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German Pages 348 Year 2014
Gunter Lösel Das Spiel mit dem Chaos
Theater | Band 56
Meinem Vater in großer Dankbarkeit
Gunter Lösel (Dipl.-Psych., Dr. phil.) leitet das Improtheater Bremen und lehrt an der Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind Improvisation, kollaborative Kreativität und Publikumspartizipation.
Gunter Lösel
Das Spiel mit dem Chaos Zur Performativität des Improvisationstheaters
Zugl.: Hildesheim, Univ. Diss., 2012 unter dem Titel: »Das Spiel mit dem Chaos – Performativität und Systemcharakter des Improvisationstheaters«
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung | 7
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Fragestellungen | 8 Materialzugang und Methode | 10 Stand der Theoriebildung | 16 Aufbau der Untersuchung | 21
Kapitel I: Grundlagen | 23
1 Eingrenzung des Gegenstandes | 23 2 Begriffe und Begriffsgeschichte | 38 Kapitel II: Konzepte der Produktion | 47
1 Einzelbeiträge zum Improvisationstheater | 53 2 Regelsystem und Fachsprache des Improvisationstheaters | 103 3 Metathemen des Improvisationstheaters | 121 Kapitel III: Performativität des Improvisationstheaters | 157
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Leibliche Ko-Präsenz | 159 Materialität | 185 Semiotizität | 219 Ereignishaftigkeit des Improvisationstheaters | 239 Eine Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters | 259 Rückwirkungen auf die Theorie der Performativität | 263
Kapitel IV: Systemtheorien und Improvisationstheater | 281
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Luhmanns Systemtheorie und das Improvisationstheater | 282 Soziale Emergenz – der Ansatz von Keith Sawyer | 296 Game Theory | 303 Synergetik | 312 Fazit: Systemtheorien und Improvisationstheater | 323
Gesamtfazit und Ausblick | 329 Literaturverzeichnis | 335
Einleitung
In der englischsprachigen Impro-Community gibt es den Witz: „How do you hide information from impro-players?“ – „Put it in a book!“. Noch besser versteckt man Informationen in einer Dissertation, denn tendenziell nehmen Improvisationsspieler nur wenig Theorie zur Kenntnis, viele sind sogar ausgesprochen theoriefeindlich. Die Improvisationstheater- Bewegung hat aber in den letzten 90 Jahren eine solche Menge an Theoriebildungen, Spielesammlungen und „How to improvise“-Büchern hervorgebracht, dass sie eine Ebene der Reflexion dringend braucht, um sich zu verorten und sich nicht immer zu wiederholen. Hierzu will die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten, indem sie bestehende Theoriebildungen zusammenfasst, systematisiert und auf grundlegende Faktoren hin untersucht. Geschrieben ist diese Arbeit von einem Praktiker des Improvisationstheaters, der seit über 20 Jahren auf der Bühne improvisiert und an Hunderten von Aufführungen mitgewirkt hat, unter anderem auch an internationalen Begegnungen wie der Theatersport Weltmeisterschaft 2006. Mit dem Improtheater Bremen leite ich außerdem eine Bühne, die sich ausschließlich „Impro-Langformen“ widmet, also dort agiert, wo Theatersport und Sketch-Comedy aufhören und ‚richtige‘ abendfüllende Stücke entstehen. In meinen bisherigen, nichtwissenschaftlichen Veröffentlichungen habe ich mich vor allem mit der Programmatik des Improvisationstheaters auseinandergesetzt. Meist ging es um eine Verteidigung des Improvisationstheaters gegen eine allgegenwärtige Abwertung als oberflächlich, laienhaft, comedylastig und so weiter. Im Laufe der Jahre ist mir aber immer deutlicher geworden, wie sehr auch auf Seite der Improvisationsspieler eine Theoretisierung fehlt. Wenn das Improvisationstheater eine ernstzunehmende Theaterform sein will, muss es sich reflektieren und sich den Diskursen der Theaterwissenschaft stellen. Es ist dazu dringend nötig, dass sich die Impro-Community einen größeren Abstand zum Gegenstand schafft, aus der Binnenperspektive des Diskurssystems Improvisationstheater heraustritt und sich eine Außenperspektive erarbeitet. Eine solche Außenperspektive zu gewinnen scheint beim Thema Improvisation außergewöhnlich schwierig, denn hier sind das WAS und das WIE untrennbar konfun-
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diert: Das Produkt der Improvisation ist nicht vom Prozess seiner Herstellung abzulösen und isoliert zu betrachten. Will man daher beschreiben und erklären, WAS Improvisationstheater ist, so kommt man nicht umhin zu beschreiben und zu erklären WIE es gemacht wird – und viele Untersuchungen erschöpfen sich dann in der Darstellung dieses WIE. Der Improvisationstheoretiker und Musiker Christopher Dell schreibt: „Es gehört zum Wesen der Improvisation, die Trennung von Handelndem und Be-Handeltem, von Sendern und Empfängern, von aktiv und passiv, zu unterlaufen und die Einheit von Handlung und Erfahrung möglich zu machen.“ (DELL 2002, S. 20). Diese Einheit von Handlung und Erfahrung geht in der Theoretisierung notwendigerweise verloren und dies schreckt Improvisierende ab. Dass hier dennoch eine theoretische Arbeit unternommen wird, ist darauf zurückzuführen, dass der potentielle Gewinn durchaus beachtlich ist, nämlich ein Anschluss an theaterwissenschaftliche Diskurse und eine Selbstverortung des Improvisationstheaters. Das Wunschergebnis eines solchen Prozesses wäre eine Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters und damit eine gemeinsame Sprache, in der die improvisierenden Künste miteinander und mit den Theaterwissenschaftlern kommunizieren können. Ein Beitrag hierzu ist die vorliegende Arbeit. Umgekehrt tut sich die Theaterwissenschaft mit dem Improvisationstheater bisher noch eher schwer, obwohl mit dem performativen Ansatz eigentlich ein Begriffssystem entstanden ist, das für eine prozessorientierte Theaterform wie das Improvisationstheater hervorragend geeignet sein müsste, ja an manchen Stellen wie für dieses geschaffen scheint. Mit ihm hat sich die Theaterwissenschaft ein Werkzeug geschaffen, das verspricht, weit über das inszenierende Theater hinaus anwendbar zu sein und auch Theaterformen ohne Werk und Urheber zu erschließen. Gerade das Improvisationstheater bietet daher sehr gute Möglichkeiten, um die Thesen des performativen Ansatzes zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Es ist eine selbständig gewachsene Theaterform, die nicht im Verdacht steht, performative Theorien nur deswegen zu bestätigen, weil sie in deren Kontext entstanden ist. Durch eine Anwendung der performativen Forschungsperspektive auf das Improvisationstheater wird daher eine wichtige Lücke geschlossen. Es kann im Rückschluss auch ein Erkenntnisgewinn für den performativen Ansatz in der Theaterwissenschaft erwartet werden.
1 F RAGESTELLUNGEN Die vorliegende Untersuchung fragt nach dem Stand der bisherigen Theoriebildung und versucht, diese durch Anwendung des performativen Ansatzes weiter voran zu bringen. Darüber hinaus wird ein innovativer Ansatz versucht, indem die System-
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theorien auf ihre Anwendbarkeit bezüglich des Improvisationstheaters überprüft werden. Die zu untersuchenden Fragen sind folgende: 1: Sind die bisherigen Beiträge zur Theoriebildung des Improvisationstheaters zu einer Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters zusammenzuführen oder sind sie zu heterogen, um eine solche Theorie der Aufführung zu rechtfertigen? Eine entsprechende Theorie der Aufführung müsste zur Beschreibung und Erklärung aller Formen des gegenwärtigen Improvisationstheaters geeignet sein und diese daher auf gemeinsame Faktoren hin untersuchen. Dementsprechend müssen die grundlegenden Theoriebildungen analysiert und reduziert werden. 2 (a): Lässt sich eine entsprechende Theorie der Aufführung beim Improvisationstheater unter Verwendung des performativen Ansatzes formulieren? Die konsequente Anwendung des performativen Ansatzes auf das Improvisationstheater müsste eigentlich zu einer entsprechenden Theorie führen. Gleichzeitig würde dies bedeuten, dass die hauptsächliche Methode des performativen Ansatzes, die Aufführungsanalyse, zur Überprüfung und Weiterentwicklung dieser Theorie herangezogen werden kann. 2 (b): Welche Rückschlüsse ergeben sich dabei für die Theorie der Performativität? Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wenn die Theorie der Performativität nicht oder nur teilweise auf das Improvisationstheater anwendbar ist, könnte es sinnvoll sein, Teile davon zu präzisieren oder zu verändern. Damit verbunden muss gefragt werden, ob die Methode der Aufführungsanalyse zur Beschreibung und Erklärung des Improvisationstheaters geeignet ist und ausreicht. Diesen Fragen widmet sich der Hauptteil dieser Arbeit in den Kapiteln I bis III. Eine weitere Frage wird eher unter heuristischem Gesichtspunkt gestellt: 3: Ist eine Heranziehung der Systemtheorien nützlich zur Darstellung einer Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters? Eine Heranziehung der Systemtheorien erscheint zunächst nicht unbedingt naheliegend. Tatsächlich sind aber nur diese wirklich geeignet, Prozesse zu modellieren, anstatt Inhalte zu analysieren – und das Improvisationstheater besteht letztendlich nur aus Prozessen, während die Inhalte flüchtig und wenig aussagekräftig sind. Gleichzeitig existiert eine gewisse Nähe der Systemtheorien zum performativen Ansatzes: Dieser enthält einige Begriffe, die auf ein systemtheoretisches Verständ-
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nis der Theatersituation hinweisen, beispielsweise die Konzepte der autopoietischen feedback-Schleife (FISCHER-LICHTE 2004) und der Emergenz 1 (FISCHERLICHTE 2004). Beide scheinen für die Beschreibung und Erklärung der Vorgänge beim Improvisationstheater besonders geeignet, sodass sich die Frage ergibt, welchen zusätzlichen Erkenntnisgewinn die Anwendung der Systemtheorien auf das Improvisationstheater liefern kann. Diese Frage wird in Kapitel IV untersucht.
2 M ATERIALZUGANG UND M ETHODE Eine improvisierte Aufführung ist flüchtig und hinterlässt noch weniger Spuren als eine inszenierte Theateraufführung. Es bieten sich dennoch vier Untersuchungsgegenstände an: 1. Theorie-Praxis-Bücher Es liegt eine überschaubare Menge von Büchern vor, in denen die Prinzipien der Improvisation dargestellt und teilweise in eine Theorie der Improvisation integriert werden. Die Aufarbeitung dieser Bücher stellt den bisher am häufigsten gewählten Zugang zum Improvisationstheater dar (FROST & YARROW 2007; DÖRGER & NICKEL 2008; TRESCHER 1995; SALINSKY & WHITE 2008; CHARLES 2003). Er macht es möglich, theaterwissenschaftliche Thesen anhand von weitgehend anerkannten Beiträgen zum Improvisationstheater zu überprüfen. Auch in der vorliegenden Arbeit stellt dieser Zugang einen wesentlichen Pfeiler dar. Es wird aber versucht, über bisherige Darstellungen hinauszugehen, indem erstens schulübergreifende Gemeinsamkeiten und Metathemen formuliert werden, das Material damit anders aufbereitet wird als dies bisher geschehen ist, und indem zweitens eine theaterwissenschaftliche Forschungsperspektive – nämlich die der Performativität – zur Anwendung gebracht wird, die das Material ebenfalls neu organisiert. Intendiert wird damit eine in sich geschlossene Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters, die mehr ist als eine Ansammlung von Einzelbefunden. Die Verwendung von „How to improvise“- Anweisungen bringt auch Probleme mit sich. So hat schon in Bezug auf die Commedia dell’ arte Max Wolff in Frage gestellt, ob es sich ist bei den Schauspielanweisungen, den Sammlungen von Bra-
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Das Konzept der Emergenz wird in dieser Arbeit vielfach aufgegriffen und dargestellt. Ausführlich wird es in Kapitel IV dargestellt. Es wird hier verstanden als das Entstehen von makroskopischen Ordnungen aufgrund von Ordnungsbildungen auf einer mikroskopischen – also nicht direkt beobachtbaren – Ebene, sodass sie für den Beobachter ‚von selbst‘ zu entstehen scheinen. Solche Phänomene sind unvorhersehbar, irreduzibel und neu, sie entstehen erst durch die Interaktion der Elemente eines Systems (vgl. Kapitel IV 1).
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vure, Tirate, Lazzi und Scenarios eigentlich wirklich um ‚Gebrauchsanleitungen‘ für die Aufführungen handele (Wolff in THEILE 1997, S. 85 ff): Möglicherweise stellten sie eher Hilfsmittel zur Überbrückung von toten Momenten innerhalb der Improvisation dar, die dazu dienten, die starken Schwankungen in der Qualität der Improvisation auszugleichen. Nur durch solche Hilfsmittel, so Wolff, sei Improvisation überhaupt professionell einsetzbar gewesen. Dieser Einwand gilt grundsätzlich: Die auf die Praxis zielende Literatur zum Improvisieren tendiert zu einer via negativa: Nicht der Prozess des Improvisierens selbst wird beschrieben, sondern das, was ihm im Weg steht. Nicht Techniken zur Hervorbringung von Spontanität werden dargestellt, sondern Techniken zur Beseitigung von Blockierungen. Für den Praktiker ist es ausreichend, zu wissen, wie man mit Momenten fehlender Inspiration umgehen und sie überbrücken kann. Mit anderen Worten: Eine positive Definition von dem, was Improvisation ist, benötigt er gar nicht, da diese sich ‚von selber‘ entfaltet, wenn sie nicht gestört wird. Die Improvisation wird verstanden als ein selbstorganisierender Prozess, der selber nicht beschrieben werden muss. Was dagegen beschrieben werden muss, sind die Störungen dieses Prozesses und das ist das Material, das der Forscher vorfindet. Er befindet sich also etwa in der Lage, aus den Überresten der Party auf diese selbst schließen zu sollen. Damit ist er immer in Gefahr, die Probleme der Improvisation überzubewerten. Das gilt auch für viele „How to improvise“- Bücher, die Improvisationsprinzipien als Regeln formulieren, sodass der Eindruck entsteht, die Befolgung dieser Regeln brächte bereits gute Improvisation hervor – was selbstverständlich nicht zutrifft.2 Die Untersuchung der ‚Gebrauchsanweisungen‘ des Improvisationstheaters stößt damit an eine Grenze, hinter der andere Materialzugänge und andere Methoden angewendet werden müssen. In der vorliegenden Untersuchung werden sie daher ergänzt. 2. Fachsprache und Regelsystem der Improvisationsspieler Als ein Produkt kollektiver Wissensbildung der Improvisationstheater-Community können die Fachsprache und das Regelsystem des Improvisationstheaters gelten. Sie haben sich in fortlaufenden, internationalen Diskursen über 40 Jahre weiterentwickelt. Auch wenn sie an vielen Punkten mit den Veröffentlichungen der ‚Klassiker‘ Spolin, Johnstone und Close übereinstimmen, sind sie doch nicht damit identisch, sondern bilden ein fortlaufend sich veränderndes, kollektives Erfahrungswissen ab, das bestimmte Punkte ausdifferenziert und versprachlicht, während andere Punkte eher verlorengehen. Die Ethnotheorie der Improvisationsspieler bildet daher einen eigenen Untersuchungsgegenstand. Ähnlich wie bei den großen Einzelbeiträ-
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Besonders vehement hat Mick Napier die ‚Verregelung‘ der Improvisation kritisiert (NAPIER 2004).
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gen zur Theorie des Improvisationstheaters muss das Material zunächst aufbereitet werden, es liegt nicht einfach vor. Die verschiedenen Quellen, Sprachregelungen und Regeln müssen vielmehr dargestellt und systematisiert werden, was im zweiten Teil von Kapitel II geleistet wird. 3. Spielesammlungen Die umfangreichen Spielesammlungen in Büchern und auf Internetseiten bieten weiteres reichhaltiges Material für Analysen. Ebenso wie in der Fachsprache der Improvisateure und im Regelsystem der Improvisation liegt hier eine Art kollektives Wissen über Improvisation vor. Die Spielsammlungen sind beim improvisierenden Theater das, was beim inszenierenden Theater der Text ist, nämlich die wichtigste Produktionsquelle der Aufführung. Aufgrund ihrer völlig anderen Natur können sie allerdings nicht wie Texte analysiert werden. Würde ein Theaterforscher in 300 Jahren das heutige Improvisationstheater untersuchen, so stieße er unter anderem auf kleine Zettel mit den Namen von Theater-Games3. Welche Schlüsse würde er daraus wohl ziehen? Mit Sicherheit könnte er nicht die entsprechende Aufführung rekonstruieren. Zu einem klaren Bild könnte er nur gelangen, wenn er die gesamte Spielkultur der Improvisation mit in den Blick nähme und die selbstorganisierenden Prozesse untersuchte, die aus Spielvorlagen eine Aufführung entstehen lassen. Ein solcher Zugang wurde bisher noch nicht versucht und müsste zunächst eine Analysemethode entwickeln. In die vorliegende Arbeit fließen die Spielesammlungen dennoch mit ein, um bestimmte Punkte der Theorie zu verdeutlichen; eine umfassende Analyse der Games bleibt aber zukünftigen Arbeiten überlassen. 4. Eigenes Erfahrungswissen In erheblichem Umfang fließen auch eigene Erfahrungen als Improvisationsschauspieler mit ein. Sie beruhen auf 20 Jahren Auftrittserfahrung als Spieler, Moderator,
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Es ist notwendig, zwischen einem weitgefassten Spielbegriff, der die gesamte Sphäre des Spielens umfasst und den konkreten Spielen als Regelsysteme zu differenzieren. Im Englischen existiert hierfür die Unterscheidung von „Play" und „Game“: Ersteres bezieht sich auf die gesamte Sphäre des Spielens, Letzteres bezeichnet konkrete Spiele. Eine solche Unterscheidung gibt es im Deutschen leider nicht, was zu begrifflichen Schwierigkeiten führt (ADAMOWSKY 2000, S. 20). Innerhalb der Impro-Community hat sich aber für konkrete Regelspiele der englische Begriff des „Games“ durchgesetzt, was eine entsprechende Unterscheidung wieder möglich macht. Im Folgenden wird daher „Spiel“ im Sinne des englischen „Play“ verwenden, also als eigene Sphäre des Verhaltens und Erlebens, während „Games“ für die konkreten Theaterspiele benutzt wird.
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Lichtimprovisateur und Regisseur sowie auf zahlreichen Workshops als Teilnehmer und Improvisationslehrer. 5. Die konkrete Aufführung Durch Besuch und Dokumentation einer Aufführung lässt sich Material für eine Aufführungsanalyse gewinnen. Einen solchen Zugang wählt Eugen Gerein (2004), indem er eine improvisierte Szene transkribiert und gleichzeitig die Eindrücke bei der Rezeption dieser Szene notiert. Auch die Untersuchung von Sawyer (2003) setzt an improvisierten Dialogen in transkribierter Form an (sie stellt allerdings keine Aufführungsanalyse dar, da sie einen anderen theoretischen Hintergrund wählt). Neben Transkripten sind Videoaufzeichnungen möglich, um die Aufführung festzuhalten und untersuchbar zu machen. Ein Problem der Aufführungsanalyse beim Improvisationstheater ist jedoch die geringe Generalisierbarkeit der Ergebnisse: Da sich jede Aufführung anders entwickelt, sind Rückschlüsse von der einzelnen Aufführung auf die gesamte Theaterform schwierig. Sie kommen über den wissenschaftlichen Status von Einzelfalluntersuchungen nicht hinaus – aus dem schlichten Grund, dass jede Improvisationstheateraufführung ein Einzelfall ist. Sowohl Gerein als auch Sawyer argumentieren deshalb etwa nach dem folgenden Muster: ‚Was der Schauspieler hier tut, entspricht diesem oder jenem Konzept des Improvisationstheaters‘. Mit anderen Worten: Die Beschreibung und Erklärung der Aufführung gelingt nur anhand der Improvisationstheorien. Es entstehen dabei jedoch keine sauberen Argumentationsketten, da die Konzepte des Improvisationstheaters zu heterogen sind, also fast beliebig herangezogen werden können: ‚Johnstone hat Dies gesagt, Spolin hat Jenes geschrieben, Close hat Folgendes behauptet...‘. Auf diese Weise werden zwar die ‚Klassiker‘ bestätigt, aber keine homogene Theorie aufgebaut. Eine solche wird stattdessen implizit schon vorausgesetzt und mithilfe der Aufführungsanalyse lediglich exemplifiziert. Das wäre kein methodisches Problem, wenn es eine entsprechende Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters bereits gäbe und diese überprüft werden könnte. Das ist aber nicht der Fall: Es existieren nur Fragmente und verschiedene Begriffssysteme. Die Erarbeitung einer Theorie der Aufführung muss daher der erste Schritt sein, erst danach kann sie durch Aufführungsanalysen überprüft werden. Aus diesem Grund widmet sich diese Arbeit der Theorie des Improvisationstheaters, nicht der konkreten Einzelaufführung. 6. Rezeptionsquellen Rezeptionsquellen sind spärlich: Zuschauerberichte und Theaterkritiken zum Improvisationstheater existieren zwar, jedoch in weit geringerer Menge und Qualität als solche zum inszenierenden Theater. In der Regel tun sich Zuschauer, Journalisten und Theaterkritiker schwer damit, eine improvisierte Aufführung zu beschreiben und zu bewerten. Fast immer beschränken sich die entsprechenden
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Berichte auf die inhaltliche Zusammenfassung der gesehenen Szenen, was denjenigen, der die Aufführung besucht hat, langweilt, und demjenigen, der sich nicht besucht hat, ein falsches Bild vermittelt. Hier wird das Produkt geschildert, während doch der Prozess das Eigentliche der Aufführung war. Es erscheint beinahe unmöglich, die Frischheit und Spontanität der Aufführung in einem Bericht adäquat wiederzugeben. Trotzdem- oder gerade deswegen- wäre eine Analyse von Rezeptionsquellen des improvisierenden Theaters möglich und sinnvoll, um zu erfahren, welche Aspekte besonders hervorgehoben werden. Ein solcher Zugang ist im Sinne der Fragestellung für die vorliegende Arbeit aber nicht notwendig. Insgesamt fließen in diese Arbeit als Materialien also die ‚Klassiker‘ des Improvisationstheaters ein, die Fachsprache der Improvisierer, das Regelsystem des Improvisationstheaters und eigene Erfahrungen. 2.1 Das Problem der Prozesshaftigkeit Beim Improvisationstheater finden sich einige grundlegende theaterwissenschaftliche Probleme in gesteigerter Form wieder, etwa das Problem der Flüchtigkeit der Aufführung (FISCHER-LICHTE 2010, S. 32) bzw. das Problem der „Nichtverfügbarkeit der Aufführung als Artefakt“ (BRINCKEN & ENGLHART 2008, S. 109). Die improvisierte Aufführung ist nur die mehr oder weniger beliebige sichtbare Oberfläche eines Improvisationsprozesses, dessen Wirkung sich ausschließlich im Vollzug einstellt. Das Ergebnis dieses Prozesses verstellt den Blick auf den Prozess selber: Das Untersuchungsmaterial erhält nicht selten eine Festigkeit, die die Aufführung selber nicht hatte, es wirkt verbindlicher, abgeschlossener, fertiger als die eigentliche Improvisation, kurz, es wird als Produkt behandelt, während die Aufführung ein Prozess war, dessen Flüchtigkeit kein unerwünschter Nebeneffekt, sondern zentraler Wirkmechanismus war. Der performative Ansatz der Theaterwissenschaft hat die Notwendigkeit einer prozessorientierten Forschung betont und dazu die Methode der Aufführungsanalyse entwickelt. Damit wurde ein Werkzeug geschaffen, das eine teilnehmende Beobachtung der Aufführung ebenso umfasst wie die Heranziehung von Produktionsund Rezeptionsquellen (FISCHER-LICHTE 2010, S. 72-100). Sie ist potentiell geeignet, auch subjektive, im Moment der Aufführung entstandene Wirkungen zu erfassen. Die Gefahr der Verdinglichung besteht allerdings auch bei der Aufführungsanalyse, zumal ein systematisches Verfahren zur Analyse von Interaktionsprozessen fehlt. Untersuchbar ist auch hier nur fixiertes Material, dem das Prozesshafte der Improvisation letztendlich abhanden gekommen ist: Erinnerungsnotizen, Videoaufnahmen und Transkripte. Diese stellen jedoch immer medial verzerrte Abbilder der Aufführung her, die nur schwer auf das eigentliche Erlebnis im
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Moment des Schauens rückführbar sind (BRINCKEN & ENGELHART 2008, S 109). Es ist aber genau dieser Moment des Zum-ersten-Mal-Sehens, der das Erlebnis des Improvisationstheaters ausmacht. Er ist vom Bewusstsein geprägt, dass Alles sich auch ganz anders entwickeln könnte, also von der Wahrnehmung nicht verwirklichter Alternativen, die sich in der medial konservierten Aufführung nicht wiederfinden. Eine prozessorientierte Analyse einer improvisierenden Aufführung wird nicht umhin können, das jeweilige Wissen des Zuschauers an einem bestimmten Punkt der Aufführung zu rekonstruieren, die Wahrnehmung der – später nur teilweise verwirklichten – Möglichkeiten im jeweils aktuellen Möglichkeitsraum. Dazu muss der Prozess in Einzelzustände zerlegt werden. Beispielsweise kann man das Transkript einer improvisierten Szene bis zu einem bestimmten Punkt präsentieren, den Rest der Szene aber verdecken, sodass nur die zu diesem Zeitpunkt für den Zuschauer verfügbare Information aktualisiert ist. Dann können die vom Zuschauer an diesem Punkt der Aufführung konstruierten Realitäten untersucht werden: Welche Figuren, Gegenstände und Themen hat er als Teil der fiktionalen Realität bzw. als Teil der Aufführung wahrgenommen? Welche Erwartungen wurden geweckt? Welche Aktionen der Spieler werden antizipiert? Auf diese Weise können Einzelzustände der Aufführung im Nachhinein von Personen untersucht werden, die nicht in der Aufführung waren. So kann die Wirkung des ‚ersten Males‘ an bestimmten Punkten der Aufführung simuliert werden, die sonst verloren geht. Improvisationsspieler wenden ein ähnliches Verfahren an, wenn sie Aufführungen analysieren. Beispielsweise ist die Rekonstruktion des Erwartungsrahmens ein wichtiger Bestandteil der Szenenanalysen, die Johnstone vornimmt (JOHNSTONE 1998) – allerdings nicht mit wissenschaftlicher, sondern mit pädagogischer Intention. In wissenschaftlicher Form findet sich der Erwartungsrahmen dagegen in Sawyers „Interactional Frame“ wieder, der die Rahmentheorie Goffmans auf das Improvisationstheater anwendet. Er verwendet als Material ebenfalls Transkripte von Videoaufnahmen, wendet dann jedoch die Methode der Gesprächsanalyse an, also eine kommunikationswissenschaftliche Methode (SAWYER 2003). Vor dem Hintergrund der hier dargestellten methodischen Anforderungen scheint dies eine konsequente und unersetzbare Herangehensweise für die Detailanalyse von improvisierenden Prozessen zu sein. Sie kommt dem Ziel, die Aufführung nicht als fertiges Produkt oder Werk zu betrachten, sondern als Prozess, recht nahe. Allerdings handelt es sich um eine aufwendige Methode, da nur kleinste Einheiten der Improvisation untersucht werden können. Es erscheint schwer vorstellbar, dass mit einer solchen Methode eine gesamte Aufführung untersucht werden könnte, wahrscheinlicher ist die Anwendung in Detailanalysen. Dies verweist wiederum auf die Notwendigkeit eines theoretischen Gerüsts, aus welchem spezifische Thesen abgeleitet werden können.
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Um die Prozesshaftigkeit der Improvisation untersuchen zu können, reicht das gängige Instrumentarium der Theaterwissenschaft derzeit nicht aus. Vielmehr muss auf elaborierte Methoden der Prozessanalyse in angrenzenden Disziplinen, etwa den Sozial- und Kommunikationswissenschaften zurückgegriffen werden. Über die Einfühlung in den Spieler in der jeweils konkreten Spielsituation lassen sich Einzelmomente der Aufführung mit ihren jeweiligen Möglichkeitsräumen rekonstruieren. Ein wichtiges zentrales Konstrukt ist hierbei dasjenige des Erwartungsrahmens (JOHNSTONE 1998, S.119) bzw. des interaktionalen Rahmens (SAWYER 2003, S. 63). Als geeignet erweist sich beispielsweise die von Sawyer verwendete Methode der Gesprächsanalyse, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Situation des improvisierenden Schauspielers weit mehr der Situation eines Teilnehmers einer Alltagskommunikation gleicht als derjenigen eines Schauspielers im inszenierenden Theater. Methoden der qualitativen Sozialforschung wie Gesprächsanalyse, Gruppendiskursanalyse oder Tiefenhermeneutik wären hierfür ebenfalls geeignet.
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T HEORIEBILDUNG
Die Theoriebildung zum Improvisationstheater verlief bisher eng an die Praxis angelehnt. Die in den letzten Jahrzehnten erschienenen wissenschaftlichen Beiträge sind fast ausschließlich von Insidern geschrieben wurden, also von Improvisationsschauspielern oder Improvisationsmusikern, die sich wissenschaftlich weitergebildet haben. Dies muss nicht unbedingt ein Nachteil sein (auch die vorliegende Arbeit ist von einem Improvisationsschauspieler verfasst), verweist aber auf eine Kluft zwischen Theorie und Praxis. Man könnte sagen: Erst wenn ein Theaterwissenschaftler ohne jegliche Improvisationserfahrung eine improvisierte Aufführung beschreiben und erklären kann, ist der Anschluss vollzogen. Momentan ist es für einen Theaterwissenschaftler noch sehr schwer, das Improvisationstheater zu erfassen, ohne auf dessen eigene Begrifflichkeiten zurückzugreifen und damit in die Gefahr von Binnenargumentationen zu geraten. Die Geschichte der Veröffentlichungen zum Improvisationstheater verlief vorwiegend im nichtwissenschaftlichen Bereich. Dies gilt selbstverständlich für die Beiträge aus der Commedia dell' arte, die lange vor der Bildung eines theaterwissenschaftlichen Ansatzes liegen wie die Werke von Flaminio Scala (1547-1624), Andrea Perucci (1651-1704), Evaristo Gherardi (1666-1700), Luigi Riccoboni (1674-1753) und Francesco Riccoboni (1707 – 1772). Die ‚Klassiker‘ Im 20. Jahrhundert erschienen mehrere Beiträge, die als Pionierleistungen gewertet werden müssen und die jeweils neues Gebiet erschlossen. Ein früher Vorläufer ist
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Jakob Moreno-Levy4 mit seinem Buch „Das Stegreiftheater“(1924). Er wählt einen halb künstlerischen, halb wissenschaftlichen Zugang.5 Moreno stellt darin seine Experimente mit Improvisation dar, entwickelt eine Programmatik des Stegreifspiels, ein Notationssystem sowie mehrere grundlegende Entwürfe zur Aufführungsgestaltung inklusive einem eigenen Bühnenentwurf. Es dauerte fast 40 Jahre bis 1963 mit Viola Spolins „Improvisation for the Theater“ das nächste relevante Werk erschien. Es stellt bis heute ein Grundlagenwerk dar. 1979 erschien Keith Johnstone Buch „Impro-Improvisation and the Theatre“ (1979) das ebenfalls ein ‚Klassiker‘ ist und seinen eigenen, ab den 50-er Jahren entwickelten Ansatz präsentiert. 1994 wurde mit „Truth in Comedy“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994) eine weitere ‚Bibel des Improvisationstheaters‘ veröffentlicht. Es stellt im Wesentlichen den Improvisationsansatz von Del Close dar und ist Grundlage für die Entwicklung sogenannter Langformen, abendfüllender Improvisationen, die nicht als Nummernprogramm präsentiert werden. Die letztgenannten drei Veröffentlichungen haben die meisten Improvisationsspieler gelesen und sämtliche nachfolgenden „How to improvise“-Bücher breiten Thesen aus, die dort schon vorformuliert sind. Morenos Arbeit dagegen ist nur wenigen Improvisateuren ein Begriff und die vorliegende Arbeit bemüht sich daher, seinen Beitrag stärker ins Bewusstsein zu rücken. Insgesamt haben sich zwei voneinander relativ unabhängige Improvisationsschulen gebildet, nämlich die Chicagoer Schule, die sich auf Spolin und Close beruft, und die britisch-kanadische Schule, deren Hauptprotagonist Johnstone ist. Die Theoriebildung in Deutschland folgt nicht den eigenen europäischen Wurzeln, sondern bezieht sich auf englischsprachige Beiträge, wobei die Ansätze beider Schulen vermischt werden. Obwohl es in der Praxis Mischformen aus beiden Schulen gibt, sind schulübergreifende theoretische Arbeiten sehr selten. Eine Ausnahme ist das „Improv Handbook“, das Tom Salinsky und Deborah White, beide aktive Improvisationsspieler und –lehrer, 2008 veröffentlichten. Hier wird erstmals versucht, die verschiedenen Improvisationsschulen zu vergleichen und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Es gelingt ihnen damit, grundlegende Faktoren des Improvisationstheater darzustellen, jedoch verfolgen sie keinen theaterwissenschaftlichen Ansatz, sondern bleiben auf einer pragmatischen Ebene.
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Moreno wurde eigentlich unter dem Namen Jacob Levi geboren, benutzte später aber den Vornamen seines Vaters als Nachnamen und hat vor allem unter diesem Namen – Moreno – veröffentlicht. Im Folgenden wird dieser Konvention gefolgt und ebenfalls der Name Moreno verwendet.
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1947 wurde das Buch in Englisch herausgegeben, 1970 erschien eine Neuauflage in Deutsch.
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Theaterhistorische Beiträge Insbesondere in den USA erschienen schon früh theaterhistorische Beiträge zu den Anfängen des Improvisationstheaters in Chicago. Bereits 1978 veröffentlichte Jeffrey Sweet mit „Something wonderful right away“ (1978) eine erste Geschichte des amerikanischen Improvisationstheaters. Es ist eine Interviewsammlung mit fast allen relevanten Protagonisten der Chicagoer Improvisationstradition. Eine Fortsetzung dieses Ansatzes stellt die im Jahr 1991 erschienene Arbeit von Janet Coleman dar, die sich in „The Compass: The improvisational theatre that revolutionized American comedy“ (1991) wiederum der Geschichte der Chicagoer Improvisationsschule widmete. 1979 veröffentlichte in Deutschland Gerhard Ebert sein Buch „Improvisation und Schauspielkunst“ (1979). Es stellt die Geschichte und Anwendung von Improvisation im Theater ausführlich dar, sieht im Improvisationstheater jedoch keine eigenständige Theaterform, sondern lediglich eine Grundlage für das Schauspieltraining. Eine eigene Aufführungspraxis wird hier negiert. Eberts Ansatz ist weitgehend isoliert geblieben, da eine Verbindung zu Moreno, zur US-amerikanischen bzw. britisch-kanadischen Improvisationstheaterkultur nicht hergestellt wird. Einen sehr breiten Zugang zur Geschichte der Improvisation präsentierte Karl Meyer mit seiner Dissertation „Improvisation als flüchtige Kunst“ (MEYER 2008). Ihm geht es um die Entwicklung einer Gesamtperspektive auf das Phänomen Improvisation innerhalb von Musik, Theater und Tanz. Seine geschichtliche Darstellung liefert daher sehr gute Möglichkeiten der Einbettung in größere Kontexte, verliert jedoch an Spezifizität für das Improvisationstheater. Ebenfalls 2008 erschien „Das Publikum als Autor“ von Dagmar Dörger und Hans-Wolfgang Nickel. Es präsentiert einen Überblick über die Geschichte des Improvisationstheaters und eigene Theaterexperimente zur Partizipation des Publikums. Das zum Teil neue Material (etwa zu Martin Luserke, einem weitgehend vergessenen Pionier des Improvisationstheaters in den 30-er Jahren) wird jedoch nicht zu einem Gesamtansatz integriert, sondern lediglich unverbunden dargestellt. Untersuchungen zu Einzelaspekten Es erschienen in den letzten Jahren einige Untersuchungen zu Einzelaspekten des Improvisationstheaters. 1995 veröffentlichte Roland Trescher, ein Improvisationsspieler und Theaterwissenschaftler, eine Magisterarbeit zum Thema „Die Zuschauer im Improvisationstheater“ (TRESCHER 1995). Sie fragt nach der Rolle des Publikums und versucht eine Einbettung in die soziologische These der Erlebnisgesellschaft. Die Arbeit ist noch weitgehend deskriptiv und versucht, das Phänomen Improvisationstheater soziologisch zu erfassen und einzuordnen. Obwohl als Magisterarbeit an einem theaterwissenschaftlichen Institut erschienen, erfolgt keine Einbettung in theaterwissenschaftliche Theorien oder Fragestellungen. Auch Juliane Schröter beschäftigt sich mit der Zuschauerrolle beim Improvisationstheater in ihrer
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Magisterarbeit: „Improvisationstheater und Publikum“ (2003). Im Gegensatz zu Trescher nähert sie sich dem Thema jedoch empirisch, indem sie Zuschauerdaten erhebt und Zuschauererwartungen abfragt. Auch hier ist der Zugang eher sozialwissenschaftlich als theaterwissenschaftlich. Veit Güssows Dissertation „Die Präsenz des Schauspielers“ (GÜSSOW 2013) greift ebenfalls einen Einzelaspekt des Improvisationstheaters heraus, nämlich die Techniken zur Herstellung von Präsenz bei den Schauspielern. Einen besonderen Stellenwert hat die im Jahr 2003 veröffentlichte Arbeit von Keith Sawyer, einem Kommunikationswissenschaftler, der als Musiker beim Improvisationstheater praktische Erfahrung sammeln konnte. Mit „Improvised Dialogues“ (SAWYER 2003) legte er eine kommunikationstheoretische Analyse der Dialoge beim Improvisationstheater vor. Sie führt gleich mehrere methodische Zugänge und theoretische Einbettungen ein und belegt deren Anwendbarkeit. Sawyer schafft einen tragfähigen theoretischen Rahmen durch seine Bezugnahme auf die Gesprächsanalyse und die Emergenztheorien. Sein Augenmerk gilt jedoch nicht der Hervorbringung einer Aufführung, sondern Prozessen kollaborativer Kreativität allgemein. Theaterwissenschaftliche Ansätze Es wurden mehrere Versuche unternommen, das Phänomen Improvisationstheater theaterwissenschaftlich zu erfassen und zu erklären. Einen Meilenstein stellt zweifellos das Buch „Improvisation in drama“ der Theaterwissenschaftler Anthony Frost und Ralph Yarrow dar, das 1990 erschien. Sie wählen einen umfassenden Ansatz: Ihr Beitrag bietet einen Überblick über die Geschichte des Improvisationstheaters, einen interkulturellen Überblick über die Grenzen des westlich-modernen Improvisationstheaters hinaus und eine Untersuchung der Semiotizität des Improvisationstheaters. Weiterhin liefern Frost und Yarrow erstmals eine Analyse der Improvisationstechniken, die über einen „How to improvise“-Ansatz hinausgeht und wissenschaftlichen Kriterien entspricht. Im Unterschied zur vorliegenden Arbeit wählen Frost und Yarrow ihren Gegenstand sehr breit. Er umfasst Improvisation nicht nur als Aufführungstechnik, sondern auch als schauspielpädagogische Praxis und als modellierende Improvisation im Arbeitsprozess des inszenierenden Theaters. Die Untersuchung verliert daher an Spezifizität, wo es um das moderne, westliche Improvisationstheater geht.6 David Charles untersucht in seiner Promotion „The Novelty of Improvisation“ (CHARLES 2003) die Geschichte, Materialität und Ereignishaftigkeit des Improvisationstheaters. Leider beschränkt er sich auf eine relativ eng gefasste These, näm-
6
Die Untersuchung weist weiterhin eine auffällige Lücke auf, da eine Darstellung des Ansatzes von Johnstone fehlt.
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lich die Einbettung des Improvisationstheaters in die These der Karnevalisierung von Michael Bachtin. Im Jahr 2010 erschien eine Sammlung theaterwissenschaftlicher Beiträge zum Thema Improvisation „Improvisieren – Paradoxien des Unvorhersehbaren“ (BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010). Es versammelt ganz unterschiedliche Ansätze zum Thema Improvisation und schafft damit Anschlüsse zwischen verschiedenen Improvisationskulturen wie Musik und Tanz. Der Bereich Improvisationstheater ist zwar unterrepräsentiert, jedoch ist das Buch selber ein Beleg für die Aktualität des Themas und den umfassenden Erklärungswert des performativen Ansatzes für das Thema Improvisation. Ein wichtiger Bezugspunkt für die vorliegende Arbeit ist die Magisterarbeit „Text und Performanz“ von Gerein (2004): Obwohl als Abschlussarbeit im Fach Germanistik eingereicht, verfolgt sie einen spezifisch theaterwissenschaftlichen Ansatz, indem sie den performativen Ansatz von Erika Fischer-Lichte und Jens Roselt auf das Improvisationstheater anwendet. Die Arbeit liefert den „Versuch einer Theorie des Improvisationstheaters“ (GEREIN 2004, S. 74), der die Aspekte Materialität, Semiotizität, Medialität und Ästhetizität zu einem Ganzen integriert. Gereins Beitrag ist auch methodisch konsequent, indem er erstmals die Methode der Aufführungsanalyse im Improvisationstheater anwendet. Er liefert über Transkripte eine systematische Analyse einer improvisierten Szene und verknüpft sie erfolgreich mit seinem theaterwissenschaftlichen Modell. Die Untersuchung kann als erste wissenschaftliche Anwendung des performativen Ansatzes auf das Improvisationstheater gewertet werden und bildet eine der Grundlagen für die vorliegende Arbeit. Diese geht jedoch über Gerein deutlich hinaus: Sie bietet eine gründlichere Aufarbeitung der wichtigsten Theoretiker des Improvisationstheaters, um sie zu systematisieren und zu einer einheitlichen Theorie zu integrieren, die dem performativen Ansatz entspricht. Erst eine solche ausgearbeitete Theorie kann als Grundlage für zukünftige Aufführungsanalysen dienen. Zusammenfassend kann man sagen, dass vieles, was zum Improvisationstheater verfasst wurde, noch im vorwissenschaftlichen Bereich liegt. Die Beiträge stammen oft von Improvisationsspielern; es fehlt der Blick von außen. Was an theaterwissenschaftlichen Arbeiten vorliegt, hat entweder den Nachteil, dass nicht auf das Improvisationstheater als Aufführungsform fokussiert wird, oder den Nachteil, dass nur Einzelaspekte des Improvisationstheaters untersucht werden. Die einzige Ausnahme, der Beitrag Gereins, bietet zu wenig Vertiefung und macht noch einmal deutlich, dass eine Aufführungsanalyse auf einer ausgearbeiteten Theorie fußen muss, die bisher noch nicht existiert. In der englischsprachigen Literatur sticht der Beitrag von Sawyer hervor, der die Integration verschiedener Improvisationsansätze entscheidend vorangebracht hat. Ihm fehlt jedoch wiederum die performative Perspektive. Die vorliegende Arbeit will von diesem Ausgangspunkt zu einer Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters gelangen.
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4 AUFBAU
DER
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U NTERSUCHUNG
Die Untersuchung ist in vier Kapitel gegliedert, die aufeinander aufbauen. Kapitel I beginnt mit den begrifflichen Grundlagen. Hier werden verschiedene Definitionen von Improvisation und Improvisationstheater untersucht und der Gegenstand wird eingegrenzt. Dabei wird auch spezifiziert, worüber eigentlich gesprochen wird, wenn von Improvisationstheater die Rede ist und ob nicht ganz unterschiedliche Dinge gemeint sind. Hierzu wird ein Modell zur Erfassung unterschiedlicher Formen und Grade von Improvisation im Theater erarbeitet. Das Kapitel II ist der Geschichte des Improvisationstheaters aus der Binnenperspektive gewidmet, also so wie sie von den Produzierenden, den Schauspielern und Theatermachern, beschrieben wird. Es untersucht daher die Geschichte der Konzepte zur Produktion von improvisierten Aufführungen. Dieses Kapitel hat einen eigenen wissenschaftlichen Wert, indem es über bereits vorliegende Darstellungen hinausgeht und zwei Lücken schließt: Erstens wird der bisher unterbewertete Beitrag von Moreno gewürdigt. Zweitens wird der enge Bezug zu den Theaterreformern der historischen Avantgarden herausgearbeitet, erstmals unter Verweis auf Jewgenew Wachtangow, der eine wichtige Quelle für Johnstone darstellt. Dieser Teil von Kapitel II breitet relativ viel Originalmaterial aus, um von diesem schrittweise zu abstrahieren und eine Grundlage für Kapitel III und IV herzustellen. Nach ausführlicher Darstellung der zentralen Beiträge von Moreno, Spolin, Johnstone und Close wird das umfangreiche Material auf solche Aspekte reduziert, die als Metathemen des Improvisationstheaters gelten können. Hierzu wird auch die Fachsprache der Improvisationsspieler untersucht anhand der Frage, welche Themen allgemein aufgegriffen und lexikalisiert wurden. Man kann annehmen, dass solche Themenkomplexe besonders zentrale Bedeutung haben. Die entsprechenden Aspekte werden dann einzeln untersucht. Kapitel III verlässt die Binnenperspektive der Improvisateure, um durch den performativen Ansatz der Theaterwissenschaft zu einer Außenperspektive auf das Improvisationstheater zu gelangen. Hierzu werden die einzelnen Aspekte dieses Ansatzes auf das Improvisationstheater angewendet: Die Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren, die Materialität, die Semiotizität und die Ereignishaftigkeit. Diese Einzeluntersuchungen sollen dann, wenn möglich, in einer Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters zusammengeführt werden. Weiterhin werden die Ergebnisse auf ihre Rückwirkungen auf die Theorie der Performativität hin diskutiert. Hierbei wird das Konzept der autopoietischen feedback-Schleife im Kontext des Improvisationstheaters untersucht, das durch die spezifische Interaktivität von Spielern und Publikum beim Improvisationstheater besondere Bedeutung gewinnt. Kapitel IV betritt mit der Anwendung der Systemtheorie auf das Improvisationstheater wissenschaftliches Neuland. Ein Übergang wird geschaffen durch den
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Begriff der Emergenz, der sowohl im performativen Ansatz als auch in der Systemtheorie zentral und für das Improvisationstheater von entscheidender Wichtigkeit ist. Angesichts der Heterogenität der systemtheoretischen Ansätze wäre es zu viel erwartet, hier eine stringente Theorie zu entwickeln, vielmehr dient dieser Teil der Arbeit dazu, Grundlagen zu legen und das Feld zu sondieren. Abschließend werden Vorschläge für eine weitere Untersuchung des Gegenstandes Improvisationstheater diskutiert.
Kapitel I: Grundlagen
Die folgenden Ausführungen widmen sich den begrifflichen Grundlagen. Hierzu gehört zunächst die Eingrenzung des Gegenstandes. Darauf folgt eine Darstellung der etymologischen Wurzeln des Begriffs Improvisation sowie der Definitionen von Improvisationstheater. Es werden bestehende Definitionen untersucht und auf die wichtigsten gemeinsamen Aspekte reduziert. Danach wird die Begriffsverwendung im Diskurssystem Theater untersucht anhand der Begriffe aus dem Stegreif, Extemporieren und Improvisieren.
1 E INGRENZUNG DES G EGENSTANDES Improvisation wurde und wird im Theater ganz allgemein in vielseitigen Varianten und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen angewandt. Frost und Yarrow (2007) unterscheiden drei Einsatzgebiete der Improvisation im Theater: 1. Improvisation als Vorbereitung: Das Improvisieren dient zum Warm-up bei Training und Aufführungen, sowie als Methode des Schauspieltrainings. 2. Improvisation als Probenmethode: Das Improvisieren wird im Probenprozess mit dem Ziel eingesetzt, das Ergebnis am Ende zu fixieren, das heißt wieder zu einer Inszenierung zu gelangen. 3. Improvisation als Aufführungstechnik und Theaterform: Improvisation dient als Mittel zur Hervorbringung einer Theateraufführung. (FROST & YARROW 2007, S. 19-20)
Die vorliegende Untersuchung widmet sich ausschließlich der dritten Anwendung von Improvisation im Theater, also dem Improvisationstheater als eigener Theaterform.
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Das Improvisationstheater selber hat verschiedene Begrifflichkeiten hervorgebracht, um sich von anderen Theaterformen abzugrenzen: Im englischsprachigen Raum ist der Gegenbegriff zu improvised gewöhnlich scripted, worunter auch ein nicht-geschriebenes aber dennoch fest inszeniertes Stück einzuordnen wäre. Viola Spolin, eine der Begründerinnen des modernen Improvisationstheaters, stellt dem Improvisationstheater ein „formales Theater“ gegenüber (SPOLIN 2002, S. 319). Im deutschsprachigen Raum herrschen Formulierungsschwierigkeiten vor. Gerein verwendet den Gegenbegriff „Literaturtheater“ (GEREIN 2004, S. 2). Dieser Begriff ist aber nicht geeignet, das Improvisationstheater von anderen performativen Formen abzugrenzen, die zwar nicht auf einem Text basieren, aber gleichwohl inszeniert sind. 2004 wurde der Versuch gemacht, dem Improvisationstheater ein „absichtsvolles Theater“ bzw. ein „reproduzierendes Theater“ gegenüber zu stellen (LÖSEL 2004), was sich aber bisher nicht durchgesetzt hat. Ronald Kurt wählt als Gegenbegriff zur Improvisation die Komposition (KURT & NÄUMANN 2008, S. 17-46), jedoch stammt diese Differenzierung aus der Musik und ist nicht ohne weiteres aufs Theater übertragbar. Auch der Begriff Regietheater ist nicht trennscharf, da er sich für eine bestimmte Form des Theaters durchgesetzt hat. Güssow wählt als Gegenbegriff „inszeniertes Theater“ oder „voll-inszeniertes Theater“ (GÜSSOW 2013, S. 174). Dies ermöglicht eine sinnvolle Abgrenzung, denn eine recht präzise Trennlinie kann in der Tat anhand der Kategorien „Inszenierung“ versus „Aufführung“ gezogen werden. Die Inszenierung umfasst sämtliche szenischen Elemente und ihr Arrangement im Vorfeld der Aufführung. Fischer-Lichte definiert den Begriff so: „Ich definiere Inszenierung als den Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien, nach denen die Materialität der Aufführung performativ hervorgebracht werden soll [...].“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 327)
Güssows Begriff wird in der vorliegenden Arbeit inhaltlich übernommen, wobei die Verlaufsform gewählt wird, um das Prozesshafte zu betonen, also nicht ‚inszeniert‘ und ‚improvisiert‘, sondern ‚inszenierend‘ und ‚improvisierend‘: Das inszenierende Theater versucht, die Aufführung so nah wie möglich an der Inszenierung – also am vorab verfertigten Plan – zu halten. Auch wenn Abweichungen auftreten, bleibt doch die Orientierung an diesem Ideal bestehen. Das improvisierende Theater ist demgegenüber ein Theater, bei dem entweder gar keine Inszenierung vorliegt oder diese nur einen untergeordneten Stellenwert hat. Die jeweils konkrete Aufführung hat dabei zu jedem Zeitpunkt Vorrang vor den Ansprüchen einer eventuell vorliegenden Inszenierungsabsicht. Während das inszenierende Theater also versucht, Inszenierung und Aufführung weitgehend in Deckung zu bringen, toleriert und vergrößert das improvisierende Theater die Differenz zwischen Inszenierung und Aufführung. Ersteres könnte daher als inszenierungsorientiert bezeichnet werden, Letz-
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teres als aufführungsorientiert. Die Gegenüberstellung von inszenierendem und improvisierendem Theater ermöglicht eine sinnvolle Abgrenzung, ohne zu ignorieren, dass vielfältige Mischformen existieren. Es stellt sich die Frage, wie die entsprechenden Mischformen zu bewerten sind und wann man also von einer improvisierenden Aufführung sprechen kann. Schon bei der Commedia dell’ arte stößt man auf die Frage, wie viel von dieser Theaterform eigentlich improvisiert war (siehe Kapitel I 1). Gleiches gilt auch für moderne Formen des Improvisationstheaters; so wurden bei Moreno etwa die Geschichten, die Figuren und die „Lagen“1 vorab besprochen (MORENO 1970). Bei Johnstone oder Close entwickeln sich Geschichten und Figuren auf der Bühne, jedoch ist die Grundstruktur der Aufführung abgesprochen. Umgekehrt enthält auch eine Aufführung im psychologisch-realistischen Stil Stanislawskis improvisierte Anteile (in der Tat wird Stanislawski sogar als ein Wegbereiter der Improvisation gesehen z.B. in FROST & YARROW 2007, S. 20 ff), indem der Schauspieler innerhalb der vorgegebenen Inszenierung sozusagen innerlich improvisiert, um die Aufführung frisch zu halten. Man kann sagen, dass auch in solchen Theaterformen, die der Improvisation explizit feindlich gegenüberstehen, der Grad der Inszenierung Grenzen hat. 2 Oft sind minimale Variationen unvermeidlich und die Inszenierung hat aufgrund dieser Variationen die Tendenz zu ‚verwischen‘, also im Laufe vieler Aufführungen eine quasi selbstorganisierende, langsame Veränderung zu durchlaufen, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann, die ‚sich einschleicht‘. In diesem langsamen Verwischungseffekt kann man die Wirkung kleiner, spontaner Improvisationen sehen. Auch im inszenierenden Theater bleibt daher immer ein wenig Improvisation und umgekehrt kommt das improvisierende Theater niemals ganz ohne Vorabsprachen aus. Es existieren also viele Schattierungen und Übergänge. Eberhard Scheiffele entwickelt in seiner Dissertation „The Theatre of Truth“ (SCHEIFFELE 1995) eine gestufte Skala mit sieben Stufen zwischen den Polen Improvisation und Nicht-Improvisation. Sie bezieht sich grundsätzlich auf alle Arten von performativen Akten:
1
Zum Begriff der Lage sieht Kapitel II 1.2.3.
2
Auch Goethe kann man in diesem Kontext zitieren mit der Äußerung, er habe „auch nicht ungern gesehen, wenn man mehr oder weniger mit guter Laune, besonders den Possenspielen nachhalf und hier und da etwas einfügt...“ (Goethe zitiert in GÜSSOW 2013, S. 179-180).
26 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS NO IMPROVISATION Completely rehearsed Rehearsed using improvisation Arbitrary variation Rehearsed variation Simple improvisation Complex improvisation All improvisation IMPROVISATION (SCHEIFFELE 1995, S. 54)
Als Completely rehearsed bezeichnet Scheiffele einen Vorgang, der mit dem Ziel der Wiederholbarkeit vollständig inszeniert wurde, zum Beispiel eine Professorin, die ihre Vorlesung akribisch vorbereitet und sie genau so hält wie geplant. Als Rehearsed using improvisation bezeichnet er einen Vorgang, der über Improvisation erarbeitet wurde, sodass die spezifische Dramaturgie des Improvisatorischen noch erkennbar ist, obwohl das Ergebnis einem geplanten Ablauf folgt. Im obigen Beispiel wäre dies der Fall, wenn die genannte Professorin Passagen ihrer Vorlesung durch freies Sprechen vorbereitet, diese Passagen danach aber fixiert hätte. Scheiffele spricht von Arbitrary Variation, wenn die Inszenierung kleine Freiräume enthält, die spontan gefüllt werden. Eine solche willkürliche Variation läge beispielsweise vor, wenn obige Professorin bei ihrem Vortrag beliebig vor der Tafel hin und her wanderte, sodass bei jeder Wiederholung andere Bewegungen unter den Vortrag gelegt werden. Als Rehearsed variation bezeichnet Scheiffele eine Inszenierung, die optionale, geprobte Teile enthält, welche abgerufen werden können, aber keinen festen Platz in der Aufführung haben. Sie werden in ihrer Anordnung variiert. Obige Professorin hätte sich in dieser Variante auf verschiedene Fragen genau vorbereitet. Werden sie gestellt, kann sie mit einem vorher festgelegten Vortrag antworten. Ein anderer Fall liegt wiederum vor, wenn die Aufführung kleine ‚Fenster‘ enthält, in denen Improvisation in genau vorher festgelegtem Rahmen stattfinden soll. Scheiffele nennt diesen Fall Simple improvisation. Im obigen Beispiel: Die Professorin beginnt ihren Vortrag immer mit einem improvisierten Kommentar über das Wetter, geht dann aber zu ihrem vorbereiteten Vortrag über. Unter Complex improvisation versteht Scheiffele Aufführungen, in denen alle Inhalte, Worte, Bewegungen und Abfolgen improvisiert werden. In diese Kategorie fallen alle in der vorliegenden Untersuchung besprochenen Formen des Improvisationstheaters. Einen Extremfall stellt All improvisation dar. Diese geht noch über Complex improvisation hinaus, indem alle Elemente der Aufführung improvisiert werden und auch der Rahmen nicht begrenzt ist, etwa indem weder die Spielzeit, noch der Aufführungsraum oder noch die Zahl der Mitspielenden vorher festgelegt werden, sondern sich erst im Vollzug ergeben. Scheiffele weist darauf hin, dass all
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improvisation ein kaum realisierbares Ideal darstellt (SCHEIFFELE 1995, S. 5354). Eine solche gestufte Skala beruht auf einer Zerlegung des improvisierenden Vollzugs in Einzelkomponenten. Das Vorgehen erscheint plausibel, Scheiffeles Einteilung leidet aber daran, dass verschiedene Aspekte des performativen Aktes – wie Sprechen und Gehen – zusammengefasst betrachtet werden, obwohl sie unterschiedlich stark improvisiert oder inszeniert sein können. So ist zum Beispiel in Stufe 3 (arbitrary variation) der Vortrag festgelegt, die Bewegung aber improvisiert, was bei Scheiffele ‚zusammengerechnet‘ wird. Eine solche Mittelwertbildung hat unter Umständen aber keinerlei Aussagekraft, weil ein Aspekt völlig improvisiert und der andere völlig inszeniert sein kann, das Ergebnis aber in der Mitte liegt. Weiterhin ist seine Skala für eine Untersuchung des Improvisationstheaters zu grob, da mehr oder weniger alle existierenden Formen des Improvisationstheaters unter die Kategorie complex improvisation fallen. 1.1 Das Problem der Teilimprovisation Wie Wolfram Ax ausführt wurde bereits in der antiken Rhetorik zwischen Vollimprovisation und Teilimprovisation unterschieden. Alkidamas, ein griechischer Rhetoriker um 400 v. Chr., unterschied drei verschiedene Stufen der Improvisation in der Rede, je nachdem ob Formulierung (elocutio), Anordnung (dispotio) und/oder Inhalt (inventio) spontan produziert wurden (Ax in GRÖNE et al., 2009, S. 63 ff). Eine improvisierte Rede kann danach in Inhalt und Struktur festgelegt sein, in der Ausformulierung jedoch frei. Oder sie kann im Inhalt festgelegt, in Struktur und Ausformulierung dagegen frei sein. Durch diese Zerlegung in Einzelvollzüge erhält man eine Einteilung in Teilimprovisation versus Vollimprovisation: Tab. 1: Antike Rhetorik – Teilimprovisation versus Vollimprovisation
1. Stufe der Improvisation (Teilimprovisation) 2. Stufe der Improvisation (Teilimprovisation) 3. Stufe der Improvisation (Vollimprovisation) (Quelle: Eigene Darstellung)
Formulierung (elocutio) improvisiert?
Anordnung (dispositio) improvisiert?
Inhalt (inventio) improvisiert?
ja
nein
nein
ja
ja
nein
ja
ja
ja
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„Vollimprovisiert“ ist eine Rede nur dann, wenn auch der Inhalt nicht festgelegt ist – ein Fall, der für offizielle Redner kaum vorstellbar, für Improvisationsschauspieler jedoch besonders interessant ist. Versucht man, diese Unterteilung auf das Theater zu übertragen, so entspräche die Formulierung dem Dialog, die Anordnung der Szenenfolge und der Inhalt der Rede dem Inhalt des Stückes. Man müsste also analog fragen: Ist der Dialog improvisiert? Ist die Szenenfolge improvisiert? Ist der Inhalt des Stückes improvisiert? Für die Commedia dell’ arte ergäbe sich beispielsweise folgende Einordnung: Tab. 2: Improvisierte Anteile am Beispiel der Commedia dell’ arte Dialog improvisiert?
Szenenfolge improvisiert?
Inhalt improvisiert?
ja
nein
nein
(Quelle: Eigene Darstellung)
Die Commedia dell’ arte müsste man deshalb als teilimprovisiert charakterisieren, da zwar der Dialog improvisiert war, nicht jedoch Szenenfolge und Inhalt. Allerdings erweist sich das antike Schema, das ja auf der Rede basiert, als für das Theater zu undifferenziert. Im Unterschied zur Rede müssen für das Theater noch weitere Elemente berücksichtigt werden. Hier wird vorgeschlagen, das Schema um die Aspekte Bewegung und Figur zu erweitern. Daraus ergeben sich also fünf inhaltliche Aspekte, die improvisiert sein können: Tab. 3: Fünf inhaltliche Aspekte der Improvisation im Theater Dialog improvisiert? Bewegung improvisiert? Figur improvisiert? Szenen-folge improvisiert? Inhalt improvisiert? (Quelle: Eigene Darstellung)
Natürlich sind auch andere und weitere inhaltliche Gliederungen denkbar. Die genannten fünf Dimensionen erscheinen jedoch zu einer differenzierten Betrachtung zunächst ausreichend. Am Beispiel der Commedia dell’ arte zeigt sich jedoch
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bereits ein nachfolgendes Problem: Sind beispielsweise Bewegungen improvisiert, wenn sie der stark typisierenden Formensprache der Commedia dell’ arte folgen? Zwar konnte der Arlecchino wohl selbst entscheiden, wann er welche Geste machte, jedoch war seine Körpersprache im Wesentlichen vorgegeben. Es ist also auch hier oft nicht möglich, die Frage, ob ein bestimmter Aspekt der Aufführung improvisiert ist oder nicht, eindeutig mit ja oder nein zu beantworten. Ein differenziertes Schema zur Erfassung von Improvisation muss deshalb auch solche antrainierten und vorbesprochenen Elemente berücksichtigen. Der Grad der Vorbereitung: Prämeditation Zusätzlich zur Zerlegung in Einzelaspekte muss daher der Grad der Vorbereitung in ein Modell der Teilimprovisation einfließen. Im Gegensatz zur gestuften Skala der Einzelaspekte der Improvisation stellt der Grad der Vorbereitung ein kontinuierliches Merkmal der Improvisation dar: Keine Vorbereitung-------------------------------------------------------Maximale Vorbereitung
Die Variable ‚Vorbereitung‘ wäre in ihrer einfachsten Form operationalisierbar als die Zeit zwischen Aufgabenstellung und Durchführung. Es existieren dabei aber im Improvisationstheater ganz unterschiedliche Konventionen. In den Anfängen des modernen Improvisationstheaters bei Moreno oder in den 50-er Jahren bei den Compass Players war es üblich, dass die Spieler sich auf der Bühne absprachen und mehrere Minuten Vorbereitung beanspruchten, bevor sie ihre Improvisationen aufführten (SWEET 1978). Bei spanisch- und französischsprachigen Improvisationswettkämpfen ist dies auch heute noch so; im sogenannten „französischen System“3 sind kurze Vorgespräche und Absprachen zwischen den Schauspielern üblich (Witte in LÖSEL 2006). Beim in Deutschland und im englischsprachigen Raum gängigen Improvisationstheater ist dagegen die spot improv üblich. Dabei wird on the spot losimprovisiert, die Vorbereitungszeit wird also minimiert. In der Praxis liegt die Zeit zwischen der Wahl einer Publikumsvorgabe und dem Beginn der Improvisation dabei etwa bei fünf Sekunden. Leider ist die Variable ‚Vorbereitung‘ nur auf den ersten Blick leicht zu handhaben. Es stellt sich die Frage, ab welchem Maß an Vorbereitung man noch von Improvisation sprechen kann. 1 Sekunde? 1 Minute? 1 Stunde? 1 Tag? Ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Planung und Ausfüh-
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Das „französische System“ stammt eigentlich aus dem französischen Teil Kanadas. Es ist in französischsprachigen und spanischsprachigen Ländern verbreitet. Die Rahmung ist dem Eishockey nachgebildet: zwei Mannschaften improvisieren in einer Art Eishockerring und mit Schiedsrichter (Bernd Witte in LÖSEL 2006, S. 34).
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rung wird der Improvisation generell zugesprochen.4 Dennoch gibt es kein sinnvolles Kriterium, um eine Grenze zu ziehen. Statt der Vorbereitungszeit wäre es daher sinnvoll, das Ausmaß der Vorüberlegungen, Absprachen und antrainierten Verhaltensweisen zu erfassen, was methodisch jedoch sehr viel schwieriger ist. Wie ist beispielsweise das zum Teil jahrelange gemeinsame Training der Schauspieler zu bewerten? Es dient zwar nicht der Erarbeitung von Szenen, aber der Optimierung des Zusammenspiels und dem Training einzelner Techniken. Streng genommen muss man es ebenfalls als Vorbereitung sehen. Weiter kompliziert wird die Sache durch die Frage, ob Vorausplanung und Improvisation überhaupt als Gegensatz aufgefasst werden müssen oder ob wir es nicht vielmehr mit zwei Prozessen zu tun haben, die durchaus parallel laufen können. Das Improvisieren wäre dann der simultane, gleichzeitige Vollzug zweier Tätigkeiten: des aktuellen Agierens und des planenden Entwerfens. Das Kriterium der Vorbereitung verliert also auch dadurch an Schärfe, dass die Vorbereitung sozusagen im Hintergrund ablaufen kann, während gleichzeitig gespielt wird. Um wenigstens eine theoretische Einordnung zu ermöglichen, soll hier ein Modell entwickelt werden, das sich an Güssow orientiert: Er schlägt vor, zwischen improvisiert und inszeniert einen Bereich anzunehmen, die er als „prämeditiert“ bezeichnet (GÜSSOW 2013, S. 171). Güssow argumentiert, dass Improvisationsspieler keineswegs unvorbereitet auf die Bühne gehen und dass daher das Kriterium des Unvorbereitet-Seins nicht ausreicht, um das Phänomen Improvisation zu charakterisieren (GÜSSOW 2013, S. 173). Er führt stattdessen den Begriff der Prämeditation ein, der alles Vorbedachte, Abgesprochene, Antrainierte umfasst, mit dem der Schauspieler die Bühne betritt. Die Vorbereitung im Sinn der Prämeditation bestehe nicht primär im Lernen von Texten oder Bewegungen, sondern im Herstellen von Bereitschaften, die im konkreten Moment abgerufen werden können. In wesentlichen Teilen seien dies automatisierte Verhaltensweisen, die nicht von einem reflektierenden Individuum vollzogen werden, sondern von Schauspielern als embodied mind. Sie seien durch das Training zu „second nature“ geworden (Derek Flores in GÜSSOW 2013, S. 261). Prämeditierte Verhaltensweisen werden angelegt, jedoch erst in der konkreten Aufführungssituation spontan abgerufen. Das Konzept der Prämeditation vermittelt daher zwischen den Polen Improvisation und Inszenierung.
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Das vollständige Zusammenfallen von Planung und Ausführung stellt nur ein theoretisches Ideal dar, tatsächlich entsteht immer ein Zwischenraum der Handlungsplanung, der natürlich beträchtlich variieren kann. Jede Handlung benötigt eine Handlungsplanung – und seien dies nur Bruchteile von Sekunden, die für den Aufbau von Aktionspotentialen im Gehirn benötigt werden.
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Tab. 4: Prämeditation improvisiert ----------------------- prämeditiert -------------------------- inszeniert (Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf GÜSSOW 2013)
Der Grad der Prämeditation ist damit zwar nicht messbar, aber es liegt zumindest ein plausibles theoretisches Modell der Einordnung vor. Es ist mit dem oben entwickelten inhaltlichen Schema kompatibel. Beispielhaft für die Commedia dell’ arte sähe die Anwendung des Schemas folgendermaßen aus: Tab. 5: Schema zur Erfassung der Grade und Formen von Improvisation in einer Theaterform am Beispiel der Commedia dell’ arte
improvisiert---------------prämeditiert------------------inszeniert Dialog
xxx
Bewegung Figuren
xxx xxx
Szenen-folge
xxx
Inhalt
xxx
(Quelle: Eigene Darstellung)
Auf diese Weise kann das Schema erfassen, dass beispielsweise die Bewegung der Figuren einer abgesprochenen, stark typisierenden Formensprache folgt. Während der Dialog wohl weitgehend improvisiert war (aber eben auch durch die Sprachstile der typisierten Figuren vorgegeben), boten Bewegung, Figuren wenig, Szenenfolge und Inhalt fast keinen Gestaltungsspielraum für den Einzelschauspieler. Dasselbe Schema angewendet auf eine Theatersportaufführung5 könnte so aussehen:
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Theatersport ist eine sehr populäre Aufführungsform, die von Johnstone geschaffen wurde. Dabei treffen zwei Mannschaften zum Improvisationswettkampf aufeinander und müssen Herausforderungen bewältigen. Das Publikum verteilt Punkte und bestimmt den Sieger des Abends.
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Tab. 6: Schema zur Erfassung der Grade und Formen von Improvisation im Theatersport
improvisiert -------------------prämeditiert--------------inszeniert Dialog
xxx
Bewegung
xxx
Figuren
xxx
Szenenfolge Inhalt
xxx xxx
(Quelle: Eigene Darstellung)
Dialog, Bewegung und Inhalt sind hier vollständig improvisiert, während die Figuren und die Szenenfolge teilweise Absprachen unterliegen: Es existieren vorab vereinbarte Figuren wie der Moderator und der Schiedsrichter, manchmal werden auch die Rollen der Mannschaften vorbesprochen. Die Szenenfolge ist durch den Rahmen der Aufführung weitgehend festgelegt, während ihr Inhalt frei bleibt. Die Games fließen in dieses Schema als Prämeditation ein. Sie sind nicht inszeniert, beruhen aber auf Vorabsprachen. Das hier entwickelte Schema enthält damit sowohl qualitative als auch quantitative Elemente. Es kann den Grad der Improvisation übersichtlich darstellen und demzufolge dazu beitragen, nicht mehr vereinfachend von einer improvisierten Aufführung zu sprechen, sondern eine Analyse der einzelnen Teile der Aufführung durchzuführen. Damit kann beispielsweise sichtbar gemacht werden, dass ganz unterschiedliche Befunde gemeint sind, wenn von Improvisation in der Commedia dell’ arte die Rede ist oder von Improvisation im Theatersport oder in improvisierten Langformen. Weiterhin erweitert das Konzept der Prämeditation den Untersuchungsfokus: Vorbesprochenes und Antrainiertes gilt damit nicht mehr automatisch als nicht-improvisiert, sondern ist selbstverständlicher Teil improvisierender Produktionsprozesse. Dies entspricht der Praxis des Improvisationstheaters weit mehr als eine idealisierende Suche nach der ‚reinen‘ oder ‚freien‘ Improvisation. Es gibt aber auch entscheidende Nachteile des Schemas. Zum einen müssen, um es anwenden zu können, alle Vorabsprachen und das gesamte Training der Schauspieler bekannt sein und berücksichtigt werden, was die Anwendung schwer macht. Zum anderen bleibt die Einteilung selbst bei erfolgreicher Anwendung unbefriedigend, weil sie keine Entscheidungshilfe zur Beantwortung der Frage bietet, ob die Improvisation das entscheidende Gestaltungsmerkmal einer Aufführung ist. Die Frage wird lediglich auf verschiedene Unterkategorien verlagert. Es drängt sich der Verdacht auf, dass dies auch bei anderen, noch differenzierteren Modellen der Fall wäre, weil sich diese Frage grundsätzlich nicht durch die Analyse der Produktions-
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seite des Improvisationstheaters lösen lässt. Vielmehr trägt auch die Rezeptionsseite entscheidend dazu bei, ob die Improvisation im Mittelpunkt der Aufführung steht. 1.2 Improvisation als Wahrnehmungskategorie Eine wichtige Frage der Rezeption beim Improvisationstheater bezieht sich auf das Vorwissen der Zuschauer, nämlich darauf, ob diese wissen bzw. wissen sollen, dass die Darstellung improvisiert ist. An dieser Stelle gehen die Meinungen innerhalb der Improvisationstheater-Community erstaunlich weit auseinander. Die eine Seite vertritt die Meinung, dass die Produktionstechnik für das Publikum keine Rolle spiele, da es eine Aufführung in der Regel ja nur ein einziges Mal sehe. Ob improvisiert oder inszeniert mache keinen Unterschied in der Rezeption der Zuschauer. Ein Vertreter dieser Auffassung war Moreno: „Warum Stegreifspiele? Vom Standpunkt des Zuschauers scheint es unwesentlich, auf welche Weise eine Vorführung zustande kommt: ob nach dogmatischem oder dem StegreifVerfahren.“ (MORENO 1970, S. 73)
Ähnlich argumentiert Johnstone: „Die Wahrheit ist, dass die Leute sich amüsieren wollen, und es interessiert nur die Improvisierer, ob die Show improvisiert ist oder nicht. […] Schmeckt eine schlechte Mahlzeit vielleicht besser, wenn der Kellner sagt: ‚Der Koch kennt keine Rezepte, er improvisiert?‘“ (JOHNSTONE 1998, S. 77)
Letztendlich sei es daher nicht relevant, ob die Zuschauer die Aufführung als improvisiert wahrnähmen oder nicht.6 Die Gegenseite vertritt die Ansicht, dass die Information „Dies ist improvisiert“ eine wesentliche Veränderung in der Rezeption des Publikums bedeute. Erst durch diese Information werde hinter dem Bühnengeschehen die ‚Zweite Geschichte‘ sichtbar: Die Geschichte der Spieler, die gemeinsam um die Konstruktion einer Fiktion kämpfen. Die Vertreter dieser Meinung gehen nicht davon aus, dass Improvisationstheater sich mit dem inszenierenden Theater messen kann oder sollte. Die Bewertungsmaßstäbe des inszenierenden Theaters müssten vielmehr außer Kraft gesetzt werden, indem auf die improvisierte Natur der Aufführung hingewiesen wird.
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Entgegen diesen Aussagen liefern Johnstones eigene Formate jedoch ausgezeichnete Beispiele dafür, wie die Information „Dies ist improvisiert!“ durch die Rahmenstruktur der Aufführung fortlaufend aktualisiert wird.
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Tatsächlich gibt die Praxis dieser Gegenseite Recht: Kaum eine improvisierende Theatergruppe verzichtet auf den Hinweis „Dies ist improvisiert“. Selbst die Gruppen, die darauf bestehen, dass es keine Rolle spiele, ob ein Stück inszeniert oder improvisiert sei, kündigen ihre Aufführungen in der Regel als improvisiert an. So konstatiert Salinsky: „But none of these companies would dare advertise or present their show without acknowledging the fact that they are improvising. This would expose the weakness of their plotting, characterisation, dialogue and staging, which cannot hope to measure up to the best scripted and rehearsed equivalents. Even practitioners who don’t want to accept the ‚free pass‘ still want the audience to admire their cleverness in operating without a script – they need the ‚high wire act‘ aspect of their performance or the audience would be bored to tears.“ (SALINSKY & WHITE 2008, S. 34)
Alle gegenwärtigen Formen des Improvisationstheaters vermitteln die Information über die improvisierte Qualität des Dargestellten. Gewöhnlich wird schon in der Ankündigung darauf verwiesen, spätestens zu Beginn der Aufführung. Gelegentlich geschieht dies nicht explizit, aber die improvisierte Qualität erschließt sich unmittelbar durch die Art des Zusammenspiels auf der Bühne oder durch die Zuschauerbeteiligung. Das Publikum wird nie im Unklaren über den Improvisationscharakter der Aufführung gelassen. In der Praxis wird der Information „Dies ist improvisiert!“ also trotz widersprüchlicher Theorien hohe Bedeutung beigemessen. Ein Gegenexperiment unterstreicht diesen Befund: Trescher schildert Versuche der Münchner Improvisationsgruppe Fast Food, auf der Straße zu improvisieren. Die Experimente scheiterten, da die vorbeieilenden Zuschauer in der Kürze der Zeit nicht erkennen konnten, dass hier improvisiert wurde – was die Darbietung offenbar wenig interessant machte (TRESCHER 1995, S. 95). Man kann aus solchen Erfahrungen den Schluss ziehen, dass erst das Wissen um die improvisierte Natur der Aufführung die Wahrnehmung der Zuschauer so strukturiert, dass sie am Geschehen Anteil nehmen. Erst durch die Information „Dies ist improvisiert“ bekommen die Zuschauer ein Gefühl für das Risiko der Aufführung, für die Liveness des Theaterereignisses. Die Zuschauer erleben, dass ihre Mitwirkung tatsächlich Auswirkungen hat, dass die Aufführung durch ihre Anwesenheit und ihre Reaktionen in ganz andere Bahnen geraten kann. Dieser Aspekt ist insofern zentral, als er die Position des Zuschauers innerhalb der Aufführung determiniert und damit auch seine Wahrnehmung strukturiert: Durch das Gefühl der Selbstwirksamkeit wird der Zuschauer – zumindest phasenweise – zu einem Mitspieler, der seine beobachtende Neutralität aufgeben muss, darf und soll. Die Zuschauer geraten in eine Position der Ko-Kreation, die eine distanzierende Bewertung zumindest schwer macht. Daher verändert sich die Bewertung des Gesehenen: Fehler, Missverständnisse und Unvollkommenheiten werden
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weniger kritisch gesehen und sogar positiv besetzt. Was improvisiert ist, wird nicht mit denselben Maßstäben beurteilt wie das, was inszeniert wurde.7 Neben die gespielten Inhalte tritt die Wahrnehmung des Spiels der Akteure bei der Hervorbringung der Aufführung. Eine entsprechende Einfühlung in die Spieler wird den Zuschauern möglich, weil jeder auf eigene Erfahrungen mit Improvisation zurückgreifen kann: die Alltagskommunikation ist zu einem Großteil improvisiert, alle beiläufigen Gespräche und damit der größte Teil der täglichen Kommunikation. Die Zuschauer mobilisieren diese Erfahrung aber nur, wenn sie wissen, dass improvisiert wird. Dass die Information „Dies ist improvisiert“ einen entscheidenden Unterschied in der Rezeption erzeugt, wird zusätzlich von ganz anderer Seite unterstützt: In einer aktuellen neuropsychologischen Studie von Engel und Keller (2011) findet sich ein Beleg für die grundsätzlich unterschiedliche Verarbeitung einer musikalischen Darbietung, je nachdem, ob diese als improvisiert oder nicht-improvisiert eingeschätzt wird. Die Forscher spielten 22 Jazzmusikern Melodien vor und ließen sie dann entscheiden, ob diese improvisiert waren oder nicht. Erwartungsgemäß konnten Jazzmusiker, die selber regelmäßig improvisierten, diese Aufgabe besonders gut bewältigen. Anhand von fast unmerklichen Schwankungen in Lautstärke und Rhythmik konnten sie improvisierte Stücke recht gut von nicht-improvisierten unterscheiden. Die Neuropsychologen gingen noch einen Schritt weiter, indem sie die Gehirnareale identifizierten, die für diese differenzierte Wahrnehmung zuständig sind. Entscheidenden Einfluss hat dabei offenbar die Amygdala (der sogenannte Mandelkern), ein Teil des limbischen Systems. Die Amygdala reagiert besonders auf Reize, die schwervorhersagbar, neu oder nicht eindeutig in ihrer Bedeutung sind. Weiterhin ist ein neuronales Netzwerk involviert, das bekanntermaßen für die innere Simulation von Handlungen zuständig ist (ENGEL & KELLER 2011). Diese neuronalen Instanzen zeigten sich in der Studie immer dann besonders aktiviert, wenn der Wahrnehmende davon ausging, dass die betreffende Melodie improvisiert war (unabhängig davon, ob sie dies wirklich war). Man kann daher den Schluss ziehen, dass ein Musikstück anders wahrgenommen wird, wenn es der Wahrnehmende als improvisiert etikettiert hat, dass andere neuronale Strukturen involviert sind und dass das neuronale System der inneren Simulation von Verhalten hierbei eine besondere Bedeutung hat. Insbesondere dieser letzte Punkt ist ein weiterer
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Daraus entsteht auch die Gefahr, dass das Label Improvisation zur Rechtfertigung von Schwächen benutzt wird. So kritisiert etwa Salinsky, dass in vielen Fällen die mangelnde Qualität mit dem Hinweis entschuldigt werde, das Dargebotene sei ‚nur‘ improvisiert (SALINSKY 2008, S. 34).
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Beleg für die hier vertretene These, dass der Zuschauer das improvisierte Spiel innerlich mitspielt und sich mit den Spielern identifiziert.8 Wenn diese Ergebnisse sich auf das Theater übertragen lassen, was zu erwarten wäre, aber noch auf empirische Bestätigung wartet, dann lässt sich sagen, dass die Einordnung improvisiert/nicht-improvisiert einen relevanten Unterschied in der Rezeption erzeugt. Es wird daher in der vorliegenden Arbeit die These vertreten, dass das Wissen des Zuschauers über die improvisierte Qualität des Theaterspiels ein konstitutives Merkmal des Improvisationstheaters ist. Erst die entsprechende Verarbeitung auf Rezeptionsseite macht die Interaktion und die spezifische Wirkung des Improvisationstheaters möglich. Es handelt sich mithin nicht nur um eine Produktionstechnik, sondern ebenfalls um eine Rezeptionsbedingung. Auf methodischer Ebene bedeutet dies, dass eine Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters auch die Sphäre der Rezeption erklären und beschreiben muss. In den Fokus treten kreisförmige bzw. spiralförmige Prozesse der Interaktion. Ein entsprechender Ansatz wird mit der autopoietischen feedback-Schleife in Kapitel III 6 aufgegriffen. 1.3 Fazit: Eingrenzung des Gegenstandes Ab wann kann und sollte man also von Improvisationstheater sprechen? Aufgrund des ausgeführten Problems der Teilimprovisation wird der Begriff in dieser Untersuchung relativ eng gefasst. 9 Es wird vorgeschlagen, als Improvisationstheater nur solches Theater zu bezeichnen, bei dem die Improvisation
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Eine Übertragbarkeit der Ergebnisse auf das Theater erscheint wahrscheinlich, muss jedoch noch empirisch gesichert werden. Die veränderte Wahrnehmung unter der Prämisse „improvisiert“ eröffnet ein Untersuchungsfeld: Entsprechende Versuchsanordungen, bei denen eine Gruppe von Versuchspersonen die Information bekommen „Dies ist improvisiert!“, während eine Kontrollgruppe denselben Input unter der Rahmung „Dies ist inszeniert!“ bekommt, sind über Videoeinspielungen leicht durchführbar und vielfach variabel. Auf diese Weise wäre es möglich, einzugrenzen, wie die Wahrnehmung durch die Information „Dies ist improvisiert!“ verändert wird. Ebenso wären Experimente denkbar, die spezifizieren, wie eine Person zur Einschätzung kommt, eine Szene sei improvisiert oder nicht improvisiert. Mit anderen Worten: Es fehlt noch an Grundlagenforschung in diesem Bereich und diese fällt eher in den Bereich der Kommunikationswissenschaften oder der Psychologie als in den Bereich der Theaterwissenschaft. Entsprechend wäre hier eine experimentelle Methode angebracht.
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Andere Autoren, beispielweise Frst und Yarrow gehen von einem weiteren Begriff aus, der auch den Einsatz von Improvisation in Proben und beim Aufwärmen umfasst.
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(1) im Mittelpunkt der Aufführung steht und (2) explizit ist. (1) ‚Im Mittelpunkt der Aufführung‘ bedeutet, dass die Improvisation das wesentliche Gestaltungsmerkmal der Aufführung ist und dass die zentrale Wirkung der Aufführung in der Improvisation gesucht wird. Dieses Abgrenzungskriterium ist nicht so scharf, wie es aus wissenschaftlicher Sicht wünschenswert wäre.10 Damit dieses Kriterium der Produktion trennscharf wird, muss es um ein Kriterium der Rezeption ergänzt werden, nämlich, dass die Tatsache, dass improvisiert wird explizit ist. (2) ‚Explizit‘ heißt, dass die Zuschauer in die Tatsache eingeweiht werden, dass hier improvisiert wird. Erst dieses Wissen, so die hier vertretene These, stellt die Grundlage für die spezifische Zeichenerzeugung und Bedeutungsgenerierung dar, die für das Improvisationstheater typisch ist. Dieser wichtige Punkt wurde argumentativ ausgeführt. Was der Zuschauer als ‚improvisiert‘ etikettiert, nimmt er grundsätzlich anders wahr als das, was er als ‚inszeniert‘ etikettiert. Auch nach der hier vorgenommenen, relativ engen Grenzziehung bleibt Improvisationstheater ein Bündel heterogener Theaterformen. Im Zentrum befindet sich das sogenannte Improtheater. Es ist weltweit verbreitet und wird regional verschieden gefüllt, in der Regel fließen hierbei jedoch die Spielformen der britisch-kanadischen und der US-amerikanischen Improvisationsschulen zusammen (siehe Kapitel II). Die Theaterwissenschaftlerin Christel Weiler bezeichnet Improvisationstheater als eigenes Theatergenre (Weiler in FISCHER-LICHTE et.al. 2005). Der Theaterwissenschaftler Nickel spricht dagegen vorsichtiger von „Traditionen“ und zählt die einzelnen Theaterformen auf – allerdings ohne Berücksichtigung des modernen Improvisationstheaters (Nickel zum Stichwort Improvisation im Theaterlexikon BRAUNECK/ SCHNEILIN 2007, S.459). In der vorliegenden Untersuchung wird das Improvisationstheater als eigenständige Theaterform verstanden, die nicht nur
10 Insbesondere bei zwei Theaterformen stellt sich die Frage, ob sie die Improvisation im Mittelpunkt steht oder nicht: Erstens bei Augusto Boals verschiedenen Formen von partizipativem Theater: Theater der Unterdrückten, Forum-Theater, Legislatives Theater und Joker Theater. Zweitens beim Playbacktheater nach Fox und Salas. In beiden Formen spielt Improvisation eine sehr wichtige Rolle. Dennoch stellt sie eher ein Mittel zur Erreichung eines politischen, sozialen oder therapeutischen Zieles dar und bleibt diesem letztendlich untergeordnet. Aus diesem Grund werden beide Formen in der vorliegenden Arbeit ausgeklammert. Im Grenzbereich befindet sich auch das Actiontheater von Ruth Zaporah, das eine Mischung aus Tanz, Performance und Improvisationstheater ist. Es liegt hierzu aber lediglich das Buch „Action theater“ (ZAPORAH 1995) vor, das ein reines Übungsbuch ist. Da praktisch keine Theoretisierung verfügbar ist, wird es in dieser Arbeit ebenfalls nicht berücksichtigt.
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die improvisierende Produktionsweise umfasst, sondern auch deren Präsentation in der Aufführung und damit die Gestaltung der Bedingungen der Rezeption.
2 B EGRIFFE
UND
B EGRIFFSGESCHICHTE
2.1 Etymologische Wurzeln Das Wort improvviso (italienisch) = unmittelbar tauchte am Ende des Mittelalters in Italien auf. Die älteste bekannte schriftliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 1348 (MEYER 2008, S. 37). Etymologisch lässt es sich vom lateinischen providere = vorhersehen ableiten. Die Vorsilbe im- ist eine Verneinung, sodass improvisum wohl als „unvorhergesehen“ übersetzt werden kann. Wörtlich übersetzt bedeutet improvisieren also: das Unvorhergesehene tun (MEYER 2008, S. 37). Meyer meint, dass neben dem Aspekt der Unvorhersehbarkeit auch die Qualität der Plötzlichkeit bereits im Begriff enthalten sei: „Die Vokabel improvvisàre ist aus etymologischem Blickwinkel im Unterschied zu providere spezifisch zeitlich determiniert als ein sehr kurzer Vorgang zwischen Wahrnehmung, Entscheidung und Ausführung.“ (MEYER 2008, S. 37)
Zunächst nur als Adjektiv verwendet, wurde mit improvviso eine Situation beschrieben, in der sich „etwas ereignet oder auf einmal kommt“ und zwar „völlig unerwartet“. (MEYER 2008, S. 33). Vermutlich wurde es im negativen Sinn verwendet, um die Tatsache zu umschreiben, dass jemand aus dem Rahmen fiel und Verhaltenserwartungen nicht erfüllen konnte: „Mit improvviso konnten Situationen zufälliger Verfehlungen im Rahmen vorhersehbarer Ereignisse beschrieben werden, wie beispielsweise bei Laien, die den eng gesteckten Rahmen religiöser Riten nicht einhalten konnten.“ (MEYER 2008, S. 33)
Aus dieser negativen Konnotation wurde offenbar im Laufe der Zeit eine positive. Meyer führt einen Beleg aus dem Jahr 1478 an, in dem der Begriff bereits zur Charakterisierung von bewussten, künstlerischen Tätigkeiten benutzt wurde, insbesondere beim Stegreifspiel im Theater (MEYER 2008, S. 33). Solche Produktionsweisen, die das Unerwartete bewusst herbeiführten, wurden mit d’improvviso oder all’improvviso bezeichnet. So waren Stegreifkomödien als Commedia all’improvvisa allgemein bekannt (alternativ auch all’ soghetto), lange bevor sie unter den Begriff Commedia dell’ arte gefasst wurden. Der Begriff des improvviso wurde also etwa ab dem 15. Jahrhundert zur Charakterisierung einer künstlerisch-gestaltenden Tätigkeit benutzt. Er war zunächst Teil eines Diskurses, der sich um die Kunstform
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Theater entwickelte, erst später fand er in Musik und anderen Künsten Anwendung (MEYER 2008, S. 35). Die Bedeutung verschob sich also nach und nach von der Beschreibung unabsichtlicher Fehler hin zu bewusstem Herstellen und künstlerischem Verarbeiten von unerwartetem, spontanem Handeln. Als logische Folge wurde aus dem Adjektiv ein Verb: „Mit Einführung des Verbs improvvisàre wurde dann eine bewusst und gewollt spontane künstlerische Tätigkeit bezeichnet. Damit gab es erstmals eine begriffliche Abgrenzung gegenüber dem vorbereiteten und manchmal vorab fixierten musikalischen wie theatralen Akt.“ (MEYER 2008, S. 34)
Der älteste Nachweis des Verbs improvvisáre stammt aus dem Jahr 1547 (MEYER 2008, S. 32) und fällt somit ungefähr mit der Entstehung der Commedia dell’ arte zusammen. Die Substantivierung improvvisazióne wurde erst im 19. Jahrhundert gebräuchlich und bezeichnete in der Folge sowohl die Aktivität des Improvisierens als auch das entstandene Werk. Hier wird bereits eine doppelte Bedeutung des Begriffs sichtbar: Einerseits als Beschreibung eines Prozesses, andererseits als Bezeichnung für das Ergebnis dieses Prozesses. 2.2 Stegreifspiel, Extemporieren, Improvisieren Stegreifspiel, Extemporieren und Improvisieren wurden und werden zum Teil bedeutungsgleich verwendet. Im Folgenden soll untersucht werden, ob mit den drei Begriffen tatsächlich dasselbe gemeint ist. Die älteste Bezeichnung für eine spontane Kreation ist im deutschen Sprachraum der Begriff „aus dem Stegreif“, der sich wortgeschichtlich bis ins 8. Jahrhundert zurückzuverfolgen lässt (MEYER 2008, S. 39). Er ist also älter als Improvisieren und Extemporieren: Stegreif bedeutet Steigbügel, die Bezeichnung aus dem Stegreif wurde verwendet für eine kurze Ansprache aus dem Sattel, ohne Abzusteigen. Der Begriff charakterisiert eine Tätigkeit, die in Hast, ohne Vorbereitung und ohne großen Aufwand durchgeführt wird – ähnlich wohl dem heutigen Ausdruck „zwischen Tür und Angel“. Der Ausdruck „aus dem Stegreif“ besitzt damit keine über das Wort Improvisation hinausgehende Bedeutung.11
11 Moreno versuchte 1924 eine Wiedereinführung des Begriffs Stegreifspiel (MORENO 1970, S. 65). Er wollte damit eine Form charakterisieren, die – anders als die Commedia dell’ arte – nicht auf festen Typen und Handlungsgerüsten beruhte, sondern die gesamte Aufführung dem schöpferischen Schauspieler überließe. Diese Begriffsdifferenzierung hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Was Moreno als Stegreifspiel bezeichnet, wird heute meist als ‚freie Improvisation‘ gefasst.
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Anders verhält es sich mit dem Begriff Extemporieren, der sich in der schauspielerischen Fachsprache zunächst durchsetzte (MEYER 2008, S. 38). Er leitet sich vom Lateinischen ex tempus ab und bezeichnet etwas, das „außerhalb der Zeit, aus der Zeit heraus, ohne (Vorbereitungs-)Zeit.“ (MEYER 2008, S. 38) geschieht. Beispiele für das Extemporieren wären etwa die tirate und bravure der Commedia dell’ arte: monologisierende Ausschweifungen zu bestimmten Themen wie Liebe, Eifersucht, Leidenschaft usw., die von den Schauspielern vorbereitet, in ihrer jeweiligen Form und Länge jedoch spontan variiert wurden. Sie hatten vermutlich oft eine dramaturgische Füllfunktion: Wenn es Störungen im Ablauf oder Verwirrung in der Handlung gab, wurde ein Schauspieler auf die Bühne geschickt, um zu extemporieren und damit den anderen Schauspielern eine Verschnaufpause zu verschaffen. Diese Funktion wird beispielhaft deutlich im Bericht des Schauspielers Brandes aus einer Theatergruppe um 1750, den Helmut Asper zitiert: „Auch im Extemporieren hatte ich zeither eine besondere Fertigkeit erlangt. Zuweilen mußte ich mich, wenn die Vorstellung eines Schauspiels wider Vermuthen zu kurz ausfiel, eiligst zum Nachspiel umkleiden, und bei eröffnetem Vorhang heraustreten, ohne zu wissen, welch Stück gespielt werden sollte. Auf meine Anfrage an Schuch [den Prinzipal der Truppe, G.L.] fiel mehrentheils die Antwort: ‚Schwatz der Herr nur von Liebe, das Übrige wird der Herr schon erfahren.‘ Ich eröffnete also getrost die Scene, mit allgemeinen Betrachtungen über die Freuden und Martern der Liebe, oder so etwas Ähnlichem; Schuch kam dann als Hanswurst, und mein vertrauter Diener, dazu; ich nahm sogleich meine Zuflucht zu ihm, als meinem getreuen Rathgeber; er warf die Exposition hin, und ich hatte nun den Faden des Stücks.“ (Brandes zitiert in ASPER 1980, S. 77)
Im 19. Jahrhundert existierten die Begriffe Improvisieren und Extemporieren parallel und waren nur unscharf voneinander abgegrenzt. Stärker als das Improvisieren wurde das Extemporieren im Bereich des Theaters verortet und dort als Abweichung vom Dichterwort definiert. So schreibt das Allgemeine Theaterlexikon 1846 unter dem Stichwort Extemporieren: „Extemporiren (Techn.), aus dem Stegreife sprechen, singen, spielen; von den lateinischen Worten ex und tempus. Der Schausp. extemporirt, wenn er im Augenblicke des Darstellens Dinge in den Lauf der Handlung und Rede verflicht, die vom Dichter nicht vorgeschrieben sind.“ (Allgemeines Theaterlexikon 1846)
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Ob diese Abweichung künstlerisch wertvoll sei oder nicht, unterlag unterschiedlichen Bewertungen. Es gab heftige Angriffe gegen das Extemporieren12 und ebenso vehemente Verteidigungen (Allgemeines Theaterlexikon 1846). Der entsprechende Beitrag des Theaterlexikons von 1846 ist um ein Vielfaches länger als derjenige zum Improvisieren. Allein schon die Länge der Artikel ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Diskurse damals um den Begriff des Extemporierens kreisten, nicht um den des Improvisierens. Letzteres galt eher als virtuose Einlage, nicht nur im Theater, sondern auch bei spontanen Vorträgen: „Improvisiren (Aesth.). Ueber einen gegebenen oder gewählten Stoff aus dem Stegreife sprechen, gewöhnlich besonders beim I. in Reimen mehr ein Beweis mechanischer Fertigkeit in der Handhabung der Sprache, als des dichterischen Genies. [...] Beim Schausp. verwechselt man sehr oft I. und Extemporiren (s.d.).“ (Allgemeines Theaterlexikon 1846)
Ein ästhetischer, künstlerischer Wert wurde dem Improvisieren weitgehend abgesprochen; man sah darin eher ein Kunststückchen als wirkliche Kunst. Zusammenfassend kann man sagen, dass weder das Improvisieren noch das Extemporieren in der Mitte des 19. Jahrhunderts als unabhängige Gestaltungsmittel begriffen wurden, sondern nur als Techniken zur Ausarbeitung und Ausschmückung von Vorlagen: Das Improvisieren als Variation eines Themas oder Motivs, das Extemporieren als spontane, eigenmächtige Abweichung vom Dichterwort. Die Verwendung des Begriffs Extemporieren ist heute unüblich geworden. Dabei könnte man durchaus argumentieren, dass er inhaltlich etwas anderes bezeichnet als das Improvisieren, nämlich die solistische Ausschmückung eines vorgegebenen Themas. Demgegenüber wäre Improvisation eher das kollaborative Entstehenlassen eines Themas und seiner Ausführung, also ein wesentlich offenerer und gemeinschaftlicherer Vorgang. Eine aktuelle Improvisationstheateraufführung enthält gewöhnlich sowohl Improvisation als auch Extemporation, etwa in Monologen, Liedern oder Ansprachen an das Publikum. 2.3 Das Konzept der freien Improvisation Das Konzept der freien Improvisation entwickelte sich dagegen offenbar erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Bereich des Tanzes (Brandstetter in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 183-199). Gabriele Brandstetter kommt in ihrer Untersuchung der Improvisation in der Geschichte des Tanzes zu dem
12 Mit der zunehmenden Literarisierung des Theaters wurde den Schauspielern ab ca. 1800 das Extemporieren weitgehend untersagt, ohne es jedoch jemals ganz zurückdrängen zu können (DÖRGER & NICKEL 2008, S. 22 ff).
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Schluss, dass bis ins späte 19. Jahrhundert Improvisation im Tanz nur als Variationen des Vorgegebenen innerhalb eines festgelegten Rahmens stattfand. Mit dem Beginn der Moderne sei der Begriff der Improvisation dann ganz neu gefüllt worden: „Umso heftiger und folgenreicher ist der Einschnitt um 1900: Die Frage, die gerade der moderne Tanz aufwirft, lautet so schlicht wie radikal: Kann Improvisation nur innerhalb gegebener Regeln (der Bewegung, der Raumordnung, z.B.) stattfinden? D.h. nach dem Prinzip: variatio delectat – das Spiel der spontanen Entscheidung von Schritten und Figuren, wie z.B. im Tango? Oder: lassen sich –jenseits von gegebenen Systemen- Regeln selbst improvisieren? Was bedeutet es, die Matrix ihrer (Er)-Findung spontan hervorzubringen?“ (Brandstetter in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 187)
Ähnliches gilt für den Bereich Theater, wo ein ähnlicher Prozess wohl mit einigen Jahren Verzögerung stattfand: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden Extemporation und Improvisation nur zur Variation vorbestimmter Themen angewendet, die eigentliche dramaturgische Konstruktion wurde ihnen jedoch nicht überlassen. Erst im 20. Jahrhundert wurde Improvisation zunehmend als freie Improvisation verstanden, als etwas, das selbständig in der Lage ist, ein dramatisches Geschehen hervorzubringen und zu strukturieren. Der Begriff der Improvisation erfuhr gleichzeitig eine starke utopistische Aufladung: Er wurde zu einer Metapher der Freiheit des schöpferischen Ichs, der Überwindung von Machtverhältnissen und der Aufhebung der Entfremdung im Theater und in der Gesellschaft. Geträumt wurde nun von einer Improvisation, die ganz ohne Konventionen und Regeln auskommt, diese überwindet und neu hervorbringt. Sie steht damit stellvertretend für die Erneuerungswünsche in Gesellschaft und Theater. Brandstetter zeigt, dass mit dem Beginn der Moderne der Begriff der Improvisation neu gefüllt wurde, dass die Argumentation etwas Progressives gewann und sogar zu einer Utopie ausgebaut wurde. Im Theater blieb der idealisierende Rückbezug auf die Commedia dell’ arte bestehen, jedoch wurden auch die Forderungen der historischen Theateravantgarden virulent: Partizipation der Zuschauer, Einbezug von unbewusstem Material in die künstlerische Produktion, Auflösung von überkommenen Formen und eine Ästhetik des Grotesken als Gegenposition zum vorherrschenden logozentristischen Paradigma der Kunstproduktion. Die von Landgraf (2003) aufgestellte These, dass sich bereits mit Beginn der Frühromantik Improvisation zum Paradigma moderner Kunstproduktion schlechthin auszuformen begann, lässt sich als Hintergrund für die utopistische Aufladung von Improvisation im 20. Jahrhundert verstehen. Da Improvisation jedoch das logzentristische Kunstparadigma keineswegs abgelöst hat, ist es wohl übertrieben, Improvisation als Grundparadigma der modernen Kunstproduktion zu sehen. Vielmehr bildeten sich zwei konkurrierende Auffassungen von Kunstproduktion, die bereits in Nietzsches Differenzierung von apollinarischer und dio-
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nysischer Kunst ausformuliert wurden. Die Improvisation lässt sich dabei dem dionysischen Pol zuordnen. Im Diskurs um Improvisation zeigt sich mit Beginn der Moderne eine Art Gegenentwurf und Fluchtpunkt zum Bild des rationalen, verantwortungsvollen Individuums, eine Sehnsucht nach emotionaler Expansion und rauschhafter Produktion. Die Vorstellung des Künstlers als schaffendes Genie, das aus den Quellen der Kunst, dem Unbewussten oder Jenseitigen schöpft, frei von Beurteilungsmaßstäben und Verantwortung, stellt eine moderne Wunschphantasie dar. Vom Geniebegriff losgelöst, der ja im 20. Jahrhundert fragwürdiger wurde, findet sich dieselbe Vorstellung in der Konzeption vom Künstler als Trancemedium, wie er von Gabriele Brandstetter am Beispiel der „Traumtänzerin“ Madeleine Guipet aufgezeigt wurde (BORMANN; BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 187-188). Die Sehnsucht nach einem solchen Ort der Freiheit wurde, so kann man annehmen, umso stärker, je mehr die Vergesellschaftung des Individuums voranschritt. Improvisation ist heute immer auch ein Versuch, dieser Vergesellschaftung des Individuums einen Gegenentwurf entgegenzusetzen. Die vorliegende Arbeit formuliert daher die These, dass das heutige Improvisationstheater starke Wurzeln in den historischen Avantgarden hat und sich von davorliegenden Methoden des Stegreifs dadurch unterscheidet, dass es ein Konzept der freien Improvisation zugrunde legt, das von der modernen Vision eines freien, schöpferischen Individuums inspiriert ist. Diese These wird in Kapitel II näher ausgeführt und belegt. 2.4 Definitionen von Improvisation und Improvisationstheater Im Zentrum der meisten Definitionsversuche steht das Kriterium der Ungeplantheit, beispielsweise bei Dörger und Nickel: „Improvisieren im Alltag ist Handeln aus dem Stegreif, ist Tun im Moment – nicht unbedingt ohne Überlegung, aber jedenfalls ohne langwierige Planung.“ (DÖRGER & NICKEL 2008, S. 8, Hervorhebung G.L.)
Weiterhin wird in aller Regel ein enger zeitlicher Zusammenhang angenommen, also ein Kriterium der Unmittelbarkeit: „Improvisation ist Gestaltung ohne Vorbereitung (aus dem Stegreif) und das Ergebnis dieser Gestaltung.“ (DÖRGER & NICKEL 2008, S. 10, Hervorhebung G.L.)
Im Idealfall fallen Planung und Handlung zusammen; sie sind nicht zeitlich voneinander getrennt, sondern bilden einen synchronen Vorgang. Neben der Ungeplant-
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heit und Unmittelbarkeit wird improvisatorischem Handeln als Antwort auf aktuelle Umgebungsreize gesehen: Der Improvisierende ist in besonderer Weise mit dem Moment, dem Hier und Jetzt, mit der jeweils aktuellen Umwelt verbunden und antwortet auf Veränderungen dieser Umwelt. So definiert Meyer: „Improvisieren ist kreatives Tätigsein im Hier und Jetzt, Erfinden und Gestalten in einem Akt; es ist die Fähigkeit, auf Grund einer Idee, einer Situation vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen im Umgang mit Material (das können Körper, Räume, Gesten, Dinge, Töne, Farben etc. sein) etwas physisch mit Stimme oder Bewegung auszudrücken; dieses spontan zu tun, als Antwort auf einen plötzlichen Reiz der Umwelt.“ (MEYER 2008, S. 17, Hervorhebung G.L.)
Dieses Kriterium soll hier als das Kriterium der Responsivität bezeichnet werden. Diese steht auch im Mittelpunkt der Definition von Frost und Yarrow: „Improvisation: the skill of using bodies, space, all human resources, to generate a coherent physical expression of an idea, a situation, a character (even, perhaps, a text); to do this spontaneously, in response to the immediate stimuli of one’s environment, and to do it à l’improviste: as though taken by surprise, without preconceptions.“ (FROST & YARROW 2007, S. 4, Hervorhebung G.L.)
Improvisation wird dabei als Antwort auf die Umgebung betrachtet. Das Kriterium der Responsivität schließt bestimmte spontane Aktionen aus: Eine Handlung, die zwar unmittelbar, jedoch nicht als Antwort auf die jeweils aktuelle Umwelt erfolgt, kann demnach nicht als improvisiert gelten. Dieses Kriterium markiert demnach die Grenze zwischen spontanem Verhalten, das unter Umständen aus einem inneren Impuls entsteht und nicht zwingend einen Zusammenhang zur Umgebung haben muss. Als weiterer Aspekt wird in einigen Definitionen der Begriff des Spiels, des Spielens oder des Spielerischen hervorgehoben. Diese Definitionen stehen stärker im Kontext des Theaters. So definiert Nickel im Theaterlexikon von Brauneck und Schneilin: „Improvisation [...] das spontane, freie Spiel (ohne oder mit nur sehr umrisshaft skizzierter Vorgabe) charakterisiert spezifische Traditionen der Theatergeschichte; vor allem Formen wie Commedia dell’ arte, Straßentheater, die Kunst der Gaukler, Narren, Spaßmacher, Straßenverkäufer. Texterfindung, Handlungsgestaltung und Darstellung fallen dabei zusammen.“ (Wolfgang Nickel in Theaterlexikon BRAUNECK/SCHNEILIN 2007, S. 459, Hervorhebung G.L.)
Auch Ebert verweist auf den Aspekt des Spielerischen:
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„Improvisation besteht darin, dass der Darsteller in eigenschöpferischem Akt spielend Kunst produziert. Er erfindet Abgebildetes ohne vorherige Probe, unvorbereitet also, lediglich einem Thema oder einem bestimmten Handlungsziel oder -gerüst als Vorgabe folgend, ohne Bindung an eine feste Textvorlage, vielmehr szenische Aktion und ihr gemäßen Text spontan.“ (EBERT 1979, S. 16, Hervorhebung G.L.)
Den spielerischen Charakter der Improvisation betont auch die Definition von Spolin, die im gegebenen Kontext besondere Bedeutung hat, weil sie von einer zentralen Theoretikerin des Improvisationstheaters stammt (allerdings handelt es sich mehr um einen Kommentar als um eine wirkliche Definition): „Improvisation: Das Spiel spielen; ein Problem ohne vorgefasstes Konzept lösen; die gesamte (belebte und unbelebte) Umgebung bei der Lösung des Problems mitarbeiten lassen [...] ein kommunikativer Moment im Leben, bei dem man ohne Entwurf oder Handlungsfaden auskommt[...].“ (SPOLIN 2002, S. 381, Hervorhebung G.L.)
Es tauchen auch hier die Aspekte Ungeplantheit, Responsivität und Spiel auf. Die Verknüpfung von Improvisation mit dem Spielbegriff kann als ausgesprochen eng betrachtet werden. Ein weiteres Kriterium der Improvisation betont ihre Prozesshaftigkeit: Die Aufführung ergibt sich erst im Vollzug. Dieses Kriterium hebt Christel Weiler hervor: „Das Improvisationstheater [...] als eigenes Genre sieht die Improvisation als spontanen Schaffensakt, als Abfolge unvorhergesehener Aktionen, deren dramaturgische Logik sich erst in ihrem Vollzug ergibt. Im Improvisationstheater geschehen Produktion und Aufführung gleichzeitig.“ (Weiler zum Begriff Improvisation in Metzler Theater Lexikon, FISCHERLICHTE et al. 2005, S. 146, Hervorhebung G.L.)
Dieses Kriterium geht über das Merkmal der Ungeplantheit hinaus, indem es das Improvisieren als einen fortlaufenden Prozess charakterisiert, aus dem heraus das Ungeplante sich ergibt, um sofort wieder in den Prozess des Improvisierens eingespeist zu werden. Kritisch muss angemerkt werden, dass man bei Definitionen von Improvisation schnell auf zirkuläre Erklärungen stößt. Sie verweisen auf Begriffe, die mehr oder weniger bedeutungsgleich sind. So ist beispielsweise wenig gewonnen, wenn Improvisation als Stegreifspiel definiert wird und anders herum. Ähnliches gilt für den Verweis auf die Begriffe Spiel und Spontanität, die zwar weitgehende Überschneidungen mit dem Begriff der Improvisation aufweisen, aber vom Improvisationsbegriff unabhängig sind und wesentlich größere Bedeutungsfelder umfassen.
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Für eine definitorische Eingrenzung von Improvisation sind beide Begriffe zu umfassend. Der Bezug von Improvisation zu Spiel und Spontanität muss innerhalb einer Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters geklärt werden, denn beide Konzepte durchziehen das Thema überall. In der vorliegenden Arbeit wird das Verhältnis zum Spiel und zur Spieltheorie im Rahmen des performativen Ansatzes in Kapitel III 4 und im Kontext der systemtheoretischen Spieltheorie in Kapitel IV behandelt. Die Frage nach den Konzepten der Spontanität im Improvisationstheater wird in Kapitel II 3.3 aufgegriffen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Definitionen daran leiden, auf weitere unscharfe Begriffe zu verweisen wie spontan, spielerisch oder aus dem Stegreif. Eine Reduktion der zugrundeliegenden Kriterien zeigt jedoch wesentliche Übereinstimmungen in folgenden Punkten: 1. Ungeplantheit: Planung und Handlung fallen im Idealfall zusammen. 2. Responsivität: Das improvisatorische Handeln stellt eine Antwort auf die aktuelle Umgebung und plötzliche Veränderungen dar. 3. Unmittelbarkeit: Zwischen dieser Umgebungsveränderung und der Verhaltensantwort besteht ein enger zeitlicher Zusammenhang. 4. Spielerische Qualität: Die Improvisation unterscheidet sich vom Alltagshandeln durch ihre spielerische Qualität. 5. Prozesshaftigkeit: Die während des Improvisierens auftauchenden Elemente werden in einen fortlaufenden künstlerischen Prozess eingespeist. Mit diesen fünf Kriterien sind die gegebenen Definitionen von Improvisation trotz beträchtlicher Unterschiede der Auffassungen klar umrissen. Man kann also sagen, dass eine definitorische Eingrenzung des Phänomens Improvisation vorliegt.
