Spielformen des Selbst: Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis [1. Aufl.] 9783839414163

Das Spiel konstituiert ein »Dazwischen«, einen Raum des Als-ob, welcher der sozialen Welt sowohl angehört als auch von i

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Spielformen des Selbst: Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis [1. Aufl.]
 9783839414163

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Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst

Edition Kulturwissenschaft

1

Band 2

REGINE STRÄTLING (HG.)

Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis

[ transcript]

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Sielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Xavier Krilyk, Moi mon lapin (1999) Lektorat & Satz: Norbert Axel Richter Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1416-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Einleitung REGINE S TRÄTLING

9 Formen und Funktionen des Spielbegriffs in der Philosophie STEFAN D EINES

23 Riskante Zwischenräume? Überlegungen zum Konzept des Spiels bei Johan Huizinga und Victor Turner MARIO BÜH RMANN

39 Von der Kunst des Findens und dem Spiel des Zeigens: Übungsformen der Subjektivität N ATASCHA ADAMOWSKY

59 Spiele des Wissens. Ethik und Ästhetik als Pole von WissenszuschreibunQ im Werk Ludwig Wittgensteins SAND RA MARKEWITZ

77 Die Möglichkeit des Anderen - Zur Dezentrierung des Subjekts im Spiel bei Kant und Winnicott JULIA C HRIST

103 >Als-ob< und geteilte Intentionalität SOM OGY V ARGA

12 7

Kurzer Aufriss zur Genesis und zur Bedeutungsverschiebung des Spiels und der Spielsucht in der Gegenwart aus kultursoziologischer Perspektive B ERND TERNES

139 Spiel und Rahmen in der Theatrotherapie um 1800 CEL!NE KAISER

1 51

Spiel und Maske. Zur Theatralität der digitalen Medien HANS-CHRISTIAN VON HERRMANN

167 Autobiographische Spielregeln und Spielräume REGINE STRÄTL!NG

181 Der Computerspiei-Avatar als Spielform des Selbst (?) MICHAEL LIEBE

205 Ludische Medialität. Zur ästhetischen Erfahrung im Computerspiel MARKU S RAUTZENBERG

227 Die Hand des Spielers. Zum Glücksspiel als Experiment bei Walter Benjamin KYUNG -HO CHA

245 Profanierungen des Erinnerns. Überlegungen zum Zusammenhang von Sammlung, Spiel und Selbstdarstellung (Colleen Moore, Walter Benjamin, Michel Leiris) CHRISTIAN M OSER

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»Let's Play Masterand Servant«. Spielformen des paradoxen Selbst in sadomasochistischen Subkulturen VOLKER WOLTERSDORFF

289

Autorinnen und Autoren

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Einleitung REGINE STRÄTLING

Das moderne Nachdenken über das Subjekt und sein reflexives Selbstverhältnis ist von Beginn an mit dem Begriff des Spiels verwoben. Es spricht einiges dafür, dass sich wesentliche Aspekte der Modeme durch die Bindung des Konzepts des Subjekts an Konzepte des Spiels charakterisieren lassen, dass also Spielreflexion und die moderne Reflexion auf das Ich einen inneren Zusammenhang bilden.1 Die Bildung eines neuen Subjektbegriffs im 18. Jahrhundert, der den Fokus auf das Selbstverhältnis des Individuums richtet, fällt historisch nicht nur mit einer ungeheuren Aufwertung des Spiels, sondern auch mit einer Verlagerung des Interesses an diesem zusammen. Die genuin moderne Konzeption des Spiels löst dieses aus seiner bisherigen Beschränkung auf pädagogische Kontexte und überwindet die latente Geringschätzung, die es jenseits der Pädagogik in der vormodernen Philosophie fand. Während das Spiel hier zumeist als kurzweiliger, vornehmlich Kindern zugestandener und dem Erwachsenen allenfalls zur Erholung diene nder Zeitvertreib betrachtet wurde, gewann das Spiel zu Beginn des 18. Jahrhunderts immens an Bedeutung und wurde zum integralen und ernst zu nehmenden Bestandteil eines erfüllten Menschseins. 2 Marksteine dieser neuen Konjunktur des Spielbegriffs in Philosophie. Ästhetik und Anthropologie sind die Spielkonzepte Kants und Schillers. Von Anfang an wird der Spielbegriff dabei sowohl im HinDer Begriff der Subjektivität wird Ende des 18. Jahrhunderts in den popularphilosophischen Auseinandersetzungen mit l Piaystations. Or Playing in Earnest«, in: Static 1 (2005), S. 1: >>While most cultures occupy themselves with play, the preoccupation with the nature of play seems to be a defining feature of the kind of organised and integrated societies we have come to call modern.>Der Mensch im SpielVerschwinden des Subjekts< ist inzwischen zu einem Gemeinplatz geworden, der schon die späten Schriften Foucaults ebenso wenig angemessen repräsentiert wie aktuelle Forschungen, etwa die neueren Arbeiten Judith Butlers zur Subjektivierung.7 Vielmehr zeichnet sich eine Zwischenposition ab, die dem Subjekttrotz der Vorgängigkeit sozialer Strukturen die Grundlage für ethisches Handeln und damit für Verantwortung zu bewahren versucht. Das Subjekt wird also weder als etwas substantiell Gegebenes angesehen - die traditionelle Auffassung, der den Prozess zu machen die Strukturalisten und PostStrukturalisten angetreten waren - , noch als bloß ephemerer Effekt einer differentiellen Struktur. Zwar ist das individuelle >Ich< unbestreitbar eingebettet und versnickt in die es umgebenden und ihm vorausgehenden kulturellen Strukturen und Werte. Daraus muss aber nicht geschlossen werden, dass es durch diese vollständig determiniert ist. Subjektphilosophische Positionen wie etwa die Manfred Franks8 haben ohnehin die Verabschiedung der Kategorie des Subjekts nie mitvollzogen und kritisch auf diese reagiert. Es stellt sich die Frage, ob und wie der Begriff des Spiels auch und gerade nach seiner Diskussion im Kontext der Postmodeme erneut zur kunst- und kulturwissenschaftlichen wie auch zur philosophischen und soziologischen Diskussion von Subjektivität b eitragen kann, ohne hinter die Einsichten der Geistes-, Kultur-, Medien- und Kognitionswissenschaften in die Bedingtheit jeglicher Subjektivität zurückzufallen. Ist der Begriff des Spiels noch aussagekräftig in Bezug 6 7 8

