der Mensch steht unter historischpolitischen Bedingungen ebenso wie unter geographisch-naturalen, unter kulturellallgemeinen ebenso wie unter individuell-besonderen. Von diesen Bedingungen her wird er sich verstehen und deuten. Kants Geschichtsphilosophie und Kants Anthropologie sind ganz wesentlich Beschreibungen solcher Bedingungen und Vermutungen darüber, wie sich diese Bedingungen vor- und nachteilig auf das sittlich aufgegebene Projekt der praktischen Vernunft auswirken werden. Das Theorem von der „ungeselligen Geselligkeit"565 und vom friedensstiftenden „Handelsgeist"566 gehört zu diesen Spekulationen ebenso wie die altväterlichen Vermutungen über die Naturelle der verschiedenen Menschenrassen.567 Der Mensch wird sich immer im Rahmen seiner lebensweltlichen Bedingungen entwerfen, an ihnen, mit ihnen und auch gegen sie seine Ziele ausrichten. Stets berührt sich seine Handlungssphäre mit der anderer Menschen. Da er darauf angewiesen ist, daß die Anderen ihn nicht nur nicht stören, sondern möglichst unterstützen bei seiner Zweckverfolgung, muß er die Anderen von der Sinnhaftigkeit seiner Vorhaben und damit von der Sinnhaftigkeit seiner diesen Vorhaben zugrundeliegenden Weltdeutung überzeugen. Er muß, um seinen Zweck nicht zu verfehlen, wenigstens den Anspruch erheben, daß seine besondere Weise der weltgestaltenden Deutung allgemeinheitsfähig und allen dienlich ist; er muß andere Menschen davon überzeugen, daß sein Projekt auch das ihre ist. Dazu muß er ihre Sprache sprechen und ihre Interessen berücksichtigen, ihre Glückseligkeit befördern. Die Konkurrenz um die Zustimmung der Anderen fuhrt dazu, daß er sein politisches Vorhaben über die Referenz zu einem mehrheitsfähigen 'Zwischenwert' ausweisen muß. Solche 'Zwischenwerte', als vorletzte politische Güter, sind zum Beispiel Volksgesundheit, Wohlfahrt, Umweltschutz, Bildung u.v.a.m. Das meint, daß im Streit um das letzte politische Gut, den wahren 565

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 392. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 406. 567 Auch Kants seit der Naturgeschichte („ Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels ..." (1755), inbesondere im Dritten Teil „Welcher einen Versuch einer auf die Analogien der Natur gegründeten Vergleichung, zwischen den Einwohnern verschiedener Planeten, in sich enthält") bis zu seinen letzten Schriften immer wieder auftretenden Reflexionen über die Hemmnisse und Begünstigungen moralischer Entwicklung durch naturale Gegebenheiten, die auf anderen Planeten wohl herrschen mögen, sind hier zu nennen. Vgl. zum Topos 'der Einwohner fremder Planeten' auch: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht A 398, Anm. und Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 332. Zu Kants Spekulationen über die Naturelle der Menschenrassen vgl.: Von den verschiedenen Rassen der Menschen 1775; Über die Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse 1785. 566

Durchführung

151

politischen Endzweck, der prinzipiell keine Einigung (distributiv) aller zuläßt, sich die tatsächlichen Interessen der Individuen so zur Geltung bringen, daß sie auf dem Wege der gemeinsamen Übereinkunft in vorletzten Dingen eine Chance der Realisierung erfahren. Gelingt es zu verhindern, daß sich eine totalitär vereinseitigte Gutskonzeption auf Kosten anderer gewaltsam durchsetzt, so steht zu erwarten, daß über die Pluralität der Endzwecke in etwa die Vielschichtigkeit der Lebenswelt politischer Subjekte in den handlungspolitischen Selbstbezug einer Gemeinschaft so eingeht, daß im Ganzen auf dem Wege des Rechts das Wohl aller tatsächlich befördert wird.568 In der hier entwickelten normativen Notwendigkeit konkurrierenden Miteinanders endlicher Bestimmungsversuche des handlungsleitenden Allgemeinen gründet auch das vielfach bemerkte Phänomen, daß sich konkurrierende politische Ideologien zum eigenen Vorteil gegenseitig 'hochschaukeln'. Wenn im Streit die Schwachstellen der gegnerischen Position aufgedeckt werden, wird diese Position, philosophisch gesehen, darin gerade nicht negiert, sondern ihr wird die Chance zur Verbesserung gegeben. In der Tatsache des rechtsförmigen Streits liegt die Anerkennung, nicht die Negation, der anderen Partei. Parteinahme ist schon Anerkennung der prinzipiellen Uneinholbarkeit des Allgemeinen durch einen partiellen Zugriff. Das Sich-Einlassen auf die kontroverse Bemühung der Begründung der eigenen Position vor der Forum der Publizität anerkennt prinzipiell und - vor allem - performativ die Revidierbarkeit eben dieser Position durch Gründe. Daß dies den Parteinehmenden nicht immer bewußt ist, ändert nichts an der Tatsache, daß das Institut der öffentlichen Willensbestimmung jedem Anspruch die ihm rechtmäßig zukommende Kritik verschafft und darin Stabilisator der allen Ansprüchen zugrundeliegenden äußeren Freiheit ist. Je mehr eine Weltdeutung darauf drängt, sich durchzusetzen, umso mehr muß sie in sich, wegen der Abhängigkeit von der empirischen Zustimmung des Publikums, alternative Momente der Zweckverfolgung zulassen, um sich nicht empirische Widerstände zu schaffen. Daher wird diejenige Ideologie, die die größtmögliche Pluralität der Zwecke zur Einheit einer sinnstiftenden Theorie der Bestimmung und des Vollzugs sittlich-äußeren Handelns bringt, sich die allgemeine Zustimmung sichern können.569 Und genau darin, in der Affirmation der Verschiedenheit der Zwecke und Zugänge, besorgt rechtsstaatlich-repräsentative Politik ihre Selbsterhaltung und den Zweck des Publikums, mit seinem Zustand zufrieden zu sein, gleichermaßen, denn ,,[d]as Gefühl der Freiheit in der Wahl des

568

Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 328-330. „Das erscheint abstrakt, wird politisch aber sehr schnell konkret, sofern nur irgendein Versuch gemacht wird, Politik allein im Namen der Weißen, des Proletariats, der Frauen oder des Islam zu betreiben." Gerhardt, Volker: Politisches Handeln. Über einen Zugang zum Begriff der Politik, a.a.O., S. 301. 569

152

Durchführung

Endzwecks ist das, was [sc. den Menschen] die Gesetzgebung liebenswürdig macht."570

2.4.3. Philosophie als öffentliche Meinung In Kants Verständnis ist die Philosophie nicht Partei im Meinungsstreit, sie nimmt vielmehr Partei für den Meinungsstreit selbst. Sie insistiert: Um des Subjekts willen, das heißt, zur einheitlichen Durchbestimmung dessen äußerer Willkür, ist erst der politische Endzweck, nicht jedoch existiert das Subjekt um eines ihm äußeren Endzwecks willen. Das höchste politische Gut überspringt nicht die rechtsstaatliche Selbstvermittlung der öffentlichen Vernunft, sondern bestimmt sich erst über sie. Eine konkrete politische Philosophie als eine Philosophie, die die vorfindliche politische Situation mit all ihren Institutionen und Instanzen daseiender Kritik, mit ihren Utopien und Programmen reflektiert und auf ihre Vernunftgemäßheit hin untersucht, ist - selbstverständlich ebensowenig Teil einer apriorischen Metaphysik der Sitten, wie eine Philosophie der historisch vorfindlichen Religion.571 Wie es nur eine Philosophie der Religion, aber viele Religionen geben kann, kann es auch nur eine Philosophie der Politik und der Geschichte, aber viele politisch-historische Ideologien geben. Philosophie gibt nur den reinen Begriff einer religiös-ideologischen oder historischideologischen Orientierung überhaupt. Sie kann ohne die Aufnahme konkrethistorischer Daten aber nicht zu sachhaltigen Aussagen kommen, welche das Feld reiner praktischer Vernunft überschreiten. Für Religion und Geschichte ist die sinnlich-historische Kontingenz wesentlich. Religiöse und historische Weltdeutung müssen relativ auf die von ihnen zu deutende Welt sein, ohne sich regional zu verengen. Sie müssen die von der Vernunft bereitgestellten Prinzipien in einer Weise an die Zeitlichkeit heranbringen, die von der Vernunft nicht vorhergesehen werden kann, die sich wohl aber im Rückblick als systematische Entfaltung der Vernunft in der Zeit lesen läßt. Dann ist die dadurch ermöglichte normative Deutung dieser Religion und dieser Politik mehr als bloßer Differenzaufweis zum Ideal des reinen Vernunftglaubens oder zum „platonischen Ideal einer res publica noumenon": 572 eine konkrete Theorie konkreter Lebenswelten. Mit dem zeitbedingten Wandel der politischen Institutionen ist auch ein Wandel ihrer historischen Rolle und ihrer geschichtsphilosophischen Einschätzung verbunden. Dieser Wandel läßt sich nicht über eine fertige Doktrin schematisieren, sondern macht ein Verstehen erforderlich, das als kritisches 570

Das Ende aller Dinge, A 520. Vgl. dazu die hier für die Philosophie der Religion vorgenommene Abgrenzung zur doktrinalen praktischen Philosophie Kants auf den S. 83ff., die analog für die Geschichtsphilosophie Kants angewendet werden kann. 572 Der Streit der Fakultäten, A 155. 571

Durchführung

153

Überdenken der erlebten Welt immer auch in dieser erlebten Welt zu stehen hat. Dieses Denken ist kein Privileg der kritischen Philosophie, sondern Streitgegenstand verschiedenster Theoreme, welche von urteilenden Zeitgenossen in den Meinungsstreit eingebracht werden und unter denen der politisierende oder historiographische Philosoph nur einer von vielen ist. 573 Hier ist eher der Zeitgenosse gefordert als der Transzendentalphilosoph. Denn nicht die Philosophie ist es, die die gesuchte Synthese stiftet. Sie erklärt und rekonstruiert sie nur. Die sittliche und sinnliche Substanz in der positiv-äußeren Handlung verdankt sich vielmehr derjenigen Synthese, die jeder Staatsbürger schon ist. Sie zeugt von einem geglückten reflexiven und tätigen Umgang mit den ethischen Asymmetrien, die in den sittlichen Vollzügen zu gegenwärtigen sind. Die sittliche Substanz einer konkreten politischen Willensbestimmung entwächst den mit Erfahrung und Bewußtheit innegehabten sozialen Rollen des Bürgers, seinen Bestimmtheiten und seinem eigenen historischen Selbstverständnis. 574 Dieses Selbstverständnis beruht auf einer kulturellen Identität, vor deren Hintergrund es sich erst gewinnt. Die Interpretation des Vergangenen, die Analyse des Jetzigen und der Entwurf des Zukünftigen kommen in der politischen Welt- und Selbstdeutung des sozialen Subjekts in eine individuelle Einheit, die gerade nicht autark ist, sondern in Anknüpfung an einen überindividuellen Deutungshintergrund entsteht, der aus reinen Begriffen nicht gefolgert werden kann. Die kritische Philosophie steht quer zu diesen Bemühungen und ergreift nicht Partei für einzelne Deutungen, sondern nur für die Freiheit des Deutens. Angewandte Philosophie dagegen verläßt diese Neutralität und begibt sich als öffentliche Meinung in den diskursiven Wettbewerb. Sinnvoller Inhalt einer systematischen Geschichtsphilosophie ist aber weniger diese historische Selbstverortung der Philosophie, als die abstrakte Analyse des Prozesses sittlich-historischer Reflexion schlechthin. Diese Analyse zeigt zwar die Notwendigkeit der historischen Selbstverortung der Philosophie, aber gerade nicht, daß die Philosophie der Geschichte mit geschichtlicher Philosophie zusammenfallen dürfte. Das politische Gemeinwesen artikuliert seine Weltdeutung im öffentlichen Leben und vereint so subjektive Selbstverständnisse zu intersubjektiver Handlungsmacht. Die Partizipation des Einzelnen am gemeinschaftlichen Handeln muß, als freie Teilnahme, getragen sein von einer jeweils individuellen Motivation. Diese Motivation wird genau dann nicht in einem Kalkül sinnlicher Interessen aufgehen, wenn der politische Akteur sich der Folgen seiner Bemühungen ungewiß sein muß oder sogar mit der Erfüllung seiner Zwecke zeitlebens nicht rechnet. Auch die geringste Vermittlung des Selbstinteresses über gemeinschaftstragende Institutionen setzt bereits politisch-sittliche Substanz frei, 573

Vgl. Gerhard, Volker: Der Thronverzicht der Philosophie, in: Kant - Zum Ewigen Frieden, hg. von Ottfried Höffe, Berlin 1995, S. 188 . 574 Vgl. Gerhardt, Volker: Politisches Handeln. Über einen Zugang zum Begriff der Politik, a.a.O., S. 298.

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die jenseits des Akteurs Bestand haben kann. Sie erfordert ein, wenn auch bisweilen nur geringes, Absehen des Handelnden von sich selbst. Dieses Absehen hat nicht den Charakter der Selbstaufgabe: Ethische Asymmetrien innerhalb der politischen Welt sind vom Subjekt dann zu bejahen, wenn es durch seine, die (vorläufige) Unverfügbarkeit der Asymmetrie anerkennende sittliche Handlung sich selbst einen Sinn stiftet, der von der bedingten sinnlichen Befriedigung aus den Folgen der Handlung unabhängig ist, mithin ein unbedingter Sinn ist. Dieser unbedingte Sinn in der sittlichen Handlung ist die Einheit, in die das auf das Andere seiner selbst sich entwerfende Subjekt sich mit der Außenwelt setzen kann: ein Freiheitszuwachs durch die freie Tat, eine Selbsterweiterung durch das synthetisierte Sinnliche, eine bewußte und selbstbestimmte Stellung in der Geschichte. Die vom Subjekt aus seinem Sinnverständnis gestaltete Geschichte wird zu einer sinnvoll das Subjekt gestaltenden Geschichte. Die im sittlichen Handeln anerkannte Lebenswelt soll im Projekt eines Glückswürdigkeit auf Glückseligkeit, bzw. Legalität auf Wohlfahrt hinfuhrenden höchsten politischen Gutes reformiert werden. Sie ist aber zuerst in ihrer Asymmetrie anzuerkennen, das heißt, das Subjekt muß freiwillig vom Gegebenen zugunsten eines sich erst in ungesicherter Zukunft erfüllenden Projektes absehen. Die Transzendierung ist bei Kant als Selbstüberschreitung ohne Selbstverlust konzipiert. So wie das Subjekt über das religiöse forum internum publicum seine eigene Innenwelt erschließt, so wird im Engagement das forum externum publicum zur Welt des handelnden Subjekts, indem es deren Institutionen seinen Sinn verleiht. Wenn ein Subjekt in der Geschichte vernünftig handeln will, muß es versuchen, die Geschichte als verfestigtes vernünftiges Handeln, als Handeln der Vernunft zu deuten. Der historische Mensch begreift die Vernunft in den geschichtlichen Mächten nicht an und für sich selbst, sondern so, daß er historische Institutionen als vernünftig für etwas begreift, das er bereits als vernünftig anerkennt. Deswegen wird er die gesellschaftlichen Institutionen entweder als vernünftig anerkennen oder versuchen, sie zu verbessern.

2.4.4. Die Institutionen der Vernunft Auf der Grundlage der bisher gewonnenen Ergebnisse soll Kants Theorie des ethischen Gemeinwesens eingebettet werden in einen allgemeineren Zusammenhang sinnlich institutionalisierter Sittlichkeit, der die lebensweltlich-praktische Aufhebung von ethischer Asymmetrie vorstellt. Der Begriff der Kirchen und auch der anderen Religionsgemeinschaften läßt sich so differenzierter entfalten, als er bei Kant vorliegt:575

575

Vgl. abschließend zu diesen Überlegungen den Abschnitt „Staatskirchenrecht.

Durchführung

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Die gesellschaftlichen Korporationen fungieren als die phänomenalen Institutionen der praktischen Vernunft und gleichen sittliche Leistung und sinnliches Bedürfnis miteinander bestmöglich aus. Sie offerieren die Stabilisierung des sinnlichen Lebenserhaltes zum Preis der gemeinnützigen Tätigkeit. Sie heben die sittliche Zufälligkeit der Natur in ihren Grenzen zugunsten der sozialen Vermitteltheit von Sinnlichkeit auf. Um als freie gesellschaftliche Handlungssubjekte zu prosperieren, müssen sie publizitätsfahige Zwecke verfolgen und publizitätsfahige Mittel einsetzen. Tun sie dies, so inkorporieren sie in ihr Handeln mittelbar Aspekte des gesellschaftlichen Guten. Sie gestalten mithin die Natur nolens volens nach Freiheitsgesetzen um und stabilisieren so insbesondere dasjenige Subjekt, das von sich her bereits gemeinnützig tätig ist. Die verschiedenen gesellschaftlichen Korporationen werden soziologisch gemeinhin in drei Sektoren eingeteilt. Den ersten Sektor bilden die staatlichen Körperschaften, den zweiten wirtschaftliche Zweckvereinigungen, den dritten nicht-profitorientierte sozialnützige Verbände. Mittels des kantischen Begriffs des ethischen Gemeinwesens kann diese Differenzierung noumenal reflektiert werden. Die Körperschaften des ersten Sektors sind inhaltsgleich mit den Körperschaften des rechtlichen Gemeinwesens, ihre Sittlichkeit ist explizit, ihre Funktion in der sozialen Distribution ist ihr Worumwillen, ihr sittlicher Gehalt geht in ihrer rechtlichen Struktur auf. Die Vereinigungen des zweiten Sektors verteilen gesellschaftliche Güter nicht aufgrund sittlicher Maximen um, sondern aus wirtschaftlichen Interessen. Sie können geschichtsphilosophisch zwar in ihrer Funktion: zum Abbau von Naturzufälligkeit und zur sinnlichen Stabilisierung arbeitsteilig operierender Vernunftsubjekte beizutragen, regulativ als sittlichkeitsstützende Institutionen angesehen werden, sie sind es aber nicht für sich selbst. Die Verbände des dritten Sektors qualifizieren sich weder über ihre wirtschaftlich transformative Bedeutung, noch ihrer Rechtsfunktion nach sittlich, wenn sie auch um ihrer sozialerheblichen Äußerlichkeit willen in recht: ichen Formen organisiert sind. Ihre Bedeutsamkeit haben sie vielmehr in ihrer wissentlich und willentlich hervorgebrachten sittlichen Zwecktätigkeit. Diese Zwecke können von äußerst beschränkter phänomenaler Wirkbreite sein. Indem sie aber immer eine sittliche Absichtlichkeit vermitteln, die nicht ausschließlich selbstbezüglich verfaßt ist, kommt ihnen eine reflexive sittliche Qualität zu, die es vorerst erlaubt, sie als ethische Gemeinwesen einzustufen. Die soziale Bedeutung dieser eigentümlichen Gemeinwesen für die Umgestaltung von Wirklichkeit ist erheblich. Sie stehen vermittelnd zwischen Einzelnem und Staat und wandeln besondere Interessen und Bedürfnisse zu konkretisierter Allgemeinheit. Sie sind sozusagen der Markt fur die nicht preisfähigen, wohl aber werthaften Güter geistiger Subjekte. Nun ist allerdings fraglich, ob jede rechtsbegrifflich und soziologisch im dritten Sektor anzusiedelnde Korporation tatsächlich die Möglichkeit rechtlich vergesellschafteter Zwecktätigkeit in sittlicher Weise ergreift. Denn: Staatliche Organisationen sind rechtszwanghaft sittlich ausgerichtet. Wirtschaftliche Organisationen erfüllen

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aus Selbsterhaltungsinteresse ihre sozialen Funktionen. Wie aber bemißt sich in freien Organisationen die reflexive sittliche Qualität, die der Begriff des ethischen Gemeinwesens anzeigt und fordert? Als Nagelprobe für die sittliche Güte gesellschaftlicher Institutionen bietet sich deren ideologischer Umgang mit dem Phänomen der ethischen Asymmetrie an. Es ist wichtig, gesellschaftliche Institutionen in ihrer selbstgewählten Ideologie ernstzunehmen. Über die Ideologie, gemeinhin auch die 'Philosophie' einer Unternehmung oder Vereinigung genannt, artikuliert sich das Selbstverständnis derjenigen Individiuen, die die Institution um bestimmter Vorstellungen willen bilden und fortfuhren. Diese individuellen Selbstverständnisse bleiben aber nicht für sich, sondern bilden in der ideologischen Verdichtung einen übergeordneten Geist, der qualitativ verschieden ist von einer nur quantitativen Vereinigung. Der Geist einer Organisation ist deren Selbstverständnis, er rechtfertigt es, sie als Subjekt eigenen Willens gesellschaftlich anzuerkennen und rechtlich als juristische Person zu behandeln.576 Eine gute Ideologie zeigt sich in dem Willen von Institutionen, das handelnde Subjekt aus der von ihm mitgeschaffenen sittlichen Substanz zu befriedigen. Eine gute Ideologie will den institutionellen Abbau ethischer Asymmetrie, nicht die Erodierung der geschichtlichen Lebenswelt durch irreale Projekte. Insofern kann die sittliche Qualität einer frei zwecktätigen Organisation zurecht daran gemessen werden, inwiefern sie aus ihrem Selbstverständnis heraus bemüht ist, diesseitige Sittlichkeit zu produzieren, deren soziale Folge zugleich die ideelle und materielle Stabilisierung der Produzierenden sein kann. Die Qualität institutioneller Selbstverständnisse beweist sich weniger im formalen Bekenntnis als in der materialen Umsetzung. Die innere Organisation einer Institution ist mithin deren eigentliches Grundsatzprogramm. Deshalb ist Institutionenkritik wesentlich Institutionenkontrolle: die Rückverpflichtung der Institutionen durch die Gesellschaft, in ihrem Innern ihren externen Anspruch umzusetzen. Auch hier fungiert Öffentlichkeit als Prüfinstanz gebundener Rationalität. Die durch öffentliche Meinung eingeforderte Verschränkung von Moral und politischem Handeln hat insofern eine gewisse Berechtigung, als sie beispielsweise parteiendemokratische Institutionen auf interne Demokratie, ethisch-religiöse Gemeinschaften auf sittliche Konsequenz und Mitglieder ökologischer Interessengruppen auf umweltgerechtes Verhalten verpflichtet. Während in rechtlichen Kategorien zwischen Gesinnung und Verantwortung sauber getrennt werden muß, ist im gesellschaftspolitischen Wettbewerb der Moral und Politik verschränkende Begriff der Glaubwürdigkeit ein Werkzeug öffentlicher Sittlichkeit und ethisches Korrektiv des Institutionenhandelns. Die Kirchen, so sollte man meinen, müßten als ethische Gemeinwesen par excellence selbstverständlich in den dritten Sektor der freien sittlich-zwecktätigen 576

Vgl. Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf „Zum Ewigen Frieden". Eine Theorie der Politik, Darmstadt, 1996, S. 225.

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Organisationen eingeordnet werden. Dies ist aber nichts weniger als unumstritten. Die historische Reminiszens, daß in der Bundesrepublik die Kirchen öffentlichrechtlichen Rechtscharakter haben, und theologisch begründete Vorbehalte, die auf die übergesellschaftliche Ausrichtung der kirchlichen Arbeit abheben, werden als Gegenargumente gebraucht. Eine genuin rechtsphilosophische Bestimmung des Status der Kirchen mittels des Noumenon Religion erfordert eine nähere Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Religion. 577 Geschichtsphilosophisch und soziologisch allerdings sind keine überzeugenden Gründe zu sehen, die Kirchen nicht dem dritten Sektor zuzuschlagen wären, da sie in der Bestimmung aufgehen, Organisationen zu sein, die weder aus staatlichem Auftrag noch aus profitorientierten Interessen in sittlich-zweckhafter Weise intersubjektiv tätig sind. Sie unterliegen dann zurecht der gesellschaftlichen Kontrolle durch öffentliche Meinung und gemäß ihrer Selbstdarstellung der Verpflichtung auf ein ethisch glaubwürdiges Auftreten.

577

V g l . hierzu den Abschnitt

,£taatskirchenrecht"

3. Verhältnisbestimmungen Das formale Ziel dieser Arbeit, die systematische Verankerung eines normativen religionsphilosophischen Ansatzes in der kritischen Transzendentalphilosophie. ist erreicht. Der systematische Ort der Religionsphilosophie im System der praktischen Philosophie Kants ist bestimmt. Die Strukturkonvergenzen der Disziplinen der inneren und der äußeren Sittlichkeit sind offengelegt. Es wurde gezeigt, daß das Noumenon Religion dem religiösen Phänomen innerhalb der inneren sittlichen Willkürbestimmung einen originären und innerhalb der äußeren Sittlichkeit einen abgeleiteten Stand einräumt. Damit erweist sich der Begriff des Noumenon Religion als reichhaltiger als der der Vernunftreligion. Zwar ist im kantischen Konzept der Vernunftreligion die normativ-vernünftige Komponente des Noumenon Religion enthalten. Kritische Religionsphilosophie erschöpft sich in ihrer systematischen Funktion aber nicht in diesem Regulativ, sondern setzt es ins Verhältnis zu den Noumena von Moral, Recht, Politik und Geschichte. Zudem bezieht sich der so verstandene Begriff des Noumenon Religion kritisch auf religiöse Phänomene innerhalb dieser Bereiche. Dieser interne Bezug des Noumenon Religion auf seine phänomenalen Entsprechungen führt zu einer Weiterbestimmung des Noumenon Religion anhand dieser. Während die Vernunftreligion als Regulativ jenseits der religiösen Phänomene stehen bleibt, läßt sich mit einem anhand religiöser Phänomene fortbestimmten Noumenon Religion der noumenale Gehalt konkreter Religion erfassen. Dies ist nun anhand einiger Topoi zu verdeutlichen. Die Untersuchung kann sich dabei insbesondere auf solche Fragen und Ansätze beziehen, die bisher aus systematischen Gründen ausgeblendet wurden, nichtsdestoweniger aber zum Kreis der Probleme gehören, denen sich eine aktuelle Religionsphilosophie stellen muß.

3.1. Religionsphilosophie

und

Orientierung

Die Abschnitte dieses Kapitels widmen sich der Frage nach dem Verhältnis zwischen den in der Religionsphilosophie aufgedeckten Strukturen menschlicher Selbstvergewisserung und menschlichem Sich-Orientieren insgesamt. Es geht dabei nicht um eine quantitative Abgrenzung, die entweder das religiöse Denken

Verhältnisbestimmungen

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als Teilmenge menschlicher Orientierung oder umgekehrt menschliche Orientierung als Unterfall religiöser Praxis begreift. Sondern es geht um die Suche nach einer qualitativen Differenz, die religiöses Denken und Handeln kennzeichnend herausheben kann aus der unbestimmten Menge von Vollzügen, mit denen sich Menschen bewußt oder unbewußt in ihrer Lebenswelt orientieren. Zuerst ist der Eindruck abzuwehren, die Religionsphilosophie erhebe, indem sie sich normativ gibt, Anspruch, die im Zentrum religiöser Reflexion stehende Debatte um den Sinn des Lebens zu dominieren. Der normative Impuls der Religionsphilosophie geht vielmehr dahin, die Frage nach dem Lebenssinn freizuhalten von Konzepten, die den Individuen Recht und Möglichkeit, sich diese und dieser Frage zu stellen, nehmen wollen. Anschließend wird das Verhältnis von nicht-normativer und normativ-religiöser Sinnfindung geklärt, nicht zuletzt, um dem Vorwurf phänomenologischer Verengung zu begegnen. Es wird sich zeigen, daß die nicht unmittelbar normativen Momente in religiösen Vollzügen von Kants Religionsphilosophie keineswegs negiert werden, sondern lediglich in einer für die Religion essentiellen Weise deren sittlichem Zentrum zugeordnet sind. Was für das interne Verhältnis von religiöser Praxis gilt, findet sich auch im Externum der Religion wieder. Ihr Verhältnis zu anderen Kulturkräften kann begrifflich bestimmt werden in einer Weise, die weder die Religion auf den Begriff der Kultur, noch die weltliche Kultur auf das religiöse Bedürfnis zurückführt.

