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German Pages 300 Year 2018
Sebastian Engelmann, Robert Pfützner (Hg.) Sozialismus & Pädagogik
Pädagogik
Sebastian Engelmann, Robert Pfützner (Hg.)
Sozialismus & Pädagogik Verhältnisbestimmungen und Entwürfe
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3973-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3973-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7
E INLEITUNG Sozialismus + Pädagogik = Sozialistische Pädagogik? Geländevermessungen in einem Trümmerfeld
Sebastian Engelmann & Robert Pfützner | 15 Die objektive Ungleichzeitigkeit und das nicht eingelöste Erbe sozialistischer Pädagogik
Michael May | 45
HISTORISCHE UND SYSTEMATISCHE P ERSPEKTIVEN Beiträge des Syndikalismus zum Verhältnis von Sozialismus und Pädagogik
Stephan Geuenich | 71 Sozialismus der Bildung Paul Natrops Pädagogik als Grundlegung
Robert Schneider | 89 Zum Verhältnis von Kritik und Pädagogik bei Siegfried Bernfeld
Petula Neuhaus | 107 Architektur – Pädagogik – Sozialismus Über Hannes Meyer und den Versuch einer Ideologiekritik pädagogischer Architekturen
Clemens Bach | 127
Die ›Große Pädagogik‹ Brecht, Benjamin, Lacis
Marianne Streisand | 147 Sozialistische Hochschulpolitik im Mosambik der 1980er Jahre Das Beispiel einer Fakultät für ehemalige Kämpfer*innen und Arbeiter*innen
Alexandra Piepiorka | 173 Marxistische Pädagogik Ein historisch-systematischer Abriss
Daniel Burghardt & Thomas Höhne | 197 Sozialismus, Pädagogik und Funktionalität. Oder: Gehört es zum Wesen sozialistischer Pädagogik, funktional zu sein?
Henning Schluß | 217
KOMMENTARE Vom Vergessen Ein Kommentar aus Perspektive feministischer Theorie
Ricarda Biemüller & Jeannette Windheuser | 237 »back to the future« Anmerkungen zu den Un_Möglichkeiten sozialistischer Bildung
María do Mar Castro Varela & Janek Niggemann | 257 Kritische Pädagogik und politische Bildung im linken Mosaik
Marcus Hawel & Stefan Kalmring | 275 Zur Gestaltbarkeit des Spannungsfeldes von ethischen Prinzipien und konkreter Praxis Ein Kommentar aus der Perspektive Sozialer Arbeit
Kathrin Witek | 287 Autor*innen | 295
Vorwort S EBASTIAN E NGELMANN & R OBERT P FÜTZNER
Dieses Buch ist das Resultat zweier Experimente. Zweier Experimente, deren Ausgang ungewiss war, doch die nun – vorläufig – zu einem ertragreichen Ergebnis gekommen sind: Im Wintersemester 2015/16 dachten wir darüber nach, ob und wie wir unsere bis dahin nur in kleinen Kreisen besprochenen Ideen, Fragen und Thesen zur sozialistischen Pädagogik; zum Verhältnis von Sozialismus und Pädagogik in öffentlicher Form diskutieren könnten. Wir entschlossen uns, gemeinsam mit unserem Kollegen Clemens Bach, für den Herbst 2016 zu einer Tagung an der Friedrich-SchillerUniversität Jena einzuladen, um diese Ideen, Fragen und Thesen zu diskutieren. Der call for papers war ein ›Testballon‹. Zu unserer großen Überraschung und Freude reagierte eine große Zahl an Wissenschaftler*innen auf unseren Aufruf. Zahlreiche Vorschläge für Beiträge in Form von Vorträgen und Postern wurden uns zugesandt. Es folgten zwei spannende und intensive Tage im September 2016, auf denen gemeinsam systematische, bildungshistorische und theoriegeschichtliche Perspektiven auf das Verhältnis von Sozialismus und Pädagogik diskutiert wurden. Relativ schnell einigten wir uns darauf, die Ergebnisse der Tagung in einem Tagungsband zum einen einem weiteren Personenkreis zugänglich zu machen, zum anderen aber auch durch die Dokumentation der Debatten ihre Fortführung zu ermöglichen. Wir waren uns schnell einig darüber, dass wir aber nicht einfach nur die Ergebnisse der Tagung zusammenfassen und publizieren wollten. Denn der Band soll auch eine Schwachstelle der Tagung korrigieren: Feministische und postkoloniale Perspektiven waren auf ihr genau so wenig vertreten, wie die bildungspolitische und sozialpädago-
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gische Praxis. Daher luden wir sieben weitere Kolleg*innen ein, diese fehlenden Perspektiven in Form kritischer Kommentare zu den Texten dieses Bandes beizusteuern. So hoffen wir die Auslassungen, Verzerrungen und problematischen Aspekte zu markieren. Wir vertrauen darauf, dass auf diese Weise die Möglichkeiten eines aktuellen und kritischen, erziehungswissenschaftlichen und politischen Diskurses um sozialistische Pädagogik und das Spannungsfeld von Sozialismus und Pädagogik ausgelotet werden können. Der nun vorliegende Band ist unseres Wissens nach der erste seit vielen Jahren, der sich aus unterschiedlichen Fragerichtungen und in kritischer Absicht explizit mit dem Verhältnis von Pädagogik und Sozialismus in historischer wie aktueller Perspektive befasst. Ziel des Bandes ist es, einen Beitrag zur Revitalisierung der Diskussion in diesem Forschungsfeld zu leisten, das nicht nur seit langem brachliegt, sondern auch und gerade in den aktuellen politisch-gesellschaftlichen Transformationen wichtige Erkenntnisse zum Zusammenhang von Pädagogischem, Politischem, Sozialem und Ethischem liefern kann. Die einzelnen Beiträge des Bandes sollen hier kurz skizziert werden, um die Struktur des Buches zu verdeutlichen. Der Band selbst ist gegliedert in drei Abteilungen. Die Einleitung besteht aus zwei Texten. Neben der Skizze der Herausgeber, Sozialismus + Pädagogik = Sozialistische Pädagogik? Geländevermessungen in einem Trümmerfeld, – auf die die Texte der weiteren Abteilungen Bezug nehmen – wird die Einleitung von Michael May mit Inhalt gefüllt. In seinem Beitrag Die objektive Ungleichzeitigkeit und das nicht eingelöste Erbe sozialistischer Pädagogik entwirft May eine anschlussfähige Skizze, um sozialistische Pädagogik heute erneut aufzugreifen und weiter zu denken. Die dialogische Ausgestaltung des pädagogischen Verhältnisses und die Betonung von Grenzakten sind es, die er als zentrale Aspekte herausarbeitet. Der Hauptteil des Bandes befasst sich aus historischen und systematische Perspektiven mit konkreten Fallstudien oder Theorieproblemen und fasst die Themen der Tagung zusammen. Stephan Geuenich diskutiert in seinem Text Beiträge des Syndikalismus zum Verhältnis von Sozialismus und Pädagogik in Auseinandersetzung mit syndikalistischen Positionen das Verhältnis von Freiheit und Pädagogik und stellt Überlegungen an, wie diese Spannung im Rahmen sozialistischer Pädagogik bearbeitet werden kann. Robert Schneider beschäftigt sich in Sozialismus der Bildung. Paul
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Natorps Pädagogik als Grundlage mit dem Denken des Pädagogen Paul Natorp. Er weist aus, dass das Denken Natorps als eine der maßgeblichen Grundlagen der sozialistischen Pädagogik – gerade in der Diskussion um den Begriff der Gemeinschaft – zu verstehen sein kann. Petula Neuhaus widmet sich in ihrem Text Zum Verhältnis von Kritik und Pädagogik bei Siegfried Bernfeld einem der wohl bekanntesten sozialistischen Pädagogen und stellt sowohl das Denken Bernfelds als auch nötige Kritik an seinem Werk vor – nicht zuletzt denkt sie die Schriften Bernfelds weiter und betont, dass es gerade die Kritik sei, die eine sozialistische Pädagogik ausmache. An eine solch kritische Perspektive schließt der Beitrag von Clemens Bach an. Bach situiert in Architektur – Pädagogik – Sozialismus. Über Hannes Meyer und den Versuch einer Ideologiekritik pädagogischer Architekturen die Überlegungen des sozialistischen Architekten Meyer in einem breiteren ideengeschichtlichen Kontext und deutet dessen architektonische Schriften im Kontext von Erziehungstheorie und Ästhetik. Marianne Streisand widmet sich mit Die Große Pädagogik – Brecht, Benjamin, Lacis aus theaterpädagogischer Sicht den persönlichen und theoretischen Verbindungen von Bertolt Brecht, Walter Benjamin und Asja Lacis. Hierbei arbeitet sie sowohl grundlegende emanzipatorische Motive bei Brecht als auch interessante Querverbindungen zur reformpädagogischen Diskussion der Zeit und den Wurzeln der Theaterpädagogik in der revolutionären russischen Avantgarde heraus. Aus bildungshistorischer Sicht wendet sich Alexandra Piepiorka in ihrem Beitrag Sozialistische Hochschulpolitik im Mosambik der 1980er Jahre dem Transfer sozialistischer Konzepte zu. Durch die Auswertung einer Fülle an Archivmaterialien und Interviews gelingt es ihr, ein eindrucksvolles und differenziertes Bild der Arbeit an einer Fakultät für ehemalige Kämpfer*innen und Arbeiter*innen in Mosambik zu zeichnen. Einen anderen Fokus hat der Beitrag von Daniel Burghardt und Thomas Höhne. In Marxistische Pädagogik. Ein historisch-systematischer Abriss führen sie aus bildungstheoretischer Perspektive in die verschiedensten Denkbewegungen der marxistischen Pädagogik ein und binden sie zeitdiagnostisch an aktuelle Entwicklungen zurück. Am Beispiel der Arbeiten des in der DDR wichtigen Pädagogen Robert Alt entfaltete Henning Schluss in seinem Beitrag Sozialismus, Pädagogik und Funktionalität. Oder: Gehört es zum Wesen sozialistischer Pädagogik funktional zu sein? eine tiefgreifende Kritik des Verhältnisses von Sozialismus, Pädagogik und Funktionalität. Nicht
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zuletzt ist sein Beitrag als grundlegende Kritik an der Idee einer sozialistsichen Pädagogik angelegt und leitet damit zum dritten Teil des Buches über. Dieser wird von Ricarda Biemüllers und Jeannette Windheusers Text Vom Vergessen. Ein Kommentar aus Perspektive feministischer Theorie eröffnet, der auf Probleme und Defizite des von uns in der Einleitung vorgeschlagenen Forschungsprogramms aus feministischer Perspektive hinweist. Bereits hier wird deutlich, dass die im Band abgebildete Diskussion lange nicht abgeschlossen sein kann. María do Mar Castro Varela und Janek Niggemann diskutieren in »back to the future«
Anmerkungen zu den Un_Möglichkeiten sozialistischer Bildung ausführlich und begründet kritisch die einführende Skizze und weisen auf die eurozentrische Perspektive hin. Die beiden Beiträge eint, dass sie sich kritisch-engagiert mit der Gesamtheit der Beiträge im Band auseinandersetzen und so eine erweiterte Perspektive ermöglichen. Ebenfalls eine Erweiterung des Themenspektrums des Bandes nehmen Marcus Hawel und Stefan Kalmring in Kritische Pädagogik und politische Bildung im linken Mosaik vor. Ausgehend von ihren eigenen Arbeiten weisen sie auf die Notwendigkeit emanzipatorischer Bildungsprozesse und die Potenziale und Grenzen sozialistischer Pädagogik hin. Auch der abschließende Beitrag von Kathrin Witek mit dem Titel Zur Gestaltbarkeit des Spannungsfeldes von ethischen Prinzipien und konkreter Praxis weist zahlreiche Anschlussmöglichkeiten, aber auch blinde Flecken aus und schließt die im Band erarbeiteten theoretischen Perspektiven an die Diskussion in der Sozialen Arbeit an. Dieses Buch hätte ohne die Mitarbeit und Unterstützung zahlreicher Menschen nicht realisiert werden können. An erster Stelle gilt unser Dank natürlich den Autor*innen der Beiträge dieses Bandes: Eure Forschungsarbeit und die aus ihr resultierenden, engagierten Texte, sowie die – auch das ist nicht selbstverständlich – pünktliche Abgabe und kooperative Überarbeitung der Texte haben diesen Band ermöglicht und uns die Freude der Herausgabe verschafft. Für uns war diese Zusammenarbeit mit einem umfangreichen Lernprozess verbunden, für den wir uns bei allen Autor*innen an dieser Stelle herzlich bedanken wollen. Ein besonderer Dank gilt darüber hinaus den Kommentator*innen: Ihr habt alle Texte gelesen, und vor allem unseren Text einer intensiven Kritik unterzogen und damit dafür ge-
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sorgt, dass der Charakter dieses Bandes als Diskussionsanregung sehr deutlich wurde. Die Graduierten Akademie der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat für unsere Tagung Sozialismus & Pädagogik. Annäherungen, Distanzierungen, Verhältnisbestimmungen im September 2016 die finanziellen und räumlichen Möglichkeiten geschaffen. Für die aufmerksame Unterstützung möchten wir der Geschäftsführerin der Akademie, Hanna Kauhaus, vielmals danken! Für die organisatorische Unterstützung bei der Tagung in Jena danken wir Anna Hofmann. Zudem danken wir für die gründliche Lektüre des Manuskripts Stephanie Ulmer und Linnéa Hoffmann in Tübingen. Nicht zuletzt gilt unser Dank Gero Wierichs und dem transcript-Verlag für die freundliche Aufnahme unseres Bandes in das Verlagsprogramm und die reibungslose Kommunikation zur Fertigstellung des Buches. Potsdam & Tübingen im Februar 2018
Einleitung
Sozialismus + Pädagogik = Sozialistische Pädagogik? Geländevermessungen in einem Trümmerfeld S EBASTIAN E NGELMANN & R OBERT P FÜTZNER
1. E INLEITUNG In den letzten Jahren ernteten wir oft verwirrte Blicke, wenn wir auf Tagungen oder im Gespräch mit Kolleg*innen für die Notwendigkeit einer neuen Diskussion über sozialistische Pädagogik plädierten. Sozialismus scheint als theoretischer Bezugspunkt erziehungswissenschaftlicher Diskussion verbrannte Erde zu sein. Das ist auch nicht erstaunlich, haftet dem Wort doch eine merkwürdige Patina aus staatssozialistisch-bürokratischer Langeweile, längst entzauberter Revolutionsromantik und den Schrecken des stalinistischen Terrorapparats an. Ausgehend von den empirischen Ausprägungen der als sozialistisch bezeichneten Erziehungstatsachen mag diese Ablehnung berechtigt sein: Die historische Erfahrung macht es schwierig, unvoreingenommen über sozialistische Pädagogik zu sprechen. Wir glauben aber, dass die Begrenzung des pädagogischen Blicks auf die Zurichtungspraxis, die unter dem Deckmantel von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im real existierenden Sozialismus waltete, nicht die einzige Möglichkeit ist, über Verknüpfungen von Pädagogik und Sozialismus zu diskutieren. Methodisch wäre ein solches Vorgehen eine arge und unsaubere Perspektivverkürzung. Sich lediglich auf eine, dann auch noch historische, empirische Realität zu beziehen, in der man ein objektives Bild zu erkennen
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glaubt, reproduziert eher herrschende Vorurteilsstrukturen, als wissenschaftliches Verstehen zu ermöglichen. Die Singular-Bezeichnung sozialistische Pädagogik impliziert nämlich, mit der Bezeichnung das Phänomen vollumfänglich abbilden zu können. Dass ein solcher Zugriff selbst voraussetzungsvoll ist, ist eigentlich eine Trivialität und dennoch immer wieder, gerade gegen dominante geschichtspolitische Praxen, in Erinnerung zu rufen. Die Voraussetzungen unseres Sprechens und Schreibens über Sozialismus, Pädagogik und sozialistische Pädagogik sollen auf den folgenden Seiten ausgelegt werden. Damit wollen wir unser oft unausgesprochenes und latentes Vor-Verständnis sowohl für uns selbst als auch für die Autor*innen und Leser*innen dieses Bandes transparent machen. Zumindest wollen wir damit beginnen. Ironischerweise werden sozialistische Motive in der aktuellen Pädagogik intensiv diskutiert; oft ohne, dass den Akteur*innen die Verwandtschaft ihrer Motive mit sozialistischem Denken klar zu sein scheint. Doch Inklusion, Bildungsgerechtigkeit, interkulturelle Öffnung oder Bildung für Nachhaltige Entwicklung sind Programme, die – wenngleich auch funktional für eine Pädagogik im Kapitalismus – zumindest in Teilen eine erstaunliche Nähe zu sozialistischen Konzepten haben. Wir verfolgen mit diesem Beitrag drei Ziele: Erstens das Aufzeigen unterschiedlicher historischer Erfahrungen und zweitens das Anknüpfen an aktuelle pädagogische und sozialwissenschaftliche Debatten. Dies soll aus einer systematischen, grundlagentheoretischen Perspektive mit der Frage nach dem wechselseitigen Bezug von Ideen des Sozialismus und Konzepten von Pädagogik geschehen. Es geht uns dabei um alles andere als eine unkritische Rehabilitierung sozialistischen Denkens. Die Verbrechen, die unter Berufung auf den Namen von Sozialismus und Kommunismus begangen wurden, sind nicht zu relativieren. Die Verwicklung von Pädagogik in diese Verbrechen wird daher auch zu thematisieren sein, auch wenn das nur ein Anfang sein kann. Denn die kritische Analyse und Aufarbeitung der Verbrechen, die auch im Namen einer sich sozialistisch nennenden Erziehungspraxis begangen wurden, steckt immer noch in den Kinderschuhen. Unserem Anspruch nach kann dieses Unternehmen nur dann sinnvoll begonnen werden, wenn wir, drittens, unsere Position in diesem Prozess thematisieren. Dies meint nicht nur die notwendigen, oben genannten, methodischen Klärungen, sondern die Reflexion unserer eigenen politischsozialen Situiertheit, aus der heraus wir diese Diskussion führen.
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Dazu gehört auch, die Frage zu stellen, warum wir überhaupt über das Verhältnis von Sozialismus und Pädagogik debattieren wollen. Wir halten es schlichtweg für notwendig. Notwendig nicht im Sinne eines ›reinen‹ Forschungs(verwertungs)interesses, das Desiderate bearbeiten, neue Erkenntnisse generieren bzw. Mehrwert im akademischen-kapitalistischen Statuswettstreit erschließen will. Notwendig erscheint uns diese Auseinandersetzung aus pragmatischen Gründen: Es geht uns um eine Selbstvergewisserung über unsere Position in den Feldern der akademischen und praktischen Pädagogik, um Orientierung: Welchen Standpunkt wollen wir beziehen? Wie können wir bestimmte Positionen begründen? Welche Perspektiven machen für uns Sinn, um erziehungswissenschaftlich zu forschen, zu lehren und pädagogisch zu arbeiten? Dass sich dieser Prozess am Gegenstand sozialistischer Pädagogik manifestiert, ist kein Zufall. Wir sind Zeugen und Akteure einer Epoche, in der die Gewissheiten eines fortschrittsoptimistischen, eurozentrischen und – zumindest in den kapitalistischen Zentren – sozial befriedeten Zeitabschnitts erodiert sind. Die multiplen globalen Krisen, die normativen Verunsicherungen der Postmoderne, die Rückkehr der sozialen Frage in das öffentliche Bewusstsein und die Herausforderungen des Klimawandels machen die Suche nach Alternativen zum business as usual dringend notwendig. Der Theatermacher Milo Rau bringt es zynisch auf den Punkt, wenn er schreibt: »Jeder weiß, dass unsere Zivilisation in absehbarer Zeit untergehen wird, wenn wir nicht eine substantielle Alternative zur heutigen Weltordnung finden; jeder weiß, dass ein Großteil der Weltbevölkerung dank Globalisierung und Freihandel in absoluter Armut lebt; alle haben längst begriffen, dass eine oberflächlich faire und damit schlicht und einfach noch umfassendere Entfesselung des Kapitals bloß das Tempo beschleunigt, mit dem es zu Ende geht – und trotzdem machen wir weiter, Kritik natürlich inklusive [Herv. i. O.].« (Rau 2013: 66)
Es drängt sich das Bedürfnis auf, Partei zu ergreifen. Doch mit wem? Und: Wofür? Und dann: Wie? Trotz vieler Schwierigkeiten, die uns in der Theorie und Geschichte des Sozialismus begegnen, scheint er uns doch als große Gegenerzählung zum Kapitalismus ein Ort zu sein, an dem wir nach Anknüpfungspunkten suchen können. Immerhin kämpfen unter dieser Losung
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seit mehr als 200 Jahren1 Menschen für eine andere, eine bessere Welt. Uns scheint es dabei ein sinnvoller Weg, diese Geschichte aus einer »kritischsolidarischen Haltung gegenüber vergangenen Kämpfen« (AutorInnenkollektiv Loukanikos 2013: 9) heraus zu betrachten. Dies meint, dass wir einen normativen und politischen Standpunkt einnehmen werden, wenn wir diesen Text schreiben. Besser: Wir entwickeln und entwerfen einen Vorschlag eines solchen Standpunktes, um ihn zur Diskussion zu stellen. Dieser Band geht aus der Tagung Sozialismus und Pädagogik. Annäherungen, Distanzierungen, Verhältnisbestimmungen hervor, die wir gemeinsam mit unserem Kollegen Clemens Bach im September 2016 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena veranstaltet haben. Die Vorträge und Diskussionen auf dieser Tagung haben uns den Eindruck vermittelt, dass nicht nur uns die eben umrissenen Fragen umtreiben, sondern sie von einem allgemeineren Interesse sind. Daher wollen wir die Diskussionen aufnehmen und weiterführen, das Verhältnis zwischen Pädagogik und Sozialismus neu diskutieren, um innovative und undogmatische Ansätze eines Denkens über Pädagogik zu entwickeln. Dazu werden wir auf den nächsten Seiten einige Gedanken formulieren, auf die sich die Autor*innen der weiteren Beiträge im Rahmen ihrer jeweiligen thematischen Perspektive kritisch-produktiv beziehen werden (oder sie schlicht ablehnen). Unser Anspruch an ein zeitgemäßes wissenschaftliches Arbeiten schließt einen reflexiven Umgang mit der eigenen Position und der eigenen Produktionstätigkeit in Wissenschaft und Gesellschaft ein. Denn auch wenn wir einen kritischen Standpunkt einnehmen, so sind wir uns auch den damit verbundenen Problemen bewusst: »Eine selbstkritische Reflexion der Kritik muss […] nicht nur ihre integrativen Effekte und ihre unvermeidliche Verstrickung in Subjektivierungspraktiken aufzeigen, sondern auch nachspüren, was für Subjektivitäten über die Formulierung von Kritik hervorgerufen werden, welche Subjekte sich eine solche Kritik überhaupt ›leisten‹ können, wessen Kritik hierbei Gehör findet – und wessen Kritik ungehört beleibt.« (Herrmann 2016: 153).
Daher gilt es, nicht nur unseren eigenen begrenzten und überdeterminierten Standort transparent zu machen, sondern auch die Texte des Bandes selbst-
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Zur Begriffsgeschichte vgl. immer noch Grünberg 1912.
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und fremdreflexiv einzuholen, indem sie selbst zum Thema der kritischen Betrachtung werden. Aus dieser Überlegung heraus haben wir weitere Autor*innen eingeladen, die Texte aus je spezifischer politischer, fachlicher oder berufspraktischer Perspektive einer kritischen Lektüre zu unterziehen. Freilich ist uns und den anderen Beiträger*innen des Bandes damit einiges zugemutet, denn wir und sie können zu diesen Kommentaren selbst innerhalb des Bandes keine Position (mehr) beziehen. Das ist aber auch gar nicht nötig – denn so wird vielleicht der Raum für weitere Diskussionen geöffnet. Den Aufschlag dazu wollen wir auf den folgenden Seiten versuchen. Wir wollen an der – um in der oben gebrauchten Metapher zu bleiben – Patina, die die Worte Sozialismus und sozialistische Pädagogik umgibt, kratzen und schauen, was wir darunter finden. Die Frage, warum sich diese Patina überhaupt in dieser Form bilden konnte, wäre eine weitere wichtige Frage, die disziplinhistorisch in Angriff genommen werden müsste. Dieser Frage kann hier aber nicht nachgegangen werden, dazu wären umfangreiche Studien nötig. Es ist also im Folgenden zu diskutieren, was die Begriffe Sozialismus und Pädagogik für uns bedeuten können, sowie zu fragen, was sozialistische Pädagogik als Kompositum beider Begriffe sein kann. Unser Text wird einen thesenhaften und fragmentarischen Charakter aufweisen. Dies ist aber nicht einer etwaigen List geschuldet, die Diskussionen anregen soll, sondern spiegelt den Stand unserer Auseinandersetzung wider: Wir als Autoren dieses Textes haben weder eine einheitliche Position zu allen Fragen, die wir hier diskutieren werden, noch hat jeder Einzelne von uns ein abgeschlossenes Bild vom Feld. In diesem Sinne ist das Folgende work-in-progress.
2. S OZIALISMUS Eine dominante, gar verbindliche wissenschaftliche oder politische Idee des Sozialismus gibt es nicht. Dennoch wird mit Sozialismus im deutschsprachigen Kontext überwiegend der real existierende Sozialismus der DDR assoziiert, um ihn dann auch schnell als abzulehnendes Negativbeispiel abzutun; obwohl es doch lohnen würde, ihn zum Ausgangspunkt einer kritischen Analyse des Verhältnisses zwischen Konzepten und Praxen des Sozialismus zu machen. Als große Erzählung und als »gesamtgesellschaft-
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liches Gestaltungskonzept« (Meyer 2008: 7) scheint der Sozialismus in den Augen seiner Kritiker*innen keine Chance mehr zu haben. Um über Sozialismus wieder diskutieren zu können ist intensive Rekonstruktionsarbeit nötig. Doch wo beginnen? Es gibt dutzende Sozialismusdefinitionen oder Versuche sein Wesen zu bestimmen. So kann Sozialismus nach Georg Fülberth eine Gesellschaftsordnung meinen, eine soziale Bewegung und ihre Theorie oder ein Organisationsprinzip, welches auch in kapitalistischen Gesellschaften bestehen kann. Gemeinsames dieser unterschiedlichen Formen sei ein gewisser normativer Anspruch. Für Fülberth besteht dieser in der Ausrichtung an der »Gleichheit auf der Basis der Verfügung aller Gesellschaftsmitglieder über die Produktionsmittel« (Fülberth 2010: 12) und dem Bestreben nach der »Überwindung eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem der Warentausch und die Ware-Geld-Beziehung, das die gesamte Gesellschaft dominierende Verhältnis ist« (ebd.: 12f.). An den Definitionsversuchen Fülberths wird etwas deutlich, was für viele Sozialismusbegriffe charakteristisch ist: Die Ausrichtung an der marxschen Analyse oder wenigstens einem marxistischen Vokabular. Für Fülberth und viele andere Autor*innen ist so auch die zentrale normative Leitformel sozialistischen Denkens eine Formulierung, die von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 im Manifest der Kommunistischen Partei artikuliert wurde. Es gelte, eine Gesellschaft, eine Assoziation zu schaffen, in der »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (Marx/Engels [1848] 1960: 682). Aus dieser Formulierung geht auch eine zeitliche Dimension des Sozialismusbegriffs hervor: Es geht darum, etwas zu erschaffen, das noch nicht ist. Daher wird Sozialismus im Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland auch konsequent der »Kategorie der zukunftsorientierte[n] Bewegungsbegriffe« (Schieder 1984: 923) zugeordnet. 2 Dabei ist diese Orientierung an der Zukunft und der künftigen Veränderung der Gesellschaft zwar ein vielleicht konstitutives aber nicht unproblematisches Merkmal sozialistischen Denkens. Hat es doch oft genug dazu geführt, unorthodoxes, nicht auf Parteilinie liegendes gegenwärtiges Handeln zugunsten einer vermeintlich vorherbestimmten Zukunft zu unterbinden.
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Auch wenn es durchaus Sozialismuskonzepte gab und gibt, die sich eher an in der Vergangenheit verorteten Idealzuständen orientieren, die (wieder) zu realisieren seien.
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Wenn es unser Ziel wäre, hier einen Sozialismusbegriff vorzulegen, könnten wir uns auf die fülberthsche Definition stützen oder uns auf Zukunft bezogene Vorstellungen besserer Gesellschaften ansehen. Doch kommen mit beiden Perspektiven nur bestimmte Sozialismen in den Blick: Konzepte, die sich nicht auf einen marxschen Denkkosmos oder auf Künftiges beziehen, fielen durch das Raster. Und: Es kann hier nicht darum gehen, einen enzyklopädischen Artikel vorzulegen. Wir wollen den Fokus auf einige uns bekannte und für aktuelle Diskussionen relevant erscheinende Konzepte legen – und hoffen, dass diese Skizze von den Beiträgen in diesem Band ergänzt, widerlegt und weiterentwickelt wird. 2.1 Sozialismen Woran soll der Blick haften bleiben, wenn wir in die Geschichte schauen, und uns nach Sozialismus umsehen wollen? Wir können es hier nicht Kautsky nachtun, der in seiner Arbeit zu den Vorläufern des neueren Sozialismus (1909; 1913) bei Platon und dem urchristlichen Kommunismus beginnt, die historischen Spuren sozialistischen Denkens und Handelns zu rekonstruieren. Woran aber der Blick in vielleicht sozialistisch zu nennende Konzepte der vorindustriellen Zeit zu erinnern vermag, ist die Verbindung von Religiosität und Sozialismus, wie sie beispielsweise bei den Wiedertäufern in Erscheinung trat. Bei ihnen findet sich eine der sozialistischen Grundideen – die Gemeinschaft der Güter – religiös begründet. Das Motiv der Nachfolge Christi aufgreifend, vertraten die Täufer das Ideal, dass die Kirche als Bruderschaft zu verstehen sei. Zudem traten sie für Gewaltlosigkeit ein, befanden sich aber stets im ambivalenten Spannungsverhältnis von Friedfertigkeit und Militanz (vgl. u.a. Bloch 1960). Eine Konfliktdimension, die für viele spätere Sozialismuskonzepte relevant sein sollte. Die Grundfiguren der Gütergemeinschaft, der weltweiten Brüderlichkeit (heute besser: Solidarität) mögen für uns relevant sein, doch ist fraglich, inwiefern eine Idee des Sozialismus im 21. Jahrhundert mit theologischen Argumenten begründet werden sollte. Zwar spielten religiöse Vorstellungen bei der Genese auch modernen sozialistischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle – wie auch heute noch das Verhältnis von Religion und Sozialismus nicht außer Acht zu lassen ist (vgl. mit Bezug zum Christentum: Kahl/Rehmann 1994) –, doch müsste eine aktuelle Version sozialistischen Denkens eine Konfiguration aufweisen, die eben nicht an eine be-
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stimmte Religion geknüpft ist, gleichwohl aber erlaubt, dass sich religiöse Diskurse, genauso wie agnostische und atheistische auf sie beziehen. Noch ein anderes Problemfeld zeigt sich hier, nämlich die Frage danach, ob es eine Idee von Sozialismus auch schon vor oder außerhalb kapitalistischer Gesellschaften geben kann oder ob Sozialismus nicht vielmehr notwendig eine Gegenfigur zum Kapitalismus ist, die erst möglich wird, nachdem eine kapitalistische Geschichte durchgangen wurde, mithin der Kapitalismus im Sozialismus aufzuheben ist, wie dies in marxistischen Sozialismuskonzepten des 20. Jahrhunderts vertreten wurde. Ob von Sozialismus gesprochen werden kann, solange es noch keinen Kapitalismus gab, mithin Sozialismus und Kapitalismus komplementäre Begriffe seien, ist also umstritten. Doch taucht das Wort Sozialismus tatsächlich erst im Umfeld der Industrialisierung auf und erlangt im Laufe des 19. Jahrhunderts rasch Popularität. Diese ist unabdingbar mit der sich herausbildenden Arbeiter*innenbewegung und deren sozialistischer Fraktion verbunden. Hier erfüllte der Begriff des Sozialismus eine sowohl ideologische als auch lebensweltliche Orientierungsfunktion. Doch scheint es uns nicht möglich, unbefangen an den damaligen Sprachgebrauch von einem ›wissenschaftlichen Sozialismus‹ anzuknüpfen, wie das etwa im Anschluss an Friedrich Engels von zahlreichen Marxist*innen getan wurde. Dennoch sollte diese Formulierung nicht achtlos entsorgt werden, denn sie verweist auf einen Zusammenhang, der mitgedacht werden muss, wenn ein substantieller Begriff von Sozialismus entworfen werden soll. Dieser Zusammenhang ist der von Analyse und Utopie. Die Kritik Marx’ und Engels’ an ihren frühsozialistischen Vorläufern war nicht ganz unberechtigt, da diese sich in Wolkenschieberei und utopischen Entwürfen gegenseitig übertrafen, die Analyse der realen gesellschaftlichen Verhältnisse jedoch vernachlässigten. Dass dabei die phantastischen Wolkenkuckucksheime etwa eines Charles Fourier durchaus eine kritische Komponente hatten, und dass auch diese Entwürfe nicht ohne eine zum Teil gar nicht so unfundierte Gesellschaftskritik auskommen konnten, tut der Leistung Marx’ keinen Abbruch, ein gesellschaftsanalytisches Instrumentarium vorgeschlagen zu haben, welches das Wünschbare gewissermaßen an das Bestehende zurückbindet und nach den Bedingungen seiner Verwirklichung fragt. Ohne hier entscheiden zu müssen, ob man einer marxschen Gesellschaftsanalyse auch heute noch folgen muss, ist der Punkt, den wir verdeutlichen wollen, dass es ein sozialistisches Denken nur
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im Spannungsverhältnis von – wissenschaftlicher – Gesellschaftsanalyse und – (vielleicht) utopisch inspirierten, ethisch begründeten – Zukunftsentwürfen geben kann. Analyse ohne Entwurf bleibt für Praxis irrelevante Scholastik. Zukunftsentwürfe ohne Analyse ihrer Bedingungen sind zwar vielleicht unterhaltsame Literatur, aber ermöglichen keine reale Transformationsperspektiven. Das zentrale Problem jeder Transformationsperspektive aber ist die Frage nach den Akteur*innen dieser Transformation. Ganz richtig schreibt der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth in seinem 2015 erschienenen Essay Die Idee des Sozialismus (Honneth 2015), dass den Sozialist*innen das revolutionäre Subjekt abhanden gekommen sei. Die quasiheilsgeschichtliche Funktion, die dem Proletariat zugeschrieben wurde, ist mehr als fraglich geworden. Der französische Soziologe Didier Eribon bringt es auf den Punkt, wenn er darauf hinweist, dass die ehemaligen Mitglieder der »Arbeiterklasse« heutzutage gerne auch die extreme Rechte wählen würden; »ihr spontanes Wissen hat keine stabile Bindung« (Eribon 2017: 142). Soziale Stellung innerhalb einer Gesellschaft führe noch lange nicht zur Ausbildung von etwas, was man als Klasseninteresse beschreiben könnte. Auch die wachsenden proletarischen und bäuerlichen Revolten quer über den Globus scheinen sich nicht zu einer Revolution zu verdichten, die das Ende des Kapitalismus und damit automatisch den Sozialismus zeitigt. Die gewaltsamen Kämpfe des 21. Jahrhunderts sind weniger ein Schritt in Richtung des Sozialismus, als ein verzweifelter Kampf, der durch das Kapital unterdrückten Menschen; ob sie zu Befreiung führen, bleibt offen. Die logische Notwendigkeit des Übertritts zum Sozialismus durch evolutionäre Entwicklung scheint als Möglichkeit nicht mehr in Betracht zu kommen. Auch eine Partei- oder Personendiktatur, wie sie sich in der Deutschen Demokratischen Republik vorfand oder wie sie in Stalins Sowjetunion präsent wurde, kann nicht im Sinne des hier vorzustellenden Verständnisses von Sozialismus sein. Zu berücksichtigen sind die Ideen, die Arnold Künzli unter dem Slogan »Partizipation und evolutionäre Revolution« entwickelte: »Partizipation meint also keineswegs einen Dritten Weg zwischen traditionellem Liberalismus und Marxismus, sondern transzendiert diese im Sinne einer Aufhebung, in der sich ein postkapitalistischer Liberalismus, eine postbourgeoise Demokratie und ein postmarxistischer Sozialismus treffen können« (Künzli [1975] 2011: 70). Dieser Gedanke kann an dieser Stelle nicht weiter ausge-
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führt werden, könnte aber im Hinblick auf politische Orientierungen helfen, begriffliche Instrumente und Zusammenhänge zur Verfügung zu stellen, Sozialismus neu zu denken. Vielleicht läge dafür auch der Begriff eines ›ethischen Sozialismus‹ im Anschluss an Leonard Nelson oder Martin Buber nah? Unter ethischem Sozialismus wird eine kurzzeitig sehr präsente Form des Links-Kantianismus verstanden: »Auf theoretischer Ebene kann der ethische Sozialismus als die umfassendste und anspruchsvollste Alternative zum Marxismus betrachtet werden, da er mit dem Anspruch auftritt, eine Gesamtbegründung des Sozialismus zu bieten.« (Meyer 2008: 59) Diese hatte – besonders in Form der Philosophie Nelsons – maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der SPD in Deutschland (vgl. Meyer 1994: 301). Die Vertreter*innen des ethischen Sozialismus sahen in Immanuel Kant den eigentlichen Ideengeber für einen pragmatischen Sozialismus im Anschluss an den Revisionismus Eduard Bernsteins. Die Prinzipien der Autonomie und der Gleichheit wurden im ethischen Sozialismus zu den leitenden Prinzipien erhoben; die Ordnung der Verhältnisse wurde zunehmend in die gerechte Einrichtung der institutionellen Ordnung verlagert. Hier sind zahlreiche Akteure zu nennen, die sich sowohl als Pädagog*innen als auch als Politiker*innen betätigten. Nelson oder auch Buber waren Persönlichkeiten, die sich sowohl in der politischen Praxis als auch in der eigenständigen Entwicklung pädagogischer Theorie betätigten. Pädagogisch realisierte sich der ethische Sozialismus beispielsweise in Nelsons Version des sokratischen Gesprächs (vgl. Nelson 1922) oder in Bubers pädagogischen Überlegungen zum dialogischen Prinzip (vgl. Buber 1995). Die Diskussionslinien im Anschluss an den ethischen Sozialismus sind in jedem Fall einen weiteren Blick wert (vgl. zum Einstieg Holzhey 1994). Martin Bubers Ideen können auch im Zusammenhang mit der Kibbuzbewegung gelesen werden (vgl. Lilker 1982: 236f.) – einer weiteren Ausprägung sozialistischer Pädagogik, die basisdemokratische Entscheidungsfindung und Gemeinschaftserziehung thematisiert und auch problematisiert. Im Kibbuz wurde die radikale Änderung der Gesellschaft nicht nur proklamiert, sondern praktiziert (vgl. Liegle 1977). Die scheinbare Auflösung traditioneller Familienstrukturen – ein Motiv, welches auch in zahlreichen anderen sozialistischen Konzepten auftaucht – wurde im Kibbuz auf spezifische Art realisiert. Dies sorgte für Aufsehen und war Teil einer Diskussion um die Relevanz ebensolcher Familienstrukturen (vgl. Bettelheim 1973).