Gerhard Gamm, Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität, Berlin/Wien 2004, 5. 11. Vgl. Judith Butler, The Psychic Life of Power: Theories in Subjection, Stanford 1997 sowie dies., Giving an Account of Oneself, New York 2005. Exemplarisch Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexion über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer >postmodernen< Toterklärung, Frankfurt a.M. 1986.

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Regine Strätling

auf das Selbst nach dessen Auflösung in ein Spiel der Masken bzw. in ein endloses Spiel von Differenz? Und falls dies so ist, an welchen Begriff oder welche Begriffe des Spiels und an welche Ergebnisse der Spielforschung ließe sich sinnvoll anknüpfen? Wenn das Phänomen des Spiels in der aktuellen Diskussion um den Status des Subjekts erneut Erkenntnispotential verspricht, dann aufgrund anderer Eigenschaften als derjenigen, die •Spiel• zum Modebegriff der Poststrukturalisten haben werden lassen. Von Interesse ist dabei eine Qualität des Spiels, die es in der Geschichte der Subjektreflexion immer wieder hat prominent werden lassen. Denn nur auf den ersten Blick scheint das Spiel ein Bereich des Lebens, der wie kaum ein anderer über die Abgrenzung von dem definiert wird, was er nicht ist - Arbeit, Ernst, Wirklichkeit und sonstige Fassungen von Nicht-Spiel. Abseits davon zeigt sich eine vielleicht weniger beachtete, aber kaum weniger dominante Konstante in der Geschichte der Spielreflexion: In Spielkonzepten ganz unterschiedlicher Disziplinen bildet das Spiel eine Form der Grenzüberschreitung, ein •DazwischenZwischen>Grundfragen der SoziologieDie Geselligkeit. Beispiel der Reinen oder Formalen Soziologie>Die KoketterieA Theory of Play and Fantasy« [1955], in: ders., Steps to an Ecology of Mind: Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Epistemology, Northwale, NJ 1987, S. 177-193.

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Regine Strätling

ten, abzeichnen, in denen die Grenze, die gemeinhin zwischen Kunst und Alltagspraxis gezogen wird, überschritten wird. Zum einen scheint ästhetische Wahrnehmung und Praxis an Relevanz hinsichtlich der Lebensführung des Einzelnen zu gewinnen. Der ethische Imperativ der Selbstverbesserung verbindet sich mit einem ästhetisch grundierten Wunsch nach Welt- und Selbsterweiterung. Das Spannungsverhältnis von Ethik und Ästhetik, welches auch die moderne Subjektreflexion seit dem 18. Jahrhundert bestimmt, gewinnt in der sich auf Foucault berufenden Forderung nach einer •Ästhetik der Existenz< eine neue Aktualität. 16 Diese Entwicklung, die sich auch in einem gewachsenen theoretischen Interesse an ethico-ästhetischen Ideen bis hin zu antiken Konzepten der •Lebenskunst< und der •Selbstsorge< abbildet, scheint zunächst einem zunehmenden Sinn für das Finden und Ausnutzen von neuen Lebenswegen zu entsprechen. Die emanzipatorisch gefärbte subjektphilosophische Forderung nach einer Ästhetik des Selbst findet aber möglicherweise nicht zuletzt darum verstärkt Widerhall, weil angesichts der gegenwärtigen Prekarisierung sozialer Positionen deren Ästhetisierung mithilfe einer AufWertung des Möglichkeitsgewinns erforderlich scheint. Diesen Zusammenhang deuten zumindest jene Studien an, die die neu proklamierte Einheit von Leben und Kunst als •erpresste Versöhnung< darstellen. In eine solche Richtung weist auch der Beitrag von Volker WOLTERSDORFF in diesem Band, der auf der Analyse von Gesprächen mit Angehörigen einer sadomasochistischen Subkultur beruht; er zeigt, dass sadomasochistische Inszenierungen den Beteiligten ermöglichen, im spielerischen self:fashioning auf Widersprüche zu reagieren, die sie im alltäglichen Umgang mit den Machtstrukturen einer neoliberalen Gesellschaft erleben. Insofern reproduziert die Fragestellung dieses Bandes ihrerseits das eingangs für das 18. Jahrhundert beobachtete Phänomen, dass die verstärkte Reflexion auf das Spiel mit sozialen Wandlungsprozessen zusammenfällt, welche neue Fähigkeiten von den Mitgliedern der Gesellschaft verlangen. Zum anderen zeigen sich in allen Künsten Tendenzen dazu, die Grenzen dessen, was traditionell den Bereich der Ästhetik ausmachte, in Richtung lebensweltlicher Belange, Erfahrungen und Konsequenzen zu überschreiten, etwa weil sich das hervorbringende Subjekt in besonderer Weise selbst •ins Spiel< bringt oder weil die Rezipienten dazu gebracht werden, in Interaktion mit dem Kunstobjekt oder dem Künstler selbst zu treten. Diese Entwicklung bewegt 16 Dazu immer noch aufschlussreich Gerh ard Gamm/Gerd Kimmerle, Ethik und Ästhetik. Nachmetaphysische Perspektiven. Tübingen 1990. Exemplarisch für neuere Ansätze Jens Elberfeld/ Marcus Otto (Hg .), Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik. Bielefeld 2009.