Kapitel II: Konzepte der Produktion
Das folgende Kapitel rekonstruiert, welche Konzepte und Begriffe sich im Binnensystem des Improvisationstheaters gebildet haben. Es wird hier also die Perspektive der Produzierenden aufgearbeitet, bevor in Kapitel III die Binnenperspektive verlassen wird, um über den performativen Ansatz zu einer Außenperspektive zu gelangen. Das Kapitel umfasst drei Teile: Der erste Teil stellt die Einzelbeiträge zur Theoretisierung des Improvisationstheaters dar, die Gedankengebäude der wichtigsten Protagonisten: Moreno, Spolin, Johnstone und Close. Der zweite Teil widmet sich der Fachsprache und dem Regelsystem des Improvisationstheaters, also der Frage, für welche Themen, Probleme und Techniken sich differenzierte Begrifflichkeiten herausgebildet haben und ob ein einheitliches Regelsystem entstanden ist. Im dritten Teil wird dann eine Reduktion auf die wichtigsten Metathemen des Improvisationstheaters unternommen und die entsprechenden Themen werden untersucht. Es liegen mehrere gute Darstellungen zur Geschichte der Konzepte des Improvisationstheaters vor, insbesondere „Improvisation in Drama“ von Frost und Yarrow, in dem nicht nur die Geschichte der Improvisation im Theater mit den wichtigsten Einzelbeiträgen und den zentralen Konzepten dargestellt, sondern auch ein kulturübergreifender Ansatz verfolgt wird (FROST & YARROW 2007). Viele der späteren Darstellungen beziehen sich im Wesentlichen auf Frost & Yarrow, etwa Dörger und Nickel (2008). Letztere liefern zudem einen guten Überblick über die entsprechende deutschsprachige Entwicklung. Eine detaillierte und in vielen Aspekten über Frost und Yarrow hinausgehende Geschichte des Improvisationstheaters findet sich auch in Sawyers Buch „Improvised Dialogues“(2003), das zudem den großen Vorteil einer konsequenten theoretischen Einbettung hat. Allerdings bezieht es sich nur auf die Chicagoer Improvisationsschule. Einen kurzen geschichtlichen Abriss findet man auch bei Ebert (1999). Sein Gegenstand ist jedoch nicht das Improvisationstheater als eigene Theaterform, sondern die Rolle
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der Improvisation im inszenierenden Theater als „modellierende Improvisation“ (EBERT 1999, S. 36). Die Konzepte haben sich über einen langen Zeitraum entwickelt, wobei die Zeit zwischen ca. 1950 und ca. 1980 entscheidend gewesen sein dürfte. Gewöhnlich beginnen Darstellungen zur Geschichte des Improvisationstheaters bei der Commedia dell’ arte. So fassen die Improvisationslehrer Salinsky und White in ihrem Überblick über das aktuelle Improvisationstheater salopp zusammen: „Almost any book on improvisation will tell you that improvised theatre began with the Commedia dell’ arte – and for once, ‚any book‘ is right.“ (SALINSKY & WHITE 2008, S. 2). Die Commedia dell’ arte war die bei Weitem einflussreichste Form des Stegreiftheaters. Sie entstand um 1550 und beeinflusste bis zu ihrem Verschwinden ab ca. 1750 nicht nur fast alle europäischen Theaterformen, sondern auch die Entstehung des modernen Literaturtheaters (MEHNERT 2003). Eine wichtige Linie führte über Jacques Copeau zum modernen Improvisationstheater (FROST & YARROW 2007, S. 25-39) und beruht auf seinen Versuchen einer Wiederbelebung der Commedia dell’ arte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen er Masken, Charaktertypen und Improvisation aufgriff. Eine weitere Linie führt über Russlands Theaterreformer Wachtangow zu Keith Johnstone in England. Sowohl Johnstones ‚Herr/Knecht-Spiele‘ als auch die ‚Experten-Spiele‘ dürften diesem Rückgriff geschuldet sein, ebenso wie seine Bevorzugung des Grotesken im Improvisationstheater (Johnstone im Vorwort zu GORTSCHAKOW 2008, S. 8). Einen direkten Einfluss hatte die Commedia dell’ arte weiterhin auf die Entstehung der Compass Players, das erste professionelle Improvisationstheater, das 1955 in Chicago von David Shepherd gegründet wurde: „Shepherd’s original idea was for a theatre derived (in inspiration) from the Commedia dell’ arte.“ (FROST & YARROW 2007, S. 52) Shepherd ging es vor allem um die Schaffung eines neuen Volkstheaters. Er übernahm von der Commedia dell’ arte die Reduktion auf wenige Soziotypen, die Verwendung von Szenarios – und eben die Improvisation (FROST & YARROW 2007, S. 52). Trotz des häufigen Verweises auf die Commedia dell’ arte in den Büchern zum Improvisationstheater lassen sich schon bei oberflächlicher Betrachtung kaum Ähnlichkeiten in den Aufführungen von Commedia dell’ arte und zeitgenössischem Improvisationstheater finden. Wo jene mit opulentem Bühnenbild, stereotypen Figuren, weitgehend abgesprochenen Plots, bunten Kostümen und Masken arbeitet, bemüht sich dieses um eine weitgehende Neutralität von Bühne und Bühnenkleidung, verzichtet auf Requisiten, abgesprochene Plots und vorgeformte Figuren. Das zeitgenössische Improvisationstheater folgt einem ganz anderen Ideal als die Commedia dell’ arte, nämlich dem der freien Improvisation, das sich, wie dargestellt vermutlich erst in der Frühromantik auszuformen begann. Der Verweis auf die Commedia dell’ arte mag vielfach eher dem Wunsch geschuldet sein, an eine erfolgreiche Theatertradition anzuschließen als einer sorgfältigen Analyse. Die
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Commedia dell’ arte entfaltete ihren Einfluss wohl eher indirekt über die historischen Theateravantgarden. Deren Einfluss auf das aktuelle Improvisationstheater ist nachweisbar groß und dürfte bisher noch unterschätzt worden sein. Ihre Rezeption der Commedia dell’ arte hat, ergänzt um politisch-ästhetischen Forderungen, das moderne Improvisationstheater entscheidend geprägt. Diese These gehört im Gegensatz zum Verweis auf die Commedia dell’ arte nicht zu den selbstverständlichen Bezügen des Improvisationstheaters. Sie wird deshalb im folgenden Kapitel durch Bezugnahme auf Wachtingow, Copeau und Moreno ausgeführt: Die historischen Avantgarden legten mit ihrer Kritik am Naturalismus und ihren Forderungen nach einer Retheatralisierung des Theaters die Grundlage für die erste Welle des Improvisationstheaters im 20. Jahrhundert (FROST & YARROW 2007, DÖRGER & NICKEL 2008). Sie stellten die alten Formen in Frage, insbesondere die Arbeitsteilung und Rollenteilung von Autor, Regisseur, Schauspieler und Zuschauer. Sie wandten sich gegen das textzentrierte Theater und gegen den Werkbegriff insgesamt, wodurch neue kollektive und improvisierende Produktionsformen in den Blick gerieten. Dies führte zu einer neuen theoretischen und experimentellen Beschäftigung mit der Commedia dell’ arte durch Craig in England und Italien, Ivsewolod Meyerhold und Jewgeni Wachtangow in Russland und Jacques Copeau und Suzanne Bing in Frankreich (FROST & YARROW 2007, S. 20-29). Wachtangow wurde dabei eine wichtige Quelle für Johnstone (Johnstone im Vorwort von GORTSCHAKOW 2008, S. 7-9), während Copeaus und Bings Konzepte Einfluss auf Viola Spolin hatten (SAWYER 2003, S. 24). Der deutsche Expressionismus wiederum stand Pate bei Morenos Stegreiftheater 1922-23 in Wien. Die verschiedenen Avantgarden formulierten zentrale Forderungen an ein neues Theater und bereiteten damit den Boden für das Improvisationstheater. Eine Avantgarderichtung, nämlich die Dada-Bewegung, kann für sich in Anspruch nehmen, die ersten Improvisationsaufführungen der Moderne hervorgebracht zu haben (LANDGRAF 2003, S. 6). Sie experimentierte mit Elementen, die vom Improvisationstheater später implizit und explizit aufgegriffen wurden: Hierzu gehört der Einsatz des Zufall als schöpferisches Prinzip, die Suche nach dem Sinn im Unsinn, die Dekonstruktion von Sprache zu Lauten und Lautgedichten (beim Improvisationstheater meist bezeichnet als ‚Gromolo-Spiele‘). Die Dada-Bewegung wurde zudem getragen von einer Grundhaltung des spielerischen Ernstes und der ernsten Spielerei, die deutliche Parallelen zum Improvisationstheater aufweist. Mick Napier, der Leiter des Annoyance Theater, verweist explizit auf seinen Bezug zu Dada (NAPIER 2004, S. 86). Die Kritik der Avantgarden am herrschenden Kunstbegriff führte weiterhin zu einer Öffnung des Theaters hin zu ‚trivialen‘ Darstellungsformen wie Varieté, Zirkus und Revue. Futuristen und Dadaisten forderten eine Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Trivialkultur. Insbesondere die Futuristen sahen im Varieté mit
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seinen sinnlichen, erregenden und schockierenden Wirkungen die einzig zeitgemäße Form des Theaters. Das Nummernprogramm fand als Ordnungsprinzip der Aufführung Eingang ins Theater. In Deutschland entstand das politische Kabarett und fand über Piscator und Brecht zu einer theatralen Form. Diese Form stand wiederum Pate bei der Gründung des ersten professionellen Improvisationstheaters 1955 in Chicago durch David Shepherd und Paul Sills (FROST & YARROW 2007, S. 52). Den Einfluss des deutschen Kabaretts auf das amerikanische Improvisationstheater betont auch Sawyer (SAWYER 2003, S. 21). Auf diesem Hintergrund habe sich die besondere Mischung aus populärer Kultur und Intellektualismus entwickelt, die für das Improvisationstheater in Chicago typisch geworden sei. Auch die Organisation von Improvisationstheateraufführungen als Abfolge von einzelnen Nummern ist als Folge dieses Einflusses zu verstehen. Teilweise ist die Praxis des Improvisationstheaters bei der überaus erfolgreichen Nummern-Show stehengeblieben, teilweise wurde die Fragmentierung der Bühnenhandlung weitergetrieben, analog zur Entwicklung einer performativen Ästhetik im gesamten Theaterbereich. Die radikale Infragestellung sämtlicher Konstanten des bisherigen Theaters betraf auch die Rolle des Zuschauers im Theater. So forderten die Futuristen die Mobilisierung der Zuschauer durch Überraschung und Wahrnehmungsschock. Im Zuschauerraum sollte beispielsweise durch gezielte Provokationen Unruhe und Chaos hergestellt werden. Die Expressionisten zielten demgegenüber auf die Einbeziehung der Zuschauer in das ‚Theaterfest‘. Im politischen Theater Piscators und Brechts wiederum sollte das Publikum zum Nachdenken und zur Ausbildung eines politischen Bewusstseins angeregt werden. Wenn auch die Vorstellungen der historischen Avantgarden weit auseinanderlagen, so gab es doch eine Übereinstimmung in der Ablehnung des passiven, an Bühnenillusionen hingegebenen Zuschauers und in dem Versuch, diesen stärker aktiv in die Aufführung einzubinden. Dies sind auch die Grundlagen für die Aktivierung und die Partizipation der Zuschauer im modernen Improvisationstheater. Die Rückbezüge auf Forderungen der Avantgarde werden in den Diskursen um das Improvisationstheater kaum noch hergestellt, aber die relativ plötzliche Entwicklung des aktuellen Improvisationstheaters ab 1950 ist ohne sie nicht zu verstehen. Die Geschichte der Konzepte des modernen Improvisationstheaters ab 1950 ist besser dokumentiert, wird aber leider selektiv erzählt, je nachdem ob und wann sich die unmittelbar Beteiligten öffentlich äußerten und zu welcher Schule sie gehören. Besonders gut dokumentiert ist die Geschichte des US-amerikanischen Improvisationstheaters ab den 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts in Chicago. Bereits 1978 legte Jeffrey Sweet mit „Something wonderful right away“ eine Rekonstruktion der Anfänge der Chicagoer Improvisationsrichtung vor. Eine weitere Darstellung dieses Themas lieferte Coleman 1991 mit „The Compass: The improvisational theatre that revolutionized American comedy“. Kritisch ist anzumerken, dass sich von Anfang an eine gewisse Glorifizierung des Ansatzes findet, die von Buch zu Buch weiterge-
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reicht wurde und wird (SWEET 1978, COLEMAN 1991, HALPERN 2006, JOHNSON 2008). Gleichzeitig ignoriert die Geschichtsschreibung der Chicagoer Richtung alles, was vor ihr und neben ihr existiert: Moreno findet praktisch keine Erwähnung und Johnstone wird kaum honoriert. Oft wird der Eindruck erweckt, das Improvisationstheater sei mehr oder weniger von Viola Spolin, Paul Sills und Del Close erfunden worden. Auf der anderen Seite findet sich die britisch-kanadische Improvisationstradition, die praktisch ausschließlich auf Johnstone beruht. Hier ist die Quellenlage ebenfalls schwierig. Zwar schildert Johnstone seinen eigenen Werdegang detailliert, jedoch gibt es keine alternativen Quellen. Er sagt zudem fast nichts über seine theaterhistorischen Bezüge aus. Es liegen Andeutungen zu einem Kontakt mit Samuel Beckett vor (JOHNSTONE 2004, S. 33) und seine Essays scheinen von einer absurden oder surrealistischen Ästhetik inspiriert, einen expliziten Bezug stellt Johnstone jedoch nicht her. Auch hier könnte man den Eindruck gewinnen, er habe seinen gesamten Ansatz aus dem Nichts erschaffen. Erst sehr spät und versteckt in einem Vorwort macht Johnstone eine Referenz zu Jewgeni Wachtangow und damit zur historischen Avantgarde in Russland. Dieser Spur wird daher in diesem Kapitel nachgegangen. Die Situation wird für die Forschung nicht einfacher dadurch, dass beide Improvisationstheater-Schulen sich bis heute ignorieren oder abwerten, obwohl große Gemeinsamkeiten herrschen. Deborah White und Tom Salinsky haben 2008 den Versuch unternommen, die Überschneidungen und Unterschiede beider Richtungen herauszuarbeiten. Insbesondere die Suche nach Gemeinsamkeiten ist aus wissenschaftlicher Sicht interessant, da sie Schlüsse auf konstituierende Merkmale der Theaterform zulassen. Die nachfolgende Untersuchung geht von einer Traditionslinie aus, die sich ungefähr wie in Abbildung 10 darstellt – selbstverständlich stellt die Abbildung nur eine grobe Vereinfachung dar:
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Abb. 1: Überblick über die Geschichte des Improvisationstheaters
(Quelle: Eigene Darstellung)
Die Kästen stellen wichtige Protagonisten bzw. Gruppen von Protagonisten des Improvisationstheaters dar, die Pfeile repräsentieren Einflüsse. Die Abbildung macht deutlich, dass das aktuelle Improvisationstheater im deutschsprachigen Raum verschiedene Quellen integriert hat: Während Johnstone durch langjährige Workshoptätigkeit einen direkten Einfluss auf das deutsche Improvisationstheater genommen hat, haben sich die Techniken und Überzeugungen der Chicagoer Schu-
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le eher indirekt durch Bücher verbreitet. Einige Einflüsse – wie die Ansätze von Augusto Boal, dem Playbacktheater und dem Actiontheater – sind eigentlich inhaltlich kaum verknüpft, sondern gehen einfach auf die Übertragung von Übungen und Spielen zurück, ohne die zugrundeliegenden Konzepte zu berücksichtigen. Andere Ansätze wie der von Paul Pörtner oder der von Dario Fo und Franca Rame haben in Deutschland keine Anschlüsse gefunden und spielen daher in der Improvisationsbewegung keine Rolle mehr. Es haben auch weniger konkrete Einflüsse eine Rolle gespielt wie das Kinderspiel, der improvisierende Tanz, die Psychotherapie, die improvisierende Musik und andere (MEYER 2008). Die wichtigsten Knotenpunkte sind ohne Zweifel Jakob Moreno, Viola Spolin, Keith Johnstone und Del Close. Teilweise sind Querverbindungen nicht mehr eindeutig nachweisbar: Spolin verwendet zwar Begriffe aus Morenos Soziometrie, führt ihn jedoch nirgends als Quelle an (SAWYER 2003, S. 22). Johnstone verweist auf Wachtangow (Johnstone in GORTSCHAKOW 2008, S.7), bestreitet aber eine Beeinflussung durch Spolin (JOHNSTONE 2004, S. 39). Nur Close ist eindeutig sowohl von Spolin als auch von Johnstone beeinflusst, hat mit beiden persönlich Kontakt gehabt und verweist auf diese Quellen. Die vorliegende Arbeit verfolgt nicht alle dargestellten Zusammenhänge. So wird der Bereich des therapeutischen Theaters von Iljine, Fox und Salas vollständig ausgeklammert, ebenso Dario Fo und Franca Rame, weil keine Anknüpfungspunkte an das aktuelle Improvisationstheater bekannt sind. Paul Pörtner wird aus demselben Grund ebenfalls nur am Rande berücksichtigt, obwohl seine Arbeit eine Pionierleistung ist. Ruth Zaporah und Augusto Boal haben sicherlich mehr Einfluss auf das deutschsprachige Improvisationstheater als diese Arbeit widerspiegelt. Die Untersuchung konzentriert sich jedoch auf diejenigen Theoretiker, auf deren Beiträge sich die Improvisationstheater-Community selber maßgeblich beruft: Spolin, Johnstone und Close. Darüber hinaus bemüht sie sich um das Zurückverfolgen von Einflüssen, indem sie Moreno und Wachtangow miteinbezieht, wodurch die Verbindung zu den historischen Theateravantgarden erst sichtbar wird.
1 E INZELBEITRÄGE
ZUM I MPROVISATIONSTHEATER
Im Folgenden werden die wichtigsten Einzelbeiträge zur Konzeptbildung des Improvisationstheaters dargestellt. Dies sind zum einen die ‚Klassiker‘, zum anderen aber auch weniger stark rezipierte Theoretiker und Praktiker, die von Bedeutung sind, weil sie Verbindungsglieder zu älteren Diskursen darstellen. Dieser Teil der Arbeit hat einen eigenständigen Wert: Die entsprechenden Konzepte wurden zwar schon mehrfach beschrieben, jedoch nicht zueinander in Beziehung gesetzt und ausgewertet. Die bisher vorliegenden Darstellungen stellen nur einzelne Richtungen
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dar (SAWYER 2003, JOHNSTONE 1998) oder fokussieren nicht auf das Improvisationstheater als Aufführungsform (FFROST & YARROW 2007). An zwei Stellen wird auch Material einbezogen, das bisher nur unzureichend oder gar nicht aufgearbeitet wurde: Erstens wird der Beitrag von Moreno ausführlich dargestellt, da seine Bedeutung für das Improvisationstheater bisher stark unterbewertet wird. Zweitens wird die Arbeit von Jewgeni Wachtangow hier erstmals im Kontext von Improvisationstheater detailliert untersucht, was auf einen Hinweis von Johnstone (JOHNSTONE 2008) zurückzuführen ist. Dadurch wird erstmals über Moreno und Wachtangow eine Brücke zu den historischen Avantgarden hergestellt. Die Geschichte beider Improvisationsschulen wird damit stärker in einen Kontext eingebettet als diese es jeweils selber tun. Kanonisch sind die Ansätze von Spolin und Johnstone, dagegen wurde der Beitrag Morenos bisher weitgehend ignoriert und der Beitrag von Close noch relativ wenig aufgearbeitet. Sie werden hier erstmals ausführlich dargestellt. Eher am Rand wird die Rolle von Jacques Copeau und Suzanne Bing aufgegriffen, die mutmaßlich ein wichtiges Bindeglied zur amerikanischen Improvisationsschule darstellen. 1.1 Jewgeni Wachtangow (1883-1922): Der Regisseur als Trickster In seinem Vorwort zu Nikolai Gortschakows „Die Wachtangow-Methode“ (JOHNSTONE 2008) schreibt Johnstone, dass er das Buch in den 50-er Jahren gelesen habe und dass es seine Arbeit unbewusst geprägt habe: „Auf seinen Seiten wimmelt es von Ideen, die ich für meine eigenen hielt.“ (Johnstone in GORTSCHAKOW 2008, S.7).1 Es handelt sich hier um einen der wenigen Hinweise Johnstones auf fremde Einflüsse, da er sich sonst gern als Autodidakt gibt. Von Wachtangow habe er nicht nur gelernt, dass „ein Regisseur einfach voller Tricks stecken muss“ (Johnstone in GORTSCHAKOW 2008, S.8), sondern er habe viele von dessen Tricks auch ganz direkt übernommen und zur Grundlage seines eigenen Ansatzes gemacht. Wachtangow war ein Schüler Stanislawskis, der sich zunächst stark mit dessen Schauspielmethode identifizierte (WARDETZKY 2008). Er entfernte sich jedoch ab etwa 1916 immer weiter von Stanislawskis System und von dessen Inszenierungsstil. Dabei spielte die Improvisation für die Erarbeitung der Inszenierung eine zunehmend größere Rolle. Laut Frost und Yarrow (2007) war es Stanislawskis Freund Leopold Sulerzhitsky, der als Erster die Improvisation im Ersten Studio des Moskauer Künstlertheaters einführte und damit bei der jüngeren Generation auf begeisterte Aufnahme stieß. Hierzu gehörten neben Wachtangow auch Michael
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Johnstone bezieht sich dabei vermutlich auf die russische Originalausgabe, die 1957 in Moskau erschien.
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Chechow, Maria Ouspenskaya und Richard Boleslawsky (FROST & YARROW 2007, S. 21). Die Erfahrung der Revolution ließ Wachtangow weiter skeptisch werden gegenüber den herkömmlichen Stücken (WARDETZKY 2008, S. 287). Neue Stücke gab es jedoch noch nicht und so begann er, Improvisation als eine Lösung dieses Problems zu sehen. Zum Konflikt mit Stanislawski kam es 1918 als Wachtangow das Moskauer Künstlerische Volkstheater gründete. Danach lehrte und inszenierte Wachtangow bis zu seinem frühen Tod 1922 nach eine Theaterauffassung, die sich von denen Stanislawskis drastisch unterschied (WARDETZKY 2008). Er kritisierte Stanislawskis Moskauer Künstlertheater als den Tod des „echten Theaters“ und nahm dabei eine Position ein, die nicht weit von der Meyerholds entfernt war: „In dem Moment, als das Moskauer Künstlerische Theater entstand, wurde das echte Theater vernichtet, ging es verloren, geriet es in Verfall und nahm eine wesensfremde Form an. Theater-Schematismus und schauspielerische Klischees zerfraßen sein Inneres. Das Theater wurde zu einer unerträglichen Plattheit herabgewürdigt. [...] Sie waren bestrebt, dem Schauspieler alles Artistische in seinem Spiel zu nehmen, alles Gestische [...] Sie verboten den Schauspielern, die Vorgänge zu zeigen und lehrten sie, sich einzufühlen.“ (Wachtangow 1921/22 zitiert in WARDETZKY 2008, S. 292)
Während Stanislawski die Wahrheit des Erlebens zum zentralen Schauspielparadigma erhob, reklamierte Wachtangow – ganz ähnlich wie Meyerhold – die Autonomie theatraler Wirkungen für das Theater, wie sie – ihrer Auffassung nach – im Volkstheater, im Zirkus und beim Wanderschauspieler früherer Zeiten das Schauspiel geprägt hatten (WARDETZKY 2008, S.277 f.). Auf der Suche nach solchen Traditionen stieß Wachtangow auf die Commedia dell’ arte. Seine Inszenierung von Prinzessin Turandot (1922) stellt einen Versuch dar, an diese anzuknüpfen. Zunehmend entfernte er sich vom Anspruch des Naturalismus, die Wirklichkeit so genau wie möglich abzubilden und widmete stattdessen seine Aufmerksamkeit der Bühnenrealität als einer konstruierten Realität aus Phantasie, Wirklichkeit und Spiel. Die Orientierung am geschriebenen Drama wurde kritischer und distanzierter. Wachtangow suchte nach Zwischenräumen und Freiräumen, in denen der Regisseur und die Schauspieler in ihrem künstlerischen Schaffen größere Freiheiten hätten. Auf diese Weise fand auch die Idee des Improvisierens ihren Weg in die Arbeit Wachtangows und wurde zu einem visionären Traum: „Irgendwann werden Stücke nicht mehr von Autoren geschrieben ... Das künstlerische Produkt wird vom Schauspieler geschaffen werden ... Der Schauspieler muss nicht wissen, was wird, wenn er auf die Bühne geht. Er muss so auf die Bühne gehen, wie wir im Leben zu einem Gespräch oder zu einer Begegnung gehen ... Der Schauspieler muss so erzogen sein, dass man ihm vor dem Auftritt nur zu sagen braucht, was er zu spielen hat: Seine Vergangen-
56 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS heit, wie seine Beziehung zu den anderen ist, was seine Aufgaben sind. Dann muss er spielen können. Die Emotionen, Worte usw. kommen dann von selbst. Das wäre echte Commedia dell’ arte. Das ist das Ideal.“ (Wachtangow 1916, zitiert nach WARDETZKY 2008, S. 305)
Zunehmend sah Wachtangow in der Improvisation, in der Unwiederholbarkeit, das eigentliche „ewig lebende ‚Körnchen‘ der Theaterkunst“ (Wachtangow in GORTSCHAKOW 2008, S. 204). Er arbeitete bis zu seinem Tod zwar weiterhin mit Dramentexten, jedoch galt seine Suche vorrangig Abfolgen von physischen Aktionen, die unter den Text gelegt werden konnten, um diesen zu theatralisieren. Improvisation wurde dabei zu Wachtangows fundamentaler Experimentiertechnik. Er entwickelte seine Stücke, indem er Serien von Improvisationen durchführen ließ, von denen er dann die Passendsten auswählte, um sie für das Stück zu fixieren (Hall in FROST & YARROW 2007, Anmerkung 2, S. 222). Wachtangow sah Improvisation zwar noch nicht als Aufführungstechnik, aber die Art, wie er seine Schauspieler zum Improvisieren brachte, wurde von seinen Schülern gut dokumentiert und kann als eine Anleitung zum Improvisieren gelesen werden. In großem Tempo entdeckte er in seiner kurzen letzten Schaffensperiode 1921/ 22 bereits sehr viele der später für das moderne Improvisationstheater wesentlichen Techniken und Grundhaltungen. Johnstone zählt dazu den „spielerischen Ernst“ Wachtangows, seinen Kampf gegen den Egoismus der Studenten, seine Verwendung des Grotesken, sein Beharren auf positiven Entscheidungen und seine Betonung der Vitalität der Darsteller (JOHNSTONE 2008, S. 7). Vor allem aber ist es die Verwendung von ‚Tricks‘ durch den Regisseur, die Johnstone übernommen hat. Gemeint sind Schauspielanweisungen, die eine Art Abkürzung auf dem Weg zu einem gewünschten schauspielerischen Ergebnis herstellen. Sie entfernen sich weit von Forderungen nach Wahrhaftigkeit beim Schauspieler, führen vielmehr zu einer völlig anderen Arbeitsweise, in welcher die Lernprozesse selbstorganisierend ablaufen und zu plötzlichen Durchbrüchen führen. Wachtangow war offenbar meisterhaft in der Lage, solche Tricks zu erfinden, um den Schülern ein bestimmtes Erlebnis zu verschaffen, ohne sie durch langwierige innerliche Vorbereitungen zu ermüden. Auch die Rolle des Regisseurs veränderte sich damit grundlegend: Er ist nicht mehr autonomer Designer der Inszenierung, sondern Katalysator und Begleiter eines spielerischen, experimentellen Suchprozesses. Die Interaktion zwischen Regisseur und Schauspieler wird selber zu einem improvisatorischen Akt; das spielerische Experimentieren wird für die Schauspielschüler zum bewegenden Erlebnis, der Regisseur wird zum ‚Trickster‘, der alle Register zieht, um eine Erfahrung herbeizuführen, die er selber nicht unbedingt vorhersehen kann und will. Das folgende Beispiel soll diese Arbeitsweise verdeutlichen. Es stammt aus den Aufzeichnungen Gortschakows, eines Schülers von Wachtangow (GORTSCHAKOW 2008, S. 110-114). Er schildert darin Wachtangows Arbeit an Das Jubiläum
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von Tschechow. Wachtangow begann damit, dass er die Bühne mit Möbeln vollstellte, so dass sie sich kaum bewegen konnten. Die Schauspieler sahen sich in ihren Aktionsmöglichkeiten eingeschränkt und mussten neue Wege finden, um die räumlichen Bedürfnisse ihrer Figuren zu befriedigen, indem sie auswichen oder über Möbel kletterten. Gleichzeitig war der Raum nun so eingeengt, dass jede physische Aktion der einen Figur eine unmittelbare Auswirkung auf die andere Figur hatte, denn jede räumliche Veränderung einer Figur schränkte den Raum einer anderen Figur so sehr ein, dass sie sich ebenfalls bewegen musste. Dies alles formulierte Wachtangow nicht aus, sondern er ließ es die Schauspieler selber entdecken. Er beschränkte sich zunächst darauf, das Spielfeld zu definieren. Die Möbel standen als Hindernisse im Weg und zwangen die Schauspieler zu ungewöhnlichen Aktionen. Bezeichnend ist die Tatsache, dass die Schauspieler auf der nun vollgestellten Bühne sofort körperliche Impulse hatten, die sie auch benennen konnten (GORTSCHAKOW 2008, S. 110-114). Wachtangow ließ das Zusammenspiel sich ‚von selbst‘ entwickeln. Er stellte mit seinen Regieanweisungen lediglich zwei Dinge sicher: Erstens, dass die einzelnen Handlungen durch Hindernisse verkompliziert wurden, und zweitens, dass jede Handlung des einen Spielers eine Handlung eines anderen Spielers hervorrufen musste. Unter diesen Prämissen entstand innerhalb kürzester Zeit ein Spiel, das im skizzierten Beispiel leicht als das uralte Kinderspiel ‚Verstecken und Suchen‘ zu erkennen ist. Sobald das zugrunde liegende Spiel gefunden war, waren alle physischen Handlungen aufeinander bezogen und den Teilnehmern unmittelbar klar: Eine Figur suchte nach einem Versteck, die andere Figur stöbert sie dort auf. Diese Dynamik musste danach nicht mehr in Einzelaktionen zerlegt werden und konnten auch unter ganz anderen Umständen, etwa in einer anderen Bühneneinrichtung, verwirklicht werden. Sobald die Schauspieler das Spiel erfasst hatten, konnten sie spontan körperlich agieren und auch mit Abweichungen umgehen. Das spontan gefundene Spiel vermittelt bei Wachtangow daher zwischen dem festgelegten Text und der Freiheit des Schauspielers. Die Ebene des Spiels wird dabei als unter dem Text liegend gedacht, also als eine Art Subtext. Gortschakow beschreibt das Erlebnis, das mit dem Finden des Spiels verknüpft war, als ein bewegendes Aha-Erlebnis (GORTSCHAKOW 2008, S. 114): Es löste Befreiung, Begeisterung und spontanes Verstehen aus. Über das Spiel begriffen die Schauspieler schlagartig die innere Dynamik der Szene. Die Rolle des bewussten Denkens stufte Wachtangow dagegen als eher gering ein. So kommentierte er eine Improvisation eines Schülers: „Als Sie Ihre Improvisation zum ersten Mal begannen, da haben Sie sich etwas ausgedacht. Ich verneine nicht die Rolle des Denkens, der Erfindung und der Idee, aber für die augenblickliche Improvisation, und gerade darum ging es, ist nicht Erfindung notwendig, sondern
58 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS Handeln. Eine kluge, eine dumme, eine naive, eine einfache oder eine komplizierte – ganz gleich was für eine – aber eine Handlung.“ (GORTSCHAKOW 2008, S. 196)
Für Wachtangow ging es – genau wie später Johnstone – nicht darum, dass der Schauspieler kluge, intelligente Szenen hervorbringt, sondern darum, dass er in einen schöpferischen Zustand gerät. Das Wiederholen von gelernten Texten und Handlungen ist diesem schöpferischen Zustand nicht förderlich. Nachdem ein Schüler beim Versuch scheiterte, eine gelungene Improvisation zu wiederholen, bemerkte Wachtangow: „Beim letzten Mal entstand bei Ihnen alles hier, im Moment, an diesem Ort. Und es war einmalig und riß uns mit, obwohl Sie uns Bagatellen zeigten. Diese Bagatellen entstanden aus der Begeisterung heraus, aus dem richtigen schöpferischen Zustand des Schauspielers. Heute ist weder das eine noch das andere da.“ (Wachtangow zit. in GORTSCHAKOW 2008, S. 205)
Wachtangow stellte nicht explizite Forderungen an die Schauspieler, sondern schuf eine Lernumgebung, in der Probleme aufgeworfen und gelöst werden konnten. Auffällig unterscheidet sich der dadurch ausgelöste Prozess des Lernens von herkömmlichen Methoden: Er geschieht plötzlich und unvermittelt, über Durchbrüche und Aha-Erlebnisse. Ist die Entdeckung einmal gemacht, so erscheint das Neue ganz einfach und selbstverständlich. Es hat eine qualitative Neuorganisation stattgefunden. Von Wachtangows neuem Regie- und Schauspielstil in Russland führt via Johnstone eine direkte Linie zur britisch-kanadischen Improvisationstradition (JOHNSTONE 2008). Weiterhin ähnelt sein Vorgehen auf verblüffende Weise der Lehrmethode von Spolin. Eine direkte Querverbindung ist jedoch nicht bekannt, es dürfte sich also um voneinander unabhängige parallele Entdeckungen handeln. Wesentlich im vorliegenden Kontext ist, dass Wachtangow Bedingungen schuf, unter denen selbstorganisierend bestimmte Muster entstehen konnten. Rückblickend kann man sie sinnvoll als Spiele bezeichnen, obwohl Wachtangow diesen Begriff selber nicht benutzte. Weiterhin wurden die Spiele nicht erdacht und geplant, sondern im Arbeitsprozess gefunden. Der Beitrag Wachtangows zur Konzeptbildung beim Improvisationstheater umfasst: 1. die radikale Kritik am naturalistischen bzw. psychologisch-realistischen Schauspielstil 2. die utopistische Aufladung des improvisierenden Schauspielers 3. den Rückgriff auf Commedia dell’ arte, Jahrmarktstheater, Varieté und andere Formen der ‚Trivialkultur‘
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4. die Einführung von Tricks als Methoden zur selbstorganisierenden Regie- und Schauspielarbeit 1.2 Jacob Levy Moreno (1889-1974): Das Theater des Augenblicks Etwa zeitgleich mit Wachtangows Experimenten in Russland entwickelte Jacob Moreno in Wien die Vision einer Theaterrevolution, die das gesamte textbasierte Theater für tot erklärte und diesem den radikalen Entwurf eines Stegreiftheaters entgegensetzte. Morenos Arbeiten zum Stegreiftheater sind ein eigenständiger, wichtiger Beitrag zur Geschichte des Improvisationstheaters. Da er 1925 in die USA emigrierte und dort seine Stegreifaufführungen wiederholte, hatte er auch einen direkten Einfluss auf die dort entstehende Kultur der Spontanität, die ab den 50-er Jahren zu einer Leitkultur werden sollte (MEYER 2008). Moreno selber reklamiert einen Einfluss auf das Group Theatre und auf verschiedene Stanislawski Anhänger (MORENO 1970, S. IX). Das von ihm entwickelte Psychodrama stand immer wieder Pate bei der Entwicklung von Improvisationsansätzen, die ins Paratheater tendieren. Deutliche Anleihen findet man im Playback-Theater nach Jonathan Fox (FOX 1996) und Jo Salas (SALAS, 2009), starke Ähnlichkeiten auch beim Life-Game von Johnstone, hier allerdings ohne explizite Referenz auf Moreno. Aufgegriffen wurde Morenos Arbeit auch durch den Theaterautor Pörtner in den 70-er Jahren, der eigenständige Experimente zum spontanen Theater durchführte (PÖRTNER 1972). Moreno hat seine Theaterversuche bereits 1924 in „Das Stegreiftheater“ auf Deutsch veröffentlicht, 1947 erschien das Buch auf Englisch und 1970 wurde es mit einigen Erläuterungen wieder herausgegeben. Eine Rekonstruktion seiner improvisatorischen Theaterarbeit findet sich bei Ulrike Fangauf (in BUER 1999, S. 95 ff) sowie in einer Dissertation von Scheiffele (1995). Morenos Beitrag ist – ähnlich wie die Beiträge von Spolin und Johnston – der Beitrag eines Querdenkers und entstammt nicht dem Diskurssystem Theater. Moreno wurde 1889 im heutigen Rumänien geboren und studierte in Wien Medizin von 1908 bis 1917. Er schloss sein Studium als Doktor der Medizin ab, verstand sich in der Folge jedoch mehr als Künstler, Literat und Theatermacher (BUER 1999, S. 1724). Wien war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eines der vitalen Zentren wissenschaftlicher und künstlerischer Erneuerung. Moreno nahm viele Einflüsse auf und verarbeitete sie weiter. Ursprünglich im jüdischen Denken erzogen erweiterte er seine religiöse Auffassung zu einer „experimentellen Theologie“ (Geisler in BUER 1999, S. 59). Religiöse Themen blieben in Morenos Arbeit immer von Bedeutung, die Grundgeste des Erlösens zieht sich fast missionarisch durch sein Werk. Weiterhin setzte er sich mit Freuds Psychoanalyse auseinander, mit dem Marxismus, dem Anarchismus, der Philosophie von Henri Bergson und der Mystik (BUER 1999, S. 13-93). Künstlerisch prägend wurde für Moreno jedoch der
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deutsche Expressionismus: Er wurde Herausgeber der expressionistischen Zeitschriften Der Daimon und Der neue Daimon, wo er Gedichte und Manifeste von Franz Werfel, Max Brod, Belá Balázs und vielen anderen veröffentlichte, sowie eigene Gedichte und Manifeste. Morenos eigene künstlerische Produktion in Wien (etwa zwischen 1916 und 1925) besteht aus Romanen, Gedichten und Manifesten und ist expressionistisch geprägt. Ob Moreno über das Wiener Pawlatschentheater eine späte Form der Commedia dell’ arte direkt kennengelernt hat – wie dies Dörger vermutet (DÖRGER & NICKEL 2008, S.25) – ist nicht belegt, erscheint jedoch angesichts Morenos Offenheit für alle Einflüsse als durchaus möglich, zumal er mehrmals auf die Commedia dell’ arte Bezug nimmt (MORENO 1970, S. 65). Im Gegensatz zur prämeditierten Improvisation der Commedia dell’ arte träumte Moreno von einer freien Improvisation (die er abweichend vom heutigen Sprachgebrauch als ‚Stegreifspiel‘ bezeichnet): „Die Schauspieler der Commedia dell’ arte waren Improvisatoren, nicht Stegreifspieler. Nachdem ein erfinderischer Kopf die Typen geprägt hatte, waren die Verhaltensweisen und Redensarten prästabilisiert, der Schauspieler variierte den in die Situation passenden Dialog. Die Improvisation hatte vorgegebene Richtung. Das Stegreifspiel aber muss voraussetzungslos produziert werden, die Typen, die Worte, das Zusammenspiel.“ (MORENO 1970, S. 65)
Fast alle Berichte über die Anfänge seiner Theaterversuche stammen von Moreno selber. Alternative Quellen sind kaum noch zu erschließen (SCHEIFFELE 1995). Moreno schildert die Ursprünge seines Theaters in Stegreifspielen, die er als Kind mit Freunden gespielt habe, und in späteren Stegreifexperimenten, die er ab 1911 in öffentlichen Parks mit spielenden Kindern durchgeführt habe. Die kindliche Fähigkeit zum Spiel stellt in seinem Theateransatz das Ideal dar. Im Kind manifestiert sich Morenos Vorstellung vom Menschen als „gefallenem Gott“, dessen Schöpferkraft zunächst noch ungebrochen sei, jedoch im Laufe des Lebens abstumpfe: „Meine Arbeit [...], ist die Psychotherapie der gefallenen Götter. Als Kinder haben wir eine gottähnliche Empfindung von Kraft, normalen Größenwahn. Das Kind fühlt sich eins mit der ganzen Welt; jedes Ereignis scheint das Ergebnis seiner eigenen spontanen Schöpfung zu sein. Aber da die Gesellschaft Forderungen stellt, schrumpfen unsere grenzenlosen Horizonte, wir fühlen uns vermindert.“ (Moreno zitiert nach Ulrike Fangauf in BUER 1999, S. 96)
Die kindliche Kreativität spielt auch in den Ansätzen von Spolin und Johnstone eine zentrale Rolle, Moreno dürfte jedoch der Erste gewesen sein, der die Verknüpfung von Kinderspiel und Improvisationstheater herstellte und diesen Ansatz ausdrücklich auch als künstlerischen Weg propagierte. Er befand sich damit auf der Linie des Expressionismus, der sich von manierierten Kunstformen wie Naturalismus und Impressionismus abwandte, um bei ursprünglichen Kulturen und im Kinderspiel
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nach neuen, ursprünglicheren Quellen der Kreativität zu suchen. Der Krieg hatte eine seit langem fragwürdige Welt zerstört und die Situation erforderte eine grundlegende Neubestimmung des Menschen und der Gesellschaft. Künstlerisch fand sie Ausdruck in radikalen Utopien und Manifesten (BUER 1999, S. 20-24). Eine dieser Utopien war der schöpferische Mensch, der in der Lage ist, die neue Welt zu gestalten: Gegen das Roboterdasein, gegen das Vordringen des Materialismus, gegen die Entfremdung des Menschen von sich selbst. Im Kontext dieser Erneuerungsbemühungen muss Morenos kultureller Beitrag, das Stegreiftheater, gesehen werden. Im Mittelpunkt stehen das schöpferische Ich und die Begegnung. 2 Ausgangspunkt war für Moreno die Kritik am bestehenden Theater, das zu einem „Totendienst“ und „Auferstehungskult“ (MORENO 1970, S. 10) geworden sei, in welchem die toten Worte toter Dichter immer wieder neu heraufbeschworen würden. Seine Vision war dagegen ein Theater des „Spielmächtigen“ (MORENO 1970, S. IV) – eines durch die reale Begegnung in der Theatersituation inspirierten Schauspielers, der gleichzeitig Autor und Regisseur sein sollte. So schrieb er in seinem „Königsroman“, der 1923 erschien: „Ich wünsche nicht das Theater des guten Gedächtnisses, der kreisförmigen Behaglichkeit, des Selbstvergessens. Die Idee des reinen Theaters fordert die einmalige Zeit, den einmaligen Raum, die einmalige Einheit, den Schöpfer. An Stelle der alten Dreiteilung tritt unsere Einheit. Es gibt keine Dichter, Schauspieler und Zuschauer mehr. Fort mit den Augen der Gaffer und den Ohren der Horcher. Ihr seid alle meine Komödianten. Die Bühne ist ebenso dort, wo ihr seid, wie hier, wo ich stehe. Ich grüße euch, Schauspieler der Galerien, der Stehplätze, der Lagen und Parkettreihen, hinter den Kulissen, Souffleure! Unser Theater ist Einheit des Seins und Scheines. Wir spielen das Theater des Augenblicks, der identischen Zeit, comedie immediate, den Scheinwerfer unseres gegenwärtigen Geistes. Unser Theater ist theatre immediate, des identischen Raumes, des Scheines an Ort und Stelle unseres Seins, des einzigen Ortes. Unser Theater ist das der Vereinigung aller Widersprüche, des Rausches, der Unwiederholbarkeit. Sein Triumph oder Misslingen ist Funktion unserer augenblicklichen Mächtigkeit. An Stelle der Direktoren, Regisseure, tritt der Spielmächtige.“ (Moreno zitiert in MORENO 1970, S. IV)
Moreno erhob den Anspruch einer grundlegenden Reform des Theaters, er sprach sogar von einer Theaterrevolution. Diese Revolution hatte mehrere Aspekte. Sie sollte erstens die textbasierte Produktion von Aufführungen komplett durch eine Stegreifproduktion ersetzen, die aus der Begegnung mit dem Zuschauer entstehen
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Der Begriff der Begegnung taucht bereits in Morenos erster Veröffentlichung, der „Einladung zu einer Begegnung“ 1914 auf und kann als zentraler Begriff in Morenos Philosophie verstanden werden, siehe Kapitel III 1
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sollte. Zweitens sollte die Rollenteilung der Theaterproduktion in Autor, Regisseur und Schauspieler überwunden werden. Im Mittelpunkt der Aufführung sollte der Spielmächtige stehen, wobei Spielmächtigkeit keinen festen Charakterzug beschreibt, sondern eher den Grad der augenblicklichen Inspiration. Drittens sollte die Begegnung mit den Zuschauern auf eine völlig neue Basis gestellt werden, die Zuschauer sollten aktiviert und zur Partizipation aufgefordert werden. In letzter Konsequenz führt dies bei Moreno zu einem „Theater ohne Zuschauer“ (MORENO 1970, S. 108). Gemeint war damit, dass kein Zuschauer nur passiv betrachtend teilnehmen sollte und dass die Grenze zur Bühne jederzeit offen war, also in beide Richtungen überschritten werden konnte. Im Rückblick beschreibt Moreno die Programmatik des Wiener Stegreiftheaters wie folgt: „Die zentrale Aufgabe des Wiener Stegreiftheaters (1921-23) war, eine Revolution des Theaters herbeizuführen, den Charakter des theatralischen Ereignisses völlig zu ändern. Es versuchte diese Änderung in vierfacher Weise: 1. Die Ausschaltung des Theaterschriftstellers und des geschriebenen Stückes. 2. Teilnahme des Publikums, gewissermaßen das ‚Theater ohne Zuschauer‘. Jeder ist ein Teilnehmer, jeder ist ein Schauspieler. 3. Die Schauspieler und die Zuschauer sind jetzt die einzigen Schaffenden. Alles wird improvisiert, das Spiel, die Handlung, die Motive, die Worte, die Begegnung und die Lösung der Konflikte. 4. Die alte Bühne ist verschwunden, an ihre Stelle tritt die offene Bühne, die Raumbühne, der offene Platz, der Lebensraum, das Leben.“ (MORENO 1970, S. III)
Insgesamt kann Morenos Wiener Stegreiftheater durchaus verstanden werden als ein weitgehender Versuch, die Forderungen der historischen Avantgarde, speziell des deutschen Expressionismus, konsequent im Theater umzusetzen. Die konkrete Realität des Wiener Stegreiftheaters sah wohl bescheiden aus (MARINEAU 1989). Es bestand von 1921-23 in einem angemieteten Atelier im obersten Stockwerk des Hauses Meysedergasse 2. Der Theaterraum fasste etwa 2030 Zuschauer und wurde zwei bis drei Mal pro Woche bespielt. Die Darsteller erhielten keine Gage und die Zuschauer zahlten keinen Eintritt (BUER 1999, S. 104). Pörtner hat anhand von zeitgenössischen Kritiken versucht, den Raum zu rekonstruieren: „Ein kleiner Theatersaal. Die Stühle stehen locker, ungeordnet herum. Das Publikum nimmt Platz, wo es will; zwanglose lockere Formation. Die Bühne enthält einige Versatzstücke zur Markierung von Spielorten: Tische, Stühle, Wandschirm u.a. Moreno fordert das Publikum auf, Themen für die Stegreifspiele vorzuschlagen und selbst mitzuspielen.“ (PÖRTNER 1972, S. 117)
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Die Räumlichkeit wurde während der Aufführung vervollständigt durch einen „Schnellmaler“ (Moreno 1970, S. 58)3. Die wichtigste Figur der Aufführung im Stegreiftheater war eindeutig der Spielleiter (in der Regel wohl Moreno selber). Er eröffnete den Abend, stellte den Kontakt zum Publikum her und holte Spielvorschläge ein. Dann besprach er die Stegreifhandlungen mit den Spielern, verteilte die Rollen und legte die Spielzeit für jeden Einzelnen in einem Diagramm fest. Moreno entwickelte ein spezielles Notationssystem für seine Form von Stegreifspiel, das ausgesprochen interessant ist, sich jedoch nicht durchsetzen konnte. Offenbar suchte Moreno nach einer schnellen, intuitiv erfassbaren Darstellungsform, die gleichzeitig einerseits seinen hohen ästhetischen Forderungen entsprach und andererseits den Schauspielern genügend improvisatorische Freiheit ließ. In der Rekonstruktion der damaligen Experimente fällt zunächst auf, dass Moreno weder die Figurenwahl noch den Inhalt der improvisierten Stücke seinen Schauspielern überließ. Entgegen seinem eigenen Anspruch, die Trennung von Dramatiker, Schauspieler und Zuschauer aufzuheben, scheint er nicht viel Vertrauen in die spontan-kreative Schöpferkraft seiner Spieler gehabt zu haben. Die dargebotenen Stücke dürften nur halb improvisiert gewesen sein, zum Teil nach Art der Commedia dell’ arte auf Szenarios basierend, zum Teil auf Absprachen auf offener Bühne im Sinne einer prämeditierten Improvisation. Wesentliche Teile der Aufführungen wurden geplant und vom Spielleiter dirigiert. In diesem ersten Improvisationstheater gab es also durchaus eine Art Regisseur und die Stücke folgten weniger den spontanen Einfällen der Schauspieler, sondern Plänen und Absprachen, die zwar nicht jedes Detail festlegten aber die Gesamtstruktur bestimmten. Die Spannung zwischen großem Anspruch und ernüchternder Realität ist in Morenos Werk überall spürbar. Die Verlagerung seines Interesses auf die therapeutischen Anwendungen des Improvisationstheater im Psychodrama, dürften auch einer gewissen Enttäuschung geschuldet gewesen sein, darüber, dass die Qualität der Aufführungen sehr schwankend war. Moreno machte später keinen Hehl daraus, dass er die grundlegenden Probleme des Stegreiftheaters nicht lösen konnte. In seinem 1970 veröffentlichten Rückblick auf das Wiener Stegreiftheater benannte Moreno vor allem äußere Widerstände: „Das Theater einer ‚hundertprotzentigen Spontanität‘ fand den größten Widerstand vom Publikum und von der Presse. Sie waren gewöhnt, sich auf kulturelle ‚Konserven‘ des Dramas zu
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Leider ist dieser Maler Moreno nur eine kurze Randnotiz wert, es wäre sehr interessant, sich dieses Zusammenspiel von Malerei und Schauspiel konkret vorstellen zu können – zumal ähnliche Experimente in jüngerer Zeit mit „Artsports“ und der Einbeziehung neuer Medien wie Diaprojektoren, Beamer und Videoprojektionen wieder ins Improvisationstheater eingeführt wurden.
64 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS stützen und sich nicht auf spontane Schöpferkraft zu verlassen. Wenn daher im Stegreiftheater gutes Theater, ehrliche künstlerisch wirksame Spontanität geboten wurde, kam ihnen die Sache verdächtig vor. Das Stegreif-Spiel schien ihnen gründlich vorbereitet und probiert, mit anderen Worten, ein Schwindel. Wenn aber ein Spiel schlecht und leblos war, zogen sie den voreiligen Schluss, dass echte Spontanität nicht möglich ist. Wir verloren das Interesse des Publikums und es wurde schwierig, die finanzielle Stabilität des Theaters zu erhalten. Ich sah vor mir die Aufgabe, die primäre Verhaltungsweise des Publikums und der Kritiker zu ändern. Das schien mir nicht möglich, ohne eine totale Revolution unserer Kultur. Meine Ermutigung, ein reines Stegreiftheater fortzusetzen, stieg zur höchsten Krise als ich erkannte, dass meine besten Stegreifspieler – Peter Lorre, Hans Rodenberg, Robert Müller und andere – sich allmählich vom Stegreiftheater abwendeten und zum normalen Theater und zum Kino kehrten.“ (MORENO 1970, S. VII)
Die hier von Moreno aufgeworfenen Fragen beschäftigen Improvisationstheatermacher bis heute: Wie kann man die Erwartungen der Zuschauer so steuern, dass sie ihre Fixierung auf Stücke, Produkte und Werke aufgeben und sich stattdessen auf die Prozesshaftigkeit einlassen? Wie kann man verhindern, dass die besten Spieler in andere Theater abwandern, wo sie mehr verdienen und weniger Risiko auf sich nehmen? Ist eine Professionalisierung überhaupt möglich oder ist das Improvisationstheater nur als Laienspielbewegung zu realisieren? Morenos Theaterexperimente stehen unter großem Druck, auch künstlerisch ernstgenommen zu werden, was ihnen das Leichte und Spielerische nimmt, das in den Manifesten eigentlich angedacht war. Moreno selbst hat diese Widersprüche nicht lösen können. Für ihn war auch das spätere Psychodrama immer mit der Hoffnung verknüpft, jenseits seiner heilenden Wirkung ein künstlerisch anspruchsvolles Theater zu kreieren und er hat sich immer wieder in theatertheoretische Diskurse eingemischt.4 Dabei vertrat er weiterhin einen letztendlich expressionistischen Standpunkt, dass nämlich das wahre Theater nicht mimetisch sein könne, nicht von der Außenwelt inspiriert oder gar diese nachbildend, sondern von der Innenwelt, vom schöpferischen Ich angetrieben werde, das sich nur im kreativen Augenblick entfalte, in einer realen Begegnung zwischen Akteuren und Publikum. Was als Theaterrevolution angekündigt war, endete schließlich in einem kleinlichen Gerichtsstreit um die Urheberschaft des Konzeptes der „Raumbühne“ (ROSELT 2008, S. 80-91). Trotzdem ist Morenos Bedeutung für die Entwicklung entscheidender Konzepte des Improvisationstheater sehr hoch einzuschätzen. Er setzte Jahrzehnte vor den Compass Players einen regemäßigen, völlig auf Improvisation gegründeten Spielbetrieb in Gang und war in vielerlei Hinsicht als Pionier
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Z.B. in seiner Auseinandersetzung mit Arthur Millers Stück „After The Fall“ (PÖRTNER 1972, S. 128) oder seine Kritik der Methode Stanislawskis (MORENO 1970, S. XV).
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seiner Zeit weit voraus. Im Folgenden werden die zentralen Begriffe in Morenos Ansatz herausgearbeitet. Kritik des Bewusstseins und das Primat der Leiblichkeit Moreno kritisiert das inszenierende Theater als zu stark vom rationalen Bewusstsein geprägt. Es bringe durch seine Zentrierung auf den Text nur die toten Relikte des eigentlichen schöpferischen Aktes zur Aufführung statt den schöpferischen Akt selber: „Das Bewußtsein hat sich vor der Aufführung in die Erzeugung gemischt und das Produkt ist eine Ausstellung von Konflikten, Versen, Stimmen, Masken, aber kein Theater. Das Bewußtsein als Hebamme tötet den Geist.“ (MORENO 1970, S. 9).
Moreno plädiert demgegenüber für eine Theaterproduktion, die sehr viel näher am eigentlichen Augenblick der Inspiration arbeitet und daher stärker durch das Unbewusste geprägt ist als die spätere, bearbeitete Produktion: „Die Stegreifkunst macht vom Bewußtsein keinen Gebrauch, das Unbewußte steigt unverletzt auf.“ (MORENO 1970, S. 18). Moreno sieht Bewusstsein und Sprache als eng gekoppelt. Das textbasierte Drama kann daher per se nur ein Theater des Bewusstseins sein, was für ihn den Kern der Kritik darstellt: „Die Reformatoren [des Theaters, G.L.] haben den Sitz der Theaterkrankheit nicht erkannt. Diese ist in einem Satze gesagt: die starr gegebenen Wörter. Die Produkte treten dem Erzeuger vor der Erzeugung entgegen.“ (MORENO 1970, S. 10)
Das fixierte Wort könne nicht als Schlüssel für die Theateraufführung dienen, weil es vom Moment und Ort des ihm zugrunde liegenden schöpferischen Aktes getrennt sei und damit die Kraft verliere, schöpferische Akte bei den Schauspielern und Zuschauern auszulösen. Die Inhalte des Spiels sollen aus dem Moment aufsteigen und erst innerhalb der Handlung versprachlicht werden, da die eigentlich wichtigen Prozesse des Theaters vorsprachlich und unbewusst seien. Sprachproduktion habe einen hemmenden Effekt auf diese Prozesse: „Der Spieler rollt von innen nach außen die Lage auf, im Augenblicke aber, wo er Worte produziert, tritt eine rückläufige Bewegung ein. Das dichterische Produzieren zentriert ihn und er wird abwesend. Es löst eine Ablenkung der Aufmerksamkeit aus (Gefahr des ‚Krampfes‘).“ (MORENO 1970, S. 41-42)
Die Sprachproduktion ziehe also Aufmerksamkeit nach innen, für die Arbeit des Stegreifspielens sei es jedoch notwendig, die Aufmerksamkeit nach außen zu richten. Moreno plädiert daher für eine nicht-sprachliche Kommunikation der Spieler,
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eine „mediale Tendenz“ (MORENO 1970, S. 41), was man im heutigen Sprachgebrauch wohl als non-verbale oder analoge Kommunikation bezeichnen würde. Sein Ziel ist es, eine innere Verbundenheit der Akteure herzustellen, die mit der Vertrautheit der Schauspieler wächst: „Allmählich muß eine eingespielte Truppe auf einen großen Teil der Verständigungsmittel verzichten können. Es gibt Spieler, die durch eine geheime Korrespondenz miteinander verbunden sind. Sie haben eine Art Feingefühl für die gegenseitigen inneren Vorgänge, eine Gebärde genügt und oft brauchen sie einander nicht anzusehen. Sie sind für einander hellseherisch. Sie haben eine Verständigungsseele.“ (MORENO 1970, S. 57)
In „Das Stegreiftheater“ widmet Moreno der Fähigkeit zur „medialen Verständigung“ ein eigenes Kapitel (MORENO 1970, S.57-58). Für ihn bildet sie die Grundlage für die Verbundenheit der Spieler während der Aufführung.5 Er fordert in diesem Kontext auch eine stärkere Körperorientierung der Schauspieler: „Neben der Geistesgegenwart muss die Körpergegenwart geschult werden.“ (MORENO 1970, S.56). Moreno unterscheidet eine zentrifugale und eine zentripetale Tendenz. Bei der zentripetalen Produktion verläuft der Prozess von außen nach innen, zum Beispiel beim Erlernen einer Rolle im traditionellen Theater: „Die Aneignung der Rolle durch den Schauspieler verläuft zentripetal. Es ist genau der umgekehrte Prozeß wie beim Bildhauer und Maler: Diese haben den Stoff außer sich, im Raum, der Geist tritt aus ihnen heraus in das Material – der Schauspieler hat den Geist außer sich im Raum, dieser tritt in ihn hinein als das Material.“ (MORENO 1970, S. 28)
Das textorientierte Theater sei demnach charakterisiert durch zentripetale Produktionsprozesse, die den Schauspieler zum Material machen, das von außen – durch den Text- geformt werde. Die Produktion beim Stegreifspiel verlaufe demgegenüber zentrifugal sein, d.h. von innen nach außen: „Der Spielmächtige ist zentrifugal. Der Geist, die Rolle, ist nicht wie beim Schauspieler in einem Buch, das Material nicht wie beim Maler oder Bildhauer draußen im Raum, sondern ein Teil von ihm. Was den Schauspieler zuerst, erreicht den Spielmächtigen zuletzt: Das Wort. Er rollt das Untere hinauf, nicht das Obere hinunter, das Innere hinaus, nicht das Äußere hinein.“ (MORENO 1970, S. 28)
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Im Kontext des Psychodrama baut Moreno diesen Ansatz später zur „Zweifühlung“ und zum „Tele“ aus (vgl. Fangauf in BUER 1999, S. 95-115
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Der Schauspieler ist hier nicht das Material, sondern der Schöpfer der Produktion und diese besteht nur zu einem geringen Teil aus Sprache. Vielmehr ist der Text nur als die Oberfläche eines wesentlich tiefergreifenden Prozesses zu verstehen. Damit die Stegreifproduktion dem schöpferischen Akt möglichst nahe komme, müsse der Improvisateur einem besonderen Schwebezustand zwischen Außen und Innen herstellen können, den Moreno „Ambizentrierung“ (MORENO 1970, S. 56) nennt. Durch die Ambizentrierung wird der schöpferische Akt beim Stegreifschauspieler möglich. Die Bewegung von Innen nach Außen ist dabei primär – wie es dem expressionistischen Kunstverständnis entspricht. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen spätere Improvisationsschulen. Sowohl Spolin als auch Johnstone betonen Techniken, die eine solche ambizentrierte Aufmerksamkeit herstellen. Bei Spolin ist dies das Konzept des Point of Concentration (siehe Kapitel II 1.4) bei Johnstone sind es die Techniken der gesplitteten Aufmerksamkeit (siehe Kapitel II 1.5). Die Aufmerksamkeit darf dabei weder im Außen noch im Innen gebunden werden, sondern soll frei bleiben. Durch solche Techniken wird das Unbewusste zum eigentlichen Agens der Aufführung, während das Bewusstsein gebremst oder ausgeschaltet wird. Die Dramaturgie der Augenblicke und der Stegreifregisseur Moreno stellt fest, dass das Stegreifspiel zu einem grundlegend anderen Spannungsaufbau führt als das textbasierte Theater, dass es insbesondere aus kleineren Spannungsbögen aufgebaut ist und öfters Zwischenpausen benötigt, in denen die Spieler sich entspannen können: „Die Länge eines Theateraktes ist für die Stegreifbühne zu groß. Die Verkürzung des Spiels ist notwendig, weil die Intensität nur eine bestimmte Zeit währen kann (Spannungszeit). Auf Spannung folgt Entspannung. Ein Stegreifakt darf daher den Entspannungsmoment des Spielers nicht überdauern. [...] Die Produktion geht in Aufschwüngen mit interkalkulierten Ruhepausen vor sich.“ (MORENO 1970, S. 37)
Ein Stegreif-Theaterabend bestand darum in der Regel nicht aus einem einzelnen Stück, sondern aus mehreren Geschichten und vielen Einzelmomenten: „Im Stegreiftheater entscheidet aber nicht das Gesamtwerk, das ‚Drama‘, sondern die szenischen Atome. Kein deus ex machina hat vorgesorgt. Es wird nicht ‚Zeit‘ gespielt sondern Momente. Die Akte eines Stückes sind voneinander gelöst: sie bilden eine Schnur von je und je aufleuchtenden Impulsen.“ (MORENO 1970, S. 37)
Die entsprechende Dramaturgie wird in der vorliegenden Arbeit als Dramaturgie der Augenblicke bezeichnet. Sie ist einerseits eine Notwendigkeit der Stegreifproduktion, andererseits wird sie zum ästhetischen Prinzip, das neue Möglichkeiten des
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Zeiterlebens aufzeigt und auch ein wichtiges Merkmal der Rezeption darstellt. Produktionstechnisch ergibt sich daraus die Schwierigkeit, eine innere Kohärenz der Aufführung herzustellen. Moreno schlug als Lösung dieses Problems die Position des Stegreifregisseurs vor. Die Aufgaben des Stehgreifregisseurs waren weitreichend: Er musste 1. Aufgaben verteilen 2. das Stegreifdiagramm (die Stegreifnoten) erstellen (offenbar fand diese Tätigkeit des Stegreifregisseurs nicht spontan während der Aufführung statt, Moreno bleibt an diesem Punkt aber widersprüchlich), 3. die Spielzeit überwachen, 4. den Stegreif-Maler dirigieren, 5. den Einsatz von Reservespielern und Rettungsspielern dirigieren (Letztere waren erfahrene Stegreifspieler, welche verfahrene Situationen lösen und Ideen des Regisseurs ins Spiel transportieren konnten), 6. den Kontakt mit dem Publikum herstellen und aufrechterhalten. Die Zuschauer wurden beispielsweise befragt, ob sie einen komischen oder einen tragischen Schluss wünschten (MORENO 1970, S. 60 – 63). Der Stegreifregisseur hatte damit viele der Funktionen des auch heute noch vielfach eingesetzten Moderators: Er verbindet die Einzelmomente der Aufführung zu einem Ganzen und bleibt für die Zuschauer ein konstantes Element in der Flüchtigkeit der Aufführung. Eine Dramaturgie der Augenblicke ist bis heute dem Improvisationstheater inhärent. Die spezifische Art der improvisierenden Produktion bringt grundsätzlich eher kurze Spannungsbögen hervor und setzt daher eher auf brillante Einzelmomente als auf längere Geschichten. Spätere Improvisationstheateransätze finden zwar zu anderen Formen, die Einzelszenen aneinanderzureihen, sie betonen stärker das Spiel und die Selbstorganisation, jedoch bleiben sie insgesamt bei einem modularen, kleinteiligen Aufbau der Aufführung. Morenos Stegreifnoten Moreno schlägt ein Notationssystem für das Stegreifspiel vor. Es ist in sich nicht widerspruchsfrei, eignet sich jedoch, um einige der weiterführenden Konzepte Morenos zu rekonstruieren. Er hat dieses Notationssystem – wie viele andere seiner überschießenden Ideen – nicht durchgearbeitet und später nicht weiterverfolgt, aber dennoch veröffentlicht. Auch in der Neuauflage seines Buches 1970 kommentiert Moreno sein Notationssystem nicht. Zur besseren Veranschaulichung sei hier ein Beispiel seiner Stegreifnoten im Original angeführt:
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Abb. 2: Die Stegreifnoten von „Mörder aus Angst“
(Quelle: MORENO 1970, S. 90)
Wie man sieht, sind Morenos Stegreifnoten ohne zusätzliche Ergänzungen zum Inhalt der Stücke nicht zu verstehen. Sie liefern für die Schauspieler keine ausreichenden Informationen für eine Aufführung. Denkbar sind sie nur als grafische Ergänzung zu einem Szenario, um Dynamik und Timing festzulegen. Die Zeilen in seinem Notationssystem sind den Akteuren gewidmet – wobei in anderen Beispielen sichtbar wird, dass damit durchaus auch die Zuschauer gemeint sein können.
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Die Spalten bilden die Aufführungszeit ab, die in einzelne zeitliche Gestalten untergliedert ist, die „Lagen“ (s.u.). Konkret bedeuten die einzelnen Zeichen: „Der Zustand des Mimen vor Spielbeginn, die Bewußtseins- und Nullage, wird am besten mit dem Zeichen Zero (0) ausgedrückt. Hat der Spieler Angst dargestellt und die Aufgabe erhalten, aus ihr in Zorn überzugehen, muß er beim Übergang einer Leidenschaft in die andere eine Art Umbruch vollziehen. Der Umbruch aus Angst in den Zorn kann direkt durch einen Sprung oder indirekt über die Nullage geschehen. Zur Bezeichnung der Lage überhaupt dient am besten ein vertikal gezeichneter spitzer Winkel ^ “ (MORENO 1970, S. 43)
Wie hierbei deutlich wird, stellt Moreno den Begriff der Lage ins Zentrum seines Systems. 6 Er bezeichnet damit ganz allgemeine einen ganzheitlichen Zustand eines Individuums zu einem bestimmten Zeitpunkt und in Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Die Lage ist weder ausschließlich ein Merkmal des Individuums noch ein Merkmal der äußeren Situation, sondern entsteht durch die Begegnung der beiden im lebendigen Augenblick. Es handelt sich um einen komplexen Begriff, der Morenos gesamtes Werk durchzieht (Ulrike Schmitz-Roden in BUER 1999, S. 76-82).7 Das Ausagieren und das Wechseln von Lagen sind für Moreno zentrale Schauspieltechniken des Stegreifspiels. Die Lage ersetzt in seinem Theater das Wort als führendes Element der Aufführung: Während das dramatische Theater sich als eine Abfolge von Dialogzeilen präsentiert, die im Textbuch festgeschrieben ist, versteht sich das Stegreiftheater als eine Abfolge von Lagen, die in den Stegreifnoten festgehalten sind, sich jedoch ihrer Natur nach erst im jeweils konkreten Moment entfalten. Die improvisierende Schauspielkunst wird damit zur Kunst, sich in eine bestimmte Lage zu versetzen. Das Training des Stegreifspielers besteht nicht im Lernen von Dialogzeilen, sondern im Entfalten von Lagen. „Der Stegreifmime hat seinen Ausgangspunkt nicht außer ihm, sondern innen: die Lage. Man muß Anlauf nehmen, um sie zu erreichen, wie um hoch zu springen; ist sie erfaßt, so schießt sie heiß und voll an. Sie ist von allen Begriffen der Psychologie verschieden. Affekt sagt nicht dasselbe aus. Denn nicht nur Angst, Furcht, Zorn, Haß sind Lagen, sondern ebenso Komplexe wie Höflichkeit, Grobheit, Leichtsinn, Hoheit und Schlauheit oder Zustände wie Beschränktheit und Trunksucht. Zudem ist Lage nicht heraufgekommen oder bestehend, sondern willkürlich hervorgebracht. Sie ist mit der Tendenz, frei zu scheinen, verknüpft. Es ist nicht die Willkür des Bewußtseins, das vielmehr als Hemmungsorgan wirkt, sondern die
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Möglicherweise hat Moreno dabei auf Henri Bergson zurückgegriffen (Ulrike Schmitz-
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Später verwendete Moreno den englischen Begriff „situation“ oder das bekannte „here
Roden in BUER 1999, S. 76 ff). and now“.
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Freiheit, das Freisteigen des Unbewußten als Geist. Auch Bezeichnungen wie Gefühl oder Zustand entsprechen nicht völlig. Denn mit Lage ist nicht nur ein innerer Vorgang, sondern auch eine Beziehung nach außen gemeint – zur Lage einer anderen Person.“ (MORENO 1970, S. 28-29)
Das Erreichen einer Lage gleicht der Einleitung eines chemischen Reaktionsprozesses durch den „Erzkatalysator“ Spontanität (MORENO 1974, S. 12). Die Erzeugung einer Lage durch den Schauspieler ist ein willentlich initiierter, sich dann aber verselbständigender Prozess, der „heiß heranschießt“ und den Spieler „erfasst“ (MORENO 1970, S. 28). Der Schauspieler hat mithin nur eine begrenzte Kontrolle über die Lage – hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu Stanislawskis Rekonstruktion der Umstände, die vom Schauspieler im Idealfall psychisch vollständig kontrolliert werden sollen. Die konkrete Ausformung der Lage auf der Bühne ist nicht festzulegen, sondern entfaltet sich in jedem konkreten Augenblick der Aufführung neu. In der Fokusverschiebung vom geschriebenen Wort auf die Lage kann man Morenos zentralste Forderung an die Kunst des Stegreifspiels sehen. Die Lage muss zu jedem Zeitpunkt des Spiels im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen: „Der Versuchsleiter [der Stegreifregisseur, G.L.] muß immer scharfe Einstellung auf die Lage verlangen, nicht auf das Wort. Gefahr des Gehirnspiels: bloßes ‚Reden‘, Lage als ob. Worte nicht ‚herausschleudern‘, bevor die Lage heiß anschießt. Diese darf auch nicht überhitzt ‚rauchig‘ werden. Lage nicht ‚auslassen‘. Im Dialog selbstlos sein, nicht ‚drippeln‘. Einen Konflikt im Tempus entwickeln, steigern, nicht ‚vorzeitig herausschleudern‘“ (MORENO 1970, S. 41)
Die Lagen entfalten sich in zeitlichen Gestalten, die Moreno als „Stegreiftempus“ bezeichnet. Der Stegreiftempus dient als eine Art Basiseinheit: „Wir können eine nicht mehr reduzierbare elementare Stegreifeinheit einen Stegreiftempus nennen.“ (MORENO 11970, S. 44). Die Einheit t ist für jede Lage spezifisch und es ist für den Stegreifschauspieler von zentraler Wichtigkeit, das ideale Timing einer Lage zu erlernen: „Das Experiment lehrt, dass in der Mehrzahl der Fälle eine Lagen-Aufgabe mimisch und geistig nur eine bestimmte Zeit dauern darf, um zu wirken. Versuche, welche sie stark unteroder überschreiten, sind gewöhnlich Versager. Die ideale Stegreifzeit einer Lage wird methodisch überprüft und schließlich fixiert, ebenso alle Variationszeiten, um die Grenzen der Amplitude festzustellen. Durch Übung gewinnt der Spieler ein Gefühl für die ideale Stegreifzeit einer Lage.“ (MORENO 1970, S. 43)
Was auf den ersten Blick wie ein experimentalpsychologisch-objektivierender Ansatz wirkt, ist von Moreno als ein Zusammenspiel von objektivem und subjektivem Timing gemeint:
72 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „Diese [die ideale Stegreifzeit, G.L.] hat einen subjektiven und einen objektiven Anteil. Der subjektive Einschlag führt von den inneren Bedingungen des Darstellers (Müdigkeit, Stimmung u.a.) her, wie auch von der Einstellung des Publikums. Sie sind der inkommensurable Anlaß, warum dieselbe Lage das eine Mal länger, das andere Mal kürzer gespielt werden muß, um die größte Wirkung zu erzielen. Der objektive Einschlag aber rührt daher, daß jeder Konflikt eine bestimmte Zeit dauern muß, um deutlich genug entwickelt (nicht über- oder unterentwickelt) zu werden.“ (MORENO 1970, S. 43-44)
Der Stegreiftempus ist letztendlich keine metrische, messbare Zeiteinheit.8 Er verweist vielmehr auf einen für das Improvisationstheater charakteristischen Umgang mit Zeit: Es existiert ein ideales Timing – und der Schauspieler verwendet einen großen Teil seines Trainings auf die Handhabung dieses Timings – in der konkreten Aufführung kann es aber zu großen Abweichungen kommen, je nach körperlicher oder psychischer Verfassung des Schauspielers oder des Publikums. Das Timing entspringt dem Gesamtsystem von Akteuren und Zuschauern. Damit ist ein wesentlicher Unterschied zum inszenierenden Theater gegeben, wo das Timing nur minimal an die Aufführungssituation angepasst wird. Das Konzept der Lage kann aus heutiger Sicht als systemtheoretisches Konzept verstanden werden: Es bezeichnet den Gesamtzustand des Systems Individuum/Umwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt. Systemtheoretische Begriffe standen Moreno noch nicht zur Verfügung, was zahlreiche Formulierungsschwierigkeiten erklärt, doch weisen sowohl seine Schriften zum Stegreiftheater als auch seine Arbeiten zum Psychodrama und vor allem zur Soziometrie auf ein systemtheoretisches Verständnis des Menschen avant la lettre hin. Zuschauerbeteiligung Moreno vertrat den von den historischen Avantgarden erhobenen Anspruch einer Aktivierung und Partizipation der Zuschauer und suchte nach entsprechenden Möglichkeiten der Zuschauerbeteiligung. In „Das Stegreiftheater“ werden verschiedene Konzepte behandelt, die offenbar eher experimentell waren und keine feste Form annahmen. Besonders explizit verhandelt Moreno die Zuschauerrolle in seinem Stegreifstück ‚Theater ad absurdum‘ (MORENO 1970, S. 13). Dort wurden die Zuschauer auf der Bühne vertreten durch einen oder mehrere „Kritiker“, während die Zuschauer selber die Rolle des „Chors“ einnehmen sollten. Dabei schildert Moreno das Verhältnis von Zuschauern und Schauspielern als eine Art Kampf um den Ausgang des Stücks:
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Ebenso wie der innerhalb der Improvisationstheater-Community immer mal wieder auftauchende Begriff der „Beats“, der in etwa dasselbe meint.
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„An die Spitze des Publikums tritt eine Gruppe von Zuschauern, die auch im alten Theater eine anonyme Würde, wenn auch nach der Vorstellung mimt: die Kritiker. Diese [...] übernehmen die Lenkung des Publikums im Kampf gegen die Schauspieler. Auf beiden Seiten sind die Reihen in vorgeschriebener Ordnung aufgestellt. Die Schauspieler auf der Szene, die Kritiker als das stellvertretende Publikum legen los, während das übrige Zuschauervolk, der allgemeine Chor, in bestimmten Momenten auf vorgeschriebene Weise eingreift. Die Kritiker bilden einen festen Korpus und erscheinen wie die Bühnenspieler täglich im Theater und nehmen an den Übungen teil.“ (MORENO 1970, S. 13)9
Auch wenn unklar bleibt, ob diese Versuche der Publikumsbeteiligung jemals konsequent umgesetzt wurden oder ob sie eine feste Form annahmen (in anderen Notationen Morenos kommen weder die Zuschauer noch der Zuschauerdirektor vor), entwickelte Moreno jedenfalls Arrangements, um die Zuschauer zu aktivieren und ihnen eine Stimme zu geben. Er wollte einen leidenschaftlichen, beteiligten, ja kämpfenden Zuschauer. Bei Moreno sollten sich die Zuschauer als eine Kraft erleben, die die Aufführung wesentlich mitbestimmt. Die Fiktion einer vierten Wand existierte bei Moreno daher nicht. Es gab direkte Dialoge zwischen Spielleiter und Zuschauern, eventuell auch zwischen Schauspielern und Zuschauern. Die Partizipation war bei Moreno offenbar einer repräsentativen Demokratie nachempfunden: das Publikum wurde durch eine Art Mandatsträger vertreten. Morenos Verständnis von delegierten Zuschauern wird auch in seinen Bühnenvisionen, der Stegreifbühne, sehr deutlich (siehe Kapitel III 2.2). Fazit: Moreno Zusammenfassend ist Morenos Beitrag in mehrerer Hinsicht als Pionierleistung zu werten: Er stellt den Versuch dar, eine Theaterform ganz auf Improvisation aufzubauen und geht dabei über die prämeditierte Improvisation der Commedia dell’ arte – zumindest programmatisch – deutlich hinaus. Moreno initiierte einen ersten regelmäßigen Spielbetrieb, sorgte für öffentliche Aufmerksamkeit, Presse und künstlerische Diskurse, wodurch ein Anschluss an die Forderungen der historischen Avantgarden hergestellt wurde. Weiterhin legte er mit „Das Stegreiftheater“ eine Programmatik des Improvisationstheaters vor, die eine radikale Kritik des inszenierenden Theaters und eine ebenso radikale Begründung des improvisierenden Theaters enthält. Nicht zuletzt entwickelte er. Ansätze zu einem Training von Stegreifschauspielern, in welchem die wesentlichen Probleme wie die Verwendung von unbewusstem Material, die Verwendung von Sprache und Körper und die intuitive
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Morenos Ausführungen erinnern stark an die Rollenaufteilung beim Theatersport, wo die Richter auf der Bühne sind und die Interessen des Publikums vertreten. Ob Johnstone von Morenos Experimenten Notiz genommen hat, ist jedoch fraglich.
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Verständigung der Spieler bereits ausgeführt sind. Mit dem Konzept der Lage hat er ein systemtheoretisches Verständnis der Interaktion von Spieler und Umgebung vorausgeahnt. Sein Beitrag zur Geschichte des Improvisationstheaters wurde bisher nicht ausreichend gewürdigt. Zu seinen wichtigen Beiträgen sind zu zählen: 1. der Rückbezug auf das Kinderspiel 2. die programmatische Ablehnung des inszenierenden Theaters und experimentelle Umsetzung der Forderungen der Avantgarde 3. die Begründung einer Dramaturgie der Augenblicke 4. die Einführung eines Spielleiters bzw. eines Stegreifregisseurs auf der Bühne 5. die Einbeziehung der Zuschauer und Konzepte zur Zuschauerpartizipation 1.3 Jacques Copeau (1879-1949) Jacques Copeaus Beitrag zum Improvisationstheater ist nicht in einem zentralen Werk gebündelt und es wäre zu diskutieren, ob er bzw. seine Partnerin Suzanne Bing überhaupt zu den relevanten Theoretikern des Improvisationstheaters gezählt werden muss wie dies Frost und Yarrow (2007) tun. Sein Einfluss ist eher praktischer Natur. Er stellt aber in mehrfacher Hinsicht ein wichtiges Bindeglied dar: Erstens in seinem Rückbezug auf die Commedia dell’ arte und insbesondere deren Maskenarbeit, zweitens als weitere Brücke zwischen Improvisationstheater und historischen Avantgarden und drittens durch seinen mutmaßliche Transfer improvisatorischer Ansätze in die USA (FROST & YARROW 2007, S. 27). Analog zu den Entwicklungen in Russland formulierte Copeau bereits 1913 in seinem „Essai de Rénovation Dramatique“ eine Abkehr von der französischen Klassik und vom Naturalismus (FROST & YARROW 2007, S. 25 ff). Zusammen mit seiner Partnerin Suzanne Bing suchte er in den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts nach einem neuen Theateransatz unter Rückgriff auf die Commedia dell’ arte unter weitreichender Verwendung von Improvisation sowohl in den Proben als auch in den Aufführungen. Copeaus und Bings Aufenthalt in New York 1913 befruchtete die amerikanische Entwicklung des Improvisationstheaters (FROST & YARROW 2007, S. 26-27), wenn auch direkte Einflüsse schwer nachzuweisen sind. Über Michel Saint-Denis fanden die spielerischen Techniken von Copeau und Bing große Verbreitung an Schauspielschulen und wurden zu einem festen Teil der Schauspielausbildung (FROST & YARROW 2007, S. 35 ff.). Über George Devine kam schließlich Johnstone in Berührung mit der Maskenarbeit Copeaus und entwickelte daraus seinen eigenen Ansatz zu Masken und Trance, sodass auch dieser Aspekt von Copeaus Arbeit eine direkte Fortsetzung im heutigen Improvisationstheater hat (JOHNSTONE 2004).
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Games Copeau und Bing kommt das Verdienst zu, „Games“ in die Schauspielarbeit mit Improvisation eingeführt zu haben (FROST & YARROW 2007, S.27). Hierbei gingen sie einen deutlichen Schritt weiter als Moreno, der zwar vom Kinderspiel inspiriert war, es aber nicht als Arbeitsmethode begriff. Copeau und Bing griffen auf dieselben Quellen zurück, die auch Ausgangspunkt für Spolin wurden, nämlich die progressive Erziehung nach John Dewey und Maria Montessouri, sowie deren praktische Umsetzung in der Walden Infant School durch Margaret Naumburg in New York (FROST & YARROW 2007, S.27). Da Copeau und Bing sich während des ersten Weltkriegs für einen längeren Aufenthalt in New York befanden, fand ein intensiver Austausch statt. Copeau sah das Kinderspiel als eine mögliche Quelle zur Erneuerung des Theaters in Richtung Improvisation: „Somewhere along the line of improvised play, playful improvisation, improvised drama, real drama, new and fresh, will appear before us. And these children, whose teachers we think we are, will without doubt, be ours one day.“ (Copeau zit. in FROST & YARROW 2007, S. 30)
Die Einführung von Games betraf in erster Linie das Training und diente der Herstellung einer spielerischen Grundhaltung. Den Sprung auf die Bühne machten die Games erst deutlich später unter Spolin. Cabotinage und Neutralität Im Mittelpunkt von Copeaus Ansatz steht der Schauspieler, der sich von allen unfruchtbaren, gestelzten, aufgezwungenen Konventionen befreit und dadurch zu einer Art Universalschöpfer wird, der keine vorgegebenen Stücke mehr braucht. Als Feind dieser Befreiung des Schauspielers sah Copeau die „cabotinage“ (FROST & YARROW 2007, S. 29), die Schmierenschauspielerei, mit ihrem Festhalten an Routinen und Gewohnheiten. Copeau benutzte diesen Begriff in einem weiten Sinn und verstand cabotinage als eine Angstabwehr des Schauspielers: Wenn dieser sich grundsätzlich auf der Bühne unsicher fühlt, flüchtet er in Aktion und Bühnenroutine. Im logischen Umkehrschluss muss das Training des Schauspielers ihm diese grundlegende Angst nehmen. Es muss seinen Ausgangspunkt nehmen in der Neutralität des Schauspielers auf der Bühne: „The departure point of expressivity: the state of rest, of calm, of relaxation, of silence, or of simplicity. [...] An actor must know how to be silent, to listen, to respond, to stay still, to begin an action, to develop it, and to return to silence and immobility.“ (Copeau 1955, zit. in FROST & YARROW 2007, S. 28-29)
Frost und Yarrow heben die zentrale Bedeutung von Copeaus Konzept der Neutralität für das Improvisationsspiel hervor (FROST & YARROW 2007). Da es die
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Grundlage für die spezifische Hervorbringung der autopoetischen feedback-Schleife darstellt, wird es in Kapitel III 6 erneut aufgegriffen. Es ist das Verdienst von Copeau und Bing, dieses Konzept erstmals ausformuliert zu haben. Die Impulse dazu kamen aus den neuen Körpertechniken von Émil Jacques Dalcroze und Frederick Mathias Alexander (FROST & YARROW 2007, S. 27). Für Copeau bestand die Schauspielkunst nicht in einstudierten Bühnenaktionen, sondern in der Fähigkeit zur Präsenz, zum Erleben der Bühnensituation. Der Schauspieler sollte Abschied nehmen von allen überkommenen Vorstellungen von Schauspiel, um sich zu öffnen für die reale Begegnung mit dem Publikum. Analog dazu wurden alle Elemente von der Bühne entfernt, die Aufmerksamkeit vom Schauspieler abziehen: Copeau propagierte schon in seinem Manifest von 1913 die leere Bühne (COPEAU 1970). Er führte daher konsequent die Pantomime und das stark körperliche Spiel in die Improvisation ein. Beides sind heute zentrale, kaum reflektierte Merkmale der Materialität des Improvisationstheaters (siehe Kapitel III 1). Obwohl Copeau kein homogenes Konzept der Improvisation hinterlassen hat, wurden durch seine Theaterexperimente wesentliche Weichenstellungen vorgenommen, die das Improvisationstheater nachhaltig prägen. Hierzu gehören insbesondere: 1. 2. 3. 4. 5.
die Einführung von Games als Trainingstechniken das Konzept der Neutralität das Konzept der leeren Bühne die Einführung der Pantomime der erneute Einsatz von Masken
1.4 Viola Spolin (1906-1994): Theater als Kommunikationsspiel Am Ende der 20-er Jahre des 20. Jahrhunderts verschob sich der Schwerpunkt der Entwicklung des Improvisationstheaters in die USA. Copeau war in seiner Arbeitsweise wieder zu inszenierten Stücken zurückgekehrt, die zwar mithilfe von Improvisationen erarbeitet, jedoch am Ende fixiert wurden. Moreno war 1925 in die USA ausgewandert und hatte dort mit seinem Impromptu Group Theatre ab 1929 versucht, an seine Arbeit in Wien anzuknüpfen. Zunehmend verlagerte er aber sein Interesse hin zu Psychodrama, Gruppentherapie und Soziometrie. Der entscheidende Impuls für die Weiterentwicklung des Improvisationstheaters kam aus den Erziehungswissenschaften in Person von Viola Spolin (FROST & YARROW 2007, S. 49 ff). Hintergrund für Spolins Entwicklung war die erfahrungsorientierte Pädagogik von John Dewey und Maria Montessori, die schon für Copeau und Bing zur Inspiration geworden war. Dewey und Montessori wandten sich gegen ein aufgezwungenes, inhaltlich vorgegebenes Lernen und propagierten stattdessen ein demo-
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kratisches Lernen, in welchem das voraussetzungslose Denken und die lebendige, ganzheitliche Erfahrung im Mittelpunkt standen. Eine einflussreiche Vertreterin dieser progressiven Pädagogik war Neva Boyd (1876-1963), eine Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin, die als Lehrerin großen Einfluss auf Spolin hatte (FROST & YARROW 2007, S. 50). Boyd organisierte ab 1921 die Recreational Training School in Chicago, wo Spolin drei Jahre lang ausgebildet wurde. Einen Großteil ihrer wissenschaftlichen Arbeit widmete Boyd der Sammlung und Erforschung von Kinderspielen. Sie veröffentlichte eine Sammlung von ca. 300 Spielen und erforschte ihren Wert für die kindliche Entwicklung. Spolins Arbeit kann als eine Übertragung von Boyds Ansatz im Bereich Theater betrachtet werden. Wie Boyd stellte sie das Spiel in den Mittelpunkt ihres Ansatzes und erfand Dutzende von ‚Theaterspielen‘, die bis heute in Schauspieltrainings breite Anwendung finden. Von 1939 – 42 arbeitete Spolin als Theaterpädagogin im Works Progress Administration Recreational Project, wo die Integration von Einwandererkindern einen wichtigen Schwerpunkt darstellte. Spolin suchte daher nach Wegen, soziale Kompetenzen weitgehend sprachunabhängig und eigenmotiviert zu trainieren. Das Resultat war die Entwicklung der „Theatre-Games“ (SPOLIN 1999). Die Spiele erzeugen ein Lernmilieu, in welchem die Teilnehmer selbständig dramaturgische und schauspielerische Regeln entdecken und trainieren können. Die Games befreien damit aus der Abhängigkeit vom Lehrer und betonen das eigenverantwortliche, eigenzeitliche Lernen. 1946 zog Spolin nach Hollywood, wo sie in ihrer Young Actors Company Schauspielunterricht für Kinder gab und das System immer mehr verfeinerte. Fast 20 Jahre arbeitete sie an einem entsprechenden Buch, das ihren Ansatz erläutern sollte, veröffentlich wurde „Improvisation for the Theatre“ erst 1963, als sie nach Chicago zurückgekehrt war, um ihren Sohn Paul Sills beim Aufbau des ersten professionellen Improvisationstheater, den Compass Players, zu unterstützen. Erst diese Erfahrung einer erfolgreichen Umsetzung ihrer Ideen auf der Bühne setzte sie in die Lage, ihr Manuskript abzuschließen. Ihr Schauspielsystem ist seither ein zentraler Baustein der Theaterpädagogik und vieler Schauspielausbildungen. Für das Improvisationstheater sind ihre Konzepte elementar, sowohl was das Training als auch was die Aufführungspraxis angeht. 1986 veröffentlichte sie mit „Theater Games for the Classroom“ ein zweites Buch, das sich spezifisch auf die pädagogische Anwendung von Improvisationsspielen bezieht. In ihrem Schauspielsystem wurde Spolin durch die Konzepte Stanislawskis beeinflusst (SPOLIN 2002, S. 13), was sich in ihrer starken Betonung des Wer/Wo/Was? wiederspiegelt. Ursprünglich waren Spolins Games als pädagogische Hilfestellungen gedacht, sie begannen aber schon in den 50-er Jahren sich weiterzuentwickeln und die Aufführungen der ersten Improvisationstheater in Chicago zu prägen. Spolin hat in Workshops die Arbeit der Compass Players und von The Second City in Chicago über viele Jahre direkt beeinflusst und offenbar oft die Regiearbeit ihres Sohnes Paul Sills ergänzt (SWEET 2003). Der pädagogische
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Ansatz wurde dadurch nach und nach um einen Aufführungsansatz ergänzt. Beide Aspekte ihres Ansatzes sind eng miteinander verknüpft und bilden ein Ganzes. Für die vorliegende Arbeit steht Spolins Aufführungskonzepte im Mittelpunkt des Interesses. Es finden sich bei Spolin zahlreiche Hinweise darüber, wie sie sich die Aufführung und insbesondere das Verhältnis zum Publikum vorstellte. Im „GameTheatre“, das sie 1968 zusammen mit Sills gründete, dürfte sich ihre Vision eines Theaters am deutlichsten verwirklicht haben. Die Zuschauer sollten hier – ähnlich wie bei Moreno – selber zu Akteuren werden und die von Spolin entwickelten Spiele aufführen (FROST & YARROW 2007, S.55). Das Experiment scheiterte jedoch nach wenigen Monaten am geringen Zuschauerinteresse. Eine schwierige Frage ist, ob Spolin die Arbeit von Moreno gekannt und fortgeführt hat. Sawyer geht davon aus, dass dies der Fall war, da Spolin Begriffe aus Morenos Soziometrie verwendet (SAWYER 2003, S. 22). Spolin selbst hat nicht explizit auf Moreno verwiesen, aber nachdem Morenos Buch über das Stegreiftheater, das 1924 auf Deutsch erschienen war, 1947 überarbeitet und ins Englische übersetzt wurde, war ein Zugriff im Prinzip natürlich möglich. Seine Theaterexperimente in New York von 1929 bis 1948 können Spolin eigentlich kaum entgangen sein. Sawyer meint sogar, dass Spolin die Idee der Publikumsvorschläge von Moreno übernommen habe (SAWYER 2003, S. 22). Spontane Problemlösung und der bewertende Blick Spolins Verwurzelung im Pragmatismus John Deweys ist grundlegend und resultiert in einem Bekenntnis zum erfahrungsorientierten Lernen: „Wir lernen durch Erfahrung und Erleben. Niemand bringt einem anderen etwas bei. Das trifft sowohl für das Kind zu, das vom Strampeln über das Krabbeln zum Gehen kommt, als auch für den Wissenschaftler mit seinen Formeln.“ (SPOLIN 2002, S. 17)
Entsprechend bestehe die Aufgabe des Lehrers nicht darin, Inhalte zu vermitteln, sondern zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Probleme vorzulegen, die den Schüler zu einer ganzheitlichen Problemlösung anregen. Während konventionelles Lernen das Bewusstsein vom Körper trenne und durch fremde Inhalte und Bewertungen zu einer Entfremdung vom eigenen Erleben führe, ermögliche das erfahrungsorientierte Lernen plötzliche Durchbrüche und Aha-Erlebnisse, die sich spontan zum richtigen Zeitpunkt einstellten und zu einem Wachstum des Selbst führen. Eine solche ganzheitliche Herangehensweise beziehe auch den Körper des Lernenden mit ein. Spolins Konzept der Spontanität, das in Kapitel II 3.3 ausführlicher dargestellt wird, verbindet ihren pädagogischen Ansatz mit ihrem Theateransatz: Hier wie dort geht es um Momente unvoreingenommener Erfahrungen, die nicht durch Vorannahmen, Theorien, Vorurteile und frühere Erfahrungen verzerrt sind.
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Als zentrales Hindernis bei der Herstellung einer solchen Erfahrung sieht Spolin eine Erziehung, die die Freiheit des Erlebens durch ständige Bewertungen zerstöre: „In einer Kultur, in der Zustimmung und Ablehnung das wichtigste Regulativ für Leistungen und Positionen geworden sind und oft einen Liebesersatz darstellen, werden unsere persönlichen Freiheiten zerstört.“ (SPOLIN 2002, S. 21)
Dies führe zu einer Fragmentierung des persönlichen Erlebens und zu einer Reduktion der Problemlösefähigkeit: „Wir verlieren die Fähigkeit, organisch mit einem Problem zu verschmelzen und funktionieren nur in Abspaltungen und in Teilen unserer Gesamtpersönlichkeit.“ (SPOLIN 2002, S. 21). Der reflexive, bewertende Blick blockiere die Spontanität und zerstöre die natürliche Synchronisation: „Wir kennen unsere eigene Substanz nicht und bei dem Versuch, mit den Augen anderer zu leben (oder zu vermeiden, mit den Augen anderer zu leben) verwirrt sich unsere Identität, verunstalten sich unsere Körper, verschwindet natürlicher Charme und werden Lernprozesse behindert.“ (SPOLIN 2002, S. 21)
Genau diese Desynchronisation beobachtet Spolin auch, wenn Schauspieler auf der Bühne stehen. Sie erstarren körperlich, fixieren Kopf, Augen und Gelenke, verschließen ihre Sinne und verlieren die Fähigkeit zu spontaner Problemlösung. Der Zuschauerblick sei eine Fortsetzung des bewertenden Eltern- und Lehrerblicks und werde mit Projektionen der eigenen Ängste vor Bewertungen gefüllt: „Entweder sieht man im Publikum einen Haufen von neugierigen Spähern, der von Schauspielern und Leitern geduldet werden muss, oder ein vielköpfiges Ungeheuer, das zu Gericht sitzt.“ (SPOLIN 2002, S. 27). Die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf potentielle Bewertungen verhindere die spontane Problemlösung. Umgekehrt könne die Konzentration auf das Problem dazu benutzt werden, die Fixierung auf Bewertungen zu mildern oder auszuschalten: Je stärker ein Schauspieler sich auf der Bühne auf ein Problem konzentriere, desto mehr werde die zerstörerische Spaltung des Bewusstseins in ein agierendes Ich und ein beobachtendes Ich wieder aufgehoben. Der Schauspieler könne so nach und nach eine andere Einstellung zu den Zuschauern entwickeln: „Wenn der Schauspielschüler beginnt, die Zuschauer nicht als Richter oder Zensoren oder als entzückte Freunde, sondern als eine Gruppe zu betrachten, mit denen er eine Erfahrung teilt, dann löst sich die exhibitionistische Einstellung auf.“ (SPOLIN 2002, S. 27)
Der improvisierende Schauspieler, der ja ständig unvorhergesehene Probleme lösen muss, braucht daher, so Spolin, auf der Bühne immer etwas, worauf er seine möglichst ungeteilte Konzentration richten kann.
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Der Point of Concentration Der Point of Concentration10 ist der zentrale Begriff in Spolins Schauspielsystem und gleichzeitig der Schlüssel zu einem Verständnis ihres Spielbegriffs. Durch ihn wird zunächst die Abhängigkeit des Schülers vom Lehrer minimiert: „[Der Point of Concentration, G.L.] schafft die Notwendigkeit ab, dass der Lehrer die Arbeit eines Schülers auf einer persönlichen Basis analysiert, intellektualisiert und seziert. Damit wird auch der Zwang abgeschafft, dass der Schüler ‚durch‘ den Lehrer oder der Lehrer ‚durch‘ den Schüler gehen muss, um zu lernen. Sie gibt beiden direkten Kontakt zum Material und stellt dabei Beziehungen anstelle von Abhängigkeiten zwischen ihnen her.“ (SPOLIN 2002, S. 35)
Genau wie die Abhängigkeit im Lehrer- Schüler-Verhältnis durch die Konzentration auf das Lernproblem gelöst wird, befreit der Point of Concentration von der Abhängigkeit zwischen Akteur und Zuschauer. Mit diesem Konzept wird die Beziehung zum Publikum von einer dyadischen zu einer triadischen Beziehung erweitert: Abb. 3: Das triadische Verhältnis von POINT OF CONCENTRATION, Schauspieler und Zuschauer
(Quelle: Eigene Darstellung)
Statt in eine Abhängigkeit von Zuschauererwartungen zu geraten, was in einer dyadischen Beziehung unvermeidlich sei, konzentriere sich der Schauspieler auf etwas Drittes, nämlich die Lösung des gegebenen Problems. Die Öffnung zu einer triadischen Beziehung zwischen Zuschauer, Akteur und Material (Aufgabe, Problem) ermögliche laut Spolin überhaupt erst die freie, konstruktive Beziehungsaufnahme:
10 In der englischsprachigen Literatur wird meist nur verkürzt von POC gesprochen.
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„Dieses totale individuelle Aufgehen im Problem (Ereignis oder Projekt) ermöglicht Beziehungen zu anderen. Ohne diese Aufgehen im Objekt müsste man sich entweder mit sich selbst oder mit den anderen Partnern beschäftigen.“ (SPOLIN 2002, S. 39)
Mit dem Point of Concentration hat der Schauspielschüler auf der Bühne immer einen Bezugspunkt außerhalb seiner selbst und außerhalb der Beziehung zum Publikum. Spolins Übungen beginnen mit einfachen Orientierungsübungen, in denen die Schüler lernen, sich auf der Bühne nicht zu verkrampfen. Typisch für ihre Herangehensweise ist etwa die allererste Expositionssitzung: Die Gruppe wird in zwei Hälften geteilt und der einen Hälfte wird gesagt, sie sei nun ‚auf der Bühne‘. Normalerweise wird sich das Verhalten dieser Gruppe sofort verändern, die Teilnehmer werden entweder erstarren oder beginnen, sich bewusst zu präsentieren. Beides schränkt die Problemlösefähigkeit ein und über kurz oder lang wird sich bei den Teilnehmern ein gewisses Unbehagen einstellen, das sich auch auf die Zuschauer überträgt. Im nächsten Schritt erhalten die ‚Darsteller‘ eine einfache Aufgabe, etwa die Zuschauersitze oder die Bühnenbretter zu zählen. Die Wirkung ist unmittelbar und verblüffend: Die Akteure wirken mit einem Schlag nicht mehr befangen, sondern ruhig, entspannt und konzentriert. Mit dieser und darauf aufbauenden Übungen vermittelt Spolin den Schülern immer wieder die Erfahrung, dass der Point of Concentration sie vom Unbehagen des fremden Blickes befreien kann. Die vielfach wiederholte Erfahrung dieser entspannten Konzentration auf der Bühne verdichtet sich zu einer entspannten Grundhaltung, in der Probleme lösbar werden und die auch für die Zuschauer wesentlich angenehmer ist. Die Übungen werden mit der Zeit komplexer, der Point of Concentration wechselt oder es existieren mehrere Punkte der Konzentration. Der Point of Concentration hat nicht zuletzt die Funktion der Komplexitätsreduktion. Ohne ihn besteht die Gefahr der Überforderung und Orientierungslosigkeit der Improvisateure, denn innerhalb der Improvisation sind so viele schnelle Entscheidungen zu treffen, dass der Überblick bald verloren geht und sich das Gefühl von Kontrollverlust einstellt. Verhaltenssicherheit entsteht daher durch die Konzentration auf ein bestimmtes Detail: „Diese Konzentration auf ein Detail inmitten der Gesamtkomplexität der künstlerischen Form gibt jedem Mitspieler – ähnlich wie bei allen anderen Spielen – etwas auf der Bühne zu tun, schafft durch die totale Absorption der Mitwirkenden eine schauspielerische Atmosphäre und beseitigt die Furcht vor Bestätigung oder Ablehnung.“ (SPOLIN 2002, S. 38)
Hinter dem Ansatz des Point of Concentration verbirgt sich ein Paradox: Gerade weil der Improvisateur sich nur auf einen Nebenaspekt konzentriert, entsteht ein ästhetisches Ganzes. Die Besonderheit der improvisierenden Produktion besteht eben darin, dass der Künstler niemals zurücktritt, um sein Werk zu betrachten, und
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niemals Korrekturen vornimmt. Er bleibt die ganze Zeit im Prozess und verliert dabei notwendigerweise den Überblick über sein Schaffen. Durch den Point of Concentration wird die Angst des Spielers vor Kontrollverlust über die Situation minimiert oder sogar ganz ausgeschaltet. So schwer dieses Phänomen theoretisch fassbar ist, so allgegenwärtig und einfach ist es in der improvisatorischen Praxis. 11 Spolin kommt das Verdienst zu, diese Grundlagentechnik erstmals für das Improvisationstheater formuliert und im Training nutzbar gemacht zu haben. Sie betrachtet den Point of Concentration als „ein Sprungbrett ins Unbewusste.“ (SPOLIN 2002, S. 37). Die Theater-Games Nachdem die Technik des Point of Concentration für die Schüler selbstverständlich geworden ist, werden Games eingeführt, die einen Point of Concentration in Bewegung herstellen.12 Spolin vergleicht dies mit dem Ball bei einem Ballspiel. Solange die Aufmerksamkeit der Spieler auf dem Ball ist, tritt die Bühnenangst in den Hintergrund. Die Spiele stellen sicher, dass der Point of Concentration immer in Bewegung ist und somit die Aufmerksamkeit niemals fixiert wird. Beispielhaft dafür sind die Spiegelübungen „Follow the Follower“, die Spolin in vielfältiger Weise einführt: Dabei liegt der Point of Concentration auf dem Spielpartner und zwar wechselweise, so dass beide Spieler fortlaufend das Gegenüber spiegeln. Beide bleiben dabei in Bewegung, sodass ein bewegter Point of Concentration für beide Spieler vorhanden ist. Da jeder Zug des Partners mit einem eigenen Zug beantwortet wird, ist die Grundform eines Spiels gegeben. Die von Spolin entwickelten Spiele fokussieren immer auf ein bestimmtes Problem der schauspielerischen Darstellung und bieten dadurch einen Point of Concentration. Sehr viele der Übungen beschäftigen sich mit der Erhaltung von Spontanität in der Bühnensituation. Andere dienen konkret der Erarbeitung der Grundinfor-
11 Der Point of Concentration stellt möglicherweise eine elementare, universelle Improvisationstechnik dar. Auch die musikalische Improvisation kennt ein ähnliches Konzept. Stephen Nachmanovitch beschreibt diese Improvisationstechnik für die Geige: „Auf der Geige kann ich irgendeinen musikalischen Inhalt spielen, aber mich gleichzeitig sorgsam darauf konzentrieren, wie ich ständig subtil den Fingerdruck variiere. Seltsamerweise geschieht es ziemlich häufig, dass sich der Unsinn als ziemlich schön herausstellt, und zwar genau WEIL ich woandershin schaue und mich darauf konzentriere, einen MikroAspekt meiner Technik interessant und sauber erscheinen zu lassen.“ (NACHMANOVITCH 2008, S. 94) 12 Sawyer weist darauf hin, dass Spolin nicht die Erste war, die Games ins Theatertraining einführte, obwohl dies häufig behauptet wird. Dieses Verdienst kommt wohl Jaques Copeau und Suzanne Bing zu (SAWYER 2003, S. 22).
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mationen Wo?/Wer?/ Was? innerhalb der Szene. Weitere Schwerpunkte bilden die Einbeziehung des Körpers in die Kommunikation sowie die Bewusstheit der Sinne, also das Zuhören auf der Bühne, das Sehen und den Kontakt der Spieler untereinander. Spolin achtet darauf, dass die vermittelte Erfahrung immer eine ganzheitliche Erfahrung ist, dass eine rein intellektuelle Erfahrung vermieden wird. Die Spiele sind so konzipiert, dass eine rein mentale Lösung – etwa durch Vorausplanung von Szenen unmöglich wird: „Probleme sollten strukturiert werden: nur in diesem Sinne ist Vorausplanung notwendig. Die Struktur setzt sich aus dem Wo, dem Wer und dem Was und dem Point of Concentration zusammen. Vorausgeplant wird das (Spiel-) Feld, auf dem das Spiel stattfindet. ‚Wie‘ das Spiel abläuft, können nur die Spieler auf dem Spielfeld wissen.“ (SPOLIN 2002, S. 51)
Dadurch befreit das jeweilige Game auch von der Notwendigkeit, inhaltliche Absprachen zu treffen, was als qualitativer Sprung gewertet werden muss: Die Commedia dell’ arte und auch Moreno hatten sich auf Scenarios oder Vorabsprachen verlassen, die inhaltliche Aspekte des Spiels festlegten. Spolin dagegen verließ sich auf formale Absprachen zwischen den Spielern und Spielerinnen, die sich nur auf die Interaktionsregeln bezogen und als Games in der Lage waren, ständig neue Inhalte hervorzubringen, ohne selber inhaltliche Vorgaben zu machen. Die Bühnentauglichkeit der Games erwies sich erst nach und nach, weder Spolin noch Sills sahen sie zunächst als geeignet an, alleine eine Aufführung hervorzubringen. So verließen sich die Compass-Players zunächst noch auf Szenarios genau wie die Commedia dell’ arte. Auch bei The Second City standen die improvisierten Spiele nicht im Mittelpunkt, sondern waren den inszenierten Sketchen untergeordnet (SAWYER 2003, S. 24). Erst ab Mitte der 60-er Jahre wurden die Games zum zentralen Element von Improvisationstheateraufführungen. Theater als gemeinsamer Erfahrungsraum für Akteure und Zuschauer Spolin sieht die Theatersituation weniger unter ästhetischen als unter kommunikativen Gesichtspunkten. Die jeweiligen theatralen Mittel sind der Kommunikationssituation untergeordnet und dienen ihr. „Theatertechniken sind alles andere als heilig. Theaterstile verändern sich im Verlauf der Jahre radikal, denn Theatertechniken sind Kommunikationstechniken. Die Aktualität der Kommunikation ist viel wichtiger als die gebräuchlichen Methoden.“ (SPOLIN 2002, S. 28).
Der kommunikative Aspekt bleibt bei Spolin zu jedem Zeitpunkt der Aufführung erhalten. Daher sind Illusion und Identifikation in ihrem Theater nicht erwünscht; sie plädiert für eine gewisse Distanz zum fiktionalen Bühnengeschehen:
84 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „Sie [die Zuschauer, G.L.] sollten nicht die Lebensgeschichte anderer nachleben müssen (nicht einmal für eine Stunde!). Sie sollten sich nicht mit den Schauspielern identifizieren und durch diese müde, überlieferte Gefühle ausleben müssen. Sie sind Individuen, die die Fähigkeiten der Schauspieler (und Dramatiker) beobachten, und die Schauspieler (und Dramatiker) müssen diese Fähigkeiten für jeden einzelnen von ihnen benutzen, um die magische Welt des Theaters entstehen zu lassen. In dieser Welt sollte jede menschliche Situation, jedes Rätsel, jede Vision erforscht werden können.“ (SPOLIN 2002, S. 27-28)
Schauspieler und Zuschauer kommunizieren dabei nicht innerhalb der realen Welt, sondern innerhalb einer künstlich hergestellten Theaterwelt und deren Künstlichkeit wird nicht kaschiert. Auf der Bühne geht es also nicht um eine Nachahmung der realen Welt, nicht um Mimesis: „Der Künstler muss eine Welt in Anspruch nehmen und ausdrücken, die mehr ist als eine genaue Beobachtung und Information, mehr als das physische Objekt selbst, mehr als das Auge sehen kann.“ (SPOLIN 2002, S. 31). Die Aufgabe der Schauspieler ist bei Spolin zunächst die Erzeugung dieser Theaterwelt gemeinsam mit den Zuschauern, so dass sich alle Beteiligten innerhalb dieser Welt befinden und hier frei kommunizieren können. Die von Spolin vertretenen Grundprinzipien betreffen nicht nur die improvisierende Produktion sondern gestalten auch das Verhältnis zum Publikum. Nach Spolin soll es beim Improvisationstheater keine vierte Wand zwischen Zuschauern und Akteuren geben. Die Schauspieler sollten die Präsenz der Zuschauer nicht verdrängen, sondern Wege finden, das eigene Erleben auf der Bühne auch unter dem Blick der Zuschauer nicht zu spalten. Das Publikum werde dann nicht als fremdes Außen erlebt, sondern als lebendiger Teil des Theater-Spiels: „Wenn das Publikum als organischer Teil der Theatererfahrung verstanden wird, dann stellt sich beim Schauspielschüler sofort das Verantwortungsgefühl eines Gastgebers ein, das keine nervöse Spannung in sich trägt. Die vierte Mauer verschwindet und der einsame, zuschauende Eindringling wird Teil des Spiels, Teil der Erfahrung und wird willkommen geheißen!“ (SPOLIN 2002, S. 27).
In einem solchen Verhältnis von Zuschauer und Akteuren wird die Beziehung zwischen Bühne und Zuschauerraum zu einem beidseitigen, entspannten Austauschverhältnis. Dies beinhalte auch einen Verzicht auf Kontrolle über das Publikum. Ebenso wie die Schauspieler besitze jeder Zuschauer das Recht auf Freiheit seines persönlichen Erlebens. Der Freiheit der Akteure steht mithin eine Freiheit der Zuschauer gegenüber, beide sind Teilnehmer einer freien Kommunikation. Die Aufführung sollte daher so gut es geht von allen manipulativen Anteilen befreit werden (SPOLIN 2002, S. 27).
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Die Schauspieler sollen kein subjektives Material einfließen lassen oder gar persönliche Gefühle auf die Bühne bringen, denn dies würde Energie von der Kommunikation abziehen. „Uns kann nicht beschäftigen, was er [der Schauspieler, G.L.] glaubt, denn das ist ein intime, private Angelegenheit des Darstellers und gehört nicht in die Öffentlichkeit. Auch die Gefühle des Schauspielers gehen uns im Rahmen einer Theateraufführung nichts an. Wir sollten uns nur für seine direkte körperliche Kommunikation interessieren; seine Gefühle gehören ihm allein.“ (SPOLIN 2002, S. 30)
Trotz der vielfachen Betonung des Selbstwachstums als Wert sieht Spolin die Theatersituation nicht als Ort der Selbsterfahrung oder des Selbstausdrucks. Eher sieht sie den Aufbau einer gemeinsamen Kommunikation durch individuelle Gefühle – im Wortgebrauch Spolins „Exhibitionismus“ (SPOLIN 2002, S. 59) – gefährdet, weshalb sie auf der Bühne unerwünscht sind. Gefühle binden Aufmerksamkeit und stören damit die Fokussierung auf den Point of Concentration, die das Spiel in Gang hält. Idealerweise bleibt für solche Prozesse der Selbstaufmerksamkeit keine Zeit: „Wenn Energie von einem physischen Objekt aufgesogen wird, dann gibt es keine Zeit mehr für ‚Gefühle‘. Auch ein Verteidiger auf dem Fußballfeld hat keine Zeit mehr, sich ausführlich mit seiner Kleidung zu beschäftigen.“ (SPOLIN 2002, S. 30)
Mit solchen Auffassungen grenzt sich Spolin deutlich vom Psychodrama ab. Es geht ihr nicht um die Fokussierung des Spieler auf das eigene Selbst, sondern um die Begegnung mit dem Anderen durch etwas Drittes, das kollaborativ in einem Akt freier Kommunikation erzeugt wird. Fazit: Spolin Immer wieder stößt man bei Spolin auf eine triadische Gestaltung von Beziehungen, dies gilt sowohl für das Verhältnis zwischen Lehrer-Schüler und RegisseurSchauspieler als auch für die Beziehung zum Publikum. Der Point of Concentration und die Games öffnen die Beziehung hin zu etwas Drittem, dem Material, dem Problem, der Aufgabe, dem Spiel. Über dieses gemeinsame Dritte kann dann eine kooperative Beziehung aufgebaut werden: Die Zuschauer können sich mit Vorschlägen beteiligen und die Akteure können über ihre Tätigkeit des Spielens öffentlich sprechen. Die Aufmerksamkeit des Publikums wird genau wie die der Spieler auf das Dritte, nämlich die Spielregeln – und insgesamt den Spielcharakter der Darstellung – gelenkt. Die Öffnung hin auf dieses Dritte, das Spiel, ist die Vorausset-
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zung für eine Begegnung mit den Zuschauern, die frei ist von Manipulationen und Abhängigkeiten. Dies ist der eigentliche Hintergrund von Spolins Games.13 Der Beitrag Spolins zur Entwicklung des Improvisationstheaters umfasst folgende Aspekte: 1. 2. 3. 4.
die Einführung von selbstorganisierenden Prozessen des Lernens die Einführung des Konzeptes des Point of Concentration die Ausarbeitung eines auf Theater-Games basierenden Theateransatzes die Konzeption der Theatersituation als Kommunikationssituation
1.5 Keith Johnstone (*1933): Theater an der Grenze des Bewusstseins Johnstone ist derzeit wohl der bekannteste lebende Vertreter des Improvisationstheaters. In Europa wird er oftmals als ‚Erfinder‘ des modernen Improvisationstheaters bezeichnet – worüber amerikanische Improvisateure regelmäßig sehr erstaunt sind, da sie fast ausschließlich von der Chicagoer Schule geprägt sind. Johnstones Improvisationsansätze, insbesondere die Aufführungsform Theatersport, haben sich über die gesamte Welt verbreitet. Sein Beitrag umfasst Konzepte zur Förderung von Spontanität, ausführliche Improvisationsanleitungen, eine Theorie des Improvisationstheaters und detaillierte Anleitungen für Übungen und Aufführungsformate. Johnstone wurde 1933 in England geboren und absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Kunsterzieher, bevor er sich 1956 der English Stage Company anschloss, wo er ein wichtiges Mitglied der Writers Group wurde, die er ab 1963 leitete (FROST & YARROW 2007, S. 56). Johnstone hat nie ein Schauspieltraining absolviert; stattdessen hinterfragte er kritisch das Training seiner Schauspieler, die in der Tradition Stanislawskis ausgebildet waren (SALINSKY & WHITE 2008, S.4) und entwickelte aus dieser Kritik einen alternativen Schauspielansatz. 1965 präsentierte er eine erste improvisierte Show unter dem Titel Clowning. Aus diesem Ensemble ging 1967 die Theatre Machine hervor, die zur Expo in Montreal erstmals in Erscheinung trat. Johnstone tourte mit der Theatre Machine etwa vier Jahre lang vor allem in Europa, wobei er die Rolle des Moderators und Spielleiters einnahm. 1971 verließ Johnstone die Gruppe, um als Schauspiellehrer in Calgary, Kanada, zu wirken, wo er seine wichtigen Improvisationsformen Theatersport, Gorilla Theater, Micetro und Life-Game entwickelte. Gleichzeitig baute er dort das Improvisationstheater Loose Moose auf, das weitgehend aus nicht-professionellen
13 Im Laufe ihres Einsatzes im Improvisationstheater ist diese ursprüngliche Intention vielfach verlorengegangen: Die Games werden wie Kunststückchen im Varieté angekündigt; die Spieler stellen ihre Virtuosität unter Beweis.