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Auf diesem Gebiet besteht aber noch erheblicher Forschungsbedarf; dies gilt für theoretische wie für empirische Arbeiten. Eine gewisse Nähe besteht zwischen diesen ethisch orientierten Sozialist*innen und dem ›anarchistischen Sozialismus‹, der jenseits des terroristischen Habitus, der dem Begriff Anarchismus fälschlicherweise anhaftet, durchaus pazifistisch-reformatorische Sozialismusvorstellungen vertrat. In Souchys Erfahrungen aus erlebten Revolutionen des 20. Jahrhunderts findet sich ein Schlüsselsatz, der jedem Konzept von Sozialismus ins Stammbuch geschrieben werden müsste, und der an die Forderung Künzlis erinnert, Sozialismus und Liberalismus ineinander aufzuheben: »Freiheit ohne Sozialismus führt zur Ausbeutung, Sozialismus ohne Freiheit zur Unterdrückung.« (Souchy [1981] 2010 : 34) Einen Satz vorher findet sich ein weiterer Hinweis, auf den wir zurückkommen müssen, wenn wir über sozialistische Pädagogik diskutieren, nämlich die These, dass der »[s]icherste[.] Garant der Freiheit Aller das Selbstbewußtsein jedes Einzelnen [ist]« (ebd.). In der Hymne der internationalen Arbeiterbewegung hieß es ja auch, dass nur die Arbeiter*innen selbst ihre Befreiung vornehmen können. Während die leninistischen Kaderparteien diesen Anspruch abgewiesen haben, und die Befreiung nicht durch, sondern lediglich für die Arbeiter*innen durchgeführt sehen wollten, gab es historisch mannigfache Versuche der Selbstbefreiung. Spanien und vielleicht Jugoslawien sind dafür die wohl bekanntesten Beispiele. Während das spanische Experiment vom stalinistischen Terror in den eigenen Reihen und von den Franco-Faschisten und ihren deutschen Verbündeten blutig beendet wurde, erodierte der jugoslawische Selbstverwaltungssozialismus von innen heraus, um dann in einem ebenfalls blutigen Krieg abgewickelt zu werden. Aktuell finden sich immer wieder Versuche, die Produktion selbst in die Hand zu nehmen. Die Liste selbstverwalteter Betriebe, Krankenhäuser oder Bildungseinrichtungen allein in Griechenland, Spanien oder Italien beeindruckt. Die Auseinandersetzung mit diesen heterotopen Sozialismen steht auch in der Öffentlichkeit abseits der akademischen Diskussion auf der Tagesordnung. Sozialismus wurde bis hierhin als europäisches Phänomen beschrieben. Wir reproduzieren eurozentrische Geschichtsschreibung. Sozialismus ist aber immer auch ein globales Phänomen gewesen und ist es noch. Zumindest gab und gibt es weltweit Menschen und Projekte, die sich als sozialis-
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tisch verstehen. Unter dem Slogan Sozialismus des 21. Jahrhunderts wurde der Versuch einer sozialistischen Transformation in Venezuela unternommen. In Bolivien entfalten sich neue und alte Formen postkolonialer, vielleicht sozialistischer Gemeinschaftlichkeit. Überhaupt blickt Lateinamerika auf eine lange Geschichte sozialistischer Projekte zurück, immer wieder auch von außen zerschlagener, über die es eine umfangreiche Literatur gibt. Uns fehlt das Fachwissen, an dieser Stelle zentrale Inhalte und Probleme lateinamerikanischer Sozialismen darzustellen. Ebenso unzureichend bekannt sind uns die Programme, Praktiken und Akteure sozialistischer Politiken in Asien, Nordamerika und Australien (einführend aus ökonomischer Perspektive Becker/Weissenbacher 2009). Dieser Text hat, wie wohl der ganze Band, eine eurozentrische Schlagseite. Das Argument, Sozialismus sei selbst in Europa marginalisiert, was allein schon dazu legitimiere, über ihn zu schreiben, ist schwach, wenn damit dennoch ein Diskurs reproduziert wird, der andere schweigen lässt. Wir haben also künftig von andern zu lernen, eine antirassistische, postkoloniale oder dekolonisierende Sozialismus-Diskussion zu führen (mit Nawal el Saadawi [1980] wäre auch noch eine feministische Perspektive hinzuzufügen). Wir haben sie noch nicht. Daher publizieren wir auch diesen Text, wissend um seine Komplizenschaft mit herrschenden Ausgrenzungssystemen. Einen etwas ausführlicheren Blick können wir auf die afrikanischen Diskussionen um Sozialismus werfen, in die uns die von Franziska Dübgen und Stefan Skrupien herausgegebene Anthologie Afrikanische politische Philosophie (2015) eingeführt hat. Sozialismus wurde und wird dabei von etlichen der führenden Vertreter*innen als etwas gesehen, das in den afrikanischen Kulturen verankert sei. So definiert Tom Mboya »Afrikanischen Sozialismus« als »jene erprobten Verhaltensnormen der afrikanischen Gesellschaft, die den Menschen in Kenia über Generationen Würde und Sicherheit verliehen haben, ungeachtet ihrer sozialen Position. Ich beziehe mich dabei auf eine allgemein geübte soziale Verantwortung, die unsere Gesellschaft charakterisiert, und auf die afrikanische Mentalität und die weltanschaulichen Konzepte, die den Menschen nicht als soziales Mittel, sondern als Ziel und gesellschaftliche Ganzheit fassen.« (Mboya 1964: 80, in: Becker/Weissenbacher 2009: 178)
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Ähnlich liest sich Julius Nyerere: »Wir in Afrika haben ebenso wenig Bedarf daran, zum Sozialismus ›bekehrt‹ zu werden, wie über Demokratie ›belehrt‹ zu werden. Beide haben ihre Wurzeln in unserer eigenen Vergangenheit – in der traditionellen Gesellschaft, aus der wir hervorgegangen sind.« (Nyerere in: Táíwò 2015: 108)
Nyerere sieht, als eine der Zentralfiguren des Afrikanischen Sozialismus, die Grundlage dessen in der Idee der Großfamilie, der ›Ujaama‹. Er schlägt ein Modell vor, das der Idee des Proletariats als Grundlage des Sozialismus krass entgegensteht. Nicht Klassenkampf um die Durchsetzung von Interessen ist für ihn der Modus sozialistischen Handelns, sondern Kooperation und Gegenseitigkeit. Entsprechend sei es im Sozialismus »die sozialistische Geisteshaltung – und nicht das starre Festhalten an einem bestimmten politischen Schema –, die sicherstellt, dass man sich im Volk um das gegenseitige Wohlergehen bemüht.« (Nyerere 1979 in: Táíwò 2015: 107) Der Begriff des ›Afrikanischen Sozialismus‹ selbst ist jedoch hochgradig umstritten. Er wird beispielsweise von Obáfémi Awólówò mit dem Argument abgelehnt, dass der Sozialismus ein »sozio-ökonomisches [sic!] Ideal [ist], dessen einziges Ziel die soziale Gerechtigkeit« (Awólówò nach: Táíwò 2015: 110) sei. Kulturelle Variablen hätten darauf keinen Einfluss. Dieses abstrakte – sozioökonomische – Prinzip von Sozialismus, also die Auflösung der normativen Dimension in eine Gerechtigkeitskonzeption, verkennt die Mannigfaltigkeit der mit Sozialismus verbundenen Vorstellungen jedoch. So hat beispielsweise die Vorstellung von einem sozialisierten und in Gemeinschaft eingebundenen Menschen als Voraussetzung und Zieldimension sozialistischen Denkens weit umfassendere Implikationen als nur die der ökonomischen Gerechtigkeit. Dies wird deutlich, wenn man eine Anthropologie zugrunde legt, deren Voraussetzung es ist, »nicht länger ein soziales Atom, ein freies und isoliertes Individuum in einer einsamen Masse zu sein, das an der entmenschlichenden Disziplinierung oder der Selbstverleugnung kapitalistischer Entwicklung festhält« (Boulaga [2010] 2015: 123). Vor allem das ›Ubuntu‹-Konzept findet in der aktuellen postkolonialen Philosophie Aufmerksamkeit. Ubuntu wird unter anderem auf das Nguni-Sprichtwort »umuntu ngumuntu ngabantu« zurückgeführt, dass sich mit »Ein Mensch ist ein Mensch durch andere Menschen« übersetzen lässt (Dübgen/Skupien 2015: 42). An dieser Idee könnten nicht zuletzt aktuelle,
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nicht ökonomisch-reduktionistische Perspektiven auf ein Konzept von Sozialismus anknüpfen. In einem kleinen Aufsatz von Oskar Negt findet sich der Begriff »ästhetischer Sozialist« (Negt 2012: 65), den er anhand der Biographie und der Ideen von William Morris entwickelt und der auf einen blinden Fleck etlicher sozialistischer Theorie hinweist. Deshalb soll hier zumindest kurz Negts Charakterisierung des ›ästhetischen Sozialismus‹ zitiert werden: In ihm sei »der Begriff der schönen Form ein entscheidender Aspekt für Emanzipation […], für die Selbsterziehung des Menschen, aber auch für die Gestaltung der Dinge. Für diese ästhetischen Sozialisten ist die normbildende Kraft der Arbeit nicht die Durchschnittslohnarbeit, sondern das, was man Handwerk, Kunst, künstlerische Produktion nennen kann […].« (Negt 2012: 65)
Negt meint ein solches Denken sei in der Geschichte des Sozialismus zugunsten ›harter‹ Wissenschaften, vor allem der politischen Ökonomie, marginalisiert, und somit eine wichtige Komponente menschlicher Lebensführung aus sozialistischem Denken verdrängt wurden. Er hat recht damit. Sozialistische Ästhetik wird von Freund*innen und Feind*innen entweder ignoriert oder – nicht völlig zurecht, aber doch nicht unberechtigt – mit grauen Wohnblöcken oder stalinschem Monumentalismus assoziiert. Doch wird es andere Formen geben, die in Erinnerung zu rufen sind. Nicht zuletzt muss Ästhetisches für künftiges sozialistisches Denken eine Rolle spielen. Inspirationen finden sich sowohl bei den frühen, utopischen Sozialist*innen, Verteter*innen der Kritischen Theorie aus dem 20. Jahrhundert und sicher auch in aktuellen künstlerischen Auseinandersetzungen. Nicht zuletzt war es Oscar Wilde, der dieses Element in seinem Essay über den Sozialismus ebenfalls betonte (vgl. Wilde 1997). 2.2 Systematischer Versuch Nach unserem fragmentarischen Streifzug durch die Geschichte sozialistischen Denkens wollen wir eine Verschiebung der Perspektive vornehmen. Es soll um die Frage gehen, was man systematisch, begrifflich unter Sozialismus verstehen kann. Denn die eben genannten Beispiele repräsentieren etwas, das man eher einen common sense nennen könnte. Gerade deshalb
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wäre zu fragen, was an diesen Konzepten sozialistisch sein kann, was also Ideen von Sozialismus ausmachen. Der bereits erwähnte Axel Honneth unternahm 2015 den Versuch, die Idee des Sozialismus zu aktualisieren, und sie von ihren vermeintlichen historischen Schlacken zu befreien. Soziale Freiheit, so Honneth, sei der eigentliche Kerngedanke des Sozialismus. Gelöst von der Vorstellung einer emanzipierenden, revolutionären Praxis des Proletariats meint soziale Freiheit etwas vollkommen Anderes, als das, was marxistische Sozialist*innen im Klassenkampf zu erringen versuchten. Für Honneth »heißt soziale Freiheit, an der sozialen Praxis einer Gemeinschaft teilzunehmen, in der die Mitglieder sich untereinander so viel Anteilnahme entgegenbringen, daß sie sich um des jeweils anderen willen wechselseitig zur Verwirklichung ihrer begründeten Bedürfnisse verhelfen« (Honneth 2015: 47). Auch wenn hier Honneths Theorie der Anerkennung nicht nur durchschimmert, wird auch eine gewisse Nähe zu dem, was wir oben als ethischen Sozialismus beschrieben haben, deutlich. Vollkommen gegenläufig zur vulgarisierten Form des wissenschaftlichen Sozialismus und dessen teleologischen Verständnis von Geschichte, in der das Proletariat zwingend zum revolutionären Subjekt werden muss, plädiert Honneth für einen experimentellen Umgang mit Geschichte (und trifft sich hier, ohne sich aber explizit darauf zu beziehen, mit Künzlis [1975] 2011) Plädoyer für einen nachmarxistischen Sozialismus). Nicht die Revolution, sondern ein stetiges Arbeiten an der Realisierung sozialer Freiheit sei das Ziel des Sozialismus (vgl. Honneth 2015: 74). Dies äußere sich auch im Abbau von Kommunikationsbarrieren und der Ermöglichung des Kontakts vorher voneinander getrennter Gruppen (vgl. ebd.: 97). Sozialismus wird so weniger zu einer Gesellschaftsoder einer Wirtschaftstheorie, sondern zum Ausdruck einer Tatsache: »Statt dessen muß der Sozialismus als die spezifisch moderne Artikulation der Tatsache betrachtet werden, daß im historischen Prozeß stets neue, je nach gesellschaftlichen Umständen variierende Gruppen Anstrengungen unternehmen, den eigenen, bislang unberücksichtigten Ansprüchen öffentlich dadurch Gehör zu verschaffen, daß sie Kommunikationsbarrieren niederzureißen und dementsprechend die Spielräume sozialer Freiheit zu erweitern versuchen.« (Honneth 2015: 104)
Honneth begreift folglich jegliches Bestreben nach einer Änderung der Verhältnisse mit dem Ziel der Verwirklichung der tragenden Begriffe der
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Freiheit, Gleichheit und Solidarität im Prozess der institutionellen Veränderung als Sozialismus. Gerade sein Plädoyer für die Beachtung politischer und institutioneller Arrangements erscheint uns wichtig, jedoch verkürzt Honneth die Idee des Sozialismus unserer Meinung nach. Er begreift Sozialismus lediglich als eine sich im historisch-experimentellen Prozess erweiternde, institutionell abgesicherte kommunikative Anerkennungspraxis. Hierbei werden relevante Dimensionen des Sozialismus ausgeblendet. Wir schlagen vor, Sozialismus nicht ausschließlich – wie Honneth dies tut – auf die Formel von der sozialen Freiheit zu reduzieren. Die bürgerlichrevolutionäre Trias von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit sollte beibehalten werden. Allerdings gilt es, diese näher zu bestimmen bzw. zu modifizieren; und zwar als soziale Freiheit, queere Gleichheit und transversale Solidarität. So bleibt die für uns relevante Dimension der sozialen Freiheit erhalten, wird aber von der Last erlöst, alle Aspekte des Sozialismus abbilden zu müssen. Zugleich werden durch die Nutzung der Zugänge über queere Gleichheit und transversale Solidarität Facetten betont, die im Begriff der sozialen Freiheit nur unzureichend abgebildet werden. Uns ist bewusst, dass wir hiermit ein präskriptives Konzept entwerfen, das erst einmal wie ein willkürlicher Normenkatalog wirken mag. Im Hintergrund stehen freilich bestimmte Prinzipien einer pädagogischen Ethik, die diese Schlagseite provozieren. a) Soziale Freiheit Die Idee der sozialen Freiheit wie sie von Axel Honneth ins Gedächtnis gerufen wurde, ist eine der hier betonten Facetten, die essentiell für ein umfangreiches Verständnis von sozialistischer Pädagogik sind. Im weitesten Sinne begreifen wir soziale Freiheit mit Honneth als »Entgrenzung der Kommunikation[,] [mit der, SE/RP] auch die Fähigkeit der betreffenden Gemeinschaft [wächst, SE/RP], möglichst viele der brachliegenden Potentiale wahrzunehmen, die sich für eine produktive Lösung der hervorgetretenen Schwierigkeiten eignen würde« (Honneth 2015: 100). Der Weg zur sozialen Freiheit ist dann notwendig an Erziehung und Bildung gekoppelt; nur im Verhältnis dieser beiden Operationen zueinander können Potenziale erkannt und in verändernder Praxis realisiert werden und das unter Berücksichtigung einer Überwindung kommunikativer Barrieren. Daher wird soziale Freiheit spezifischer verstanden als Realisierung von Lebensformen, in denen eine Vielfalt an Bedürfnissen artikuliert, wahrgenommen und auch
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befriedigt werden können (vgl. Honneth 2015: 131). Soziale Freiheit realisiert sich nicht in der Revolution und auch nicht im Aufbegehren einzelner Individuen. Stattdessen sind es die »objektiv gewordene Verbesserungen, nicht kollektive Bewegungen, sondern institutionelle Errungenschaften [, die] als soziale Träger der normativen Ansprüche gelten, die der Sozialismus innerhalb der modernen Gesellschaft anzumelden versucht; in den Durchbrüchen, die darin zu gesellschaftlicher Wirklichkeit gelangt sind, muß er die Umrisse eines Fortschrittsprozesses entdecken können, der belegt, daß die eigenen Visionen auch in der Zukunft realisierbar bleiben.« (Honneth 2015: 117)
Die Idee von sozialer Freiheit verweist darauf, dass es eine rein individualistische Freiheit nicht geben kann, eine Einsicht, die selbst der sonst eher als Kronzeuge des Liberalismus dienende John Stuart Mill in seiner fragmentarisch gebliebenen Studie Über Sozialismus (2016) vertreten hat. Sie verweist weiter auf die Bedeutung institutioneller Reformen, für die einzutreten ist, um Marginalisierung und Ausgrenzung abzubauen. Nicht diskutiert werden kann mit diesem Instrumentarium aber die Einverleibung emanzipatorischer Ansprüche in ein staatliches und kapitalistisches Herrschaftssystem, und damit die Befriedung und Neutralisierung solcher Ansprüche. Problematisch wird der Text Honneths aber auch, und hier sind wir als Autoren dieses Artikels unterschiedlicher Meinung, wenn er nahelegt, auf eine Revolutionsperspektive verzichten zu können, und die Hoffnung auf Besseres ausschließlich in die Reform bestehender Institutionen legt. Man kann dies als Konservatismus auffassen, der den herrschaftlichen Charakter der Institutionen idealisiert – ihre Eigendynamik (an den ›Marsch durch die Institutionen‹ der 68er*innen muss nicht erinnert werden), welche diejenigen, die sie verändern wollen ganz schnell selbst verändert. Eine revolutionäre Perspektive, die eben doch auch auf die radikale Abschaffung und/oder grundlegende Transformation bestimmter Institutionen zielt, muss deshalb nicht fallengelassen werden. Sonst bleibt es bei einem zahnlosen Sozialdemokratismus, der seine systemstabilisierende Arbeit mit gutem Gewissen fortführt. Diese Form einer neokonservativen linken Kritik gilt es, auch im eigenen wissenschaftlichen Arbeiten stets im Blick zu haben –
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der Ruf nach der Revolution bei gleichzeitiger Verstrickung in den akademischen Betrieb ist durchaus problematisch. Mit Honneths Insistieren auf dem Niederreißen von Kommunikationsund Anerkennungsbarrieren müssen wir uns aber weiter beschäftigen, denn wenn es uns um eine emanzipatorische Idee von Sozialismus geht, müssen Diversität und Individualität darin aufgehoben sein. Auf dieses Problem soll der Begriff der queeren Gleichheit hinweisen. b) Queere Gleichheit Der Forderung nach Gleichheit haftet gleichzeitig etwas Emanzipatorisches und etwas Autoritäres an. Emanzipatorisch ist die Forderung nach Gleichheit dort, wo ökonomische, soziale, rechtliche und politische Ungleichheit in einem Maße herrscht, dass Einzelnen oder Gruppen von einem von ihnen als ›gut‹ befunden Leben ausgeschlossen werden. Autoritär ist die Forderung nach Gleichheit dort, wo sie individuelle oder kollektive Einzigartigkeit und Diversität verbietet und unterdrückt– aus welchen Gründen auch immer. Dieses Spannungsverhältnis durchzieht sozialistische Theoriebildung – und pädagogische Programme im Allgemeinen – seit ihren Anfängen. Die Positionen eines Charles Fourier oder eines Ètienne Cabet lassen sich hier als Grundfiguren von etwas rekonstruieren, das sich später – theoretisch – im libertären Sozialismus und – tragischerweise praktisch – im autoritären Staatsskommunismus entfalten wird. Daher muss Vorsicht walten, soll dem Begriff der Gleichheit eine konstitutive Bedeutung für die Konstruktion eines Sozialismus-Begriffes zugebilligt werden. Unser Vorschlag ist es daher, Gleichheit mit dem Adjektiv queer zu versehen. Wir nutzen den Queer-Begriff dabei in einem weiten, nicht ausschließlich auf Sexualität bezogenen Sinne. Stattdessen verstehen wir queer als generell identitätskritisches Denken: »Als verunsicherndes Denken vermutet Queer in den Kategorien, Binaritäten und Setzungen, die in den meisten Kontexten als Grundlagen vorausgesetzt werden, immer schon Machtwirkungen. Die Existenzweisen, die als ›anders‹, ›abnormal‹, ›unnatürlich‹ gelten, stehen der Normalität dabei nicht als Entitäten gegenüber, sondern werden als Ausgeschlossene über die willkürliche Grenzziehung produziert, dank derer das Normale sich als Normales erst zu repräsentieren vermag. […] Queeres Denken schärft die Aufmerksamkeit dafür, dass jegliche Bezugnahme auf Identität dilemmatisch ist.« (Förster 2017: 52)
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Wir können also nicht sagen, wir plädieren für queere Gleichheit als eine normative Grundkategorie sozialistischen Denkens. Vielmehr wollen wir mit dem scheinbar widersprüchlichen Begriffspaar darauf hinweisen, dass ein humanistisch-universalistischer Gleichheitsbegriff nicht totalisierend formuliert werden kann, sondern sich den Fragen, die queer aufwirft, stellen muss. Dass dies in der Geschichte des Sozialismus nicht der Regelfall war, ist offensichtlich; dass es nötig ist, ebenso. Individuelle Ansprüche und Bedürfnisse können nicht mit der Betonung von Gleichheit abgetan werden. Die Forderung nach Gleichheit erscheint uns aber auch in einer anderen Hinsicht als zentral. Wiewohl Individualität und Diversität ermöglicht werden müssen, finden diese ihre Grenzen doch auch in der Ungleichheit ökonomischen Reichtums und politischer Verfügungsmacht. In einer Zeit, in der die Reichtumskonzentration ungeheure Ausmaße annimmt und politische Bürger*innenrechte in »Marktbürgerrechte« transformiert werden (Nachtwey 2016: 115f.), bekommt die Forderung nach Gleichheit ihre alte, aus den Emanzipationskämpfen des Bürgertums im 19. Jahrhundert tradierte, Brisanz zurück. Die Erosion der parlamentarischen Demokratie (Crouch 2008/Crouch 2011) macht nicht nur Anstrengungen für deren Erhalt notwendig, sondern auch die Suche nach und die Praktizierung von neuen, partizipativen Formen des Demokratischen, die sicherstellen, dass alle real – und nicht nur simuliert (Blühdorn 2013) – die Möglichkeit haben, an der Organisation der Gesellschaft teilzuhaben. Gleichheit als Forderung nach politischen Rechten, sowie ökonomischer und sozialer Absicherung für alle – und zwar in einem globalen Maßstab – und Gleichheit als Anerkennungsverhältnis mit Blick auf die queere Reflexion von individuellen und kollektiven Identitätsentwürfen und -praxen scheint uns als zweiter normativer Zentralbegriff. c) Transversale Solidarität Ein so konzipierter Gleichheitsbegriff muss sich auch auf Solidarität auswirken. Eine Solidarität der Gleichen, im Sinne einer homogenen Gruppe, ist systematisch und vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen problematisch. Dennoch hat die Erbin der Brüderlichkeit ihre Rolle im Denken über Sozialismus zu spielen. Komplizierter wird das Reden über Solidarität aber auch, da sie, wie wenige andere Begriffe, gleichzeitig politisch aufgeladen und inhaltlich beliebig scheint. Als »gemeinsamen deskriptive[n]
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Kern« dieser diversen Solidaritätsbegriffe meint Kurt Beyertz die »Idee eines wechselseitigen Zusammenhangs zwischen den Mitgliedern einer Gruppe von Menschen« (Bayertz 1998: 11) auszumachen. Diese Idee gehe einher mit einer subjektiv wahrgenommenen und gefühlten Gruppenzusammengehörigkeit, der »Erwartung von gegenseitiger Hilfe im Bedarfsfall [Herv. i.O.]« (ebd.: 12) und der Unterstellung der Legitimität der Gruppe und ihrer Ziele (ebd). Diese drei allgemeinen Charakteristika des Solidaritätsbegriffs sind selbst hochgradig umstritten. Man denke hier nur an den langen Kampf um die Aufnahme von Frauen in die sozialistische Arbeiter*innenbewegung oder an das Scheitern internationaler proletarischer Solidarität im Angesicht des ubiquitären Nationalismus zu Beginn des Ersten Weltkrieges. 3 Wir schlagen auch hier wieder ein Adjektiv vor, das Solidarität als normativen Begriff näher bestimmen bzw. auf die Notwendigkeit ihrer Reformulierung hinweisen soll: Grundlegend sind dabei zwei Überlegungen, die aus dem bisher geschrieben festzuhalten sind: Zum einen, dass Freiheit nur als soziales, gemeinsamen Projekt zu realisieren ist, zum andern, dass Gleichheit nur unter Berücksichtigung der Mannigfaltigkeit menschlichen Lebens zu fassen ist. Beides impliziert Praxis, ein gemeinsames Tun, Verändern »der Umstände und der menschlichen Tätigkeit« (Marx [1845] 1969: 6). Ohne Kooperation und gegenseitige Hilfe ist ein solches Unternehmen nicht zu realisieren. Zentrale Orientierung für eine solche solidarische Praxis ist für uns Marxens emanzipatorischer kategorischer Imperativ »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx [1844] 1981: 385). In diesem Sinne ist Solidarität eine ethisch begründete, politische, soziale und ökonomische Praxis. Sie ist aber keine charity, die den anderen Kuchenkrümel zuwirft, um den warm glow zu erzeugen. Sie ist auch kein neoliberales Fordern und Fördern, das ohne die Veränderung struktureller Bedingungen von den Einzelnen verlangt, sich als Einzelne im Konkurrenzkampf durchzuschlagen. Solidarität kann nur ein gemeinsames Projekt verändernder Praxis sein. Sie kann dabei nicht an vermeintlichen Identitätsmerkmalen fixiert werden, sondern muss sich auf emanzipatorische Praxen beziehen. Da weder Proletariat, noch Multitude (Hardt/Negri 2000), noch ein anderes
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Zum Solidaritätsbegriff in der sozialistischen Pädagogik vgl. Pfützner 2017.
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vermeintlich revolutionäres Subjekt zu identifizieren ist, kann nur die Praxis von Menschen der ausschlaggebende Punkt für Solidarität sein. Sie lässt sich dabei weder von Identitätszuschreibungen noch von geopolitischen Imaginationen abhalten. In diesem Sinne ist sie grenzüberschreitend: Sie ist transkulturell, sie ist transgeschlechtlich. Sie ist vielleicht sogar transhuman in dem Sinne, dass sie über das Humane (was auch immer das ist) hinausgehen soll und sich generell auf die ›geknechtete Kreatur‹ bezieht (damit ist sie dann auch transmarxistisch). Sie ist aber auch transgenerational, da sie sich nicht nur auf die Gegenwärtigen beziehen sollte, sondern auch die Künftigen. Eine sozialistische Konzeption von Nachhaltigkeit erhielte hier ihren Platz. Die Reformulierung von Sozialismus ist so als fragmentarische Skizze eines anspruchsvollen normativen, theoretischen Projekts vorgeschlagen. Uns ist bewusst, dass das Konzept viele Lücken und Widersprüche hat, die es fraglich erscheinen lassen. Uns ist auch bewusst, dass wir mit diesem Vorschlag einen gewissen ›Zeitgeist‹ reproduzieren, mithin Hegemonie stabilisieren. Daher hoffen wir, dass unser Vorschlag in den folgenden Beiträgen auf- und angegriffen wird; vielleicht aber auch an sein produktives Potential angeschlossen werden kann. Wir müssen zugeben, dass dieser Entwurf eine arg ethische Schlagseite hat. Wo findet sich darin die oben angesprochene Bedeutung der Analyse konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse, die stets tragendes Element sozialistischen Denkens waren? Dieser Einwand stimmt. Wir entziehen uns der Aufgabe mit der Entschuldigung, hier nur einen Aufschlag zu wagen, aber kein rundes Konzept vorlegen zu müssen.
3. P ÄDAGOGIK Nach der Auseinandersetzung damit, was Sozialismus meinen kann, soll es nun um den zweiten Part des Kompositums gehen: Pädagogik. Wir nutzen den Begriff der Pädagogik, und nicht den der Erziehungs- oder Bildungswissenschaft, um den Zusammenhang von pädagogischer Praxis und pädagogischer Theorie zu thematisieren. Denn Pädagogik meint beides: pädagogische Praxis als Tätigsein von Pädagog*innen im weitesten Sinne des Wortes sowie die Reflexion und Theoretisierung dieser Praxis. Grundlegend ist dafür das unter anderem von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik her-
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ausgearbeitete »dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik« (2008: 9). Damit muss Pädagogik als »praktische Wissenschaft von der und für die Praxis der Erziehung« (ebd.: 23) gefasst werden. Sie kann und soll keine fertigen Rezepte für erzieherisches Tun liefern, sondern lediglich die in der Praxis der Pädagogik Tätigen darin unterstützen, diese Praxis selbstreflexiv und begründet – verantwortlich – zu üben und dort zu kritisieren, wo die Verhältnisse ebendiese Art der Tätigkeit verhindern. Weitergehend soll festgehalten werden, dass Pädagogik immer in Beziehung zum einzelnen Individuum gesehen werden muss. Zentrales Thema pädagogischer Praxis und ihrer Theorie ist dabei das Lernen. Dieses kann als Kern der Pädagogik begriffen werden; Pädagogik geht es um das Lernen: »Es geht in diesem Kern um die Steuerung von Lernprozessen – sei es, dass diese Steuerung von außen (Erziehung) oder als Anstoß von inneren Lernvorgängen (Bildung) gedacht ist.« (Koerrenz/ Winkler 2013: 52f.) Aufgelöst wird dieses Verständnis von Pädagogik in das Nachdenken über verschiedene Begriffe: Erziehung, Bildung und Sozialisation sollen in diesem Zusammenhang eingehender betrachtet werden. Im Anschluss an Wolfang Sünkel – und auch Siegfried Bernfeld – verstehen wir Erziehung als eine Tatsache (vgl. Sünkel 2013: 26; Bernfeld 1979: 51). Sie ist eine anthropologische Konstante, denn menschliches Leben ist in seiner Struktur auf Erziehung angelegt. Dies lässt sich über einen Blick auf die drei Faktoren der Sozialität, Kulturalität und Mortalität erklären: Der Mensch ist in erster Linie ein soziales Wesen. Er ist auf andere Menschen angewiesen und entwickelt sich nur in Auseinandersetzung mit diesen. Der Mensch ist zudem ein kulturelles Wesen. Seine Kulturalität – die Gesamtheit an Praxen und Artefakten – muss über die Generationengrenzen vermittelt werden. Denn der Mensch ist ein sterbliches Wesen. Menschen werden geboren und irgendwann sterben sie auch wieder; die Mortalität gehört zum Menschen dazu. Um den Fortbestand der Kultur über die Generationengrenzen zu bewahren, wird Erziehung benötigt; Erziehung wird so zur nicht zu vernachlässigenden Konstante des menschlichen Lebens. Erziehung wird hierbei verstanden als intentionale Steuerung von individuellen Lernprozessen, der ebendiese Trias von Sozialität, Kulturalität und Mortalität zugrunde liegt. Neben dieser Grundlage geht es bei Pädagogik in unserem Verständnis aber auch um Bildung. »Erziehung und Bildung meinen nicht dasselbe, obwohl sie in der Alltagssprache oft synonym verwendet werden.« (Bernhard 2005: 48) Die
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analytische Schärfe geht der täglichen Debatte und der Verwendung dieser Worte oft ab. Bildung verstehen wir als inneren Lernvorgang. Dieser innere Lernvorgang ist zwar auch durch Impulse initiiert, schlussendlich aber individuell oder persönlich. Bildung meint zum einen die stetige Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ich und Welt, aber auch die stetige Auseinandersetzung von Ich und Ich (vgl. Koerrenz 2014a). In diesem Prozess kann das, was oftmals als gesellschaftliche Notwendigkeit verstanden wird, reflexiv zugänglich gemacht werden. In diesem Sinne kommt es nicht der Erziehung zu, Gesellschaft zu verändern (vgl. auch Bernfeld 1925). Die Idee einer über bestehende gesellschaftliche Strukturen hinausweisenden Leistung lässt sich mit dem Bildungsbegriff verknüpfen. Auch wenn Vorsicht angemahnt ist, allzu optimistische Hoffnungen in die gesellschaftsverändernde Kraft von Bildung zu setzen. Gerade deshalb plädieren wir für einen an Heinz-Joachim Heydorn orientieren Bildungsbegriff, der sich der dialektischen Bedingungen von Bildung und Befreiung vergewissert. Mit der ihm eigenen Dialektik und Pathetik schreibt Heydorn: »Mit dem Begriff der Bildung wird die Antithese zum Erziehungsprozeß entworfen; sie bleibt zunächst unvermittelt. Erziehung ist verhängt; der Versuch ihrer anonymen Verhängung verweist auf ein entscheidendes Problem der industrie-kapitalistischen Verfassung. Bildung dagegen begreift sich als entbundene Selbsttätigkeit, als schon vollzogene Emanzipation. Mit ihr begreift sich der Mensch als sein eigener Urheber, versteht er, daß ihm die Ketten, die das Fleisch aufschneiden, von Menschen angelegt sind, daß es eine Aussicht gibt, sie zu zerreißen.« (Heydorn 1970: 10)
Bildung beschreibt hier einen individuellen und gesellschaftlichen Prozess der Verhältnisbestimmung. Mit Heydorn kann aber auch gesagt werden, dass im Prozess der Bildung der Mensch versucht, sich selbst zum Menschen zu begaben, sich selbst der Aufgabe der Realisierung eines menschlicheren Lebens zu vergewissern und diese dann auch tätig in Angriff zu nehmen (vgl. Koerrenz/Winkler 2013: 77f.). Dieses nun gar utopisch anmutende Moment wird von Heydorn aber in der konkreten gesellschaftlichen Realität verortet. Bildung bedarf der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sie bedarf einer Referenzgröße, um sich an dieser abzuarbeiten: »Bildung, als Mündigkeitsanspruch des Menschen, kann nur innerhalb der gesellschaftlichen Institution Wirklichkeit werden, sie muß in ihr einen Anfang suchen.« (Heydorn 1972: 142)
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So sehr wir dieser eingängigen Aussage zustimmen, zumal dieser Anspruch mit dem des Sozialismus korrespondiert, Utopie mit konkreter Wirklichkeitsanalyse zu verknüpfen, erscheint uns das ›muß‹ erklärungsbedürftig. Zum einen kann es so verstanden werden, dass Bildung als Reaktion auf gesellschaftliche Zustände zu verstehen sei. Bildung könne sich dann lediglich an diesen orientieren und kaum emanzipatives Potenzial beinhalten, da der Möglichkeitsraum stets abgesteckt ist. Zum anderen kann das ›muß‹ Heydorns aber auch als Aufgabe verstanden werden, Alternativen zum Gegebenen zu entwickeln. Dann geht es nicht darum, sich den Gegebenheiten zu fügen, sondern darum, diese kreativ zu bearbeiten und zu verändern. Deutlich wird dies besonders an alternativen Konzepten für institutionelle Ordnungen, die auf Grundlage des Gegebenen etwas Neues entwickeln und so die gesellschaftlichen Umstände als Reflexionsanlass nutzend utopische Momente in die Realität übertragen. Reform der Verhältnisse wird so zum Bestandteil des Denkens von Pädagogik (vgl. Koerrenz 2014b). In diesem Sinne schlägt Heydorn auch die Brücke zwischen einer Philosophie der Bildung und ihrer politischen und pädagogischen Praxis: »Ein Bildungskonzept ist nur so weit progressiv, als die Kräfte, die es vertreten, zugleich einen direkten politischen Kampf um die Veränderung der Gesellschaft führen.« (Heydorn 1972: 31) Hier stellt sich die Frage, ob politische Auseinandersetzung oder soziale Transformation (ist die ohne politische Kämpfe möglich?) die angemesseneren Begriffe wären. Anders verhält es sich mit dem Begriff der Sozialisation: »Die Frage, wie die Genese der Persönlichkeit im Kontext gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen vonstattengeht, ist so alt wie die menschliche Gesellschaft selbst.« (Bernhard 2005: 91) Unter Sozialisation werden im Regelfall die nicht intendierten und trotzdem prägenden Einflüsse der Umwelt verstanden. Umwelten liefern, als kollektive gesellschaftliche Momente (vgl. ebd.: 97) – oft eben auch vorreflexiv und nicht intendiert – Anlässe für das ebenfalls unreflektierte Erlernen von Praxis. Auch hierbei geht es, wie bei Erziehung, um die Eingliederung in die Gesellschaft. Statt einem bewussten Vorgang des Zeigens lässt sich Sozialisation aber über das unbewusste Anbieten von Lernanlässen verstehen, die zu einer Passung von Individuum und Gesellschaft führen können. Dies kann sowohl erfolgreich als auch weniger erfolgreich geschehen: »Als ›erfolgreiche Sozialisation‹ sehen wir ein hohes Maß an Symmetrie von objektiver und subjektiver Wirklichkeit
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(und natürlich Identität) an. Umgekehrt muss demnach ›erfolglose Sozialisation‹ als Asymmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit verstanden werden.« (Berger/Luckmann 1969: 175) Dies weist auf ein Dilemma der Sozialisation hin: Sozialisation zielt auf Erzeugung von Passung ab. Bildung könnte hier der Gegenbegriff sein, der Sozialisation erst als solche ersichtlich und damit kritisierbar macht.4 Gerade für eine Kritik an bestehenden Formen des Pädagogischen und den Entwurf alternativer – vielleicht sozialistischer – Formen kommt dem Sozialisationsbegriff eine wichtige Funktion zu.