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Einleitung

sich in einer Tradition, die sich zumindest bis zu den historischen Avantgarden, wenn nicht der Romantik zurückverfolgen lässt und über die Kunst und Kultur der 60er und 70er Jahre führt, deren Untemehmung eines >>Blurring of Art and Life« 17 vor allem in der Form des Happenings die avantgardistische Ästhetik fortsetzte, welche keine reine Ästhetik sein wollte, sandem auf eine Veränderung des Lebens zielte. Angesichts der gegenwärtigen Konjunktur einer solchen transgressiven Ästhetik stellt sich die Frage, ob Konzepte des Spiels geeignete Mittel der Analyse sein können, um Kunstformen angemessener zu beschreiben, in denen die Grenze zwischen Kunst und Lebenswirklichkeit verwischt oder überschritten scheint. Und erlaubt der Begriff des Spiels - weit mehr als nur einen bestimmten Umgang mit sich selbst m etaphorisch zu charakterisieren-, nicht nur die spezifische Konstituiertheit von Subjektivität herauszuarbeiten, die in der jeweiligen künstlerischen Aktivität zum Tragen kommt, sondern auch, diese Aktivität in ihrer Produktivität, ihrer Schaffung neuer Selbstverhältnisse im kreativen und rezeptiven Vollzug zu begreifen? Für in der Kunst ausgetragene Selbstverhältnisse hieße das, dass ••das Kunstwerk nicht als Ausdruck eines Subjekts, sandem a ls der Schauplatz verstanden werden muß, auf dem sich der Prozeß der Verhandlung zwischen Subjekt und Medium zuträgt«, bzw. ••zwischen Subjektivität und Medialität«. 18 Es bleibt allerdings die Frage, wie sich diese >Verhandlung< gestaltet, wie solche Prozesse der Subjektkonstitution ablaufen und wie dieser •SchauplatzOrdnungsgefüge«, dem er sich anheimgeben k ann. Deswegen hat für Gadamer das Spiel als Struktur den >>Primat[ ... ] gegenüber dem Bewusstsein des Spielenden«.21 Die Subjektivität des Spielenden ist bei Gadamer dennoch nicht gänzlich ausgeblendet. Viel19 Programmatisch für eine solche Perspektive ist die »Allgemeine Einleitung>Philosophische Untersuchungen«, in : ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1984, S. 225-580, hier S. 277f.

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Formen und Funktionen des Spielbegriffs in der Philosophie

einer gleichförmigen Weise Bezug genommen wird - es sind in den einzelnen Theorien vielmehr ganz unterschiedliche Aspekte, Ebenen und Zwecke zu erkennen, die b ei einer Einschätzung der Bedeutung des Spielbegriffs im jeweiligen Kontext berücksichtigt werden sollten. Dieser notwendigen Differenzierung und Spezifizierung steht in einigen Fällen die Darstellung und die Rhetorik in den einzelnen philosophischen Theorien selbst entgegen. die das Spiel als ein vermeintlich einheitliches Phänomen vorstellen oder es so erscheinen lassen, als würden sie sich jeweils auf das grundlegende Merkmal beziehen, welches das Spiel als Spiel ausmacht. Das Ziel der folgenden Ausführungen ist es aus diesem Grund, zumindest einige Elemente eines Instrumentariums zur Differenzierung von verschiedenen Formen des Gebrauchs des Begriffs >Spiel< zu erläutern, um damit unterschiedliche Formen und daran geknüpfte Funktionen des Spielbegriffs in der Philosophie voneinander abheben zu können. Dies soll mit besonderer Rücks icht auf die Frage geschehen, welche Rolle der Spielbegriff bei der philosophischen Konzeptualisierung und Bestimmung des menschlichen Selbst übernehmen kann. Denn die verschiedenen Verweise auf das Spiel münden in bzw. resultieren aus sehr unterschiedlichen Bildern des Menschen und umreißen die Rolle des Subjekts und seine Handlungsspielräume in sehr unterschiedlicher Weise. Am Ende dieser Ausführungen sollen also, zumindest skizzenhaft, verschiedene Formen des Spiels, verschiedene Funktionen des Spielbegriffs in der Philosophie sowie wiederum verschiedene Konsequenzen dieser Applikationen für eine Philosophie des Subjekts erkennbar geworden sein.

2. Grundzüge einer Typologie des Spiels Zur Differenzierung der verschiedenen Verwendungsweisen des Spielbegriffs in der Philosophie möchte ich eine Art Koordinatensystem vorschlagen, mit dem sich drei verschiedene Dimensionen des Spielbegriffs analytisch auseinanderhalten lassen, die ich im Folgenden als die Dimension der Spielform (l.), die Dimension des Akteurs (2.) und die Dimension der Sphäre (3.) bezeichnen möchte. Diese drei Dimensionen sollen zunächst jeweils kurz erläutert werden. um danach zu prüfen, ob sich mit ihnen die verschiedenen philosophischen Ansätze sinnvoll fassen lassen. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass mit diesem Versuch einer Typologie keineswegs Anspruch darauf erhoben wird, alle möglichen Formen von Spielen oder alle wichtigen und für sie charakteristischen Merkmale zu berücksichtigen. Die Typologie ist eine in praktischer Absicht und dient allein dem Zweck, Unterscheidungen treffen zu können,