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Schauspielern besteht und bis heute ein wichtiges Zentrum des Improvisationstheaters darstellt. Johnstone hat zwei grundlegende Bücher zum Improvisationstheater veröffentlicht, die seinen Ansatz detailliert darstellen. „Improvisation and the Theatre“ erschien 1979 und enthält seine Konzepte zum Thema Spontanität, Status und Masken. „Impro for Storytellers“ wurde 1998 veröffentlicht und widmet sich den konkreten Aufführungsformen, die detailliert beschrieben werden. Johnstones Einfluss auf das moderne Improvisationstheater ist kaum zu überschätzen. Er hat die Improvisationskulturen in vielen Ländern geprägt. Seine Improvisationsformen haben sich auch deshalb weltweit verbreitet, weil sie eine Möglichkeit zum künstlerischen Austausch bieten: Im Theatersport begegnen sich verschiedene Gruppen, um ‚gegeneinander‘ zu improvisieren. Auf diese Weise hat er einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass sich eine globale Impro-Community bilden konnte, in der Konzepte und Spielformen zirkulieren und sich weiterentwickeln können. Johnstones Ansatz wird im Folgenden anhand seiner Bücher darstellt. Ergänzt wird das Material durch drei seiner Interviews – 1998 mit Tina Wellmann, 2008 mit Veit Güssow und 2008 mit Tom Salinsky & Frances Deborah-White. Auch Johnstones Ansatz zu Masken und Trance, der in vielen Darstellungen ausgeklammert wird, findet Berücksichtigung, da hier besonders deutlich wird, wie Johnstone die Entstehung von Figuren versteht. Johnstone zieht zahlreiche Quellen außerhalb des etablierten Theaterbetriebs heran. So bezieht er sich in der Maskenarbeit auf Besessenheitskulte, in der Statusarbeit auf die Verhaltensbiologie von Konrad Lorenz und Desmond Morris, in seinem Trainingsansatz auf die systematische Desensibilisierung Joseph Wolpes und so weiter. Johnstone orientiert sich an einem Theaterbegriff, der die Grenzen des traditionellen, textbasierten Theaters in alle Richtungen erweitert – etwa in der Analogie zum Sport oder unter Rückgriff auf ursprüngliche Theaterformen. Weiterhin bedient er sich Techniken der surrealistischen Kunstproduktion wie des automatischen Schreibens. Das Buch von Spolin hat Johnstone nach eigenen Angaben 1966 gelesen. Er bestreitet jedoch einen Einfluss auf die eigene Arbeit und grenzt sich im Gegenteil deutlich von der Chicagoer Schule ab, die er für zu stark an Stanislawski orientiert hält: „Ich hielt Stanislawskis Beharren auf den ‚gegebenen Umständen‘ für eine ernstliche Beschränkung, und ich mochte dieses ‚Wer, Was Wo‘ nicht, eine Herangehensweise, zu der meine Schauspieler mich drängten und von der ich vermute, dass sie aus Amerika kam (beschrieben ist sie in Viola Spolin, Improvisation for the theatre, [...]. Zum Glück habe ich dieses Buch erst 1966 gelesen, ein Zuschauer hat es mir geliehen).“ (JOHNSTONE 2004, S. 39)
Ausdrücklich grenzt er sich auch von der amerikanischen Tradition ab, sich Vorschläge aus dem Publikum zurufen zu lassen, da er der Meinung ist, dass immer nur alberne und pseudo-originelle Vorschläge zur Bühne durchdringen:
88 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „Bei der amerikanischen Art der öffentlichen Improvisation basiert jede Szene auf Vorschlägen aus dem Publikum, und je alberner die Vorschläge sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie angenommen werden – da Lachen das Maß aller Dinge ist.“ (JOHNSTONE 1998, S. 73)
Johnstones Beitrag ist – wie diejenigen von Moreno und Spolin – der Beitrag eines Querdenkers, der die Traditionen des Theaters radikal in Frage stellt. Geprägt wird sein Beitrag auch durch den Rückgriff auf Wachtangow und damit auf die Commedia dell’ arte: es bleibt immer ein Hang zur Groteske und alle von ihm eingeführten Techniken unterstützen die spontane Produktion von surrealistisch anmutenden Szenen. Hierin liegt ein deutlicher Unterschied zur Chicagoer Schule der Improvisation, die einen intellektuelleren, satirischeren Stil hervorbringt. Die Spontanität des Unterbewusstseins Ähnlich wie Moreno und Spolin sieht Johnstone das Ideal des spontanen Spiels im Kinderspiel verwirklicht. Eines seiner zentralen Themen ist das Erlöschen der kindlichen Spontanität im Prozess der Sozialisation. Bis etwa zum 11. Lebensjahr seien Kinder zur Spontanität vollständig in der Lage, in der Pubertät verschwinde sie dagegen fast gänzlich (JOHNSTONE 2004, S. 131). Johnstone sieht die Ursachen in einer Erziehung, die sehr große Anpassungsleistungen verlange und enge Grenzen der Normalität definiere. Ein Jugendlicher in der Pubertät könne diesen Anforderungen unmöglich entsprechen und entwickle eine oberflächliche Anpassung, unter der Spontanität und Kreativität langsam abstürben. Der Heranwachsende sei gezwungen, alle Impulse, die als psychotisch oder obszön wahrgenommen werden könnten, aus dem Verhaltensrepertoire zu verbannen, um als normal wahrgenommen zu werden. „Ich begann, Kinder nicht als unreife Erwachsene zu betrachten, sondern Erwachsene als verkümmerte Kinder.“ (JOHNSTONE 2004, S. 36). Johnstones Ansatz führt zu einem Trainingsprogramm für Spontanität: „Die einzelnen Stufen, die ich mit meinen Schülern zu bewältigen versuche, bestehen darin, ihnen bewusst zu machen, dass wir 1. gegen unsere Phantasie ankämpfen, vor allem dann, wenn wir versuchen, phantasievoll zu sein; dass wir 2. für den Inhalt unserer Phantasien nicht verantwortlich sind; und dass wir 3. nicht, wie man uns das beigebracht hat, unsere jeweilige ‚Persönlichkeit‘ sind, sondern dass die Phantasie unser wahres Ich ist.“ (JOHNSTONE 2004, S. 179)
Dieses Programm zur Freisetzung der Spontanität bildet sowohl einen zentralen Schwerpunkt seiner theaterpädagogischen Arbeit als auch den Kern seines Schauspieltrainings. Schritt für Schritt vermittelt Johnstone dabei Erlebnisse von Spontanität.
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Johnstones Menschenbild ist eine Variation des psychoanalytischen Menschenbildes: Das Unterbewusste speise sich aus triebhaften Strebungen, die gesellschaftlich nicht akzeptabel sind und daher verdrängt werden müssen. Im Gegensatz zu Freud versteht Johnstone das Unterbewusstsein jedoch auch als Quelle von Freude und Kreativität: „Nicht mehr Sexualität und Gewalt werden, wie es für das Wien der Jahrhundertwende galt, in unserer Kultur unterdrückt. Wir unterdrücken unsere Güte und Zärtlichkeit.“ (JOHNSTONE 2004, S. 348). Verdrängte Impulse bilden für Johnstone die zentrale Triebfeder der Improvisation. Sie werden durch seine Techniken ermutigt und zum Vorschein gebracht. Johnstone betrachtet das Theater grundsätzlich als einen Ort, an dem die gesellschaftliche Anpassung einen Gegenpol findet. Seine Techniken dienen der Enthemmung – sowohl der Akteure als auch der Zuschauer. Spontanität ist für ihn in den Grenzbereichen des Bewusstseins angesiedelt, in denen die Kontrolle des Bewusstseins geschwächt ist. Die Vorstellung einer individuellen Persönlichkeit ist dabei eher ein Hemmnis, weil sie oberflächlich und nach außen gewendet ist: „Für mich ist die ‚Persönlichkeit‘ die Public-Relations-Abteilung der Seele, die selbst unerkannt bleibt.“ ( JOHNSTONE 2004, S. 263). Von Anfang an suchte Johnstone nach Techniken, die an den Grenzen des Bewusstseins ansetzen: Der Ursprung seiner Arbeit sind Erfahrungen mit hypnagogischen Bildern, also Bildern, die kurz vor dem Einschlafen im Halbschlaf auftauchen (JOHNSTONE 2004, S. 14). Spontanität sieht er eng an Trancephänomene gekoppelt und Johnstone hat in großem Umfang mit leichten und mittleren Trancezuständen experimentiert, insbesondere in seiner Maskenarbeit. In der Regel führen die entsprechenden Übungen zu einer zweigeteilten Aufmerksamkeit, einem leicht dissoziativen Zustand – beispielsweise wenn er Schüler von 100 rückwärts zählen und gleichzeitig eine Geschichte schreiben lässt. Johnstones These ist, „dass das ‚Splitten der Aufmerksamkeit‘ anderen Teilen der Persönlichkeit die Möglichkeit gibt, zu agieren.“(JOHNSTONE 1998, S. 25). Johnstone arbeitet vor allem mit leichten Formen von Trance zur Freisetzung des Unbewussten – ein Aspekt, der sich in seiner Maskenarbeit noch verstärkt und dort auch zu mittleren und schweren Tranceerlebnissen führen kann. Status Einer der wichtigsten Beiträge Johnstones besteht in der Übertragung des Statuskonzeptes von der Verhaltensbiologie auf das Schauspiel. Inspiriert wurde er dazu von Konrad Lorenz´ „Beschreibung des Statusverhaltens von Dohlen“ (JOHNSTONE 1998, S. 354). Er nimmt weiterhin Bezug auf den Verhaltensbiologen Desmond Morris (JOHNSTONE 2004, S. 117). Für Johnstone ist Status eine zentrale Kategorie nicht nur des menschlichen Verhaltens, sondern auch des Theaters, da sowohl die Komödie als auch die Tragödie implizit von Statusveränderungen handelten. Die Tragödie sei immer die Geschichte des Statusverlustes eines statushohen Mitglieds der Gruppe:
90 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „Es geht darum, ein Hochstatus-Tier aus dem Rudel zu drängen [...]. Wird ein Mensch mit sehr hohem Status abgesetzt, freuen sich alle, weil sie das Gefühl haben, selbst eine Stufe höher zu steigen.“ (JOHNSTONE 2004, S. 64-65)
Dabei weise die Tragödie eine Nähe zum rituellen Opfer auf: „[...] niemals aber darf es [das Hochstatus-Tier] den Eindruck machen, es würde eine tiefere Stellung in der Hackordnung akzeptieren. Es muss aus ihr ausgestoßen werden. Offensichtlich ist die Tragödie mit dem Opfer verwandt.“ (JOHNSTONE 2004, S. 65)
Auch die Komödie ist nach Johnstone im Wesentlichen ein Spiel mit dem Status. Dort gehe es um den lustvollen Verlust von Status: „Ein Komiker ist jemand, der dafür bezahlt wird, seinen eigenen oder den Status anderer zu senken.“ (JOHNSTONE 2004, S. 63). Improvisationsschauspieler – aber auch Schauspieler allgemein – müssen daher das Spiel mit dem Status beherrschen. Johnstones Statusbegriff bezieht sich nicht auf einen festen Sozialstatus, sondern auf ein dynamisches Konglomerat von Verhaltensweisen. Status ist hier nicht etwas, das man hat, sondern etwas, das man tut. Er muss permanent im Kontakt mit den Mitmenschen hergestellt werden. Die Teilnehmer einer Interaktion machen unabhängig vom Inhalt der Kommunikation immer auch eine Aussage über den eigenen Status und den Status des Gegenübers. Es handelt sich um einen im Wesentlichen körpersprachlichen Ausdruck, der sich in der Haltung, der Beziehung zum Raum, dem Timing, dem Blick und dem Sprechverhalten mitteilt. Dabei ist das Statusverhalten weitgehend unbewusst, kann aber auch bewusst eingesetzt werden. Beziehungen auf der Bühne wirken, wie Johnstone konstatiert, erst dann echt, wenn sie Statusverhalten umfassen (JOHNSTONE 2004, S. 69). Mit der Einführung des Begriffs Status verschiebt Johnstone den Fokus der Bühneninteraktion von der Inhalts- auf die Beziehungsebene. Auf der Beziehungsebene finden, so Johnstone, permanente Prozesse des Aushandelns von Status statt, die ein fortlaufendes körpersprachliches Agieren hervorrufen. Das Statuskonzept bringt die Improvisationsspieler daher in wechselseitige Abhängigkeiten: Wenn ein Spieler seinen Status erhöht, senkt er gleichzeitig den Status des anderen. Johnstone spricht hier von der „Statuswippe“ (JOHNSTONE 1998, S.51). Im nächsten Spielzug muss der zweite Spieler seinen Status wieder erhöhen – und reduziert damit wiederum den Status des ersten Spielers. Es entsteht ein kybernetischer Tanz, ein ständiges wechselseitiges Aufeinander-Reagieren der Interaktionspartner. Statusspiele werden innerhalb der Improvisation als ‚heimliche Spiele‘ (siehe Kap. III 4.4) eingesetzt, d.h. sie werden dem Publikum nicht mitgeteilt, sind den Mitspielenden aber bekannt. Durch solche heimlichen Spiele wird ein ständiger zusätzlicher Strom von Interaktionen freigesetzt. Sie binden einen Teil der Aufmerksamkeit der Improvisateure und dienen damit auch als Point of Concentration im Sinne von
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Spolin. Nicht zuletzt bilden Statusspiele eine Grundlage für Geschichten, indem der Status einer Figur im Laufe der Handlung verändert werden kann. Mit dem Statusspiel führt Johnstone ein äußerst nützliches heimliches Spiel als Technik der Improvisation ein. Extreme Statusunterschiede – wie etwa in den Herr/KnechtSpielen (JOHNSTONE 2004, S. 105) – führen zu einer gewissen Nähe zur Groteske und damit zur Commedia dell’ arte. Kleinere Statusunterschiede führen zu lebendigem körperlichem Zusammenspiel. Masken und Trance Bereits 1973 – also sechs Jahre vor „Improvisation and the Theatre“ – veröffentlichte Johnstone seine Gedanken zur Verbindung von Besessenheitskulten und Theater (JOHNSTONE 1973). Sie bilden die Grundlage für das Kapitel „Masken und Trance“, das fast ein Drittel von „Improvisation and the Theatre“ ausmacht. Dieser Teil seiner Arbeit war Johnstone immer sehr wichtig und er hat die Maskenarbeit über die Jahre fortgesetzt und weiterentwickelt. Sie muss – zusammen mit dem Statusbegriff – als eine Grundlage seiner Schauspieltechnik gesehen werden. Die Hinwendung zu Masken und Trance ist eine logische Fortsetzung von Johnstones Arbeit an den Grenzen des Bewusstseins. Unter der systemtheoretischen Perspektive dieser Untersuchung ist sie gleichzeitig ein gutes Beispiel für Emergenz – in diesem Fall für die Emergenz von Figuren als plötzlich ‚aus dem Nichts‘ erscheinenden Entitäten. Johnstone hält Besessenheit und Trance für ganz normale Alltagsphänomene, die seit den Anfängen des Theaters mit diesem verknüpft waren und in den meisten Kulturen noch verknüpft seien. Lediglich die westliche Kultur versuche, Zustände von Trance und Besessenheit zu bekämpfen und zu verleugnen, insbesondere durch die Erziehung: „Erziehung an sich ist vielleicht an erster Stelle eine Anti-TranceUnternehmung.“ (JOHNSTONE 2004, S. 256). Analog zur Bekämpfung aller Bewusstseinszustände außerhalb des Alltagsspektrums, sei die Maske aus dem Theater vertrieben worden.14 Konsequent orientiert sich Johnstone daher an ethnologischen Studien zur Besessenheit in ursprünglichen Kulturen. Es geht ihm dabei um die Herstellung von Formen der leichten und mittleren Trance, also solchen Formen, die im Alltag auftreten, ohne überhaupt als solche erkannt zu werden und solchen, die im geschützten Rahmen einer Gruppe unter Anleitung eines Leiters entstehen. Johnstone spricht hierbei von einer „kontrollierten Trance“ (JOHNSTONE 2004, S. 269). Der geschützte Rahmen erlaube es den Spielern, die Alltagspersönlichkeit abzulegen:
14 Eine besondere Rolle bei der Vertreibung der Maske habe die katholische Kirche gespielt, für die jede Art von Besessenheit gleichbedeutend mit einem Teufelskult gewesen sei (JOHNSTONE 2004, S. 256).
92 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „In fast allen gesellschaftlichen Situationen wird von einem erwartet, dass man eine gleichbleibende Persönlichkeit aufrechterhält. Beim Arbeiten mit Masken lernen wir, loszulassen und zuzulassen, dass ein anderes Wesen Besitz von uns ergreift.“ (JOHNSTONE 2004, S. 259)
Um ein Einwirken einer solchen fremden Entität zu ermöglichen, müsse der Spieler darauf verzichten, die Figur willentlich steuern zu wollen: „Die Maske stirbt, wenn sie dem Willen des Darstellers unterworfen wird.“ (JOHNSTONE 2004, S. 257). Die Techniken, die Johnstone zur Induktion einer kontrollierten Trance aufzählt, sind: Bewegungslosigkeit, Entspannung, Augen schließen, Singen, Sprechgesang, erschöpfende, monotone Bewegung (JOHNSTONE 2004, S. 286). Der Hypnotiseur verwendet weiterhin Hochstatusverhalten und widersprüchliche Befehle, durch die das Trancemedium verwirrt wird. Die Induktion der Besessenheit geschieht dann sehr plötzlich durch Aufsetzen der Maske und kurzes Betrachten der Maske im Spiegel (in der Regel zwei Sekunden). Dieser jähe Impuls – Johnstone spricht von einem „Schock“ (JOHNSTONE 2004, S. 286) – soll ausreichen: Der Spieler soll mit einem Schlag alles über seine Maske wissen – ein Nachdenken und Konstruieren von Umständen ist ausdrücklich nicht erwünscht und wird als Abwehr interpretiert. Was auch immer der Spieler inkorporiert, soll nicht in Teilen, sondern als Ganzes empfangen werden – analog zu einem Geist, der in einen Menschen fährt. Johnstone lässt offen, inwieweit er tatsächlich die Existenz solcher fremder Entitäten annimmt. Man kann aber davon ausgehen, dass er zu einem platonischen Ideenbegriff neigt, nach dem bestimmte Urbilder existieren, die überindividuell sind und gefunden werden können. Er zählt eine Reihe immer wieder auftauchender Grundgestalten auf wie „Die Waise“ (JOHNSTONE 2004, S. 300) und „Der Henker“ (JOHNSTONE 2004, S. 305). Obwohl die Masken auf einen Schlag inkorporiert werden, sind sie mit dieser ‚Geburt‘ nicht fertig, sondern ähneln eher unwissenden Neugeborenen als ausgearbeiteten Figuren: „Eine Maske ist wie ein Neugeborenes, das nichts von der Welt weiß. Alles ist neu für sie und sie hat keinen Zugang zu den Fähigkeiten ihres Trägers.“(JOHNSTONE 2004, S. 289). Der Spielleiter habe daher die Aufgabe, die Maske zu trainieren. Sie entwickele sich dann so weiter, dass sie irgendwann auf der Bühne verwendbar sei und auch die Sprache beherrsche. Die Maske emergiert also zwar mit einem Schlag und ist vollständig vorhanden, jedoch noch nicht entfaltet, nicht entwickelt – sie muss noch ‚erzogen‘ werden. Masken und Trance charakterisieren einen Zugang zur Figur, die den entsprechenden Ansätzen der Stanislawski-Schule diametral entgegengesetzt ist. Die Figur wird nicht in ihren Einzelaspekten durchgearbeitet, sondern ganzheitlich ‚empfangen‘. Der Spieler bemüht sich nicht um Einfühlung in die Figur, sondern verwandelt sich schlagartig in das ihm fremde Wesen. Er überlässt sich Impulsen, die ihm zunächst fremd erscheinen, indem er die Kontrolle über seine Handlungen abgibt.
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Ob es sich dabei um äußere Entitäten handelt oder um innere Repräsentationen, bleibt offen und ist für die Praxis nicht weiter relevant. Für die vorliegende Untersuchung ist dagegen von Bedeutung, dass Johnstone hier offensichtlich Phänomene der Emergenz provoziert: Das Erscheinen der Figur geschieht nicht aus einzelnen Anweisungen und ist nicht auf diese zurückzuführen. Was genau in Erscheinung tritt ist unvorhersehbar, irreduzibel und neu – womit es den Kriterien von emergenten Phänomenen entspricht. Das Auftreten geschieht plötzlich – nach einer ausführlichen Vorbereitungsphase, was ebenfalls typisch für emergente Phänomene ist. Sehr konsequent analysiert Johnstone die Bedingungen, unter welchen eine Besessenheit als emergentes Phänomen die höchste Auftrittswahrscheinlichkeit hat. Die wichtigste Bedingung scheint dabei das Ausschalten einer zentralen Kontrollinstanz, der Persönlichkeit, zu sein. Erzähltechniken Für Johnstone ist das Improvisationstheater in erster Linie ein Mittel des Geschichtenerzählens. Ein umfangreiches Kapitel zum Erzählen präsentiert Johnstone in seinem ersten Buch, in seinem zweiten Buch rückt der Ansatz des Geschichtenerzählens noch stärker in den Mittelpunkt, was sich schon im Titel ausdrückt: „Impro for Storytellers“15. Er widmet hier über 50 Seiten dem Thema Geschichtenerzählen. Für Johnstone liegt darin ein wesentlicher Unterschied zur Impro-Comedy, die hauptsächlich auf Pointen abziele, letztendlich aber weniger Entwicklungsmöglichkeiten biete: „Der Improvisierer, der die Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen, nicht entwickelt, kommt aus der Tretmühle, immer einen noch ‚besseren Witz‘ finden zu müssen, nicht heraus.“ (JOHNSTONE 1998, S. 112). Wie beim Thema Spontanität geht Johnstone davon aus, dass es eine natürliche Fähigkeit zum Geschichtenerzählen geben muss, sodass das Training sich darauf konzentrieren kann, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die diese Fähigkeit blockieren. Eine zentrale Schwierigkeit besteht darin, das vorausplanende Denken zu stoppen und trotzdem zu einer Art Gesamtkomposition der Geschichte zu kommen. Sehr bekannt wurde sein Bild des Improvisationsspielers als rückwärtsgehendem Menschen: „Ein Improvisations-Spieler muss wie ein Mensch sein, der rückwärts geht: Er sieht, wo er gewesen ist, aber er achtet nicht auf Zukünftiges. Seine Geschichte kann ihn überall hin führen, doch er muß ihr ein ‚Gleichgewicht‘ und Struktur geben, das heißt sich an die vorangegangenen Episoden erinnern und sie wieder in die Geschichte einführen.“ (JOHNSTONE 2004, S. 198)
15 Der deutsche Titel „Theaterspiele“ ignoriert diesen Aspekt und schafft einen irreführenden Bezug zu Viola Spolins „Theatre Grames“.
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Damit der Improvisationsspieler sich ohne Vorausplanung durch die Geschichte bewegen kann, orientiert er sich an dem, was bereits hinter ihm liegt und fügt diesem etwas hinzu. In der ersten Hälfte der Geschichte werden dabei neue Elemente eingeführt, in der zweiten Hälfte werden sie verknüpft. In zunehmendem Maße muss der Improvisateur sich also an den Anfang der Szene erinnern, weil „Geschichten Struktur erhalten, indem sie ihren eigenen Anfang ausschlachten.“ (JOHNSTONE 1998, S. 25). Da der improvisierende Schauspieler keine Zeit zur Reflexion hat, besteht die zentrale Schwierigkeit darin, eine Geschichtenstruktur zu finden, die so einfach ist, dass sie intuitiv erfasst werden kann. Zudem muss sie unabhängig vom Inhalt sein, damit dieser sich in jede beliebige Richtung entwickeln kann: „Ich musste entscheiden, was eine Geschichte ist, und eine Theorie präsentieren, der sich ein improvisierender Schauspieler ohne Überlegung in jeder Situation bedienen konnte. Es war offensichtlich, dass die ‚17 Grundgeschichten‘ mich dabei zu sehr einschränken würden. Ich brauchte eine Methode, nach der man mit allem, was zutage treten sollte, umgehen kann.“ (JOHNSTONE 2004, S. 190)
Zunächst entwickelte Johnstone mehrere Techniken zur spontanen Geschichtenproduktion: automatisches Schreiben, „Wortjagd“ und „Nur ein Wort auf einmal“. In „Improvisation und Theater“ präsentierte er außerdem drei minimale Regeln für das Erzählen von Geschichten: 1. Eine Routine wird unterbrochen. 2. Die Handlung bleibt auf der Bühne, d.h. sie darf nicht ausweichen auf einen anderen Ort oder eine andere Zeit. 3. Die Geschichte darf nicht neutralisiert werden. (JOHNSTONE 2004, S. 242) Geschichten starten demnach mit einer Routine, d.h. mit einer ersten Szene, in der die Grundinformationen eingeführt werden. Es soll zunächst nicht zu Konflikten kommen, damit die Normalität der Figuren gezeigt werden kann. Erst in der nächsten Phase wird die Plattform ‚gekippt‘, indem etwas Unerwartetes geschieht. Die Punkte 2 und 3 spezifizieren, was in der Folge nicht passieren sollte: Kein Ausweichen auf Nebenhandlungen und kein Neutralisieren von Geschichten. Unter Neutralisieren versteht Johnstone die oft beobachtete Tendenz von Spielern, einmal eingeführte Elemente der Geschichte zu ignorieren oder bedeutungslos werden zu lassen. Stattdessen sollen sie möglichst wieder in die Geschichte eingeführt werden und sinnvoll verknüpft werden. Die grundlegende Erwartung des Theaterpublikums besteht laut Johnstone darin, eine Erschütterung der Normalität mitzuerleben, und insbesondere zu sehen wie
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eine Figur von einer anderen Figur verändert wird (JOHNSTONE 1998, S. 25). Der Aufbau eines spezifischen Erwartungsrahmens soll in Kooperation mit dem Publikum geschehen. Die Spieler sollen sich innerhalb dieses Erwartungsrahmens bewegen und keinesfalls versuchen, originell zu sein, weil sie damit die Geschichte zerstören: „Die Phantasie der Zuschauer bewegt sich innerhalb des Erwartungsrahmens. Aber der durchschnittliche Improvisationsspieler arbeitet außerhalb dieses Rahmens.“ (JOHNSTONE 1998, S.119). Neben der Tendenz zur Originalität und zur Arbeit außerhalb des Erwartungsrahmens benennt Johnstone eine Vielzahl von weiteren „blockierenden“ Verhaltensweisen, die alle dazu führen, den Fluss des Erzählens zu unterbrechen oder zu beenden; sie verhindern, dass sich eine Geschichte entwickeln kann (JOHNSTONE 1998, S. 159 ff). Die Geschichten starten von einem Zustand stabiler Ordnung, um in ihrem Verlauf destabilisiert zu werden: „Geschichten bewegen sich von der Beständigkeit zum Chaos; ihre Struktur entsteht, indem Rätsel eingebaut und gerechtfertigt werden.“ (JOHNSTONE 1998, S. 112). Fazit: Johnstone Insgesamt existieren große Überschneidungen von Johnstones Ansatz mit den Improvisationstechniken der Chicagoer Schule (SALINSKY & WHITE 2008, S. 38 ff). Darüber hinaus liefert Johnstone aber zahlreiche eigenständige Beiträge, die die Improvisationskultur weltweit durchdrungen haben. Seine Aufführungsformate wie Theatersport und Gorilla-Theater sind ausgesprochen erfolgreich und haben dazu geführt, dass ein internationaler Austausch der Improvisationsgruppen stattfinden kann. Weiterhin kann Johnstone als Hauptvertreter der britisch-kanadischen Improvisationsschule gelten, die einen Stil entwickelt hat, der sich stark auf das Erzählen von Geschichten konzentriert. Durch seine Konzepte des Status und der Besessenheit hat Johnstone Anschlüsse an Biologie und Ethnologie geschaffen, die das Improvisationstheater noch weiter vom literarischen Theater abgrenzen. Zu seinen Beiträgen gehören vor allem: 1. 2. 3. 4.
die Entwicklung von Schauspieltechniken, die unbewusstes Material verwenden die Wiedereinführung von Maskenarbeit und Trance die Einführung des Konzeptes Status die Einführung von Modellen und Techniken des spontanen Geschichtenerzählens
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1.6 Del Close (1935-1999): Assoziatives Theater Obwohl der Beitrag von Close zur Theorie des Improvisationstheaters auf den ersten Blick unscheinbar wirkt – er veröffentlichte nur ein einziges Buch und auch dieses nur als Koautor – ist seine Bedeutung für die Praxis und Theorie des Improvisationstheaters groß: Er entwickelte mit Harold eine völlig neue, assoziative Aufführungsstruktur, die zur Grundstruktur praktisch aller sogenannten Impro-Langformen wurde. Close versuchte, das Improvisationstheater aus dem Bereich des Laienspiels in ein professionelles Theater weiterzuentwickeln. Weder Moreno noch Spolin hatten bis dahin eine Improvisationsform entwickelt, das für ein professionelles Theater wirklich funktionierte. Daher gibt es, wie Salinsky und White konstatieren, eigentlich nur zwei Begründer des professionellen Improvisationstheaters: Johnstone und Close (SALINSKY & WHITE 2008, S. 5). Paradoxerweise hat Close eine ausgesprochen theatrale Improvisationsform entwickelt, obwohl er eigentlich als Comedy-Performer startete (SALINSKY & WHITE 2008, S. 9). Sein zentrales Werk ist „Truth in Comedy“ (1994). Es entstand in Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin und Partnerin Charna Halpern und seinem Freund Kim Johnson und enthält ein Improvisationskonzept, das so einfach formuliert ist, dass man es leicht unterschätzen kann. Es ist der Versuch, Improvisationserfahrungen aus über 30 Jahren auf ein kompaktes, einfaches Regelsystem zu reduzieren. Das Buch hat einen beständigen und großen Einfluss auf die Bereiche Comedy und Improvisationstheater entwickelt, vor allem in den USA. Die Konzepte von Close wurden und werden weiterverbreitet von Halpern z. B. in „Art by Committee“ (2006) und „Group Improvisation“ (2006).16 Close war ab 1957 Mitglied der St. Louis Compass Players, einem Zweig der originalen Compass Players aus Chicago, der sehr bald eigene Wege ging und für die Entwicklung des Improvisationstheaters besonders wichtig wurde, weil er stärker auf freie Improvisation setzte als die Compass Players und The Second City, die sich im Wesentlichen auf Scenarios verließen (JOHNSON 2008, S. 44-61). Die St. Louis Compass Players stellten sich der Herausforderung, eine rein improvisierte, professionelle Show zu präsentieren und begannen bald, nach grundlegenden Regeln zu suchen, die ein erfolgreiches Improvisieren vor zahlendem Publikum ermöglichen sollte. Sie ließen dabei schnell den politischen Anspruch von Sills und Shepherd hinter sich. Letzterer distanzierte sich von den St. Louis Compass Players mit den Worten: „You’ve turned it into entertainment. You’ve ruined my dream.“ (Shepherd, zit. in JOHNSON 2008, S.49). Gerade durch die Hinwendung zum
16 Grundlage für dieses Kapitel ist außer diesen Büchern auch das Interview mit Del Close mit Jeffrey Sweet (SWEET 2003, S. 137- 156).
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Entertainment und zu pragmatischen Fragen legten die St. Louis Compass Players aber die Grundlage für viele Generationen von Improvisationsgruppen. In den 60-er und 70-er Jahren arbeitete Close als Regisseur bei The Second City (Chicago) und The Committee (San Francisco) und verbreitete seine Konzepte durch Workshops. Mit The Committee in San Francisco startete er ab 1967 erste Versuche mit improvisierten Langformen, die er in den 70-er Jahren in Chicago fortsetzte. 1983 traf er Charna Halpern, gemeinsam entwickelten sie den Harold weiter und machten ImprovOlympics (heute I.O.) in Chicago zu einer erfolgreichen Aufführungsstätte für Harold und andere Langformen. Das Format Harold hat eine neue Ästhetik des Improvisationstheaters geprägt: „[An] innovative, surreal, and even quasi-religious mode of long-form improv.“ (SEHAM 2001, S. 39). Close propagierte die konsequente Aufwertung des Improvisationstheaters zu einer eigenständigen Kunstform, die nicht – wie bei der damals vorherrschenden Improvisationsgruppe The Second City – lediglich als eine Vorstufe betrachtet werden könne. Er geriet daher in eine Opposition zu Berhard Sahlins, dem Leiter von The Second City: „Close couldn’t be more fundamentally at odds with the former king of improv. Where Sahlins sees improvisation as nothing more than writing by other means, Close sees it as ‚a doorway to something‘. Where Sahlins looks for the irony in a scene, Close claims to look for the transcedent. And where Sahlins finds nothing to justify an extended improvisation, Close envisions complex, multi-character theatre pieces.“ (ADLER 1993, S. 15)
Immer wieder betonte Close, dass Improvisation als vollwertige Kunstform etwas entstehen lässt, das durch keine andere Produktionsform hervorgebracht werden kann: „That’s still our point – not that we get the material through improvisation, but that we get a certain kind of material you don’t get any other way.“ (Close zitiert in CHARLES 2003, S. 228). Close nahm ab 1960 an einer Serie von Workshops mit Viola Spolin teil, grenzte sich jedoch von ihrem Ansatz ab, den er nicht für professionell einsetzbar hielt (Close im Interview mit Sweet, SWEET 2003, S. 142). Er verwies später hingegen häufig auf Johnstone. Ein bisher kaum referierter Bezug von Close ist seine Rezeption von Norbert Weiners „Cybernetics“ und John von Neumanns „Game Theory“. Dies ist insofern von Bedeutung als damit ein Einfluss von systemtheoretischen Überlegungen auf das Improvisationstheater belegt werden kann – und zwar zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Theoriebildung von Close, nämlich 1957: „We did not know what we were doing. After a few weeks of doing what I didn’t know how to, and not very well, at that, I became hysterical, and, with the assistance of Norbert Weiner’s Cybernetics and an IBM pamphlet on ‚Game Theory‘, began to develop a Theory.“ (Close in JOHNSON 2008, S. 39).
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Close setzte sich auch später mit systemtheoretischen Ansätzen auseinander, etwa mit Weiners „The Human Use of Human Beings“ (JOHNSON 2008, S. 49), in der Hoffnung, eine anspruchsvollere Form der Improvisation zu entwickeln. In erster Linie war Close jedoch geprägt von der amerikanischen Kultur der Spontanität, die sich in den 50-er und 60-er Jahren vor allem als Gegenkultur zum etablierten Mainstream entwickelte. Er wird als charismatische Persönlichkeit mit einem Hang zu exzessivem Drogenkonsum und zu Depressionen geschildert (JOHNSON 2008). Es existieren zahlreiche Anekdoten über ihn, in denen Wirklichkeit und Fiktion vermischt sind, etwa in Kim Johnson Biographie: „The funniest in the room“ (2008) oder Charna Halpern in „Art by Committee“ (2006). Seine Stilisierung zum ‚Impro-Guru‘ ändert aber nichts daran, dass sein Beitrag zum Improvisationstheater als qualitativer Sprung gewertet werden muss. Ein erstes Regelsystem des Improvisationstheaters Unter Beteiligung von Theodor Flicker, Elaine May und Del Close entstanden gegen Ende der 50-Jahre drei Grundregeln für das gemeinsame Improvisieren: „1. Never deny reality. If another actor establishes something as real, the other actors cannot negate it. 2. Take the active choice. Whenever an actor is faced with a decision during a scene or a game, the actor should always choose the one that will lead to more action. 3. It is the actor’s business to justify whatever happens onstage. An actor cannot invent a character that can deny the reality of the scene by claiming it is ‚out of character‘.[...]“ (JOHNSON 2008, S. 53)
Diese drei Regeln sind so entworfen, dass sie die grundlegenden Schwierigkeiten bei der Improvisation korrigieren: Erstens Probleme bei der Konstruktion einer gemeinsamen Bühnenrealität (1), zweitens Schwierigkeiten durch das Vermeiden von Handlung (2), drittens Probleme durch das Heraustreten aus der Rolle (3). Diese dritte Regel bezieht sich auf das Verhältnis von Schauspieler und gespielter Figur: Der Schauspieler soll nicht ‚out of character‘ spielen, d.h. er darf nicht aus der Figur heraustreten, um zu kommentieren oder zu erzählen. Er verzichtet auf einen Standpunkt außerhalb der Figur. Das ist beim Comedytheater durchaus nicht selbstverständlich, das Beiseitesprechen war vielmehr immer ein Privileg der komischen Figur und die Versuchung, dies zu tun, ist beim Improvisationstheater sehr groß, da es vom Publikum fast immer mit einem Lacher belohnt wird. Das Bemerkenswerte an diesem ersten Regelsystem ist, dass Close sich hier bereits darum bemühte, mehr als nur eine Ansammlung von Improvisationstipps zu geben; ihm ging es um ein Regelsystem, eine minimale Gesamtheit von aufeinander abgestimmten und miteinander interagierenden Regeln. Eine ähnlich kompakte Reduzierung auf wenige Regeln ist später nicht mehr erreicht worden (vgl. Kap. II 2).
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Connections Close stimmt mit Spolin und Johnstone darin überein, dass jeder Versuch, witzig zu sein, die Improvisation stört. Gags sind daher in seinem Ansatz grundsätzlich nicht erwünscht (HALPERN, CLOSE & JOHNSON, 1994, S. 26). Sie werden verstanden als ein Versuch, das Bühnengeschehen und die Reaktionen der Zuschauer zu kontrollieren. Eine solche Kontrolle und Manipulation der Zuschauer sei beim Improvisationstheater kontraproduktiv. Es gehe nicht primär darum, das Publikum zum Lachen zu bringen, auch wenn Improvisateure dies oft glaubten: „It’s easy to become deluded by the audience, because they laugh. Don’t let them make you buy the lie that what you’re doing is for the laughter. Is what we are doing comedy? Probably not. Is it funny? Probably yes.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON, 1994, S. 25)
Während das Lachen ein Nebeneffekt ist, geht es für Close zentral um eine andere Zuschauerreaktion, nämlich das Herstellen von Verbindungen: „Connections are a much more sophisticated way to get laughs. When an audience sees the players start a pattern, they finish the connections in their own minds. They are forced to think just a tiny bit, and when they have to work along with the players to recognize the laugh, it is much more gratifying for the audience, which has had its intelligence flattered.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON, 1994, S. 29)
Close sieht den Zuschauer in einer aktiven Rolle, die auch eine intellektuelle Leistung erfordert. Die von den Spielern angebotenen Elemente, werden durch den Zuschauer in einer Wahrnehmungsleistung vervollständigt. Das Publikum erhält die Aufgabe, selber Verbindungen herzustellen. Dadurch wird es beim Harold möglich, einzelne Elemente zu präsentieren, die auf den ersten Blick völlig unverbunden nebeneinander stehen, was manchmal stark an eine Performance-Aufführung erinnern kann. Das Herstellen von Verbindungen wird grundsätzlich den Zuschauern überlassen. Bei einer solchen Produktionsweise ist es durchaus möglich, dass der Spieler nicht weiß, welche Verbindungen das Publikum herstellt oder warum es lacht: „One of the most disquieting moments for a novice performer is when he (or she) gets a laugh that is completely unexpected. Improvisers often like to feel ‚in control‘ of scenes; such laughter tends to prove just the opposite is occurring.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON, 1994, S. 16)
Die Spieler sollen die Kontrolle über die Publikumsreaktionen aufgeben und stattdessen darauf vertrauen, dass einfache, ehrliche Entdeckungen interessanter sind als mühsam ausgedachte Inhalte: „The truth is funny. Honest discovery, observation,
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and reaction is better than contrived invention.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 15). Gerade aus dem Verzicht auf Witze entsteht nach Close paradoxerweise die beste Form von Humor: „Where do the best laughs come from? Terrific connections made intellectually, or terrific relevations made emotionally.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 25). Das Gesamtgefüge von Akteur und Zuschauern wird bei Close auf eine neue Basis gestellt: Es ist nicht die Aufgabe des Improvisateurs, Verbindungen herzustellen. Er kann sich aber darauf verlassen, dass diese Verbindungen hergestellt werden; sie stellen sich ‚von selber‘ ein und können gar nicht vermieden werden: „The laughs will come soon enough from connections – and connections cannot be avoided.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 28). Die Produktionstechniken des Harold stellen dabei sicher, dass die Elemente der Aufführung nicht zufällig sind, sondern eine innere Verbindung haben: Zu Beginn der Aufführung wird vom Publikum ein einziges Wort eingeholt, das alle Teile der Improvisation inspiriert, auch wenn sie sonst nicht das Geringste miteinander zu tun haben. Verbindungen emergieren während des Harold sowohl in der Wahrnehmung der Zuschauer als auch in der Wahrnehmung der Akteure. Sie bilden dabei Muster (Patterns). Sowohl der Prozess der Musterbildung als auch der der Mustererkennung geschieht dabei ‚von selbst‘. Die Verbindungen, um die es Close geht, sind keine geplanten, gewollten Verbindungen, sondern solche, die sich ergeben, indem Elemente auf der Bühne unverbunden präsentiert werden. Solche Verbindungen sind mithin emergent, d.h. unvorhersehbar, irreduzibel und neu. Die Group Mind Noch stärker als Spolin und Johnstone betont Close das Ensemblespiel: „The only star in improv is the ensemble itself.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 37). Die Spieler formen ein Ensemble, das durch intuitive Wahrnehmung der Gruppe miteinander verbunden ist. Es bilde sich eine sogenannte Group Mind (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 91-100). Sawyer vermutet, dass Close den Begriff aus dem Klassiker von Mc Dougall „The group mind“ (1921) übernommen habe (SAWYER 2003, S. 107), womit er in der Tradition der französischen Soziologie der Massen in der Nachfolge von Gustave Le Bon stünde. Close selber hat nicht auf diese Quelle verwiesen, sondern zunächst versucht, den Begriff von esoterischen Interpretationen abzugrenzen – was allerdings nur beschränkt gelungen ist, insbesondere da die Group Mind offenbar als außeralltäglicher Bewusstseinszustand und Bewusstseinserweiterung verstanden wird: „We are releasing higher and greater powers of the human being. [...] That is what we mean when we say that Harold ‚appears‘. A melding of the brains occurs on stage. When improvisers are using seven or eight brains instead of their own, they can do no wrong! Time slows down and the player has a sense of where he is.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 87)
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Die Group Mind ist – im Unterschied etwa zum kollektiven Unbewussten Carl Gustav Jungs – ein flüchtiges Ereignis, das sich während einer kollektiven Aktion bildet, danach aber wieder verschwindet. Close vergleicht sie mit dem, was ein Volk von Jägern auf der Jagd verbindet. Ein anderes Beispiel ist ein Fußballteam in Aktion. Es handelt sich also nicht um ein festes soziales System, sondern um ein emergentes Phänomen innerhalb eines sozialen Systems. Close sieht die Entstehungsbedingungen für die Group Mind in einer erhöhten Aufmerksamkeit der Mitspieler füreinander und in einem bedingungslosen Akzeptieren ihrer Ideen: „When a team of improvisers pays close attention to each other, hearing and remembering everything, and respecting all that they hear, a group mind forms.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 92). Die zentrale Behauptung ist, dass die Group Mind über die einzelnen Beiträge hinausgeht, dass sie kreativer und intelligenter ist als die einzelnen Teilnehmer. „The group intelligence is much more than the sum of its parts.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 92). Wenn die Spieler mit der Group Mind verbunden sind, wachsen sie über sich hinaus und vollbringen Leistungen, die sie aus sich selber heraus nicht leisten könnten. Die Group Mind ist daher ebenfalls als Emergenzphänomen zu betrachten. Die Komplexität entsteht erst durch Interaktion relativ einfacher Elemente auf einer höheren Ebene. Das Entstehen der Group Mind ist eine fragile Sache: Sie ist insbesondere bedroht durch die ständigen Versuche der Einzelspieler, ihre individuelle Kreativität über die Kreativität der Gruppe zu stellen und diese damit zu kontrollieren: „If one person controls the Harold, it is no longer a group effort, and the group mind is destroyed.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 119). Der Spieler soll seine Aufmerksamkeit nicht darauf richten, individuell zu glänzen, sondern darauf, die anderen gut aussehen zu lassen: „Treat others as if they are poets, geniuses and artists, and they will be. The best way to look good is to make your fellow players look good.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 43). Im Idealfall sieht sich ein Spieler lediglich als Werkzeug der Improvisation: „The best Harold player thinks of himself as a tool for the Harold, and tries to find his function in the piece, sublimating himself to the needs of the work.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 117). Es gibt hier – ähnlich wie bei Johnstone, eine Tendenz, den Prozess der Improvisation zu personifizieren und als externe Kraft zu betrachten: Der Harold ‚erscheint‘ und ‚stirbt‘ nach einer gewissen Zeit. Die Group Mind ist ein umstrittenes Konzept, hat aber dessen ungeachtet eine hohe Bedeutung für die improvisatorische Praxis entwickelt. Find the Game Close geht von Spolins Spielbegriff aus, erweitert ihn jedoch zu einem viel offeneren Konzept: Bei ihm sind Games etwas, was innerhalb der ersten Dialoglinien auf der Bühne auftaucht, um dann von den Spielern erkannt und gespielt zu werden. Es geht ihm nicht um Regelspiele, sondern um emergente Spiele (siehe Kapitel III 4).
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Er verweist dabei auf den Spielbegriff von Eric Berne, der postuliert, Menschen seien „natural game players.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 58), sie könnten gar nicht anders als spielen. Das Game (oder Pattern) wird von den Spielern in der Improvisation nicht bewusst hergestellt, sondern lediglich wahrgenommen und dann ausgebaut. Es entsteht, so die These von Close, innerhalb der ersten drei Dialoglinien und führt dazu, dass die Szene Struktur erhält: „The games, or scenic structures, are always created on the spot as part of the improvised initiation.[...] Most of the time, the scenic game is discovered within the first three lines of the scene.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 59). Wenn die Spieler das Spiel gefunden haben, können sie die gesamte Szene darauf aufbauen: „Find your game, and you’ve found your scene.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S.87). Verwirrung stiftet Close dadurch, dass er die Begriffe Pattern und Game teilweise synonym verwendet. Was er damit meint, erschließt sich eher durch seine Übungen und Beispiele als durch seine Erklärungen. Das „Pattern Game“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S.29) ist etwa ein Gruppen-Assoziationsspiel, das kreiert wurde, um ein Gespür für emergierende Muster zu bekommen. Die frei assoziierten Elemente werden im Rückblick auf Muster untersucht, etwa bestimmte Themen oder Themenkomplexe. Das Muster bildet sich also auf der inhaltlichen Ebene, beispielsweise wenn Themen wie Trauer oder Sexualität die Assoziationen durchziehen. Die Kunst des „Find the Game“ besteht darin, diese Muster der Interaktion herauszuhören, zu verstärken und miteinander zu verknüpfen. Als Beispiel führt Close das Thema Status an (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 85): Das Ziel des einen Teilnehmers, den eigenen Status zu erhöhen, hat immer Auswirkungen auf die Zielerreichung des anderen, indem dessen Status herabgesetzt wird. Auf diese Weise verknüpfen sich die einzelnen Spielzüge zu einem Game. Im Unterschied zu Johnstone stellt Close jedoch nicht Statusspiele in den Mittelpunkt, sondern betont, dass es unendlich viele Spiele gibt und dass diese erst auf der Bühne entstehen. Die Spiele werden nicht ausgedacht, sondern entstehen ‚von selbst‘ durch die Interaktion der Spieler. Fazit: Close Zusammenfassend kann man sagen, dass der Beitrag von Close in vielerlei Hinsicht das Thema der Emergenz beim Improvisationstheater betont – ohne allerdings selber diesen Begriff zu verwenden: Sowohl in der Entstehung des Bühnengeschehens als auch in der Gesamtstruktur der Aufführung werden Bedingungen hergestellt, die Emergenz erzeugen sollen: Emergenz von Patterns, Emergenz von Games, Emergenz der Group Mind. Darüber hinaus thematisiert er auch emergente Phänomene auf der Zuschauerseite, nämlich die Emergenz von Verbindungen (Connections) in der Zuschauerwahrnehmung. Phänomene der Emergenz sind dabei generell gekoppelt an den Verzicht auf Kontrolle über die Aufführung.
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Close hat weiterhin sehr früh versucht, nicht nur einzelne Regeln zu formulieren, sondern ein Regelsystem von aufeinander abgestimmten Regeln für das Improvisationstheater zu entwerfen. Es ist vermutlich die scheinbare Einfachheit dieses Regelsystems, das „Truth in Comedy“ so erfolgreich werden ließ und gleichzeitig dazu führt, dass es immer noch unterschätzt wird. Der Beitrag von Close umfasst folgende Aspekte: 1. die Fokussierung auf emergente Phänomene 2. der programmatische Verzicht auf die Kontrolle der Bedeutungszuschreibung (Emergenz von Connections) 3. die Entwicklung eines Regelsystems des Improvisationstheaters 4. die Entwicklung der ersten Improvisationstheater-Langform
2 D AS R EGELSYSTEM UND DIE F ACHSPRACHE DES I MPROVISATIONSTHEATERS Seit über 40 Jahren diskutiert und experimentiert die Improvisationstheater-Community weltweit, wobei mehrere Zentren herausstechen wie Chicago, New York, Calgary, Seattle und Berlin. Der Diskurs geschieht über Festivals, Buchveröffentlichung und Dutzende von Internet-Seiten. Dabei werden die im Vorigen dargestellten Einzelbeiträge rezipiert, es fließen aber auch die anonymen Beiträge der gesamten Improvisationstheater-Community ein, durch welche sich die geschilderten Ansätze permanent weiterentwickeln. Da der Gedanke der open source vorherrscht, muss man das Regelsystem, das im Folgenden dargestellt wird, als eine kollektive Produktion betrachten. Es bildet sich dabei ein System von Improvisationsregeln und fachsprachlichen Begriffen, das schulübergreifend relativ einheitlich ist. Unfruchtbare Konzepte wurden in diesem Prozess aussortiert, fruchtbare werden ausdifferenziert. Sawyer spricht von einer „grass-root theory of discursive action“, bzw. von einer Ethnotheorie des Improvisationstheaters (SAWYER 2003, S. 91 ff). Es handelt sich um ein operatives Begriffssystem, mit dem sich Improvisationsspieler über ihre Tätigkeit verständigen und mit dem sie ‚gute Improvisation‘ identifizieren können. Die Fachsprache und das Regelsystem sind wiederum untersuchbar: Dabei ist von Bedeutung, welche Bereiche überhaupt lexikalisiert wurden und für welche Phänomene sich differenzierte Begriffe durchgesetzt haben.17 Man kann davon ausgehen, dass
17 Für die Auswertung der Fachsprache und des Regelsystems gelten allerdings dieselben methodischen Einwände wie bei der Auswertung von „How to improvise“-Bücher: Sie stellen keine Gebrauchsanweisungen für das Improvisieren dar, sondern beschreiben
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es sich bei stark ausdifferenzierten Bereichen um besonders wichtige Themen des Improvisationstheaters handelt. Eine Ethnotheorie des Improvisationstheaters wirft also ein Licht auf die praktische Bedeutung der in den vorigen Kapiteln herausgearbeiteten Begriffssysteme. Als Grundlage für die folgenden Ausführungen dient Sawyers Kapitel „What actors know – an ethnotheory of conversation“ (SAWYER 2003, S. 91-120), in welchem er das Regelsystem der Chicagoer Improvisationsschule nachzeichnet. Die Konzepte werden hier neu geordnet und vervollständigt durch Regeln, die Johnstone (1998, 2004) formuliert. Weiterhin werden einschlägige Internetseiten einbezogen, nämlich http://www.unexpectedproductions.org/living_playbook.htm (abgerufen am 13.10.2010) und http://www.improvencyclopedia.org/ (abgerufen am 21.10.10). Zusätzlich wird die Arbeit von Salinsky und White berücksichtigt, die die Begriffe der beiden großen Improvisationsschulen verglichen und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet haben (SALINSKY & WHITE 2008). Die Urheberschaft von Regeln ist oft nicht eindeutig zuzuordnen. Die im Folgenden gemachten Quellenangaben sind in vielen Fällen nicht gleichzusetzen mit der Urheberschaft der Regel, sondern bezeichnen nur deren Fundort. In den schon länger existierenden englischsprachigen Impro-Communities sind die Begriffe stark ausdifferenziert. Die deutsche Impro-Fachsprache ist weniger trennscharf, sie kommt im Großen und Ganzen mit den Begriffen Angebote machen und Blockieren aus. Es existieren daher für viele der folgenden Begriffe keine deutschen Entsprechungen, weshalb sie in Englisch wiedergegeben werden. 2.1 Der Graswurzel-Level: Zug um Zug Der Graswurzel-Level stellt so etwas wie den größten gemeinsamen Nenner der Improvisationsschulen dar. Übereinstimmung besteht darin, dass der Prozess des Improvisierens in einzelne Züge (turns) zerlegt werden kann. Jeder Zug besteht aus einem Angebot (offer) und einer Antwort (response) auf dieses Angebot. Der Improvisationsprozess schreitet dadurch Zug um Zug voran, wobei jeder Zug an den vorherigen anknüpft und auf diesen aufbaut. Es ist von großer Wichtigkeit, dass jedes Angebot mit dem vorherigen Angebot in Übereinstimmung (agreement) steht, also keine logischen Widersprüche und Brüche in der Bühnenrealität verursacht. Das vorige Angebot muss daher zunächst immer akzeptiert werden, bevor etwas Neues hinzugefügt wird. White und Salinsky (2008) haben nach einer Reise durch die verschiedenen Improvisationskulturen Nordamerikas und Europas eine weitgehende Übereinstimmung über diesen Punkt festgestellt:
lediglich Methoden zur Herstellung von optimalen Bedingungen von emergenten Prozessen.
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„The same principle – offers which can be blocked or accepted – is common to every school of improvisation we have so far encountered. Del Close prefers to use the words ‚initiate‘ for offer (or for a certain class of offers), ‚yield‘ for accept and ‚deny‘ for ‚block‘, but the principles are the same.“ (SALINSKY & WHITE 2008, S. 57)
Ebenso wie Salinsky und White kommt Sawyer (2003) zu dem Schluss, dass es sinnvoll ist, den Begriff des Angebots ins Zentrum seiner Ethnographie des Improvisationstheaters zu stellen. Er bezeichnet die Regel des „Yes and ...“ als die grundlegende und wichtigste Regel des Improvisierens: „This rule specifies that in every conversational turn, an actor should do two things: metaphorically say yes, by accepting the offer proposed in the prior turn, and add something new to the dramatic frame.“ (Sawyer 2003, S. 94)
Das Yes-And-Prinzip fasst die zwei Aktionen zusammen, die gemeinsam einen turn bilden: Das Akzeptieren (Yes) und das Hinzufügen (And). Anfänger trainieren die Anwendung des Prinzips, indem sie tatsächlich jede Äußerung mit „Ja! Und...“ beginnen. Beispiel: A: „Weißt du noch, wie Tante Martha Geburtstag hatte?“ B: „Ja! Und wie sie ihr Geschenk nicht aufbekam!“ A: „Ja! Und wie du ihr dann das große Küchenmesser gebracht hast!“ B: „Ja!. Und wie du es mit dem Schleifstein scharf gemacht hast!“ Usw. Es reicht dabei nicht aus, einfach eine Information zu bestätigen. Das Akzeptieren eines Angebots bedeutet vielmehr, dass der Spieler es innerhalb der Spielrealität als real und bedeutend kennzeichnet. Weiterhin muss der Spieler dem Angebot durch seine Antwort eine neue Information hinzufügen. Durch das Yes-And-Prinzip wird sichergestellt, dass die Kommunikationsbeiträge der einzelnen Spieler aneinander anschließen und zu einer Informationskette werden: „The whole point of the ‚yes and‘ game is to build a chain of ideas, each linked to the previous one.“ (SALINSKY & WHITE 2008, S. 59). Dadurch wird eine fiktionale Realität kollaborativ erzeugt. Die Zug-um-Zug- Produktionsweise verhindert, dass ein Einzelspieler zu viel oder zu wenig zu einer Szene beiträgt. Jeder Zug kann in zwei kommunikative Akte unterteilt werden: Angebote annehmen und Angebote machen. Obwohl es sich bei den turns um kreisförmige Interaktionen handelt, kann man doch sagen, dass sie ihren Ausgangspunkt im Akzeptieren der Angebote haben – und zwar auch dann, wenn vielleicht noch gar kein bewusstes Angebot gemacht wurde. Die Spieler sollen vielmehr davon ausgehen, dass immer schon ein Angebot besteht
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(JOHNSTONE 2004, S. 169) – sei es durch die Körper im Raum, das Licht, die Musik, die Publikumsreaktionen usw. Diese Annahme verweist auf das Konzept der Neutralität und das der autopoietischen feedback-Schleife, das in Kapitel III 6 ausführlich diskutiert wird. Die Bedeutung dieser Interpunktion der Kommunikation ist gravierend: Es gibt keinen Anfangspunkt der Kommunikation, sondern jeder Kommunikationsbeitrag verweist auf Vorheriges und versteht sich als Antwort und Fortsetzung. Die Kommunikation wird dabei zu einem selbstreferenziellen System, dessen Operationen immer auf vorherige Operationen referieren. Angebote annehmen Regel: „Akzeptiere die Angebote von Mitspielern!“ (Quelle: HALPERN CLOSE & JOHNSON 1994, S. 45-56; JOHNSTONE 1998, S. 160-174, SALINSKY & WHITE 2008, S. 57; SAWYER 2003, S. 94) Die Angebote von Mitspielern sollen in jedem Fall wahrgenommen, akzeptiert und mit Bedeutung versehen werden. Die Spielrealität auf der Bühne darf nicht zerstört, ein einmal gesetztes Element nicht neutralisiert oder ignoriert werden. In allen Schulen wird eine Grundhaltung des Akzeptierens trainiert, um die alltägliche Gewohnheit abzulegen, Angebote skeptisch zu betrachten und zu verwerfen. Das Ja-Sagen umfasst aber viel mehr als nur das Bejahen des manifesten Inhalts einer Äußerung. Auch implizite Aussagen über die Situation, die Figuren und die Beziehung müssen akzeptiert werden. 18 Das Annehmen eines Angebots bedeutet auch, dass es für die Geschichte oder Szene bedeutsam gemacht wird, etwa indem es die Figur verändert oder in irgendeiner anderen Weise den Verlauf der Szene beeinflusst. Es muss also auch emotional angenommen werden. Die Spieler sollen Angebote auf möglichst interessante Art annehmen. Eine wichtige Übung hierfür ist das ‚Überakzeptieren‘ (s.u.). Wird die Technik des Akzeptierens in einer Improvisation konsequent angewendet, dann reduziert sich der Stress des Produzierens: Der Spieler muss nicht versuchen, besonders interessante Angebote zu machen, sondern kann einfach das nehmen, was ihm von seinen Mitspielern angeboten wird und umgekehrt darauf vertrauen, dass seine Mitspieler sein Angebot auf eine interessante Art akzeptieren und weiterverwenden.
18 In einzelnen Fällen kann ein Angebot nur akzeptiert werden, indem der Spieler „Nein!“ sagt, beispielsweise wenn ein Einbrecher mit der Pistole vor dem Hausherrn steht und sagt: „Ich erschieße jetzt deine Frau!“. Hier wäre ein „Ja, sicher, gute Idee!“ das Gegenteil von Akzeptieren.
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Sprachliche Ausdifferenzierung 1: Overaccepting (JOHNSTONE 2004, S. 173) – ein Angebot wird nicht nur akzeptiert, sondern durch eine starke emotionale Antwort mit einer hohen Bedeutung belegt. Überakzeptieren ist eine Technik Johnstones. Sein Spiel „Es ist Dienstag...“ trainiert die entsprechende Fähigkeit.
Unterregel: „Blockiere nicht!“ (Quelle: JOHNSTONE 1998, S. 160-174, SALINSKY & WHITE 2008, S. 57) Als Gegenbegriff zum Akzeptieren wird in der Regel ‚Blockieren‘ benutzt, wobei sich an diesem Begriff heftige Diskussionen entzünden können. Blockieren heißt, den Zug des Partners an seiner Wirkung auf die Szene zu hindern und ihn damit zu neutralisieren. In einer erweiterten Begriffsbedeutung wird darunter alles verstanden, was verhindert, dass die Szene sich vorwärtsentwickelt, also auch Ausweichen oder Zögern. Für Johnstone ist ein Blockieren immer auch das Blockieren der eigenen Kreativität und er sucht in jedem Blockieren den individuellen Grund – in vielen Fällen Angst vor Selbstentblößung (JOHNSTONE 2004, S. 127 ff). •
Sprachliche Ausdifferenzierung 1: Denial (HALPERN CLOSE & JOHNSON 1994, S. 48; JOHNSTONE 1998, S. 160-174, SALINSKY & WHITE 2008, S. 57) – das Zurückweisen des manifesten Inhalts eines Angebots. Halpern, Close und Johnson präsentieren hierfür ein bekannt gewordenes Beispiel: „[Ein Paar in Scheidung im Gespräch] ER: Aber Liebling, was ist mit den Kindern? SIE: Wir haben keine Kinder.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 48, Übersetzung G.L.)
Neben dieser offensichtlichen Form des Blockierens unterscheiden Improvisateure mehrere weniger offensichtliche Formen: •
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Sprachliche Ausdifferenzierung 2: Canceling (SAWYER 2003, S. 96) – das Angebot irrelevant machen, indem man die Implikationen für die Mitspieler bestreitet oder minimiert. Beispiel: Eine Vase ist heruntergefallen. Antwort „Macht nichts, ich habe noch eine!“ Sprachliche Ausdifferenzierung 3: Shelving (SAWYER 2003, S. 96) – das Angebot akzeptieren, aber für späteren Gebrauch wegpacken. Shelving kann bei Langformen akzeptabel sein, wenn das Angebot später wieder eingeführt wird. Sprachliche Ausdifferenzierung 4: Wimping (SAWYER 2003, S. 96) – das Angebot akzeptieren aber nichts drauf aufbauen, zum Beispiel indem man offene Fragen stellt und damit die Verantwortung für die Szene abgeben (oft ist
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Wimping das Resultat der Annahme, die anderen Spieler seien besser als man selber). Sprachliche Ausdifferenzierung 5: Ignoring (SAWYER 2003, S. 96) – das Angebot ignorieren, überhören, übersehen, vergessen.
Der Grad der Ausdifferenziertheit verweist auf eine hohe Bedeutung der Konzepte Akzeptieren und Blockieren. Angebote machen Nachdem ein Angebot akzeptiert wurde, muss es beantwortet werden, indem etwas Neues hinzugefügt wird, sodass ein neues Angebot entsteht, das wiederum akzeptiert werden kann. Es ist das ‚And‘ im Yes-And-Prinzip. Regel: „Füg eine neue Information hinzu!“ (HALPERN CLOSE & JOHNSON 1994, S. 45-56; JOHNSTONE 1998, S. 160174, SALINSKY & WHITE 2008, S. 54-63) Das Hinzufügen von Information wird von Anfängern häufig vermieden und muss zum Teil mühsam trainiert werden. Das Vermeiden von neuen Informationen gilt als Vermeidung von Verantwortung für die Szene. Meist hat der betreffende Spieler Angst, etwas Falsches zu sagen und beschränkt sich daher auf das Bestätigen des bereits Eingeführten. Ein typisches Ausweichverhalten ist das Stellen von Fragen. Beispiel: A: „Ich hätte gern eine neue Brille!“. B: „Sehr schön. Was für eine soll es denn sein?“. B hat in diesem Beispiel das Angebot von A zwar akzeptiert, jedoch keinen eigenen Beitrag geleistet, so dass A die Improvisation allein weiter voranbringen muss. Nach dem Yes-And-Prinzip wäre etwa folgende Antwort besser: A: „Ich hätte gern eine neue Brille!“ B: „Sehr schön! Ich habe gerade herrliche Designerbrillen aus Italien bekommen.“ In diesem zweiten Fall hat B eine zusätzliche Information eingebracht, nämlich dass Designerbrillen vorhanden sind und dass der Verkäufer sie schön findet. Dadurch liefert er für A einen neuen Ansatzpunkt. Im Idealfall wird die Improvisation durch das Yes-And-Prinzip von allen Beteiligten in gleichem Maße hervorgebracht. Es haben sich mehrere differenzierte Kategorien von Angeboten gebildet, was die Bedeutung des Konzeptes unterstreicht. Es gibt ‚blinde Angebote‘, ‚offene Angebote‘, ‚geschlossene Angebote‘ und ‚Kontrollangebote‘. Sie variieren im Maß, in dem sie den Möglichkeitsraum des Mitspielers erweitern oder begrenzen. Es
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ergibt sich also eine Skala zur Einordnung von Angeboten nach dem Kriterium der Offenheit/ Geschlossenheit: Tab. 7: Kategorisierung von Angeboten Extremfall: Blinde Angebote
Offene Angebote
Geschlossene Angebote
Extremfall: Kontrollangebote
Öffnen den Mög- Öffnen ein breites Öffnen ein kleines lichkeitsraum Spektrum von Ant- Spektrum von Antmaximal wortmöglichkeiten wortmöglichkeiten
Minimieren den Möglichkeitsraum auf wenige oder 1 Antwort
Beispiel: Beispiel: Ein Spieler streckt Ein Spieler streckt die Hand aus die Hand aus und sagt: „Das habe ich für Dich gebastelt!“
Beispiel: Ein Spieler streckt die Hand aus und sagt: „Ich habe dieses Holzschiff für Dich gebastelt. Du hast versprochen, mit mir ans Meer zu fahren.“
Beispiel: Ein Spieler streckt die Hand aus und sagt: „Ich habe dieses Holzschiff für Dich gebastelt!“
(Quelle: Eigene Darstellung)
Die Qualität eines Angebots wird in der Regel danach beurteilt, wie weit es den Möglichkeitsraum für die potentiellen Antworten des Mitspielers öffnet. Als besonders wertvoll gelten dagegen sogenannte ‚offene Angebote‘, die dem Mitspieler viele Möglichkeiten geben, sie spezifisch auszudefinieren. Sie liefern vielerlei Anknüpfungspunkte – analog zu offenen Fragen die als Gesprächstechnik das Gegenüber nicht zu einer bestimmten Antwort drängen. Körperliche und emotionale Angebote stellen den Idealfall eines offenen Angebots dar Maximale Offenheit findet sich bei sogenannten „blinden Angeboten“ (JOHNSTONE 1998, S. 174). Sie sind zwar tendenziell erwünscht und werden trainiert, weil sie den Alltagsgewohnheiten widersprechen, jedoch kann ein allzu offenes Angebot auch dazu führen, dass der Mitspieler nicht inspiriert wird und zu viel Verantwortung für die Szene bekommt. Wenn ein Spieler permanent offene Angebote macht, wird er deshalb ebenfalls kritisiert. Eine Reduzierung auf wenige oder gar nur eine einzige Antwortmöglichkeit wird als Kontrollversuch gewertet, der die spielerische Freiheit des Zusammenspiels gefährdet. Das Gegenteil eines offenen Angebots ist ein geschlossenes Angebot. Es legt den Mitspieler zu fest und beschneidet seine Antwortmöglichkeiten.
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Tendenziell sind geschlossene Angebote nicht erwünscht, Sawyer weist aber darauf hin, dass sie am Beginn von kurzen Improvisationen durchaus nützlich sind, indem sie sehr schnell das Wo/Wer/Was der Szenenplattform definieren (SAWYER 2003, S. 101). In seiner extremen Form ist ein geschlossenes Angebot ein Kontrollangebot. Kontrollangebote gelten generell als Impro-Verbrechen, sie führen schnell dazu, dass die Mitspieler sich nicht mehr entspannt fühlen und unbewusste Machtkämpfe um die Gestaltung der Szene ausbrechen. •
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Sprachliche Ausdifferenzierung 1: Advancing (SAWYER 2003, S. 94) – in Angebot machen, das die Szene sehr schnell vorwärtsbringt, indem es Handlung anstößt. In Erzählspielen wird ein Advance zuverlässig durch das Wort „plötzlich...“ herbeigeführt. Sprachliche Ausdifferenzierung 2: Extending (SAWYER 2003, S. 94) – ein Angebot vertiefen und als Thema in den Mittelpunkt rücken. Sprachliche Ausdifferenzierung 3: Heightening ( = raising the stakes) (SAWYER 2003, S. 94-95) – in Angebot verstärken, indem die Konsequenzen für die Figuren radikalisiert werden. Oft wird dabei die Fallhöhe der Figur vergrößert.
Unterregel: „Do something!“ (Quelle: NAPIER 2004, S. 14) Die Regel stellt sicher, dass Spieler auf der Bühne überhaupt etwas tun. Dies scheint auf den ersten Blick überflüssig, ist aber tatsächlich äußerst wichtig: Die Tendenz, auf der Bühne ‚einzufrieren‘ und keinerlei Angebote mehr zu machen, ist weit verbreitet und wurde von den Theoretikern des Improvisationstheaters immer wieder beschrieben. Es wurden in dieser Arbeit bereits einige Techniken und Grundhaltungen erwähnt, die dieser Tendenz entgegenwirken, etwa die Technik des Point of Concentration bei Spolin, die Freisetzung kindlicher Spontanität bei Johnstone und das Vertrauen in die Group Mind bei Close. Besonders emphatisch betont Napier (2004) die Regel des „Do something!“. Sie stellt sicher, dass ständig Angebote auf der Bühne entstehen, auf die dann reagiert werden kann. Es geht darum, einen Überschuss an Angeboten zu erzeugen, aus dem dann durch Mittel der Selektion einzelne Angebote sich zu organisierenden Strukturen entwickeln können. Eine ganze Familie von Games – die Ratespiele – trainiert das permanente Hervorbringen von Angeboten.
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Unterregel: „Jump and justify!“ (Quelle: Close, zit. (JOHNSON 2008, S. 53) Wenn sie die Wahl haben sollen sich Spieler für ein riskantes Angebot entscheiden – eines, das entweder die Figur oder den Spieler in Schwierigkeiten bringt. . Jedes riskante Angebot muss sofort gerechtfertigt werden. Dies ist wichtig, damit die Zuschauer nicht das Vertrauen in die Spielrealität verlieren und das Spiel beliebig wird. Schon zwei verrückte Angebote, die nicht gerechtfertigt werden, lassen das Interesse des Publikums in der Regel verschwinden. Diese Regel gilt nicht in jeder Phase des Improvisierens: Solange die Spielrealität aufgebaut wird (Plattform), sollten sich die Spieler innerhalb des Erwartungsrahmens bewegen, d.h. wenige Risiken auf sich nehmen und ‚offensichtlich‘ sein. Wenn aber Szenen ausgereizt sind und auf der Stelle stehen bleiben, ist es notwendig, dass ein Spieler einen „Jump“ macht, also ein unbedachtes Risiko eingeht. Improvisationslehrer rufen in solchen Momenten Sätze wie „Take a risk!“ und überlassen es dem Spieler, ein Angebot zu machen, das möglichst weit aus dem Rahmen fällt. Es erfordert einige Erfahrung, zu spüren, wann der Erwartungsrahmen verlassen werden kann und muss. Unterregel: „Stell keine Fragen!“ (Quelle: (HALPERN CLOSE & JOHNSON 1994, S. 57) Zum Aufbau der gemeinsamen Bühnenrealität sind Fragen meist nicht hilfreich. Sie gelten als Versuch, der eigenen Verantwortung für die kollaborative Erzeugung von Wirklichkeit auszuweichen und diese stattdessen den anderen Spielern aufzuzwingen. Dies gilt zwar nicht für alle Fragen, stellt aber dennoch eine Faustregel dar, sodass Anfänger dazu angehalten werden, grundsätzlich keine Fragen zu stellen. Fragen sind meist Formen von zu offenen Angeboten, etwa wenn ein Spieler fragt „Huch, was ist das denn?“. Fügt er dagegen in der Frage eine neue Information hinzu, so ist der Spielzug akzeptabel, beispielweise wenn er fragt: „Huch, was ist denn das für ein dunkler Kasten?“ 2.2 Regeln des Geschichtenerzählens Durch die Verkettung vieler Turns entstehen größere Gebilde, für welche sich wiederum bestimmte Regeln etabliert haben. Wie nicht anders zu erwarten, finden sich hier neben großen Übereinstimmungen auch Unterschiede zwischen den Improvisationsschulen. Jenseits des Graswurzel-Levels geht es um das Erzeugen von Szenen und Geschichten. Während die Chicagoer Schule sich mehr mit einzelnen Szenen beschäftigt (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994), betont Johnstone die Wich-
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tigkeit von Geschichten (JOHNSTONE 1998), also längeren Verkettungen von Szenen. Regel: „Beginne mit einer Plattform/ Routine“ (Quelle: JOHNSTONE 1998; S. 112-158, SPOLIN 2002, S. 65-152; HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 81-90, SAWYER 2003, S. 112) Der Beginn einer Szene, der vorrangig der Herstellung einer gemeinsamen Spielrealität dient, wird nach einer Wortprägung von Johnstone schulübergreifend als Plattform bezeichnet. Johnstone spricht in diesem Zusammenhang auch vom Aufbau einer Routine, was bedeutet, dass zunächst die Normalität der Spielwelt und ihrer Figuren vorgestellt werden soll. In der Spielwelt können dabei durchaus auch außergewöhnliche Regeln gelten, sie werden in der Plattform aber als normal vorgestellt. Die Routine sollte nicht zu früh gebrochen werden. Innerhalb der Plattform/ Routine Aufbaus der Spielrealität spielt das Akzeptieren der Angebote eine besonders zentrale Rolle, damit die einzelnen Elemente aufeinander aufbauen und widerspruchsfrei bleiben. Je nachdem, ob eine Kurz- oder Langform gespielt wird, sollte die Plattform mit wenigen Sätzen errichtet oder ausführlich entwickelt werden. Wichtig ist, dass die Plattform viele Details enthält, die später in die Geschichte wieder eingeführt werden können. Um den Begriff der Plattform haben sich weitere Unterregeln gebildet: Unterregel: „Start positive!“ (Quelle: JOHNSTONE 2004, S. 158-160, HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 37-43, SAWYER 2003, S. 112) Eine Plattform entwickelt sich in der Regel besser, wenn die Spieler positiv aufeinander reagieren und eine Art heile Welt kreieren. Es gilt in der Impro-Community als Fehler, gleich zu Beginn einer Szene Irritationen zu schaffen, da der kollaborative Aufbau einer gemeinsamen Imagination dadurch gestört wird. •
Sprachliche Ausdifferenzierung 1: Instant trouble (JOHNSTONE 2004, S. 158) – sofort einen Konflikt mit der anderen Figur beginnen. Dies ist ein typischer Anfängerfehler, der daraus resultiert, dass die Spieler glauben, interpersonale Konflikte seien für die Zuschauer interessant. Die entstehenden Turbulenzen verhindern die kollaborative Emergenz der Szene, weil sie sofort die gesamte Aufmerksamkeit im Konflikt binden.
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Unterregel: „Definiere das Wo? Wer? Was? der Szene!“ (Quelle: SPOLIN 2002, S. 65-152; HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 3743; SAWYER 2003, S. 112) Die Definition des Ortes, der Figuren und des gemeinsamen Themas der Szene wird in der Chicagoer Schule sehr betont, während Johnstone teilweise ganz ohne diese Spezifizierungen auskommt. Dennoch hat sich das Wo/Wer/Was weitgehend in der Impro-Community durchgesetzt. Dabei wird meist genau diese Reihenfolge eingehalten: zuerst wird der Ort definiert, dann die Figuren und deren Beziehung, dann das gemeinsame Thema. Unterregel: „Statte die Figuren aus!“ (Endowment) (Quelle: SAWYER 2003, S. 102-1059 Die Figuren werden im Idealfall kollaborativ erzeugt, das heißt, sie werden nicht ausschließlich vom Spieler selber definiert, sondern gemeinsam mit seinen Mitspielern oder dem Publikum. Es gilt als Fehler, eine Figur komplett selber auszustatten; vielmehr soll die Figur als ein offenes Angebot angelegt und von den Mitspielern weiter definiert werden. Beim Ausstatten (Endowment) seiner Mitspieler hat ein Spieler eine besonders große Definitionsmacht, indem er dem Mitspieler bestimmte Attribute zuweisen kann, die dieser dann nur schwer zurückweisen kann. Anfänger können mit dieser Definitionsmacht in der Regel nicht verantwortungsbewusst umgehen und missbrauchen sie für kurzlebige Gags, die dem Mitspieler die Spielfreude verderben – etwa indem sie diese als klein und hässlich deklarieren, ihnen einen Sprachfehler andichten oder ihm eine lächerliche Kleidung zuweisen. •
Sprachliche Ausdifferenzierung 1: Pimping (SAWYER 2003, S. 103) – eine besonders negativ bewertete Form des Endowments. Dabei wird das Gegenüber in der Spielrealität gezwungen, Dinge zu tun, die schwierig oder unangenehm sind. Beispiel für Pimping: „Herbert, Du wolltest doch einen Handstand machen!“.
Regel: „Find the game“ (oder „Listen to the game“) (Quelle: HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 57-70; SAWYER 2003, S. 112) „Find the game“ ist ein Beitrag der Chicagoer Schule und geht auf Spolin zurück. Unter ihren Nachfolgern, insbesondere Close, hat sich der Begriff jedoch ausgeweitet und umfasst heute auch die heimlichen und die emergenten Spiele (siehe Kapitel III 4). Die Regel „Find the game!“ findet inzwischen ubiquitäre Anwendung im Improvisationstheater. Statusspiele sind nur eine von unendlich vielen Formen von Games. Das jeweilige Game kann sich aus jeder winzigen Kleinigkeit entwickeln
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und jede beliebige Form annehmen. Zum Beispiel könnten die Spieler die Regel kreieren: Immer wenn Spieler A sich hinsetzt, fängt Spieler B an zu husten. Das Game muss nicht besonders klug oder dramaturgisch wertvoll sein, wichtig ist, dass es die Aufmerksamkeit der Spieler auf etwas Drittes lenkt und die einzelnen Spielzüge miteinander verknüpft. In der Regel suchen die Spieler nach genau einem Game pro Szene, es kann jedoch auch vorkommen, dass eine Szene mehrere Games enthält oder dass sich ein Spiel über den ganzen Abend in verschiedenen Szenen wiederfindet. Die Begriffe Game und Pattern werden dabei oft synonym gebraucht (z.B. HALPERN, CLOSE & JOHNSON. 1994, S. 87 ff.). Eine Differenzierung scheint jedoch sinnvoll und wird innerhalb der Improvisations-Community etwa folgendermaßen gemacht: •
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Sprachliche Ausdifferenzierung 1: Pattern (HALPERN, CLOSE & JOHNSON. 1994, S. 29-34) – ein Muster, das innerhalb der Improvisation entsteht, meist durch Wiederholungen oder Verknüpfungen von bestimmten Elementen. Beispiel: In einer Liebesgeschichte taucht immer im unpassendsten Moment die Mutter auf. Patterns folgen oft dem „rule of three“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON. 1994, S. 89), d.h. sie entfalten ihre maximale Wirkung bei dreimaliger Wiederholung. Sprachliche Ausdifferenzierung 2: Game (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 57-70) – eine Interaktionsfolge, bei der sich die Ziele der Spieler/ Figuren in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander befinden, sodass jeder Zug eines Spielers die Verhaltensoptionen des Mitspielers verändert. Beispiel: Beide Spieler kämpfen um den höheren Status. Jede Statusäußerung eines der Spieler muss dann vom anderen überboten werden. Im Unterschied zum Pattern verfolgen die Figuren/ Spieler beim Game ein Spielziel und jeder Zug verändert sowohl den eigenen Abstand von diesem Ziel als auch den Abstand des Spielpartners von dessen Spielziel.Durch die konsequente Anwendung der aufgeführten Graswurzel-Regeln emergieren Patterns und Games ‚von selber‘ und müssen von den Spielern nur erkannt und konsequent weiterentwickelt werden. Innerhalb der ersten Züge findet eine kollaborative Einigung auf das Spiel statt und zwar mit großer Geschwindigkeit und möglichst ohne intellektuelle Anstrengung; es soll ‚gefunden ‘werden, nicht konstruiert
Regel: „Keep it simple!“ (Quelle: HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 90) Diese Regel gilt für das Improvisieren insgesamt, ist aber im Kontext des Geschichtenerzählens besonders wichtig. Hier wird die Komplexität schnell so groß, dass die einzelnen Improvsierer sich überfordert fühlen. Die Freiheit der Aktionen wird
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dann stark reduziert, da die Spieler mit dem Erinnern und Sortieren von Rahmeninformationen beschäftigt sind. Die Aufforderung zu Einfachheit erinnert die Spieler daran, dass es eine Fehlannahme ist, zu glauben, die Geschichte würde durch die Einführung möglichst vieler origineller Elemente besser. Das genaue Gegenteil ist der Fall, weshalb Spieler, die zu komplizierten Angeboten neigen, wenig geschätzt werden, während Spieler, die das Offensichtliche tun, positiv bewertet werden. Insbesondere intellektuelle Spieler haben mit dieser Regel im Training oft schwer zu kämpfen. Sie müssen nach und nach davon überzeugt werden, dass einfache Angebote keineswegs zu trivialen Geschichten führen, sondern eine gewisse Komplexität von selber entsteht. Regel: „Führe Elemente der Geschichte wieder ein und verknüpfe sie!“ (Quelle: JOHNSTONE 2004, S. 198, HALPERN; CLOSE & JOHNSON 1994, S. 28-29; SAWYER 2003, S. 111) Damit die Geschichten eine Form finden, müssen die Elemente, die in der Plattform eingeführt wurden, später wieder auftauchen und mit Bedeutung versehen werden. Die entsprechenden Spielaktionen bezeichnet Sawyer als „connection moves“ (SAWYER 2003, S. 111). Sie verbinden bereits eingeführte Inhalte miteinander oder mit neuen Inhalten. Er unterscheidet dabei: •
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Sprachliche Ausdifferenzierung 1: Reincorporation (Wiedereinführung) (JOHNSTONE 2004, S. 198) – ein Element der Geschichte, vorzugsweise aus der Plattform, wird ungefähr ab der Mitte der Geschichte wieder eingeführt. Sprachliche Ausdifferenzierung 2: Synthesis (Verknüpfung von Publikumsvorschlägen) (SAWYER 2003, S. 111) – ein oder mehrere Publikumsvorschläge werden im Lauf des Spiels in die Geschichte integriert, oft zu einem Zeitpunkt, an dem die Zuschauer den Vorschlag schon vergessen haben oder keine Verknüpfung mehr erwarten.
2.3 Grundhaltungen Die weiteren hier aufgeführten Regeln betreffen Grundhaltungen, die gewährleisten sollen, dass der Prozess der Improvisation ungestört verläuft. Von den Spielern werden sie ausgiebig trainiert, damit sie zu einer Art ‚zweiten Natur‘ werden und in der konkreten Bühnensituation automatisch abrufbar sind. Sie wirken auf das Graswurzel-Level von Angebot und Antwort zurück, indem sie die Selektion von wahrgenommenen Möglichkeiten und von Antworten erleichtern.
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Regel: „Don’t make jokes!“ (Quelle: HALPERN; CLOSE & JOHNSON 1994, S. 23-28; JOHNSTONE 1998, S. 34-47) Alle Versuche, Witze zu machen oder originell zu sein, werden in der Improvisations-Community abgelehnt, da sie das Zusammenspiel gefährden. Zwar arbeitet das Improvisationstheater sehr viel mit Komik, jedoch wird der bewusste Versuch, die Zuschauer zum Lachen zu bringen als unerwünscht betrachtet. Johnstone und die Chicagoer Schule sind sich an dieser Stelle einig, obwohl sie leicht unterschiedliche Begründungen für die Ablehnung von Witzen haben. Witze bedeuten Kontrolle über die Mitspieler und über die Zuschauer. Die Angebote sollen stattdessen so gemacht werden, dass sie den Mitspieler inspirieren und keine unbewussten Machtkämpfe initiieren. Das Verbot von Witzen und Originalität soll einerseits verhindern, dass die Mitspieler unter Druck gebracht werden, andererseits soll es verhindern, dass einzelne Spieler sich mit dem Publikum ‚fraternisieren‘ und damit ihre Mitspielerschlecht aussehen lassen. Die Improvisationstheater-Community hat drei Typen von Witzen klassifiziert, die allesamt negativ bewertet werden und auf der Bühne vermieden werden sollen: •
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Sprachliche Ausdifferenzierung 1: Mugging (SAWYER 2003, S. 110) – Gesichter schneiden (hier würde Johnstone vermutlich Einspruch erheben, gemeint ist aber das Gesichter schneiden als bewusster Versuch, das Publikum zum Lachen zu bringen). Sprachliche Ausdifferenzierung 2: Wanking (SAWYER 2003, S. 110) – etwas Niedliches, Tapisges oder Dümmliches tun. Anfänger spielen beispielsweise gern den ersten Tag in einem neuen Job, um ‚lustigen‘ Missgeschicke zu rechtfertigen (Ein Anfänger würde in einer Arztszene vermutlich bei einer Operation das Skalpell falsch herum halten oder im Bauch vergessen – der fortgeschrittene Improvisateur dagegen würde den besten Arzt, den es jemals gab, spielen.) Sprachliche Ausdifferenzierung 3: Gagging (SAWYER 2003, S. 110) – Witze machen, die auf Publikumslachen zielen.
Regel: „Show, don’t tell!“ (Quelle: SAWYER 2003, S. 109) Diese Regel geht auf Spolin zurück (SPOLIN 2002). Auf der Improvisationsbühne wird Verkörperung und Handlung hoch geschätzt, während Verbalisierung und psychologisierendes Spiel negativ bewertet werden. Improvisateure sollen auf der Bühne nicht über das reden, was sie gerade tun. Am Besten sie verlassen sich weniger auf die Sprache als auf ihren Körper. Das Konzept wurde von der Community weiter differenziert. Erwünscht ist:
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Sprachliche Ausdifferenzierung 1: Physicalisation (Verkörperung) (SPOLIN 2002, S. 153-162) – Körperliches Spiel. Ideen und Gefühle werden nicht ausgesprochen, sondern nonverbal über den Körper ausgedrückt bzw. personalisiert.
Nicht erwünscht sind: •
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Sprachliche Ausdifferenzierung 2: Hedging (alternativ: talking heads) (SAWYER 2003, S. 109) – reden statt zu handeln (abgeleitet von zwei Nachbarn, die über die Hecke miteinander reden, sonst aber keine Interaktion haben). Sprachliche Ausdifferenzierung 3: Waffling (SAWYER 2003, S. 109) – über das reden, was man tun wird/ will, statt es zu tun.
Regel: „No Playwriting“ (kein Vorausplanen) (Quelle: SPOLIN 2002, S. 378; SAWYER 2003, S. 99) Das vorausplanende Denken stört die Entfaltung der Szene. Es wird als Playwriting oder Driving (= Vorausdenken und Kontrolle) bezeichnet und negativ bewertet. Sowohl Johnstone als auch die Chicagoer Schule haben zahlreiche Übungen hervorgebracht, die der Ausschaltung des vorausplanenden Denkens dienen. Erwünscht ist eine Responsivität der Spieler im Hier und Jetzt. Vorausplanung wird als problematisch gesehen, weil Spieler dadurch dazu tendieren, die Szene eigenkreativ zu gestalten, statt nur ihren eigenen Beitrag zu leisten und auf die kollaborative Kreativität der Gruppe zu vertrauen. Außerdem verlieren sie die Fähigkeit, die Mitspieler auf der Bühne wahrzunehmen, weil sie mit Vorausplanung beschäftigt sind. •
Sprachliche Ausdifferenzierung 1: „Listen and remember“ (HALPERN; CLOSE & JOHNSON 1994, S. 70) – unmittelbar mit dem Problem des Vorausdenkens verknüpft ist das Problem des Zuhörens und Erinnerns von Details der Spielrealität. Auf der Bühne werden gerade einfache aber wichtige Details wie Namen verblüffend oft vergessen und damit die Bühnenrealität zerstört. Das Zuhören wird vor allem durch das planende Vorausdenken gestört, insbesondere im Moment des Erscheinens auf der Bühne, in welchem es für den Anfänger fast unmöglich ist, Informationen wahrzunehmen, da er damit beschäftigt ist, sich etwas auszudenken. Die Fähigkeit zum Zuhören wird als Qualität eines Improvisationsspielers sehr geschätzt und in vielen Spielen trainiert.
Regel: „Commitment zeigen!“ (Quelle: nicht bekannt) Der Begriff bezieht sich auf die Spielhaltung des Improvisateurs generell. Unter Commitment verstehen Improvisationsspieler die Fähigkeit, in die Spielrealität ein-
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zutauchen und diese ernst zu nehmen. Je stärker das Commitment, desto deutlicher werden die imaginierten Umstände zu körperlichen und emotionalen Reaktionen der Figuren führen. Schwache Reaktionen oder ein Aussteigen aus der Spielrealität bedeuten ein schwaches Commitment. Improvisationslehrer rufen ihren Schülern auf der Bühne beispielsweise zu: „Nimm es ernst!“, wenn das Commitment nachlässt. •
Sprachliche Ausdifferenzierung 1: crack up (Quelle nicht bekannt)– das Aussteigen aus der Bühnenrealität durch Lachen. Es gilt allgemein als ‚Improverbrechen‘. Solange der Spieler sich in der imaginierten Welt befindet, soll er sich dieser Welt verpflichtet fühlen. Das Spiel muss als Spiel ernst genommen werden.
Regel: „Follow the Follower!“ (Quelle: SPOLIN 1983, S. IV) Diese Regel wurde von Spolin relativ spät explizit formuliert, obwohl sie sich schon recht deutlich in ihrem Hauptwerk von 1963 abzeichnet. Sie hielt diese Neuerung für zentral und schrieb im Vorwort zur Ausgabe 1983: „The most significant change in the games themselves is the addition of ‚Follow the Follower‘[...], a variation of the ‚mirror‘-game in which no one initiates and all reflect. This game quiets the mind and frees the players to enter a time, a space, a moment intertwined with one another in a non-physical, non-verbal, non-analytical, non-judgemental way. Played daily, this game can bring miraculous harmony and unity to a group of players; it is a thread woven through the entire fabric of the theatre game process.“ (SPOLIN 1983, S. IV)
Jeder Spieler soll dabei nur Ideen von den anderen Mitspielern übernehmen, kopieren, reflektieren, nicht jedoch selber kreativ sein und eigene Impulse einbringen. Das vielfache Spiegeln und die darin enthaltenen unwillkürlichen Fehler beim Kopieren bringen die gesamte Gruppe in einen dynamischen Prozess, bei dem es keinen Verursacher mehr gibt und keine zentrale Instanz, die den Prozess steuert. Durch die vielfältigen Feedbackschleifen von Beobachtung und Reagieren setzen sich bestimmte Bewegungsmuster durch, während andere ‚aussterben‘. In keiner anderen Regel wird deutlicher, dass der gesamte Prozess der Improvisation um emergente Phänomene kreist: Spolin bestand darauf, dass die Schüler keine eigenen Idee initiieren sollten. Durch die Anwendung des Prinzips wird eine kollektive Aktionsform erzeugt, die es dem einzelnen Spieler unmöglich macht, seine individuelle Kreativität durchzusetzen. Überraschenderweise entstehen trotzdem interessante Dynamiken und Bewegungsmuster, die ‚aus dem Nichts‘ zu kommen scheinen.
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Bei Johnstone entstehen ganz ähnliche Rückkoppelungsschleifen durch die Aufforderung, immer davon auszugehen, dass die Mitspieler bereits ein Angebot gemacht haben (JOHNSTONE 2004, S. 169). Auch hier verliert sich die Frage nach dem Ursprung der Handlung im Nichts: jeder hat immer nur auf den Anderen reagiert. Die Regel „Follow the Follower!“ kann deshalb ebenfalls zum Grundbestand des Regelsystems gerechnet werden. Sie besitzt besondere Relevanz für das in Kapitel II 3.5 formulierte Ideal der Subjektlosigkeit beim Improvisationstheater. 2.4 Fazit: Fachsprache und Regelsystem Zusammenfassend kann man sagen, dass es ein ‚Grasswurzel-Level‘ der Begriffsbildungen gibt, das von allen Improvisationsrichtungen geteilt wird. Angebot und Antwort bilden zusammen den turn und damit die Grundeinheit der Improvisation. Jeder Zug (turn) eines Spielers besteht aus dem Annehmen des vorigen Angebots und dem Hinzufügen eines eigenen Angebots. Aus diesem einfachen Prinzip entsteht die gesamte Bühnenrealität, die Figuren, die Geschichte. Es garantiert eine kollaborative Arbeitsweise, die individuelle Kreativität und Gruppenkreativität ausbalanciert und emergente Phänomene unterstützt. Was die Regeln zum Geschichtenerzählen angeht, so kann man zusammenfassend sagen, dass diese sich vor allem auf die Szenenanfänge konzentrieren, was wiederum auf die via negativa des Improvisationstheaters verweist: Statt inhaltliche Vorgaben oder Regeln zu formulieren, werden lediglich die Bedingungen für das Entstehen einer Geschichte optimiert, während die Geschichte selber sich eigengesetzlich entwickeln soll. Die Grundhaltungen sind ebenfalls schulübergreifend ähnlich. Im Zentrum steht die Bevorzugung von Einfachheit und Positivität vor Intellektualität, Originalität und Skeptizismus. Die Grundhaltungen sind mehr als nur Techniken zur Hervorbringung der Improvisation, vielmehr gestalten sie als grundlegende Werte den gesamten Interaktionsraum zwischen den Spielern und den Zuschauern. Oft ist die Wirkung einer improvisierenden Aufführung eher in der Verwirklichung der Grundhaltungen zu sehen, als in den jeweils hervorgebrachten Inhalten. Ein detaillierter Blick auf die Begriffsbildung des Improvisationstheaters verdeutlicht, dass sich eine gemeinsame Sprache innerhalb der ImprovisationstheaterCommunity entwickelt hat, die sich vor allem auf die Basiskonzepte Akzeptieren und Angebote-machen bezieht. Besonders ausdifferenziert sind folgende Regeln und Konzepte:
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1. 2. 3. 4. 5. 6.
Blockieren Angebote machen Starte mit einer Plattform Find the game Don’t make jokes Show, don’t tell
Man kann davon ausgehen, dass die Regulierung dieser Felder für die Improvisation besonders wichtig ist. Dies ist beim Blockieren und Angebote-machen leicht nachzuvollziehen, etwas überraschender sind die Punkte 3 bis 6. Punkt 3 unterstreicht, wie wichtig die ersten Momente, die Plattform, der Improvisation auf der Bühne sind. In diesen ersten Augenblicken wird in kurzer Zeit das meiste von dem erzeugt, was für die Improvisation von Bedeutung ist. Alles Weitere nimmt auf diesen ‚Urknall‘ Bezug. Punkt 4 zeigt, dass das Konzept der Games zu einem grundlegenden Konzept geworden ist, auch über die Chicagoer Schule hinaus, wo es entstanden ist. Punkt 5 und 6 thematisieren besonders unerwünschte Verhaltensweisen: das Erzählen von Witzen in jeglicher Form und das Ausweichen auf Verbalisierung an Stelle von unmittelbarer Dramatisierung. Diese sind offenbar für das Entstehen einer gelungenen Improvisation besonders ungünstig. Betrachtet man das Regelsystem des Improvisationstheaters als Ganzes, so fällt insbesondere das Bemühen um Einfachheit auf. Dies kann leicht dazu verführen, das Maß an sozialer Intelligenz, das darin enthalten ist, zu unterschätzen. Die Vereinfachung des Regelsystems stellt aber im Gegenteil eine große kollaborative Leistung dar, die zwei Zielen dient: Zum einen dient sie der leichteren Verinnerlichung durch den Schauspieler, denn alles, was die Aufmerksamkeit des improvisierenden Schauspielers vom Hier und Jetzt der Aufführung abzieht, ist kontraproduktiv. Der Spieler darf also nicht durch das Regelsystem belastet werden, vielmehr sollen sie so intensiv trainiert werden, dass der Spieler alle Regeln ‚vergessen‘ kann, sobald er die Bühne betritt. Nur ein sehr einfaches Regelsystem stellt sicher, dass die Regeln durch entsprechendes Training automatisiert und zur zweiten Natur des Spielers werden. Zum anderen ermöglicht die Einfachheit der Regeln ein gemeinsames, weltweites Verständnis der Improvisateure. Sie macht Begegnungen von Spielern auf der Bühne möglich, auch internationale Begegnungen wie etwa bei der Theatersport WM 2006. Das Improvisationstheater überwindet dabei sogar Sprachgrenzen, sodass manchmal Spieler miteinander improvisieren, die sich sprachlich nicht verständigen können. Immer wieder wurde und wird versucht, das Regelsystem der Improvisation weiter zu vereinfachen. Ein Beispiel für eine solche Vereinfachung sind die 10-Impro-Gebote, die vermutlich in den 80-er Jahren in Australien formuliert wurden:
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„1. Thou shalt not block. 2. Thou shalt always retain focus. 3. Thou shalt not shine above thy team-mates. 4. To gag is to commit a sin that will be paid for. 5. Thou shalt always be changed by what is said to you. 6. Thou shalt not waffle. 7. When in doubt, break the routine. 8. To wimp is to show thy true self. 9. S/he that tries to be clever, is not; while s/he that is clever, doesn’t try. 10. When thy faith is low, thy spirit weak, thy good fortune strained, and thy team losing, be comforted and smile, because it just doesn’t matter.” (zit. in CHARLES 2003, S. 247)
Neben der Einfachheit der Regeln ist ein generelles Merkmal deren leichte Ironisierung. Diese wird beispielhaft im Zehnten der oben aufgeführten Gebote deutlich: Letztendlich sollte niemand die Regeln allzu ernst nehmen. Damit wird die spielerische Qualität über die Regeln gestellt, ein Bruch der Regeln ist immer akzeptabel, wenn er dem Spiel dient. Die Regeln haben also keine absolute Gültigkeit und laden zum spielerischen Regelbruch geradezu ein. Ob bei Johnstone, Spolin oder Close (und besonders deutlich bei Napier) – die individuelle Erfahrung und der Pragmatismus haben immer Vorfahrt vor theoretischen, kognitiven Präkonzeptionen. Nicht zuletzt dienen die Regeln dem Ausbalancieren von individueller und gemeinsamer Kreativität und damit der Synchronisation kollaborativer Produktionsprozesse. Sawyer (2003) hat diesen Aspekt ausführlich thematisiert und unter kommunikationswissenschaftlichem Blickwinkel analysiert. Er argumentiert und belegt, dass alle Regeln des Improvisationstheaters eine kollaborative Emergenz unterstützen (SAWYER 2003; S. 92-93). Man könne darin einen gemeinsamen Nenner erkennen: Das Regelsystem des Improvisationstheaters wurde demnach geschaffen, um emergente Phänomene im Bühnendialog zu ermöglichen. Die Ethnotheorie des Improvisationstheaters erfährt damit eine sinnvolle Deutung. Sawyers Ansatz wird in Kapitel IV ausführlich wieder aufgegriffen.
3 M ETATHEMEN
DES I MPROVISATIONSTHEATERS
Im den vorigen Abschnitten wurde das Material zu den Produktionskonzepten des Improvisationstheaters ausgebreitet. Im Folgenden sollen nun Schritte zur Systematisierung und Reduktion des Materials vorgenommen werden. Die dargestellten Improvisationskonzepte werden daraufhin untersucht, welche Themen besonders häufig auftauchen und deswegen als Metathemen dieser Theaterform gelten kön-
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nen. Dabei werden grundlegende Konzepte und Problemstellungen der Produktion herausgearbeitet sowie deren spezifische Lösungsansätze. Es wurden dabei vier Schwerpunkte gebildet: 1. 2. 3. 4. 5.
die Annahmen über schöpferische Prinzipien der Improvisation die via negativa die Konzepte der Spontanität, das Problem der schwankenden Qualität das Problem der kollaborativen Kreativität.
Diese fünf Punkte werden im Folgenden dargestellt. 3.1 Annahmen über schöpferische Prinzipien der Improvisation Da sich beim Improvisationstheater der schöpferische Moment auf der Bühne, vor den Augen des Publikums ereignet, finden sich in allen Ansätzen Annahmen darüber, welche schöpferischen Prinzipien wirksam werden und welche Bedingungen ihr Wirksamwerden begünstigen bzw. erschweren. Nach Ausbreitung des vorhandenen Materials scheint eine Reduktion auf drei zentrale schöpferische Prinzipien möglich: Unbewusstes, Emergenz und Zufall. Zwar lassen diese sich nicht exklusiv der einen oder anderen Schule zuordnen, jedoch kann man sagen, dass die britischkanadische Schule stärker mit dem Unbewussten argumentiert, während die USamerikanische sich auf Emergenz konzentriert (allerdings ohne diesen Begriff zu verwenden; er wurde erst von Sawyer 2003 in den Diskurs eingeführt). Der Zufall wiederum wird von keiner Schule thematisiert, lässt sich jedoch in der Praxis des Improvisationstheaters nachweisen. Das Unbewusste Alle untersuchten Beiträge zum Improvisationstheater verweisen auf ein Konzept des Unbewussten. Bereits Moreno verwendet den Begriff des Unbewussten, wobei er sich von Freuds Konzept deutlich absetzt: In Freuds Modell der Psyche findet das Unbewusste seinen Ausdruck in Kompromissbildungen zwischen den psychischen Instanzen ES/ICH/ÜBER-ICH, beispielsweise im Traum. Freud sprach ihm keine eigene kreative Qualität zu, sondern sah kreative Prozesse als Reaktion auf das permanente Herandrängen des Unbewussten (FREUD 1923). Moreno dagegen konzipierte das Unbewusste selbst als eigentliche schöpferische Kraft. Er betrachtete das Improvisationstheater als Sichtbarmachung des unbewussten kreativen Prozesses schlechthin (MORENO 1970, S. 32) und hinterfragte die Rolle des Bewusstseins in diesem Prozess kritisch:
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„Die rapide Produktion gelingt umso leichter (geringste Hemmungsarbeit), je näher die unbewußten Bildungskörper ihrem Endstadium sind. Hingegen, je weniger diese fertig, je mehr sie amorph sind, desto größer ist die Gefahr, daß die Aufführung den Eindruck einer Zwangsgeburt macht.“ (MORENO 1970, S. 35)
Nach Morenos Modell steigen unbewusste Inhalte in ihrer Eigenzeitlichkeit an die Grenzfläche zum Bewusstsein auf, nehmen dort Gestalt an und sind dann der Improvisation verfügbar. Sie werden bereits auf unbewusster Ebene langsam ausgeformt und reifen einem Stadium zu, in dem sie ‚fertig‘ und damit bewusstseinsfähig sind. Die positive Bewertung des Unbewussten gewann durch Moreno, über das Psychodrama und später über die Gestalttherapie starken Einfluss auf das Improvisationstheater. Dort fand ab den 40-er und 50-er Jahren eine Vermischung von psychotherapeutischen, philosophischen und künstlerischen Ansätzen statt, die Meyer als „Kultur der Spontantiät“ charakterisiert (MEYER 2008, S. 143-185). Spolin befindet sich in dieser Tradition. Das Unbewusste thematisiert sie allerdings nur am Rand, etwa in der Aussage „Der Point of Concentration ist ein Sprungbrett ins Unbewusste.“ (SPOLIN 2002, S. 37). Man kann vermuten, dass sie den Begriff etwa bedeutungsgleich wie Moreno verwendet, explizit ausformuliert hat sie das Konzept jedoch nicht. Auch Close verwendet den Begriff des Unbewussten, ohne ihn allerdings in den Mittelpunkt seines Ansatzes zu stellen. Er kann eher als Vertreter des zweiten schöpferischen Prinzips der Improvisation gelten, der Emergenz. Für Johnstone (2004) dagegen ist das Unbewusste ein zentraler Begriff, der eng mit seinem Konzept der Spontanität verbunden ist. Das Unbewusste liefere die jeweils ersten Assoziationen und Ideen auf einen Reiz und dies sei das ideale Material sieht für die Improvisation. Leider sei der Zugriff schwierig: Um zu verhindern, dass es zu schambesetzten Selbstentblößungen kommt, unterwerfe die Persönlichkeit – eine recht spät, nämlich in der Pubertät sich entwickelnde Instanz – entsprechende Äußerungen einer inneren Zensur. Johnstone gibt ein Beispiel: „Angenommen ich sage zu einem Schüler: ‚Stell dir eine Kiste vor. Was ist darin?‘ Antworten schießen ihm unwillkürlich durch den Kopf , zum Beispiel: ‚Onkel Ted, tot.‘ Würde er das aussprechen, würden die anderen lachen und ihn für kooperativ und geistreich halten. Doch er will nicht für ‚verrückt‘ oder gefühllos angesehen werden. ‚Hunderte Rollen Klopapier‘ schlägt seine Phantasie vor, doch er will nicht den Eindruck erwecken, er beschäftige sich zu viel mit Ausscheidung. ‚Eine große, dicke, zusammengerollte Schlange?‘ – Nein, zu freudianisch. Schließlich sagt er nach zwei langen Sekunden Pause: ‚Alte Kleider‘ oder ‚Die Kiste ist leer‘ und findet sich einfallslos und ist enttäuscht von sich.“ (JOHNSTONE 2004,S. 151-152)
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Erwachsene Menschen sind laut Johnstone ständig damit beschäftigt, zu verhindern, dass sie für psychotisch oder obszön gehalten werden. Verdrängt wird laut Johnstone nicht nur triebhaftes Material, sondern überhaupt alles, was das Individuum in peinliche oder riskante Situationen bringen könnte – aber genau dieses Material wäre für die Improvisation besonders wertvoll. Johnstones Techniken sind zu einem wesentlichen Teil Tricks zur Überlistung der inneren Zensur und sie knüpfen teilweise direkt an den Surrealismus an, der sich ebenfalls das Unbewusste als schöpferisches Prinzip zunutze machte. Obwohl also alle rezipierten Theoretiker des Improvisationstheaters den Begriff des Unbewussten verwenden, hat nur Johnstone sein Konzept ausgearbeitet. Die Konzepte des Unbewussten verweisen nicht oder nur sehr wenig auf das entsprechende Konzept der Psychoanalyse, sondern auf dasjenige der humanistischen Psychologie (Moreno, Spolin, Close) bzw. auf eigene Interpretationen (Johnstone). Emergenz Die Einführung und konsequente Anwendung des Emergenzbegriffs auf das Improvisationstheater verdankt sich Sawyer (2003). Er untersucht das gesamte Regelwerk des Improvisationstheaters und kommt zu dem Schluss, dass es die Hervorbringung von kollaborativen, emergenten Phänomenen unterstützt (SAWYER 2003, S. 120125). Sawyer sieht darin sowohl den Ursprung als auch den eigentlichen Zweck des Regelwerks: Es helfe den Spielern dabei, in der Improvisation emergente Phänomene zu erzeugen, wahrzunehmen und zu bearbeiten. Insbesondere habe man es bei der Entstehung des „kollaborativen Interaktionsrahmens“ (SAWYER 2003, S. 41) mit einem emergenten Phänomen zu tun, eines Erwartungsrahmens, der sich durch die Interaktion bildet, aber nicht vollständig auf die Einzelbeiträge der Interaktion zurückgeführt werden kann. Ein solcher Interaktionsrahmen entsteht laut Sawyer sowohl zwischen den Spielern auf der Bühne als auch innerhalb des Publikums. Ausführlich belegt er die These, dass diese kollaborativen Prozesse nicht durch eine Analyse auf die Einzelakte der beteiligten Individuen zurückgeführt werden können, sodass von Phänomenen der Emergenz gesprochen werden kann und muss (SAWYER 2003, S. 67-90). Obwohl die dargestellten Theoretiker des Improvisationstheaters den Begriff der Emergenz nicht verwenden, besitzt dieser eine hohe Erklärungskraft gerade für solche Phänomene, die insbesondere in der Chicagoer Schule mystifiziert werden, etwa indem der ‚Harold erscheint‘ oder ähnliches. Mit großer Emphase wird betont, dass Dinge ‚von selbst‘ auf der Bühne entstehen sollen, dass der Spieler sich als individueller Schöpfer zurückhalten soll, um die entsprechenden Prozesse nicht zu stören. Der Prozess des Improvisierens wird in allen oben diskutierten Beiträgen als ein Prozess der De-Kontrolle betrachtet: Die Techniken widmen sich nicht etwa dem Aufbau von Spontanität, sondern dem Abbau von Faktoren, die der Spontanität im Wege stehen. Spontanität wird dabei als etwas gesehen, das a priori vorhanden ist.
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Sind die Hemmnisse aus dem Weg geräumt, so entsteht spontane Produktion ‚von selber‘, ist also emergent. Techniken der De-Kontrolle lassen sich in großer Zahl in allen Improvisationsansätzen nachweisen. Sie setzen an verschiedenen Stellen an, um dort die Kontrolle zu verringern: Zum einen geht es um die Ausschaltung des planenden Bewusstseins als steuernde Instanz innerhalb des einzelnen Schauspielers. Diesen Fokus wählen Moreno und Johnstone. Das planende Bewusstsein wird durch verschiedene oben aufgeführte Techniken geschwächt, abgelenkt oder durch einen anderen Bewusstseinszustand (Trance) ersetzt. Ein anderer Ansatzpunkt bezieht sich auf die Gruppe der Spieler. Hier wird verhindert, dass sich eine Kontrolle im Zusammenspiel der Akteure herausbildet: Wann immer eine Einzelperson das Bühnengeschehen dominiert, die Mitspieler zu alternativlosen Aktionen zwingt oder die Geschichte kontrollierend vorantreibt, schadet dies der Improvisation. Diesen Fokus wählt insbesondere Spolin. Die dritte Form der De-Kontrolle bezieht auch die Zuschauer mit ein. Erwünscht ist, dass die Spieler auf jede Form der Kontrolle der Zuschauerreaktionen verzichten, was ein relevantes Abgrenzungsmerkmal zur Comedy darstellt. Diesen Punkt hebt Close hervor. Da das Fehlen einer zentralen Organisation eine wesentliche Bedingung für emergente Phänomene ist, unterstützen die Techniken der De-Kontrolle die von Sawyer vertretene These, dass Emergenz als zentrales schöpferisches Prinzip des Improvisationstheaters gelten kann. Zufall Der Einsatz von Zufall in ästhetischen Prozessen wurde ab den 50-er Jahren mit dem Begriff „Aleatorik“ belegt (GÜSSOW 2013, S. 169) und fand Eingang in ästhetische Diskurse. Auf den Zufall als schöpferisches Prinzip der Improvisation verweisen Meyer (2008, S. 186-218) und Güssow (2008, S. 169-171). Von den ‚Klassikern‘ des Improvisationstheaters wird der Zufall nicht erwähnt, jedoch findet er in der improvisatorischen Praxis recht breite Anwendung. Ein Beispiel für eine aleatorische Technik beim Improvisationstheater ist das sogenannte Zettelspiel, das zu den bekanntesten und am häufigsten gespielten Games gehört. Die Zuschauer werden dabei aufgefordert, beliebige Sätze auf kleine Zettel zu schreiben. Alle Zettel werden zusammengefaltet, gemischt und auf dem Bühnenboden verteilt. Dann improvisieren zwei Spieler eine Szene. Zu willkürlich gewählten Zeitpunkten heben sie jeweils einen Zettel auf und lesen den darauf stehenden Satz als Dialoglinie ihrer Figur. Auf diese Weise findet ein Zuschauerbeitrag weitgehend zufällig seinen Weg in die Szene. Es entsteht eine reizvolle Spannung zwischen dem hinein gewürfelten Satz und der Fiktion der Szene und die Spieler haben die Aufgabe, den fremden Satz zu rechtfertigen, d.h. ihn irgendwie in die Szene einzubauen. Auf andere Weise arbeitete Close mit dem Zufall, indem er seine Aufführungen collagenartig aufbaute und dafür sorgte, dass sie relativ will-
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kürlich geschnitten wurden, sodass der Zufall die Szenenfolge und Aufführungsstruktur beeinflussen konnte. Ein Rückbezug besteht möglicherweise auf die Kunstform des Dada, wo der Zufall erstmals explizit als schöpferisches Prinzip verwendet wurde und wo gleichzeitig die ersten voll-improvisierten Aufführungen der Moderne stattfanden.19 Die Dadaisten sahen Zufall vor allem in der Neukombination von bereits erarbeiteten Elementen am Werk. Dazu gehörte das Kombinieren von zufällig gefundenem Material, das Platzieren in zufälligen Umgebungen oder die zufällige Zerstörung und Neuzusammensetzung von Werken. Typischerweise kombinierten die Dadaisten künstlerische Produktion also mit nicht-kausalen, nicht-deterministischen Prozessen, wobei insbesondere den Schnitt- und Collagentechniken Bedeutung zukommt. Napier sieht einen direkten Bezug von Improvisationstheater und Dada (NAPIER 2004, S.86), weitere direkte Bezüge fehlen allerdings. Meyer nimmt eine indirekte Beeinflussung durch die Kultur der Spontanität an (MEYER 2008, 93-125): Die Improvisationskunst habe, so Meyer, in den 50-er und 60-er Jahren das Prinzip des Zufalls aufgegriffen, insbesondere innerhalb der Musik durch John Cage am Black Mountain College in den USA20. Ziel dieser Zufallsoperationen war es, das planerische Denken des Künstlers zumindest für einige Momente auszuschalten (GÜSSOW 2013, S. 169), da es als Störfaktor im Produktionsprozess betrachtet wurde. Auch beim Improvisationstheater wird der Zufall als Gegengewicht zum negativ bewerteten vorausplanenden Bewusstsein in den Produktionsprozess eingebracht. In der Praxis ist es gar nicht so einfach, aleatorische und unbewusste Operationen zu unterscheiden. Beispielsweise liegt es auf den ersten Blick nahe, Publikumsvorschläge als zufällig zu betrachten. Tatsächlich sind sie aber oft vorhersagbar und keineswegs zufällig. Dasselbe gilt für die Assoziationen der Schauspieler: Zwar zielt das Training der Spieler in einem Teilaspekt dahin, zufällige Assoziationen zu produzieren, also das Gehirn wie einen Zufallsgenerator zu benutzen. Hierzu dienen Übungen der Dissoziation21, sowie der Klangassoziationen und Buchstabenassoziationen (LÖSEL 2004, S.83 ff). Im engeren Sinn handelt es sich hier aber wiederum nicht um Zufall, sondern um alternative Assoziationsformen. Weder der innere
19 Dario Fo glaubte, dass eine „Wissenschaft des Zufalls“ bereits zentral bei der Commedia dell’ arte war: „Es gehört zur Tradition der Commedia dell’ arte, Unfälle und zufällige Ereignisse auszunutzen. Das tat schon das Theater der Spielleute.“ (FO 1989, S. 106). 20 Cage führte in seine Arbeit als Komponist – später auch in seine Aufführungen – sogenannte chance operations ein: Arbeitsgänge, in denen sich der Künstler willkürlich der zufälligen Beschaffenheit seines Materials überlässt. 21 Die Spieler müssen in schneller Folge Wörter aufsagen. Sobald ein Zusammenhang zwischen zwei Wörtern von außen erkennbar ist, hat der Spieler ‚verloren‘.