3.1.1. Lebenssinn und Lebenszeit Die Frage nach dem Sinn des Lebens im allgemeinen und nach dem Sinn des je eigenen Lebens im besonderen stellt sich jedem Subjekt. Die Frage ist für das Menschsein zentral und von der Philosophie ernstzunehmen. 578 Es hatte gezeigt werden können, daß das lebensweltliche Reflektieren, mit dem Subjekte auf die Irritation reagieren, die ihnen der transzendentale Konflikt des Menschseins bedeutet, zutreffend als das Noumenon von Religion angegeben werden kann. Ferner hatte gezeigt werden können, daß die Religionsphilosophie diejenige Disziplin ist, die erklärt, warum Menschen in einem transzendentalen Konflikt befangen sind und warum sie darauf mit religiöser Reflexion reagieren. Die Religionsphilosophie gibt ihnen aber nicht die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens vor. Vielmehr gibt sie ein normatives Kriterium an, mit dem falsche Antworten phänomenaler Religion abgewiesen werden können. Das Kriterium ist klar und eindeutig: der kategorische Imperativ. 579 Normative 578 Vgl. Tillich, Paul: Die Frage nach dem Lebenssinn, in: Die Frage nach dem Unbedingten, Gesammelte Werke V, Stuttgart, 1964, S. 22-24. 579 „Denn wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, daß es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne

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Verhältnisbestimmungen

Religionsphilosophie stellt mit seiner Hilfe fest, daß Antworten, die eine unmoralische oder widerrechtliche Lebensweise nach sich ziehen, falsch sind und eine das Selbst stabilisierende Orientierung im Dasein unmöglich machen. Sie stellt ferner heraus, daß eine konstitutiv-endgültige Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht gegeben werden kann. Das Noumenon Religion zeigt nur auf, daß regulative Sinnfindung möglich und für sittliche Lebensvollzüge stets erneut erforderlich ist. Die jeweiligen Spekulationen über den 'Endzweck der Schöpfung' und die je eigene Stelle in der Seinsgeschichte sind adäquater Ausdruck bewußter Selbstrealisation. Es kann und darf nicht Ziel einer normativen Religionsphilosophie sein, die Frage nach dem Sinn des Lebens zum Verschwinden zu bringen, weder durch „überfliegende Spekulation",580 noch durch „mystisches Zerschmelzen".581 Gegen die überfliegende Spekulation ist neben dem formalen Argument der Subreption und der darin liegenden Korrumption der Moralität auch inhaltlich zu argumentieren: Warum sollte menschliches Dasein vollständig erlöst werden? Warum müssen alle Widersprüche geeint, alle Dualismen getilgt, alle Differenzen aufgehoben werden? Warum ist nicht die Endlichkeit des Menschen, die die ihm aufgegebene Synthese phänomenal nie abschließen, nie schematisieren kann, zu akzeptieren? Ist nicht die persönliche Geschichte auch ohne allumfassendes Heil als sinnvoll zu bejahen? Ist zum Leben nur dann Ja zu sagen, wenn das Leiden, das Sterben, das Versagen letztlich doch herabgesetzt werden? Ist nicht vielmehr die Befristetheit menschlichen Daseins erst Bedingung der Möglichkeit verantworteten Selbstbezugs? Muß die Frage nicht eher anders gestellt werden? Wo läge denn der Sinn einer Aufgabe, die jenseits aller Irrungen und Wirrungen schon gelöst ist? Wo läge der Sinn einer befristeten Existenz, wenn sie nur Interludium zu einer unendlichen Geschichte der Erlöstheit wäre? Welche Bedeutung hätte der Tod dann noch für das Leben? Es ist eine in diesem Rahmen nicht ausführlich zu untersuchende, ungeklärte Frage, welche Einstellung Kant zum Thema 'Leben nach dem Tode' einnahm.582 Als Konsens in der Literatur und als ohne weiteres einsichtig dürfte gelten, daß

den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden, und ihn woran kennen solle. - Daß es aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme er zu hören glaubt, davon kann er sich wohl in einigen Fällen überzeugen, denn, wenn das, was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetzes zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch, und die ganze Natur überschreitend dünken: er muß sie doch für Täuschung halten." Der Streit der Fakultäten, A 103. In der Anm. zu A 103 führt Kant dies am Beispiel von Abrahams Sohnesopfer näher aus. Instruktiv dazu: Rosenau, Hartmut: Die Erzählung von Abrahams Opfer (Gen 22) und ihre Deutung bei Kant, Kierkegaard und Schelling, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 27/1985, insbs. S. 256. 580

Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 392. K.d.p.V. A 218/219. 582 Anzumerken ist, daß in Kants Religionsphilosophievorlesung-Pölitz die Trias Gott, Freiheit, Unsterblichkeit ersetzt ist durch „Gott, Freiheit des menschlichen Willens und eine moralische Welt1 als „Artikel des Glaubens". A A 28, 2.2, 1091. Hervorhebungen von mir. 581

Verhältnisbestimm ungen

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seine Ausführungen zum Postulat der Unsterblichkeit der Seele keinen Schluß auf ein postmortales Fortdauern der privaten Existenz erlauben.583 Dennoch finden sich bei Kant zuhauf Stellen, in denen er ein Fortbestehen des individuierten Subjekts über dessen Tod hinaus anzunehmen scheint oder zumindest konstatiert, daß das sittliche und das religiöse Denken hiermit stünde oder fiele.584 Deutlich ist, daß Kant zwar ein irgendwie körperliches Fortbestehen („Kalkerde") strikt ablehnt,585 gelegentlich aber zu meinen scheint, daß die spirituell-moralische Existenz als individuierte die „Kalkerde" überdauern könnte.586 Meines Erachtens sind hier bei Kant philosophisches Konstrukt und privater Glaube in unklarer Weise vermengt.587 Kant scheint hier die Unbedingtheit des praktischen Begriffs der Seele als unzeitlich-unräumlicher Zuschreibungsinstanz in transzendentalem Sinne unzulässig zu einer transzendenten Verwendung derselben als überzeitlichüberräumlich existenter Entität zu verwandeln. Damit wird die Offenheit der Sinnfrage, ein zentrales Ergebnis kantischer Philosophie, durch eine Konzeption einer unendlich persistierenden Existenz überflogen. Auf diese Weise entzieht Kant sich durch Verunendlichung des Lebens dem Problem, dem endlichen Leben die Möglichkeit unbedingten Sinns aufzuzeigen, ohne das Problem der Vermittlung von Unbedingtem und Bedingten wirklich zu lösen.588 Nein, die Frage nach dem Sinn des Lebens muß, um sinnvoll zu sein, offen bleiben. Und sie muß gestellt werden. Genauso fatal, wie die religiös-fundamentalistische Tendenz zur abschließenden Antwort ist die aus der gleichen Sehnsucht nach Endgültigkeit geborene mystische Tendenz, die Frage totzuschweigen, sie bloß nicht zu beantworten oder sie gar nicht erst zu stellen.589 Auch hier weht ein ungeschichtlicher und lebensfeindlicher Odem. So wie die überzeitliche Antwort auf den Sinn des Lebens Geschichtlichkeit nicht ernst nimmt, so entnimmt die Unzeitlichkeit der Mystik, die das Subjekt immer nur auf den gerade gelebten Moment verweisen will, der Geschichte ihr Subjekt.590 So wie im Konzept der überzeitlichen Erlöstheit ein Subjekt zeitlebens durch eine letztlich surreale Ge-

583

Vgl. hier S.46. Vgl. Rei Β 188. Nicht zufällig bejaht Patrick Shade die Frage: Does Kant's ethics imply reincarnation?, in: The Southern Journal of Philosophy, Memphis, 1995, Vol. 33, No. 3, p. 347360. 585 Rei Β 192,Anm. vgl. auch Der Streit der Fakultäten A 52/53. 586 Zum Vergleich eignet sich als Textgrundlage das Kapitel „Status animae post mortem" in der Metaphysik-Vorlesung Heinze (Teilstück Theologie-Heinze) AA 28, 2.1, 768-770. 587 Es wird aber auch die These vertreten, daß Kant seine wahre, ein Leben nach dem Tode rundweg verneinende Privatmeinung aus opportunen Gründen wissentlich und willentlich durch Unklarheit im Ausdruck verhüllt habe. Vgl. Picht, Georg: Kants Religionsphilosophie, Stuttgart 1985, S. 596. 588 Daß selbst die Verunendlichung des Lebens das Problem der Vermittlung von Unbedingtem und Bedingten nicht zu lösen vermag, vertritt mit guten Gründen Michael Albrecht, a.a.O., S. 125. 589 Vgl. Wimmer, Rainer: Kants kritische Religionsphilosophie, a.a.O., S. 4/5. 590 Vgl. Der Streit der Fakultäten, A 64. 584

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schichte schwebt, so schweben nach Maßgabe der Mystik surreale Subjekte durch die Geschichte. 591 Die normative Religionsphilosophie hält dagegen an der Geschichtlichkeit des menschlichen Seins fest. So wie die Geschichtsphilosophie Kants die äußere Zeit und Welt zum Thema hat und in ihrer Eigenständigkeit akzeptiert, so richtet sich die Religionsphilosophie an der inneren Geschichte des Subjekts aus. Dadurch daß im Handeln äußere Geschichte zum Teil der inneren Geschichte wird und Momente der inneren Geschichte sich in die äußere Geschichte einspeisen, beeinflussen sich beide Sphären wechselseitig. Die Frage nach dem Sinn der inneren Geschichte des Selbst muß vor dem Hintergrund der äußeren Geschichte und ihrer wechselseitigen Beziehung beantwortet werden. Das heißt nicht, daß die historischen Antworten auf die Sinnfrage nur von historischem Wert sind. Es heißt lediglich, daß sie notwendigerweise Bezug auf die geschichtliche Bedingtheit des Subjekts nehmen müssen. Und nur den in unbedingten Prinzipien gründenden Antworten gelingt es, diesen Bezug zu wahren und zugleich die Bedingtheit zu überformen. Wenn auch eine konstitutiv-transzendente Antwort von der kritischen Religionsphilosophie zurückgewiesen wird, so heißt dies doch in keinem Fall, daß sich das sittliche Subjekt seiner unbedingten Orientierung begeben und an die vagierende Endlichkeit ausliefern solle. Im Gegenteil: das Subjekt soll sich zu einem noumenalen Selbst ordnen, das sich zwar an, aber nicht durch Endlichkeit bestimmt. Diese Selbst-Ordnung inmitten unendlicher Möglichkeiten des SichBestimmens kann das Subjekt nicht der Erfahrung entnehmen. Denn das Subjekt muß, um sichj zu verstehen, das Noumenale seiner selbst erfassen, und in ein Verhältnis zu anderen Noumena setzen. Dies gelingt ihm ineiner imaginierten Welt, in der Sinnliches ihm Noumenales bedeutet, d.h. inhaltlich gibt das Noumenon Religion weder Bedeutetes noch Bedeutendes vor. Diese Neutralität findet ihre Schranke aber negativ am kategorischen Imperativ, der jedes noumenale Seiende als Selbstzweck anzuerkennen gebietet, das sich seinerseits Sinn gibt, bzw. geben kann. Und die positive Grenze der Beliebigkeit liegt im Bedürfnis des Subjekts, in seinem privaten Sinnentwurf ein Allgemeines zur Geltung zu bringen, das jenseits der eigenen Person Gültigkeit hat. Die praktische Vernunft gibt dazu das normative Regulativ vor, das die Möglichkeitsbedingung freiheitlich zusammenstimmender Sinnfindung von Subjekten ausspricht. Religionsphilosophisches Regulativ und religiöse Sinndeutung der Subjekte sind deshalb nicht gleichzusetzen. Das Regulativ ist die allgemeine Ermöglichungsbedingung der stets neuen besonderen Sinnfindung. Die individuelle Sinnfindung nimmt Situativität und Erfahrung, mithin die Geschichte der sinnsetzenden Subjekte auf und ist immer ein Ergebnis von Auseinandersetzung mit der

591

Vernunftgeleitete Menschen sollen ihren Weg deshalb „zwischen dem seelenlosen Orthodoxism und dem vernunftötenden Mystizism" suchen. Der Streit der Fakultäten, A 93/94.

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Umwelt und anderen Subjekten. Eine gelungene Sinnformulierung ist daher subjektiv-allgemein. Sie sucht zu einer besonderen Lebenssituation ein orientierendes Allgemeines, das im Idealfall subjektiv Sinnlichkeit und Sittlichkeit, sowie objektiv menschliche Endlichkeit und Unbedingtheit vermittelt. Die religiöse Vernunft gewinnt damit ein die ursprüngliche Fragesituation überschreitendes Prinzip, das für mehr als nur diese Lebenssituation und für mehr als nur dieses Subjekt regulative Bedeutung erlangen kann: sie gelangt, intersubjektiv vermittelt, zum konkret-Allgemeinen. 592 Klassisch war die Religionsgemeinschaft der Ort, an dem Subjekte ihre Sinnvorstellungen kommunizierten und zur Übereinstimmung brachten. Heute lösen sich zwar hergebrachte institutionalisierte Religionsgemeinschaften auf, die Kommunikation über Sinnhorizonte aber expandiert. In Zukunft wird von verschiedenen Kräften um die angemessene Sinngebung und ethische Orientierung gerungen werden. In diesem Wettbewerb haben sich Kirchen, Sekten und ähnliche Bewegungen zu bewähren. Wenn sich auch das phänomenale Antlitz der klassischen Religionen verändern wird, mit einem Verschwinden der Religion selbst ist nicht zu rechnen. 593 Aus der historischen Distanz zeigt sich deutlich, daß es nicht das Phänomen der Religionen ist, bzw. ihre kontingente Gestalt, woran die Subjekte hängen. Sie wollen den noumenalen Gehalt religiöser Orientierung in sich realisieren. Und dies ist nicht etwa nur frommen Menschen ein Anliegen, sondern allen Menschen, die als Menschen immer schon in einen transzendentalen Konflikt hineingeboren sind, als dessen Urheber sie nicht zeichnen, dessen schrittweiser Überwindung sie aber in und mit ihrem Leben entgegenarbeiten. Normative Religionsphilosophie ermutigt, die Frage nach dem Sinn offen, laut und deutlich zu stellen und das auch außerhalb jeder institutionell-religiösen Anbindung oder philosophischen Schule. Normative Religionsphilosophie bejaht ausdrücklich das freie reflektierende Bemühen um die eigene Lebenswelt. Normative Religionsphilosophie stellt klar, daß der alte Gemeinplatz: Religion sei Philosophie für die geistig Armen, unrichtig ist. 594 Die Philosophie, die die Frage

592

„So wird Einheit in Vielheit denkbar, das Allgemeine im Besonderen auffindbar als eine besondere Form geordneten Ineinanders, die dem Denken zugänglich (intensionale Bestimmtheit), aber nicht bereichshaft umsetzbar ist (extensionale Offenheit)." Schrödter, Hermann: Religion Menschenrechte - Weltethos. Ein philosophischer Versuch über den Weg zur 'einen Welt'. a.a.O. S. 300/301. 593 Vgl. Gabriel, Kurt: Gesellschaft im Umbruch - Wandel des Religiösen, a.a.O. S. 47. 594 Der in diesem Satz zugespitzte Intellektualismus, wie er sich beispielsweise in der Religionsphilosophie Spinozas findet, ist zwar weitgehend phänomengerecht, da zur Religion typischerweise eine - im Unterschied zur Philosophie begrifflich unausgewiesene - Lehre vom gelingenden Leben gehört. Jedoch muß es nicht Aufgabe der Religionsphilosophie sein, das religiöse Bewußtsein in seiner Schwäche - dem Modus des inadäquaten Erkennens - zu kritisieren, sondern es in seiner Stärke aufzunehmen. Diese Stärke liegt in der von der kognitiven Seite der Religion unabhängigen sittlichen Qualität und synthetischen Kraft religiöser Topoi, die sich im Wollen und Handeln religiöser Menschen umsetzt.

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nach dem Sinn konkret weder stellt noch beantwortet, verweist auf die Religion als den Ort, wo durch teleologisches Denken die Besinnung der Welt kommunikativ erarbeitet wird. Und sie weist diesem Phänomen das Noumenon Religion an, dem die religiöse Antwort genügen muß. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gewinnt ihre lebensweltliche Überzeugungskraft aus der Orientierung, die sie dem Leben mitgibt, um dessentwillen die Frage gestellt wird. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn muß also weniger abstrakt gegeben, als konkret gelebt werden. Es antwortet so nicht der Philosoph auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, sondern das Leben selbst. Das gelebte Leben kann entweder äußeres Zeichen einer inneren Besinnung sein und mithin Symbol der sittlichen Noumenalität des Selbst oder auch das sinnliche Zerr- und Spiegelbild einer inneren Leere.595

3.1.2. Nicht-normative Sinnfindung Nun ließe sich gegen das Konzept einer normativ orientierten Sinngebung menschlichen Daseins geltend machen, daß sich das Besinnen des Lebens keineswegs in sittlicher Rationalität erschöpfe, sondern ebenso kognitive und emotive Qualität habe. Dem wird von der hier konzipierten Religionsphilosophie auch nicht widersprochen.596 Unbestritten ist, daß ein als sinnvoll empfundenes Leben ein solches ist, das sich seiner Sinnhaftigkeit gerade auch in nichtnormativen Akten versichert. Dies hat seinen Grund im Begriff des transzendentalen Konfliktes, der auf der Grundlage seiner geltungstheoretischen Fundierung zulässig ausgeweitet werden kann. Von der Sache der Differenzerfahrung her ist der Mensch selbstverständlich nicht nur in sittlichen Belangen in eine Situation gestellt, in der ihm das Stiften einer Einheit zwischen Phänomenalität und Noumenalität ein Anliegen ist, dessen abschließende Einlösung er nicht bewirken kann und deren stets neue Möglichkeit er nicht sich verdankt. Der transzendentale Konflikt, synthetisch a priori auf Fremdes eingehen zu müssen, um als Subjekt ein Selbst zu sein, stellt sich menschlicher Subjektivität überhaupt. Sowohl im theoretischen Erkennen, als auch in ästhetischen Erlebnissen wird vom 595

Die mystische Position Wimmers überspringt diesen Befund allzuleicht, indem sie auch dem offensichtlich sinnfernen und vom Individuum selbst als sinnlos empfundenen Leben eilfertig doch noch einen ungeschuldeten Sinn zuweist. Da wird aus dem noumenalen Argument einer vorgängigen coincidentia oppositorum (Cusanus) vorschnell ein Aufgehobensein des Leidens postuliert, das im gelebten Leben der Menschen erfahrungsgemäß nicht statt hat. Wimmer, Rainer: Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin / N e w York, 1990, Einleitung und S. 210 ff. 596

Walter Jaeschke irrt, wenn er über Kants Religionsphilosophie schreibt: „Das strikt moralische Verständnis von Religion schließt andere Deutungen aus." in: ders.: Artikel 'Religion', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band IIX, Basel 1992, S. 675. Das normative Religionsverständnis schließt vielmehr andere Zugänge ein und unter einem übergeordneten Begriff zusammen. Vgl. dazu näher den Abschnitt „Die Wissenschaften von der Religion".

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Menschen eine Einheit angestrebt, die sich ihm immer wieder entzieht und die seiner steten Anstrengung bedarf. Das Gelingen der Einheit, das beispielsweise im in sich stimmigen Erkennen der Welt oder im Erleben des Schönen liegt, verdankt sich einer Leistung des Subjekts und ist eine Einheit, die nur im Wandel Dauer hat. Die Befriedigung, die das Subjekt im Beisichsein im Anderen seiner selbst erfahrt, ist eine flüchtige, aber dennoch eine solche, die ihn - wenn auch nicht reflexiv - über seine Noumenalität belehrt, bzw. die ihn „seine unbedingte Anlage empfinden" läßt. 597 Es ist schmerzlich, diese Einheit wieder zu verlieren, und angenehm, sie auf höherem Niveau wiederzugewinnen. Es ist darum nur natürlich, daß ein Subjekt, das den inneren Zwiespalt von Zugehörigkeit und Abgelöstheit in allen seinen Weltbezügen erfährt, sich als ein Subjekt erlebt, dem der Sinn seines Lebens zuwächst oder entfallt, je nachdem ob ihm in allen diesen Bereichen die Synthesis gelingt oder nicht. So wie, angestoßen durch die praktische Vernunft, ein Sinn handelnd gesetzt wird, so wird vermittels der Urteilskraft Sinn erlebt, vermittels der theoretischen Vernunft Sinn gedacht. Im Schauen des Schönen, im Erlebnis zweckhaft geordneter Natur, im Bedenken des Universums liegt ebenso ein Besinnungserlebnis wie in der sittlichen Selbstkonstitution. Der menschliche Geist speist sich in seinem Sinnvertrauen aus diesen Erlebnissen, die dem Subjekt die Begegnung seines Geistes mit dem Geist in der Welt vermitteln. Diese Erlebnisse sollen und können nicht durch sittliche Sinnreflexion ersetzt werden. Sie sind integraler Bestandteil einer insgesamt zu sich kommenden menschlichen Vernunft, die nur dann in diesen Vollzügen zu sich kommt, wenn diese nicht von vorneherein zu außerhalb ihrer selbst liegenden Zwecken instrumentalisiert werden. Die menschliche Lebensorientierung umfaßt mehr und anderes als das sittlich-konzentrierte Noumenon Religion. So kann phänomenale Religion als kulturelle Kraft auch die Weisen der kognitiven und emotiven Selbstvergewisserung bedienen und prägen. Allerdings sind diese besonderen Weisen dann nicht Ausdruck des Noumenon der Religion, sondern kommen ihr als einem sozial und kulturell eingebetteten Symbolsystem zu. Die Abgrenzung muß deutlich sein: Weder gefuhlsbekundende Sätze, noch ästhetisches Erleben, noch teleologisches Deuten von Lebenswelt an sich schafft Religion. Zwar geht in den phänomenalen Vollzug von Religion Gefühl, Wahrnehmung, Anschauung u.s.w. ein. Diese Weisen subjektiven Selbstbezuges bestehen aber zurecht auch neben und außerhalb von Religion. Ein sinnliches Zeichen kann ein Symbol sein, wenn es dauerhaft und anerkannt ideelle Gehalte, zum Beispiel kognitive, sittliche, ästhetische oder reflektierende Ideen, repräsentiert. Zum religiösen Symbol wird es, wie wir sahen, erst wenn es regulativ wirkt im Umgang des sittlichen Subjekts mit ethischer Asymmetrie. Durch die sittliche Ausrichtung, durch die das Symbol zum religiösen Symbol erhoben wird, fallen etwaige kognitive oder ästhetische Gehalte des Symbols nicht 597

Vgl. K.d.p.V. A 285, ähnlich: Rei Β 115.

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etwa weg, werden aber dem sittlichen Gehalt zu- und untergeordnet. Neben seiner sittlichen Botschaft ist das religiöse Symbol als sinnliches Zeichen immer noch ein Gegenstand, der theoretische oder ästhetische Ideen verkörpern kann. Es muß darum nicht verwundern, wenn religiöse Symbole gleich weltlichen Symbolen auch rezeptiv nicht nur normativ aufgenommen werden, sondern ebenfalls kognitiv oder emotional. Aus der emotionalen Aufnahme auch der sittlichüberschüssigen (darum aber nicht notwendig unsittlichen) Momente religiöser Symbole erklärt sich, daß nicht alle religionsbezogenen Gefühle phänomenal religiöser Menschen dem noumenal erkannten „religiösen Gefühl" gleichen, bzw. sofort der Kritik unterfallen.598 So überschießt der in einem konkreten Symbol liegende Gehalt an potentieller Information stets die jeweils aus sittlichen Gründen zu aktualisierende genuin religiöse Interpretation. Und aufgrund dessen werden Menschen im religiösen Symbol mehr als nur sittliche Information verborgen sehen. Die nicht-sittlichen Momente des Symbols gehören zur phänomenalen Wirklichkeit des religiösen Symbols als Symbol, nicht aber, wie das religiöse Bewußtsein meint, zur religiösen Wahrheit selbst. So ist zusammenzufassen: Die Wahrheit religiöser Rede ist nicht die für sich stehenbleibende Bekundung irgendeines überirdischen Gefühls. Nicht das Gefühlsleben des Menschen ist Quelle und Ausweis seiner Religiosität, sondern seine Religiosität verhilft ihm zu einem Gefühl, das ihn im Erfassen seiner praktischen Unbedingtheit über seine Bedingtheit erhebt. Diese praktische Unbedingtheit greift über das einzelne Subjekt in seinem Fühlen hinaus; sie erfüllt sich nicht im Fühlen, sondern wird gefühlt nur, insofern sie sich bereits synthetisch erfüllt hat. Der Geltungssinn religiöser Sätze geht daher nicht in der rückwärtsgewandten Erklärung aus privat-subjektiver oder aus gattungsspezifischer Bedingtheit auf. Der Sinn religiöser Rede ist wesentlich vorwärtsgewandt und auf eine Transformation der Wirklichkeit gerichtet, die mehr und anderes im Sinn hat als psychisches Wohlergehen. Der Sinn religiöser Rede wird nur erkannt, indem man sich auf den inhaltlichen Anspruch dieser Rede, die Wahrheit der Wirklichkeit zu enthalten, einläßt. Der Anspruch religiöser Rede, die Wahrheit der Wirklichkeit zu offenbaren, ähnelt auch nicht demjenigen theoretischer Aussagen, sei es in empirisch-behauptender oder in hypothetisch-fiktionaler Form. Kognitive Weltorientierung mag Teil religiösen Selbstverständnisses sein, Essenz oder Surrogat der Religion ist sie nicht. Religiöse Sätze gehen inhaltlich nicht auf Weltbeschreibung aus und haben epistemisch auch nicht den Status von Theorien

598

Es ist wichtig zu unterscheiden zwischen der Abgrenzung im religiösen Gefühl selbst, die das gesunde vom kranken religiösen Empfinden abhebt, (vgl. dazu den Abschnitt „Das religiöse Gefühl*') und den unterschiedlichen Gefühlen, die in phänomenal-religiösen Vollzügen auftreten und, wie hier gezeigt wurde, auf Momente zurückgehen, die nicht rein-religiöser Natur sind. Diese Unterscheidung wird erleichtert dadurch, daß nur 'das' religiöse Gefühl sinnvoll in einen Zusammenhang mit einem Sollen gebracht werden kann.

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oder Hypothesen.599 Die Welt als Schöpfung eines Gottes zu betrachten, heißt nicht, gegen den Urknall zu streiten, sondern gegen eine die Sinnlosigkeit des Daseins vertretende Lebenshaltung. Das Wirken Gottes in der Welt zu erhoffen, heißt nicht, gegen die Naturgesetze zu sein, sondern trotz und angesichts menschlicher Endlichkeit auf den Sinn sittlichen Lebens zu vertrauen. Die Wahrheit religiöser Rede liegt ferner nicht darin, die Komplexität der erfahrbaren Welt auf erträgliche Maße zu reduzieren und religiöse Menschen intellektuell zu entlasten. Wenn auch religiöses Denken notwendig auf eine Ideologie der Welt zurückgreift, in der diese idealtypisch aufbereitet ist, so liegt doch nicht in dieser Zuhandenheit der Welt der Sinn der Religion. Kurz: Der Kern der Religion liegt nicht in der konstruktiven Interpretation der Welt, sondern in dem Moment, wozu die Welt durch religiöse Rede interpretiert wird. Das äußere Fungieren der Religion ergibt nicht die innere Funktion der Religion, sondern ist das, mit dem sie diese Funktion erfüllt, und es kann deshalb unabhängig von dieser Funktion nicht als spezifisch religiös verstanden werden. Der sittliche Ernst der Religion im Umgang mit absoluter Kontingenz erst ist es, der ihre Vollzüge normativunbedingt ausrichtet und als religiös bestimmt. Die Wahrheit der Religion liegt in der Funktion, die menschlichen Selbst- und Weltbezüge mit sinnstiftendem Geist zu versehen, und damit im Geist des Menschen, der religiös ist. Maßgebend für die vorliegende Untersuchung war nun weder die Hinsicht, eine Phänomenologie religiösen Erlebens zu geben, noch das Wesen menschlicher Selbstorientierung insgesamt aufzuhellen. Sondern maßgebend war die Absicht, im Rahmen des kantischen Systems religiös-transzendente Sinnsuche zu rechtfertigen und normativ auszurichten. Die geltungstheoretischen Bedingungen dafür, daß so etwas wie eine normativ auftretende, das Transzendente miteinbeziehende Sinnsuche in der sozialen Welt statthaben dürfe, sollten ermittelt werden. So konnte darauf verzichtet werden, die einzelnen Momente dieser Suche näher zu beschreiben. Die weitergehende empirische Analyse des Was und Wie religiöser Vollzüge ist Gegenstand der Religionspsychologie und der Religionssoziologie, nicht der Religionsphilosophie. Hier sollte lediglich der praktische Geltungsanspruch von Religion gerechtfertigt werden. Nur so kann menschlicher Sinnsuche im Ganzen eine (gerade auch \emunftrechtliche) Begründung zuwachsen, die das Phänomen religiöser Betätigung auch dann rechtfertigt, wenn die Existenz des von ihr in Anspruch genommenen Transzendenten theoretisch nicht erwiesen werden kann. In diesem Zusammenhang konnte diese Arbeit 599

„Religiöse Orientierungen sind keine Postulate oder Fiktionen. Religiöse Rede hat nicht den Status fiktionaler Rede. Religionsphilosophien des Als-ob sind abzuweisen." [...] „Kants religionsphilosophische Rede von 'Postulaten' scheint mir hier irreführend zu sein: Die wesentlichen, für religiöse Einstellungen konstitutiven Züge der menschlichen Situation - z.B. die Endlichkeit und die Angewiesenheit auf Sinn - bedürfen ersichtlich keiner Postulierung." Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S. 245.