4. S OZIALISTISCHE P ÄDAGOGIK ? Nun haben wir die Begriffe Sozialismus und Pädagogik diskutiert. Was wir unter den Umrissen eines zeitgemäßen normativen Horizontes des Sozialismusbegriffes verstehen, lässt sich unter den drei Bestimmungen von sozialer Freiheit, queerer Gleichheit und transversaler Solidarität zusammenfassen. Unter Pädagogik verstehen wir sowohl die Praxis als auch die Reflexion der intendierten und nicht intendierten individuellen oder auch kollektiven Steuerung von Lernprozessen. Doch was ist sozialistische Pädagogik? Können wir beide Begriffe einfach addieren und erhalten so eine sozialistische Pädagogik? Oder ist es nicht vielleicht so, wie uns hier scheint, dass unser Sozialismusbegriff von pädagogischem Denken kontaminiert ist, und wir damit unausweichlich schon einen pädagogischen oder pädagogisierten Sozialismus vertreten? Oder ist eine solch einfache Begriffsarithmetik gar nicht in der Lage, sozialistische Pädagogik zu fassen? Oder begehen wir, wenn wir beide Begriffe zusammenwerfen, gar einen Kategorienfehler, da wir Politisches und Pädagogisches vermischen? In der Einleitung zu ihrer Anthologie Sozialistische Pädagogik argumentieren Michael Winker, Robert Pfützner und Benjamin Paul-Siewert, diese Gefahr bestehe zwar, dass aber sozialistische Pädagogik
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Einen solchen selbstreflexiven Prozess der Bildung in Auseinandersetzung mit der eigenen Sozialisation, der diese wiederum erst offenlegt, findet man beispielsweise in Didier Eribons Rückkehr nach Reims. Der Autor setzt sich in diesem Text bewusst mit seiner Herkunft auseinander und reflektiert die Geschichte seines Aufwachsens (vgl. Eribon 2017).
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»auf einen politischen Begriff von Sozialismus verzichten [kann]« (2016: 19) und statt dessen einen pädagogischen Begriff von Sozialismus impliziere, der die »Spannung von Gemeinschaft und Individualität wahrt, wenn nicht ausdrücklich den Weg zu persönlicher und subjektiver Freiheit öffnet« (ebd.: 18). Sozialistische Pädagogik richtet sich demnach »auf Individualität, sie denkt über das Soziale als Moment eigener Selbstbestimmung wie auch als Medium der eigenen Präsenz nach« (ebd.). Wir wollen diese Bestimmung sozialistischer Pädagogik im Hinterkopf halten, jedoch an dieser Stelle einen Schritt zurücktreten und anders nach den Möglichkeiten einer Begriffsbestimmung fragen. Zwei idealtypische Möglichkeiten bieten sich an, den Gegenstand sozialistische Pädagogik zu konstituieren: Ein analytisch-deskriptiver und ein normativ-präskriptiver. Von vier verschiedenen Perspektiven könnten wir uns analytisch sozialistischer Pädagogik nähern. Mit jeder dieser Perspektiven kämen andere Strukturen, Themen und Probleme in den Blick: •
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Wir könnten das untersuchen, was sich selbst explizit sozialistische Pädagogik nennt. Die Selbstbezeichnung würde somit das zu untersuchende Phänomen konstituieren. Überall dort, wo ›sozialistische Pädagogik‹ als Begriffspaar auftauchen würde, ließe sich dann das Phänomen sozialistische Pädagogik verorten. Problematisch an einem solchen Zugang ist, dass eine systematische Bestimmung dessen, was sozialistische Pädagogik sein könnte, jenseits einer gemeinsamen Bezeichnung nicht möglich wäre. Wir könnten die Praxen und Theorien untersuchen, die von Personen erdacht und praktiziert werden und wurden, die sich selbst als Sozialist*innen und Pädagog*innen oder sozialistische Pädagog*innen bezeichneten und bezeichnen und würden damit einen Konstitutionszusammenhang zwischen Person und Werk vertreten. Die Identifikation von sozialistischer Pädagogik würde dann über die Zuschreibung von pädagogischer Relevanz geschehen. Jemand, der über Pädagogik im weitesten Sinne schreibt und als Sozialist*in identifiziert werden kann, kann dann als Produzent*in sozialistischer Pädagogik thematisiert werden. Wir könnten die pädagogischen Praxen und Theorien als sozialistische Pädagogik bezeichnen, die als Pädagogik in sozialistischen Gesellschaften und Gemeinschaften auffindbar sind. Auch hier müsste wieder zwi-
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schen Selbst- und Fremdbezeichnung unterschieden werden. Schwierig wäre auch hier die Eingrenzung dessen, was als Pädagogik und was als sozialistische Form des Sozialen in den Blick geraten soll. Das führt zuletzt zu der Überlegung, dass wir eigentlich nur das sozialistische Pädagogik nennen können, was anhand bestimmter, qualitativer auszuweisender Kriterien als sozialistisch und pädagogisch zu bezeichnen ist.
Diese letzte Möglichkeit über sozialistische Pädagogik zu sprechen erscheint uns am sinnvollsten. Sie ermöglicht am ehesten ein systematisches Arbeiten und einen wissenschaftlichen Austausch über dieselbe Sache. Der eingeschränkte Blick auf Konzepte, Personen oder Gesellschaften, die sich so nennen, oder – von wem auch immer und warum auch immer – so genannt werden, führt zu viele stillschweigende Voraussetzungen mit sich. Nun ist die Trennung dieser vier Zugänge und die Präferenz für den vierten nicht so zu verstehen, dass es absolute Trennungen in der Zugangsweise geben kann. Eine systematische Bestimmung sozialistischer Pädagogik steht vor der Aufgabe, die Kategorien, an denen sie ihren Gegenstand begründet und nachvollziehbar auszuweisen. In diesem Sinne wollen wir hier keinen Definitionsvorschlag vorlegen, sondern wollen die Autor*innen und Kommentator*innen dieses Bandes, wie auch dessen Leser*innen auffordern, ihr Verständnis der grundlegenden Begriffe offen zu legen – zumindest dies zu versuchen. Denn nur so ist es möglich, überhaupt festzustellen, ob wir über dasselbe reden und schreiben, wenn wir von Sozialismus, Pädagogik oder sozialistischer Pädagogik sprechen. Dabei wird sich die Frage nach der Normativität nicht umgehen lassen. So könnte aus den von uns oben diskutierten Annäherungen an Sozialismus und an Pädagogik durchaus ein normatives Konzept sozialistischer Pädagogik oder pädagogischen Sozialismus konstruiert werden, das anschlussfähig und offen für weitere Diskussionen ist. Wir wollen auf eine solche Zumutung aber an dieser Stelle verzichten, und den Raum für die Vorschläge und Überlegungen der Autor*innen dieses Bandes öffnen.
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L ITERATUR Becker, Joachim/Weissenbacher, Rudy (Hg.): Sozialismen. Entwicklungsmodelle von Lenin bis Nyerere, Wien: Promedia. Bernfeld, Siegfried [1925] (1979): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bernhard, Armin (2005): Pädagogisches Denken. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Bettelheim, Bruno (1973): Die Kinder der Zukunft. Gemeinschaftserziehung als Weg einer neuen Pädagogik, München: dtv. Bloch, Ernst (1960): Thomas Münzer. Als Theologe der Revolution, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Blühdorn, Ingolfur (2013): Simulative Demokratien. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, — (2011): Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus: Postdemokratie II, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Dübgen, Franziska/Skupien, Stefan (Hg.) (2015): Afrikanische politische Philosophie, Berlin: Suhrkamp. El Saadawi, Nawaa (1980): The Hidden Face of Eve. Women in the Arab World, London: ZED Books. Eribon, Didier. (2017): Rückkehr nach Reims, Berlin: Suhrkamp. Förster, Franziska (2017): »Who am I to feel so free?« – Eine Einführung in den Begriff und das Denken von Queer, in: Kenklies, Karsten/Waldmann, Maximilian (Hg.): Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, S. 9-59. Grünberg, Carl (1912): Der Ursprung der Worte »Sozialismus« und »Sozialist«, in: Ders. (Hg.): Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Band 2, Leipzig, S. 372-379. Hardt, Antonio/Negri, Michael (2002): Empire – die neue Weltordnung, Frankfurt am Main: Campus. Herrmann, Katharina (2016): Zum solidarischen Potential Kritischer Bildungstheorie. Eine subjektkritische Analyse der Bedingungen des Widersprechens, in: Geuenich, Stephan/ Krenz-Dewe, Daniel/ Niggemann, Janek/ Pfützner, Robert/Witek, Kathrin (Hg.): Wozu brauchen wir das? Bildungsphilosophie und pädagogische Praxis, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 153-162.
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Die objektive Ungleichzeitigkeit und das nicht eingelöste Erbe sozialistischer Pädagogik M ICHAEL M AY
In der Einleitung zu diesem Sammelband haben Sebastian Engelmann und Robert Pfützner die Autor*innen der Beiträge aufgefordert, ihr Verständnis der grundlegenden Begriffe offen zu legen. Dem will ich nicht nur im Hinblick auf den Begriff von (pädagogischem) Sozialismus bzw. sozialistischer Pädagogik nachkommen, sondern zunächst einmal auch den Begriff von objektiver Ungleichzeitigkeit als nicht eingelöstem Erbe klären. Konkret beleuchten will ich dann drei Aspekte dieses Erbes: den Subjektivitätsbegriff, die Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens und schließlich das uneingelöste Erbe von Marx’ dritter These über Feuerbach.
Z UM B EGRIFF OBJEKTIVER U NGLEICHZEITIGKEIT Angesichts dessen, dass die Herausgeber dieses Bandes in ihrer Einführung im Hinblick auf die zeitliche Dimension des Sozialismusbegriffs darauf verweisen, dass dieser im Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland zurecht der »Kategorie der zukunftsorientierte[n] Bewegungsbegriffe« (Schieder 1997: 923) zugeordnet werde, mag das Wort Erbe in der Überschrift verwundern. Eine Auseinandersetzung mit dem Erbe in der Theorieentwicklung steht jedoch keineswegs im Widerspruch zum Anspruch, neue Perspektiven zu eröffnen. Darauf verweist Michael Winkler,
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indem er betont, dass auf diese Weise aktuelle Theorien nicht nur bezüglich ihrer »Vollständigkeit befragt werden« (2005: 23) könnten: Als »Gegenerinnerung« im Sinne Michel Foucaults (vgl. 2012: 17) würden durch sie zusätzlich »Optionen sichtbar, die andernfalls in Vergessenheit« (Winkler 2005: 23) zu geraten drohten. Wenn hier von einem »uneingelösten Erbe« gesprochen wird, so jedoch in dem noch viel weiter greifenden Horizont von Ernst Blochs (vgl. 1976) zeitlicher Dialektik, die lineare Geschichts- und Fortschrittsbegriffe dahingehend problematisiert, dass in längst vergangenen Zeiten Potenziale sich entfaltet haben, die noch immer eine gesellschaftliche Zukunft in sich bergen. So betont Bloch, dass »die Geschichte [...] kein einlinig vorschreitendes Wesen« (ebd.: 69) sei. »Nicht einmal [...] die veralteten Produktionsund Austauschformen« (ebd.), seien »vergangen, geschweige ihre ideologischen Überbauten, geschweige die echten Inhalte noch nicht bestimmter Irratio« (ebd.). Diese »unerledigte Vergangenheit« (ebd.: 122) fasst Bloch mit dem Begriff der objektiven Ungleichzeitigkeit, der in dieser Weise für ihn »untergehende Reste wie vor allem unaufgearbeitete Vergangenheit, die kapitalistisch noch nicht ›aufgehoben‹ ist« (ebd.: 117) umfasst. Davon unterscheidet er bloßen Romantizismus und ein »dumpfes« Nicht-Wollen des Jetzt als subjektiv ungleichzeitiger Widerspruch. Seiner Analyse zufolge vermag aber dieser subjektiv ungleichzeitige Widerspruch den objektiv ungleichzeitigen zu aktivieren, »so dass beide Widersprüche zusammenkommen, der rebellisch schiefe der gestauten Wut und der objektiv fremde des übergebliebenen Seins und Bewusstseins« (ebd.). »Niemals aber wäre« (ebd.) – so Bloch – »der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch so scharf, der objektiv ungleichzeitige so sichtbar, bestünde kein objektiv gleichzeitiger, nämlich der in und mit dem heutigen Kapitalismus selbst gesetzte und wachsende [...] zwischen dem kollektiven Charakter der kapitalistisch entfalteten Produktivkräfte und dem privaten Charakter ihrer Aneignung« (ebd.: 122). Damit verweist der objektiv gleichzeitige Widerspruch auf »die verhinderte, im Jetzt enthaltene Zukunft, […] die verhinderte neue Gesellschaft, womit die alte in ihren Produktivkräften schwanger geht« (ebd.). Verwirklicht werden kann diese nur durch den subjektiv gleichzeitigen Widerspruch der »freie[n] revolutionäre[n] Tat des Proletariats« (ebd.).
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Schon an dieser Stelle ist jedoch darauf hinzuweisen, dass ein vereinheitlichender Substanzbegriff von Proletariat in Widerspruch dazu gerät, dass der Begriff ›proletarisch‹ bei Marx ja durch die Trennung von den Produktionsmitteln charakterisiert wird. Vor diesem Hintergrund stützen Negt/Kluge (vgl. 1990) auch ihren Begriff von ›proletarischer Öffentlichkeit‹ auf die Organisation von Eigenschaften und Vermögen, denen herrschaftlich ihre Verwirklichungsbedingungen vorenthalten oder entzogen wurden. Negt (vgl. 1976a) zu Folge ist in dieser Organisation auch Blochs Konzept einer »Dialektisierung noch ›irrationaler› Inhalte« (Bloch 1976: 126) aufzuheben, die aus seiner »mehrzeitlichen und mehrräumigen« Perspektive »nach ihrem kritisch bleibenden Positivum, die ›Nebelflecken‹ der ungleichzeitigen Widersprüche« (ebd.) bilden. Auch diesem »uneingelösten Erbe« waren ja in der Geschichte die Bedingungen zu seiner Verwirklichung herrschaftlich entzogen.
Z UM B EGRIFF DES S OZIALISMUS Nun könnten vor dem Hintergrund von Blochs Begriff objektiver Ungleichzeitigkeit die »Überbauten« sozialistischer Pädagogik nur allzu leicht auf jenen Teil reduziert werden, den Bloch als »echte[.] Inhalte noch nicht bestimmter Irratio« (1976: 69) charakterisiert hat. Bloch selbst hat ja in seinem »Abriß der Sozialutopien« im »Prinzip Hoffnung« (vgl. 1979: 547ff.) gezeigt, dass »der Sozialismus [...] so alt wie das Abendland [ist], ja in dem ständig mitziehenden Archetyp: Goldenes Zeitalter, weit älter« (ebd.: 680). Wenn Sebastian Engelmann und Robert Pfützner in ihrer Einleitung im Aufgreifen der Losung Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der Französischen Revolution Sozialismus aus dem Zusammenspiel der Begriffe soziale Freiheit, queere Gleichheit und transversale Solidarität zu bestimmen suchen, treten sie in die Fußstapfen von Bloch. Dieser hat schon in »Naturrecht und menschliche Würde« (vgl. Bloch 1985: 194f.) das »uneingelöste Erbe« dieser Losung im Überwinden ihrer bürgerlichen Begrenztheit offen zu legen versucht. Dabei hat er dargelegt, dass trotz des »bürgerlichen Unterbaus« (1979: 636) diese Parole, wie auch ihre naturrechtliche Basis, nicht nur »eben jenen Überschuß« (ebd.) birgt, »der alle Revolutionen mit-
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einander verwandt erscheinen läßt« (ebd.). Wie er überzeugend darzulegen versteht, »zeigt die naturrechtlich geschehene Anmeldung der subjektiven öffentlichen Rechte in Totalität den ökonomischen Individualismus zuweilen weniger als Unterbau denn als Hilfskonstruktion. Die Anmeldung der subjektiv öffentlichen Rechte setzte diese als einen Kader, in den auch Rechte gegen den Unternehmer eingesetzt werden konnten, nicht nur gegen die Obrigkeit.« (Ebd.: 636f.)
Nun schließen Sebastian Engelmann und Robert Pfützner mit dem Begriff der sozialen Freiheit an Axel Honneth an, der Sozialismus gänzlich über diesen Begriff zu fassen versucht hat als Teilnahme »an der sozialen Praxis einer Gemeinschaft [...], in der die Mitglieder sich untereinander so viel Anteilnahme entgegenbringen, daß sie sich um des jeweils anderen willen wechselseitig zur Verwirklichung ihrer begründeten Bedürfnisse verhelfen« (2016: 47). Deutlich erkennbar ist in Honneths Begriff der Anschluss an Hegels Begriff von »konkreter Freiheit«. So charakterisiert Hegel diese im § 260 seiner »Grundlinien der Philosophie des Rechts« doch dahingehend, dass »die persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts für sich […] haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig sind« (Hegel 1979a: 406f.).
Bloch hat nun gezeigt, wie »[e]ben der Bezug konkreter Ordnung auf den Willensinhalt konkreter Freiheit [...] das Erbe Naturrecht gegen jedes nur abstrakt und isoliert gefasste Kollektiv« (1979: 637) in Anschlag bringt, »gegen ein Kollektiv, das den Individuen entgegengesetzt wird, statt dass es aus ihnen, aus klassenlosen, entspringt« (ebd.). Ja, Bloch legt weiter dar, wie selbst das »kommunistisch definierte Ziel: ›Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen‹ [...] ein ausgereiftes Naturrecht [erhält] – wenn auch ohne Rekurs auf Natur und vielleicht ohne gebliebene Notwendigkeit eines Rechts« (ebd.). Hier werden deutliche Unterschiede eines auf Marx zurückgehenden Begriffes von Sozialismus gegenüber Honneths neuen Vorschlag deutlich, hebt Marx doch hervor,
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»welche Bedeutung unter der Voraussetzung des Sozialismus die Reichheit der menschlichen Bedürfnisse und daher sowohl eine neue Weise der Produktion als auch ein neuer Gegenstand der Produktion hat. Neue Bestätigung der menschlichen Wesenskraft und neue Bereicherung des menschlichen Wesens« (1990a: 546).
Dieser letzte Satz verweist bereits darauf, dass es sich beim Marx’schen Begriff von Sozialismus um einen »pädagogischen« handelt. Bekräftigt wird dies, indem Marx seine Gesellschaftsutopie als »Verein freier Menschen, die sich wechselseitig erziehen« (1978a: 95), charakterisiert. Freilich erschöpft sich seine sozialistische Gesellschaftsutopie darin nicht, geht es ihm doch zugleich um einen »Verein freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben« (1988: 92). Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass es einem pädagogischen Sozialismus in Marx’scher Tradition um einen doppelten, dialektisch miteinander vermittelten Bildungsprozess gehen muss, in dem die Bildung des Sozialen als einer sozialistischen Gesellschaftsformation mit einer Bildung am Sozialen (vgl. Kunstreich/May 1999) im Sinne jener »[n]eue[n] Bestätigung der menschlichen Wesenskraft und neue[n] Bereicherung des menschlichen Wesens« (Marx 1990a: 546) einhergeht. Dieser doppelte Bildungsprozess beginnt nicht erst – um eine weitere in der Einleitung von Engelmann/Pfützner angesprochene Fragestellung aufzugreifen – »nachdem eine kapitalistische Geschichte durchgangen wurde« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 22). So verweist Negt (vgl. 1976a) im Anschluss an Bloch (vgl. 1976) darauf, dass alle bisherigen sozialistischen Revolutionen in Gesellschaften stattfanden, in denen sich gerade erst der Kapitalismus zu entwickeln begann, um so die Bedeutung echter Ungleichzeitigkeit für den revolutionären Prozess zu untermauern. Schon angesprochen wurde ja Blochs These, dass »der Sozialismus [...] so alt wie das Abendland« (1979: 680) ist. Wenn er in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass ein »dialektisch-materialistische[r] Humanismus, in historisch dämmernder, auch erbender Vorwegnahme [...] nie von kapitalistischer ›Entfremdung‹, ›Entmenschlichung‹« (ebd.: 678f.) hätte sprechen können, wird eine weitere Dimension seiner mehrzeitlichen Dialektik deutlich. So zeigt diese, dass – über Engelmann/Pfützners Postulat »Analyse ohne Entwurf bleibt für Praxis irrelevante Scholastik« hinaus –
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die Analyse zahlreicher Momente der Unterdrückung menschlicher Verwirklichung ohne einen sozialistischen Entwurf gar nicht möglich wäre. Allerdings ist im Zusammenhang mit dem Postulat von Engelmann/ Pfützner darauf zu verweisen, dass auch trotz sozialistischem Entwurf, wissenschaftliche Analysen durchaus »für Praxis irrelevante Scholastik« (ebd.) bleiben können. Zu erinnern ist hier an jene Passage der »Deutschen Ideologie«, in der Marx und Engels gegenüber jenem »wahren[n] Sozialismus, der auf der ›Wissenschaft‹ zu beruhen vorgibt« (1978: 442), polemisch vermerkt haben, dass er »vor allen Dingen selbst wieder eine esoterische Wissenschaft« (ebd.) sei, als »theoretische Literatur [...] nur für die, die in die Mysterien des ›denkenden Geistes‹ eingeweiht sind« (ebd.). Selbst bezüglich jenes »wahren[n] Sozialismus, der auf der ›Wissenschaft‹ zu beruhen vorgibt« (ebd.), mögen »echte[.] Inhalte« (Bloch 1976: 69) als »uneingelöstes Erbe« dieser »theoretische[n] Literatur« (Marx/ Engels 1978: 442) in Blochs Sinne zu dialektisieren sein. Engelmann/Pfützner plädieren in ihrer Einleitung in Anlehnung an Wolfdietrich SchmiedKowarzik für ein »dialektische[s] Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik (Schmied-Kowarzik 2008: 9), dem zufolge Pädagogik als »praktische Wissenschaft von der und für die Praxis der Erziehung« (ebd.: 23) gefasst werden kann. Demgegenüber liegt diesem Beitrag jedoch ein Verständnis von sozialistischer Pädagogik oder pädagogischem Sozialismus zu Grunde als – in Blochs Worten – »Theorie-Praxis eines NachhauseGelangens oder des Ausgangs aus unangemessener Objektivierung; die Welt wird dadurch zur Nicht-mehr-Entfremdung ihrer Subjekte-Objekte, also zur Freiheit entwickelt« (1979: 241f.). Zwar wird – wie Bloch überzeugend darlegt – »[d]as Freiheitsziel selber [...] erst vom Standort einer klassenlosen Gesellschaft her als bestimmtes In-Möglichkeit-Sein deutlich visierbar« (ebd.: 242). Marx zufolge beginnt jedoch »der Sozialismus als Sozialismus« (1990a: 546) bereits »von dem theoretisch und praktisch sinnlichen Bewußtsein des Menschen und der Natur als des Wesens. Er ist positives […] Selbstbewußtsein des Menschen, wie das wirkliche Leben positive, nicht mehr durch die Aufhebung des Privateigentums, den Kommunismus, vermittelte Wirklichkeit des Menschen ist« (ebd.). Vor diesem Hintergrund kann sozialistische Pädagogik bzw. pädagogischer Sozialismus präziser »als Arbeit in und mit dem dialektischen Gesetzeszusammenhang der objektiven Welt, mit der materi-
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ellen Dialektik einer begriffenen, bewußt hergestellten Geschichte« (Bloch 1979: 680) verstanden werden. Bloch verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass dem Materiebegriff des dialektischen Materialismus in dieser Weise »Dialektik, Prozeß, Entäußerung der Entäußerung, Humanisierung der Natur keineswegs nur äußerliche Beiworte« (ebd.: 239) sind. Seine darin sich als real möglich zeigende »unerschöpfte Erwartungsfülle bescheint die revolutionäre Theorie-Praxis als Enthusiasmus, seine strengen unüberschaubaren Determinierungen fordern kühle Analyse, vorsichtig genaue Strategie« (ebd.). Wenn Engelmann/Pfützner in ihrer Einleitung darauf verweisen, dass »Zukunftsentwürfe ohne Analyse ihrer Bedingungen [...] keine reale Transformationsperspektiven« (i.d.B.: 23) ermöglichen, so hebt Bloch hervor, dass »[s]eit Marx [...] der abstrakte Charakter der Utopien überwunden« (1979: 680) sei. Bloch unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei dialektisch miteinander vermittelte Dimensionen der Analyse: »Bedingungsforschung nach Maßgabe des Möglichen und […] Aussichtserforschung des In-Möglichkeit-seienden« (ebd.: 240). Erstere bezeichnet er metaphorisch als Kälte-, Letztere als Wärmestrom des Marxismus. Damit hat er aus meiner Perspektive (vgl. May/Winkler 2016: 26ff.; May 2016: 129) zugleich zwei für eine sozialistische Pädagogik konstitutiven Momente umrissen. Denn auch die bedingungsanalytische Forschung kann sich – wie im Hinblick auf die Analyse von »Entfremdung« und »Entmenschlichung« (vgl. Bloch 1979: 679) schon angedeutet – nicht in einer »Entlarvung der Ideologien wie [...] Entzauberung des metaphysischen Scheins« (ebd.: 240) erschöpfen, die jedoch nach Blochs Auffassung unabdingbar zu deren Aufgaben gehören. Vielmehr wird Bedingungsforschung von Bloch als eine konzipiert, die – indem sie den »Horizont als einen begrenzenden« (ebd.: 679) ins Blickfeld rückt – unlösbar mit einer antizipatorischen Perspektive vermittelt ist, wie sie gerade für Pädagogik charakteristisch ist. In dieser Weise sieht er sie dialektisch vermittelt mit einer AussichtsErforschung des In-Möglichkeit-Seienden, welche »auf den Horizont im Sinne unverstellter ungemessener Weite [geht], im Sinne des noch unerschöpft und unverwirklicht Möglichen. […] Ohne solche Erwärmung der historischen wie erst der aktuell-praktischen Bedingungsanalyse unterliegt letztere der Gefahr des Ökonomismus und des zielvergessenen Opportunismus. […] Erst
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Kälte und Wärme konkreter Antizipation zusammen also bewirken, daß weder Weg an sich noch Ziel an sich undialektisch voneinander abgehalten und verdinglichtisoliert werden« (ebd.: 240).
Das Ziel wird dabei von Bloch als »die in der sich entwickelnden Materie angelegte« (ebd.: 241) »materialistisch-humane, human-materialistische Realtendenz« (ebd.) dessen bestimmt, was Marx als Kommunismus bezeichnet und formelhaft »als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus« (1990a: 536) gefasst hat. Negt/Kluge haben diese Formel vor dem Hintergrund der von ihnen entfalteten Kategorie der Selbstregulierung als eine »des Zusammenhangs von lebendiger Arbeit« (1981: 69) dahingehend zu reformulieren versucht, dass in dem Maße wie in der »Gravitation zwischen toter Arbeit und lebendigen Arbeiten [...] der Zusammenhang lebendiger Arbeit zu sich selbst findet, den Ausschlag gibt« (ebd.), und es dabei glückt, »die Fülle primärer, dem menschlichen Willen an sich entzogener und ihm fremder Regulationen ohne Ausschluß in den Zusammenhang der lebendigen Arbeit einzugemeinden, [...] ein eigentätiges Kraftfeld [entsteht], das weder in der Natur, noch in der Geschichte als andauernder Zustand natürlich vorkommt: Das bedeutet ›Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen‹« (ebd.).
Der Begriff der toten Arbeit umfasst dabei alle ursprünglich durch lebendige Arbeit erzeugten Objektivationen, d.h. auch Rituale und Institutionen, ja, sogar die menschlichen Organe, die ja nicht für bestimmte Funktionen, sondern in diesem entstanden sind, und ihre Funktion auch nur erfüllen können, wenn erneut lebendige Arbeit (z.B. in Form neuronaler Erregung) hinzugesetzt wird (vgl. May 2004: 51ff.). Auf diese Weise eröffnet sich das Ziel sozialistischer Pädagogik bzw. eines pädagogischen Sozialismus in Form solcher Momente gelingender Selbstregulierung »als Substanz im Weg« (Bloch 1979: 241), der jedoch seinerseits »sich darin als Funktion des Ziels« (ebd.) nur in dem Maße eröffnet, wie er »auf seine Bedingungen hin erforscht[.], auf seine Offenheit hin visiert[.]« (ebd.) wird. Auf eine solche »Bedingungsforschung nach Maßgabe des Möglichen« (ebd.: 240) verweist dann auch Michael Winkler in seiner Theorie der Sozialpädagogik, wenn er postuliert, dass sich »das sozialpädagogische Problem« (1988: 152) immer dann stellt, »wenn der
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Subjektivitätsmodus durch nichtvollzogene Aneignung gekennzeichnet« (ebd.) ist und »dieser Zustand beharrlich« (ebd.) bleibt. Ganz ähnlich fordert die »[r]eflexiv orientierte Professionalisierungstheorie [...] eine situative Öffnung der Sozialen Arbeit, [...] um die Blockierungszusammenhänge in der Lebensführung als solche zu erkennen und Handlungsalternativen aufzuzeigen« (Dewe/Otto 2012: 205). Während Letztere es bei dieser Forderung belässt, hat Winkler zur »Prüfung des konkreten Subjektivitätsmodus« (1988: 152) eine »Typologie möglicher Aneignungsprobleme« (ebd.) als ein »heuristisches Hilfsmittel« (ebd.) mit »aufforderndem Charakter« (ebd.) als »Reflexionshilfe« (ebd.) für Professionelle entwickelt. Diese birgt, wenn sie konsequent auf die von Negt/Kluge in ihren Überlegungen zu einer politischen Ökonomie der Arbeitskraft analysierte Trennung von »Arbeitsgegenstand und Arbeitsvermögen« (1981: 93) als Folge der grundlegenderen proletarischen Trennung von den Produktionsmitteln bzw. Verwirklichungsbedingungen bezogen wird (vgl. May 2016: 130ff.), die Basis einer solchen von Bloch vorgezeichneten bedingungsanalytischen Forschung im Rahmen sozialistischer Pädagogik. Weitere Ansatzpunkte eröffnen sich im aktuellen Versuch Holger Zieglers (i.E.b.), den Capability Approach als analytisches Instrument für eine Kritische Soziale Arbeit zu nutzen, deren Gegenstand er als Überwindung von Entfremdung bestimmt. Weitgehend »uneingelöst« – und damit zugleich ein Desiderat sozialistischer Pädagogik, wie auch eines pädagogischen Sozialismus – ist jedoch die von Bloch geforderte Aussichts-Erforschung des In-MöglichkeitSeienden. Bezüglich deren theoretischer Grundlagen sowie methodischen Umsetzung habe ich im Anschluss vor allem an Marx, Bloch, Henri Lefebvre und Negt/Kluge erste Überlegungen zur Diskussion gestellt (vgl. 2016: 101ff.). Diese beziehen sich auch zentral auf jenes »uneingelöste Erbe« des Subjektivitätsbegriffes und der Arbeit an der Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens, die ich in diesem Beitrag zumindest anreißen will.
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UNEINGELÖSTE E RBE DES S UBJEKTIVITÄTSBEGRIFFES Angesichts der heute vorherrschenden Subjektivierungsweisen, wie sie gegenwärtig in der Tradition von Foucault (vgl. 1994) und vor allem dessen Konzept der Gouvernenmentalität (vgl. 2000) vielfältig analysiert werden, ist der auf Marx zurückgehende, nicht-individualistisch eingeengte bzw. zugerichtete Subjektivitätsbegriff zu einer objektiven Ungleichzeitigkeit geworden. Demnach gilt es das auch in den bisherigen Ansätzen sozialistischer Pädagogik bzw. eines pädagogischen Sozialismus nicht voll eingelöste Erbe der Implikationen des Marx’schen Subjektivitätsbegriffes in deren/dessen Weiterentwicklung dialektisch aufzuheben. Marx legt überzeugend dar, dass »[w]enn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, [...] nicht das Setzen Subjekt [ist]; es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß. Das gegenständliche Wesen wirkt gegenständlich, und [...] sein gegenständliches Produkt bestätigt nur seine gegenständliche Tätigkeit, seine Tätigkeit als die Tätigkeit eines gegenständlichen natürlichen Wesens« (Marx 1990a: 577).
Vorweggenommen hat Marx mit diesem Begriff der Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte schon Piagets (vgl. 1975: 39ff.) Konzept funktionaler Assimilation, demzufolge ein Objekt zu einem organischen Teilstück einer Handlungsabfolge wird und mit ihr dergestalt eine unmittelbare Gesamtheit bildet, dass subjektiver und objektiver Anteil nicht auseinander zu halten sind, was auf eine entsprechende, gelingende Selbstregulierung verweist. Im Unterschied zu Piagets Begriff funktionaler Assimilation ist jedoch Marx’ Begriff der Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte nicht auf einen individuellen Aneignungsakt verengt. Schon »die ›objektive Logik‹ selbst der einfachsten Gebrauchsgegenstände [ist] vergegenständlichtes Ergebnis der Erfahrungsakkumulation der Geschichte« (Holzkamp/Schurig 1973: XL). In dieser zeigen sich damit die »äußeren [...] Gestalten der Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte« (Negt/Kluge 1981: 79). Die darüber vermittelten »Subjekteigenschaften der
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organisierten gesellschaftlichen Erfahrungen« (Negt/Kluge 1990: 28) materialisieren sich jedoch nicht nur in den verschiedenen Produkten und Institutionen menschlicher Kultur als »gattungsmäßige[.] Objektivation an und für sich« (Joas 1978: 11f.), sondern darüber vermittelt auch in allen »menschlichen Verhältnisse[n] zur Welt [...]. Denn nicht nur die 5 Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne, die praktischen Sinne (Wille, Liebe etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die vermenschlichte Natur« (Marx 1990a: 539ff.). Vor diesem Hintergrund entstehen alle menschlichen Sinne, Eigenschaften, Vermögen, ja sogar Affekte und Triebe (vgl. Lorenzer 1972) als »innere[.] Gestalten der Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte« (Negt/Kluge 1981: 79) in Form toter Arbeit im Rahmen der Ontogenese als »den materiellen Produktivkräften entsprechende[.] individuelle[.] Fähigkeiten« (Marx/Engels 1978: 67f.) erst im Kooperationsverhältnis mit deren »äußeren Gestalten« (Negt/Kluge 1981: 79), die damit beide zugleich in lebendiger Arbeit angeeignet werden. Vor diesem Hintergrund gewinnt dann auch Marx’ sechste These über Feuerbach ihren vollen Sinn, derzufolge »das menschliche Wesen [...] kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum« (1990c: 534), sondern »[i]n seiner Wirklichkeit [...] das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (ebd.) ist. Da die Wirklichkeit der menschlichen Sinne in dieser Weise nur vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Geschichte und der Stellung der Einzelnen in dieser verständlich wird, kann die Verwirklichung menschlicher Subjektivität nicht auf die einzelne »Person und die gesellschaftlichen Repräsentanzen, die sich die historischen Personen im Verlauf der Zeit zurecht gemacht haben« (Negt/Kluge 1981: 79) verengt werden. Denn diese »sind nicht das Subjekt. Beide sind historische Konstrukte, historisch und empirisch real, aber zugleich unwirklich. […] Sie verdecken den wirklichen Verkehr zwischen den einzelnen gegenständlichen Wesenskräften, die sich innerhalb der Person nur versammeln und innerhalb der Gesamtgesellschaft ebenfalls nur lose zusammenfassen. […] Die wirklichen Beziehungen tauchen durch Ich und gesellschaftliches Ganzes (das als Produktionsprozeß nur eine Vorstellung ist) hindurch« (ebd.)
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und verwirklichen sich als lebendige Arbeit entsprechender Selbstregulierungen. Wenn Lefebvre darauf verweist, dass solche »gesellschaftliche Repräsentationen […] insgesamt Repräsentationen der Gesellschaft sind: […] kurzum, all das, was man recht konfus mit den Termini ›Ideologie‹, ›Kultur‹, ›Erkenntnis‹ bezeichnet« (1977: 69), werden die Parallelen eines solchen Begriffs von Repräsentationen zu dem deutlich, was heute im Anschluss an Foucault als »Subjektivierungsweisen« bezeichnet wird. Allerdings verlangt Lefebvre eine »differenziertere Analyse [...] der Übernahme dieser externen-internen Elemente, in ihrer Assimilation und in der Effizienz ihres Funktionierens« (ebd.). Wenn er dabei ähnlich wie viele der aktuellen Studien zu Subjektivierungsweisen und Gouvernementalität auf »der untersten und effizientesten Stufe [...] keinerlei spontane [...] Selbstregulierung« (ebd.) mehr zu erkennen glaubt, vielmehr postuliert, dass »Repräsentationen [...] diese Rolle im Innern des bewußten Wesens, des gesellschaftlichen Individuums« (ebd.) übernommen haben, muss die darin vorgenommene Generalisierung jedoch schon allein aus methodologischer Perspektive im Sinne einer Tendenzaussage relativiert werden, da kaum empirisch nachzuweisen ist, ob eine situativ prompte menschliche Reaktion Produkt einer solchen gesellschaftlicher Konditionierung oder nicht doch Ausdruck einer spontanen Selbstregulierung ist. Die für sozialistische Pädagogik bzw. einen pädagogischen Sozialismus so zentrale Frage, wie es dem Menschen möglich wird, »seine eigenen Werke zu beherrschen, sich jene Werke völlig anzueignen, die seine eigene Natur, die Natur in ihm sind« (Lefebvre 1975: 47), lässt sich vor dem Hintergrund des in diesem Beitrag aufgrund seines beschränkten Rahmens nur grob skizzierbaren Zusammenhangs zum einen dahingehend beantworten, dass bei all solchen Aneignungsbemühungen im Verhältnis zwischen toter und lebendiger Arbeit Letztere den Ausschlag gibt. Damit »den gegenständlichen Momenten der Produktion die[.] Form der Entfremdung abgestreift« (Marx 1983: 723) werden kann, ist darüber hinaus aber – wie Marx darlegt – eine »Aufhebung [...] des unmittelbaren Charakters der lebendigen Arbeit als bloß einzelner oder als bloß innerlich oder bloß äußerlich allgemeiner, mit dem Setzen der Tätigkeit der Individuen als unmittelbar allgemeiner oder gesellschaftlicher« (ebd.) notwendig. So werden sie damit doch »gesetzt als Eigentum, als der organische gesellschaftliche Leib, wo-
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rin die Individuen sich reproduzieren als Einzelne, aber als gesellschaftliche Einzelne« (ebd.). Marx unterscheidet nun sehr deutlich zwischen der Verwirklichung einer solchen nicht individualistisch verengten, menschlichen Subjektivität und dem, wie die gesellschaftliche Zurichtung zum kapitalistischen Produktionsprozess systematisch »Detailgeschick treibhausmäßig fördert« (1988: 381), was seiner Analyse zufolge zwangsläufig mit der »Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen« (ebd.) einhergeht. Von diesem noch nicht theoretisch ausformulierten, geschweige denn empirisch im Hinblick auf entsprechende pädagogische Prozesse und ihre Konsequenzen unterfütterten Marx’schen Postulat, lässt sich eine Argumentationslinie spannen über Wilhelm Reichs Theorie einer »Aufsplitterung und Gegensatzbildung« (1997: 110) zwischen verdrängtem Trieb und einem Anteil, der sich durch erneute Hemmung aufspaltet in eine sich gegen diesen verdrängten Trieb richtende unbewusste Abwehr, sowie ein nach außen als »Charakterzug, Symptom, sekundärer Trieb, reaktive Arbeitsleistung« (ebd.) sichtbar werdenden Verhalten, bis hin zu Negt/Kluges Theorie, wonach bei jeder Zurichtung »notwendig ein Teil Anpassung, ein Teil Protest« (1981: 622) entstünde, sodass diese nur in dem Maße gelinge, wie »die Proteste [...] sich von ihrer Identität trennen« (ebd.: 623), was »wiederum in der Form: ein Teil Anpassung, ein Teil Protest« stattfinde, wobei die »Trennungsenergien [...] objektiv aus Verlusterfahrung und im subjektiven Können, darauf zu antworten« (ebd.), wirksam würden. Wenn Reich Charakter als zugleich »Ausdruck und Summe jener Einwirkungen der Außenwelt auf das Triebleben, die durch Häufung und qualitative Gleichartigkeit ein historisches Ganzes bilden« (2010: 154), fasst, indem »die Gesellschaft [...] die menschlichen Charaktere« (1997: 197) formt, die ihrerseits »die gesellschaftliche Ideologie en masse« (ebd.) und damit zugleich »ihre eigene Unterdrückung in der Lebensverneinung« (ebd.) reproduzieren, drängen sich Parallelen zu Lefebvres Begriff der Repräsentation geradezu auf. Vor diesem Hintergrund verwundert dann auch nicht, dass Lefebvre im Unterschied zu den allermeisten Studien zu Subjektivierungsweisen und Gouvernementalität fordert, im Hinblick auf solche Repräsentationen die Konflikte aufzudecken, »die sich hinter ihnen verbergen und für die sie Pseudolösungen darstellen« (1977 Bd. II: 69). So gründet doch Reichs Begriff von Charakter im Unterschied zu Bourdieus sehr ähnlich gelagertem Konzept von Habitus, als »dem einheitsstiftenden Er-
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zeugungsprinzip aller Formen von Praxis« (Bourdieu 1982: 282f.), nicht nur in skizzierter Weise auf seiner psychoanalytischen Theorie von inneren Konflikten, sondern zugleich auch auf einem marxistisch geprägten Begriff grundlegender gesellschaftlicher Widersprüche. Im Aufgreifen von Lefebvres Forderung, die hinter Repräsentationen sich verbergenden Konflikte aufzudecken, wären diese dann im Anschluss an Blochs mehrzeitliche und mehrräumliche Dialektik als gleichzeitige und ungleichzeitige Widersprüche nach ihren subjektiven und objektiven Seiten auszudifferenzieren. Zugleich zu vermitteln wäre dies mit Blochs skizziertem Analysekonzept einer Bedingungsforschung nach Maßgabe des Möglichen, welches zugleich dialektisch auf eine Aussichtserforschung des InMöglichkeit-seienden bezogen ist. Dabei geht es auch um »eine Einholung an sich vom öffentlichen Konsens ausgeschlossener, unbewusster Lebensentwürfe, womit die Spannung zwischen unbewussten Wünschen und gesellschaftlich normierender Praxis aus dem Bannkreis privaten Leides herausgelöst und öffentlich gemacht wird« (Lorenzer/Würker 2013: 194; vgl. May 2016: 135ff.). Wenn Reich nicht nur von »Charakterzug« (1997: 110), sondern zugleich von »reaktive[r] Arbeitsleistung« (ebd.) spricht und auch Negt/Kluge (vgl. 1981) mit einem sehr weit gefassten Begriff von Arbeitsvermögen operieren, wäre darüber hinaus bedingungsanalytisch zu untersuchen, wie solche Vermögen im Rahmen der Sozialisation in ihrer Verwirklichung blockiert wurden: durch direkte Unterdrückung, Entzug der Verwirklichungsbedingungen, mangelnde positive Resonanz etc. Die Aussichtserforschung des In-Möglichkeit-seienden hat diese Vermögen dann unter der Perspektive ihrer Verwirklichung in Blick zu nehmen, bergen doch die bisher blockierten Anteile ebenso objektive Möglichkeiten, wie jene Vermögen lebendiger Arbeit der Selbstregulierung, die sich gar nicht »treibhausmäßig« (Marx 1988: 381) züchten lassen, also gegen jegliche Akkumulation, wie auch Selbst- oder Fremdregierung (vgl. Kessl 2005) resistent sind, wie z.B. Spontaneität, Kreativität, Empathie, mimetische Vermögen etc. (vgl. May 2016: 124ff.). Sozialistische Pädagogik hat dabei das Erbe einer Pädagogik der Selbstregulierung »als Realitätsprinzip« (vgl. Negt 1986) aufzugreifen, um auch deren bisher uneingelöste pädagogische Prinzipien (vgl. May 2004: 291ff.) ihrer Verwirklichung entgegen zu führen.