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Stefan Deines

die sich für eine Differenzierung und Interpretation der Spielbegriffe, wie sie in der Philosophie Verwendung finden, als fruchtbar erweisen.4 2.1

SPIELFORMEN

In Bezug auf die Dimension der Spielform können Unterscheidungen anhand der Fragestellungen »Welches Spiel wird gespielt?« bzw. »Welche Struktur hat das Spiel?« getroffen werden. Bereits in dem Zitat von Wittgenstein ist deutlich geworden, dass sich zwar nur schwer allgemeinverbindliche Merkmale finden lassen, die allen Spielen gemeinsam sind, dass sich aber sinnvoll verschiedene Spiele zu bestimmten Spielformen bzw. »Klassen« gruppieren lassen. Wittgenstein nennt hier etwa die Brettspiele und die Ballspiele.5 Solche Klassen von Spielen sind nun durchaus durch bestimmte Aspekte, Charakteristika und Strukturmerkmale gekennzeichnet, und es lässt sich an dieser Stelle bereits vermuten, dass die Philosophie sich in einigen Fällen auf genau solche bestimmten paradigmatischen Eigenschaften und Merkmale bezieht. um sie für ihre Zwecke theoretisch auszubeuten.6 Im Folgenden sollen vor allem die spezifischen Merkmale und Strukturen benannt werden, die solche verschiedenen Spielformen charakterisieren. Da das Spiel in vielen Fällen besser über sein jeweiliges Gegenteil - wie z.B. Arbeit, Alltag, Emst oder Zwang - als durch intrinsische Eigenschaften bestimmt werden kann, werden die Spielformen weiter profiliert, indem sie mit den Gegenbegriffen kontrastiert werden, die der jeweiligen Klasse von Spielen gegenüberstehen würden.

4

5

6

Vgl. zur Vielzahl der unterschiedlichen Versuche einer Klassifizierung und Typisierung von Spiel-Phänomenen Hans Scheuer!, Das Spiel. Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen, Weinheim/ Berlin 1968, S. 137-142. Natürlich handelt es sich auch bei diesen Formen wiederum nicht um klar abgrenz- und definierbare Phänomene, vielmehr werden sich die vielfältigsten Misch- und Übergangsformen von und zwischen den genannten Klassen finden lassen. Es werden hier nur paradigmatische Formen des Spiels beschrieben. Bei der folgenden Unterscheidung von Spielformen schließe ich in recht freier Weise an die Differenzierung verschiedener Kategorien des Spiels von Roger Caillois an. Die ersten drei Spielformen sind an die drei Kategorien angelehnt, die Caillois als >agönalea< und >mimicry< bezeichnet hat. Da es mir allein auf charakteristische Strukturmerkmale der Spiele se lb st, nicht aber auf psychische und mentale Effekte oder Einstellungen der Spieler ankommt, findet die Kategorie >ilinxAlsobHin und Her• - von Formen und Elementen.S Gegenbegriffe zum freien Spiel wären daher Zwang, Arbeit, Regel, Notwendigkeit und Zielgerichtetheit. 2.2 AKTEURE

In der Dimension der Akteure lassen sich Spiele in Bezug auf die Frage >Wer spielt das Spiel?• unterscheiden. Diese Frage lässt sich sicherlich nicht gänzlich unabhängig von der Frage nach der Spielform beantworten, da in der jeweiligen Form des Spiels in den m eisten Fällen auch schon die Anzahl und die Rolle der zum Spiel gehörenden Akteure bestimmt ist: Schach wird von zwei Pe rsonen gespielt; Patience spielt man alleine. Aber nicht immer ist die Lage so eindeutig. So kann man sich fragen, wer eigentlich die Akteure beim Fußball sind: Sind es 22 Einzelpersonen, die hier spielen, oder treten sich zwei Mannschaften als Kollektivsubjekte gegenüber? Und was ist mit dem Publikum, dem in Fußballkreisen gerne so genannten 12. Mann? Und ist der Trainer nicht auch als Akteur des Spiels zu begreifen? Komplexer wird die Lage noch , wenn wir davon ausgehen, dass Spiele nicht ausschließlich von menschlichen Akteuren ausgeübt werden müssen: Wird etwa Roulette nur vom Croupier und den Setzenden gespielt oder muss der Zufall selbst zu den Akteuren gezählt werden? Und wer spielt das Gadamersche Spiel der Wellen? Die Wellen selbst? Oder befinden sich hier das Meer und der Wind in spielerischem Austausch?

7

Hans·Georg Gadamer, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol

8

und Fest, 5tuttgart 1977, 5. 29f. Hans·Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, 5. 107-116.

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Formen und Funktionen des Spielbegriffs in der Philosophie

Gerade für die Frage nach der Bestimmung der Rolle und des Spielraums des menschlichen Subjekts, die im letzten Abschnitt dieses Texts noch etwas genauer verfolgt werden soll, ist die Dimension des Akteurs von entscheidender Bedeutung, da hiermit auch das Thema von Freiheit und Autonomie angeschnitten wird. So kann im Rahmen dieser Dimension geklärt werden , ob ein Subjekt im Spiel gänzlich frei und autonom agiert, ob es durch ein Set von Regeln gebunden ist, ob es als Teil eines größeren Ganzen fungiert oder ob es gar als Spielball in einem Spiel begriffen werden muss, das von anderen Mächten gespielt wird.