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zeigen, daß trotz der wissenschaftlichen Uneinholbarkeit des Transzendenten eine stete kommunikative Erarbeitung des Lebenssinns theoretisch möglich und praktisch notwendig ist.

3.1.3. Kultur und Religion Im Rahmen einer Theorie, die die Religion nach ihrer inneren und äußeren Funktion für sittliche Vollzüge analysierte und bereits absetzte von anderen Formen innerer Selbstbezüglichkeit, bleibt die Frage nach dem äußeren Verhältnis von Religion und Kultur zu klären. Wenn von der Religion gesagt wird, daß sie als innerer Vollzug vermittelnde Reflexionsform von Unbedingtem und Bedingtem und als äußerer Vollzug im ethischen Gemeinwesen Instanz der sinnlich-sittlichen Symbolgenese ist, so muß gefragt werden, wie sie sich von einem Begriff von Kultur abgrenzt, der diese im weitesten Sinne ebenfalls als Vermittlungsform von Allgemeinem und Besonderem mittels symbolischer Formen auffaßt. Zwar hat Kant keine eigenständige Kulturtheorie verfaßt, sondern Kultur eher funktional, zum Beispiel geschichtsphilosophisch-deutend, zum Projekt sittlichen Handelns betrachtet.600 Dennoch ist im Rahmen der kritischen Philosophie durchaus so etwas wie eine Philosophie der Kultur als System der symbolischen Formen sinnvoll zu geben. Deshalb ist in diesem Abschnitt zu sondern zwischen der Bestimmung, die Kant dem Kulturbegriff gab, und derjenigen, die im Ausgang vom kritischen System kulturellen Formen insgesamt zu geben ist. Kant faßte Kultur wesentlich vom Individuum her als Prozeß der Kultivierung. Die Kultivierung erstrebt eine für die moralische Pflichtausübung funktionale Zivilisierung des einzelnen Menschen. Dieser steht als endliches Wesen unter sinnlichen Bedingungen, die in den Vollzug der reinen Sittlichkeit eingehen. Er kann, freigestellt durch seine Noumenalität, seine Naturbindung durchbrechen, und er kann, positiv gewendet, diese Freistellung durch planendes und zweckorientiertes Handeln gestalten.601 Die Art und Weise, wie der Mensch dabei mit den naturalen Bedingungen seines Handelns umgeht, ohne sie aufheben zu können, zeigt den Grad seiner eigenen Kultivierung und mithin seiner lebensweltlichen Freiheit und Macht an. Eine Kultivierung der eigenen Willkürmacht ist mithin Bedingung gelingender sittlicher Verantwortung. Die äußere Kultur, die sich in den Formen und Traditionen der Subjektsumwelt ablegt, ist bei Kant nicht 600

Kants wesentliche kulturphilosophischen Bemerkungen finden sich in den Reflexionen zur Anthropologie (AA Bd. 15), den Aufsätzen Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbiirgerlicher Absicht 1784, und Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte 1786, sowie im Anhang zum zweiten Teil der K.d.U. und in der Einleitung zur Tugendlehre der M.d.S. 601 Vgl. Bartuschat, Wolfgang: Kultur als Verbindung von Natur und Sittlichkeit, in: Brackert / Wefelinger (Hg.): Naturplan und Verfallskritik, Frankfurt 1984, S. 69-93, S. 77.

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als eigenständige reflektiert, sondern als Rahmenbedingung der je subjektiven Kultivierung. Die Unvollkommenheit des Einzelnen nötigt ihn, auf das tradierte Wissen und Können der anderen zurückzugreifen. Die Tradition ist regional verschieden und vermittelt sich in immer anderer Weise an den Einzelnen. Das je individuelle Aufbauen auf ungleichen ungestifteten Voraussetzungen, ist im Sinne Kants in allererster Linie zu betrachten als entweder günstige oder ungünstige Umwelt zur privaten Kultivierung, respektive Moralisierung. Eine hohe gesellschaftliche Kultur im Umgang von Mensch zu Mensch und von Mensch zu Natur schafft günstigere Bedingungen fur subjektive sittliche Selbstgestaltung als eine rohe Kultur. Die geschichtsphilosophische Betrachtung der sich steigernden Gattungskultur steht bei Kant unter dem Hinblick auf die normativ gebotene Steigerung der privaten Kultiviertheit.602 Auch die verschiedenen historischen Religionen werden so von Kant nicht auf ihre phänomenale Eigenständigkeit hin angesehen, sondern auf den ihnen noumenal zugewiesenen Fluchtpunkt 'Vernunftreligion' bezogen. Die Geschichte der äußeren Kultur fungiert allgemein als Anfangsbedingung der Kultivationsgeschichte des Selbst, die - in geringerem Maße als jene auf diese - auf die äußere Kultur zurückwirken wird.603 Die Lesart, die ein Subjekt der äußeren Kultur beilegen soll, ist diejenige, die es ihm ermöglicht, die sinnliche Besonderheit seiner Situation angemessen auf seine sittliche Allgemeinheit zu beziehen. Insofern kommt Kultur als Konglomerat der Kulturen, als Pluralität der Formen und als an sich selbst zu betrachtende Größe bei Kant nicht in den Blick. Er schreibt der Kultur in ihrer Gesamtheit den sittlichen Zweck vor und reflektiert - geschichtsphilosophisch - darauf, wie diese jenem näher kommen kann. Er macht aber nicht einzelne kulturelle Formen an sich zum Thema seiner Analyse. Hier setzt nachkantische Kulturphilosophie an.604 Sie versucht nicht, die einzelne kulturelle Erscheinung im Hinblick auf eine fertige Anthropologie zu erklären, sondern umgekehrt aus den bestehenden Kulturen in ihrer Funktionalität den Begriff des sich in solchen Kulturen realisierenden Menschen fortzubestimmen. Sie macht aufmerksam darauf, daß kulturelle Formen durch Gemeinsamkeiten nicht-zufälliger Art gekennzeichnet sind. Die Gemeinsamkeiten liegen in der selbstreferentiellen Symbolkommunikation kultureller Systeme und in der Reduzierung der Komplexität sinnlichen Daseins auf akzeptierte Konzepte der Wahrnehmung und Aktion.605 Kulturen vermitteln, vereinfacht gesagt, das 602

Vgl. R. 1456, AA 1 5 , 6 3 8 . Vgl. Bartuschat, Wolfgang: Kultur als Verbindung von Natur und Sittlichkeit, a.a.O., S. 85. 604 Sie hat ihre bedeutendste Ausprägung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923) gewonnen, zu der insbesondere Cassirers späte Schrift Versuch über den Menschen den Zugang eröffnet. Vgl. zur Religion als symbolischer Form ebd.: Frankfurt 1990, S. 116-171. 605 Den meines Erachtens nach wie vor umfassendsten Versuch der funktionssoziologischen Annäherung an das Phänomen der Religion legt Niklas Luhmann vor in: Funktion der Religion, Vierte Auflage, Frankfurt 1996. 603

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Allgemeine und das Besondere des menschlichen Lebens auf regionale Weise.606 Der Mensch kann ausgehend von dieser Analyse als jemand bestimmt werden, der sich selbst nur auf dem Weg über symbolische Formen erreicht und mithin aus seiner biologischen Natur allein nicht zureichend zu bestimmen ist. Die Kultur in ihrer reflektierten Rolle als zweite Natur des Menschen erweitert den anthropologischen Zugang. Jede kulturelle Form, nicht nur die religiöse, indiziert also, daß der Mensch nicht in seinem biologischen Korsett aufgeht. Es läßt sich deshalb fragen, was denn die Religion als äußere Kulturform von anderen kulturellen Systemen unterscheidet oder ob nicht Religion letztlich in den genannten Funktionen aufgeht und durch den Begriff der Lebenskultur zu ersetzen ist. Bisher hatten wir festgestellt, daß innerliche Religion einen Vollzug kennzeichnet, der mittels Symbolen zu einer Selbst- und Weltdeutung gelangt, die subjektives Handeln leitet und vereinheitlicht. Dementsprechend war äußere Religion gekennzeichnet worden als Symbolsystem, das eben diese Orientierungsleistung ermöglichen soll und daran lebensweltlich und normativ gemessen wird. Insofern ist Religion Kultur im oben beschriebenen Sinne, denn sie steht als Vermittlungsform zwischen der je besonderen sinnlichen Situation einzelner Subjekte und der sie übergreifenden Allgemeinheit als eine Instanz, durch die das Sinnliche geordnet und das Sittliche konkretisiert wird. Ginge sie in dieser Funktion auf, so wäre sie prinzipiell ersetzbar durch jede andere Kulturfunktion. Diese These scheint Plausibilität zu gewinnen, wenn man den vormals einheitlichen Kosmos sakraler Kultur zuzeiten etwa der Hochscholastik betrachtet und die nachfolgende, säkulare Ausdifferenzierung und Verselbständigung der darin enthaltenen Kulturformen. Will man in der Religion allerdings kein Phänomen erblicken, dessen Telos es ist, sich sukzessive durch Auslagerung überflüssig zu machen, so ist eine Konzentration auf dasjenige geboten, was die Religion und mithin die religiöse Kultur im Innersten zusammenhält, also auf das, was Religion von anderen Kulturformen schlechthin unterscheidet. Der Versuch der Bestimmung dieser differentia specifica ist unzählige Male unternommen worden und hat trotz allgemein akzeptierter Topoi dennoch keinen Abschluß gefunden. 607 Anerkannt ist, daß Religion Transzendenz wahrt,

606

„Betrachtet man diese Zusammenhänge in angemessenen differenzierter Form, stellen sich 'Kulturen ' als die realen Vermittlungsformen von 'Menschheit' und 'diesem Menschen' dar, insofern sie die Verschränkung von Allgemeinheit und Einzelheit darstellen, in der jeder in seiner Einzelheit die Allgemeinheit konkretisiert. Die globale Konstellation bringt dies im Unterschied zu früher in besonders offenkundiger Weise zum Vorschein." Schrödter, Hermann: Religion Menschenrechte - Weltethos. Ein philosophischer Versuch über den Weg zur 'einen Welt', in: Höhn, Hans-Joachim: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 293. 607

Vgl. im Hinblick auf den Neukantianismus: Historisches IIX, Artikel 'Religionsphilosophie', Basel 1992, S. 754/755.

Wörterbuch

der Philosophie,

Band

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Unverfügbarkeit deutet, Kontingenz reguliert, Spiritualität substantialisiert.608 Offen ist, warum gerade Religion dies tut und warum die Weise, wie sie dies tut, sich offensichtlich gegenüber anderen Kulturformen, die ebenfalls mit deutenden Symbolsystemen operieren, durchhält. Man könnte diese Beständigkeit der religiös-kulturellen Besonderung schlicht der in der Religion ausgesprochenen Transzendenz zuschreiben und dann auf eine phänomenale Anlage des Menschen für Transzendentes schließen.609 Dann aber höbe man jedwede transzendente Spekulation auf den geschützten Rang der Religion. Erfolgversprechender scheint es, vom Noumenon der Religion auszugehen. Es ist ja gar nicht so, daß religiöse Kultur phänomenal neben anderer Kultur existiert. Eigentlich läßt sich Religion nicht neben, sondern nur in besonderen kulturellen Formen finden. Es ist ja nicht ein bestimmtes Phänomen, das eine kulturelle Form zu einer religiösen Form macht, als gäbe es eine separate Klasse religiöser Kulturphänomene. Sondern es ist das Noumenon Religion, mittels dessen Menschen gewisse kulturelle Formen als religiöse verstehen und praktizieren. Nicht ein phänomenales Aufscheinen von Transzendenz wohnt sakralen Gesängen und Bildern inne, sondern die innere Transzendentalität leitet Menschen an, kulturelle Zeichen zu religiösen Symbolen zu gebrauchen. Nicht bestimmte Zeichen sind eo ipso religiös klassifiziert, sondern die Religiosität bestimmt Zeichen zu ihrem Ausdrucksmittel. Wenn also Religion Kultur ist, so ist das Eigentümliche der Religion gegenüber weltlicher Kultur nicht deren phänomenale Differenz, die schwerlich zu finden sein dürfte, sondern deren noumenale Intention, anhand zu überwindender ethischer Asymmetrien im transzendentalen Konflikt unbedingt Stellung zu beziehen. Dazu dienen die transzendenten Momente symbolischer Selbstverständigung. Doch gerade in der Transzendierung der Lebenswelt bleibt die noumenale Intention der Religion, wie gezeigt werden konnte, auf die diesseitige Welt ausgerichtet. Wahre religiöse Transzendenz wirkt transzendental. Wenn also religiöse Kultur sich als religiöse bestimmen will, so tut sie gut daran, sich nicht über die Negation zur weltlichen Kultur zu definieren, sondern über die positive Artikulation ihrer Eigentlichkeit innerhalb dieser. Solche Artikulation aber wird nur dann zu verstehen sein, wenn sie sich gängiger kulturellen Mittel bedient, um sich mitzuteilen. Sie muß und sie darf die Sprache ihrer Zeit sprechen. Religion sollte daher weniger auf die besondere Weise ihrer Vermittlung bedacht sein, als auf das religiös zu Vermittelnde. Und das erschließt sich nicht einer Betrachtung der kulturellen Nachfrage, sondern einer Besinnung auf das sittlich-innere Zentrum der Religion. Religion muß nicht marktgerechte, sondern sachgerechte, nicht opportune, sondern authentische Rede vom Transzendenten sein, will sie sich als Kultur und als Nicht-Kultur gleichermaßen behaupten. Und authentisch ist

608

Zu aktuellen Versuchen derartiger Zugänge vgl. insgesamt den Sammelband: Höhn, HansJoachim (Hg.): Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. 609 Zur Kritik derartiger Ansätze vgl. auch den Abschnitt „Das religiöse Gefühl*'.

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Religion, wenn sie ihren sittlichen Ernst nicht verspielt, sondern - unbesorgt, in ihrer Botschaft ungleichzeitig zu sein, - als Ergebnis sittlich durchbestimmten Menschseins zur Geltung bringt.

3.2. Die Wissenschaften von der Religion Religionsphilosophie, so könnte man meinen, ist derjenige Teil der Philosophie, der sich mit den Religionen beschäftigt. Aufgabe dieser Wissenschaft: das Erarbeiten allgemeiner Begriffe, mit denen sich die Vielfalt religiöser Phänomene ordnen und deuten läßt. Unsere Untersuchung geht aber davon aus, daß es voraussetzungsfrei deskriptive Religionsphilosophie nicht geben kann. Nur äußerlich ist ein deskriptiver Zugang zum religiösen Phänomen möglich. Ein innerer Begriff, der die Phänomene des Religiösen insgesamt zusammenhält, kann deskriptiv nicht gegeben werden. Das fuhrt zu dem Ergebnis, daß Religionsphilosophie, so wie sie hier verstanden wird, sich nicht mit den Religionen befaßt, sondern mit der Religion. Sie sucht die „auf dem K r i t i z i s m der praktischen Vernunft gegründete wahre Religionslehre."610 Und darin ist sie Teildisziplin der praktischen Philosophie und nicht der vergleichenden Religionswissenschaften. Erst vor ihrem Hintergrund ist so etwas wie deskriptive Religionstheorie bestimmter Religion, als Theologie, denkbar. Und erst auf der Basis deskriptiver Theologien läßt sich eine komparative Typologie der Religionen im Sinne vergleichender Religionswissenschaft begrifflich denken, welcher Religionssoziologie, Religionspsychologie, sowie Religionsgeschichte zuarbeiten. Dies sind die Thesen der nächsten Abschnitte. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einem Ausblick auf eine Gotteslehre, wie sie im Rahmen praktischer Philosophie zulässig und möglich ist. Sie ist der inhaltliche Ausklang der theistisch orientierten Religionsphilosophie Kants, nicht aber deren systematischer Abschluß. Systematisch erfüllt sich Kants Religionsphilosophie nicht in einer nachfolgenden philosophischen Theologie, sondern in einer transzendentalen Anthropologie, die sich der (Rational-)Theologie regulativ bedient.

3.2.1. Phänomen versus Noumenon Religion Die Religion ist phänomenal nicht durch eine ihr äußerlich abzulesende Grenze von anderen sozialen Phänomenen separiert. Sie ist nicht aus ihrem kulturellen und sozialen Kontext abzutrennen, geht aber dennoch nicht in ihm auf und ist daher von ihm begrifflich unterschieden.611 Phänomenale Religion wird erfaßt 610 611

Der Streit der Fakultäten, A 94. Vgl. Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung, a.a.O. S. 103, 107.

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über das Noumenon Religion. Das heißt, soziale Phänomene überhaupt werden auf ihre religiöse Funktion hin analysiert. Man gelangt dann ohne weitere Probleme zu den klassischen Volksreligionen als Begriffsgegenständen. Aber eben auch eine Reihe weiterer Phänomene, die sonst nicht unter dem Titel Religion klassifiziert werden, sind vom Noumenon Religion erfaßt. Gemeint sind bei weitem nicht nur Sekten und ähnliche Bünde, sondern überhaupt Vereinigungen, die dem systematisch ausgelegten Begriff des ethischen Gemeinwesens entsprechen. Auch geistige Vereinigungen ohne phänomenal-institutionellen Zusammenhang, wie etwa Jugendbewegungen, könnten als religiöse Phänomene angesprochen werden. Man könnte hinsichtlich ihrer von latenten Geistgemeinschaften sprechen im Gegensatz zu den als manifeste Geistgemeinschaften auftretenden Institutionsreligionen.612 Während die manifesten Geistgemeinschaften solche sind, die sich mittels fester äußerer Strukturen wandelnden geistigen Kontexten widmen, zeichnen sich die latenten Geistgemeinschaften durch einen weitgehenden Verzicht auf organisationeile Verfestigung aus, dem ein dafür um so festerer geistiger Zusammenhalt korrespondiert, der sich zumeist im gemeinschaftlichen Fördern von ethischen Zielsetzungen äußert. Mit dem Begriff der latenten Geistgemeinschaft sind nicht einfach moralische Interessengemeinschaften und pressure-groups gemeint, sondern Geistgemeinschaften, deren Zweckverfolgung gerade nicht unvermittelt zweckbezüglich ist. Das Unterscheidende zwischen gewöhnlicher kollektiver Interessenverfolgung und latenten Geistgemeinschaften ist, daß letztere ihre Zwecke verfolgen um eines übergeordneten Gutes willen, das nicht in den verfolgten Zwecken aufgeht. Als Negativkriterium formuliert: latente Geistgemeinschaften sind solche Vereinigungen, bei denen durch einen Wegfall des übergeordneten Interesses der das Handeln und Denken der Einzelnen vereinigende Horizont, mithin die Zwecke verfolgende Gemeinschaft selbst, wegfiele. Und darin unterscheiden sie sich von gewöhnlichen Interessengruppen, in denen die Zweckverfnlgung unmittelbar das Verbindende ausmacht. Es ist vor dem Hintergrund unserer Theorie, die solche Gemeinschaften in den Rang der ethischen Gemeinwesen erhebt, die sich in sittlich-reflexiver Weise um die Verwirklichung des höchsten Gutes bemühen, zulässig, auch latente Geistgemeinschaften als Träger von noumenaler Religiosität anzusehen. Diese Erweiterung des Begriffsrahmens weist die hergebrachten Religionsgemeinschaften auf gesellschaftlich vorhandene religiöse Energien außerhalb ihrer hin, um deren Aufnahme und Anverwandlung sie aus Selbsterhaltungsinteresse bemüht sein müßten. Worin liegt nun der Vorteil einer Religionsphilosophie, die sich nicht mit bestimmten Religionen, sondern mit der Religion schlechthin befaßt? Vorweg ist ein philosophieimmanenter Vorzug festzuhalten. Eine Philosophie, die die

612

Die Begriffe prägt und bestimmt Paul Tillich in: Systematische Auflage, Berlin / N e w York, 1987, S. 179-182.

Theologie,

Band III, Vierte

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Bedürftigkeit des Menschen nach religiöser Orientierung erkennt, aber nicht aus sich befriedigen kann und deshalb den Menschen unter Mitgabe eines normativen Beurteilungskriteriums an religiöse Sinnreflexion verweist, ist das eine. Eine Philosophie, die sich genötigt sähe, ihren judikativen Selbststand aufzugeben, um einer bestimmten Religion den Boden zu bereiten, ist das andere. Will eine Philosophie einer bestimmten Religion die Steigbügel halten, dann muß sie Aufgaben erfüllen, die mit dem Begriff der Philosophie nicht vereinbar sind. Sie muß alle alternativen Wege zum Heil versperren, sie muß die Notwendigkeit der absoluten Transzendierung der Vernunft mit Mitteln beweisen, die selber wieder der menschlichen Vernunft entstammen, und darum muß sie letztlich die menschliche Vernunft selbst zerstören, so daß diese nur noch die Funktion hat, ihre eigene Ohnmacht zu erkennen und über sich hinauszuweisen - ein aus der christlichen Philosophie zur Genüge bekanntes Paradigma. Während im kantischen Modell die konstitutiven Thesen der Offenbarungsreligionen zu regulativem Gebrauch herangezogen werden, verfährt das dogmatische Gegenmodell mit dem regulativen Verweis der Philosophie auf das Andere ihrer selbst konstitutiv, als läge das Ziel der Synthesisbemühung der Philosophie nicht in der Rückkehr zur menschlichen Vernunft, sondern in deren Suspension. Ein solches Denken mag zuzeiten als theologisch verdienstlich gegolten haben, philosophisch sinnvoll ist es nicht. Selbstverständlich widerspricht der Status, den kritische Religionsphilosophie religiösen Sätzen gibt, dem systemischen Rang, den sie innerhalb offenbarungstheologischer Systeme beanspruchen. Selbstverständlich kann man darauf verfallen, auch den kantischen Begriff von Religion äußerlich zu nennen, weil er das religiös-absolute Selbstverständnis fundamentalistischer Menschen nicht spiegelt.613 Dem liegt aber eine petitio principii zugrunde. Wer bestimmt denn, was ein 'religiöser' Mensch ist, dessen Selbstverständnis in einer Philosophie der Religion aufgehen müßte? Welche Disziplin gewinnt denn ein gültiges begriffliches Konzept des religiösen Bewußtseins, wenn nicht die praktische Philosophie? Das Selbstverständnis eines moralisch-religiösen Menschen ist in der kantischen Analyse der Regulativität des Religiösen durchaus angemessen wiedergegeben. Ein davon abweichendes Selbstverständnis religiöser Menschen ist durch die Philosophie zwar ernstzunehmen, nicht aber unkritisch zu übernehmen. Die Analyse hatte ja gezeigt, daß lange nicht alles, was sich Religion nennt, auch deren soziale und moralische Dignität beanspruchen kann. Umso schlimmer für den vermeintlich Religiösen, so müssen wir sagen, wenn sein Bewußtsein mit dem kantischen Begriff von Religion nicht konvergiert, zeigt dies doch ein Zurückbleiben hinter dem Noumenon sittlichen-inneren Menschseins auf. Macht er einen

613

Vgl. die Vorwürfe gegen Kant in: „Die Religion Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, V, S. 1015.

in Geschichte und Gegenwart Dritte Auflage, Tübingen 1961, Bd.

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phänomenal orientierten Begriff von Religion gegen den hier aufgewiesenen inneren Begriff von Religion geltend, so zeigt er, daß er am Buchstaben, nicht am Geist des religiösen Gesetzes hängt.614 Eine zweiter Vorzug dieser Art der normativen Religionsphilosophie liegt in ihrer Distanz zu den Religionen. In ihrer Analyse des Religiösen macht sie sich unabhängig vom religiösen Phänomenbestand und setzt sich - konsequent ausgeführt - gar nicht erst dem Vorwurf aus, das religiöse Phänomen reduziert zu erfassen. Denn dann müßte es ja neben den einzelnen Religionen noch ein separates Phänomen' 'Religion überhaupt' geben, was nicht der Fall ist. Eine voraussetzungsfreie Phänomenologie der Religion ist deshalb in der Tat unmöglich, nicht aber der Versuch, von einer Noumenologie der Religion aus die Lücke zu jeweils einer bestimmten Religion hin zu schließen. Vom Noumenon Religion aus können einzelne Religionen begrifflich analysiert werden, da die religionsphilosophischen Einsichten unabhängig von den Phänomenen, an denen sie gewonnen werden, gültig sind.615 Leider ist diese Unterscheidung allgemeiner und besonderer Religionsphilosophie bei Kant nicht immer durchgehalten. Ihm gerät die systematisch-abstrakte Untersuchung der religiösen Vernunft häufig in eins mit dem religionskritischen Blick auf das Christentum.616 Das Christentum, das als Beispiel für religionsphilosophische Aussagen per posterius dienen sollte, gerät ihm zum Paradigma. Und es ist die Tauglichkeit zu philosophischer Spekulation seitens der christlichen Dogmatik, die diese Grenzverwischung begünstigt. Kants Analysen christlicher Topoi als Korrelate regulativer philosophischer Ideen gelingt nicht zufällig so überzeugend. Jahrhundertelang war das Christentum eng verbunden mit der abendländischen Philosophie. Nicht nur die Aufnahme des hellenistischen Erbes im Anfangsstadium, auch die scholastische Verwebung philosophischer und theologischer Bemühungen im Zenit der dogmatischen Begriffsbildung des Christentums führten zu einer Nähe von philosophischer und theologischer Systembildung, die so wohl nicht in einem

614

Bezüglich einer derart veräußerlichten Relgiosität notiert Kant: „ein solcher Glaube [ist], weil er weder einen besseren Menschen macht, noch einen solchen beweiset, gar kein Stück der R e l i g i o n ; " Der Streit der Fakultäten, A 57. 615 Als Beispiel hierfür sei die Theorie vom religiösen Symbol (Vgl. „Das religiöse Symbol") angeführt, die anhand christlicher Symbolik, aber nicht beschränkt auf sie, den Status religiöser Symbole überhaupt klärte. 6,6 Insofern ist Sala Recht zu geben, wenn er schreibt: „Kants Schrift über die Religion ist kein religionsphilosophisches Werk im heute üblichen Sinn, d.h. keine methodisch-reflexe Erhellung der Möglichkeit von Religion im menschlichen Dasein; sie unterzieht vielmehr das Christentum als positive Religion einer Überprüfung mit der Absicht, aus dem System seiner Glaubenssätze durch deren kritisch-philosophische, oft symbolisierende Auslegung einen Inbegriff von Grundwahrheiten reiner Vernunftreligion zu gewinnen." (in: Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religonsschrift, a.a.O., S. 144). Allerdings reflektiert Sala nicht auf die Bedingungen der Möglichkeit abstrakter religionsphilosophischer Aussagen und beklagt Kants Vorgehen zu Unrecht als einen Mangel an phänomenologischer Finesse.

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zweiten religiösen Phänomen vorliegt. Daraus aber den Schluß zu ziehen, daß vor allen anderen das Christentum eine dem philosophisch gewonnenen Interesse an religiöser Orientierung gleichkommende Religion sei, wäre verfehlt. Zwar zieht Kant diese Konsequenz,617 sie ist aber keineswegs zwingend. Das normativpraktische Urteil muß hier Vorrang vor dem geschichtsphilosophischen haben. Und somit entscheidet nicht das Maß intellektuell imposanter Konstruktion über Wert und Unwert eines religiösen Entwurfs, sondern die Sittlichkeit, die sich über ihn realisiert. Zwar erlaubt sich eine geschichtsphilosophische Betrachtung der Religionen, diese abgezogen von ihren moralischen Subjekten zu thematisieren und den Grad erwachter oder verdeckter Vernünftigkeit in ihnen zu einem Kritierium ihrer Nähe oder Ferne zur Vernunftreligion zu machen.618 Nicht aber kann aus dieser spekulativen Betrachtung eine normativ gültige (rechtlich-soziale) Vorzugswürdigkeit der einen Religion vor der anderen ermittelt werden.