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D AS UNEINGELÖSTE E RBE DER ARBEIT AN DER V ERWIRKLICHUNG MENSCHLICHEN G EMEINWESENS Eng verwoben mit dem skizzierten Subjektivitätsbegriff ist auch der Marx’sche Begriff von Gemeinwesen. So verweist Marx darauf, dass das Gemeinwesen »von welchem der Arbeiter isoliert ist, [...] ein Gemeinwesen von ganz andrer Realität und ganz andrem Umfang [ist] als das politische Gemeinwesen. Dies Gemeinwesen, von welchem ihn seine eigene Arbeit trennt, ist das Leben selbst, das physische und geistige Leben, die menschliche Sittlichkeit, die menschliche Tätigkeit, der menschliche Genuß, das menschliche Wesen. Das menschliche Wesen ist das wahre Gemeinwesen der Menschen. Wie die heillose Isolierung von diesem Wesen unverhältnismäßig allseitiger, unerträglicher, fürchterlicher, widerspruchsvoller ist als die Isolierung vom politischen Gemeinwesen, so ist auch die Aufhebung dieser Isolierung und selbst eine partielle Reaktion, ein Aufstand gegen dieselbe um so viel unendlicher, wie der Mensch unendlicher ist als der Staatsbürger, und das menschliche Leben als das politische Leben« (1978b: 408).
Vor diesem Hintergrund lässt sich das Ziel wie auch der Weg sozialistischer Pädagogik bzw. eines pädagogischen Sozialismus schlicht als Verwirklichung der Subjektivität eines solchen menschlichen Gemeinwesens bestimmen (vgl. May 2016). Objektiv ungleichzeitig ist diese Arbeit in dem Sinne, dass bei den heute vorherrschenden Konzepten von Integration oder Inklusion stets ein schon existierendes Gemeinwesen vorausgesetzt wird, das selbst als politisches diesen Namen solange nicht verdient, wie diese nun zu integrieren bzw. inkludieren geplanten Gruppen davon ausgeschlossen sind. Das gilt selbst für die gänzlich anders als in Luhmanns (vgl. 1998) systemtheoretischen Füllungen des Inklusions-Begriffes gelagerten Inklusionsforderungen in der Tradition der Behindertenrechtsbewegung, die zwar darauf zielen, dass sich die Gesellschaft mit ihren Institutionen für die Individualität eines jeden Menschen öffnet, aber eben nicht den von Marx in seinem Begriff vom menschlichen Gemeinwesen in den Blick gerückten kapitalistischen Entfremdungszusammenhang mitberücksichtigen. Wenn Honneth (vgl. 2016: 74) argumentiert, nicht die Revolution, sondern ein stetiges Arbeiten an der Realisierung sozialer Freiheit sei das Ziel
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des Sozialismus, wäre ihm aus Marx’scher Perspektive nur insofern zuzustimmen, als es dem Sozialismus nicht um eine »Revolution von politischer Seele« (Marx 1978b: 408) gehen kann, im Bestreben die Isolierung »der politisch einflußlosen Klassen [...] vom Staatswesen und von der Herrschaft aufzuheben« (ebd.). Denn diese würde nur »der beschränkten und zwiespältigen Natur dieser Seele gemäß, einen herrschenden Kreis in der Gesellschaft, auf Kosten der Gesellschaft« (ebd.) organisieren. Marx kritisiert, dass der dabei eingenommene Standpunkt letztlich der des Staats sei, »eines abstrakten Ganzen, das nur durch die Trennung vom wirklichen Leben besteht, das undenkbar ist ohne den organisierten Gegensatz zwischen der allgemeinen Idee und der individuellen Existenz des Menschen« (ebd.). Deutlich unterscheidet Marx hiervon das, was er soziale Revolution nennt, und die geradezu konstitutiv ist für einen pädagogischen Sozialismus und deshalb auch Ziel sozialistischer Pädagogik sein muss. Diese richtet sich gegen das »entmenschte Leben« (ebd.) und beschränkt sich nicht darauf, »Spielräume sozialer Freiheit zu erweitern« (Honneth 2016: 104), sondern zielt auf eben jene Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens. Im Unterschied zu einer »Revolution von politischer Seele« (Marx 1978b: 408) befindet sich Marx zufolge eine solche soziale Revolution »deswegen auf dem Standpunkt des Ganzen, weil sie – fände sie auch nur in einem Fabrikdistrikt statt – [...] eine Protestation des Menschen gegen das entmenschte Leben ist, weil sie vom Standpunkt des einzelnen wirklichen Individuums ausgeht, weil das Gemeinwesen, gegen dessen Trennung von sich das Individuum reagiert, das wahre Gemeinwesen des Menschen ist, das menschliche Wesen« (ebd.).
Indem Marx in diesem Zusammenhang auch bloß »partielle Reaktionen« (ebd.), die aber auf die Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens zielen, unter seinen Begriff von sozialer Revolution fasst und Bloch darauf verweist, dass der »Marxismus als Wärmelehre [...] einzig auf jenes positive […] In-Möglichkeit-Sein bezogen [ist], das die wachsende Verwirklichung des Verwirklichenden, zunächst im menschlichen Umkreis, umfaßt« (1979: 241), korrespondiert dies in hohem Maße mit dem, was Paulo Freire (vgl. 1975) in seiner Pädagogik der Unterdrückten, deren dialogisches Verständnis beansprucht, diese »zur Praxis der Freiheit« (vgl. Freire 1977) werden zu lassen, als Grenzakt bezeichnet.
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Solche Grenzakte zielen als soziale Revolution im Marx’schen Sinne darauf, blockierte menschliche Subjektivität in der Ausschöpfung dessen zu verwirklichen, was Ernst Bloch in seiner systematischen Unterscheidung von »Schichten der Kategorie Möglichkeit« gegenstandstheoretisch als »sachhaft objektgemäß möglich« (1979: 259ff.) bezeichnet hat (vgl. May 2005: 157ff., 2016: 70ff.). Dieses »sachhaft-objektgemäß Mögliche« kann aber erst durch das Ineinandergreifen von aktiver Potenz – den (Arbeits-) Vermögen menschlicher Subjektivität – und passiver Potentialität (vgl. Bloch 1979: 267f.) verwirklicht werden. Blochs Begriff von passiver Potentialität weist dabei gewisse Strukturähnlichkeiten zur »Perspektive der Capabilities« (Otto/Ziegler 2010: 11) auf, der es um »die objektive Menge an Möglichkeiten« (ebd.) geht und damit »um die reale, praktische Freiheit der Menschen, [...] eine eigene Konzeption des guten Lebens entwickeln und realisieren zu können« (ebd.). Insofern kann dann auch Honneth zugestimmt werden, dass der Sozialismus »in den Durchbrüchen« (2016: 117), die in »institutionelle[n] Errungenschaften [...] zu gesellschaftlicher Wirklichkeit gelangt sind, [...] die Umrisse eines Fortschrittsprozesses entdecken können [muß], der belegt, daß die eigenen Visionen auch in der Zukunft realisierbar bleiben« (ebd.). Keinesfalls aber dürfen solche »objektiv gewordene Verbesserungen« (ebd.) – wie bei ihm – gegen jene »kollektive Bewegungen« (ebd.) ausgespielt werden, in denen Menschen über entsprechende sozialrevolutionäre Grenzakte an der Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens arbeiten. Marx’ Argumente gegen eine »Revolution von politischer Seele« (1978b: 408) verdeutlichen umgekehrt jedoch auch, dass ein pädagogischer Sozialismus sich nicht damit begnügen kann, dass »im historischen Prozeß stets neue, je nach gesellschaftlichen Umständen variierende Gruppen Anstrengungen unternehmen, den eigenen, bislang unberücksichtigten Ansprüchen öffentlich dadurch Gehör zu verschaffen, daß sie Kommunikationsbarrieren niederzureißen und dementsprechend die Spielräume sozialer Freiheit zu erweitern versuchen« (Honneth 2016: 104).
Vielmehr muss er zugleich auch eine Lösung für »Rousseaus Problem der Demokratie« (Ritsert 2006: 60) entwickeln, die Hegel mit seinem Begriff der konkreten Freiheit ja bloß abstrakt vorgezeichnet hat, wenn er fordert,
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dass im Recht »jeder Einzelne von dem anderen als ein freies Wesen respektiert und behandelt werde, denn nur insofern hat der freie Wille sich selbst im Anderen zum Gegenstand und Inhalt« (1979b: 232). Sozialistische Pädagogik kann in diesem Zusammenhang an das uneingelöste Erbe von Makarenkos (vgl. 1982: 80ff.) pädagogischer Kunst des Perspektivenentwickelns anknüpfen. Im Sinne dessen, was er als »nahe Perspektiven« bezeichnet, wäre nicht nur an unmittelbare Bedürfnisse der Selbstverwirklichung anzuknüpfen, sondern im gemeinsamen Dialog mit den Betroffenen auch ihre Mangelempfindungen, als Ausdruck eines entsprechend begrenzenden Blockierungszusammenhangs zu interpretieren. Die »Reichheit der menschlichen Bedürfnisse« (Marx 1990a: 546) kommt jedoch erst im Übergang zur Ebene der »mittleren Perspektiven« durch »dialogische, partizipative Prozesse der Bedürfnisinterpretation« (Fraser 1994: 240) und eine darauf basierende Politik der Bedürfnisinterpretation (ebd.) in den Blick. Im Hinblick auf die Realisierung der »fernen Perspektive« eines nicht ausgrenzenden sozialistischen Gemeinwesens ist dabei ein weiteres »uneingelöstes Erbe« aufzugreifen, nämlich die Organisationsperspektive des Sozialistischen Büros: »Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren« (Negt 1976b). Dieses gilt es in einer »intersektionalitätssensiblen kategorialen Gemeinwesenarbeit« (vgl. May 2016: 167ff.) aufzuheben, um so die darin Eingebunden immer stärker an einer aktiven Mitgestaltung des Sozialismus zu beteiligen.
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UNEINGELÖSTE E RBE DER DRITTEN T HESE ÜBER
F EUERBACH
Zusammengefasst in einem Text lautet die 3. These über Feuerbach in ihrer ursprünglichen Variante von 1845 (Marx 1990b: 5f.) und der revidierten Fassung von 1888 (Marx 1990c: 533f.) wie folgt: »Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, [veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind], vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. [Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern,
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von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist. (Z.B. bei Robert Owen.)] Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit [oder Selbstveränderung] kann nur als revolutionäre [umwälzende] Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.«
Zweifellos handelt es sich bei der Überwindung der im pädagogischen Verhältnis erfolgenden Sonderung der »Gesellschaft in zwei Teile [...], von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist« (ebd.), um das bisher am wenigsten eingelöste Erbe eines pädagogischen Sozialismus bzw. sozialistischer Pädagogik. Ansatzpunkte dazu gibt es in Freires dialogisch angelegter Pädagogik der Unterdrückten, in der »das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung« (Marx 1990b: 5f.) durch Grenzakte pädagogisch dadurch anzustoßen versucht wird, dass den Betroffenen Grenzsituationen in ikonographischer Form (Bilder, Fotos, etc.) kodiert präsentiert werden, welche sie herausfordern, die in diesen Situationen deutlich werdenden Begrenzungen der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens zu überwinden, um von ihnen dann selbst dekodiert zu werden. Boals (vgl. 2009) an die Pädagogik der Unterdrückten anknüpfendes Theater der Unterdrückten hat insofern das dialogische Prinzip von Kodierung/Dekodierung zugleich radikalisiert, wie dynamisiert, als dort die Betroffenen selbst Grenzsituationen in Form von statuenhaft gestellten Szenen kodieren, wobei sie angehalten werden, »nicht erst in Worten [zu] denken und diese dann in Bilder [zu] übersetzen« (ebd.: 29), sondern »spontan in Bildern [zu] denken« (ebd.), bis die als Standbild kodierte Grenzsituation »als kollektive Vorstellung der Realität akzeptiert wird und nach Auffassung aller die plastische Umsetzung des Themas ist« (ebd.: 53), welches dann erst dekodierend analysiert wird. In gleicher Weise wird mit dem »in der Realität erstrebten Bild« (ebd.: 241) verfahren, um dann über beliebig viele Zwischenbilder Möglichkeiten zu Grenzakten zu erschließen. Auch mit Fotos von Grenzsituationen wie auch Grenzakten, die unter unterschiedlich gewählten Perspektiven durch die Betroffenen selbst als Kodierungen erstellt werden, um dann im Kollektiv dekodiert zu werden, kann Freires Prinzip radikalisiert und dynamisiert werden (vgl. May 2014, 2016: 162ff.). Über diese Ansätze einer dialogischen Ausgestaltung des pädagogischen Verhältnisses zur Anregung von Grenzakten hinaus, muss sich je-
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doch auch an den Institutionalisierungsformen etwas ändern, um die darüber erfolgende Sonderung der »Gesellschaft in zwei Teile [...], von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist« (Marx 1990c: 533f.), zu überwinden. Hier gilt es das uneingelöste Erbe einer genossenschaftlichen Organisation, wie sie von Paul Natorp (vgl. 1974) im Hinblick auf die Verwirklichung der platonischen Vernunftidee einer sittlich vollkommenen Gemeinschaft vorgedacht wurde, dialektisch aufzuheben, wozu Timm Kunstreich (vgl. 2015) einige instruktive Vorschläge unterbreitet hat. Dabei ist jedoch im Auge zu behalten, dass eine sozialgenossenschaftliche Organisation von professionellen Ansätzen sozialistischer Pädagogik nicht schon die Lösung ist im Hinblick auf die Verwirklichung eines gleichermaßen demokratischen, wie sozialen Gemeinwesens, in dem keine Interessen ausgegrenzt werden. Sie scheint jedoch die angemessene Organisationsform, um genau daran im Rahmen eines pädagogischen Sozialismus und auch innerhalb einer sozialistischen Pädagogik zu arbeiten.
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Historische und systematische Perspektiven
Beiträge des Syndikalismus zum Verhältnis von Sozialismus und Pädagogik S TEPHAN G EUENICH
Darüber was Sozialismus ist, gibt es zahlreiche Vorstellungen, wie in der Einleitung zu vorliegendem Band dargelegt wurde. Ein möglicher Versuch ›sein Wesen zu bestimmen‹ stellt der Syndikalismus dar, sein Ziel ist ein freiheitlicher Sozialismus. Für dessen Realisierung wiederum erhält unter anderem die Pädagogik eine zentrale Rolle. Ganz im Sinne historischer zeitgenössischer Diskurse1 wird die Schaffung des neuen Menschen im Syndikalismus zu einer Basis für die gesellschaftliche Veränderung, für die Befreiung des Menschen. Pädagogik scheint Sozialismus zu begründen, bedarf jedoch auch der Anpassung an das sozialistische Ideal, wie noch zu zeigen sein wird. Bevor ich nun näher auf das im Syndikalismus nahegelegte Verhältnis von Pädagogik und Sozialismus, auf das hier aufscheinende Verständnis von sozialistischer Pädagogik und damit einhergehenden Perspektiven für ein gemeinsames Sprechen über Sozialismus und Pädagogik eingehe, möchte ich kurz aufzeigen, was unter Syndikalismus zu verstehen ist und wie dieser entstand.
1
Verwiesen sei beispielhaft zum einen auf die zunehmende Verlagerung der Revolution »aus der Objektivität der Geschichte in das individuelle Bewußtsein« (Tilsner-Gröll 1982: 192) in den Freien Gewerkschaften, womit auch der neue Mensch in den Fokus geriet (ebd.). Zum anderen ist bezüglich des Zieles neuer Menschen reformpädagogische Diskurse zu nennen (vgl. Uhlig 2006: 40).
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S YNDIKALISMUS : G RUNDLAGEN UND G ESCHICHTE Der Syndikalismus wird sowohl von der Erziehungswissenschaft, wie auch einem großen Teil der Forschung zu sozialistischer Pädagogik randständig behandelt und dabei gerne ablehnend als anarchistisch, idealistisch oder bürgerlich abgetan. Dieser Abgrenzung gegenüber sah sich die historische, aus dem Lokalismus hervorgegangene syndikalistische Bewegung selbst als Teil der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung an und versuchte, aufbauend auf der Gewerkschaft als bedeutender Organisation für die gesellschaftliche Erneuerung, den Sozialismus zu erringen – Sozialismus versehen mit dem Attribut freiheitlich. Zentrale Kennzeichen des Syndikalismus sind die Betonung des Föderalismus und Lokalismus in Organisationsfragen, die Betonung der Gewerkschaft als zentrale Einrichtung zur Regulierung gesellschaftlicher Belange anstelle des Staates, die Hervorhebung des (General-)Streiks als zentrales Mittel des gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen Kampfes, sowie eine eng mit dem Konzept der gegenseitigen Hilfe von Peter Kropotkin verbundene Ethik. Die Theorie Kropotkins hebt die, bereits von Darwin neben der natürlichen Selektion als evolutiven Faktor erkannte gegenseitige Hilfe hervor und kritisiert die vor allem auf Darwins Anhänger*innen zurückzuführenden Verengungen des Darwinismus (vgl. Kropotkin 2011: 27-29). Kropotkin versucht anhand verschiedener Beispiele aufzuzeigen, dass gegenseitige Hilfe einen zentralen Bestandteil der Natur und des Menschen darstellt. So sei der Mensch »keine Ausnahme von der Natur. Er ist ebenfalls dem großen Prinzip der gegenseitigen Hilfe unterworfen, das denen die besten Aussichten des Überlebens gewährt, die einander am besten im Kampf ums Dasein unterstützen« (ebd.:105). Bereits von ihren Anfängen an war die Arbeiter*innenbewegung keine einheitliche; schon früh gab es in ihr verschieden geartete Opposition. Ein Teil davon war der Lokalismus, der die »Einheit von politischem und ökonomischem Kampf« (Vogel 1977: 46) forderte und die demokratische Organisation von der Basis aus betonte, anstelle des durch Gewerkschaften und Sozialdemokratie zunehmend eingeschlagenen Wegs der Hierarchisierung und Zentralisierung (vgl. Klan/Nelles 1990: 14). 1897 gründete sich vor diesem Hintergrund die erste deutsche lokalistische Organisation, die sich 1901 in Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG) umbenannte. Die hier nur angedeuteten Konflikte spitzten sich in der folgenden
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Zeit zu, doch verorteten sich die Lokalist*innen bis etwa 1904 innerhalb der Sozialdemokratie, als deren Avantgarde sie sich ansahen (vgl. Bock 1969: 28). Der 1905 von Raphael Friedeberg gehaltene Vortrag Weltanschauung und Taktik des Proletariats löste nicht nur eine breite Diskussion aus, sondern stellte auch die Basis für den ideologischen Bruch des Lokalismus mit der Sozialdemokratie dar. Die hier grundgelegte Hinwendung zum Syndikalismus (vgl. Graf 1990: 4f.) wurde letztendlich 1908 vollzogen, markiert durch die Rede Fritz Katers auf dem 7. Kongress der FVdG (vgl. Bock 1969: 32). Doch neben der Betonung lokalistischer Organisationsstrukturen, wurden im Laufe der Zeit auch Ideen des französischen revolutionären Syndikalismus, sowie anarchistische Konzepte und Gedanken aufgegriffen, was sich unter anderem in der zunehmenden Betonung des Kulturkampfes und der angestrebten Revolutionierung von Köpfen und Individuen zeigt. Innerhalb der FVdG, die zur Zeit des Ersten Weltkrieges zwar weiterbestand, jedoch massiv in ihrer Arbeit behindert wurde (vgl. Döhring 2013: 60), verstärkten sich nach dem Krieg unter anderem unter dem Einfluss von Rudolf Rocker die revolutionär-syndikalistischen und anarchistischen Einflüsse. Auf dem Kongress 1919, auf dem sich die FVdG in Freie ArbeiterUnion Deutschlands (FAUD) umbenannte, wurde die von Rocker ausgearbeitete Prinzipienerklärung des Syndikalismus angenommen, »eines der wenigen verbindlichen Dokumente der anarcho-syndikalistischen Bewegung« (Klan/Nelles 1990: 42). In ihr wird unter anderem ausgeführt, »daß der Sozialismus letzten Endes eine Kulturfrage« (Rocker 1920: 3) sei und die Massen zur eigenen Befreiung geistig erzogen werden müssten (vgl. ebd.: 4). Mit dieser Kulturarbeit eng verbunden ist der ökonomische Kampf; Geist und Materie stehen in Zusammenhang und begünstigen einander. Mit dem Kulturkampf geht weiter noch der Fokus auf das Hier und Jetzt einher (vgl. Rocker 1920: 15), der einmal mehr pädagogische Interventionen nahelegt. Die Zeit Anfang der 1920er Jahre stellt den Höhepunkte des deutschen Syndikalismus dar: Nicht nur hatte er nun ein grundsätzlich akzeptiertes Programm, auch konnte die FAUD so viele Mitglieder aufweisen wie nie wieder und hatte vor Ort auch über die eigene Organisation hinaus einen merklichen Einfluss auf die Arbeiter*innenbewegung und deren Kämpfe (vgl. Graf 1990: 9). So waren Syndikalist*innen beispielsweise maßgeblich an Streiks in Hamborn und Mülheim (Nordrhein-Westfalen) mit bis zu
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60.000 Bergarbeitern beteiligt, die entgegen Beschlüssen und Vereinbarungen der zentralen Gewerkschaften mit den Arbeitgebern durchgeführt wurden (vgl. Klan/Nelles 1990: 63-69). In den 1920er Jahren gründeten die Syndikalist*innen weiters etliche Kulturorganisationen – ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung, die der Kultur- und mit ihr der Bildungsarbeit beigemessen wurde. Die kulturellen Organisationen stellten nicht nur einen »privilegierte[n] Ort für die Erprobung und Festigung der ›hohen Ideale der Anarcho-Syndikalisten‹« (Bock 1989: 329) dar, auch konnte vor allem in ihnen der deutsche Syndikalismus bis in die 1930er Jahre hinein überleben (vgl. Klan/Nelles 1990: 44). Auf ihrem letzten Kongress 1932 bereitete sich die FAUD auf die sich anbahnende Illegalität vor, um sich schließlich im Februar 1933 freiwillig aufzulösen, damit ihrem Verbot zuvorzukommen und »erhebliche Vermögensteile für die Illegalität zu sichern« (Graf 1990: 122). Zahlreiche Syndikalist*innen engagierten sich von nun an im Kampf gegen den Faschismus, sei es in Nazideutschland oder in Spanien. Versuche nach dem Zweiten Weltkrieg an die Konzepte und Traditionen des (Anarcho-)Syndikalismus der 1920er Jahre anzuknüpfen, verliefen großteils im Sand und erlangten nicht annähernd dessen Bedeutung (vgl. hierzu u.a. Degen 2002 sowie Arbeitsgruppe 30 Jahre FAU 2008). Bereits angedeutet wurde die zentrale Stellung, die der Kulturarbeit und der Veränderung der Individuen im Syndikalismus zukam und zu dessen Aufgabe erklärt wurde.2 Die damit verbundenen pädagogischen Anklänge konkretisieren sich in Aussagen, die die Bedeutung der Gewinnung der »Geister und Köpfe« hervorheben, mit der Begründung, dass die »Liebe zur Sache, geistiges Aufgehen im sozialistischen Ideal, Aufopferung für eine große Menschheitsidee […] erst den um den Sozialismus kämpfenden Arbeiter aus[machen]« (Roche 1912: o.S.). Auch geht es darum »Leidenschaft«, die »revolutionäre Seele« oder »Sehnsucht nach den sozialistischen
2
Auf innersyndikalistische Debatten zum Verhältnis von Geist und Materie, von ökonomischem und kulturellem Kampf kann in diesem Beitrag nicht weiter eingegangen werden. Betonen möchte ich jedoch, dass ich hier, dem Thema des Bandes entsprechend, vor allem auf die im weitesten Sinne pädagogische Seite des Syndikalismus eingehe. Dabei rückt der als notwendig erachtete wirtschaftliche Kampf zwangsweise in den Hintergrund, ohne diese für den Syndikalismus mindestens ebenso wichtige Perspektive negieren zu wollen.
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Sonnenhöhlen« (Diogenes 1912: o.S.) zu erwecken und einen sozialistischen Willen im Proletariat auszubilden. Diese mit dem Sozialismus verbundenen »Fragen der Erziehung« (Grimberg 1924: o.S.) äußern sich konkreter in Forderungen nach Aufklärung und Aneignung von Wissen und Fähigkeiten, nicht zuletzt, um Ämter und Aufgaben in der gewerkschaftlichen Organisation übernehmen zu können, aber auch, um sich der Mittel und Funktionsweise des Kapitalismus bewusst zu werden. Ziel und Fokus ist dabei dessen Beseitigung, der Aufbau neuer Strukturen mit Blick auf eine sozialistische Gesellschaft, sowie die Schaffung neuer Menschen, die erst in der Lage sind, die neue Gesellschaft zu schaffen (vgl. Nobody 1913a: o.S.). Diese geistige, kulturelle oder erzieherische Aufgabe bezieht sich sowohl auf Erwachsene, wie auch Kinder und äußert sich negativ gewendet in der Kritik der zeitgenössischen Bildung und Erziehung. Positiv werden Vorschläge zur Erziehung in der Familie, in der Gewerkschaft, in der Schule unterbreitet.
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UND
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Bevor ich nun auf den möglichen Beitrag des Syndikalismus zum Verhältnis von Pädagogik und Sozialismus eingehe, möchte ich noch kurz dem zugrunde liegende Begriffe thematisieren. Dabei geht es um die Frage, inwiefern die syndikalistische Pädagogik eine sozialistische ist. Auch möchte ich einen kurzen Blick auf die Bedeutung von Revolutionsperspektiven werfen und einige allgemeine Gedanken zum Begriff der sozialistischen Pädagogik äußern. Der Syndikalismus findet sich in allen drei Bestimmungen des Sozialismusbegriffes wieder, die der Definition sozialistischer Pädagogik, als eine Praxis und »Reflexion der intendierten und nicht intendierten individuellen oder auch kollektiven Steuerung von Lernprozessen«, die durch soziale Freiheit, queere Gleichheit und transversale Solidarität gerahmt sind (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 39), zugrunde liegen. Das auf Honneth aufbauende Konzept der sozialen Freiheit spiegelt den syndikalistischen Fokus auf eine gesellschaftlich verankerte individuelle Freiheit wider und zeigt sich beispielsweise auch im für den Syndikalismus zentralen Kulturbegriff: Echt oder sozialistisch werde eine Kultur demnach erst durch die regelmäßige und vor allem gerechte Befriedigung der Be-
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dürfnisse, durch den Zugang aller Menschen zu dem was in »Vergangenheit und Gegenwart an wirtschaftlicher und geistiger Arbeit von der Gesamtheit der Menschen hervorgebracht worden ist« (Oerter 1921: o.S.) und durch die Verbesserung der »Beziehungen der Menschen zu einander« (Oerter 1920: o.S.). Mit dem Fokus auf die individuelle Freiheit einher geht darüber hinaus die Betonung eines nicht-totalisierenden Gleichheitsbegriffs. Auch wenn die historisch-syndikalistischen Analysen ihrer Zeit verhaftet waren – dies zeigt sich beispielsweise in der häufig aufzufindenden klassisch heteronormativen Sicht auf Geschlechter –, wird gleichzeitig die Vielfalt der Lebensweisen hervorgehoben – auch hier sei auf Ansichten zum Thema Geschlecht hingewiesen, wobei zum Beispiel neben den beiden Geschlechtern Mann und Frau, ein oder zwei weitere Geschlechter angenommen werden (vgl. Fenkart 1922: o.S.). Bei aller notwendigen Vielfalt hält es der Syndikalismus für selbstverständlich, dass Gleichheit, gerade in ökonomischen Fragen, aber auch bezogen auf die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe, eine nicht zu hintergehende Grundlage ist und sein muss. Die syndikalistische Verankerung der individuellen Freiheit in gemeinschaftlichen Kontext weist schließlich auch auf die in der genannten Definition sozialistischer Pädagogik nahegelegte, transversale Solidarität als Bestimmungsmerkmal des Sozialismus, auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte. Nur verwiesen sei in diesem Kontext erneut auf das für den Syndikalismus zentrale Konzept der gegenseitigen Hilfe Peter Kropotkins. In diesem Sinne kann die syndikalistische Pädagogik durchaus als ein Teilgebiet sozialistischer Pädagogik betrachtet werden. Doch über die Frage hinaus, welche Ansätze als »sozialistisch und pädagogisch« (Engelmann/Pfützner i. d. B.: 41) betrachtet werden können, kann weiter noch gefragt werden, auf welchem Aspekt der Schwerpunkt des jeweiligen Ansatzes, der jeweiligen Theorie liegt: Auf dem Sozialismus oder der Pädagogik? Handelt es sich um eine pädagogische Bewegung, die sich sozialistisch nennt, oder um eine politische, die pädagogische Mittel als wichtig erachtet? Doch stehen sich diese beiden Perspektiven nicht ausschließend gegenüber und lassen sich mit den Grundlagen der Allgemeinen Pädagogik selbst vereinen. Als zentraler Bestandteil pädagogischer Theorie und Praxis gelten verschiedene individuell und gesellschaftlich relevante Ebenen: Die gesellschaftliche oder systemische Ebene, die Ebene der Interaktionen, Beziehungen und Institutionen, sowie die Ebene der Subjekte, Einstellun-
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gen, Emotionen und Denkweisen (vgl. Tillmann 2010: 23; Zwick 2009: 15f.). Damit ist es eine Grundlage der Pädagogik, auch die gesellschaftlichen Bedingungen für eine gelingende Sozialisation und Entfaltung des Individuums in den Blick zu nehmen. Pädagogik muss so auch die politische und gesellschaftliche Perspektive ansprechen und sich hier einmischen, will sie dieser Grundannahme gerecht werden. Konsequenterweise müsste dies auch die Thematisierung gesellschaftlicher Ungleichheiten – und hier wiederum kann der Sozialismus viel beitragen – betreffen, die Potentiale der Subjektwerdung einschränken. Dass dies in der Realität nicht der Fall ist, bedarf keiner großartigen Beweisführung. Neben der Frage des Fokus auf Sozialismus oder Pädagogik wäre es weiter noch interessant, die Perspektive zu erweitern, angrenzende Debatten und Strömungen mit in den Blick zu nehmen und das Verhältnis sozialistischer Pädagogik zu diesen zu betrachten. Dies kann beispielsweise Ansätze einer libertären Pädagogik (vgl. Klemm 2011) meinen oder die von Armin Bernhard ausgemachte progressive Reformpädagogik der Weimarer Republik (vgl. Bernhard 1999: 10-12). Eventuell ergäbe sich bei einem derartigen Blick eine deutliche Erweiterung klassischer Perspektiven auf das Thema Sozialismus und Pädagogik, ohne mögliche Ergebnisse bereits hier vorwegnehmen zu können. Stellung nehmen möchte ich weiterhin zu der Frage, ob auf eine Revolutionsperspektive verzichtet werden kann. Hierzu sei wiederum die Frage aufgeworfen, ob die Reform des Bestehenden zwangsweise eine Revolution ausschließen muss. Sicherlich nicht zu negieren sind die ebenfalls von den beiden aufgeworfenen Probleme der Verstrickung in die Institutionen der bestehenden Gesellschaft. Der Syndikalismus legt aber dennoch nahe, die sozialistischen Bestrebungen sowohl auf das Hier und Jetzt zu beziehen, ebenso wie auf die zukünftige Gesellschaft. Er glaubt also an die Möglichkeit der Reform und der Revolution, erkennt gar einen unmittelbaren Zusammenhang beider: Ohne »sozialistische Keimzellen« (Frank 1920: o.S.) könne auch ein herrschaftsloser Sozialismus nicht verwirklicht werden. Dies bedeutet zweierlei: Zum einen stellt sich die Frage, was Revolution genau sei, eine langsame Veränderung oder ein plötzlicher Umschwung. Zum anderen deutet sich hier einmal mehr die Bedeutung pädagogischer Interventionen für den Sozialismus an.
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Zur Bedeutung, die dem Syndikalismus in der den vorliegenden Band leitenden Frage zum Verhältnis von Sozialismus und Pädagogik zukommt, gilt es vorweg Folgendes zu betonen: Als soziale Bewegung (vgl. Eierdanz/Kremer 1991: 32) erlangte der Syndikalismus zumindest zeitweise an Bedeutung. Durch ihn wurden gewerkschaftliche Kämpfe beeinflusst, syndikalistische Organisationen und Verlage brachten über viele Jahre hinweg Zeitschriften und Broschüren heraus und in seinem Umfeld entstanden äußerst aktive Kulturorganisationen. Doch waren gerade die pädagogischen Überlegungen vor allem theoretischer Art, praktisch mangelte es nicht nur an Geld zu deren Umsetzung, sondern auch an umfassenderen und systematischen Programmen. Pädagogische Arbeit fand zwar durchaus statt – vor allem zu nennen sind hier die Aktivitäten der Kinder- und Jugendgruppen – auf breiterer Basis bewähren mussten sich die syndikalistischen Konzepte jedoch nicht. Damit können die syndikalistischen Ideen und Ansätze bis heute allein theoretische Impulse geben; mögliche Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung müssen ebenfalls erdacht und theoretisch gelöst werden. Anders als der real existierende Sozialismus mangelt es somit an praktischer Bewährung. Deswegen bleibt unbeantwortet, wie Syndikalist*innen mit Kindern umgegangen wären, die beispielsweise nicht in der Lage oder Willens sind sich ›sozialistisch‹ zu verhalten und sich eine andere Weltanschauung zu eigen machen, als die syndikalistische, die dem freiheitlichen Sozialismus verhaftete. Durch diese mangelnde praktische Bewährung kann der Syndikalismus aber gleichzeitig, von seiner Idee her, als besserer, freiheitlicherer Sozialismus kreiert werden. Doch gilt es eine solche Überhöhung zugunsten eines kritischen Aufgriffs seiner Theorien zu vermeiden und nicht in bis heute anhaltende Grabenkämpfe zu verfallen. Vielmehr gilt es im hiesigen Fall den Syndikalismus als einen möglichen Ansatz anzusehen, zum Thema Sozialismus und Pädagogik einen Beitrag zu leisten und dieses damit weiter zu entwickeln. Eine mögliche Perspektive, die der Syndikalismus zu diesem Thema beitragen kann, liegt nun im Fokus auf freiheitliche Aspekte, sowie auf das Individuum. In diesem Fokus zeigt sich der anarchistische Einfluss. Allerdings geht es dem Syndikalismus nicht darum den Einzigen zu überhöhen und in individualanarchistischer Manier die Autonomie des Individuums absolut zu setzen. Dieses wird explizit in der Gesellschaft verortet, nur hier
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kann es zum Menschen werden. Dementsprechend muss auch die Freiheit sowohl das gesellschaftlich verortete Individuum betreffen, wie auch die innere Freiheit desselben. Dem Dualismus von Freiheit und Gesellschaft – hier klingt die auch für die Pädagogik bereits von Kant angesprochene Freiheitsantinomie, die Frage zum Verhältnis von Zwang und Freiheit an (vgl. Kant 1803: 27) – setzt der Syndikalismus die Idee eines »proletarischen Individualismus« (Klan/Nelles 1990: 39) entgegen. Hierbei wird eben die individuelle Freiheit mit der gemeinschaftlichen Komponente in Verbindung gebracht, womit die Freiheit letztendlich »zum Prüfstein« einer jeden Gesellschaft, »auch der sozialistischen« (ebd.) wird. Umgekehrt wird aber auch das Wohl der Gesamtheit zum Maßstab der individuellen Freiheit, denn »geregelte und geordnete materielle Existenzmöglichkeiten« könnten erst einen »gesunden, nährkräftigen Boden« darstellen, »die ideellen und geistigen Kräfte der Menschen zu kultivieren« (o.V. 1925: o.S.). Dieses Konzept manifestiert sich unter anderem in dem Versuch die Gesellschaft Rätestrukturen ähnelnd aufzubauen, wobei die Basis, die lokale Organisation die Entscheidungshoheit für die je eigenen Belange behält (vgl. Barwich 1922). Pädagogisch relevant wird der proletarische Individualismus, da es zur »Reorganisation der Gesellschaft« einer »vom revolutionären Geiste erfüllten Wirtschaftsorganisation der Arbeiter« (Rocker 1924: o.S., im Original gesperrt) bedürfe. Diese »ist Interessengemeinschaft und Ideengemeinschaft in derselben Zeit und verwirft prinzipiell jeden Dualismus in der Arbeiterbewegung, welcher die geistigen Bestrebungen der Arbeiter und die Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen in besondere organisatorische Formen zu kleiden bestrebt ist.« (Ebd.)