2.3

SPHÄRE

Während die Dimensionen der Spielform und des Akteurs Them en betreffen, die auch für eine Spiel-Philosophie im engeren Sinne Relevanz besitzen, verstärkt sich die Dringlichkeit der Frage nach der Sphäre erst mit der Übertragung und Anwendung des Spielbegriffs auf andere, dem Spiel äußerliche, Gegenstandsbereiche, wie wir sie in der Philosophie vorfinden. In dieser Dimension lassen sich Unterschiede anhand der Frage »Wo - in welchem Bereich - findet das Spiel statt?« feststellen. Mit der Dimension der Sphäre ist also nicht mehr gemeint als die Angabe des Gegenstandsbereichs bzw. des ontologischen Raums, in dem das jeweilige Spiel verortet wird bzw. der mithilfe des Spiels als Modell oder Metapher erläutert werden soll. Die Sphäre einer im engeren Sinne spieltheoretischen Betrachtungsweise, in der ja noch keine solche Übertragung vorgenommen wird, wäre also schlicht die Sphäre der menschlichen Spiele selbst. Anders sieht es bei den philosophischen Transpositionen des Spielbegriffs aus: Die Sphäre von Wittgensteins Theorie der Sprachspiele ist die der Sprache, diejenige, die Kant im Blick hat, die Sphäre des Schönen, Mead stellt Überlegungen in Bezug auf die Sphäre des menschlichen Handeins im Allgemeinen an und Heidegger und Denida beziehen sich bei ihren Ausführungen über den Begriff des Spiels auf die Sphä re des Seins im Ganzen. Natürlich gibt es Sphären im genannten Sinn so viele wie m a n sich eben verschiedene Gegenstandsbereiche vorstellen kann, und es scheint daher auch keinen Sinn zu machen, hier unabhängig vom jeweils konkreten Fall eine Systematisierung möglicher Sphären vorzuschlage n. Dennoch lassen sich, so scheint mir, zwei Grundformen von Sphären des Spiels differenzieren, die sich im Hinblick auf die Reichweite bzw. die Begrenzung unterscheiden, die den Sphären in einem Gesamtrahmen, sei es der kognitiven Vermögen des Menschen, sei es der kulturellen Welt insgesamt, zugeschrieben werden. Die eine Grundform einer Sphäre ist durch klare Abgrenzung zu anderen Sphären gekennzeichnet, von denen sie

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Stefan Deines

sich in relevanten Hinsichten unterscheidet. Solche klaren Grenzen zieht zum Beispiel der Vertreter einer Spiel-Philosophie im engeren Sinn, wenn er das Spiel als ein eigenständiges Phänomen von allen anderen Gebieten menschlichen und tierischen Verhaltens und von menschlichen Praktiken wie der Arbeit und der Wissenschaft unterscheidet. Die andere Grundform einer Sphäre zeichnet sich im Gegensatz dazu dadurch aus, dass in ihr solche, man könnte sagen. vertikalen Grenzen zwischen einzelnen kognitiven oder kulturellen Bereichen gerade nicht gezogen werden. Stattdessen wird die Sphäre hier so konzipiert, dass sich das Prinzip des Spiels gleichsam horizontal über mehrere oder sogar alle Bereiche des kulturellen oder geistigen Lebens erstreckt; es wird dann davon ausgegangen, dass in jeder Form des m en schlichen Sprechens, Ha ndeins oder Denkens Elemente oder Strukturen zu finden sind, die sich als Elemente oder Strukturen des Spiels erläutern lassen.9 Wird die Sphäre in dieser Weise horizontal übergreifend gefasst, ergeben sich aus strukturellen Gründen gewisse Schwierigkeiten, wenn angegeben werden soll, was und warum etwas als Spiel überhaupt gelten soll; denn die oben erwähnte Möglichkeit, das Spiel über Gegenbegriffe wie Alltäglichkeit, Ernst oder instrumentelles Handeln zu bestimmen, muss in dem Augenblick verworfen oder zumindest relativiert werden, in dem davon ausgegangen wird, dass das Spiel den gesamten Raum unserer alltäglichen Praxis, des Geistes oder der menschlichen Kultur durchdringt.

3. Formen des Spielbegriffs in der Philosophie Nachdem das Instrumentarium der Differenzierung zumindest in groben Zügen entwickelt worden ist, können nun unterschiedliche konkrete Verwendungsweisen des Spielbegriffs in der Philosophie voneinander abgehoben werden. In einer Art Schnelldurchlauf werde ich vier verschiedene prominente und wirkmächtige Weisen vorstellen, in denen sich in der Philosophie in den letzten zweihundert Jahren auf den Begriff des Spiels bezogen wurde und wird.1o Bei diesen vier Bereichen handelt es sich um die Ludologie oder SpielPhilosophie im engeren Sinne (I.). um Theorien der ästhetischen 9

Eine solche horizontal übergreifende Sphäre des Spiels umreißt etwa der Soziologe Erving Goffman, wenn er in seinem Buch Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (München 1997) all unsere sozialen Interaktionen nach dem Modell von Theaterpe rformances konzipiert. 10 Dass auch die Philosophie bzw. das Philosophieren selbst als ein Spiel begriffen werden kann, soll hier nicht eigens berücksichtigt werden. Vgl. zu dieser Thematik Alexander Aichele, Philosophie als Spiel: Platon, Kant, Nietzsche, Berlin 2000.

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Formen und Funktionen des Spielbegriffs in der Philosophie

Erfahrung von und im Anschluss an Kant (2.), um die Traditionslinie der analytischen bzw. post-analytischen Sprachphilosophie von Wittgenstein über David Lewis bis zu Robert Brandom (3.) sowie um eine hermeneutische bzw. hermeneutisch-dekonstruktive Traditionslinie, die sich von Nietzsche über Heidegger und Gadamer bis zu Derrida verfolgen lässt (4.).