3.2.2. Theologie und Philosophie Die empirische Selbstsicht religiöser Menschen und Systeme begrifflich aufzuarbeiten, ist Aufgabe der Theologie. Religionsphilosophie und Theologie konkurrieren nicht miteinander. Weder relativiert die Religionsphilosophie die Theologie, noch transzendiert die Theologie die Religionsphilosophie. Religionsphilosophie untersucht normativ die Religion im allgemeinen, die Theologie untersucht deskriptiv eine Religion im besonderen, sie ist parteiliche Wissenschaft. Dies mag mit der Selbstsicht mancher Theologen kollidieren, die der Theologie so etwas wie normative Selbstreferenz und Autarkie beilegen möchten und die Dienste der menschlichen Vernunft in den Wind schlagen. Hierbei verfehlen sie aber sowohl Begriff als auch historische Wirklichkeit der Religion.619 Nach dem Begriff könnte nämlich die Theologie sich höchstens auf sich selbst normativ beziehen, d.h. auf ihren begrifflichen Apparat, nicht aber auf den Gegenstand: das Noumenon Religion, welches, wie gezeigt, sein formales Gepräge vor aller Theologie aus transzendentaler Vernunft, bzw. in religiöser Sicht: von Gott, erhält und dessen materiale Seite eine Antwort auf die historische Welt ist. So sind auch in geschichtlicher Wirklichkeit die theologischdogmatischen Transformationen nicht prinzipiierte Reformen von oben, sondern stets theoretische Nachträge zu einer fortgeschrittenen Realität gewesen. Es war 617

Vgl. K.d.p.V. A 232, Rei Β 160, 237, Der Streit der Fakultäten, A 45. Diese Betrachtung stellt Kant wiederholt im Vergleich der philosophischen Qualität des Judentums mit der des Christentums an: z.B. Rei Β 160, 186-190. 6,9 Es ist immer noch bedeutsam, dieses Argument zu stärken und herauszuheben, da es selbst heutzutage in großen Teilen insbesondere der protestantischen Theologie (in der Nachfolge Barths u.a.) angesehener ist, einem offenbarungsfundamentalistischen Ansatz zu folgen, der vorgibt, ein inspiratives Sonderwissen von Gott (genetivus objectivus wie subjectivus) zu haben. 618

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und ist die Geschichte mit ihren Herausforderungen an die ethischen Gemeinwesen, die den Motor der religiösen Entwicklung ausmacht. Die Theologie beschreibt und systematisiert nur, was ohnehin schon oder nicht mehr geglaubt wird.620 Die Theologie enthält nie mehr Wissen von und über Gott als die von ihr behandelte Religion, da sie dieses Wissen von ihr erhält, um es für sie zu erhalten. Und sie weiß um die Wahrheit der religiösen Rede auch nicht gewisser als der Religiöse, da diese nicht wissenschaftlich-objektiv, sondern nur subjektivpraktisch erfahrbar ist. So ist die Theologie freigestellt, sich auf ihre eigentlichen Aufgaben zu besinnen. Diese werden von Kant gemäß der Tradition bestimmt als Verwaltung der eigenen Kultur, Pflege des textlichen Erbes, Organisation des ethischen Gemeinwesens, Kultgestaltung, Ausbildung der Geistlichen und Vermittlung der religiösen Metaphorik an die Gläubigen.621 Die gesamte Binnensystematik der Theologie als Wissenschaft und der Religion als Institution läßt sich von hier aus entfalten.622 Die Autarkie der religiösen Gemeinschaft wird philosophisch in keiner Weise angefochten. Es wird ihr überlassen, sich zu einem geschichtlich durchhaltenden sozialen Phänomen zu machen, dem das Volk die Pflege seiner transzendenten Überzeugungen anvertraut. Die Philosophie, die das normative Regulativ zu all diesen Anstrengungen anbietet, dominiert damit nicht die religiöse Praxis, sondern beläßt sie in ihrem Selbststand. Die Theologie kann also auch nach außermoralischen Maßstäben mit ihrem Traditionsgut verfahren. Und das wird sie auch, will sie sich die keineswegs immer moralischen Gläubigen erhalten. Diese Gläubigen wollen, so Kant, ja eher als einen moralischen Gott einen gnädigen, lieber eine gütige Welt als eine gerechte.623 Die Gläubigen wollen lieber ein Gebet sprechen, als sittlich handeln, lieber beichten, als auf die Sünde verzichten. Die gewöhnlichen Menschen suchen statt sittlicher Ausrichtung ein „Opiat für das Gewissen."624 Deren verqueres Gottesbild ist, so traurig es klingt, die Materie des Theologen, denn solche Reflexionen sind es, die ihm aus Bibel und Gemeinde entgegenschlagen.625 Würde er das Phänomen Religion auf das Noumenon reduzieren, würde er die Adiaphora zugunsten reiner Moralphilosophie fallen lassen, er hätte keine Gläubigen mehr und auch keinen Glauben, der der gedanklichen Anstrengung einer eigens religiösen Theologie bedürfte.626 Die brennende Energie fanatisch Gläubiger und die sich verzehrende Widersprüchlichkeit offenbarungstheologischer Dogmen, entsprechen einander. 620

Vgl. Der Streit der Fakultäten, A 44. Vgl. Rei Β 151 ff., 161 ff. 622 Sogar Ansätze zu einer Sakramentenlehre finden sich: Rei Β 300. 623 „Die enge Pforte und der schmale Weg, der zum Leben fuhrt, ist der des guten Lebenswandels; die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln, ist die Kirche." Rei Β 241, Anm. 624 Vorlesung über Pädagogik, hg, v. Rink, 1803, A 134. 625 Vgl. Der Streit der Fakultäten, A 15. 626 Vgl. Vorlesung zur Religionsphilosophie / Pölitz, AA 28, 2.2, 998. 621

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Nicht darin liegt das zentrale Problem der von Kant kritisierten normativ selbstbezüglichen Theologie, daß sie verspricht, was selbst vollendete Sittlichkeit nicht erreichen kann: die Menschen zu erlösen von ihrer Endlichkeit, sondern darin, daß es den Menschen in ihrer Fehlbarkeit so gut gefällt, daß sie nach einer Theorie verlangen, die sie - durch stetes Betonen ihrer Ohnmacht - rechtfertigt zu bleiben, wie sie sind:627 die Instrumentalisierung der Religion fur irreligiöse Zwecke. Das ist es, was Kant in wutschäumende Opposition gegen die Idolatrie,628 gegen Pfaffentum 629 und Afterreligion630 bringt: die das Noumenon der Religion ins Gegenteil verkehrende Stabilisierung der Unsittlichkeit,631 die die Geistlichen bewirken,632 wenn sie dem dummdreist gläubigen Volke 633 zweite und dritte Gnadenwege zum Heil versprechen634 durch das Ableisten äußerlicher Handlungen und Dienste. 635 Das Interesse einer Kirche, sich zu erhalten, so Kant, geht so weit, die Sünde als Verbündeten zu betrachten.636 Das, so Kants These, wird aus der Theologie, wenn man ihr erlaubt, sich normativ an ihr selbst, d.h. an ihren Bedürfnissen als soziales System, auszurichten. Deswegen bedarf es der normativen Philosophie der Religion, die Wert und Inhalt der Religion unbezüglich auf Empirie und Offenbarung bestimmt und damit dem wahrhaft sittlichen Bewußtsein zeigt,

627

„Was ihr Philosophen da schwatzet [sc. vom guten Leben], wußte ich längst von selbst; ich will aber von euch als Gelehrten wissen: wie, wenn ich auch ruchlos gelebt hätte, ich dennoch kurz vor dem Torschlüsse mir ein Einlaßbillet ins Himmelreich verschaffen, [...] könne." Der Streit der Fakultäten, A 31. 628 Vgl. Rei Β 287, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 414, Anm. 629 Vgl. Rei Β 270 ff. 630 Vgl. Rei Β 261. 631 Vgl. Rei Β 264-267. Ebenso Rei Β 285, Anm.: „statt Gott wohlgefälliger Handlungen (in Erfüllung aller Menschenpflichten), in der unmittelbaren Beschäftigung mit Gott durch Ehrfurchtsbezeichnungen, die Übung der Frömmigkeit zu setzen." 632 Rei Β 271. Vgl. auch: „Auch Geistliche weissagen gelegentlich den gänzlichen Verfall der Religion, und die nahe Erscheinung des Antichrists; während dessen sie gerade das tun, was erforderlich ist, ihn einzuführen, indem sie nämlich ihrer Gemeine nicht sittliche Grundsätze ans Herz zu legen bedacht sind, die geradezu aufs Bessern fuhren, sondern Observanzen und historischen Glauben zur wesentlichen Pflicht machen, die es indirekt bewirken sollen; woraus [...] aber keine moralische Gesinnung erwachsen kann: alsdann aber über Irreligiosität klagen, welche sie selber gemacht haben;" Der Streit der Fakultäten, A 134. 633 Vgl. Rei Β 274. 634 Vgl. Rei Β 275. 635 Vgl. Rei Β 276: „der ganze Kram frommer auferlegter Observanzen". 636 Kant verdächtigt u.a. die auf sich selbst gestellten Theologen der amoralischen Grundhaltung, daß „sie die Übertretung der Gesetze nicht allein als kein Hindernis, sondern wohl gar als erwünschte Veranlassung ansehen, ihre große Kunst und Geschicklichkeit zu zeigen, alles wieder gut, ja noch besser zu machen, als es ohne dieselbe geschehen würde." Der Streit der Fakultäten, A 33.

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woraufhin der Glaube stattdessen ausgerichtet werden müsse. 637 Der Theologie muß die normative Kompetenz entrissen und zugunsten der Religion der normativen Religionsphilosophie übergeben werden. Denn ihr über sich hinausweisendes Ziel hat die Theologie nicht in sich, auch nicht im Phänomen der Religion, sondern im Noumenon Religion. 638 So läßt sich mit Kant ein begriffliches System der Theologie geben: Die Theologie als Ganze teilt sich in „theologia rationalis" und „theologia relevata".639 Die theologia rationalis differenziert sich ferner aus in „theologia transcendental is"640 und eine „theologia naturalis". Die theologia naturalis wird inhaltlich über das Noumenon Religion als „theologia moralis" bestimmt, vom Anthropormorphismus befreit, und zur Geltungsquelle des theologischen Systems gemacht.641 Sie läutert die theologia naturalis und rechtfertigt als solche die theologia transcendentalis und die theologia relevata in deren abgeleitetem Stand. Diese Rechtfertigung läuft über die Funktion, die Transzendentaltheologie und Offenbarungstheologie für moralische Theologie haben. Der Transzendentaltheologie kommt die Spekulation, der Offenbarungstheologie die Traditionsvermittlung zu. 642 Während theologia transcendentalis fur sich allein nur zu moralneutralem Deismus vordringt643 und eine unkontrollierte theologia relevata zur Afterreligion umschlägt, kann moralische Theologie als theologia naturalis die theologia transcendentalis und die theologia relevata in ein sittliches Ergänzungsverhältnis setzen, das die wahre Religion voranbringt. Religiöse

637

„Wider diese Auslegungsregeln höre ich ausrufen: e r s t l i c h : das sind j a insgesamt Urteile der philosophischen Fakultät, welche sich also in das Geschäft des biblischen Theologen Eingriffe erlaubt. - A n t w o r t : zum Kirchenglauben wird historische Gelehrsamkeit, zum Religionsglauben bloß Vernunft erfordert." Der Streit der Fakultäten, A 63. 638 „Moralität muß also vorhergehen, die Theologie ihr dann folgen, und das heißt Religion." Vorlesung Uber Pädagogik, hg, v. Rink, 1803, A 133. 639 Die folgenden Ausführungen folgen der Metaphysikvorlesung-Pölitz (LI, Theologie) AA 28, 2.1, 30Iff. Sie entsprechen aber bis ins Detail den Ausführungen, die sich in den anderen rationaltheologischen und religionsphilosophischen Vorlesungsveröffentlichungen finden und sind ebenfalls verträglich mit Kants in der Religionsschrift niedergelegter Systematik. 640 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde einer transzendentalen Theologie abschlägiger Bescheid erteilt. Allerdings geschah dies gegenüber einer solchen Theologie als Methode der Religionsphilosophie, nicht als inhaltliche Aussage zur philosophischen Theologie. Es muß deshalb nicht verwundern, wenn Kant sich frank und frei rationaltheologischen Erbes bedient, nachdem er den Status religiöser Aussagen im Verhältnis zur geltungsstiftenden moralischen Religionslehre bestimmt hat. 641 Vgl. AA 28, 2.1, 305/306, Metaphysikvorlesung-Pölitz (LI, Theologie). 642 Vgl. AA 28, 2.1, 305, Metaphysikvorlesung-Pölitz (LI, Theologie). 643 Vgl. AA 28, 2.1, 306, Metaphysikvorlesung-Pölitz (LI, Theologie). Vgl. auch Kants Aussage, daß Gotteserkenntnis, wenn man „alles Intuitive wegläßt, in den Deism, [führt], wodurch überall nichts, auch nicht in praktischer Absicht erkannt wird." K.d.U. Β 258. Die Betonung liegt auf dem Intuitiven als Gegenbegriff zum Diskursiven, um das bildhafte Reden von Gott, nicht des Bildes als objektiver Erkenntnis wegen, sondern des subjektiven Zugangs im intuitiven Urteil wegen, ins Recht zu setzen.

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Reflexion wird durch die Inhalte der Theologie bedient. Diese Inhalte können der wahren Religion förderlich oder hinderlich sein. Deshalb organisiert die moralische Religion die transzendentale und die geoffenbarte Theologie zu wechselseitig kritischen Instanzen der theologischen Rede. Die Transzendentaltheologie fungiert negativ als „logische Theologie",644 die als vernunftgeleitete Dogmenkritik die Rede von Gott auf die rationaltheologischen Konzeptionen Gottes als „Urwesen", „höchstes Wesen" und „Wesen aller Wesen" beschränkt und supranaturalen Wunderglauben abweist.645 Die Offenbarungstheologie trägt als „populäre Theologie" die Religion in die Welt, indem sie die Menschen in ihrer gebundenen Vernunft dort nimmt, wo diese stehen, anstatt sie spekulativ zu überfordern. Die Vermittlung beider Bemühungen und die Klärung und Erklärung ihrer wechselseitigen und konkurrierenden Geltungsansprüche erfolgt durch moralische Theologie und fuhrt zu einem „kritischen Theismus", 646 der, nach Kant, die inhaltliche Seite der wahren Religiosität ist.

3.2.3. Praktische Gotteslehre und Religionswissenschaften Nun nimmt es sicher wunder, daß eine Theorie der Religion erst zum Schluß den Gottesbegriff thematisiert. Gewöhnlich wird umgekehrt argumentiert. Ein Gottesbegriff wird aufgestellt und von ihm aus eine Dogmatik entwickelt, die der Pflege durch eine Religion bedarf, welche selbst damit sekundär gerechtfertigt ist. Eine Rechtfertigung von Religion ohne Bezug auf Gott erscheint von daher sowohl unmöglich als auch absurd. Das Gegenteil ist hier gezeigt worden. Nicht die Theorie Gottes, die konstitutiv nicht besteht und theoretisch-regulativ ohne genuin religiöse Implikation ist, legitimiert und lenkt die religiöse Reflexion, sondern die sittliche Vernunft des Menschen.647 Es muß verwundern, daß die meisten philosophischen Untersuchungen zu Kants Religionsphilosophie sich ausgiebig und vornehmlich Kants theoretischem Gottesverständnis widmen.648 Die theoretische Konzeption Gottes, eine regulative Idee mit vornehmlich systemfunktionaler Bedeutung, hat keinen konkretionsfahigen Status, - jede 644

AA 28, 2.1, 321, Metaphysikvorlesung-Pölitz (LI, Theologie). AA 28, 2.2, 1248, Danziger Rationaltheologie, ebenso die Rationaltheologie Volckmann und Pölitz. 646 AA 28, 2.1, 307, Metaphysikvorlesung-Pölitz (LI, Theologie). 647 „Man muß aber nicht von der Theologie anfangen. Die Religion, die bloß auf Theologie gebaut ist, kann niemals etwas Moralisches enthalten. Man wird bei ihr nur Furcht auf der einen, und lohnsüchtige Absichten und Gesinnungen auf der anderen Seite haben, und dies gibt dann bloß einen abergläubischen Kultus ab. Moralität muß also vorhergehen, die Theologie ihr dann folgen, und das heißt Religion." Vorlesung über Pädagogik, hg, v. Rink, 1803, A 133. 648 Positive Ausnahmen sind Reiner Wimmer (Kants kritische Religionsphilosophie, Kants Ethik als „System der Zwecke", a.a.O.) und Rudolf Langthaler (Kants Ethik als „System der Zwecke", a.a.O.), die ebenfalls sich auf die praktische Philosophie Kants konzentrieren. 645

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Versinnlichung, Privatisierung usw. verbietet sich a priori. Das Bedürfnis der Vermittlung und Bestimmung, das religiöse Reflexion auszeichnet, kann durch die theoretische Idee Gottes niemals bedient werden. Die Utopie einer guten Welt, die Besinnung konkreten Lebens, die Heiligung ästhetischer Momente im Kultus können nicht aus ihr hergeleitet werden.649 Deshalb sollte man sich religionsphilosophisch mit der Erarbeitung des - geschenkten - Resultates, daß in Kants kritischer Philosophie der Gottesbegriff epistemisch keinesfalls eradiert wird, nicht so lange aufhalten. Der umgekehrte Weg, die Reichhaltigkeit religiöser Gottesbilder mit dem Geltungssystem praktischer Vernunft grundzulegen, verspricht da weit bessere Erfolge. Zwar ist mit einer praktisch abgeleiteten Religionsphilosophie keine konstitutive philosophische Theologie zu machen. Dennoch kann man deswegen nicht sagen, kritische Religionsphilosophie verstelle die Möglichkeit, sinnvoll nach der Wahrheit und Wirklichkeit Gottes zu fragen. 650 Sicherlich: Religionsphilosophie bestimmt Gott nicht als Begriff an sich selbst. Aber gerade in dieser Beschränkung legt sie eine Wahrheit und Wirklichkeit der religiösen Symbole frei, die einer philosophischen Theologie, die immer schon mehr will, oft gar nicht in den Blick kommt: die praktische Wahrheit und Wirklichkeit der religiösen Symbole für uns. Gerade indem die Religionsphilosophie Gott nicht zum direkten Thema ihrer Rede macht, weist sie in indirekter Rede sehr viel über seine Gegenwart am Orte des Menschen aus. Es ist unsere Sittlichkeit, um derentwillen wir religiös sind. Und wir sind religiös, wann immer wir uns im transzendentalen Konflikt mit Mitteln endlicher Reflexion auf die Seite der Sittlichkeit schlagen. Dazu bedürfen wir nicht unabdingbar eines theistischen Gottesbegriffes.651 Im Gegenteil: da das Bedenken der inneren und der äußeren Geschichte ein wesentliches Moment religiöser Reflexion ist und da dieser nur dann sich erfüllt, wenn er die Sinnhafitigkeit sittlicher Selbstbestimmung gerade in der besonderen Situation des sittlich in Anspruch genommenen Subjekts aufhellt, so wäre umgekehrt die Frage zu stellen, ob heutzutage nontheistische Religiosität, bzw. ein Leben „etsi deus non daretur" (Bonhoeffer), nicht 'religiöser' und

649

Vgl. Otto, Rudolf: Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S. 73. 650 Andere Ansicht: Weischedel, Willhelm: Religionsphilosophie als Lehre vom religiösen Verhalten, in: Der Gott der Philosophen, Band I, Reprod. der dritten Auflage, Darmstadt 1994, S.U. „[Denn es] lebt im moralischen Sinne ein atheistischer Buddhist oder ein religionsloser atheistischer Sozialist ceteris paribus kein anderes moralisches Leben als ein Theist. 'Religiös' kann das moralische Leben eines Atheisten dann genannt werden, wenn es im beschriebenen Sinne den Glauben an moralische Wunder enthält, d.h. den Glauben an das Wunder der moralischen Anlage aller Menschen (moralische Vernunft und moralische Freiheit) und den Glauben an die Möglichkeit jedes Menschen zur Umkehr vom Bösen zum Guten. Dieser Glaube braucht nicht explizit, reflex zu sein, so wenig wie der Glaube an Gott. Er kann anonym in dem Sinne sein, daß [er] sich im Leben eines Menschen zeigt, [...]." Wimmer, Rainer: Kants kritische Religionsphilosophie, a.a.O., S. 210. 651

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sittlicher wäre, als theistische.652 Denn nur der Heuchler macht es sich zum „Grundsatz: es ist ratsam, lieber zuviel, als zu wenig zu glauben." Die Maxime, der der sittliche Mensch folgt, „ist gerade die umgekehrte."653 Normative Religionsphilosophie schlägt aber auch nicht in Atheismus um. Sie akzeptiert transzendente Symbolik in transzendentaler Funktion schlechthin. Ein prominentes Symbol ist der theistische Gottesbegriff.654 Es kann durchaus sinnvoll sein, wenn man vermittels eines personalen Gottesbegriffes verdeutlicht, daß das individuelle Leben in einer Welt ungekannten Anfangs und ungeahnten Endes, in unermeßlicher Ausdehnung ins Große und indefiniter Erstreckung ins Kleinste dennoch nicht bedeutungslos vergeht. Eine solche Gotteslehre kann im Ausblick auf das rechte Selbst- und Weltverständnis die heuristischen Fähigkeiten menschlicher Vernunft erweitern und die Verhältnisgrößen unseres Ich- und Umweltbezuges korrigieren. Philosophisch anzuerkennen ist sie, insoweit sie die Theologoumena in mundanen Schranken hält: Wir sind fromm, wenn wir Gutes tun, heilig, wenn wir Gutes wollen und unsterblich, insofern wir - zeitlebens - uns als Persönlichkeit in etwas gründen, was über uns hinausgeht: die Unbedingtheit des Sittengesetzes. Wir gründen in Gott, insofern wir uns in die Gemeinschaft der Geister begeben, wir dienen ihm, wenn wir das Reich der intelligiblen Zwecke auf Erden zu realisieren bemüht sind, wir sind ihm nah, wenn wir uns nach reiner praktischer Vernunft ausrichten.655 Als unbedingter Grund des Guten geht Gott nicht in unseren Bemühungen auf: er ist die ungeschuldete Möglichkeit sinnhaften Seins, die jedem intelligiblen Sinnenwesen zukommt und nie erschöpft werden kann. Aus ihr speist sich, wie aus einer Quelle, der Sinn des Lebens, und dennoch erschöpft sich diese Quelle nicht in dem von ihr gespeisten Leben. Sie ermöglicht, trotz fundamentaler Anfeindung die als ethisch-asymmetrisch erfahrene Welt anzuerkennen und mitzugestalten. Praktische Gotteslehre kann nicht gelehrt werden. Ihr Inhalt ist Lernen, nicht Lehre. Praktische Gotteslehre will nicht etwas dem Subjekt Äußeres auf den

652

„Eben dieser [sc. theistische] Religionsbegriff ist es jedoch, der einem wirklichen Verständnis der Religion im Wege steht. Beginnt man mit der Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz Gottes, kann man Gott niemals erreichen. Und wenn man die Existenz Gottes behauptet kann man ihn noch weniger erreichen, als wenn man seine Existenz leugnet." Tillich, Paul: Religion als eine Funktion des menschlichen Geistes?, in: Die Frage nach dem Unbedingten, Gesammelte Werke V, Stuttgart, 1964, S. 38. 653

Rei Β 293. Vgl. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, A 415, Anm. 655 Könnten wir unsere sinnliche Anschauung durch geistige Anschauung ersetzen, würden wir uns der moralischen Gleichzeitigkeit von jenseitiger und diesseitiger Welt bewußt, steht in der Metaphysikvorlesung-Pölitz (LI, Theologie): „Demnach ist jede gute Handlung des Tugendhaften ein Schritt zu der Gemeinschaft der Seligen, so wie jede böse Handlung ein Schritt zu der Gemeinschaft der Lasterhaften ist. Demnach kommt der Tugendhafte nicht in den Himmel, sondern er ist schon hier darinnen. [...] Ebenso können die Boshaften sich nicht in der Hölle sehen, ob sie gleich schon wirklich darin sind." AA 28, 2.1, 299. 654

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Begriff bringen, sondern dem Subjekt helfen, sein wahres Selbst zu begreifen und zu realisieren. So kann Kant sagen: „Gott ist nicht äußerlich, sondern innerlich gegenwärtig; seine Gegenwart ist nicht local, sondern virtual."656 Insofern er uns stets innerlich gegenwärtig ist, wissen wir bereits - subjektiv - von ihm, was wir über ihn - objektiv - nie wissen könnten. Religion bedarf nicht übersinnlicher Objekterkenntnis, sondern unbedingter Selbstbeziehung. Um etwas von Gott zu wissen, müssen wir uns von ihm, als unserem unbedingten Wesen, her begreifen. Gott muß sich uns tatsächlich offenbaren, allerdings nicht als das ganz Andere und Unbegreifliche, sondern als das sich selbst begreifende Eigenste. Diese Beziehung ist als allgemeine Selbstverwirklichung von Subjektivität - in symbolischintuitiver, nicht in diskursiv-reflexiver Form - jedem intelligiblen Subjekt möglich. Sie ruht auf keinen besonderen Voraussetzungen, z.B. geschultem Intellekt oder tradierter Begrifflichkeit. Dogmatik, die mit den allgemeinen Mitteln sittlicher Einsicht nicht zu beglaubigen ist, ist deshalb keine wahre Lehre über Gott, da sie keine Lehre von Gott ist.657 Noch ist die Frage nach Aufgabe und Stellung der sonstigen Religionswissenschaften offen. 'Die Religionswissenschaften', das sind alle nicht-normativen Wissenschaften von der Religion. 'Die Religionswissenschaft' selbst ist diejenige Disziplin, die die nicht selbständig ausdifferenzierten Methoden der Religionsforschung beheimatet und den selbständigen Religionswissenschaften systematischen Zusammenhalt zu geben sucht, indem sie ihre Erkenntnisse und Methoden vernetzt.658 Die Funktion der nicht-normativen Religionswissenschaft ist vor dem Hintergrund der normativen Religionsphilosophie zu bestimmen. Eine vergleichende Religionswissenschaft ginge in Religionssoziologie auf, falls sie der Selbstsicht des Religiösen äußerlich bliebe. Religionssoziologie will von ihrem Selbstverständnis her Religion nicht vom religiösen Standpunkt aus und auch nicht von vorgängiger Vernunftbegrifflichkeit her verstehen, sondern ihre Phänomenerkenntnis über den Weg der sozialen Funktionsanalyse gewinnen.659 Damit leistet Religionssoziologie sowohl der philosophischen Religionskritik als auch der Theologie gute Dienste, indem sie die Genese religiöser Akte und Selbstreferenzen beschreibt und somit mögliche Differenzen

656

Metaphysikvorlesung-Pölitz (LI, Theologie): A A 28, 2.1, 347. Als Beispiel der Gotteslehre im Sinne Kants kann sein in der Preisschrift (A 115) formuliertes Glaubensbekenntnis reiner praktischer Vernunft angeführt werden: „Ich glaube an einen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck; - Ich glaube an die Möglichkeit, zu diesem Endzweck, dem höchsten Gut in der Welt, sofern es am Menschen liegt, zusammenzustimmen; - Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben, als der Bedingung einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr möglichen Gut." 657

658

Vgl. Historisches Wörterbuch 'Religionswissenschaft', S. 771 ff.

659

der

Philosophie,

Band

IIX,

Vgl. „Die Religion in Geschichte und Gegenwart - Handwörterbuch Religionswissenschaft, Dritte Auflage, Tübingen 1961, Bd. V, S. 1031.

Basel für

1992,

Artikel

Theologie

und

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zwischen religiösem Geltungsanspruch und religiöser Praxis aufdecken kann.660 Religionssoziologie ist aber nicht Religionswissenschaft im eigentlichen Sinne, da sie ihre Methode in keiner Form nach den Gegenstand richtet, sondern den Gegenstand nach ihrer auf soziale Systeme schlechthin ausgerichteten Methode.661 Religionswissenschaft ginge in normativer Religionsphilosophie auf, beschränkte sie sich auf den Begriff des Noumenon Religion.662 Um sich innerlich, aber phänomenologisch dem Religiösen zu nähern, muß sie einerseits auf einen phänomenunabhängigen Begriff von Religion zurückgreifen und sich andererseits religionsvergleichend und religionsgeschichtlich gerade solcher religiöser Selbstbeschreibungen bedienen, die die Neutralität des religionswissenschaftlichen Standpunktes nicht mitmachen. Vergleichende Religionswissenschaft kann daher nur vor dem Hintergrund von Theologien gewonnen werden. 663 Die Theologie einer Religion ist ihre innere, nicht-neutrale Deskriptionswissenschaft, die, systematisch geordnet, die Binnenansicht von System und Gläubigen wiedergibt und die intellektuelle Verbindung zum Noumenon Religion hält. Solche Selbstbeschreibungen aus verschiedenen religiösen Systemen zu vergleichen und auf den Begriff zu bringen ist vergleichende Religionswissenschaft. Sie gewinnt damit die Möglichkeit einer religiösen Innenbeschreibung, die dennoch unabhängig operiert. Sie setzt die von ihr untersuchten Theologien respektive Religionen voraus und damit eine normative Religionsphilosophie, die allererst bestimmt, was als Religion gelten kann.664 Hilfswissenschaften der Religionswissenschaft sind Religionsgeschichte und Religionspsychologie.665 In der bewußten Orientierung am philosophischen Religionsbegriff gibt Religionswissenschaft das zweifelhafte Ideal standpunktfreier Positivität auf und gewinnt dafür einen reflexiv selbstkritischen Ansatz. Indem die normative Religionsphilosophie die Möglichkeitsbedingungen deskriptiver Religionswissenschaft formuliert und garantiert, muß diese nicht mehr befürchten, in ihrer empirischen Arbeit, zirkulär, bzw. ethnozentrisch zu verfahren und ihren verborgenen Standpunkt unkritisch zu übersehen.