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Assoziationsstrom noch die Publikumsvorgaben können streng genommen als zufällig gesehen werden, auch wenn sie manchmal einer obskuren Logik folgen mögen. Einzig die Benutzung eines echten Zufallsgenerators wie eines Würfels oder der erwähnten Zettel bringt ein wirklich zufälliges Element in die Aufführung.22 3.2 Die Via negativa der Improvisation Die Produktionskonzepte und Regeln des Improvisationstheaters stellen keine Gebrauchsanweisungen im herkömmlichen Sinn dar, sondern versuchen lediglich, die Bedingungen für die genannten schöpferischen Prinzipien zu optimieren. Zum Beispiel beschränken sich die 10 Gebote des Improtheaters weitgehend auf das, was der Spieler unterlassen soll. Die grundlegenden Fähigkeiten wie Spontanität, kollaborative Kreativität und Erzählen werden als bereits vorhanden angenommen. Die via negativa der Improvisation spezifiziert daher vor allem Blockaden und Abwehrmechanismen. Sind diese ausgeschaltet, so die Annahme, dann entfaltet sich die Improvisation selbstorganisierend und sogar sich-selbst-hervorbringend – also autopoietisch. Diese sehr weitreichende Annahme bedeutet auch, dass der Prozess der Improvisation niemals über ein Regelsystem ausreichend charakterisiert werden kann, sondern dass dieses Regelsystem sich immer nur auf Störungen des Prozesses bezieht, niemals auf den Prozess selber. Die beschriebenen Improvisationsschulen empfehlen daher auch kein automatenhaftes Befolgen von Regeln, sondern zelebrieren auch den Regelbruch. Eine solche Vorstellung wird immer wieder erkennbar, etwa wenn Close konstatiert: „The first rule in Harold is that there are no rules.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 18) oder in Napiers deutlicher Absage an alle Improvisationsregeln, von denen er sogar behauptet, dass sie das Spiel schlechter machen (NAPIER 2004, S. 3 ff). Das Paradox des regelhaften Regelbruchs zeigt sich auch in vielen Diskursen innerhalb der Impro-Community:
22 Inwiefern es unter den kontrollierten Bedingungen einer Aufführung überhaupt zu zufälligen Ereignissen kommt, ist nicht einfach zu beantworten. Im mathematischen Sinn gibt es dabei gar keine zufälligen Ereignisse, sondern nur das Zusammentreffen von unterschiedlichen Kausalketten. Wenn beispielsweise während der Aufführung eine Spinne sich vom Schnürboden abseilt, ist dies zwar für die Schauspieler und Zuschauer ein überraschendes, jedoch im strengen Sinne kein zufälliges Ereignis, denn die Spinne war ihrerseits Teil einer logischen Handlungskette. Wann und wo sich solche Handlungsstränge kreuzen ist jedoch von so vielen Variablen abhängig, dass es sich einer Berechenbarkeit entzieht. In den allermeisten Fällen wäre es präziser, nicht von Zufall zu sprechen, sondern von Kontingenz, also von dem Phänomen, dass sich zwei oder mehr voneinander unabhängige Ereignisse zeitlich oder subjektiv „berühren“.
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Während eine starke Fraktion für ein permanentes Brechen der Regeln kämpft, werden in Dutzenden von Büchern die alten Regeln wiederholt und ausdifferenziert. Die Improvisation als sich selbst hervorbringendes Spiel führt zu einer Paradoxie: Einerseits müssen die Spielregeln befolgt werden, andererseits müssen sie gebrochen werden. Der improvisatorische Prozess ist mithin als ein Oszillieren zwischen Regelkonformität und Regelbruch zu verstehen. Das Paradox wird in der Theorie des Improvisationstheaters nicht aufgelöst, dafür aber in der Praxis mit paradoxen Methoden beantwortet. Sie erweisen sich dann nicht als Hindernis, sondern als fruchtbar. Brandstetter hat für die entsprechenden Praktiken den Begriff der „paradoxen Spiele“ geprägt. Sie sind charakterisiert durch eine paradoxe Doppelung: „Postmodern Dance [...] knüpft an Cunninghams offene, zufallsgenerierte Improvisationskonzeption an; er intensiviert und differenziert sie zugleich auch. Das Verfahren der ‚strukturierten Improvisation‘ bezieht sich auf ein spannungsreiches, ja paradoxes Spiel von Regularität und De-Regulierung. Mit einer Aufgaben-Stellung für die Tänzer – einem begrenzten Regel-Setting – werden bestimmte Bewegungs- und Interaktionspatterns (inklusive ihrer Variationsmöglichkeiten) festgelegt. Zugleich werden diese Regeln durch verschiedene Zufallsoperationen wieder gebrochen und in neue Arrangements übertragen [...]“ (Brandstetter in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 191)
Paradoxe Spiele unterscheiden sich von Regelspielen dadurch, dass die Regeln gebrochen werden können, ohne das Spiel dadurch zu beenden. Sie transformieren sich durch den Regelbruch, während sie gespielt werden, zu völlig neuen Spielen. Damit sind paradoxe Spiele die praktische Antwort auf die theoretische Frage, ob Improvisation immer nur innerhalb eines Regelsystems funktioniert oder auch darüber hinaus. Die via negativa ist grundsätzlich ergebnisoffen und darf daher nicht mit einem geschlossenen Regelsystem – oder einer Gebrauchsanweisung – verwechselt werden. Sie unterstützt vielmehr emergente Phänomene, mal durch Regelkonformität, mal durch Regelbruch. Das Sei-Spontan-Paradox Die Aufforderung zur Spontanität bringt den Spieler in eine paradoxe, unlösbare Situation: Wenn er der Aufforderung nachkommt, ist dies per se nicht spontan. Er kann die Aufforderung daher nur zurückweisen oder Spontanität simulieren. Das Sei-Spontan-Paradox wurde von Paul Watzlawick benannt und untersucht (WATZLAWICK 1983). Er fand heraus, dass es insbesondere innerhalb von abhängigen Beziehungen ausgesprochen destruktive Wirkungen haben kann (bis hin zu psychotischen Erkrankungen). Im Prinzip ist jede Improvisationstheateraufführung eine solche Sei-Spontan-Paradox, denn die Spieler haben ja angekündigt, dass sie spontan sein werden. Daraus resultieren zwei Probleme des Improvisationstheaters, ers-
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tens das Problem abhängiger Beziehungen, denn nur innerhalb solcher wird ein Sei-Spontan-Paradox eine destruktive Wirkung entfalten, und zweitens das Problem simulierter Spontanität. Das Problem der abhängigen Beziehungen wurde allen hier rezipierten Protagonisten aufgegriffen. In beiden Improvisationsschulen wird versucht, sowohl Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Lehrern und Schülern als auch zwischen Spielern und Publikum gar nicht erst entstehen zu lassen. Spolin, Johnstone und Close betonen stattdessen die Freiheit des Erlebens und das Ensemblespiel. Das zweite Problem, das der simulierten Spontanität, schlägt sich insbesondere nieder in einer Flucht der Spieler ins Klischee. Eine entsprechende Erfahrung schildert Peter Brook, der umfangreiche Experimente zur Improvisation unternahm: „Wer mit Improvisationen arbeitet, ist imstande, mit erschreckender Deutlichkeit zu erkennen, wie schnell die Grenzen der sogenannten Freiheit erreicht sind. Unsere öffentlich veranstalteten Übungen [...] brachten die Schauspieler schnell dahin, daß sie jede Nacht ihre Klischees mit Variationen bekränzten [...]. Wir experimentierten mit einem Schauspieler, der eine Tür öffnet und etwas Unerwartetes entdeckt [...] Was sich zuerst zeigte, war des Schauspielers Repertoire an Nachahmungen. Der vor Überraschung geöffnete Mund, der entsetzte Schritt rückwärts: woher kamen die sogenannten Spontanitäten? Offenbar wurde die wahre und augenblickliche innere Reaktion blockiert, und blitzschnell lieferte die Erinnerung eine Nachahmung vorher gesehener Formen.“ (BROOK: Der leere Raum 1983, S. 148)
Aufgrund solcher Erfahrungen wird Improvisation als Produktionstechnik oft wieder verworfen. Das geschilderte Experiment scheint zunächst dafür zu sprechen, dass die Improvisation nur Stereotype hervorbringe. Dennoch wäre eine Verallgemeinerung vorschnell: Wie Brook selber bemerkt, fand eine spontane innere Reaktion durchaus statt, sie wurde jedoch von den Spielern selber blockiert. Erst innerhalb dieser Ausweichbewegung werden Klischees und Patterns herangezogen. Gelingt es dagegen, die wirklich spontane Reaktionen auf der Bühne zu nutzen, so ist das Problem des Rückgriffs auf Klischees gelöst und die Improvisation ist potentiell in der Lage, etwas Persönliches und Neues zu erschaffen. Die verschiedenen Improvisationsschulen legen übereinstimmend großen Wert auf die Herstellung einer Atmosphäre, die frei ist von Angst und Leistungsdruck, um das Ausweichen in simulierte Spontanität überflüssig zu machen. Das Sei-Spontan-Paradox ist bisher im Kontext des Improvisationstheaters nicht thematisiert worden, es birgt in sich jedoch den Kern des improvisatorischen Paradoxes. Auf praktischer Ebenen wirkt es, wenn die Gefahr abhängiger Beziehungen und das Problem der simulierten Spontanität umgangen werden können offenbar sogar eher als ein Katalysator zur Freisetzung von Spontanität verstanden werden kann, ähnlich wie in fernöstlichen Kulturen Paradoxien zur Herstellung einer spon-
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tanen, nicht-rationalen Problemlösung eingesetzt werden – beispielsweise die berühmten Koans im Zen-Buddhismus. Die Splittung der Aufmerksamkeit Alle hier dargestellten Improvisationskonzepte fordern einen Bewusstseinszustand des Spielenden, der vom normalen Alltagsbewusstsein abweicht. Diesen Zustand kann man charakterisieren als eine Polyzentrierung oder Splittung der Aufmerksamkeit: Der Spielende ist gleichzeitig hellwach und träumend, gleichzeitig stark fokussiert und sensorisch offen, gleichzeitig nach innen und nach außen orientiert. Moreno spricht von einer „Ambizentrierung“, Spolin vom „Point of Concentration“, Johnstone vom „Splitten der Aufmerksamkeit“. Schon Morenos Konzept der Stegreiflage kann als altered state of mind23 betrachtet werden; die Qualität des Rauschhaften wird der Stegreiflage von Moreno eindeutig zugeschrieben. Weiterhin verweist sein Konzept der Ambizentrierung auf eine Splittung der Aufmerksamkeit wie sie für dissoziative Prozeduren charakteristisch ist. Der starke explizite Bezug zur Trance bei Johnstone wurde bereits dargestellt. Auch Spolins Point of Concentration bedeutet eine Splittung der Aufmerksamkeit: Er verlangt gleichzeitig eine extreme Fokussierung und eine Konzentration auf die Gesamtheit des Spiels. Dasselbe gilt für das System von Close: Der Spieler soll einerseits den entstehenden Patterns und Games Aufmerksamkeit schenken, also rückwärts blicken, als auch „environmentally aware“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 101) sein, also in der aktuellen Situation sein. Auf ein paralleles Konzept verweist Brandstetter für die tänzerische Improvisation unter dem Begriff „Disfocus“: „Die Wahrnehmung der Tänzer und Choreographen, der Blick UND das gesamte kinästhetische Sensorium sind durch eine spezifische Spaltung, oder besser, eine Doppelung ausgezeichnet. ‚Disfocus‘ nennt Dana Caspersen diese körperlich-mentale Einstellung: Die Augen schauen nach innen und nach außen gleichzeitig.“ (Brandstetter in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 193)
Auch wenn die beschriebenen Ansätze im Detail variieren, haben sie doch die Gemeinsamkeit, dass sie einen dissoziativen Zustand des Spielenden herstellen. Die Arbeit des Improvisierens, so kann man folgern, erfordert einen solchen dissoziativen Bewusstseinszustand – bis hin zu Trancezuständen. Unter diesen dissoziativen Bewusstseinszuständen kann es zum Erleben von Flow kommen, in jedem Fall
23 In gewissem Sinn kann man den Zustand des Schauspielers beim Spielen generell als „altered state of mind“ auffassen (SCHEIFFELE 2001). Die hier besprochenen Effekte gehen über solche Zusammenhänge jedoch hinaus, indem sie klar benennbare Techniken der Dissoziation benutzen.
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scheinen sie vorteilhaft für die Hervorbringung von spontanem Material auf der Bühne.24 Die wichtigste Funktion dieser dissoziativen Zustände ist dabei die Entlastung von der Verantwortung für das Hervorgebrachte. Oft erfolgt die Produktion mit verteilten Rollen: Hierbei übernimmt ein Akteur die Verantwortung für die Aufführung und ermöglicht damit den anderen Spielern das Aufgeben der Selbstkontrolle und Selbstzensur. Modell für diese Art von Rollenteilung ist der Hypnotiseur und sein Trancemedium: Es wird ein sanktionsfreier Raum geschaffen, in dem das freie, spontane Agieren möglich wird. Die Vorteile wurden bereits bei den Hypnoseaufführungen von Madeleine Guipet 1904 von Schrenck-Notzing beschrieben: „So spielen die sonst leicht eintretende Scheu vor dem Publikum, das Bewusstsein, von Hunderten beobachtet zu werden, der Zweifel an sich selbst, keine Rolle, ebensowenig die sich notwendigerweise einem Schauspieler in seiner dramatischen Darstellung aufdrängende Frage, ob diese oder jene Ausdrucksbewegung richtig und genau den Inhalt der Aufgabe charakterisiert; dadurch könnte z.B. in der Darstellung selbst noch die Tendenz entstehen, an den bereits im Ablauf befindlichen Bewegungen zu korrigieren, zu ändern. Die Korrektur der Bewegungsantriebe durch kritische Vorstellungen fällt weg; dieselbe würde auch dem wenig geübten Zuschauer sofort auffallen und als unfreie Bewegung erscheinen.“ (SCHRENKNOTZING 1904, S. 54)
Dies entspricht auch heute noch der beim Improvisationstheater erwünschten Grundhaltung des Schauspielers. Techniken der Splittung der Aufmerksamkeit sind beim Improvisationstheater so ubiquitär, dass man wohl von einem konstituierenden Faktor sprechen kann. Wie Güssow meint, sind die Spieler dadurch in der Lage, sich in einen „kontrollierten Rausch“ (GÜSSOW 2013, S. 200) zu versetzen. 3.3 Konzepte der Spontanität Spontanität kann als ein Schlüsselbegriff des Improvisationstheaters gelten. Alle hier aufgeführten Vertreter der Theorie benutzen ihn. Wie in Kapitel I 2.4 ausgeführt ist der Begriff spontan auch in den meisten Definitionen von Improvisation enthalten. Aus diesem Grund wird das Konzept der Spontanität hier näher ausgeführt und kritisch hinterfragt. Zunächst muss man fragen, was eigentlich spontanes Verhalten ist und wie es sich von nicht-spontanem Verhalten unterscheidet. Sucht man nach Definitionen von Spontanität, so stößt man auf eine erstaunliche theoretische Leere: In der psychologischen Literatur, wo man das Thema zunächst vermu-
24 Die Diplomarbeit von Nele Kießling (2011) untersucht den Zusammenhang von Flow und Improvisationstheater.
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ten würde, wird es äußerst knapp abgehandelt. Der Grund dürfte in der Tatsache zu finden sein, dass die experimentell ausgerichtete Psychologie sich mit einer Verhaltenskategorie, die sich der Vorhersagbarkeit entzieht, prinzipiell schwer tut und sie sogar eher als Fehlerquelle betrachtet. Allgemeine Definitionen umfassen vier bis sieben Kriterien (dictionary.com, Merriam Webster Dictionary, Herders Lexikon der Psychologie). Reduziert man Überschneidungen, so kann eine minimale Bestimmung von spontanem Verhalten auf drei Kriterien reduziert werden: 1. Fehlen eines Auslösers: Es gibt keinen eindeutigen, von außen spezifizierbaren Auslöser. Das spontane Verhalten taucht einfach auf, es entsteht ‚von selbst‘. Durch ein solches Kriterium werden Verhaltensweisen ausgeschlossen, die der Laie durchaus noch als spontan bezeichnen würde, nämlich Reflexe und konditionierte Reflexe. Kritisch muss man einwenden, dass die Tatsache, dass kein Auslösereiz wahrnehmbar ist, nicht zwangsläufig bedeutet, dass kein Auslösereiz existiert. Dieser könnte auch subliminal sein, also unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegen. 2. Unmittelbarkeit (Plötzlichkeit): Das spontane Verhalten geschieht ohne Vorbereitung, Planung oder sonstige zwischengeschaltete Prozesse. Das Kriterium der Unmittelbarkeit kann sich, da kein Auslösereiz existiert, nicht auf die Dauer zwischen diesem und der Handlung beziehen, sondern nur auf das spontane Verhalten selbst, das sich innerhalb kürzester Zeit manifestiert. Man muss dieses Kriterium daher wohl besser als Plötzlichkeit bezeichnen. 3. Unvorhersagbarkeit: Das spontane Verhalten ist weder in Bezug auf den Zeitpunkt noch auf seine Ausprägung vorhersagbar. Das Kriterium der Unvorhersagbarkeit wirft die Frage auf, wie weit diese gefasst ist: Handelt es sich um prinzipielle Unvorhersagbarkeit, so muss ein nicht-kausaler Mechanismus angenommen werden. Handelt es sich dagegen nicht um prinzipielle Unvorhersagbarkeit, dann wäre spontanes Verhalten nur eine Kategorie für Verhalten, das beim gegenwärtigen Stand des Wissens nicht vorhergesagt werden kann, durch zukünftige, komplexere Modelle der Verhaltensvorhersage jedoch durchaus. Der Begriff Spontanität weist gewisse Überschneidungen zum Begriff Improvisation und zum Konzept der Emergenz auf und es stellt sich sogar die Frage, ob die Konzepte emergent und spontan nicht eigentlich identisch sind. Beide Konzepte stellen die Kriterien der Unvorhersagbarkeit und der Undeduzierbarkeit in den Mittelpunkt. Der Begriff Emergenz wird in Kapitel III und IV näher ausgeführt. An dieser Stelle wird zunächst die Verwendung des Spontanitätsbegriffs im Kontext des Improvisationstheaters untersucht.
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Spontanität, Kreativität und Erwärmung bei Jakob Moreno Moreno verwendet den Begriff Spontanität häufig; er zieht sich durch sein gesamtes Werk und ist eng verbunden mit seinem Menschenbild (Schacht in BÜER 1999, S. 207 ff). Er versteht den Menschen als spontan-kreativen Schöpfer, der in dieser Doppeleigenschaft seinem Schöpfergott besonders nahe kommt. Spontanität und Kreativität sind dabei zwei Aspekte eines gemeinsamen Prozesses, die im Idealfall miteinander verbunden, jedoch auch unabhängig voneinander möglich sind. Moreno ist die Unterscheidung von Spontanität und Kreativität wichtig, da sie unter Umständen im Widerspruch zueinander stehen: „Die Spontanität eines Menschen kann seiner Kreativität diametral entgegengesetzt sein. Ein Individuum mit hoher Spontanität kann ein völlig unschöpferischer Mensch, ein spontaner Irrer sein. Einem anderen Menschen mag es trotz großer Kreativität an Spontanität fehlen; er ist ein ‚Schöpfer ohne Arme‘.“ (MORENO 1974, S. 11)
Moreno bezeichnet Spontanität als „Ur-Katalysator“ und Kreativität als „UrSubstanz“ (Schacht in BÜER 1999, S. 212), gemeinsam bringen sie menschliches Handeln hervor. Spontanität habe, so Moreno, eine alle Lebensvorgänge auslösende, belebende und beschleunigende Funktion. Sie setze Aktion in Gang und initiiere einen Prozess der Erwärmung. Erreiche diese Erwärmung die sogenannte „Spontanitätslage“ (Schacht in BÜER 1999, S. 212), so werde freie Aktion und damit Kreativität möglich. Hier gewinnt der Begriff des schöpferischen Augenblicks Bedeutung, für den Moreno in seinen späteren Schriften auch die Bezeichnung ‚Moment sui generis‘ oder das bekanntere ‚Hier und Jetzt‘ verwendet. In Morenos „Rede über den Augenblick“ finden sich einige Merkmale desselben: „Stets war der Augenblick frei: eine ungerufene Schau, eine ungehobene Lust, eine unerschaffene Zeit: Nach allen Seiten konntet ihr gehen, Neues entdecken, Entdecktes erneuern, Alles konntet ihr wählen, konntet ihr werden, alles erneuern.“ (MORENO 1923a, S. 10)
Die Spontanitätslage kann verstanden werden als ein Moment der plötzlichen Erfassung aller gegenwärtigen Möglichkeiten, eine Art Rundumschau auf die Potentiallandschaft, eine Entfaltung des Möglichkeitssinnes VOR dem Augenblick der Entscheidung. Erst danach findet die Wahl einer Alternative statt und ein Prozess der kreativen Auseinandersetzung mit den Problemen beginnt. Um Spontanität zu ermöglichen, darf der gesamte Prozess, wie Moreno betont, nicht auf Perfektion ausgerichtet sein, denn das Streben nach Perfektion wird erst in den langsamen, sorgfältigen Prozessen der Kreativität verwirklicht, nicht jedoch im Stadium der Spontanität (MORENO 1970, S. IX). Eine Ausrichtung auf Perfektion ist daher für die Entfaltung von Spontanität unvorteilhaft. Hierin sieht Moreno ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal zur Schauspielmethode Stanislawskis: „Während
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aber Stanislavski Improvisation ‚teilweise‘ verwendet um der Perfektion des Darstellens willen, habe ich Imperfektion erlaubt, um echte, totale Spontanität zu erzielen.“ (MORENO 1970, S. IX). Moreno sah die Möglichkeit eines spontanen Theaters durch das herrschende Paradigma der Perfektion auf der Bühne in einem unlösbaren Dilemma: „Hundertperzentige Spontanität war in einem therapeutischen Theater leichter zu erfüllen. Es war schwer, einem normalen Schauspieler esthetische und psychologische Unvollkommenheiten zu verzeihen. Aber es war leichter, Unvollkommenheiten und Unregelmäßigkeiten einer abnormalen Person, einem Patienten, zu tolerieren. Unvollkommenheiten von ihnen waren sozusagen zu erwarten und öfters willkommen.“ (MORENO 1970, S. VIII)
Moreno war damit der Erste, der ausformulierte, dass das Scheitern dem spontanen Spiel immanent ist, dass man das Eine nicht ohne das Andere haben kann (MORENO 1970, S. 73). Dies gehört heute zu den Grundüberzeugungen des Improvisationstheaters: Spontanität und Perfektionismus stehen in reziprokem Verhältnis, wo das eine regiert, kann sich das andere nicht entfalten. Die Spannung zwischen Spontanität und ästhetischer Perfektion ist unlösbar. Es handelt sich letztendlich um eine Abkehr vom Primat der Ästhetik zugunsten eines Primats der Spontanität. Morenos Spontanitätsbegriff ist eng verbunden mit dem Konzept der Lage: Die Spontanitätslage ist ein Zustand der Wahlfreiheit nach einem Prozess der Erwärmung. Das Modell wird weiter unten ausgeführt und weiterentwickelt. Der Spontanitätsbegriff bei Viola Spolin Obwohl man bei Spolin vergeblich nach einer Definition von Spontanität sucht, spielt diese in ihrem Ansatz eine zentrale Rolle. Entsprechend ihrer Verwurzelung im amerikanischen Pragmatismus, der das individuelle, erfahrungsorientierte Lernen betont, manifestiert sich für Spolin Spontanität im Moment des ganzheitlichen Reagierens: „Spontanität ist ein Moment persönlicher Freiheit, in dem wir mit der Realität konfrontiert sind, sie wahrnehmen und erforschen und angemessen handeln. In dieser Realität funktionieren die Aspekte unserer Persönlichkeit als ein organisches Ganzes.“ (SPOLIN 2002, S.18)
Die ganzheitliche spontane Erfahrung verwandele den Spieler in ein „offenes Selbst zur Welt um ihn herum.“ (SPOLIN 2002, S. 30). Sie wird bei Spolin als ein plötzliches, fast gewaltvolles Erleben dargestellt, eine Explosion, eine Entladung von Energie. Im Augenblick der Spontanität findet sich das Individuum plötzlich befreit von allen Präkonzeptionen und anerzogenen Restriktionen:
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„Durch Spontanität werden wir wieder in uns selbst verwandelt. Sie führt eine Explosion herbei, die uns für einen Augenblick von überlieferten Bezugssystemen und von Erinnerungen befreit, die von alten Fakten, Informationen und unverdauten Theorien und Techniken befreit, die andere Menschen entwickelt haben.“ (SPOLIN 2002, S. 18)
Für Spolin ist Spontanität daher vor allem ein souveräner Akt persönlicher Freiheit, mit dem das Individuum sich aus gesellschaftlichen Konventionen befreien kann. Für die Nutzung von Spontanität im Improvisationstheater ist es von zentraler Wichtigkeit, dass diese Prozesse nicht durch das planende Bewusstsein gesteuert werden, denn dies ist nur ein Teilaspekt des Selbst, sondern dass das Problem mit seinem ganzen Selbst durchlebt wird. Der Spieler soll daher eine Geschichte nicht erfinden, denn Erfinden sieht Spolin als eine distanzierende Produktionsweise, die dem ganzheitlichen Charakter der Spontanität widerspricht und stattdessen nur kognitive Prozesse ermöglicht: „Erfindung ist nicht dasselbe wie Spontanität. Ein Mensch kann sehr erfinderisch sein, ohne spontan zu sein. Die Explosion findet nicht statt, wenn eine Erfindung nur ‚zerebral‘ ist und deshalb nur einen Teil des gesamten Selbst darstellt.“ (SPOLIN 2002, S. 56)
Spolin argumentiert hier ähnlich wie Moreno, nur dass sie statt Kreativität den Begriff Erfindung wählt. Entsprechend dieser Auffassung liegt der Schwerpunkt der Praxis in der Herbeiführung von ganzheitlichen spontanen Erfahrungen. Die Aufgabe des Schauspiellehrers besteht darin, ein Lernmilieu herzustellen, in dem solche Erfahrungen möglich sind. Ein Durchsprechen und Reflektieren ist dagegen nicht nötig: Der Wert liegt in der Erfahrung selber, jede reflexive Aufarbeitung stellt bereits eine Spaltung des Bewusstseins in ein agierendes und ein reflektierendes Ich dar. Nur innerhalb der spontanen Erfahrung selbst ist diese Spaltung aufgehoben. Spontanität hat bei Spolin eine Tendenz zu chaotischer Entladung: „Die zur Problemlösung freigesetzte Energie, die durch die Spielregeln und die Gruppenentscheidung begrenzt ist, führt eine Explosion – oder Spontanität – herbei. Diese Explosion reißt alles auseinander, ordnet neu, hebt Blockierungen auf.“ (SPOLIN 2002, S. 20)
Damit Spontanität für das Spiel nutzbar ist, müsse sie durch Spielregeln und das Ensemblespiel in die richtigen Bahnen gelenkt werden – vergleichbar vielleicht mit dem Mechanismus eines Explosionsmotor: Ohne Begrenzung hat die Explosion die Tendenz zu verpuffen, erst das Einschließen in den Zylinder macht die Explosion des Treibstoffs für eine Bewegung des Kolbens nutzbar. Die Games haben bei Spolin also nicht nur die Funktion der Freisetzung von Spontanität, sondern dienen auch ihrer Nutzbarmachung durch Begrenzung.
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Aus diesem Grund sieht Spolin die Rolle der individuellen Spontantiät wie in Kapitel II 3.3 bereits dargestellt nicht als Selbstzweck, sondern als Methode in einem Gesamtprozess. Der spontane Moment bedeutet zwar eine Befreiung des Individuums, birgt jedoch auch die Gefahr, das kollaborativ Erarbeitete zu zerstören: Man findet bei Spolin also ein Spontanitätskonzept, das in vielerlei Hinsicht an das bereits dargestellte Spontanitätskonzept von Moreno erinnert. Der Spontanitätsbegriff bei Keith Johnstone Johnstone widmet dem Begriff Spontanität ein Kapitel seines ersten Buches (JOHNSTONE 2004, S. 127-184). Wie bereits ausgeführt sieht er Spontanität eng an das Unbewusste gekoppelt. Spontane Assoziationen haben laut Johnstone eine Tendenz zum Obszönen und Psychotischen (JOHNSTONE 2004, S. 141-148). Johntone führt zahlreiche Beispiele dafür an, wie innerhalb der Sozialisation spontane Impulse durch Erziehung entwertet werden – und zwar perfiderweise gerade in der künstlerischen Erziehung (Johnstone war ursprünglich Kunsterzieher). Statt seiner Spontanität zu vertrauen, sucht das Individuum nach Möglichkeiten, sich als vernünftig und funktionsfähig zu präsentieren und nimmt seine Zuflucht dabei zu bewertendem Denken und (Pseudo-)Originalität (JOHNSTONE 2004, S. 148). Ein theoretisches Konzept der Spontanität stellt Johnstone jedoch nicht auf, vielmehr folgt er konsequent einer via negativa und untersucht Blockierungen und Abwehrhaltungen, die Spontantiät so schwierig machen. Sein Ansatz ist an dieser Stelle von Pragmatismus geprägt und er präsentiert zahlreiche Techniken zur Freisetzung von Spontanität. Das handlungstheoretische Spontanitätsmodell von Moreno/ Schacht Das Spontanitätskonzept von Moreno wurde innerhalb der Theoriebildung des Psychodramas weiter ausgearbeitet. Spolins Nähe zu Morenos Konzept legt nahe, dass sie seine Arbeit gekannt haben könnte, in jedem Fall befindet sich ihre Auffassung von Spontanität weitgehend in Einklang mit Moreno und auch mit dem im Folgenden präsentierten weiterentwickelten Konzept. 2003 legte der Psychodramatiker Michael Schacht (2003) ein Modell vor, das Morenos Konzept der SpontanitätKreativität anschaulich macht und in ein handlungstheoretisches Modell integriert.
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Abb. 4: Das handlungstheoretische Spontanitätsmodell nach Michael Schacht
(Quelle: SCHACHT 2003, S. 21)
Demnach beginnt jede Handlung mit einem Erwärmungsprozess, bei dem über Spontanität Handlungsbereitschaften aktiviert werden. Innerhalb dieser Phase werden immer mehr Handlungsoptionen aktualisiert, entweder als rein mentale Aktivität oder als Probehandeln. Dies führt zu einer Anreicherung von Optionen, die ihren Höhepunkt in der Spontanitätslage finden. Die Spontanitätslage liegt an einer Art Scheitelpunkt zwischen Erwärmung und Handlung, zwischen Spontanität und Kreativität. Subjektiv umfasst sie einen rauschhaften Moment der Freiheit – bevor eine Entscheidung getroffen wird und die Vertiefung in die damit verbundenen Einzelprobleme beginnt. Erst danach findet die eigentliche Handlung statt, die von Kreativität statt von Spontanität geprägt ist. Sie kann wiederum zerlegt werden in die Vorbereitung der Handlung (präaktionale Phase), die Durchführung (kreative Phase) und die Nachbereitung der Handlung (postaktionale Phase). Schacht ordnet Morenos Konzept der Spontanität in eine Handlungstheorie ein. Spontanität ist damit kein eigener Verhaltensbereich oder Verhaltensmodus, sondern eine mehr oder weniger kurze Phase in jedem normalen Handlungsvollzug. Charakterisiert ist
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sie durch die Öffnung des Möglichkeitssinns und ein Gefühl von Freiheit, ihren Höhepunkt findet sie in der Spontanitätslage. Für das Improvisationstheater bietet Morenos/ Schachts Konzept der Spontanität-Kreativität einen hohen Erklärungswert: 1. Um zur Spontanitätslage zu gelangen muss ein Erwärmungsprozess stattfinden. Der Erwärmungsprozess wird konkret umgesetzt im Warm-up der Spieler und der Zuschauer zu Beginn der Vorstellung. Im Idealfall erreichen Spieler und Zuschauer die Spontanitätslage. 2. Um möglichst oft zur Spontanitätslage zurückzukehren müssen Techniken angewandt werden, die verhindern, dass der Spieler zu lange in der Kreativitätsphase bleibt. Dies wird im Improvisationstheater durch das ständige Durchkreuzen und Hinfälligmachen aller Pläne erreicht: Der Eintritt in die Phase der Ausarbeitung wird so oft es geht verhindert, die Spielenden werden immer wieder in die Phase der Spontanität zurückgeworfen. Damit erklärt das Modell auch, warum es so schwierig ist, längere Szenen oder Geschichten zu improvisieren: Spontanität und Kreativität sind niemals gleichzeitig aktualisiert. Die Spontanität tritt in den Hintergrund, sobald die Phase der kreativen Problembearbeitung begonnen hat. Da eine längere Geschichte eine kreative Ausarbeitung verlangt, wird es für die Improvisationsspieler immer schwieriger wieder zur Spontanitätslage zurückzukehren. Sie müssen lernen so viel Kreativität zuzulassen, dass die Geschichte sich einigermaßen logisch weiterentwickelt und gleichzeitig so viel Spontanität zu ermöglichen, dass das Spiel frisch und ungeplant bleibt. Nach dem Modell von Schacht haben sie die Möglichkeit, entweder den Prozess regelmäßig zu unterbrechen, oder ihn sehr schnell immer wieder zu durchlaufen, um möglichst oft eine Spontanitätslage herzustellen. Ein emergentistisches Modell von Spontanität Das Konzept der Spontanitätslage beschreibt einen gedachten Punkt innerhalb eines Handlungsprozesses, an welchem die Handlungsbereitschaft maximiert ist, bevor eine Handlung in Gang gesetzt wird. Im Folgenden wird ein Modell vorgeschlagen, das es ermöglicht, diesen Übergang als emergentes Phänomen zu betrachten und an emergentistische Theorien anzuschließen. Dies impliziert die Unterscheidung von zwei unterscheidbaren Systemebenen, nämlich einer Mikroebene und einer Makroebene des Systems wie dies in emergentistischen Systemtheorien üblich ist (siehe Kapitel IV). Auf der Mikroebene findet sich das Verhalten der einzelnen Systemelemente, etwa die Bewegungen der Moleküle einer Flüssigkeit. 25 Hier herrschen größere Freiheitsgrade vor – bis hin zur Unvorhersagbarkeit subatomarer Teilchen. Auf einer höheren Ebene, der Makroebene, führt dies zu einem beobachtbaren, makroskopischen Verhalten. Die entsprechende Kausalität bezeichnet Sawyer als
25 Ein populär gewordenes Beispiel für das Entstehen von makroskopischer Ordnung aus mikroskopischerm Chaos sind die dissipativen Strukturen in der Chemie.
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„Mikro-Makro-Link“ (SAWYER 2003, S. 56-57). Sie steht im Mittelpunkt der Emergenztheorien. Es wird hier vorgeschlagen, die Spontanitätslage als ein solches Mikro-Makro-Link zu verstehen. Für das Konzept der Spontanität bedeuten diese Konzepte zunächst die Annahme, dass es eine Mikroebene des Verhaltens gibt, auf der spontane Fluktuationen permanent vorhanden sind: Assoziationen, Emotionen, Erinnerungen, winzige körperliche Impulse. Sie liegen außerhalb des Bewusstseins, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, d.h. sie sind ohne Hilfsmittel (z.B. Introspektion) nicht wahrnehmbar. Unter den Bedingungen der Spontanitätslage gewinnen sie jedoch Einfluss auf die makroskopische Ebene des Verhaltens. Wie die vorausgehenden Überlegungen zeigen, ist die Spontanitätslage charakterisiert als Entscheidungssituation, in der verschiedene gleichwertige Handlungsoptionen enthalten sind, nachdem zuvor eine Erwärmung stattgefunden hat. Die Gleichwertigkeit von Handlungsoptionen stellt eine Bedingung dar, unter welcher winzige Fluktuationen des mikroskopischen Levels zu weitreichenden Wirkungen auf makroskopischem Level führen. Ein berühmtes philosophisches Beispiel (eigentlich Gegenbeispiel) kann dies verdeutlichen, nämlich Buridans Esel: Der Philosoph Buridan (um 1300) stellte in diesem Gedankenspiel einen hypothetischen Esel genau in die Mitte zwischen zwei Heuhaufen. Da beide Haufen dieselbe Anziehung auf ihn ausübten, müsse der Esel, so Buridan, in der Mitte verhungern. Die Theorie der Emergenz würde dagegen vorhersagen, dass der Esel sich irgendwann zufällig ein wenig in die Richtung eines der beiden Heuhaufens bewegt. Damit wäre die Symmetrie gebrochen und der Esel würde sich diesem Heuhaufen zuwenden. Minimale, zufällige Fluktuationen geben hier den Ausschlag in die eine oder andere Richtung. Unmittelbar vor dem Ereignis ist die Richtung des Esels jedoch nicht vorhersagbar, da sie ja aus einer minimalen spontanen Fluktuation entsteht. Mikroskopisches Chaos führt damit zu nicht vorhersagbaren makroskopischen Phänomenen. Wendet man die Emergenztheorien auf den Prozess der Spontanität-Kreativität an, so ergibt sich das in Abbildung 15 dargestellte Modell. Es postuliert, dass sich durch emergente Ordnungsbildungen aus winzigen spontanen Fluktuationen nichtvorhersagbares makroskopisches Verhalten herausbildet. Die spontanen Fluktuationen können sich unter besonderen Umständen ausbreiten, aufschaukeln und schließlich die Grenze zum makroskopischen Bereich überschreiten. Ein permanenter Strom von spontanen Fluktuationen auf mikroskopischer Ebene führt unter den Bedingungen der Spontanitätslage als Bottom-up-Wirkung zur Emergenz von Ordnungen auf makroskopischer Ebene. Ist die neue Ordnung gebildet, so wirkt sie als Top-down-Kausalität wieder auf die mikroskopische Ebene zurück.
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Abb. 5: Emergentistisches Modell der Spontanität
(Quelle: Eigene Darstellung)
Das hier entwickelte Modell der Spontanität steht in Einklang mit den Vorstellungen der Improvisateure, dass sie sich Ideen nicht ausdenken, sondern sie bereits vorfinden und nur die richtigen Bedingungen herstellen müssen, damit sie sich manifestieren. Die Fluktuationen liegen im mikroskopischen Bereich, also außerhalb des vom Improvisator gewöhnlich wahrgenommenen bewussten Selbst. Der Improvisationsforscher Dell spricht analog zu den hier konzipierten mikroskopischen Fluktuationen von der „Tendenz des Potentials“ (DELL 2002, S.33). Er nimmt an, dass das Potential umso stärker sei, je weniger sichtbar es sei: „So schwach auch die Tendenz des Potentials sein mag, sie wird auf jeden Fall eine Veränderung des Spiels herbeiführen, wird neue Anknüpfungspunkte sichtbar machen. Ist also das Potential umso stärker, desto weniger sichtbar es ist, muss man Techniken und Instinkte herausbilden, um diese Verborgenheit aufzuspüren, die Feinheiten der Energien nutzen. Dies ist die Kunst des improvisatorischen Handelns.“
Das Konzept des Point of Concentration, eine Schlüsseltechnik der Improvisation, bestätigt ebenfalls das hier aufgestellte emergentistische Modell: Es fordert eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf winzige Details, um daraus eine Ordnungsbildung zu gewinnen, welche den jeweiligen Dialog, die Figur, die Szene oder sogar die ganze Geschichte prägen kann.
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3.4 Das Problem der schwankenden Qualität Schon Moreno musste feststellen, dass beim Improvisationstheater grandiose Höhenflüge und völliges Desaster nahe beisammen liegen: „Es gibt kein menschliches Schaffen, welchem plötzlicher Umschlag in Dilettantismus so knapp auf dem Fuße folgt. Der Mensch kann hier am größten, aber auch in seiner ganzen Kläglichkeit erscheinen.“ (MORENO 1970, S. 73)
Die Inspiration lässt sich nicht herbeizwingen, im Gegenteil, sie flieht unter dem sichernden Zugriff des Schauspielers, sodass die Aufführungen von Improvisationstheater großen qualitativen Schwankungen unterliegen. Dies wird vor allem dann zum Problem, wenn ein professionelles Improvisationstheater angestrebt wird, wenn die sanktionsfreien Räume von Partyspiel, Therapie oder Selbstverwirklichung verlassen werden. Auch bei der wohl berühmten Improvisationsgruppe The Second City in Chicago gab es offensichtlich schlechte Abende. So schreibt Sweet 1978: „It is warm and cozy, the air crackles with invention and psychic energy, and everybody belongs. This is a good night I’m talking about. Oh God, a bad night and the marrow of your bones is heavy with the weight of disaster and you flee the theater hoping to leave the gloom behind you.“ (SWEET 2003, S. xi)
Jede hier untersuchte Form des Improvisationstheaters hat daher eine Möglichkeit gefunden, mit der wechselnden Qualität der Produktion und mit dem Scheitern umzugehen. Die Commedia dell’ arte besaß zur Überbrückung von uninspirierten Momenten ein großes Repertoire an lazzi, tirate und bravure. Auch konnte man mit Kunststückchen die fehlende Logik oder das schlechte Schauspiel vergessen machen. Noch entscheidender dürfte das Ensemblespiel gewesen sein: Wenn einem Schauspieler die Ideen ausgingen und sprangen andere auf die Bühne um ihn zu unterstützen. Das moderne Improvisationstheater, das sich an der freien Improvisation orientiert, stieß auf das Problem der Überforderung der Schauspieler: Mit der Abschaffung der Scenarios mussten die Schauspieler nun auch die Szenenfolge und die Inhalte entwickeln. Pörtner beschäftigte sich in den 60-er Jahren intensiv mit den Stegreifexperimenten Morenos und hielt das Problem der Überforderung für unüberwindbar: „Das trifft den wunden Punkt der gesamten Stegreiftheater-Erneuerung: Der Dichter wird zwar von der Bühne verbannt, der Schauspieler aus seiner Vormundschaft entlassen, auf sich
142 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS selbst gestellt, aber nun muß er zugleich Dichter und Schauspieler sein. Und das ist weder durch Übung noch durch Analyse (wie Moreno vorschlägt) zu erreichen.“ (Pörtner 1972, S. 19)
Moreno hat das Problem der schwankenden Qualität nicht lösen können und wandte sich daher dem therapeutischen Bereich zu. Auch Pörtner kehrte nach seinen Experimenten zu einer weitgehend inszenierenden Produktionsform zurück. Dagegen fanden sowohl die Chicago-Schule als auch die Johnstone-Schule Wege, mit der Möglichkeit des Scheiterns konstruktiv umzugehen: Die Ästhetik des Imperfekten, die Fehleraffinität, die positive Rahmung des Scheiterns und die Dramaturgie der Augenblicke. Die Ästhetik des Imperfekten und die Fehleraffinität Alle hier dargestellten Improvisationsansätze haben die vorherrschende Vorstellung einer Theaterästhetik unterlaufen, indem sie sich auf Ansätze außerhalb des Diskurssystems stützten: Das Kinderspiel, die Psychologie, die Völkerkunde, die Musik, den Tanz. Die Geschichte des modernen Improvisationstheaters wurde gestaltet von Querdenkern, die sich von ästhetischen Werturteilen des Kunstsystems freimachen konnten und eine „Poiesis des Imperfekten“ (Brandstetter in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 193) schufen. Eine Keimzelle des Spontanen war dabei mal der sanktionsfreie Rahmen der Hypnose – wie etwa bei Madeleine Guipet – , mal das Spiel, mal das therapeutische Theater, mal die Gestalttherapie in der Kultur der Spontanität in den USA. In diesen Bereichen war Spontanität als eigenständiger Wert leichter zu behaupten als im Theater, sodass sich ein Ideal der Imperfektion in Abgrenzung von der geschliffenen Kunstproduktion des Mainstreams etablieren konnte. Die Ästhetik des Imperfekten beim Improvisationstheater hat dabei verschiedene Wurzeln. Fox sieht darin ein Merkmal oraler Kulturen, in deren Tradition er das Improvisationstheater verortet: „Failure is inadmissible in a literary-technological society, but in oral culture – in the world of improvisation, of putting together in the crucible of the moment – the tangible possibility of failure is what makes success possible. Failure is not the poison but the spice of oral composition.“ (FOX 1994, S. 96)
Gleichzeitig ist eine Ästhetik des Imperfekten jedoch auch ein modernes Kunstideal. In den historischen Avantgarden bildeten sich ein Ideal der Imperfektion heraus, das für die Entwicklung der modernen Kunst durchaus relevant war, also keinen Rückfall in orale Kulturen darstellt (MEYER 2008, S. 93-125). Vielmehr bildete sich eine neue Ästhetik als Anti-Ästhetik und radikale Infragestellung der Poiesis
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des Perfekten.26 Es handelt sich um eine ästhetische Neubewertung, die seit den historischen Avantgarden sowohl im Theater als auch in anderen Künsten vertreten wurde. Im Improvisationstheater wird die Ästhetik des Imperfekten bewusst zelebriert. Dell formuliert dieses Ideal als Paradox: „Ihre Idealform ist, keine Idealform zu besitzen, sondern das Imperfekte, das bedingungslos Fraktale zu orten und spielbar zu machen.“ (DELL 2002, S. 62). Die sich herausbildende Grundhaltung soll hier als Fehleraffinität bezeichnet werden. Die entsprechende Haltung geht über eine bloße Fehlertoleranz weit hinaus. Im Grunde wird damit der Begriff des Fehlers an sich in Frage gestellt. So formuliert Close: „There is no such thing as a mistake“(HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 79). 27 Das Herbeiführen und Verarbeiten von ‚Fehlern‘ spielt bei Johnstone eine herausragende Rolle, dasselbe gilt für die Chicagoer Schule. Beide Improvisationsschulen betonen, dass der Spieler lernen muss, Fehler wahrzunehmen und positiv zu bewerten. Der Fehler gilt als das Tor ins Unbekannte. ‚Fehler‘ oder Abweichungen werden als Grundmaterial der Improvisation betrachtet und daher grundsätzlich bejaht, was oft eine völlige Umwertung der gewohnten Bewertungsmuster bedeutet. Die Grundhaltung der Fehleraffinität wird daher exzessiv trainiert bis sie für die Improvisateure zur ‚zweiten Natur‘ geworden ist. Zu einer erfolgreichen Aufführungsform fand das moderne Improvisationstheater erst, als es Möglichkeiten fand, das Scheitern in die öffentliche Aufführung einzubauen und eine Ästhetik des Imperfekten innerhalb der Aufführung durchzusetzen. Die Fehleraffinität, die Lust am spielerischen Risiko, muss daher auch auf die Zuschauer übertragen werden. Die positive Rahmung des Scheiterns Die Bewertung der Improvisation hängt stark davon ab, welche kommunikative Rahmung die Zuschauer herstellen. Dies bezieht sich gerade auf den Fall des Scheiterns, was vielleicht am deutlichsten in der Rahmung Sport aufzuzeigen ist: Kein Mensch würde eine Sportveranstaltung sehen wollen, wo alle Teilnehmer immerzu nur siegen. Die Niederlage ist vielmehr ebenso Teil der Rahmung wie das Gewinnen. Geht beispielsweise ein Boxer zu Boden, dann sind die Zuschauer durchaus nicht enttäuscht. Um das Scheitern beim Improvisationstheater zu ermöglichen müssen daher Rahmungen etabliert werden, die von denen des inszenierenden Theaters deutlich abweichen.
26 Zum bewussten Einsatz von Dilettantismus zu Beginn der Moderne siehe auch die Ausführungen von Roselt zum Schauspielstil Frank Wedekinds (ROSELT 2008, S. 263 ff.) 27 Für den Bereich Musik hat der Jazzmusiker Miles Davis dies auf eine elegante Kurzform gebracht: „Don‘t worry about mistakes. There aren´t any." (zit. in NACHMANOVICH 1990, S. 116).
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Wie Salinsky und White (2008) konstatieren ist diese Funktion bei den Wettkampfformaten von Johnstone besonders deutlich. Dadurch werde eine Rahmung geschaffen, in der misslingende Szenen dennoch einen sinnvollen Teil der Aufführung darstellen: „If the framework of your show includes a mechanism which is constantly reminding the audience of its improvised nature, then it doesn’t rob the show of anything if the improvisers choose to commit to story and character the rest of the time – in fact, it adds to it, because there’s greater likelihood that they will generate something of power and impact. This is why forms such as Gorilla Theatre, Micetro Impro and especially Theatresports have been so successful. Being apparently competitive, these shows have a built-in mechanism to deal with failure.“ (SALINSKY & WHITE 2008, S. 34-35)
Die Rahmung als Sport verschafft dem Improvisationstheater hier sozusagen einen doppelten Boden: Wenn die Improvisation versagt, wird sie von der Rahmenstruktur aufgefangen. Auf diese Weise werden, wie Salinsky und White ausführen, gleichzeitig zwei Geschichten erzählt, erstens die Geschichte innerhalb der Fiktion und zweitens die Geschichte der improvisierenden Geschichtenerzähler, die um eine möglichst gelungene Szene ringen (SALINSKY & WHITE 2008, S. 34-35). Der Schauspieler kann zwischen diesen beiden Geschichten hin- und herwechseln, je nachdem wo er das größere Potential vermutet. Er kann aus der Fiktion der Szene aussteigen und als Spieler zum Publikum sprechen. Zwischen den Szenen bleibt er zusätzlich immer als Spieler erkennbar. Es entsteht damit eine neue performative Struktur, die ‚Fehler‘ auffangen kann und die Spielenden vom Druck der Perfektion befreit. Auf der Seite der Spieler bedeutet das, dass sie grundsätzlich auf zwei unterschiedlichen Ebenen agieren. Eine solche Differenzierung findet sich sowohl bei Gerein (2004) als auch bei Güssow (2013). Gerein unterscheidet beim Improvisationstheater einen „Zustand des Kommentars“ von einem „Zustand des Spiels“ (GEREIN 2004, S. 75). Der Zustand des Kommentars herrscht während der Moderation vor, also zu Beginn der Aufführung und beim Einholen von Publikumsvorgaben zwischen den Einzelszenen. Ein Spieler kann aber auch mitten in einer Szene in den Zustand des Kommentars wechseln, um kurz mit den Zuschauern zu sprechen oder das Spiel zu kommentieren. Der Zustand des Spiels zeichnet sich dagegen durch ein ‚So-Tun-Als-Ob‘ aus. In ihm findet die ‚eigentliche‘ Improvisation statt; es werden Figuren, Geschichten oder andere fiktionale Elemente erzeugt. Güssow unterscheidet analog dazu beim Improvisationstheater eine Makrostruktur und eine Mikrostruktur (GÜSSOW 2013, S. 185).28 Als Mikrostruktur bezeichnet er die improvisierten Ein-
28 Dies ist nicht zu verwechseln mit den mikroskopischen/makroskopischen Ebenen des emergentistischen Modells. Güssow bezieht sich nicht auf ein solches Modell.
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zelszenen. Sie dauern in der Regel nicht länger als acht Minuten, meist sind sie deutlich kürzer. Die Produktionsregeln für diese Szenen sind mal ganz frei, mal basieren sie auf Games. Die Makrostruktur folgt anderen Regeln und dient dazu, die Einzelimprovisationen in einen Zusammenhang zu bringen – mal als Wettkampf, mal als Nummernrevue, mal als abendfüllende Geschichte. 29 In der vorliegenden Arbeit wird das aus der Kommunikationswissenschaft stammende Konzept der Rahmung (frame) verwendet, das eine bessere theoretische Einbindung besitzt als Güssows oder Gereins Begriffe. Die Rahmung markiert nicht nur die Übergänge am Anfang und am Ende der Aufführung, sondern stellt eine Struktur für die gesamte Aufführung her. Eine Rahmenstruktur lässt sich in allen bekannten Formen des Improvisationstheaters auffinden. Oft ist sie explizit, d.h. sie wird dem Publikum offen mitgeteilt – etwa beim Theatersport. Die Rahmung hat einen entscheidenden Anteil daran, dass die Zuschauer die Improvisation als improvisiert wahrnehmen und entsprechend bewerten. Das zentrale Merkmal der Rahmung beim Improvisationstheater ist, dass sie in der Lage ist, die Schwankungen der Qualität aufzufangen, indem sie beim Publikum die Grundhaltungen der Fehleraffinität und der Ästhetik der Imperfektion aktualisiert und damit Fehler und Schwächen aufgreift und in die Aufführung integriert. Die Dramaturgie der Augenblicke Das Improvisationstheater kann weder in der Vertiefung der Charaktere noch in der Komplexität und Logik der Bühnenhandlung mit dem inszenierenden Theater konkurrieren. Moreno versuchte noch, im direkten Vergleich mit dem inszenierenden Theater zu bestehen, zu einer eigenen Form fand das Improvisationstheater jedoch erst durch eine neue, eigene Dramaturgie, die hier als Dramaturgie der Augenblicke bezeichnet wird. Damit soll ausgedrückt werden, dass die Einzelmomente der Aufführung nicht der Gesamtkomposition untergeordnet werden, sondern dass jeder Einzelmoment einen Wert an sich darstellt. Durch die Dramaturgie der Augenblicke entsteht ein neues Organisationsprinzip der Aufführung: Das Potential eines einzelnen Augenblicks wird so lange ausgeschöpft, bis etwas Neues auftaucht, bis eine Entdeckung gemacht wird oder, wie Improvisateure häufig sagen‚ eine Tür sich öffnet‘. Dieses Neue ergibt sich nicht aus einem vorgefertigten Plan, sondern entsteht als Möglichkeit erst im jeweiligen Augenblick. Die Schwierigkeit bei der Dramaturgie der Augenblicke besteht darin, diese Einzelmomente in einen einigermaßen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, denn die assoziative Produktionslogik läuft Gefahr, wild zu wuchern und zu Beliebigkeit zu führen. Das Improvisationstheater tendiert deshalb häufig zum Phantastischen
29 Im Englischen wird manchmal der Begriff „Packaging“ verwendet (SALINSKY & WHITE 2008): Die Szenen werden so „verpackt“, dass eine Gesamtaufführung entsteht.
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und zur Groteske, ein Merkmal, das bereits die Commedia dell’ arte auszeichnete (KRÖMER 1976, S. 53). Die heutigen Improvisationsschulen suchen nach Möglichkeiten, ein einigermaßen geregeltes Bühnengeschehen hervorzubringen, ohne sich an ‚geregelten Komödien‘ zu orientieren. Es wird nach einem Gleichgewicht zwischen Phantastischem und Normalem gesucht, zwischen Logik und Traumlogik, zwischen Assoziation und Konstruktion. Salinsky (2008) bringt dies im Bild aus „Alice im Wunderland“ auf den Punkt. Kein Zuschauer könne eine Welt voller „verrückter Hutmacher“ dauerhaft ertragen – es müsse wenigstens eine normale Figur wie Alice geben, damit die Bühnenwelt nicht auseinanderfalle: „BEING ALICE – playing a sane person in an insane world – generates story much faster than just having a gang of crazy people running around. [...] A much better strategy is to have one ALICE and one MAD HATTER.“ (SALINSKY & FRANCESWHITE 2008, S. 115). Das Phantastische wird daher, genau wie die reine Spontanität, immer durch das Regelsystem und das Ensemblespiel begrenzt. Durch den Verzicht auf Originalität und durch den kollaborativen Aufbau der Bühnenrealität nach dem Zug-um-ZugPrinzip wird sichergestellt, dass sich die Bühnenfiktion innerhalb des Erwartungsrahmens bewegt. In der Johnstone-Schule wird dabei wesentlich mehr groteskes Material zugelassen als in der Chicagoer Schule, es wird aber durch eine stabilere Rahmung wieder ausbalanciert, meist durch eine starke Moderatorenfigur oder die Rahmung als Wettkampf. Die verschiedenen Improvisationsschulen setzen dabei unterschiedliche Rahmungen ein, die in der Lage sind, die kürzeren improvisatorischen Einlagen zu verbinden. Allgemein verbreitet ist das Nummernprogramm, das dem Cabaret nachempfunden ist und durch einen Spielleiter oder Moderator zusammengehalten wird. Ein anderes populäres Organisationsprinzip ist die Collagentechnik, die vor allem in Langformen verwirklicht wird. Ohne eine solche Rahmenstruktur sind die Spannungsbögen der Improvisationen in der Regel zu kurz, um eine längere Aufführung hervorzubringen. 3.5 Das Problem der kollaborativen Kreativität Im Mittelpunkt des Improvisationstheaters steht ohne Zweifel die Freiheit des Schauspielers, seinen spontanen Impulsen zu folgen und eigene Entscheidungen zu treffen, da weder Autor noch Text noch Regieanweisungen existieren. Bei aller Betonung der individuellen, freien Spontanität fällt aber auf, dass alle Improvisationstheaterschulen dies auch als Problem sehen. Auf der Bühne bedeutet die überschießende Spontanität und Kreativität eines Einzelspielers ein Risiko, da sie das Zusammenspiel belasten und die gemeinsame Bühnenrealität zerstören kann. Alle Improvisationstheaterformen haben daher Techniken entwickelt, um die individuelle Spontanität-Kreativität zu zügeln; entweder bildet ein Spielleiter oder das
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Ensemble das entsprechende Regulativ. Wichtiger ist aber vermutlich die Etablierung einer Grundhaltung, die hier als Ideal der Subjektlosigkeit bezeichnet wird. Bereits in der Commedia dell’ arte wird Selbstinszenierung als ein Feind der Improvisation gesehen: „In the opinion of Gherardi and Riccoboni it was easier to train ten actors for the regular theatre than one for the extemporaneous stage. Moreover, a good improvisator had to practise a kind of self-abnegation and refrain from indulging his own conceit or overplaying his part to detriment of other rôles.“ (DUCHARTRE 1966, S. 30, Hervorhebung G.L.)
Dasselbe gilt für die modernen Ansätze des Improvisationstheaters: Die Selbstinszenierung des Einzelschauspielers bedeutet eine Gefahr für das Zusammenspiel und ist deshalb unerwünscht. Es wird im Folgenden die These aufgestellt, dass das Ideal der Subjektlosigkeit zum Kernbestand des Improvisationstheaters gezählt werden muss. Das Ideal der Subjektlosigkeit Für Spolin bestand ein zentrales Ziel darin, die Schauspieler von exhibitionistischen Tendenzen zu befreien: „Jeder, der aus seiner eigenen Menschlichkeit heraus handelt, ohne Bestätigung, Exhibitionismus oder Applaus zu benötigen, wird Momente der Erhabenheit erfahren. Die Zuschauer merken das und reagieren entsprechend.“ (SPOLIN 2002, S. 59)
Durch die Hingabe an die Aufgabe, so Spolin, verschwinde dieser Exhibitionismus von selber. Der Schauspieler soll dabei eine Art Selbstvergessenheit entwickeln, er soll ganz in der Problemlösung aufgehen und sich dadurch vom Zwang der Selbstdarstellung befreien (SPOLIN 2002). Individuelle Kreativität sah Spolin eher als eine störende Tendenz, die den Prozess der Identifikation mit dem Problem gefährdet. Durch den Point of Concentration werde sie in ihre Grenzen verwiesen und gebändigt: „Er [der Point of Concentration, G.L.] liefert Kontrolle, die künstlerische Disziplin bei der Improvisation, wo sich sonst eine ungebändigte Kreativität eher zu einer destruktiven als zu einer stabilisierenden Kraft entwickeln würde.“ (SPOLIN 2002, S. 37)
Wann immer ein Spieler ohne Point of Concentration in das Spiel eingreift, bedeutet dies einen destruktiven Einfluss, da die Ganzheitlichkeit des Geschehens zerstört wird. Stattdessen soll sich der Spieler als Subjekt heraushalten:
148 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „Ein Objekt kann nur durch seine eigene Natur in Bewegung gesetzt werden, es wird nicht auf Manipulationen reagieren. Die Transformation oder Veränderung eines Objektes setzt eine totale Hingabe ohne Aufdringlichkeit voraus. Lass es geschehen! Halte dich heraus!“ (SPOLIN 2002, S. 61)
Ein Spieler, so Spolin, soll weder die eigene Arbeit noch die seiner Mitspieler manipulieren. Eine wichtige Voraussetzung sei daher, dass keine Person die Gruppe dominiere oder kontrolliere (SPOLIN 2002, S. 23). Die Ausschaltung individueller Impulse wird auf die Spitze getrieben in Spolins späterer Arbeitsregel Follow the Follower. Diese Regel unterstützt in idealer Weise das Entstehen von kollektiven, emergenten Phänomenen. Analog dazu sieht Johnstone eines der größten Probleme der Improvisation im Versuch der Spieler, originell sein zu wollen. Er widmet dem Thema Originalität einen eigenen Abschnitt in seinem Buch „Improvisation und Theater“ (JOHNSTONE 2004, S. 148). In seinem zweiten Buch taucht Originalität unter den Techniken auf, die „Geschichten kaputtmachen“ (JOHNSTONE 1998, S. 167). Johnstone führt zwei Argumente gegen die Originalität ins Feld: 1. Die Spieler blockieren die eigene Phantasie in dem Versuch, originell wirken zu wollen (JOHNSTONE 2004, S.148). 2. Das Publikum liebt das Naheliegende, das, was innerhalb des Erwartungsrahmens liegt. Ein Schauspieler, der originell sein will, sucht dagegen nach Antworten, die außerhalb des Erwartungsrahmens der Zuschauer liegen – und wirkt daher auf die Zuschauer überfordernd und enttäuschend. Johnstone führt ein Beispiel an: „Wenn man Leute auffordert, etwas zu improvisieren, suchen sie krampfhaft nach irgendeiner ‚originellen‘ Idee, weil sie für geistreich gehalten werden wollen. Was sie dann sagen oder spielen, ist immer völlig unangebracht. Lautet eine Frage: ‚Was gibt es zum Abendessen?‘, wird ein schlechter Improvisierer verzweifelt versuchen, sich etwas Originelles auszudenken. Was immer er antwortet, er ist auf jeden Fall zu langsam. Schließlich kramt er so etwas wie ‚gebratene Meerjungfrau‘ hervor. Hätte er einfach ‚Fisch‘ gesagt, wären die Zuschauer begeistert gewesen.“ (JOHNSTONE 2004, S. 149).
Paradoxerweise, so Johnstone, führe die Suche nach Originalität genau zum Gegenteil ihrer intendierten Wirkung, nämlich dazu, dass die Spieler verkrampft und langweilig wirkten: „Leute, die versuchen, originell zu sein, kommen immer auf die gleichen langweiligen, alten Antworten.“ (JOHNSTONE 2004, S. 150). In seiner Ablehnung von Originalität ist Johnstone sehr konsequent und viele seiner Spiele sind so konstruiert, dass sie solche selbstdarstellerischen Ausdrücke individueller
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Kreativität unterdrücken. Der Spieler soll tendenziell immer das Naheliegende, Offensichtliche tun und nicht versuchen, durch komplizierte Spielzüge besonders kreativ oder intelligent zu wirken: „Ein Improvisations-Spieler muss sich im Klaren darüber sein, dass er viel origineller ist, wenn er das ‚Nächstliegende‘ aufgreift.“ (JOHNSTONE 2004, S. 149). Originalität ist für Johnstone der Versuch des Spielers, das Bild, das die Zuschauer sich von ihm machen, zu kontrollieren und zu manipulieren. Das Aufgeben dieser Kontrolle ist die Voraussetzung dafür, dass die Improvisation frei und interessant wird. Dazu ist es vorteilhaft, wenn sich der Spieler nicht für die Inhalte seines Spiels verantwortlich fühlt, sondern so agiert, als werde er von einer fremden Macht gesteuert: „Großartige Improvisierer schwimmen mit dem Strom und akzeptieren, dass sie von der Hand Gottes gelenkt werden oder der des Großen Elch oder von einem unbekannten Modul des Gehirns.“ (Johnstone 1998, S. 477)
Das Motiv der Fremdsteuerung und Subjektlosigkeit taucht bei Johnstone immer wieder auf. Er beruft sich dabei unter anderem auf Wachtangow: „Wachtangow hat seine Spieler gezwungen, SPONTAN zu agieren. Dadurch entsteht ein leichter Trancezustand, in dem die Schauspieler das Gefühl haben, sie würden von einer anderen Kraft gelenkt.“ ( JOHNSTONE 2004, S. 253). Die Behauptung der Subjektlosigkeit ist bei Johnstone halb Trick, halb Ernst.30 Es handelt sich vielmehr um eine pädagogische Technik zur Förderung der Spontanität. Der Spieler kann auf die Kontrolle durch seine bewusste Persönlichkeit verzichten und wird dadurch offen für die Impulse, die aus seinem Unbewussten kommen. Auch das Konzept der Group Mind bei Close beinhaltet ein Ideal der Subjektlosigkeit; hier ist es sogar besonders deutlich ausformuliert. Close geht davon aus, dass ein guter Improvisationsspieler seine eigene Persönlichkeit hinter das kollektive Spiel zurückstellen können muss. Statt des Einzelspielers stehe das Ensemble im Mittelpunkt der improvisierenden Aufführung: „The only star in improv is the ensemble itself [...].“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S.37). Im Idealfall sehe sich ein Spieler lediglich als Werkzeug der Improvisation (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 117).
30 Im Interview mit Güssow erklärt Johnstone, dass er nicht ernsthaft davon ausgehe, dass Ideen durch Kräfte außerhalb der Spieler entstünden (GÜSSOW 2013, S. S. 189). In vielen Passagen zur Maskenarbeit wird jedoch gleichzeitig deutlich, dass Johnstone eine Art Besessenheit durchaus nicht ausschließt.
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Man kann zusammenfassend feststellen, dass das Ideal der Subjektlosigkeit von allen wichtigen Theoretikern geteilt wird.31 Es steht dabei im Dienst der Prozesse kollaborativer Kreativität, die nicht durch dominante Einzelleistungen gestört werden sollen. Die Betonung der Improvisation als Gruppenleistung zieht sich deshalb wie ein roter Faden durch die Improvisationsliteratur (SPOLIN 2002, JOHNSTONE 2004, HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994). Die Spieler und Spielerinnen sind beim Improvisationstheater in höchstem Maße aufeinander angewiesen, müssen sich gegenseitig Vertrauen entgegenbringen und sich entlasten, wenn einem der Spielenden die Ideen ausgehen. Dabei stehen individuelle Kreativität und kollektive Kreativität in einem komplizierten Wechselverhältnis und müssen sorgfältig synchronisiert werden. In der vorliegenden Arbeit wird die These vertreten, dass das Ideal der Subjektlosigkeit dazu dient, ideale Bedingungen für emergente Phänomene auf der Bühne herzustellen: Die Herstellung einer spezifischen Balance von individueller und kollektiver Kreativität macht aus einer Gruppe von Improvisationstheaterspielern ein Multi-Agent-System, ein System, das keine zentrale Steuerung besitzt und in dem jedes Element gewisse Freiheitsgrade besitzt. Solche Systeme sind sehr gut geeignet, emergente Phänomene hervorzubringen, weshalb sie in Kapitel IV 2 wieder aufgegriffen werden. Footing-Games: Verwirrspiele um die Urheberschaft Eine Umsetzung und Zuspitzung findet das Ideal der Subjektlosigkeit in einer bestimmten Sorte von Games, die die Urheberschaft der Szene grundsätzlich verwischen, sodass weder die Spieler noch die Zuschauer sie einem Urheber zuordnen können, den sogenannten Footing-Games32. Diese Bezeichnung wurde von Sawyer
31 Der Titel der berühmtesten improvisierten Fernsehsendung „Whose line is it anyway?“ kann ebenfalls auf das Thema Subjektlosigkeit bezogen werden: Es gibt keinen „Besitzer“ der theatralen Aktion, da es kein Subjekt gibt. 32 Der Ursprung der Footing-Games ist unklar. Ebert beschreibt eine Darstellungsform, die an die Footing-Games erinnert. Sie entstand in der Renaissance durch eine missverstandene Wiederbelebung der antiken Aufführungspraxis: „[.] als nach einem reichlichen Jahrtausend antike Texte wiedergefunden wurden, mussten sie völlig neu erschlossen werden. Liebhaber antiker Dichtkunst begannen zu experimentieren. Ohne genaues Wissen vom antiken Theater glaubten sie zunächst, das antike Drama sei wie das antike Epos zum Vorlesen bestimmt. Sie nahmen an, ein gewisser Calliopius, ein Sprecher, habe die Stücke in Rede und Gegenrede vorgetragen, und gleichzeitig hätten in einer Art Orchestra oder auf erhöhtem Podest stumme Personen die Empfindungen der einzelnen Gestalten durch pantomimisches Gebärdenspiel ausgedrückt. [...] Der Text wurde von einem Sprecher vorgelesen, Pantomimen improvisierten dazu Gebärden.“ (EBERT 1999, S. 27)
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vorgeschlagen (SAWYER 2003, S. 29), um eine Nähe zu Erwing Goffmans Konzept der Footings herzustellen: „Footing games are named after Goffman’s (1981) famous essay, ‚footing‘, in which the author deconstructed the concepts of speaker and hearer. Many popular improv games break apart the different speaker roles. The fact that this performance genre has split out the speaker componenets suggests that it is a part of the implicit theory of language use.“ (SAWYER 2003, S. 29)
In seinem berühmten Essay „Footing“ (GOFFMAN 1981) kritisierte Goffman die damals vorherrschende Unterteilung der Kommunikationssituation in Sprecher und Hörer als zu grob und schlug eine differenziertere Betrachtung vor. Er unterschied innerhalb der Produzentenrolle einer Kommunikation zwischen dem Animateur, dem Urheber und dem Prinzipal. Der Animateur ist dabei Besitzer und Beweger des Körpers im Sinne einer sprechenden Maschine oder Puppe. Seine Aufgabe ist nicht sozial, sondern technisch: Er bewegt den Körper und bringt die Stimme hervor. Der Urheber ist derjenige, der die Worte und Zeichen gewählt oder geschaffen hat. Der Prinzipal wiederum ist derjenige, dessen Position durch die Worte und Zeichen definiert wird, für den sie Verbindlichkeit besitzen. Beim alltäglichen Gebrauch des Wortes Sprecher wird in der Regel angenommen, dass alle drei Aspekte zusammenfallen, dass das Individuum, das spricht [=Animateur], seine eigenen Worte formuliert [=Urheber], und seine eigene Position [=Prinzipal] vertritt. Zuhörer und Zuschauer tendieren deshalb dazu, Animateur/ Urheber/ Prinzipal als identisch anzunehmen, also vorauszusetzen, dass das Individuum, das spricht, seine eigenen Worte formuliert und seine eigene Position vertritt. Sawyer hat eine ganze Gruppe von Games als „Footing-Games“ bezeichnet, da sie die Rolle des Sprechers auf mehrere Produzentenrollen verteilen und damit ein Verwirrspiel mit den jeweiligen Footings hervorbringen. Diese Spiele sind schon deswegen theoretisch interessant, weil sie ausschließlich beim Improvisationstheater existieren und daher ein Licht auf die spezifischen Produzentenrollen in dieser Theaterform werfen. Es gibt kaum eine Improvisationstheateraufführung, die ohne Footing-Games auskommt. Beispiele sind: • •
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Gebärdendolmetscher: Zwei Spieler führen ein Fachgespräch, ein weiterer Spieler ‚übersetzt‘ den Dialog in eine spontan erfundene Gebärdensprache. Synchrospiele: Ein Spieler ‚synchronisiert‘ einen anderen Spieler. Letzterer bewegt nur die Lippen und übernimmt die körperlichen Anteile der Kommunikation. Synchrospiele existieren in großer Varietät, mal befinden sich die Synchronsprecher auf der Bühne, mal neben der Bühne. Armexperte: Ein Spieler tritt als ‚Experte‘ vor das Publikum und hält einen Vortrag. Seine Gestik wird dabei von einem anderen Spieler übernommen, der hinter ihm steht und seine Arme unter den Achseln durchschiebt, sodass seine
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Hände als die Hände des Sprechers wahrgenommen werden. Auch hiervon existieren einige Variationen. Puppets: Zwei Spieler werden von Freiwilligen aus dem Publikum wie Puppen bewegt. Die Spieler übernehmen die verbale Kommunikation.
Gemeinsam ist den Footing-Games, dass verbale und körperliche Kommunikation getrennt und auf mehrere Spieler verteilt werden. Auf diese Weise wird eine Inkongruenz zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation erzeugt, die ausgesprochen komisch wirkt. Die Footing-Games machen sowohl den Spielern als auch dem Publikum klar, dass der Einzelspieler nicht für die Produktion verantwortlich zu machen ist. Die Zuschauer können beispielsweise beim Game Synchro sehen, dass keiner der Schauspieler das Bühnengeschehen in der Hand hat. Animateur und Urheber sind verschoben und es gibt keinen Prinzipal. Auf der Seite der Rezeption machen die Footing-Games die gewohnheitsmäßige Wahrnehmung unmöglich. Der Zuschauer versucht die aufgesplitteten Produzentenrollen in seiner Wahrnehmung wieder zusammenzusetzen, d.h. er sieht und hört eine einzige Figur – während er gleichzeitig weiß, dass diese von mehreren Spielern hergestellt wird. Ohne eine klare Wahrnehmung eines Produzenten gerät jedoch der gesamte Prozess der Bedeutungszuschreibung ins Wanken: Die Stimme kommt nicht aus der wahrgenommenen Figur, die Worte werden nicht von ihr geformt und sie trägt sichtlich keine Verantwortung für ihre Kommunikation. All dies widerspricht der a priori Zuschauererwartung einer Identität von Animateur/Urheber/Prinzipal. Durch das ‚Stolpern‘ in der Produktion wird er zudem fortlaufend auf diese Tatsache hingewiesen. Es entsteht eine Dissonanz zwischen Wahrnehmung und dem Wissen über die wirkliche Natur der Produktion, eine Gleichzeitigkeit von Illusion und Desillusion. Bei den Footing-Games wird das Ideal der Subjektlosigkeit besonders deutlich. Das Zusammenspiel der Akteure und des Publikums wird im Idealfall so intensiv, dass sich die Einzelbeiträge nicht mehr Individuen zuordnen lassen, so dass kein Subjekt erkennbar ist, sondern nur der sich entfaltende Prozess der Improvisation. Damit wird auch ein Konzept der Verantwortung unterlaufen, ein Zustand der karnevalesken Verantwortungslosigkeit hergestellt. Moralische Indifferenz Aus dem Ideal der Subjektlosigkeit und der damit verbundenen fehlenden Verantwortung für die improvisierende Aufführung ergibt sich deren moralische Fragwürdigkeit, ihre Unkontrollierbarkeit, die sie, wie Frost und Yarrow schreiben, zum „Alptraum des Zensors“ (FROST & YARROW 2007, S. 191) werden ließ. Bereits im Kontext der Commedia dell’ arte tauchte deren „Moralische Indifferenz“ (KRÖMER 1976, S. 26) als wichtiges Argument ihrer Gegner auf. Der Diskurs um den moralischen Wert der Improvisation lässt sich aber bis heute beobachten. Frost und Yarrow sehen daher Zensur als das begriffliche Gegenteil von Improvisation:
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„The antonym of ‚improvisation’ is ‚censorship’, because while improvisation represents the permission (and self-permission) for artistic expression, and the acceptance of one’s own as well as other’s creativity, censorship self-evidently stands for denial and refusal.“ (FROST & YARROW 2007, S. 146)
Es wurde dieser Theaterform oft etwas Subversives unterstellt, schon allein aufgrund ihrer Unkontrollierbarkeit. Boal nutzte diese spezifische Fähigkeit des Improvisationstheaters zum Unterlaufen von Zensur und Repression und entwickelte daraus seine eigenen Theaterformen, das Theater der Unterdrückten und das Forumtheater. Die Improvisationstheaterbewegung in den USA verstand sich zunächst ebenfalls als politische, kritische Gegenkultur, tendiert heute aber eindeutig zur Beschränkung auf Unterhaltung.33 Neben der Auseinandersetzung mit externer Zensur spielt das Unterlaufen des inneren Zensors eine zunehmende Rolle bei der Produktion von Improvisation. Spolin begriff das Improvisationstraining als einen Abbau von inneren, bewertenden Instanzen, internalisierten Eltern, Lehrern, Priestern, Arbeitgebern, Nachbarn usw. Diese internalisierten bewertenden Instanzen, so Spolin, schadeten nicht nur der Improvisation, sondern verzerrten und verunstalteten das eigene Selbst der Spieler. Spolin versuchte, solches ‚Roboterverhalten‘ sowohl im Leben als auch auf der Bühne zu verhindern: „Approval/disapproval received from others has no doubt become your own and without realization on your part, is dictating and critiquing the way you do things, dreating robotlike behavior in you with almost total loss of insight.“ (SPOLIN 2001, 109)
Auch für Johnstone ist der innere Zensor ein Problem sowohl der Improvisation als auch der Persönlichkeitsentwicklung.34 Alle Improvisationsschulen haben daher Techniken entwickelt, die dem Schauspieler helfen, innere Verbote zu umgehen und den inneren Zensor zu überlisten. Ziel ist ein Akzeptieren aller aufsteigenden Impulse ohne Rücksicht auf kompromittierende Bedeutungen. Johnstone be-
33 Mit „improv everywhere“ existiert eine aktuelle Variante, die sich über das Internet organisiert: Hier werden auf öffentlichen Plätzen kurzdauernde „flash mobs“ oder „smart mobs“ verabredet. Die Akteure kennen sich oftmals nicht und gehen nach der Aktion ihrer Wege. Sie verabreden bestimmte Signale, führen die Aktion durch und verbreiten sie anschließend als Filmaufnahmen im Internet. 34 Häufig wird Johnstones Ansatz als eine Art Lebensschule missverstanden – woran Johnstone freilich nicht ganz unschuldig ist, da er pädagogische und künstlerische Absichten vermischt.
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schreibt, wie er nach und nach zu einer Haltung fand, in der die gespielten Inhalte bedeutungslos wurden: „Ich kam zu dem Schluss, dass der Inhalt ignoriert werden sollte. Ich hatte mir nicht gewünscht, zu diesem Schluss zu gelangen, denn er widersprach meiner politischen Einstellung. [...] Wenn meine Schüler beunruhigende Inhalte hervorbringen, verbinde ich sie mit Ideen von mir oder von anderen Leuten, damit sie sich nicht allein oder ‚absonderlich‘ fühlen. Ich bejahe alles und sehe es als ‚normal‘ an, was auch immer aus ihrem Unterbewusstsein aufsteigt. Würde ich den Inhalt der gespielten Szenen als entlarvende Geheimnisse der Spieler auffassen, dann würden sie mich als Bedrohung sehen. Sie müssten mich entweder ‚lieben‘ oder mich ‚hassen‘. Ich hätte also mit negativen und positiven Übertragungen zu kämpfen – und das würde die Arbeit behindern.“ (JOHNSTONE 2004, S. 188-189)
Letztendlich entspricht dies einer grundlegenden Haltung beim Improvisationstheater: Es kümmert sich wenig um die dargestellten Inhalte und die damit vermittelten Werte, sondern fokussiert stattdessen auf den Prozess der Improvisation, der möglichst ungestört von äußerer und innerer Zensur ablaufen soll. Das Kriterium für die Qualität der Aufführung ist daher nicht der Inhalt der Aufführung, sondern die Qualität des improvisatorischen Prozesses, des Kontaktes zwischen den Akteuren und des Kontaktes zwischen Bühne und Publikum usw. Kommunikationstheoretisch könnte man sagen, dass der Schwerpunkt der Kommunikation von der inhaltlichen Ebene auf die Beziehungsebene verlagert wird. Wenn beim Improvisationstheater überhaupt Werte vermittelt werden, dann liegen sie nicht in den improvisierten Inhalten sondern in der besonderen Qualität des Zusammenspiels der Schauspieler und in der Partizipation der Zuschauer. 3.6 Fazit: Metathemen In diesem Abschnitt wurden größere Themenkomplexe herausgearbeitet, die im Diskurssystem Improvisationstheater immer wieder auftauchen. Hierzu gehören die spezifischen Annahmen über das eigentliche schöpferische Agens der Aufführung: Unbewusstes, Emergenz und Zufall. Diese Annahmen sind über die Improvisationsschulen nicht identisch: Während die Johnstone-Schule sich weitgehend auf das individuelle Unbewusste konzentriert, betont die Chicagoer Schule die Emergenz innerhalb von kollaborativen Prozessen. Der Zufall als drittes schöpferisches Prinzip ist theoretisch nicht aufgearbeitet, zeigt sich jedoch in der Praxis des Improvisationstheaters. Es wurde mit der via negativa auf eine grundlegende Paradoxie beim Theoretisieren, Sprechen und Schreiben über Improvisation hingewiesen, nämlich dass niemals die gelingende Improvisation beschrieben werden kann, sondern immer nur
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Hindernisse und Störungen auf dem Weg zur Improvisation. Der Improvisationsprozess selber wird dagegen als selbstorganisierender Prozess verstanden, der aus pragmatischer Sicht nicht erklärt werden muss, da er sich selber herstellt, sobald die entsprechenden Bedingungen gegeben sind. Theoretisiert wird daher fast immer nur über die Bedingungen für die Improvisation, nicht über diese selber. Die via negativa dient unter anderem der Vermeidung eines Sei-Spontan-Paradoxes, in welchem sich die Spieler sonst unvermeidlich wiederfinden würden. Anschließend wurden Konzepte der Spontanität untersucht. Im Zentrum der Theoriebildung stößt man dabei auf eine verblüffende Leerstelle: Der Begriff der Spontanität findet überall Verwendung, ist jedoch kaum inhaltlich gefüllt. Das Improvisationstheater reflektiert an dieser Stelle eine seiner wesentlichen Grundlagen nicht. Die entsprechenden Modelle wurden rezipiert. Da sie wenig theoretische Stringenz aufweisen, wurden sie zunächst um ein handlungstheoretisches Modell ergänzt, um darauf ein emergentistisches Modell der Spontanität aufzubauen. Es wird vorgeschlagen, die Spontanitätslage wurde als Mikro-Makro-Link im Sinne emergentistischer Theorien zu verstehen. Als weitere Metathemen wurden produktionstechnische Probleme wie das Problem der schwankenden Qualität oder das Problem der kollaborativen Kreativität untersucht. Als Lösung haben sich Grundhaltungen oder Ideale gebildet, die von den Improvisateuren weitgehend geteilt werden: Das Ideal der Fehleraffinität, die Ästhetik des Imperfekten und das Ideal der Subjektlosigkeit. Diese Ideale stellen einerseits eine gemeinsame Basis zwischen den Spielern her, werden andererseits als Grundhaltungen den Zuschauern während der Aufführung übermittelt, sodass sie von Akteuren und Zuschauern gemeinsam im Vollzug der Aufführung getragen werden und den Prozess mitgestalten. Das Problem der schwankenden Qualität wird weiterhin durch die Rahmung des Scheiterns (beispielsweise in der Sportmetapher) und die Dramaturgie der Augenblicke zumindest entschärft. Die Metathemen des Improvisationstheaters wurden in diesem Kapitel gewonnen, indem das Material zur Produktionsseite des Improvisationstheaters schrittweise abstrahiert und reduziert wurde. Damit liegt erstmals eine vollständige, schulenübergreifende Darstellung und Analyse der Binnenperspektive des Improvisationstheaters vor. Sie soll im nächsten Kapitel um die Außenperspektive durch den performativen Ansatz der Theaterwissenschaft ergänzt werden.
Kapitel III: Performativität des Improvisationstheaters
Das Konzept der Performativität wurde in den 90-er Jahren von Fischer-Lichte in die Theaterwissenschaft eingeführt. Es betont den Vollzugscharakter der Aufführung und bedeutet damit eine Abkehr vom Werkbegriff, der in der Dramenanalyse und der Inszenierungsanalyse bis dahin dominierend war. Unter Rekurs auf die Sprechakttheorie von John Austin treten damit zwei Eigenschaften kultureller Handlungen ins Zentrum des Diskurses: Sie sind selbstreferenziell und wirklichkeitskonstituierend (Fischer-Lichte in FISCHER-LICHTE et al. 2005, S. 234). Die performative Perspektive bietet sich als basale Perspektive der Kulturwissenschaften an, sie ist nicht auf die Theatersituation beschränkt, sondern kann grundsätzlich auf alle Handlungen mit Aufführungscharakter bezogen werden. Im Bereich Theater kann sie auch angewendet werden auf Theaterformen, die jenseits des traditionellen Theaterbegriffs operieren und die mit traditionellen Methoden der Werkanalyse nicht adäquat untersucht werden können, speziell die Experimente der historischen Avantgarde und die Performancekunst: „Eine Ästhetik des Performativen richtet sich [.] auf solche Kunstprozesse, denen die Begriffe ‚Werk‘, ‚Produktion‘ und ‚Rezeption‘ noch nie adäquat waren, die folglich im Rahmen von Werk- Produktions- und Rezeptionsästhetiken nur höchst unzulänglich und meist verzerrt, wenn überhaupt, behandelt wurden, wie dies bei Aufführungen der Fall ist.“ (FISCHERLICHTE 2004, S. 315)
Die performative Forschungsperspektive ist demnach auch geeignet, Theaterformen zu untersuchen, die prozessorientiert arbeiten und daher bisher von der Theaterwissenschaft vernachlässigt wurden – wie eben das Improvisationstheater. Fischer-Lichte geht von ihrem in den 80-er Jahren entwickelten System der Semiotik des Theaters aus (FISCHER-LICHTE 2007). Im Modell der Performativität bilden die semiotischen Theorien weiterhin einen wichtigen Pfeiler und wurden um den Aspekt der Emergenz von Bedeutung ergänzt (FISCHER-LICHTE 2010, S.
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146). Weiterhin wurde unter Rekurs auf die Anfänge der deutschen Theaterwissenschaft um Max Herrmann die aktive Rolle der Zuschauer deutlicher herausgearbeitet, woraus Fischer-Lichte drei Aspekte ableitet, die sich auf die spezifischen medialen Bedingungen des Theaters beziehen: die leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren, die Materialität und die Ereignishaftigkeit der Aufführung. Auf diese Weise gelangt sie zu einer Theorie der Aufführung, die als Grundlage für eine entsprechende Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters dienen kann. Zu diesem Zweck werden im Folgenden die vier performativen Aspekte auf das Improvisationstheater angewendet. Anschließend wird versucht, die gewonnenen Ergebnisse in eine Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters zu integrieren, indem eine zentrale These herausgearbeitet wird, um welche Unterthesen und Beobachtungen sinnvoll angeordnet werden können. Ein erster Beitrag zur Anwendung des performativen Ansatzes auf das Improvisationstheater liegt in Form der Magisterarbeit von Eugen Gerein (2004) vor. Gerein untersucht darin die Aspekte Materialität, Semiotizität, Medialität und Ästhetizität des Improvisationstheaters1 und formuliert einen „Versuch einer Theorie des Improvisationstheaters“ (GEREIN 2004, S.74), die er im zweiten Teil auf eine Szene der Improvisationstheatergruppe Isar 148 anwendet. Diesen zweiten Teil könnte man als eine kurze Aufführungsanalyse bezeichnen – allerdings bezieht sie sich nicht auf eine ganze Aufführung, sondern nur auf eine einzelne Szene. Gerein verwendet Videoaufzeichnungen und eine Transkription der betreffenden Szene. Seine Arbeit demonstriert, dass sowohl das Modell der Performativität als auch die Methode der Aufführungsanalyse im Prinzip erfolgreich auf das Improvisationstheater angewendet werden können. Wie bereits in Kapitel I dargestellt liegt das Problem in der Lückenhaftigkeit der Theorie des Improvisationstheaters, was sich auch bei Gerein zeigt: Seine Arbeit fokussiert im theoretischen Teil nicht auf das Improvisationstheater speziell, sondern auf alle Theaterformen, die sich von ihrer Textbasierung im Drama lösen, also auf postdramatisches Theater allgemein. Für eine Theorie der Aufführung sind seine Ausführungen zu allgemein und zu knapp gehalten, jedoch können sie als Ausgangspunkt für eine differenziertere Analyse dienen. Neben Gerein werden hier weitere theoretische Arbeiten zum Improvisationstheater herangezogen: Zu den Bereichen Materialität und Ereignishaftigkeit finden sich wichtige Aspekte bei Charles (2003), zur Semiotizität bei Sawyer (2003) sowie bei Frost und Yarrow (2007).
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Es existieren leichte begriffliche Unterscheidungen bezüglich der Grundaspekte der Performativität, die darauf zurückzuführen sind, dass Fischer-Lichte ihr Modell seit 2004 weiterentwickelt hat. Für die vorliegende Arbeit werden die Begrifflichkeiten verwendet wie sie Fischer-Lichte in „Ästhetik des Performativen“ (2004) und in „Theaterwissenschaft“ (2010) darstellt.
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Am Schluss des Kapitels werden Rückwirkungen auf die Konzepte des performativen Ansatzes diskutiert, insbesondere auf das Konzept der autopoetischen feedback-Schleife (FISCHER-LICHTE 2004). Von diesem darf ein hoher Erklärungswert für das Improvisationstheater erwartet werden, da es ausschließlich auf den Prozess der Aufführung fokussiert. Das Konzept ist das Resultat verschiedener Transfers, insbesondere aus der Sprechakttheorie und aus den Systemtheorien. Die Tatsache, dass ein solcher Transfer aus den Systemtheorien in die theaterwissenschaftliche Betrachtung stattfindet, lässt sich kaum anders deuten als dass damit eine systemtheoretische Sichtweise auf das Akteur-Zuschauer-System angebahnt ist. Diese Ausführungen leiten daher zu einem gewissen Teil schon zum vierten Kapitel über, in dem eine systemtheoretische Perspektive eingenommen wird.
1 L EIBLICHE K O -P RÄSENZ Im Folgenden wird untersucht, wie die gleichzeitige Präsenz von Akteuren und Zuschauern beim Improvisationstheater organisiert wird. Zunächst soll das performative Konzept der Präsenz kurz umrissen werden.2 Dann wird Präsenz zunächst auf der Produktionsseite – also bei den Improvisateuren – ausgeführt, anschließend auf Rezeptionsseite – also bei den Zuschauern. In einem dritten Schritt werden die gegenseitigen Wechselwirkungen thematisiert. Fischer-Lichte unterscheidet das „schwache“ und das „starke“ Konzept von Präsenz (FISCHER-LICHTE 2004, S. 160 ff). Das schwache Konzept von Präsenz meint bloße Anwesenheit, das starke wird dagegen charakterisiert durch die Beherrschung des Raumes und der Aufmerksamkeit: „[Der Zuschauer] spürt die Kraft, die vom Darsteller ausgeht und ihn zwingt, seine Aufmerksamkeit ganz und gar auf ihn zu fokussieren, ohne sich von dieser Kraft überwältigt zu fühlen; er empfindet sie eher als eine Kraftquelle. Die Zuschauer spüren, daß der Darsteller auf eine ungewöhnlich intensive Weise gegenwärtig ist, die ihnen das Vermögen verleiht, sich selbst auf eine besonders intensive Weise gegenwärtig zu fühlen. Präsenz ereignet sich für sie als eine intensive Erfahrung von Gegenwart. Den Bezug auf die Beherrschung des Raumes durch den Akteur und die Fokussierung der Aufmerksamkeit bezeichne ich als das starke Konzept von Präsenz.“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 166)
Unter performativer Perspektive ist Präsenz nicht einfach eine Eigenschaft der Person oder der Situation, sondern wird durch bestimmte Vollzüge erst hergestellt
2
Für eine ausführliche Diskussion verschiedener Präsenzbegriffe siehe den Beitrag von Doris Kolesch im Metzler Theaterlexikon (FISCHER-LICHTE et al. 2005, S. 252).
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(Kolesch in FISCHER-LICHTE et al. 2005, S. 250 ff). Dies zeigt sich in einer spezifischen Fokussierung von Raum und Zeit: Der Raum erhält ein Zentrum der Aufmerksamkeit, die Zeit erfährt eine Steigerung des Gegenwartsbezugs. Das Bewusstsein des Zuschauers wird zentriert auf den gegenwärtigen Augenblick, das Hier und Jetzt (Kolesch in FISCHER-LICHTE et al. 2005, S. 252). Güssow setzt den Begriff der Präsenz in Beziehung zum Konzept der Atmosphäre (GÜSSOW 2013, S. 101): Wie das Konzept der Atmosphäre besitze das Konzept der Präsenz einen „ontologischen Zwischenstatus“; es sei weder dem Wahrnehmenden noch dem wahrgenommenen Objekt eigen, sondern entfalte sich dazwischen (GÜSSOW 2013, S. 101 ff). Weitere Präsenzbegriffe gehen auf Hans-Ulrich Gumbrecht und Martin Seel zurück. Die Konzepte stimmen dahingehend überein, dass es als unzureichend angesehen wird, Präsenz als eine Eigenschaft von Objekten zu konzipieren, vielmehr ist sie als ein Prozess zwischen Objekt und Wahrnehmendem zu verstehen. Die Rede vom Schauspieler, der eine große Präsenz besitzt, wäre also irreführend, präziser wäre eine prozessuale Auffassung, die den Rezipierenden miteinschließt, etwa: „Dieser Schauspieler ist in der Lage, Prozesse auszulösen, die beim Zuschauer eine Wahrnehmung von Gegenwärtigkeit erzeugen.“ Es lässt sich also sagen, dass die performativen Konzepte Präsenz im Interaktionsprozess zwischen Akteur und Zuschauer verorten. Als Beispiel für einen solchen Prozess der Erzeugung von Präsenz sei an das traditionelle Vorspiel beim Kasperletheater erinnert: • • • • • •
Kasper „Seid ihr alle da?“ Kinder vereinzelt „Ja!“ Kasper „Seid ihr wirklich alle da?“ Kinder zusammen „Ja!“ Kasper „Ich kann euch nicht hören!“ Kinder lauter: „JA!“
Der Kasper wird dieses Vorspiel in der Regel fortsetzen, bis alle Kinder aktiv und laut ihre Präsenz bezeugt – und damit hergestellt – haben. Das Beispiel zeigt, dass die Herstellung von Präsenz bei bestimmten Theaterformen ein wichtiger Prozess zu Beginn der Vorstellung ist. Während Präsenz bei festen Spielstätten durch die Architektur und Einrichtung bereits vorbereitet wird, bedarf es bei mobilen Bühnen und ungeschützteren Spielformen darstellerischer Mittel und Rituale, um die gemeinsame Präsenz zu herzustellen, etwa beim Straßentheater und beim Jahrmarktstheater, das gewisse Bezüge zum Improvisationstheater aufweist. Beim Improvisationstheater spricht man in der Regel vom Zuschauer-Warm-up. Analog dazu existiert auch ein Schauspieler-Warm-up, das dazu führt, dass die Schauspieler die Bühne bereits mit einer gesteigerten Präsenz betreten. Solche Prozesse der Her-
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stellung und/oder Steigerung der Präsenz treten unter performativer Perspektive in den Fokus der Untersuchung. 1.1 Die Präsenz der Schauspieler Im Sinne eines schwachen Konzepts der Präsenz muss zunächst gefragt werden, wer eigentlich überhaupt Improvisationstheater betreibt. Dabei kommt man nicht um die Schlussfolgerung herum, dass es sich im Wesentlichen um eine Laienspielbewegung handelt: Im Großen und Ganzen agieren im Improvisationstheater fast ausschließlich Amateure und Semiprofessionelle. Die wenigen professionellen Gruppen haben durchweg Ausnahmestatus – und auch dort nehmen die Schauspieler in aller Regel Jobs in anderen, lukrativeren Feldern an, etwa bei Film und Fernsehen. Weder die Chicagoer Schule noch Johnstone setzen in erster Linie auf Profis. So schreibt Johnstone: „Loose Moosers are computer experts, or doctors, or pizza cooks, or city workers, and so on. Few of them intend to earn a living using their impro skills and nor do I encourage it.“ (JOHNSTONE 1999, S. 6)
Zum einen ist die Improvisationstheaterbewegung programmatisch als Laienspielbewegung angelegt, zum anderen ist es ökonomisch schwierig, davon zu leben, insbesondere in den urbanen Zentren, wo sich diese Theaterform schnell verbreitet hat. In Chicago existiert beispielsweise inzwischen eine so hohe Dichte von Improvisationstheatergruppen, dass kaum jemand damit Geld verdienen kann. Die Eintrittspreise sind niedrig, die Konkurrenz ist groß, die Gagen sind minimal. Improvisationstheater ist in Chicago zu einem normalen, akzeptierten Hobby geworden wie in anderen Städten das Tanzen oder der Musikunterricht: „In Chicago there is little or no money to be made in theatre but this is simply an accepted way of life.“ (KOTZLOWSKI 2002, S. 46). Das gilt auch für das berühmte ImprovOlympic Theater: „Actors are almost never paid for their performance work […] most Improv Olympicians have day jobs, and some even have demanding fulltime careers – yet they make time for improv as their primary avocation.“ (SEHAM 2001, S. 56)
In beiden großen Schulen wird die Überzeugung propagiert, jeder könne improvisieren: „A recurring tenant of contemporary improv is the belief perpetuated by several companies that anyone is capable of performing.“ (CHARLES 2003, S. 168). Es ist unmöglich, zu unterscheiden, ob es sich um ein Werbeargument für die zum Teil enorm ausgeweitete Kurstätigkeit handelt – die ein wichtiges ökonomisches Standbein für professionelle Improvisateure darstellt – oder um eine wirkliche
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Grundüberzeugung. Die Frage, obsich die Fähigkeit zum Improvisieren lehren und lernen läßt , könnte im Prinzip über eine Evaluation der Effekte von Improvisationskursen empirisch überprüft werden. Solche Untersuchungen liegen jedoch derzeit nicht vor, sodass Aussagen wie „Jeder kann improvisieren!“ spekulativ bleiben. Die Improvisationstheater-Community ruht auf einem Sockel von leidenschaftlichen Laienspielern, die sich in ihrer Freizeit engagieren und durch eine gemeinsame Spielkultur verbunden sind. Oft ist es für professionelle Spieler nicht einfach, sich von diesem Angebot abzusetzen. Ohne Zweifel sind die Bedingungen des Laienspiels für die Improvisation günstiger als die Bedingungen des professionellen Theaters: Freiheit von Leistungsdruck, Freiheit von ökonomischem Druck. Es besteht keine Notwendigkeit, die Aufführung als Ware zu vermarkten und ihr daher Produktcharakter zu verleihen. Das Spielerische ist hier leichter aufrecht zu erhalten. Bei professionellen Gruppen besteht dagegen immer die Gefahr, den grundlegenden Spielcharakter zu verlieren und das Risiko der Aufführung zu minimieren, was den Grundprinzipien der Improvisation widerspricht.3 Nahezu alle Gruppen arbeiten im Spannungsfeld zwischen Amateurtheater und professionellem Theater und durchleben die entsprechenden Konflikte. Die Selbstverpflichtung auf den Impuls des Moments Entsprechend dem starken Konzept der Präsenz wird nun gefragt, ob die Spieler beim Improvisationstheater über Techniken und Grundhaltungen zur Herstellung von Präsenz verfügen. Güssow (2013) hat entsprechende Methoden unter anderem beim Improvisationstheater untersucht. Er kommt unter Rekurs auf Johnstone zu dem Schluss, dass eine zentrale Voraussetzung für Präsenz beim Improvisationstheater die Angstfreiheit der Schauspieler sei. Diese ermögliche es dem Schauspieler, sich in einen „kontrollierten Rausch“ (GÜSSOW 2013, S. 103) zu versetzen und dabei ganz in der Gegenwart zu bleiben. Angst dagegen lenke vom Moment ab, entweder als Sorge, was in der Zukunft passieren wird, oder als Hadern mit der Vergangenheit. Was Güssow bei Johnstone nachweist, lässt sich auch für Spolin und Close sagen: Die Befreiung von Bühnenangst ist der erste und wichtigste Schritt zur Erzeugung von Präsenz. Sowohl das Ideal der Subjektlosigkeit als auch die Fehleraffinität – wie in Kapitel II 3.5 dargestellt – dienen diesem Ziel. Die Befreiung von Angst, Anspannung und Unbehagen bringt eine Steigerung der Prä-
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Eine besondere Lösung dieses Dilemmas hat das Annoyance Theatre in Chicago gefunden: Die Spieler – obwohl äußerst erfahren und virtuos – verzichten aus philosophischen Gründen auf jegliches Honorar und erhalten damit den Spielcharakter der Vorstellung (CHARLES 2003, S. 169). Auf diese Weise ist es ihnen gelungen, ein provozierendes und einflussreiches Improvisationstheater zu werden. Sie bilden damit jedoch eine Ausnahme, ähnlich wie das Loose Moose Theater in Calgary.
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senz der Akteure mit sich, indem sie die Distanzierung des Schauspielers vom eigenen Tun verhindert. Über die Freiheit von Bühnenangst hinaus verfügen Improvisateure über Techniken, die es ihnen ermöglichen, den gegenwärtigen Moment wahrzunehmen und auf ihn zu reagieren. Güssow hat hierfür den Begriff Impuls des Momentes gebildet. Er definiert ihn folgendermaßen: „Der Ausdruck ‚Impuls des Momentes‘ bezeichnet alle für den Schauspieler in einem Moment wahrnehmbaren Ereignisse. Er umfasst seine eigenen (teils automatisierten) Handlungsimpulse, die konkreten Handlungen des Partners und der Zuschauer, die Impulse, die Licht- und Ton geben etc. Die Summe dieser Impulse ist niemals identisch und insofern unterscheidet sich jeder konkrete Moment immer von dem fiktiven Moment, der in den Proben vorbereitet bzw. in Konzeptionen für Performances und Happenings antizipiert wird.“ (GÜSSOW 2013, S. 99)
Der Schauspieler – und noch mehr der Improvisationsspieler –, der präsent sein will, muss sich innerlich verpflichtet fühlen, den Impuls des Moments wahrzunehmen und zu beantworten, weshalb Güssow von einer „Verpflichtung auf den Moment durch die innere Haltung des Schauspielers“ (GÜSSOW 2013, S. 64 ff) spricht. Das Konstrukt Impuls des Moments impliziert, dass es eine Instanz im Schauspieler geben muss, die alle Einzelimpulse zu einem Gesamtimpuls ‚zusammenrechnet‘, eine Summe (oder besser einen Vektor) bildet und dass dieser Gesamtimpuls wahrnehmbar ist. Legt man Güssows Konzept zugrunde, so wird deutlich, dass der Impuls des Moments zum jeweils geplanten Verhalten in Kontrast stehen kann – beispielsweise wenn ein Schauspieler Bauchschmerzen hat, aber laut Inszenierung eine Liebesszene spielen soll.
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Abb. 6: Entscheidungssituation: Geplantes Verhalten versus Impuls des Moments
(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an GÜSSOW 2013)
Der Spieler befindet sich demnach in einer Entscheidungssituation, die zu jedem Zeitpunkt der Aufführung aktuell werden kann: Folgt er dem Impuls des Moments oder den gelernten Handlungsroutinen? Der Improvisationsspieler wird diese Entscheidung so oft wie möglich zugunsten des Impulses des Moments treffen. Diese Prioritätensetzung hat zunächst vielleicht nur minimale Auswirkungen, die sich aber durch sequentielle Entscheidungsketten verstärken und am Ende deutliche Abweichungen kreieren kann. Weil in jeder Entscheidung dem Impuls des Momentes Vorrang eingeräumt wird, entfernt sich die Improvisation immer mehr von der Inszenierung, von Plänen und prämeditierten Abläufen:
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Abb.7: Die Priorität des Impulses des Moments beim improvisierenden Theater
(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an GÜSSOW 2013)
Die Selbstverpflichtung auf den Impuls des Moments erzeugt eine sich steigernde Differenz zwischen Plan und Ausführung, die für den improvisierenden Spieler äußerst bedeutsam ist: die Wahrnehmung der Differenz zwischen Plan und Ausführung, also des ‚Fehlers‘, ist Ausgangspunkt seiner Verhaltensantwort. Der Riss zwischen Plan und Ausführung wird dadurch ausgeweitet und verstärkt. Die Fehleraffinität unterstützt diesen Effekt, das Ideal der Subjektlosigkeit verhindert, dass der Schauspieler das Potential des Moments durch eigene Planung zerstört. Die Selbstverpflichtung auf den Impuls des Moments setzt damit einen fortlaufenden Prozess in Gang, der die Präsenz der Schauspieler erhöht. Das Warm-up der Schauspieler Die Offenheit des Spielers für den Impuls des Moments wird beim Improvisationstheater in der Regel vor jeder Aufführung wieder neu hergestellt, da sie im Alltag verlorengeht. Es ist üblich, dass die Spieler vor der Aufführung Assoziationsübungen, Körperübungen und einfache Games durchführen. Es gibt ein großes Repertoire an Games, die speziell dem Aufwärmen dienen. Sie wurden und werden eklektisch aus allen denkbaren Theaterformen übernommen und wandern umgekehrt in die Schauspielschulen und in die Proben des inszenierenden Theaters. Viele Warmup-Übungen dienen dazu, die Gruppe zu einer Gemeinschaft zu formen, indem sie die Aufmerksamkeit für die Impulse der Mitspieler zu erhöhen. Die Akteure sollen als System agieren und möglichst wenig als originelle, abgegrenzte Einzelindividu-
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en, denn das Ensemble ist das eigentliche Agens, nicht der Einzelschauspieler. Das Warm-up steigert damit die Präsenz als Gruppe. Spezifisch für das Improvisationstheater sind in der Regel die Assoziationsübungen, die die Spontanität anregen (LÖSEL 2004, S. 83 ff). Meist umfassen die Warm-ups auch einige Überforderungsspiele. Diese sind so aufgebaut, dass die Spieler scheitern müssen. Sie brechen damit die sich immer wieder aufbauende Angst vor Fehlern. Das Warm-up der Schauspieler findet hinter der Bühne statt; sie erscheinen dann bereits mit einer gesteigerten Präsenz vor dem Publikum.4 Die Spieler gehen gleich zu Beginn der Aufführung in einen direkten Kontakt mit den Zuschauern, sodass ihre erhöhte Präsenz auf die zu diesem Zeitpunkt noch geringere Präsenz des Publikums trifft. Erwünscht ist, dass die Spieler von Anfang an sympathisch und offen auf der Bühne erscheinen. Johnstone legt beispielsweise großen Wert darauf, dass sie die Augen weit geöffnet haben, denn große Augen signalisierten Angstfreiheit und Kindlichkeit (JOHNSTONE 1998, S. 322). In der US-amerikanischen Tradition, die stark von der Stand-up-Comedy beeinflusst wurde, bemühen sich die Spieler dagegen um ein ‚cooles‘, energiegeladenes, erstes Auftreten. Oft wird Hiphopmusik oder aktuelle Popmusik vom Band gespielt und die Spieler betreten die Bühne mit Tanzbewegungen. Indem die Spieler durch ihr Warm-up einen Vorsprung zum bis dahin noch ‚kalten‘ Publikum haben, erzeugen sie eine Spannung, die Grundlage für die erste Begegnung ist. Die Spieler werden dabei zum Modell, denn die erhöhte Präsenz soll auf den Zuschauerraum überspringen. Das Improvisationstheater arbeitet hier mit einem Konzept der Ansteckung: Übertragen wird aber nicht das Mitgefühl mit einer Bühnenfigur, sondern die Präsenz der Schauspieler. Offensichtlich geht es nicht nur um körperliches Warm-up wie beim Sport, sondern um ein Herstellen von kommunikativen Handlungsbereitschaften. Eine sinnvolle Einordnung ermöglicht das in Kapitel II 3.3 eingeführte Spontanitätsmodell von Moreno/Schacht: Demnach entsteht in der Phase der Handlungsvorbereitung eine Erwärmung, die zur Spontanitätslage als einem Zustand maximaler Handlungsbereitschaft führt. Das Warm-up unterstützt eine Annäherung an diese Spontanitätslage, führt zu einer Erhöhung der Responsivität und ist die Grundlage für die Begegnung mit dem Publikum. Auf diese Weise wird eine positive, kooperative Beziehung zum Publikum im Hier und Jetzt hergestellt.
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Oft werden weitere einfache Improvisationsspiele an den Anfang der Aufführung gestellt, die ebenfalls noch dem Warm-up dienen, diesmal auf offener Bühne und unter Einbezug der Vorgaben des Publikums.
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1.2 Die Präsenz der Zuschauer Legt man ein schwaches Konzept der Präsenz auf der Rezeptionsseite zugrunde, so interessiert auch hier zunächst die Frage, wer überhaupt ins Improvisationstheater geht. Handelt es sich um eine bestimmte Gruppe? Unterscheidet sie sich von einem normalen Theaterpublikum? Die Anfänge des Improvisationstheaters in den USA waren durch ein studentisches Publikum geprägt. Die Compass Players wurden von Studenten der Universität von Chicago gegründet und zogen fast ausschließlich ein akademisches Publikum an (SAWYER 2003, S. 24-26). Der Hintergrund der Spieler war in vielen Fällen jüdisch geprägt, fast ausschließlich rekrutierten sich die Ensembles wie auch ihre Zuschauer aus der gebildeten, liberalen, weißen Mittelschicht. Bernhard Sahlins, Betreiber und Regisseur von The Second City sagte später, man habe für die Elite gespielt und sei selber Teil der Elite gewesen (Sahlins in SWEET 2003, S. 177).5 Es liegen drei Arbeiten zum Thema Publikum beim Improvisationstheater vor, eine aus dem englischen Sprachraum, zwei aus dem deutschen. Für die Chicagoer Improvisation untersuchte Seham 2001 die Zusammensetzung des Publikums und deren gemeinsamen Hintergrund mit den Spielern (SEHAM 2001). Ihr Beitrag „Whose improv is it anyway?“ setzt sich kritisch mit den gefundenen Ergebnissen der Unterrepräsentation von Frauen und der Ausgrenzung von ethnischen Minoritäten auseinander. Seham konstatiert, dass sowohl die Spieler als auch das Publikum in der Anfangszeit des amerikanischen Improvisationstheaters weiß, männlich, heterosexuell und zwischen 21 und 40 waren (SEHAM 2001). Das Improvisationstheater tendiere in solchen homogenen Kontexten dazu, affirmativ und unpolitisch
5
Dies steht in scharfem Kontrast zur politischen Intention der damaligen Gründer: David Shepherd plante urspünglich eine neue, politische Form des Volkstheaters im Stil der Commedia dell’ arte (FROST & YARROW 2007, S. 52). Stark beeinflusst wurde er – wie Paul Sills – durch die Theaterauffassung von Bertolt Brecht. Shepherd verstand sein Theater als Ausdrucksmöglichkeit der Arbeiterklasse und anderer kulturell benachteiligter Gruppen. In den 70-er Jahren initiierte er daher Theaterwettkämpfe, die in vielen Punkten dem Theatersport Johnstones gleichen, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Teams homogen aus bestimmten kulturell benachteiligten Gruppen zusammengesetzt waren. Auf diese Weise hoffte Shepherd, das Improvisationstheater zu einem Ort zu machen, an dem ausgegrenzte Teile der Bevölkerung sich artikulieren können (Shepherd in SWEET 2003). Innerhalb der Chicago Schule setzte sich jedoch nicht Shepherds idealistische Sichtweise durch (SAWYER 2003, S. 24). Die Praxis zeigte schnell, dass nicht Arbeiter und Minderheiten das Improvisationstheater zu schätzen wussten, sondern eher akademische Eliten.
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zu werden. Es diene in vielen Fällen nur der Selbstvergewisserung der Zuschauer, deren Ansichten von den Spielern geteilt und gespiegelt würden. Weiterhin bewirke das Konzept der Group Mind eine Unterdrückung speziell weiblicher Erfahrungen. Folgt man Seham, so kommt man zu dem Schluss, dass Improvisationstheater vor allem dann gut funktioniert, wenn Spieler und Zuschauer ähnliche Einstellungen und Werte haben, was dazu führt, dass Improvisationstheater eher für homogene Zuschauergruppen als für heterogene Zuschauergruppen interessant ist. Sawyer folgt dieser Einschätzung Sehams, weist aber darauf hin, dass dennoch die meisten Improvisationsspieler ein egalitäres Ideal verfolgen (SAWYER 2003, S. 26). Ab Mitte der Neunziger Jahre sei es deshalb zu einer „Dritten Welle“ von Improvisationsgruppen gekommen, die verstärkt Frauen und Minoritäten integriere. Zwei weitere, in Deutschland erschienene Arbeiten beschäftigen sich mit dem Publikum beim Improvisationstheater. Mit Juliane Schröters Magisterarbeit liegt hier eine empirische Analyse der Zuschauer beim Improvisationstheater vor (SCHRÖTER 2003). Schröter hat sowohl die Zusammensetzung des Publikums als auch Zuschauererwartungen mit Hilfe von Fragebögen erfasst. Ihre Ergebnisse zeigen, dass das typische Publikum des Improvisationstheaters deutlich jünger ist als das des inszenierenden Theaters (85% der Zuschauer sind unter 35 Jahre, 56% sind zwischen 20 und 30 Jahre). Der Studentenanteil ist mit 26 % etwa doppelt so hoch wie im inszenierenden Theater. Die meisten Zuschauer haben – wie auch im inszenierenden Theater – einen hohen Bildungsstand. Dass das Improvisationstheater andere Schichten erreichen kann als das inszenierende Theater wird von diesen Daten also eher nicht gestützt. Einzig die Untergruppe der Studenten ist überproportional vertreten. Schröter kann weiterhin zeigen, dass die Erwartungen der Zuschauer beim Improvisationstheater vor allem auf Komik und leichte Unterhaltung gerichtet seien. Diese Erwartungen machen es schwer, in dieser Theaterform ernstere Inhalte abzuhandeln. Roland Trescher setzt sich in seiner theaterwissenschaftlichen Magisterarbeit „Die Zuschauer im Improvisationstheater der Gegenwart“ mit der These auseinander, inwiefern die Zuschauerrolle im Improvisationstheater die veränderte Subjekthaftigkeit der Erlebnisgesellschaft aufgreife und widerspiegele (TRESCHER 1995). Die Interaktivität beim Improvisationstheater entspreche den von Massenmedien geprägten Wahrnehmungs- und Erlebniserwartungen der Zuschauer: wenig inhaltliche Auseinandersetzung, dafür hohes Tempo und schnelle Wechsel. Trescher spricht von einer „verzappten Ästhetik“ (TRESCHER 1995, S. 94 ff.). In dieser Sicht ist das Improvisationstheater darauf ausgerichtet, den permanenten Reizhunger eines hyperaktiven Publikums zu befriedigen, ohne eine inhaltliche Aussage zu machen. Damit wird es zu einem Symptom der Auseinandersetzung mit neuen Formen der Medialität am Epochenumbruch ins Zeitalter der Globalisierung und der virtuellen Kommunikation.