Über den Syndikalismus hinaus stellt nun diese in den gesellschaftlichen Kontext eingebundene Freiheit einen Aspekt dar, der aufgegriffen und für pädagogische Fragen stark gemacht werden kann. Betreffen kann die Betonung der Freiheit des Einzelnen beispielsweise das pädagogische Generationenverhältnis, zu bearbeitende Inhalte oder zu beachtende Erfahrungen der Einzelnen. Mit der Betonung der gesellschaftlichen Perspektive wiederum einher geht die Perspektive, dass Institutionen wie die Schule nicht grundlegend abgelehnt werden (müssen), da die Freiheit des Einzelnen nicht absolut gesetzt wird. Anders als die vernichtende Kritik derselben,
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beispielsweise durch den Zeitgenossen des historischen Syndikalismus Walther Borgius, legt die hier eingenommene Sichtweise nahe, dass die Schule zwar in einem sozialistisch-freiheitlichem Sinne umgestaltet, nicht aber gänzlich abgeschafft werden muss. So ist sie ein Raum, in dem gesellschaftlich und damit auch für das jeweilige Individuum relevante Dinge wie die Grundfertigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben weitergegeben werden, aber auch Grundlagen für das Leben in einer auf Gegenseitigkeit und Solidarität aufbauenden Gemeinschaft erlernt werden können. Ohne diese Grundlagen, so legt es der Syndikalismus nahe, erscheint die materielle Befreiung nicht möglich. Unter anderem »Herrschsucht, Eigennutz, Gewalttätigkeit und alle diese antisozialistischen Neigungen und Laster« (Oerter 1911: o.S.) müssten bekämpft werden, um die ökonomische Freiheit vollends zur Entfaltung bringen zu können. Aufbauend auf den vorausgegangenen Darstellungen kann Folgendes zum grundlegenden Verhältnis von Pädagogik und Sozialismus ausgeführt werden: Einerseits bedarf der Sozialismus der Pädagogik, geht es in ihm und für dessen Aufbau doch um zu erlernende Fähigkeiten, die das Leben in einer Gemeinschaft, in der die Freiheit aller gewährleistet wird, erst ermöglichen. Andererseits muss sich die Pädagogik sowohl in Theorie wie auch Praxis an sozialistischen Idealen messen lassen, auf diesen aufbauen und in deren Sinne wirken. Pädagogik und Sozialismus stehen somit in unmittelbarem Zusammenhang und bedingen einander. Doch liegt in dieser engen Verbindung auch die Gefahr der Indoktrination verborgen, die meiner Meinung nach generell in pädagogischen Belangen und im besonderen im Rekurs auf sozialistische Ansätze der Beachtung bedarf, verlangt Pädagogik durch ihren Fokus auf die »Intentionen des Educandus« selbst doch immer auch die Reflexion der »Intentionen des Erziehenden« (Mollenhauer 1982: 15). Die Gefahr der Indoktrination klingt auch ganz konkret in syndikalistischen Aussagen an, die sicherlich exemplarisch auch für andere sozialistische Strömungen stehen. So wird beispielsweise vom Hineinpflanzen »sittliche[r] und soziale[r] Werte einer freiheitlich-sozialistischen Weltauffassung« (Nobody 1913b: o.S.) in den Menschen gesprochen oder dazu aufgerufen, dafür zu sorgen, »daß Eure Kinder wissen, auf welcher Seite sie zu stehen haben, […] daß sie erzogen werden von Jugend auf, in der Familie, in der Gewerkschaft, in der politischen Partei zu wahren Anhängern der sozialistischen Weltanschauung, zu Klassenkämpfern und nicht zu Neutralittätsduslern [sic!]« (Friedeberg
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1905). In Anbetracht solcher Aussagen ist die Rede von der Freiheit des Individuums infrage zu stellen; einmal mehr scheint hier die bereits genannte, pädagogisch relevante Freiheitsantinomie auf. Die syndikalistische Lösung dieses Problems besteht nun eben in dem Konzept des proletarischen Individualismus, ebenso wie in anthropologischen Annahmen. Verwiesen wird auf die Natur des Kindes, die unter anderem mithilfe der Biologie, Psychologie und Medizin erkannt werden könne und der der eigene Ansatz, im Grunde der Sozialismus überhaupt, entsprechen würde. Dass mit dem Fokus auf die kindliche Natur das Kind selbst, dessen Individualität und Eigenheiten wiederum in den Hintergrund rücken, wird dabei nicht erkannt oder zumindest nicht in den Blick genommen. Problematisch ist das Konzept dennoch, wird dadurch nicht nur die angemahnte Freiheit konterkariert, sondern auch die gesellschaftliche Vermitteltheit des Menschen. So wird einem ahistorischen Naturbegriff das Wort geredet, auf dessen Basis es gerade nicht gelingen kann, individuelle und gesellschaftliche Aspekte der Freiheit in den Blick zu nehmen und diese miteinander zu verbinden. Doch was bedeuten diese Gedanken und Probleme nun allgemein für den hier betrachteten Zusammenhang von Sozialismus und Pädagogik? Festhalten lässt sich, dass es mehr als der alleinigen Behauptung bedarf, dass Freiheit und Gesellschaft vereinbar seien. Vor allem müssen Tendenzen zur Indoktrination beachtet werden, die auch durch den Rückgriff auf die menschliche Natur nicht ausgelöscht werden können. Gerade in Anbetracht der, sicherlich mit durch die realen Versuche begründeten, verbreiteten Skepsis gegenüber dem Sozialismus, erscheint es mir bedeutend diesem Problem nachzugehen, ohne hier fertige Lösungen liefern zu können. Als ein möglicher Maßstab für den Grad der Indoktrination – und hierbei kann wiederum, bei allen Problemen, positiv auf den Syndikalismus verwiesen werden – kann die in einen gemeinschaftlichen Kontext eingebundene individuelle Freiheit genannt werden, die jeglicher Pädagogik in einem gewissen Maße zugrunde liegt oder zumindest liegen sollte, wie zuvor aufgezeigt wurde. Das Problem der Indoktrination sowie die Betonung der Freiheit weisen darüber hinaus aber auch darauf hin, dass Mittel und Weg, auch der Pädagogik, dem angestrebten Ziel entsprechen müssen. Ist dies nicht der Fall droht die Gefahr eines autoritären Scheiterns, wie im realexistierenden Sozialismus.
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Doch ist mit dem Problem der Indoktrination im hier relevanten Kontext eine weitere Frage angeschnitten, diejenige zum Verhältnis von Pädagogik und Politik. Auch wenn der Nationalsozialismus »als abschreckendes Beispiel dafür dienen [kann und sollte, SG], die Pädagogik und ihre Theorie für eine [politische, SG] Praxis nutzbar zu machen« (Geuenich/Witek 2016: 40), ist meine These dazu, dass es keine unpolitische Pädagogik gibt, da immer Werte vermittelt werden, das pädagogische Handeln in gesellschaftliche Strukturen zu verorten ist und diesen entspringt. Deswegen plädiere ich vielmehr dafür, die politisch motivierten Ansätze eigener Pädagogikkonzeptionen anzusprechen und offen zu legen, gerade um der Gefahr der Indoktrination von vornherein zu begegnen. Dies bedeutet aber auch gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen zu thematisieren, wie beispielsweise die »Privatisierung von Bildung« und der Einfluss »von Militär und neoliberalen Einrichtungen« (ebd.) auf Erziehung und Bildung.
E INE ART S CHLUSS Auf den vorausgehenden Seiten habe ich versucht, in den Syndikalismus einzuführen, zu erörtern ob und inwiefern dessen Vorstellungen zur Pädagogik sozialistisch im Sinne der Herausgeber des vorliegenden Bandes sind und was grundlegende syndikalistische Ideen zur hierin aufgeworfenen Frage zum Verhältnis von Pädagogik und Sozialismus beitragen können. Die diesen Band leitende Definition sozialistischer Pädagogik schließt den Syndikalismus, wie dargelegt, ein. Doch legt der Syndikalismus seines Zeichens eine spezielle Schwerpunktsetzung in dem Versuch sozialistische Pädagogik zu definieren nahe: Bei aller Notwendigkeit materialistische Bedingungen in den Blick zu nehmen, werden ethische Momente – zentral ist die gegenseitige Hilfe –, eine gewisse Haltung und Verhaltensweisen der Menschen als grundlegend für den Sozialismus erachtet. Die selbstkritische Perspektive der Herausgeber, in ihrem Entwurf zu sehr ethisch zu argumentieren, muss vor diesem Hintergrund als wenig problematisch angenommen werden. Gerade in heutigen Zeiten dominieren auch in der Pädagogik funktionalistische Sichtweisen, es geht um Management (des selbst), um Effektivität und Messbarkeit (vgl. Geuenich/Krenz-Dewe/Niggemann/Pfützner/ Witek 2016: 15f.). Pädagogik sollte jedoch, in Theorie und Praxis, notwendigerweise »den Menschen in den Blick nehmen« (Mikhail 2016: 102),
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auch was ethische Aspekte betrifft und was angesichts des Zustandes der Pädagogik als dringend geboten erscheint. In diesem Sinne kann zum Pädagogikverständnis der Herausgeber kritisch gefragt werden, ob der Fokus auf das Lernen nicht auch eine funktionalistische Reduzierung darstellt, bei der spezifisch pädagogische Perspektiven ausgeblendet werden. Und dies könnte eben gerade auch ethische Fragen und Annahmen betreffen. Wie hoffentlich deutlich wurde, gehe ich, über diese begrifflichen Überlegungen hinaus davon aus, dass der Syndikalismus mit der in ihm suggerierten Verbindung von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Eingebundenheit des Menschen durchaus etwas zu dieser Debatte beitragen kann. Vor allem betrifft dies die konsequente Betonung der individuellen Freiheit, die jedoch nicht losgelöst von gesellschaftlichen Zusammenhängen und Verantwortung für die Gemeinschaft konzipiert wird. Angesprochen wurde das dafür zentrale Konzept des proletarischen Individualismus. Weiter zu fragen wäre nun, inwiefern dieses Konzept tatsächlich eine Basis dafür darstellt, den klassischen Dualismus von Gemeinschaft und Individualität, von Freiheit und Zwang aufzulösen. Doch darüber hinaus scheinen in der historischen Kristallisation des Syndikalismus Probleme auf, die ich für eine Weiterentwicklung einer sozialistischen Pädagogik als äußerst relevant erachte. Genannt wurde auf Basis von Überlegungen zu einem möglichen Verhältnis von Pädagogik und Sozialismus das Problem der Indoktrination, dem wiederum mit dem Fokus auf die Freiheit des Einzelnen begegnet werden könnte. Auch weist dieses im historischen Syndikalismus nicht gelöste Problem auf die Bedeutung zum einen von anthropologischen Analysen hin, mit Hilfe derer unter Umständen Blindstellen und Probleme der jeweiligen Konzeption sichtbar werden – eingegangen wurde beispielhaft auf das Thema der menschlichen Natur. Zum anderen wird dabei auf die Notwendigkeit verwiesen, sich nicht allein historischen Konzepten verbunden zu fühlen, sondern diese zu analysieren, zu kritisieren, in den gesellschaftlichen Kontext zu verorten und über sie hinaus zu denken, sie an die jeweils gegebenen zeitlichen Umstände und Anforderungen anzupassen. Erwähnen möchte ich hier noch ein weiteres, bisher nicht genanntes Problem. Wie Oskar Negt (vgl. Engelmann/Pfützner i.d.B.: 28), blieben auch Teile der Reformpädagogik (vgl. Hackl 1982: 9) ebenso wie der Arbeiter*innenbewegung – explizit anführen kann ich dabei die Syndikalist*innen – in Überlegungen zur pädagogischen Bedeutung von Arbeit,
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einem romantischen Arbeitsbegriff verhaftet. Mit der Betonung der Handarbeit und des Handwerks wird die gesellschaftlich vorherrschende industrielle Produktionsweise ausgeblendet. Dieser »unhistorische Reflex« (Hackl 1982: 9) mag verständlich sein in Anbetracht der zunehmenden Entfremdung des Menschen, dennoch wird damit versäumt an gesellschaftliche Realitäten anzuknüpfen. Doch sollte es gerade einer sozialistischen Pädagogik um eine Analyse und einen Bezug zur Gesellschaft gehen, die nicht einer romantischen Verklärung entstammt. Ob trotz oder gerade wegen der gesellschaftlich relevanten Art der Arbeit an handwerklicher Arbeit im pädagogischen Kontext festgehalten wird, ist dabei eine ganz andere Frage. Kurz eingehen möchte ich zuletzt noch auf die Frage nach dem Nutzen von Utopien. Dieser ergibt sich meiner Meinung nach auch mit Blick auf die Bedeutung der queeren Gleichheit, der Betonung von Freiheit und der Frage, was Revolution eigentlich sei. Soll der Freiheit und Vielfalt der Menschen der Stellenwert in Überlegungen einer sozialistischen Pädagogik, wie sie hier umrissen wurde, zukommen, bedeutet das auch, den Zöglingen, den Menschen, den Ereignissen gegenüber innerlich frei, das meint unvoreingenommen entgegenzutreten. Zwar darf die gesellschaftliche Gleichheit dabei nicht aus dem Blick verloren gehen, dennoch aber kann nicht geschichtsdeterministische Anschauungen preisend Heute das Morgen bestimmt werden. Vielmehr muss um die Zukunft gemeinsam gerungen und wahrscheinlich auch gestritten werden. Doch haben Utopien nicht nur die Funktion in die Zukunft zu blicken, vielmehr kann es mit ihrer Hilfe gerade gelingen »die Realität, die gegenwärtige Welt zu beschreiben« (Le Guin 1993: 8). Und dies wiederum stellt eine Basis für die erfolgreiche Veränderung der Welt dar – auch im sozialistischen Sinne. Abschließend kann ich wohl nicht besten Gewissens sagen, Antworten zu den vorliegenden Band leitenden Fragen geliefert zu haben. Vielmehr scheint es mir, als ob ich vor allem weitere Fragen aufgeworfen habe, die vielleicht aber zur Diskussion um das Verhältnis von Sozialismus und Pädagogik ein klein wenig beitragen können. Mut und Kraft für eben diese Diskussion soll uns zum Schluss ein Syndikalist selbst spenden, der eine gewisse Gelassenheit mit Blick auf die Zukunft anmahnt, insofern wir der Freiheit genug Platz einräumen:
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»Wir wissen nicht, ob die Kinder, die wir erziehen, sich zu Revolutionären entwickeln werden; aber es ist wohl gewiß, daß der Einfluß einer freien Kindheit sich dahin auswirken wird, daß aus freien Kindern einst freie Männer und Frauen werden, die das Lohnsystem bekämpfen und ihre Energie einsetzen werden für die Schaffung einer neuen Menschheit.« (Kelly 1922: o.S.)
L ITERATUR Arbeitsgruppe 30 Jahre FAU (Hg.) (2008): FAU. Die ersten dreißig Jahre. Die Geschichte der Freien ArbeiterInnen Union von 1977 bis 2007, Lich: Edition AV. Barwich, Franz (1922): Die Arbeiterbörsen des Syndikalismus, Berlin: Der Syndikalist. Bernhard, Armin (1999): Demokratische Reformpädagogik und die Vision von der neuen Erziehung, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang. Bock, Hans Manfred (1969): Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, Meisenheim am Glan: Anton Hain. Bock, Hans Manfred (1989): Anarchosyndikalismus in Deutschland. Eine Zwischenbilanz, in: IWK – Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 25, Heft 3, S. 293-358. Degen, Hans-Jürgen (22015): Anarchismus in Deutschland 1945-1960. Die Föderation Freiheitlicher Sozialisten, Lich: Edition AV. Diogenes [= Karl Roche] (1912): Das Proletariat muss innerlich umgewandelt werden, in: Der Pionier, 2, Nr. 19, o. S. Döhring, Helge (2013): Syndikalismus in Deutschland 1914-1918. »Im Herzen der Bestie«. AnarchistInnen & SyndikalistInnen und der Erste Weltkrieg, Lich: Edition AV. Eierdanz, Jürgen/Kremer, Armin (1991): Der Bund Entschiedener Schulreformer – Eine soziale Bewegung der Weimarer Republik?, in: Bernhard, Armin/Eierdanz, Jürgen (Hg.): Der Bund der entschiedenen Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik, Frankfurt am Main: dipa, S. 28-66.
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brauchen wir das? Bildungsphilosophie und pädagogische Praxis, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 95-104. Mollenhauer, Klaus (41982): Theorien zum Erziehungsprozeß. Zur Einführung in erziehungswissenschaftliche Fragestellungen, München: Juventa. Nobody (1913a): Neue Menschen!, in: Der Pionier, 3, Nr. 39, o. S. — (1913b): Neue Menschen! II, in: Der Pionier, 3, Nr. 41, o. S. O[erter], F[ritz] (1911): Die Grundlage einer freien Weltanschauung, in: Der Pionier, 1, Nr. 4, o. S. — (1920): Die Frau und der Sozialismus, in: Der Syndikalist, 2, Nr. 18, o. S. — (1921): Kulturideale des Syndikalismus I, in: Der Syndikalist, 3, Nr. 14, o. S. o.V. (ohne Verfasser*in) (1921): Klassenkampf ist Kulturkampf!, in: Junge Anarchisten, 2, Nr. 10, o. S. R[oche], K[arl] (1912): Religion ist Privatsache, in: Der Pionier, 2, Nr. 40, o. S. Rocker, Rudolf (1920): Die Prinzipienerklärung des Syndikalismus, Berlin: Der Syndikalist. R[udolf] R[ocker] (1924): Der Syndikalismus und seine Aufgaben, in: Der Syndikalist, 6, Nr. 41, o. S. Tillmann, Klaus-Jürgen (2010): Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung, Reinbek: Rowohlt. Tilsner-Gröll, Rotraud (1982): Die Jugendbildungsarbeit in den freien Gewerkschaften von 1919-1933, Frankfurt am Main: Dipa. Uhlig, Christa (2006): Reformpädagogik. Rezeption und Kritik in der Arbeiterbewegung. Quellenauswahl aus den Zeitschriften Die Neue Zeit (1883-1918) und Sozialistische Monatshefte (1895/97-1918), Frankfurt am Main: Peter Lang. Vogel, Angela (1977): Der deutsche Anarcho-Syndikalismus. Genese und Theorie einer vergessenen Bewegung, Berlin: Karin Kramer. Zwick, Elisabeth (2009): Historische Pädagogik: Einführung in thematische und methodische Grundfragen, in: Dies. (Hg.): Spiegel der Zeit – Grundkurs Historische Pädagogik III. Renaissance bis Gegenwart, Münster: Lit, S. 9-20.
Sozialismus der Bildung Paul Natorps Pädagogik als Grundlegung R OBERT S CHNEIDER »Der Sozialismus der Bildung sollte über alle Klüfte hinweg uns vereinen.« PAUL NATORP ([1895] 1907: 36)
1. E INLEITUNG Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch – gewissermaßen von ›außen‹ – eine sozialistische Pädagogik zu entwickeln. Mit anderen Worten wird nicht der umfangreichen Fundus sozialistisch-marxistischer Theorie (Bernfeld, Abendroth, Jantzen) und Praxis (Löwenstein, Kanitz, Makarenko) im Naheverhältnis zu Bildung und Erziehung bedient, sondern auf Basis einer bildungstheoretischen Perspektive eine sozialistische Theorie der Bildung skizziert. Die referierte Position ist die Paul Natorps, die zunächst biografisch, historisch-kulturell sowie wissenschaftstheoretisch kontextualisiert wird (1). Im Anschluss daran wird dargelegt, in wie weit diesem Bildungsgedanken sozialistische Facetten immanent sind (2) und was das für die pädagogische Praxis bedeuten kann (3). Auf Basis dieser Überlegungen bzw. insbesondere Natorps Sozialidealismus (1922) und Sozialpädagogik ([1895] 1907) als Bezugsquellen, wird die aktuelle schulpädagogische Frage nach einer gemeinsamen (durchaus inklusiven) Schule exemplarisch für weitere pädagogische Herausforderungen des 21. Jahrhunderts diskutiert (4). Mit einem Ausblick und einer Kritik wird der Beitrag geschlossen (5).
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2. Z UM K ONTEXT : N EUKANTIANISMUS , M ARBURG UND
DIE
M ODERNE
2.1 Biografisches und erste Verortungen Paul Gerhard Natorp wird Mitte des 19. Jahrhunderts in Düsseldorf geboren, also zur Zeit des Krimkriegs, der die europäische ›Ordnung‹ massiv verändern wird. Deutschland konstituiert sich als Militärmonarchie. Zudem ist dies die Zeit des aufkommenden Nationalismus, gleichzeitig ein Fortschreiten der Globalisierung aufgrund der Einführung des Freihandels und des Goldstandards. Zwar nehmen der Wohlstand und die Sicherheit ab 1850 zu, dennoch kommt es zu einer ersten Weltwirtschaftskrise und Darwin publiziert Über die Entstehung der Arten. Literarisch kann Melvins Moby Dick die Spannungen der Zeit spiegeln. Natorp studiert später in Berlin und Bonn sehr breit und wird in Straßburg promoviert. Seine Habilitation zu Descartes’ Erkenntnistheorie erfolgt 1881 in Marburg und zeigt den Einfluss seiner akademischen Lehrer Friedrich Albert Lange und Hermann Cohen, womit er sich von seiner – noch in der Dissertationsschrift deutlich – positivistischen Ausrichtung distanziert und Anschluss an die Marburger Schule findet. Ab 1885 hat er eine Professur für Philosophie und Pädagogik in Marburg inne, die er bis zu seinem Tod dort im Jahre 1924 ausübt. Gemeinsam mit Cohen, Hönigswald und Petzelt zählt er zu den exponierten Vertretern des Neukantianismus (Blankertz [1982] 2011: 285f.) in der Phase einer dominierenden geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Seine Forschungen beleben sowohl die griechische Philosophie (insbesondere Platon) wieder und lassen sich gleichzeitig auch als wichtigen Beitrag sozial-idealistischen Denkens und sozialer Erziehung verstehen. Das verwundert insofern nicht gänzlich, ist Natorp ja über die Auseinandersetzung mit Pestalozzi erst von der Philosophie zur Pädagogik gekommen (ebd.: 285), eben jenes Pestalozzis, der so eindrucksvoll und doch manchmal fast mystisch-sakral sozialpädagogische Theorie und Praxis zu verbinden weiß. Zu seinen Erfahrungen (des Scheiterns) in der Arbeit mit verwaisten Kindern in Stans schreibt dieser 1799: »Mein wesentlicher Gesichtspunkt ging jetzt allerdings darauf, die Kinder durch ihre ersten Gefühle ihres Beisammenseins und bei der ersten Entwicklung ihrer Kräfte zu
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Geschwistern zu machen, das Haus in den einfachen Geist einer großen Haushaltung zusammenzuschmelzen, und auf der Basis eines solchen Verhältnisses und der aus ihm hervorgehenden Stimmung das rechtliche und sittliche Gefühl allgemein zu beleben.« (Pestalozzi [1799] 2001: 227)
In diesem Zusammenhang ist sicherlich auch Natorps Schrift Gesammelte Abhandlungen zur Sozialpädagogik (1907) zu erwähnen, die – wie viele seiner Werke – neben dem Einfluss Kants auch den Pestalozzis deutlich macht. Auch wenn sein Sprachduktus nicht von seiner Zeit zu lösen ist – z.B. die Verwendung von »Nation« – so ist sein Denken insgesamt als progressiv zu werten. Nicht zuletzt wird dies an der Kritik gegenüber der Ungleichbehandlung von Mann und Frau deutlich, der Entkoppelung von Bildung und Eigentum im Kaiserreich, sowie an der Praxis der Todesstrafe. In diesem Zusammenhang stellt Blankertz ([1982] 2011: 296f.) ihn neben Reichwein und Nelson besonders heraus, obwohl Natorp doch als Prinzipienwissenschaftler strikt »von einem unpolitischen Charakter der Wissenschaft« (ebd.: 295) ausgehen musste. Er schreibt würdigend: »Sein ›Sozialidealismus‹ war nicht nur aus der von ihm vorausgesetzten neukantianischen Philosophie begründbar, sondern auf für die Arbeiterbewegung allenfalls als emotionaler Zuspruch hilfreich, nicht als Interpretation des eigenen Handelns oder gar als Grundlegung einer sozialistischen Pädagogik.« (Ebd.: 296)
Inwieweit sich aus Natorps bildungstheoretischem Denken eine sozialistische Variante extrahieren und für aktuelle Herausforderungen der pädagogischen Theorie und Praxis gewinnen lässt, davon soll diese kleine Schrift handeln. Dazu muss zunächst der prinzipienwissenschaftliche Charakter Natorps Denken rekonstruiert werden. 2.2 Natorps Denken Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik in gewissem Sinne ›begleitend‹, entwickelt sich zum Ende des 19. Jahrhunderts hin die Denkschule des Neukantianismus, die die Erkenntnistheorie Kants wiederzubeleben versucht. Pädagogik lässt sich als »Norm und Prinzipienwissenschaft« (Blankertz [1982] 2011: 283) denken, die allerdings keine »Weltanschauungspädagogik« (ebd.: 285) zu entwickeln sucht, sondern nach »der
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Normativität der Normen, nach dem Rechtsgrund der in der Erziehung geltenden Sollenssätze« (ebd.) fragt. Ganz im Sinne Kants (z.B. [1787] 1974a: 62f., 276-281; [1787] 1974b: 341f.) transzendentaler Erkenntnistheorie fragt der Neukantianismus nach den Bedingungen der Erkenntnismöglichkeit von Phänomenen. Dabei zeigt sich, dass die menschlichen Erkenntnisstrukturen empirische Erscheinungen bedingen, sodass – letztlich – entwickelte Prinzipien immer nur regulativen Charakter haben können (Blankertz [1982] 2001: 286). Die neukantianische Position steht damit der pädagogischen ›Idee‹ der »inneren Freiheit« Herbarts ([1806] 1965: 143) in dessen Konzeption der Tugenderziehung entgegen, »denn von dieser darf keine Pädagogik etwas wissen, weil damit nichts anzufangen ist, und kann die meinige nichts wissen, weil meine Philosophie sie verwirft« (ebd.: 151). Mit dieser Idee versucht Herbart (z.B. [1834] 1964: 5-7) dem Noumenon seine Invarianz zu entziehen, um innerhalb seines Systems die Genese von Willen und Bewusstsein erfahrungsfundiert entwickeln zu können. Das gilt eben auch für die explizit pädagogische Wende neukantianischen Denkens, welches selbst das Erkennen als dialogische Praxis zu konzipieren vermag. Deutlicher als bei Natorp tritt dieses bei Petzelt zu Tage (z.B. Petzelt 1947: 158-170; [1957] 1986: 165ff., 180): »Das Du ist gar kein Argument, mit dem ich machen kann, was ich will, sondern ist die Möglichkeit der Argumentation, ist die Art, wie es sich gebunden hat.« (Petzelt [1957] 1986: 174) und später: »Die Herrschaft über mich selbst ist nicht zu trennen von der Du-Beziehung.« (Ebd.: 180) Nicht dialogisch, aber streng kantisch besteht Natorps Bestreben darin, die »dialektische Spannung zwischen dem subjektiven Willen zur jeweiligen Individualität und dem objektiven Anspruch der menschlichen Gemeinschaft« (Blankertz [1982] 2011: 287) als streng korrelatives Verhältnis umzudeuten. Konsequent folgert er die regulative Methode, welche er als Sozialpädagogik bezeichnet. Diese rekurriert neben Pestalozzi ganz zentral auf Platons politische Philosophie, wenn Natorp ([1895] 1907: 1), ähnlich wie dieser, die »Begriffe Bildung und Gemeinschaft« als »notwendige Wechselbeziehung« (ebd.) auffasst und die »Idee der Sozialpädagogik« so umreißt: »Die entscheidenden Bedingungen auch der Bildung des Einzelnen liegen im Leben der Gemeinschaft.« (Natorp [1895] 1907: 1; ergänzend [1909] 2015: 122) Die Vorstellung aber – Bildung und Gemeinschaft
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lassen sich als Idee nicht trennen – unterliegt nicht der begrenzten Bedingung der empirischen Erkenntnis (Natorp [1895] 1907: 11), sondern ist »frei auf eine nirgends prinzipiell begrenzte Erweiterung [ihrer, Anm. RS] Ziele auf eine unendlich vor [ihr, Anm. RS] liegende Bahn der Entwicklung. […] Der unendlich ferne Richtpunkt solchen Ausblicks, das und nicht anderes heißt uns Idee. Ihre Behauptung streitet daher mit keiner Erfahrung,« (Ebd.)
Was Natorp in seinen Arbeiten wichtig ist, lässt sich insofern als die Suche nach dem »Gesetz der Gesetzlichkeit« (ebd.: 12) formulieren – mit anderen Worten als die Suche nach dem Guten, welches Wahrheit und Vernunft bündelt und der angemessenen (tauglichen) Form des Zusammen-Lebens von Menschen entspricht (Platon 2008: 420-425). Wenn diese Sozialpädagogik die Methode gemeinschaftlicher Bildung ist, so gibt es zudem eine explizite Verknüpfung von Sozialismus und Idealismus. Natorp (1922: III) versucht deutlich zu machen, dass es des Denkens der Unmöglichkeit einer freien Gesellschaft solidarischer Gleicher bedürfe, um die Wirklichkeit einer ungerechten, reduzierenden, unfreien und kapitalistischen Gesellschaft aus dem Lot zu bringen. Dabei sei »Idealismus« das Grundwort, »sozial« dessen nähere Bestimmung, die zudem deutlich mache, dass gute Ideen »mitten im Leben, im härtesten Leben der ringenden Menschheit heimisch« (ebd.) werden müssen.
3. D AS I CH IM W IR UND DAS W IR IM I CH . D IE » FREIE G EMEINSCHAFT « IN G EGENSEITIGKEIT Die Methode der Sozialpädagogik besteht in der »vollen Gegenseitigkeit von Gemeinschaft und Individualität« (Natorp [1909] 2015: 149). Um diese Konstruktion der ›Gegenseitigkeit‹ verstehen zu können, ist die Unterscheidung Natorps zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft hilfreich: 1
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Siehe dazu auch Deweys ([1916] 1993: 114) Feststellung der Doppelsinnigkeit beider, verweisen diese doch auf ein Ideal und eine Norm sowie gleichzeitig aber auf etwas konkret und empirisch Gegebenes.
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»In der Gesellschaft werden die Individuen als das Erste und Unabhängige gedacht, die dann zu irgend welchen zufällig gemeinsamen Zwecken untereinander in Verbindung treten, um, wenn der Zweck wegfällt, wieder auseinanderzugehen. In der Gemeinschaft […] ist vielmehr der Verein das Erste und Unabhängige, das Individuum besteht als solches […] nur durch ihn«. (Ebd.: 125)
Die gewissermaßen organische Verknüpfung von Menschen zu einer Gemeinschaft, mit der Folge, dass Bildung nie eine nur individuelle »bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein« (Bieri 2005: 1) meint, sondern ein interdependentes Ringen wechselseitiger gemeinsamer Bestimmungsversuche. Das ist die Idee des Sozialismus bei Natorps (1922: 167), die synonym für »freie(n) Gemeinschaft« steht. Fast schon hört man Dewey anklingen, wenn dieser die demokratische Lebensform als »eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung«, beschreibt, in der »jeder sein Handeln zu dem der anderen in Beziehung zu setzen und umgekehrt das Handeln der anderen für sein Tun in Rechnung zu stellen hat« (Dewey [1916] 1993: 121). Um Natorps pädagogische Theorie nachvollziehen zu können, müssen die Referenzen auf Platons Staats-Idee und die Arbeit von Thomas Morus in Erinnerung gerufen werden. Beide können hilfreich sein, um zu verstehen, wie Bildung des Menschen in dieser monistischen (Sozial-)Pädagogik möglich ist und Gemeinschaft darin als Apriori formuliert werden kann (Natorp [1909] 2015: 125f.) Erziehung meint bei Natorp (1922: 23) »Erziehung aller im Sinne der Allheit«, niemand ist davon ausgeschlossen und sei es bloß gedanklich. Es ist wie in Robert Musils ([1930/32] 2014: 76) Mann ohne Eigenschaften, als der Protagonist im Gewaltverbrecher Moosbrugger die »Menschheit als Ganzes« träumen und den »Zusammenhang unserer eignen Elemente« zu erkennen vermag. Diese Allheit, diese unendliche Idee der Menschheit kann nicht (empirisch) festgestellt werden, sondern entwickelt sich aus dem Inneren von Gemeinschaften, was gleichermaßen für Demokratie und die korrespondierenden Ideen der Freiheit und Gleichheit gelte (Natorp 1922: 24). Eben dies kennzeichne, so Natorp (ebd.: 27, 39), Gemeinschaft und die wechselseitigen Tätigkeiten als soziale. Das Zusammenfallen von Zweck und Mittel im und für das Individuum und die Gemeinschaft in Wechselseitigkeit, erhebt Natorp ([1909] 2015: 137-140) zu einer sich als sozial ver-
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stehenden Pädagogik, die immer auf diesen Bezug beider abzustellen habe. Eine dazu verwandte Idee verfolgt Dewey ([1925] 2007: 350) mit seiner »Idee der Tendenz« in Erfahrung und Natur. Nicht ein im Äußeren liegender Zweck, sondern eine »natürliche(n) Teleologie« (ebd.: 351) konkretisiere diese Tendenz: Zwar liegt ein »beabsichtigte(r) Zweck« (ebd.) vor, jedoch nicht im Sinne eines von außen herangetragenen Telos, sondern einer Bestimmung, die sich »auf jeder Stufe der Vorwärtsbewegung stetig und immer komplexer« (ebd.) aktuiere. Entgegen unzähliger Vorbehalte, steht dies einer Selbstbestimmung des Menschen nicht entgegen, vielmehr basiert eine sozial-idealistische Pädagogik auf den freien und (form-)gleichen Selbstverhältnissen von Personen im Sinne von Übergängen zwischen Bestimmbarkeit und Bestimmtheit (Natorp 1922: 43). Menschen in ihrer Individualität seien dabei der »Mittelpunkt, von dem doch alles ausgeht« (ebd.: 83), die »Befreiung der Seele zur ursprünglichen Beweglichkeit aus sich selbst.« (Ebd.: 101) Die implizite Anthropologie besagt (Kritik dazu bei Blankertz [1982] 2011: 287), dass der Mensch als zoon politikon, wie Aristoteles (1995: 1f.) dies nennen würde, verfasst ist und vernünftige bzw. angemessene Ordnungen herstellen kann: Die Gemeinschaft als »menschliche Einrichtung« (ebd.: 1) ist eben das Gut, woraufhin jegliche Konkretisierung dieser Form ausgerichtet ist bzw. worin sie sich verwirklicht. Um dies darzulegen rekurriert Natorp wiederholt auf die Platonische Idee des Jedem das Seine (Platon 2008: 332f.), was unterstellt, dass Menschen in Gemeinschaften Herrschaftsverhältnisse aufgrund von (selbst erkannten) Kompetenzen herstellen können und – viel entscheidender – auch wollen. Dieses Verhältnis der Herrschaft in Platons Staat kann aber auch als eines des Regierens (ebd.: 321f.) und des Regiert-werdens gelesen werden, als eines der Vernunft und mithin des guten Lebens – der »Philosophenherrschaft« (ebd.: 377), – was gleichsam auch impliziert, über eine Idee des Guten (Zusammenlebens) zu verfügen (ebd.: 388ff., 410f.). Was Natorp (1922: 135) jedenfalls vorschwebt ist eine Utopie im Sinne Thomas Morus’ Utopia, die sich ihm als »Demokratisierung des Platonischen Staatsideals« zeigt. Schon früh erkennt er in Morus Schrift »in jeder Hinsicht die richtige Konsequenz aus Platos Prämissen« (Natorp [1895] 1907: 31):
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»So bildet die Insel gleichsam eine Familie. […] Wie aber die Natur alle Menschen zur gegenseitigen Unterstützung und Hilfeleistung im Genusse des heiteren Lebens einladet […] so befiehlt sie dir doch nicht, deinen Vorteil und eigenen Nutzen in einer Weise zu suchen, dass du anderen Schaden und Ungemach bereitest. […] Für dein Wohl sorgen, ohne die Gesetze zu verletzen, das ist Weisheit; überdies das allgemeine Wohl fördern, das ist fromme Menschenliebe; andern jedoch ihr Vergnügen entreißen und dem eigenen frönen, das ist Unrecht; hingegen dir selbst etwas abzubrechen, um es den anderen zuzulegen, das heißt im Sinne der Humanität und edler Güte tätig sein, und beraubt dich nie so vielen Vorteils, als es dir andererseits wieder einbringt.« (Morus [1516] 2011: 91; 104)
Was Morus (ebd.: 173, Hervorh. RS) »allen Menschen wünschen würde, wenigstens (aber) den Utopiern zuteil geworden ist« hat Platon 2 nur für den »Militär- und Besitzadel« gedacht, so Natorp ([1895] 1907: 34) in seiner Kritik am »Kommunismus [.] nur für die Oberklasse« (ebd.: 23). Er plädiert für eine »Ausdehnung des Kommunismus auf das gesamte Gemeinwesen« (ebd.: 32), ohne jedoch zu übersehen, dass Platons Argumentation
2
An dieser Stelle soll auf die Idee Platons (2008: 319ff.) hingewiesen werden, wonach der Staat aus Arbeiter_innen, und der Oberklasse (Kriegsmänner, Besitzende) bestehe – sowie den (Philosophen-) Herrschenden. Neben einer mythologischen Basis (ebd.: 314ff.), hat dies auch strukturelle Gründe, wie Platon in der Politeia darlegt. Nur dieser Staat ist nicht »gar viele Städte« (ebd.: 321), sondern »eine Stadt« (ebd.), wobei sowohl Armut und Reichtum für dessen Genese schädlich sei. Das harmonische Zusammenwirken aller Teile des bzw. im Ganzen sichert demnach das gute Zusammenleben der Gemeinschaft. Dieser Struktur entspricht – so Natorp ([1895] 1907: 25ff.) – eben auch der Mensch im Kleinen, als Individuum: Es ist die Erhaltung durch Fortpflanzung und Sicherstellung der Versorgung, die als Fundament der staatlichen Wirtschaft entspricht. Dem Militär und den Kriegskräften entspricht die »zweite, edlerer Natur« (ebd.: 27), die sich für das als Gute einsetzt und als disziplinierende Macht sowohl individuelles wie staatliches Leben aktiv steuert. Zuletzt die herrschende Sphäre der Regierenden – abgeleitet aus der zweiten - verweist auf Erkenntnis; individuell und psychologisch als Vernunft, im Staat als wissenschaftlicher Apparat und progressive Kraft, die erkenntnisbasiert agiert. Dieser Dreischritt wird gleich noch (Kap. 3) als dreistufige »Logik der Selbstbestimmung« in Natorps Bildungstheorie relevant werden.