660

Vgl. Luhmann, Niklas: Funktion der Religion, Vierte Auflage, Frankfurt 1996, S. 10. Vgl. Luhmann, Niklas: a.a.O., S. 33ff. 662 „Religionswissenschaft ist eine empirische, nicht eine normative Wissenschaft.", in: „Die Religion in Geschichte und Gegenwart Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Dritte Auflage, Tübingen 1961, Bd. V, S. 1038. 663 Diese Position zur Transparenz zu bringen, ist wichtig, nicht nur für die gesellschaftliche Legitimation der Theologie, sondern gerade für das Selbstverständnis der Religionswissenschaft selbst, die ihren Erkenntnisanspruch ohne expliziten oder (unkritisch) impliziten Rückgriff auf die verschiedenen Theologien gar nicht einlösen kann. 664 Vgl. Otto, Rudolf: Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S. 193. 665 Zur Funktion der Religionspsychologie vgl. die einleitenden Bemerkungen zum Abschnitt ,ßas religiöse Gefühl". 661

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185

Das deskriptiv-innere Bild von Religiosität in den jeweiligen Religionen ist nur ein Gegenstand vergleichender Religionswissenschaft. Eine weiterer wächst ihr in religiösen Momenten außerhalb des institutionell-religiösen Rahmens zu. 666 Ein in diesen Zusammenhang zählendes Thema ist das nontheistischen und atheistischen Religiosität. 667 Von Kant her bedeutet Religion eher Bekenntnis als Gottesfürchtigkeit, mehr Seins- und Sinnvertrauen, als Anbetung.668 Es muß daher kein personifizierter, handelnder, Gebete erhörender Gott gedacht werden, um dem begrifflichen Synthesiserfordernis moralischer Religion zu genügen. 669 Eine Religiosität, die sich gegen einen theistischen Gottesbegriff stellt, ist mit Kants System ebenso denkbar, wie eine, die auf die Thematisierung Gottes verzichtet,670 nicht aber eine, die jede Transzendenz leugnet. So liegt zumindest im Erfassen nontheistischer Religiosität eine Aufgabe und, nach Lage der Dinge, ein Desiderat der Religionswissenschaft.

3.3. Religion und öffentliches Handeln Bevor die vorliegende Untersuchung zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt und auf den Ertrag noumenaler Religionsphilosophie für die menschliche Vernunft selbst reflektiert, ist die praktische Relevanz des Noumenon Religion im Feld öffentlichen Handelns zu entfalten. Denn der Stellenwert, den Religion für die menschliche Vernunft insgesamt hat, hängt nicht nur von ihrer Rolle in der Selbstbeziehung der Individualvernunft, sondern wesentlich auch von ihrer Funktion im Rahmen der öffentlichen Vernunft ab. Die Einbindung des kantischen

666

Vgl. dazu die Überlegungen zum Wesen latenter Geistgemeinschaften auf S. 173. Genauer wäre es, zwischen A-theismus und Anti-theismus zu unterscheiden, als die griechische und lateinische Negation gegeneinanderzusetzen. Dennoch hat sich der vorliegende Sprachgebrauch eingebürgert: Nontheismus als Gottesskepsis, Atheismus als antitheologische Haltung. Kants Position zum Atheismus hält sich durch die verschiedenen Mitschriften seiner religionsphilosophischen, bzw. rationalphilosophischen Vorlesungen durch: Er unterscheidet zwischen dogmatischem Atheismus („Abgötterei"), der die Hoffnung auf die Sinnhaftigkeit moralischen Handelns mitsamt der göttlichen Existenz verneint und dem skeptischen Atheismus („Ohngötterei"), hier: Nontheismus genannt, der die Gottesfrage ungeklärt läßt. Während der dogmatische Atheismus von Kant als unverträglich mit seiner Philosophie ausgewiesen wird, akzeptiert er dessen skeptische Variante. Vgl. Pölitz AA 28, 2.2, 1010 und Volckmann AA 28, 2.2, 1151, 1171. 667

668

Vgl. Winter, Alois: Gebet und Gottesdienst bei Kant: nicht „Gunstbewerbung", sondern „Form aller Handlungen", in: Theologie und Philosophie 52, 1977, S. 341-377. 669 „Allein die Art, wie wir uns diese Möglichkeit vorstellen sollen, ob nach allgemeinen Naturgesetzen, ohne einen der Natur vorstehenden weisen Urheber, oder nur unter dessen Voraussetzung, das kann die Vernunft objektiv nicht entscheiden." K.d.p.V. A 262. 670 Es ist durchaus fraglich, inwieweit der historische Kant mit dieser Ansicht konform gegangen wäre. Für den vorliegenden Zusammenhang soll es aber genügen, gezeigt zu haben, daß man aus seinem System so folgern kann.

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Religionskonzepts in soziale Zusammenhänge ist also nicht nur geeignet, die aktuelle praktische Relevanz seiner Lehre vor Augen zu fuhren, sondern dient wesentlich der Entfaltung des Religionsbegriffes und mithin des Vernunftbegriffes selbst.

3.3.1. Staatskirchenrecht Im Staatskirchenrecht671 werden die konkurrierenden hoheitlichen Ansprüche von Staat und Kirche im Rückgriff auf die Noumena von Recht und Religion abgeglichen. In der diesbezüglichen rechtsphilosophischen Diskussion übernimmt die normative Religionsphilosophie die Apologetik der Religionen. Als gleichberechtigte Teildisziplin der praktischen Philosophie verteidigt normative Religionsphilosophie den gesellschaftlichen Ort der Religionen gegenüber Recht und Politik. Anders als Theologie kann normative Religionsphilosophie niemals in ein vermeintliches Ableitungs- oder Überordnungsverhältnis zum Rechtssystem geraten, da Religionsphilosophie und Rechtsphilosophie im System kritischpraktischer Philosophie gleichrangigen Ursprungs sind. Dies ist eine Absage einerseits an jedes theokratische Modell von Regentschaft und andererseits an eine staatliche Indienstnahme der Religion zu Regierungszwecken. Der rechtliche Anspruch einer jeden Religion in der Gesellschaft ist durch praktische Philosophie rechtlich legitimiert und rechtlich limitiert zugleich. Die Limitation liegt in der Negation der Negation der Freiheit, welche die praktische Vernunft der äußerlichen Freiheit im Recht einzeichnet. In dieser begrifflichen Limitation liegen sehr konkrete Konsequenzen. Als geklärt dürfte in der aktuellen Rechtsphilosophie gelten, daß staatssouveräne Sonderrechte (z.B. Kirchenasyl und priesterliche Immunität) den Kirchen nicht zuzugestehen sind.672 Es ist eine unausweichliche Konsequenz des kantischen Ansatzes, die rechtsstaatliche Säkularisierung absolut zu setzen und als unüberspringbare Differenz stehen zu lassen. Es gibt keine höhere phänomenale Einheit, die dies aufheben könnte, wenn auch Recht und Religion noumenal in unbedingt praktischer Vernunft vereinheitlicht sind.673 Der Staat wird also weder als Förderer noch als inhaltlicher Wächter der Religion im Recht sein, sondern lediglich als Protektor der sich äußernden inneren 671

Angemessener wäre es, vom Religionsrecht zu reden, da der Begriff der Kirchenrechts auch und gerade das Binnenrecht der Religionsgemeinschaften mitabdeckt und der Begriff des Staatskirchenrechts die nicht-kirchlichen Religionsgesellschaften auszuschließen scheint. Jedoch sind die genannten Begriffe termini technici der Jurisprudenz, deren tradierte Bedeutung ich im folgenden beibehalten werde.

672

Vgl. zum folgenden insgesamt: Jurina, Josef: Der Rechtsstatus eigenen Angelegenheiten, Berlin, 1972. 673 Vgl. M.d.S. RL Anhang Β 179/180.

der Kirchen

im Bereich

ihrer

Verhältnisbestimmungen

187

Gewissenhaftigkeit religiöser Menschen in rechtlichen Räumen. 674 Das Recht ist als Formenlehre der Freiheit mit dem Noumenon der Religionen zu vermitteln. Für das positivrechtliche Verhältnis von Staat und Religion folgt daraus eine Abschichtung der sittlichen Handlungsebenen, wie sie nahezu mustergültig im bundesrepublikanischen Recht durchgeführt ist.675 An den in ihm enthaltenen Strukturen läßt sich die Weise und Notwendigkeit des Wirkens des rechtsnormativen und des religionsnormativen Begriffs vor Augen fuhren. 676 Es ist grundlegend zu unterscheiden zwischen einer staatsrechtlichen, einer staatskirchenrechtlichen und einer grundrechtlichen Perspektive. Staatsrechtlich wird die Souveränitätsfrage zugunsten säkularer Staatssouveränität entschieden.677 Das staatliche Zugeständnis an die Religionen zu einer jenseitig ausgerichteten Selbstverfassung,678 also von Rechtskörperschaften zur Religionspflege, fuhrt über in die staatskirchenrechtliche Perspektive. Dieses Sonderrechtsgebiet erklärt sich allerdings nicht aus staatsorganisationsrechtlicher Systematik, sondern aus grundrechtlicher.679 Man hat das Recht der kollektiven, satzungsautonomen Glaubensfreiheit als Unterfall der allgemeinen Glaubensfreiheit und diese als lex specialis zur allgemeinen Gewissensfreiheit anzusehen, nicht aber die Gewissensfreiheit als Abfallprodukt der staats(organisations)rechtlich zugestandenen Kirchenrechte. Dieser in der juristischen Literatur noch umstrittene Punkt ist von großer verfassungsrechtlicher Bedeutung. Dem sich hier aussprechenden historischen Paradigmenwechsel liefert die kantische Rechtsphilosophie die Rechtfertigung. Der Staat versteht sich heutzutage zurecht nicht mehr als weltlicher Arm der Kirche und folgerichtig die Kirche nicht mehr als geistlichen Arm des Staates. Der alte Ansatz, daß die Kirche kraft göttlicher Stiftung mindestens Teil der gottgewollten staatstragenden Organe sei,680 bzw. der noch ältere, daß weltliche und geistige Macht in Gott konfundiert und aus der Hand des Pontifex Maximus an weltliche und geistliche Oberhäupter zu verteilen 674

„In Ansehung der Sektiererei (welche wohl auch ihr Haupt bis zur Vermannigfaltigung der Kirchen erhebt, wie es bei den Protestanten geschehen ist) pflegt man zwar zu sagen: es ist gut, daß es vielerlei Religion (eigentlich kirchliche Glaubensarten in einem Staate) gibt, und so fern ist dieses auch richtig, als es ein gutes Zeichen ist: nämlich daß Glaubensfreiheit dem Volke gelassen wurde, aber das ist eigentlich nur ein Lob fllr die Regierung." Der Streit der Fakultäten, A 79. 675

Zur Einführung geeignet: Jarass/Pieroth. (Hg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar, Vierte Auflage, München 1997, Einl. zu Art. 4 GG. 676 Dieses Heranziehen ist auf deshalb nötig, weil die kantischen Bestimmungen zu religionsrechtlichen Fragen - aus welchen historischen Gründen auch immer - hinter den Möglichkeiten seines Systems zurückbleiben und man deshalb zum Zwecke der Entfaltung dieses Systems über diese Bestimmungen hinausgehen muß. 677

Vgl. Art. 137 I WRV (RGBl. 1383) i.V.m. Art. 140 GG. Vgl. auch BVerfGE 19, 206/216. Kant spricht von einer sich auf das Himmelreich beziehenden irdischen Verfassung: M.d.S. RL Anhang Β 179/180. 679 Vgl. Jarass/Pieroth (Hg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar, Vierte Auflage, München 1997, Rn. 40 zu Art. 4 GG. 680 Umstritten: Hollerbach, Alexander: Rn. 541 in: HbStR (Handbuch des Staatsrechts) VI. 678

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sei,681 und somit die Kirche hoheitliches Glied des Staatskörpers mit eigenem exekutiven Rang, erklärt die Abkunft der, heute zunehmend in Frage gestellten, öffentlich-rechtiichen Gesellschaftsnatur der Kirchen.682 Kirchen sind privilegierte Personalkörperschaften, die juristisch als „rechtsfähige Verwaltungseinheit mit verbandsmäßiger Rechtsgestalt" gefuhrt werden.683 Darüber hinaus wird ihnen öffentliche Gewalt im Rahmen ihrer öffentlich-rechtlichen Stellung zuerkannt. Hierbei handelt es sich nicht um eine Verbandsgewalt, die als umgelenkte Subjektsautonomie unter der staatlichen Gewalt bestünde, sondern um eine eigene hoheitliche Gewalt neben der staatlichen.684 Damit haben die Kirchen einen Sonderstatuts, der sie, zumindest in Deutschland, von allen anderen Interessenverbänden in der Rechtsform des bürgerlichen Vereins mit freiwilliger Mitgliedschaft scharf unterscheidet. Aus der Sicht der Kirchen ist diese Sonderstellung angemessen: sie soll das eigene Selbstverständnis ausdrücken, unegoistisch über allen gesellschaftlichen Partikularinteressen zu stehen und dennoch nicht in Gemeinwohlbelangen aufzugehen. 685 Breite Strömungen in der juristischen Literatur schließen sich der Verteidigung der überkommenen staatskirchenrechtlichen Regelungen an.686 Rechtsphilosophisch ist anders zu denken.687 Verglichen zum Beispiel mit den politischen Parteien (Rechtsnatur: ρπνα/rechtliche Vereinigung mit eingeschränkt

681

Darstellend zur Geschichte des Rechts der Religionsgemeinschaften: Rn. 1-7 zu Art. 4 GG in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland („Alternativkommentar"), Darmstadt 1984. 682 Zu den damit zusammenhängenden positivrechtlichen Regelungen vgl. unten. Außer den Kirchen und den direkt-staatlichen Organen haben nur noch die Kammern, und auch diese aus historischer Reminiszens, den Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften. Für einen herausgehobenen geseUschaftsrechtlichen Status der Kirchen argumentieren Triesch, Günter und Ockenfels, Wolfgang: Interes enverbande in Deutschland. Ihr Einfluß in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, München 1995, S. 168. Dagegen: Jurina, Josef: Der Rechtsstatus der Kirchen im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten, Berlin, 1972, S. 36-40. 683 Jarass/Pieroth (Hg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar, Vierte Auflage, München 1997, Rn. 24-27 zu Art. 4 GG. 684 Vgl. kritisch: Jurina, Josef: Der Rechtsstatus der Kirchen im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten, Berlin, 1972, S. 48ff. 685 Insbesondere Paul Mikat hat sich in zahlreichen Veröffentlichungen, abstellend auf die soziale Verantwortungsübernahme der Kirchen in der Gesellschaft, für eine Aufrechterhaltung des öffentlichen Rechtsstatus der Kirchen insbesondere gegenüber anderen Religionsgemeinschaften stark gemacht. Zur Kritik der Begründungskraft der sozial oder gesellschaftlich ansetzenden Argumente, vgl. Jurina, Josef, a.a.O., S.46ff., mit Bezug auf Mikat, ebd. S. 49. 686 Vgl. Jurina, Josef: a.a.O., S. 48-50. 687 Kant schreibt: „Ich will daher keinesweges so verstanden sein, als ob ich, in der Gegeneinanderstellung der Sekten, eine vergleichungsweise gegen die andere, mit ihren Gebräuchen und Anordnungen, geringschätzig machen wolle. Alle verdienen gleiche Achtung, so fern ihre Formen Versuche armer Sterblicher sind, sich das Reich Gottes auf Erden zu versinnlichen; aber auch gleichen Tadel, wenn sie die Form der Darstellung dieser Idee (in einer sichtbaren Kirche) für die Sache selbst halten." Rei Β 270, Anm.

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staatsrechtlichem Rang einer verfassungsmittelbaren Körperschaft) ist die öffentlich-rechtliche Gesellschaftsnatur der Kirchen (ohne verfassungsmittelbare Aufgaben) zunehmend rechtfertigungsbedürftig.688 Soll der öffentlich-rechtliche Status beibehalten werden, so muß eine Rechtfertigung aus grundrechtlicher Perspektive nachgeliefert werden.689 Denn nach ihr bestimmt sich die Systematik des rechtsnormativen Arguments, wie am Beispiel der Parteien zu sehen ist, deren verfassungsrechtliche Sonderstellung wesentlich nicht staatsorganisationsrechtlich, sondern grundrechtlich gerechtfertigt wird. Auch diese Frage ist in der juristischen Literatur noch umstritten. Staatsorganisationsrechtlich wird auf die Funktion der Parteien in der gesellschaftlichen Willensbildung als mittelbare Staatstätigkeit abgestellt, die rechtlich zu privilegieren sei. Grundrechtlich wird eben dieselbe Funktion als Realisation der subjektbezogenen Partizipationsgrundrechte und damit als Artikulation der beim Volke liegenden Souveränität ausgelegt. Diese Position überzeugt, da sie unmittelbar bei der Volkssouveränität in den Subjekten ansetzt, anstatt mittelbar die Subjekte zu Objekten eines selbstzweckhaften Staatssubjekts zu bestimmen. Im Rekurs auf das menschliche Subjekt, von dem her und auf das hin rechtliche Strukturen legitimiert oder verworfen werden, macht sich das kantische Projekt einer Rechtsphilosophie aus Freiheit manifest. So muß auch der rechtsnormative Blick nicht auf die staatsnützliche Religionstätigkeit gerichtet sein, sondern auf den grundrechtlichen Begriff der Religion. Dieser bestimmt sich gemäß dem Noumenon Religion als Grenzfall des Noumenon Recht. Im Handeln des Staates auf seine Subjekte ist Religion als rechtsguthaftes inneres sittliches Geschehen zu erkennen und schrankenlos zu sichern.690 Religion als Phänomen fallt unter die Verfassungsrechtsgarantie der 688

Der öffentlich-rechtliche Status soll aber nach neuerer Rechtsprechung nicht mehr die Kirchen in den Status der Staatsglieder erheben (BVerfGE 18, 385/386f.), sondern als gesellschaftliche Kräfte belassen (BVerfGE 66, l/19f.).

689

Man kann mit guten Gründen bezweifeln, daß dies überhaupt möglich ist. Zumindest aber dürfte eine solche Begründung ausgeschlossen sein, wenn sie die empirische Zufälligkeit der deutschen Staatskirchen, die gegenüber den anderen (privatrechtlich verfaßten) Religionsgesellschaften aus Traditionsgründen (vgl. Art. 137 V WRV (RGBl. 1383) i.V.m. Art. 140 GG) privilegiert sind, begrifflich fortschreibt (so bereits Preuß AltK 71 zu Art. 140 WRV). Hier ist vernunftbegrifflich der Kreis auf alle sittlich qualifizierten Religionsgesellschaften auszuweiten. 690

Die Schrankenlosigkeit des Gewissensfreiheitsrechts bezieht sich auf den Schutzbereich des Rechts, nicht - was absurd wäre - auf das Recht selbst. Damit ist eine umfassende verfassungs- und grundrechtliche Rechtfertigungssystematik bei jedwedem Eingriff in die Gewissensfreiheit erforderlich gemacht und so der weitestmögliche rechtsstaatliche Schutz gewährt. Problematisch ist, was als Unterfall einer religiösen, weltanschaulichen oder sonst gewissensfreiheitlichen Selbstbestimmung anzusehen ist. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, daß das BVerfG und die h.M. Schwierigkeiten haben zu bestimmen, wann es sich „tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion oder Religionsgemeinschaft" (BVerfG DVB1. 1991, 435) handelt. Eine Annäherung an den hier gegebenen Begriff des Noumenon Religion findet sich bei der höchstrichterlichen Bestimmung des Begriffs der

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allgemeinen Gewissensfreiheit, 691 der Freiheit der Glaubensaw/terwwg692 und der Freiheit der GlaubensawiHÒwrtg.693 Ausfluß der Freiheit zur Gewissensausübung ist das Recht der kollektiven Glaubensfreiheit,694 mithin das Recht der Religionsgesellschaften, sich als ethische Gemeinwesen selbst zu organisieren: das Satzungsrecht der privatrechtlichen und nichtrechtsfähigen Religionsgesellschaften695 und das Kirchenrecht der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften.696 Dieses Recht zur Selbstverfassung mitsamt der darin liegenden partiellen Rücknahme staatlicher Souveränitätsrechte erweitert die grundrechtliche Perspektive zur staatskirchenrechtlichen. Das Staatskirchenrecht bestimmt die Stellung vom Staat zur einzelnen Religionsgesellschaft und zur Gesamtheit der Religionsgesellschaften vor dem Hintergrund des Staatsorganisationsrechts (Rechtsform) und der Staatsgrundrechte (Rechtsmaterie). Hierhin gehört die Bestimmung allgemeiner Sonderrechte der Religionsgesellschaften gegenüber den nichtreligiösen Rechtsgesellschaften, 697 sowie der besonderen Sonderrechte der Kirchen gegenüber den nicht öffentlich-rechtlich organisierten Religionsge-

Gewissensentscheidung, als ,jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von 'gut' und 'böse' orientierte Entscheidung" (BVerfGE 12, 45 [55]), welche Bestimmung auch im Rahmen der Zusprechung der Religionseigenschaft ihre Verwendung finden könnte. Vgl. auch Anmerkung 704. 691 Die allgemeine Gewissensfreiheit, geregelt in Art. 4 I Var. 1, Var. 2 GG, umfaßt lediglich das forum internum des Gewissens. Sie stellt das legitimative Prinzip der einzelnen grundrechtlich geschützten rechtsrelevanten Gewissensäußerungen heraus und unter rechtliche Achtung. 692 Die Freiheit der Gewissensäußerung, geregelt in Art. 4 I Var. 3 GG, umfaßt die Freiheit der Äußerung wie der Nichtäußerung von Bekenntnis und Gewissensentscheidung. Schranken werden in Art. 136 III WRV i.V.m. Art. 140 GG formuliert, der gem. BVerfGE 19, 206 [219] „vollgültiges Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland geworden [ist] und [...] gegenüber den anderen Artikeln des Grundgesetzes nicht etwa auf einer Stufe minderen Ranges [steht]". Nach einheitlicher Überzeugung sind aber diese Schranken selber wieder im Lichte des Vollrechts aus Art. 4 I Var. 1, 2 inhaltlich zu bestimmen. 693 Die Freiheit der Gewissensausübung, geregelt in Art. 4 II GG, versteht sich negativ wie positiv, direkt wie indirekt, individuell wie kollektiv. Geschützt ist demnach sowohl die Freiheit auszuüben, wie nicht auszuüben, den Gewissensinhalt selbst auszudrücken, als auch ein aufgrund der Gewissensentscheidung erforderliches Anderes auszuüben, und dieses alleine oder mit anderen zu tun. 694 Vgl. Jaras/Pieroth (Hg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar, Vierte Auflage, München 1997 Rn. 40 zu Art. 4 GG. 695 Verfassungsrechtlich geregelt durch Art. 137 III, IV, WRV i.V.m. Art. 140 GG, das Nähere wird durch Landesrecht (gem. Art. 70 I GG) bestimmt. 696 Verfassungsrechtlich geregelt durch Art. 137 V, VI, WRV i.V.m. Art. 140 GG. 697 Diese Sonderrechte sind vornehmlich vermögensrechtlicher Natur (Art. 138 I, II WRV i.V.m. Art. 140 GG.

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sellschaften: 698 das Seelsorgeprivileg in Krankenhäusern, Strafanstalten und der Armee, 699 das Schulprivileg,700 die Kirchensteuer,701 das Arbeitsrecht.702 Es soll nicht bestritten werden, daß zwischen Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaften in den westlichen Gesellschaften phänomenal durchaus beträchtlich differierende Grade an Ernsthaftigkeit und Sittlichkeit der religiösen Praxis bestehen. 703 Wohl aber soll bestritten werden, daß die rechtliche Privilegierung der Kirchen einen anderen Grund haben dürfe, als den ihrer organisationeil verfestigten sittlichen Substanz.704 Sollten Sekten und andere Religionsgesellschaften dem gleichtun wollen und können, so ist nicht zu sehen, warum man ihnen die gesellschaftlichen Partizipationsrechte, die die Kirchen genießen, staatlicherseits verweigern dürfte. Alle Religionsgemeinschaften gehören zum dritten Sektor der gesellschaftlichen Institutionen und konsequentermaßen in das privatrechtlich geordnete Feld der Gesellschaft, nicht in das des Staates.705 Es darf staatlicherseits keine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem geben. Während negative Gleichbehandlung bei rechtskonformem Verhalten der Religionen uneingeschränkt geboten ist, zwingt die Frage nach positiver politischer Vorzugswürdigkeit einiger Religionsgemeinschaften vor anderen (auf der Grundlage von negativer rechtlicher Gleichbehandlung) zu unterscheiden:

Zu dem umstrittenen öffentlich-rechtlichen Status der Kirchen (Wahrung der Grundrechtsfähigkeit, Satzungsautonomie, staatsentzogene Gerichtsbarkeit ungleich der der staatlichen Überprüfung offenen Privatgerichtsbarkeit der Vereinigungen nach bürgerlichem Recht, etc.) vgl. Pieroth/Schlink: Grundrechte /Staatsrecht II, Bonn 1991, Rd. 593 m.w.N. 699 Verfassungsrechtlich geregelt durch Art. 141 WRV i.V.m. Art. 140 GG. 700 Verfassungsrechtlich geregelt durch Art. 7 III, V GG. Zur Grundrechtsproblematik vgl. BVerfGE 52, 234 (Schulgebet-Fall). 701 Verfassungsrechtlich geregelt durch Art. 137 VI WRV i.V.m. Art. 140 GG i.V.m. den aufgrund der Staatskirchen Verträge erlassenen Rahmengesetze der Länder (gem. Art. 105 II a GG). 702 Gem. § 81 Abs. 2 BetrVerfG sind die Kirchen vom allgemeinen Betriebsverfassungsrecht ausgenommen zugunsten eigener Satzungsautonomie und zu Ungunsten der kirchlich Beschäftigten. 703 Vgl. König, Godehard: Sekten, in: Staatslexikon, Freiburg 1987, S. 1148/1149. 704 Ähnlich orientiert sich die Rechtsprechung. Prinzipiell jede Religionsgesellschaft kann öffentlich-rechtlich werden (BVerfGE 19, 129/134f.), wenn sie nach Größe und Verbreitung, Grad der öffentlichen Wirksamkeit und nach ihrer kultur- und sozialpolitischen Leistung (BVerwGE 87, 115/127f.) dazu geeignet ist. Unbedeutend für die rechtliche Zuerkennung sind die Länge der Tradition des Glaubens, ein eventuelles Konkordat und die Mehrheitsmeinung des Volkes. Vgl. Jarass/Pieroth (Hg.):Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar, Vierte Auflage, München 1997, Rn. 27 zu Art. 4 GG. Signifikant ist, daß das bundesrepublikanische Recht negativ darauf abstellt, daß eine Vereinigung als Religionsgemeinschaft nicht anzuerkennen ist, wenn sie „primär auf Gewinnerzielung" ausgerichtet ist und somit eher dem zweiten als dem dritten Sektor der gesellschaftlichen Kräfte zuzuordnen ist. (Vgl. ebd. Rn 24 zu Art. 4 GG.) 705

Dem folgt die neuere Rechtsprechung halbherzig. Der öffentlich-rechtliche Status soll nach ihr nicht mehr die Kirchen in den Status der Staatsglieder erheben (BVerfGE 18, 385/386f.), sondern als gesellschaftliche Kräfte belassen (BVerfGE 66, l/19f.).