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Beide Untersuchungen lassen sich so interpretieren, dass beim Improvisationstheater eher ein jüngeres, mulitmedial sozialisiertes Publikum angesprochen wird.6 Dennoch unterscheiden sich Zuschauer und Zuschauererwartungen beim Improvisationstheater offensichtlich kaum von denen anderer Unterhaltungstheater. Es wird ein Publikum angezogen, das auch andere Formen leichter theatraler Unterhaltung schätzt wie das Komödien- und Boulevardtheaterpublikum. Durch diese Selektion wirkt das Improvisationstheater manchmal gefangen in Zuschauererwartungen, die nur schwer zu verändern sind – zumal Fernsehformate wie Schillerstraße oder Frei Schnauze das Bild des Improvisationstheaters nachhaltig prägen. Das Warm-up des Publikums: Mitbestimmung und Enthemmung Die Rolle des Publikums ist beim Improvisationstheater geprägt durch Aktivität und Partizipation. Gerein spricht von einem „Mitbestimmungsrecht“ der Zuschauer (GEREIN 2004, S. 95). Dahinter steht die auf die historischen Avantgarden zurückgehende Forderung, die Arbeitsteilung von Autor, Schauspieler und Zuschauer aufzubrechen, und quasi-demokratische Möglichkeiten der Partizipation in die Theatersituation einzuführen. Dieses Ideal sollte bereits in Morenos Stegreiftheater 1921-23 verwirklicht werden und war ein Kerngedanke in den Anfängen der USamerikanischen Improvisationstheatertradition.7 Es ist zu verstehen als Widerstand gegen die reduzierte, passive Zuschauerrolle beim literarischen Theater. Dort folgt die Zuschauerrolle einer langen Geschichte von Konventionen, die ab dem späten 18. Jahrhundert als Disziplinierung der Zuschauer charakterisiert werden kann (FISCHER-LICHTE 2004, S. 59). In der Geschichte des europäisch geprägten Theaters nehmen dabei im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert die Reduktionsregeln rapide zu.8 Durch sie werden im Alltag übliche Verhaltensweisen im Theaterkontext zu störendem, abweichendem Verhalten erklärt. Bezogen auf die Rolle der Zuschauer wurden beispielsweise folgende Verhaltensbereiche reduziert: Das Mitbringen von Kindern und Tieren, das Dazwischenrufen, das Sich-Unterhalten, das
6
Nach eigenen Beobachtungen sind ältere Jahrgänge mit den schnellen Wechseln von Figuren, Orten und Geschichten beim Improvisationstheater manchmal überfordert, während jüngere damit keinerlei Schwierigkeiten haben.
7
Aktuell findet diese Forderung in Einzelfälen eine Fortsetzung, beispielsweise versuchen bei Dörger und Nickel, das Publikum als Autor zu aktivieren, ihm also ein Mitspracherecht an Inhalt und Gestaltung des Bühnengeschehens einzuräumen (DÖRGER & NICKEL 2008).
8
Dörger differenziert innerhalb der Zuschauerrolle zwischen Reduktionsregeln und Animationsregeln (DÖRGER 1993). Erstere reduzieren das erwartete Verhaltensspektrum, letztere erweitern es im Vergleich zum Alltagsverhalten.
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Herein- und Herausgehen, das Zu-Spät-Kommen, das Tragen von Kopfbedeckungen, das Stinken, das Herumhampeln, das Mitsingen, das spontane Klatschen, das Reden mit den Schauspielern (DÖRGER 1993). Die Reduktionsregeln stehen in engem funktionalem Kontext zum literarischen Theater, das seine primäre Aufgabe in der Aufführung von literarischen Texten sah. Sie dienten dazu, den Empfang des Signals – nämlich des Textes – nicht zu stören: „Solche [...] Regelsetzungen dienen im Laufe der Theatergeschichte vor allem der Ruhigstellung des Publikums zur Konzentration auf die (äußerlichen) Aktionen der Bühne. Sie sind also keine Animationsregeln, sondern Konzentrations- und Abgrenzungsregeln (Reduktionsregeln).“ (Dörger & Nickel 2008, S. 66)
Beim Improvisationstheater werden diese Reduktionsregeln zu einem möglichst frühen Zeitpunkt der Aufführung unterlaufen: Es wird eine Rahmung geschaffen, die sich von den Konventionen des Kunsttheaters möglichst weit entfernt, beispielsweise indem die Aufführung in der entspannten Atmosphäre einer Bar angesiedelt wird – wie dies in der Chicagoer Tradition von Anfang an umgesetzt wurde – oder indem Popcorn verkauft wird – wie dies von Johnstone eingeführt wurde, um eine Nähe zu Zirkus und Kino herzustellen. Weiterhin treten die Spieler zu Beginn der Aufführung in einen Dialog mit dem Publikum und durchbrechen damit die Reduktionsregel, dass die Zuschauer nicht dazwischenrufen dürfen und weitgehend passiv sein sollen. Die Enthemmung des Publikums beim Improvisationstheater geschieht ganz wesentlich bereits dadurch, dass die Reduktionsregeln des inszenierenden Theaters außer Kraft gesetzt werden. Weiterhin hat das Improvisationstheater eine Menge von Animationsregeln entwickelt, die das Publikum zu aktiver Teilnahme auffordern. Hierzu gehören: • • • • •
• • • •
Das Hereinrufen von Ideen auf Abfrage von den Akteuren Das spontane Hereinrufen Das ‚Einzählen‘ Das Abstimmen und Punkte verteilen ‚Die Welle‘ (ein Zuschauer steht auf, die anderen folgen nach, sodass eine Welle von Körpern entsteht. Übernommen aus dem Fußball, jedoch fürs Improvisationstheater adaptiert) Das Ausfüllen von Zetteln Mitbringen von Gegenständen, Kuscheltieren, Fotos, Kleidungsstücken Die Mitwirkung am Bühnengeschehen durch Freiwillige auf der Bühne Das Werfen von Rosen und Schwämmen (eher selten)
Die Animationsregeln werden in der Regel zu Beginn einer Vorstellung erklärt und eingeübt, wobei dem gemeinsamen Einüben eine wichtige, gemeinschaftsbildende
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und enthemmende Funktion zukommt. Beispielsweise sollen die Zuschauer in manchen Theatersportaufführungen Schwämme auf die Schauspieler werfen. Dies würden sie in der Regel nicht tun, wenn der Moderator nicht mehrmals versichern und demonstrieren würde, dass die Spieler diesen Affront nicht ernst nehmen, sondern spielerisch verstehen werden. Durch den gemeinsamen Vollzug werden Verhaltenshemmungen abgebaut. Gerein schreibt in diesem Zusammenhang von einer „Entdisziplinierung des Publikums“ (GEREIN 2004, S. 97). Ein weiterer enthemmender Vollzug zu Beginn der Aufführung ist die Schwächung der sozialen Kontrolle der Zuschauer untereinander. Während im inszenierenden Theater ein Zuschauer, der von der Verhaltensnorm abweicht, mit giftigen Blicken, Zischen oder direkten Zurechtweisungen auf seine Übertretung hingewiesen wird, stellt das Improvisationstheater eine möglichst niedrige soziale Kontrolle her. Meistens sorgt der Moderator dafür, dass Kontakt zu den direkten Sitznachbarn aufgenommen wird. Johnstone nennt dies, „das Eis brechen“: „Er/sie [der Moderator] begrüßt das Publikum und ‚bricht das Eis‘: ‚Nennen Sie jemandem die Gemüsesorte, die Sie am meisten hassen!‘ Oder: ‚Reichen Sie jemandem in der Reihe hinter Ihnen die Hand.‘ Oder: ‚Umarmen Sie jemanden, den Sie nicht kennen!‘“ (JOHNSTONE 1998, S. 28)
Es geht hier nicht um den Kontakt zur Bühne, sondern um die Kontaktaufnahme mit den Sitznachbarn, die die direkteste Form von sozialer Kontrolle darstellen. Durch die spielerische Kontaktaufnahme sinkt die Hemmschwelle für abweichendes Verhalten. Auf diese Weise wird die soziale Kontrolle insgesamt geschwächt und Enthemmung gefördert. Die Wahrscheinlichkeit für spontanes Verhalten der Zuschauer steigt. Das Improvisationstheater vermittelt seine Animationsregeln eher als SpielRegeln in dem Sinne, als mit ihnen gespielt werden darf: Oft werden die Regeln ironisch gebrochen, sie werden sozusagen mit einem Augenzwinkern vorgestellt. Die Abstimmungen erfolgen willkürlich über den sogenannten Applausometer, der Schiedsrichter vergibt ungerechte Strafpunkte, die ‚Strafen‘ sind in Wirklichkeit Vorlagen für neue Szenen usw. Die Animationsregeln dienen in erster Linie nicht der Regulierung des Zuschauerverhaltens, sondern seiner Deregulierung: Auf diese Weise wird eine möglichst deutlich wahrnehmbare feedback-Schleife in Gang gesetzt. Fischer-Lichte hat die Bedeutung der Wahrnehmbarkeit des Zuschauerverhaltens für die autopoietische feedback-Schleife hervorgehoben:
172 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „Zwar mögen diese Reaktionen [der Zuschauer, G.L.] teilweise rein ‚innerlich‘ ablaufen, einen ebenso wichtigen Teil stellen jedoch wahrnehmbare Reaktionen dar: Die Zuschauer lachen, juchzen, seufzen, stöhnen, schluchzen, weinen, scharren mit den Füßen, rutschen auf dem Stuhl hin und her, lehnen sich mit gespanntem Gesichtsausdruck vor oder mit entspanntem zurück, halten den Atem an und werden beinah starr; sie schauern wiederholt auf die Uhr, gähnen, schlafen ein und fangen an zu schnarchen; sie husten und niesen, knistern mit Einwickelpapier, essen und trinken, flüstern sich Bemerkungen zu oder kommentieren das Bühnengeschehen laut und ungeniert, rufen ‚Bravo‘ und ‚da capo‘, klatschen Beifall oder zischen und buhen, stehen auf, verlassen den Saal und knallen die Tür hinter sich zu.“ (FISCHERLICHTE 2004, S. 58)
Die Aufzählung macht deutlich, wie breit das Spektrum wahrnehmbaren Zuschauerverhaltens sein kann. Nur was für die Schauspieler wahrnehmbar ist, kann auch von diesen beantwortet werden und fließt damit in die zirkulären Prozesse zwischen Bühne und Zuschauerraum ein. Durch die Enthemmung der Zuschauer wird deshalb beim Improvisationstheater ein Strom von wahrnehmbarem Publikumsverhalten erzeugt, der die Aufführung steuert und zu jeweils neuen Formen anregt. Die feedback-Schleife ist damit von Anfang an breiter und stärker als im inszenierenden Theater. Die Partizipation geschieht weniger durch die inhaltlichen Vorschläge aus dem Publikum, obwohl diese natürlich eine große Rolle spielen, sondern ebenso durch die aktive Teilnahme am Prozess der feedback-Schleife. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die bloße Anwesenheit der Zuschauer für eine improvisierte Aufführung noch keine hinreichende Bedingung darstellt. Notwendig ist vielmehr eine gesteigerte Präsenz des Publikums, die gleich zu Beginn der Vorstellung durch das Zuschauer Warm-up erzeugt wird. Sie bildet die Grundlage für die Begegnung von Akteuren und Publikum sowie für die Teilnahme der Zuschauer als Mitspieler am Theater-Spiel. Zunächst werden die Reduktionsregeln des inszenierenden Theaters außer Kraft gesetzt, zusätzlich werden spezifische Animationsregeln eingeführt und Instanzen der Hemmung abgebaut. Im Verlauf der Aufführung wird die Enthemmung – und damit der Vollzug der Präsenz der Zuschauer – oft noch weiter gesteigert, sodass die Zuschauer das Theater in einem deutlich stärkeren Präsenzerleben verlassen. Es muss kritisch hinterfragt werden, ob es sinnvoll ist, von einem ‚Mitbestimmungsrecht‘ des Publikums beim Improvisationstheater zu sprechen wie dies Gerein tut. Bei den meisten populären Improvisationstheaterformen wird dem Publikum kein wirkliches Mitbestimmungsrecht eingeräumt, vielmehr geht es um eine generelle Enthemmung des Publikums. Während Gerein (2004) und Trescher (1995) dies kritisch diskutieren, soll hier die These vertreten werden, dass gerade die Enthemmung des Publikums ohne inhaltliche Mitgestaltung ideale Bedingungen für die Emergenz einer feedback-Schleife herstellt.
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Zuschauervorschläge Bei der Frage, ob und wie die Vorschläge der Zuschauer in das Spiel mit einfließen sollen, herrscht zwischen den zwei großen Improvisationsschulen keine Einigkeit: Während die Chicagoer Richtung das Aufnehmen von Publikumsvorschlägen eingeführt hat und als zentrales Element sieht (FROST & YARROW 2007, S. 53), betrachtet die britisch-kanadische Schule das Einholen von Vorschlägen weitgehend als überflüssig und sogar als kontraproduktiv (JOHNSTONE 1998, S. 82). Johnstone (1998) widmet dieser Frage ein ganzes Kapitel seines zweiten Buches und kommt zu dem Schluss, dass Publikumsvorschläge weder notwendig noch wertvoll sind und die Spieler nur unnötig einschränken: „Warum unwissenden Leuten die Möglichkeit geben, unsere Szenen für uns festzulegen?“ (JOHNSTONE 1998, S. 82). Die Zuschauer tendieren nach Johnstone dazu, witzige, originelle Vorschläge zu machen, die meist keine gute Grundlage für Szenen darstellen: „Je witziger ein Vorschlag, desto weniger ist er zu gebrauchen.“ (JOHNSTONE 1998, S. 73). Entsprechende Beispiele sind wohl jedem Improvisationsspieler aus eigener Erfahrung bekannt (Moderator: „Nennt mir einen Ort!“, Zuschauer „Damentoilette!“). Andererseits verzichtete auch Johnstone nicht ganz auf Publikumsvorgaben, allerdings holte er sie nur in geringer Frequenz (etwa alle 40 Minuten) ein (JOHNSTONE 1998, S. 73). Woher kam die Konvention, Zuschauervorschläge live auf der Bühne abzufragen und sofort umzusetzen? Offenbar geht diese Neuerung auf die Chicagoer Schule zurück und fand ihren Weg über Spolins Workshops auf die Bühne (FROST & YARROW 2007, S. 53). Spolin könnte dabei auf Moreno zurückgegriffen haben, der vermutlich über einen Spielleiter Themen und Ideen vom Publikum abfragte (Fangauf in BUER 1999, S. 104). In „Improvisation and the Theater“ (1993) widmet Spolin den Zuschauervorgaben einen Abschnitt, allerdings nur einen sehr kleinen, was vermuten lässt, dass die Zuschauerbeteiligung über Vorgaben nicht zu ihren zentralen Anliegen gehörte (SPOLIN 2002, S. 238). Ab Mitte der 50-er Jahre fragten die Compass Players nach Themen oder Szenenvorschlägen, zogen sich dann kurz zurück, um Ideen zu entwickeln und präsentierten anschließend ihre Improvisation auf der Bühne (FROST & YARROW 2007, S. 53). Dieses System, das eine Prämeditation von einigen Minuten zulässt, ist im französischen und spanischen Sprachraum bis heute weit verbreitet (Witte in LÖSEL 2006), während sich im angloamerikanischen Raum und in der Folge auch in Deutschland die SpotImpro durchsetzte (FROST & YARROW 2007, S. 54): Dabei werden die Zuschauervorgaben sofort umgesetzt, die Spieler ziehen sich nicht zurück und sprechen sich nicht ab. Spezifisch für Deutschland ist das ‚Einzählen‘. Dabei zählen die Zuschauer gemeinsam von fünf auf null. Bei Null geht das Licht an und die Szene beginnt. Zwischen Vorgabe und Improvisation soll möglichst wenig Zeit liegen. In den entsprechenden Webseiten der Impro-Community gibt es lange Listen von Ask-Fors, zum Beispiel führt die Improv-Enzyklopädie als häufigste Fragen an:
174 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „Can I have a non-geographical location? Please give me an occupation, a hobby. Can I have a room in a building? Can I have a title for a book/a song? Please give me… … an emotion. … a genre of film/literature/theatre/song. … a relationship between 2 people. … an item you would find in the kitchen/garage/attic. … a problem that needs to be solved. … an important moment in history. … an era (a year). … a mode of transportation. … a foreign country. … An animal.“ (Quelle: www.improvecyclopedia.org, abgerufen am 21. 10. 2010)
Das Einholen von Vorschlägen ist eine eigene Kunst. Es ist Aufgabe des Moderators, eine Atmosphäre herzustellen, in der die Zuschauer bereit sind, Antworten auf die Bühne zu rufen und damit eine Art dialogischer Form herzustellen. Er sollte das Publikum davon abbringen, besonders originelle Vorschläge zu machen – eine Tendenz, die jedes Publikum zunächst hat – weil originelle Vorschläge alle Beteiligten unter Druck setzen und einen Dialog verhindern. Inhaltlich können die Zuschauervorgaben öffentliche Ereignisse betreffen – wie etwa bei der ‚Lebenden Zeitung‘ – oder auf private Erlebnisse einzelner Zuschauer zielen. In den weitaus meisten Fällen werden aber einfache Assoziationen des Publikums abgefragt, etwa „Nennen Sie mir eine Automarke/ ein Möbelstück/ eine Beziehung usw.“. Dabei ist es wichtiger, dass das Publikum überhaupt aktiv wird als dass es einen konkreten Inhalt beisteuert. In der Regel beziehen sich die Zuschauervorschläge nur auf die Grundinformationen der Szene, auf das Wer? Wo? Was? Diese Informationen können aber ebenso gut durch die Spieler in die Improvisation eingeführt werden, es handelt sich also nicht um notwendige Informationen für das Spiel. Vielmehr dient die Abfrage dazu, dem Publikum ein Gefühl von Selbstwirksamkeit zu vermitteln. Nur in wenigen Aufführungen wird das Publikum tatsächlich an der Handlung beteiligt und entscheidet über den Fortgang der Geschichte, fast niemals übernimmt es die Rolle des Autors wie dies manchmal in Werbetexten suggeriert wird.
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1.3 Gesteigerte Ko-Präsenz Das heiße Publikum Die Qualität der Interaktion von Akteuren und Zuschauern wird bei der Improvisation oft mit den Adjektiven warm oder heiß beschreiben. Eine Erhitzung der Gemüter der Zuschauer ist in den meisten Formen des Improvisationstheaters erwünscht. Johnstone schreibt zum Begriff „Hitze“: „‚Hitze‘ ist ein Begriff aus dem Ringkampf und bedeutet Massenzorn und /oder –aufregung. Ringer erzeugen Hitze durch Selbstverherrlichung oder durch Tricks, indem sie zum Beispiel mit den Fäusten auf den absolut gesunden, aber dick verbundenen Arm des Gegners einschlagen. Beim Gorilla Theater [einer weiteren von Johnstone erfundenen WettkampfImprovisationsform, G.L.] erzeugen die Spieler (nicht alle) Hitze, indem sie sich selbst zur Zielscheibe machen durch übermäßig selbstsichere Bemerkungen wie: ‚Ihr findet, das war eine gute Szene? Wartet, bis ihr diese hier seht!‘“ (JOHNSTONE 1998, S. 42)
‚Hitze‘ wird laut Johnstone erzeugt, indem das Publikum provoziert und zur gemeinsamen Ablehnung oder Unterstützung bestimmter Elemente der Aufführung gebracht wird. Sie entsteht durch eine einfache Dramaturgie von Gut und Böse, kombiniert mit einer sehr starken Körperlichkeit – ähnlich wie im Genre Actionfilm. Die kollektive Empörung und Aggression richtet sich auf den Bösewicht und wird von diesem noch angeheizt durch Grausamkeit und Überheblichkeit. Spuren einer solchen emotionalen Polarisierung finden sich daher bei Johnstones Theatersport. Die Gefühle des Publikums werden dabei absichtlich angeheizt, indem sie für die eine/ gegen die andere Mannschaft votieren oder sich gegen den Schiedsrichter wenden. Die Zuschauer sollen ein gemeinschaftliches, starkes emotionales Erlebnis haben. Die entsprechende Hitze war nach Johnstones Meinung im ‚normalen‘, bürgerlichen Theater nicht zu finden: „Amerikanisches Ringen war das einzige Beispiel für Arbeitertheater, das ich je gesehen hatte – eine Art lebendig gewordener Zeichentrickfilm, in dem Schreckliche Türken, Exkommunizierte Priester zerfleischten und kräftige Helden schlappe Schurken vernichteten und Zwerge zwischen den Beinen des Schiedsrichters herumhüpften. Muttis und Vatis brüllten Ratschläge, Omas stolperten nach vorn und schwenkten ihrer Handtaschen, Teenager versuchten, die ‚Bösewichter‘ dazu zu bewegen, aus dem Ring zu steigen und sie in Stücke zu reißen.[...] Die Ekstase der Zuschauer war etwas, wonach ich mich sehnte, am ‚normalen‘ Theater aber nicht erlebte.“ (JOHNSTONE 1998, S. 25)
Johnstones Formate unterstützen daher kollektive Erregungen und auch hierbei ist seine Orientierung an Besessenheitskulten deutlich sichtbar: Die Zuschauer sollen,
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genau wie die Schauspieler, in einen außeralltäglichen Bewusstseinszustand geraten und dabei individuelle Hemmungen abwerfen. Johnstone nennt mehrere Aspekte zur Beurteilung der Qualität einer Improvisation: „Ich beurteile die Arbeit der Spieler als gut, wenn: [...] – sie nicht gegen das Publikum arbeiten [...] – sie die Zuschauer zu ‚einem Wesen‘ vereinen können“ (JOHNSTONE 1998, S. 476)
Im Idealfall empfindet sich der Zuschauer dabei nicht als Einzelindividuum, sondern als Teil einer sich bildenden Zuschauergemeinschaft, die durch das ZuschauerWarm-up ‚erhitzt‘ wird. Aus den Einzelzuschauern wird das Publikum, ein soziales System, das spontaner und emotionaler reagiert als der jeweils Einzelne – zumindest wird dies in Modellen der Massenpsychologie behauptet (Stäheli in HORN & GISI 2009, S. 88). Das ‚heiße‘ Publikum ist also ein soziales System, in welchem die Individuen eigene Erlebens- und Verhaltensweisen besonders leicht an das kollektive System der Zuschauer ankoppeln. Es gibt jedoch auch eine starke Gegenposition, die das ‚Einheizen‘ des Publikums als kontraproduktiv betrachtet, da es dem subjektiven Erleben des Einzelnen im Weg steht. So formuliert Spolin: „Wenn Übereinstimmung besteht, dass alle an der Theaterarbeit Beteiligten eine persönliche Freiheit zum Erleben haben müssen, dann schließt das auch das Publikum ein – jeder Zuschauer muss die Möglichkeit des persönlichen Erlebens haben, es darf keine künstliche Reizung stattfinden.“ (SPOLIN 2002, S. 27)
Für diese Richtung des Improvisationstheaters bedeutet jede Form der Manipulation des Publikums eine unerwünschte Form von Kontrolle, sei es durch Gags oder durch das Warm-up des Publikums. Die stärker theatral ausgerichteten Formen (sogenannte Langformen) arbeiten deutlich weniger mit Hitze als die auf Comedy ausgerichteten Formen.9 Ob ein Publikum beim Improvisationstheater ‚eingeheizt’ werden sollte oder nicht, ist also keine eindeutig zu beantwortende Frage, in den populären Formen wird jedoch überwiegend mit einem heißen Publikum gearbeitet.
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In der Realität sind dem ‚Einheizen‘ ohnehin Grenzen gesetzt: ein zu stark enthemmtes Publikum respektiert den Bühnenraum nicht mehr und zerstört die theatrale Situation durch ständiges Zwischenrufen.
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Das responsive Publikum Während die Johnstone-Schule auf gemeinschaftliche, emotionale Erlebnisse abzielt, bevorzugt die Chicagoer-Schule individuelle – im Fall von Close auch oft intellektuelle – Wirkungen. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Ablehnung der passiven, distanzierenden Betrachtung des Bühnengeschehens. Vom Zuschauer wird ein Sich-Einlassen gefordert, ein Aufgeben der inneren Distanz, eine Bereitschaft, auf das Wahrgenommene zu antworten. Gabriele Brandstetter charakterisiert den idealen Zuschauer beim improvisierenden Tanz als „responsiv“ und eine Übertragung dieses Ideal auf das Improvisationstheater scheint möglich: „Sich überraschen lassen, sich selbst überraschen: Der responsive Zuschauer einer Improvisation ist jener, der sich [...] auf eine Aufmerksamkeit einlässt, die ihn als Betrachter zum CoImprovisator werden lässt. Nicht Kompetenz, sondern Aufmerksamkeit des Geistes und der Sinne – man könnte auch das altmodische Wort Hingabe verwenden – könnte eine Voraussetzung für die ästhetische Erfahrung von Improvisation sein.“ (Brandstetter in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 196)
Der ideale Zuschauer ist also dadurch charakterisiert, dass er auf Abwehrhaltungen wie Kritik und Distanzierung verzichtet und sich der Improvisation hingibt. Auch Johnstone wählt den Begriff Hingabe, um seine Selbstversuche zur Förderung der Imagination zu beschreiben, die Grundlage für seine gesamte Produktionsweise sind: „Es ist nicht leicht, hypnagogische Bilder zu betrachten, denn sobald man eines sieht und denkt ‚Da!‘, wacht man auf, und das Bild verschwindet. Man muß sich den Bildern hingeben, ohne ihnen mit Worten zu begegnen; darum habe ich mir beigebracht, das ‚Denken anzuhalten‘“ (JOHNSTONE 2004, S. 14).
Eine entsprechende Haltung der Zuschauer gegenüber dem Bühnengeschehen versucht Johnstone wo immer möglich zu fördern. Die Beziehung zwischen Akteuren und Zuschauern ist in beiden Schulen geprägt durch das Ausschalten des bewertenden Denkens, der Herstellung einer von Sympathie getragenen Beziehung zu den Akteuren und einer erhöhten Responsivität der Zuschauer. Nähe und Ähnlichkeit Die leibliche Ko-Präsenz ist so angelegt, dass sich die Zuschauer den Spielern nahe und ähnlich fühlen können. So schreibt Trescher: „Der Statusunterschied zwischen Spieler und Publikum hat ein geringes Gefälle und ist demnach kaum von Bedeutung, d.h. die Hürde, mit den Spielern in Interaktion zu treten, ist relativ niedrig im Vergleich zu traditionellen Theaterformen. Die Tatsache, dass das Scheitern der
178 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS Improvisation als ein Teil des Improvisationsprinzips jederzeit möglich ist, lässt die Kunst des Improvisierens für den Zuschauer nachvollziehbar erscheinen. Die Trennung in Künstler auf der Bühne und ‚Nur – Zuschauer‘ reduziert sich. Zuschauer und Improspieler rücken einander näher, werden ähnlicher.“ (TRESCHER 1995, s. 98)
Damit sind wesentliche Elemente der Beziehung Spieler-Zuschauer benannt – geringer Statusunterschied, Nähe und Ähnlichkeit. Diese Elemente verweisen auf einen zentralen Wirkmechanismus des Improvisationstheaters: Der Zuschauer identifiziert sich mit dem Spieler als Rollenspieler und eben nicht mit den von ihm gespielten Figuren. Ein beträchtlicher Teil der Wirkung des Improvisationstheaters geht auf diese Identifikation zurück. Damit die Spieler sich als Identifikationsfiguren eignen, muss der Zuschauer sie als sich selber ähnlich wahrnehmen. Auf dem Boden dieser Ähnlichkeit und Zugänglichkeit finden die Prozesse der Identifikation und Projektion statt, die den Zuschauer zu einem aktiv Mitfiebernden machen. Das Prinzip der Ähnlichkeit bringt dabei einerseits den Vorteil der Identifikation mit den Spielern als Rollenspielern hervor andererseits den Nachteil von homogenen – und damit ausgrenzenden – Gruppensystemen, wie in der oben angeführten Kritik von Seham (2001) deutlich wurde. Die Einmaligkeit der Begegnung Das Improvisationstheater verfügt seit Moreno über ein spezifisches, innerhalb der Improvisationstheater-Community beinahe wieder vergessenes Modell der KoPräsenz, nämlich das Konzept der Begegnung. Es entspricht weitgehend dem Konzept der Begegnung bei Martin Buber.10 Morenos erste bekannte Veröffentlichung von 1914 trägt bereits den Titel „Einladung zu einer Begegnung“ (MORENO 1914) und sein gesamtes Werk ist durchzogen von der Idee einer lebendigen Begegnung im Hier und Jetzt. Sills hat sich 30 Jahre später ebenfalls an Buber und dem Konzept der Begegnung orientiert – und möglicherweise auch Spolin. So sagt Sills im Interview: „I’m an absolute disciple of Buber and I don’t find a contradiction between Buber and my mother’s [Viola Spolin’s] work.“ (Sills in SWEET 2003, S.20). Die Ko-Präsenz beim modernen Improvisationstheater ist daher in weiten Teilen geprägt von Bubers/Morenos Konzept der Begegnung: Die Akteure suchen einen persönlichen Kontakt mit dem Publikum. Sie treten dazu immer wieder aus ihrer Rolle heraus und agieren persönlich. Gleichzeitig versuchen sie, etwas über ihr Publikum zu erfahren, vielleicht sogar zu persönlichen Themen der Zuschauer vorzustoßen. Ziel ist ein wechselseitiger Austausch, eine Begegnung
10 In der Tat hat Moreno später behauptet, Buber habe es von ihm übernommen (Geisler in BUER 1999, S. 58), möglicherweise handelt es sich aber auch um eine Parallelentwicklung.
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jenseits der sozialen Rollen – sogar jenseits der im Theater verabredeten Rollen von Schauspieler und Zuschauer. Die Begegnung ist dann ein Erfolg, wenn beide Seiten das Gegenüber als etwas Fremdes, Eigenständiges, als Nicht-Ich erfahren haben. Charles (2003, S. 192 ff) hat die dialogische Form als Grundlage der Begegnung im Improvisationstheater herausgearbeitet. Das Konzept des Dialoges bedeutet ein wechselseitiges Wahrnehmen und Agieren. Im Dialog zwischen Ich und Du, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, entsteht ein Mehrwert an Erfahrung. Er zitiert dazu Sills: „True improvisation is a dialogue between people. Not just on the level of what the scene is about, but also a dialogue from the being – something that has never been said before that now comes up, some statement of reality between people. In a dialogue, something happens to the participants. It’s not what I know and what you know; it’s something that happens between us that’s the discovery.” (Sills in SWEET 2003, S. 19)
Der Dialog umfasst nach dieser Auffassung nicht nur die Beiträge der Teilnehmer, sondern auch etwas Neues, etwas Emergentes, eine Entdeckung, die nur innerhalb dieser einmaligen, einzigartigen Begegnung gemacht werden kann. Man kann dabei zwei Dialoge beim Improvisationstheater unterscheiden, einerseits den Dialog zwischen Bühne und Zuschauerraum, andererseits den Dialog zwischen den Improvisateuren auf der Bühne. Die Einmaligkeit der Begegnung ist umso größer, je stärker in der improvisierenden Aufführung die dialogische Form verwirklicht wird. Je mehr sich das Publikum als aktives, gleichwertiges Gegenüber der Spieler erlebt. desto stärker ist das Erlebnis von Gegenwärtigkeit, das Erlebnis von Selbstwirksamkeit und Partizipation Die stattfindende Begegnung ist dabei jedes Mal anders. Die Einmaligkeit der Begegnung ist aber auch dadurch bestimmt, dass sich in jeder Aufführung Regeln etablieren, die jeweils nur für diese eine Aufführung gelten. Fischer-Lichte betont die zentrale Funktion solcher Prozesse der interaktiven Regelfindung für das Theater allgemein: „Die Aufführung entsteht als Resultat der Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern. Die Regeln, nach denen sie hervorgebracht wird, sind als Spielregeln zu begreifen, die zwischen allen Beteiligten – Akteuren und Zuschauern – ausgehandelt und gleichermaßen von allen befolgt wie gebrochen werden können.“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 47)
Ein Beispiel für eine solche Regelbildung ist der spontane Szenenapplaus: Wenn er innerhalb der ersten Szenen auftaucht, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er immer wieder stattfindet. Er ist dann zu einer Verhaltensoption der Zuschauer geworden. Entwickelt sich dagegen innerhalb der ersten Szenen kein Szenenapplaus, so bleibt diese Option unwahrscheinlich. Der Einzelne wird sich zurückhal-
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ten und spontanen Applaus für störend halten. Das Publikum wird dann eher nicht spontan applaudieren, sondern bis zum Ende der Aufführung warten. In diesem Fall ist der spontane Szenenapplaus nicht zu einem Teil der impliziten Zuschauerregeln geworden. Auf diese Weise setzt unter Umständen die spontane Entscheidung eines einzelnen Zuschauers, zu Beginn der Vorstellung zu klatschen, eine ganz eigene Regelbildung für die gesamte Aufführung in Gang. Entsprechend bilden sich in jeder improvisierenden Aufführung neue Regeln der Interaktion. Die emergierenden Regeln werden vom Einzelnen durch spontanes Verhalten angebahnt und gehen dann in das Regelsystem der Aufführung über. Das Improvisationstheater unterstützt eine solche emergente Regelbildung, indem es erstens die sonst innerhalb der Rahmung Theater üblichen Regeln außer Kraft setzt und zweitens die Zuschauer enthemmt, damit sie spontanes Verhalten zeigen (denn erst aus spontanem Verhalten kann über Rückkoppelungsprozesse eine neue Regel sich ausbilden). Die emergierenden Regeln der Interaktion bringen eine jeweils einmalige feedback-Schleife hervor, die nur zwischen den jeweiligen konkreten Akteure mit genau dem jeweils anwesenden Publikum hervorheben an genau diesem Abend möglich ist. Jede improvisierte Aufführung bringt damit ein spezifisches, eigenes Regelsystem für die Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern hervor. So entsteht bei allen Beteiligten ein Gefühl für die Einmaligkeit der Begegnung: Nie wieder wird die Aufführung so ablaufen wie an diesem jeweils konkreten Abend. 1.4 Die zwei Rollen der Zuschauer Die dialogische Begegnung findet nicht während der gesamten Aufführung statt, sondern innerhalb bestimmter Zeitfenster, die von der Bühne aus geöffnet und geschlossen werden. Innerhalb dieser Phasen gelten die eingeführten Animationsregeln und das Publikum darf mitreden. Während der einzelnen Improvisationen bleibt es dagegen ähnlich ruhig wie im inszenierenden Theater. In aller Regel bleibt die Kontrolle über Beginn und Ende des Dialogs bei den Spielern. Für die Zuschauer stehen daher zwei mögliche Rollen zur Verfügung: als Mitspieler und als Beobachter des Spiels. Die Zuschauer als Mitspieler Spolin betont, dass sich der Zuschauer idealerweise als Teil des Spiels erfährt: „Ein Publikum wird nicht erfrischt und nicht unterhalten, wenn es nicht Teil des Spiels ist.“ (SPOLIN 2002, S. 59). Als Mitspieler erleben sich die Zuschauer insbesondere dann, wenn sie die Botschaft „Dies ist Spiel!“ erhalten und gleichzeitig eine gewisse Selbstwirksamkeit erfahren (siehe Kapitel III 3). Dies geschieht beispielsweise dann, wenn die Vorgaben der Zuschauer ins Bühnenspiel mit einfließen. In der Tat
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dienen die Vorgaben hauptsächlich dazu, den Zuschauern ein Gefühl von Selbstwirksamkeit zu vermitteln und sie damit zu Mitspielern zu machen. Das Publikum geht grundsätzlich davon aus, dass die eingeholten Vorschläge auf der Bühne verwendet werden, auch dann, wenn dies nicht explizit angekündigt wird; es ist also von seiner Selbstwirksamkeit a priori überzeugt, wenn es nicht wie im inszenierenden Theater durch Reduktionsregeln vom Gegenteil überzeugt wird. Der Moderator hat gewisse Möglichkeiten, die Vorschläge abzulehnen und zu selegieren, jedoch wird das Publikum auf die Zurückweisung mehrerer Vorschläge in der Regel mit Widerstand reagieren und sein „Mitbestimmungsrecht“ einfordern (GEREIN 2004, S. 101). Es scheint so, dass im Verhältnis Akteure/Zuschauer Erwartungen geweckt werden, die den Charakter von Versprechen annehmen. Es ist auffällig, dass die Zuschauer das Spiel mit ihren Vorgaben eher zu stören scheinen als es zu unterstützen, indem sie den Spielern originelle und abwegige Vorschläge machen und sie damit noch stärker ins Risiko – oft auch ins Scheitern – treiben (vgl. die Diskussion über Publikumsvorschläge in Kapitel III 1.2.2). Sucht man nach einer Erklärung für ein solches scheinbar destruktives Verhalten, so muss man annehmen, dass das Publikum ein anderes Spielziel verfolgt als die Spieler: Mit den Vorgaben fordern sie das Können der Spieler und die Robustheit des improvisatorischen Prozesses heraus. Das Spielziel des Publikums muss aber nicht unbedingt das Misslingen der Improvisation sein, sondern der Wunsch, dass sie knapp am Scheitern ablaufen soll. Aus demselben Wunsch (oder Spielziel) freut sich das Publikum immer dann, wenn ein Spieler eine riskante Entscheidung trifft und ist enttäuscht, wenn er ‚auf Sicherheit‘ spielt. Man kann sagen, dass das Publikum das Spielziel verfolgt, sowohl die Improvisateure und die von ihnen gespielten Figuren in möglichst riskante Situationen zu bringen. Das Publikum versteht seine Rolle im Spiel als Lieferant von Hindernissen und Herausforderungen für die Spieler. Die Zuschauer als Beobachter des Spiels Als Beobachter eines Spiels empfinden sich die Zuschauer dann, wenn sie den Spielcharakter des Geschehens begreifen, jedoch selber keinen Einfluss darauf ausüben können. Dies ist während der eigentlichen Improvisationen der Fall. Da in diesen Teilen der Aufführung kein Dialog stattfindet, befindet sich das Publikum auf den ersten Blick in derselben Position wie im inszenierenden Theater. Tatsächlich besteht jedoch ein relevanter Unterschied: Während das Publikum beim inszenierenden Theater davon ausgeht, dass der Schauspieler keine oder nur wenig Wahlfreiheit besitzt, weiß es beim improvisierenden Theater, dass die Spieler fortlaufend Spielentscheidungen treffen. Die Wahrnehmung und Würdigung dieser der Spielentscheidungen ist essentiell; sie stellt das eigentliche Spannungsmoment für die Beobachter des Spiels dar. Das Publikum befindet sich damit in einer Position, die dem Zuschauer einer Sportveranstaltung ähnelt: Das Mitverfolgen der Spielent-
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scheidungen gibt dem Ereignis seinen Live-Charakter (umgekehrt wäre ein Fußballspiel kaum interessant, wenn es inszeniert wäre). Die Zuschauer verfolgen die Aktionen der Spieler in dem Wissen, dass diese auch andere Spieloptionen wählen könnten. Im Zuschauer wird damit der Möglichkeitssinn angeregt, er spielt innerlich andere Spielentscheidungen durch, simuliert alternative Spielverläufe. Vor dem Hintergrund seiner so gebildeten Erwartungen wird der Zuschauer emotional involviert, d.h. er kann sich mitfreuen, wenn ein Schauspieler eine gute Entscheidung trifft und er kann mitleiden, wenn dieser eine schlechte Entscheidung trifft. Johnstone beschreibt die starken Emotionen, die beim Publikum durch schlechte Entscheidungen geweckt werden können, an einem Beispiel: „Ich lasse die Szene noch mal anfangen: A: Ich habe den Elefanten gebracht! B: Zum Kastrieren? A: (Laut) Nein! Die Zuschauer ächzen und schreien auf vor Enttäuschung. Sie waren sehr eingenommen von den Möglichkeiten, die in einer Szene stecken, in der ein Elefant kastriert wird. Wie der Elefant vielleicht beim ersten Schnitt einschrumpft oder wie ihm versehentlich der Rüssel abgeschnitten wird oder wie ein abgetrennter Penis die Spieler über die Bühne jagt.“ (JOHNSTONE 2004, S. 164-165)
Die Zuschauer besitzen ein klares Gefühl für das Potential einer Szene und reagieren enttäuscht, wenn dieses Potential nicht ausgeschöpft wird. Die antizipierten Möglichkeiten bilden einen Erwartungsrahmen, der als Bezugspunkt dient: Die Spielentscheidungen können innerhalb oder außerhalb dieses Rahmens liegen. Johnstone betont, dass der Improvisationsspieler möglichst innerhalb des Erwartungsrahmens agieren sollte, sodass dieser bestätigt und damit verstärkt wird. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Zuschauer immer weitere Erwartungsrahmen aufbauen. Umgekehrt sorgt eine Aktion außerhalb des Erwartungsrahmens zwar kurzfristig für eine Überraschung, frustriert jedoch langfristig den Zuschauer in seiner Tätigkeit der Erwartungsbildung. Ohne die ständige Hervorbringung eines Erwartungsrahmens verliert das Beobachten von improvisierten Szenen schnell an Spannung. Als Beobachter des improvisierenden Spiels müssen die Zuschauer die Entscheidungen der Spieler innerhalb von deren Möglichkeitsraum rekonstruieren und damit einen Erwartungsrahmen generieren.
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1.5 Der Erwartungsrahmen Das Konzept des Erwartungsrahmens wurde unter Kapitel II 1.5 als ein wichtiger Beitrag Johnstones zur Orientierung der Spieler beschreiben. Es ist aber gleichzeitig ein sinnvolles Konzept zur Beschreibung der leiblichen Ko-Präsenz von Spielern und Zuschauern beim Improvisationstheater, indem es die spezifischen Erwartungen des Publikums an einem bestimmten Punkt der Aufführung erfasst und beschreibt, wie diese Einfluss auf die Aufführung gewinnen. Das Zusammenspiel von Akteuren und Zuschauern kann so verstanden werden, dass die Zuschauer einen Erwartungsrahmen kreieren und die Akteure sich an diesem orientieren. Innerhalb des Erwartungsrahmens bilden sich spezifische Erwartungen wie etwa die, dass Publikumsvorgaben eingebaut werden, dass eine Geschichte erzählt wird, dass die Figuren sich treu bleiben und so weiter. Johnstone hat dafür den Begriff des Versprechens (promise) geprägt (JOHNSTONE 1998, S. 83). Versprechen können ganz verschiedene Formen annehmen. Typisch für Games ist, dass die mitgeteilten Regeln als Versprechen wirken: Das Publikum fordert die Einhaltung der gesetzten Spielregeln ein – und es verliert das Interesse am Spiel, wenn die Spielregeln ohne Konsequenzen gebrochen werden. Insbesondere müssen die Regeln der Publikumsbeteiligung (beispielsweise über Vorschläge) ernst genommen werden. Werden sie nicht eingehalten, etwa indem der Moderator Vorschläge ignoriert, so reagiert das Publikum verärgert, die Beziehung zwischen Akteuren und Publikum leidet und Widerstände bauen sich auf. Neben den gesetzten Regeln des Spiels, kann vieles, was die Akteure tun, den Charakter von Versprechen annehmen: alle Elemente einer Geschichte beinhalten das Versprechen, dass sie Bedeutung erlangen, wiedereingeführt und verknüpft werden. Die Versprechen sind als Teil der Beziehungsbildung zwischen Zuschauern und Akteuren zu verstehen: Das Publikum lässt sich erst auf das Spiel ein, wenn diese den Beweis erbracht haben, dass sie Versprechen auch halten und damit das Spiel ernst nehmen. Findet dieser Beweis nicht statt, so steigt das Publikum innerlich aus dem Spiel aus. Äußerlich ist dies oft kaum wahrnehmbar. Vielleicht lehnen sich die Zuschauer nur ein wenig zurück und atmen tief durch. Innerlich ziehen sie sich jedoch in eine distanzierte Position zurück. Je öfter dagegen Versprechen eingelöst werden, desto stabiler wird die Beziehung zum Publikum, desto intensiver die Interaktion, desto wahrscheinlicher die Verwirklichung des Ideals der Begegnung. Der Erwartungsrahmen wird daher wesentlich gestaltet durch die Art wie die Spieler mit Versprechen umgehen. Johnstone legt großes Gewicht darauf, dass die Spieler innerhalb des Erwartungsrahmens agieren und im Idealfall genau das tun, was das Publikum als offensichtlich erwartet. Es geht also keineswegs darum, das Publikum zu überraschen, im Gegenteil: Das Publikum, so Johnstones Beobachtung, ist sehr zufrieden, wenn es
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genau das sieht, was es sich innerlich ausgemalt hat. Das Agieren innerhalb des Erwartungsrahmens dient ebenso wie das Halten von Versprechen dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zum Publikum. Es muss sich gut aufgehoben fühlen, um sich der Aufführung hingeben zu können. Die Chicagoer Schule hat kein entsprechendes Konzept hervorgebracht, allerdings führen die Regel ‚Find the game!‘ und das Ideal der Subjektlosigkeit zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Der Spieler orientiert sich dadurch an Pattern und Gamestrukturen, die wiederum die Zuschauererwartungen steuern. Sawyer (2003) hat mit dem ‚interactional frame‘ ein ganz ähnliches Konzept erarbeitet und betont, dass man darin eine aktive Konstruktionsleistung der Zuschauer sehen muss. Weiterhin weist er nach, dass der Interaktionsrahmen als emergentes Phänomen betrachtet werden sollte, d.h. er ist mehr als die Summe der Einzelerwartungen (siehe Kapitel IV 2). Erwartungsrahmen und ‚interactional frame‘ sind sehr ähnliche Konzepte und es liegt daher nahe, auch dem Erwartungsrahmen emergente Qualitäten zuzuschreiben, d.h. er entsteht ‚von selbst‘ innerhalb der Zuschauergemeinschaft. Ein weiteres verwandtes Konzept ist das der autopoietischen feedback-Schleife bei Fischer-Lichte, das in Kapitel III 6 näher untersucht wird. 1.6 Fazit: Leibliche Ko-Präsenz Die Untersuchung der leiblichen Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren bestätigt, dass diese Theaterform die Interaktion von Bühne und Zuschauerraum in den Mittelpunkt stellt, was mit den Ankündigungen als besonders interaktive Theaterform übereinstimmt. Idealerweise kommt es zwischen Zuschauern und Akteuren zu einer Begegnung, die durch Einmaligkeit gekennzeichnet ist. Sie manifestiert sich in emergierenden Regeln der Interaktion, womit jede Aufführung unterschiedliche Züge annimmt. Über die Einführung von Animationsregeln, die Ansteckung durch die Präsenz der Schauspieler, die Enthemmung des Publikums und die Beziehungsgestaltung über Versprechen und den Erwartungsrahmen findet die Begegnung idealerweise unter den Bedingungen einer gesteigerten Ko-Präsenz statt. Da das Improvisationstheater kaum inhaltliche Aussagen machen kann, muss man die transformative Wirkung dieser Theaterform genau in solchen Metaeffekten suchen. Demnach wäre die gesteigerte Präsenz der Zuschauer das eigentliche Ziel der Aufführung, oder anders formulier: Eine improvisierte Aufführung kann dann als erfolgreich gewertet, wenn eine positive Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum dazu führt, dass die Zuschauer das Theater mit einer gesteigerten Präsenz verlassen. Ein solches Qualitätskriterium für improvisierte Aufführungen ist plausibel und in Einklang mit den Aussagen von Spolin und Johnstone. Die gesteigerte Präsenz ist nicht
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zuletzt das Ergebnis von vielfachen Emergenzerlebnissen, welche die improvisierende Aufführung durchziehen und prägen. Für den Zuschauer sind innerhalb der improvisierenden Aufführung zwei Positionen vorgesehen, erstens als Mitspieler, zweitens als Beobachter des Spiels. Innerhalb der Rahmenstruktur wird er in der Regel in die Rolle eines Mitspielers gebracht und kann sich am Spiel beteiligen. Während der Einzelimprovisationen ist er dagegen eher ein Beobachter des Spiels. Das bedeutet, dass der Zuschauer während der Aufführung zwischen beiden Rollen hin- und herwechselt, wobei der Einstieg regelmäßig über die Rolle des Mitspielers innerhalb der Rahmenstruktur stattfindet. Damit wird die Erwartung (und manchmal auch die Illusion) von Partizipation erzeugt. Das Spiel wird danach im Verlauf der Aufführung immer wieder für den Zuschauer geöffnet, wobei ein Gleichgewicht angestrebt ist: Zu viel Partizipation überfordert das Publikum, zu wenig Partizipation enttäuscht die Erwartung von Selbstwirksamkeit. Der einmal gesetzte partizipative Rahmen nimmt den Charakter eines Versprechens an, das die Akteure den Zuschauern geben. Die Beziehungsgestaltung wird von der Bühne aus gesteuert, indem immer wieder Phasen des Dialogs mit dem Publikum eröffnet werden. Die Begegnung wird im Laufe der Aufführung tiefer und die Spieler versuchen, Störungen in der Beziehung zum Publikum zu vermeiden, indem sie innerhalb des Erwartungsrahmens agieren und Versprechen halten. Die Beziehung zwischen Spielern und Publikum festigt sich mit jedem gehaltenen Versprechen und lockert sich mit jedem gebrochenen Versprechen. Die Spieler trainieren, die emergierenden Versprechen wahrzunehmen und zu erfüllen. Damit gewinnt der Erwartungsrahmen eine gestalterische Funktion innerhalb der Aufführung – ein Konzept, das mit Fischer-Lichtes Annahme einer autopoietischen feedback-Schleife große Überschneidungen aufweist. Der Erwartungsrahmen ist wie diese als emergentes Phänomen zu begreifen.
2 M ATERIALITÄT Der Begriff der Materialität umfasst bei Fischer-Lichte sowohl die Körperlichkeit und die Räumlichkeit der Aufführung als auch ihre Lautlichkeit und Zeitlichkeit (FISCHER-LICHTE 2004, S. 129 ff.). Gemäß dem performativen Paradigma verwirklicht sich Materialität immer erst im Vollzug der Aufführung. 2.1 Körperlichkeit Unter dem Konzept der Verkörperung untersucht der performative Ansatz die Verwendung des Schauspielerkörpers innerhalb der Aufführung. Fischer-Lichte thematisiert insbesondere den Grad der Semiotisierung des Körpers, also die Frage,
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inwiefern er als Zeichen für etwas anderes steht oder selbstreferenziell für sich selber (FISCHER-LICHTE 2004, S. 129-160). Im literarischen Theater, so FischerLichte, abe bis Ende des 19. Jahrhunderts das Ideal einer möglichst vollständigen Semiotisierung des Schauspielerkörpers geherrscht: „Der Schauspieler sollte seinen phänomenalen sinnlichen Leib so weit in einen semiotischen Körper transformieren, daß dieser instand gesetzt würde, für die sprachlich ausgedrückten Bedeutungen des Textes als neuer Zeichenträger, als materielles Zeichen zu dienen.“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 132)
In den historischen Avantgarden sei diese Verwendung des Körpers kritisiert worden. Einerseits habe Craig die Grenzen der Semiotisierungsfähigkeit des Schauspielerkörpers aufgezeigt und konsequent den Einsatz einer Übermarionette gefordert (FISCHER_LICHTE 2004, S. 129), andererseits habe beispielsweise Meyerhold eine Körperlichkeit postuliert, die sich vollständig gegen die Semiotisierung des Körpers wandte (FISCHER-LICHTE 2004, S. 138). Stattdessen sollte der reflektorisch erregte Körper des Schauspielers unmittelbar auf den Körper des Zuschauers einwirken. Die Performance-Kunst habe teilweise an diese Diskurse angeknüpft und dabei bewusst mit der Doppelung des Körpers als gleichzeitig phänomenal und semiotisch gearbeitet (FISCHER-LICHTE 2004, S. 139). Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, welche Techniken der Verkörperung beim Improvisationstheater zur Anwendung kommen und insbesondere wie stark der Grad der Semiotisierung des Körpers ist. Am deutlichsten werden diese Aspekte im Verhältnis von Schauspieler und der von ihm gespielten Figur. Damit verbunden sind Konzepte der Körpergrenzen. Yvonne Hardt unterscheidet dazu zwei Prinzipien: Erstens körperentgrenzende Konzepte theatraler Kommunikation, die davon ausgehen, dass die Körpergrenzen nicht stabil sondern durchlässig sind und dass der Schauspielerkörper deshalb unmittelbar auf den Zuschauerkörper wirkt. Zweitens die auf eindeutige Zeichenhaftigkeit festgelegte Kommunikation, die eine semiotische Instrumentalisierung des Schauspielerkörpers zum Ziel hat (Hardt in FISCHER-LICHTE; KOLESCH & WARSTAT 2005, S. 178-180). Diese sieht ihren zentralen Wirkmechanismus in der Zeichenhaftigkeit und ist daher stärker mit dem literarischen Theater verknüpft. Damit wird die Frage aufgeworfen, welche Annahmen das Improvisationstheater in Bezug auf Körpergrenzen und damit die Wirkung von Körpern aufeinander zugrunde legt. Das Verhältnis von Schauspieler und fiktiver Figur Während beim inszenierenden Theater der Schauspieler in der Regel erst zum Schlussapplaus aus der Figur heraustritt, präsentieren sich die Spielerinnen und Spieler beim Improvisationstheater gleich zu Beginn der Aufführung ohne spezifische Rolle. Oft machen sie sich dem Publikum persönlich – mit Klarnamen –
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bekannt. Erst nach dieser ersten Begegnung schlüpfen sie in ihre jeweiligen Rollen. Die Rollenübernahme geschieht dann meist sehr schnell und oft oberflächlich. Die Figuren werden ‚übergeworfen‘ und ‚abgelegt‘ wie einfache Kostüme. Fast immer ist ein Spieler innerhalb der Aufführung in mehreren Rollen zu sehen. Um das Verhältnis Schauspieler und fiktiver Figur zu verstehen, muss man die Frage stellen, wie beim Improvisationstheater überhaupt Figuren hervorgebracht werden. Hier bestehen große Gemeinsamkeiten zwischen den Schulen, aber auch gewisse Unterschiede. So notiert Seham: „Some schools of improv give considerable attention to techniques of character construction. Others ask performers to share their own personal memories and feelings. Most performance emerges as a mix of those approaches […].” (SEHAM 2001, S. xxvii)
Beide Schulen stimmen darin überein, dass Prozesse der Einfühlung in die Figur und die Rekonstruktion ihrer Lebensumstände weder notwendig noch sinnvoll noch praktikabel sind. Die Chicagoer Schule bevorzugt, durch Brecht beeinflusst, eine gewisse Distanz zwischen Spieler und Figur. Der Schauspieler verwandelt sich nicht in die Figur, sondern bleibt also als Figurenspieler/Rollenspieler hinter der Figur sichtbar. Spolin charakterisiert das Verhältnis von Spieler und Rolle so: „Er wird in der Lage sein, seine Rolle ‚zu spielen‘. Er wird lebendig und menschlich sein, sich auf andere beziehen und mit ihnen zusammenarbeiten. Als Darsteller wird er er selbst sein und das Spiel desjenigen Charakters spielen, den er vermitteln will. Ist es nicht viel besser, sich einen Darsteller als ein menschliches Wesen vorzustellen, das im Rahmen einer Kunstform arbeitet, als an einen Schizophrenen zu denken, der um einer Theaterrolle willen seine Persönlichkeit verändert hat?“ (SPOLIN 2002, S.262- 263)
Der Spieler strebt in der Chicagoer Schule nicht danach, seine eigene Persönlichkeit zugunsten der Figur zum Verschwinden zu bringen. Er erzeugt das Zeichen Figur vielmehr nur skizzenhaft und bleibt dabei als Zeichenbenutzer erkennbar. Die entsprechende Technik basiert wiederum auf dem Point of Concentration. Ein Spieler kann eine Figur entstehen lassen, indem er sich beispielsweise auf den rechten Daumen konzentriert und in der Folge entdeckt, wie diese Fokussierung zuerst seine gesamte Körperlichkeit, danach eventuell auch die Gedankenwelt seiner Figur ‚von selbst‘ entstehen lässt.11 Er muss dazu keine Informationen über die Umstände
11 Im Rahmen der Figurenfindung verwenden Improvisateure manchmal den Begriff „Körperanker“. Gemeint ist ein Point of Concentration, der es ermöglicht, die Figur immer wieder zu finden, sie also im Gedächstnis zu ‚verankern‘. Das Wort wurde wohl ursprünglich im NLP verwendet und fand seinen Weg in die Sprache der Improvisateure.
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der Figur haben, sondern überlässt die konkrete Ausgestaltung der Figur zunächst ihrer autonomen Körperlichkeit und danach der kollaborativen szenischen Ausarbeitung mit den anderen Spielern. Die Transformation in die Figur bleibt immer unvollständig und reversibel. Eine Vertiefung der Figuren geschieht ausschließlich im Prozess des Improvisierens, indem bestimmte Facetten der Figur durch die Handlung zum Vorschein kommen. Insgesamt kann man sagen, dass der Vertiefung der Charaktere eher enge Grenzen gezogen sind und dass sie auch nicht sonderlich erwünscht ist. Das spielerische Verhältnis von Spieler und Figur in der US-amerikanischen Tradition wurde von Sills in ein treffendes Bild gebracht: „Wear your character as lightly as a straw boater and be prepared to tip it and reveal yourself.“ (zit. in SWEET 2003, S.142). Der Spieler ‚trägt‘ die Figur wie einen Strohhut und ist immer bereit, sie ‚abzunehmen‘ und in einen direkten Kontakt mit den Zuschauern zu treten. Die Figur behält dadurch immer auch Züge ihres Schöpfers, der sich mit ihr wie ein Puppenspieler auf offener Bühne präsentiert. Close sah die Figur als einen vergrößerten Teil der Persönlichkeit des Spielers: „In improvisation, your character is actually you, but with a few additional characteristics.“ (JOHNSON 2008, S. 53). Innerhalb der Chicagoer Schule muss ein Spieler daher bereit sein, sich als Mensch und als Rollenspieler zu zeigen, eine Selbstoffenbarung zu riskieren. Auch Johnstone verwendet keine Einfühlungs- und Identifikationsprozesse zur Herstellung von fiktiven Figuren. Er grenzt sich im Gegenteil von psychologischrealistischen Schauspielstilen wie dem von Stanislawski energisch ab (JOHNSTONE 2004, S. 39). Seine Figurenarbeit basiert auf dem blitzartigen, intuitiven Erfassen von Rollen, wie es im Maskentheater und in Besessenheitskulten beschrieben wird. Die Rolle springt dem Schauspieler komplett und fertig entgegen und übernimmt für die Dauer des Spiels die Kontrolle über sein Handeln. Neben der Inkorporierung der Figur durch Maskenarbeit schlägt Johnstone die Verwendung von imaginativen Körperzentren vor. Dabei beruft er sich auf Michail Chechow (JOHNSTONE 2004, S. 309). Die Konzentration auf ein bestimmtes, imaginiertes Körperzentrum dient dazu, das Körper- und Lebensgefühl einer Figur in seiner Ganzheitlichkeit heraufzubeschwören: „Man kann Folgendes versuchen: Setze ein weiches, warmes, nicht zu kleines Zentrum in deinen unteren Bauchbereich und du wirst eine Psyche erleben, die zufrieden, erdverbunden und sogar humorvoll ist. Setze ein winziges, hartes Zentrum auf die Nasenspitze, und du wirst neugierig, wißbegierig und sogar aufdringlich werden. Versetze das Zentrum in ein Auge und achte darauf, wie schnell du hinterhältig, schlau und vielleicht auch scheinheilig zu werden scheinst. [...]“ (JOHNSTONE 2004, S. 310)
Die Technik der imaginierten Körperzentren ähnelt der Technik des Point of Concentration. Die Inkorporation der fiktiven Figur geschieht nicht durch das planende
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Bewusstsein, dieses wird im Gegenteil durch eine Fokussierung der Aufmerksamkeit eingeengt, damit die Figur sich ‚von selbst‘ entwickeln kann. Obwohl Figuren beim Improvisationstheater nicht vertieft und ausgearbeitet werden, wäre es ein Fehlschluss zu glauben, diese Theaterform arbeite nicht ‚character-driven‘. Tatsächlich stellen die Figuren den unzweifelhaft wichtigsten Bestandteil der improvisierten Szenen dar. In vielen Fällen kann auf jegliche Erzählstruktur verzichtet werden, solange sich klare, meist auf Stereotype aufgebaute Figuren finden. Gary Izzo hat erwünschte Eigenschaften von fiktiven Figuren beim Improvisationstheater beschrieben: „Characters should be extraordinary (intensified and magnified), fascinating (detailed and focused), identifiable (wearing its ‚exposition on its sleeve‘), approachable (both physically and emotionally), vulnerable (bestowing ‚control upon the guest!’) and likeable (does not pass judgement on the guests.)” (Izzo zusammengefasst in CHARLES 2003, S. 241)
In der Regel sind die beim Improvisationstheater entstehenden Figuren schriller und weniger naturalistisch als im inszenierenden Theater. Damit sie dennoch nicht rein äußerlich sind, werden sie sozusagen mit der Persönlichkeit des Improvisationsspielers gefüllt und dieser Prozess geschieht öffentlich, also vor den Augen des Publikums, sodass dieses oft im Unklaren gelassen wird, ob es nun den Spieler oder die fiktive Figur vor sich hat. Das Verhältnis von Spieler und fiktiver Figur beim Improvisationstheater zeigt, dass der Schauspielerkörper nicht als semiotischer Körper gesehen wird. Der Spieler identifiziert sich nicht mit seiner Figur. Er versucht nicht, die eigene Persönlichkeit hinter der Figur zum Verschwinden zu bringen, sondern bleibt neben der Figur erkennbar als derjenige, der die Figur spielt. Der Prozess der Inkorporation wird dabei als unverfügbar angenommen: Der Schauspieler hat keine oder nur begrenzte Kontrolle über den Prozess. Dieser wird vielmehr als emergent und selbstorganisierend verstanden. Körpergrenzen Das Improvisationstheater geht tendenziell von offenen Körpergrenzen und damit von einer direkten körperlichen Wirkung zwischen den Schauspielerkörpern und den Zuschauerkörpern aus. Dies wurde bereits im vorigen Abschnitt beschrieben: Das Warm-up von Zuschauern, das Warm-up der Spieler, die Herstellung einer gesteigerten Präsenz und die Erzeugung einer möglichst deutlich wahrnehmbaren feedback-Schleife sind unter anderem körperliche Prozesse. Dies gilt auch für die Enthemmung und die Bildung von Zuschauergemeinschaften. Das Improvisationstheater befindet sich hier in der Nähe von stärker performativ geprägten Kulturen. Das Paradigma der offenen Körpergrenzen verweist auf eine entsprechende dahinterliegende Kultur. So schreibt Fischer-Lichte:
190 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „In Zeiten bzw. Kulturen, in denen das Paradigma der geschlossenen Körpergrenzen, der Isolation des eigenen Körpers vorherrscht, wird im Theater in der Regel die referentielle Funktion die performative überwiegen. Wenn dagegen das Paradigma von einer prinzipiellen Offenheit des menschlichen Körpers vorausgesetzt wird, lässt sich im Theater eine Dominanz der performativen Funktion feststellen.“ (Fischer-Lichte in FISCHER-LICHTE; KOLESCH & WARSTAT 2005, S. 181-182)
Beim Improvisationstheater ist es üblich, dass Schauspieler sich gegenseitig berühren und oft werden auch die Zuschauer im Warm-up dazu gebracht, körperlichen Kontakt miteinander aufzunehmen, indem sie sich die Hände schütteln, auf die Schulter klopfen, in die Augen schauen oder den Nacken massieren. Unter Bezugnahme auf orale Kulturen postuliert das Improvisationstheater neben dem Ideal der Subjektlosigkeit, das ja eine Verwischung der Ich-Grenzen bedeutet, auch eine Offenheit der Körpergrenzen. Entsprechend sucht es seine Wirkung nicht in der Vermittlung von Inhalten, sondern in einer Grenzen verwischenden, ganzheitlichen Begegnung zwischen Akteuren und Zuschauern. Das Primat der Leiblichkeit Auf der Bühne des modernen Improvisationstheaters ist der Schauspielerkörper schon deshalb zentral, weil er – abgesehen von mehreren Stühlen – in der Regel den einzigen Wahrnehmungsgegenstand auf der ansonsten leeren Bühne darstellt. Der Körper dient dabei nicht nur der Inkorporation von Figuren, sondern gegebenenfalls der Inkorporation von Gegenständen, Tieren, Fabelwesen oder abstrakten Objekten. Er wird also nicht nur als figurales Zeichen verwendet – wie dies im inszenierenden Theater üblich ist – sondern in einem weit umfassenderen Sinn. Es ist beispielsweise durchaus üblich, dass ein Spieler die Bühne betritt und sagt „Ich bin die Lampe!“ oder „Ich bin eine Möwe!“ oder sogar „Ich bin der schlechte Geruch im Treppenhaus!“. Natürlich kann er diese Objekte auch einfach kommentarlos inkorporieren in der Hoffnung, dass seine Mitspieler ihn verstehen. In der improvisierenden Schauspielarbeit wird ein intensives Körpertraining entsprechend hoch gewichtet. Der Körper ist dabei sowohl Instrument des Ausdrucks als auch der Wahrnehmung. Trainiert wird seine Responsivität, d.h. seine Fähigkeit, eine unmittelbare, körperliche, assoziative Antwort auf einen Reiz oder eine Situation zu geben. Erst wenn der Körper die entsprechenden Regeln automatisch umsetzt, also nicht mehr kognitiv vom Spieler gesteuert werden muss, gewinnt der Spieler die Freiheit der Aufmerksamkeit, die er für das Improvisieren benötigt. Im Improvisationstheater der Moderne war Moreno der Erste, der auf die hohe Bedeutung der Leiblichkeit beim Improvisationsspieler hingewiesen hat, indem er neben der Geistesgegenwart eine „Körpergegenwart“ (MORENO 1970, S. 56) forderte (siehe Kapitel II 1.2). Bei Spolin ist der Prozess der Verkörperung (incorpora-
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tion) eines der zentralsten Konzepte, die körperliche Erfahrung ist primär und steht daher am Anfang der Arbeit mit Schülern: „Unsere erste Aufgabe bei der Arbeit mit Schülern besteht darin, sie zur Freiheit des körperlichen Ausdrucks zu ermutigen, denn die körperliche und sinnliche Beziehung zur künstlerischen Form öffnet die Tür zur Einsicht. […] Dieser Vorgang hält den Schauspieler in einer sich entfaltenden Welt der direkten Wahrnehmung fest [...].“ (SPOLIN 2002, S. 30)
Der Körper wird bei Spolin als Quelle von kreativer Intelligenz (COLEMAN 1991, S. 291) und als Instrument für ganzheitliche Erfahrung betrachtet: „Der Darsteller muss wissen, dass er ein einheitlicher Organismus ist, dass sein gesamter Körper – von Kopf bis Fuß – als Gesamtheit im täglichen Leben reagiert. […] Sein ganzer Körper muss ein Vehikel des Ausdrucks sein und sich zu einem feinfühligen Instrument der Wahrnehmung, der Kontaktaufnahme und der Kommunikation entwickeln. Der Satz ‚Sieh es mit Deinem Ellbogen!‘ soll dem Schüler z.B. dabei helfen, sein zerebrales Konzept von Fühlen zu transzendieren und das Gefühl dahin zu verlagern, wohin es gehört – nämlich in seinen Gesamtorganismus. Er muss mit seinem Bauch schreien und mit seinen Augen verdauen.“ (SPOLIN 2002, S. 153)
Wo immer möglich versucht Spolin ein rein kognitives Erlebnis zu verhindern, um den Organismus des Schauspielers ganzheitlich agieren zu lassen. Ihr Konzept der Verkörperung ist eng verknüpft mit der Technik des Point of Concentration. Scheinbar paradox wird hier durch Konzentration auf ein winziges Detail eine ganzheitliche Erfahrung ermöglicht. Der Prozess der Inkorporation wird durch diese Technik nur angestoßen und im Weiteren dem Körper selbst überlassen, der sich über den Point of Concentration neu organisiert. Auch hier hat man es also wieder mit Techniken der Selbstorganisation zu tun, der Körper wird mithin als selbstorganisierendes System verstanden. In der britisch-kanadischen Improvisationstheaterschule wird ebenfalls eine autonome Körperlichkeit angenommen, die jenseits der Zeichenverwendung präsent ist. Vor allem ist Johnstones Konzept des Status ein körperliches Konzept. Es ist die Übertragung eines verhaltensbiologischen Konzeptes auf den Menschen und fokussiert daher auf den biologischen Körper des Menschen als sozialem Tier. Durch das Statuskonzept werden die körpersprachlichen Äußerungen der Spieler verknüpft zu einem fortlaufenden Strom von gegenseitigen Antworten. Gleichzeitig definiert das Konzept die Beziehung des Körpers zum Raum. Das Statuskonzept Johnstones postuliert einen permanenten körperlichen Dialog mit der Umwelt, bei dem der jeweilige Status ausgehandelt wird. Johnstone stellt fest, dass Statusverhalten in allen Alltagssituationen auftritt –auf der Bühne aber von den Schauspielern unterdrückt wird:
192 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „Wenn sie [die Schauspieler] nicht spielten, richteten sich die Körper der Schauspieler fortwährend aneinander aus. Veränderte einer seine Haltung, änderten auch alle anderen ihre Haltung. Zwischen ihnen schien etwas zu fließen. Wenn sie spielten, ging jeder Schauspieler scheinbar zwar auf die anderen ein, doch seine Bewegungen bezogen sich nur auf ihn selbst. Sie ‚kapselten sich ein‘.“ (JOHNSTONE 2004, S. 96)
Das Training zielt daher konsequent darauf ab, die Blockierung von Statushandlungen unter Aufführungsbedingungen abzubauen. Ein animalischer Körper wird hier beschworen, der dem Bühnengeschehen einen fortlaufenden Subtext verleiht. Sowohl bei Johnstone als auch bei Spolin und ihren Nachfolgern besteht das spezifische Konzept des Embodiment des Improvisationstheaters darin, eine Art Katalysator zu schaffen, von dem aus eine körperliche Aktion möglich wird, die wiederum zur Entfaltung einer Figur oder Handlung führt. Der durch den Katalysator ausgelöste Prozess verselbständigt sich und führt immer wieder zu neuen Figuren oder Handlungen. Es handelt sich also nicht um Zeichensysteme oder feste Figurenvorlagen, sondern um Prozesse, denen eine prinzipielle Unvorhersagbarkeit eigen ist: Derselbe Point of Concentration liefert zu einem anderen Zeitpunkt eine völlig neue Figur. Der Körper und seine Handlungen werden im Improvisationstheater als primär gesehen, das Bewusstsein als sekundär. Viele Übungen des Improvisationstheaters sind dazu angelegt, den Körper zunächst in Aktion zu bringen und dabei auch ungewöhnliche Bewegungen und Haltungen zu provozieren. Die körperliche Handlung soll – ganz entgegen dem Alltagsverständnis – ihrer gedanklichen Begründung vorausgehen: Der Spieler soll nicht inkorporieren, was er zuvor geplant hat, sondern erst den Körper einsetzen und danach den Kontext der körperlichen Aktion konstruieren. Die grundlegende Vorstellung ist hierbei, dass körperliche Aktion eine gedankliche Rechtfertigung ‚von selbst‘ nach sich zieht. Als Beispiel für viele Übungen sei hier das Übungsspiel Freeze-Tag (KlatschenEinfrieren oder Abklatschen) beschrieben. Freeze-Tag ist vermutlich das am weitesten verbreitete Game überhaupt und im Hinblick auf die Körperlichkeit der Übenden besonders vielsagend. Dabei werden zwei Spieler während einer Szene an einer beliebigen Stelle durch Händeklatschen ‚eingefroren‘, d.h. die Übenden müssen die gerade eingenommene Körperstellung exakt beibehalten. Ein weiterer Spieler betritt nun die Szene und tippt einen der beiden eingefrorenen Spieler an. Dieser verlässt die Bühne und der Übende nimmt sofort dessen Körperhaltung ein. Dann lässt er sich durch diese Körperhaltung zu einer komplett neuen Szene inspirieren, die dann wieder durch Klatschen eingefroren wird und so weiter. Die Übenden werden aufgefordert, vor der Einnahme der Körperhaltung keine gedankliche Begründung zu suchen. Sie sollen keine Idee im Kopf haben bevor sie in der konkreten Haltung sind. Diese Instruktion ist erstaunlich schwer umzusetzen, weil sie einer gewohnheitsmäßigen Handlungsplanung entgegenläuft. Das Training der Improvisations-
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schauspieler widmet daher viel Zeit und Aufmerksamkeit dem Ziel, diese Gewohnheit aufzulösen und durch eine neue Grundannahme zu ersetzen, die man als Primat der Leiblichkeit bezeichnen kann. Insgesamt findet sich beim Improvisationstheater eine hohe Wertschätzung des Körpers als eigenständiges, spontan-kreatives Agens, sodass hier die These vertreten werden kann, dass das Primat der Leiblichkeit zu den konstitutiven Merkmalen des Improvisationstheaters gezählt werden kann. Insbesondere die Unmittelbarkeit der körperlichen Reaktion wird im Improvisationstheater sehr geschätzt: „Body speaks first“12 – der Körper reagiert zuerst, das Denken folgt später und ist nachrangig. Konkret bedeutet diese Annahme, dass das Bewusstsein den Handlungen folgt und versucht, sie in einen logisch konsistenten, mit dem Ich übereinstimmenden Begründungsrahmen zu stellen. Pointiert gesagt tut das Ich dieser Auffassung nach nicht das, was es will – sondern es will, was es tut.13 Das Ich dient dieser Auffassung nach weniger dem Entwerfen von Handlungen, sondern eher dem Integrieren der Handlungserfahrung in ein stimmiges Selbstbild. Es funktioniert als „Rechtfertigungsmaschine“ (LÖSEL 2004, S.56). An dieser Stelle zeigt sich etwas von der impliziten Philosophie des Improvisationstheaters, seinen Annahmen über die Zusammenhänge von Leib und Seele: Der Leib wird als eine weitgehend autonome, sogar als intelligente, jedenfalls aber kreative Entität vorgestellt, die in der Lage ist, schöpferische Leistungen zu vollbringen, zu denen der Geist alleine nicht fähig wäre. Man stößt beim Improvisationstheater auf ein idealisierendes Körperkonzept: Der Körper wird als eine authentische Instanz jenseits von kulturellen Prägungen und Deformationen gesehen. An dieser Stelle sind die Körperkonzepte des Improvisationstheaters noch stark geprägt von den idealisierenden Diskursen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die den befreiten Körper als Gegenkonzept zur Disziplinierung und Entfremdung des modernen Menschen in Stellung brachten. Spätere konstruktivistische Körperkonzepte, die den Körper stärker als soziales Konstrukt, als Einschreibungsfläche, als Inkorporierung des Sozialen verstehen (Michel Foucault, Judith Butler) und dem Körper daher skeptischer gegenüberstehen, wurden vom Improvisationstheater nicht mehr rezipiert und umgesetzt.
12 „Body speaks first“ ist der Titel eines bekannten Workshops des Improvisationsspielers Gregor Moder (2010). 13 Dieses Menschenbild sieht sich durch neuere psychologisch-neurologische Forschungen unterstützt, welche die Reihenfolge von Absicht und Handlung ebenfalls infrage stellen und umkehren.
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2.2 Räumlichkeit Fischer-Lichte führt aus, dass jeder Aufführungsraum neben seiner geometrischarchitektonischen Räumlichkeit auch eine damit verbundene performative Räumlichkeit erzeugt, die erst durch den Vollzug der Aufführung aktualisiert wird und daher mit dem architektonischen Raum nicht identisch ist (FISCHER-LICHTE 2004, S. 187). Der performative Aspekt der Räumlichkeit trete besonders bei solchen Theaterformen in den Vordergrund, die außerhalb der speziell konzipierten Theatergebäude agieren (FISCHER-LICHTE 2004, S. 190-192). Dies trifft auch auf das Improvisationstheater zu, das sehr selten auf ‚richtigen‘ Theaterbühnen zur Aufführung kommt. Fischer-Lichte beschreibt drei Verfahren, solche Räume performativ zu nutzen: „1) Verwendung eines (fast) leeren Raumes bzw. eines Raumes mit variablem Arrangement, der beliebige Bewegungen von Akteuren und Zuschauern zulässt; 2) Schaffung spezifischer räumlicher Arrangements, welche bisher unbekannte oder nicht genutzte Möglichkeiten zur Aushandlung der Beziehungen zwischen Akteuren und Zuschauern, von Bewegung und Wahrnehmung eröffnen, und 3) Verwendung vorgegebener und sonst anderweitig genutzter Räume, deren spezifische Möglichkeiten erforscht und erprobt werden.“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 192)
Beim Improvisationstheater finden alle drei der genannten Verfahren Verwendung. Zunächst werden die konkreten räumlichen Bedürfnisse des Improvisationstheaters untersucht. Dabei wird auf einen alten architektonischen Entwurf zurückgegriffen, Morenos Konzept einer Stegreifbühne von 1924, das zwar nicht verwirklicht wurde, aber gleichwohl für die Theorie interessant ist, weil es die Forderungen der Partizipation der Zuschauer beim Improvisationstheater räumlich umsetzt. Anschließend wird argumentiert, dass sich im modernen Improvisationstheater – im Unterschied zur Commedia dell’ arte ein Ideal der leeren Bühne herausgebildet habe, Neben diesem Ideal fällt vor allem die räumliche Anspruchslosigkeit dieser Theaterform auf. Danach wird der performative Raum des Improvisationstheater untersucht, wobei die Frage nach der ‚vierten Wand‘ und nach dem Einsatz von Zwischenfiguren auftaucht. Als Zwischenfiguren werden hier Figuren bezeichnet, die sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum agieren, zwischen beiden vermitteln und damit Teil eines performativen Zwischenraumes werden: Moderator, Musiker und Lichtregisseur.
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Morenos Theater ohne Zuschauer: Die Stegreifbühne Morenos Entwurf einer „Architektur des Stegreiftheaters“ (1970, S.107) blieb der erste und letzte konkrete Versuch, die räumlichen Voraussetzungen des Improvisationstheaters von denen des inszenierenden Theaters abzugrenzen und somit eigene Bedürfnisse dieser Theaterform an die Gestaltung des Raumes zu formulieren. Morenos Vorstellungen waren beeinflusst von den Bühnenkonzepten der historischen Avantgarde.14 In Morenos Entwurf sollte es keine Zuschauer geben, da die Rollentrennung von Autor/Schauspieler/Zuschauer grundsätzlich aufgehoben werden sollte. Alle Anwesenden sollten Mitgestaltende sein, deren Ideen in die Aufführung einfließen. Moreno wollte die räumliche Trennung von Zuschauern und Akteuren zum Verschwinden bringen, um eine wirkliche Begegnung zwischen ihnen zu ermöglichen. Leider hat Moreno den Einsatz einer solchen Bühne nicht konkret beschrieben, sodass eine Rekonstruktion der darauf intendierten Abläufe mit Unsicherheiten behaftet ist. Sein Ausgangspunkt, soviel ist sicher, war der Erzählkreis, den er als das Urbild des Theaters ansah: „Der Erzähler beginnt. Rasch ordnen sich Kinder um ihn: Er ist in der Mitte.“ (MORENO 1970, S. 15). Diese Vorstellung ist in der Grundstruktur noch erkennbar, jedoch hat Moreno das Modell um 12 Nebenbühnen erweitert, die wiederum kreisförmig um die Hauptbühne angeordnet waren und die wohl alle parallel bespielt werden sollten:
14 Dies ging so weit, dass Moreno den Entwurf der Raumbühne von Friedrich Kiesler, den dieser 1924 auf der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik präsentierte, als Plagiat seiner Stegreifbühne bezeichnete. Moreno beschwor mit seinem Plagiatsvorwurf einen Rechtsstreit herauf, der die Wiener Öffentlichkeit damals nicht wenig beschäftigte und belustigte. Mehr zu dieser Auseinandersetzung und deren theaterwissenschaftlicher Bedeutung siehe ROSELT 2008, S. 81-91.
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Abb. 8: „Architektur des Stegreiftheaters“ von Moreno
(Quelle: MORENO 1970, S. 107)
Die vielfältigen Interaktionsprozesse wären in einer solchen Bühne nicht mehr zentral organisiert, sondern parallelisiert. Auf diese Weise wären die Zuschauermengen nirgends zu groß und unpersönlich. Offenbar machte Moreno sich Gedanken darüber, wie trotz der kleinen Erzählkreise ein großes Theater bespielt werden konnte. Stufenweise ansteigend würden die Inhalte der Nebenbühnen von den Improvisateuren auf die nächsthöhere Ebene transportiert und dort wiederum in ein Stegreifspiel eingebunden. Dadurch würden Themen und Dynamiken in einem quasi-evolutionären Prozess langsam ins Zentrum, auf der Hauptbühne wandern. Das dort stattfindende Spiel wäre damit repräsentativ. Morenos Theatermodell erinnert an eine gut moderierte Großgruppenveranstaltung, bei der zunächst in Kleingruppen gearbeitet wird, um die Ergebnisse durch Gruppensprecher auf zentrale Plenen und
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Foren zu tragen. Sein monumentaler Entwurf macht deutlich, wie sehr die Forderungen der Avantgarden nach demokratischen, partizipativen Strukturen auf diese Vision eines Improvisationstheaters eingewirkt haben. Es zeigt sich ein räumlicher Konflikt, der auf grundsätzliche Visionen des Theaters in der Gesellschaft zurückgeht: Zum Zeitpunkt der Entstehung des Entwurfs war noch unklar, ob sich das Theater zu einem Massenmedium entwickeln würde – wie etwa in den Massenspektakeln Max Reinhardts –, oder ob es sich vielmehr in kleineren Veranstaltungen verwirklichen würde – etwa in den Organisationsformen der Kabaretts, der Kammerspiele oder der Theatervereine, die ab der Jahrhundertwende verschiedene kleinere Varianten durchspielten, die dem bürgerlichen Salon nachempfunden waren (MARX 2006, S. 55). Durch die Nebenbühnen wurden bei Moreno viele kleine Zirkel gebildet, die das Geschehen auf der Hauptbühne in einem Bottom-up-Prozess beeinflussten und die vermutlich umgekehrt in einer Top-down-Kausalität von diesem beeinflusst werden sollten. Während die genauen Mechanismen dieser Beeinflussung im Dunkeln bleiben, findet sich hier doch ein grundlegendes Modell des Zusammenfließens von privater und öffentlicher Sphäre: Moreno versuchte, kleinzellige Formen von Privatheit/Öffentlichkeit herzustellen, die sich auf den nächsthöheren Ebenen zu einer größeren Öffentlichkeit verbinden würden. Es handelt sich also um einen Versuch, Privatheit und Öffentlichkeit, die zu Beginn der Moderne in Konflikt miteinander gerieten, im Theater zu versöhnen. Eine solche Bühne ist nie verwirklicht worden. Auch Moreno selber hat später im Beacon Theater of Psychodrama nur eine sehr kleine Bühne verwirklicht und nur kleine private Öffentlichkeiten hergestellt. Das Ideal der Begegnung lässt sich möglicherweise nur in solch kleinem Rahmen umsetzen. Die Hauptströmungen des heutigen Improvisationstheaters lassen die ursprünglichen Ideale der Partizipation nur noch selten erkennen. Eine Ausnahme ist beispielsweise das Theater Improvision aus Erfurt. Dort wird eine Form der Partizipation gepflegt, die an Moreno erinnert: Die Spielenden unterbrechen das Spiel an bestimmten Stellen und begeben sich ins Publikum, wo sie Diskussionskreise bilden, um dann mit entsprechenden Publikumsvorschlägen wieder auf die zentrale Bühne zurückzukehren (DÖRGER & NICKEL 2008, S. 67-129). Hierin kann man eine Fortsetzung von Morenos Konzept der Stegreifbühne sehen. Die räumliche Anspruchslosigkeit des Improvisationstheaters Eine Übersicht der auffindbaren räumlichen Arrangements beim Improvisationstheater findet sich bei Charles (CHARLES 2003). Determinierend für die Praxis des Improvisationstheaters dürften demnach die vielfältigen Kleinkunstbühnen und Veranstaltungsräume sein, die vorgefunden werden und die meist aus Umbauten
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hervorgegangen sind, also nicht als Theaterräume entworfen wurden.15 Es gibt praktisch keine Theaterräume, die speziell auf die Bedürfnisse dieser Theaterform zugeschnitten wären.16 In der US-amerikanischen Improvisationstradition spielen Bars und kleine Comedytheater eine zentrale Rolle. Johnstone hat die amerikanische Improvisationstradition deshalb etwas zynisch als „bar-pro“ bezeichnet (Johnstone zit. in CHARLES 2003, S. 49). Die aktuelle Spielpraxis ist geprägt von einem weitgehenden Pragmatismus: Es werden alle Orte bespielt, die als Bühne überhaupt in Frage kommen – Straßenecken, Bars, Probebühnen, Kleinkunstbühnen, Guckkastenbühnen, Seminarräume, kleine und – in seltenen Fällen – auch große Theaterbühnen. Kleinkunstbühnen von wenigen Quadratmetern werden ebenso genutzt wie große Theaterräume und Amphitheater mit bis zu 1500 Zuschauern. Aus der Praxis heraus lassen sich dennoch einige Ansprüche an Bühnen und Theaterräume formulieren: 1. Kreisförmige Kommunikation Durch die Interaktionsformen sind der Größe des Publikums Grenzen gesetzt. Werden etwa Rosen und Schwämme geworfen, so darf der Zuschauerraum die Wurfmöglichkeiten nicht übersteigen, also 7-8 Meter. Wird die Interaktion mit dem Publikum akustisch hergestellt (was die Regel ist), haben es Zuschauer aus über 10 Meter Entfernung schwer zur Bühne vorzudringen. Solche Mechanismen begrenzen die Zuschauergröße meist auf unter 300, wobei natürlich Ausnahmen vorkommen. Selbst wenn die Präsenz der Spieler für größere Räume ausreicht: die Interaktion des Publikums ist ab einer gewissen Größe nicht mehr gegeben, die Kommunikation daher nicht mehr kreisförmig. Die Spielerinnen und Spieler können dann die hinten Sitzenden nicht mehr verstehen und nicht mehr mit ihnen interagieren; die leibliche Ko-Präsenz ist nicht mehr in vollem Maße gegeben. 2. Direkter Kontakt Bevorzugt werden Bühnen, die einen direkten Kontakt mit dem Publikum ermöglichen. Bereits bei der Commedia dell’ arte war die Bühne an drei Seiten von Zuschauerplätzen umgeben. Dies gilt sowohl für die Wanderbühnen als auch für die
15 Charles (2003) schlägt für die Theaterräume des Improvisationstheaters Richard Schechners Begriff der „found spaces“ (CHARLES 2003, S. 30) vor. Damit wird jedoch eine konzeptionelle Konsequenz unterstellt, die beim Improvisationstheater nicht vorhanden ist. 16 Feste Spielstätten für Improvisation sind rar. In Deutschland existieren nur zwei Bühnen, die ausschließlich dieser Theaterform gewidmet sind: Das Ratibor-Theater in Berlin und das Improtheater Bremen. Alle anderen Gruppen teilen sich die Bühne mit anderen Formen darstellender Kunst.
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festen Bühnen. Die Bühne des Loose-Moose in Calgary, eine der wenigen speziell für die Improvisation ausgelegten Bühnen, reiht sich bruchlos in diese Tradition ein: „Die Zuschauersitze steigen steil auf drei Seiten der Bühne an – ideal für den Theatersport, wo die Zuschauer ständig direkt angesprochen werden.“ (JOHNSTONE 1998, S. 28). In der Regel wird eine Bewegung zwischen Bühne und Zuschauerraum durch eine kleine Treppe ermöglicht: Moderator und Spieler können über sie den Zuschauerraum betreten, Freiwillige können über die Treppe auf die Bühne kommen. Hohe Bühnen stellen ein Problem dar, weil sie die Spieler vom Publikum trennen und die Schauspieler erhöhen, was für eine kooperative Beziehung zum Publikum ungünstig ist. Das körperliche Hin und Her zwischen Zuschauerraum und Bühne betont die Offenheit beider Bereiche für einen Austausch. Eine Auflösung von Zuschauerrolle und Schauspielerrolle wie sie noch von Moreno radikal angedacht war, findet allerdings nur noch in sehr seltenen Ausnahmen statt. In der Regel bleiben die Schauspieler auf der Bühne, die Zuschauer im Zuschauerraum. 3. Betonung der Körperlichkeit Ein wichtiges Kriterium für die Eignung einer Bühne für Improvisationstheater ist weiterhin, dass die gesamten Körper der Schauspieler sichtbar sind. Als ideal gelten Bühnen, auf denen die Schauspieler auch in liegender Position gesehen werden. So schreibt Johnstone über das Loose-Moose Theater: „Das Gebäude wurde für Viehauktionen geplant, wo die Käufer die Beine der Tiere sehen mussten. Wir können uns also auf der Bühne lang ausstrecken und immer noch gesehen werden.“ (JOHNSTONE 1998, S. 28). Die Betonung der Körperlichkeit der Schauspieler kann somit als eine weitere wichtige Anforderung einer Improvisationsbühne betrachtet werden. 4. Kein ‚Off‘-Bereich Eine Besonderheit des Improvisationstheaters ist, dass das ‚Off‘ – also der nicht einsehbare Bühnenraum – meistens nicht genutzt wird oder gar nicht existiert. Die Spieler befinden sich die ganze Zeit auf der offenen Bühne. Ein Rückzugsraum der Schauspieler, wo diese für das Publikum unsichtbar sein können, wird nicht gebraucht, weil die Transformation des Schauspielers in die Figur auf offener Bühne geschieht. 5. Differenz zum ‚normalen‘ Theater Die Räume des Improvisationstheaters werden in der Regel so gestaltet, dass eine Distanz zum ‚normalen‘ Theaterbesuch hergestellt wird. Die Zuschauer sollen nicht in den Erwartungsrahmen von Kunst oder Kultur versetzt werden. Oft dürfen sie deshalb Popcorn essen, rauchen oder trinken.
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Diese Anforderungen werden aus der Praxis abgeleitet, denn theoretische Konzepte fehlen weitgehend. Es finden sich kaum Überlegungen, wie eine ideale Improvisationsbühne auszusehen hätte oder warum es sinnvoll wäre, bestimmte Orte zu Bühnen zu machen. Möglicherwiese ist gerade das Fehlen solcher Überlegungen charakteristisch für die Nutzung des Raumes beim Improvisationstheater. Die Frage ‚Wer kontrolliert den Raum?‘ wird demnach beim Improvisationstheater auf ganz eigene Art beantwortet. Das Spezifische der Räumlichkeit des Improvisationstheaters wäre am Ehesten im Verzicht auf Kontrolle des Raumes zu sehen. Das improvisierende Theater strebt nicht nach Kontrolle der Umwelt und damit auch nicht der theatralen Räume. Als Folge davon wird auch die Kontrolle über die feedback-Schleife, die Spieler und Zuschauer verbindet, weitgehend aufgegeben. Das Improvisationstheater geht an dieser Stelle über die Experimente der historischen Avantgarden hinaus, die zwar auf Variation der feedback-Schleife angelegt waren, die Kontrolle darüber jedoch behielten: „Sie [die Theaterreformer, G.L.] erforschten die Möglichkeiten, die sich in unterschiedlichen Räumen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern, auf Bewegung und Wahrnehmung boten, und suchten diese durch eine spezifische (Um-) Gestaltung im Sinne ihrer jeweiligen Vorstellungen und Zielsetzungen zu verstärken, so dass im Zuschauer möglichst ganz bestimmte Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen hervorgerufen wurden. Die Regisseure der Avantgarde trachteten, wie bereits verschiedentlich angemerkt, danach, die Kontrolle über die autopoietische feedback-Schleife zu behalten.“ (FISCHER- LICHTE 2004, S. 191)
In diesem Sinne reflektieren Hazel Smith und Roger Dean (1997) die Ansprüche an einen Improvisationstheaterraum. Dieser müsste vor allem extrem flexibel sein und ganz unterschiedliche Arten von Interaktion mit dem Publikum zulassen. Er müsste gleichzeitig Kontrolle und Dekontrolle der theatralen Situation ermöglichen: „[F]lexibility, mutability, multiplicity and continuity; and all features should be open to control by the improvisers themselves. They should also be arranged such that there is no necessary division of function between audience and performer, so that performers can choose the degree of control they permit the audience.“ (SMITH & DEAN 1997, S. 261)
Der entscheidende Punkt einer solchen Konzeption wäre die Frage, wie es möglich ist, das Verhalten des Publikums kontrolliert zu dekontrollieren. Hier, wie an anderen Punkten des Improvisationstheaters, wird ein Paradox berührt, das nur durch die Annahme von selbstorganisierenden Prozessen gelöst werden kann: Der Verzicht auf Kontrolle führt demnach eben nicht zu Chaos und Auflösung, sondern zu neu emergierenden Ordnungsbildungen, die, obwohl unvorhersagbar, die Aufführung
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nicht zerstören sondern neu organisieren. Ob ein solcher Ort architektonisch überhaupt zu realisieren wäre, bleibt offen. Die Anspruchslosigkeit des Improvisationstheaters bezüglich der Bühnensituation ist zwar auch äußeren Faktoren zuzuschreiben, gleichzeitig kann man aber davon ausgehen, dass das Improvisationstheater auch inhaltlich kein großes Interesse an der Gestaltung solcher Räume hat. Es überlässt die entstehende Situation vielmehr der emergenten feedback-Schleife. Sie wird beim Improvisationstheater nicht als unberechenbare Gewalt gesehen, die es durch räumliche Strukturen zu bändigen gilt, sondern als Freund und Kooperationspartner der Spieler. Sie bringt die erwünschten selbstorganisierenden Effekte gerade dann hervor, wenn sie nicht kontrolliert wird. Das Ideal der leeren Bühne Fast überall hat sich im Improvisationstheater das Prinzip der bare stage, der leeren Bühne, durchgesetzt, d.h. die Bühne ist leer bis auf einige Stühle und die Schauspieler.17 Der Raum wird selten umdekoriert und wenn, dann geschieht dies mit dem Ziel, eine stärkere Neutralität der Bühne herzustellen – beispielsweise durch einen schwarzen Hintergrundvorhang. Das Bemühen um die Neutralität der Bühne, um einen leeren Raum, um eine ‚nackte‘ Bühne, bringt einerseits eine gewisse minimalistische Ästhetik hervor, erhebt andererseits einen konkreten Anspruch im Verhältnis von Darstellung und Zuschauer: Die Zuschauer müssen die jeweiligen Orte und Bühnenbilder aktiv imaginieren. Manchmal werden sie dazu von den Schauspielern explizit angestiftet, indem etwa ein Spieler sagt: „Hier steht ein Baum!“, meist werden die Räume jedoch pantomimisch angedeutet, beispielsweise indem ein ‚Schreibtisch‘ berührt oder gegen eine imaginäre Tür geklopft wird. Das Improvisationstheater setzt eine aktive Konstruktion von Bühnenrealität beim Zuschauer voraus und hat entsprechende Techniken zur Teilhabe der Zuschauer an diesem Konstruktionsprozess entwickelt. Der aktive Wahrnehmungsprozess des Zuschauers, seine Fähigkeit zur Mit-Kreation wird durch die leere Bühne des Improvisationstheaters eingefordert. Er ist damit an der performativen Herstellung von Räumen auf der Bühne beteiligt. Die leere Bühne taucht erst im modernen Improvisationstheater auf. Die Commedia dell’ arte hatte mit Masken, Kostümen, Bühnenbildern und komplexer Bühnentechnik einen ganz anderen Weg beschritten und kommt als Vorbild nicht in
17 Wo vom Prinzip der „bare stage“ abgewichen wird, findet sich meist ein Bühnenbild, das an die Metapher vom Sport angelehnt ist: Bei franko-kanadischen Theatermatches eine rundum laufende Bande, bei Theatersportaufführungen manchmal ein Boxring. Die Bühne der Theatersport-Weltmeisterschaft 2006 in Berlin war mit einem Kunstrasen und Stadionlichtern versehen, um die Analogie zum Fußball deutlich zu machen.
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Frage. Morenos Stegreiftheater in Wien 1921-23 dürfte der erste Versuch gewesen sein, das Improvisationstheater von allen überflüssigen Elementen zu befreien und die Urform des Theaters, den intimen Erzählkreis wieder herzustellen (MORENO 1970, S. 15). Ob die amerikanische Linie der Improvisation diese frühen Experimente zur Kenntnis genommen hat, ist unklar, aber die Nüchternheit und Schlichtheit wurde gerade hier zum wichtigen Erkennungsmerkmal. Charles vermutet die Ursprünge der bare stage in den Anfängen der Chicagoer Improvisation (CHARLES 2003, S. 49): Die Compass-Players errichteten ihr erstes Theater in einem ehemaligen Restaurant und orientierten sich am Brechtschen Ideal eines ‚Rauchertheaters‘. Entsprechend dieser Orientierung saßen die Zuschauer an Tischen und konnten während der Vorstellung trinken und rauchen; sie wurden durch den Ort absichtlich in eine entspannte, wenig feierliche Stimmung gebracht. Die Bühne war leer bis auf einige Stühle.18 Die leere Improvisationsbühne spiegelt vermutlich auch die Entstehung des Improvisationstheaters außerhalb des regulären Theaterbetriebs in der Theaterpädagogik, wo in leeren Unterrichtsräumen gearbeitet wurde. Insgesamt beschwört sie die Nüchternheit der Laborsituation und steht unter dem ästhetischen Einfluss der Experimentalbühne, deren Setting von allen überflüssigen Variablen befreit wurde. In der Chicagoer Improvisationstradition wurde das Konzept der Transformation des Raumes ein zentrales Konzept. Es geht letztendlich zurück auf Spolins starker Betonung des Wo? einer Szene, das sie wesentlich stärker gewichtet hat als das Wer? und Was?.19 Charles geht sogar so weit, von einer „Doktrin“ in der ChicagoSchule zu sprechen: „The American (Chicago) school of improvisation is based largely on a doctrine of performance as space transformation.“ (CHARLES 2003, S. 54). Der Raum wird als ein Material verstanden, das durch Imagination geformt wird und danach auf das Spiel zurückwirkt: „Implicit in all Spolin games had always been Viola’s [...] idea that space could be used as a substance as creatively as clay.“ (COLEMAN 1991, S. 291). Der Raum ist demnach nicht nur eine passive
18 Beim Nachfolger der Compass Players, der bis heute bestehenden Gruppe The Second City, wurde bereits wieder mit einfachen Kostümen und Bühnenbild gearbeitet. Das Prinzip der bare stage dürfte sich eher bei den St. Louis Compass Players erhalten haben, die in Varieté- Clubs auftraten und sich sehr viel stärker der Improvisation verpflichtet fühlten als The Second City (JOHNSON 2008, S. 44 ff). Die St. Louis Compass Players waren in vielerlei Hinsicht stilbildend, unter anderem auch durch die Bevorzugung der bare stage. 19 In „Improvisationtechniken“ widmet Spolin dem „Wo?“ ein ganzes Kapitel. Sie stellt das „Wo?“ nicht nur in den Mittelpunkt, sondern auch zeitlich voran, sodass ihr Ansatz eigentlich mit „Wo? Wer? Was?“ charakterisiert werden sollte, nicht mit „Wer? Wo? Was?“ wie dies meist geschieht.
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Umgebung, sondern liefert vielfache Spielanlässe, ja er wird wie ein zusätzlicher Mitspieler verstanden, der Angebote macht und interagiert (Witte in LÖSEL 2006). Wie Charles ausführt begünstigt die leere Bühne alle Arten von Transformationen von Orten und Objekten (CHARLES 2003, S. 52, ff). Da sie nur pantomimisch dargestellt und in der Imagination der Zuschauer erzeugt werden, können sie ohne jeden Aufwand transformiert und verändert werden. Der schnelle Ortswechsel und die Umdeutung von Objekten gehören zu den spezifischen Stilmitteln des Improvisationstheaters; die leere Bühne steht daher auch im Dienst der Mobilität der Zeichen: Alles kann sich in Alles verwandeln. Auch phantastische Konstellationen werden möglich – Objekte können sprechen, Götter können erscheinen, abstrakte Begriffe können inkorporiert werden. All dies findet ohne Zeitaufwand statt, was eine Beschleunigung der theatralen Abläufe mit sich bringt. Bühnenkleidung und Requisiten Was für die Bühne gilt, trifft ebenso auf die Bühnenkleidung der Spielenden zu. Es hat sich die Praxis herausgebildet, eine weitgehend neutrale Bühnenkleidung zu wählen, um die Prozesse der Transformation, also das Inkorporieren von Figuren oder Gegenständen, zu erleichtern. Das Publikum muss aufgrund weniger Schlüsselreize eine Figur im Schauspieler sehen – eine aussagestarke Kleidung würde dabei in der Regel stören, denn sie würde zu viel Informationen vorgeben und damit die Prozesse der Imagination behindern, die beim Improvisationstheater unverzichtbar sind. Die Spieler tragen in der Regel Alltagskleidung, die durch das Bemühen um Neutralität leicht modifiziert ist (also beispielsweise einfarbige Hemden statt buntgemusterten). Die Persönlichkeit der Spieler darf sich in der Kleidung ausdrücken, jedoch nicht so dominant, dass die Imaginationsfläche für Figuren nicht gestört wird. Was den Gebrauch von Requisiten angeht, so gibt es heute im Improvisationstheater zwei verschiedene Auffassungen. Die Chicagoer Schule verzichtet vollständig auf Requisiten und Kostüme mit dem Argument, dass jedes reale Requisit die kreative Transformation behindere:20 „Since real props cannot be transformed, they become a burden: when actual physical props are sitting around on stage, they limit the improvised creation of other props.” (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 125)
20 The Second City arbeitete davon abweichend mit einem minimalen Set von Kostümen. So beschreibt Berhard Sahlins: „Our only scenery consisted of six of the bentwood chairs. We were equally parsimonious with costumes, deciding that only the elements of costume were compatible with our vision. An army jacket was enough to suggest a general; a white coat, a doctor […]” (Sahlins zit. in COLEMAN 1991, S. 141)
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Die Johnstone-Schule benutzt dagegen sowohl Requisiten als auch Kostüme, allerdings sparsam und mit der Maßgabe, dass sie transformiert werden dürfen, dass also ein Regenschirm auch als Gewehr oder als Golfschläger benutzt werden kann. Bei aller Unterschiedlichkeit der Auffassungen kann die Möglichkeit zur Umdeutung von Requisiten und Kostümen als zentrales Kriterium für ihre Verwendung beim Improvisationstheater gesehen werden. Das Fehlen der vierten Wand Eine imaginierte ‚vierte Wand‘ zwischen Bühne und Zuschauerraum wie sie im naturalistischen Theater gefordert wurde, gab und gibt es beim Improvisationstheater nicht. Die Schauspieler bleiben sich stets der Präsenz der Zuschauer bewusst, nehmen ihre Reaktionen wahr und beantworten sie. Das Spiel kann jederzeit unterbrochen und zum Publikum hin geöffnet werden. Bei Spolin findet sich eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der ‚vierten Wand‘: „Der Satz ‚Vergiss das Publikum‘ wird von vielen Regisseuren gebraucht, um dem Schauspielschüler zu helfen, entspannt auf die Bühne zu gehen. Aber diese Einstellung baut möglicherweise eine vierte Mauer auf. Der Schauspieler darf sein Publikum genauso wenig wie seine Sätze, seine Requisiten und seine Mitspieler vergessen!“ (SPOLIN 2002, S. 27)
Nach Spolin dient die Fiktion einer ‚vierten Wand‘ der Angstabwehr des Schauspielers vor dem bewertenden Blick der Zuschauer. Sie sei damit Ausdruck einer Störung im Verhältnis von Schauspieler und Zuschauer, das idealerweise frei von Angst sein solle. Es helfe nichts, die Ängste und Projektionen, die das Publikum im Schauspieler auslöse, zu verleugnen, stattdessen soll der Schauspieler zu einer wirklich entspannten Beziehungsaufnahme mit den Zuschauern befähigt werden (SPOLIN 2002, S. 27). Die Öffnung der Schauspieler hin zum Zuschauerraum geht über eine bloße gegenseitige Wahrnehmung hinaus. Gemeint ist bei Spolin vielmehr der Aufbau einer positiven, konstruktiven Beziehung zum Publikum. Johnstone beschäftigte sich zwar nicht explizit mit dem Konzept der ‚vierten Wand‘, aber da er selbstverständlich davon ausgeht, dass die Zuschauer direkt angesprochen werden, kann man schließen, dass er ebenfalls keine Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum wünscht. Dennoch sieht Johnstone den Einfluss des Publikums auf die Darstellung auch kritisch, indem er davon ausgeht, dass dessen Beteiligung das Spiel eher deformiert und für die Spieler langfristig eine Gefahr darstellt. So widmet er ein ganzes Kapitel der Frage, wie Spieler es verhindern können, dass sie sich durch die Reaktionen des Publikums – insbesondere ihr Lachen – manipulieren lassen (JOHNSTONE 2004, S. 24-47). Obwohl die ‚vierte Wand‘ beim Improvisationstheater nicht existiert, ist die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum nicht völlig offen: Nicht alle Reaktionen des Publikums dringen auf die Bühne durch, vielmehr werden die Vorgaben
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immer selegiert, in der Regel durch den Moderator (JOHNSTONE 1998, S. 84; GEREIN 2004, S. 94 ff). Das Publikum wird auch nicht permanent zur Partizipation aufgefordert, vielmehr wird der Bühnenraum nur phasenweise zum Zuschauerraum hin geöffnet. Man muss sich die Grenze als filternde, lebendige Membran vorstellen, deren Durchlässigkeit von den Akteuren gesteuert werden kann: In Phasen der Rahmung wird sie für Informationen aus dem Zuschauerraum geöffnet, in den Phasen der Improvisation jedoch wieder geschlossen, wobei Reaktionen des Publikums, wenn sie überschwellig werden, immer auf die Bühne vordringen und das Spiel beeinflussen können. Zwischenfiguren Sucht man nach einer Verbindung von Zuschauerraum und Bühne beim Improvisationstheater, so stößt man unvermeidlich auf vermittelnde Figuren, die viele Namen tragen: Moderator, Spielleiter, Zuschauerdirektor, Conférencier, Facilitator, Joker, Richter, Host. Sie werden hier als Zwischenfiguren bezeichnet und unter dem Thema Räumlichkeit abgehandelt, weil sie an der performativen Hervorbringung des Raumes entscheidenden Anteil haben. Die Zwischenfiguren bilden die Schnittstelle zwischen Bühne und Zuschauerraum und bewegen sich in beiden Räumen. Sie halten den Kontakt zum Publikum, holen Vorschläge ein, nehmen Einfluss auf die Grundatmosphäre, kümmern sich um das Warm-up der Zuschauer usw. Bezogen auf die Räumlichkeit beim Improvisationstheater agieren Zwischenfiguren in einem Zwischenraum, der als Überlappungen von Zuschauerraum und Bühnenraum zu verstehen ist. 1. Der Moderator Im deutschen Sprachraum wird die zentrale Zwischenfigur meist als Moderator bezeichnet, im englischen Sprachraum als MC (Master of Ceremonies). Auf der Bühne ist sein Platz in der Regel die Bühnenmitte. Er steht weit vorne und erscheint mehrfach hervorgehoben: Er trägt im Gegensatz zu den Spielern oft festliche Kleidung wie Frack oder Abendkleid, manchmal stehen ihm eine eigene Sitzgelegenheit und ein eigenes Mikrofon zur Verfügung. In vielen Fällen gibt es auch eine spezielle Lichteinstellung, die nur dem Moderator vorbehalten ist. Bei Bedarf steigt der Moderator von der Bühne, um Zuschauer zu befragen oder Freiwillige zu suchen. Im Gegensatz zum Kabarett verschwindet der Moderator beim Improvisationstheater während der Nummern in der Regel nicht hinter der Bühne, sondern zieht sich auf die Bühnenseite, manchmal auch auf einen reservierten Stuhl im Publikum zurück, von wo aus er zu jeder Zeit in das Spiel eingreifen kann. Der Moderator
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bleibt dabei auch während der Improvisationen für das Publikum sichtbar.21 Dies ist ein Hinweis auf seine doppelte Funktion: einerseits gestaltet er die Rahmung der Aufführung, andererseits nimmt er Einfluss auf die Improvisation selber. Bereits bei Moreno taucht die Figur eines Spielleiters auf. Als Kopf der Spieler agierte ein „Stegreifregisseur“ – in der Regel wohl Moreno selber (Frühauf in BUER 1999, S.104). Von seinem Geschick hing der Erfolg der Aufführung wesentlich ab. Moreno klagte darüber, wie schwierig es war, gute Spielleiter zu finden: „Von hundert praktizierenden Direktoren [des Stegreiftheaters] hat höchstens einer (1%) die Qualität, die Spontanität, das Charysma, die durchdringende Kraft, eine Produktion zu inspirieren, die das selbe Niveau erreicht wie etwa die Vorführung eines Dramas von Shakespeare oder Ibsen.“ (S. XIV)
Moreno konzipierte auch einen Vertreter der Zuschauer auf der Bühne, der die Interessen des Publikums in das Spiel mit einfließen lassen sollte, den „Zuschauerdirektor“ (MORENO 1970, S. 12). Die Einflussnahme über die Zwischenfiguren sollte also eine wechselseitige sein. In beiden späteren Improvisationsschulen tauchen Moderatoren auf. In der Chicago-Schule ist die Figur des Moderators vermutlich einem Rückgriff auf das deutsche Kabarett geschuldet (SAWYER 2003, S. 21). Sie hatte sich dort, aus den französischen Cabarets gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommend, zu einer zu einer Figur mit einem ausgesprochen rüden und anzüglichen Ton gegenüber den Zuschauern entwickelt, einer Art Halbwelt-Figur, die sich Einiges herausnehmen durfte (MARX 2006, S. 36). Diese Figur wurde in Chicago zusammen mit der Form der Nummernrevue übernommen und vielfach variiert, wobei eine gewisse Frechheit und Anzüglichkeit immer erhalten geblieben ist. Neben dieser klassischen Direktorenfigur entwickelten sich verschiedene Formen von Anmoderation. Heute existieren sowohl Formen mit festem als auch mit wechselndem Moderator, die Funktion ist jedoch gleich geblieben: Der Moderator verantwortet und gestaltet die Rahmenstruktur der Aufführung, stellt Überleitungen her, provoziert das Publikum und die Spieler und sorgt für eine positive Grundstimmung. In der britisch-kanadischen Tradition wird die Rolle des Moderators noch stärker betont. Salinsky und White vermuten, dass alle Formate Johnstones eine Position enthalten, die ursprünglich von Johnstone selber eingenommen wurde (SALINSKY & WHITE 2008, S. 281-282). Johnstone – der selber nie als Spieler auftrat – agierte lange Zeit als Moderator und Regisseur der London Theatre Machine und alle seine Formate enthalten eine oder mehrere Zwischenfiguren, die
21 In der Fernseh-Version „Whose line is it anyway?“ sitzt der Moderator auf der Bühnenseite hinter einem Pult.
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darum kämpfen, die Qualität der Darstellung zu verbessern. Wie Salinsky und White ausführen, geht diese Rolle über die eines normalen Conférenciers hinaus: „Many Keith Johnstone formats [...] include a person, or more than one, whose job it is to not merely set up a scene or game, like an MC, but actively work to improve it by shouting advice from the sidelines, just like in a workshop.“ (SALINSKY & WHITE 2008, S. 279)
Der Moderator erscheint hier als konstruktive Figur, die wie ein Lehrer oder Trainer vom Spielfeldrand aus Anweisungen gibt. Side Coaching In beiden großen Improvisationsschulen hat der Moderator deutlich weitreichendere Aufgaben und Kompetenzen als etwa im Cabaret, denn er nimmt auch Einfluss auf die gespielten Szenen. Es hat sich deshalb eine Technik entwickelt, für die es beim inszenierenden Theater keine Entsprechung gibt: das Side-Coaching. Mit dieser Technik kann der Moderator in die Szenen eingreifen, ohne die Spielenden aus ihrem Spielfluss zu reißen. Er gibt Regie- und Schauspielanweisungen, die von den Schauspielern direkt umgesetzt werden. Bei Spolin ist das Side-Coaching stark in ihr pädagogisches Konzept eingebettet. Es geht auf Neva Boyds Vorstellungen der Erzieherin als Spielleiterin, die eine Doppelrolle übernimmt: Einerseits ist sie Mitspielerin, die genau den gleichen Spielregeln unterworfen ist wie die Kinder, andererseits nutzt sie ihre größere Erfahrung, um das Spiel von außen zu dirigieren. Sie ist also gleichzeitig im Spiel und außerhalb des Spiels. Für Spolin ist dies die Grundlage für ein Aufbrechen des traditionellen Lehrer-Schüler-Verhältnisses: „Side-coaching alters the traditional relationship of teacher-student, creating a moving relation. Side-coaching allows the teacher-director an opportunity to step into the excitement of the playing (learning) in the same space, with the same focus, as the players.” (SPOLIN 1999, S. 28)
Die Stimme des Lehrers dringt dabei in das Spiel von außen ein, unterbricht das Spiel jedoch nicht, zerstört die aktuelle Erfahrung nicht. Der Side-Coach versucht, das individuelle Lernen des einzelnen Schauspielers mit dem dramatischen Spiel in Einklang zu bringen: „It is the voice of the director seeing the needs of the overall presentation, at the same time it is the voice of the teacher seeing the individual student-actor’s needs within the group and on the stage.” (SPOLIN 1999, S. 29)
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Bei Spolin ist der Side-Coach also gleichzeitig Regisseur und Lehrer/Therapeut für den Schauspieler – eine Rolle, die durchaus zu Konflikten führen kann. Im Idealfall wird der Side-Coach langfristig zu einer inneren Stimme im Schauspieler, die seine Fähigkeit zur realen Erfahrung auf der Bühne stärkt: „Side coaching is a guide, a directive, a support, a catalyst, a higher view, an inner voice, an extended hand, you might say, given during the playing of a game to help you stay on focus.” (SPOLIN 2001, S. 7)
Einem guten Side-Coach gelingt es, eine Aufspaltung des Spielerbewusstseins in ein agierendes und ein vorausplanendes Ich zu verhindern und dem der Spieler damit eine ganzheitliche Erfahrung zu ermöglichen: „[Sidecoaching keeps the participants] from wandering off into isolation within a subjective world: it keeps one in present time, in the time of process. It keeps each player aware of the group and the self within the group.” (SPOLIN 1999, S. 29)
Spolins Technik des Side-Coaching ist eine eigene Kunst. Sie wird in Workshops vielfach angewendet, wo sie auch zu einer therapeutischen Technik werden kann, und ist von dort auf die Bühne gewandert. Sie ermöglicht es, Anweisungen zu geben, ohne die Erfahrung zu stören. In Johnstones Formaten findet das Side-Coaching explizit auf offener Bühne Verwendung. Besonders deutlich wird dies in Johnstones Format Gorilla-Theatre. Dabei übernehmen die Schauspieler nacheinander die Rolle des Side-Coaches für die jeweils anderen Schauspieler und versuchen, sie zu Höchstleistungen zu bringen und dabei eine gute Szene oder Geschichte zu inszenieren. Der Side-Coach wird als Live-Regisseur zu einem wichtigen Teil der Aufführung. Salinsky und White unterstreichen den Wert dieser Moderatorenfunktion als Orientierungshilfe für die Spieler: „The utility of this public direction is hard to over-estimate. The fog of war can be dense and all-encompassing, robbing the improvisers of sight, hearing, orientation, common sense and taste. A director, although still in the public eye, has a clearer view; they see the scene in progress from a vantage point much closer to that of the audience than any of the improvisers. Their input is tremendously valuable.“ (SALINSKY & WHITE 2008, S. 279)
Das Side-Coaching steht bei Johnstone deshalb immer im Dienst der Steigerung der Qualität. Den Spielern dient der Live-Regisseur als Orientierungshilfe, wenn sie in der Improvisation den Überblick verlieren. Damit die Spieler vom Leistungsdruck entlastet werden, übernimmt der Live-Regisseur nach außen hin die Verantwortung für die Szene. Gleichzeitig ist der Side-Coach ein Vertreter der Zuschauersicht,
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indem er die Außenperspektive in das Bühnengeschehen einbringt. Der LiveRegisseur wird hier zum ‚Anwalt des intelligenten Zuschauers‘22, der ermächtigt ist, das Spiel durch sein Eingreifen zu verbessern. Zusammenfassend kann man sagen, dass bei den weitaus meisten Formen des Improvisationstheaters die Zwischenfigur des Spielleiters oder Moderators entstanden ist, welche die Interaktionsprozesse zwischen Zuschauern und Akteuren moderiert und teilweise die spontanen Prozesse zwischen den Spielern steuert.23 Der Moderator als Zwischenfigur vermittelt an der Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum in beide Richtungen: Zum einen ist er Vertreter der Zuschauer auf der Bühne und aktualisieren dort die Erwartungen und Ideen des Publikums. Zum anderen ist er Vertreter der Schauspieler gegenüber dem Publikum und vermittelt hier die Erwartungen, der Schauspieler an die Zuschauer – auch und gerade angesichts des immer möglichen Scheiterns der Improvisation. Das Ausmaß seiner Macht auf der Bühne variiert beträchtlich; er kann eine rein strukturierende Funktion übernehmen oder als Live-Regisseur wichtige dramaturgische Entscheidungen treffen. Der Moderator übernimmt Verantwortung und erleichtert den Anwesenden das Hineingleiten in einen Zustand der Verantwortungsabgabe. Er steht damit im Dienst der Regression und Enthemmung sowohl der Zuschauer als auch der Spieler. Durch die Technik des Side-Coaching ist er in der Lage, eine externe Sichtweise, die nahe an der Sichtweise der Zuschauer ist, ins Bühnengeschehen einzuspeisen, ohne dieses zu unterbrechen. Damit ist eine kontinuierliche Rückkoppelung von Außenperspektive und Innenperspektive geschaffen und somit eine wesentliche Bedingung für das Entstehen der feedback-Schleife, durch welche die Aufführung letztendlich hervorgebracht wird. 2. Die Richter Richter gibt es nur beim Theatersport von Johnstone. Sie sind gewissermaßen die böse Seite des Side-Coaches. Sie erfüllen wie diese die Funktion der Steigerung der Qualität: „Richter sind dafür verantwortlich, die Qualität des Spieles zu erhöhen und einzugreifen, wo es nötig ist.“ (JOHNSTONE 1998, S. 466). Gleichzeitig
22 Den Ausdruck „Anwalt des intelligenten Zuschauers“ verdanke ich dem Improvisationsspieler Sigi Weckerle. 23 In der letzten großen Innovation des Improvisationstheaters, dem Harold von Close, wurde die Zwischenfigur wieder weitestgehend abgeschafft. Es gibt dort keinen Moderator, keine Richter, keine irgendwie exponierte Figur, sondern nur die Zusammenarbeit der Gruppe. Diese Langform kann als Beleg dafür gesehen werden, dass es eine Entwicklung zu einer immer weitere Teile der Aufführung umfassenden Improvisation gegeben hat, die schließlich auch den Moderator als stabilisierendes Element nicht mehr benötigt und vollständig auf die emergierenden Phänomene der kollaborativen Kreativität vertraut.