3.1

SPIEL- PHILOSOPHIE

Ludalogische Ansätze bzw. Ansätze einer Spiel-Philosophie im engeren Sinne lassen sich meist als eine Spielart der Anthropologie begreifen. Hier wird das Phänomen, dass es Spiele gibt und dass der Mensch a ls ein Spieler zu betrachten ist, auf seine Bedeutung hin befragt. Was heißt es für ein Wesen, dass es die Tätigkeit des Spiels ausübt, und welche Funktion kann dem Spielen in der psychischen oder der sozialen Ökonomie zugeschrieben werden? Dabei lassen sich grob zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Spiel unterscheiden: Während die eine eher der Pädagogik und der Entwicklungspsychologie verpflichtet ist und nach der funktionalen Rolle des Spiels in der ontogenetischen Entwicklung fragt, ist die andere eher kulturphilosophisch orientiert und fragt nach der Funktion des Spiels in der menschlichen Kultur oder dem menschlichen Geistesleben insgesamt. Im Hinblick auf die oben genannten Dimensionen scheint die Spiel-Philosophie klar zu verorten zu sein. Die Sphäre ist diejenige des Spiels selbst, der Akteur ist der Mensch und die Spielform bleibt unentschieden, da hier in der Regel alle zu beobachtenden Phänomene des menschlichen Spiels - und das heißt alle Spielformen - berücksichtigt werden sollten. Dennoch können auch in den Spiel-Philosophien paradigmatische Spielformen ausgezeichnet werden. Dies geschieht z.B., wenn Huizinga das Wettkampfspiel hervorhebt und dessen Konstitutionsleistung für Kultur an sich betont, oder wenn Mead Darstellungsspiele und Wettkampfspiele in der kindlichen Entwicklung als Konstitutionsbedingungen für die Persönlichkeit menschlicher Akteure begreift. 11 Diese beiden Beispiele geben auch schon einen Hinweis auf die Bedeutung des Spielbegriffs für die Konzeption menschlicher Subjektivität in der anthropologisch orientierten Spiel-Philosophie: Das Spiel wird hier meist als notwendige Bedingung oder substantieller Bestandteil des Subjekt- und Menschseins b egriffen. Die Tatsache, dass der Mensch spielt, zeigt ihn als freien , kreativen, kulturschaffenden und gesellschaftsfähigen Akteur.

11

Vgl. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, 5. 191ff.

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Stefan Deines

3.2 ÄSTHETIK Kant interessiert sich in seiner Ästhetik nicht für das Spiel an sich, sondern er überträgt das Konzept in eine andere Sphäre, in den Bereich des Schönen bzw. die Sphäre unserer ästhetischen Urteile. Diese Sphäre ist ein Exemplar der ersten der oben genannten Grundformen, sie wird in klarer Differenzierung zu anderen Bereichen des kulturellen und geistigen Lebens bestimmt. Das Konzept des Spiels soll genau zu dem Zweck dienen, die Sphäre des Ästhetischen von den Bereichen der Erkenntnis, des Angenehmen und des Guten abzugrenzen, denn nur in ihr findet sich die Struktur des Spiels. Auch die Spielform und die Akteure können eindeutig benannt werden, da sie in der Formel vom >freien Spiel der Erkenntniskräfte< klar zum Ausdruck kommen. 12 Frei sind die Erkenntniskräfte der Einbildungskraft und des Verstandes, weil sie hier nicht ihren regulären Zweck verfolgen, Vorstellungen und Begriffe zu Erkenntnisurteilen zusammenzusetzen, sondern gegenüber den Zwängen dieser >Arbeit< mehr Freiheit besitzen. Dieses ästhetische Spiel der Erkenntniskräfte. von dessen genauem Funktionieren kürzlich Andrea Kern eine von Kant abweichende alternative Deutung angeboten hat, ist dann die Grundlage einer mit Lust verbundenen ästhetischen Erfahrung. 13 Da das menschliche Subjekt nicht als solches als Akteur dieses Spiels bestimmt werden kann, sondern es lediglich einige seiner Vermögen sind, die gleichsam in ihm spielen, lassen sich auch die Merkmale der Freiheit und der Aktivität, die in diesem Spiel zum Ausdruck kommen, nicht direkt als Charakteristika des Subjekts begreifen. Zwar lässt sich a ngesichts des ästhetischen Spiels Kant zufolge auf vermittelte Weise auch auf die Freiheit des menschlichen Subjekts schließen; im Vollzug der ästhetischen Erfahrung selbst erscheint es aber eher als passiv und rezeptiv.14

12 Vgl. lmmanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe, Bd. X), Frankfurt a.M. 2006, S. 296. 13 Vgl. hierzu Andrea Kern, Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfah-

rung nach Kant, Frankfurt a.M. 2000. Eine Ästhetik, in der der Begriff des Spiels zentral ist und auf Prozesse der Erkenntnis bezogen wird, entwirft auch Ruth Sonderegger in ihrem Buch Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Oekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt a.M. 2000. 14 Eine Verbindung der anthropologisch orientierten Spiel-Philosophie und der Anwendung des Spielbegriffs in der Ä sthetik findet sich in Friedri ch Schillers Briefen >>Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, vgl. hierzu insb. den berühmten 15. Brief. Friedrich Schiller, >>Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen >Scorekeeping in a Language Game« von David Lewis in: ders., Philosophical Papers, Bd. 1, New York 1983, S. 233-249. Bei dem paradigmatischen Spiel, das hier zur Erläuterung des Spiels des Gebens und Forderns von Gründen herangezogen wird, handelt es sich um Baseball.