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Immer dann, wenn soziale Organisationen jeglicher Art mit Zwecken staatspolitischer Maximen zusammengehen, erlaubt sich der Staat, seine Ziele über diese Institutionen umzusetzen, indem er, statt eigene Kräfte zu bemühen, deren Kräfte (finanziell) fordert. Dies ist auch im Rahmen der religiösen und religionsnahen Organisationen so. In solchen Belangen muß allein die Koinzidenz von politischsittlichen und religiös-sittlichen Zwecken entscheiden, es darf keine staatliche Bewertung der verschiedenen religiös-ideologischen Bekenntnisse den Ausschlag geben. Die Selbstlegitimation der Religionen im Rekurs auf ihre besonderen religiösen Geltungsquellen, bleibt, selbst wenn sie privat von den politischen Funktionsträgern geteilt wird, eine interne Angelegenheit der Religionsgemeinschaften, deren diesbezügliche Unterschiede irrelevant sind fur die staatliche Behandlung religiöser Phänomene. Teilaspekte dieses religionsrechtlichen Gesamtkomplexes wurden von Kant gesehen und in einzelnen Untersuchungen im Anhang zur Rechtslehre und in den Reflexionen traktiert, 706 eine systematische Aneignung auf Grundlage der kantischen Rechtsphilosophie steht aber nach wie vor aus.707

3.3.2. Gesellschaftspolitik Den rechtlichen Rahmen religiöser Gesellschaftspolitik gibt das Staatskirchenrecht vor. Inhaltlich wird dieser Rahmen von den Religionsgemeinschaften ausgefüllt unter den Bedingungen politischer Öffentlichkeit. Die Religionen treten innerhalb der Gesellschaft als konkurrierende Vereinigungen auf. Die Absolutheit ihrer Geltungsansprüche ist faktisch bereits gebrochen, sobald sie sich in den gesellschaftspolitischen Diskurs einspeisen, um an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken oder fur sich zu werben. Sie unterwerfen sich dann der kommunikativen Ratio des forum externum publicum und stehen miteinander in einem prinzipiellen Gleichberechtigungsverhältnis. Sie bringen ihre Maximen zum politischen Handeln ebenso ein wie alle anderen gesellschaftlichen Kräfte. Daß ihnen dabei eine besondere Rolle im Blick auf moralisch kritische Entscheidungen und auf den gesellschaftlichen Abbau von konkreter ethischer Asymmetrie (Verteilungs-, Geschlechter- und Generationengerechtigkeit etc.) zukommt, ist eine im folgenden zu entwickelnde Konsequenz des normativen Begriffs der Religion. Eine rechtliche Sonderstellung folgt aus dieser moralischen Meinungsführerschaft allerdings nicht. Die Möglichkeiten religiöser Stellungnahme zur gesellschaftlichen Welt sind ungezählt,708 sollten sich aber immer einem übergeordneten Gesichtspunkt 706

So z.B. die Stellungnahmen zum religiösen Stiftungswesen: M.d.S. RL Anhang Β 178ff. Vgl. Küsters, G.-W.: Kants Rechtslehre - Erträge der Forschung, Darmstadt 1988, S. 143 / 144. 708 Vgl. Hans Maier: Kirche und Gesellschaft, in: Staatslexikon, a.a.O., S. 460. 707

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verdanken. Obwohl Religion sich nicht in äußeren Betätigung erschöpft, erfüllt sich Religiosität gerade auch in der religiös motivierten Gestaltung der Welt. Der kantische Religionsbegriff macht da keine Ausnahme.709 Gehen wir von einer prinzipiell antifundamentalistischen religiösen Funktion im sozialen Gesehen aus, so lassen sich abstrakt drei Relationen von Religion und Politik ausmachen. Eine Position (politisierte Religion) könnte das Gewicht einseitig auf die Politik legen und versuchen, die Religion in ihrem Externum wie in ihrem Internum dafür in die Pflicht zu nehmen. Es ist klar, daß Kants Theorie dem widerspricht, weil im politischen Zugriff auf das religiöse Internum eine fundamentale Verletzung der Selbständigkeit der sittlichen Handlungsebenen zu sehen ist. Ferner darf ein solches Projekt in seiner Chance auf Durchsetzung skeptisch beurteilt werden,710 da das belebende Prinzip der Religion ja ihr sinnkonstitutives Transzendieren endlich-verzweckter Weltzugänge ist. Eine weitere Position (religiöse Politik) könnte einseitig das Schwergewicht auf die Religion legen und nur ihr die Etablierung politischer Sittlichkeit zutrauen. Sie müßte fordern, daß die politischen Kräfte sich nicht nur intern religiös orientieren, sondern daß auch extern der gesellschaftliche Diskurs um das politische bonum religiös ausgerichtet werde. Ein solcher Ansatz unterbestimmt Kants Politikbegriff, der, ohne konstitutiv auf letzte Orientierung zurückzugreifen, durch performative Publizität zur Bestimmung handlungsleitender (vorletzter) Zweckbestimmungen kommt. Zudem überschätzt er die Wirkmächtigkeit der Religionen in säkularisierten Gesellschaften.711 Eine dritte Position wäre als die Vermittlung der vorangegangenen Ansätze zu entwerfen. Sie müßte sich die Wahrung der prinzipiellen Eigenständigkeit beider Handlungsebenen und deren geltungstheoretische Selbstgenügsamkeit zum Ausgangspunkt nehmen und eine kommunikative Vernetzung beider Ebenen, - Religion im Ausgriff auf einen weltlich zu realisierenden Endzweck, Politik im Rückgriff auf religiöse Weltdeutung, - abstellen. Diesem Modell wäre nach der hier vorgelegten Interpretation das Noumenon Religion zuzuschlagen. 709 Es liegt nahe, Kants liberalen Religionsbegriff in die Nähe der Begriffe religion civil (Rousseau), civil religion (Bellah), bzw. Zivilreligion (Lübbe) zu rücken. Um nicht eine unfruchtbare Diskussion um den Inhalt der Begriffe bei Rousseau, Bellah und Lübbe zu führen, ist hier der kantische Ansatz mittels modellierter Positionen skizziert. Zu Lübbe und Bellah vgl. Schieder, Rolf: Über Zivilreligion, politische Religionskompetenz und die Zivilisierung der Religion, a.a.O. S. 75 ff. 710

„Denn eine politisch funktionalisierte Religion hat gerade das verloren, was im Bewußtsein der Menschen die Voraussetzung von Religion ist: ihre Glaubwürdigkeit. Der Instrumentalisierungsverdacht verhindert darum auch, daß zivilreligiöse Reden, Symbole und Riten die von ihnen erwarteten Integrations- und Legitimationsleistungen erbringen können." Schieder, Rolf: Über Zivilreligion, politische Religionskompetenz und die Zivilisierung der Religion, a.a.O. S. 79. 711 Vgl. Schieder, Rolf: Über Zivilreligion, Religion, a.a.O. S. 76.

politische

Religionskompetenz

und die Zivilisierung

der

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Auffallend ist, daß die erfahrbare Vernetzung von Religion und Politik sich zumeist auf dem Boden der Moral abspielt, bzw. daß allgemein die Religionsgemeinschaften als Instanzen verstanden werden, die in herausgehobener Weise kompetent seien, das gesellschaftliche Durchdenken und Fällen von moralischkritischen Entscheidungen anzuleiten. Gemeinhin - und vor allem seitens der Religionsgemeinschaften selbst - wird diese angebliche Kompetenz zurückgeführt auf die privilegierte Kenntnis der Religionen vom Transzendenten, das als Unverfügbares gegen zweckrationale Vereinseitigungen zur Geltung gebracht wird. Tatsächlich ist diese gesellschaftlich tradierte Verantwortungszuweisung nicht ohne jeden Grund und läßt sich mittels der kantischen Religionsphilosophie reflektieren und rechtfertigen. Zu allererst ist der Bezug auf eine Schöpfüngs- oder Stufenordnung des Seins, die auch das unbedeutende Seiende heiligt, indem sie es in ontologischen Zusammenhang mit dem Weltganzen bringt, ein Regulativ, mit dem einer technisch-verkürzten Rationalität begegnet werden kann. Konkret: am Leitfaden der Idee einer einheitlichen Schöpfung kann beispielsweise der Unwert ökologischer Unverhältnismäßigkeit erkannt werden, bevor deren Folgen sich schädlich auswirken.712 Desweiteren verfügen religiöse Menschenbilder in ihrer Ausrichtung am Transzendenzbedürfnis der Subjekte über eine vertiefte Menschenkenntnis, welche bei Entscheidungen ausschlaggebend sein kann, die Thematiken betreffen, wie zum Beispiel die Kultur- und Bildungspolitik, die mit materiell quantifizierenden Parametern unzureichend erfaßt werden. In diesen Bereich zählt auch die Traditionsverwaltung und Traditionsvermittlung, die seitens der Religionsgemeinschaften im Rahmen ihrer symbolischen Selbstverständigung geleistet wird, die ebenfalls ein kulturelles Wissen über den Menschen bewahrt, das über den Zeitgeist hinausragt. Entscheidend und die Mitte zu diesen Phänomenen gebend ist und bleibt aber das Noumenon Religion. Religion kann gar nicht zu sich selbst kommen, wenn sie sich nicht moralisch mit der Welt vermittelt. Religion ist ja im Kern nichts anderes, als der Versuch von Subjekten, in gemeinschaftlicher Anstrengung einer ethisch asymmetrischen Welt stets aufs neue sittliches Gepräge und sittlichen Sinn zu geben. So sind insbesondere diejenigen politischen Entscheidungen eines Gemeinwesens von höchster Bedeutung für das Selbstverständnis religiöser Menschen und Institutionen, die auf die religiös beanspruchten guten Anlagen des Menschengeschlechts rekurrieren. Eine unmoralische politische Willensbildung ist aus der Sicht der Religion nicht nur ein Stück mißliebige Realität, sondern vor 712 Hier soll keiner ökozentrischen Ethik das Wort geredet werden, sondern lediglich der gültige anthropozentrische Ansatz vor einer Verkürzung bewahrt werden, die darin liegt, die gültige rechtliche Qualifikation von Tieren und Pflanzen als Sache unterschiedslos auch als politische Qualifikation zu gebrauchen. Der Begriff der Lebensqualität beispielsweise ist politischer Natur, da in ihn (Begriff des guten Lebens) mehr eingeht als nur die Erhaltung der Möglichkeitsbedingungen des t/èerlebens, insofern er also die rein rechtliche Qualifikation übersteigt.

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allem eine Abkehr der menschlichen Gemeinschaft von der religiös verkündeten Botschaft, das Gute sei möglich, und damit unausgesprochen eine Leugnung des Fundaments religiösen Lebens. Nicht zuletzt deshalb verknüpfen religiöse Gruppierungen so weitgehend die Legitimation ihres öffentlichen Auftretens mit ihren kulturellen und sozialen Moralisierungserfolgen. Indem sie unterrepräsentierte moralische Interessen in der Gesellschaft durchsetzen, zeigen sie gegen alle hedonistischen Theoreme die praktische Wirklichkeit des Guten im Menschen. Insofern und solange es Religionsgemeinschaften gelingt, mittels organisierter Öffentlichkeit auch die Achtung derer fur die von ihnen vertretenen Interessen einzuklagen, die ansonsten eigennützigen Interessen ihre Stimme geben würden, verschaffen sie der von ihnen vertretenen religiösen Botschaft diejenige Allgemeingütligkeit, welche diese immer schon in Anspruch nimmt. Das zum Teil rigorose Aufbäumen religiöser Gruppen in moralischen Fragen der Politik ist nicht nur Makulatur und Kampf gegen soziale Bedeutungsverluste, sondern, solange es sich in den rechtlichen Formen gesellschaftlicher Meinungsbildung bewegt, notwendige und darum legitime Äußerung religiös-sittlicher Spiritualität. Wenn auch den Religionsgemeinschaften keine Rechtsprivilegien zur Umsetzung ihrer moralischen Zwecke zustehen, das sozialmoralische Privileg herausgehobener öffentlicher Respektierung in der gesellschaftlichen Willensbildung dürfen sie als Achtungserfolg ihrer sittlichen Anstrengungen verbuchen.

3.3.3. Religiöser Dialog in der Moderne Der Dialog der Religionen ist von hohem Interesse für eine normative Religionsphilosophie, weil in ihm der Religiöse sein eigenes normatives Selbstverständnis gegenüber anderen Menschen durchzusetzen versucht, die sich ebenfalls auf ein religiöses Selbstverständnis und dessen Geltungsgründe berufen. Im politischen Arrangement der religiösen Kräfte begegnet sich das phänomenale religiöse Bewußtsein selbst und erfahrt am Gegenüber die Negativität eigener Absolutheitsansprüche. Anders als die über die weltliche Opposition vermittelte Kritik ist religiöse Opposition nicht auf die Außenseite der Religion beschränkt und ihr schon deshalb nicht äußerlich. Der religiöse Gegner affirmiert ja, daß es Religion und religiös motivierte Handlungen gibt, negiert aber bestimmte religiöse Inhalte. Die Kritik der Religion durch andere Religion trifft das aufrichtige religiöse Bewußtsein im Zentrum seiner selbst und zwingt es bei Strafe des Selbstwiderspruchs zu kritischer Religiosität. Im interreligiösen Dialog der Religionen sind große kulturelle und politische Differenzen zu überbrücken, um das Allgemeine religiöser Orientierung für die religiösen Parteien selbst sichtbar zu machen. Dennoch sind Chancen wechselseitiger Anerkennung durchaus gegeben, da das inhaltliche Auseinanderfallen der Weltreligionen sozialkultureller und nicht schismatischer Natur ist. Die

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Ungleichheit fremden Glaubens wird als abstrakte Negation der eigenen Überzeugung aufgefaßt, sie ist eher Andersartigkeit als Angriff. 713 Deshalb könnten die Weltreligionen in einheitlicher Frontstellung gegen unreligiöses und unsittliches Leben stehen, haben sie hierin doch einen gemeinsamen Gegner. Stattdessen aber sind sie oft stärker um eine Abgrenzung zu den jeweils anderen Religionsgemeinschaften bemüht, als um eine einheitliche Frontstellung gegen den Wertnihilismus. Der religiöse Zwist, der angesichts der Weltreligionen noch auf deren kulturell weit auseinanderfallenden Konzeptionen von Diesseits und Jenseits beruhen könnte, verliert spätestens im intrareligiösen Dialog jede Plausibilität. Zwar erschöpft sich die intrareligiöse Politik der Religionen auf sich selbst nicht im Konfessionenstreit, dennoch liegt hier ihr paradigmatischer Schwerpunkt.714 Die Tatsache, daß eine vormals einige Religionsgemeinschaft in uneinige Teile zerfallt, greift fundamentaler den Allgemeingültigkeitsanspruch einer Religion an, als das Bestehen von fremder, von vorneherein ungleicher Religion in anderen Kulturräumen. Dem Schisma liegt die konkrete Negation der mutualen Partei zugrunde. Es macht nicht nur empirische Uneinigkeit sichtbar, sondern zeigt, daß unterschiedliche religiöse Positionen nicht durch göttliche Stiftung, sondern durch menschliche Option entstehen. Menschen sind es, die Kirchen spalten, menschliche Gründe, die die Abspaltungen zu rechtfertigen suchen.715 Die Immanenz der Logik religiöser Abspaltung stellt die Position der jeweils anderen Partei radikal in Frage und wirft damit ein zweifelhaftes Licht auf die gemeinschaftlichen Fundamente, aus denen auch diese hervorgeht. Die Saat des Schisma liegt jenseits des Noumenon Religion und zeigt in ihrem Aufgehen die Zufälligkeit des verselbständigten religiösen Phänomens an.716 Historisch und begrifflich folgt auf den schismatischen Disput der ökumenische Diskurs. Der ökumenische Diskurs ist seiner Natur nach bestrebt, den Ein7,3

Die Mühseligkeit und der späte Zeitpunkt der Einigung der Parlamente der Weltreligionen über ein einheitliches Weltethos 1979 in Kyoto stimmen allerdings eher skeptisch als zuversichtlich, was die interreligiöse Annäherung anbelangt. Vgl. darstellend und diskutierend: Küng, Hans: Projekt Weltethos, München, 1990, S. 89ff. 714

Kant erkennt den Zerfall der Kirchen in Konfessionen und Sekten als allgemeines Phänomen von Religionsgemeinschaften: „So hegt eine jede Kirche den stolzen Anspruch, eine allgemeine zu werden; so wie sie sich aber ausgebreitet hat, und herrschend wird, zeigt sich bald eine Prinzip der Auflösung und Trennung in verschiedene Sekten." Rei Β 183, Anm. Dieses Phänomen dürfte seinen Grund in der Tendenz der Verabsolutierung des Besonderen haben, wie sie in dieser Arbeit als allgemeines „Vitium subreptionis" der Ideologien herausgearbeitet wurde. 715 „Die Sektiererei [...] entspringt immer aus einem Fehler des Kirchenglaubens: seine Statute (selbst göttliche Offenbarungen) für wesentliche Stücke der Religion zu halten, mithin den Empirism in Glaubenssachen dem Rationalism unterzuschieben, und so das bloß Zufällige für an sich notwendig auszugeben." Der Streit der Fakultäten, A 74. 716 „Von dem Punkte also, wo der Kirchenglaube anfängt, für sich selbst mit Autorität zu sprechen, ohne auf seine Rektifikation durch den reinen R e l i g i o n s g l a u b e n zu achten, hebt auch die Sektiererei an;" Der Streit der Fakultäten, A 76.

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heitspunkt auszumachen, von dem aus die Gemeinsamkeit des Zerfallenen gesehen werden kann. Dieser Einheitspunkt kann zwar deskriptiv gesucht werden, denn es überschneiden sich ja die Konfessionen dogmatisch. Doch ergibt die Schnittmenge kein Kriterium, wie mit den von dieser Menge abweichenden Differenzen umzugehen ist, bzw. welche Bedeutung ihnen zukommt. Das Verhandeln um Angleichung verkommt zum kompromißlerischen 'do ut des', dem die ursprünglichen Gehalte der Differenz entfallen. Das gesuchte Einheitsprinzip wird - notwendigermaßen - empirisch nicht gefunden. Das Noumenon Religion ist dieses Prinzip a priori, von dem aus die konfessionellen Abweichungen nach ihrem sachlichen Wert evaluiert werden könnten und mittels dessen die scheinbare Unvereinbarkeit sprachlicher Setzungen durch einen einheitlichen hermeneutischen Focus aufzuheben wäre.717 Eine Vergemeinschaftung der Konfessionen sollte Konzentration auf das Wesentliche ohne Nivellierung von specifica ermöglichen.718 Die Philosophie des Noumenon Religion beschreibt einen Weg zu diesem Ziel, das, um erreicht werden zu können, allerdings von allen Seiten gewollt sein müßte. Das Noumenon Religion benennt die einheitliche Aufgabe und den Sinn religiösen Bemühens und erkennt dennoch die Eigenständigkeit der Wege an. Als Einheitsbegriff religiöser Orientierung ist er differenzierter als der eines induktiv bestimmten Weltethos719 und er ist zukunftsoffen, wie es ein phänomenal gewonnenes Abstraktum religiöser Werte nie sein könnte. Mittels des Noumenon Religion können trennscharf die sittlichen Funktionen von Religion ermittelt werden, widerrechtliche und widermoralische Auswüchse zurückgenommen und sonstige interreligiose Unterschiede (Adiaphora) anerkannt werden als notwendiger Rekurs menschlicher Vernunft auf ihr Gegenüber. Es bleibt denkbar, daß unter der Leitidee des Noumenon Religion die regressive und repressive moralische Energie der empirischen Religionen sich in eine progressive und produktive verwandelt, und es zunehmend gelingt, in ethischen Gemeinwesen 717

Dabei könnte sich dieser Focus beispielsweise über normative Fluchtpunkte gewinnen lassen, die außerhalb der dogmatischen Differenzen liegen. Erste Schritte in diese Richtung der exoterischen Orientierung der christlichen Konfessionen lassen sich erkennen in den Treffen der christlichen Kirchen der Welt, die 1988 in Stuttgart, 1989 in Basel und 1990 in Seoul die Forderungen nach Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung als Botschaft ihres Glaubens geltend machten. Vgl. Kiing, Hans: Projekt Weltethos, München 1990, S. 90/91. 718

„Aufgeklärte Katholiken und Protestanten werden also einander als Glaubensbrüder ansehen können, ohne sich doch zu vermengen, beide in der Erwartung (und Beabsichtigung zu diesem Zweck): daß die Zeit, unter Begünstigung der Regierung, nach und nach die Förmlichkeiten des Glaubens (...) der Würde ihres Zwecks, nämlich der Religion selbst, näher bringen werde." Der Streit der Fakultäten, A 80. 719

Zur Diskussion des Küngschen 'Projekt Weltethos' vgl. Schockenhoff, Eberhard: Brauchen wir ein neues Weltethos? Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, in: Theologie und Philosophie 70 (1995), S. 223-242, bes. S 224. Küng reformuliert und refundiert sein Anliegen vor dem christlich-dogmatischen Hintergrund vertieft in: Das Christentum - Wesen und Geschichte, München u.a. 1994, insbs. 890-899.

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Aspekte des Reiches Gottes auf Erden zu verwirklichen.720 Es wäre deshalb zu wünschen, daß zeitweilige Annäherungen der Weltreligionen sich anders motivieren als ein Schulterschluß im Rückzugsgefecht. Nun läßt sich mit guten Gründen vorbringen, daß die hier durch das Noumenon Religion geleistete Phänomenkritik überholt sei und moderne westliche Religionsgemeinschaften so nicht träfe; diesen stünde eine aufgeklärte Theologie zur Seite und sie hätten ein kritischeres Verhältnis zur eigenen Botschaft und deren Geltungsansprüchen, als die Kirchen, die Kant im Blick hatte. Muß dennoch der Theologie fernerhin interne Kritikunfähigkeit zu unterstellt, die Religion des Umschlags in Fundamentalismus verdächtigt und die normative Ausrichtung des Religiösen der normativen Religionsphilosophie übertragen werden? Meines Erachtens ist die in diesen Fragen artikulierte Spannung zwischen Kritikbegriff und kritisierter Wirklichkeit nicht dem kantischen Theoriekonzept anzulasten. Sicherlich ist heutzutage und hierzulande Religion durch die kulturelle Aufnahme der vielstufigen Religionskritik vergangener Jahrhunderte dem Noumenon Religion näher als zu Kants Zeiten. Zur modernen religiösen Reflexion gehört bereits der Gesichtspunkt der Selbstanwendung kritischer Einsichten. Ein religiöser Mensch begreift sich zutreffend, wenn er sich ebenso wie Andersgläubige als Repräsentant einer Religion unter anderen versteht.721 Die Selbstverständlichkeit religiöser Zugehörigkeit wird durch die bloße Kenntnisnahme von anderen Religionsformen gebrochen. Daraus muß zwar keine inhaltliche Reflexion auf den Status religiöser Wahrheit erfolgen, performativ aber setzt das Vorhandensein anderer Deutungsansätze neue diskursive Maßstäbe. Die zuvor selbstverständliche Deutungswahrheit wird zu einer durchzusetzenden Wahrheit: der Gläubige muß sich entscheiden zwischen aufgehobener, aufgeklärter oder fundamentalistischer Religiosität; die Möglichkeit unschuldig naiven Dogmatismus jedenfalls ist ihm genommen. Jede aufrechterhaltene Zugehörigkeit zu einer besonderten Religionsform ist fortan Entscheidung statt Entwicklung, Wahl statt Schicksal. Sie muß sich als nicht mehr selbstverständlicher Stand innerreligiös, interreligiöse und außerreligiös rechtfertigen aus dem nun zur Reflexivität gezwungenen Selbstverständnis des religiösen Individuums. Weiß sie sich als positivierte Möglichkeit unter anderen, so muß sie das von ihr in Anspruch 720

Kant denkt dies an bezüglich einer Aneinanderfiihrung von Judentum und Christentum: „Selbst in Ansehung der Juden ist dieses, ohne die Träumerei einer allgemeinen Judenbekehrung (zum Christentum als einem m e s s i a n i s c h e n Glauben) möglich, wenn unter ihnen, wie jetzt geschieht, geläuterte Religionsbegriffe erwachen." Der Streit der Fakultäten, A 80. Die Besonderheit beider Parteien soll dadurch gewahrt bleiben, daß ihnen „die Schriftauslegung (der Thora und des Evangeliums) frei gelassen werden milßte, um die Art, wie Jesus, als Jude zu Juden, von der Art, wie er als moralischer Lehrer zu Menschen überhaupt redete, zu unterscheiden." So, vermutet Kant, könne man sich in etwa „den Beschluß des großen Drama des Religionswechsels auf Erden" vorstellen. Der Streit der Fakultäten, A 82. 721

Vgl. Schrödter, Hermann: Religion - Menschenrechte über den Weg zur 'einen Welt'. a.a.O. S. 293.

- Weltethos. Ein philosophischer Versuch

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genommene allen anderen ebenfalls zugestehen.722 Aus der Situation der Wahl muß die Toleranz vor der Wahl des Anderen emergieren. Steht eine Religionsgemeinschaft als ganze unter diesen Bedingungen und will sie ihre sittliche Substanz weder in Fundamentalismus verkehren, noch in Relativismus auflösen, so muß sie einen dritten Weg gehen, der die zerbrochene Selbstverständlichkeit des Geglaubten mit dem Glauben intern vermittelt. Diese Vermittlung kommt einer theologischen Revolution gleich, da jede Religion an sich von dem Anspruch lebt, die einzig wahre Botschaft zu lehren.723 Die Theologie als Hüterin der Religion muß also einerseits ihre Lehre vor der Relativierung schützen und andererseits die Wendung zur Pluralität intern zur eigenen Botschaft transformieren und nicht nur extern adaptieren.724 Die Religion muß die Religionskritik internalisieren, um ihr eigenes, vormals selbstverständliches Ethos an und für sich zu erreichen. Wenn sich das religiöse Bewußtsein durch die Aufklärung nicht negiert sehen will, so muß es aufgeklärte Religion als eigentliche Religion verstehen. Man kann wohl den großen westlichen Religionsgemeinschaften konzedieren, daß ihnen diese Wende weitgehend gelungen ist. Der Verlust an Mitgliederzahlen und phänomenaler Wirkmächtigkeit dürfte durch den qualitativen Gewinn reflektierter, versittlichter Religiosität mehr als ausgeglichen sein. Der Verlust an unbezweifelten dogmatischen Beständen könnte aufgefangen werden durch eine verstärkte Beteiligung der Laien an der religiösen Willensbildung und Lehrentwicklung.725 Es ist eine Frage genuinen religiösen Selbstverständnisses, diese Rückführung auf die religiösen Wurzeln nicht als Reduktion, sondern als Punktgewinn in religiöser Authentie zu verbuchen. Die westlichen Religionsgemeinschaften sollten sich zu ihrer weltlichen Ohnmacht und intellektuellen Verhaltenheit beglückwünschen, nicht nur im Negativabgleich mit islamischen Fundamentalismen, sondern auch vorwärtsgewandt reflektierte Religiosität als zeitgerechten Ausdruck des Noumenon Religion verstehen. Derartige kritische Selbsterfassung ist Kennzeichen entwickelter und vertiefter Religiosität.726 Ein weiteres Feld, in dem sich das Noumenon Religion indirekt aber wirkmächtig zur Geltung bringt, ist die Spannung zwischen tradierter Lehre und sich wandelnder Wirklichkeit. Zum aneignenden Verstehen der überlieferten Botschaft vor gewandeltem Hintergrund empfiehlt Kant der Theologie eine nichttheologische Hermeneutik. Wenn die Theologie erfolgreich normativ selbstbe-

722

Vgl. Schrödter, Hermann: a.a.O. S. 297. Vgl. Schrödter, Hermann: a.a.O. S. 296. 724 Vgl. Luhmann, Niklas: Funktion der Religion, Vierte Auflage, Frankfurt 1996, S. 269. 725 Bereits Kant moniert: „Daß aber der sogenannte Laie (laicus) in Sachen der Religion, da diese als Moral gewürdigt werden muß, sich seiner eigenen Vernunft nicht bedienen, sondern dem bestallten G e i s t l i c h e n (clericus), mithin fremder Vernunft folgen solle, ist ungerecht zu verlangen." Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A 121. 723

726

Vgl. Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S. 248.