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haben die Richter jedoch auch eine emotionale Funktion im Gesamtgefüge der Aufführung, indem sie dabei helfen, ‚Hitze‘ im Publikum zu erzeugen. Sie müssen dabei auch negative Gefühle auf sich ziehen: „Sie sind da, um gehaßt zu werden und nur gelegentlich bewundert. Sie sollten Elternfiguren sein, die das Publikum bis zu einem gewissen Grad ablehnt, und sie sollten nie den Eindruck erwecken, sie nähmen ihre Aufgabe auf die leichte Schulter.“ (JOHNSTONE 1998, S.466)
Da die Richter in ihrem Urteil noch strenger sind als das Publikum, ermöglichen sie den Zuschauern eine innere Parteinahme für die Spieler: „Wenn Theatersport richtig läuft, formen die Zuschauer mit den Spielern zusammen das eine Team und die Richter das gegnerische. Unpopuläre Entscheidungen der Richter verfestigen diese Konstellation.“ (JOHNSTONE 1998, S. 469)
Die Richter stellen sich als Objekte des Publikumszorns zur Verfügung und erzeugen damit ‚Hitze‘. Gleichzeitig entlasten sie das Publikum von der Funktion des kritischen Beobachters, indem sie diese Position selber besetzen. Sie inkorporieren das bewertende Bewusstsein des Publikums, bilden sozusagen das Über-Ich der Aufführung. Eigene innere bewertende Haltungen können damit externalisiert und die entsprechenden Gefühle auf die Richter projizieren werden. 3. Der Musiker Fast alle Improvisationstheateraufführungen werden von einem Pianisten am Keyboard begleitet. Nur in Einzelfällen werden auch andere Instrumente oder ganze Musikgruppen eingesetzt oder es wird ganz auf Musik verzichtet. Generell sitzt der Pianist rechts oder links auf der Bühne und ist dem Spiel zugewandt, sodass er die Bühnenaktionen der Spieler gut verfolgen kann. Gleichzeitig wird er vom Publikum gesehen – im Gegensatz etwa zu den Musikern der Oper, die im Orchestergraben visuell verdeckt werden. Die Zuschauer können auf diese Weise das Zusammenspiel von Schauspielern und Musiker mitverfolgen und würdigen. Ähnlich wie der Moderator wird der Musiker hervorgehoben: Er hat einen eigenen Platz und meist ein eigenes Licht. Einige Musiker verwenden musikalische Zitate, bevorzugt wird jedoch – schon aus urheberrechtlichen Gründen – die freie oder zumindest stark abwandelnde Improvisation. Der Musiker hat beim Improvisationstheater nicht nur begleitende Funktion, sondern wird als vollwertiger Mitspieler gesehen, der eigene Impulse setzt, die Spieler unterstützt oder herausfordert und eine wichtige Funktion beim Timing der Szenen hat. Oft verfügen die Musiker über eigene Erfahrungen als Spieler, was ihnen hilft, sich in die Spieler hineinzuversetzen. Das Zusammenspiel zwischen Spielern und Musiker wird in aller Regel durch ein gemeinsames Warmup vor jeder Aufführung aktualisiert.
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In den meisten Fällen betritt der Musiker die Bühne noch vor dem Moderator und eröffnet die Aufführung, d.h. er kündigt den Moderator mit einer kurzen musikalischen Fanfare an und gestaltet damit die Rahmung entscheidend mit: Der Auftritt des Moderators kann dadurch eher im Stil einer Unterhaltungsshow, im Stil eines Kabaretts oder im Stil eines Theaterstücks stattfinden. Der Musiker ist damit ein wichtiger Bestandteil der Rahmung. Innerhalb des Rahmens setzt die Musik immer wieder Signale für Szenenanfänge oder Szenenenden und schafft Überleitungen in Kooperation mit der Moderation. An solchen Übergängen kann die Musik wichtige Impulse zur Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum geben – in einem von Schröter angeführten Beispiel animierte die Musik etwa zum Applaus (SCHRÖTER 2003, S. 95). Ebenso kann die Musik auch eine nachdenkliche oder theatrale Atmosphäre zwischen den Szenen unterstützen. Gleichzeitig erfüllt die Musik eine wichtige Funktion innerhalb der gespielten Szenen. Sie dient dort, wie Schröter feststellt, der Untermalung und atmosphärischen Verdichtung sowie der Charakterisierung von Figuren – ähnlich wie im inszenierenden Theater (SCHRÖTER 2003, S. 95-96). Zusätzlich kann sie ein Bestandteil der Theater-Games sein, indem das Singen von Liedern, Tanzen oder ein musikalisches Genre zu den Vorgaben der Szene gemacht werden. Da der Musiker ähnlich wie der Moderator sowohl innerhalb der Rahmenstruktur mit Publikumsbezug als auch innerhalb der Improvisationen agiert, kann er ebenfalls als eine Zwischenfigur betrachtet werden. 4. Der Lichtregisseur Wie Sawyer schreibt, hat sich in der Chicagoer Tradition die Rolle des Lichtimprovisateurs bereits in den 50-er Jahren herausgebildet und ist weitgehend konstant geblieben: Die Compass-Players konnten sich keinen Lichttechniker leisten, daher musste ein Schauspieler diese Funktion erfüllen (SAWYER 2003, S. 26). Rein technisch wird beim Improvisationstheater mit sehr einfachen Lichteinstellungen gearbeitet. Meist gibt es ein Moderationslicht, ein Musikerlicht, ein Grundlicht und jeweils eine warme (rot) und eine kalte (blau oder grün) Lichteinstellung. Die Einfachheit ist Voraussetzung für ein intuitives Bedienen der Lichtanlage, denn die Funktion des Lichtimprovisateurs unterscheidet sich gravierend von der Funktion eines Lichttechnikers beim inszenierenden Theater. Da in der Regel auf Bühnen ohne Vorhang agiert wird, übernimmt das Licht die Funktion des Vorhangs und beendet die Szenen an geeigneten Stellen. Der Lichtimprovisateur muss daher darin geschult sein, solche Stellen – oft sind es Pointen oder besonders spannende Momente (sogenannte cliff-hanger) – zu erkennen und sofort zu reagieren. Er übernimmt damit eine wichtige dramaturgische Funktion und muss die Prinzipien der Improvisation genau kennen. Oft wird diese Rolle deshalb von einem erfahrenen Spieler übernommen. Wo kein Spieler das Licht bedienen kann, wird die Szene
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manchmal von der Bühne aus ‚abgewinkt‘, d. h. die Spieler geben, für das Publikum erkennbar, ein Zeichen an den Lichttechniker, das Licht herunterzufahren. Es gehört zu den Aufgaben des Lichtimprovisateurs, misslingende Improvisationen möglichst zügig zu beenden und die Spieler davor zu bewahren, eine Szene, die bereits im Ansatz verfahren ist, weiterspielen zu müssen. Auf diese Weise kann ein guter Lichtimprovisateur Frustrationen für die Spieler und die Zuschauer minimieren und das Problem der schwankenden Qualität der Improvisationen entschärfen. Der Lichtregisseur muss dazu eine Prognose über den weiteren Verlauf der Szene abgeben können: Wird sie sich noch erholen oder ist ihr Potential bereits erschöpft? Das Beenden von Szenen ist besonders bei Johnstone eine wichtige Funktion: Für ihn ist das Licht auch eine Form der Rückmeldung an die Spieler, wenn ihr Spiel langweilig geworden ist und niemanden mehr interessiert (JOHNSTONE 1998). Um dies zu verdeutlichen entwickelte Johnstone die Vision eines „Taschenlampentheaters“ (JOHNSTONE 1998, S. 46): Jeder Zuschauer sollte eine Taschenlampe haben und auf das richten, was seine Aufmerksamkeit fesselt – bzw. sie ausschalten, wenn ihn das Bühnengeschehen nicht interessiert. Auf diese Weise würde das Licht zu einem direkten Ausdruck des Zuschauerinteresses und eine Rückmeldung an die Schauspieler wäre möglich. Auch wenn das Taschenlampentheater aus pragmatischen Gründen anscheinend nicht real aufgeführt wurde, zeigt es als Gedankenexperiment Johnstones Auffassung von der Funktion des Lichtes: Der Lichtregisseur hat die Aufgabe, das Publikumsinteresse zu spüren und in Form von Licht auszudrücken. Im Laufe der Zeit und mit der Entwicklung von Langformen wurde die Aufgabe des Lichtimprovisateurs immer komplexer, neben dem Beenden der Szenen trifft er schwierige dramaturgische Entscheidungen: Durch das Abblenden kann er bestimmte szenische Aktionen hervorheben (jeder letzte Satz einer Szene gewinnt besondere Bedeutung). Er kann räumliche Wechsel andeuten und den Wechsel zwischen Improvisation und Rahmung mitbestimmen. Sawyer schreibt über die schwierigen Entscheidungen, die ein Lichtimprovisateur treffen muss: „It is a difficult job for the director. How funny does a turn have to be to be good enough to end the scene? If the scene is a little short of the allocated time, the director might wait for a better ending to emerge in the next 5 minutes. If the dialogue has already run over the allocated time, the director might settle for anything that remotely resembles an ending, whether it’s a great line or not.“ (SAWYER 2003, S. 27)
Die Lichtregie ist beim Improvisationstheater eine komplexe Aufgabe, die dramaturgisches Gespür, Mut und Ehrlichkeit erfordert. Zusammenfassend muss man die Bedeutung von Zwischenfiguren beim Improvisationstheater als sehr groß betrachten: Sie sind Teil der Rahmung der Aufführung und steuern die Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum. Dabei voll-
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ziehen sie den Prozess des Theatermachens sichtbar und öffentlich, sie agieren zwischen der fiktiven ‚Als ob‘- Welt auf der Bühne und der konkreten Welt der leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern. Ihre Aufgabe ist die Vermittlung zwischen diesen beiden Räumen. Die Bühne auf der Bühne Der vielleicht augenfälligste räumliche Unterschied zwischen inszenierendem Theater und Improvisationstheater ist, dass bei Letzterem kein Off notwendig ist: die Schauspieler, die gerade nicht aktiv am fiktionalen Bühnengeschehen beteiligt sind, gehen nicht ab, sondern bleiben auf der Bühne und setzen sich an deren Rand. Dort bleiben sie für die Zuschauer sichtbar, während gleichzeitig auf der Zentralbühne agiert wird. Meist sitzen sie an der Seite der Spielfläche, sind also im Profil zu sehen, manchmal werden sie auch im Bühnenhintergrund platziert, sodass die Zuschauer sie von vorne sehen können (ein solches Spacing wählt auch die Fernseh- Improvisationsshow Whose line is it anyway?). In der Regel wird dieser Bereich weniger stark beleuchtet, um die Aufmerksamkeit nicht zu sehr vom Bühnengeschehen abzulenken. Die zuschauenden Spieler sind jedoch leiblich präsent und sichtbar. Die Erfahrung zeigt, dass die Zuschauer jede Regung der nichtspielenden Akteure aufmerksam registrieren und im Nachhinein kommentieren. Sie versuchen, Rückschlüsse auf die Laune, die Gedanken und das Gruppengefühl zu ziehen und äußern sich nach der Aufführung entsprechend mit Bemerkungen wie „Heute Abend wart ihr aber gut drauf!“ oder „Na, das hat dir nicht in den Kram gepasst, was M. in dieser Szene gemacht hat!“ usw. Oft versuchen sie auch, durch Beobachtung der zuschauenden Spieler eine Bestätigung für die improvisierte Natur der Szene zu erhalten: Wenn sich in deren Gesichtern echte Überraschung und echte Begeisterung zeigt, ist dies für die Zuschauer ein Beleg für den spontanen Charakter der Darstellung. Erfahrene Spieler wissen genau, dass sie auch als Modell für das Publikum dienen: Wenn sie das Spiel bewertend kommentieren, beginnen die Zuschauer ebenfalls, einen wertenden Blick zu entwickeln, was einer kooperative Verbindung zwischen Bühne und Zuschauerraum im Weg steht. Es gilt daher als erwünscht, dass sie dem Spiel aufmerksam und mit einer positiven Grundhaltung folgen. Jeder negative Kommentar des Spiels ist unerwünscht – und sei dies nur ein Abwenden, Schnaufen oder Augenrollen. Die zuschauenden Spieler sind daher ein wichtiges Bindeglied zwischen Akteuren und Publikum. Sie haben eine modellierende Funktion für die Zuschauerrolle. Indem das Publikum die zuschauenden Spieler auf der Bühne wahrnimmt, entsteht eine Verdoppelung des theatralen Rahmens, ein Theater im Theater. Die so erzeugte Bühnensituation ist als Motiv der Bühne auf der Bühne auch dem inszenierenden Theater bekannt (beispielsweise in Hamlets Schauspielerszene), beim
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Improvisationstheater bildet sie aber ein permanentes Merkmal der Aufführung und damit des performativen Raums. Landgraf kann zeigen, dass das Motiv der Bühne auf der Bühne in der Frühromantik sehr populär wurde und sich über die Avantgarde bis zum heutigen Improvisationstheater verfolgen lässt (Landgraf in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 65 ff.). Es reflektiere damit einen neuen, doppelten Kunstbezug des modernen Individuums, in welchem der Akt der Darstellung neben dem Dargestellten zu einem wichtigen Gegenstand der Betrachtung werde. Landgraf spricht hier von der Reflexionsfigur des Reentry: „So wird über den Reentry der Form des Theaters nicht nur die Theaterillusion aufgehoben (zerstört und hervorgehoben), sondern zugleich die Wirklichkeit der Darstellung gegenüber der Wirklichkeit des Dargestellten emanzipiert.“ (Landgraf in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 73)
Landgraf betont die Bedeutung des Reentry als Vorläufer des anti-illusionistischen Theaterbegriffs der historischen Avantgarden (Landgraf in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 73). In dieser Tradition sieht er auch das Improvisationstheater. Für das heutige Improvisationstheater liegt es nahe, die Bühne auf der Bühne als räumlichen Ausdruck einer doppelten Rahmung zu verstehen: Danach werden beim Improvisationstheater immer zwei Geschichten gleichzeitig erzählt, einerseits die Fiktion selber, andererseits die Geschichte der Produktion dieser Fiktion. Neben die gespielte Szene tritt die Wahrnehmung des Prozesses des Theatermachens. Mit der Bühne auf der Bühne findet also der Prozess des Theaterspielens als eigener Wahrnehmungsgegenstand Eingang in die Aufführung. Die doppelte Rahmung erzeugt eine Ironisierung des Spielgeschehens und schafft Möglichkeiten für ein Doppelspiel: Der Status der Bühnenillusion wird fragwürdig und neue Möglichkeiten der Bedeutungszuschreibung werden möglich. Der Prozess des Theatermachens wird selber zum Aufführungsinhalt, es entsteht eine selbstreferenzielle Struktur. 2.3 Zeitlichkeit Neben Körperlichkeit und Räumlichkeit zählt Fischer-Lichte (2004) die Zeitlichkeit zur Materialität einer Aufführung. Darunter fällt ihr spezifischer Bezug zur Zeit und der konkrete Umgang mit der Zeit innerhalb der Aufführung. Die dem Improvisationstheater gemäße Zeitform ist ohne Zweifel das Präsens. So formulieren Frost und Yarrow: „In pure ‚impro’ there is no past, only the immediacy of present. There is only action, no re-enactment.” (FROST & YARROW 2007, S. 114). Die besondere Beziehung zur Gegenwärtigkeit findet sich bereits bei Moreno in seiner Verherrli-
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chung des Augenblicks. Sie fand ihren Weg über die Gestalttherapie und den ZenBuddhismus in die US-amerikanische „Kultur der Spontanität“ in den 50-er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts (MEYER 2008). Das berühmte Hier und Jetzt wurde zu einer notwendigen Bedingung für Erfahrung und Begegnung erklärt. Der besondere Bezug des Improvisationstheaters zur Gegenwärtigkeit, zeigt sich auf mehreren Ebenen: in der Suche nach größtmöglicher Aktualität, im Verzicht auf überdauernde Wirkungen und in einer speziellen Philosophie des Augenblicks. Aktualität Der Fähigkeit der Improvisation, unmittelbar auf Tagesereignisse zu reagieren, wurde immer größte Bedeutung beigemessen (CHARLES 2003, S. 84). Dies gilt bereits für die improvisierte Rede in der Antike, für die Commedia dell’ arte und in noch stärkerem Maße für die Anfänge des modernen Improvisationstheaters in Wien und in Chicago. Sowohl Moreno als auch die Compass Players fanden mit dem Format living newspaper eine Möglichkeit, Ereignisse aus der Tagespresse aufzugreifen und damit ein schnelle theatrale Aufarbeitung von aktuellen Themen zu leisten (CHARLES 2003, S. 92 ff). Es ging darum, den Zugewinn an Schnelligkeit und Aktualität, der in anderen Medien erreicht worden war, auch im Theater herzustellen, statt durch langwierige Produktionsprozesse erst nach Monaten oder Jahren reagieren zu können. Das Ideal des Improvisationstheaters, auf einen Impuls sofort reagieren zu können, also keinen Zeitverlust durch künstlerische Verarbeitungsprozesse zu haben, kommt dieser Forderung nach Aktualität entgegen. So wird jede Improvisationsaufführung über Dialoge mit dem Publikum nach Themen suchen, die die Zuschauer aktuell beschäftigen. Oft sind dies Dinge, die erst innerhalb der Aufführung geschehen und dann in der Improvisation verarbeitet werden. In vielen Fällen umfasst das Zeitfenster den aktuellen Tag oder die aktuelle Woche, eine historische Distanz zu den behandelten Gegenständen wird dagegen nicht gesucht. Verzicht auf überdauernde Wirkungen Das Improvisationstheater verzichtet in der Regel auf langfristige Wirkungen und bleibt damit auch hier ganz dem Paradigma des Präsens verpflichtet: Es strebt nicht nach zeitlich überdauerndem Ruhm oder gar Ewigkeit, sondern favorisiert ein Theater, das nach der Aufführung vollständig verschwunden ist, das nicht konserviert werden kann, weder durch Schrift noch durch Filmaufnahmen. Man kann es nach Gebrauch ‚wegwerfen‘, es ist ein Einwegartikel. Der Verzicht auf überdauernde Wirkung ist dabei durchaus programmatisch. So formuliert etwa Sills:
216 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „The irony is that the art which is most exciting today is impermanent and not meant to last except as an act of love […]. It just comes out between people. It doesn’t want to be written down. It passes in the moment and disappears.” (Sills in SWEET 2003, S. 21)
Das Improvisationstheater entfaltet seine Wirkung nur innerhalb der jeweils konkreten Aufführung. Philosophie des Augenblicks Am deutlichsten wird der Gegenwartsbezug des Improvisationstheaters durch seine Philosophie des Augenblicks. Schauspieltechnisch zeigt sich diese wie in Kapitel III 1ausgeführt in der Selbstverpflichtung des Schauspielers auf den Impuls des Moments und der möglichst weitgehende Ausschaltung des vorausplanenden Bewusstseins. Der Improvisierende lernt, immer nur auf das gerade Geschehene Bezug zu nehmen und sich nicht allzu viel Gedanken darüber zu machen, wohin sein Tun ihn führen wird. In den theoretischen Beiträgen findet sich eine Philosophie des Augenblicks vor allem bei der Chicagoer Schule. So schreiben Halpern, Johnson und Close: „An actor following each moment through to the next is constantly making discoveries, an ideal state for improvisers. If a player is planning ahead and thinking about the direction he wants the action to go, then he isn’t paying attention to what is going on at the moment. Unfortunately for him and his fellow actors, what is going on at the moment is the scene! This is a mistake that happens all too often, and may even occur with an experienced performer. When he thinks he sees where the scene is headed, he may steer it that way, without paying careful attention to what is happening on stage at that moment. He’s living for the possible future of the scene at the expense of the present.“ (HALPERN, JOHNSON & CLOSE 1994, S. 71-72)
Der zeitliche Fokus des Spielers wird auf eine möglichst kleine Zeiteinheit verengt, Retentio und Protentio werden auf ein Minimum reduziert. Viele der befreienden Effekte des Improvisationstheaters gehen auf diese Techniken zur Reduktion des vorausplanenden und reflektierenden Bewusstseins zurück, also auf die spezifische Zeitlichkeit, die innerhalb dieser Theaterform gepflegt wird. Spolin vertrat ein entsprechendes Konzept, indem sie Selbsterfahrung als etwas begriff, das ausschließlich im Präsens stattfindet – also nicht durch Reflexion der Vergangenheit oder Vorausdenken in die Zukunft: „In present time a path is opened to your intuition, closing the gap between thinking and doing, allowing you, the real you, your natural self, to emerge and experience directly and act freely, present to the moment you are present to.” (SPOLIN 2001, S. xiii)
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Noch prägnanter formuliert diesen Aspekt ihr Sohn Paul Sills: „One must enter present time to encounter one’s real self.” (Vorwort zu SPOLIN 1985, S.x). In solchen Äußerungen offenbaren sich die philosophischen Wurzeln speziell der Chicagoer Schule: der amerikanische Pragmatismus, die progressive Pädagogik, später auch die Gestalttherapie (MEYER 2008). Sie sind verbunden mit einer Philosophie des Selbst, das sich ausschließlich in der Gegenwart aktualisiert. Das punktuelle, auf den Augenblick fokussierte, Zeiterleben umfasst dabei auch den Zuschauer. Er wird in seiner Suche nach einer größeren zeitlichen Gestalt enttäuscht und muss sich auf ein fragmentiertes Zeiterleben einlassen: „Auch der Zuschauer erlebt Momente, nicht Zusammenhänge.“ (MORENO 1970, S. 37). Dass der Einzelmoment höher geschätzt wird als seine Einbettung in eine Zeitlinie, bedeutet letztendlich nicht weniger als ein Aussteigen aus einem metrischen Zeitbegriff. Sills schreibt hierzu: „Do not think of present time as clock time but rather as a timeless moment, when all are mutually engaged in experiencing and experience, the outcome of which is unknown.” (Vorwort zu SPOLIN 1985, S.xxi)
Statt mit einem linearen Zeitbegriff arbeitet die Improvisation grundsätzlich mit einem punktuellen Zeitbegriff; im Mittelpunkt steht der Augenblick, das Jetzt. In diesem, so die Annahme, ist Alles bereits enthalten, was der Improvisierer für seine Antwort benötigt, er muss sich jedoch dem Augenblick vollständig öffnen, um zu neuen Entdeckungen zu gelangen, d.h. eine wirklich neue Erfahrung zu machen: „What is happening now will be the key to discovery.” (HALPERN, CLOSE & JOHNSON. 1994, S. 79) Dell betont ebenfalls den spezifischen nicht-linearen Zeitbegriff der Improvisation. Er sieht eine entsprechende Unterscheidung schon in den antiken Konzepten von Chronos und Kairos angelegt (DELL 2002, 65 ff). Chronos bezieht sich dabei auf die Quantität der Zeit und bildet somit die Grundlage für unseren heutigen metrischen Zeitbegriff. Kairos dagegen erfasst die Qualität der Zeit und damit die im jeweiligen Augenblick enthaltenen Möglichkeiten, die nur im Moment selber erfahrbar werden, während sie weder im Vorausplanen noch im Zurückschauen enthalten sind. Kairos, der richtige Augenblick, öffnet dabei Türen zu Räumen, die nur im Präsens erkennbar sind und nur hier durchschritten werden können. Schon in der nächsten Sekunde sind die Möglichkeiten verschwunden und die Informationen nutzlos. Kairos löst den Augenblick weitgehend aus dem zeitlichen Kontext heraus, es bezieht lediglich die unmittelbare Vergangenheit und die unmittelbare Zukunft mit ein: „Der im kairos Handelnde liest die Spur des Gerade-Vergangenen auf das ZukünftigMögliche, sprich: Gleich-Eintretende, hin. Es reicht also nicht hin, Prozess im chronologi-
218 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS schen Sinne zu denken. Seine Offenheit erhält der Prozess erst durch den kairos.“ (DELL 2002, S. 74)
Zusammenfassend lässt sich über die Zeitlichkeit des Improvisationstheaters sagen, dass ein besonderer Bezug zur Gegenwärtigkeit hergestellt wird und ein nichtmetrischer Zeitbegriff Verwendung findet. Statt chronologischer Zeit, wird eine Philosophie des Augenblicks zugrunde gelegt und die Techniken des Improvisationstheaters dienen in vielen Fällen dazu, das Abschweifen des Bewusstseins in Zukunft oder Vergangenheit zu verhindern, um zu einem unmittelbaren Erlebnis der Gegenwart zu gelangen. 2.4 Fazit: Materialität Die Untersuchung der Materialität des Improvisationstheaters zeigt als besonderes Merkmal dieser Theaterform ihren Verzicht auf Kontrolle. Dies manifestiert sich in den Aspekten Körperlichkeit und Räumlichkeit. Im Bereich Körperlichkeit wird weitgehend auf eine Kontrolle des Schauspielerkörpers verzichte, stattdessen wird dieser durch das Primat der Leiblichkeit als selbständiges, kreatives Agens der Aufführung betrachtet. Die körperlichen Prozesse der Figurenfindung werden durch die Technik des Point of Concentration angestoßen, bleiben jedoch unverfügbar und unvorhersagbar. Es handelt sich um selbstorganisierende, emergente Prozesse, die durch das Eingreifen des Bewusstseins nicht unterstützt, sondern im Gegenteil eher gestört werden. Ein Verzicht auf Kontrolle charakterisiert auch die Räumlichkeit des Improvisationstheaters. Seine räumliche Anspruchslosigkeit lässt den Schluss zu, dass die performative Ausgestaltung des Raumes weitgehend der Aufführung selber überlassen bleibt. Das Improvisationstheater strebt nicht nach einer Kontrolle des Theaterraums, sondern passt sich den jeweils vorgefundenen Bedingungen an. Um möglichst viele Optionen offen zu halten, orientiert es sich an den Idealen der bare stage, der Neutralität der Bühnenkleidung und der Möglichkeit zur Umdeutung der Requisiten. Dadurch entsteht eine minimalistische Ästhetik, welche die aktive Imaginationsleistung des Zuschauers einfordert und nahezu beliebige Transformationen der Bedeutung von Zeichen zulässt. Der performative Raum wird wesentlich bestimmt durch Zwischenfiguren, die zwischen Bühne und Zuschauerraum vermitteln. Die Grenze wird durch sie offengehalten, sodass die Fiktion einer ‚vierten Wand‘ beim Improvisationstheater keine Rolle spielt. Die Schauspieler verinnerlichen als Grundhaltung die permanente Wahrnehmung der Zuschauer und ihrer Reaktionen, die Anwesenheit des Publikums fließt dadurch in die Improvisation mit ein.
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Indem das Improvisationstheater weiterhin ohne ‚Off‘ arbeitet, entsteht die Situation einer Bühne auf der Bühne, die eine Doppelung des theatralen Rahmens bedeutet und die die These unterstützt, dass beim Improvisationstheater immer zwei Geschichten gleichzeitig erzählt werden: Diejenige der Fiktion selber und diejenige der Herstellung dieser Fiktion. Schließlich wurde der Aspekt der Zeitlichkeit des Improvisationstheaters untersucht, mit dem erwartbaren Ergebnis einer besonderen Bevorzugung der Zeitform des Präsens. Dies umfasst die Aktualität der Aufführung ebenso wie ihren Verzicht auf langfristige Wirkungen und ‚ewige‘ Themen. Stattdessen hat sich im Hintergrund der Theoriebildung eine Philosophie des Augenblicks gebildet, die ein Abschweifen in Vergangenheit und Zukunft ablehnt und den lebendigen Augenblick als den alleinigen Ort von ganzheitlicher (Selbst-)Erfahrung sieht.
3 S EMIOTIZITÄT Die Semiotizität einer Theaterform umfasst deren spezifische Zeichenbenutzung auf Produzentenseite und die Prozesse der Bedeutungszuschreibung auf Zuschauerseite. Ein simples Sender-Empfänger Modell, das die Zeichen als zu decodierende Information begreift, erweist sich schon für das inszenierende Theater als zu eng. Noch mehr gilt dies für das Improvisationstheater. So stellen Frost und Yarrow fest: „Semiotic analysis reminds us of two things: (1) that the improvising performer is continuously and spontaneously generating information on many levels (much of it unconscious); (2) that the process does not only involve a ‚sender‘ and a ‚receiver‘ (an ‚active‘ performer and a ‚passive‘ spectator); the spectator is active, too – more than usually so when watching something improvised.“ (FROST & YARROW 2007, S. 209)
Frost und Yarrow (2007) stellen wichtige Überlegungen zur Semiotizität des Improvisationstheaters an, weitere Ansätze finden sich bei Gerein (2004) und bei Charles (2003). Allen gemeinsam ist die Betonung des aktiven Anteils der Rezeption. Die Zuschauer werden durch die Neutralität (FROST & YARROW 2007, S. 196 ff), durch Lücken im Sinn (GEREIN 2004, S. 89) oder durch die dialogische und polyphone Aufführungsform (CHARLES 2003, S. 243 ff) zu einer aktiven Bedeutungsgenerierung angestiftet. Auf diesen Arbeiten aufbauend wird im Folgenden zunächst die Zeichenverwendung beim Improvisationstheater analysiert, insbesondere in der Verwendung figuraler Zeichen. Danach wird die Bedeutungsgenerierung auf Rezeptionsseite untersucht.
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3.1 Zeichenverwendung beim Improvisationstheater Neutralität Für Frost und Yarrow stellt das Konzept der Neutralität den Ausgangspunkt für die Semiotizität des Improvisationstheaters dar (FROST & YARROW 2007, S. 196 ff). Die Reduktion des Wahrnehmungsangebots auf ein Minimum eröffne demnach Möglichkeiten der Umdeutung, der Neudeutung und der Auflösung von Sehgewohnheiten, die den Reiz und die Wirkung des Improvisationstheaters ausmachten. Dies steht in Einklang mit den Ergebnissen der vorigen Kapiteln, wonach Körperlichkeit und Räumlichkeit des Improvisationstheaters konsequent auf eine möglichst hohe Neutralität zugeschnitten sind. Dadurch erhöht sich die Mobilität der Zeichen und die Möglichkeit ihrer Umdeutung; sie werden verfügbar für die Bildung von neuen, transitorischen Bedeutungen. Auf Schauspielerseite entspricht dem Konzept der Neutralität bei Frost und Yarrow das Konzept der disponsibilité, das auf Lecoq zurückgeht. Gemeint ist damit ein gedachter Zustand maximaler Responsivität: „For Lecoq it is a state of calmness, of balance, in which the readiness is all. The performer (most pointedly in improvisation) is always ready, always aware and always able to respond.“ (FROST & YARROW 2007, S. 196)
Am gedachten Punkt der disponsibilité ist der Improvisateur genau in der Mitte zwischen den verfügbaren Optionen: „Disponsibilité is the state of ‚armed neutrality‘ from which all movements are equally possible.“ (FROST & YARROW 2007, S. 196)
Disponsibilité und Neutralität sind daher miteinander verbundene Konzepte, die eine Offenheit des Prozesses für neue Bedeutungsgenerierungen einfordern.24 Erwünscht sind Momente der Freiheit, in denen die Spieler ebenso wie die Zuschauer sich aus alten Bedeutungszuschreibungen herauslösen können, um neue Erfahrungen zu machen. Isolation, Mobilität und Umdeutung von Zeichen Akteure und Zuschauer teilen beim Improvisationstheater ein fluides, ludisches Bedeutungssystem, bei dem die Zeichen aus alten Kontexten herausgelöst werden (Isolation der Zeichen), beweglich gemacht werden (Mobilität der Zeichen) und in
24 Die Ausführungen lassen gleichzeitig an Morenos Stegreiflage denken wie sie in Kapitel II 4.5 ausgeführt wurde.
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neuen, oft überraschenden Bedeutungen verwendet werden (Möglichkeit zur Umdeutung der Zeichen). Frost und Yarrow veranschaulichen dies: „In impro situations, the chair could become an umbrella, a bicycle, the horns of a bull; the pose could suggest a child being told off, a person sheltering from a storm and dying to go to the loo, praying and so on. The sign ceases to denote and becomes the possibility of infinite connotation; it opens out to the play of significance.” (FROST & YARROW 2007, S. 60)
Diese Möglichkeit zur Umdeutung der Zeichen teilt das Improvisationstheater mit verwandten Formen wie dem Clownstheater oder dem Figurentheater. Es geht jedoch durch das Konzept der Neutralität über diese hinaus, indem es deutlich weniger Wahrnehmungsgegenstände anbietet: Indem die Materialität reduziert ist – keine Requisiten, kein Bühnenbild, keine Kostüme – sind die ‚Gegenstände‘ auf der Bühne extrem flüchtig. Auf der Seite der Zeichenbenutzer, also der Spieler, hat insbesondere der erste Schritt, die Isolation der Zeichen, besondere Bedeutung. Fischer-Lichte betont, dass Zeichen zunächst aus ihren gegebenen Kontexten herausgelöst werden müssen, damit sie frei sind, neue Verbindungen einzugehen: „Die Herauslösung der erscheinenden Phänomene aus vorgegebenen Kontexten schafft offensichtlich eine günstige Voraussetzung dafür, die Wahrnehmenden in einen Zustand zu versetzen, der dem Prousts beim Riechen und Schmecken der in Tee getauchten Madeleine vergleichbar ist. Sie lassen sich nun an nahezu jeden beliebigen Kontext anschließen, zu dem unvermittelt oder über eine ganze Reihe von Vermittlungen sich eine Verbindung herstellen läßt. Diese Verbindung wird allerdings nur in den wenigsten Fällen bewußt und intentional hergestellt.“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 248)
Die Isolation der Zeichen ist damit auf Produzentenseite die Voraussetzung für eine spontane Bedeutungsgenerierung auf der Rezeptionsseite. Die neuen Bedeutungszuschreibungen sind nicht das Resultat kognitiver Prozesse, sondern stellen sich ‚von selber‘ her – vergleichbar etwa chemischen Elementen, die, wenn sie nicht fest gebunden und beweglich sind, spontan neue Verbindungen eingehen. Diese Feststellung ist im vorliegenden Kontext relevant, weil damit auch auf semiotischer Ebene Phänomene der Emergenz postuliert werden. Beim Improvisationstheater ist die Auflösung fester Zeichen-BedeutungVerbindungen, also die Isolation der Zeichen, ein wichtiger Teil des Spielertrainings. Dazu werden zunächst alte feste Konditionierungen geschwächt. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet eine basale Übung von Johnstone (JOHNSTONE 2004, S. 13). Die Teilnehmer werden aufgefordert, durch den Raum zu gehen, auf Gegenstände zu zeigen und dazu laut eine Begriffsbezeichnung zu rufen – jedoch nicht die Bezeichnung des jeweiligen Gegenstandes. Das Resultat ist ver-
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blüffend: die Wahrnehmung der Umwelt scheint sich bereits nach wenigen Sekunden zu intensivieren, was auf die Lockerung der Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem zurückzuführen sein dürfte. Man hat es hier mit Übungen der Dissoziation zu tun, die der Auflösung von festen assoziativen Verbindungen dienen. Analoge Übungen gibt es häufig. Indem der Spieler die feste Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem auflöst, wird das Zeichen vom Bezeichneten abgelöst und frei verfügbar: „The practice of improvisation works initially to free the producer of meanings, both as an individual and in the network of relationships in which he or she operates, and to enable him or her to develop a larger ‚vocabulary‘“ (FROST & YARROW2007, S. 187)
Die Lockerung von zuvor festen assoziativen Verbindungen bildet die Basis für die spezifische Zeichennutzung beim Improvisationstheater, bei der den Zeichen transitorische Bedeutung zugewiesen wird. Eine konstante, feste Zeichenbedeutung und damit eine für die Zuschauer verlässliche Bühnenrealität stellt sich beim Improvisationstheater nicht ein. Vielmehr ist sie ständig bedroht durch die Mobilität der Zeichen, sie muss immer wieder hergestellt werden. Der Prozess der Improvisation provoziert ‚Fehler‘ in der Konstruktion der Bühnenrealität. Beispielsweise werden Möbel, die nur in der gemeinsamen Imagination existieren, mit hoher Wahrscheinlichkeit umgerannt, Türen durchlaufen, Gegenstände unwillentlich transformiert, kurz die Spielrealität ohne Absicht verändert. Die emergierende Bühnenrealität stabilisiert sich durch die Techniken der Improvisation (Akzeptieren, Yes-And-Prinzip) für einen gewissen Zeitraum, wird aber durch die Prozesse der spontanen Produktion bald wieder instabil, denn es ist unvermeidlich, dass die unterschiedlichen Ideen der Spieler aufeinanderprallen. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler der improvisierenden Produktion, sondern um eine systematisch herbeigeführte Destabilisierung der Bedeutungen. Das Mitvollziehen von Missverständnissen und logischen Brüchen ist ein wesentlicher Teil des Zuschauervergnügens. Die Spieler legen es zwar nicht darauf an, die Fiktion möglichst oft zu brechen – dies geschieht durch die Art der Zeichenverwendung ‚von selber‘ – , sie verhindern es jedoch andererseits nicht, sondern betrachten entsprechende ‚Fehler‘ als willkommene Anlässe für eine Destabilisierung der Bedeutungen. Das Zusammenfügen von aus dem Kontext herausgelösten Zeichen zu neuen Bedeutungen wird nicht als die Aufgabe des Spielers betrachtet, sondern als emergentes Phänomen begriffen, über welches keine Kontrolle ausgeübt werden kann. Die emergenten Prozesse der Bedeutungsgenerierung sind für keinen Teilnehmer der Aufführung verfügbar und kontrollierbar. Isolation, Mobilität und Umdeutbarkeit der Zeichen
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stehen also im Dienst der Emergenz von Bedeutungen. Die Bedingungen für solche Emergenzphänomen, so die These, werden beim Improvisationstheater optimiert.25 Zwei Bedeutungsebenen Im Gegensatz zur Performancekunst verzichtet das Improvisationstheater nicht auf eine fiktionale Ebene, auf welcher Figuren dargestellt, Geschichten erzählt und eine Als-Ob-Welt erzeugt wird. Ergänzt wird diese fiktionale Ebene aber um eine weitere Ebene, auf welcher der Spieler als Zeichenbenutzer sichtbar wird, als jemand, der diese Geschichten erzählt, diese Figuren erfindet und Theater spielt. Eine gewöhnliche Improvisationstheateraufführung besteht in einem Wechsel von zwei Zuständen in Form von Moderation (Zustand des Kommentars) und Szenenspiel (Zustand des Spiels). Zusätzlich können die Spieler auch noch während der Szenen überraschend in den Zustand des Kommentars wechseln. Anhand einer Aufführung der Gruppe Isar 148 konnte Gerein detailliert nachweisen wie kunstvoll der Übergang von einem zum anderen Zustand eingesetzt wird (GEREIN 2004, S. 116 ff). Salinsky beschreibt den bewussten Einsatz beider Darstellungsebenen im modernen Improvisationstheater als eine Verdoppelung der Aufmerksamkeitsgegenstände des Zuschauers (SALINSKY & WHITE 2008, S. 3): Dieser kann einerseits den Inhalt der Szene wahrnehmen – die Figuren in ihren jeweiligen Situationen – , andererseits den Prozess des Improvisierens – also die Schauspieler beim improvisatorischen Aufbau einer fiktionalen Realität: „A schism develops right here, which we will return to again and again in this book, between content and process. [...] As soon as the audience is made aware of the process, however, then a second point of interest emerges. There is something daring about beginning with random suggestion from the audience, which makes much of public improvisation about taking a risk.
25 Dass Isolation, Mobilität und Möglichkeit zur Umdeutung von Zeichen nicht nur wichtige Technik sind, sondern darüber hinaus ein Grundprinzip der Aufführung sein können, zeigt das Format Harold. Eine Aufführung von Harold kann als eine abendfüllende Transformation eines einzigen sprachlichen Zeichens betrachtet werden: Hierbei wird nur ein einziges Wort zu Beginn der Aufführung vom Publikum geholt. In einer ersten Runde finden die Spieler verbale, gestische und akustische Assoziationen zu diesem Wort, in einer zweiten Runde werden diese zu Szenenanfängen, Monologen, Liedern oder sonstigen Einlagen ausgeweitet. Manche Stränge werden fortgesetzt und bilden am Ende vielleicht eine längere Geschichte, manche verschwinden wieder und tauchen nicht mehr auf. Das Ausgangswort wird in seinen verschiedenen Bedeutungen erforscht, in neue Kontexte gesetzt, mit Assoziationen angereichert und dadurch transformiert. Der Zuschauer hat am Ende der Aufführung ein neues Verhältnis zum Zeichen gewonnen.
224 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS The potential problem with this approach is that the audience may be encouraged to admire the process rather than being engaged in the story. (SALINSKY & WHITE 2008, S. 3)
Diese semiotische Doppelbödigkeit kann als ein grundsätzliches Phänomen des Improvisationstheaters gelten. Gerade im eleganten Wechsel zwischen Kommentar und Spiel, zwischen Makrostruktur und Mikrostruktur, zwischen Rahmung und Improvisation besteht die performative Qualität des Improvisationstheaters: Es erzählt gleichzeitig zwei Geschichten und ermöglicht es sowohl Spielern als auch Zuschauern, zwischen beiden hin und her zu schalten. Die zweite Geschichte, die Rahmung, ist deswegen so wichtig, weil sie immer dann aktiviert werden kann, wenn die fiktionalen Elemente scheitern. Salinsky erläutert dies am Beispiel der Improvisationsformen, die einen Wettkampf als Rahmenhandlung inszenieren und die außerordentlich erfolgreich sind: „Competitive formats tell two stories: The first is the story the improvisers are telling within their scenes and games. The second is the story of their struggle for glory. […] So, the second way to address the problem is to recognize that improvisers are always telling these two stories, and that the art of developing and performing a good improv show is identifying which of the two is the more interesting at any one moment, and therefore where the emphasis should be placed.“ ( SALINSKY & WHITE 2008, S. 34-35)
Diese zweifache Erzählstruktur des Improvisationstheaters ermöglicht es den Spielern, jederzeit zwischen zwei Bedeutungsebenen hin und her zu wechseln – beispielsweise durch das Beiseite-Sprechen, dem plötzlichen Wechsel in den Zustand des Kommentars. Double Voiced Strategies Einen konkreten empirischen Beleg für den Einsatz der beiden geschilderten Bedeutungsebenen hat Sawyer (2003) geführt. Die meisten Theaterformen, so Sawyer, untersagen den Schauspielern die Kommunikation außerhalb der gespielten Figur: Sie sollen das eigene Spiel und das Spiel ihrer Mitspieler nicht kommentieren, indem sie beiseite sprechen oder gestische/mimische Kommentare an das Publikum adressieren. Anders beim Improvisationstheater, hier ist der Zustand des Kommentars erlaubt. Sawyer unterscheidet deshalb zwischen „In-CharakterStrategies“ und „Out-of-Charakter-Strategies“ (SAWYER 2003, S. 146). Bezeichnend ist dabei, dass die überwiegende Mehrzahl der Kommunikationen beim Improvisationstheater nicht der einen oder anderen Strategie zuzuordnen sind, sondern gleichzeitig innerhalb der Figur und außerhalb der Figur verwendet werden. Sawyer bezeichnet diese doppelte Kommunikationsform als Double Voiced Strategies. Mit diesen Strategien kann der Spieler innerhalb der Fiktion Dinge kommunizieren, die eigentlich Teil des Rahmens sind. Er befindet sich damit sowohl inner-
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halb als auch außerhalb seiner gespielten Figur. Sawyer führt als Beispiel folgende erste Dialoglinie an: „Mom, it’s my 21st birthday and I want this party but do we have to have that stupid sock hunt again?“ (SAWYER 2003, S. 146)
Die Dialogzeile dient dazu, die Plattform für die Szene innerhalb kürzester Zeit sowohl dem Publikum als auch der Mitspielerin klarzumachen. Die Spielerin definiert (1) die Mitspielerin als Mutter, (2) die eigene Figur als Tochter, (3) den Anlass als 21. Geburtstag und (4) das Thema als Konflikt zwischen Mutter und Tochter. Sawyer analysiert nun diejenigen Anteile der Aussage, die in der wirklichen Situation nicht explizit kommuniziert würden. So würde die Tochter es wohl kaum nötig finden zu erwähnen, dass es ihr 21. Geburtstag ist, denn es wäre eine Information, die beiden Kommunikationsteilnehmern bekannt wäre. Durch die geschickte Formulierung wird die Information so verpackt, dass sie notfalls als Teil der fiktiven Kommunikation zwischen Mutter und Tochter durchgehen kann, während sie gleichzeitig der Kommunikation mit der Mitspielerin und der Kommunikation mit dem Publikum dient. Die Double Voiced Strategies sind für Improvisationsschauspieler sehr wichtig, denn mit ihnen kann eine für das Publikum nachvollziehbare Bühnenrealität aufgebaut werden, ohne den Dialog der Figuren zu unterbrechen. Sie sind auch ein Teil der Kommunikation der Schauspieler untereinander, während sie gleichzeitig auf einer fiktionalen Ebene agieren. „Double voiced“ bezieht sich auf die Tatsache, dass die Akteure auf zwei Kommunikationsebenen gleichzeitig agieren, also gewissermaßen mit zwei Stimmen sprechen. Sawyer kann zeigen, dass Double Voiced Strategies sich klar definieren und methodisch von anderen Teilen der Kommunikation abgrenzen lassen. Das Konzept der Double Voiced Strategies wurde von ihm operationalisiert und damit einer empirischen Überprüfung verfügbar gemacht (SAWYER 2003, S. 146 ff). Für den semiotischen Aspekt der Zeichenbenutzung im Improvisationstheater belegt seine Untersuchung, dass die Produktion der Zeichen auf verschiedenen Bedeutungsebenen geschieht, die oft gleichzeitig aktiviert sind, sich aber dennoch unterscheiden lassen. Der Schauspieler ist gleichzeitig Teilnehmer mehrerer Kommunikationssysteme, von denen die Kommunikation unter den gespielten Figuren sozusagen nur die oberste Schicht ist. Unter dieser oberen Schicht kommuniziert er mit seinen Mitspielern und dem Publikum, wobei er innerhalb der Szenen darauf achtet, die Spielrealität nicht zu zerreißen. Sawyer zeigt, dass sich die einzelnen Kommunikationen den entsprechenden Kommunikationssystemen zuordnen lassen. Seine Untersuchung der Double Voiced Strategies unterstreicht die im Folgenden ausgeführte These, dass im Improvisationstheater zwei (bzw. sogar drei) Bedeutungssysteme gleichzeitig aktiviert werden und dass die Spieler darin geschult werden, in mehreren Bedeutungssystemen gleichzeitig zu kommunizieren.
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Das Spiel als eigene Ebene der Bedeutung Bis hier wurden zwei Bedeutungsebenen angenommen, die der ‚Fiktion und diejenige der ‚Wirklichkeit‘. Im Folgenden wird die These vertreten, dass die spezifischen Semiotisierungsprozesse des Improvisationstheaters in besonderem Maße von einer dritten Ebene, der des Spiels, geprägt werden (siehe auch Kapitel III 4.4) und dass daher ein dreifach geschichtetes Modell einen höheren Erklärungswert bietet. Dazu wird ein von Schwind eingeführtes semiotisches Modell herangezogen, das er 1997 in seinem Artikel „Theater und Spiel“ veröffentlicht hat. Sein Ansatz ermöglicht eine heuristische Trennung von drei verschiedenen Bedeutungsebenen, wobei Schwind betont, dass in der konkreten Aufführung die Ebenen sich vermischen oder zwischen ihnen hin und hergewechselt wird. Sein Ausgangspunkt ist die Differenzierung von Schauspieler versus Rolle versus Figur. Im Augenblick, in dem der Schauspieler die Bühne betrete, werde er erstens zur Figur, bleibe zweitens gleichzeitig ein Individuum mit seiner jeweiligen Körperlichkeit und trete drittens als Rollenspieler in Erscheinung, also als derjenige, der die Figur spielt. Dieses Konzept der ‚Verdreifachung des Schauspielers‘ geht über das Konzept der Doppelung hinaus, das Wekwerth in den 70-er Jahren entworfen hatte (WEKWERTH 1974). Das Neue an Schwinds Ansatz ist, dass ein Zwischenbereich angenommen wird, in dem die theatrale Fiktion als gespielt und der Schauspieler als spielender Zeichenbenutzer erscheinen. Der Betrachter habe demnach die Möglichkeit, entweder den Schauspieler in seiner phänomenalen Gestalt wahrzunehmen oder ihn als Rollenspielenden zu sehen oder die fiktive Figur wahrzunehmen. Er werde dies gemäß seinem kontextuellen Bezugssystem tun – die Einordnung liege also gewissermaßen im Auge des Betrachters, wobei er von seiner jeweiligen historischen Perspektive, seinem Theaterverständnis, der Inszenierung und vielen weiteren Kontextfaktoren beeinflusst sei. Trotz der subjektiven Anteile, so Schwind, sei eine Analyse der hinter diesen Zuordnungen liegenden kulturell bedingten Wahrnehmungsstrukturierungen auf einer allgemeineren Ebene möglich und sinnvoll: „Um dies intersubjektiv vermitteln zu können, sollten für eine Analyse jeweils Bezüge unterschiedlichster Art zu kulturell bedingten Wahrnehmungsstrukturierungen von Wirklichkeitsversus Spiel- versus Fiktions- Ebenen hergestellt werden. Eine solchermaßen wechselweise Korrelation der bedeutungsvermittelnden Einheiten von Schauspieler-Rolle-Figur auf dem Hintergrund von Bezugssystemen für unterschiedliche Bedeutungen aus Wirklichkeit-SpielFiktion, und zwar vom Standpunkt und aus der Wahrnehmungsperspektive eines je bestimmten Betrachters heraus, ist die erkenntnisfördernde Fragestellung dieser theoretischen Anmerkungen.“ (SCHWIND 1997, S. 419)
Hinter der Unterscheidung von Schauspieler, Rolle und Figur stehen also drei unterscheidbare bedeutungsgenerierende Bezugssysteme, nämlich Wirklichkeit, Spiel und Fiktion. Theatrale Zeichen können jeweils vor dem Hintergrund dieser
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drei Bezugssysteme benutzt und verstanden werden. Schwind hebt dabei die Ebene des Spiels hervor: „Ich gehe im Folgenden davon aus, dass das entscheidende Bindeglied zwischen den verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit und Fiktion das Moment des Spielens ist, das seinerseits eigene Ebenen, die zwischen ‚real‘ und ‚fiktiv‘ vermitteln, in deren Wechselbeziehungen miteinbringt.“ (SCHWIND 1997, S. 421)
Es entsteht ein dreifach geschichtetes Modell, in dem das Spiel eine Zwischenstellung zwischen den semiotischen Bezugssystemen Wirklichkeit und Fiktion einnimmt: Tab. 8: Drei Ebenen der Bedeutung beim Theater
(Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von SCHWIND 1997)
Grundsätzlich gilt, dass das Theater immer auf allen drei Ebenen eine Bedeutungsgenerierung ermöglicht. Der Zuschauer wählt einen dieser Bedeutungsrahmen oder wechselt zwischen ihnen hin und her. Innerhalb dieser Rahmen kann er die theatralen Zeichen deuten. Gleichzeitig können die Akteure bestimmte Bedeutungsrahmungen akzentuieren, indem sie durch die Art der Inszenierung signalisieren: „Hier geht es um Wirklichkeit!“, „Hier geht es um Spiel!“ oder „Hier geht es um Fiktion!“. Die Bedeutungsrahmen können sich abwechseln oder gleichzeitig aktiviert sein. Das Modell ermöglicht– bei allen Einschränkungen, die jedem Modell innewohnen – eine genauere Analyse der Semiotizität des Improvisationstheaters. So wird zunächst deutlich, dass es das Verhältnis von Spieler und Figur wesentlich besser beschreibt als ein zweifach geschichtetes Modell: Der Spieler verwendet das figurale Zeichen einerseits auf einer repräsentativen Weise und erzeugt damit eine fiktive Figur, andererseits verwendet er es auf einer präsentativen Ebene und bleibt damit phänomenal wahrnehmbar. In einer dritten Ebene spielt er jedoch mit den Zeichen und wird als spielender Zeichenbenutzer sichtbar. Diese Wahrnehmung des
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Spielers als Zeichenbenutzer drängt sich in der improvisierenden Aufführung in den Vordergrund der Wahrnehmung und ist in vielen Fällen dominant. Das Improvisationstheater betont die Ebene des Spiels als Zwischenebene zur Hervorbringung von Fiktion in einer Weise, die genau diese spielerischen Prozesse der Realitätskonstruktion zu einem eigenen, zentralen Wahrnehmungsgegenstand macht. Das Spiel wird daher als eigene Bedeutungsebene primär. Dies zeigt sich schon in der Reihenfolge, in welcher die Ebenen innerhalb der Aufführung etabliert werden: Gleich zu Beginn wird eine Rahmung als Spiel erzeugt, der Schauspieler erscheint als Rollenspieler und während des gesamten Warm-ups wird diese spielerische Ebene forciert. Erst danach schlüpft er in eine Rolle und etabliert damit die Bedeutungsebene der Fiktion. Bis er zum ersten Mal als fiktive Figur erscheint, können bis zu 20 Minuten vergehen, in denen er einerseits als Rollenspieler andererseits als phänomenaler Körper präsent ist. Das heißt, sowohl die Bedeutungsebene der Fiktion als auch diejenige der Wirklichkeit werden erst nach der Spielebene etabliert und treten hinter diese zurück. Die semiotischen Ebenen aus Schwinds Modell werden also in besonderer Weise gewichtet: Tab. 9: Gewichtung der Bedeutungsebenen beim Improvisationstheater
Fiktion
Der Spieler erscheint als Figur
Spiel
Der Spieler erscheint als Zeichenbenutzer und Rollenspieler
Wirklichkeit
Der Spieler erscheint in seiner Phänomenalität
(Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von SCHWIND 1997)
Primär ist demnach die Bedeutungsebene des Spiels, auf welcher der Schauspieler als Rollenspieler erscheint. Das Spiel ist die erste Rahmensetzung, die dominant ist und den Hintergrund für das Hinzufügen von weiteren Bedeutungsebenen bildet. Innerhalb der Rahmung als Spiel werden Zeichen anders generiert und anders gelesen als außerhalb dieses Rahmens. Sie sind ‚nicht so gemeint‘. Alle Mitteilungen im Spiel sind „doppelt paradox“ (ADAMOWSKY 2000, S. 35), d.h. sie enthalten neben ihrer direkten Bedeutung Mitteilungen, die den Empfänger befähigen, sie als Teil des Spiels zu identifizieren. Mit anderen Worten: Jede Kommunikation wird so
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vermittelt, dass sie als gespielt erkennbar bleibt. Dies geschieht beim Improvisationstheater beispielsweise innerhalb der Rahmenstruktur des Wettkampfes, indem dieser übertrieben und ironisiert wird. Das Publikum weiß, dass es keinem echten Wettkampf beiwohnt, sondern einem gespielten Wettkampf.26 Erst wenn die Rahmensetzung Spiel eingeführt ist, findet ein Übergang auf die Ebene der Fiktion statt: die erste Szene wird gespielt, Figuren tauchen auf, wobei es dem Zuschauer immer freisteht, den Schauspieler nach wie vor als Spielenden zu sehen. Der Übergang wird in der Regel durch eine kurze Verdunkelung der Bühne vollzogen. In Deutschland wird er meist durch das ‚Einzählen‘ markiert: Das Publikum zählt chorisch von fünf abwärts, es vollzieht damit den Übergang zu einer anderen Bedeutungsebene gemeinsam und aktiv. Das Bühnenlicht geht an, alle befinden sich nun auf der Ebene der Fiktion, wobei die Ebene des Spielens unterschwellig noch präsent ist, da sie zuerst eingeführt wurde. Die Transformation des Schauspielers in die Rolle findet oft auf offener Bühne statt. Dennoch ‚vergessen‘ die Zuschauer für Momente oder gar für ganze Geschichten, dass der Akteur eben noch persönlich mit ihnen gesprochen hat und nehmen stattdessen die Figur wahr, die er verkörpert. In der Folge der Aufführung wechseln die Spieler nun zwischen den Ebenen des Spiel und der Fiktion hin und her, wobei auch die Ebene der Realität immer wieder berührt wird, indem die Spieler ihre phänomenalen Körper präsentieren oder wenn einem Spieler Assoziationen entschlüpfen, bei denen das Publikum denkt: „Das ist er/sie jetzt aber wirklich!“. Eine Selbstoffenbarung der Spieler ist durchaus erwünscht, Aspekte aus ihrem Alltag fließen in die Aufführung mit ein, sie sprechen sich mit Klarnamen an; weit verbreitet ist auch die Verwendung von authentischen Monologen. Close brachte diesen Aspekt auf den Punkt: „The truth is funny.“ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 15). Dabei geht es niemals um Selbstoffenbarung in einem therapeutischen oder paratheatralen Sinn, sondern um die Erzeugung einer dritten Resonanzebene: Der Zuschauer wird in Unsicherheit gebracht, ob er einen kurzen Blick auf den Schauspieler jenseits von Figur und Rollenspieler geworfen hat, als Mensch und Individuum. Erfahrene Improvisateure spielen bewusst mit den Übergängen und Verwirrungen. Sie bauen wirkliche Emotionen und körperliche Impulse in ihr Spiel ein und schaffen Unklarheit darüber, ob sie nun als Person sichtbar geworden sind oder nicht. Durch das Wechselspiel von Rahmenstruktur (Moderation) und Improvisation werden die Bedeutungsrahmen während der gesamten Aufführung gewechselt, wobei die Ebene des Spiels den umfassenden Rahmen darstellt, der mit jeder Zwischenmoderation wieder aktualisiert wird.
26 Johnstone legt beispielsweise sehr viel Wert darauf, dass auch die Verlierer eines Theatersport-Matches jubeln und fröhlich von der Bühne gehen (JOHNSTONE 1998). Auf diese Weise wird der Spielcharakter immer wieder neu aufgezeigt.
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Tab. 10: Die Abfolge der Bedeutungsebenen beim Improvisationstheater:
M = Moderation I = Improvisation M
I
M
I
M
I
M
I
M
Wirklichkeit
x
x
x
x
x
x
x
x
x
Spiel
X
x
X
x
X
x
X
x
X
Fiktion
X
X
X
X
(Quelle: Eigene Darstellung)
Die Tabelle zeigt ein typisches Wechselspiel in der zeitlichen Abfolge einer Improvisationsaufführung. Ein großes X zeigt den jeweils dominanten Bedeutungsrahmen. Ein kleines x zeigt einen möglichen, aber nicht dominanten Bedeutungsrahmen. Innerhalb der Moderation präsentiert sich der Moderator als Spielender – kann aber vom Zuschauer auch als ‚wirklich‘ wahrgenommen werden. Diese Rahmung stellt damit den Hintergrund für die gespielten Szenen dar. Innerhalb der Improvisationen ist die Ebene der Fiktion zwar dominant, jedoch sind die Ebenen des Spiels und der Wirklichkeit nach wie vor aktualisiert, d.h. der Spieler kann zwischen den Ebenen hin und her springen, bzw. die Wahrnehmung des Zuschauers von einer in die andere Bedeutungsebene kippen. Beim Improvisationstheater – so die These – wird erstens die Ebene des Spiels stärker betont als in anderen Formen des Theaters und zweitens wechseln sowohl die Spieler als auch die Zuschauer wesentlich öfter zwischen den genannten drei Ebenen hin und her. Obwohl sich verschiedene Stile und Auffassungen herausgebildet haben, bleibt doch festzuhalten, dass das Improvisationstheater als Theaterform mit dem Zwischenraum zwischen Schauspieler und Figur spielt wie keine andere Theaterform und dass dieser Zwischenraum als eine eigene Bedeutungsebene konzipiert werden sollte. Nach jeder Destabilisierung der Wahrnehmung wird beim Improvisationstheater immer wieder die primäre Bedeutungsebene des Spiels etabliert. Sie ist so dominant, dass jeder noch so ernst gemeinte Inhalt letztendlich die Sphäre des Spiels beim Improvisationstheater nicht verlassen kann.27
27 Hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied zur Performance-Kunst vor, die eine Destabilisierung der Wahrnehmung nicht wieder stabilisert, sondern gerade darin ihre Wirkung sucht.
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3.2 Bedeutungszuschreibung beim Improvisationstheater Im Folgenden wird die Semiotisierung auf Rezeptionsseite untersucht, also die Frage, wie die Zuschauer die improvisierende Aufführung mit Bedeutung(en) belegen. Die spielerische Zeichenverwendung auf Produktionsseite lädt grundsätzlich zu transitorischer Bedeutungszuschreibung auf Rezeptionsseite ein, d.h. auch der Zuschauer kann und muss nicht an gewohnten Bedeutungen festhalten, sondern kann aus den Zeichen herauslesen, was sie sonst noch bedeuten könnten. Charles formuliert diesen Aspekt folgendermaßen: „As a result of this transforming/creative energy, improvisation employs highly malleable and connotative signs that invite fluid, complex and provisational semiotic readings. Few signs (if any) are presented as bearing fixed, denotative meanings; signs may be quickly recycled into the event and subsequently redefined in their new context as necessitated by demands of the moment.” (CHARLES 2003, S. 59)
Die spielerische Zeichenverwendung teilt sich dem Publikum mit und provoziert es zu ebenfalls spielerischer Neukombinationen von Zeichen und Bezeichnetem. Der Wechsel der Bedeutungsebenen betrifft damit auch die Bedeutungsgenerierung auf Rezeptionsseite, d. h. die Wahrnehmung des Zuschauers oszilliert zwischen Spiel, Wirklichkeit und Fiktion. Das Oszillieren zwischen verschiedenen Wahrnehmungsordnungen führt zu Wahrnehmungsereignissen, die nicht stabil sind, sondern in die eine oder andere Richtung kippen können. Perzeptive Multistabilität Fischer-Lichte beschreibt zwei Ordnungen der Wahrnehmung die „Ordnung der Präsenz“ und die „Ordnung der Repräsentation“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 255 ff). Diese Einteilung entspricht der oben ausgeführten Unterscheidung einer präsentativen und einer repräsentativen Zeichennutzung auf Produzentenseite. Das Umspringen der Wahrnehmung resultiert aus der Tatsache, dass beide Wahrnehmungsordnungen, nicht zur gleichen Zeit aktualisiert sein können, da sie sich gegenseitig ausschließen – genau wie bei einer sogenannten Kippfigur28. Fischer-
28 Kippfiguren oder Kippbilder sind Stimuli, die zu spontanen Gestalt- bzw. Wahrnehmungswechseln führen können. Bekannte Kippbilder sind beispielsweise der NeckerWürfel, bei dem der Betrachter mal die eine, mal die andere Fläche als Vorderseite sieht, oder die ‚Hasenente‘, die mal ein Entenkopf, mal ein Hasenkopf zu sein scheint. In der psychologischen Forschung wurden Kippfiguren zum beliebten Forschungsobjekt als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gestaltpsychologie Einzug hielt. Ihre Erforschung hatte großen Anteil an der Formulierung der Gestaltgesetze, welche die Wahrnehmung als
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Lichte hat hierfür den Begriff „perzeptive Multistabilität“ in die Theaterwissenschaft eingebracht und am bereits besprochenen Verhältnis von Spieler und Figur erläutert (FISCHER-LICHTE 2004, S. 151). Entscheidend ist dabei, dass der Zuschauer keine vollständige Kontrolle über die jeweils aktualisierte Wahrnehmungsordnung besitzt. Eine Wahrnehmungsordnung verliert demnach ihre integrierende Kraft und kippt an einem bestimmten Punkt ‚von selbst‘ in die jeweils andere Wahrnehmungsordnung. Das Umspringen der Wahrnehmungsordnungen wäre demnach ein spontaner Prozess, der allerdings durch die Zeichennutzung innerhalb der Aufführung entweder ermutigt oder entmutigt werden kann. Fischer-Lichte beschreibt es als ein spezifisches Merkmal der Performance-Kunst, dass sie ein Oszillieren zwischen diesen Wahrnehmungsordnungen herbeiführt und damit einen Zustand der Instabilität: „Je öfter das Umspringen sich ereignet, desto häufiger wird der Wahrnehmende zum Wanderer zwischen zwei Welten, zwischen zwei Ordnungen der Wahrnehmung. Dabei wird er sich zunehmend bewusst, dass er nicht Herr des Übergangs ist. Zwar kann er immer wieder intentional versuchen, seine Wahrnehmung ‚einzustellen‘ – auf die Ordnung der Präsenz oder die Ordnung der Repräsentation. Ihm wird jedoch sehr bald bewusst werden, dass das Umspringen ohne Absicht geschieht, dass er also, ohne es zu wollen oder es verhindern zu können, in einen Zustand zwischen den Ordnungen gerät. Er erfährt in diesem Moment seine eigene Wahrnehmung als emergent, als seinem Willen und seiner Kontrolle entzogen, als ihm nicht vollkommen frei verfügbar, zugleich aber als bewusst vollzogen.“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 258)
aktive Syntheseleistung des Gehirns verstehen. Der Betrachter kann dabei immer nur eine Sichtweise einnehmen. Er kann nicht gleichzeitig den Hasenkopf und den Entenkopf sehen, sondern nur zwischen den beiden Betrachtungsweisen hin und her pendeln. Ein Interpretationsmuster ist jeweils dominant und scheint damit das andere auszuschalten.Die psychologisch-neurologischenTheorien zu multistabilen Wahrnehmungsphänomenen basieren auf reziproken Beziehungen zwischen den alternativen Wahrnehmungsformen, bzw. der ihnen zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen. Uneinigkeit besteht in der Forschung jedoch über die wichtige Frage, inwiefern der Betrachter das Umkippen der Wahrnehmung aktiv herbeiführen oder sonstwie beeinflussen kann. Psychologische Forscher betonen die endogene, also rein wahrnehmungsbiologisch gesteuerte Natur dieser Vorgänge. Wittgenstein, der sich als Philosoph mit Kippfiguren beschäftigt hat, nimmt dagegen eine aktive Beteiligung des intentionalen Bewusstseins beim Phänomen des Aspektwechsels an. Die neuere neurologische Verortung dieser Prozesse in höheren Gehirnarealen unterstützt diese Vermutung einer bewussten Einflussnahme.
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Für das Improvisationstheater wurde bereits festgestellt, dass es zwischen einer präsentativen und repräsentativen Zeichenverwendung pendelt und dass diese Pendelbewegung einen spielerischen Charakter hat. Analog dazu oszilliert die Wahrnehmung der Zuschauer zwischen zwei ‚Geschichten‘ oder Wahrnehmungsordnungen, die jeweils in der Rahmung oder in den Einzelimprovisationen aktualisiert sind: Tab. 11: Die Abfolge der Bedeutungsebenen auf Rezeptionsseite
M = Moderation I = Improvisation Wahrnehmungsordnung der Präsenz Wahrnehmungsordnung der Repräsentation
M
I
M
I
M
I
M
I
M
X
x
X
x
X
x
X
x
X
X
X
X
X
(Quelle: Eigene Darstellung)
Die Wahrnehmungsordnung der Präsenz ist demnach primär und dominant. Die Zwischenmoderationen dienen dazu, diese Ordnung der Präsenz immer wieder zu aktualisieren, d.h. das Publikum aus der Fiktion herauszulösen und ihm eine Erfahrung direkter leiblicher Ko-Präsenz zu verschaffen. Die Ordnung der Repräsentation geschieht nachrangig und verursacht kognitive Dissonanzen: Da die Rollenübernahme in der Regel auf offener Bühne geschieht, weiß der Zuschauer, dass die Figur nur gespielt ist. Der Spieler bleibt als Rollenspieler sichtbar. Wenn daher seine Wahrnehmungsordnung in die Ordnung der Repräsentation kippt, was er nicht oder nur begrenzt beeinflussen kann, wenn er also statt des Spielers die Figur sieht, geschieht dies wider besseres Wissen. Da beide Wahrnehmungsordnungen nicht gleichzeitig aktualisiert sein können und ein längeres Verweilen in einer der beiden Wahrnehmungsformen dem Zuschauer unmöglich gemacht wird, setzen emergente Wahrnehmungssprünge ein. Dies wäre möglicherweise unter anderen Umständen verunsichernd, wird jedoch beim Improvisationstheater durch die spielerische Rahmung aufgefangen. Eine Erzeugung von Wahrnehmungskrisen wie etwa bei der Performance-Kunst (ROSELT 2008, S. 132) ist beim Improvisationstheater nicht gewollt. Das Herstellen von perzeptiven Multistabilitäten ist vielmehr Teil des der improvisierenden Aufführung zugrundeliegenden Spiels. Durch die Rahmung werden die Wahrnehmungsordnungen der Präsenz und der Repräsentation eingeführt, danach wird jedoch nur wenig Kontrolle über sie ausgeübt, sodass die Wahrnehmungsordnung eines Zuschauers spontan kippen kann. Die Fiktion ist dabei niemals so kompakt, dass der Prozess ihrer Herstellung hinter ihr verschwindet, vielmehr hat der Zuschauer immer die Wahl, die repräsentative Zei-
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chennutzung zu verlassen und sich auf die Prozesse ihrer Erzeugung zu fokussieren. Inhalt und Prozess stehen wie bei einem Kippbild als gleichwertige, sich gleichzeitig jedoch ausschließende Optionen nebeneinander. Script think Die Wahrnehmungsordnung der Repräsentation ist bei den Zuschauern in einem manchmal verblüffenden Maß dominant, was sich beim Improvisationstheater im Phänomen des „Script think“ zeigt: Der improvisierte Charakter der Aufführung wird regelmäßig von den Zuschauern angezweifelt – insbesondere dann, wenn das Zusammenspiel gut funktionierte. Wohl jeder Improvisationsschauspieler hat erlebt, dass Zuschauer mit entsprechenden Kommentaren nach der Aufführung auf die Schauspieler zukommen: „Aber die Lieder waren nicht improvisiert!“ oder „Die Liebesszenen spielt ihr doch bestimmt immer so!“ oder „Das Ende war aber vorher abgesprochen, oder?“. Sehr oft schenken die Zuschauer den Schauspielern selbst dann keinen Glauben, wenn sie explizit versichern, alle Elemente der Aufführung seien improvisiert. Man kann aufgrund dieser Beobachtungen aus der Praxis davon ausgehen, dass Zuschauer den Grad der Inszenierung systematisch überschätzen. Sawyer hat die Tendenz zur Überschätzung des Inszenierten und zur Unterschätzung des Improvisierten als „Script think“ (SAWYER 2003, S. 19) bezeichnet. Er beschreibt die Hartnäckigkeit dieses Phänomens sehr anschaulich anhand eines persönlichen Erlebnisses: Er nahm Freunde mit in improvisierte Aufführungen und erklärte ihnen vorher ausführlich, was Improvisation ist und wie sie funktioniert. In den Gesprächen nach der Aufführung war er schockiert, als er feststellen musste, dass sie dennoch offensichtlich davon ausgingen, dass die Show im Wesentlichen inszeniert war (SAWYER 2003, S. 19). Das Phänomen des Script think wurde bereits von Moreno in den 20-er Jahren als Problem für das Improvisationstheater erkannt: Wenn das Stegreiftheater gutes Theater hervorbrachte, wurde dessen Improvisationscharakter angezweifelt. Wenn es dagegen schlechte Szenen lieferte, wurde dies als Beleg für die Untauglichkeit von Improvisation als Produktionstechnik gesehen (MORENO 1970, S. VII).29 Auch Johnstone beschreibt wie er selber in die Falle des Script think geriet:
29 Für die Improvisationsspieler entstand und entsteht dadurch ein Dilemma: Sie müssen im Spiel einen Beweis für dessen improvisierte Natur abliefern – und dieser Beweis kann nur durch einen Mangel an Perfektion erbracht werden. Mit anderen Worten: Spielen die Schauspieler zu gut, wird ihre Leistung nicht mehr als Improvisation wahrgenommen. Für Moreno war dieses Dilemma noch unlösbar. Erst mit der Entwicklung von Improvisationsformaten, die den Beleg des Improvisatorischen in die Rahmung verlagerten – etwa durch das Einholen von Zuschauervorschlägen oder durch die Rahmung als Wettkampf beim Theatersport – konnte das Problem zumindest entschärft werden.
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„Sieben Jahre leitete ich jede Vorführung der ‚Theatre Machine‘. Als sie eine Show ohne mich inszenierten, ertappte ich mich – obwohl ich doch wußte, wie wir immer gearbeitet hatten –, dass ich sagte: ‚ also diese Altarszene müssen sie einstudiert haben. Und diese Idee mit dem Kanaldeckel – so etwas fällt einem doch nicht einfach ein!‘“ (JOHNSTONE 1998, S. 549).30
Script think muss auf jeden Fall als besonders dominante Vorannahme in der Zuschauerwahrnehmung verstanden werden. Für die Semiotizität der Theaterform ist diese Tendenz wesentlich, weil der Zuschauer durch Script think in eine perzeptive Multistabilität gerät und eine kognitive Dissonanz entsteht. Der Zuschauer weiß einerseits, dass die Dialoge und alle Teile der Bühnenrealität spontan erfunden sein müssen (schließlich haben die Zuschauer oft selber die Vorgaben geliefert), andererseits umfasst seine dominante Wahrnehmungsordnung offensichtlich die Annahme, dass die Darstellung vorher geplant ist und einem Script folgt. Die Wahrnehmung kippt erst dann, wenn jede Interpretation als Script unmöglich gemacht wird – und selbst dann hat sie die starke Tendenz, wieder zurück zu kippen, indem die Improvisation im Nachhinein als doch inszeniert interpretiert wird, oft entgegen ganz offensichtlicher Evidenz. Wie schon bei den Footing-Games beschrieben spielt das Improvisationstheater mit solchen Tendenzen zur Vervollständigung, zur Konstruktion von Bedeutung. Improvisationstheater als offenes Kunstwerk Gerein (2004) hat vorgeschlagen, die Aufführung beim Improvisationstheater als „offenes Kunstwerk“ im Sinne von Umberto Eco aufzufassen (GEREIN 2004, S. 90). Nach dieser ästhetischen Theorie tendiert die moderne Kunst dazu, eindeutige Bedeutungszuschreibungen zu vermeiden, um für eine Vielzahl möglicher Interpretationen offen zu bleiben. Das Kunstwerk versteht sich als ein Katalysator, der Bedeutungsgenerierungen in Gang bringt, diese jedoch nicht in sich trägt. Nach Gerein entstehen beim Improvisationstheater notwendigerweise offene Kunstwerke, die im Kriterium Offenheit sogar noch über Ecos Beispiele hinausgehen: „Das ist die neue Rezeptionsästhetik des 20. Jahrhunderts. Umberto Eco spricht in seinem Buch ‚Das offene Kunstwerk‘ von einem Kunstwerk, das vom Künstler bewusst offen gelassen wird. [...] Improvisationstheater überbietet jede Steigerung dieser Ästhetik, weil Improspieler selber nicht wissen, was sie tun.“ (Gerein im Interview, LÖSEL 2006, S. 81)
30 Johnstone bestreitet daher, dass es überhaupt möglich sei, die Zuschauer vom Improvisationscharakter der Darstellung zu überzeugen und rät seinen Spielern, es gar nicht erst zu versuchen.
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Für Gerein ist das Improvisationstheater insbesondere dadurch ein offenes Kunstwerk, dass der Zuschauer weiß, dass kein künstlerischer Plan existiert. Der Zuschauer nimmt dadurch die eigene Freiheit der Bedeutungsgenerierung wahr: „Wenn die Zuschauer wirklich verstehen, dass es improvisiert ist, dann werden sie auch den logischen Schluss daraus ziehen: ‚Moment mal, der hat wirklich vorher nicht gewusst, was er macht, das heißt, ich habe die Freiheit, das zu deuten wie ich will.‘“ (Gerein im Interview, LÖSEL 2006, S 82)
Gerein argumentiert, dass durch die improvisierende Produktion Unstimmigkeiten und logische Sinnbrüche entstehen, die eine Bedeutungsgenerierung beim Zuschauer einfordern und aktivieren. Es entstehen „Lücken im Sinn“ (GEREIN 2004, S. 89), die vom Zuschauer gefüllt werden, wodurch dieser an der Entstehung des Kunstwerks beteiligt ist: „Die Lücken im Sinn sind ein wichtiger Bestandteil des Improvisationstheaters, weil sie die Unfertigkeit des Kunstwerks garantieren, das erst im Moment der Aufführung entsteht und durch die interpretierende Mitwirkung der Zuschauer vollendet wird.“ (GEREIN 2004, S.90)
Im Gegensatz zum offenen Kunstwerk bei Eco werden die Lücken im Sinn von den Akteuren nicht intentional hergestellt, sondern ergeben sich durch die Produktion selber. Der Versuch, Improvisationstheater als offenes Kunstwerk zu verstehen, hat insbesondere für die collageartigen Improvisationsformen einen hohen Erklärungswert, beispielsweise für den weitverbreiteten Harold. Hier werden einzelne Elemente der Aufführung tatsächlich oft unverbunden nebeneinandergestellt und das gesamte Setting der Aufführung verlangt vom Publikum, die entsprechenden Verbindungen selber herzustellen. Diese Zielsetzung entspricht auch den theoretischen Überlegungen von Close, der das Entstehen von „connections“ explizit den Zuschauern überließ (HALPERN, CLOSE & JOHNSON, 1994, S. 29). Auf andere Formen des Improvisationstheaters trifft die Konzeption des offenen Kunstwerks vielleicht weniger zu, jedoch wird auch hier das Publikum zu einer aktiven Bedeutungskonstruktion angeregt. Es spricht Einiges für eine solche These. Insbesondere scheinen die Regeln der Produktion keineswegs dazu angelegt, eine widerspruchsfreie Illusion zu erzeugen, sondern gerade im Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Ideen Widersprüche zu kreieren. Die Spieler riskieren immerzu das Abstürzen der Fiktion, um den dahinterliegenden Prozess sichtbar zu machen und Lücken im Sinn herbeizuführen. Es ist demnach gar nicht erwünscht, durch die Improvisation eine widerspruchsfreie Bühnenrealität zu erschaffen, vielmehr wird der Prozess kollaborativer Kreativität gerade in seiner Holperigkeit, in der Gefahr der Entgleisung, in der Möglichkeit des Missverständnisses gezeigt. Das Improvisationstheater negiert die gesamte Idee
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eines irgendwie fertigen Kunstwerks und betont stattdessen den sich entfaltenden Prozess der Improvisation, der keine glatte Oberfläche erzeugt, seine Unvollkommenheit geradezu zelebriert und damit auf sich selber verweist. Die Ästhetik des Imperfekten, die Fehleraffinität, die Games (die ja in vielen Fällen nichts anderes, sind als Hindernisse beim Aufbau einer homogenen Bühnenrealität) verhindern, dass in der Improvisation etwas ästhetisch Perfektes, fertig Ausgeformtes entsteht. Der Status des permanent Unfertigen lässt dem Zuschauer daher Raum für die Vervollständigung des Kunstwerks. Auch die Reduktion von Bühnenbild, Kostümen und Requisiten lassen sich mit einer solchen These in Einklang bringen. Das Improvisationstheater präsentiert keine für gültig erklärte Weltsicht, sondern erlaubt vielfältige Auslegungen auf mehreren Bedeutungsebenen, ist also „polysemantisch“ (FROST & YARROW 2007, S. 208). Brandstetter hat diesen Aspekt treffend für den Bereich des improvisierenden Tanzes beschrieben: „Denn jede hermeneutische Anstrengung ist erlaubt; jedoch: Es gibt nicht den Text, die (Ur-) Schrift [...]. Jedes ‚reading‘ ist lustvoll (oder darf es sein) – auch ein ‚misreading‘“ (Brandstetter in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 195)
Es erscheint deshalb sinnvoll, das Improvisationstheater als offenes Kunstwerk zu betrachten.31 3.3 Fazit: Semiotizität Die Semiotizität des Improvisationstheaters wurde zunächst im Hinblick auf die Zeichenverwendung durch die Spieler, anschließend im Hinblick auf die Bedeutungsgenerierung durch die Zuschauer untersucht. Es wurden dabei verschiedene Bedeutungsebenen analysiert und es wurde die These aufgestellt, dass ein dreifach geschichtetes Modell mit den Ebenen Wirklichkeit/ Spiel/ Fiktion hierzu am Besten geeignet sei, da die Ebene des Spiels nicht nur als eigene Bedeutungsebene verstanden werden muss, sondern sogar als die primäre und dominante Bedeutungsebene, die zuerst eingeführt wird und die gesamte Aufführung hindurch aktualisiert bleibt. Es wurden Techniken der Isolierung und Umdeutung von Zeichen herausgearbeitet, die mutmaßlich im Dienst der Emergenz von Bedeutungen stehen. Als konkrete schauspielerische Technik wurden die Double Voiced Strategies beleuchtet, mit denen die Spieler gleichzeitig auf verschiedenen Bedeutungsebenen agieren. Da diese Strategien von Sawyer operationalisiert wurden, eröffnet sich hier gleichzeitig
31 Allerdings ist die Idee des offenen Kunstwerks noch stark am Werkbegriff orientiert, was sich schon begrifflich in der Bezeichnung Kunstwerk zeigt. Das Improvisationstheater ist dagegen noch stärker auf einen offenen Prozess gerichtet.
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eine Möglichkeit zur empirischen Untersuchung solcher polysemantischen Techniken. Weiterhin wurde die Verwendung des figuralen Zeichens Schauspieler/ Spieler/ Figur untersucht und festgestellt, dass es im Sinne einer Kippfigur verwendet wird und damit eine perzeptive Multistabilität erzeugt. Weiterhin wurde herausgearbeitet, dass die Information „Dies ist improvisiert“ gegen eine basale Grundannahme des Zuschauers verstößt, das sogenannte Script think. Von diesem ersten Bedeutungsrahmen muss der Zuschauer erst abgebracht werden und er wird immer wieder zu ihm zurück tendieren, also das Improvisierte als inszeniert betrachten. Man kann sagen, dass der Zuschauer eine planende Instanz hinter der improvisierten Bühnenhandlung konstruiert und dass diese Syntheseleistung immer wieder durch die Betonung des improvisierten Charakters der Aufführung gebrochen wird. Der Zuschauer gerät dadurch in eine kognitive Dissonanz, die aber beim Improvisationstheater nicht zu einer Wahrnehmungskrise zugespitzt wird, sondern mit der lediglich gespielt wird. In diesem Kontext wird auch die große Bedeutung von Verwirrspielen deutlich: Perzeptive Multistabilitäten werden durch schnelle und öffentliche Wechsel zwischen den Bedeutungssystemen Spiel, Fiktion und Wirklichkeit erzeugt, damit der Zuschauer zwischen verschiedenen Wahrnehmungsordnungen zu oszillieren beginnt und zu einer aktiven Bedeutungsgenerierung angeregt wird. Die improvisierende Produktion erzeugt dabei Lücken im Sinn, die von den Zuschauern gefüllt werden müssen, weshalb die improvisierende Aufführung im Idealfall als offenes Kunstwerk im Sinne Ecos zu verstehen ist. Die Bedeutungsgenerierung beim Improvisationstheater ist immer eine spielerische, vorläufige, flüchtige. Die These vom Improvisationstheater als offenem Kunstwerk unterstreicht noch einmal, dass das moderne Improvisationstheater eben nicht nur einen Rückgriff auf orale Kulturen darstellt – wie dies Fox postuliert (FOX 1996) – sondern eine moderne Kunstform ist, die ihre Wurzeln vor allem in den historischen Avantgarden hat. Über das von Eco konzipierte offene Kunstwerk geht das Improvisationstheater da hinaus, wo der Zuschauer die Idee eines allwissenden, omnipotenten Schöpfers des Kunstwerks aufgeben muss oder zumindest in eine kognitive Dissonanz gebracht wird. Die Emergenz einer solchen imaginierten Künstler- oder Schöpferfigur, die hinter dem Werk steht, wird beim Improvisationstheater zwar durch die Aufführung immer wieder in Frage gestellt, jedoch nicht scharf gebrochen, sondern spielerisch zerstört und dann wieder zugelassen. Zuletzt kann man aus der Untersuchung der Semiotizität des Improvisationstheaters Schlüsse auf das Verhältnis dieser Theaterform zur ‚Wirklichkeit‘ ziehen. Hier wird daher die These vertreten, dass das Improvisationstheater nicht der Mimesis dient – obwohl mimetische Aspekte natürlich einfließen – , sondern der spielerischen Simulation von Wirklichkeit als einer sozial hergestellten. Es zeigt weder die ‚Wirklichkeit’ noch irgendeine Sicht auf die Wirklichkeit, sondern den Prozess der sozialen Konstruktion von Realität. Gerade in der Provokation von ‚Fehlern‘, Miss-
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verständnissen und Störungen dieses Prozesses wird dessen selbstorganisierende Qualität erkennbar: Die Konstruktion der Realität umfließt die Hindernisse und Lücken und kommt dennoch zu einem Ergebnis. Ein Beispiel für die Simulation beim Improvisationstheater sind die sogenannten Replay- Games, die weit verbreitet sind: Bei diesen Games wird eine Szene in mehreren Variationen wiederholt, beispielsweise in verschiedenen Emotionen, verschiedenen Filmgenres, verschiedenen Theaterautoren etc. Replay-Games erinnern ein wenig an eine Laborsituation, in der bestimmte Variablen geändert werden, um den Effekt auf das Experiment zu beobachten. Durch die Wiederholung der Szene auf der Bühne und durch die Mitbestimmung bei den Variablen wird das Publikum hier zum Mitexperimentator. Es kann beobachten, wie dieselbe Szene sich unter veränderten Prämissen jeweils unterschiedlich aufbaut und entwickelt. Das Improvisationstheater zeigt also die ‚Wirklichkeit‘ als eine veränderbare, indem eine ähnliche Bühnenrealität immer wieder neu und anders erzeugt wird. Es folgt darin einem Paradigma der Simulation. Damit die Wirklichkeit simuliert werden kann, muss das Verhältnis zu ihr ein spielerisches bleiben, es muss konsequenzvermindert sein und Selbstwirksamkeit zulassen. Das Improvisationstheater kehrt daher immer wieder zur Ebene des Spiels zurück. Die Simulation von Wirklichkeiten geschieht dabei im Wechselspiel der drei Bedeutungsebenen. Sie vollzieht sich in einem kollaborativen Prozess der sozialen Konstruktion von Realitäten, der sowohl die Akteure als auch die Zuschauer umfasst. An die Stelle einer von einem Autor/Gott geschaffenen Welt tritt der spielerische, soziale Konstruktionsprozess von Bedeutungen. Dies geschieht unter Verwendung von Produktionsansätzen, die die Emergenz von Bedeutungen unterstützen, sodass im bedrohlichen Chaos gleichzeitig die beruhigende Möglichkeit von Selbstorganisation aufgezeigt wird.
4 E REIGNISHAFTIGKEIT
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Eine Theateraufführung wird für den Zuschauer zum Ereignis, wenn er die Aufführung nicht lediglich beobachtet, sondern daran Anteil nimmt und sich verändern lässt. Roselt sieht in dieser transformatorischen Wirkung ein zentrales Kriterium für die Ereignishaftigkeit einer Aufführung: „Beteiligter eines Ereignisses zu sein heißt allerdings nicht, lediglich eine auffällige Veränderung zu beobachten; vielmehr ist Ereignissen das Potential zuzusprechen, alle an ihm Beteiligten selbst zu verändern.“ (ROSELT 2008, S. 49)
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Roselt führt weiter aus, dass die Ereignishaftigkeit nur sehr begrenzt intentional herbeigeführt und kontrolliert werden kann. Hierzu zitiert er den Philosophen Martin Seel, der dieses Kriterium sogar zum Definitionskriterium für die Ereignishaftigkeit eines Vorgangs erhebt: „Nur solche Vorgänge können zum Ereignis werden, die weder beliebig wiederholbar noch im Ganzen intentional bewirkbar sind.“ (Seel zit. in ROSELT 2008, S. 50). Legt man dieses Kriterium zugrunde, so ist für das Improvisationstheater eine große Ereignishaftigkeit zu prognostizieren: Es ist nicht wiederholbar und nur sehr begrenzt intentional bewirkbar. In der Tat weisen die Spieler zu Beginn der Aufführung meist explizit darauf hin, dass diese einmalig und unwiederholbar sei, der Ereignischarakter der Aufführung wird also besonders hervorgehoben. Der Zuschauer wird informiert, dass das, was er wahrnimmt, tatsächlich zum ersten und zum letzten Mal geschieht. Hier besteht ein relevanter Unterschied zum inszenierenden Theater, wo der Zuschauer die Inszenierung zwar auch in der Regel nur ein einziges Mal sieht, jedoch weiß, dass mit der „Illusion des ersten Males“ (CHARLES 2003, S. 88) gearbeitet wird: Während die Aufführung für ihn einmalig ist, wird sie von den Darstellern allabendlich wiederholt und verliert für diese ihre Einmaligkeit. Die Illusion des ersten Mals muss daher immer wieder hergestellt werden. Das Improvisationstheater arbeitet dagegen mit der Realität des ersten Mals. Charles führt diesen Punkt aus: „As is the case with improvisation on all occasions, the illusion of the first time is replaced by the reality of the first time; the recreation of an event is supplanted by the creation of a new experience. This relatively simple distinction can generate a rather different collaborative theatrical environment.” (CHARLES 2003, S. 88)
Es geht daher beim Improvisationstheater immer um eine neue Erfahrung für beide Seiten, die der Akteure ebenso wie die der Zuschauer. Aus der Binnenperspektive des Improvisationstheaters lassen sich mehrere Positionen zusammenfassen, die im Folgenden einzeln untersucht werden: 1. 2. 3. 4.
Improvisationstheater als (heilende) Begegnung Improvisationstheater als Sportereignis Improvisationstheater als Fest Improvisationstheater als Spielereignis / als Konstruktionsspiel
Anschließend wird die Plausibilität dieser Auffassungen unter Einbeziehung der Außenperspektive diskutiert.
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4.1 Improvisationstheater als (heilende) Begegnung Auf das Konzept der Begegnung wurde in Kapitel III.1 bereits eingegangen. Charles hat das Improvisationstheater dabei als dialogisches Ereignis beschrieben (CHARLES 2003, S. 196 ff). Es ist weiterhin charakterisiert durch Nähe und Ähnlichkeit von Akteuren und Zuschauern. Die Spieler sind nicht in die Sphäre des Künstlerischen oder gar Genialen entrückt, sondern werden vom Publikum als ähnlich, als ‚eine/r von uns‘, wahrgenommen. Nach Charles orientiert sich das Improvisationstheater in großen Teilen an einem Modell des Nachbarschaftstheaters (CHARLES 2003, S. 134-189): Die Spieler stammen aus demselben sozialen Kontext wie die Zuschauer, sind nicht professionell distanziert und teilen mit dem Publikum gemeinsame Zeichensysteme und Erfahrungen. In einem solchen Kontext dient die Aufführung der Aktualisierung und Verarbeitung von gemeinsamen Erfahrungen – entweder aus dem politischen Kontext – wie im Fall der Lebenden Zeitung – oder aus dem privaten Kontext der Zuschauer/Spieler. Einen ähnlichen Bezug stellen Frost und Yarrow (2007) her, wenn sie die außereuropäischen Formen des Improvisationstheaters untersuchen und dabei die Nähe zu dörflichen Ritualen und schamanistischen Praktiken betonen. Der Blick jenseits der westlichen Kulturen offenbart, dass Improvisationstheater in vielen Kulturen Teil von heilenden Ritualen war und ist (FROST & YARROW 2007, CHARLES 2003). Verschiedene Versionen dieser Position findet sich bei Moreno, Spolin, Sills (besonders in seinen späten Jahren), Fox und Johnstone. Sie alle haben die therapeutischen Effekte der Improvisation erkannt und Formen entwickelt, die man dem Paratheater zuordnen kann. Die primäre Intention ist die transformierende Wirkung der theatralen Aktion auf die Spielenden. Bei Moreno steht dabei die heilende Wirkung auf den einzelnen Protagonisten im Vordergrund, bei Fox geht es um das gemeinschaftsbildende Ritual des Geschichtenerzählens im Dienste der Gemeinschaft. Spolins bzw. Sills pädagogisch-therapeutischer Ansatz zielt auf Selbstverwirklichung in der Begegnung (SPOLIN 2002, S. 28). Im Mittelpunkt des Prozesses steht bei ihr die Qualität der Kommunikation, während technische oder ästhetische Kriterien erst in zweiter Linie eine Rolle spielen. Als Folge dieser grundlegenden Positionsbestimmung entfaltet Spolins Ansatz bis heute eine starke Wirkung in den Bereichen Theaterpädagogik und Kommunikationstraining. Auch Johnstones Ansatz tendiert zum Paratheater durch seine Akzentuierung der Befreiung von einer restriktiven Erziehung. Die umfangreiche Workshoptätigkeit im Bereich Improvisationstheater geht auf diesen heilenden, selbstverwirklichenden Aspekt der Begegnung zurück und befindet sich in einer Überlappungszone zwischen Theater, Pädagogik und Therapie. Für die hier behandelten Formen des Improvisationstheaters steht die heilende Begegnung nicht im Mittelpunkt, sie ist aber als Grundhaltung meist dennoch spürbar.
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4.2 Improvisationstheater als Sportereignis Die bekannteste Rahmung von Improvisationstheater ist die eines Sportereignisses. Ob Theatersport von Johnstone, Comedysportz von Chudnow oder Theatre matches nach Leduc und Gravel – Sport funktioniert als Leitmetapher und charakterisiert das Ereignis als Leistungsschau oder als Wettkampfspiel. Während Johnstone den Begriff Theatersport prägte (JOHNSTONE 1998), entstanden ähnliche Formen auch in Chicago. Die Präsentation von Improvisationstheater als Wettkampfsport mit Mannschaften wurde vermutlich in den USA durch Shepherd und in Großbritannien durch Johnstone parallel entwickelt (SWEET 2003). Zum einen umfasst die Sportmetapher die Präsentation der Improvisation als Leistungsschau: Die Vorführung von Virtuosität machte vermutlich schon immer einen Teil der Wirkung des Improvisationstheaters aus. So definierte sich die Commedia dell’ arte als professionelles, virtuoses Theater in Abgrenzung zum im Mittelalter vorherrschenden Laienspiel und betrieb bereits einen gewissen Starkult, in dem die artistischen oder extemporierten Höchstleistungen zu Erkennungsmerkmalen wurden (DUCHARTRE 1966). Im 19. Jahrhundert bildete sich um die idealisierte Figur des Improvisators eine Art Höhepunkt in der Zurschaustellung improvisatorischer Virtuosität (Zanetti in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 101). Die Fähigkeit zum Extemporieren oder Improvisieren wurde ähnlich bestaunt wie die Darbietungen von Gedankenlesern, Geisterbeschwörern, Gedächtniskünstlern oder Rechenmeistern. Sie fiel ins Reich der erstaunlichen Fähigkeiten des menschlichen Geistes und war Teil von Varietévorführungen. Eine ästhetischkünstlerische Absicht war damit nicht verbunden. Es mag dem Rückgriff auf das Varieté und das Cabaret geschuldet sein, dass solche ‚Kunststückchen‘ auch heute einen Teil vieler Improvisationsaufführungen ausmachen. Die Varieté-Struktur ermöglicht eine Präsentation der Improvisationen als Nummern wie sie aus Zirkus und Varieté bekannt ist: Der Moderator kündigt das Kunststück an und erklärt die Regeln, dann wird das Kunststück vorgeführt. Auch viele Games ermöglichen die Präsentation von Virtuosität. Improvisationsspieler bezeichnen diese als Loop-Games, denn sie gleichen einer Dressurnummer im Zirkus, bei der ein Tier durch einen Ring (Loop) springen muss. Die Regeln dienen hier als Hindernis, das durch Virtuosität überwunden wird. Beispielsweise dürfen die Spieler nur eine begrenzte Zahl von Worten pro Satz benutzen, müssen jede Äußerung mit einem anderen Buchstaben des Alphabets beginnen oder bestimmte Wörter vermeiden. Eine ganze Familie von Games, die hauptsächlich der Präsentation von Virtuosität dienen, ist die Gruppe der Ratespiele. Bei ihnen zeigt der Spieler seine Fähigkeit, eine zuvor in seiner Abwesenheit mit dem Publikum abgesprochene Information zu erraten – das Setting erinnert an einen Gedankenleser beim Varieté. In dem weitverbreiteten Game Geschichte dirigieren besteht die Regel dar-
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in, auf ein Signal hin die Geschichte des Mitspielers weiterzuerzählen. Entsteht eine Pause, ein Räuspern oder ein grammatikalischer Fehler, so muss der Spieler oder die Spielerin ausscheiden. Das Publikum wird dabei ausdrücklich aufgefordert, die Einhaltung der Regel zu überwachen und bei Fehlern das Ausscheiden des entsprechenden Spielers einzufordern. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer wird also absichtlich auf eine Ebene gelenkt, wo nicht so sehr der Inhalt der Geschichte eine Rolle spielt (obwohl dieser durchaus gleichzeitig wahrgenommen wird), sondern die Einhaltung der Regel. Wie der Zuschauer im Varieté bei artistischen Darbietungen nimmt das Publikum damit das Risiko wahr, das die Spieler auf sich nehmen und die Virtuosität, mit welcher sie die künstlichen Hindernisse bewältigen. Verwandt mit der Präsentation als Leistungsschau ist die Präsentation von Improvisationstheater als Mannschaftssport. Hier tritt jedoch die individuelle Virtuosität – zumindest theoretisch – in den Hintergrund zugunsten von Teamleistungen.32 Das Modell umfasst nicht nur die Präsentation der Improvisationen, sondern auch die Rolle des Publikums als ‚heißes‘ Publikum. Close sah eine grundsätzliche Parallele zwischen Improvisation und Sport: „In both improvisation and sport, what grips the audience is the fact that the outcome is truly in doubt. The players in both have, through arduous training, developed skills with which to deal with the unpredictable; but these skills cannot tame the unpredictable, they can only give the players a better chance of not being routed by it. And in both, the audience’s enthusiasm is a major part of the experience.” (in SWEET 2003, S. xxxix)
Als Sportereignis organisiert das Improvisationstheater die Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern analog zum Sport: Körperlichkeit, Energie, Enthemmung, Leidenschaft erhalten weit mehr Bedeutung als im inszenierenden Theater. Das NichtGelingen der Improvisation ist immer als Möglichkeit präsent und macht einen Teil der Spannung aus. Es ist unter Improvisateuren daher verpönt, auf Sicherheit zu spielen, vielmehr ist ein riskantes Verhalten ausdrücklich erwünscht, um die Spieler in Schwierigkeiten zu bringen. Gleichzeitig wird von ihnen erwartet, Misserfolge sportlich zu nehmen. Das Prinzip der Fehleraffinität lässt sich im Kontext der Sportmetapher zweifellos am Besten verwirklichen. Landgraf (2003) zieht zur Untersuchung des Improvisationstheaters als Sportereignis Hans Ulrich Gumbrechts Artikel „Epiphany of Form. On the Beauty of Team Sports“ (GUMBRECHT 1998) heran. Gumbrecht sieht darin die Ereignishaftigkeit von Teamsport in der Herstellung von Präsenz. In ihr komme es zu einer Konvergenz von Form und Ereignis im Formereignis. Landgraf stellt die Analogie zur
32 In der Praxis besteht auch hier immer die Gefahr, dass die Spieler sich profilieren wollen und die Begegnung zu einer Leistungsschau umfunktionieren.
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Improvisation her: Hier wie dort gehe es „gerade nicht um etwas, das vor dem Akt irgendwie schon ein Dasein hätte. Moderner könnte man sagen, bei Zuschauersport und Improvisation geht es um Emergenz, um das Entstehen von Formen.“ (LANDGRAF 2003, S. 8). Emergenz kann aber nur entstehen, wenn die Planbarkeit des Ereignisses eingeschränkt ist. Im Fall des Improvisationstheaters als Mannschaftssport geschieht dies vor allem durch die ständige Störung durch das andere Team, die Richter, das Publikum, die Games. Dies schränkt die Planbarkeit ein und erhöht gleichzeitig die Freude über eine dennoch verwirklichte Spielkombination. Nach Landgraf erlebt der Zuschauer ein Pendeln zwischen der Wahrnehmung von Ordnung und der Wahrnehmung von Chaos, das ihn in Spannung versetzt: „Die Improvisation lebt davon, zwischen Geordnetem und Ungeordnetem, Strukturiertem und Unstrukturiertem, Vorbereitetem und Unvorbereitetem hin und her zu wechseln. [...] Die Spannung liegt in der Unentschiedenheit von Variation und Restabilisierung, Regelbruch und Regelkonformität, das Ereignis aber in der jeweils stattfindenden Wahl bzw. Kombination solcher Selektionskriterien.“ (LANDGRAF 2003, S. 9).
Es ist demnach das Risiko des Scheiterns, das Miterleben einer möglicherweise falschen Entscheidung, der rauschhafte Kitzel des potentiellen Abgleitens in das Chaos, das den Teamsport mit dem Improvisationstheater verbindet. Der Zuschauer erlebt wie aus Chaos durch kollaborative Spielzüge Ordnung entsteht, wie diese Ordnung immer wieder zerfällt und sich zu neuen Ordnungen zusammensetzt. Improvisation und Teamsport agieren also am Rande des Scheiterns, dort, wo die Angst vor der Auflösung der Ordnung sowohl beim Zuschauer als auch beim Akteur am größten ist. Sport und Wettkampf sind allerdings keine unumstrittenen Rahmungen beim Improvisationstheater, sondern Gegenstand gewisser Kontroversen innerhalb der Improvisationstheater-Community, die zum Beispiel in den Vorbereitungen der Theatersport-Weltmeisterschaft 2006 heftig geführt wurden: Ist der Wettkampf nur Show? Sollte der Wettkampf ironisiert und damit entschärft werden? Es ist in der Tat schwierig, sich der Dynamik des Wettkampfes zu entziehen, oft ertappen sich die Spieler dabei, dass sie wirklichen Ehrgeiz entwickeln, gewinnen wollen und unter Leistungsdruck geraten. Die Rahmung als Sport steht dann in scharfer Spannung zum Konzept der Begegnung, sogar im Widerspruch: Wo Wettkampf herrscht, findet keine dialogische Begegnung statt und umgekehrt. In vielen Fällen werden daher keine echten Wettkämpfe zwischen realen Gruppen durchgeführt. Die Improvisation als Leistungsschau steht auch in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Rahmung der Improvisationsaufführung als Spiel. Sobald die Zurschaustellung von Leistung im Vordergrund steht, geht die Leichtigkeit des Spiels verloren. Weiterhin begrenzt Virtuosität die Möglichkeit der Hervorbringung von emergenten Phänomenen: Beherrscht der Spieler die Regeln und macht keine Fehler, dann pro-
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duziert er keine emergenten Phänomene. Obwohl bei allen modernen Theoretikern der Improvisation das Streben nach Perfektion und Virtuosität abgelehnt wird, finden solche Rückfälle in eine Leistungsschau immer wieder statt. Sie sind jedoch durch die Theoretiker des Improvisationstheaters nicht gedeckt; weder Moreno noch Spolin, Johnstone oder Close sahen darin wünschenswerte Aufführungsformen. Ungeachtet der ungelösten Widersprüche erzeugt die Sportmetapher eine für das Improvisationstheater offenbar günstige Wahrnehmungsordnung beim Zuschauer: Er verfolgt das Spiel mit Blick auf die Spielmöglichkeiten der Teilnehmer und nimmt Teil an deren Risiko. Gleichzeitig überschneidet sich das Konzept des Sportereignisses weitgehend mit der Auffassung von Improvisationstheater als Spielereignis. Letzteres stellt allerdings das umfassendere Konzept dar. 4.3 Improvisationstheater als Fest Eine dritte Sichtweise auf die Ereignishaftigkeit der improvisierten Aufführung ist die des Festes, das als Auszeit und Gegenstück zum Alltag seit jeher in enger Beziehung zum Theater steht (Warstatt in FISCHER-LICHTE et al. 2005). Als Kronzeuge dieser Position lässt sich wiederum Johnstone anführen: „Wenn die Vorstellung gut lief, hat man das Gefühl, die Zeit in Gesellschaft einer Menge gutgelaunter Leute verbracht zu haben, die wunderbar kooperativ sind und keine Angst vor dem Versagen haben. [...] Mit ein bißchen Glück fühlt man sich, als wäre man auf einer wunderbaren Party gewesen; gute Parties hängen nicht vom Grad der Trunkenheit ab, sondern von positiven Interaktionen.“ (JOHNSTONE 1998, S. 32)
Was in Kapitel III 1.2 über die Enthemmung des Publikums ausgeführt wurde, unterstreicht diesen Zusammenhang für das Improvisationstheater: Das Publikum wird durch die Animationsregeln zu Interaktion und Spontanität eingeladen. Die soziale Kontrolle wird reduziert, das bewertende Bewusstsein wird unterlaufen, das Publikum darf in einen spielerischen Zustand regredieren. Durch das Ausschalten der inneren Zensur kommt tabuisiertes Material ans Licht, es entsteht eine zeitlich begrenzte Gegenwelt zur logozentristischen Alltagswelt. Dies ist, wie Adamowsky schreibt, ein allgemeines Merkmal des Festes: „In der irrealen Wirklichkeit des Festes gelangt Verborgenes und Verbotenes ans Licht, und dafür müssen Grenzen überschritten, Trennungen aufgehoben und wieder andere deutlich markiert werden. Der festliche Übermut kann befreiende Erfahrungen schenken, dazu ermuntert, Verbote voller Lust zu übertreten, die Ahnung einer besseren Welt vermitteln und die Schranken des Alltags rauschhaft aufheben. In dieser Form einer Gegenveranstaltung bleibt
246 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS das Fest jedoch immer auf eine bestimmte Zeit beschränkt; das anarchisch Utopische hat sein Zuhause im lediglich Zeitweiligen.“ (ADAMOWSKY 2000, S. 88)
Dass solche Prozesse beim Improvisationstheater tatsächlich stattfinden, zeigt sich beispielsweise an den Zuschauervorgaben, die oft zum Sexuellen, Verrückten oder Gewalttätigen tendieren. Nicht selten sind sie destruktiv: Wenn die Zuschauer eine Figur gestalten sollen, wird diese in der Regel hässlich und verkrüppelt sein. Wenn sie eine Geschichte mitkreieren sollen, lassen sie den Protagonisten schlecht aussehen und sterben. Je stärker der Festcharakter der Aufführung, desto mehr tabuisiertes Material wird im Publikum freigesetzt, manchmal geht dies so weit, dass die Spieler die Kontrolle über die Situation verlieren (etwa auf Firmenfeiern mit alkoholisiertem Publikum). Die vom Improvisationstheater hergestellte Situation entspricht dann weniger der geordneten Feier als dem außer Kontrolle geratenden Fest. Charles stellt mehrfache Verbindungen zwischen Improvisationstheater und Karneval her (CHARLES 2003). Er verweist dabei auf das kulturhistorische Konzept der Karnevalisierung von Michail Bachtin, das dieser um 1940 entwickelte. Die Karnevalszeit wird hier als ein periodischer, alle Schichten erfassender Tabubruch verstanden, der in Zeiten starken Anpassungsdrucks als emotionales Ventil dient. Bachtin verwies dabei auf die von Konventionen und Standesdenken geprägte Kultur des Mittelalters. In Zeiten des Karnevals werde die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur zeitweise aufgehoben. Die sozialen Spannungen entladen sich in einem Fest, das Oberste werde nach unten gekehrt. Im Schutz von Rausch und Anonymität können Dinge gesagt und dargestellt werden, die unter normalen Umständen der Zensur unterliegen. Satire, Parodie, Karikatur sind die Stilmittel des Karnevals. Theaterhistorisch besteht über die Commedia dell’ arte ein enger Zusammenhang von Improvisationstheater und Karneval und es bleibt ein stark verdünnter Rest karnevalesker Unruhe im Improvisationstheater erhalten. 33 Dies macht allerdings – hier irrt Charles – das Improvisationstheater keineswegs bereits zu einer subversiven Kunstform, wie ja auch der Karneval soziale Spannungen eher entschärft als sie zu politisieren. Die Herstellung eines tabufreien Raumes war immer ein Anliegen des Improvisationstheaters. In der britisch-kanadischen Tradition hat dies antipädagogische Züge: Es wird eine Gegenwelt zum Anpassungsdruck in der äußeren Welt geschaffen, insbesondere für Jugendliche. In den USA wurde der tabufreie Raum dagegen
33 Ein heutiges Beispiel für die anarchistische und tabubrechende Qualität des Improvisationstheaters ist das „Annoyance Theatre“ in Chicago, von dem Seham schreibt: „The Annoyance Theatre embraces ‚carnival‘ in all its disorder and earthiness.“ (SEHAM 2001, S. 124). Es stellt innerhalb der Welt der Improvisationstheater jedoch eher die Ausnahme als die Regel dar.