33

Stefan Deines

3.4

HERMENEUTIK UND DEKONSTRUKTION

Wenn man aus der Traditionslinie der Hermeneutik Gadamer herausgreift, könnte man auf den Gedanken kommen, dass man an der Bestimmung des Spielbegriffs im Vergleich zu der WittgensteinBrandom-Linie gar nicht viel zu modifizieren hätte. Auch hier geht es um die Sphäre der Sprache in einer horizontal übergreifenden Form, die Auswirkungen auf das geschichtliche und kulturelle Leben insgesamt hat. Und auch Gadamer betont, dass wir den einzelnen Sprachteilnehmer in konstitutiver Weise als einen Mitspieler in einem größeren Spielkontext zu verorten haben. Dennoch ist der Spielbegriff der Hermeneutik, so denke ich, ein grundsätzlich anderer. Denn die dem Spielbegriff in dieser Traditionslinie zugrundeliegende Spielform ist nicht das Wettkampfspiel, sondern das freie Spiel von Formen und Elementen, wie es oben bereits mit Verweis auf Gadamer eingeführt wurde. Und es kommt bei Heidegger, Gadamer und Derrida nicht darauf an, dass sich der Prozess des Spiels in einer regelgeleiteten Weise vollzieht, sondern im Gegenteil, dass sich eine Bewegung vollzieht, die gerade nicht kontraHierbar oder berechenbar ist. In der grundlegenden Struktur der Bewegungen der Geschichte, der Welt und der Sprache findet sich etwas, das der reglementierenden Kontrolle entgeht und die von ihr gezogenen Grenzen immer wieder zu überschreiten in der Lage ist. 16 Der Kern des Spielbegriffs in der Hermeneutik ist also nicht das Prinzip der regelgeleiteten Praxis, sondern die Diagnose der Kontingenz von Weltverständnissen und Weltverhältnissen. Als die Akteure dieser Spiele werden in der Regel nicht die menschlichen Subjekte genannt, sondern Instanzen, die der Konstitution von Sprache, von Sinn und von Subjekten noch zugrunde liegen: das Spiel der Welt, das Spiel der Zeichen bzw. das Spiel der differance oder das Spiel als Subjekt seiner selbst, das durch die mitspielenden Personen lediglich zur Darstellung gebracht wird. 17 16 Eine solche Verwendung des Spielbegriffs lässt sich auch in Nietzsches frü· her Schrift »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne>Spielzeug«, indem er sie >>zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt. « (S. 888) 1 7 So die einschlägigen Charakterisierungen von Heidegger, Derrida und Gadamer. Vgl. hierzu Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie (Gesamtausgabe, Bd. 27), Frankfurt a.M. 1996, S. 309ff.; jacques Derrida, >>Die differance«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 29-52, hier S. 42 und 47 und Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 108.

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Formen und Funktionen des Spielbegriffs in der Philosophie

Diese konstitutive Rolle des Spielbegriffs hat natürlich Konsequenzen für das Bild des menschlichen Subjekts sowie die Einschätzung seiner Autonomie und Handlungsmacht; und die Tatsache, dass die Subjekte der unkontrollierbaren Bewegung des Spiels hier systematisch nachgeordnet werden, ist der Auslöser für die Debatten um den vermeintlichen >Tod des Subjekts< bzw. die >Abschaffung des Menschen< gewesen, die sich an der hermeneutisch-dekonstruktiven Traditionslinie entzündet haben.

4. Spiel und Subjekt Bereits diese vier kurzen Schlaglichter auf die einzelnen Bereiche und Strömungen der Philosophie, in denen der Begriff des Spiels eine tragende Rolle übernimmt, sollten verdeutlicht haben, dass die verschiedenen Verwendungsweisen des Spielbegriffs mit sehr verschiedenen Menschenbildern und Subjektmodellen einhergehen und dass die Spielräume von Freiheit und Autonomie in den einzelnen Theorien jeweils sehr unterschiedlich abgesteckt werden. Während der Verweis auf das Phänomen des Spiels auf der einen Seite des Spektrums die Freiheit, Autonomie und Kreativität des m enschlichen Subjekts geradezu zu garantieren scheint, finden sich auf der anderen Seite Theorien, die das Spiel in einer Weise konzipieren und systematisch verorten, die die Infragestellung der Instanz eines freien und autonomen Subjekts insgesamt zur Folge hat. Diese Unterschiede in Bezug auf das Bild des Subjekts ergeben sich aus den verschiedenen theoretischen Entscheidungen bezüglich Spielform, Akteur und Sphäre. Eine sehr große Tragweite in Bezug auf die Einschätzung von Freiheit und Autonomie haben hier sicherlich die Bestimmung der jeweiligen Sphäre und die damit verknüpfte Frage, ob es sich bei den Akteuren des jeweiligen Spiels überhaupt um menschliche Akteure handelt. Zwischen Theorien, die den Begriff des Spiels im Hinblick auf menschliche Spielende konzipieren, und solchen, die für ihr Spiel andere Instanzen wie die differan ce oder die Welt benennen, die für die Konstitution von Subjekten fundamental sind, scheint demnach eine systematische Grenze zu liegen. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass man es auf der einen Seite dieser Grenze immer mit dem Bild eines vollständig autonomen und auf der anderen Seite automatisch mit dem Bild eines vollständig unfreien und entmächtigten Subjekts zu tun hätte. Denn auf beiden Seiten der Grenze gibt es, wie bereits zu sehen war, vielfältige Differenzierungen und Abstufungen in Bezug a uf die Rolle des Subjekts. Dies ist selbst bei Huizinga der Fall, der Spiel und Freiheit definitorisch aneinander koppelt: >>Alles Spiel ist zunächst und vor al-