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züglich wäre, so ließe sich dieser Schritt gar nicht verstehen. Er erklärt sich nur vor dem Hintergrund, daß die Theologie im Umgang mit ihrer Tradition und in der Anverwandlung der Gegenwart einer Hermeneutik bedarf, die sich nichtgeschichtlichen Parametern verdankt. Wenn die Theologie in ihrer Selbstverortung zwischen vergangenem, gegenwärtigem und zukunftsgerichtetem Denken zu wählen hat, so bedarf sie einer überzeitlichen Orientierung. Der Auslegungsdisput mitsamt der Problematik der Internalisierung externer Orientierungsmaßstäbe ist längst theologiewissenschaftlicher Gemeinplatz.727 Die Partei des Vergangenen übernimmt die Kirchentheologie, die auf den gesetzten Erfahrungsschatz und dessen gefestigte Sittlichkeit abstellt. Werterhalt gegen Wertverfall, Gottesfurcht gegen Weltverliebtheit sind die Parolen der Kirchentheologie. Die Partei des Zukünftigen betreibt Kulturtheologie und bezieht Normativität aus der Authentizität des Neuen. Aufrichtigkeit gegen Sittsamkeit, Offenheit gegen Selbstverliebtheit, sind die Parolen der Kulturtheologie. Eine gültige Vermittlung dieser Positionen muß sich intersubjektiv als geltungskräftig erweisen. Die intersubjektive Zustimmung im Umgang mit der Theologie kann nun in prinzipiell zwei Richtungen gesucht werden: einmal in der mühsamen Ausrichtung am Prinzip der religiöser Sittlichkeit oder in der mühelosen Unterwerfung unter das Primat der religiöser Bequemlichkeit. Aus der Bequemlichkeit droht der Theologie Depravation zu entweder klerikaler Restauration oder kultureller Sprunghafitigkeit. Ihre Aufgabe ist es aber, Altes und Neues zu vermitteln, anstatt sich bequem dem einen oder anderen auszuliefern. Von daher ist es verständlich, daß die Theologie auf eine normativ-unbedingte Hermeneutik verpflichtet werden muß, soll sie der Aufgabe genügen, das religiöse Ethos einer Gesellschaft aufzunehmen und darzustellen. Andernfalls werden ihre transzendenten Reflexionen statt des transzendentalen Ideals dessen endliches Zerrbild idolisieren. Kirchentheologie und Kulturtheologie sind mithin selbst im Lichte des Noumenon Religion zu bestimmen. In der Kirchentheologie, dem im Wortsinne re-aktionären Medium der Selbstbezüglichkeit der Theologie, hegt und pflegt die Kirche ihre eigene Geschichte als das normative Gegengewicht zu den Zeitläufen, vor dem diese gerichtet werden. Sie zelebriert eine irritierende Ungleichzeitigkeit und hat darin eine sittlich durchaus positive Funktion inne.728 Um das religiöse Ethos einer Gesellschaft zu erfassen, genügt es aber nicht, die Kirchentheologie unter sittliche Vorzeichen zu stellen und schadhafte Dogmatik auszubessern. Ebenso muß zukunftszugewandte sittliche Kulturtheologie betrieben werden, die das Gegenwartsethos religiös synthetisiert. Es kann heute nicht mehr genügen, durch Umweltorientierung für Kirchen punktuelle kulturelle Orientierungen zuzuftih" 727

Zu den Begriffen der Kirchentheologie und der Kulturtheologie vgl. Paul Tillich: Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919, 1921), später in: Gesammelte Werke (1992) Band IX, S. 13-31. 728 Vgl. Höhn, Hans-Joachim, Einleitung zu: ders. (Hg.): Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 23.

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ren.729 Vielmehr muß die Gegenwartskultur als prinzipiell der Theologie gegenständliches Moment erfaßt werden, - auch um nicht dem Eindruck Vorschub zu leisten, die Integration des Zeitgeistes sei ein der Theologie letztlich externer Tribut zu Selbsterhaltungszwecken. So erfährt die Theologie gesellschaftlich ihre ideelle Rechtfertigung und materielle Abstützung aus der Kulturtheologie, mag sie auch intern, im theologischen Selbstbezug, die Kulturtheologie aus der Kirchentheologie heraus rechtfertigen. Somit stehen Kirchentheologie und Kulturtheologie in einem sich gegenseitig fordernden Wechselverhältnis. Die Rückbezogenheit der Kirchentheologie, die ihre eigentliche wertkonservative Aufgabe ist, verkommt, wenn die Synthese der Zeitläufte durch die Kulturtheologie unterbleibt, zu uneigentlicher und wertloser Rückständigkeit. Die Zeitverhaftetheit der Kulturtheologie gerät ohne die ethische Rückbindung vom Motor geistigen Lebens zur geistlosen Mode. Nur unter der Ägide eines normativen Oberbegriffes lassen sich diese beiden gegeneinander strebenden Positionen integrativ vermitteln. Das Noumenon Religion eint beide, indem es beider Grund und Grenze über ihre sittlichen Funktionen in überzeitlich gültiger Weise bestimmt. Gegenstand der Theologoumena muß das ganze gesellschaftlich-religiöse Ethos sein. Insofern sich nämlich die Theologie in der Reflexion auf institutionalisierte Religion erschöpft, verfallt mit dem geschichtsbedingten Sturz solcher Institutionen die universitäre und gesellschaftliche Existenzberechtigung ihrer Theologie. In diesem Zusammenhang ist die Diskussion um den universitären Rang der theologischen Wissenschaften aufzugreifen. Die soziale Rechtfertigung der Wissenschaften ist vom Gemeinwohlbegriff abgeleitet. Die selbstreferentielle Legitimation der theologischen Wissenschaften verliert sich im gesellschaftlichen Rahmen, etwa in der Kostendebatte. Das Lehrprivileg der Staatskirchen wird gemäß dieser Rationalität zurecht in Frage gestellt. Nur wenn es der Theologie und den Kirchen gelingt, das einheitliche Reflexionsforum des Ethos des Ganzen der Gesellschaft zu sein, von der sie getragen werden, so haben sie auch gegenüber dieser Gesellschaft gerechtfertigte und durchsetzbare Erhaltungsansprüche. Nicht zuletzt dieser Zusammenhang hat in der Vergangenheit zu einer religiösen Internalisierung freiheitlichen Denkens gefuhrt und diese verstärkt auf ihre gesellschaftlich-sittliche Funktion verwiesen, bzw. die Tore der Religion für nicht-institutionalisierte Spiritualität geöffnet. Sicherlich kennt Kants Theorie solche und andere reflexive Wendungen des Kirchenglaubens nicht, und Kant sieht sie auch nicht voraus. Kants Theorie steht im Zenit der Aufklärung und in Opposition gegen eine phänomenal noch ungebrochene Glaubensmacht dogmatischer Selbstverständlichkeit. Dennoch wird die kantische Theorie damit nicht für den heutigen Phänomenbestand entwertet. Sie erlaubt durchaus, die modernen Differenzierungen aufzunehmen und auf die 729

So aber Luhmann, Niklas: Funktion der Religion, Vierte Auflage, Frankfurt 1996, S. 316.

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kantischen religionsphilosophischen Grundbegriffe zu beziehen. Man sollte bedenken: Apologie und Kritik, Ethik und Fundamentation von Theologie sind heute theologiewissenschaftliche Spezialgebiete, deren Durchdringung in eigenständigen wissenschaftlichen Sektoren geleistet wird: protestantischerseits in den Seminaren der Systematischen Theologie, bei den Katholiken im Rahmen der Fundamentaltheologie. Insofern hat die Theologie zwar an ihren Lehrstühlen die Religionskritik beheimatet, diese ist und bleibt aber inhaltlich eine den theologischen Quellen unverwandte, dem philosophischen Denken entspringende und verpflichtete Disziplin. Die fundamentale begriffliche Orientierung der Theologie ist somit explizit einer verselbständigten philosophischen Teildisziplin überantwortet und somit letztlich theologisch-extern vermittelt. Vom allgemeinen Bewußtsein übersehen befinden sich hier bereits weitgehend normative Religionsphilosophie und akademisch-theologische Wirklichkeit in Einklang. Ferner: Die Tatsache, daß das heutige westliche Religionsmitglied im Regelfall ein aufgeklärt glaubender Weltenbürger ist, liest sich historisch weniger als ein interner Verdienst theologischer Selbstkorrektur, - wiewohl diese von vielen namhaften Theologen der Neuzeit glaubhaft intendiert worden sein dürfte, sondern als ein Produkt der antitheologisch angetretenen Philosophie der Moderne. Die theologische Transformation der neuzeitlichen Negation der Theologie folgte genetisch nicht ex principiis theologicae, wenn sie auch in ihrer überzeitlichen Geltung aus eben diesen Prinzipien innertheologische Rechtfertigung erfuhr und erfahren mußte. Aber dennoch ist der Theologie auch hier die Synthese ungebetener Negationen gelungen, die die moderne westliche Religion dem Noumenon Religion nähergebracht hat, als es noch die Aufklärung vorhersehen konnte. Man kann dies vom Internum der Religion her zulässig als einen Sieg der wahren über die depravierte Religion betrachten.730 Denn wenn aus dem Noumenon Religion notwendig eine Kritik des religiösen Phänomens folgt, so erweist sich diejenige phänomenale Religion als wahre Religion, die die Kritik ihrer selbst aus sich heraus betreibt. Dabei ist es normativ unerheblich, ob und inwieweit Religion dazu von außen 'angestoßen' wird, sofern und soweit sie die Kritik nicht äußerlich vornimmt, sondern aus ihren eigenen Grundlagen heraus vollzieht. Man sieht aus diesen Erwägungen, daß es nicht die Prinzipienebene der kantischen Begriffe ist, die Teile der kantischen Kirchenkritik am heutigen Zustand westlicher Religionsgemeinschaften vorbeigehen lassen, sondern der gewandelte historische Kontext, auf den der Philosoph reflektierend zu reagieren hat. Der Begriff des Noumenon Religion und seine systematische Einbettung in das System der praktischen Vernunft bleibt in voller Geltung und kann gerade auf seiner nicht-theologischen Grundlage selbstkritischer Religion dienen und anempfohlen werden.

730

Vgl. Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S. 254.

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3.4. Religion und Anthropologie Zum Abschluß ist darauf zu reflektieren, was aus dem gedeuteten Verhältnis des Menschen zur Religion für das Verhältnis des Menschen zu sich und zu Gott folgt. Zunächst muß die anthropologische Struktur des Orientierungswissens freigelegt werden. Die Vernunft, die sich in Religion und Geschichte äußert, muß als religiöse und geschichtliche Vernunft des Menschen in den Begriff vom Menschen aufgenommen werden. Die normative Religionsphilosophie ist dazu auf eine transzendental fundierte Anthropologie zu beziehen, in deren Zusammenhang geklärt werden kann, was es heißt, Religion als Funktion des menschlichen Geistes zu bestimmen. Sie bringt den systematischen Ertrag der bisherigen Betrachtung der verschiedenen Vermittlungsebenen von Unbedingtem und Bedingtem ein in ein einheitliches Konzept vom Menschen, der nur über diese Vermittlungen zu sich selbst findet. Für die Selbständigkeit von Religion und Religionsphilosophie ist zu zeigen, wie die Lehre vom Menschen und die Lehre von Gott sich gegenseitig fordern, nicht um einander unter die jeweils eigenen Begriffe zu subsumieren, sondern um aus der prinzipiellen Unverfügbarkeit des je anderen Feldes eine Erweiterung zu erfahren, die zugleich die notwendigen internen Widersprüche einer rein auf den endlichen Menschen und einer rein auf das Transzendente bezogenen Lehre erklärt. Gerade in dieser Leistung, die sowohl gegenüber der Anthropologie als auch gegenüber der Theologie zur Geltung zu bringen ist, gelangt Religionsphilosophie zu sich selbst, - die Lehre vom Geist der Religion wird zu einer Lehre vom religiösen Geist. Ausblickend soll schließlich eine Lehre vom menschlichen Geist vorbereitet werden, die die Extreme vereinseitigter Anthropologie und Theologie inhaltlich vermittelt, indem sie die Ewigkeit des Geistes innerhalb der Zeitlichkeit geistigen Seins aufzeigt und auslegt.

3.4.1. Religion und Geschichte Vom entwickelten System der praktischen Philosophie Kants her entsprechen Religion und Geschichte einander. Sie stehen als regulative Reflexionsformen den Weisen konstitutiver sittlicher Selbstbestimmung gegenüber und deuten und leiten sie. Damit erfüllen religiöses und geschichtliches Denken eine wichtige sittliche Orientierungsfunktion, die sie nicht erfüllen könnten, wenn sie sich allein aus normativen Gründen speisten. Im regulativen Denken kommen alle Erkenntnisvermögen des Menschen zur Anwendung. So geht der Mensch als ganzer in seine eigene sittliche Bestimmung ein. Das stellt sicher, daß der Primat des Sittlichen das Subjekt nicht von sich und seiner Lebenswelt entfremdet. Religiöses und geschichtliches Denken repräsentieren den Versuch, dieses Eingehen des Menschen in eine ihm vorausgesetzte Welt zu verstehen.

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Das interne Verhältnis von Religion und Geschichte erschöpft sich nicht in der noumenalen Opposition inneren und äußeren Handelns. So wie die Scheidung in inneres und äußeres Handeln konstruktiver Natur ist, um die noumenalnormativen Gehalte des sittlichen Handelns gesondert betrachten zu können, so ist auch die auf dieser Unterscheidung beruhende Differenzierung zwischen religiösem und geschichtlichem Denken eher idealtypischer als realer Natur. Beiden gemeinsam ist ihre anthropologische Wurzel des Sich-orientierenMüssens. Das Orientierende im regulativen Denken ist diejenige Verbindung, die ihm zwischen Unbedingtem und Bedingtem jeweils gelingt. Die Verbindung verdankt sich auch den in ihr sich einlagernden regionalen und situativen Komponenten. Sie geben religiösem wie historischem Denken quasi die Materie der Reflexion vor. Religiöses und geschichtliches Denken gründen beide im kulturellen Hier und Jetzt und müssen sich, wenn auch in verschiedener Ausrichtung, ihrer regionalen Herkunft in prinzipiell gleicher Weise formend und deutend bedienen. Damit konvergieren das konkrete religiöse und geschichtliche Denken in Form (Art und Weise der Reflexion) und Materie (Gegenstand der Reflexion), lediglich das Telos ihrer Reflexion unterscheidet sie. Phänomenal ist kaum ein Kriterium auszumachen, mit sie sicher voneinander unterschieden werden könnten,731 nicht weil phänomenal verwischt wird, was noumenal geschieden ist, sondern weil religiöses und geschichtliches Denken in der Bestimmung des ihnen eigenen Telos noumenal wechselbezüglich sind. Muß zur Deutung des inneren Selbst die Situiertheit des äußeren Selbst aufgenommen und mithin die Geschichte zu einem Moment der religiösen Reflexion gemacht werden, so ist andererseits eine bloß historische Standpunktnahme ohne Reflexion auf das innere Selbst im schlechten Sinne abstrakt. Das heißt: Obwohl das theologische und das historische Ideal auseinanderfallen, bestimmen die Menschen sie doch wechselbezüglich. Dieses Wechselverhältnis läßt sich an den theologischen Begriffen von Soteriologie und Eschatologie näher erläutern. Begrifflich steht die Soteriologie für die (durch Christi Tod) religiös vermittelte Erlösung des Einzelnen. Sie gibt die Grundlage, von der aus der gläubige Mensch handelt und überformt seine gesamte Existenz als Ziel. Eschatologie dagegen ist die Lehre von der Erlösung der Welt im Ganzen durch göttliche Hilfe. 732 Auch hier ist das mögliche Heil die Grundlage und das wirkliche das Ziel der gläubigen Existenz. Diese Einbettung der Weltgeschichte in eine ihr übergeordnete Heilsgeschichte erlaubt die teleologische Deutung von historischer Situation und 731

Vgl. Otto, Rudolf: Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S. 122f. 732 Kant diskutiert theologische Eschatologie in seinem Aufsatz „Das Ende aller Dinge" von 1794, insbs. A 495-509. Er hält an der Verschränkung von Soteriologie und Eschatologie im Symbol des Jüngsten Gerichtes fest, und unterscheidet idealtypisch die religiösen Endzeitentwürfe in solche der „Unitarier", die einem jeden Menschen die Erlösung verheißen, und in solche der „Dualisten", die zwischen Auserwählten und Verworfenen unterscheiden.

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tätigem Fortschritt. Das Verhältnis beider Lehren zueinander ist theologisch umstritten. Ist Eschatologie als erweiterte Soteriologie zu sehen, weil ein absolutes Heil des Einzelnen nicht außerhalb des gesamtweltlichen Kontextes gedacht werden kann? Oder ist Soteriologie die auf den Einzelnen bezogene Teilmenge einer umfasssenden Eschatologie, deren Heil sich am Ende der Zeiten erfüllt? Welche der Heilslehren konsumiert letztlich die andere? Der theologische Disput um diese Frage spiegelt hier ein Verhältnis, das bereits den Spannungen zwischen Gesinnungsethik und Zweckeethik eignet: Erfüllt sich Sittlichkeit als sinnvoll bereits im vereinzelten Akt subjektiver Selbstbestimmung oder erst in der sozialen Verwirklichung? Die Antworten der gesitteten Glückseligkeit und des gemeinschaftlich-höchsten Gutes entsprechen augenfällig den theologischen Begriffen des Seelen- und des Weltenheils. Es kann deshalb zurecht die (individualistische) Soteriologie als Reflexion religiöser und die (kommunitaristische) Eschatologie als Reflexion geschichtlicher Art angesehen werden, auch wenn beide Begriffe dem religiösen Kontext entstammen. Trotz polarkonträrer Ausrichtung ihres Endzieles kommen gute Eschatologie und Soteriologie darin überein, daß sie das Subjekt im Hier und Jetzt zum Handeln und Selbstsein ermutigen. Wenn auch die von Soteriologie und Eschatologie formulierten Heilserfüllungen vor aller Zeit (Christi Erlösung als Möglichkeitsbedingung gelingenden Selbstbezuges) und nach aller Zeit (das Reich Gottes als das Ende aller Dinge) liegen, so artikuliert sich in ihnen dennoch der Wille zum Sein in der Zeit. Dieser Wille zu einer befristeten Existenz vermittelt sich den Sinn derselben im Ausgriff auf ein Unverfügbares vor und hinter der Grenze seiner Präsenz. Der Mensch kann so trotz zerbrechlicher Existenz seine Lebensführung stabilisieren. In der Ausrichtung am eschatologischen Ziel und im Ausgang von soteriologischer Gewißheit macht das Subjekt sich zu sich selbst, indem es sich seiner transzendenten Grundlage (Erlösung) würdig und seinem transzendenten Ziel (Reich Gottes auf Erden) gemäß zu machen sucht. So bringt das Subjekt die eigene Fähigkeit, sich zu transzendieren, in seine historische Welt ein, und führt diese dadurch über sich hinaus (consecratio mundi). Faktisch findet das Subjekt sein Seelenheil in der geläuterten Hingabe an seine Lebenswelt und nicht jenseits der Grenzen seiner Existenz. Faktisch erfüllt sich das Weltenheil nicht überzeitlich, sondern sukzessive im Gang der Freiheit durch die Geschichte. Was uns hier in theologischen Begriffen vorliegt, ist von Bedeutung für das philosophische System. Wenn man auch religiöses und geschichtliches Denken unter dem Titel des Orientierungswissens zusammenfassen kann, sollte man sich dennoch hüten, beide einander gleichzusetzen.733 Es ist gerade die noumenale Differenz in der Ausrichtung, die religiöses wie geschichtliches Denken ihre Funktion erfüllen läßt. Man kann dies so verdeutlichen: Genau dann, wenn

733 Essen, Günther: Geschichte als Sinnproblem. Zum Verhältnis von Theologie Theologie und Philosophie 71, 1996, S. 321-333, insbs. S. 326ff.

und Historie,

in:

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Eschatologie und Soteriologie identifiziert werden, stiften sie Unheil. Totaleschatologische Lehren nivellieren das Individuum. Total-soteriologische Entwürfe nivellieren die geschichtliche Welt. Genau dann, wenn das private und das geschichtliche Heil unvermittelt miteinander verknüpft werden, kommen theologiegeschichtlich bestätigt - Absolutismen zum Vorschein, die entweder die soziale oder die private Welt zerrütten. Es ist demgegenüber die prinzipielle Scheidung der Heilsziele, die - gemäß heutiger theologischer Lehre - auf der Basis ihrer regulativen Verbindung die Grundlage für soziales und privates Heil liefert. Analog verhält es sich mit privatem und sozialem, bzw. innerem und äußerem Orientierungsdenken überhaupt. Der Mensch erscheint als sowohl soziales wie privates Wesen, seine über sich ausgreifende Orientierung will sowohl Momente gemeinschaftlichen wie persönlichen Sinns einholen. Es wird ebensowenig eine erfolgreiche rein privatistische Sinnfindung geben, wie es keine tragende kollektivistische Sinnvorgabe geben kann. Es ist darum nur konsequent, daß Kants Lehre vom höchsten Gut sowohl eine individualethische als auch eine geschichtsphilosophische Seite hat, die einander wechselseitig fordern, anstatt sich zu vereinnahmen. Das Vermittlungsverhältnis beider Ausrichtungen zu finden und zu bestimmen, macht gerade die weise Lebensleistung eines sich vernünftig orientierenden Menschen aus. Dazu gehört sicherlich ein Schwanken zwischen den Polen, dazu gehört auch die Suche nach festen und stets wieder aufzugebenden Orten der Vermittlung beider Ziele. Allein die Flucht in die Extreme gaukelt die Vision unzeitlicher oder überzeitlicher Auflösung vor. Gelungenes Leben dagegen zeichnet sich durch einen bewußten und gewollten Umgang mit der Unaufgelöstheit des eigenen zeitlichen Seins aus. Es ist darum nur natürlich, wenn phänomenale Religiosität nicht im forum internum verbleibt, sondern sich auf ihre geschichtliche Welt bezieht. Religiöse Orientierung kann nicht nur nicht im Quietismus verharren, sie darf es auch nicht, will sie ihrem eigenen Anspruch genügen, den sich von ihr her verstehenden Menschen umfassend mit der Welt zu vereinen. Gerade in dem umgreifenden Moment religiöser Symbolik liegt die regulative Stärke der religiösen Rede. Sie kann orientieren, weil sie sich weder separiert, noch über die Maßen generalisiert. Sie ermöglicht einen Umgang mit der Kontingenz und Endlichkeit des menschlichen Daseins, der dieses Dasein nicht an diese Kontingenz und Endlichkeit ausliefert. Das regulative Denken reguliert die Lebenswelt, indem es ihren Einfluß zurückdrängt gegenüber dem, was der Mensch als selbstbezüglich-transzendentales Wesen immer schon unbezüglich auf seine Lebenswelt ist und sein soll: sie macht sein geistiges Wesen für ihn gegenständlich. Dieser Charakter geistiger Selbstvermittlung kommt in eben dieser Weise auch dem geschichtlich-regulativen Denken zu. Er ist von allgemeiner anthropologischer Bedeutung und rechtfertigt es, religiöses und geschichtliches Denken unter dem Oberbegriff des Orientierungswissens zu vereinen und einer transzendentalen Anthropologie zuzuführen.

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3.4.2. Gotteslehre und Anthropologie Die Anthropologie hat bei Kant ist zweifache Bedeutung. 734 Sie tritt einmal als Lehre vom Menschen in seinen empirischen Bedingungen auf. Zu diesen Bedingungen zählt die je besonders erfüllte Zeit, vor der der konkrete Mensch jeweils steht: seine innere Zeit (Thema der Religion) und seine äußere Zeit (Thema der Geschichte). So gesehen bildet die empirische Anthropologie die verbindende Mitte zwischen Religionsphilosophie und Geschichtsphilosophie. Sie liefert beiden eine Beschreibung sinnlichen Vernunftwesens 'Mensch', nach Geschlecht, Rasse, Alter, Stand u.ä. 735 Empirische Anthropologie darf nach Kant nie normative Funktion beanspruchen. Denn sie verfugt nur über empirische Kenntnis der Menschen, aber „ohne doch den Menschen, und was aus ihm gemacht werden kann, zu kennen (wozu ein höherer Standpunkt der anthropologischen Beobachtung erfordert wird)." 736 Dieser höhere Standpunkt verdankt sich aber keiner Beschreibung menschlicher Phänomenalität. Nach Kant darf die sittliche Wirklichkeit des Menschen nicht aus der Erfahrung bestimmt werden, damit das normativ Notwendige nicht eingeschränkt wird auf unsere Vorstellungen des dem Menschengeschlecht Möglichen, das wir dem in der bisherigen Geschichte Wirklichen entnehmen. 737 Stattdessen soll die sittliche Notwendigkeit erst die Möglichkeiten des Menschen im Wirklichen aufzeigen. 738 Hier liegt die entscheidende Differenz zwischen transzendentaler und empirischer Anthropologie. Die transzendentale Anthropologie belehrt vom höheren Standpunkt aus über die unbedingte Ausgerichtetheit des Menschen als sinnliches Vernunftwesen und ist mithin normativ. Die empirische Anthropologie stellt Erfahrungswissen über den Menschen als vernünftiges Sinnenwesen bereit und ist mithin deskriptiv. Die

734

„Die philosophische Fakultät enthält nun zwei Departemente, das eine der h i s t o r i s c h e n E r k e n n t n i s (wozu Geschichte, Erdbeschreibung, gelehrte Sprachkenntnis, Humanistik mit allem gehört, was die Naturkunde von empirischem Erkenntnis darbietet); das andere der r e i n e n V e r n u n f t e r k e n n t n i s s e (reinen Mathematik und der reinen Philosophie, Metaphysik der Natur und der Sitten) und beide Teile der Gelehrsamkeit in ihrer wechselseitigen Beziehung auf einander. Der Streit der Fakultäten, A 26. 735

Was die Methoden anbelangt, folgt Kant einem sehr weiten Begriff und läßt als „Hillfsmitteln [...] Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane" gelten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A XII. 736

Zum Ewigen Frieden, Β 81. Vgl. Cohen, Hermann: Kants Begründung der Ethik a.a.O., S. 161. 738 Dieser Gedanke zieht sich durch Kants gesamtes Werk bis hin in die Pädagogik: „Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde." Vorlesung über Pädagogik, hg, v. Rink, 1803, Einleitung, A 17. 737

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Anthropologie in pragmatischer Hinsicht739 läßt beider Informationen nicht für sich selbst stehen, sondern richtet die empirische Anthropologie auf die Erfordernisse der transzendentalen Anthropologie aus. So vermeidet die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, normativistische oder naturalistische Fehlschlüsse zu schreiben, indem sie weder das, was ist, ableitet aus dem, was sein soll, noch das, was sein soll, aus dem, was ist. Sie erhellt stattdessen die Umsetzungsbedingungen dessen, was sein soll, anhand dessen, was ist, und stellt damit die wissenschaftliche Einheitsform der sittlichen Weltweisheit dar. Da die Disziplinen der Religion und der Geschichte regulativ zum Sittengesetz konzipiert sind, gerät die ihnen zugehörige empirische Anthropologie unter einen übergeordneten normativen Gesichtspunkt, der ihre Beschreibung unter die Funktion des Sittengesetzes bringt: auch sie gehören mithin zu einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht.740 Geschichtsphilosophie und Religionsphilosophie verweisen aber darüber hinaus auf einen Aspekt des Menschseins, der durch seinen unbedingten Bezug auf innere und äußere Zeit etwas ist, das strukturell nicht in empirisch-anthropologischen Termini eingefangen werden kann: Das endliche Subjekt gewinnt Einheit und Stärke aus dem unbedingten Sittengesetz, an das es sich entäußert, indem es mittels transzendenter Reflexion sich seiner ganz individuellen Sinnstelle im Projekt eines über es hinausgehenden Allgemeinen vergewissert. Es ordnet sich in seinen zeitlichen und räumlichen Kontext bewußt ein und gibt seiner Existenz durch die befristete und endliche Tat einen unbedingten über diese Tat hinausgehenden Sinn. Vor dem Hintergrund seiner es kennzeichnenden Tat kann es sich als organisches Glied741 seiner Welt erleben. Die Tat wirkt bestimmend auf das Subjekt zurück, indem sie als stellungnehmende Tat eines Individuums für dieses Subjekt und für andere erkennbar ist. So werden - geistig vermittelt durch religiöse oder historische Sinndeutung - subjektive Lebensdaten zu individueller Lebensgeschichte systematisiert. Das Subjekt wird um die Geschichte erweitert, an die es sich hingibt. Dies offenbart bereits das interne Verschränkungsverhältnis von Religions- und Geschichtsphilosophie. Die innere Geschichte des Subjekts als Bestimmungshintergrund seiner Zwecktätigkeit wird, wie ausgeführt, Teil der äußeren Geschichte, die äußere Geschichte als die Sphäre der subjektiven 739

„Eine solche Anthropologie, als W e l t k e n n t n i s , welche auf die S c h u l e folgen muß, betrachtet, wird eigentlich [erst] p r a g m a t i s c h genannt, [...] wenn sie Erkenntnis des Menschen als W e l t b ü r g e r s enthält." Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A III. 740 Vgl. zum Verhältnis von Anthropologie und Geschichtsphilosophie auch: Troeltsch, Ernst: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, in: Kant-Studien 9, 1904, S. 117ff. 741 Die Metaphorik vom Glied und vom Teil tritt bei Kant häufig auf. Sie indiziert die Unterscheidung zwischen einem System, dem sein Zweck äußerlich beigegeben ist, und nicht in den bloß als Mitteln fungierenden Teilen desselben anzutreffen ist (Uhrwerk), und einem Organismus (Lebewesen), dessen Zweck in dessen Gliedern ebenso wie im Ganzen liegt, und das als Ganzes Zweck an sich selbst ist.