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zunächst zur Schaffung einer politischen Gegenkultur genutzt. In den Anfängen des Improvisationstheaters in den 50-er und 60-er Jahren in Chicago gab es eine starke Überlappung von politischer Satire und Improvisationstheater (SWEET 2003). Ein großer Teil der Improvisationsgruppen versteht sich heute immer noch als Gegenkultur, ohne allerdings konkrete politische Standpunkte zu beziehen. Obwohl die zugespitzte intellektuelle Satire weitgehend aus dem Improvisationstheater verschwunden ist, hat die Persiflage einen festen Platz behalten und es werden regelmäßig alte und neue Autoritäten lächerlich gemacht: die ‚Hohen Künste‘, die oberschlauen Experten, das Fernsehen. Innerhalb des Festes sind solche Dekonstruktionen nicht nur erlaubt, sondern werden vom Publikum aktiv eingefordert. Insgesamt kann die These vom Improvisationstheater als Fest die Prozesse der Enthemmung und die emotionale Ventilfunktion dieser Theaterform gut erklären. Die These scheitert dagegen an der Frage, warum das Fest nicht – wie eben der Karneval – alle Beteiligten umfassen und mitreißen darf. Der Enthemmung des Publikums sind nämlich trotz allem deutliche Grenzen gesetzt, die Theatersituation bleibt in ihrem Kern erhalten. Wenn überhaupt, dann handelt es sich zumindest um eine wenig ekstatische Form von Fest. Für außereuropäische Improvisationstheaterformen wie etwa die afrikanische Concert Party, wo sich Tanz, Musik und Improvisationstheater vermischen (FROST & YARROW 2007), mag eine Charakterisierung als Fest den Kern treffen. Das westlich geprägte Improvisationstheater erscheint dagegen zu intellektuell, um mit dem Begriff des Festes adäquat beschrieben werden zu können, auch wenn es Züge davon verwirklicht. 4.4 Improvisation als Spielereignis Die ausgesprochen enge Beziehung des Improvisationstheaters zum Spiel findet sich wie in Kapitel I dargestellt in den meisten Definitionen. Sie soll hier noch weiter ausgeführt werden, weil die Dimension des Spiels die gesamte vorliegende Arbeit wie ein roter Faden durchzieht.34 Improvisationsspieler verorten sich selber nicht im Kunsttheater und halten eine gewisse kritische Distanz (was umgekehrt ebenfalls zutrifft). In der Regel bezeichnen sie sich nicht als „Schauspieler“, son-
34 Der Zusammenhang von Theater und Spiel ist allgemein groß. Das Konzept des Spiels im Theater-Spiel und Schau-Spiel war und ist daher Gegenstand umfangreicher theaterwissenschaftlicher Untersuchungen und Diskurse (z.B. Helmar Schramm in FISCHERLICHTE et al. 2005, S. 307 ff; ADAMOWSKI 2000). Dabei werden zum Teil ganz unterschiedliche Spielbegriffe zugrunde gelegt, es handelt sich um einen rhizomatischen Begriff. Auch in dieser Arbeit wird kein einheitlicher Spielbegriff herangezogen, sondern nur Einzelaspekte, die einen Bezug zum Improvisationstheater erlauben.
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dern einfach als „Spieler“, was auf den Spielcharakter des Improvisationstheaters in der Eigenwahrnehmung verweist. Das Improvisationstheater verbirgt seinen Spielcharakter keineswegs, sondern zelebriert ihn geradezu. Was Gröne über die Commedia dell’ arte sagt, gilt ebenso für das Improvisationstheater generell: „Wenn der Commedia dell’ arte also eine besondere Kraft eigen ist, so sicherlich aufgrund ihrer Aufführungspraxis, welche [...] ihren Charakter als Spiel nicht kaschiert.“ (Gröne in GRÖNE et al. 2009, S. 110, Hervorhebung G.L.)
Auch Ebert hat den engen Bezug von Improvisationstheater und Spiel ausführlich herausgearbeitet (EBERT 1999, S. 71-89). Eine besondere Nähe von Spiel und Improvisationstheater entsteht durch die Einbeziehung der Zuschauer als Mitspieler. Diese Interaktivität ist ein Spezifikum des Improvisationstheaters, stellt gleichzeitig eine Verbindung zu ursprünglicheren Formen des Theaters her. Der Begründer der deutschen Theaterwissenschaft Max Herrmann betonte diese ursprüngliche spielerische Interaktivität: „(Der) Ur-sinn des Theaters [...] besteht darin, dass das Theater ein soziales Spiel war, – ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem alle Teilnehmer sind, – Teilnehmer und Zuschauer. [...] Das Publikum ist als mitspielender Faktor beteiligt.“ (Max Herrmann 1920 in HERRMANN 1981, S. 19)
Eine entsprechende Auffassung vom Improvisationstheater als sozialem Spiel ist eine der zentralen Thesen der vorliegenden Arbeit. Auch für das moderne Improvisationstheater war und ist die Sphäre des Spiels ein bedeutender Bezugspunkt: Sowohl Moreno als auch Spolin gingen in ihren Theoriebildungen vom Kinderspiel als Ideal aus (siehe Kapitel II). Aus diesem Grundverständnis heraus hat Spolin die Theatre-Games in den Mittelpunkt ihres Ansatzes gestellt. Der Spielcharakter bestimmt sowohl die Interaktion mit dem Publikum und als auch die Interaktion der Spieler untereinander. Weiterhin hat sich um das Improvisationstheater als Aufführungsform eine ausufernde Spielkultur gebildet35: Die entwickelten Spiele sind in der Theaterpädagogik ubiquitär, prägen viele Schauspielausbildungen, werden auf Partys, Schulhöfen, Freizeiten usw. gespielt. Improvisation und Spiel sind also untrennbar miteinander verbunden.
35 Möglicherweise ist es auch anders herum: Das Improvisationstheater hat sich aus einer theatralen Spielkultur heraus entwickelt. Siehe hierzu beispielsweise die Ausführungen in DÖRGER & NICKEL 2008, S. 46 ff.
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Die spielerische Qualität des Improvisationstheaters zeigt sich deutlich an drei Aspekten, die auch in den Spieltheorien der Kulturanthropologie (Johan Huizinga), der Psychoanalyse (Donald Winnicott) und der Entwicklungspsychologie (Jean Piaget) eine wichtige Rolle spielen: Ganzheitlichkeit, Zweckfreiheit/ Konsequenzminderung und Selbstwirksamkeit. Ganzheitlichkeit Die Renaissance kann als die eigentliche Geburtsstunde der modernen Vorstellung des „Homo ludens“ gelten (Helmar Schramm in FISCHER-LICHTE et al. 2005, S. 309). Während dieser Epoche flackerte der positiv besetzte Spielbegriff der Antike wieder auf (HUIZINGA 1991) und führte zum Aufleben einer Spielkultur in zahllosen höfischen Festen, humanistisch geprägten bürgerlichen Gesellschaftsspielen. Es dürfte kein Zufall sein, dass in diesem Kontext auch das Improvisationstheater in Form der Commedia dell’ arte einflussreich wurde (MEHNERT 2003). Im Mittelpunkt steht dabei die Vision des vollständigen Menschen als Maß der Dinge. Eine analoge positive Bewertung der Ganzheitlichkeit im Spiel findet sich in Schillers Spielbegriff wieder, der auch vom modernen Improvisationstheater aufgegriffen wurde. Johnstone bezieht sich beispielsweise in seinem Kapitel zur Spontanität auf Schiller (JOHNSTONE 2004, S. 134). Das moderne Improvisationstheater hat insbesondere die Denkfigur des Menschen als spielendem Schöpfer übernommen. Sehr stark floss dieses Motiv in den Improvisationstheateransatz von Moreno ein und beeinflusste damit mutmaßlich auch die amerikanische Improvisationslinie. Bei Spolin bildet die ganzheitliche Erfahrung einen zentralen Pfeiler ihres Theoriegebäudes (siehe Kapitel II 1.4). Auch Johnstone sucht nach Wegen, die Dominanz des planenden Bewusstseins, das die westliche Zivilisation prägt, zugunsten eines ganzheitlichen Menschbildes zu überwinden. Auch der Rückbezug von Moreno, Spolin und Johnstone auf das Kinderspiel verknüpft das Improvisationstheater mit dem Wunsch nach ursprünglicher, ganzzeitlicher Erfahrung. Diese sind insbesondere durch die Aufhebung von Trennungen charakterisiert: Die Kategorien Arbeit und Spiel verschwimmen ebenso wie die Kategorien Raum und Zeit. Der Spielforscher Sutton-Smith prägte hierfür den Begriff „Dialektik des Spiels“ (zit. in ADAMOWSKY 2000, S. 31): In Spielen werden die gewöhnlichen Gegensätze, die im alltäglichen Leben unüberwindbar sind, transzendiert. Am Eklatantesten ist dabei wohl die Aufhebung der Trennung von Selbst und Umwelt, die beim Improvisationstheater eine wichtige Rolle spielt, was sich im Ideal der Subjektlosigkeit widerspiegelt (siehe Kapitel II 3.5.1). Einen entsprechenden Erklärungsansatz hierfür bietet die Psychoanalyse. Sie erklärt die Lust des Spielens als ein regressives Phänomen: Im Spiel ist die mühsam erworbene Trennung zwischen Ich und Umwelt aufgehoben wie in frühen Phasen der Ich-Entwicklung. Das Ich wird dadurch von der Arbeit der Aufrechterhaltung seiner Grenzen entlastet. Es zieht sich für die Dauer des Spiels zurück und erholt sich von der Arbeit der
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Grenzziehung. Schwind zitiert hierzu Gabriele Schwab, eine durch Winnicot beeinflusste Psychoanalytikerin: „[Was in der illudierenden Wahrnehmung ambivalenter Spiel-Räume stattfindet] ist für das Subjekt zugleich innen und außen, es spielt sich an seinen Grenzen ab und spielt mit ihnen, wobei sie nach der einen oder der anderen Seite ständig überschritten werden [...] – in einem Niemandsland zwischen Ich und Nicht-Ich. Von außen, aus der Perspektive schon ausgebildeter Differenzierungen gesehen, lebt das Subjekt in diesem Feld in einem produktiven Zustand permanenter Illusionsbildung [...] es handelt sich um eine kreative Aktivität, bei der das Subjekt gerade von der Aufgabe befreit ist, innere und äußere Realität getrennt, aber aufeinander bezogen zu sehen.“ (Gabriele Schwab, zitiert in Schwind 1997, S. 440)
Der Psychoanalytiker Winnicot, der diese Überlegungen entscheidend geprägt hat, konzipierte das Spielen als einen psychischen Raum, zu dem weder das Ich noch das Über-Ich freien Zutritt haben. Er prägte dafür den Begriff „intermediärer Raum“ (WINNICOTT 2006, S. 24). Dieser ist unter anderem charakterisiert durch eine Auflösung der Grenzen zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit. Im Spiel darf das mühsam Getrennte zusammenkommen, um eine primäre, kindliche Form des ganzheitlichen Erlebens wieder möglich zu machen. Innere Objekte und äußere Objekte fallen zusammen, verschmelzen, verschwimmen, verwandeln sich ineinander. Die Ganzheitlichkeit des Improvisationsspiels wird auch für das Erlebnis von Flow verantwortlich gemacht (KIESSLING 2011). Csikszenthihalyi bezeichnet damit einen Zustand der Selbstvergessenheit bei gleichzeitiger völliger Aufmerksamkeit auf eine Sache (CSIKSZENTMIHALYI 2004). Kennzeichnend ist das innere Erleben von Ordnung, Glück und Zeitlosigkeit. Auch hier wird die Aufhebung der Trennung von Ich und Umwelt betont: „In fact some people describe it as a transcendence, as a merging with the environment, as a union with the activity or with the process.“ (Csikszentmihayli zit. in SCHWIND 1997, S 427)
Die Attraktivität des Improvisationstheaters für die Spielenden dürfte sich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus der Attraktivität solcher ganzheitlicher Spielzustände erklären. Zweckfreiheit und Konsequenzminderung Huizinga stellt fest, dass Spiel durch seine Zweckfreiheit außerhalb des gewöhnlichen Lebens liege. (HUIZINGA 1991, S. 22 ff). Es sei vom Prozess der Bedürfnisbefriedigung abgesondert – der eben das gewöhnliche Leben ausmache. Die Empfindlichkeit des Spiels gegenüber allen von außen definierten Zielen wird ausdrücklich hervorgehoben. Die intrinsische Motivation kann beim Spielen regelrecht
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‚zusammenbrechen‘, wenn sie von außen gestört wird. Dieses Problem taucht beim Improvisationsspiel oft dann auf, wenn Gruppen sich professionalisieren, die Zuschauer also Eintritt bezahlen. Die Erwartungen des Publikums drohen dann, den Spielcharakter der Improvisation zu stören; es wird plötzlich zu Arbeit. In verschiedenen Beiträgen zum Improvisationstheater wird deshalb immer wieder die Freiheit von jeglichen therapeutischen, pädagogischen oder künstlerischen Intentionen als Voraussetzung gefordert (z.B. LÖSEL 2004). Der Theaterwissenschaftler Kotte diskutiert die Frage, ob Zweckfreiheit ein konstitutives Element der Definition von Spiel sein kann, da Spiele immer auch dem Kompetenzerwerb dienen und zum Beispiel oft mit Geldeinsätzen verbunden seien (KOTTE 2005, S. 31 ff). Kotte schlägt stattdessen den Begriff „Konsequenzminderung“ vor: Was immer im Spiel passiert, hat zwar möglicherweise Auswirkungen auf das gewöhnliche Leben, jedoch deutlich reduzierte Auswirkungen. Das Spiel bietet also einen Schutzraum, um risikoreiches Verhalten anzuwenden und auszutesten (KOTTE 2005; S. 41 ff). Es dient damit der Simulation von Situationen, die real zu riskant wären. Beim Improvisationstraining wird viel Aufmerksamkeit auf Konsequenzminderung gelegt, um beim Spieler auf der Bühne Angstfreiheit zu erreichen. Sowohl Spolin als auch Johnstone widmen diesem Thema breiten Raum. Improvisationslehrer reden oft davon, die Bühne zu einem ‚sicheren Raum‘ zu machen, in dem die Spieler bereit sind, Risiken auf sich zu nehmen und gegebenenfalls auch zu scheitern. Selbstwirksamkeit Jean Piaget, der sich als Entwicklungspsychologe intensiv mit dem kindlichen Spiel beschäftigte (PIAGET 2009), brachte seine Erkenntnis auf die Formel: „Spiel ist die Lust, Ursache zu sein“ (zitiert in Kotte 2005 S. 41). Es beinhaltet ein Erlebnis von Selbstwirksamkeit, das für die intrinsische Motivation entscheidend ist. Auch mit einem Zustand des Flow ist das Erleben von Selbstwirksamkeit verknüpft: „There is in general a feeling of control of affectance or influence [...] You feel you are influencing whatever is happening, and of course the feedback tells you that, an yet paradoxically this feeling of control goes hand in hand with a kind of loss of ego, or loss of a personal kind of caring about the results […].“ (Csikszentmihalyi zit. in SCHWIND 1997, S 427)
Für das Lusterleben beim Improvisations-Theater-Spiel ist das Erlebnis der Selbstwirksamkeit zentral – sowohl beim Schauspieler als auch beim Zuschauer. Dieses Erleben entscheidet bei Letzterem darüber, ob er sich als Zuschauer oder als Mitspieler empfindet, ob es sich außerhalb oder innerhalb des Spielerkreises lokalisiert. Subjektive Selbstwirksamkeit ist ein zuverlässiges Kriterium der Zugehörigkeit zum Spielersystem: Wer glaubt, das Spiel wie auch immer beeinflussen zu können,
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ist kein Zuschauer mehr, sondern ein Mitspieler. Dieser Aspekt ist für interaktive Theaterformen wie das Improvisationstheater von großer Bedeutung, da es auf die Transformation des Zuschauers in einen Mitspieler zielt (siehe Kapitel III 1). Die generellen Aspekte des Spiels Ganzheitlichkeit, Zweckfreiheit/ Konsequenzminderung und Selbstwirksamkeit sind beim Improvisationstheater also deutlich verwirklicht und lassen sich in den theoretischen Beiträgen nachweisen. Sie finden sich in den in Kapitel II beschriebenen Ansätzen des Improvisationstheaters wieder, insbesondere bei Spolin und bei Johnstone. Idealerweise umfasst das Spiel dabei sowohl die Akteure als auch die Zuschauer: Beide sollen in einen Zustand geraten, in dem Trennungen aufgehoben und ganzheitliche Erfahrungen möglich werden. Den Zuschauern wird eine Erfahrung der Selbstwirksamkeit ermöglicht. Sie liefern Vorgaben für das Bühnengeschehen, können in Szenen eingreifen und in vielen Fällen über Abstimmungen den Verlauf der Aufführung mit steuern. Erst diese Erfahrung macht sie zu Mitspielern. Angestrebt ist ein gemeinsamer Übertritt in die Sphäre des Spiels. Die Ereignishaftigkeit des Improvisationstheaters als Spiel manifestiert sich in zwei Verwendungen: 1. das Spiel als Rahmung der Aufführung 2. die Games als Binnenstruktur der Einzelimprovisationen Spiel als Rahmung der Aufführung Das Spiel als Rahmung der improvisierten Aufführung charakterisiert die gesamte Veranstaltung als Spiel und macht dies gegenüber dem Publikum deutlich. Sowohl die Akteure als auch die Zuschauer werden in eine Art Spielmodus versetzt, der ihre Partizipation und ihre Wahrnehmung während der Aufführung bestimmt. Um in den Erlebens- und Verhaltensmodus Spiel umzuschalten sind dabei bestimmte Signale notwendig. Alle Beteiligten müssen sich darauf verständigen, dass hier ein Spiel gespielt wird. Der Ethnologe und Kommunikationsforscher Gregory Bateson veröffentlichte 1955 den einflussreichen Aufsatz „The message: this is play!“ (BATESON 1955) und untersuchte darin, wie solche metakommunikativen Rahmungen (Frames) hergestellt werden: „Nun konnte dieses Phänomen Spiel nur auftreten, wenn die beteiligten Organismen in gewissem Maße der Metakommunikation fähig waren, d.h. Signale austauschen konnten, mit denen die Mitteilung ‚dies ist Spiel‘ übertragen werden konnte.“ (BATESON zit. in Balme 2001, S. 57)
Die Rahmensetzung ist für den Verlauf der Aufführung entscheidend, da die gesamten Bedeutungszuschreibungen der theatralen Zeichen innerhalb des Rahmens Spiel stattfinden. Ist dieser Rahmen unklar, so sind Bedeutungszuschreibungen zumindest
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schwierig. Das Umschalten auf den Spielmodus erfordert bestimmte Metakommunikationen zu Beginn der Aufführung. Kotte führt aus, dass die Rahmung Spiel bei der Commedia dell’ arte innerhalb von Sekunden durch der sogenannten Harlekinsprung hergestellt worden sei: „Eine einzige körperliche Aktion, der Sprung des Harlekin auf die Bühne und sein ‚Eccomi!‘ enthüllten: Das ist Theater. Mit dem Harlekinsprung wurde klargestellt, hier sind gesellschaftliche Normen und Zwänge außer Kraft gesetzt, der Ambassadeur, der Verbindungsmann zur anderen Welt ist da.“ (Kotte 2005, S. 88)
Beim aktuellen Improvisationstheater wird die Rahmung als Spiel in der Anmoderation etabliert: Der Moderator begrüßt das Publikum, erklärt die Regeln der Aufführung und führt ein Warm-up mit den Zuschauern durch. Wenn die Zuschauer mit der Rahmenerwartung Theater gekommen sind, die sich von der Rahmung des Spiels zum Teil deutlich unterscheidet, müssen sie in dieser Erwartung erst abgeholt und in die neue Rahmung eingeführt werden. Die Rahmenaussage beim Improvisationstheater ist: „Dies ist ein Spiel. Wir spielen es und ihr könnt (in begrenztem Umfang) mitspielen!“. Die Neustrukturierung der Rahmung nimmt zu Beginn jeder Improvisationstheateraufführung eine gewisse Zeit (1-20 Minuten) in Anspruch. Der Moderator erklärt und demonstriert die Möglichkeiten der Zuschauerbeteiligung, lässt sie Vorschläge auf die Bühne rufen und klatschen. Er stellt dadurch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit beim Publikum her. Für die Spieler erzeugt er gleichzeitig eine Konsequenzminderung: Das Spiel wird nicht so hart bewertet wie ‚Kunst‘ und die Möglichkeit des Scheiterns wird von vornherein als Spielmöglichkeit mit eingeschlossen. Games als Binnenstruktur Innerhalb der Einzelimprovisationen strukturieren Games den Improvisationsprozess. Games kann man charakterisieren als kleine Regelsysteme, die ein szenisches Geschehen hervorbringen oder strukturieren können. Ein Improvisationstheaterabend ist oft nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Games, die durch eine Rahmung verbunden werden. Auch Theatersport-Matches werden in aller Regel mit Games bestritten. Es existieren umfangreiche Spielelisten, etwa bei Spolin (2002), bei Johnstone (1998) oder bei Radim Vlcek (2000). Zusätzlich sind im Internet Listen mit Hunderten von Games veröffentlicht. Die Games stammen aus unterschiedlichen Quellen, die zum Teil nicht mehr nachvollzogen werden können. Zum Zeitpunkt dieser Untersuchung teilt die improv enzyclopedia die Games in 33 Kategorien:
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Tab. 12: Dreiunddreißig Kategorien von Games in der improv enzyclopedia Accepting
Icebreakers
Audience Participation Audience Warm-up Association Characters
Limitations Long Form Look and Listen Narration
Concentration Continuation
Object Work Performance
Die Endowment
Replay SingSong
Energy Environment
Solo Spontaneity
Exercise
Status
Experts Format
Timed Trust
Gibberish Group
Verbal wit Warm-up
Guessing (Quelle: www.improvencyclopedia.org, abgerufen am 19.09.2010)
Die Auflistung zeigt, wie umfangreich und ausdifferenziert das Feld der Games inzwischen ist. Es ist nicht übertrieben, sie als das zentrale Element des Improvisationstheaters zu bezeichnen. Im Folgenden werden nicht einzelne Games dargestellt, was den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, sondern Gruppen von Games. Johnstone unterscheidet Korrekturspiele, die vor allem dem Training dienen, Erzählspiele, die eine Geschichte hervorbringen, und Füllerspiele, die keine Geschichten erzeugen. Letztere haben bei Aufführungen die Funktion, das Publikum zwischen den Erzählspielen zu entspannen, zu zerstreuen und zu unterhalten (JOHNSTONE 1998, S. 311). Johnstones Systematisierung hat den Vorteil, sehr einfach und leicht anwendbar zu sein. Sawyer (2003) erweitert die Systematisierung um zwei Kategorien: Die FreezeGames und die Footing-Games. Beide wurden in dieser Arbeit schon beispielhaft beschrieben, hier soll noch einmal ihre Bedeutung für die Theorie betont werden. Bei Freeze-Games entscheiden die Spieler, wann eine Szene beendet und eine neue begonnen wird. Gespielt werden nur sehr kurze Szenen, die in schneller Folge aneinandergereiht werden. Sawyer argumentiert deshalb, dass durch die Freeze games minimale Szenen entstehen. Sie werden zum erstmöglichen Zeitpunkt unterbrochen,
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also dann, wenn die notwendigen Informationen gegeben sind und stellen dadurch eine Art szenische Grundeinheit her – unter Improvisationsspielern manchmal als ‚Beat‘ bezeichnet – die wiederum untersucht werden kann (SAWYER 2003, S. 127-157). Sawyer konnte durch die Analyse von Freeze-Games die durchschnittliche Länge solcher Beats ermitteln (17 bis 18 Sekunden), die durchschnittliche Zahl der Interaktionen (3 bis 5) und andere messbare Qualitäten. Die Bedeutung für die Theorie liegt also darin, dass eine szenische Grundeinheit definiert wird, die nicht vom Forscher, sondern vom System der Spieler hergestellt wird, also eine kollaborative Entscheidung beinhaltet. Die Footing-Games (SAWYER 2003, S. 29) treiben, wie bereits untersucht, ein Verwirrspiel mit der Frage nach dem Urheber, Prinzipal und Animateur der Bühnenhandlung (siehe Kapitel II 4.3) und sind deshalb für die Frage nach dem künstlerischen Subjekt beim Improvisationstheater von Bedeutung. Eine weitere theoretisch interessante Form von Games sind die ebenfalls schon beschriebenen Replay-Games, bei denen dieselbe Szene in verschiedenen Variationen wiederholt wird und die darum auf ein Paradigma der Simulation schließen lassen. Schließlich ist noch die Kategorie der Rate-Games zu erwähnen. Der Reiz dieser Spiele besteht darin, dass die Zuschauer mehr wissen als der Spieler und dass der Spieler sehr viele Angebote machen muss, die dann zurückgewiesen oder bejaht werden können.36 Die Rate-Games passen in vielerlei Hinsicht nicht in die Theorien des Improvisationstheaters und entstammen möglicherweise einem ganz anderen Kontext, nämlich den Partyspielen. Der Begriff des Games umfasst aber beim Improvisationstheater mehr als nur die über Regeln beschriebenen Games und es erscheint sinnvoll, sie eher danach zu systematisieren, wie sie mit Regeln umgehen, z.B. ob die Regeln dem Publikum mitgeteilt werden oder nicht und ob neue Regeln entstehen dürfen. Es wird daher hier vorgeschlagen, drei Kategorien von Games zu differenzieren: 1. Regel-Games: Es existieren klare Regeln und die Zuschauer werden darin eingeweiht. 2. Heimliche Games: Es existieren Regeln, aber die Zuschauer werden nicht eingeweiht. 3. Emergente Games: Es existieren keine klaren Regeln; diese bilden sich erst während des Spielens.
36 Die Herkunft der Ratespiele ist unklar. Weder bei Spolin noch bei Johnstone oder Close finden sich entsprechende Spielvorschläge (obwohl Johnstone ein Kaptitel über „Experten“ beiträgt, das ein wenig an Rate-Games erinnert (JOHNSTONE 1998, S. 215)). Ratespiele sind ein deutlicher Hinweis auf die Nähe zu Partyspielen.
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Zu den heimlichen Games zählen die Statusspiele Johnstones (JOHNSTONE 2002) und das Spiel mit Archetypen (LÖSEL 2008). Emergente Games stehen wiederum im Mittelpunkt des Ansatzes von Close. Zusammenfassend kann man sagen, dass Games einen dominanten Anteil an der Hervorbringung der einzelnen Improvisationen haben. Sie bilden eine Art Katalysator, durch den sich die Improvisation immer wieder neu entfaltet, während die Games selber weitgehend invariant bleiben. Gleichzeitig lenken sie die Aufmerksamkeit des Publikums auf bestimmte Aspekte der Darstellung. Im Idealfall steht im Mittelpunkt jeder Szene ein Game. Die Games haben sich aus Übungsspielen und Gesellschaftsspielen heraus entwickelt und sind inzwischen so zahlreich, dass sie in dieser Arbeit nur überblicksartig dargestellt werden können. Eine Analyse einzelner Games zur Frage, durch welche Mechanismen sie die Szenen und Geschichten hervorbringen, wäre wünschenswert, bleibt aber anderen Untersuchungen überlassen. Das Spiel mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit Akteure und Zuschauer sind verbunden in dem Wunsch, die Aufführung möge gelingen, allerdings erst nach Überwindung von Schwierigkeiten, weshalb Hindernisse in das Spiel eingeführt werden – mal durch die Vorgaben der Zuschauer, mal durch Regeln. Johnstone beschreibt die entsprechenden Prozesse so: „Bei den Zuschauern laufen sehr subtile Prozesse ab: wachsende Identifizierung mit den Spielern, Spannung, die daher kommt, dass sie sich fragen, ob die Vorstellung ein Erfolg sein wird, die Erwartung eines Wunders.“ (JOHNSTONE 1998, S. 36)
Die Beiträge des Publikums und die Beiträge der Improvisateure werden in der Aufführung so zusammengeführt, dass der Prozess der Konstruktion der Bühnenrealität immer sichtbar bleibt und selber zum Ereignis wird. So wird beispielsweise Spannung erzeugt, indem die Spieler sich Vorgaben vom Publikum holen, die zunächst kaum in das Spiel integrierbar erscheinen (= große Entfernung zum Spielziel). Die Begeisterung des Publikums ist umso größer, wenn dies doch auf eine elegante Weise gelingt (= Erreichen des Spielziels). Die improvisierende Aufführung, so die hier vertretene These, ist deswegen immer ein Spiel mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, bei dem Akteure und Zuschauer gemeinsam spielend eine Fiktion herstellen. Dieses Spiel dient als Rahmenspiel und es bezieht seine Spannung aus dem Gelingen oder Scheitern des Aufbaus einer gemeinsamen, kollaborativ hergestellten Bühnenrealität. Alle Teilnehmer verfolgen ein gemeinsames Spielziel, nämlich die Erzeugung von Prozessen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, mit denen dann gespielt werden kann. Was im Alltag vermieden werden muss, nämlich die Fragilität sozial konstruierter Realität sichtbar zu machen, wird im Improvisationstheater spielerisch zelebriert.
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Mit der Konzeptionierung des Improvisationstheaters als kollaboratives Konstruktionsspiel, wird dessen Ereignishaftigkeit verstehbar und beschreibbar: Es wird zum Ereignis durch die emotionale Beteiligung der Zuschauer am Prozess der Konstruktion, durch Identifikation mit den Spielern als Konstrukteure der Bühnenrealität, durch Angst und Befriedigung beim Aufbau und beim Zusammenstürzen der jeweiligen Fiktionen. Diese Überlegungen führen zwangsläufig zu einer sozialkonstruktivistischen Perspektive auf das Improvisationstheater: Wenn man den Menschen versteht als ein Wesen, das permanent spielerisch soziale Realitäten konstruiert, dann entspricht das Improvisationstheater der Simulation solcher sozialkonstruktivistischer Prozesse. Die in Kapitel IV herangezogenen Systemtheorien sind im Wesentlichen Weiterentwicklungen eines solchen sozialkonstruktivistischen Paradigmas und unterstützen daher die hier vertretene Auffassung vom Improvisationstheater als sozialem Konstruktionsspiel. 4.5 Fazit: Ereignishaftigkeit Die Ereignishaftigkeit des Improvisationstheaters wurde in der bisherigen Literatur überwiegend unter dem Aspekt des Wettkampfes gesehen (z.B. GEREIN 2004), was in dieser Arbeit kritisch hinterfragt wird: Erstens ist der Wettkampf nicht Teil aller Improvisationstheaterformen, kann also nicht als konstituierendes Merkmal gesehen werden, zweitens widerspricht er einigen wichtigen Grundhaltungen des Improvisationstheaters und drittens wird er immer ironisch präsentiert, quasi mit einem Augenzwinkern, was die These nahelegt, dass der Wettkampf nur die oberste Präsentationsschicht ist, unter welcher andere Ereignisformen stattfinden. Es wurden daher die Alternativen diskutiert, Improvisationstheater als Begegnung, als Fest oder als Spiel zu betrachten. Alle hier aufgeführten Auffassungen bieten jeweils einen gewissen Erklärungswert, jedoch erscheint nur das Spiel in der Lage, die Ereignishaftigkeit der improvisierten Aufführung umfassend zu beschreiben. Begegnung und Wettkampf sind innerhalb der Improvisationstheater-Community zu sehr umstritten, um ein konstitutiver Teil des Improvisationstheater zu sein. Das Konzept des Festes erscheint wiederum zu weitgefasst. Die Auffassung vom Improvisationstheater als Spiel zeigt dagegen besonders viel Erklärungspotential. Dabei kann das Spiel als Rahmung von den Games der Einzelimprovisationen unterschieden werden. Die Aspekte der Begegnung, des Festes und des Wettkampfes bleiben dem Spielcharakter untergeordnet. Die Ereignishaftigkeit des Improvisationstheaters als Spiel impliziert, dass der Ausgang des Prozesses offen sein muss. Denn die Spannung des Spiels resultiert aus dieser Ergebnisoffenheit, dem Hin und Her von Optionen und Möglichkeitsräumen. Erst durch die prinzipielle Ergebnisoffenheit des Spiels wird die improvisierte Aufführung zu einem Ereignis wird, das sich niemals wiederholen kann. Im
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Gegensatz zum Text stellt das Spiel keinen konkreten Inhalt zur Verfügung, sondern zunächst lediglich ein Spielfeld und Spielregeln – wie sich die jeweilige Partie dann zeitlich entfaltet ist völlig offen. Charles weist darauf hin, dass der Begriff des Spiels im Theater aufgrund dieser Prozessoffenheit in einem Spannungsverhältnis zum Konzept des Textes steht (CHARLES 2003, S. 213 ff): „Whereas a text or ‚chart’ typically steers the players towards a desirous outcome while allowing (ideally) some freedom with the specifics of the journey, a game provides an area of focus, a rule or a consideration that informs an exploration but generally allows both the process and final destination to be generated through performance.” (CHARLES 2003, S. 225)
Dies gilt auch dann, wenn man von einem erweiterten Textbegriff ausgeht, ein Text ist grundsätzlich nicht ergebnisoffen. Frost und Yarrow sprechen zwar von einem „ludischen Text“ (FROST & YARROW 2007, S. 177), aber auch dieser Begriff kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vorstellung eines Textes grundsätzlich dem Werkbegriff verbunden bleibt. Das Improvisationstheater ist aber nicht als Text oder Werk zu erfassen. Stattdessen muss es als Spiel begriffen werden und an die Stelle der Textanalyse muss beim Improvisationstheater die Spielanalyse treten. Im Idealfall stellt das Spiel einen Rahmen her, in dem sich die Spielpartie als einzigartiges, einmaliges Ereignis abspielt und dabei die Grenze zu etwas Neuem überschreitet. Theater-Games sind so entworfen, dass sie die Möglichkeit schaffen, eine solche neue Erfahrung zu machen. Hier liegt ein Unterschied zu anderen Spielen, etwa Fußball oder Monopoly, deren Spielabläufe zwar variieren, aber eher nicht in den Bereich des Neuen führen. Innerhalb der Improvisation soll eine Entdeckung (discovery) gemacht werden, die von keinem der Teilnehmer vorhergesehen werden konnte. So schreibt Sills: „If a theater game is presented freely and played freely, it has a gift to give. It’s a theater game. It gives you the gift of an entrance or an exit or a relation on a deeper level than you ordinarily can get.“ (Sills in SWEET 2003, S. 16)
Damit dies möglich ist, kann sich die Improvisation eben nicht in der präzisen Befolgung von Regeln entfalten, sondern im Wechselspiel zwischen Regelbefolgung und Regelbruch. Es ist als Regelspiel nicht vollständig beschreibbar. Stattdessen muss man sich das Improvisationstheater-Spiel als eine Spielform zwischen ungeregeltem und geregeltem Spiel vorstellen. In diesen Zwischenbereich gehört unter anderem die Kategorie der Konstruktionsspiele, also beispielsweise das Erbauen von Sandburgen, Baumhäusern, Türmen, Schneemännern und so weiter. Solche Spiele bedürfen keiner Regeln, sondern lediglich einer Absprache über das, was konstruiert werden soll. Aus diesem Grund wird hier vorgeschlagen, Improvisationstheater im Rahmen eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes als kollaborati-
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ves Konstruktionsspiel zu betrachten. Es wird daher die These aufgestellt, dass sich das Improvisationstheater am umfassendsten als Spiel mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit charakterisieren lässt.
5 E INE T HEORIE DER AUFFÜHRUNG DES I MPROVISATIONSTHEATERS Gemäß der Fragestellung dieser Arbeit wird nun der Versuch unternommen, die unter performativer Perspektive gewonnenen Ergebnisse in eine Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters zu integrieren. Eine solche Theorie muss den Anspruch haben, mehr zu sein als ein Nebeneinander von Einzelbefunden, vielmehr muss sie diese in sinnvoller Weise zu organisieren und für neue Thesen zugänglich zu machen. Als zentrale These wird hier die im Vorigen herausgearbeitete These vom Improvisationstheater als Konstruktionsspiel gewählt: Improvisationstheater ist ein Spiel mit den Prozessen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Stellt man diese These in den Mittelpunkt, dann lassen sich die anderen Befunde sinnvoll zuordnen wie in Abbildung 24 überblickhaft dargestellt. Jeder der vier Aspekte der Performativität kann unter der Prämisse des Improvisationstheaters als Spiels mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit sinnvoll interpretiert werden.
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Tab. 13: Eine Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters
Improvisationstheater als Spiel mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit
Leibliche KoPräsenz
Materialität
Semiotizität
Ereignishaftigkeit
Die Zuschauer sind als Mitspieler durch ihre Vorgaben am Prozess der Konstruktion der Fiktion beteiligt.
Das Ideal der leeren Bühne und ein allgemeines Bemühen um Neutralität schaffen Raum für aktive Imagination der Zuschauer.
Die Mobilität der Zeichen ermöglicht deren flexible, kollaborative Verwendung in der sozialen Konstruktion einer Bühnenrealität.
Die Aufführung wird als Spiel gerahmt, auch dann, wenn weitere Rahmungen wie Begegnung, Sport oder Fest etabliert werden.
Die Zuschauer sind an der Aufstellung von Hindernissen beteiligt und verfolgen deren Bewältigung als Beobachter des Spiels.
Zwischenfiguren vermitteln zwischen der Fiktion und dem Prozess ihrer Erzeugung.
Neben der Fiktion wird eine Rahmung als spielerischer Prozess der Bedeutungsgenerierung erzeugt.
Die einzelnen Improvisationen werden durch Games strukturiert.
Über das Warm-up der Schauspieler und des Publikums wird ein kollaborativer Prozess erzeugt, der Akteure und Zuschauer gleichermaßen umfasst.
Die Zeitlichkeit von Zuschauern und Akteuren wird auf den Moment, auf die Gegenwart gelenkt.
Die Spieler wechseln zwischen den drei Bedeutungsebenen Wirklichkeit/ Spiel/ Fiktion hin. Auf Zuschauerseite entstehen perzeptive Multistabilitäten.
Die jeweilige Konstruktion von sozialer Realität wird spielerisch gestört.
(Quelle: Eigene Darstellung)
Unter dem Aspekt der leiblichen Ko-Präsenz wird das Zusammensein von Akteuren so organisiert, dass die Zuschauer mal als Teilnehmer in das Spiel mit einbezogen sind, mal als Beobachter dem Spiel folgen. Als Teilnehmer des Spiels sind sie selber am Prozess der sozialen Konstruktion der Bühnenwirklichkeit beteiligt, indem sie Vorgaben für diese liefern. Dies geschieht insbesondere zu Beginn der Szenen, also dann, wenn die Determinanten der Realitätskonstruktion (beispielsweise das WER/ WO/WAS) festgelegt werden. Immer wieder wechseln sie in die Position der Beobachter des Spiels. Als solche sind sie über dessen Regeln und Schwierigkeiten informiert, oft sind sie auch an der Herstellung von Hindernissen beteiligt, die den
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Spielern die Konstruktion der Bühnenrealität erschweren. Die Zuschauer beobachten nicht nur die individuellen virtuosen Leistungen der Schauspieler, sondern auch den kollaborativen Prozess der Erzeugung oder – nach einer Störung – der Wiederherstellung der Bühnenrealität durch das Ensemble. Aufgrund der Enthemmung der Zuschauer und der Risikobereitschaft der Spieler verlaufen diese Prozesse schneller, radikaler und fehlerhafter als entsprechende Prozesse des Alltags. Die Materialität des Improvisationstheaters folgt einer Ästhetik der Neutralität, um die aktive Imaginationsleistung der Zuschauer nicht zu stören bzw. um diese einzufordern. Mit dem Ideal der bare stage und dem Verzicht auf Requisiten und Kostüme konstituiert sich das Improvisationstheater als neutrales Spielfeld, dessen Regeln oft erst noch geschaffen werden müssen. Gleichzeitig verzichtet es recht konsequent auf Vieles, was an ein ‚normales‘ Theater erinnern könnte, um den Zuschauer nicht in die Rezeptionshaltung des Literaturtheaters zu bringen. Zwischenfiguren agieren sowohl im direkten Zuschauerkontakt als auch innerhalb der Fiktion und stellen damit ein Bindeglied zwischen Bühne und Zuschauerraum im performativen Raum her. Sie verweisen immer wieder auf die konstruierte Natur der Bühnenfiktion. Weiterhin verzichtet das Improvisationstheater auf einen OffBereich, die Spieler bleiben auch dann auf der Bühne, wenn sie nicht innerhalb der Fiktion agieren. Es entsteht dadurch für das Publikum eine doppelte Rahmung, eine Bühne auf der Bühne. Das Publikum sieht wie die Spieler auf der Bühne eine Bühnenhandlung nicht nur beobachten, sondern durch Eingreifen auch spielend erzeugen und verändern. Ebenfalls als einen Aspekt der Materialität kann man den spezifischen Umgang mit Zeit beim Improvisationstheater sehen: Eine Verpflichtung auf den Moment, auf den Einzelaugenblick, auf die Gegenwart wird sowohl von den Spielern gefordert als auch beim Publikum hergestellt. Damit wird die Aufmerksamkeit auf den jeweiligen Moment mit seiner offenen Zukunft gelenkt und die Konstruktionsprozesse, die diese Zukunft ermöglichen, werden sichtbar. Unter dem Aspekt der Semiotizität tritt vor allem eine gesteigerte Mobilität der Zeichen in den Vordergrund. Durch sie wird der Prozess der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit zu einem fluiden System von Bedeutungen, das erst im Verlauf der Interaktion der Spieler erstarrt und zu einer (halbwegs) festen Fiktion wird. Gleichzeitig fördert die Mobilität der Zeichen die aktive Konstruktionsleistung der Zuschauer, sei dies nur durch inneres Mitvollziehen oder durch Beteiligung in Form von Vorgaben. Es werden drei Bedeutungsebenen erzeugt, von denen die Ebene des Spiels als primäre Bedeutungsebene etabliert wird und als Rahmung dient. Dies wurde insbesondere anhand der Figur als komplexem Zeichen aufgezeigt. Durch spezifische Techniken wie die Double Voiced Strategies können die Schauspieler zwischen der Ebene der Fiktion und der Ebene des Spiels vermitteln und gleichzeitig in beiden aktiv sein. Die Spieler bewegen sich dabei mal innerhalb der Rahmung als Spiel und mal innerhalb der Rahmung als Fiktion – allerdings ohne die Rahmung als Spiel auszuschließen, sodass die Zuschauer zwischen zwei Bedeutungs-
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ebenen hin und herspringen können. Auf der Seite der Rezeption entstehen dadurch perzeptive Multistabilitäten: Der Spieler wird mal als Figur, mal als Rollenspieler wahrgenommen. Auch dadurch verschwindet der Prozess der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit nie aus dem Bewusstsein des Zuschauers, sondern wird immer aktualisiert. Betrachtet man schließlich die Ereignishaftigkeit des Improvisationstheaters, so tritt der Aspekt des Spiels besonders deutlich hervor. Zwar existieren mit den Konzepten der Begegnung, des Sports und des Festes auch alternative Deutungen, jedoch bleiben diese in ihrem Erklärungswert hinter dem Spiel zurück. Letztendlich werden auch sie spielerisch gerahmt. Dies gilt auch für die populäre Präsentation von Improvisationstheater als sportlicher Wettkampf. Der Ereignischarakter dieser Theaterform besteht im spielerischen Mit- und Nachvollziehen der Konstruktion einer sozialen Realität. Der Zuschauer erlebt das Zustandekommen von sozial konstruierter Wirklichkeit als riskantes Spiel. Zum Ereignis wird es für ihn insbesondere durch die Möglichkeit des Scheiterns. Der Prozess wird deshalb immer wieder spielerisch gestört, damit er nicht zu glatt abläuft. Dies geschieht manchmal durch die Games, manchmal durch die Vorgaben des Publikums, manchmal durch das risikosuchende Verhalten der Akteure. In jedem Fall wird der Prozess der sozialen Konstruktion von Bühnenrealität mit Hindernissen versehen, um den spielerischen Reiz zu erhöhen. 5.1 Die doppelte Rahmung Die These vom Improvisationstheater als Konstruktionsspiel bedeutet, dass die Fiktion immer als konstruiert sichtbar bleibt. Der Prozess der Konstruktion wird damit selber zu einem Wahrnehmungsgegenstand der Improvisationsaufführung und tritt mindestens gleichwertig neben die Fiktion, sodass der Zuschauer jedes Element der Aufführung gleichzeitig innerhalb von zwei Rahmungen wahrnehmen kann, erstens als Element der Fiktion zweitens als Element des Konstruktionsspiels Improvisation:
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Abb. 9: Doppelte Rahmung beim Improvisationstheater
Konstruktionsspiel
Fiktion
(Quelle: Eigene Darstellung)
Jedes Element der Aufführung dient der Etablierung und Aufrechterhaltung der doppelten Rahmung und jede Wahrnehmung geschieht innerhalb dieser doppelten Rahmung. Sie dient einerseits dazu, die qualitativen Schwankungen der Improvisation aufzufangen, andererseits dazu, beim Publikum ein Oszillieren der Wahrnehmung herzustellen, das sie in das Spiel mit hineinzieht und zu Mitspielern macht. Der Prozess der kollaborativen Konstruktion zur Hervorbringung einer Fiktion wird nicht verborgen, sondern auf besondere Art sichtbar gemacht. Schwierigkeiten und Hindernisse im Aufbau der Fiktion machen den spielerischen Reiz und die Spannung dieser Theaterform aus. Wo die Fiktion zu glatt wird, verändert sich die Wahrnehmungsordnung des Zuschauers und er nimmt die Aufführung nicht mehr als improvisiert wahr, weil er das zweite Wahrnehmungsobjekt, den Prozess der Konstruktion, aus der Aufmerksamkeit verliert. Das Entstehen der Fiktion aus dem Spiel ist damit das eigentliche Thema des Improvisationstheaters. Dabei wird die Vorstellung eines planenden Bewusstseins, eines Urhebers und Schöpfers der Fiktion unterwandert. Dem Zuschauer wird immer wieder vorgeführt, dass eine solche Instanz nicht existieren kann, sondern dass die Prozesse selber die jeweilige Fiktion erzeugt haben, dass diese also ‚von selbst‘ entsteht.
6 R ÜCKWIRKUNGEN AUF DIE T HEORIE DER P ERFORMATIVITÄT Im bisherigen Kapitel wurde der performative Ansatz auf das Improvisationstheater angewendet und eine Theorie der Aufführung dieser Theaterform formuliert. Im
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Folgenden soll die Frage diskutiert werden, ob der performative Ansatz seinem Anspruch am Beispiel des Improvisationstheaters gerecht wird oder ob die Untersuchung an Grenzen stößt, die im performativen Ansatz begründet sind und deshalb Rückwirkungen auf diesen Ansatz anregen können. Die vorigen Kapitel zeigen, dass die vier Grundkategorien der Performativität, leibliche Ko-Präsenz, Materialität, Semiotizität und Ereignishaftigkeit erfolgreich auf das Improvisationstheater angewendet werden konnten. Die begrifflichen Instrumente des performativen Ansatzes erwiesen sich dabei als geeignet, um die Rahmenbedingungen für das, was sich in der Improvisationstheateraufführung vollzieht, zu beschreiben. Ebenfalls war es möglich, die in einer Analyse der Einzelaspekte gewonnenen Erkenntnisse zu einer Theorie der Aufführung zusammenzufassen, ohne den spezifischen Ergebnissen Gewalt anzutun. Darüber hinaus erscheint es dennoch schwierig, durch die performativen Konzepte den eigentlichen Prozess des Improvisierens zu erfassen. Es fällt auf, dass die Kategorien sich immer nur auf die Manifestationen der Improvisation beziehen – etwa deren Materialität oder die Organisation der leiblichen Ko-Präsenz – nicht jedoch auf den Prozess des Improvisierens selber. Einen entsprechenden prozessualen Ansatz liefert dagegen das Konzept der autopoietischen feedback-Schleife. Obwohl es nicht zu den vier Grundaspekten gehört, stellt es ein zentrales Konzept des performativen Ansatzes dar. Aus der Perspektive des Improvisationstheaters rückt es noch viel stärker in den Mittelpunkt und soll deshalb im Folgenden untersucht werden. 6.1 Die autopoietische feedback-Schleife Das Konzept der autopoietischen feedback-Schleife wurde in der vorliegenden Arbeit schon mehrfach gestreift und verspricht einen besonders hohen Erklärungswert, weil es ein rein prozessuales Konzept ist. Ausformuliert wird es bei FischerLichte unter dem Thema „Ereignishaftigkeit“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 284 ff), es durchzieht jedoch ihre gesamte Theorie der Aufführung. Dabei nimmt es deutliche Anleihen an den Systemtheorien und befindet sich dadurch im Schnittbereich zwischen dem Ansatz der Performativität und den Systemtheorien. Das Konzept wird hier zunächst in seiner Verwendung bei Fischer-Lichte nachvollzogen und diskutiert. Anschließend wird ein Modell der feedback-Schleife erarbeitet, das auf das Improvisationstheater angewendet werden kann. Fischer-Lichte benutzt den Begriff der autopoietischen feedback-Schleife für einen sich in der Wechselwirkung von Bühnenproduktion und Zuschauerrezeption vollziehenden Prozess der gegenseitigen Beeinflussung. Dieser ist weit mehr als ein Element oder Aspekt innerhalb der Aufführung, vielmehr ist er derjenige Prozess, der die Aufführung überhaupt erst hervorbringt und organisiert:
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„Was immer die Akteure tun, es hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer. In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass die Aufführung von einer selbstbezüglichen und sich permanent verändernden feedback-Schleife hervorgebracht und gesteuert wird. Daher ist ihr Ablauf auch nicht vollständig planbar und vorhersagbar.“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 59)
Gemeint ist nicht lediglich ein passives Resonanzphänomen im Sinne von Lessing, der die Übertragung von Emotionen auf den Zuschauer mit zwei nebeneinander gespannten Saiten verglich (Roselt in FISCHER-LICHTE et.al, 2005, S. 84), vielmehr wird der Zuschauer als aktiver Teilnehmer einer umfassenden und weitgehend unbewussten Kommunikation verstanden, die durch ein inneres Nachvollziehen der schauspielerischen Aktion geschieht. Fischer-Lichte folgt hierin der Vorstellung von Max Herrmann, der schrieb, das aktive und kreative Mitagieren des Zuschauers manifestiere sich „in einem heimlichen Nacherleben, in einer schattenhaften Nachbildung der schauspielerischen Leistung, in einer Aufnahme nicht sowohl durch den Gesichtssinn wie vielmehr durch das Körpergefühl, in einem geheimen Drang, die gleichen Bewegungen auszuführen, den gleichen Stimmenklang in der Kehle hervorzubringen“ (HERRMANN 1930, S. 153). Die feedback-Schleife impliziert bei Fischer-Lichte also ein aktives Mitvollziehen der schauspielerischen Handlungen durch die Zuschauer. Sie betont die Körperlichkeit des gemeinten Prozesses: „Die Aktivität des Zuschauers wird nicht nur als eine Tätigkeit der Phantasie, der Einbildungskraft begriffen, wie es bei flüchtiger Lektüre leicht den Anschein haben mag, sondern als ein leiblicher Prozess. Dieser Prozess wird durch die Teilnahme an der Aufführung in Gang gesetzt, und zwar durch die Wahrnehmung, die nicht nur Auge und Ohr, sondern das ‚Körpergefühl‘, der ganze Körper synästhetisch vollziehen.“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 54)
Die Wechselwirkung zwischen Bühne und Publikum ist also weit mehr als der Austausch von Information oder Sprache. Das Mitagieren, auch wenn es nicht zu sichtbarem Verhalten führt, geht über bloß passives Mitschwingen hinaus. Es setzt einen leiblichen Kommunikationsprozess zwischen Akteuren und Zuschauern in Gang.37
37 Aktuell wird dieser Ansatz durch die Entdeckung und Erforschung sogenannter „Spiegelneurone“ neuropsychologisch untermauert. Das System der Spiegelneurone sorgt demnach dafür, dass in jeder sozialen Situationen das Verhalten des Gegenübers innerlich „gespiegelt“ wird. Es handelt sich dabei um mehr als nur Nachahmung: Die Mimik und Gestik des Kommunikationspartners wird vielmehr Mitvollzogen. Sie wird nicht erst mühsam entschlüsselt, sondern direkt und zeitgleich gedoppelt, was die Möglichkeit von Einfühlung, Identifikation und Nachahmung einschließt (BAUER 2006).
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Fischer-Lichtes Interesse gilt besonders jenen Formen von Rückkopplung, die sich der Steuerbarkeit entziehen. Ihr Hauptfokus liegt auf der These, dass diese Prozesse in weiten Teilen selbstorganisierend sind, wenn nicht sogar sich-selbsthervorbringend. Es gibt daher keine Verfügbarkeit und Kontrolle über den Prozess, weder beim Regisseur noch bei den Schauspielern noch beim Zuschauer. Erst die tendenziell unkontrollierbare autopoietische feedback-Schleife bringt nach FischerLichte das Gefühl von Einzigartigkeit, von Liveness, von gegenwärtigem Ereignis hervor. Die Radikalität einer solchen Auffassung erschließt sich erst auf den zweiten Blick: Nicht die Schauspieler oder der Regisseur bringen demnach die Aufführung hervor, sondern ein anonymer Wechselwirkungsprozess, der zudem noch unverfügbar ist, nämlich weder vollständig planbar noch vorhersagbar. Was beim inszenierenden Theater fast wie eine Provokation anmutet, scheint dem improvisierenden Theater wie auf den Leib geschneidert, denn wie gezeigt, kennt es kein Werk, keinen Urheber, keinen Prinzipal, sondern nur den improvisatorischen Prozess als Agens der Aufführung. Fischer-Lichte charakterisiert die feedback-Schleife als System und schreibt ihr mehrere Eigenschaften zu, die als Systemeigenschaften aus der Systemtheorie stammen: „Diese Schleife funktioniert als ein selbstorganisierendes System, dem permanent neu auftauchende, nicht geplante und so auch nicht voraussehbare Elemente integriert werden müssen.“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 287-288, Hervorhebung G.L.)
Dies bringt gewisse begriffliche Schwierigkeiten mit sich, denn im gewöhnlichen Verständnis sind Feedbackschleifen nur Teile eines Systems, nicht aber das System selber. Wenn die Rückkoppelung selber das System ist, was sind dann die Elemente des Systems? Da sich bei Fischer-Lichte keine konkreten Hinweise finden, bleibt die Frage, WAS eigentlich in der Aufführung konkret WOMIT rückgekoppelt wird, unbeantwortet. 6.2 Die Systemeigenschaften der feedback-Schleife Fischer-Lichte weist dem System der feedback-Schleife drei Systemeigenschaften zu, nämlich selbstreferenziell, autopoietisch und emergent (FISCHER-LICHTE 2004). Diese sind eng miteinander verwandt, jedoch nicht identisch; teilweise beziehen sie sich auf ganz unterschiedliche Systemtheorien.
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Erste Systemeigenschaft der feedback-Schleife: Selbstreferenzialität Mit Selbstreferenzialität verweist Fischer-Lichte auf die Sprechakttheorie von John Austin, die einen Grundpfeiler des performativen Ansatzes bildet (FISCHERLICHTE et al. 2005).38 Innerhalb der Sprechakttheorie ist mit selbstreferenziell der Selbstbezug eines Symbols oder Sprechaktes auf sich selber gemeint, der dadurch wirklichkeitskonstituierend wirkt: „In der Selbstreferenzialität fallen Materialität, Signifikant und Signifikat zusammen. Die Materialität fungiert nicht als ein Signifikant, dem dies oder jenes Signifikat zugeordnet werden kann. Vielmehr ist die Materialität zugleich als das Signifikat zu begreifen, das mit der Materialität für das wahrgenommene Subjekt, das sie als solche wahrnimmt immer schon gegeben ist. Die Materialität des Dings nimmt, tautologisch gesprochen, in der Wahrnehmung des Subjekts die Bedeutung seiner Materialität an, das heißt seines phänomenalen Seins. Das Objekt, das als etwas wahrgenommen wird, bedeutet das, als was es wahrgenommen wird.“ (FISCHER-LICHTE 2004, S. 245)
In der Sprechakttheorie wird unter selbstreferenziell in der Regel die wirklichkeitskonstituierende Dimension eines Sprechaktes verstanden, d. h. im engeren Sinn seine Eigenschaft, das, was inhaltlich behauptet wird, durch den Sprechakt selber gleichzeitig zu vollziehen. Wirklichkeitskonstituierend sind daher Sprechakte, deren erfolgreicher Vollzug ausreichend ist, um den Satzinhalt Wirklichkeit werden zu lassen. In einem erweiterten Sinn ist die Eigenschaft eines Sprechakts gemeint, die Wirklichkeit zu strukturieren, zu organisieren und zu verändern. Versteht man die Selbstreferenzialität der feedback-Schleife in diesem Kontext, so stellt sie sich zunächst als ein System dar, das aus Sprechakten oder Kommunikationsakten aufgebaut ist. Im Weiteren stellt sich die Frage, ob die Eigenschaft ‚selbstreferenziell‘ im engeren oder im weiteren Sinn gemeint ist. Im engeren Sinn würde das bedeuten, dass ein kommunikativer Akt innerhalb der feedback-Schleife bereits der entsprechende Vollzug ist In einem weiteren Sinn verstanden kann man unter der Selbstreferenzialität der feedback-Schleife die gesamte pragmatische Dimension der kommunikativen Akte verstehen, die neben dem manifesten Inhalt die gemeinsame Wirklichkeit verändert, wie etwa Beziehungs-, Apell- und Selbstoffenbarungsmitteilungen. Die Selbstreferenzialität der feedback-Schleife bezöge sich damit auf die Frage, wie diese die pragmatische Dimension der Kommunikationsakte formt, aus denen sie besteht. Innerhalb der zwischen Bühne und Zuschauerraum entstehenden feedback-Schleife würden damit bestimmte Kommunikationen
38 Es fällt dabei auf, dass Fischer-Lichte nicht auf Niklas Luhmann verweist, obwohl sich bei ihm das Konzept der Selbstreferenzialität besonders ausgearbeitet findet.
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möglich, andere würden unwahrscheinlich. Riskiert beispielsweise ein Schauspieler eine Selbstoffenbarung, so ist diese Dimension innerhalb der feedback-Schleife geöffnet und damit Teil der interaktiven Wirklichkeit. Dasselbe gilt für Aufforderungen oder Beziehungsaussagen (z.B. Status). Zweite Systemeigenschaft der feedback-Schleife: Autopoiesis Fischer-Lichte spricht grundsätzlich von der autopoietischen feedback-Schleife (FISCHER-LICHTE 2004) und weist dieser damit die Fähigkeit zu, sich selber zu erzeugen bzw. zu reproduzieren. Den Begriff der Autopoiesis39 entlehnt FischerLichte der biologistischen Systemtheorie von Humberto Maturana und Fancisco Varela (FISCHER-LICHTE 2004, S. 61 Fußnote 4), sie verzichtet jedoch leider auf eine Explikation. Dies führt zu Schwierigkeiten, weil der Begriff der Autopoiesis bei Maturana und Varela auf biologische Systeme bezogen ist und sich nicht einfach auf soziale Systeme oder Zeichensysteme übertragen lässt. Das Konzept besagt, dass ein biologisches System sich immer wieder selber hervorbringt, indem es die konstitutiven Systemelemente reproduziert. Maturana und Varela beschreiben Autopoiesis zunächst anhand der Fähigkeit einer Zelle, sich durch Herstellung einer Abgrenzung (Zellmembran) und ihrer Bestandteile (Zellorgane), operativ selbst zu reproduzieren. Sie gehen also von Systemen aus, die eine materielle Substanz und eine räumliche Ausdehnung besitzen. Wenn Fischer-Lichte auf Maturana und Varela verweist ist eine Übertragung dieser biologistischen Systemtheorie auf das Theater damit noch keineswegs vollzogen, sondern stellt eine noch zu leistende Aufgabe dar. Maturana und Varela selbst haben eine Übertragung auf soziale Systeme oder Kommunikationssysteme eher kritisch gesehen (KRIZ 1999, S. 85), dennoch wurde dies vielfach versucht – in Deutschland besonders prominent durch Luhmann, der die Begrifflichkeiten dabei aber wiederum abgewandelt hat (KRIZ 1999, S. 85 ff). Auch hier fällt auf, dass Fischer-Lichte einen Bezug zu Luhmann vermeidet, der immerhin einen Transfer auf soziale Systeme bereits geleistet hat – auch wenn sein Konzept der Autopoiesis weder einfach noch unumstritten ist (siehe Kapitel IV 1). Letztendlich sorgt das gesamte Konzept der Autopoiesis auch innerhalb der Systemtheorien für mehr Verwirrung als Klarheit (KRIZ 1999, S. 82-87). Der Systemtheoretiker Gerhard Roth plädiert aus diesem Grund dafür, den Ausdruck Autopoiesis nur auf den Lebensprozess insgesamt anzuwenden, „der seit ca. 3 Milliarden Jahren auf der Erde andauert, und der von den sich selbst reproduzierenden individuellen Organismen als Komponenten erhalten wird.“ (ROTH 1997, S.265). Es
39 Bei dem Wort „Autopoiesis“ handelt sich um einen Kunstbegriff, abgeleitet vom griechischen „autos“ = „selbst“ und „poiein“ = „machen“.
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bleibt festzuhalten, dass der Begriff der Autopoiesis wenig trennscharf und schillernd geblieben ist und dass er deswegen in den Systemtheorien umstritten bleibt. Fischer-Lichtes Bezug auf die biologistische Systemtheorie von Maturana und Varela macht dies nicht einfacher, sondern schafft zudem das Problem eines Transfers des Konzeptes in die Theaterwissenschaft. Dritte Systemeigenschaft der feedback-Schleife: Emergenz Das Konzept der Emergenz entstammt ebenfalls den Systemtheorien. FischerLichte verwendet den Begriff in einer weitgefassten Form, nämlich zur Charakterisierung von Erscheinungen, die vor ihrem ersten Auftreten nicht hätten vorhergesagt werden können (Fischer-Lichte im Artikel ‚Emergenz‘, Metzler Theater Lexikon, FISCHER-LICHTE et al. 2005, S. 87). Innerhalb des performativen Ansatzes wird damit zunächst ein spezifischer Wahrnehmungsmodus bezeichnet: Die Elemente der Aufführung seien beim postdramatischen Theater oder in der Performance-Kunst häufig nicht mehr in einen kontinuierlichen Zusammenhang wie Figur, Geschichte oder fiktionale Welt eingebettet, sondern erschienen unvermittelt und ohne Kontext. Neben dieser Unvorhersehbarkeit für das Publikum thematisiert Fischer-Lichte eine generelle Unvorhersehbarkeit. Diese bezieht sich auf Elemente der Aufführung, die auch auf Produzentenseite unvorhersehbar waren, also auf die Abweichung von Inszenierung und Aufführung. In diesem umfassenden Sinn bezeichnet Emergenz alles, was während der Aufführung ungeplant und unvorhersehbar geschieht (Fischer-Lichte im Artikel ‚Emergenz‘, Metzler Theater Lexikon, FISCHER-LICHTE et. al 2005, S. 87). In „Ästhetik des Performativen“ definiert Fischer-Lichte Emergenz folgendermaßen: „Mit dem Begriff Emergenz meine ich unvorhersehbar und unmotiviert auftauchende Erscheinungen, die zum Teil nachträglich durchaus plausibel erscheinen.“ (2004, S. 186 Fußnote)
Sie verweist dabei auf den Philosophen Achim Stephan (STEPHAN 1999) und damit auf ein ganzes Bündel von emergentistischen Systemtheorien. Leider klärt dieser Verweis nicht eindeutig, auf welche Emergenztheorie Fischer-Lichte sich genau bezieht. Hier besteht eine weitere Unschärfe, die dazu führt, dass der Begriff wenig mehr bedeutet als ‚unvorhergesehen‘. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Konzept der autopoietischen feedback-Schleife bei Fischer-Lichte zu wenig theoretische Einbettung aufweist. Es verweist auf mehrere theoretische Hintergründe, die keineswegs ohne weiteres miteinander kompatibel sind. Da es aber gleichzeitig dasjenige Konzept innerhalb des performativen Ansatzes ist, das einer rein prozessualen Auffassung der Aufführung am Nächsten kommt, wäre eine Weiterentwicklung wünschenswert, um prozessuale
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Theaterformen wie das Improvisationstheater besser untersuchen zu können. Wie immer man die Systemeigenschaften der feedback-Schleife charakterisiert, so kennzeichnet diese doch offensichtlich ein Prozess, der von selber in Gang kommt, sobald eine theatrale Situation hergestellt wurde – ähnlich wie Strom von selber zu fließen beginnt, sobald ein Stromkreislauf hergestellt wurde. Wie in Watzlawicks Diktum, dass es unmöglich sei, nicht zu kommunizieren, könnte man für die Bühnensituation also sagen, dass es unmöglich sei, keine autopoietische feedbackSchleife zu erzeugen. 6.3 Die feedback-Schleife beim Improvisationstheater Man kann erwarten, dass das Konzept der feedback-Schleife beim Improvisationstheater besonders deutlich zutage tritt, da hier, wie im vorigen Kapitel gezeigt, die Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern maximiert wird. In der Literatur zum Improvisationstheater wird der Begriff der feedback-Schleife nicht verwendet, was nicht überrascht, da er zu einem Zeitpunkt innerhalb der Theaterwissenschaft entwickelt wurde, als die wichtigsten Beiträge zum Improvisationstheater bereits geschrieben waren. Stattdessen finden sich viele verschiedene Einzelkonzepte über die Wechselwirkung zwischen Zuschauern und Akteuren wie in Kapitel III 1 beschrieben. Die folgenden Ausführungen basieren daher zum Teil auf diesen Konzepten, zum Teil auf eigenen Erfahrungen mit improvisierenden Aufführungen. Zunächst soll hier der Frage nachgegangen werden, WAS eigentlich in der improvisierenden Aufführung WOMIT rückgekoppelt wird und wie man eine solche feedback-Schleife modellieren könnte. Danach werden die Systemeigenschaften selbstreferenziell, autopoietisch und emergent im Kontext der feedback-Schleife beim Improvisationstheater untersucht. 6.4 Ein zirkuläres Modell der Aufführung Damit sich eine feedback-Schleife bilden kann, muss auf irgendeine Weise der Output des Systems in seinen Input zurückgeführt werden, entweder verstärkend (positive Rückkoppelung) oder reduzierend (negative Rückkoppelung).40 Was aber wäre innerhalb der Theatersituation als Output und was als Input zu verstehen? Die Begriffe implizieren ein Innen und Außen des Systems und sie machen nur dann Sinn, wenn man ein solches Innen und Außen identifizieren kann. Was immer man
40 Hier macht sich bemerkbar, dass das Konzept der feedback-Schleife aus einer älteren Generation von Systemtheorien stammt, die noch mit Begriffen wie Output und Input operierte. Der Feedbackbegriff impliziert eine System-Umwelt-Interaktion, die in den neueren Systemtheorien nicht mehr so konzipiert wird.
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aber in der Theateraufführung als System und dessen Umwelt definieren würde – die Inszenierung, die Akteure, die Zuschauer – wäre jedoch willkürlich und würde den Blick darauf verstellen, dass es sich um zirkuläre Prozesse handelt. Nicht nur die Spieler bekommen Feedback über ihr Spiel, sondern ebenso die Zuschauer, indem ihre Reaktionen wiederum auf der Bühne aufgegriffen werden: Abb. 10: Zirkuläres Modell der Aufführung
(Quelle: Eigene Darstellung)
Hier wird daher vorgeschlagen, die feedback-Schleife als zirkuläres Modell so zu verstehen, dass der Output des Zuschauersystems zum Input des Schauspielersystems wird und umgekehrt Nach diesem Modell kann es nun an zwei Stellen entweder zu positiven oder zu negativen Rückkopplungseffekten kommen: Zum einen kann das Verhalten der Spieler als Output verstanden werden, der über die Zuschauer wieder zum Input für die Spieler wird, zum anderen kann das Verhalten der Zuschauer via Bühne auf sich selber zurückwirken. Beim Theatersport nach Johnstone würde beispielsweise das provozierende Verhalten der Spieler und der Moderation das Publikum ‚einheizen‘, dies würde wiederum durch das Zuschauerverhalten auf die Bühne zurückgeführt und die Spieler würden wiederum auf die ‚Hitze‘ des Publikums reagieren. Wie in Kapitel II und III gezeigt unterliegen diese Prozesse beim Improvisationstheater bestimmten Regelungen: Auf der Seite der Produktion sind dies Produktionsregeln, die bestimmen, welcher Input auf der Bühne aufgegriffen wird und wie er verarbeitet wird. Auf der Seite der Rezeption sind dies insbesondere die Animationsregeln, die regeln, welches Verhalten der Zuschauer in die Aufführung eingebracht wird. Die produzierten Outputs beider Seiten fließen jedoch nur dann in die feedback-Schleife ein, wenn sie tatsächlich wahrgenommen werden. Auf beiden Seiten kann man von einer hohen Bedeutung der aktiven Wahrnehmung ausgehen, durch welche das Wahrgenommene vervollständigt und interpretiert wird, was Stö-
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rungen, Fehlinterpretationen und Missverständnisse einschließt. Damit ein zirkuläres Modell greift, müssen zirkuläre Kausalketten angenommen werden: Abb. 11: Ausdifferenziertes zirkuläres Modell der feedback-Schleife
I= Input R= Regeln O= Output
(Quelle: Eigene Darstellung)
Sowohl in der Sphäre der Produktion als auch in derjenigen der Rezeption kann man jetzt einen Input und einen Output unterscheiden. Der Input (I1 und I2) wird fortlaufend bereits durch die aktive Wahrnehmung vervollständigt und verändert. Bevor der Input zu einem Output (O1 und O2) führt, wird er gemäß der jeweils herrschenden Regeln beantwortet: Auf der Seite der Spieler sind das die in Kapitel II 2 besprochenen Regeln der Produktion von Improvisation (R2), auf der Seite der Zuschauer sind es die zu Beginn der Aufführung eingeführten oder emergierten Animations- und Reduktionsregeln (R1), die zu einer Teilhabe der Zuschauer am Gesamtprozess der Aufführung führen. Der Output auf der Seite der Rezeption wird zum Input auf der Seite der Produktion, sodass ein geschlossener Feedbackkreis entsteht. Die zirkuläre Interaktion lässt sich damit als permanente, wechselseitige feedback-Schleife modellieren. Das Spezifische eines solchen Modells zirkulärer Kausalitäten ist, dass damit Prozesse des Aufschaukelns (im Falle von positiver
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Rückkoppelung) oder der Stabilisierung (im Fall von negativer Rückkoppelung) abgebildet werden können. 41 Vor dem Hintergrund dieses Modells unterscheidet sich das Improvisationstheater gravierend von inszenierendem Theater. Tab. 14: Die feedback-Schleife beim Improvisationstheater R1: Breites Spektrum von wahrnehmbarem Zuschauerverhalten (Animationsregeln, Warm-up) O1: Hohe Intensität von Zuschauerverhalten (Enthemmung, Zuschauervorgaben) I2: Geringe Distanz zum Publikum (keine 4. Wand, Ähnlichkeit von Spielern und Publikum) R2: Hohe Responsivität der Spieler (Warm-up, Verpflichtung auf den Moment, Spiel mit dem Erwartungsrahmen) O2: Improvisation erzeugt ein offenes Kunstwerk (Störungen, doppelte Rahmung, Lücken im Sinn, perzeptive Multistabilität) I1: Einforderung der aktiven Wahrnehmung (aktive Imagination) (Quelle: Eigene Darstellung)
Das Improvisationstheater setzt über Animationsregeln (R2) gleich zu Beginn der Aufführung einen breiten Strom von wahrnehmbarem Publikumsverhalten in Gang (O1). Über die Enthemmung und das Einholen von Zuschauervorgaben wird das Publikum beteiligt. Der Output des Publikums fließt auf die Bühne und wird vom Moderator und von den Spielern ohne die Fiktion einer vierten Wand angenommen, wobei eine gewisse Selektion vorgenommen wird (I2). Über die Produktionsregeln der kollaborativen Konstruktion (R2) wird eine Improvisation erzeugt, die doppelt gerahmt ist und damit sowohl den Inhalt als auch den Prozess seiner Herstellung ausstellt. Es entsteht ein offenes Kunstwerk, das Lücken im Sinn und perzeptive Mulitstabilitäten enthält (O2). Dies fordert vom Zuschauer eine aktive Wahrnehmung (I1), die wiederum Grundlage für seine nächste Reaktion ist. Auf diese Weise ist der Kreis geschlossen. Insgesamt sind vielfältige Möglichkeiten zu positiver Rückkoppelung gegeben. Spieler und Zuschauer können sich gegenseitig ‚anheizen‘, jeder Output wird zum
41 Positive Rückkoppelung hat nichts mit einer Wertung zu tun, sondern bezieht sich darauf, dass der Output eines Systems so mit dem Input gekoppelt wird, dass es diesen verstärkt. Systeme mit positiver Rückkoppelung tendieren daher zu rascher Eskalation und Instabilität, während in Systeme mit negativer Rückkoppelung der Output so in den Input eingespeist wird, dass es diesen auf einem bestimmten Niveau stabilisiert.
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Input und damit verstärkend in das System eingespeist. Die Verwendung von positiven Rückkopplungseffekten beim Improvisationstheater ist möglicherweise verantwortlich für das Problem der schwankenden Qualität. Warum ‚hebt die eine Aufführung ab‘, während die andere ‚abstürzt‘? Oft sind die Unterschiede in den Ausgangsbedingungen minimal, die Unterschiede in den Ergebnissen jedoch extrem weit voneinander entfernt. Positive Rückkopplungseffekte können erklären, wie durch minimale Schwankungen innerhalb der feedback-Schleife große, unvorhersehbare Effekte entstehen, indem ein Output immer wieder in das System eingespeist wird, darin kreist und verstärkt wird. Das Improvisationstheater wird durch solche positiven Rückkoppelungen zu einer riskanten Theaterform, die Missverständnisse provoziert und Eskalation zulässt – sowohl mit erwünschten als auch mit unerwünschten Ergebnissen. Auf die besondere Bedeutung von Störungen, Hindernissen und Verwirrspielen wurde bereits mehrfach hingewiesen: Die aktive Imaginationsleistung und Bedeutungsgenerierung werden dadurch sowohl bei den Spielern als auch bei den Zuschauern immer wieder eingefordert. Die feedback-Schleife wird permanent gestört, damit sie sich neu organisiert. Ihre Emergenz wird damit zu einer grundlegenden Erfahrung der Aufführung. Legt man ein zirkuläres Modell zugrunde, so wird deutlich, dass die gegenseitige Abhängigkeit von Produktion und Rezeption beträchtlich ist. Dies findet eine Bestätigung darin, dass diese Abhängigkeit von den Theoretikern des Improvisationstheaters vielfach als Problem geschildert wird. Es wird davor gewarnt, diese Abhängigkeit zu groß werden zu lassen, da sie die Gefahr der Manipulierbarkeit und damit des Verlustes von Freiheit beinhalten. Dies gilt sowohl für die Spieler als auch für die Zuschauer. Johnstone hat diesem Problem viel Aufmerksamkeit geschenkt (1998). Gerade weil die Zuschauerreaktionen so unmittelbar und wahrnehmbar sind, gerät der Spieler in die Gefahr, sich langfristig von ihnen konditionieren zu lassen. In seinem Kapitel „Probleme mit dem Feedback“ (JOHNSTONE 1998, S. 34-47) problematisiert er zunächst die Konditionierung der Spieler durch das Lachen der Zuschauer: „Das Rinnen der Tränen oder das Knistern von Gänsehaut im Publikum können die Spieler nicht hören, doch sie reagieren auf jedes Glucksen (‚Sie lachen, also müssen wir richtig liegen!‘). Ein Zuschauer lacht aber auch, wenn er verlegen ist, wenn er lieber gemütlich mit einem guten Buch im Bett liegen würde.“ (JOHNSTONE 1998, S. 34-35)
Das Lachen werde von den Spielern fälschlicherweise als Zustimmung gedeutet und erzeuge eine positive Rückkoppelung, indem es zu einer Verstärkung des gezeigten Verhaltens führe. Das Resultat ist eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von eigentlich unerwünschtem Spielerverhalten wie Witzemachen und Originalität. Neben dem Lachen bedeutet laut Johnstone auch zu viel Beifall auf Dauer ein
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Feedbackproblem. Die Spieler werden abhängig davon und sind damit für das Publikum manipulierbar: „Wenn du versehentlich sabberst und jemand kichert, ermutigt dich das, noch mal zu sabbern. Und geht dieser Prozess unwidersprochen weiter, wirst du bald als der ‚sabbernde Komiker‘ bekannt sein, und du erkennst vielleicht nie, dass dich die niederträchtigsten Mitglieder des Publikums auf diesen Zustand reduziert haben.“ (JOHNSTONE 1998, S. 47)
Während der Spieler also einerseits trainiert ist, die feedback-Schleife innerhalb der Aufführung präzise wahrzunehmen und zu beantworten, braucht er andererseits langfristig ein Gegengewicht, das ihn in Form der Grundhaltungen und Regeln der Improvisation vor Deformation schützt. Auch Spolin sah ein Problem darin, wenn die Spieler sich in eine Abhängigkeit von den Zuschauerreaktionen begaben. Die gesamte Technik des Point of Concentration dient vor allem dem Ziel, solche Abhängigkeiten zu verhindern. Sie entwirft das Ideal einer Kommunikation, die frei ist von Abhängigkeiten und Manipulationsversuchen (siehe Kapitel II 1.4). Auch einige der in Kapitel II angeführten Regeln der Improtheater-Community lassen sich so verstehen, dass sie die Abhängigkeit des Spielers von oberflächlichem Zuschauerfeedback verhindern. Wo dieses Gegengewicht fehlt, stürzt die Improvisation in die Falle der Manipulierbarkeit bzw. der positiven Rückkoppelungseffekte. Umgekehrt sollen auch die Zuschauer nicht manipuliert werden. Die Spieler sollen sich, laut Close und Spolin, nichts für das Publikum ausdenken, sondern die Prozesse der Bedeutungszuschreibung dem Publikum überlassen, das in jedem Fall Verbindungen herstellen wird. Gerade WEIL die feedback-Schleife so zentral für das Improvisationstheater ist, muss sie von Kontrollversuchen freigehalten werden. Sie entfaltet ihre volle Wirkung nur dann, wenn sie sich selbst organisiert und eben nicht unter die Verfügbarkeit eines der Teilnehmer gerät. Weder darf also das Publikum die feedback-Schleife kontrollieren – etwa indem die Spieler auf Lacher konditioniert werden – noch dürfen die Spieler dies tun – etwa indem sie über Gags die Publikumsreaktionen steuern. 6.5 Selbstreferenzialität, Autopoiesis und Emergenz Die Systemeigenschaft der Selbstreferenzialität ist in gewisser Weise im hier erstellten Modell der feedback-Schleife enthalten, da ein Teil des Outputs in einen Input verwandelt wird und sich damit auf sich selber bezieht. Durch diese Rückbezüglichkeit zirkulieren bestimmte Phänomene innerhalb der feedback-Schleife, während andere ausscheiden. Diejenigen, die im System der feedback-Schleife festgehalten werden, werden durch Wiederholung und Bestätigung zu einem Teil der gemeinsamen sozialen Realität der Teilnehmer, weshalb Selbstreferenzialität hier
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wirklichkeitskonstituierend wirkt wie dies sowohl der performative Ansatz als auch die Sprechakttheorie vorsehen. Sawyer (2003) hat dieses Phänomen für das Improvisationstheater als Emergenz des Interaktionsrahmens beschrieben: Elemente, die neu in die Kommunikation eingeführt worden sind, werden dann zum Teil des gemeinsam erzeugten Interaktionsrahmens, wenn sie von den anderen Teilnehmern der Kommunikation bestätigt wurden. Die entsprechenden Prozesse werden bei Luhmann als Anschluss bezeichnet. Beide Ansätze werden in Kapitel IV ausführlich dargestellt. Die feedback-Schleife beim Improvisationstheater lässt sich verstehen als ein System von Sprechakten, die neben ihrem manifesten Inhalt selbstreferenziell und wirklichkeitskonstituierend wirken, wobei mit ‚Wirklichkeit‘ der gemeinsame Interaktionsrahmen verstanden wird. Er entsteht in einer kollaborativen Leistung sowohl der Akteure als auch der Zuschauer. Die Eigenschaft der Autopoiesis wirft die Frage auf, wie die feedback-Schleife entsteht und wie sie sich aufrechterhält. Auf den ersten Blick könnte man denken, dass die feedback-Schleife beim Improvisationstheater durch das Warm-up des Publikums hervorgebracht wird, also nicht von selber entsteht. Hier wird demgegenüber die These vertreten, dass als grundlegende Bedingung der feedbackSchleife beim Improvisationstheater nicht das Warm-up, sondern die Neutralität gesehen werden muss, ein Standpunkt, der ähnlich auch von Frost und Yarrow vertreten wird (FROST & YARROW 2007, S. 200-201). Indem auf einer leeren Bühne, in Alltagskleidung und ohne Requisiten gearbeitet wird, stellt das Improvisationstheater zu Beginn jeder Improvisation einen neutralen Nullpunkt her, von dem aus jede beliebige Aktion gleich wahrscheinlich ist. Die feedback-Schleife nimmt darin ihren Ausgangspunkt – im Gegensatz zu einem Theater, das mit Bühnenbildern und Requisiten arbeitet. Das heißt, es wird zu Beginn jeder Improvisation eine Ausgangsposition geschaffen, die man als neutral oder symmetrisch bezeichnen kann, ähnlich der Ausgangsposition beim Schach. Alle Teilnehmer haben gleiche Optionen. Eine solche symmetrische Ausgangssituation stellt eine ideale Basis für Autopoiesis im Sinne von Luhmann oder für Emergenz im Sinne von Sawyer dar. Das Improvisationstheater zelebriert die Selbsterzeugung der feedback-Schleife ‚aus dem Nichts‘ oder ‚von selber‘. Die Bedingungen zur Entstehung der feedbackSchleife werden durch die spezifische Organisation der leiblichen Ko-Präsenz und der Materialität beim Improvisationstheater optimiert, dann aber der Selbstorganisation überlassen. In idealer Form benötigt die improvisierende Aufführung keinen vorgefertigten Input, kein Stück, keine Handlung, keine Figuren, keine Geschichte, keine Vorabsprachen. Alles Notwendige wird zu Beginn der Aufführung vorgefunden: Alle Teilnehmer, Akteure wie Zuschauer, kommen aus ihren jeweiligen Kontexten mit ihren jeweiligen individuellen Verfasstheiten, ihren jeweiligen Ideen. Diese müssen lediglich freigesetzt und in die feedback-Schleife eingespeist werden. Jedes Hüsteln, jedes Hin- und Herrutschen, jedes Flüstern, kurz jede spontane Fluktuationen im Zuschauersystem kann durch die Mechanismen der positiven
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Rückkoppelung innerhalb der feedback-Schleife vergrößert werden, bis deutliche Muster emergieren, die die Aufführung organisieren. Man kann diesen Prozess vergleichen mit dem Prinzip Follow the Follower, das Spolin eingebracht hat und das ebenfalls kreisförmig organisiert ist. Die Teilnehmer sind gleichzeitig Beobachter und beobachtetes Objekt (siehe Kapitel II 1.4. Follow the Follower produziert dadurch ein selbstreferenzielles, operativ geschlossenes theatrales System, in dem, – entgegen der Erwartung – , ständig Neues passiert. Neue Elemente werden in ein solches geschlossenes System nicht eingeführt, sondern entstehen durch spontane Fluktuationen, Versprecher, ‚Fehler‘, Missverständnisse, unwillkürliche Gesten, Geräusche aus der Außenwelt usw. Ein solches Konzept unterstützt die Annahme einer Autopoiesis der feedback-Schleife unter der Bedingung der Neutralität. Die feedback-Schleife baut sich von selber auf, sie muss nicht durch Aktion gestartet und aufrechterhalten werden. Ein entsprechendes Verständnis der autopoietischen Natur der feedbackSchleife findet man im Training der Improvisationsspieler. Dort wird der Fähigkeit des Spielers, die feedback-Schleife entstehen zu lassen, ohne sie durch aktives, intentionales Spiel zu stören, große Bedeutung zugemessen. Der Spieler muss Vertrauen entwickeln, dass die feedback-Schleife auch dann entsteht, wenn er sich einfach auf die Bühne setzt und ‚nichts tut‘. Für das Improvisationstheater sind daher, wie Frost und Yarrow (2007) betonen, die Experimente zur Neutralität von entscheidender Wichtigkeit. Entsprechende Übungen finden sich bei Johnstone und Spolin. Ein Beispiel hierfür ist die Übung „What Comes Next?“ von Johnstone (JOHNSTONE 1997, S. 216 ff), die in seiner Arbeit eine zentrale Stelle einnimmt: „Improvisierer sollten zu diesem Spiel zurückkehren, wie ein Bodybuilder zu seinen Gewichten zurückkehrt.“ (JOHNSTONE 1997, S. 216). Die Übung enthält im Keim die spezifische Verwendungsweise der autopoetischen feedback-Schleife im Improvisationstheater: Ein Spieler sitzt auf einem Stuhl. Er wird angewiesen, nicht zu ‚spielen‘ und nur das zu tun, was das Publikum ihm vorschlägt. Der Spieler soll selber keine eigenständigen Entscheidungen treffen und nicht kreativ sein. Stattdessen soll er nach jeder Aktion das Publikum fragen „Was kommt als Nächstes?“. Jegliche Bühnenaktion wird also vom Publikum vorgegeben, das wiederum von der Körperlichkeit des Spielers auf der Bühne inspiriert wird. Es entsteht eine kurze Geschichte, die ausschließlich durch die Zuschauervorschläge gesteuert wird. Die Übung ähnelt den Neutralitätsübungen von Copeau. Nicht der Schauspieler ist aktiv und kreativ, sondern die Zuschauer sind schöpferisch und bewegen mit ihren Vorschlägen den weitgehend neutralen Schauspieler. Er wird also gesteuert durch die Erwartungen, die er selber ausgelöst hat, er ist nicht Subjekt dieses Prozesses, sondern Objekt der autopoetischen feedback-Schleife. Die feedback-Schleife bildet einen Erwartungsrahmen, an dem sich der Spieler orientiert. Der Improvisateur hat damit von Anfang an etwas, worauf er zurückgreifen kann, wenn er in der Lage ist, es wahrzunehmen: Sobald sich die feedback-Schleife in Gang gesetzt hat, entstehen
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unvermeidlich Muster. Der Improvisateur tut nichts anderes als diese Muster zu erkennen und auszugestalten, durch Wiederholung, Rhythmisierung, Vergrößerung oder im Ausbau zu einem Spiel. Damit ist auch die dritte Systemeigenschaft der feedback-Schleife, nämlich ihre Emergenz bereits angesprochen. Die Beispiele zeigen, dass die Autopoiesis der feedback-Schleife letztendlich auf winzigen, spontanen Fluktuationen im Zuschauer- oder Akteursystem beruht. Durch Selbstreferenzialität werden Rückkoppelungseffekte möglich, die dann ‚von selbst‘ in Gang zu kommen scheinen. Die angeführten Ansätze legen nahe, dass die feedback-Schleife bereits durch das spontane, mikroskopische Verhalten von Schauspielern und Zuschauern entsteht, das dann in makroskopisches Verhalten überführt wird, wenn entsprechende Bedingungen gegeben sind. Die Wechselwirkung solcher mikroskopischer und makroskopischer Systemebenen ist das zentrale Merkmal der Emergenztheorien, die in Kapitel IV näher beleuchtet werden. Es wird hier daher vorgeschlagen, die feedback-Schleife als emergentes Phänomen zu betrachten, das durch die Interaktion von verschiedenen Systemebenen entsteht. Die verschiedenen Systemeigenschaften der autopoietischen feedback-Schleife – Selbstreferenzialität, Autopoiesis und Emergenz – besitzen für die Beschreibung und Erklärung von Improvisation erwartungsgemäß eine hohe Relevanz. Es ist durchaus denkbar, mit diesen drei Konzepten die besondere Qualität der Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern zu erfassen, vorausgesetzt sie werden nicht beliebig eingesetzt, was bedeutet, dass sie ihre systemtheoretische Herkunft nicht einfach abstreifen dürfen. Die Anwendung der Konzepte auf das Improvisationstheater macht weiterhin deutlich, dass die Überschneidungen zwischen dem Konzept der Autopoiesis und dem Konzept der Emergenz beträchtlich sind. Da das Konzept der Autopoiesis in den Systemwissenschaften umstritten ist und keinen zentralen Begriff mehr darstellt, könnte es im Prinzip zugunsten des Konzepts der Emergenz aufgegeben werden, denn auch dieses sucht nach Modellen zur Selbsterzeugung von Systemen und Systemeigenschaften. Es wird daher vorgeschlagen, den Begriff der Emergenz ins Zentrum der Betrachtungen zu stellen, da er über einen relativ klaren theoretischen Hintergrund verfügt. Wenn es gelingt, den Bezug zu diesen Theorien herzustellen, erscheint eine Charakterisierung der feedback-Schleife als selbstreferenziell und emergent als ausreichend und vielversprechend. 6.6 Fazit: Rückwirkungen auf die Theorie der Performativität Während die vier Aspekte der Performativität sich auf das Improvisationstheater anwenden lassen und zur Gewinnung einer Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters genutzt werden können, legt die Anwendung des performativen Ansatzes auf das Improvisationstheater auch spezifische Schwachstellen frei. So
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wäre beispielsweise das Konzept der autopoietischen feedback-Schleife besonders vielversprechend, weil es die Wechselwirkungsprozesse zwischen Bühne und Zuschauern erfasst. Es ist aber bei Weitem nicht so gut ausgearbeitet wie dies für eine Analyse des Improvisationsprozesses wünschenswert wäre. Zunächst schafft es theoretische Unklarheiten, die darauf zurückzuführen sind, dass es nur oberflächlich aus der Systemtheorie exportiert wurde. Das Konzept der feedback-Schleife entstammt einem ganz anderen systemtheoretischen Kontext als die Konzepte der Selbstreferenzialität und der Autopoiesis, nämlich den biologischen und technischen Systemtheorien, die damit System-Umwelt-Interaktionen beschreiben. Dabei betrachten sie das einzelne Lebewesen oder die einzelne Maschine als System in einer Umwelt, mit der es oder sie durch Rückkoppelungseffekte verbunden ist. Die Begriffsverwendung bei Fischer-Lichte führt daher zu der Frage, was in einer Theatersituation eigentlich als System betrachtet werden muss oder kann und welche Systemebenen unterscheidbar sind. Ähnliche Einwände gelten für die der feedbackSchleife zugewiesenen Eigenschaften der Selbstreferenzialität, der Autopoiesis und der Emergenz. Obwohl beträchtliche begriffliche Unklarheiten durch den Rekurs auf unterschiedliche systemtheoretische Grundlagen entstehen, bietet das Konzept der feedback-Schleife jedoch großes Potential. Insbesondere wird damit überhaupt ein prozessorientiertes Verständnis der Aufführung möglich, was speziell für das improvisierende Theater ein notwendiger Ausgangspunkt ist. Es wurde deshalb versucht, das Konzept zu konkretisieren und zu einem anwendbaren Modell zu entwickeln. Es wurde ein zirkuläres Modell entworfen, damit entsprechende Feedbackmechanismen angenommen werden können. Ein solches zirkuläres Modell der Aufführung ist möglicherweise geeignet, die feedback-Schleife auch bei anderen Theaterformen abzubilden und könnte daher eine Erweiterung des performativen Ansatzes darstellen. Die Anwendung des Modells auf das Improvisationstheater zeigt, dass sich die vorhergehenden Ergebnisse sinnvoll einbeziehen lassen: die Produktionsregeln, die Regeln der leiblichen Ko-Präsenz, die Animationsregeln usw. werden darstellbar als Regeln zur Steuerung eines kontinuierlichen Austauschprozesses. Für das Improvisationstheater zeigt sich eine Bevorzugung von positiven Rückkoppellungen, was das Eskalationspotential dieser Theaterform ebenso erklären kann wie die starken Schwankungen der Qualität. Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der Verfügbarkeit der feedback-Schleife. Ihre Tendenz zur Selbsterzeugung wurde für das Improvisationstheater nachvollzogen und bestätigt, wobei vorgeschlagen wurde, auf das Konzept der Autopoiesis zu verzichten und sich stattdessen das Konzept der Emergenz zu beschränken, das weniger kontrovers ist und eine bessere theoretische Einbindung besitzt. Als wichtige Frage kristallisiert sich heraus, wie stark die feedback-Schleife von den Akteuren kontrolliert werden kann und wird. Das Improvisationstheater, so die These,
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zeichnet sich dadurch aus, dass auf eine Kontrolle der feedback-Schleife weitgehend verzichtet wird, um Prozesse der Selbstorganisation zuzulassen. Die vorliegende Untersuchung zeigt daher eine Schwäche des performativen Ansatzes dort auf, wo er sich systemtheoretischer Konzepte bedient, diese jedoch zu stark aus ihrem Kontext löst, sodass der Transfer mit großen Verlusten verbunden ist. Der letzte Teil dieser Arbeit kann vielleicht helfen, eine stärkere Rückbindung an die Systemtheorien herzustellen.
Kapitel IV: Systemtheorien und Improvisationstheater
Wie in der Einleitung bereits betont, wäre es zu viel erwartet, angesichts der Heterogenität der systemtheoretischen Ansätze zu einem einheitlichen Ansatz zu gelangen. Die verschiedenen Theorien müssen vielmehr in ihrer Differenz begriffen und ‚anprobiert‘ werden, ob und wie sie zum Untersuchungsgegenstand passen. Eine Übertragung der Systemtheorie auf die ästhetischen Wissenschaften wurde mehrfach unternommen, vor allem in der Systemtheorie von Niklas Luhmann, der selbst auch seinen Ansatz zu einer Kunstsoziologie ausgearbeitet hat (LUHMANN 1995a, KOLLER 2007). Es liegen weiterhin Ansätze zu einer Übertragungen der Systemtheorie in die Literatur vor (SCHWANITZ 1990; FOHRMANN & MÜLLER 1996) und Eric Hoffmann hat Luhmanns Systemtheorie für eine „Evolutionsgeschichte des modernen Theaters“ (HOFFMANN 1997) verwendet. Dabei blieb es jedoch bei einem soziologischen Blickwinkel. Einen theaterwissenschaftlichen Anschluss an die Systemtheorie vollzieht Fischer-Lichte zumindest ansatzweise durch die bereits beschriebene Übernahme systemtheoretischer Konzepte von Maturana und Varela (FISCHER-LICHTE 2004). Anschlüsse an die Systemtheorie Luhmanns finden sich bei Schwind (1997) und bei Landgraf (2003; 2010). Ein Problem ist dabei, dass es DIE Systemtheorie gar nicht gibt und die Autoren zum Teil auf unterschiedliche systemtheoretische Ansätze verweisen. In Deutschland wird unter Systemtheorie meist diejenige von Luhmann verstanden. Es fällt jedoch auf, dass die beiden wichtigsten hier verwendeten Beiträge zum Feld Theaterwissenschaft/ Systemtheorie ohne Luhmann auskommen: Wie bereits ausgeführt beruft sich Fischer-Lichte mit ihrem Begriff der Autopoiesis nicht auf Luhmann, sondern auf die biologistische Systemtheorie von Maturana und Varela. Zu ihrem
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Begriff von Emergenz verweist sie auf Stephan (STEPHAN 1999).1 Der zweite wichtige Beitrag, Sawyers Analyse von improvisierten Dialogen, verweist ebenfalls nicht auf Luhmann, sondern bezieht sich auf Emergenztheorien allgemein und zusätzlich auf die Kommunikationstheorien von Bateson und Goffman. Die Heterogenität der Systemtheorien macht es notwendig, sie einzeln auf den Untersuchungsgegenstand anzuwenden. Im ersten Abschnitt wird die Systemtheorie Luhmanns dargestellt und auf das Improvisationstheater angewendet. Anschließend wird der emergentistische Ansatz von Sawyer und seine empirische Methodik ausgeführt. Eine Anwendung auf das Improvisationstheater wurde von Sawyer bereits geleistet. Im dritten Abschnitt wird die systemtheoretische Spieltheorie herangezogen, um den in Kapitel III herausgearbeiteten Charakter der Aufführung als Spiel zu untersuchen. Es geht dabei um die Frage, ob die frühe Verknüpfung von Improvisationstheater und Spieltheorie durch Close einen integrativen Ansatz darstellen könnte. Im letzten Teil wird die Synergetik als abstrakte, systemtheoretische Metatheorie an das Improvisationstheater herangetragen und auf die Anwendbarkeit ihrer Konzepte untersucht. Abschließend wird die Frage diskutiert, ob die Systemtheorie Substantielles zu einer Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters beitragen könnte.
1 L UHMANNS S YSTEMTHEORIE UND DAS I MPROVISATIONSTHEATER Die Systemtheorie von Luhmann stellt zweifellos den umfassendsten systemtheoretischen Ansatz im deutschsprachigen Raum dar. Er geht vom strukturfunktionalistischen Ansatz von Talcott Parsons aus und bezieht Ansätze aus der Spieltheorie und aus der Synergetik mit ein. Gleichzeitig entwickelt er jedoch auch eine ganz eigene Begrifflichkeit. Luhmanns Ansatz wird hier zunächst in seinen allgemeinen Zügen skizziert, dann in seiner Spezifizität auf das Kunstsystem. Anschließend wird er auf das Improvisationstheater angewendet.2
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Der Verweis auf Stephan ist bei genauerer Betrachtung recht unpräzise, denn Stephan diskutiert ganz unterschiedliche Emergenztheorien, ohne einen eigenen Ansatz zu präsentieren.
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Es kann hier keine vollständige Anwendung von Luhmanns Systemtheorie auf das Improvisationstheater geleistet werden. Dies entspräche auch nicht der heuristischen Fragestellung dieses Kapitels. Für die vorliegende Untersuchung ist es nicht notwendig, Luhmanns komplexe Systemtheorie aus Primärquellen zu rekonstruieren und zu transferieren, es genügt vielmehr die Bezugnahme auf anerkannte Sekundärquellen und nur selektiv auf Primärquellen.
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Luhmanns Systemtheorie nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sie nicht von Systemkomponenten und deren Relationen ausgeht, sondern von Operationen als Ereignissen im System. Die Systeme „sind, was sie tun“ (BERGHAUS 2011, S. 38). Durch Operationen reproduziert sich das System immer wieder selbst, sie sind also der eigentliche Mechanismus der Autopoiesis. Insbesondere dienen Operationen dazu, eine System-Umwelt-Differenz zu erzeugen. „Operation ist das faktische Stattfinden von Ereignissen, deren Reproduktion die Autopoiesis des Systems, das heißt, die Reproduktion der Differenz von System und Umwelt durchführt.“ (Luhmann zit. in BERGHAUS 2011, S. 51)
Als wichtigste Operation jedes Systems kann daher diejenige zur Erzeugung einer System-Umwelt-Differenz begriffen werden. Sie stellt eine Art Basisoperation dar, aus der sich alle anderen Operationen ausdifferenzieren. Mit ihr werden die Grenzen des Systems hergestellt. Die Umwelt ist bei Luhmann keine Gegebene, sondern eine ebenfalls durch die System/ Umwelt-Differenz erzeugte: „Ein System ist Differenz zur Umwelt. Umwelt gibt es nur durch das System. Die Umwelt ist die ‚Außenseite‘ des Systems.“ (BERGHAUS 2011, S. 41). In Kapitel III 6 wurden bereits die Systemeigenschaften der Selbstreferenzialität und der Autopoiesis dargestellt, die in Luhmanns Systemtheorie insofern grundlegend sind, als er sie jedem System zuschreibt. Was nicht operativ geschlossen(selbstreferenziell) und selbsterzeugend (sich selbst reproduzierend) ist, ist nach Luhmann auch kein System (BERGHAUS 2011, S. 50). Luhmannn unterscheidet biologische, psychische und soziale Systeme. Das Theater fällt dabei eindeutig unter die Kategorie eines sozialen Systems. Im Widerspruch zu einem alltäglichen Verständnis von sozialen Systemen sind damit nicht die menschlichen Individuen gemeint, sondern ausschließlich die Kommunikationen, die aufeinander folgen und aneinander anschließen. Dabei erzeugt jede Kommunikation eine Anschlusskommunikation und erhält dadurch das System aufrecht. Das soziale System besteht also nicht auf materieller oder biologischer Ebene, sondern ausschließlich auf der Ebene der Kommunikationen. Soziale Systeme sind temporale Systeme, d.h. sie organisieren sich nicht räumlich, sondern in der Zeit. Sie bilden nach ihrem Start beliebig lange Ketten von Anschlussoperationen, die sich alle auf den Ursprung des Systems zurückverfolgen lassen (operative Geschlossenheit). Damit gewinnt das Problem des Anschlusses zentrale Bedeutung in Luhmanns Systemtheorie: solange Anschlüsse an Kommunikationen stattfinden, besteht das soziale System; es endet, wenn keine Anschlusskommunikation mehr stattfindet (LUHMANN 1995, S.41). Der Anschluss stellt in gewisser Weise den eigentlichen Sinn der Kommunikation dar: „Es geht nicht um Anpassung, es geht nicht um Stoffwechsel, es geht um einen eigenartigen Zwang zur Autonomie, der sich daraus ergibt, dass das System in jeder, also in noch so güns-
284 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS tiger Umwelt schlicht aufhören würde zu existieren, wenn es die momenthaften Elemente, aus denen es besteht, nicht mit Anschlussfähigkeit […] ausstatten und so reproduzieren würde.“ (Luhmann 1996 zit. In BERGHAUS 2011, S. 53)
Bei Luhmann bezieht sich Autopoiesis auf die Hervorbringung von Elementen durch Elemente im System: „Elementenproduktion ist Autopoiesis“ (LUHMANN 1997, S. 83). „Autopoiesis besagt, [...] dass die Einheit des Systems und mit ihr alle Elemente, aus denen das System besteht, durch das System selbst produziert werden.“ (LUHMANN 1990, S. 30). Die Elemente eines Kommunikationssystems müssen also die Eigenschaft haben, neue Elemente hervorzubringen. Eine Kommunikation erzeugt im sozialen System wiederum neue Kommunikation, indem Anschluss hergestellt wird. Luhmann unterstellt dem System damit eine Art Selbsterhaltungswillen. Die Operationen müssen Anschlussfähigkeit besitzen. Jede Operation wird so entworfen, dass eine Fortsetzung des Systems möglich wird: „Das System nimmt sich Zeit und formiert alle Operationen in der Erwartung, dass andere darauf folgen werden.“ (Luhmann 1996 zit. In BERGHAUS 2011, S. 53)
Nach Luhmann ist Kommunikation – obwohl sie dauernd und überall stattfindet – theoretisch äußerst unwahrscheinlich: „Kommunikation ist unwahrscheinlich. Sie ist unwahrscheinlich, obwohl wir sie jeden Tag erleben, praktizieren und ohne sie nicht leben würden. Diese unsichtbar gewordene Unwahrscheinlichkeit gilt es vorab zu begreifen.“ (Luhmann zit. In BERGHAUS 2011, S. 108)
Dass sie dennoch verwirklicht wird, liegt daran, dass Medien, wie zum Beispiel Sprache, die Vielzahl möglicher Selektionen begrenzen. Erst das Medium ermöglicht Anschlussoperationen und damit Form, wobei es zur konkreten Form in einem Verhältnis steht wie das Schachspiel zu konkreten Schachpartie, das abstrakte Regelsystem zum konkret verwirklichten Spiel.3 Die Wahrscheinlichkeit von Anschlussoperationen wird dadurch so gesteigert, dass Kommunikation möglich wird. Damit verweist Luhmann auf eine prinzipielle Fragilität von sozialen Systemen. Soziale Systeme sind in ständiger Gefahr, durch fehlende Anschlussmöglichkeiten beendet zu werden und dies ist den Kommunikationsteilnehmern, so Luh-
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Die Konzepte Medium und Spiel sind so ähnlich, dass sie z.B. bei Berghaus synonym verwendet werden (BERGHAUS 2011, S. 114). Der Begriff des Mediums ist lediglich etwas weiter gefasst. Für die vorliegende Arbeit könnte man sagen, dass Spiel das Medium des Improvisationstheaters ist, durch welches alle konkreten Formen realisiert werden.
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mann, auch klar. Diese Unwahrscheinlichkeit betrifft auch das Kunstwerk und ist dort sogar noch gesteigert: Ein „Kunstwerk zeichnet sich durch die geringe Wahrscheinlichkeit seiner Entstehung aus. Es ist sozusagen ein demonstrativ unwahrscheinlicher Sachverhalt.“(LUHMANN 1995a). Für das Improvisationstheater wird in der vorliegenden Arbeit die These vertreten, dass die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation und Kunst ein wichtiger Grund für die Faszination von Improvisation ist, weil hier gerade das Entstehen von Ordnungsparametern entgegen aller Wahrscheinlichkeit zelebriert wird. 1.1 Emergenz durch doppelte Kontingenz Ein theoretisches Problem ist dabei die Frage, wie überhaupt etwas Neues in ein System gelangen kann bzw. wie ein neues System gestartet wird. Wenn alle auftretenden Operationen rückbezüglich organisiert sind, entstehen immer nur neue Rückbezüge, die wohl kaum den Begriff der Elementenproduktion rechtfertigen. Luhmann löst dieses Problem durch die Annahme der doppelten Kontingenz: Nach Luhmann ist jede Komponente des Kommunikationsprozesses kontingent, das heißt in gewisser Weise „beliebig“ (BERGHAUS 2011, S. 109): „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird) sein kann, aber auch anders möglich ist.“ (LUHMANN 1984, S. 152)
Kommunikation besteht bei Luhmann aus einer Abfolge von Selektionen, die beim ‚Sender‘4 vorgenommen werden und vom ‚Empfänger‘ sozusagen rückwärts nachvollzogen werden, um die Nachricht zu verstehen. Durch dieses Modell sind in der Nachricht nicht nur die gewählten Optionen enthalten, sondern auch die ebenfalls möglichen, aber verworfenen Möglichkeiten. Der Begriff der Kontingenz ist für das Verständnis von Improvisationsprozessen nützlich, indem er eine relevante Differenz erzeugt: Im aktuellen Moment sind die später nicht verwirklichten Möglichkeiten noch vorhanden, im nächsten Moment ist dies nicht mehr der Fall. Das Bewusstsein der Kontingenz einer Improvisation impliziert daher die Wahrnehmung der alternativen Optionen; der Empfänger der Nachricht empfängt nicht nur deren Inhalt, sondern nimmt auch die Umwelt wahr, die durch die Kommunikation hergestellt wurde. Dazu muss er die Selektionen des Senders als einen Akt der Freiheit begreifen.
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Luhmann verwendet tatsächlich Begrifflichkeiten, die noch stark an Sender-EmpfängerModelle erinnern, spricht selber jedoch von Alter (Sender) und Ego (Empfänger).
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Da die Beliebigkeit der Selektionen allen Teilnehmern bekannt ist, bauen sie die Kontingenz von vornherein in ihre Kommunikation mit ein, sodass eine „doppelte Kontingenz“ entsteht (BERGHAUS 2011, S. 73 ff): „Wenn jeder kontingent handelt, also jeder auch anders handeln kann und jeder dies von sich selbst und den anderen weiß und in Rechnung stellt, ist es zunächst unwahrscheinlich, dass eigenes Handeln überhaupt Anknüpfungspunkt (und damit Sinngebung) im Handeln anderer findet, denn die Selbstfestlegung würde voraussetzen, dass andere sich festlegen und umgekehrt. Zugleich mit der Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnung erklärt dieses Konzept aber auch die Normalität sozialer Ordnung, denn unter dieser Bedingung doppelter Kontingenz wird jede Selbstfestlegung, wie immer zufällig entstanden und wie immer kalkuliert, Informations- und Anschlusswert für anderes Handeln gewinnen. Gerade weil ein solches System geschlossenselbstreferenziell gebildet wird, also A durch B bestimmt wird und B durch A, wird jeder Zufall, jeder Anstoß, jeder Irrtum produktiv.“ (LUHMANN 1984, S. 165; Hervorhebung G.L.)
Angenommen wird also, dass an einem gedachten Punkt der Kommunikation Symmetrie herrscht, das heißt, das die Handlungsoptionen der Kommunikationsteilnehmer identisch sind, vergleichbar mit der Ausgangsposition beim Schach (oder bei allen anderen Spielen, die symmetrisch gestartet werden). Unter der Annahme der doppelten Kontingenz zieht jede noch so geringfügige Durchbrechung dieser Symmetrie eine notwendige eigene kontingente Selektion nach sich, sodass ein zirkulärer Prozess entsteht. Nach Luhmann entsteht soziale Ordnung aus diesem zirkulären Prozess (BERGHAUS 2011, S. 110). In sozialen Systemen entsteht so aus einem ungeordneten Systemzustand durch doppelte Kontingenz eine Ordnung ‚von selbst‘. Luhmanns Position kann man daher als emergentistisch bezeichnen. 1.2 Improvisation als Mini-Evolution eines Kunstwerks Luhmann entwickelt eine systemtheoretische Evolutionstheorie, die für die nachfolgenden Ausführungen relevant ist, weil sie speziell das Kunstsystem betrifft. Dass Kunstwerke entgegen ihrer Unwahrscheinlichkeit überhaupt entstehen, begründet Luhmann damit, dass auch das Kunstsystem die möglichen Selektionen einschränkt und dadurch Anschlussfähigkeit erzeugt. „Kunstwerke sind auf das Kunstsystem angewiesen. Erst ein geschlossener Bereich für Kunst macht das Entstehen von Kunstwerken wahrscheinlich.“ (KOLLER 2007, S. 22). Es ist daher möglich, das Verhältnis Kunstwerk/Kunstsystem als ein Verhältnis von System/ Umwelt zu betrachten. 5 Das Kunstsystem stellt die Umwelt dar, in der ein Kunstwerk sich her-
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Luhmann verwickelt sich in seiner Kunsttheorie in einen Widerspruch, indem er Systemcharakter nur dem Kunstsystem insgesamt zuspricht, dem einzelnen Kunstwerk jedoch
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ausbildet. Luhmann hat aus diesem Gedanken heraus eine „Evolutionstheorie der Kunst“ (LUHMANN 1993) entworfen. Sie widmet sich der Frage, wie innerhalb des Kunstsystems das Kunstwerk entstehen kann und beschreibt diesen Prozess als eine „Minievolution des Einzelwerkes“ (LUHMANN 1995a, S. 348). Das Kunstwerk nimmt wie jedes System seinen Ausgangspunkt in einer ersten Erzeugung von System-Umwelt-Differenz. Damit tritt die erste Operation, der erste Satz, die erste Formfestlegung in den Mittelpunkt des Interesses. Luhmann beschreibt diese erste Herstellung eines Unterschiedes anschaulich für das Zeichnen: „[M]an zeichnet eine erste Linie auf ein Stück Papier und sagt dann: Was fordert die Linie jetzt für den leeren Raum? Man schränkt die Beliebigkeit ein. Das ganze Kalkül ist eine Einschränkung von Beliebigkeit des Hinzufügens zu einer ersten Unterscheidung. Das macht die Sache faszinierend, weil es eine Art Ordnungsaufbau beschreibt, wo man – wie willkürlich man anfängt – nicht willkürlich weitermachen kann.“ (Luhmann zit. in KOLLER 2007, S. 57)
Vor dieser ersten Operation existieren weder System noch Umwelt, sondern ein „unmarked space“ (LUHMANN 1995a, S. 63), in dem keine Unterscheidungen vorgenommen sind. Da das Kunstwerk selbstreferenziell entsteht, lassen sich alle späteren Operationen auf diese Ursprungsoperation zurückführen. Nach Luhmann ist die erste Formgebung beliebig (kontingent): „Ihr Anfangsmotiv bleibt [...] ein Zufall und für den Aufbau der Ordnungen irrelevant.“ (LUHMANN 1995, S. 55). Durch die erste Formgebung entsteht innerhalb des unmarked space eine Form mit einer Innen- und Außenseite, wobei sich die Innenseite immer mehr ausdifferenziert:
nicht. Gleichzeitig schafft er mit Selbstprogrammierung und der Selbstreferenz Konzepte, die dem Einzelkunstwerk Systemeigenschaften zuordnen. Markus Koller beschreibt Luhmanns widersprüchliche Position:„Als Soziologe und Systemtheoretiker muss Luhmann daran gelegen sein, den Systemcharakter des gesamten Kunstsystems in den Blick zu nehmen und der Vereinzelung der einzelnen Kunstwerke entgegen zu arbeiten. Die vorliegende Arbeit will nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies Luhmann nur sehr beschränkt gelingt.“ (KOLLER 2007, S. 49). „Luhmann versucht hier einen Spagat. Er hebt die Selbstbezogenheit des Kunstwerks hervor ohne die Bezogenheit auf das Kunstsystems zu leugnen.“ (KOLLER 2007, S. 49). Entweder das Kunstwerk entwickelt sich in relativer Autonomie selbstreferenziell, oder es entwickelt sich in Offenheit zum Kunstsystem als eine Operation innerhalb dieses größeren Systems. Luhmanns Ansatz kann diese wechselseitigen Kausalitäten nicht erfassen.