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vor dem Hintergrund seiner Anthropologie (ebd.: 23-29) und Intention (einen möglichen idealen Staat zu skizzieren) durchaus Sinn mache (ebd.: 33). So wie der Staat die gemeinschaftliche Projektion des Menschen im Großen ist, so gilt dies für den Menschen als kleineres Abbild des Staates (ebd.: 25). Die wechselseitige Abhängigkeit von Kleinem und Großem in Anpassung und Entfaltung, vermag schließlich auch den Gemeinschaftsgedanken auf die Idee des Staates zu extrapolieren (ebd.: 27): »auf die höchst mögliche Entfaltung des Sinns der Gemeinschaft, und damit auf die Selbsterhaltung des Staates in dieser allein sittlich zuträglichen Verfassung.« Diese Konkretisierungen müssen aber begleitet werden von der Idee – hier ließe sich durchaus ›Haltung oder Überzeugung‹ schreiben – das »für alle und alles gemeinsame(n) Gute« (ebd.) zu wollen. Lewis ([1943] 2015: z.B. 43, 51) wird diese Einsicht später als Tao bezeichnen und nimmt nicht zuletzt die aktuelle politische Situation Europas vorweg.
4. S OZIALISMUS DER B ILDUNG – B ILDUNG ALS S OZIALISMUS Innerhalb der nicht zu lösenden Gegenseitigkeit von Individuum und Gemeinschaft lässt sich Bildung nur als soziale formulieren (Natorp 1922: z.B. 200), die so umfassend zu verstehen sei, dass »Arbeit« eben ein Element darstelle (ebd.: 153). Der »Sozialismus der Bildung« (Natorp [1895] 1907: 36) wirke jedenfalls solange »Klüfte« (ebd.) innerhalb der Gesellschaft bestehen. Und Natorp wird konkreter: »diesem Drange der arbeitenden Klassen nach vollem Anteil an Menschenbildung mit allen nur zu Gebote stehenden Kräften zu Hülfe« (ebd.) zukommen, dies stelle das Primat der Übertragung des platonischen Staats auf aktuelle Verhältnisse dar. Sowohl Bildung als auch Erziehung werden dezidiert als sozial konzipiert (Natorp 1922: 20, 200, 219), insoweit diese denknotwendig auf Gegenseitigkeit und damit die Gemeinschaft verweisen – wie eben schon deutlich werden sollte. Beide Begriffe referieren zudem auf Freiheit und Gemeinschaft. Auf Gemeinschaft insofern, weil daraus Bildung »ihre Nah-
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rung« (ebd.: 15) erst gewinne, auf Freiheit, weil menschliches Leben letztlich auf »Selbstsorge und Selbsttat« (ebd.) rückzuführen sei.3 Soziale Erziehung meint im Sinne Natorps (ebd.: 20) eben gerade nicht, dass Kinder und Jugendliche in eine bestehende Gesellschaft zu integrieren seien und sich darin erschöpfe. Vielmehr konstituiere Gemeinschaft sich durch kooperative Tätigkeiten der Menschen – eine durchaus verwandte Auffassung zu Deweys ([1916] 1993: 31-34, 121). Diese Tätigkeiten müssen außerdem als zentriert verstanden werden: »das Subjekt, der sich bildende Mensch (tritt) in die Mitte. Nichts kommt von außen, sondern er selbst projiziert sich erst nach außen, schafft sich ein äußeres zum Gegenentwurf, um in ihm nicht ein Fremdes, sondern ganz sein Eigenes, seine Welt, sich selbst zu erkennen.« (Natorp 1922: 83) Hier lassen sich – abgesehen von Kants erkenntnistheoretischen Einflüssen – interessante Parallelen zur Vorstellung der Persongenese im Kritischen Personalismus erkennen (Stern 1923: dort etwa als »persönliche Kausalität« ebd.: 18). Diese wird noch deutlicher, wenn der Zusammenhang des Bezugs von Individuum und Gemeinschaft mit den Begriffen Bildung und Erziehung berücksichtigt wird. Wie die Zentrierung der Selbstbestimmung mit dem Verwobensein in die Gemeinschaft zusammenhängt, macht Natorp (1922: 200ff.) in seiner Theorie der Bildung als unauflösbare Dialektik von Form und Inhalt (nicht Materie) und in Abgrenzung von der – eben – materialen Entfaltung deutlich. Geht die Formung als Konzentration nach innen, so artikuliere diese sich an Materialien nach außen (ebd.: 202). Die dabei wirkende Kraft ist der Möglichkeit nach für alle Subjekte gleichermaßen gegeben und ergebnisoffen, sie zeigt sich lediglich in Konkretionen äußerlich
3
Zum Konzept der Selbstsorge und dessen Verschränkung mit der Fürsorge sei auf Foucault ([1984] 2015: 62) hingewiesen. Auf den Dialog Sokrates mit Alkibiades rekurrierend, schreibt dieser zur Funktion der Sorgeverhältnisse: »Wahrheit, dessen, was man ist, was man tut, und dessen, was man zu tun vermag« (ebd.: 93). Erinnert sei in diesem Sinn auch an Platons (2009: 38) Worte in seiner Verteidigungsrede, dazu, wonach »ein Leben, ohne Selbsterforschung [es] aber gar nicht verdient, gelebt zu werden« (vgl. auch ebd.: 28, 38f.). Einmal mehr zeigt sich der Natorpsche Sozialismus der Bildung, als zutiefst bildungstheoretische Konzeption und insofern als ein spezifisches Person-Welt-Verhältnis (siehe etwa auch Humboldt [1792] 2010: 235-239).
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verschieden (ebd.: 205). Deshalb verwendet Natorp (ebd.) auch stimmiger Weise den Begriff »Entwicklung« (Ent-Wicklung), um Bildung als Selbstbestimmung zu charakterisieren. Hier zeigt sich erneut eine interessante Parallele zu (kritisch-) personalistischen Theorien der Selbstbestimmung von Personen aus dieser Zeit (etwa Stern 1924). Denn auch in Natorps (1922: 204ff.) Theorie kann der Mitmensch – und das ist durchaus positiv konnotiert – als Mittel verstanden werden, um die im Individuum potenziell bestehende Kraft von äußerlichen Hemmungen zu lösen und aktuieren zu können. Insofern ist das ›Du‹ für die Freiheit des ›Ich‹ konstitutiv (ebd.: 212) – und vice versa. Diesbezüglich zeigt sich eine dreiteilig ›gestufte‹ Logik der Selbstbestimmung nach anpassender Erhaltung, »Freiheit in Indifferenz« (ebd.: 218) und offener Wachheit. Während der erste, konservierende Vorgang den Prozess fundiert und das Subjekt lediglich Ich-zentriert strukturiert ist, entspricht der zweite dem Aspekt einer prinzipiellen Ausrichtung des Willens (und der Erkenntnisgewinnung). Dieser Akzent der Freiheit erfolgt darauf hin, dass es auch andere gerichtete Iche gibt, die um ihre Selbstbestimmung ringen, was in dieser Phase aber noch ohne (unterstellte) Bedeutung für die eigene bleibt (ebd.: 216ff.). Hier vollzieht sich bereits eine Öffnung des Subjekts und damit erste Anzeichen von – wie Stern (1923: 141) sagen würde – spontan-aktivem Handeln, was sich in der dritten Stufe Natorps (1922: 218), der offenen Wachheit, vollends verwirklicht. Nicht zufällig wählt Natorp für das Bild dieses – wie er schreibt – »gesunden Lebensrhythmus« (ebd.: 219) das Bild des Atems, das anthropologisch auch als »leibliche[r] Partizipation« (Fuchs 2000: 118) verstanden werden kann und insofern Bildung erneut als gemeinschaftliche akzentuiert wird. Diesem Bild gemäß, entspräche der Atemrhythmus der ersten Phase der Erhaltung – dazu gehört auch und ganz entscheidend die Pause. Die Orientierung nach Außen und das Erkennen, dass (andere) Menschen (ebenso) auf Atmung zur Erhaltung als Ganzes angewiesen sind, lassen sich als zweite Phase auffassen. Lässt sich sodann die Einsicht entwickeln, dass die Rhythmen zwar verschieden sind, die zu atmende Luft aber die gleiche geteilte ist und dieses auch für das Recht zu atmen in gleicher Weise gilt, so
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verwirkliche sich die angesprochene dritte Phase von Offenheit und Wachheit.4 Diese Theorie der Bildung fundiert nunmehr auch das Schulkonzept des Sozial-Idealismus.
5. S CHULE
ALS
G EMEINSCHAFT
UND
B ILDUNGSRAUM
Paul Natorps (1922: 115) Vision ist folgerichtig die einer Einheitsschule – der »Sozial-Einheitsschule« –, die »gemeinsam für alle offen in einem natürlichen Kommunismus« (ebd.: 116) bestehe. In dieser kooperativen Gemeinschaft fließen körperliche und geistige Tätigkeiten ineinander und die Praxis hat in Abstimmung jedes Kindes/Jugendlichen mit anderen ihre jeweilige Bedeutung (ebd.: 116, 126ff.). 1922 wird in Ansätzen skizziert, was später in der inklusiven Schulentwicklung als die Verschränkung von »pädagogische(r) Reform der Einzelschule mit den [.] Strukturfragen« (PreussLausitz 1993: 80) sowie der Konzeption einer »gemeinsame[n] Grundbildung« (ebd.), jedoch »nach Interessen und Fähigkeiten flexibel differenziert« (ebd.) formuliert wird. Gleichzeitig scheint im Konzept der Sozial-Einheitsschule die entwicklungslogische Didaktik Georg Feusers (z.B. 2005) ›voraus gedacht‹ zu werden. Unter Rekurs auf den psychologischen Materialismus und Klafkis kategoriale Bildungstheorie entwickelt Feuser in den 1980er Jahren (ebd.: 174-186) eine Theorie des Unterrichts, die als Regulation des Person-WeltBezugs von Kindern und Jugendlichen auf Basis deren Entwicklung und Aneignungsformen verstanden werden kann. Diese didaktische Theorie intendiert gemeinsamen Unterricht und versteht sich als Unterrichtslehre einer humanen, demokratischen und solidarischen Pädagogik, insoweit Kooperation Selektion substituiert. Außerdem wird auf äußere Differenzierung verzichtet, stattdessen konsequent Individualisierung umgesetzt, dennoch die Fragmentierung der Bildungsinhalte
4
Im Übrigen ist auch das kein Zufall, denn die theoretische Konzeption erinnert immer wieder an indische Weisheitstexte und Philosophien. Zu diesem Teil hier: etwa Majjhima Nikaya oder das Sutra Nummer 118 des historischen Buddha Shakyamuni, abgedruckt in Thich Nhat Hanh (2012: 11-21).
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durch »Kooperation am gemeinsamen Gegenstand« (ebd.: 178) aufgehoben. Wahrscheinlich würden heute die Begriffe ›begabungssensible‹ oder ›kindgerechte‹ eventuell gar ›inklusive‹ Schule dem entsprechen, was Natorp (1922: 127) so pointiert: »Solch freie Gemeinschaft, freier Individuen also muss die Schule sein, nur dann erfüllt sie ihren Begriff.« Dass dieser Konnex von sozialer Ungleichheit und (schulischer) Inklusionsbestrebung herzustellen ist, hat unlängst Feuser (2017: 239-250) eindrucksvoll dargelegt. Mit Preuss-Lausitz’ (1993: 52ff.) frühen Gedanken zur veränderten Kindheit der 1990er Jahre, lässt sich »eine Trennung der Schüler nach Schulformen oder soziologischen Gruppierungen« (ebd.: 53) kaum noch argumentativ schlüssig begründen. Was bleibt ist die Schräglage basierend auf der sogenannten ›sozialen Herkunft‹. Neben Preuss-Lausitz’ (1993: 54) Plädoyer für eine »Pädagogik der Vielfalt […] in der Gemeinsamkeit«, liegt mit Budde (2012) eine Arbeit vor, die explizit auf das Immer-wiederAushandeln von (Un-)Gleichheiten bzw. Differenz und Gemeinsamkeit in der Schule hinweist. Inklusive Schulen sind insofern Bildungsräume mit einem hohen reflexiven Potenzial im Hinblick auf die sozial- und kulturelle Verfasstheit von Ungleichheiten. Den Gedanken des Sozialidealismus Natorps (1922) folgend, sind Bildungsinstitutionen solche inklusiven Räume, die das Spannungsverhältnis von Verschiedenheit und Gemeinsamkeit ›auffangen‹, erfahrbar und kommunizierbar machen. Bildung wird als Ausdruck der interdependenten Selbstbestimmung von Subjekten denk- und lebbar. Dabei ist es nicht bedeutsam, diese Prozesse an äußeren Zwecken auszurichten oder diesen zwingend zu dienen, sondern die Entwicklung ergibt sich auf Basis der Selbstbestimmung von Individuen und deren Verschränkung innerhalb der Strukturlogik gemeinschaftlicher Lebensführung. Letztere stellt die Bedingung der Möglichkeit individueller Freiheit dar. Die Sozial-Einheitsschule lässt sich insofern als eine humane und demokratische Schule auf Basis innerer Differenzierung und kooperativen Lernens verstehen, die – wenn Natorp gefolgt wird – nicht mit der sogenannten ›Schulpflicht‹ endet. Vielmehr denkt Natorp dieses Modell im Sinne lebensbegleitender Bildung weiter, was einer Öffnung von Universitäten und Hochschulen gleichkommt (ebd.: 131f.). Hier verwirklicht sich, was er schon früh den »Sozialismus der Bildung« (Natorp [1895] 1907: 36) nennt.
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6. K RITISCHE W ÜRDIGUNG
UND OFFENE
F RAGEN
Paul Natorps Sozialismus der Bildung ist vor dem geschichtlichen Hintergrund sicherlich progressiv und auch in diesem Tagen anregend. Nicht zufällig ergeben sich zahlreiche Kongruenzen zu einer menschenrechtlichdemokratischen sowie bildungstheoretischen Begründung Inklusiver Pädagogik. Selbst, wenn zahlreiche Diversitätsaspekte (Gender, Behinderung usw.) bei Natorp nicht explizit Beachtung finden, so wundert es doch im positiven Sinn, dass neben der sozialen Ungleichheit (hier noch verkürzt auf Arbeit und Besitz) etwa das Alter als Kategorie erwähnt wird. Das Natorpsche Schulkonzept mutet als anregende Quelle für inklusive Schulentwicklung an und müsste sicherlich unter der Perspektive eines ›breiten‹ Inklusionsbegriffs, mit anderen Worten: eines von Dichotomien absehenden, eingehend untersucht werden. Zur hier drängenderen Frage, inwieweit Natorps sozial-idealistische Bildungstheorie bzw. sein Sozialismus der Bildung auch sozialistische Pädagogik ist, wird auf die vorgeschlagene Systematik Engelmann und Pfützners in der Einleitung dieses Bandes rekurriert. Der Aspekt der sozialen Freiheit als verwobenes Wechselspiel von Bildung in und durch die gemeinschaftliche Praxis lässt sich an vielen Stellen finden. Auf die veränderte – auch institutionelle – Praxis weist Natorp explizit hin, trennt dabei soziale Freiheit und Gemeinschaft aber nicht von Praxis. Vielmehr beginnt jeglicher (eben auch institutioneller) Prozess durch die Gemeinschaft und damit in einem (totalen) Kommunikationsprozess bzgl. des gemeinschaftlichen Willens. Den damit zusammenhängenden kritischen Einwand Engelmanns und Pfützners, den sie mit dem Term queere Gleichheit versehen haben, scheint – die historische Distanz berücksichtigend – bei Natorps Begriff der Gemeinschaft auf fruchtbaren Boden zu fallen. Dieser – und damit auch die Bildungskonzeption – ist durch die Bedingung der Gegenseitigkeit von Verschiedenheit und Gemeinsamkeit bzw. von Individuum und Gemeinschaft möglich. Diese Dialektik ist aber – mindestens unterschwellig – auf ›gute‹ Gemeinschaft im Sinne des gelingenden Lebens von Subjekten unter/mit Subjekten ausgerichtet. Fast ›natürlich‹ fundiert dieses Telos Gemeinschaften und kann nur über transformative gemeinschaftliche Prozesse gesellschaftlich etabliert werden, wozu es (a) der Öffnung von Gemein-
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schaften für andere und (b) eines individuellen sowie kollektiven Willens bedarf. Gleichermaßen verhält es sich mit dem eingeführten Begriff transversale Solidarität, als »eine ethisch begründete, politische, soziale und ökonomische Praxis« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 34). Mit Natorp lässt sich Gemeinschaft nur vor der Hintergrundfolie einer so verstandenen Solidarität begreifen, die hier als offenes Wachsamsein für den Anderen konzipiert wurde. Gemeinschaft geht aber über dieses Moment der Möglichkeit hinaus, indem sie selbst ethische Praxis ist und diese nicht anders verstanden werden kann als offen, verantwortungsbasiert und – ganz im Sinne Weischedels (1976: bes. 194f.; auch 191-200) – ›abschiedlich‹.
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Zum Verhältnis von Kritik und Pädagogik bei Siegfried Bernfeld P ETULA N EUHAUS
E INLEITUNG Der ›real existierende Sozialismus‹ in den Staaten des ehemaligen ›Ostblocks‹ hat gezeigt, dass sich die Ideale vieler sozialistischer Konzepte – Freiheit, Gleichheit und Solidarität – durch die Errichtung sozialistischer Staaten nicht einfach haben umsetzen lassen. Heute rückt wieder mehr ins Bewusstsein von Öffentlichkeit und Wissenschaft, dass aus ökologischen, ökonomischen, sozialen und gesellschaftspolitischen Gründen auch eine Fortsetzbarkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Frage gestellt ist. Die Auseinandersetzung damit, wie es angesichts sich offenbarender Folgen der Ausbeutung der Ressourcen, des Fortbestehens massiver kriegerischer Auseinandersetzungen weltweit, wachsender sozialer Ungleichheit und gespaltener Gesellschaften weitergehen soll, ist auch Anlass für die Herausgeber dieses Bandes, die Aktualisierung des Nachdenkens über das Verhältnis von Sozialismus und Pädagogik anzuregen. Mit dieser Fragestellung ist darauf verwiesen, dass dabei nicht nur theoretische Reflexionen der Geschichte vorgenommen werden sollen, sondern dass es um die Diskussion wirklicher Alternativen gehen muss, die praktische Veränderungen pädagogischen Denkens und Handelns implizieren. Theoretische Entwürfe sozialistischer Pädagogik, die sich im Kontext der Arbeiterbewegung etabliert haben, hatten zum Ziel, durch Analyse und Kritik der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung die Be-
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wusstseinsbildung der benachteiligten proletarischen Klasse zu unterstützen und den Weg für die Überwindung der Ausbeutungs- und Entfremdungsprozesse zu ebnen. Gleichzeitig ist heute, geprägt durch die historischen Erfahrungen, mit dem Begriff des Sozialismus das Wissen um den schmalen Grad zu Instrumentalisierung, Repression und Konformitätszwang verschränkt. Deshalb sollte zwischen den Menschenrechtsverletzungen in den sozialistischen Staaten als pervertierte Praxis und den theoretischen Konzepten sozialistischer Pädagogik unterschieden werden. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die legitimatorischen Grundlagen für eine solche Praxis in diesen Konzepten bereits angelegt sind. Insofern ist die sozialistische Pädagogik selbst einer kritischen Prüfung zu unterziehen, auch das gehört zum Kratzen an der »Patina« des Sozialismus (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 15). Siegfried Bernfeld (1892-1953), in erster Linie Psychoanalytiker, gleichzeitig engagierter Pädagoge, Sozialist, Schriftsteller und Zionist, gründete seine pädagogischen Überlegungen auf den theoretischen Eckpfeilern der Psychoanalyse Sigmund Freuds, an dessen Erkenntnisse über die Triebstruktur der menschlichen Seele er anschloss, und der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx, dessen Gesellschaftsanalyse und revolutionären Imperativ Bernfeld übernahm. Der Aufbau auf diese Erkenntnisse führte zu einer Konfrontation mit der zeitgenössischen Pädagogik (vgl. Dudek 2012: 335). Bernfeld entwickelte seine pädagogischen Ideen im, zumindest anfangs, geschützten Umfeld eines sozialdemokratisch regierten Wien (vgl. Winkler 2016: 38), ohne das Wissen darüber, welche Auswirkungen der tatsächliche Ausbau sozialistischer Staaten für viele Menschen haben werden würde. Sein Werk verbindet die Analyse und Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und an der Ideologie der bürgerlichen Erziehung mit dem utopischen Entwurf einer sozialistischen Gesellschaft und mit einem praktischen Konzept von sozialistischer Pädagogik. Dabei lässt sich an seiner Arbeit die Ambivalenz sozialistischer Pädagogik aufzeigen: Sie richtet sich kritisch gegen ein System, in dem die Mehrzahl der Menschen unter Ausbeutung und Entfremdung leidet und strebt ihre Befreiung durch die Schaffung einer besseren, gerechteren Gesellschaft an; gleichzeitig können Bestandteile ihrer Konzeption, wie noch zu zeigen sein wird, der Gefahr der Instrumentalisierung Vorschub leisten. Nachfolgend werden anhand zentraler Texte Bernfelds Elemente seines gesellschaftskritischen Denkens in systematischer Absicht nachgezeichnet
K RITIK UND P ÄDAGOGIK BEI S IEGFRIED B ERNFELD
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und sein Konzept einer sozialistischen Pädagogik vorgestellt. Es folgt eine kritische Analyse und Diskussion einiger, aus heutiger Sicht problematischer, Bestandteile seiner Überlegungen, mit dem Ziel, Grenzen und Chancen einer aktuellen und gleichzeitig reflexiven Bernfeldrezeption auszuloten.
S OZIALISTISCHE E RZIEHUNG UND G ESELLSCHAFTSKRITIK Bernfelds Pädagogik richtet sich vehement gegen die zeitgenössische bürgerliche Pädagogik, die, wie er 1925 in Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung nachzeichnet, das kapitalistische System nachhaltig stabilisiert und so den Machtanspruch der herrschenden Klasse sichert (vgl. Bernfeld 1990). Die bürgerliche Pädagogik, die das Erziehungsgeschehen vor allem als dyadisches Erzieher-Zöglingsverhältnis beschreibt (vgl. z.B. später Nohl 1935 als Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik), blendet aus, dass Erziehung in einem gesellschaftspolitischen Zusammenhang stattfindet und von Machtinteressen geprägt ist. Vor diesem Hintergrund ging Bernfeld bereits in seiner Jugend mit pädagogischen Institutionen kritisch ins Gericht. Er war engagiert in der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung und der Jugendkulturbewegung und trug dazu bei, sie argumentativ zu unterstützen und wissenschaftlich zu begleiten (vgl. Dudek 2012: 51). Die Jugendbewegung hatte zum Ziel, die Jugendphase als eigenständige Lebensphase und die Jugend als anerkanntes politisches Subjekt zu etablieren. Bernfeld strebte an, Jugendliche dazu zu befähigen, sich selbst zu verwalten und zu bestimmen. Durch eine aktive Jugend sei ein gesellschaftlicher Wandel möglich. Die Jugend sei »revolutionär, weil sie von Natur aus kritisch gegen alle Autorität und alles Gegebene eingestellt ist« (Bernfeld 2011b: 272).1 Es sei selbstverständlich, sich früh zu politisieren: »Wir glauben, es ist ein Recht, selbst die Pflicht der
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Bernfeld sah einige Jahre später selbst ein, dass diese, politische Eigenschaften den Lebensphasen zuordnende, Sicht auf die Jugend unrealistisch war: Die Wiener Schulbewegung zeigte, dass die Großzahl der Schüler*innen von einer Schulgemeinde »nichts wissen wollte« (Bernfeld 2016: 91) und dass sie erst »gewonnen«, »geweckt, aufgerüttelt« (ebd.) werden musste.
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Jugend, über Religion, Staat, Schule, Eltern und Jugend zu denken« (Bernfeld 2011a: 55). Im Gegensatz zur bürgerlichen Pädagogik, die, so Bernfeld, der Jugend ein unpolitisches Moratorium zugesteht, müsse die sozialistische Pädagogik das kritische Potential der Jugend erkennen und nutzen (vgl. Bernfeld 2011b: 272). Bernfeld wendet sich damit gegen die idealisierende geisteswissenschaftliche Pädagogik und den harmonisierten pädagogischen Bezug, er lehnt ein Moratorium »als Prinzip der Entpflichtung« (Andresen 2006: 16) ab. Die Übertragung von Verantwortung an die Jugend durch die Erwachsenen, die Aktivierung der Jugend zu einem Engagement für eigene Formen der Willens- und Entscheidungsbildung sind Mittel der (nicht nur) politischen Selbstermächtigung, wie aus Drei Reden an die Jugend (2011) ersichtlich wird. Bernfeld spricht vom »Kampf« (2011: 61) um die Schule, die ein »Lehrgefängnis« (ebd.: 62) sei, und um die Familie, in der ein Kind als »Eigentum seiner Eltern« (ebd.: 63) gelte. Sozialistische Pädagogik bedeutet hier die Befähigung der Jugend, sich durch eine Loslösung vom aufgezwungenen Moralkodex der älteren Generation selbst zu regulieren.2 1918 bekam Bernfeld die Gelegenheit, seine pädagogischen Überlegungen, die er aus seinen Erfahrungen mit der Jugendbewegung und orientiert an Gustav Wyneken und Berthold Otto entwickelt hatte, in die Praxis umzusetzen. Er gründete zusammen mit einer jüdischen Stiftung3 das Kriegswaisenheim in Wien-Baumgarten. Dort konnte Bernfeld mit einem von ihm selbst zusammengestellten Team aus jungen Pädagog*innen und Lehrer*innen die psychoanalytisch fundierte »neue Erziehung« 4 und die marxistisch ausgerichtete »sozialistische Erziehung« erproben, mit dem Ziel, eine Schulgemeinde zu schaffen. Das erzieherische Handeln in Baumgarten sollte von der Zurückhaltung gegenüber den Kindern bestimmt sein. Pädagogische Interventionen seien schädlich für die Beziehung zwischen Erzieher und Kind (vgl. Bernfeld 2012: 34). Der Erzieher zeichne sich durch Ehrlichkeit und Authentizität gegenüber den Kindern aus, er halte Wort und achte die Kinder mit ihren
2
Bernfeld spricht sogar von »Selbsterziehung [Herv. i. O.]« (ebd.: 71).
3
Das Heim wurde von dem American Joint Distribution Comitee for Jewish
4
Der Begriff »neue Erziehung« entstammt den Anfängen der Reformpädagogik.
Worshippers verwaltet. Zum Verhältnis von Normal- und Reformpädagogik vgl. Benner/Kemper 2003.
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Wünschen und Fragen. Gleichzeitig müsse der Erzieher die ihm zukommende Macht gegenüber den Kindern drosseln (vgl. ebd.: 50), er könne und dürfe nicht erwarten, dass die Kinder »auf dem Fuße folgen« (ebd.). Von willkürlichen Regeln, Strafen und autoritärem Handeln nimmt Bernfeld Abstand.5 Der Erzieher solle den Kindern Raum und Zeit geben, einen vernünftigen Umgang mit Menschen und Dingen selbstständig zu erlernen. Entsprechend der Überlegungen zur Selbstverwaltung der Jugend ist auch in Baumgarten die Selbstverantwortung der Kinder ein fundamentaler Erziehungsanspruch (vgl. ebd.: 152ff.). Bernfeld erreichte dies durch die Etablierung einer Schulgemeinde, die sich in ihrer Form von anderen Schulgemeindekonzeptionen unterscheidet.6 In Baumgarten ist die Schulgemeinde die Lebensgemeinschaft von Lehrer*innen bzw. Pädagog*innen und Kindern. Während gemeinsamer Versammlungen verständigen sie sich über die Regeln des Zusammenlebens. Pädagog*innen und Kinder dürfen Entscheidungen nicht allein fällen, sondern müssen einen Antrag in der Schulgemeinde stellen, über den gemeinsam abgestimmt wird. Die Baumgartenkinder entwickelten bald, so berichtet Bernfeld, mithilfe der Unterstützung durch die Pädagog*innen eigene Regeln, Vertretungs- und Ordnungssysteme, einschließlich eines selbstverwalteten Gerichtes und mischten sich zunehmend auch in die Verwaltung des Heimes ein (ebd.: 82f.). 7 Dieses Konzept der »neuen Erziehung« versteht sich als Kritik. Bernfeld beschreibt das Verhalten seiner sozialistischen Erzieher als »abweichendes Verhalten« im Vergleich zum »normalen« autoritären oder bürgerlichen Erziehungshandeln (vgl. ebd.: 43). Die Kritik richtet sich zum
5
Zur Reflexion des Machtproblems in der Erziehung vgl. Bernfeld 2013b.
6
Bernfeld setzt sich mit der Freien Schulgemeinde Wickersdorf von Gustav Wyneken und den Landerziehungsheimen von Hermann Lietz auseinander und entwickelt im Anschluss daran seine Idee der Schulgemeinde (vgl. Bernfeld 2016). Er unterscheidet die Begriffe Schulgemeinde und Schulheim. Der Begriff »Schulgemeinde« betont die »besondere Form der Verwaltung und Organisation des Schülerlebens« (ebd.), die mittels Versammlungen und gemeinsamer Entscheidungsfindung auf die »Selbstverwaltung« (ebd.) ziele. Mit »Schulheim« sind eher die institutionelle Organisationsform und das pädagogische Setting von Schule in Abgrenzung zu den städtischen Schulen gemeint.
7
Zu den von Bernfeld beschriebenen natürlichen »Phasen« der Schulgemeinde in Baumgarten vgl. Bernfeld 2012: 74-82.
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einen gegen autoritäre Pädagogik, die Kinder psychisch beschädige, zum anderen bezieht sie sich auf die Abgrenzung zur individualisierenden Pädagogik, die vorrangig für bürgerliche Kinder gedacht sei und deshalb Klassenunterschiede stabilisiere. »Die individualisierende Erziehung ist nicht die Erziehung, nicht die beste, nicht die einzige Erziehung, sondern ist bloß die bürgerliche, für die Klasseninteressen der Großbourgeoisie beste und einzige Erziehung [Herv. i. O.].« (Bernfeld 2016b: 236f.) Die Fokussierung auf Einzelinteressen stehe einer solidarischen Erziehung der Masse der proletarischen Kinder entgegen. Während die eine durch Vergabe von Privilegien an die bürgerlichen Kinder zur Entsolidarisierung und Spaltung der Gesellschaft führe, gewähre die andere die bestmögliche Erziehung für die gerechtere sozialistische Gesellschaft. Die »neue Erziehung« ist für Bernfeld auch explizit »sozialistische Erziehung« (vgl. ebd.: 224). Sein Ziel ist die Befähigung der proletarischen Kinder zum Leben in einer klassenlosen Gesellschaft. Sozialistische Erziehung ist für ihn nur denkbar als kollektive Erziehung: »Ich glaube, daß sozialistische Erziehung den einzelnen weitgehend vernachlässigen darf. Ich glaube, daß der Erzieher einen bedeutenden Einfluß auf den einzelnen erreicht, ohne ihn als einzelnen zu behandeln.« (Bernfeld in Dudek 2012: 459) Das Projekt Baumgarten scheiterte für Bernfeld nach wenigen Monaten aufgrund »ideologische[r] Divergenzen« (Dudek 2012: 230f.) zwischen dem jüdischen, auf Assimilation setzenden Träger und der sozialistischen, »linkszionistischen und anti-assimilatorischen Gruppe um Bernfeld« (ebd.). Das Scheitern diente Bernfeld aber als Ausgangspunkt für seine elementare Kritik an der Pädagogik als Wissenschaft. 1925 verfolgte er mit seinem Buch Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung die Intention, mithilfe psychoanalytischer sowie marxistischer Theorie eine Wissenschaft der Erziehung zu entwickeln. Dabei ergänzt er seine Analysen des bürgerlich-kapitalistischen Systems durch ökonomische, politische und wissenschaftstheoretische Aspekte und entwickelt seine in Baumgarten begonnenen Überlegungen zu einer sozialistischen Pädagogik weiter. Erziehung sei, so Bernfelds universelle, anthropologische Definition, die »Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache« (Bernfeld 1990: 51). Der Mensch wird als unfertiges Wesen geboren, das zwangläufig biologische Entwicklungsprozesse durchläuft. Da der
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Mensch immer in eine Gesellschaft von Menschen hineingeboren wird, und diese an ihrem Fortbestand interessiert ist, versuchen die älteren Menschen, die Entwicklung der jüngeren zu beeinflussen. Angesichts dieses schlichten Sachverhaltes wundert sich Bernfeld über die Irrationalität der zeitgenössischen Pädagogik. Denn diese versucht, ohne die Reflexion auf die funktionalen Wirkungen der Erziehung, die Gesellschaft zu verbessern. Doch das Neue und Bessere verhindert sie selbst, denn ohne es zu erkennen, stützt sie kapitalistische Zwecke (vgl. ebd.). Grundlagen der pädagogischen Handlungsrichtlinien sind laut Bernfeld die Intuitionen und berufspraktischen Erfahrungen der Pädagogen. Diese entbehren jeder Verallgemeinerbarkeit und sind damit unwissenschaftlich (vgl. ebd.: 35). Den Pädagogen mangelt es an einer wissenschaftlichen Haltung (vgl. ebd.: 37). Ausgehend von diesem Vorwurf entfaltet Bernfeld seine Kritik der Pädagogik entlang dreier Grenzen der Erziehung. »Die Erziehbarkeit des Kindes«, so Bernfelds erste Grenze der Erziehung, »seine Konstitution, seine Veränderbarkeit« (ebd.: 143) seien theoretisch nicht gesichert und es wäre erst eine Aufgabe der Erziehungswissenschaft, diese »genauestens abzuwägen und zu bestimmen« (ebd.: 145). Zusätzlich drohe das Kind, ohne die Beachtung seines psychischen Aufbaus, »Mittel zum theologischen, ethischen, sozialutopischen Zweck« zu werden (ebd.: 37), weil es als Medium der Verbesserung der Gesellschaft instrumentalisiert werde. Dabei wäre es für den Pädagogen zuallererst notwendig, die psychische Struktur des Kindes zu studieren (vgl. ebd.: 29). Die zweite Grenze der Erziehung ist bedingt durch die »seelischen Tatsachen im Erzieher« (Bernfeld 1990: 142), seine eigenen verdrängten oder »verstellten« Kindheitserfahrungen, die zu einem »naiven Begriff von Kindheit« (ebd.: 33) führen. Statt das zu erziehende Kind als einen Menschen mit ganz eigenen Erfahrungen anzuerkennen, erzieht der Pädagoge das »Kind in sich«, das er selbst einmal gewesen ist. Der Erzieher wiederholt die ödipalen Verwicklungen seiner eigenen Kindheit. Schließlich hat auch noch die Erzieherpersönlichkeit Einfluss auf das Kind (vgl. ebd.: 44). Jedes noch so gut durchdachte Erziehungsmittel kann nicht wirken, solange diese Mechanismen unerkannt bleiben. Drittens findet Erziehung nicht in einer Dyade aus Erzieher und Kind statt, sondern innerhalb von Gruppen, Institutionen und dem politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen System. Am Beispiel der Schule
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macht Bernfeld deutlich: »Die Schule, als Institution, erzieht.« (Bernfeld 1990: 28) Diese dritte Grenze der Erziehung nennt er die soziale. Von der kritischen Betrachtung institutioneller Erziehung erweitert Bernfeld die soziale Grenze der Erziehung auf ökonomische und ideologische Einflüsse, die die Wirksamkeit aller pädagogischen Maßnahmen zusätzlich beeinträchtigen oder verhindern. Die Taktiken der bürgerlichen Klasse, vor allem die klassenspezifische Erziehung, entschlüsselt Bernfeld polemisch anhand einer fiktiven Rede des Unterrichtsministers »Machiavell« (Bernfeld 1990: 98ff.), der die Regierungsmitglieder über die Bedeutung der Kontrolle des Bildungswesens aufklärt. So solle beispielsweise eine »Kluft« zwischen bürgerlicher und proletarischer Jugend geschaffen werden, die Etablierung von Feindbildern dient der Entstehung von »Identifikationen« mit den politischen »Rettern und Führern«; »Revolutiönchen«, wie die Abschaffung der Schiefertafeln, sorgen für Ablenkung der Pädagogen »für Jahrzehnte« usw. (vgl. ebd.: 99ff.). Auf diese Weise werde verhindert, dass Pädagogen, aber auch Kinder und Jugendliche, gesellschaftliche Verhältnisse hinterfragen. Die Pädagogik wird also dafür benutzt, die Macht des herrschenden Systems zu konservieren (vgl. Bernfeld 1990: 110), sie wird für wirtschaftliche Ausbeutung und politische Beeinflussung instrumentalisiert. »Nicht die Pädagogik baut das Erziehungswesen, sondern die Politik. Nicht Ethik und Philosophie bestimmt das Ziel der Erziehung […], sondern die herrschende Klasse nach ihren Machtzielen; die Pädagogik verschleiert bloß diesen höchst häßlichen Vorgang mit einem schönen Gespinst an Idealen.« (Bernfeld 2013: 12)
Die kapitalistische Gesellschaftsordnung werde, so Bernfeld weiter, getragen von einer Ideologie, die die zur Ausbeutung führenden Eigentums- und Wirtschaftsverhältnisse verschleiert. Ideologien sind für Bernfeld für den Bestand wie auch für die Veränderung von Gesellschaft konstitutiv, weil nur durch sie genügend viele Menschen für politische Veränderungen mobilisiert werden können. Auch der Sozialismus arbeite deshalb mit Ideologie (vgl. Bernfeld 1990: 108f.). Diese sei aber »einsichtige und mutige Formulierung [der] Ziele, Tendenzen und Mittel« (ebd.: 109) und würde nicht dazu genutzt, zu belügen und zu verschleiern. Welche Konsequenzen zieht Bernfeld aus seinen Überlegungen? Sozialistische Erzieher brauchen eine wissenschaftliche, insbesondere gesell-
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schafts- und psychoanalytisch fundierte Ausbildung, sie müssen wissenschaftliche Standards kennen und die Grenzen der Erziehung reflektierend berücksichtigen. Da politische Erziehungskonzepte, so zeigt der Blick in die Geschichte, Gefahr laufen können Selbstreflexion und Kritik auszublenden, schließt eine kritische Analyse einiger Überlegungen Bernfelds an. Ziel ist es, die im Folgenden darzustellenden Bedenken gegenüber seiner Pädagogik kritisch zu prüfen, um mit ihnen einerseits reflexiv umzugehen und andererseits die Schärfe seiner Analysen und die ungewöhnlich deutliche Kritik am Kapitalismus zu erhalten.