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Stefan Deines

lern ein freies Handeln.«1s Denn diese eindeutige und einsinnige Zuschreibung von Freiheit scheint durch die mangelnde Berücksichtigung der verschiedenen Spielformen erkauft zu sein. Worauf Huizinga mit seiner Bestimmung zwar zu Recht anspielt, ist die notwendige Freiwilligkeit der spielerischen Handlungen: Wo Menschen zum Spiel gezwungen werden, handelt es sich im strengen Sinne gar nicht mehr um ein solches. Über die Rolle von Freiheit und Autonomie im Vollzug des Spiels selbst ist aber durch diese notwendigen freiwilligen Einstiegszüge noch gar nichts gesagt. Und auch wenn - je nach Freiheitsbegriff - die Gebundenheit durch Regeln nicht als Einschränkung, sondem sogar als eine Ermöglichungsbedingung von Freiheit angesehen wird, so darf doch nicht übersehen werden, dass die Rolle von Freiheit und Autonomie sehr unterschiedlich gefasst werden muss, je nachdem, ob man es mit einem >WettkampfspielGlücksspiel< oder einem >freien Spiel< zu tun hat.JB So macht ein Spielender, der in wechselseitiger Abstimmung mit anderen nach festgelegten Regeln agiert, seine Freiheit und Autonomie in einer anderen Weise geltend als deijenige, der allein und ohne durch Regeln gebunden zu sein seiner Kreativität oder seinen Stimmungen freien Lauf lässt. Aber auch auf der anderen Seite der Grenze, wo als Akteure des Spiels keine menschlichen Subjekte benannt werden, sondem wo die Konstitution von Subjekten in Bezug auf andere im Spiel befindliche Entitäten erläutert wird, wie es in der hermeneutisch-dekonstruktiven Traditionslinie der Fall ist, gibt es eine Bandbreite von verschie denen Konzeptualisierungen von Subjekten und ihrer Handlungsfähigkeit.zo Mit Blick auf diese Bandbre ite lässt sich dann auch zeigen, dass die erwähnte Rede vom >Tod des Subjekts< keineswegs in pauschaler Weise auf alle Theorien dieser Strömung zutrifft. Die Gründe für den Verdacht, dass es sich hier um Theorien handelt, die eine vollständige Entmächtigung des Subjekts zur Folge haben, sind zunächst durchaus nachvollziehbar. Sowohl bei Heidegger als auch bei Gadamer und Derrida lassen sich Aspekte eines Denkens finden, in dem das menschliche Subjekt lediglich als Spielball übersubjektiver Kräfte in Erscheinung tritt. In enger Anlehnung an Heideggers Ausführungen zum Spiel bringt Eugen Fink dieses Denken auf den Punkt, wenn er schreibt: •Alles Seiende ist 18 Huizinga, Homo Ludens, S. 12. 19 So bedeutet Freiheit bei Huizinga keineswegs Freiheit von Regeln; Spiele sind ihm zufolge vielmehr streng durch Regeln bestimmt. Vgl. ebd., S. 18f. 20 Eine Einschränkung in Bezug auf Freiheit und Autonomie kann es selbstver· ständlich nur dort geben, wo das Spiel in einem explikativen Bezug zur lnstanz des Subjekts steht. Wo nicht-menschliche Akteure ohne diesen Bezug im Spiel sind, wie beim Spiel der Wellen, hat dies für die Frage des Subjekts natürlich keinerlei Konsequenzen.

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kosmisches Spielzeug, und auch alle Spieler sind selber nur gespielt.«2t Die menschlichen Subje kte, soll das heißen, sind abhängig von Strukturen, deren Bewegung sie nicht kontrollieren und lenken können, und wenn sie als handelnde und intentionale Akteure in ein Spiel eintreten, liegt dem immer schon ein Spiel von anderen Kräften und Elementen voraus.zz In diesem übergreifenden systematischen Rahmen finden sich nun aber auch in der hermeneutisch-dekonstruktiven Traditionslinie selbst verschiedene Tendenzen, die Rolle des Subjekts genauer zu fassen. Die eine Möglichkeit, so könnte man sagen, koppelt das für diese Strömung paradigmatische freie Spiel der Formen mit dem Glücksspiel. Für diese Möglichkeit steht insbesondere Heidegger. Wenn es bei ihm heißt, dass der Me nsch bzw. das Dasein aufs Spiel gesetzt ist, also gleichsam a ls Einsatz in einem Spiel begriffen wird, kann man das als einen Aufruf zur Schicksalsergebenheit lesen, gelassen abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln, und die Unmöglichkeit anzuerkennen, die uns prägenden Verhältnisse zu beeinflussen und handelnd einzugreifen.23 Die andere Möglichkeit schreibt sich von Nietzsche her und lässt sich beispielsweise bei Derrida (sowie auch bei Michel Foucault und Richard Rorty) finden. Auf die Einsicht in die Kontingenz und in die Dynamik und Wandelbarkeit aller Seinsverhältnisse und Weltverständnisse folgt hier der Aufruf, die unverfügbaren und unkontrollierbaren Bedingungen zu bejahen und mit den Elementen und Vokabularen des zugrundeliegenden Spiels auf eine Weise spielerisch und subversiv umzugehen, die dem konstituierenden Spiel einen möglicherweise nur minimalen, immerhin aber neuen und eigenen Dreh verleiht.24 21

Fink, Spiel als Weltsymbol, S. 242. Oder auch, ganz in diesem Sinne: »Aber spielt überhaupt jemand? Die Spielmetapher versagt als kosmisches Gleichnis, wenn wir an der Personalität eines Spielers und an der Scheinhaftigkeit der spielweltlichen Szene festhalten. [ ... ] Das Spiel der Weit ist niemandes Spiel, weil es erst darin Jemande, Personen, Menschen und Götter gibt.