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Selbsterweiterung wird Teil der innerer Geschichte des Subjekts. Die Philosophie der Religion und der Geschichte reflektiert auf die geistige Selbsterweiterung des Menschen durch Utopie und bereichtert so den anthropologischen Fundus um Einsichten in die spezifische Geistnatur des Menschen. Während die empirische Anthropologie der Religions- und Geschichtsphilosophie zuarbeitet durch Angaben über den Mensch in seinen Bedingungen, arbeiten Religions- und Geschichtsphilosophie also der transzendentalen Anthropologie zu, indem sie den Menschen in der Unbedingtheit seiner Selbstorientierung thematisieren.742 Als abgeleitete reine praktische Begriffe sind die Noumena Religion und Geschichte Teile des kritischen Systems. Als konkrete Begriffe, die ihre Bestimmung erst aus der Wechselbeziehung zu ihren Phänomenen gewinnen, geben sie Leitbegriffe zu kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung ab. Aber im Rahmen der transzendentalen Anthropologie, als unbedingter Begriff, hat das Noumenon Religion seinen ausgezeichneten Stand, der die Religion, ungeachtet ihrer Präsenz als symbolische Kulturform, über eine jede kultur- und sozialwissenschaftliche Relativierung erhebt. Als Noumenon, nicht als besondertes Phänomen, gehört sie zu den Existentialen sinnlicher Vernunftwesen überhaupt. Sie ist in ihrem Geltungssinn nicht durch empirische Anthropologie zu relativieren und nicht durch Kulturphilosophie zu erschöpfen. Für empirische Anthropologie ist die Lehre von Gott sekundär zur Lehre vom Menschen. Dagegen ist aus Sicht der Theologie die Anthropologie sekundär zur Lehre von Gott. Erst eine im Rahmen der tranzendentalen Anthropologie zu gebende Lehre vom Geist zeigt Gleichrangigkeit und Gleichursprünglichkeit beider Ansätze auf.743 In ihr wird weder die Theologie in eine sie heteronomisierende Abhängigkeit von einer empirischen Lehre vom Menschen gebracht, noch die Anthropologie von Theologie abgeleitet. Die wechselseitige Beziehung von Anthropologie und Theologie fuhrt nicht dazu, daß das eine zum bloßen Annex des anderen wird. Normative religionsphilosophische Konsequenz dessen ist, daß Theologie seitens der Philosophie auf die transzendentale Anthropologie hingewiesen wird, mit der deren interne offenbarungstheologische Zirkularität aufgehoben werden kann.744 Im selben Schritt wird die empirische Anthropologie auf die transzendenten Momente verwiesen, die den von ihr nur äußerlich-empirisch erfaßten Äußerungen menschlichen Daseins innerlich beiwohnen. Insofern benötigt empirische Anthropologie, durch Religion und Geschichte in Anspruch genommen, Kenntnis von der Weltperspektive der Theologie. 742

Kant weist nachdrücklich auf diese Verwiesenheit der transzendentalen Anthropologie hin, indem er der Frage „Was ist der Mensch?" (Logik A 25, Vgl. auch K.d.r.V. Β 833, sowie den Brief an Stäudlin (vom 4. Mai. 1793), A A XI, 429) als Untersuchung die Fragen der theoretischen und praktischen Philosophie voranschickt und erst vor dem Hintergrund ihrer Beantwortung nach der Antwort auf die letzte, das kritische System abschließende Frage suchen will. 743 Näher dazu im Abschnitt „Religion - Funktion des menschlichen Geistes". 744 Vgl. die Ausführungen auf S. lOOff.

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Ebensowenig wie aus der religionsphilosophischen Untersuchung eine konkrete Theologie folgte, wohl aber eine Angabe der Bedingungen, unter denen sie gerechtfertigt Geltung beanspruchen könnte, so folgt aus der transzendentalen Anthropologie auch keine empirische Anthropologie, sondern lediglich eine Angabe der Bedingungen, nach denen sie sich sinnvollerweise auszurichten hätte. Daß Kant parallel dazu empirische Anthropologie betrieb, ist eine der Zeit anheimgestellte populärwissenschaftliche Überschreitung des transzendentalen Systems in Richtung auf die historische Realität: kulturwissenschaftliche Überlegungen, welche keine systemische Dignität beanspruchen, sondern öffentliche Meinung unter anderen sind. Darin gleichen sie Kants Überlegungen zur konkreten historisch-dogmatischen Gestalt des Christentums und Kants Überlegungen zur ferneren politischen Geschichte der Staaten. Auch diese Gedanken sind Applikationen einer aufgeklärten Vernunft auf die Gegebenheiten ihrer historisch-kulturellen Selbstrealisierung, nicht mehr und nicht weniger. Kant beteiligt sich als Bürger seiner Welt an den öffentlichen Diskursen um Politik, Religion, Pädagogik, Manieren, Weltkunde. Als Transzendentalphilosoph erweckt er nicht den Eindruck, er könne oder wolle hier endgültig und panlogistisch alle Fragen erledigen.745 Als Transzendentalphilosoph stellt er lediglich die Bedingungen und die Notwendigkeit dieser öffentlichen Streite heraus, an denen er sich als Bürger seiner Welt beteiligt. Kant gelingt es, die Einheit und Diversität des gegenwartsbezogenen Denkens sowohl normativ differenziert, als auch phänomenalgerecht zu erfassen. Seine Philosophie verwirft ahistorischen Kulturrelativismus, ohne zu historischem Dogmatismus zu werden, da Kant das je und je am Bedingten sich orientieren Denken (Doktrin) von der unbedingt geltenden Begründungsebene (Kritik) absondert. Es gelingt Kant damit in einmaliger Weise, das sittliche Primat der reinen praktischen Vernunft aufrechtzuerhalten, ohne durch es die Eigenständigkeit der von ihm berührten Sphären der geschichtlichen Welt aufzuheben. Und umgekehrt: Es gelingt ihm, das Besondere zu reflektieren, ohne das Allgemeine zu nivellieren. Kant glückt damit der philosophische Zugriff auf das konkrete Allgemeine als Gehalt der Synthesis a priori. Denn er versteht es nicht als Leistung philosophischer Theorie, sondern als Lebensleistung der sittlichen Subjekte dieser Welt, die mit den Augen der Theorie bloß nachträglich erkannt wird. Das konkret Allgemeine ist, was die Subjekte in der Geschichte ihres Selbst immer schon leisten, indem sie in geschichtlichen und religiösen Gedanken sich besinnen, unabhänging davon, ob ihre Sinnentwürfe durch die Philosophie der Geschichte und der Religion per posterius auf den Begriff gebracht werden oder nicht.

745

Vgl. Gerhardt, Volker: Der Thronverzicht der Philosophie, von Ottfried Höffe, Berlin 1995, S. 186ff.

in: Kant - Zum Ewigen Frieden, hg.

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211

3.4.3. Religion - Funktion des menschlichen Geistes Die Überlegungen dieses letzten Abschnitts gelten der Frage nach dem Status einer Religion als Funktion des menschlichen Geistes. Nivelliert eine solche Sicht der Religion das Verhältnis des Menschen zu Gott? Gegen die These, Religion sei eine Funktion des menschlichen Geistes, werden gewichtige theologische Einwände zur Geltung gebracht. Insofern darauf insistiert wird, Religion sei bei all ihrem Wandel durch die Geschichte und in den Kulturen doch mehr und anderes als ein bloßes Gemächsel, mehr als bloße Projektion und kulturelles Bild, ist dem sicherlich zuzustimmen. Religion ist weder kontingentes, noch rein-bedingtes Produkt des menschlichen Geistes, das diesem zukommen oder auch entfallen könnte. Religion steht insofern nicht im willkürlich privaten Belieben des Einzelnen, da ihre Quelle nicht der Verfugungsmacht Einzelner unterliegt. Aber dies ist der Fall eben, weil Religion eine Funktion des allgemeinen menschlichen Geistes ist. Der Begriff der Funktion sollte hier beachtet werden. Religion ist, betrachtet nach ihrem Noumenon, etwas, ohne das - im Wortsinne - der menschliche Geist nicht funktioniert. Sie ist eine Weise der geistigen Selbstvermittlung, ohne die Geist als Geist nicht ist. Religion ist kein Strukturphänomen des menschlichen Geistes, denn sie tritt nicht notwendig in gleicher Weise zutage.746 Sie ist, genau zu sprechen, ein Struktumoumenon des menschlichen Geistes, denn sie entspringt in immer anderer Weise der immer gleichen Quelle des transzendentalen Konfliktes, der Menschsein überhaupt ausmacht. Die Religion, als Phänomen, hängt dem konkreten Leben an, sie hängt aber, als Noumenon, nicht von ihm ab. In der Lehre vom Menschen und in der Lehre von Gott wird jeweils auf eine Lehre vom Geist zurückgegriffen. Sowohl Anthropologie als auch Theologie unternehmen dies meist unreflektiert, als stünde, wenn erst der Begriff des Menschen, respektive Gottes, geklärt sei, die Lehre vom Geist ohnehin fest. Tatsächlich aber, so konnte diese Arbeit zeigen, läßt sich weder die Anthropologie, noch die Theologie aus sich selbst zum Abschluß bringen. Sie sind jeweils auf eine sich am Geist als dem Vermittelnden orientierende Lehre vom jeweils anderen verwiesen. Damit aber wird für Anthropologie und Theologie die Lehre vom menschlich-göttlichen oder göttlich-menschlichen Geist, die Pneumatologie, zentral. Diese Lehre wird sich zwar nicht ohne Theologie und Anthropologie geben lassen, darf aber dennoch nicht allein von ihnen her bestimmt werden. Sie bedarf des geistigen Selbstbezuges. Gemeint ist hier nicht die Kritik der reinen

746

Religion kann nur in ihrer noumenalen Struktur anthropologische Konstante sein, nicht aber in ihrer phänomenalen Besonderung, da zu dieser, d.h. zur Zugehörigkeit zu einer phänomenalen Religionsgemeinschaft, immer auch bewußte Entscheidung gefordert ist. Vgl. Schrödter, Hermann: Religion - Menschenrechte - Weltethos. Ein philosophischer Versuch über den Weg zur 'einen Welt'. a.a.O. S. 298.

212

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Vernunft durch sich selbst als ermöglichende, sondern der Bezug konkreten Geistes auf sich als erfüllende Bedingung. Durch eine verkürzt anthropologische Perspektive, die den Geist als sich selbst nicht hinreichend durchsichtige Funktion biologischer Lebenserhaltung versteht, ist eine Herabsetzung des Für-sich-Seins des Geistes zu befürchten. Durch eine radikalisiert theologische Perspektive droht eine Substantialisierung des Geistes. Deshalb muß kritische Philosophie den Versuch unternehmen, eine Kritik des Geistes - genetivus objektivus wie subjektivus - vorzunehmen; sie muß sich aber davor hüten, den regulativen Status, der dieser Theorie zukommt, zu verfehlen. Durch Vereinseitigung droht dem regulativen Denken entweder begriffliche Unterbestimmung oder Überlastung. Falls die unbedingten Komponenten des Geistes anthropologisch auf bedingte Funktionen reduziert werden, wird die intendierte regulative Geisteslehre als eine im schwachen Sinne hypothetische Theorie unterbestimmt. Im anderen Fall, einer theologischen Ontologisierung geistigen Geschehens jenseits der geistigen Subjekte, wird sie überlastet und endet als eine im schlechten Sinne spekulative Ideologie. Dagegen ist nach einer Geistlehre zu suchen, die gleichermaßen die Endlichkeit und die Unbedingtheit des Geistes, sein Sein an sich und sein Sein für sich, vermittelt, um sein An-undfur-sich-Sein in der Welt angemessen erklären zu können. Denn weder ein unvermittelt-endlicher, noch ein unmittelbar-unendlicher Geist wird sich zu Problem und Rätsel und so zu einem eigenständigen Thema philosophischer Bemühungen. Ausschließlich der gleichzeitige, unbedingte Bezug des Geistes auf sich und auf Nicht-Geistiges ist es, der die Träger des Geistes nach dem Wesen desselben fragen läßt und sie es wechselnd eher im Selbstbezug oder eher im Fremdbezug des Geistes suchen läßt. Für eine regulative Geistlehre folgt daraus zweierlei: Um ihren Eigenstand wahren zu können, bedarf die Lehre vom Geist negativ einer Selbstansicht des Geistes jenseits seiner Bedingungen. Und um ihre Inhalte zu gewinnen, muß sie positiv zugreifen sowohl auf die Lehre vom endlichen Menschen als auch auf die Lehre vom Unendlichen, als den Formen der zweigestaltigen geistigen Selbstansicht innerhalb seiner Bedingungen. Insofern sind Anthropologie und Theologie bereits die heimliche Rede vom Geist, immer dann wenn sie sich im Rahmen ihrer verschiedenen Zugänge des wechselseitigen Verhältnisses von Endlichkeit und Unbedingtheit bewußt und damit ihrer gegenseitigen Verwiesenheit gewahr werden. Wenn auch Anthropologie und Theologie, recht verstanden, auf eine Pneumatologie ausgehen, so gehen sie doch nicht in ihr auf, da sie ihren Schwerpunkt außerhalb der Mitte haben, die sie in der Pneumatologie suchen. Die Pneumatologie lebenden Geistes ist eine im Wortsinne regulative Lehre, da sie nicht als Lehre für sich besteht, sondern als anvisierte, aber unerreichte Wissenseinheit andere Lehren reguliert. Sie ist nicht als fertige Phänomenologie des Geistes abzulegen, sondern eine aus der in den Kritiken grundgelegten Noumenologie des Geistes und seiner konkreten Wirklichkeit stets neu herauszuarbeitende Lehre vom

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213

geistigen Wirken als Wirken des Geistes. Daß für uns der Ort dieses Wirkens und mithin das letzte Subjekt dieses Geistes allein der menschliche Geist ist, steht dabei im Rahmen kritischer Philosophie außer Frage und tut der Dignität von Pneumatologie und Theologie keinen Abbruch. Das Verhältnis des Individuums zum Göttlichen, insofern dieses Göttliche Moment seiner Religion ist, wird von einer Bestimmung der Religion als Funktion des menschlichen Geistes nicht negativ berührt. Die menschliche Vernunft ist nun einmal das einzige Medium unbedingter Begegnung, das dem Menschen offensteht, „weil wir niemand verstehen, als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet."747 Der unbedingte Charakter der Begegnung des Selbst mit dem Göttlichen schuldet sich der Transzendentalität des sittlichen Selbstbezuges, nicht der Transzendenz des Gegenstandes. Die Unbedingtheit des religiösen Denkens und die Unmittelbarkeit des religiösen Empfindens kann nur apriorischer Abkunft sein und deshalb auch nichts dadurch verlieren, daß sie im Rahmen einer Religionsphilosophie unbezüglich auf einen tranzendenten äußeren Gegenstand rekonstruiert wird. Insofern der Religiöse wahrhaft religiös ist, wird ihm durch die Aufklärung nichts, andernfalls nur Aberglaube genommen. Für wahrhaft religiöse Selbstbezüge ist ein transzendentes Objekt außer uns entbehrlich. Die menschliche Vernunft, die sich synthetisch a priori an die Endlichkeit vermittelt, ist das Genesezentrum der Religion und, als praktisch-unbedingte, die Quelle ihrer Geltung. Religion geht somit noumenal auf in der Selbstvermittlung der menschlichen Vernunft die gleichermaßen Subjekt und Objekt des religiösen Aktes ist. Kant kann deshalb zugespitzt notieren: „Gott ist die moralisch-praktische, sich selbst gesetzgebende Vernunft!" 748 Ein anderer Einwand gegen eine an der Funktion der Religion orientierte Betrachtung stellt auf die Authentizität religiöser Selbstverständnisse ab und bringt zur Geltung, daß die Funktion der Religion immer nur Teilaspekt des religiösen Phänomens sein könne.749 Die Reichhaltigkeit religiösen Lebens wird gegen die Dürftigkeit des philosophischen Begriffs geltend gemacht. Allerdings trägt dieser Einwand nicht.750 Zwar ist zuzugestehen, daß religiöse Menschen sich selbst in aller Regel nicht religiös bestimmen im reflexiven Bezug auf transzendentalen 747

,,[D]er Gott in uns ist selbst der Ausleger [sc. des Religiösen], weil wir niemand verstehen, als den, der durch unsem eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, [so daß] die Göttlichkeit einer an uns ergangengen Lehre also durch nichts, als durch Begriffe u n s e r e r Vernunft, so ferne sie rein-moralisch und hiermit untrüglich sind, erkannt werden kann." Der Streit der Fakultäten, A 70. Hervorhebung von mir. 748

A A 2 1 , 145. Vgl. Rentsch, Thomas: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik, a.a.O. S. 246. 750 Vgl. Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung, a.a.O. S. 103. Und ferner (ebd. S. 107): „Dieser Einwand kommt mit der Attitüde des gebildeten Respekts vor dem Reichtum kultureller Wirklichkeiten daher, ist aber nichtsdestoweniger ein Einwand, hinter dem sich methodisch nichts als mangelhaft elaborierter Sinn für die Pragmatik von Unterscheidungen verbirgt." 749

214

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Konflikt und ethische Asymmetrie.751 Doch wird daraus noch kein Argument gegen eine normativ-funktionale Betrachtung der Religion. Nur wenn der Geltungssinn des Religiösen so nicht und stattdessen anhand des Phänomen Religion gewonnen werden könnte, bedeutete dieser Sachverhalt eine Reduktion des Religionsbegriffs durch den normativen philosophischen Zugriff. Weder das eine, noch das andere aber trifft zu. Vorliegend gelang eine synthetische Bestimmung des Geltungssinns der Religion, die über deskriptive Mittel zu leisten noch aussteht. Die normative Konzentrierung der Religion um ihren Geltungskern erwies sich nicht etwa als eine Reduzierung der Religion auf moralische Sätze, sondern als Ermöglichungsbedingung der systematischen Analyse ihres Phänomens. Somit kann sich der zugrundegelegte Ansatz über seine Ergebnisse rechtfertigen. Die Religion kann als Thematisierung der Bedeutung des Unbedingten für uns zugleich privat und allgemein, zugleich historisch und überzeitlich, zugleich geoffenbart und gemacht sein. Sie hängt an ihr selbst nicht ab von einem bestimmten Gottesbegriff, sie kann vor dem Hintergrund jeglicher kulturell-religiöser Besonderheit anheben. Jedoch immer wird sie als Phänomen sich irgendeiner Besonderheit verdanken, sich irgendeines symbolischen Hintergrundes bedienen, in irgendeiner Ethik verwurzelt sein. Religion ist damit nicht zweite und schlechtere Erkenntnis der Welt, zweite und schlechtere Begründung der Sittlichkeit, zweite und schlechtere Kulturästhetik, sondern sie ist fur das religiöse Bewußtsein die sinngebende Mitte dieser Vollzüge.752 Deshalb erhebt das unaufgeklärt-religiöse Bewußtsein den Anspruch, die Gesamtheit weltlicher Orientierungen (wieder) unter religiöse Vorzeichen zu stellen. Dieser Anspruch muß nicht gänzlich aufgegeben werden, er kann eingeschränkt gelten, wenn er sich über ein innerreligiöses Erfassen des Noumenon Religion insoweit qualifiziert, daß der Religiöse den Anspruch von seiten der Religion gleichzeitig als Anspruch an die Religion versteht, sich der von ihr beanspruchten Rolle würdig zu erweisen. Sicherlich ist phänomenal separierte Religiosität, - also eine Religion neben und unverbunden mit einer mehrheitlich irreligiösen Gesellschaft, - ein Zeichen des Auseinanderfallens von noumenal befähigter und phänomenal geistvergessener Welt. Daß allerdings eine Kultur so sehr in Religiosität aufgehen könne, daß sie des sich ihr entgegenhaltenden Phänomens unbedingter religiöser Mahnung

751

Ähnlich argumentieren Theologen, die auch das Böse zum Moment des Göttlichen erheben wollen und sich dabei auf das faktische Selbstverständnis religiöser Menschen berufen. Dieser Einwand gegen eine moralische Religionsphilosophie entpuppt sich vor dem Hintergrund unserer Untersuchung zum religiösen Gefühl und bar seiner dialektischen Finessen (Gott als coincidentia oppositorum etc.) als platter phänomenologischer Positivismus, der das Ernstnehmen des religiösen Selbstverständnisses in der Philosophie mit dem Übernehmen des religiösen Selbstverständnisses durch die Philosophie verwechselt. 752 Vgl. Tillich, Paul: Religion als eine Funktion des menschlichen Geistes?, in: Die Frage nach dem Unbedingten, Gesammelte Werke V, Stuttgart, 1964, S. 39.

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215

und Forderung nicht mehr bedarf, ist ebenfalls nicht zu erwarten.753 Das phänomenale Auseinanderfallen der noumenal durch Vernunft geeinten praktischen Disziplinen ist keineswegs nur Ausdruck einer hinter dem Begriff zurückbleibenden Wirklichkeit der Idee. Das geschichtliche Begreifen lehrt, daß darin - als einem bleibendem Ansporn zu weiterer Vereinheitlichung - auch ein Katalysator des historischen Fortschritts liegt. Gerade am menschlichen Heilsverlangen wird dies deutlich. Der stete Wunsch der Subjekte, das individuelle und das kollektive höchste Gut zu konfundieren, kann doch nie dazu führen, daß diese einander konsumieren, wohl aber dazu, daß sich menschliche Subjekte der Wirklichkeit beider individuell wie kollektiv nahem. Die geschichtliche Verfaßtheit menschlichen Seins rechtfertigt insofern die ethischen Gemeinwesen, als sie an dem Prozeß der Vereinheitlichung von Vernunft und Wirklichkeit mitwirken. Die in den ethischen Gemeinwesen abzuarbeitenden Spannungen sind menschlich-endlichem Dasein wesenhaft. Trotz ihres historischen Bezuges sind die religiösen Institutionen deshalb etwas, das an sich unhistorisch, vom Wesen des Menschen her begriffen werden muß, bzw. etwas, dessen Bedeutung nicht in seinem historischen Handeln aufgeht. Wohl ist im Ideal des Reiches Gottes auf Erden die ausstehende Vermittlung realisiert: als unmittelbare Wirklichkeit bedarf sie keiner vermittelnden Instanzen und Institutionen mehr. Aber das ist Utopie, nicht Wirklichkeit. In der geschichtlichen Realität ist Religion eine Funktion des menschlichen Geistes neben und in Opposition zu anderen und ein Faktor des sozialen und historischen Fortschritts neben und in Opposition zu anderen. Solange die Verwirklichung der Utopie vom Reich der intelligiblen Zwecke aussteht, haben sittliche Religionsgemeinschaften jetzt und hier ihr besonderes Recht und ihre besondere Aufgabe, die sich gegenseitig bedingen. Bis dahin - und das heißt in der endlichen Welt: für immer - ist die religiöse Sonderrolle gerechtfertigt, um der sittlichen Selbstwerdung des Menschen Sinn und Ausrichtung zu geben.

753

Vgl. Höhn, Hans-Joachim, Einleitung zu: ders. (Hg.): Krise der Immanenz. Grenzen der Moderne, Frankfurt 1996. S. 23.

Religion an den

4. Anhang 4.1.

Schaubild

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4.2.

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237

4.3. Register

Achtung, 49, 65f., 72, 109-113, 116, 117, 132, 139, 196. Asymmetrie, ethische, 14, 56-61, 63, 72, 77, 81, 88, 103, 120, 133, 137-139, 142, 149, 154-157, 167, 172, 194. Autonomie, 10,.24, 26, 37f., 45, 51, 46, 88, 131, 149. Christentum, 10, 84, 101,177f., 211. Christus, 20, 76, 86-95. Dialog, 196f. Diskurs, 16, 94,193f., 198,211. Ethik, 37, 52, 65-69.

Anthropologie, 71, 77, 143, 151, 170, 173, 204f, 208-214. Autarkie, 177, 178.

Bibel, 101, 179.

Christologie, 89, 92-94, 109. Deutung, symbolische, 64, 75f., 89, 99, 137f., 149f., 206. Differenzerfahrung, 81f., 118, 137, 144, 165. Eschatologie, 98, 146,206f. Ethische Asymmetrie, 56-61, 72, 77, 103, 120, 133, 137-139, 149,154f., 172, 194. 132-136, Freiheit, sittliche, 26-28,38f., 53, 67, 81.

Freiheit, rechtliche, 124-128, 152, 187f., 190. Freiheitspostulat, 9, 29, 32. Friede, 73, 138. Fundamentalismus, 47, 63, 76f., 99-106, Gefühl, moralisches 65f., 72, 115. 117,145f., 175, 194, 199ff. Gefühl, religiöses, 76,106ff., 166f. Geist, 8, 16, 18, 6Iff., 85, 91f., (heiliger G. lOlf.), 166ff., 204ff, 212ff. Gesellschaftl31, 136f., 142 ff., 155ff., Geistgemeinschaft, 121, 157,174ff. 170, 189ff., 193ff., 201f.,216., Gesinnungsethik, 20f., 53-76, 88, 95, 206.. Gesinnung 22, 54-69, 120f„ 133ff, 15 7. Glaube 1, 20, 3 0 f f , 92ff., 96ff., Glaubensfreiheit, 189-191. (Glaubensgemeinschaft 103 f f ) , 106, 115, 179ff. 203. Gut, höchstes, 14, 29ff., 39-50, 61, 7Iff., Heil, 117, 145f, 161, 175, 179, 206f. 75, 88, 149, 153,207,216. Heteronomie, 17, 55, 61, 67, 112, 211. Imperativ, kategorischer, 22-28, 45, 53ff., 67ff., 79, 83. Imperativ, politischer 134, 141. Imperativ, rechtlicher ,127. Imperativ, religiöser, 97, 161. Inspiration 101, 130, 142. Institution, 120ff„ 141 f , 148, 153-157, Kategorien, praktische 25ff., 53, 95, 129ff. 164, 174ff., 186, 192ff, 202, 216. Kirche, 104, 120, 142, 157f., 164, 180, Konflikt, transzendentaler, 15, 37, 46, 91, 187ff., 197f., 20Iff. 76-81, 103ff. 124, 160ff., 213ff. Kritik, philosophische 5, 76, 102ff., 118f., Kulturtheologie 169, 201ff. 145ff., 197, 204, 213f. Lebenssinn, 39, 60, 81, 91, 119f, Liebe, praktische, 72f., 109ff., 139.

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Anhang

154,160ff., 204ff. Offenbarung, 84, 91, 101, 109, 175, 180f. Pneumatologie 101, 213ff. Publizität 140-147, 155, 194. Reich Gottes 75, 88, 95, 206f. Staatskirchenrecht, 187ff.

Pluralismus 147. Politik, 122ff., 134-144, 145ff. 193ff. Recht 23, 51, 123,124-133, 190ff. Soteriologie 94, 98, 146, 206f. Symbol, 14f„ 25, 40-51, 63f„ 67f., 70, 75f„ 83-95, 11 Off., 142, 148ff, 165ff., 182. Synthesis a priori, 13, 17, 22-25, 31-34, Theologie 92ff„ 173ff„ 177-187, 199-203, 50, 83,99, 166,212. 21 Iff. Willkürfreiheit, 24, 62, 78. Zweckeethik, 21, 51, 65, 67-74, 206.

MANFRED KUGELSTADT

Synthetische Reflexion Zur Stellung einer nach Kategorien reflektierenden Urteilskraft in Kants theoretischer Philosophie 1998. 23,5 X 16,5 cm. XI, 341 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-016125-7 (Kantstudien-Ergänzungshefte, Band 132)

Die vorliegende Studie rekonstruiert Kants Theorie der Erfahrung. Sie betrachtet die jeweiligen Erkenntnishandlungen, wie sie sowohl strukturell als auch empirisch-psychologisch aufeinander aufbauen. Dabei werden die Kategorien Kants neu gedeutet und die bestimmende und reflektierende Urteilskraft neu definiert und abgegrenzt. Die Arbeit leistet so einen Beitrag zum besseren Verständnis von Kants Erkenntnistheorie.

DIETMAR HERMANN HEIDEMANN

Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus 1998. 23,5 X 16,5 cm. X, 268 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-016231-8 (Kantstudien-Ergänzungshefte, Band 131)

In dieser Untersuchung werden nach dem Aufweis schulphilosophischer Einflüsse auf die Kantische Idealismus-Kritik die zahlreichen Argumentationen Kants gegen den metaphysischen Idealismus rekonstruiert und — auch in Hinblick auf die aktuelle Idealismus-Realismus-Debatte — geprüft. Es wird gezeigt, daß vor allem die seit der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft neu entwickelte Theorie des inneren und äußeren Sinnes systematische Funktion für die Theorie des Selbstbewußtseins hat und Hauptstütze des Kantischen Beweises der Außenweltrealität ist.

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Kants Ästhetik · Kant's Aesthetics L'esthétique de Kant Herausgegeben von / edited by / dirigé par Herman Parret 1998. 24 X 17 cm. XL, 798 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-012930-2

Der Sammelband präsentiert die Ergebnisse zweier internationaler Kant-Konferenzen, die 1993 in Leuven (Belgien) und Cerisy-la-Salle (Frankreich) stattfanden. Die Beiträge sind in deutscher, englischer oder französischer Sprache.

Ethische und politische Freiheit Herausgegeben von Julian Nida-Rümelin und Wilhelm Vossenkuhl 1998. 23 X 15,5 cm. X, 535 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-014271-6 Broschiert. ISBN 3-11-015697-0

Der Band enthält klassische und aktuelle Texte zu Freiheitskonzeptionen von u. a. John Locke, Immanuel Kant, John Stuart Mill sowie zeitgenössischen Philosophen. Die Beiträge sind in deutscher oder englischer Sprache.

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