K RITIK DER SOZIALISTISCHEN E RZIEHUNG B ERNFELDS Bernfeld wird mittlerweile wieder häufiger rezipiert 8 (vgl. zur Rezeptionsgeschichte Lohmann 2001: 54ff.), allerdings oft mit dem Fokus auf Soziologie, Sozialpädagogik oder Jugendforschung (vgl. Barth 2010; Niemeyer/Naumann 2006: 280f.). Das Kritikpotential und die Schlussfolgerungen für gegenwärtige Pädagogik kommen nur gelegentlich deutlich zur Sprache (vgl. z.B. Winkler 2016). Nicht zuletzt ist die Rezeption gelegentlich eher von »Bekenntnissen« (Niemeyer/Naumann 2006: 281) geprägt, als von einer ergebnisoffenen, kritischen Analyse. Gerade pädagogische Wissenschaft, die sich mit dem Sozialismus beschäftigen möchte, kann nicht bei einer Analyse historischer Sozialismuskonzepte Halt machen, sondern muss mit ihren Bezugstheorien selbst kritisch umgehen, um nicht Gefahr zu laufen, selbst ideologisch zu werden. Als problematische Elemente in Bernfelds sozialistischer Pädagogik, auf die nachfolgend näher eingegangen werden soll, sind erstens die Kollektiverziehung, zweitens der Gemeinschaftsgedanke und drittens die mögliche Instrumentalisierung der Kinder für einen politischen Zweck zu benennen. Das Problem der Instrumentalisierung soll hier hauptsächlich im Fokus stehen.
8
Dazu hat sicherlich insbesondere die Veröffentlichung der neuen Werkausgabe von Ulrich Hermann beigetragen.
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Ein erstes Problem in Bernfelds Theorie ist also die Kollektiv- und Massenerziehung. Dass das Kollektive Bernfeld alternativlos erscheint, ist seinen Überlegungen angesichts der hohen Zahl der proletarischen Kinder im Verhältnis zu den bürgerlichen geschuldet. Er will das Erziehungswesen wirksamer machen und deshalb rationalisieren. Aus heutiger Perspektive erinnern die Worte ›Massen‹- und ›Kollektiverziehung‹ an Vereinheitlichungsdruck und an die Unterordnung von Einzelschicksalen unter eine (Staats-)Doktrin. Vor der Überzeugung, dass »Auschwitz nicht noch einmal« sein darf (Adorno 1973: 88) und dass eine »blinde Identifikation mit dem Kollektiv« (ebd.: 95) große Gefahren birgt, sind die Gedanken der Kollektiverziehung zu problematisieren. Dennoch kann man Bernfeld nicht vorwerfen, das Individuelle gänzlich vernachlässigt zu haben: »Erziehung«, so Bernfeld im Sisyphos, werde sich »immer, welcher Ordnung sie auch diene, um die Einzelschicksale kümmern und sorgen. Aber der Entwurf des Grundrisses des Erziehungswesens und die Bewertung der Erziehungseinflüsse und -mittel im allgemeinen wird in einer Gesellschaft, deren Erziehungsproblem das Gesamtschicksal der ebengeborenen Kindergeneration und nicht das des Säuglings Meyer ist, weitgehend rationalisiert sein können und müssen.« (Bernfeld 1990: 149)
Gleichzeitig bestimmt das Dilemma, das Bernfeld thematisiert, auch heute noch institutionelles pädagogisches Handeln. Unsere Schulen sind damals wie heute auch Massenanstalten; die Schulklassen enthalten eine große Anzahl von Schüler*innen, eine Lehrerin bzw. ein Lehrer hat sich um ca. dreißig Schüler*innen zu sorgen. Der Anspruch angesichts dessen individuelle Förderung zu verfolgen, steht dazu im Widerspruch und verdeutlicht das Dilemma einer jeden öffentlichen Erziehung (und Bildung), gleichzeitig Individualziele und Gesellschaftsinteressen umsetzen zu sollen. Zweitens ist mit dem Problem der Masse auch der Gemeinschaftsgedanke verbunden, der nicht nur Bestandteil von Bernfelds Erziehungskonzeption ist, sondern in vielen reformpädagogischen Modellen zum Tragen kommt (z.B. in Gustav Wynekens Freier Schulgemeinde Wickersdorf). Die oftmals implizit enthaltene Forderung nach der Unterordnung unter einen Führer(stab) war wenig später, verknüpft mit dem Ziel der Gleichschaltung, ein wesentlicher Bestandteil der nationalsozialistischen Erziehung. Die Nationalsozialisten haben die Ideen der Gemeinschaftserziehung mit der
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Betonung der Volksgemeinschaft auf eine Art und Weise umgesetzt, die für viele Menschen, auch für Bernfeld, undenkbar gewesen ist (vgl. Blankertz 1982: 304). Wenngleich Bernfeld diese Auslegung von Gemeinschaftserziehung nicht absehen konnte, bleibt der Vorwurf Dudeks gültig: »[Bernfelds] Konstruktionen blendeten völlig die problematischen Schattenseiten einer charismatischen pädagogischen Praxis aus, die bei Schülern, Kollegen und Eltern auf eine bedingungslose Gefolgschaft setzen muss und jene Ambivalenz aus Empathie und Distanz vermissen lässt, die man gemeinhin von Pädagogen erwarten sollte.« (Dudek 2012: 467)
Als drittes Problem wurde die mögliche Manipulation oder Instrumentalisierung der Kinder für den politischen Zweck genannt. Hinsichtlich der Instrumentalisierung sind Bernfelds Ausführungen ambivalent. Auf der einen Seite kritisiert er, dass Pädagogen sich nicht dafür interessieren, »wie das Kind an und für sich ist, sondern einzig, wie man aus ihm etwas anderes bilden könnte«, und dass Kinder so »Mittel zum theologischen, ethischen, sozialutopischen Zweck« (Bernfeld 1990: 37) würden. Aber mit dem Vorwurf der Überwältigung der Jugendlichen durch seine politische Erziehung musste sich Bernfeld auch selbst schon auseinandersetzen. Während seines Engagements für die Jugendbewegung sollte er sich zu folgender Frage positionieren: »Die Erziehung der Jugendbewegung ist eine Tendenzerziehung, sie bedeutet in einem bestimmten Sinne eine Vergewaltigung des Zöglings. Wie ist die […] erhobene Forderung nach der Autonomie des Zöglings, d.h. der Entscheidung des Zöglings nur gemäß den Kräften, die in ihm selbst vorhanden sind und die der Erzieher zur Freiheit zu führen hat, zu vereinbaren?« (Vorbemerkung zu Bernfeld 2011c: 158)
Bernfelds Stellungnahme dazu ist aufschlussreich und überraschend, wenngleich die drastische Sprache etwas irritiert: »Es gibt keine Autonomie des Kindes und des Jugendlichen im eigentlichen Sinn des Wortes. Erziehung ist ganz allgemein die ›Vergewaltigung‹ der kindlichen Seele.« (Bernfeld 2011c: 158) Und zwar deshalb, weil Erziehung immer auf »Einschränkung des Trieblebens« (ebd.) ziele. »Das Kind […] unterliegt der Heteronomie, der Fremdherrschaft der gesellschaftlichen Kräfte« (ebd.: 159). Der Zweck
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der Erziehung sei es immer, der Gesellschaft Kinder zuzuführen, die den gesellschaftlichen »Anforderungen […] entsprechen.« (ebd.) Das gelte auch für die sozialistische Erziehung. Diese allerdings offenbare ihre Ziele im Gegensatz zur bürgerlichen Pädagogik, sozialistische Erziehung bedürfe keiner »Verlogenheit« (Bernfeld 1990: 109). Manipulation und Überwältigung gebe es in jeder Erziehung. In welcher Weise die Kinder beeinflusst und erzogen werden, darin unterschieden sich die Gesellschaftsformen jedoch deutlich: »Trotzdem wird die Vergewaltigung der Kindesnatur unvergleichlich weniger Aufgabe der sozialistischen Erziehung sein, als es die der bürgerlichen ist und seit je war. Der Kampf gegen die Kindesnatur ist das Schibboleth der bürgerlichen Erziehung. […] All das, was laut und bewußt, staatlich geschützt und kirchlich geweiht, als Kampfmittel – oder wie man gern sagt –, als Maßnahme sittlich-religiösen, erziehenden Unterrichts verwendet wird, ›quält‹ und verbiegt, dressiert und zivilisiert zwar die Kindheit, gestaltet aber das Tier in ihr nicht zum ›Menschen‹.« (Bernfeld 2011b: 273)
Bernfeld nimmt den Vorwurf der »Tendenzerziehung« nicht an. Das Problem der Manipulation sei auch gar nicht das wesentliche Problem der Erziehung, sondern die Ausnutzung der Macht durch die bürgerliche Klasse. Diese habe wesentlich dramatischere Auswirkungen auf die Kinder als eine politisch-sozialistische Einflussnahme.9 Doch auch in aktuellen Publikationen findet sich der Vorwurf der Instrumentalisierung wieder. In Hinblick auf die Erziehung in Baumgarten kommt Barth zu dem Urteil, Bernfeld habe in Baumgarten versucht, »seine pädagogische Kampftruppe zu homogenisieren« (Barth 2010: 206) und für Autonomie sei vor diesem Ziel kein Raum gewesen (vgl. ebd.). Auf diese Weise seien die Kinder im Heim »ohne kritisches Bewusstsein und entsprechend unfähig zur distanzierten Reflexion« geblieben (ebd.: 207). Hat Bernfeld also die Baumgartenkinder für seine politischen Ziele missbraucht? Erziehung verfolgt in der Regel den Zweck der Integration in das Bestehende, sie zielt auf Verbesserung der individuellen Dispositionen oder
9
An dieser Stelle wird auch die psychoanalytische Argumentation einmal mehr deutlich: eine freiere, weniger autoritäre Erziehung führe zu einer weniger starken Verdrängung der psychischen Triebe.
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gewünschten Verhaltensweisen, die für das Leben in der Gesellschaft wichtig sind (vgl. Brezinka 1990: 95). Dass Bernfeld die Kinder nicht für das bürgerliche System erzieht, ist vor seinem politischen Hintergrund nachvollziehbar. Stattdessen erzieht er die Kinder zum politisch bald erwarteten Sozialismus, genauer: dazu, dass sie in Zukunft dazu imstande sind, die bald erwartete Revolution mit durchzuführen. Ihm ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen die gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen lernen und so ein Klassenbewusstsein entwickeln. Wie hat Bernfeld das pädagogisch umgesetzt? Als Pädagoge in Baumgarten hat er, so berichtet er, kaum erzieherischen Einfluss auf die Kinder genommen (vgl. Bernfeld 2012: 42). Es ist jedoch anzunehmen, dass die Präsenz, die Kommunikation, die inhaltlichen Äußerungen der Erzieher und ihre moralischen Urteile durchaus handlungsleitend für die Kinder gewesen sein dürften (vgl. ebd.: 46): Der zur Selbstregulierung »erforderliche Lebens- und Erfahrungszusammenhang verlangt Erwachsene, die sich ihrer selbst als Erwachsene durchaus bewusst sind« (Winkler 2016: 43). Am Beispiel der Strafpraxis in Baumgarten wird zudem ein für jede Erziehung typisches Machtverhältnis offenbart. Bernfeld erläutert den Kindern während der ersten Sitzungen der Schulgemeinde, es würde im Heim keine Strafen geben, wenn aber jemand in seinem Verhalten »unverbesserlich« sei, würde er des Heimes verwiesen werden (vgl. Bernfeld 2012: 60). Allein die Androhung des Verweises ist eine eindeutige Sanktion, die die Kinder auch durchaus beunruhigt und zu vermehrten Nachfragen anregt (vgl. ebd.). Ein zu Teilen unreflektiertes Machtverhältnis kann wiederum auch einer politischen Einflussnahme Vorschub leisten. Bernfeld aber sieht diese Problematik selbst sehr deutlich: »Die Antinomie zwischen den berechtigten Willen des Kindes und dem berechtigten Willen des Lehrers löst keine Pädagogik auf, vielmehr besteht sie in dieser Antinomie. Aber es ist ein sehr wesentlicher Unterschied, ob das Resultat ein psychologisches [sic!] Kompromiß ist, in dem Teile von beiden Gegensätzlichkeiten eine innige und vom Kind zuletzt freiwillig bejahte Durchdringung eingehen, oder ob es die Vergewaltigung des kindlichen Willens und die Durchsetzung des von ihm abgelehnten erwachsenen Willens ist.« (Bernfeld 2012: 63f.)
Barths Ansicht, dass die Kinder zu einer »Kampffront« (Barth 2010: 206) ohne »kritisches Bewusstsein« (ebd.: 207) erzogen werden sollten, kann angesichts dessen nicht geteilt werden.
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Bernfeld und seine Kolleg*innen strebten die Bildung eines Klassenbewusstseins der Kinder an. Diese Bewusstseinsbildung ist aber nicht an Manipulation und Machtausnutzung orientiert, sondern wird durch Unterricht und Aufklärung in der Schulgemeinde und im täglichen Miteinander, durch ermöglichte Selbsttätigkeit und Kritik angeregt. Doch auch dieses pädagogische Handeln schützt nicht vor den Problemen, die die Kategorie des Klassenbewusstseins und die mit ihr verbundene zwangsweise Identifikation mit eben einer ganz bestimmten, nicht erst kontrovers auszudiskutierenden Weltanschauung, mit sich bringt. Man muss also durchaus kritisch fragen, ob Bernfelds geschichtsdeterministisch beeinflusstes und dogmatisch-marxistisches Sozialismusverständnis nicht zumindest Gefahr lief, von dieser Linie abweichende bzw. »unorthodoxe« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 20) politische Vorstellungen auszugrenzen. Selbstredend steht das im Gegensatz zum gegenwärtigen Anspruch an eine Pädagogik, die kontrovers und demokratisch sein soll, wie es heute beispielsweise in den Grundsätzen schulischer politischer Bildung im Beutelsbacher Konsens festgehalten ist (vgl. Wehlin 197710). Bernfeld ist zugute zu halten, dass der Baumgartenbericht von einer wertschätzenden, zutrauenden Haltung gegenüber den Kindern und durch den Verzicht auf Gewalt und Autorität geprägt ist, sie zielte auf »Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Liebe« (Bernfeld 2012: 277). Dennoch zeigen die Ambivalenzen in seiner Pädagogik: Erziehung ist nur das notwendige Übel zur Vorbereitung eines kritischen Bewusstseins, das eine gerechtere Gesellschaft ins Auge fassen kann (vgl. Heydorn 1970: 10); die Beziehung zwischen Erzieher und Zögling(en) ist kein von Freiheit, Gleichheit und Solidarität geprägtes Verhältnis, wenngleich die Sozialist*innen um Bernfeld davon ausgingen, die Kinder durch sozialistische Erziehung für eine Zukunft in Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu befähigen.
10 Vgl. hierzu auch die aktuelle »Frankfurter Erklärung« aus dem Bereich der Kritischen Politischen Bildung, die beispielsweise die Thematisierung von Machtverhältnissen in ihre Empfehlungen aufgenommen hat, vgl. Eis et. al. 2015.
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D IE AKTUALITÄT S IEGFRIED B ERNFELDS E RZIEHUNG – B ILDUNG – K RITIK ? Es bleibt zu fragen, welche Elemente der Pädagogik Bernfelds aktualisiert werden können. Diese Überlegungen werden verknüpft mit einem Kommentar zu einigen Vorschlägen der Herausgeber dieses Bandes zu gegenwärtiger sozialistischer Pädagogik. Bernfeld hätte Honneths Sozialismusbegriff11, der auf Reformen abzielt und als »stetiges Arbeiten an der Realisierung sozialer Freiheit« zu denken ist (Honneth bei Engelmann/Pfützner i.d.B.: 29), schlichtweg abgelehnt und als bürgerlichen Selbstberuhigungsversuch abgetan, denn als revolutionärer Marxist stellte er die Notwendigkeit der Umwälzung der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsform nicht in Frage. Seine theoretischen und praktischen Interventionsversuche berücksichtigen die komplexe Verwobenheit von Pädagogik und Politik konsequent: Neben der Problematisierung von Erziehung und Pädagogik im kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem hat er die Verwissenschaftlichung der Pädagogik angeregt, die psychoanalytische und soziologische Ausbildung der Pädagog*innen und Lehrer*innen verfolgt, zur Selbstverwaltung der Schüler*innen aufgefordert, und schließlich fortwährend (bis zum Exil) Kritik an bürgerlichen Institutionen betrieben. Damit hat er an pädagogischen, politischen und psychologischen Dimensionen gearbeitet, die Honneth teilweise hinter seinen Anerkennungsverhältnissen »ausblendet« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 30). Was die von Sebastian Engelmann und Robert Pfützner vorgeschlagenen, Honneths Sozialismusbegriff erweiternden, Elemente der »queeren Gleichheit« und »transversalen Solidarität« betrifft,12 könnte überlegt werden, inwieweit diese dazu dienen können, kritikable Aspekte in Bernfelds Theorie und Praxis zu problematisieren. So könnte die »queere Gleichheit« beispielsweise dort ansetzen, wo Bernfelds Pädagogik Gefahr läuft, das politische Ziel auf Kosten des Individuellen durchzusetzen, nämlich bei der Kollektiv- und Gemeinschaftserziehung.
11 Die Diagnose Honneths (2015) und Eribons (2017), das revolutionäre Subjekt sei den Marxisten abhandengekommen (vgl. Engelmann/Pfützner i.d.B.: 23), trifft Bernfeld als orthodoxen Marxisten natürlich insbesondere. 12 Wobei diskutiert werden müsste, inwiefern diese Elemente in Honneths »sozialer Freiheit« nicht schon enthalten sind.
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Die Paradoxien der Erziehung, wie das Verhältnis von Freiheit und Zwang, von Anpassung und Widerstand, von Gruppen- oder Einzelerziehung oder von Emanzipation und Manipulation, das kann man bei Bernfeld deutlich erkennen, verstärken sich mit dem Anspruch einer politischen Erziehung. Insofern ist für sozialistische Pädagogik Reflexion und Kritik der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ebenso erforderlich wie eine Reflexion und Kritik der eigenen Theorie und Praxis. Mit einer möglichen Instrumentalisierung durch die politische Erziehung bei Bernfeld sind die Fragen nach der Selbsttätigkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes (als Bedingung für Emanzipation) und nach dem Machtverhältnis (das dem Anspruch der Emanzipation im Wege steht) als konstitutive Momente der Erziehung verbunden. Der Erziehungsbegriff, der von den Herausgebern in der Einleitung dieses Bandes vorgeschlagen wird, könnte in dieser Hinsicht theoretisch ausgebaut werden, gerade angesichts der hohen Relevanz dieser Kategorien für eine politische Erziehung.13 Nach wie vor bedenkenswert sind Bernfelds Überlegungen zu Verantwortung und Selbstverwaltung, die nicht als harmonisierte Ideale zu verstehen sind, sondern auf die Funktion der Reflexion gesellschaftlicher Machtverhältnisse (und damit auch der antizipierten Befreiung aus ihnen), die die Solidarisierung der Menschen und damit die Abmilderung sozialer Ungleichheit zum Ziel hat, verweisen. Indem Kinder und Jugendliche Verantwortung übernehmen – nicht nur müssen, sondern dürfen – entsteht ein emanzipatorisch-aufklärerischer und damit ein bildungswirksamer Anspruch, denn es entsteht Raum für selbständiges Erfahren, Denken und Handeln, das die Veränderbarkeit von Welt (und die Notwendigkeit dazu) spürbar werden lässt. Während der Bildungsbegriff bei Siegfried Bernfeld als ideologische Bewusstseinsbildung gedacht war, kann sozialistische Pädagogik heute auf zahlreiche bildungstheoretische Zugänge zurückgreifen, die den Gedanken der Kritik in den Vordergrund stellen.14
13 Hier ist als theoretischer Einsatz auch an Mollenhauer (1972) zu erinnern, der sich mit der Diskursfähigkeit als emanzipatives Erziehungsziel befasst hat. 14 Beispielsweise Adorno 1972, Horkheimer 1985, Klafki 2007.
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L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1972): Theorie der Halbbildung, in: Adorno, Theodor W. (Hg.): Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 93-121. — (1973): Erziehung nach Auschwitz, in: Kadelbach, Gerd/Adorno, Theodor W. (Hg.): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959-1969, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 88-104. Andresen, Sabine (2006): Sozialistische Kindheitskonzepte. Politische Einflüsse auf die Erziehung, München: Ernst Reinhardt. Barth, Daniel (2010): Kinderheim Baumgarten. Siegfried Bernfelds »Versuch mit neuer Erziehung« aus psychoanalytischer und soziologischer Sicht, Gießen: Psychosozial. Benner, Dietrich/Kemper, Herwart (2003): Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Weinheim und Basel: Beltz. Bernfeld, Siegfried (1990): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, 6. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp. — (2011a): Drei Reden an die Jugend, in: Ders.: Werke, Band 2: Jugendbewegung – Jugendforschung, hg. von Ulrich Herrmann, Gießen: Psychosozial, S. 52-85. — (2011b): Über den Begriff der sozialistischen Erziehung. Sieben Thesen, in: Ders.: Werke, Band 3: Zionismus und Jugendkultur, hg. von Ulrich Herrmann, Gießen: Psychosozial, S. 269-278. — (2011c): Tendenzerziehung und Autonomie des Zöglings in der Jugendbewegung, in: Ders.: Werke, Band 2: Jugendbewegung – Jugendforschung, hg. von Ulrich Herrmann, Gießen: Psychosozial, S. 158-162. — (2012): Kinderheim Baumgarten. Bericht über einen ernsthaften Versuch mit neuer Erziehung, in: Ders.: Werke, Band 4: Sozialpädagogik, hg. von Ulrich Herrmann, Gießen: Psychosozial, S. 9-155. — (2013a): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Vorwort zur 2. Auflage, in: Ders.: Werke, Band 5: Theorie und Praxis der Erziehung. Pädagogik und Psychoanalyse, hg. von Ulrich Herrmann. Gießen: Psychosozial, S. 11-13. — (2013b): Der Erzieher (1927), in: Ders.: Werke, Band 5: Theorie und Praxis der Erziehung. Pädagogik und Psychoanalyse, hg. von Ulrich Herrmann, Gießen: Psychosozial, S. 131-154.
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K RITIK UND P ÄDAGOGIK BEI S IEGFRIED B ERNFELD
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Architektur – Pädagogik – Sozialismus Über Hannes Meyer und den Versuch einer Ideologiekritik pädagogischer Architekturen C LEMENS B ACH
W OLKEN , P ALMEN UND M ONTAGEHÄUSER : AKTUELLE G ESTALTUNGSIDEOLOGIEN IN TRANSFORMATORISCHER ABSICHT Gegenwärtig erwartet man von der Gestaltung im Allgemeinen – im Besonderen von dem Design und der Architektur – jene heroischen Taten, die zumeist an einen vermeintlich vollkommen ästhetikfreien Handlungsraum delegiert werden: nämlich den der Pädagogik. Selbstbefähigung und Selbsterkenntnis, Autonomie und herrschaftsfreie Kommunikation, ein individuelles ausgefülltes und glückliches Leben stehen neben gesellschaftlichen Zielvorstellungen wie sozialer Gleichheit und Freiheit oder dem Versprechen von einer menschenwürdigeren und die Natur erhaltenden Welt. Was als pädagogisch in der Geschichte oftmals einer naiven und sentimentalen Hoffnungsgläubigkeit zugeordnet wurde, ist auch heute noch nicht einmal hinreichend befreit von dem Verdacht, die realen gesellschaftlichen Verhältnisse zu übersehen, zu verleugnen und einer Verkehrung von wünschenswerter Zukunft und ruinöser Gegenwart auszuliefern. Pädagogik in theoretischer und praktischer Hinsicht macht sich also – in fast gewohnter Weise – unfreiwillig zum Gegenstand der Ideologiekritik, da sie ihren Anspruch und ihre Wirklichkeit, ihre Abhängigkeit gegenüber den gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnissen und der ihr zukommende Rolle der
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Perpetuierung eben jener sozialen Bedingungen nicht zu reflektieren vermag. Einen vollkommen anderen und weniger defätistischen Zugang findet man jedoch im aktuellen populären Diskurs zur Gestaltung. Ein Blick in die Märzausgabe der Zeitschrift für Architektur und Städtebau Arch+ aus dem Jahr 2016 gibt darüber besonderen Aufschluss. Der Titel des Heftes – Kann Gestaltung Gesellschaft verändern? –, eine im Zusammenhang mit dem Projekt Bauhaus aufgeworfene Jahresfrage, weist unmissverständlich darauf hin, mit was sich die über 200 Seiten starke Ausgabe beschäftigen will. Philipp Oswalt, Leiter des Projekts und von 2009 bis 2014 Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau, entscheidet sich schon in der Einleitung des Heftes für eine eindeutige Antwort: Natürlich verändert Gestaltung Gesellschaft, nur wohin und auf welche Weise müsse eingehender diskutiert werden (vgl. Oswalt 2016: 4f.). Oswalt macht dabei allerdings schon in aktuellen Gestaltungstendenzen verschiedene sinnstiftende Imperative aus: Gestaltung sei ein Mittel von Emanzipation und gesellschaftlichem Fortschritt, Statthalter von Autonomie und – seltsamerweise – nicht auf ein Ergebnis oder Ziel, sondern ausschließlich auf einen ominösen emanzipatorischen Prozess fokussiert (vgl. ebd.: 6). In dasselbe affirmative Horn stoßen auch fast alle anderen Beiträge dieser Sonderausgabe. So etwa die von Gui Bonsiepe vorgetragene Apologie der Notwendigkeit (vgl. Bonsiepe 2016: 38-41) einer gestalterischen Transformation oder die von Nicolas Beucker festgeschriebene Rolle des Transformationsdesigns als »DIE Disziplin für Transformation« (Beucker 2016: 54) schlechthin. Auch reflexive und kritische Kompetenzen kommen der Gestaltung im Allgemeinen zu, wie es etwa A.P. (Bram) Bos und John Grin für ihren Vorschlag reklamieren wollen (Bos/Grin 2016: 56). Gar von einem Weltdesign, welches mit normativen und anthropologischen Wunderkräften wie Innovation, Subversion und der Fähigkeit zur Zukunftsschau ausgestattet ist, spricht Stephan Rammler, der in Bezug auf Harald Welzer und Bernd Sommer einen reformierten und freundlichen, sowie auf ökologische Nachhaltigkeit setzenden Kapitalismus anvisiert (vgl. Rammler 2016: 57). Dass solche Gestaltungssuperlative nur teilweise auf eine mysteriöse Kraft der Gestaltung abzielen, machen speziell die Einlassungen in den Texten implizit deutlich, die der Gestaltung als Mittel eine pädagogische Funktion zukommen lassen. So heißt es beispielsweise bei Martin Held im Hinblick auf eine sozial-ökonomische Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter Verwendung von warenästhetischen Visualisierungseffekten: »Die Rahmung individueller Ent-
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scheidungssituationen muss so gestaltet werden, dass für das globale Klima förderliche Entscheidungen näher liegen als abträgliche.« (Held 2016: 63) Für die Architektur im Speziellen gilt das von solchen Stimmen evozierte Versprechen gegenüber einer gesamtgesellschaftlichen Transformation ebenso. Als Beispiele dafür dienen etwa Projekte wie die der Berliner Büros SMAQ und Raumlabor oder die teilweise umgesetzten Vorstellungen von sogenannten Cloud Cities des Architekten Tomás Saraceno. Allen architektonischen Entwürfen ist gemein, dass sie mit einem umfassenden auf soziale Gerechtigkeit, Partizipation, Umweltsensibilität, Kreativität, und Freiheit hin ausgerichtetem Programm kokettieren. Ob als Reformvorschläge für eine effektivere und sozialere Nutzung des Palm Areals in Dubai, als Öko-Enklaven mit Festivalcharakter und Familienbauernhofflair in Frankreich oder als Krabbel-Hüpfburg-Oase in renommierten Ausstellungsräumen – die Großzahl der euphorisch gefeierten Architekturvorschläge scheint moralisch, sozial, ästhetisch und ökologisch nichts an Integrität einzubüßen. Als prominenteres Beispiel kann wohl der chilenische Architekt Alejandro Aravena gelten, der 2016 zum Leiter der Architekturbiennale in Venedig ernannt und fast zeitgleich den amerikanischen PritzkerArchitekturpreis für seine Rolle als sozialer Architekt erhielt (vgl. SchmittTegge 2016). Bekannt wurde Aravena vor allem durch seine Formgebung eines sozialen Wohnungsbaus, die aufgrund der Idee der Halben Häuser 2004 größere Aufmerksamkeit erlangte. Es liegt nahe, solcherlei Ambitionen, in Anlehnung an den von dem Kunstwissenschaftler Andreas Haus verwendeten Begriff, als Gestaltungsideologie zu bezeichnen, also als jene Form des Bewusstseins, die mittels der Gestaltung nur reformistisch und ideologisch verblendend in den gesellschaftlichen Wandlungsprozess eingreifen will (Haus 1978: 62). Mir geht es in diesem Aufsatz zwar um eine ähnliche Stoßrichtung, jedoch um eine andere Akzentuierung. Über Gestaltung – als Mittel erzieherischer Prozesse – erhofft man sich im Bereich der Architektur vermehrt ein gesamtgesellschaftlichtes Transformationspotential; und zwar eines, das als Ziel eine gerechte, freie, menschenwürdige und umweltfreundliche Ordnung anstrebt, die auf der Basis einer gemeinschaftlichen Organisation aller beteiligten Individuen zu errichten ist. Ein sozialistisches Ziel, müsste man also voreilig meinen, denn schließlich verstehen sich solche Entwürfe als sozial-politische Horizonterweiterungen mit einem ethischen Anstrich. Ich möchte in diesem Artikel der Spur der Verknüpfung von Architektur, Sozi-
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alismus und Pädagogik mittels einer historischen Perspektive folgen. Die Frage, die ich versuche zu beantworten, richtet sich im Folgenden weniger an die Art und Weise dieses Verhältnisses, sondern viel mehr an die inhaltlichen Konsequenzen, mit der sich ein pädagogisches Denken zu beschäftigen hat, wenn es diese Begriffe zueinander in Beziehung setzen will. Dazu werde ich erstens einige theoretische Überlegungen zu den drei Begriffen anstellen, damit die Beschäftigung mit dem historischen Gegenstand hier nicht allzu unvermittelt der Frage übergestülpt wird. Zweitens will ich einer Auswahl von Texten des zweiten Bauhausdirektors Hannes Meyer (18891954) meine Aufmerksamkeit schenken, um an einem prominenten Vertreter der marxistischen Architektur den Horizont zu illustrieren, den man bei der Verhältnisbestimmung von Architektur, Pädagogik und Sozialismus vor Augen haben sollte. Drittens versuche ich mindestens drei verschiedene Antwortmöglichkeiten auf meine Frage herauszuarbeiten und diese gerade auch auf ihre aktuelle Aussagefähigkeit hin zu überprüfen, um damit einen Ausblick für zukünftige Auseinandersetzungen zu liefern. In einem letzten Schritt soll der Versuch unternommen werden, auf den in diesem Sammelband vorangestellten Einleitungstext Bezug zu nehmen, um dem Theorem einer sozialistischen Pädagogik über den hier diskutierten Weg einer Verhältnisbestimmung einige analytische und normative Konturierungsvorschläge zu unterbreiten.
ARCHITEKTUR , P ÄDAGOGIK UND S OZIALISMUS : THEORETISCHE V ORBEMERKUNGEN Wie lässt sich überhaupt über den Zusammenhang von Raumgestaltung und Pädagogik nachdenken? Eine theoretische Antwort darauf lautet, dass, wenn der Raum durch seine Gestaltung dafür vorgesehen ist, intendiert die Erfahrung und Wahrnehmung des Rezipienten mittels spezifischer Strukturen zu beeinflussen, durchaus von Erziehung gesprochen werden kann. Alfred K. Treml hat in seiner Theorie der strukturellen Erziehung von 1982 diesen Sachverhalt über die Systemtheorie Niklas Luhmanns zu konkretisieren versucht. Über den Strukturbegriff leitet Treml einen transzendentalen Erziehungsbegriff ab, den er über die Formel: »Strukturen erziehen, weil sie Erfahrungen ermöglichen, indem sie sachliche, soziale und zeitliche Komplexität vernichten« (Treml 1982: 134) definiert. Mit Komplexität
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ist – hier nur in aller Kürze angedeutet – die von Luhmann verwendete Vorstellung einer gesamten Weltmöglichkeit gemeint, die über intendierte Strukturen, d.h. gewollte Ein- und Ausschließungsentscheidungen – also Selektivität –, Erfahrungen und damit Lernen ermöglicht. Räume erziehen, so ließe sich in dieser Hinsicht mit Treml formulieren, da sie durch ihre strukturelle Funktion der Selektivität Ein- und Ausschließungen von Weltkomplexität erzeugen, die wiederum die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und damit von Lernen stiften. Mit solch einer theoretischen Rahmung fällt es nicht schwer, Architektur- und Gestaltungstheorien sowie ihre praktische Umsetzung auf ihre pädagogische Bedeutung hin zu untersuchen. Denkt man weiterhin über das Verhältnis zwischen der dem Raum zugewiesenen erzieherischen Rolle und einem sozialistisch ausgerichteten Gesellschaftsverständnis nach, stößt man schon bei den sogenannten Frühsozialisten auf einige interessante Denkmodelle. Schon ca. 100 Jahre vor der architektonischen Moderne, deren prominenteste Vertreter wohl im Werkbund, dem Bauhaus oder der Stuttgarter Schule zu finden sind, wurde der Siedlungsbau und die damit verbundene Baugestaltung in bestimmten Fällen auf ein sozialistisch ausgerichtetes Gemeinwesen hin als pädagogisch konzipiert. So zum Beispiel in den literarischen Entwürfen eines Charles Fourier, in der Revolutions- und Aufklärungsarchitektur der französischen Architekten Claude-Nicolas Ledoux und Étienne-Louis Boullée oder – am explizitesten am Sozialismus orientiert – in den Siedlungsentwürfen Robert Owens. Die verschiedenen von Owen geplanten und realisierten Bauvorstellungen verfolgten das Ziel, eine von Eigentum, Staat, Ehe und Religion abgetrennte Lebensweise zu organisieren, in der die Gestaltung auf das aus der Sicht Owens Wesentliche des menschlichen Zusammenlebens ausgerichtet werden sollte: Einfache und klare Grundstücksaufteilungen folgten Bauten mit eindeutigen Funktionszuschreibungen und diese bildeten den Rahmen für eine gleiche Behandlung der Siedler und Siedlerinnen und deren gegenseitige Unterstützung. In seinem von 1826-1827 in der New-Harmony Gazette veröffentlichten Essay benannte Owen auch das an die Philosophie Jeremy Benthams angelehnte Ziel seiner sog. Arrangements: »die Vereinigung und die Zusammenarbeit aller zum Vorteil eines jeden« (Owen 1988: 16). Es oblag nicht nur der Architektur, diesen Einfluss auf die Bewohner und Bewohnerinnen der Siedlung zu gewährleisten; vor allem galt die Erziehung, die Arbeitsteilung, das freie Eingehen von Beziehung als das Ergebnis einer
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konkreten Planung und einem sich daraus entwickelten Regelwerks, welches alle Bereiche des Zusammenlebens regeln sollte. Doch als Rahmen eben jener Organisation diente Owen die Architektur als Gegenmodell zu denen von ihm so verachteten gesellschaftlichen Verhältnissen. Was lässt sich also schon hier zu dem Verhältnis von Architektur, Pädagogik und Sozialismus festhalten? Mit dem begrifflichen Zugang über Tremls Theorie struktureller Erziehung ist man in der Lage zu behaupten, dass Räume und ihre Gestaltung dadurch Erziehen, dass sie – als Strukturen, d.h. als Ergebnisse von intendierten Ein- und Ausschließungskonzepten – bestimmte Erfahrungen organisieren, die auf bestimmte Lerninhalte gerichtet sind. Im Falle der schlichten und zweckmäßigen Gestaltung und Anordnungen der Siedlungen Owens bedeutet das, dass ein spezifisch sozialistisches Lernziel angesprochen sein muss, damit von dem hier zu diskutierenden Zusammenhang gesprochen werden kann. Formal ist also Raumgestaltung- und Organisation – wenngleich, wie bei Treml, mit einem transzendentalphilosophischen Argument inhaltlich gefüllt – mit Pädagogik verknüpfbar. Inhaltlich jedoch zeichnet sich die Verbindung zu einem sozialistischen Denken durch die Bestimmung der intendierten Ziele, Normen und dementsprechend auch Werte aus. Am Beispiel Owens würde das bedeuten: Die Siedlungsentwürfe organisieren intendiert eine Erfahrung – erziehen also – bei denen die Bewohner mindestens dreierlei lernen sollen: Erstens gilt es ein Zusammenleben in Erfahrung zu bringen, das von Privateigentum, Ehe, Staat und Religion befreit ist; Zweitens soll die »Vereinigung und Zusammenarbeit aller zum Vorteil eines jeden« (Owen 1988: 16) erlernt werden und drittens sollen die erworbenen Vorteile beider Erfahrungen dazu führen, auch außerhalb der Siedlung eben jene erlernten Organisationsformen des Zusammenlebens umzusetzen. Es handelt sich also auch um Ziele, wie sie den oben kurz beschriebenen Architekturmodellen ähneln – freilich mit dem Unterschied zur expliziten Kritik an der gesellschaftlichen tragenden Rolle des Privateigentums, der Ehe oder des Staates. Aber auch bei Hannes Meyer findet sich in einem einzigen Satz innerhalb seines am 4. Oktober 1938 an der Akademie San-Carlos in Mexico Stadt gehaltenen Vortrages das wieder, was hier über annähernde Umwegen zum Verhältnis von Architektur, Pädagogik und Sozialismus kurz dargestellt wurde. Da schreibt Meyer retrospektiv über die Anfang der 1920er Jahren mit seinen genossenschaftlichen Kollegen Schaer und Jäggi entworfene Siedlung in Freidorf bei Basel Folgendes:
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»150 Familien = 620 Menschen aller sozialen Volksschichten, gebunden durch eine straffe kooperative Ordnung aller ihrer Lebensbedürfnisse: kooperativer Einkauf aller Waren, Schulbetrieb, Gärtnereibetrieb, Versicherung, Kinderfürsorge, Gasthausbetrieb usw. auf der Grundlage der Pädagogik des großen Schweizer Genossenschafters Heinrich Pestalozzi.« (Meyer 1980: 217).