288 | DAS S PIEL MIT DEM C HAOS „Die Außenseite dieser Form ‚ein Kunstwerk‘ bleibt unmarked space. Erst mit der Beobachtung der intern zu verwirklichenden Formen entsteht die Möglichkeit, auch über deren andere Seite zu disponieren, also dort Entscheidungen zu treffen, die wiederum das verändern, was jetzt als andere Seite (von der man ausgegangen war) fungiert. Die Möglichkeiten, etwas noch dazu Passendes zu finden, nehmen ab, die Schwierigkeiten des Weitermachens nehmen zu. Der Schwung des Anfangens verliert sich in den Bemühungen um die Rettung des Begonnenen. Aber da jede Festlegung als Bezeichnung der einen und nicht der anderen Seite ihrer Form jene andere Seite mitkonstituiert, wird immer neuer Bestimmungsbedarf erzeugt, bis die Formen sich zirkulär schließen, einander wechselseitig kommentieren und das bestätigen, womit man angefangen hatte.“ (LUHMANN 1995a, S. 62)
Die Evolution des Kunstwerks vollzieht sich also durch die Ausdifferenzierung der ersten, beliebigen Setzung. Auf der Innenseite werden weitere Formen angeschlossen, der Anschluss der Formen wird durch einen Code geregelt (KOLLER 2007). Luhmann versteht unter dem Code eines Systems eine binäre Wertungsdifferenz, mit der „das System die Zugehörigkeit von Operationen zum System markiert“ (LUHMANN 1995a, S. 306). Jedes Kunstwerk produziert dabei seinen eigenen Code, mit dem es festlegt, welche Operationen im System anschlussfähig sind. Luhmann spricht daher von einer „Selbstprogrammierung des Kunstwerks“ (LUHMANN 1995, S. 329). Die Selbstprogrammierung des Kunstwerks ist zwar nicht identisch mit der Autopoiesis sozialer Systeme, jedoch sehr ähnlich. „Selbstprogrammierung soll nicht heißen, das einzelne Kunstwerk sei ein autopoietisches, sich selbst erzeugendes System. Man kann jedoch sagen: es konstituiere die Bedingungen seiner eigenen Entscheidungsmöglichkeiten.“ (LUHMANN 1995a, S. 331)
Aus der Mini-Evolution des Kunstwerks lassen sich mehrere Ansatzpunkte für die Improvisation gewinnen. Innerhalb der Einzelimprovisation wäre von Interesse, wie diese aus dem unmarked space des Szenenanfangs eine Differenz erzeugt, wie Anschlüsse organisiert werden und welchem Code gefolgt wird. Im Sinne Luhmanns muss man eine Art ‚Urknall‘ jeder Improvisation annehmen, einen Punkt Null, auf den alle folgenden Kommunikationen rekursiv Bezug nehmen können. An diesem angenommenen Punkt Null würde bereits die gesamte System-Umwelt Differenz erzeugt und im Folgenden nur neu reproduziert und ausdifferenziert. Beim Improvisationstheater entspricht dies der Annahme, dass das gesamte Potential der Improvisation bereits im ersten Moment enthalten ist und danach lediglich entfaltet wird. Einen solchen Punkt Null kann man in den ersten Sekunden einer Szene sehen: Die Spieler nehmen wahr, was in diesem Moment enthalten ist und bauen die gesamte Improvisation auf dieser Wahrnehmung auf. Die vorgefundene Konstellation z.B. die Aufstellung der Spieler im Raum oder der erste Satz, wird von den Spielern durch anschließende Operationen immer weiter
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ausdifferenziert. Beginnt beispielweise eine Szene mit dem Satz: „Schatz, ich liebe dich!“, so werden damit alle anderen Optionen eines ersten Satzes ausgeschlossen. Durch Anschlussoperationen wird vermutlich die gesamte Improvisation das Thema Liebe verhandeln. Liebe ist also ‚drin‘, während andere Themen wie Trauer, Gewalt, Humor usw. ‚draußen‘ sind. Tauchen sie dennoch in der Szene auf, so werden sie entweder durch Anschlussoperationen an das Thema Liebe angekoppelt, oder sie bleiben ohne Anschluss und verschwinden. So schaffen die ersten Sätze einen Art Innenraum der Szene, während gleichzeitig ein Außenraum an nichtgewählten Möglichkeiten entsteht. Der Anfangsmoment bleibt auf diese Weise in allen folgenden Operationen erhalten und führt zu einem inneren Zusammenhalt der Einzelbeiträge. Die erste Formgebung umreißt, was innerhalb der Improvisation möglich ist und was nicht, sie stellt also den Anfangspunkt der Mini-Evolution der Improvisation dar. Danach wird das System durch Anschlussoperationen ausdifferenziert. In der Tat findet sich in den Improvisationsschulen eine Fokussierung auf die Wahrnehmung und Verarbeitung des ersten Augenblicks der Improvisation, etwa in der Annahme der Chicagoer Schule, dass das Game immer innerhalb der ersten drei Dialoglinien emergiert, oder in Johnstones Aussage, dass „Geschichten Struktur erhalten, indem sie ihren eigenen Anfang ausschlachten“ (JOHNSTONE 1998, S. 25). 1.3 Anschlüsse Das Thema des Anschlusses stellt eines der wichtigsten Themen des Improvisationstheaters dar und an dieser Stelle existieren auffällige Parallelen zu Luhmanns Systemtheorie. Wie in Kapitel II 2 dargestellt, stellen die Improvisationstechniken zunächst sicher, dass immer ein Anschluss hergestellt wird. Angebote werden grundsätzlich akzeptiert und durch das Yes-And-Prinzip aneinander angekoppelt. Mit dem Akzeptieren (Yes) wird der Anschluss an die vorherige Kommunikation vollzogen, mit dem neuen Angebot (And) werden neue Anschlussmöglichkeiten hergestellt. Die hohe Bedeutung, die von Improvisateuren dem Problem des Anschlusses zugesprochen wird, korrespondiert mit der Zentralität des Problems in Luhmanns Systemtheorie. Es wird schulübergreifend als grundlegende Voraussetzung des Improvisierens betrachtet. Jedes Angebot bedeutet ein ganzes Bündel von Anschlussmöglichkeiten, von denen jedoch in der Regel nur eines tatsächlich Anschluss findet.
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Abb. 12: Anschlüsse beim Improvisationstheater
(Quelle: Eigene Darstellung nach LATKA 20036)
In der gewählten grafischen Darstellung stehen die einzelnen Linien für mögliche Anschlussstellen; da gewöhnlich mehr Anschlussmöglichkeiten bestehen als Anschlüsse verwirklicht werden erzeugt die Improvisation eine Art „Tannenzweigstruktur“. Jede Kommunikation eröffnet solche Möglichkeiten in mehr oder weniger großem Maß. Durch die Wahl eines bestimmten Anschlusses werden die anderen Optionen ausgeschlossen, das Andocken an einer bestimmten Linie ist daher eine Wahlhandlung. Damit sind die zwei Basisoperationen der Improvisation darstellbar, nämlich das Akzeptieren eines Angebots und das daran anknüpfende Machen eines Angebots. Wie bereits ausgeführt unterscheiden Improvisateure zwischen offenen und geschlossenen Angeboten. Offene Angebote sind solche, die besonders viele Anschlussmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Abb. 13: Offenes Angebot
(Quelle: Eigene Darstellung)
Demgegenüber würde ein geschlossenes Angebot nur sehr wenige Anschlussmöglichkeiten bieten:
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Thomas Latkas Arbeit ist ein Transfer von Luhmanns Systemtheorie in die Japanologie und hat mit der vorliegenden Arbeit inhaltlich nichts zu tun. Lediglich seine grafisches Modell wurde wegen seiner hohen Anschaulichkeit übernommen.
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Abb. 14: Geschlossenes Angebot
(Quelle: Eigene Darstellung)
Wie in Kapitel II dargestellt werden beim Improvisationstheater offene Angebote bevorzugt. Im Sinne Luhmanns kann man sagen, dass diese besonders viel Anschlussfähigkeit besitzen, indem sie die Wahlmöglichkeiten der nachfolgen Kommunikation maximieren. Der Prozess des Improvisierens wäre damit beschreibbar als Bildung von Operationsketten, die im Vergleich mit alltäglicher Kommunikation mit maximierter Anschlussfähigkeit ausgestattet werden. Diese maximierte Anschlussfähigkeit macht den Prozess robust gegenüber Störungen und bringt jeden Teilnehmer fortlaufend in Situationen der Wahl zwischen möglichst vielen Optionen. Abb. 15: Maximierte Anschlussfähigkeit der Improvisation
(Quelle: Eigene Darstellung)
In einem solchen System mit maximierter Anschlussfähigkeit finden deutlich mehr Selektionen statt und es wird damit mehr Kontingenz erzeugt als in einem alltäglichen sozialen System. Durch den Code unterscheidet das System, welche Operationen im System möglich sind und damit Anschluss erhalten. Beim Improvisationstheater wird – dies gehört zu seinen Grundtechniken – fast Alles mit Anschluss versehen, selbst abwegige Assoziationen werden in die Improvisation ‚eingewebt‘. Die maximierte Anschlussfähigkeit bedeutet daher auch, dass es einen breiten Code geben muss, der nur sehr wenige Operationen als nicht-anschlussfähig aus dem System entfern. Man kann aufgrund der in Kapitel II 3.4 geschilderten Ästhetik des Imperfekten davon ausgehen, dass der Code ‚schön/ hässlich‘ für das Improvisationstheater keine Rolle spielt. Aber auch der Code ‚passend/ nicht passend‘ den Luhmann als grundlegend für die Entstehung von Kunstwerken betrachtet, scheint für das Impro-
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visationstheater aufgrund der maximierten Anschlussfähigkeit der Einzelangebote nicht trennscharf. Die Produktionsregel des Akzeptierens von Angeboten führt dazu, dass jedes Angebot als passend betrachtet wird. Es wird deshalb vorgeschlagen, das Kriterium ‚emergent/ nicht-emergent‘ heranzuziehen: Alle Phänomene, die emergent sind, gehören demnach zur Improvisation und finden Anschluss, während alle Phänomene, die nicht emergent sind, also nicht neu, unvorhersagbar und irreduzibel, nicht dazu gehören und keinen Anschluss finden. Dadurch ist das System in der Lage, eine Bewertung vorzunehmen, also gute von schlechten Angeboten zu unterscheiden‚ wird ‚echte‘ von ‚unechter‘ Improvisation geschieden und fortlaufend aus dem System entfernt. Dies wird in der Praxis evident, wenn Spieler vorgefertigtes Material in die Szene einbringen. Es unterscheidet sich so stark vom emergierenden Material, dass es als Fremdkörper in der Aufführung bestehen bleibt und in der Regel keine Anschlüsse findet. Durch den Code emergent/ nicht emergent wird die Selbstprogrammierung der Improvisation ermöglicht als eine, die zunächst auf niedriger Systemebene, danach aber aufsteigend auch auf höheren Systemebenen emergente Phänomen hervorbringt: Spontane Fluktuationen führen zur Emergenz von Games innerhalb der ersten drei Dialogzeilen und diese führen wiederum zur Emergenz von allen Elementen der fiktionalen Realität: Figur, Geschichte, Stil etc. Ein solcher breiter Code wird eher wenige Elemente der Aufführung ohne Anschluss lassen, in der Regel aber Alles, was nicht kollaborativ erzeugt wurde, sondern der Absicht eines Individuums entspricht – und das damit nicht emergent sein kann. 1.4 Improvisation als Kontingenzreduktion? Nach Luhmann nimmt die Beliebigkeit (Kontingenz) der Operationen im Prozess der Erzeugung eines Kunstwerks kontinuierlich ab (KOLLER 2007). Während die erste Operation noch vollständig kontingent ist, ergeben sich immer zwingendere Anschlussoperationen bis die Freiheitsgrade so reduziert sind, dass das Kunstwerk ‚fertig‘ ist. Luhmann beschreibt den künstlerischen Prozess daher als einen Prozess der Kontingenzreduktion. Einen solchen Prozess findet man auch beim Improvisationstheater: Durch den Aufbau der fiktionalen Realität werden die Freiheitsgrade der Spieler nach und nach reduziert. Die Entstehung des Kunstwerks als selbstreferenziell gesteuertem Prozess, erzeugt Systemzwänge, die zunächst den Künstler selber umfassen und zwar in zunehmendem Maß je weiter der Prozess voranschreitet: „[N]ach dem Zufall des Anfangs übernimmt das Werk die Kontrolle über seine Produktion und reduziert den Künstler auf einen Beobachter, der mit allmählich abnehmenden Freiheitsgraden arbeiten muss.“ (Luhmann zit. In KOLLER 2007, S. 60)
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Durch die Kontingenzreduktion tritt der Künstler als Subjekt in den Hintergrund; das Werk scheint sich selber herzustellen, es entsteht eine Art subjektloser Prozess von sich bedingenden Anschlussoperationen. Dennoch kann Kontingenzreduktion nicht die alleinige Dynamik der Improvisation sein, sonst gäbe es ab einem gewissen Punkt der Improvisation kaum noch Wahlmöglichkeiten für die Spieler, die Entscheidungen der Spieler wären komplett durch das determiniert, was vorher eingeführt wurde. Tatsächlich wird der Prozess der Kontingenzreduktion jedoch erstens durch offene Angebote gebremst, sodass die Freiheitsgrade der Anschlusskommunikationen möglichst lange maximiert bleiben. Zum anderen wird ein hoher Grad der Ausarbeitung vermieden. Das improvisierte Kunstwerk bleibt eng verbunden mit dem Herstellungsprozess und verweigert seine eigene Fertigstellung. Der Entwurf bleibt immer sichtbar und wird nicht durch spätere Ausarbeitung ‚übermalt‘. In Folge dessen bleibt auch das Ausmaß an Kontingenz hoch; diese wird nicht im selben Maße reduziert wie bei anderen Kunstprozessen. Die nicht gewählten Möglichkeiten bleiben in besonderer Weise präsent, jede Wahl bleibt beliebig. Es werden zudem im Verlauf der Improvisation immer wieder Situationen mit erweiterter Kontingenz geschaffen, das heißt, der Prozess verläuft nicht ausschließlich in Richtung Kontingenzreduktion, sondern wird immer wieder erweitert und neu gestartet. In solchen Phasen nehmen die Freiheitsgrade abrupt wieder zu, der Möglichkeitsraum öffnet sich, Spontanitätslagen werden geschaffen. Am einfachsten wird dies durch die Form des Nummernprogramms erreicht: Jede neue Improvisation bedeutet ein leeres Blatt, eine Wiedergewinnung von Kontingenz. Ohne solche Momente der Wiedergewinnung der Freiheit wäre die Improvisation ab einem bestimmten Punkt vorhersehbar. Hier wird eine Grenze von Luhmanns Systemtheorie sichtbar, die aus seiner Annahme der operativen Geschlossenheit entsteht. Sie kann die Momente der Wiedergewinnung der Freiheit in der Improvisation nicht erklären. 1.5 Fazit: Luhmann Zusammenfassend kann man sagen, dass eine Anwendung von Luhmanns Systemtheorie auf das Improvisationstheater möglich und vielversprechend ist. Es finden sich ausgesprochen viele Übereinstimmungen mit der Theorie der Improvisation. Das Konzept der Mini-Evolution des Kunstwerks lässt sich auf die Einzelimprovisation anwenden und bietet dort erheblichen Erklärungswert. Erstens begründet es die elementare Bedeutung des ersten Impulses, des ersten Satzes, der ersten Formgebung der Szene für die gesamte Improvisation. Zweitens kann das Konzept des Anschlusses die spezifische Bildung Operationsketten beim Improvisationstheater sehr gut erklären. Drittens bietet dies prinzipiell die Chance, den Dialogaufbau von
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Improvisationstheater und anderen sozialen Systemen in Beziehung zu setzen und zu vergleichen. Man kann sogar die These aufstellen, dass das Improvisationstheater das Entstehen, die Aufrechterhaltung und das Ende eines sozialen Systems in idealer Form abbildet, indem es die Mini-Evolution des Kunstwerks vorführt. Die Improvisation stellt sich dabei als eine Art optimiertes soziales System dar. Die Anschlussmöglichkeiten und die Kontingenz sind maximiert; die Kommunikation enthält mehr Selektionen und mehr Freiheitsgrade als die Alltagskommunikation.7 Unter solchen Bedingungen tendiert sie, so kann man annehmen, zu einer größeren Resistenz gegenüber Störungen. Auch Kommunikationen, die unter anderen Umständen ins Leere laufen würden, finden in der Improvisation noch Anschlüsse und man kann postulieren, dass die Spannung der Improvisation umso größer ist, je unwahrscheinlicher der Anschluss scheint und entsprechend die Entspannung umso größer, wenn er entgegen aller Wahrscheinlichkeit dennoch gelingt. Die Mini-Evolution der Improvisation führt dem Zuschauer daher vor, wie die Improvisation als QuasiSystem um ihr Überleben kämpft. Die Improvisation wäre dann zu verstehen als ein laborartig erzeugtes soziales Systems, das vor den Augen des Publikums entsteht, operiert, Anschlüsse bildet, in seiner Umwelt auf Hindernisse stößt und dann entweder als System weiterbesteht oder beendet wird. Der Nachvollzug der Mini-Evolution des Einzelwerkes ist im vorliegenden Kontext deswegen relevant, weil diese beim Improvisationstheater öffentlich vollzogen wird und damit Teil der Aufführung ist. Wenn die Einzelimprovisation eine Mini-Evolution durchläuft, dann bildet die gesamte Aufführung die entsprechende Umwelt. Auch die Zuschauer werden dadurch zur Systemumwelt der MiniEvolution des Kunstwerks. Eine solche Systemumwelt bildet bei Luhmann zwar die Bedingung für das System, jedoch hat sie keine Möglichkeit, dessen Selbstorganisation inhaltlich zu beeinflussen (BERGHAUS 2011). Sie kann lediglich destruktiv auf die Evolutionen einwirken, indem sie bestimmte Entwicklungen nicht unterstützt und so ausmerzt. Versteht man die Zuschauer als Systemumwelt für das System Improvisation, so wird erklärbar, warum die Zuschauer vor allem Hindernisse beisteuern: Sie tragen damit zur Mini-Evolution des Kunstwerks bei. Besonders augenfällig ist diese Funktion bei den Formaten von Johnstone, wo entweder Spieler aufgrund von Publikumsentscheidungen ausscheiden oder Inhalte nicht fortgesetzt werden, wenn sie von den Zuschauern nicht bestätigt werden. Beispiele hierfür sind Micetro, bei dem Spieler abgewählt werden, oder Less or more, wo mehrere Geschichtenanfänge improvisiert werden, von denen nur diejenigen fortgesetzt werden, die das Publikum sehen will. Auch Harold von Close lässt sich
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Hier besteht eine Anschlussmöglichkeit an das Konzept der Spontanitätslage nach Moreno.
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sehr gut als Mini-Evolution verstehen, bei der bestimmte Assoziationen ‚aussterben‘, indem sie keine Fortsetzung finden. Sowohl das Publikum als auch die Spieler tragen durch ihre Entscheidungen also zur Mini-Evolution der Improvisation bei. Ausgangspunkt für die Spannung im Improvisationstheater ist die von Luhmann konstatierte Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation und Kunst. Das Improvisationstheater kaschiert diese Unwahrscheinlichkeit nicht, sondern spielt demonstrativ mit ihr. Was in Kapitel II als das Problem der schwankenden Qualität bezeichnet wurde, zeigt, dass durch die Produktionsregeln der Improvisation die Wahrscheinlichkeit einer Kommunikation und einer Mini-Evolution des Kunstwerks zwar erhöht wird, jedoch nie in einen nur halbwegs sicheren Bereich, weshalb die Möglichkeit des Scheiterns in allen Formaten eingearbeitet wird. Nimmt man diese Unwahrscheinlichkeit als Grundlage für das Zuschauen beim Improvisationstheater, so wird deutlich, dass das mögliche Scheitern oder der mögliche Erfolg eines sozialen Systems einen äußerst interessanten Beobachtungsgegenstand für Menschen und das eigentliche Spannungsmoment des Improvisationstheaters darstellen. In Kapitel III 3.3 wurde behauptet, der Wirklichkeitsbezug des Improvisationstheaters sei der einer Simulation. Weiterhin wurde in Kapitel III 4.4 die These aufgestellt, es handele sich dabei um ein Spiel mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Diese Thesen finden vor dem Hintergrund der hier ausgebreiteten Luhmannschen Systemtheorie Bestätigung: Improvisationstheater erfüllt damit eine Funktion, die Luhmann der Kunst insgesamt zuspricht: „Unsere Analysen führen […] auf die Vermutung, dass Kunst uns wahrnehmen lässt, wie aus Kontingenz Ordnung entsteht. Und wenn es eine Funktion von Kunst in der modernen Gesellschaft gibt, dann vielleicht die, zu kommunizieren, wie das geht und dass es unter allen Umständen geht.“ (Luhmann 1992 zit. In KOLLER 2007, S. 147)
Das Improvisationstheater modelliert die grundlegenden Prozesse der Emergenz von sozial konstruierter Ordnung in optimierter Form. Was Urs Stäheli für das Kunstsystem sagt, gilt daher sogar noch mehr für das Improvisationstheater: „Es scheint, als ob das Kunstsystem die Aufgabe übernommen hätte, Luhmanns systemtheoretisches Verständnis von Gesellschaft zu exemplifizieren.“ (Stäheli zit. In KOLLER 2007, S. 258). Im Improvisationstheater sind die Prozesse sozialer Emergenz sozusagen in Reinform enthalten und es ist daher ein idealer Forschungsgegenstand für die Untersuchung sozialer Emergenz. Diese These ist die Grundlage für den Ansatz von Sawyer, der im Folgenden besprochen werden soll.
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2 S OZIALE E MERGENZ –
DER
ANSATZ VON K EITH S AWYER
Sawyer kombiniert in seinen 2003 und 2005 erschienenen Arbeiten einen emergentistischen Ansatz mit der Kommunikationstheorie von Goffman (die wiederum auf Bateson basiert), um die dialogischen Prozesse des Improvisierens zu untersuchen (SAWYER 2003, SAWYER 2005). Sein Modell integriert Bottom-up- und Topdown-Kausalitäten zu einem zirkulären Modell mit zwei Systemebenen: Abb. 16: Sawyers zirkuläres Kausalitätsmodell sozialer Emergenz
(Quelle: SAWYER 2003, S. 73)
Auf der unteren Systemebene tauschen die Interaktionsteilnehmer dabei Sätze aus (Typ 1 Relationen), die auf einer höheren Systemebene zum Entstehen eines interaktionellen Rahmens führen (Typ 2 Relationen: Kollaborative Ermergenz), der wiederum die Interaktionen auf der tieferliegenden Ebene vorstrukturiert (Typ 3 Relation: Abwärtskausalität). Sawyer stellt die These auf, dass der Interaktionsrahmen nicht lediglich von den Teilnehmern gesetzt oder ausgehandelt wird, sondern dass er ‚von selbst‘ durch den Dialog entsteht. Er kann nicht durch die Beiträge der einzelnen Teilnehmer vorhergesagt werden, entzieht sich der Kontrolle jedes einzelnen Dialogteilnehmers und ist somit emergent. Die Dialogpartner wählen demnach nicht einen sozial vorgefertigten Gesprächsrahmen, sondern lassen den Rahmen durch die Interaktion emergieren. Ist der Rahmen einmal entstanden, dann wirkt er im Sinne einer Top-down-Kausalität auf die Dialogpartner zurück, indem er bestimmte Beiträge ermöglicht und andere unterbindet. Sawyer schlägt vor, improvisierte Dialoge als komplexe Systeme zu verstehen und begründet dies durch ihre grundsätzliche Unvorhersagbarkeit:
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„A speaker’s action cannot be predicted by the other actors on stage because there are so many potential creative acts, and the range of potential frames that might emerge multiplies from turn to turn. This results in expanding combinatorics like those in a chess game: If one has 10 potential moves, and one’s opponent then has 10 potential responses to each of those, to look only two turns into the future one must consider 100 different scenarios. [...] Such moment-to-moment combinatorics often result in analytically irreducible phenomena, as demonstrated by studies of complex dynamical systems.“ (SAWYER 2003, S. 59)
In Sawyers Modell der sozialen Emergenz sind improvisierte Dialoge also Interaktionen von Systemkomponenten auf einer unteren Systemebene, die auf einer höheren Systemebene Eigenschaften von komplexen Systemen hervorbringen, insbesondere die Systemeigenschaft der Unvorhersagbarkeit. Sawyer stellt die These auf, dass die spezifische Gestaltung der Interaktion beim Improvisationstheater zu emergenten Phänomenen führt, dass also innerhalb der kollaborativ erzeugten fiktionalen Welt Elemente auftauchen, die für keinen der Spieler vorhersehbar oder kontrollierbar sind und die nicht auf die Einzelbeiträge reduziert werden können. Für ein solches Modell der sozialen Emergenz stellt das Improvisationstheater einen idealen Untersuchungsgegenstand dar, denn die Spieler starten jede Szene von einem kommunikativen Nullpunkt aus: Sie wissen nichts über Ort, Figuren, Themen oder Stil der Szene. Es existiert also kein Interaktionsrahmen, was in Alltagsgesprächen praktisch niemals der Fall ist. Dort wissen die Gesprächsteilnehmer in der Regel, wer sie sind und wo sie sich befinden, andere Anteile des Gesprächs – etwa das Thema – können dagegen durchaus erst in der Interaktion emergieren. Beim Improvisationstheater sind dies jedoch praktisch alle Anteile der Kommunikation. Zudem ist es den Spielern nicht oder nur eingeschränkt möglich, den Rahmen durch Metakommunikation zu klären. Sie können nicht einfach sagen „Wir sind im Supermarkt.“ Oder „Wir spielen hier eine Tragödie“, da sie sich schon auf der Bühne befinden. Stattdessen müssen sie solche Rahmenumstände ihres Dialoges Zug um Zug im Dialog selber entstehen lassen. Sawyer hat daher das Improvisationstheater als Untersuchungsgegenstand für seine Theorie der sozialen Emergenz gewählt – was wiederum einen Glücksfall für das Improvisationstheater darstellt, denn seine Untersuchung fußt auf einem methodisch weitentwickelten Ansatz. Sawyer konzentriert sich auf die jeweils ersten Dialoglinien von improvisierten Szenen und untersucht sie mit den Mitteln der Gesprächsanalyse. Sein Vorgehen soll im Folgenden kurz nachgezeichnet werden.
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2.1 Die Emergenz des Interaktionsrahmens Sawyer geht davon aus, dass die emergent erzeugten Phänomene die Funktion eines Gesprächsrahmens haben (SAWYER 2003, S. 41-66). Darin sind die Informationen enthalten, die als Konsens die Grundlage des Gespräches bilden. In improvisierten Szenen entspricht dies weitgehend der Bühnen- oder Spielrealität, die von den Spielern hergestellt und akzeptiert wird. Er untermauert seine These durch die detaillierte Untersuchung von improvisierten Dialogen beim Improvisationstheater. Untersuchungsgegenstand sind dabei insbesondere Szenenanfänge, da sich in diesen der Aufbau einer gemeinsamen Bühnenrealität vollzieht. In den ersten Zeilen der Szene sind die Spieler noch weitgehend frei, danach können und müssen sie ihre Beiträge am jeweiligen Rahmen orientieren. Der emergierende Rahmen wird nach und nach enger und konkreter, ganz ähnlich wie in der Kontingenzreduktion bei Luhmann. Bei Sawyer wird der Rahmen jedoch als eine variable Größe verstanden, die sich mit jedem Angebot, das ein Spieler einbringt, verändert. Gleichzeitig ist er die strukturierende Größe für das nächste Angebot des anderen Spielers. Einmal entstanden, muss der emergente Interaktionsrahmen als ein eigener kausaler Faktor des Spiels betrachtet werden: „The emergent interactional frame must analytically be considered to have its own causal force, which is both enabling and constraining. It is ever changing, created in a bottom-up fashion from actions of individual actors, yet once created, it constrains and influences the later actions of those individuals, in a top-down-fashion.“ (SAWYER 2003, S. 63)
Sawyer veranschaulicht die Emergenz des dramatischen Rahmens folgendermaßen:
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Abb. 17: Der Prozess der kollaborativen Emergenz nach Sawyer
(Quelle: R. K. Sawyer 2003, S. 68, leicht gekürzt)
Die Emergenz des Interaktionsrahmens geschieht demnach Zug um Zug und er durchläuft verschiedene Zustände E1, E2, E3 usw. Schon am Beginn der Szene hat der zu diesem Zeitpunkt noch diffuse Interaktionsrahmen E1 einen kausalen Einfluss auf das erste Spielangebot des ersten Spielers A1. Dieses Spielangebot besitzt nun eine Wirkung auf die Mitspieler (interactional power of offer) und muss von diesen bestätigt werden. Jedes Angebot wird erst dann zu einem Teil des interaktionellen Rahmens, wenn es von einem anderen Mitspieler bestätigt wurde (SAWYER 2003, S. 68). Dies ist ein wichtiges Kriterium für die kollaborative Qualität des Prozesses und steht im Einklang mit dem wichtigen Improvisationsprinzip des Akzeptierens: Erst wenn der Partner zu einem Angebot Ja gesagt hat, wird dieses Teil der gemeinsamen sozialen Realität. Das Yes-And-Prinzip garantiert also, dass das vorherige Angebot zu einem Teil des emergierenden Rahmens wird und somit zu einem neuen Zustand des Rahmens führt (E2). Dieser neue Rahmen ist wiederum Grundlage für ein weiteres Angebot (A2), das seinerseits bestätigt und damit Teil des Rahmens wird (E3). Einmal etabliert wirkt der Interaktionsrahmen wie ein weiterer Mitspieler, der Angebote macht und Angebote ablehnt. Die Dialogpartner orientieren sich in ihren jeweiligen Antworten nicht nur an der letzten Äußerung ihres Gesprächspartners, sondern immer auch am jeweils aktualisierten Interaktionsrahmen. Auf diese Weise bietet Sawyer ein theoretisches Modell für die kollaborative Hervorbringung der
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fiktionalen Realität durch improvisierte Dialoge. Er führt ein Beispiel für die Analyse eines Szenenanfangs an: Tab. 15: Der Anfang einer 2-Minuten-Szene am Improv Institute
1
< Andrew tritt in die Bühnenmitte, zieht einen Stuhl heran und setzt sich, mimt die Aktion des Fahrens durch das Halten eines imaginären Steuerrads >
2
< Ben tritt in die Bühnenmitte, steht neben Andrew, fischt in seiner Tasche nach etwas >
3 Andrew
„Rein oder raus?“
4 Ben
„Ich steige ein, Sir!“ < er fährt fort, in seiner Tasche zu fischen >
5 Andrew
„Rein oder raus?“
6 Ben
„Ich steige ein! Ich steige ein!“
7 Andrew
„Hab ich Dich nicht vor ein paar Haltestellen gesehen, wie Du versucht hast, durch die Hintertür einzusteigen?“
8 Ben
„Äh...“
(SAWYER 2003, S. 3, Übersetzung G.L.)
Der Dialog wird hier in acht Einzelzüge zerlegt, an deren Ende eine gemeinsame soziale Realität sich herausgebildet hat, die das WO, das WER und das WAS der Situation umfasst und zusätzlich noch einige diffuse Informationen beinhaltet, die Möglichkeiten für spätere Anschlüsse bieten. Sawyer analysiert nun den Informationsbeitrag, den jeder einzelne Zug liefert, aber auch die jeweils durch den Spielzug offengehaltenen Möglichkeiten. Die Offenheit der Situation wird mit jedem Zug weiter eingeschränkt. Bei Zug 3 dürfte allen Beteiligten klar sein, dass es sich um einen Busfahrer und einen Passagier in der Situation des Einsteigens handelt. Nachdem das WO? und WER? also schnell geklärt sind, widmen sich die beiden Spieler dem WAS? der Szene, ihrem Inhalt und Thema. Beide suchen eine Erklärung dafür, dass Ben nicht bezahlt, bis Andrew ihn schließlich in Zug 7 als Schwarzfahrer definiert. Der relativ komplexe Rahmen für diese Szene wurde also in acht Zügen etabliert – ohne dass die Informationen direkt gegeben wurden. Die angewendete Technik besteht vielmehr in der Reduktion der Möglichkeiten in einer plausiblen Weise, sodass der Rahmen schließlich zur einzig möglichen Interpretation der vorhergehenden Spielzüge geworden ist. Der Rahmen wird also nicht additiv hergestellt, sondern ergibt sich als Syntheseleistung als die einzige Möglichkeit, die vorhergehenden Züge zu integrieren, ohne Widersprüche zu erzeugen. Dieser Ansatz unterscheidet Sawyers Ansatz einer sozialen Emergenz von sozial-konstruktivistischen
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Positionen, welche die Realitätskonstruktion als additiv auffassen. Der Rahmen wird in diesem emergentistischen Ansatz nicht bis ins Detail konstruiert, sondern entsteht durch wenige Informationspunkte, die erst durch eine aktive Syntheseleistung zu einem Rahmen ergänzt werden. Um dies zu erreichen müssen die Improvisateure so kommunizieren, dass jeder Zug den Möglichkeitsraum um eine oder mehrere Optionen reduziert – etwa vergleichbar mit dem Spiel ‚Personenraten‘ (oder ‚20 Fragen‘), bei der die Optionen lediglich durch Ja und Nein reduziert werden, bis das Ergebnis als einzig verbliebene Möglichkeit auftaucht. Aufgrund dieses Verfahrens ist es nicht möglich, den Interaktionsrahmen auf die Einzelbeiträge der Spieler zu reduzieren, was Sawyer als Beleg für seine These der sozialen Emergenz wertet. 2.2 Empirische Untersuchbarkeit Sawyer hat sein Modell empirisch auf zwei Wegen überprüft. Zum einen hat er die von ihm dokumentierten improvisierten Dialoge daraufhin untersucht, wie sie eine gemeinsame fiktionale Realität etablieren. Dabei stellte er mehrere Voraussagen auf: Zum einen muss man annehmen, dass es im Sinne einer Emergenz des Interaktionsrahmens nicht erwünscht ist, die Optionen vorschnell einzugrenzen. Sie müssen vielmehr in einem kollaborativen Prozess nach und nach reduziert werden und zwar so, dass langsam immer weniger sinnvolle Interpretationsmöglichkeiten bestehen bleiben. Folglich müssen kommunikative Strategien zum Einsatz kommen, die die Optionen sinnvoll einschränken, ohne sie auf nur eine einzige zu reduzieren. Sawyer unterscheidet daher „schwache metapragmatische Strategien“ von „starken metapragmatischen Strategien“ (SAWYER 2003, S. 74). Erstere sind dadurch charakterisiert, dass sie den Möglichkeitsraum des nachfolgenden Zuges nur minimal einschränken, wie dies bei offenen Angeboten verwirklicht wird. Starke metapragmatische Strategien führen dagegen dazu, dass der Möglichkeitsraum des folgenden Zuges weitgehend determiniert ist, etwa bei Kontrollangeboten. Sein Konzept geht über das des offenen oder geschlossenen Angebots hinaus, indem es nicht mehr auf der Ebene der Einzelangebote argumentiert, sondern eine grundlegende Kommunikationsstrategie beschreibt. Sawyer hat die Variablen „schwache metapragmatische Strategie“ und „starke metapragmatische Strategie“ einer Operationalisierung unterzogen und damit den Schritt hin zu einer empirischen Untersuchbarkeit getan. Es gelingt Sawyer damit, die jeweiligen Angebote der Spieler entweder einer starken oder schwachen metapragmatischen Strategie zuzuordnen. Durch Anwendung dieser Einteilung auf Szenenanfänge kommt er zu folgenden Ergebnissen:
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1. Starke metapragmatische Strategien führen zu einem schnellen Aufbau der Bühnenrealität. Ein Minimum liegt bei 3-4 Interaktionen. Sie werden bei ‚Kurzformen‘ bevorzugt angewendet. 2. Schwache metapragmatische Strategien führen zu einem langsamen Aufbau der Bühnenrealität. Sie finden vor allem bei ‚Langformen‘ Verwendung. (SAWYER 2003, S. 139 ff) Sawyer kann zeigen, dass Operationalisierungen seiner Konstrukte möglich sind und dass beim Improvisationstheater die Emergenz des interaktionellen Rahmens durch diese Strategien gesteuert wird. Zweitens verifiziert Sawyer sein Modell anhand der Improvisationsregeln, die sich innerhalb der Improvisationstheater-Community im Laufe ihres fast 50jährigen Bestehens herausgebildet haben und kommt zu dem Schluss, dass diese Regeln geeignet sind, genau solche Interaktionen auf der Bühne hervorzubringen, die ein großes Maß an Emergenz zulassen. Die Kommunikationsstrategien sind so beschaffen, dass sie eine Offenheit für die Emergenz des Interaktionsrahmens ermöglichen: „[A]ctors try not to construct an overly elaborate internal representation of the interactional frame, because if their internal representation of the frame contains more detail than has actually been intersubjectively agreed to, chances are high that another actor will perform an action that is incompatible with that extrapolated version of the frame. Actors are taught not to maintain an overly detailed representation of the frame, and improv teachers use the admonition ‚Don’t write the script in your head‘ in instructing actors not to do this.“ (SAWYER 2003, S. 61)
In diesem Kontext lässt sich auch das Ideal der Subjektlosigkeit sinnvoll interpretieren: Indem es die Einmischung des Individuums in die Prozesse der kollaborativen Kreativität unterbindet, schafft es die Bedingungen für emergente Phänomene, denn Alles, was von den Individuen eingebracht wird, kann per definitionem nicht emergent sein (denn es wäre reduzibel). 2.3 Fazit: Keith Sawyer Sawyers Anwendung einer emergentistischen Position auf das Improvisationstheater ist die bisher methodisch ausgefeilteste Detailanalyse von Produktionsprozessen beim Improvisationstheater und bietet eine grundlegende theoretische Einbettung. Sein Ansatz bietet damit eine Erklärung, wie durch einfache Interaktionsregeln sehr komplexe Phänomene erzeugt werden können und wie Inhalte entstehen, die über das von den Teilnehmern Eingebrachte hinausgehen und diese selber überraschen können.
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Sawyer hat allerdings nicht die gesamte Aufführung im Blick. Zum einen behandelt er nur Szenenanfänge und es bleibt die Frage offen, ob die hier gewonnenen Ergebnisse auf die gesamte Improvisation übertragen werden können. Zum anderen fokussiert er auf die Interaktionen zwischen den Spielern, prinzipiell lässt sich sein Ansatz jedoch auch auf die Interaktion mit dem Publikum übertragen, indem auch hier der Interaktionsrahmen kollaborativ erzeugt wird. Es wäre damit möglich, auch die Prozesse des Publikum-Warm-ups als soziale Emergenzprozesse zur Rahmenbildung zu verstehen. Dieser Rahmen wäre jedes Mal ein wenig anders und unvorhersagbar. Wie in Kapitel III gezeigt handelt es sich immer um eine Rahmung als Spiel, die jeweilige Ausformung des Spiels in der feedback-Schleife wäre jedoch emergent.
3 G AME T HEORY Die systemtheoretische Spieltheorie, die hier aufgegriffen wird, hat wenig mit den kulturwissenschaftlichen Spielbegriffen zu tun, die in Kapitel III herangezogen wurden; sie ist vielmehr Teil der Systemtheorien. Die Game Theory wurde in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch John von Neumann in die Systemtheorien eingeführt (NEUMANN 1944). Zunächst als Methode der Wirtschaftswissenschaften entwickelt, wird die systemtheoretische Spieltheorie heute auch in den Sozialwissenschaften verwendet, um Interaktionen zu modellieren. Ein Spiel kann dabei betrachtet werden als eine Abfolge von Entscheidungssituationen. Sowohl Luhmann als auch Sawyer integrieren Aspekte der systemtheoretischen Spieltheorie, indem sie Systeme als Abfolgen von Entscheidungen einzelner Agenten konzipieren. Es besteht ein direkter historischer Bezug zum Improvisationstheater, da Close sowohl Norbert Weiners „Cybernetics“ als auch Neumanns „Game Theory“ gelesen und in seine Konzepte integriert hat (JOHNSON 2008, S. 39). Das Improvisationstheater kann unter diesem Blickwinkel als ein Gesellschaftsspiel mit einer Verkettung von Entscheidungen aufgefasst werden. Während der improvisierenden Aufführung treffen die Spieler in weit größerem Ausmaß Entscheidungen als im inszenierenden Theater – und das Publikum ist sich dieser Tatsache bewusst Im Mittelpunkt der systemtheoretischen Spieltheorie stehen Entscheidungssituationen von einzelnen Individuen in sozialen Systemen unter der Voraussetzung, dass sie Vorhersagen über die Entscheidungen der anderen Akteure machen müssen. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt oft in Gesellschaftsspielen: „Als Spiel bezeichnet man eine Entscheidungssituation, die an die Gesellschaftsspiele angelehnt ist: Mehrere Spieler verfolgen individuelle Ziele und treffen Entscheidungen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Entscheidungen dürfen nur im Rahmen der Spielregeln erfolgen, und ihre Konsequenzen hängen auch davon ab, was die anderen Spieler tun.“ (RIECK 2007, S. 21)
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Gemäß der Spieltheorie stellt jeder einzelne Spielzug eine Wahlhandlung dar. Es müssen mindestens zwei Handlungsalternativen zur freien Auswahl stehen und die Wahlhandlung muss bewusst vollzogen werden, um als solche zu gelten (RIESCHMANN 2002, S.1). Untersucht werden dann Abfolgen von Entscheidungen mit mehr oder weniger reduzierten Optionsmöglichkeiten und mit mehr oder weniger Informationen über die Spielzüge der anderen Spieler (RIESCHMANN 2002, RIECK 2010). Charakteristisch für diesen Ansatz ist der hohe Grad von Formalisierung, in der Regel durch mathematische Formeln, die auch eine Simulation am Computer möglich machen. In der formalen Beschreibung von Spielen wird festgelegt, welche Spieler es gibt, welchen sequentiellen Ablauf das Spiel hat und welche Handlungsoptionen jeder Spieler in den einzelnen Stufen der Sequenz hat. Weiterhin gehört zur Beschreibung eines Spiels die Auszahlungsfunktion, also das Ziel, das die einzelnen Spieler zu erreichen versuchen. Ist ein Spiel formal beschrieben, so lassen sich die möglichen Strategien der Spieler experimentell untersuchen und mathematisch simulieren. Besondere Bedeutung haben dabei sogenannte Gleichgewichte, d.h. solche Spielsituationen, in denen die Anwendung verschiedener Strategien etwa gleich erfolgversprechend ist.8 Um die Spieltheorie auf das Improvisationstheater anwenden zu können, muss die Annahme gemacht werden, dass die Entscheidungen interdependent sind, d.h. dass jede Entscheidung die Voraussetzungen für die nachfolgende Entscheidung verändert. Eine solche Interdependenz wird in der Improvisation jedoch nicht einfach vorgefunden: In den meisten Fällen wird sie erst innerhalb der ersten Züge durch die Interaktion selbst erzeugt. Alle beteiligten Spieler arbeiten daran, den jeweiligen Spielzug mit einer Bedeutung zu versehen, die das Gegenüber zum Handeln zwingt. Geschieht dies nicht (was bei Improvisationen durchaus der Fall sein kann), dann entsteht kein Game, sondern nur eine Abfolge von Patterns. Wenn etwa eine Figur sagt: „Ich liebe dich, Vater!“, dann ist es eine gute Entscheidung, wenn die andere Figur sinngemäß antwortet: „Ich hasse Deine ewige Speichelleckerei!“, weil dadurch eine Interdependenz der Spielzüge hergestellt ist. Die Spielzüge sind dann antagonistisch miteinander verknüpft. Was immer eine der beiden Figuren nun sagt oder tut, wird die andere Figur zu einer Antwort zwingen. Würde die zweite Figur sagen: „Na, dann lass uns Fußball spielen gehen!“, hätte dies eine wesentliche geringere Interdependenz der Spielzüge zur Folge. Sobald die Interdependenz der Spielzüge hergestellt ist, läuft die Improvisation ‚von selbst‘, da jeder Zug einen anderen nach sich zieht bis das Spiel sich erschöpft und ein neues emergiert. Interdependenz kann beim Improvisationstheater also nicht als Voraussetzung
8
Prominentestes Beispiel sind die Nash-Gleichgewichte eines Spiels, benannt nach John Forbes Nash Jr. (1959). Die Menge der Nash Gleichgewichte in einem Spiel macht eine Aussage darüber, wie vorhersagbar der Ausgang eines Spiels ist.
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gesehen werden, sondern stellt bereits ein erstes Ziel dar.9 Man kann sagen, dass die Herstellung solcher Interdependenzen der eigentliche Vorgang ist, durch welche die Einzelbeiträge der Spieler zu einem Game verknüpft werden. Wenn die Interdepenz der Spielzüge hergestellt ist, handelt es sich beim Improvisationstheater um ein sequentielles Spiel, d.h. die Entscheidungen fallen nicht gleichzeitig, sondern nacheinander, Zug um Zug. In der Spieltheorie werden sequentielle Spiele mit Hilfe von Entscheidungsbäumen dargestellt (RIECK 2010). Bereits bei Darstellung weniger Spielzüge wird dabei jedoch deutlich, dass in der Improvisation durch offene Angebote eine besonders hohe Vielfalt von Handlungsoptionen erzeugt wird, wodurch die Entscheidungsoptionen sehr schnell anwachsen und unübersichtlich werden. Man kann daraus, wie Sawyer (2003) dies tut, den Schluss ziehen, dass es sich bei einer Improvisation um ein komplexes System handelt, das nicht vorhersagbar ist.10 Rationale Vorausberechnung fällt als Entscheidungsstrategie für den Spieler daher aus. Der Improvisateur befindet sich in einer nicht vorhersagbaren Umgebung. Es entsteht dadurch ein Problem in der Anwendung der klassischen Ansätze der Spieltheorie, denn diese setzen rationale Entscheidungsprozesse voraus. Da das Improvisationsspiel also nicht mit rationalen Entscheidungen modelliert werden kann, scheiden die entsprechenden klassischen Spieltheorien als Ansätze aus. Eine Alternative bieten neuere Zugänge, die nicht von idealisierten, rationalen Entscheidungen ausgehen. 3.1 Die Spieler als Agenten in einem Multi-Agent-System Das Modell des Multi-Agent-Systems stellt eine Art Fortsetzung der Spieltheorien dar. Die Spieltheorie startete mit der Annahme von rationalen Entscheidungen, die sich mit Hilfe von mathematischen Gleichungen modellieren ließen (EBM= equation based modelling). Es erwies sich jedoch, dass die Voraussetzungen für die rationale Entscheidungstheorie nur in den seltensten Fällen mit den Bedingungen von realen Umwelten übereinstimmen: Weder sind solche Umwelten komplett vorhersagbar, noch ist dem Einzelnen in der Entscheidungssituation alle Information ver-
9
In einigen Games ist die Interdependenz der Spielzüge präfiguriert. Hierfür können die von Johnstone eingeführten Statusspiele als typisch gelten: Wann immer ein Spieler den Status seiner Figur verändert, wird zwangsläufig auch der Status aller anderen Figuren verändert: wenn er ihn senkt, steigt der Status seines Gegenübers, wenn er ihn erhöht, sinkt dessen Status. Die Bedeutung der Einführung von Statusspielen durch Johnstone liegt auch darin, dass sie überhaupt ein Spiel mit Interdependenzen etablieren.
10 Diese Schlussfolgerung würden Systemtheoretiker möglicherweise anzweifeln. Sicher kann man aber behaupten, dass Improvisation ein weitgehend unvorhersagbares System sein muss, gemäß der Definition von Spontanität (siehe Kapitel II 4.5).
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fügbar, noch finden Entscheidungen rein rational statt. Nachdem sich dieser Ansatz als ungeeignet für die Simulation von menschlichem Sozialverhalten erwies, begann man von Systemen auszugehen, die aus einzelnen, autonom entscheidenden Agenten zusammengesetzt sind (SAWYER 2005). Solche Agenten sind in der Lage, sich mit ihrer jeweiligen Systemumwelt weitgehend autonom auseinanderzusetzen und Entscheidungen zu treffen, auch dann, wenn es sich um nicht-deterministische Umwelten handelt, die weder komplett vorhersagbar sind noch vollständig bekannt sind. Multi-Agent-Systeme (MAS) entsprechen daher mehr den Systemen der wirklichen Welt, in denen Unvorhersagbarkeit und unvollständige Information nicht die Ausnahme sondern die Regel darstellen. MAS werden in einer Bottom-up-Methode simuliert: Zunächst werden die individuellen Agenten modelliert, dann ihre Interaktion. In der Computersimulation kann danach die Makroebene untersucht werden: Welche Muster entstehen durch die Interaktion der Agenten? Eine solche Konzeption lässt sich auf das Improvisationstheater übertragen, indem man die Spieler als Agenten versteht, die mit einem Regelwerk und Training der Improvisation ausgestattet auf eine bestimmte Art Entscheidungen im Verlauf des Spiels treffen. Die wohl wichtigste Systemeigenschaft von MASs ist das Fehlen einer zentralen Kontrolle. Betrachtet man die starke Gewichtung des Themas Kontrolle beim Improvisationstheater, so ergeben sich Parallelen: Die Chicagoer Schule vertritt die Ansicht, dass eine dominierende Person in der Gruppe die Improvisation zerstört. Bei Close geht dies so weit, dass die Dominanz eines Einzelspieler das ‚Erscheinen‘ der Group Mind, unmöglich macht. In der britisch-kanadischen Schule wird dies ähnlich gesehen: Alle Versuche des Einzelspielers, die Kontrolle über die Improvisation an sich zu reißen, gelten als unerwünscht. Es existiert die Norm, dass kein Spieler die Kontrolle über das Spiel übernehmen darf und dass kein Spieler die Freiheitsgrade des anderen Spielers reduzieren sollte (die Reduktion der Freiheitsgrade geschieht durch die Improvisation ‚von selbst‘). Offene Angebote und schwache metapragmatische Strategien werden bevorzugt, das Ideal der Subjektlosigkeit schafft die Voraussetzung für die Transformation der Improvisationsgruppe in ein MAS mit dem Ziel der Ermöglichung von Emergenz. Man kann also vermuten, dass ein MAS das System der Spieler beim Improvisationstheater modellieren könnte. Die einzelnen Agenten haben große Freiheitsgrade, die Interaktion ist verdichtet und das Entstehen einer zentralen Steuerung wird permanent verhindert. Ein solches System bietet, wie Sawyer zusammenfasst, hervorragende Voraussetzungen für die Entstehung von Emergenz: „Complexity theorists have discovered that emergence is more likely to be found in systems in which (1) many components interact in densely connected networks, (2) global system functions cannot be localized to any subject of components but rather are distributed throughout the entire system, (3) the overall system cannot be decomposed into subsystems and these
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into smaller sub-systems in any meaningful fashion, (4) and the components interact using a complex and sophisticated language.” (SAWYER 2005, S. 4-5)
Alle vier Aspekte werden im Improvisationstheater realisiert, solange keine zentrale Steuerungsinstanz sich etabliert. Die Spieler sind eng verbunden und benutzen eine komplexe Sprache. Sawyer unterscheidet kognitive Agenten von reaktiven Agenten (SAWYER 2005, S. 148-149). Erstere bemühen sich um ein möglichst großes Wissen über ihre Umwelt und agieren dann intentional aufgrund von Vorhersagen. Wie gezeigt, ist dieses Vorgehen für einen Improvisateur nicht möglich. Der reaktive Agent dagegen besitzt keine interne Repräsentation der Welt und macht keine Vorhersagen. Er hat keine klare Intention, sondern wird durch einfache Reiz-Reaktions-Ketten gesteuert. Dies entspricht sehr viel stärker den in Kapitel II dargestellten Grundhaltungen des Improvisationsspielers: Er agiert weitgehend auf einem GraswurzelLevel der Interaktion, ohne Überblick über die Gesamtsituation. Dies gilt insbesondere für den Beginn der Szene. Hier können die Spieler gar keine innere Repräsentation der fiktionalen Realität besitzen, denn diese bildet sich erst im Spiel heraus. Ein Spielmodell der Improvisation müsste also mit reaktiven Agenten arbeiten. Ein solcher reaktiver Agent müsste anhand der in Kapitel II aufgeführten Regeln der Improvisation programmiert werden. Die Regeln der Improvisation bieten eine Fülle von Vorschlägen an, die es dem Spieler ermöglichen ‚gute‘ Entscheidungen im Sinne des Improvisationstheaters zu treffen. Hierzu gehört insbesondere die Bevorzugung von riskanten Alternativen. Eine entsprechende Strategie schlägt Close – offensichtlich unter Einfluss der systemtheoretischen Spieltheorie – vor: „Take the active choice“ (Close in JOHNSON 2008, S. 53). Der Spieler soll danach immer diejenige Alternative wählen, die zu mehr Aktion auf der Bühne führt. Close geht davon aus, dass die Befolgung dieser Regel (plus zweier anderer Regeln, die sich aber nicht auf Entscheidungen beziehen) ausreicht, um zu einer interessanten Improvisation zu führen. Die Bevorzugung von riskanten Handlungsalternativen findet sich auch bei Johnstone (JOHNSTONE 1998) und ist allgemein anerkannter Teil der improvisatorischen Grundregeln (siehe Kapitel II 2). Aufgrund dieser Priorität entstehen Entscheidungsketten, denen deutlich weniger Risikovermeidung zugrunde liegt als alltäglichen Entscheidungen. Allein diese Tatsache scheint das Improvisationstheater bereits zu einem interessanten Beobachtungsgegenstand für viele Zuschauer zu machen: Die Spieler (und die Figuren) tun Dinge, die zu gefährlichen Verwicklungen führen. Die Spielstrategie „Take the active choice“ scheint als Orientierung für den Improvisationsspieler zunächst ausreichend zu sein. Es wäre daher möglich, eine Improvisation anhand dieser Entscheidungsstrategie zu modellieren. Dennoch muss hier eingewendet werden, dass die active choice nicht das alleinige Kriterium für Entscheidungen sein kann, da sie nur in eine Richtung führen
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kann, nämlich zu einer Eskalation. Wenn jeder Spieler immer die active choice wählt, kann der langsame kollaborative Aufbau von fiktionaler Realität, der bei Sawyer im Mittelpunkt steht, nicht stattfinden, sondern ein sich beschleunigender Prozess von immer größerer Handlung setzt ein. Mit der Entscheidungsregel der active choice wird ein Prozess der Eskalation in die Improvisation eingebaut, der irgendwann zur Überschreitung einer kritischen Schwelle führt und das Game ‚sprengt‘. Ähnliches gilt, wenn man eine weitere generelle Produktionsregel heranzieht, nämlich diejenige, entstehende Muster wahrzunehmen, zu bejahen und mitzuspielen. Ein entsprechender Agent müsste in der Lage sein, neu entstehende Muster zu erkennen. Er müsste weiterhin den Befehl umsetzen können: „Spiel das emergierende Spiel mit!“. Dabei bliebe offen, ob der Agent sich dem Muster durch simples Kopieren anschließt oder ob er eine andere Form – etwa den Kontrast – wählt. Der Agent sollte dabei möglichst wenig eigene Impulse einbringen, die das Muster stören würden (Ideal der Subjektlosigkeit). Dies sei noch einmal an Spolins Übung Follow the Follower veranschaulicht: Sie wird gestartet, indem die Spieler durch den Raum gehen und sich gegenseitig beobachten. Es gibt keinen Anführer, sondern jeder kopiert, was er oder sie gerade wahrnimmt. Aus dem anfangs relativ chaotischen Herumgehen bilden sich schnell bestimmte Dynamiken, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, schnell eskalieren und danach von einer neuen Dynamik abgelöst werden. Es existiert in diesem Prozess keine bewertende Instanz, die bestimmte Verhaltensweisen aussortiert. Die Feedbackschleifen sind dabei ausschließlich positiv rückgekoppelt. Improvisationstheatergruppen, die dieses Spiel spielen, wirken wie Schwärme: immer wieder setzen sich Bewegungs-, Klang oder Sprechmuster durch, steigern sich, erfassen die gesamte Gruppe, erreichen einen Höhepunkt und ebben dann wieder ab. Offensichtlich ist bereits die Operation des Anschlusses geeignet, komplexe Muster und Dynamiken hervorzubringen. In künstlichen MAS konnten solche Musterbildungen simuliert werden (SAWYER 2005, S. 155-156). Dabei stießen die Forscher auf ein Problem, das auch für die Improvisation relevant ist: Wenn ein Muster sich einmal etabliert hatte, bildete sich ein stabiles Gleichgewicht heraus, das nicht mehr gebrochen werden konnte. Die Frage, wie sich soziale Systeme verändern und weiterentwickeln blieb damit unbeantwortet. Analog dazu kann das Anschließen an ein Muster nicht das einzige Prinzip der Improvisation sein, denn es kann nur zu einer Selbstverstärkung des jeweiligen Musters oder Games führen. Eine entsprechende Improvisation würde also lediglich ein Muster oder Game entfalten und wäre dann zu Ende. Neuere Simulationen von MAS bauen deshalb eine Art Regelbruch ein (SAWYER 2005, S. 155-156). Sawyer verweist auf eine Simulation von Steels und Kaplan, die feststellten, dass ein Regelbruch zu einer Destabilisierung des Musters
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führt, sobald er eine kritische Schwelle überschreitet.11 Ist diese Schwelle überschritten, so wird das Muster gebrochen und ein neues kann emergieren. Neben der Regel „Spiel das emergierende Spiel mit!“ muss es daher weitere Regeln geben, die ein Muster beenden und ein neues starten, also Regeln zum Regelbruch. Würde man eine entsprechende Simulation als Multi-Agenten-System programmieren, dann müsste jeder Agent sich etwa an folgenden vier Regeln orientieren: 1. Tu etwas! 2. Wenn Du ein Muster in Deinem Verhalten erkennen kannst, wiederhole es! 3. Wenn Du siehst, dass ein anderer Agent etwas oft wiederholt, kopiere und steigere es! 4. Wenn das Muster sich nicht mehr steigern lässt, tu etwas anderes! Auf diese Weise würden sich Muster aufschaukeln, indem sie immer mehr Agenten des Systems erfassen, gleichzeitig würde verhindert, dass ein Muster dauerhaft dominierend und stabil sein kann. In jedem Fall müsste eine kritische Schwelle existieren, ab welcher die Agenten aus dem Muster aussteigen und damit das Spiel brechen. 3.2 Game-Building und Game-Breaking Es wird im Folgenden vorgeschlagen, zwei verschiedene Phasen der Improvisation zu unterscheiden, nämlich Game-Building und Game-Breaking. Innerhalb des Game-Building müssen Entscheidungen so getroffen werden, dass ein kollaborativer Aufbau der fiktionalen Realität möglich wird, sie müssen aneinander anschließen und innerhalb des Erwartungsrahmens bleiben. Wenn die Funktion dieser Phase erfüllt ist, müssen Entscheidungen dagegen möglichst riskant getroffen werden, um das etablierte Game zu eskalieren und zu verändern. Das Erzeugen von Hindernissen und die Bevorzugung von riskanten Entscheidungen dienen demselben Ziel, nämlich die Prozesse der sozialen Emergenz zu stören und damit Spannung zu erzeugen. Für beide Phasen lassen sich in den großen Improvisationsschulen Techniken finden (wobei der Phase des Game-Building bedeutend mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als der Phase des Game-Breaking), sodass das Regelsystem der
11 Diese Schwelle wurde untersucht. In welcher Frequenz müssen Regelbrüche stattfinden, damit die Kohärenz des Systems verlorengeht? Die kritische Schwelle lag bei Steels und Kaplan bei N=10, d.h. wenn der Regelbruch in jedem 10. Durchlauf oder öfter geschah, wurde das System destabilisiert. Bei geringerer Frequenz führten Regelbrüche zu keiner Destabilisierung (SAWYER 2003, S. 155-156).
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Improvisation auch Techniken beinhaltet, die dem Regelbruch dienen und damit ein Spiel beenden oder transformieren können. Eine Aufteilung des Improvisationsprozesses in zwei Phasen kann einige Widersprüche klären, die beispielsweise bei Johnstone auftauchen: Einerseits ermutigt er seine Schüler, innerhalb des Erwartungsrahmens zu bleiben und ihren „offensichtlichen“ Einfällen den Vorrang vor „originellen“ Ideen zu geben (JOHNSTONE 1998, S. 107 ff). Andererseits versucht er, ihnen die Angst vor verrückten Einfällen, die entweder zu psychotisch oder zu obszön sind, zu nehmen und sie dazu anzuregen, sich nicht darum zu kümmern, ob ihre Assoziationen entlegen und krank wirken könnten (JOHNSTONE 2004, S. 140 ff). Entsprechend verwirrend sind seine Ausführungen zum Thema Blockieren. Nimmt man dagegen zwei Phasen der Improvisation an, so erscheint plausibel, dass in Phasen des Game-Building spontane, ‚verrückte‘ Einfälle eher stören, während sie in Phasen des Game-Breaking geradezu notwendig sind. Tab. 16: Game-Building und Game-Breaking Game-Building
Game-Breaking
Aufbau einer gemeinsamen Bühnenrealität
Opposition und Behinderung der gemeinsamen Bühnenrealität
Aufspüren von Patterns und Games
Brechen von Patterns, Verstoß gegen die Regeln des Games
Eher kollaborative Produktion
Eher individuelle Aktion
Kreativität
Spontanität
Assoziation
Dissoziation
(Quelle: Eigene Darstellung)
Die Phase des Game-Building wurde bereits ausführlich beschrieben: Durch Prozesse kollaborativer Produktion wird dabei eine gemeinsame Bühnenrealität emergent erzeugt. Sie basiert auf Zusammenarbeit und Assoziationen. Die Phase des Game-Breaking ist dagegen geprägt vom Regelbruch. Das sich etablierende Pattern oder Game wird damit unterlaufen, die gemeinsame Bühnenrealität herausgefordert, der Prozess der sozialen Emergenz durch Hindernisse erschwert – und damit interessanter gemacht. Im Gegensatz zum Game-Building ist das Game-Breaking eher eine individuelle Aktion, die nicht auf naheliegende Assoziationen, sondern auf ‚verrückte‘ Einfälle – Dissoziationen – gegründet. Innerhalb der Phasen des GameBreaking ist freie Spontanität erwünscht. Sie dient der Herstellung von Unordnung, Abweichung, Differenz, Chaos. In der darauffolgenden Phase des Game-Building wird dagegen wieder Ordnung erzeugt, Widersprüche werden entschärft, Unpas-
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sendes gerechtfertigt und wieder in die gemeinsame Realität integriert. Hier kommt nicht Spontanität zum Einsatz, sondern Kreativität. Die Techniken des Game-Building und des Game-Breaking kommen in der Improvisation nicht gleichzeitig zum Einsatz, sondern folgen einer Dramaturgie: Jede Improvisation beginnt mit einer Phase des Game-Building – sei dies nun Johnstones Plattform, Spolins Wo/Wer/Was? oder Closes Find the Game. Der Aufbau des gemeinsamen Etwas geschieht kollaborativ, da zunächst ein Konsens erzeugt werden muss. Erst wenn dieses gemeinsame, regelhafte Etwas etabliert ist, machen die Techniken des Game-Breaking Sinn. Der Regelbruch geschieht dagegen nicht kollaborativ und auch nicht langsam, sondern wird durch plötzliche individuelle Spontanität hervorgerufen. Die Spieler orientieren sich dabei an Regeln zum Regelbruch wie „Jump and justify!“ oder „Take a risk!“ oder „Take the active choice!“. Das Game-Breaking gibt der Improvisation eine überraschende Wende, bricht das etablierte Muster und verletzt die Regeln des Spiels. In ihrer einfachsten Version ist diese Dramaturgie dreiphasig: Auf das Game-Building des Szenenanfangs folgt ein Game-Breaking, mit dem die Routine gebrochen und eine Imbalance erzeugt wird. Danach findet in der Regel wieder eine Phase des Game-Building statt, in welchem das Game-Breaking gerechtfertigt und ausgeglichen wird, sodass eine neue fiktionale Realität entsteht. Es existieren demnach zwei antagonistische und sich gerade dadurch ergänzende Spielziele: Erstens die Aufrechterhaltung des Prozesses kollaborativer Konstruktion und zweitens die Störung dieses Prozesses durch Hindernisse: Tab. 17: Zwei antagonistische Spielziele der Improvisation
Aufrechterhaltung des Prozesses kollaborativer Konstruktion
Störung des Prozesses kollaborativer Konstruktion (Quelle: Eigene Darstellung)
Das Improvisationsspiel entwickelt sich im Spannungsfeld dieser beiden Spielziele, wobei die Störung des Prozesses vom Publikum, den Regeln der Games oder dem Game-Breaking eines Spielers übernommen wird. Das Game-Building ist in der Regel eine kollaborative Leistung der Spieler.
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3.3 Fazit: Spieltheorie Die Anwendung der systemtheoretischen Spieltheorie ist auf den ersten Blick plausibel, zumal über Close eine spieltheoretische Sichtweise in das Improvisationstheater eingeflossen ist. Es erscheint nach diesen Ausführungen durchaus möglich, das System der Improvisationsspieler in der Aufführung als ein Multi-Agent-System zu verstehen, bei dem mithilfe der Improvisationsregeln öffentlich Emergenz erzeugt wird. Eine zentrale Steuerung wird konsequent vermieden. Die Spieler könnten als reaktive Agenten modelliert werden, die keine innere Repräsentation ihrer Spielumgebung erzeugen und keine Vorhersagen treffen. Die Regeln der Improvisation können als Entscheidungsregeln für solche reaktive Agenten verstanden werden. Regeln wie „Take the active Choice“, „Find the Game“ oder „Follow the Follower“ können im Prinzip dazu dienen, Improvisationen in MAS zu simulieren. Voraussichtlich reichen sie jedoch nicht aus, sondern müssen um eine Regel des Regelbruchs ergänzt werden, damit keine stabilen und damit statischen Zustände entstehen, wenn eine Dynamik sich durchgesetzt hat. Der Entscheidungsspielraum (die Freiheitsgrade) der einzelnen Agenten werden sonst nach und nach eingeschränkt, die Vorhersagbarkeit im System nimmt zu, bis ein Spieler das Spiel bricht. Es wird daher in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagen, zwei Phasen der Improvisation zu unterscheiden, nämlich das Game-Building und das GameBreaking. Damit wird konzeptioneller Gewinn erreicht, der einige Widersprüche in der Theorie der Improvisation aufheben kann: Es wird deutlich, dass der kollaborative Aufbau der Bühnenrealität nur ein Teil des gesamten Improvisationsprozesses darstellt. Es können die Spielziele Konstruktion versus Störung der kollaborativen Konstruktion unterschieden werden und es wird klar, dass das Publikum sich selber eher in der Aufgabe sieht, Hindernisse einzubringen und dadurch die Prozesse der kollaborativen Emergenz zu stören. Die Zuschauer übernehmen intuitiv die Funktion des Game-Breaking, während die Spieler tendenziell stärker mit dem GameBuilding beschäftigt sind. Die Unwahrscheinlichkeit des Kunstwerks wird dadurch nochmals gesteigert und damit die Anspannung und Entspannung beim Erreichen des Spielziels.
4 S YNERGETIK Die Synergetik stellt die derzeit umfassendste systemtheoretische Konzeption dar (KRIZ 1998, S. 68 ff). Innerhalb der bisher dargestellten Ansätze wurden einzelne Begriffe der Synergetik bereits aufgegriffen, z.B. bei Luhmann der Begriff der Symmetrie und der Symmetriebrechung (Bifurkation) oder bei Sawyer die Unterscheidung einer Mikroebene und eine Makroebene. In ihrer Gesamtheit bildet die
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Synergetik eine Meta-Systemtheorie. Sie macht keine Unterschiede zwischen biologischen, physikalischen oder sozialen Systemen, sondern sucht nach den Grundgesetzen systemischen Verhaltens schlechthin, wo immer möglich in mathematischer Form. Begründet wurde die Synergetik relativ spät, in den 70-er Jahren, von dem Physiker Hermann Haken (HAKEN 1981; HAKEN 1983). Sie untersucht das Zusammenwirken von Elementen in komplexen, dynamischen Systemen und postuliert dabei sowohl Bottom-up- als auch Top-down- Kausalitäten. Die Synergetik nimmt ihren Ausgangspunkt in Phänomenen der Selbstorganisation in Physik und Chemie, in denen aus Chaos Ordnung entsteht, z.B. in Bénard-Zellen oder bei Laserstrahlen. Sie ist kompatibel mit den Emergenztheorien, geht über diese jedoch in ihrem Formalisierungsgrad hinaus. Jürgen Kriz hat die zentralen Begriffe der Synergetik herausgearbeitet (KRIZ 1999, S.68 ff). Sie werden hier verkürzt dargestellt, da sie teilweise bereits in den vorherigen Kapiteln enthalten sind und nur leichte begriffliche Verschiebungen darstellen: Jedes komplexe System besteht aus vielen Komponenten, die auf mikroskopischer Ebene meist chaotischen Dynamiken unterliegen. Bei Veränderung eines Kontrollparameters tritt im System ein kooperatives Verhalten der Komponenten auf, das auf makroskopischer Ebene als Strukturbildung wahrnehmbar ist. Die kontinuierliche Veränderung des Kontrollparameters kann zu einer diskontinuierlichen Veränderung des Systems führen. Das Auftauchen einer makroskopischen Ordnung nennt man Emergenz (bzw. Phasenübergang). Die auftretende Selbstorganisation ist durch Ordnungsparameter beschreibbar, die über Top-down-Wirkungen auf die Komponenten zurückwirken. Durch den Ordnungsparameter werden die Komponenten des Systems „versklavt“, indem die Freiheitsgrade drastisch reduziert werden und eine Mode entsteht. Der Attraktor ist derjenige Zustand, zu dem das System nach dem Durchlaufen aller Abweichungen tendiert. Zum Beispiel tendiert eine rollende Kugel in einer Schüssel dazu, am Ende in der Mitte der Schüssel zu liegen. Attraktoren entstehen durch Autokatalyse. Unter bestimmten Bedingungen finden Bottom-up-Prozesse statt, dann kann die mikroskopische Ebene Einfluss auf die makroskopische Ebene nehmen, indem Fluktuationen Einfluss auf das System gewinnen. Dies ist insbesondere in symmetrischen Systemzuständen der Fall, also in Situationen, in denen das System sich bei zwei gleichwertigen möglichen Attraktoren in einem Zustand der Instabilität befindet. Am Wendepunkt zwischen zwei Systemzuständen haben zwei Attraktoren gleichwertigen Einfluss auf die Selbstorganisation des Systems. Es befindet sich dann in einem Zustand maximaler Instabilität. In diesem Zustand können Zufälle oder minimale Einflüsse zu einem ‚Umkippen‘ des Systems in eine andere Ordnung führen. Die Symmetrie der Wahrscheinlichkeiten wird also gebrochen. Als Beispiel wird oft ein Bleistift angeführt, der auf seiner Spitze steht. Es ist nicht schwer, vorherzusagen, dass er umfallen wird, aber es ist unmöglich, vorher-
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zusagen, in welcher Richtung dies geschehen wird. Wenn die Ausgangsposition perfekt senkrecht ist, kann ein minimaler Anstoß eines einzigen Luftmoleküls die Richtung bestimmen. Durch eine solche Symmetriebrechung (Bifurkation) können also zufällige, chaotische und spontane Fluktuationen den Ausschlag für den einen oder anderen Attraktor geben. Bevor ein System instabil wird, kommt es zu einem kritischen Langsamwerden der Systemanpassung an den alten Attraktor, sodass Störungen länger brauchen, um behoben zu werden. Mit diesem Begriffssystem zeigt sich die Synergetik speziell geeignet für die Beschreibung verschiedener Systemzustände und deren Abfolge. Das macht sie im Prinzip anwendbar für die Theaterwissenschaft, denn eine Theateraufführung kann begriffen werden als ein System, das mehrmals zwischen den Zuständen Ordnung und Unordnung hin und her wechselt. So schreibt Roselt den Übergängen von Ordnung zu Unordnung die besondere Fähigkeit zu, sogenannte „markante Momente“ (ROSELT 2008, S.9) hervorzubringen: „Theaterwissenschaftlich kann man sagen, dass Aufführungen Krisensituationen etablieren, in denen ihre Ordnung destabilisiert wird, indem Konventionen und Erwartungen in Frage gestellt werden und die schließlich zur Bestätigung oder Erweiterung tradierter Normen führen.“ (ROSELT 2008, S. 134)
Der Zuschauer gerät dadurch in ein Wechselbad zwischen der Erfahrung von Ordnung und der Erfahrung von Unordnung, stabilen und instabilen Systemzuständen. Da Improvisationstheateraufführungen verschiedene Phasen von Chaos und Ordnung durchlaufen, verspricht ein solches Modell die Prozesshaftigkeit dieser Theaterform als aufeinanderfolgende Systemzustände darstellen zu können. 4.1 Symmetrie und Symmetriebruch beim Improvisationstheater Symmetrie findet sich bei den meisten Spielen in der Aufstellung vor dem ersten Spielzug, etwa bei der Grundaufstellung beim Schach. Die Symmetrie schafft gleiche Voraussetzungen für alle Spielteilnehmer. Im Improvisationstheater stellt jeder Szenenanfang einen Punkt der Symmetrie dar, von dem aus alle Möglichkeiten gleich wahrscheinlich sind. Der erste Satz durchbricht die Symmetrie und es kommt durch die Bottom-up-Prozesse des Dialogs zur Emergenz von Patterns, die von den Spielern als Games interpretiert und ausgebaut werden. Als Ordnungsparameter dienen dabei die allgemeinen Regeln der Improvisation beziehungsweise die emergierenden Regeln der jeweiligen Improvisation. Es kommt zur Herausbildung eines Attraktors – in der Fachsprache der Improvisateure ein Game. Die Freiheitsgrade der Komponenten (Spieler und Zuschauer) nehmen ab, die Improvisation wird vorhersagbarer. An einem bestimmten Punkt ist das Game ausgereizt und ein neues
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Spiel muss begonnen werden. Dies geschieht wiederum durch Herstellung eines symmetrischen Zustandes, also durch Beendigung des Games/ des Attraktors nach dessen Eskalation. In der verbreiteten Form des Nummernprogramms wird eine neue Symmetrie einfach durch den Beginn einer neuen Improvisation erreicht, bei der wieder alle Optionen vorhanden sind. Bei Langformen besteht eine Schwierigkeit genau in der Herstellung solcher symmetrischen Zustände, in denen wieder spontane Fluktuationen zur Erzeugung eines Games führen. Symmetrien tauchen im weiteren Spiel immer dann auf, wenn zwei Attraktoren einen gleich starken Einfluss auf das System haben, also beim Improvisationstheater dann, wenn entweder gar kein Game emergiert ist, oder wenn zwei oder mehr Games gleich stark aktualisiert sind. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn ein Game seine inspirierende Kraft verliert und ein neues Game sich entwickelt. Es entsteht eine Situation mit einem Übermaß an gleichwertigen Optionen, eine Spontantitäslage, die also als Symmetrie begriffen werden kann. Symmetrien werden beim Improvisationstheater durch spontane Fluktuationen gebrochen. Da diese im mikroskopischen Bereich liegen, sind sie dem alltäglichen Bewusstsein nicht zugänglich, sie werden jedoch handlungsentscheidend unter der Bedingung einer gesplitteten Aufmerksamkeit, einem Disfocus, wie er etwa durch die Technik des Point of Concentration erzeugt wird. Die Konzentration auf ein scheinbar nebensächliches Detail stellt die Verbindung zwischen Mikro- und Makroebene des Verhaltens her, sie amplifiziert die spontanen Fluktuationen, überführt sie in makroskopisches Verhalten. Emergenz wird also durch spezifische Techniken der Aufmerksamkeit über ein Mikro-Makro-Link erzeugt. Damit ist die Symmetrie des Systems gebrochen und die nun wahrnehmbaren Fluktuationen können zur Ordnungsbildung benutzt werden. Aufgrund des Regelwerks zieht jede Operation eine weitere Operation nach sich, sodass Operationsketten gebildet werden. Der Herstellung von symmetrischen Zuständen kommt also besondere Bedeutung zu, weil in ihnen mikroskopisches, spontanes Verhalten zu makroskopischen Ordnungsbildungen führt. 4.2 Möglichkeitsräume und Potentiallandschaften Um das Entstehen von Symmetrien, Gleichgewichten oder einer kritischen Instabilität besser zu veranschaulichen, sei hier das Konzept der Potentiallandschaft eingeführt. Es wird in der Synergetik allgemein benutzt und ist sowohl anschaulich als auch mathematisch präzise (SCHIEPEK 1998, KRIZ 1999). Man kann das System dabei veranschaulichen als eine Kugel in einer Landschaft, wobei das Gefälle die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten der Entwicklung der Systemzustände abbildet, also deren Potentiale (KRIZ 1999). Man kann damit stabile und instabile Gleichgewichte unterscheiden:
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Abb. 18: Stabiles Gleichgewicht des Systems
(Quelle: Eigene Darstellung nach KRIZ 1999, S. 72)
Ein stabiles Gleichgewicht bildet eine Mulde in der Potentiallandschaft; es ist relativ unwahrscheinlich, dass das System (in der Abbildung die Kugel) aus seinem Einfluss entkommt. Wie eine Kugel in einer Schüssel kommt das System irgendwann zur Ruhe: Am Ende einer Serie von Abweichungen wird die Kugel vorhersagbar in der Mitte der Schüssel liegen. Um das System aus einem stabilen Gleichgewicht zu bringen, muss Energie aufgewendet werden. Für das Improvisationstheater ist ein stabiles Gleichgewicht dann gegeben, wenn die Entwicklung vorhersehbar ist, also beispielsweise wenn ein Game etabliert ist und deutlich wird, dass es fehlerfrei gespielt werden kann. Die Spannung lässt dabei sofort nach. Abb. 19: Instabiles Gleichgewicht des Systems
(Quelle: Eigene Darstellung nach KRIZ 1999, S. 72)
Ein instabiles Gleichgewicht wird im Gegensatz dazu als Hügel dargestellt: Befindet sich die Kugel am Scheitelpunkt, so kann ein beliebiger winziger Impuls sie in Bewegung versetzen. An diesem Punkt ist die weitere Entwicklung des Systems sehr schwer vorhersagbar, da zufällige Fluktuationen Einfluss gewinnen können.
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Auf das Improvisationstheater bezogen ist ein instabiles Gleichgewicht typisch für eine Spontanitätslage, also dem Moment maximaler Möglichkeiten vor der Entscheidung. Wie mehrfach dargestellt, ist ein solcher Systemzustand beim Improvisationstheater erwünscht und wird aktiv hergestellt. Die Abfolge von Systemzuständen beim Improvisationstheater ist damit abbildbar als die Bewegung einer Kugel durch eine sich ständig verändernde Potentiallandschaft. Es entstehen damit vielfache Ursache-Wirkungs-Relationen, die diskontinuierlich und überraschend sind: in einem instabilen Gleichgewicht können minimale Ursachen plötzlich große Wirkungen entfalten. Umgekehrt kann in einem stabilen Gleichgewicht auch große Kraftentfaltung kaum Wirkung erzielen. Dieselbe Fluktuation, die einen Moment zuvor noch wirkungslos war, kann im nächsten Moment zu gewaltigen, sich selbst verstärkenden Prozessen führen. Ein solches Modell erscheint geeignet, um die verschiedenen Prozesse und Phasen der Improvisation zu charakterisieren. 4.3 Ein synergetisches Phasenmodell der Improvisation Unter synergetischer Perspektive lässt sich die improvisierende Aufführung verstehen als eine Abfolge von stabilen und instabilen Systemzuständen, die phasenweise chaotisch sind, phasenweise zu einer selbstorganisierenden Ordnung finden. Zu Beginn der Aufführung herrscht noch keinerlei Ordnung, jeder Zuschauer befindet sich noch in seiner mitgebrachten Stimmung, das Gemurmel vor dem Anfang ist diffus, es ist noise, ohne Fokussierung und Muster. Systemtheoretiker sprechen von ‚grauem Chaos‘. Abb. 20: Der Beginn der Aufführung als graues Chaos
(Quelle: Eigene Darstellung)
Das System befindet sich in einem neutralen Gleichgewicht. Die Freiheitsgrade der einzelnen Teilnehmer sind hoch, es hat noch keine Ordnungsbildung stattgefunden. Es besteht keine Selbstorganisation bis das Warm-up beginnt.
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Abb. 21: Die Schaffung eines instabilen Gleichgewichts durch das Warm-up
(Quelle: Eigene Darstellung)
Mit dem Warm-up werden Bereitschaftspotentiale aufgebaut. Danach befindet sich das System in einem instabilen Gleichgewicht (einer Spontanitätslage). Die Freiheitsgrade der einzelnen Komponenten wurden erhöht, aber es ist noch zu keiner Ordnungsbildung gekommen. Es besteht keine Priorität der einen oder anderen Zustandsveränderung, weshalb man von Symmetrie sprechen kann. Abb. 22: Der Szenenanfang als Symmetriebrechung
(Quelle: Eigene Darstellung)
Unter der Bedingung eines instabilen Gleichgewichts genügt nun eine winzige spontane Fluktuation, um das System in Bewegung zu versetzen, d.h. eine Folge von Änderungen des Systemzustands herbeizuführen, die einer Eigendynamik folgt.
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Aus einer solchen Fluktuation wird der erste Satz, die erste Bewegung, die erste Formgebung der Szene zum richtungsgebenden Impuls, welcher den gesamten Fortgang der folgenden Improvisation bestimmt. Abb. 23: Selbstorganisation der Improvisation
(Quelle: Eigene Darstellung)
Die Improvisation bewegt sich nun selbstorganisierend durch die Potentiallandschaft und durchläuft verschiedene Systemzustände, ohne zunächst wieder zu einem Gleichgewicht zu finden. Es bilden sich Muster und Dynamiken, denen das System folgt. Die Freiheitsgrade der einzelnen Komponenten nehmen ab, sie werden zunehmend ‚versklavt‘. Dies ist die Phase des Game-Building. Die wichtigsten Muster werden zu Games, die innerhalb der Improvisation emergieren und danach strukturierend auf die Improvisation wirken. Sie übernehmen die Funktion von Ordnungsparametern. Innerhalb dieser Games nehmen die Freiheitsgrade der Spieler langsam ab, die Kontingenz wird reduziert. Abb. 24: Der tote Punkt der Improvisation
(Quelle: Eigene Darstellung)
Das System durchläuft eine Reihe von Abweichungen, nähert sich jedoch immer mehr einem stabilen Gleichgewicht (Attraktor), wo es schließlich zur Ruhe kommt.
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Es existieren nun keine Freiheitsgrade mehr im System, alle Systemänderungen sind gleich unwahrscheinlich. Sehr oft geschieht dies nach drei Eskalationen des Patterns.12 Danach verliert das Game seine ordnende Wirkung. Abb. 25: Graues Chaos
(Quelle: Eigene Darstellung)
An dieser Stelle kann die Improvisation beendet werden – oder sie startet einen neuen Zyklus, schafft eine neue Spontanitätslage, ein neues instabiles Gleichgewicht. Dies ist möglich durch einen Neustart – die Improvisation wird beendet und einfach die nächste begonnen – oder durch Techniken des Game-Breaking. Das System kehrt zurück zu einem Zustand des grauen Chaos, in dem die Freiheitsgrade wieder zunehmen und keine Ordnungsparameter aktiviert sind. Abb. 26: Game-Breaking
(Quelle: Eigene Darstellung)
Durch Regelbruch und Dissoziation wird die Macht des vorherigen Games gebrochen, ein Widerspruch oder Hindernis wird erzeugt, das neue Möglichkeitsräume öffnet. Durch Techniken des Game-Breaking entsteht ein neues instabiles Gleich-
12 Hierbei handelt es sich um eine Faustregel für Improvisationsspieler. Beschrieben ist sie bei HALPERN, CLOSE & JOHNSON 1994, S. 89. Ein Pattern kann danach dreimal eskaliert werden, danach verliert es seine Kraft, einzelne Zuschauer steigen aus. Beim vierten Mal ist alle Komik und alle dramatische Wirkung verschwunden.
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gewicht, eine neue Spontanitätslage wird erzeugt. Mikroskopische Fluktuationen können wieder Einfluss auf das Spiel gewinnen und emergente Phänomene sind möglich. Die Improvisation benötigt instabile Gleichgewichte, um die Wahrscheinlichkeit von emergenten Phänomenen zu steigern. 4.4 Synergetik und die Zuschauer Die improvisierte Aufführung kann auch als Abfolge von Systemzuständen im Zuschauersystem verstanden werden: Die Ausgangssituation entspräche dem grauen Chaos: Zu Beginn der Aufführung sind die Zuschauer in allen denkbaren individuellen Zuständen, je nachdem aus welchem Kontext sie gerade ins Theater gekommen sind, wie ihr Tag verlaufen ist und wie sie als Personen an genau diesem Abend konstituiert sind. Die Dynamiken sind so heterogen, dass das System im Gleichgewicht ist. Die Aufführung provoziert nun chorische, synchronisierte Handlungen des Publikums, die sich in spontanen Verhaltensweisen wie Lachen und Applaus vollziehen. Im Vergleich zum inszenierenden Theater strebt das Improvisationstheater ein größeres Maß an Synchronisierung der Zuschauer an. Diese werden bereits durch das Warm-up in eine Zuschauergemeinschaft verwandelt. Gleichzeitig wird die Schwelle für individuelles spontanes Verhalten gesenkt, indem die soziale Kontrolle geschwächt und eine allgemeine Enthemmung hergestellt wird. Beides macht vor dem Hintergrund des synergetischen Phasenmodells Sinn: In Phasen der Symmetrie wird das spontane, individuelle Zuschauerverhalten abgerufen, um die Symmetrie zu brechen. In Phasen der Ordnungsbildung wird dagegen die chorische, kollaborative Zuschauergemeinschaft angesprochen. Die Zuschauer durchlaufen ein Wechselbad aus ‚Versklavung‘ und individueller Freiheit, von Top-down- und Bottomup- Prozessen. Durch die chorischen Handlungen wird ein instabiles Gleichgewicht hergestellt, das durch die Zuschauervorgabe bzw. den Szenenanfang gebrochen wird. In vielen Fällen stellen die Zuschauervorgaben daher bereits die erste Formgebung und damit den Symmetriebruch dar. In den darauffolgenden Phasen scheint das Publikum intuitiv seine Aufgabe darin zu sehen, die Schwierigkeiten für die Spieler möglichst groß zu machen, also die Potentiallandschaft der Improvisation möglichst bergig zu gestalten, sodass möglichst viele instabile Gleichgewichte entstehen. Die Spieler suchen demgegenüber nach emergierenden Mustern, Rahmen und Games, um durch ein Game-Building die kollaborative Konstruktion einer fiktionalen Realität zu ermöglichen. Auch hier tritt die besondere Bedeutung von Gleichgewichten und Symmetriebrechungen (Bifurkation) hervor. Ein evidenter Fall von Symmetrie im Zuschauersystem ist das Hin- und Hergerissensein zwischen zwei möglichen Reaktionen: Die
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Zuschauer wissen nicht, ob sie lachen oder weinen, klatschen oder buhen, bleiben oder gehen sollen. In solchen Situationen maximaler Instabilität des Systems kann nun tatsächlich die Entscheidung eines einzelnen Zuschauers die Reaktion des gesamten Systems beeinflussen. Einer beginnt zu klatschen und reißt damit alle andern mit, oder einer verlässt den Raum und zieht viele Zuschauer nach sich. Entsprechende Symmetriebrechungen entstehen beim Publikum, wenn ein spontanes Umkippen der Wahrnehmungsordnungen geschieht. Entscheidend sind dafür die in Kapitel III 3.2.1 beschriebenen perzeptiven Multistabilitäten. Ein entsprechender Punkt markiert immer auch eine Krise der Wahrnehmung beim Publikum.13 Voraussetzung für einen solchen Phasenübergang ist nach den Prinzipien der Synergetik, dass vor dem Umschlagen der Stimmung der alte Attraktor an Attraktivität verloren hat, ohne dass dies makroskopisch sichtbar geworden wäre. Trotz ihrer scheinbaren Plötzlichkeit werden Symmetriebrüche vorbereitet und zwar nicht als Vorwegnahme oder gar Planung des Folgenden, sondern als ein langsames Unwirksamwerden der vorhergehenden Selbstorganisation. Die durch Selbstorganisation hergestellte Ordnung wird zunehmend störungsanfälliger, benötigt mehr Zeit, um Fluktuationen auszugleichen. Es kommt zum „Critical slowing down“, einer Wahrnehmungskrise. Die Herstellung von instabilen Gleichgewichten im Zuschauersystem kann als ein wesentliches Ziel des Improvisationstheaters verstanden werden.
13 Ein anschauliches Beispiel für die Symmetriebrechung in der Wahrnehmung gibt Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Die Zuschauer, die Untertanen, wissen nicht, ob sie den Fehler bei sich selber suchen sollen (wie es ihnen die betrügerischen Schneider suggeriert haben) oder ob sie ihre Wahrnehmung ernst nehmen sollen. Das Zuschauersystem befindet sich in diesem Beispiel in einem Phasenübergang zwischen zwei Attraktoren: Attraktor 1: „Es kann nicht sein, dass der Kaiser nackt ist. Es muss mein eigener Fehler sein, dass ich die Kleider nicht sehen kann!“ Attraktor 2: „Er hat wirklich nichts an. Meine Wahrnehmung ist objektiv richtig!“ Der Phasenübergang von einem Attraktor zum anderen – das ist der springende Punkt synergetischer Betrachtung – benötigt keinen großen Auslöser, wenn zuvor ein instabiles Gleichgewicht geherrscht hat. Der einfache Satz eines Kindes: „Er hat ja gar nichts an!“ reicht aus, um das System in kurzer Zeit ‚umzukippen‘.
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4.5 Fazit: Synergetik Mit der Synergetik ist eine Systemtheorie eingebracht worden, die nicht mehr zwischen Bühne und Zuschauerraum, Produktion und Rezeption unterscheidet, sondern das Gesamtsystem der Aufführung in den Blick nimmt. Sie ist in der Lage, verschiedene Phasen der Ordnungsbildung und Chaotisierung des Systems Improvisationstheater zu beschreiben, indem die jeweiligen Freiheitsgrade der Komponenten (Akteure und Zuschauer) erfasst werden. Die Synergetik wurde hier verwendet, um ein theoretisches Phasenmodell der Improvisation zu erstellen. Überprüfbar wäre ein solches Modell, wenn man feststellen könnte, ob die Freiheitsgrade von Akteuren und Zuschauern kovariieren: Wenn die Akteure durch ein emergierendes Muster ‚versklavt‘ werden, dann muss dies auch für die Zuschauer gelten und umgekehrt. Die Ordnungsbildungen müssten also gleichzeitig auf der Bühne und im Zuschauerraum emergieren; nur dann wäre es angebracht, von einem gemeinsamen System zu sprechen. Unter synergetischer Perspektive findet das Konzept des Games seine Entsprechung als Attraktor und das Beenden eines Games wäre identisch mit einem Phasenübergang. Besondere Bedeutung erhalten dabei Zustände der Symmetrie, da in ihnen spontane Fluktuationen Einfluss auf das Gesamtsystem erlangen. Sie entsprechen den bereits besprochenen Spontanitätslagen und, im emergentistischen Ansatz, dem Mikro-Makro-Link. Momente der Symmetriebrechung (Bifurkation) können als Schöpfungsmomente der Improvisation gelten, auf welche danach rekursiv Bezug genommen wird, indem sich Attraktoren (Games) bilden. Solche ‚Urknälle‘ der Improvisation entstehen immer wieder aus instabilen Gleichgewichten und führen zu Neuordnungen. Die Techniken der Improvisation dienen daher in vielen Fällen der Herstellung von instabilen Gleichgewichten.
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Die diesem Kapitel zugrundeliegende Frage war, ob sich aus der Heranziehung der Systemtheorien Erklärungs- und Untersuchungsansätze für das Improvisationstheater ergeben. Um dies zu untersuchen mussten zunächst die in Frage kommenden systemtheoretischen Ansätze dargestellt und auf das Improvisationstheater angewendet werden. Die dargestellten emergentistischen Systemtheorien von Luhmann und Sawyer bieten ausgezeichnete Ansatzpunkte für die Untersuchung des Improvisationstheaters und sind in ihren wesentlichen Punkten kompatibel. Unter Luhmanns Systemtheorie kann man die improvisierte Aufführung insgesamt als öffentliche Minievolution eines sozialen Systems verstehen. Dabei tritt insbesondere die Bedeutung der
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ersten Formgebung als primäre Systemoperation in den Fokus. Sawyers Theorie des emergierenden Interaktionsrahmens betont ebenfalls die Bedeutung des Anfangs, akzentuiert jedoch im Unterschied zu Luhmann dessen kollaborative Entstehung. Weiterhin wird der emergierende Rahmen nicht so restriktiv verstanden wie Luhmanns erste Formgebung, die eine kontinuierliche Kontingenzreduktion nach sich zieht. Der emergierende Interaktionsrahmen erzeugt vielmehr über Top-downKausalitäten nicht nur Einschränkungen, sondern auch neue Möglichkeiten. An dieser Stelle bleiben Sawyers Ausführungen jedoch vage. Während er die Prozesse der Emergenz durch Bottom-up- Prozesse ausführlich erläutert, widmet er Top-downWirkungen kaum Aufmerksamkeit. Ein weiterer Schwachpunkt seiner Untersuchung liegt darin, dass er ausschließlich Szenenanfänge als Material verwendet, sodass unklar bleibt, was nach dieser kollaborativen Erzeugung einer gemeinsamen fiktionalen Realität geschieht. Eine Fortsetzung der Prozesse der sozialen Emergenz würde zwar eine weitgehend harmonische fiktionale Realität hervorbringen, jedoch kein Theaterspiel. Es stellt sich dabei die Frage, wie spontane und chaotische Prozesse in die Improvisation einfließen können, wie der Regelbruch zustande kommt. Sawyer berücksichtigt diese Prozesse nicht, da sie seine These der sozialen Emergenz nicht stützen und da sie in der ersten Phase der Improvisation keine Rolle spielen. Auch bei Luhmann findet man keine Prozesse, die einen Regelbruch und damit die Unterbrechung oder Umkehrung der Kontingenzreduktion ermöglichen. Solche Prozesse müssen aber notwendigerweise für die Improvisation angenommen werden. Der fortschreitende Prozess der Improvisation müsste sonst zu einem weitgehenden Verlust der Freiheitsgrade der Spieler führen. Es stellt sich also die Frage, wie die Spieler ihre Freiheit im Spiel zurückgewinnen und wie dies theoretisch fassbar ist. Durch Heranziehung der systemtheoretischen Spieltheorie ergaben sich Ansatzpunkte zur Lösung dieses Problems, indem in der Improvisation die Phase des Game-Building von der Phase des Game-Breaking unterschieden wurde. Die Ansätze von Luhmann und Sawyer eignen sich dabei hervorragend zur Modellierung der Phase des Game-Building, sie ignorieren jedoch die Phase des Game-Breaking. Ein umfassendes Modell des improvisierenden Theaters muss jedoch beide Phasen beschreiben und erklären können. Durch die systemtheoretische Spieltheorie wird auch die wichtige Rolle des Publikums deutlicher, das intuitiv die Funktion des Game-Breaking übernimmt, um das gesamte Spiel interessanter zu machen. Die These vom Improvisationstheater als Spiel mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit wie sie in Kapitel III entwickelt wurde, wird dadurch unterstützt. Die zuletzt herangezogene systemtheoretische Perspektive der Synergetik kann viele der erarbeiteten Aspekte zu einem Phasenmodell integrieren. Sie bietet zudem den Vorteil, dass sie nicht nur die Prozesse der Produktion von Improvisation umfasst, sondern auch diejenigen der Rezeption. Damit bietet sie die Möglichkeit, die Aufführung insgesamt als ein System zu verstehen, das alle Interaktionsprozes-
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se der Improvisateure und der Zuschauer als Teil desselben Systems konzipiert, das im Verlauf der Aufführung verschiedene Systemzustände durchläuft. Die Ergebnisse dieses Kapitels unterstreichen die schon ausgeführte Relevanz des Emergenzbegriffs für die Analyse von improvisatorischen Prozessen. Er kann als eine Art Schlüsselbegriff gelten. Man kann so weit gehen, zu sagen, dass gelungene Improvisation sich von nicht-gelungener Improvisation durch das Auftreten von Emergenz unterscheidet wie Friederike Lampert dies für den Bereich des improvisierten Tanzes tut: „Das Gelingen einer improvisierten Choreographie würde ich mit dem Wahrnehmen von besonderer Gegenwärtigkeit emergenter Bewegungsabläufe im Kontext einer stimmigen Gesamt-Perspektive definieren. Und das Misslingen ließe sich entsprechend durch einen Mangel von Emergenz erklären.“ (Lampert in BORMANN, BRANDSTETTER & MATZKE 2010, S. 208-209)
In der Terminologie von Luhmann kann Emergenz daher als Code des Systems Improvisationstheater gelten. Emergenz wird damit das zentrale Kriterium für Improvisation. Das Konzept ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn eine Verknüpfung mit den bestehenden Emergenztheorien vorgenommen wird (SAWYER 2003). Der Begriff muss anhand der emergentistischen Systemtheorien neu fundiert werden und an deren Paradigma anschließen. Dann kann er zu einem zentralen Kriterium zur Untersuchung der improvisatorischen Prozesse werden. 5.1 Ein emergentistisches Modell der Improvisation Eine wissenschaftliche Betrachtung des Phänomens Improvisation, so die hier vertretene These, muss einem emergentistischen Modell folgen, wenn es Improvisation überhaupt die Fähigkeit zur Erzeugung von Neuem zuspricht. Der Emergentismus sucht einen Mittelweg zwischen den philosophischen Positionen des Mechanismus und des Vitalismus (STEPHAN 1999). Er bejaht einerseits das Auftreten von genuin Neuem innerhalb der Evolution (Improvisation) und grenzt sich damit vom Mechanismus ab. Gleichzeitig betrachtet er die Annahme von übernatürlichen Kräften als nicht notwendig und grenzt sich damit vom Vitalismus ab. Das Auftreten von Neuem wird im Emergentismus systemtheoretisch verstanden: Die neue Anordnung von Elementen des Systems oder die neuartige Interaktion der Elemente untereinander ist demnach in der Lage, systemische Eigenschaften hervorzubringen, also Eigenschaften, die von keinem der Elemente einzeln oder in einem anderen System gezeigt werden. Das Neue entsteht daher auf den komplexeren – oder höheren – Ebenen eines Systems und ist nicht auf die niedrigeren Ebenen reduzierbar. Auf das Improvisationstheater übertragen bedeutet dies, dass die jeweils in einer
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Aufführung hervorgebrachten Phänomene durchaus genuin neu sein können. Sie können über das von den einzelnen Elementen – etwa den Schauspielern – Eingebrachte hinausgehen. Selbst wenn diese also nur Verhaltenspatterns reproduzieren, ist es also möglich, dass die spezifische Anordnung und Interaktion der Elemente zu komplett neuen Phänomenen führt. Emergentistische Systemtheorien basieren auf dem Paradigma, dass es nicht möglich ist, die Eigenschaften eines Systems vollständig auf die Eigenschaften seiner Elemente zurückzuführen (SAWYER 2003, S. 56-57). Anders formuliert: Wenn das Ganze mehr ist als die Summe der Einzelteile, dann muss dieses ‚mehr‘ emergent sein; es ist aus der Interaktion der Systemelemente hervorgegangen und verschwindet wieder, wenn die Elemente aus dem Ganzen herausgelöst werden. Der Emergentismus ist eng mit der Theoriebildung der Evolution verknüpft und dient dort zur Klärung der Frage, ob und wie im evolutionären Prozess Neues entstehen kann. Der Emergenzbegriff wurde 1875 von dem britischen Philosophen George Henry Lewes eingeführt, um damit Eigenschaften einer Entität zu bezeichnen, die weder additiv aus den einzelnen Teilen herzuleiten noch vorhersagbar waren (Urs Stäheli in HORN& GISI 2009, S. 88). Die Leitmetaphern für diese frühen Theorien der Emergenz kamen aus der Chemie und Biologie. Im 20. Jahrhundert wurde der Emergenzbegriff zu einem zentralen Begriff der Systemtheorie. Emergentistische Positionen wurden in der Massenpsychologie benutzt, um die Unvorhersagbarkeit von Menschenmassen zu erklären (Urs Stäheli in HORN & GISI 2009). In der Nachfolge dieser ersten emergentistischen sozialwissenschaftlichen Modelle wurden ab den 1950er Jahren in der Soziologie und Anthropologie Modelle eingeführt, welche die Emergenz in sozialen Systemen untersuchten. Sawyer liefert in seinem Buch „Social emergence: Societies as complex systems“(SAWYER 2005, S. 47-56) eine ausführliche Zusammenfassung der bisherigen Modelle der sozialen Emergenz. Im Mittelpunkt steht dabei immer ein sogenanntes Mikro-Makro-Link, womit die Koppelung verschiedener Systemebenen gemeint ist, beispielsweise die von Individuum und sozialem System. Von den Strukturalisten wurden zwischen 1950 und 1960 vor allem die Top-Down Wirkungen untersucht, die Einflussnahme kollektiver Zeichensysteme auf die Wahrnehmung und das Verhalten des Individuums. Unter Einfluss des sozialkonstruktivistischen Forschungsparadigmas wurden ab den 60- Jahren zunehmend auch Bottomup-Prozesse untersucht, insbesondere die Herstellung von sozialer Realität in Sprechakten wie etwa der Alltagskommunikation. Emergenz findet sich hier beispielsweise im intersubjektiven Aushandeln von Gesprächsrahmen (SAWYER 2003). Grundlage aller emergentistischen Systemtheorien ist die Hierarchisierung von Systemebenen. Nur unter einer solchen Differenzierung kann man von höheren und tieferen Systemebenen sprechen und deren Interaktionen untersuchen. Nicht immer ist diese Unterscheidung so klar wie etwa bei der Massensoziologie, wo die Eigen-
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schaften der Elemente (Eigenschaften der Individuen) von den Systemeigenschaften (Eigenschaften der Menschenmenge) unterschieden werden. Erst eine Unterscheidung von Systemebenen macht jedoch einen emergentistischen Ansatz möglich. Zwischen diesen können dann unterschiedliche Kausalitäten angenommen werden, die man in Bottom-up- und Top-down-Kausalitäten unterteilen kann, wobei ein fortlaufender Diskurs darüber geführt wird, welche von beiden Kausalitäten in sozialen Systemen vorherrscht (SAWYER 2005, S. 27-45). Als logische Folgerung muss auch bei der Untersuchung des Improvisationstheaters nach solchen Hierarchieebenen gesucht werden. Innerhalb dieser Arbeit wurde eine entsprechende emergentistische Position bereits beim Thema Spontanität erarbeitet (Kapitel II 3.3), um die vorgefundenen Spontanitätskonzepte zu verallgemeinern. Es wurden dabei zwei Systemebenen unterschieden, diejenige des mikroskopischen Verhaltens, in der viele Freiheitsgrade herrschen, und diejenige des makroskopischen Verhaltens, auf der Ordnungsparameter emergiert sind. Es wurden die Bedingungen thematisiert, unter denen aus mikroskopischem Chaos selbstorganisierend makroskopische Ordnung entstehen kann. Die Hierarchisierung der Systemebenen wurde damit anders gesetzt als bei Sawyer, der ja bei makroskopischem Verhalten (Dialogen) erst ansetzt. Eine Integration ist jedoch möglich und logisch, indem man drei Systemebenen annimmt: Erstens eine Ebene spontaner, mikroskopischer Fluktuationen, zweitens eine Ebene von makroskopischem Verhalten, das durch soziale Interaktion die dritte Ebene des emergierenden Interaktionsrahmens hervorbringt. Abschließend wird daher vorgeschlagen, die emergentistische Position von Sawyer (2003) um eine dritte Systemebene zu erweitern, nämlich diejenige der spontanen Fluktuationen.
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Abb. 27: Drei Systemebenen beim Improvisationstheater
(Quelle: Eigene Darstellung)
Die Ebene der spontanen Fluktuationen wäre damit weiterhin mikroskopisch und fände weitgehend im Individuum statt in Form von Assoziationsströmen und körperlichen Impulsen, die permanent spontan ablaufen. Unter bestimmten Bedingungen gewinnen diese spontanen Fluktuationen Einfluss auf das makroskopische Verhalten (Bottom-up-Prozess B1), das soziale Verhalten zwischen den Individuen. Auf dieser Ebene bilden sich Interaktionsketten, die wiederum zu emergenter Ordnungsbildung und damit zu sozialer Emergenz führen (Bottom-up-Prozess B2). Der Interaktionsrahmen hat wiederum Einfluss auf die Ebene der sozialen Interaktion (Top-Down- Prozess T1) – wie von Sawyer anhand der improvisierten Dialoge gezeigt hat – und dieser ermöglicht oder verhindert wiederum, dass spontane Fluktuationen Einfluss gewinnen (Top-Down- Prozess T2). In einem solchen Modell ist damit auch die Möglichkeit des Regelbruchs und der Zerstörung der kollaborativ erzeugten fiktionalen Realität enthalten, indem spontane Fluktuationen als permanenter Unruheherd chaotisierend wirken und die Ordnungsbildung auf den beiden höher liegenden Ebenen stören können.
Gesamtfazit und Ausblick
Die vorliegende Arbeit hatte sich zum Ziel gesetzt, die einzelnen, zum Teil bruchstückhaften und unverbundenen Ansätze einer Theoretisierung des Improvisationstheaters daraufhin zu untersuchen, ob sich daraus eine Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters herleiten lässt. Die erste Frage dieser Untersuchung lautete: 1: Sind die bisherigen Beiträge zur Theoriebildung des Improvisationstheaters zu einer Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters zusammenzuführen oder sind sie zu heterogen, um eine solche Theorie der Aufführung zu rechtfertigen? Dazu wurde der derzeitige Stand der Theoriebildung dargestellt und auf Gemeinsamkeiten hin untersucht. Ein wichtiger Schritt war dabei die Rekonstruktion eines weitgehend allgemein akzeptierten Regelwerks des Improvisationstheaters und es wurde festgestellt, dass auf einem ‚Grasswurzellevel‘, nämlich auf der Ebene des Anschlusses von improvisierten Beiträgen, eine weltweit anerkannte gemeinsame Basis besteht, die in den zwei vorherrschenden Improvisationsschulen lediglich zum Teil unterschiedlich benannt werden. Auf einem höheren Level werden die Übereinstimmungen erwartungsgemäß geringer, es bleiben aber gemeinsame Werte, die zum Teil ästhetischer, zum Teil moralischer Natur sind: die Fehleraffinität, die Ästhetik des Imperfekten und die Dramaturgie der Augenblicke als ästhetischer Konsens, und die moralische Indifferenz als moralischer Konsens. Weiterhin existieren gemeinsame oder zumindest ähnliche Konzepte der Spontanität, die leider wenig differenziert sind und deshalb in dieser Arbeit herausgearbeitet und miteinander verglichen wurden. Die Frage nach den schöpferischen Prinzipien der Improvisation zeigt deutliche Unterschiede zwischen den Improvisationsschulen: Während die britisch-kanadische Tradition ein individuelles Unbewuss-
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tes am Werk sieht, setzt die US-amerikanische Tradition stärker auf kollaborative Kreativität, am deutlichsten wohl im Konzept der Group Mind von Del Close. Bewertet man die hier durchgeführte Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der theoretischen Ansätze, so kann man sagen, dass die Gemeinsamkeiten überwiegen, was auch durch das Bestehen einer vitalen internationalen Improvisationstheater-Community bestätigt wird, die offenbar nicht auf unüberwindbare Schwierigkeiten in der Verständigung und im Zusammenspiel stößt. Es erscheint daher gerechtfertigt, eine gemeinsame Theorie der Aufführung zu formulieren. Darauf aufbauend wurde die zweite Frage gestellt: 2 (a): Lässt sich eine entsprechende Theorie der Aufführung beim Improvisationstheater unter Verwendung des performativen Ansatzes formulieren? Hierzu wurde die Theorie der Performativität mit ihren vier von Fischer-Lichte beschriebenen Aspekten Leibliche Ko-Präsenz, Materialität, Semiotizität und Ereignishaftigkeit auf das Improvisationstheater angewendet. Die Ko-Präsenz wird beim Improvisationstheater grundsätzlich anders organisiert als beim inszenierenden Theater, das Verhalten des Publikums wird weniger über Reduktionsregeln als über Animationsregeln gesteuert, was eine Enthemmung und Mitwirkung des Zuschauer mit sich bringt. Es wurde analysiert wie und an welchen Stellen der Aufführung die Zuschauer zu Mitspielern des Theaterspiels bzw. wo sie zu Beobachtern des Spiels werden. Die Untersuchung der Materialität rückte insbesondere das Ideal der bare stage in den Mittelpunkt, das flankiert wird durch Konzepte der Neutralität in Bühnenkleidung und der Verwendung von Requisiten. Das Improvisationstheater verfolgt eine Minimierung von illusionistischen Elementen mit dem Ziel, die aktive Imaginationsleistung der Beteiligten nicht zu stören. Die Räumlichkeit des Improvisationstheaters wird weiterhin bestimmt durch Figuren, die hier als Zwischenfiguren bezeichnet wurden, weil sie zwischen dem Zuschauerraum und der Bühne vermitteln, insbesondere der Spielleiter oder Moderator. Analoges förderte die Untersuchung der Semiotizität zu Tage: Die Zeichenverwendung zielt auf eine maximale Mobilität der Zeichen. Diese werden äußerst variabel verwendet, meist gleichzeitig auf mehreren semiotischen Ebenen. Die Ebene des Spiels tritt als semiotische Ebene immer wieder in den Vordergrund, was am Beispiel des Dreifachzeichens Schauspieler/Spieler/Figur dargestellt wurde. Es werden perzeptive Multistabilitäten erzeugt, bei denen der Spieler immer gleichwertig neben der Figur sichtbar bleibt. Die Spieler sind es gewohnt, gleichzeitig auf verschiedenen semiotischen Ebenen zu agieren; es existieren entsprechende Kommunikationsstrategien. Durch die improvisierende Produktion werden semiotische Lücken erzeugt, die
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vom Zuschauer aktiv geschlossen werden müssen. Das Improvisationstheater verzichtet nicht auf Figur, Geschichte und Handlungslogik, spielt jedoch mit ihnen. Die Ereignishaftigkeit des Improvisationstheaters besteht konsequent in seinem Spielcharakter, der immerzu zelebriert wird. Hier wurde die These herausgearbeitet, dass andere mögliche Interpretationen wie Improvisationstheater als Begegnung, als Sportereignis oder als Fest an Erklärungskraft hinter der des Spiels zurückbleiben. Während die Games die Einzelimprovisationen hervorbringen, trägt auch die gesamte Aufführung Züge eines Spiels, das teils unter Einbezug der Zuschauer gespielt wird. Weiterhin wurde die These aufgestellt, dass es sich um ein Konstruktionsspiel handelt, bei dem die Mechanismen der sozialen Erzeugung von Realität lustvoll simuliert und spielerisch gestört werden. Hier ergibt sich ein starker Bezug zu systemtheoretischen Entwürfen, die ebenfalls auf einem sozialkonstruktivistischen Paradigma basieren. Alles in allem liefert die Deutung der improvisierenden Aufführung als Spiel mit den Prozessen der Konstruktion von sozialer Realität eine Basis für eine einheitliche Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters, in die sich leibliche Ko-Präsenz, Materialität und Semiotizität dieser Theaterform widerspruchslos einfügen. Die improvisierende Aufführung erzeugt eine doppelte Rahmung: Die Prozesse der Konstruktion treten neben die eigentliche Fiktion als gleichwertiger oder sogar primärer Wahrnehmungsgegenstand. Auch die zweite Frage, ob nämlich die Theorie der Performativität eine Theorie der Aufführung beim Improvisationstheater ermöglicht, kann damit bejaht werden. Als wichtiger Unterpunkt wurde gefragt: 2 (b): Welche Rückschlüsse ergeben sich dabei für die Theorie der Performativität? Neben einer generellen Bestätigung der Anwendbarkeit der Theorie der Performativität auf eine rein prozesshafte Theaterform wie das Improvisationstheater treten in der Untersuchung besonders diejenigen performativen Konzepte in den Vordergrund, die es ermöglichen die Interaktion zwischen Bühne und Publikum zu modellieren. Das ist insbesondere beim Konzept der autopoietischen feedback-Schleife von Fischer-Lichte der Fall. Es wurde in der vorliegenden Arbeit kritisch hinterfragt und zu einem Modell ausgearbeitet, das geeignet erscheint, den zirkulären Austauschprozess zwischen Produktionssphäre und Rezeptionssphäre in Einzelschritte zu zerlegen und zu untersuchen. Zu einem zentralen Begriff wird dabei derjenige der Emergenz, der ebenfalls von Fischer-Lichte eingeführt wurde und eine Verbindung zum systemtheoretischen Ansatz herstellt. Auch er wurde kritisch hinterfragt. Der Transfer des Begriffes aus den Systemtheorien in den performativen Ansatz kann noch nicht als geglückt bezeichnet werden, dazu wird er in einem viel zu wei-
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ten Sinn verwendet. An dieser Stelle verweist die Untersuchung also auf einen weiteren Klärungsbedarf innerhalb des performativ en Ansatzes. Dies führt zur letzten gestellten Frage, nämlich: 3: Ist eine Heranziehung der Systemtheorie nützlich zur Darstellung einer Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters? Diese Frage wurde eher unter einem heuristischen Gesichtspunkt gestellt, da sie den Rahmen der Arbeit sonst sprengen würde. Verschiedene Systemtheorien wurden auf ihre Anwendbarkeit und ihren Erklärungswert bezüglich des Improvisationstheaters untersucht. Als wichtiges Konzept stellte sich dabei dasjenige der Emergenz heraus, das in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden kann, wenn man modellieren will, wie innerhalb des improvisatorischen Prozesses Neues generiert wird. Emergenz kann als zentrales Kriterium der Qualität von Improvisation generell gewertet werden. Besondere Relevanz haben daher die systemtheoretischen Emergenztheorien von Luhmann und von Sawyer. Die Systemtheorie von Luhmann erweist sich dabei als kompatibel mit der oben skizzierten Auffassung, die improvisierte Aufführung sei ein Spiel mit sozialkonstruktivistischen Prozessen. Insbesondere kann sie das Problem des Anschlusses, das gleichzeitig ein zentrales Problem der Improvisation ist, ausgezeichnet abbilden und erklären. In diesem Kontext wurde eine grafische Darstellung der Improvisation auf ‚Graswurzellevel‘, nämlich als Angebot und Akzeptieren, möglich, die für Detailanalysen der Improvisation gut geeignet erscheint. Noch breiter angelegt ist die Emergenztheorie von Sawyer, die zudem den Vorteil hat, bereits methodisch untermauert zu sein. Sie bietet ein Modell für die Entstehung von Emergenz im improvisatorischen Prozess und stellt mit der Bezugnahme auf Goffman einen sinnvollen Brückenschlag zur Kommunikations- und Sozialwissenschaft dar. Die von Sawyer erarbeitete theoretische und methodische Grundlage bietet noch Raum für zahllose wissenschaftliche Projekte zum Thema Improvisation. Schließlich wurde die systemtheoretische Spieltheorie herangezogen. Die Analyse der Entscheidungssituationen innerhalb der Improvisation wird kompliziert durch deren Unvorhersagbarkeit, die rationale Entscheidungsstrategien unmöglich macht. Eine Modellierung als Multi-Agent-System erscheint dagegen prinzipiell möglich und kann einige Regeln des Improvisationstheaters erklären. Es wurde eine Unterscheidung des Improvisationsprozesses in zwei Phasen vorgeschlagen: das Game-Building und das Game-Breaking. Zuletzt wurde die Synergetik herangezogen, die den Vorteil hat, Zuschauer und Akteure als ein gemeinsames System zu begreifen. Es wird dadurch möglich, ein Phasenmodell des Improvisationstheaters zu entwerfen, das emergente Ordnungsbildungen anhand der Freiheitsgrade im System charakterisiert. Das synergetische
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Modell erreicht zwar schnell einen Abstraktionsgrad, der nur noch schwer anhand der Aufführung zu verifizieren ist, integriert aber dafür viele der im Vorigen herausgearbeiteten Merkmale des Improvisationsprozesses. Die Systemtheorien sind also insbesondere dann für das Improvisationstheater relevant, wenn sie das Phänomen der Emergenz in den Mittelpunkt stellen und damit die Frage, wie durch die Interaktion von Elementen auf einer höheren Systemebene Ordnungsbildungen angeregt werden können. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit entwickelte Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters als Spiel mit den sozialen Konstruktionsprozessen von Wirklichkeit, stellen die Emergenztheorien eine entscheidende Brücke dar. Sie können beschreiben und erklären, wie in improvisatorischen Prozessen eine Bühnenwirklichkeit ‚von selbst‘ erscheint, also nicht das Ergebnis von planerischem Denken auf höherer Ebene, sondern von Interaktion auf niedriger Ebene des Systems sind. Improvisationstheater wäre demnach ein Spiel mit den emergenten Prozessen der sozialen Wirklichkeitskonstruktion.
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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