Ob Pestalozzi zumindest aus der Sicht Meyers als Genossenschaftler zu beizeichnen wäre oder inwiefern die Siedlung Freidorf tatsächlich Elemente einer gebauten Erziehungstheorie aufweist, ist hier nicht vorrangig von Belang. Entscheidend ist zu aller erst der explizite Hinweis darauf, dass der Architekt durch seine Baugestaltung erzieht; und zwar nicht diffus nach willkürlichen Einfällen, sondern nach einer für ihn geeigneten pädagogischen Denkweise. Mehr genossenschaftlich denn als sozialistisch wäre wohl am Beispiel Meyers zu behaupten. Doch ein Blick in seine Schriften lässt auch konträre Denkpositionen erkennen.
H ANNES M EYER UND DER V ERSUCH EINER MARXISTISCHEN ARCHITEKTUR UND P ÄDAGOGIK Anhand der Schriften Meyers lassen sich grob mindestens zwei verschiedene theoretische Positionen innerhalb eines Zeitraums von ca. 20 Jahren ausmachen. Der Bauhistoriker Klaus-Jürgen Winkler verweist darauf, dass Meyers pädagogischen und gestalterischen Ideen vor allem in den 1920er Jahren und dementsprechend auch um die Zeit seiner Direktorenschaft am Bauhaus stark von der schweizerischen Genossenschafts-, Boden- und Schulreformbewegung beeinflusst waren. Auch vermischten sich, so Winkler, die für den Beginn der Weimarer Republik sicherlich innovativen Erziehungsideale des ersten Bauhausdirektors Walter Gropius mit den Vorstellungen Meyers. Als erstes Resultat dieser verschiedenen Annäherungen macht Winkler bei Meyer eine Erziehung zum ganzen Menschen aus, also eine über das Curriculum des Bauhauses zu entwickelnde ganzheitliche harmonische Persönlichkeit, die in geistigen wie körperlichen, emotionalen wie wissenschaftlich-technischen Bereichen auszubilden sei (vgl. Winkler 1989: 80). Meyer, dabei über Gropius hinausgehend, verstand hauptsächlich die gemeinsame und die von ihm so betitelte kollektivistische Arbeitsund Ausbildungsweise als Motiv der pädagogischen Vorgehensweise. In
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sogenannten CO-OP Arbeitsgemeinschaften wurde der Versuch unternommen, innerhalb der Bauwerkstätten gemeinschaftlich und ohne Hierarchien an den zu entwickelnden Modellen und Entwürfen zu arbeiten. Weiterhin bezeichnet Winkler den zweiten Pol der Erziehungskonzeption Meyers als einen gesellschaftlichen: »Sie [die gesellschaftliche Erziehung, CB] zielt nach Meyers Vorstellung auf einen aktiven Mitgestalter des Neuen innerhalb der gesellschaftlichen Realität. [...] Dies bedeutet eine Annäherung an die Probleme der werktätigen Klassen und Schichten, damit Aufnahme ihrer sozialen Interessen und mithin auch ihrer politischen Bestrebungen.« (Ebd.)
Was Winkler hier als zwei verschiedene Erziehungsziele identifiziert, dient jedoch in beiden Fällen der Ausbildung eines Architekten, die zum Zweck der pädagogischen Aufgabe desselbigen initiiert wird. Der fertig erzogene Architekt im Sinne Meyers hat den Auftrag, alle Bereiche des menschlichen Lebens in einer Gesellschaft zu organisieren und zu beeinflussen. So heißt es bei Meyer in seinem für die Zeitschrift Bauhaus 1928 verfassten Artikel bauen: »diese funktionell-biologische auffassung des bauens [die ausgerichtet an der Vorstellungen einer biologischen Verfasstheit des Menschen sowie der Architektur ist, CB] als einer gestaltung des lebensprozesses führt mit folgerichtigkeit zu reinen konstruktionen: diese konstruktive formenwelt kennt kein vaterland.« (Meyer 1980: 47)
Noch deutlicher wird die erzieherische Aufgabe, die Meyer der Architektur und dem Gestalter zuordnet, in dem von ihm ebenfalls in der Bauhauszeitschrift ein Jahr später veröffentlichten und in Versform verfassten Text bauhaus und gesellschaft: »so ist das endziel aller bauhausarbeit /die zusammenfassung aller lebensbildenden kräfte /zur harmonischen ausgestaltung unserer gesellschaft [...] jedes menschen werk ist zielgerichtet /und des gestalters welt blick daraus [...] die neue baulehre /ist eine erkenntnislehre vom dasein. /als gestaltungslehre /ist sie das hohelied der harmonik. /als gesellschaftslehre ist sie eine strategie des ausgleichs.« (Meyer 1980: 51f.)
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Wenn nach Meyer Baugestaltung und somit Architektur als ordnendes Prinzip »Kunst« (ebd.: 52) sei, welche die Gesellschaft und ihre Mitglieder über ihre erzieherische Qualität zur harmonischen Versöhnung führen solle, stellt sich die Frage, was an diesem Nachdenken über Pädagogik und Architektur überhaupt als spezifisch sozialistisch oder gar marxistisch zu identifizieren ist. Das allgemeine Harmonisierungsideal Meyers scheint dabei eher den Charakter einer technisch-wissenschaftlichen Reformgläubigkeit zu unterliegen, wie sie besonders auch an den Bauten Meyers in den 20er Jahren zu beobachten ist. Die zweite theoretische Position Meyers ab Anfang der 30er Jahre sollte also nun auch auf ihren sozialistischen und pädagogischen Gehalt hin befragt werden. Die Übersiedlung Meyers in die Sowjetunion 1930 hängt mit der Umstellung seiner Ansichten gegenüber der Architektur aufs Engste zusammen. In einem Interview mit dem Berliner Korrespondenten der Prawda äußerte sich Meyer zu seiner Motivation in die Sowjetunion zu fahren folgendermaßen: »Ich sagte und sage allen Architekten, Ingenieuren und Bauleuten: Wir können unseren Weg nur mit der Partei des revolutionären Proletariats, der kommunistischen Partei, und all jenen gehen, die den Sozialismus aufbauen. Ich fahre in die UdSSR, um dort zu arbeiten, wo die wirkliche proletarische Kultur geschmiedet wird, wo man den Sozialismus aufbaut, wo die Gesellschaft entsteht, für die wir hier unter dem Kapitalismus gekämpft haben.« (Zit. nach Winkler 1989: 131)
Meyer wird Professor der staatlichen Hochschule für Architektur und Bauwesen – der WASI –, verfolgt seine Tätigkeit als Architekt – wenn auch auffällig unproduktiv – weiter und betätigt sich als Vortragsredner an der sowjetischen Architekturakademie in verschiedenen sozialistischen Ländern wie der Tschechoslowakei. Bis 1936 lebt und arbeitet er in der Sowjetunion und verfasst in dieser Zeit auch die meisten seiner Schriften zu einer marxistischen Architektur. Auffällig ist der Bruch, der bei Meyer trotz seiner in dem eben zitierten Interview dargestellten angeblich kontinuierlichen Haltung zur kapitalistischen Gesellschaft der Nachkriegszeit Deutschlands festzuhalten ist. So schreibt er in dem Aufsatz Über die kapitalistische Wohnungsarchitektur der Nachkriegszeit (1919-1934) von 1935 sarkastisch über die in der Phase von 1923 bis 1929 angesiedelten Versuche einer weltverbesserischen Reformarchitektur, die die ökonomische Basis
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der kapitalistischen Produktionsweise – also Rationalisierung und Standardisierung der Lohnarbeit – verschleiern und gleichzeitig durch den angeblich gerechten Wohnungsbau erhalten und sogar profitsteigernd ausbauen wolle (vgl. Meyer 1980: 69). Das eigene Schaffen des Architekten selbst steht hier zur Disposition, genauso wie die als »Kooperativen« getarnten und vom »Großkapital« beherrschten Reformversuche sozialdemokratischer Gestaltungsideen wie der der »Bauhüttenbewegung«, des ADGB, der Stadtverwaltung Wiens (als Beispiel dient Meyer der Karl-Marx-Hof) oder der des Prinzips des Montagehauses, dass von der eigenen Arbeitskraft des Besitzers selbst fertig gestellt wird (vgl. ebd). Es sind Gedanken, die, historisch-materialistisch auf die Baugeschichte angewandt, ihre präzise Zuspitzung schon in dem Aufsatz Über marxistische Architektur Anfang der 30er Jahre erfuhren. »das sein bestimmt das bewußtsein. das sozialistische bauwerk ist ein organ der massenpsychologie« (ebd.: 96) heißt es da. Doch in der Reflexion Meyers auf eine kapitalistische und einen sozialistische Bauweise kommt es zu einem Paradox, welches sich speziell an den sich daraus ergebenen Konsequenzen für die politische Rolle des Architekten äußert. Was bedeutet das? Meyer beschreibt die gesellschaftliche Funktion des Architekten als vollkommen heteronom bestimmt: »heute ist der architekt innerhalb der kapitalistischen verhältnisse der rechtsanwalt des baukapitals. als solcher ist er ein interessenvertreter der herrschenden oberklasse. er ist abhängig vom materiellen erfolg seiner auftraggeber, der geldinstitute des profitkapitals jeder art. auch der hochqualifizierte architekt von ruf und bedeutung bleibt trotz aller seiner sozialen einsicht, trotz seiner vorliebe für die typisierung und den standard, ein lakai des baukapitals. er ist dadurch gezwungen zu einem eiertanz kunstvoller art: […] er tanzt zwischen den staatlichen und kommunalen behörden, welche diese [also seiner, C.B.] bauten gesetzlich sanktionieren müssen. er tanzt zwischen den bauunternehmern, welche diese bauten zur bereicherung ansehen. er tanzt zwischen den leidtragenden dieser bauerei, der masse der mieter, der masse des proletariats, zu deren ausplünderung diese bauten direkt und indirekt bestellt sind. – in den tanzpausen dieses eigentümlichen eiertanzes beschäftigt er sich mit ›architektur als baukunst‹.« (Ebd.)
Nicht nur als eine Absage an den Beruf des Architekten, sondern als eine strikte Verneinung der künstlerischen und sozialen Einflussnahme der Architektur zum Wohle einer gesellschaftlich positiven Entwicklung
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schlechthin ist diese Behauptung zu verstehen. Auch außerhalb einer kapitalistischen Gesellschaftsform, so Meyer, ist die bauliche Tätigkeit nicht in der Lage, die von ihr selbst in Anspruch genommene Weltverbesserung zu realisieren. Die kommunistische Linke könne keine Erwartungen in eine revolutionäre Architektur stecken, da eine angemessene sozialistische Architektur erst nach der proletarischen Revolution zu entwickeln sei. Meyer leitet aus dieser Beobachtung allerdings verschiedene Aufgaben für den Architekten ab, die eben auf ein paradoxes Verständnis zur Architektur verweisen. Meyer schreibt also im gleichen Aufsatz: »so muß sich dort die aufgabe des proletarisch eingestellten architekten darauf beschränken, die kommende veränderung des bauwesens im sinne des dialektischen marxismus theoretisch zu klären und agitatorisch zu fördern.« (Ebd.: 97)
Gefordert sind hier also eine in diesem Sinne wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte und der Normierung von Architektur sowie eine politische Inanspruchnahme des Architekten in Fragen der Verbreitung jener Erkenntnisse. Eine vollkommen andere Vorstellung hat Meyer in seinen um die gleiche Zeit erschienenen Thesen über marxistische Architektur von der sozialistischen Rolle der Architektur. In der 13. und somit letzten These ist dementsprechend zu lesen: »revolutionäre elastizität und wissenschaftliche sachlichkeit sind das wesen des leninistischen architekten. für ihn ist die architektur kein ästhetisches stimulum, sondern eine scharfe waffe im klassenkampf.« (Ebd.: 99)
Welche klassenkämpferische Qualität die Architektur als Waffe haben solle, bleibt dabei größtenteils offen. Zu vermuten ist, dass Meyer bei solchen Behauptungen eher an eine Art sozialistischen Realismus der Architektur dachte, als an eine bauliche Versuchsanordnung zur kritischen Reflexion des eigenen und gesellschaftlichen Daseins im Dienste einer kommenden Revolution. Die Texte um diese Zeit scheinen diesen Verdacht zu bestätigen. Oftmals ist bei Meyer die Rede von Massenfilm, Massensport oder Massendemonstration zur Heroisierung des realen Sozialismus in der idealisierten Visualisierung der personellen Union zwischen Lenin und Stalin. Am Ende seiner Zeit in der Sowjetunion favorisiert er den Monumentalbau im klassizistischen Gewand als Repräsentation des zur Erde gekommenen
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wahrhaften Sozialismus. Allein in den Schriften und Vorträgen, die er nach seinem kurzen Schweiz-Aufenthalt in Mexiko verfasste, bleibt jene erste angestellte Deutung erhalten, nach der der Architekt die ökonomischen Verhältnisse historisch zu beleuchten und sich solidarisch mit seinen Mitmenschen im Dienste einer besseren gesellschaftlichen Ordnung zu organisieren habe. Doch auch in dieser Zeit gibt er den emphatischen Gesellschaftsauftrag der Architektur nicht auf. Meyer schreibt in seinem Vortrag Erziehung zum Architekten, den er 1939 an der Akademie San Carlos in Mexiko-Stadt hielt, von der gesellschaftsverändernden Kraft, die der Architekt als Organisator und somit als Erzieher für sich beanspruchen könne. Mit seinen Erziehungsvorstellungen der 20er Jahre und den radikalen analytischen Betrachtungen versöhnt Meyer in Südamerika diese zwei theoretischen Positionen in seinem schriftlichen Werk. Mit Blick auf die Entwicklung des faschistischen Deutschlands kehrte Meyer zu einer Renaissance seiner genossenschaftlichen Ideen der harmonischen Ausgeglichenheit des Menschen unter den Bedingungen einer rationalen, naturnahen, sachlichen und standardisierten Architektur zurück. Nur innerhalb seiner pädagogischen Konzepte überwinterte der Anspruch an eine Ausbildung, die den Hoffnungen auf eine pädagogische Architektur als weltverbessernde Instanz schlechthin zumindest eine historisch-materielle Skepsis zur Seite stellte.
T HEORETISCHE UND PRAKTISCHE P ERSPEKTIVEN AUF DAS V ERHÄLTNIS VON S OZIALISMUS , P ÄDAGOGIK UND ARCHITEKTUR Wie lassen sich nun diese drei Begriffe sortieren und welche Verhältnisbestimmungen können daraus gewonnen werden? Anhand der Überlegungen Meyers lassen sich drei Bedeutungszugänge auf zwei verschiedenen Ebenen identifizieren. In einer praktischen Perspektive ist zwischen der pädagogischen Funktion zur Architektur mit einer sozialistischen Ausrichtung und einer pädagogischen Funktion der Architektur mit dem Ziel eines sozialistischen Gemeinwesens zu unterscheiden. Ersteres bezieht sich auf die Erziehungsprogrammatik Hannes Meyers, der zufolge die Ausbildung zum Architekten oder zur Architektin auf der Grundlage eines hierarchiefreien Arbeitens in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten erfolgen soll. Zu dieser
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Ausbildung zählt weiterhin die wissenschaftliche Erarbeitung und Aneignung gesellschaftlichen, ökonomischen, biologischen und statistischen Wissens zur Schaffung standardisierter und typisierter, in der Gestaltung auf Schlichtheit und Naturnähe ausgerichteter Bauwerke. In Anknüpfung an das Resultat dieser Ausbildung wird die zweite Funktion, also die pädagogische Ausrichtung der Architektur, virulent. Räume erziehen, so Treml, da sie bewusste Ein- und Ausschließungen von Weltkomplexität zum Zwecke des Lernens materialisieren. Und auch bei Meyer tritt diese Funktionszuweisung des Architektonischen in Erscheinung: etwa in der explizit ausgesprochenen Fundierung seiner architektonischen Entwürfe auf der Basis der Pädagogik Pestalozzis oder in der Bestimmung der Baugestaltung als organisierendes Prinzip von Gesellschaften mithilfe der gezielten Ordnung und Beeinflussung der einzelnen Individuen. Sozialistisch oder vielmehr genossenschaftlich-reformistisch – jedenfalls was die Überzeugungen Meyers in den 20er Jahren und die zur Zeit seines Mexiko-Aufenthalts betrifft – ist diese Architektur dann, wenn sie, auf der Grundlage von Gemeineigentum und gleichberechtigter Lebensraumgestaltung, die einzelnen Individuen einer Gruppe in ein harmonisches Verhältnis zueinander in Beziehung setzt; oder, wie es aus den Texten Meyers zur Zeit seines Aufenthaltes in der Sowjetunion auch zu entnehmen ist, sie ihre Funktionsbestimmung als Repräsentationszweck einer klassenlosen Gesellschaft erhält. In einer theoretischen Perspektive, und dementsprechend in einem dritten Bedeutungszugang, ist es abschließend möglich, eine kurze Skizze einer Ideologiekritik der pädagogischen Architektur in Anlehnung an die bisherigen Überlegungen zu entwickeln. Meyer äußert sich in seinem Aufsatz Über marxistische Architektur kritisch bis polemisch gegenüber einer reformistischen und weltverbessernden Baugestaltung der 1920er Jahre. Die Idee einer die gesellschaftlichen Widersprüche nivellierenden Architektur, die die durch die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise strukturierte Gesellschaft nicht beachtet, bekomme den Anstrich einer verschleiernden und den Kapitalismus bekräftigenden Architektur, da sie auf der Basis ungleicher materieller Verhältnisse diese nicht auslöschen, sondern vielmehr bestätigen würde. Der bereits angesprochene Begriff der Designund Gestaltungsideologie des Kunstwissenschaftlers Andreas Haus trifft diese Beobachtung in ähnlicher Weise. Haus datiert die Form dieses Bewusstseins auf den Beginn des 20. Jahrhunderts und betont, dass die Rede vom Design, welches das Bewusstsein verändere, ähnliche ideologische
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Konturen annehmen könnte wie die Vorstellung von einer das gesellschaftliche Sein determinierenden ominösen Ideen- und Bewusstseinsform (vgl. Haus 1978: 62). Nicht nur für die sozialistisch und kommunistisch ausgerichtete künstlerische Avantgarde, auch für reformatorische Ideologien schienen solche Losungen eine enorm wichtige Rolle zu spielen. In Anlehnung an Haus lässt sich sagen, dass solche Hoffnungszuschreibung gegenüber der Gestaltung (Architektur/Design) deshalb ideologisch sind, da sie, wie Marx und Engels in der Deutschen Ideologie von 1845 schreiben, »den Schein der Selbstständigkeit« (zit. nach Reitz 2004) besitzen und die Rahmung der ökonomischen Verhältnisse und der in ihr stattfindenden Erkenntnisproduktion ausblenden (vgl. Reitz 2004). Eine künstlerische Produktion, die von den materiellen Verhältnissen in denen sie existiert abstrahiert und das Versprechen der allgemeinen menschlichen Versöhnung voreilig postuliert, setzt sich dem Vorwurf Marx’ und Engels aus, wie Religion, Staat oder Recht die historischen und materiellen Bedingungen der eigenen Konstitution zu missachten (vgl. Engels/Marx 1958). Eine ähnliche, wenngleich nicht so direkt ausformulierte und sicherlich noch zu komplettierende Vorstellung von Ideologie, besitzt auch Hannes Meyer. In seiner Kritik an der Ideologie einer sozialdemokratisch motivierten Reformarchitektur ist das zu erkennen. Wenn nun aber nach Treml Räume erziehen, diese also einen über Architekten, Bauherren, Politik, Recht, Religionen oder Staaten vermittelten Erziehungsauftrag mit je unterschiedlichen Zielen, Werten und Normen ausgestatteten pädagogischen Horizont erhalten, dann ist es eben auch möglich, Ideologiekritik von pädagogischen Architekturen zu betreiben. Es handelt sich also um eine Kritik, die nicht ohne ein Bezugssystem in ihrer externen wie internen Form auskommt. Das ist eine vollkommen andere Struktur gegenüber einer Ideologiekritik, wie sie beispielsweise der Soziologe Oliver Marchart in seinem Buch Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft beschreibt und verteidigt. Ideologie ist bei ihm all das, was der »Verleugnung des kontingenten wie konfliktuellen Charakters des Sozialen« (Marchart 2013: 412) in die Hände spielt. »Grundlos« sei das Soziale bei ihm, wobei weder die Differenz zu einem Gesellschaftsbegriff in seiner Konzeption ersichtlich, noch der Widerspruch verständlich ist, weshalb eben jenes grundlose Soziale überhaupt essentiell durch Kontingenz und Konflikthaftigkeit zu bestimmen ist. Eine Ideologiekritik pädagogischer Architekturen hätte mit solchen systematischen Schwierigkeiten nicht zu kämpfen. Ihr
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würde es bspw. in Form der immanenten Kritik nicht besonders Schwerfallen, die am Anfang des Aufsatzes erwähnten Architekturentwürfe auf ihren Widerspruch zwischen Gedanke und Wirklichkeit, Sprache und Sein oder Anspruch und Durchsetzungsfähigkeit zu befragen. Sicher, Gestaltung mag, zumal über Architektur und vor allem mit einem pädagogischen Auftrag in irgendeiner Weise Gesellschaft verändern. Nur sollte es bei einer pädagogischen Betrachtungsweise zur Architektur und zum Sozialismus darauf ankommen, die Widersprüche kenntlich und eben die Versuche erkennbar zu machen, die jene Einbindung in sozialökonomische Verhältnisse vertuschen oder ideologisch überhöhen wollen. Und das betrifft nicht nur die Auseinandersetzung mit Architektur, Sozialismus und Pädagogik, sondern im weitesten Sinne auch die Beschäftigung der beiden letztgenannten Bereiche mit allen anderen kulturellen Orten und Gegenständen, die sich zumeist dem pädagogischen Zugriff verweigern und ausschließlich dem Bereich der Ästhetik vorschnell zugespielt werden.
S OZIALISTISCHE P ÄDAGOGIK UND ARCHITEKTUR : ZWISCHEN ANALYSE UND N ORMATIVITÄT Es bleibt nun abschließend zu fragen, in welcher Hinsicht das hier diskutierte Verhältnis von Architektur, Pädagogik und Sozialismus Auskünfte darüber liefern kann, was denn sozialistische Pädagogik eigentlich bedeuten könnte. Sebastian Engelmann und Robert Pfützner haben in der Einleitung dieses Bandes darauf hingewiesen, dass eine Perspektive auf sozialistische Pädagogik durch mindestens vier mögliche Zugänge auf den Gegenstand zu ersetzen wäre, wobei aber gerade eine normativ-präskriptive Sicht – bestehend aus vorher gesetzten bestimmten Kriterien – auf das Theorem einer sozialistischen Pädagogik den Vorteil bereithält, innerhalb des wissenschaftlichen Austauschs über »dieselbe Sache« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 41) zu sprechen. Schwierig scheint diese Favorisierung deshalb zu sein, da sie das präferiert, was sie vordergründig zu vermeiden sucht: Es sollen möglichst viele verschiedene Entwürfe zu einer Sache präsentiert werden, die es so verbindlich allerdings gar nicht gebe (vgl. ebd.: 16). Zusätzlich bleibt eine rein normativ-präskriptive Gegenstandskonstitution dem Problem ausgeliefert, dass sie schon vorab das auszumachen glaubt, was sie eigentlich prozesshaft erforschen will; ein ebenso komplizierter Wider-
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spruch wie bspw. die in der Begriffskonstruktion des Sozialismus der beiden Autoren angelegte queertheoretische Fundierung einer Gleichheit, die kritisch das Dilemma jedweder Identitäten betont, aber gleichzeitig vollkommen unproblematisch von menschlichen Bedürfnissen, Freiheiten oder Gesellschaften überzeugt ist (Vgl. ebd.: 32ff.). Solche Schwierigkeiten sind nachvollziehbar, da sie auf das Verhältnis von Analyse und Normativität verweisen, also eine wissenschaftstheoretische Problematik erscheinen lassen, die das Wechselspiel zwischen distanzierter Beschreibung und vorab definierter Bedeutungszuschreibung in den Blick nimmt. Wenn nun hier in aller Kürze ein Resümee aus dem bisher Explizierten gezogen werden soll, dann ist auf diesen Unterschied hinzuweisen, um auf das von Engelmann und Pfützner vorgeschlagene Konzept einer sozialistischen Pädagogik eingehen zu können. Analytisch-deskriptiv ist nun bezüglich der Überlegungen Meyers zur Architektur, Pädagogik und zum Sozialismus festzuhalten, dass in seiner Erziehungskonzeption Motive der hierarchiefreien, naturwissenschaftlichen, gesellschaftsanalytischen und gemeinschaftlichen Gestaltung der Ausbildung zum Architekten aufzufinden sind. Weiterhin schwebt Meyer, wie bereits oben erwähnt, als Ergebnis der erzieherischen Bemühungen – sowohl in Bezug auf die Ausbildung sowie betreffend der pädagogischen Intention der Architektur – ein Harmonisierungsideal des Menschen mit seiner natürlichen und sozialen Umgebung vor. Von Sozialismus in einem annähernd systematischen Sinn ist bei Meyer weniger die Rede, erst in der in Zeit während seines Aufenthaltes in Sowjetunion formuliert er implizit das Ziel einer proletarischen Revolution: eine von Ausbeutung, Klassen, Krieg, Leid usw. befreite Gesellschaft, die nicht in kapitalistischen Verhältnissen gedeihen kann. Sozialistische Pädagogik wäre in diesem rekonstruierten und interpretatorisch gewonnenen Sinne bei Meyer eine Pädagogik, die durch ihre Praxis schon das vorwegnimmt, was in Form von Architektur zu einem späteren Zeitpunkt erzieherisch erzeugt werden soll: eine gemeinschaftliche Kooperation von Individuen, die hierarchiefrei an einem gesellschaftlichen Zustand arbeitet, in dem sich die Menschen zu ganzen Personen entwickeln und ohne Unterdrückung und Klassenunterschiede leben können. Freilich ist diese auf den Begriff gebrachte Bedeutung einer möglichen sozialistischen Pädagogik bei Meyer recht allgemein, mithin sogar beim näheren Hinsehen kaum zu halten, da die in den Texten formulierten Ge-
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danken zum Zusammenhang der Begriffstrias stark variieren. Allein der bereits dargestellte radikale Bruch innerhalb der Schriften Meyers zur gesellschaftlichen Rolle der Architektur veranschaulicht das besonders deutlich. Indes hat es der theoretische Parcours durch das erziehungs- und raumtheoretische Terrain zum Sozialismus in der Auseinandersetzung mit den Gedanken Meyers erlaubt, eine mögliche Form der pädagogischen Ideologiekritik zu konturieren. Normativ lässt sich daraus für eine sozialistische Pädagogik folgende Überlegungen destillieren: In praktischer Hinsicht gilt es zu vermitteln und transparent zu machen, mit welchen Absichten, Interessen und Verfahrensweisen Architektur eingesetzt wird, um gesellschaftliche Widersprüche zu verschleiern oder von ihren Ursachen abzulenken. Daran wäre zu lernen, inwiefern eine vordergründig vom Verdacht der Erziehung befreite Ästhetik durchaus pädagogische Ziele verfolgt, die möglicherweise überhaupt nicht – trotz eines evtl. Anspruchs daran – in ein sozialistisches Projekt münden sollen. Mit solchen Reflexionsbemühungen würde sich auch der Zugang einstellen, auf diejenigen architektonischen Entwürfe in der Gegenwart und der Geschichte einen Blick zu werfen, deren utopische Qualität einer Verwirklichung weiterhin harrt. In theoretischer Hinsicht müsste, so wie es Engelmann und Pfützner in ihrem Einleitungstext versucht haben, solch ein Handeln in Bezug auf die Zielvorstellung eines Sozialismus auch legitimiert werden. Bei Meyer oder Owen sind aus rein historischen Gründen Konzepte wie eine queere Gleichheit oder eine transversale Solidarität selbstverständlich nicht aufzufinden, möglicherweise ließe sich allerdings die Bedeutung des letzteren Begriffs sogar in deren Schriften aufspüren. Zu bezweifeln bleibt jedoch, ob eine queertheoretische Fassung des Sozialismusbegriffs nicht nur für die genannten historischen Referenzquellen, sondern auch für die hier vorgeschlagene Ideologiekritik pädagogischer Architekturen tatsächlich für einen normativen Eckpfeiler einer sozialistischen Pädagogik taugt. Schließlich dürfte sich gezeigt haben, dass die hier auf mehreren Ebenen angestellten Überlegungen ohne konkrete Bezugspunkte kaum auskommen würden, sei es bzgl. einer anthropologischen Fundierung des Menschen mit dem universalen Fokus auf Emanzipation, Bedürfnisbefriedung und der gleichzeitigen Absenz von Unterdrückung, Leid, Krieg, Klasse und Ausbeutung oder die Zielvorstellung einer diese Qualitäten verwirklichende Gesellschaft mit deren simultan gegebene Sinnfälligkeit der Ideologiekritik. Eine queere Gleichheit, die weder Identitäten oder Fixpunkte denken noch kurzfristige
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Konstruktionen derselbigen zulassen kann, macht es einem politischen und pädagogischen Projekt, welches auf universale und gesellschaftliche Emanzipation ausgerichtet ist, nicht besonders einfach, eine notwendige Verbindlichkeit zu verteidigen.
L ITERATUR Beucker, Nicolas/Bos, A.P. (Bram)/Grin, John/Rammler, Stephan (2016): Transformationsdesign, in: Arch+ Märzausgabe 2016, S. 54-57. Bonsiepe, Gui (2016): Ungehorsam der Gestaltung, in: Arch+ Märzausgabe 2016, S. 38-41. Engels, Friedrich/Marx, Karl (1958): Die deutsche Ideologie, Marx-EngelsWerke (MEW), Band 3, Berlin/DDR: Dietz. Haus, Andreas (1978): Moholy-Nagy: Fotos und Fotogramme, München: Schirmer/Mosel. Held, Martin (2016): Framing als Analysemodell und Gestaltungsfrage, in: Arch+ Märzausgabe 2016, S. 60-63. Marchart, Oliver (2013): Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Meyer, Hannes (1980): bauhaus und gesellschaft, in: Meyer-Bergner, Lena (Hg.), Hannes Meyer. Bauen und Gesellschaft: Schriften, Briefe, Projekte, Dresden: Verlag der Kunst, S. 49-53. — (1980): Über die kapitalistische Wohnungsarchitektur der Nachkriegszeit (1919-1934), in: Meyer-Bergner, Lena (Hg.): Hannes Meyer. Bauen und Gesellschaft: Schriften, Briefe, Projekte, Dresden: Verlag der Kunst, S. 177-185. — (1980): Über marxistische Architektur, in: Meyer-Bergner, Lena (Hg.): Hannes Meyer. Bauen und Gesellschaft: Schriften, Briefe, Projekte, Dresden: Verlag der Kunst, S. 92-97. — (1980): Thesen über marxistische Architektur, in: Meyer-Bergner, Lena (Hg.), Hannes Meyer. Bauen und Gesellschaft: Schriften, Briefe, Projekte, Dresden: Verlag der Kunst, S. 97-99. Oswald, Philipp (2016): Einleitung, in: Arch+ Märzausgabe 2016, S. 5-7. Owen, Robert (1988): Das soziale System, in: Jauch, Liane/Römer, MarieLuise (Hg.): Das Soziale System. Über ein neues Gesellschaftssystem. Ausgewählte Schriften, Leipzig: Reclam, S. 5-76.
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Die ›Große Pädagogik‹ Brecht, Benjamin, Lacis M ARIANNE S TREISAND
Um das Jahr 1930 entwirft Brecht plötzlich und ziemlich unverhofft eine gänzlich neue Ästhetik für einen Teil seiner Theatertexte und er versieht dieselben auch mit einem vollkommen neuen ›Label‹. Es handelt sich um die so genannten ›Lehrstücke‹, die Brecht ab 1929 veröffentlicht und aufführt. Er findet für dieses Konvolut von Texten eine neue Bezeichnung, bei der nicht von Theater, sondern von ›Pädagogik‹ die Rede ist. Er nennt diese Stücke die Große Pädagogik. Demgegenüber steht der Hauptteil seiner bekannten Theaterarbeiten, die sich später als Brechts ›episches Theater‹ in der Theatergeschichte durchgesetzt und ihn zum modernen ›Klassiker‹ gemacht haben. Sie bekommen das Label der Kleinen Pädagogik. Mit den letztgenannten begann sich Brecht gerade in den Jahren um 1930 international durchzusetzen, den so lange ersehnten Welterfolg für Brecht und Weill brachte 1928 in Berlin die Dreigroschenoper. Eigentlich hätte er nun bequem auf diesem Weg weitergehen können, vor dem Publikum erfolgreiche und für den Autor lukrative Theaterstücke als ›Schaustücke‹, wie Brecht es selbst auch nannte, produzieren und gleichzeitig an einer ›kleinen‹, also weniger radikalen und dennoch wichtigen Reform des Theaters arbeiten können. Brecht unternimmt beides. Er entwickelt gemeinsam mit Peter Suhrkamp, seinem späteren Verleger, ebenfalls im Jahr 1930 die erste theoretische Grundlegung einer neuen, »epische[n] Form des Theaters« (Brecht 1963: 103), wobei beide Autoren aber bewusst nur von »Neuerungen«,
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nicht von Revolutionen im Theater sprechen und klipp und klar feststellen: »Das moderne Theater ist das epische Theater« (ebd.). Und Brecht eröffnet daneben noch ein zweites, radikal neues Versuchs- und Übungsfeld von Theaterarbeit, das Experimentierfeld der Lehrstücke. Bereits bei seiner Entstehung war es heftig umstritten, niemals einheitlich akzeptiert und ist das bis in unsere Gegenwart auch nicht geworden. Wie der Name verrät, war es offensichtlich verknüpft waren mit bestimmten pädagogischen Vorstellungen, Utopien, Intentionen oder Methoden, denen es sich lohnt nachzugehen. Was machte nun das Besondere dieses Textkonvoluts der Lehrstücke, aus? Was bewog Brecht, dabei von einer »großen« Pädagogik zu reden? Und wieso überhaupt »Pädagogik«? Welche Art von Pädagogik kann hier von ihm anvisiert worden sein? Welche Hintergründe und Wurzeln könnte sie haben? Und hat sie eventuell etwas mit dem in diesem Buch anvisierten Thema von ›Sozialismus und Pädagogik‹ zu tun? Dazu zunächst einige Erläuterungen. Zu der Gruppe der Lehrstücke zählen bekannte und provozierende Texte wie Der Flug der Lindbergs (später Ozeanflug [UA 1929/ED 1930], Das Badener Lehrstück vom Einverständnis [UA 1929/ED 1930], Der Jasager [UA 1930/ED 1930], Der Ja-Sager. Der Nein-Sager [ED 1931/UA 1951], Die Ausnahme und die Regel [entstanden 1930, ED 1937], Die Horiatier und die Kuriatier [entstanden 1934/35, ED 1936] u.a.); aber auch Fragment gebliebene Texte und Szenenentwürfe wie Der böse Baal, der asoziale oder das berühmte FatzerFragment mit seinen unzähligen Entwürfen. Der unstrittig radikalste Entwurf dieser Reihe stammt aus eben dem Jahr 1930, das Lehrstück Die Maßnahme (UA 1930/ED 1931), diskutiert bis heute als Skandalon der Literatur oder als exemplarische Tragödie des 20. Jahrhunderts (vgl. u.a. Gellert/Koch/Vaßen 1998). Die sämtlich um oder etwas nach dem Jahr 1930 entstanden Lehrstücke unterschied wenigstens in Brechts Vorstellungen ein bestimmtes eigenes ästhetisches ›Setting‹, ein bestimmtes Darstellungs- oder besser Spielverfahren von anderen Theaterproduktionen. Waren die sonstigen Theaterstücke Brechts auf die überkommende Trennung des Theaters in aktiv Spielende und passiv Zuschauende hin ausgerichtet, konnten sie in den überlieferten Theaterhäusern mit der hell erleuchteten Bühne und dem abgedunkelten Zuschauerraum aufgeführt werden; waren sie auf ›Anschauung‹, nicht auf leibliche Teilhabe; auf Rezeption, nicht auf aktiven lautstar-
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ken Austausch zwischen Bühne und Publikum hin angelegt, so war hier von Brecht ein völlig neuer dramaturgischer Stücktypus geschaffen worden. Bei der Großen Pädagogik sollte es um Beteiligung aller Anwesenden, um eine neue Form der Partizipation, um demokratische Einbeziehung und Interaktion gehen. Das erläutern die beiden Kernsätze oder »Basisregeln« (wie der wichtige Lehrstückforscher Reiner Steinweg es nannte) für dieses neue ästhetische Arrangement der Lehrstücke: »Die Große Pädagogik verändert die Rolle des Spielers vollständig. Sie hebt das System Spieler und Zuschauer auf. Sie kennt nur mehr Spieler, die zugleich Studierende sind.« (Brecht [1930/31] 1992: 396). Und später, schon im Exil und nachdem Brecht die Lehrstückversuche auf Grund der neuen politischen Situation zunächst eingestellt hatte, formulierte er 1937: »Das Lehrstück lehrt dadurch, dass es gespielt, nicht dadurch, dass es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden. Es liegt dem Lehrstück die Erwartung zugrunde, dass der Spielende durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme bestimmter Haltungen, Wiedergabe bestimmter Reden und so weiter gesellschaftlich beeinflusst werden kann.« (Brecht 1937: 177)
Dabei nannte Brecht später die Bezeichnung »Lehrstücke«, die er 1929 erstmals benutzt hatte, selbst eine »sehr unglückliche« (Brecht 1978: 171). Nachdem er die »niederschmetternde Erfahrung« (ebd.) gemacht hatte, zu welchen Irrtümern seine Äußerungen und die Aufführung seiner Lehrstücke vor Publikum – hier insbesondere die Aufführung der Maßnahme im Dezember 1930 – führen konnten, notierte er 1932, dass die »formale Unterstreichung des Lehrhaften in diesen Stücken und ihrer Darstellungsweise ein schwerer Fehler war […] Es war nicht geplant, der individuellen Rechthaberei und Ansichtskrämerei der Literaten eine dramatische und theatralische Form zur Verfügung zu stellen.« (Ebd.)
Offensichtlich verleitete – und verleitet noch heute – die Bezeichnung »Lehrstück« zu der Annahme, hier werde von der Bühne herab dem Auditorium eine Lehre erteilt. Genau das aber war bei der Lehrstückpraxis nicht beabsichtigt. Die, wohl unter Brechts Beteiligung gefundene englische Übersetzung des Lehrstücks als learning play, also »Lern-Spiel«, trifft den
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Kern besser. Sie betont den Prozess des spielerischen Lernens gegenüber der Lehre (vgl. Koch/Vaßen 2009: 169). Es ging nicht um ›Lehren‹, die von oben herab erteilt wurden, sondern um gemeinsames ›Lernen‹ durch gemeinsames Spielen in Gruppen. Brecht unterstreicht bei diesem Ansatz, dass es sich hier keinesfalls um ein Lernen an künstlerischen Vorbildern handelt, also etwa um ein Lernen durch das Nachahmen gesellschaftlich besonders positiv hervortretender Figuren, Haltungen und Handlungen – zum Beispiel durch das Nacheifern von jenen berühmten positiven Helden und Heldinnen, wie es nahezu zeitgleich die Doktrin des sozialistischen Realismus ab 1932 in der inzwischen stalinistischen Sowjetunion verkündete und es bis in die Jahre der DDR hinein als Maßstab »guter Literatur« galt. Im Gegenteil, Brecht setzt gerade auf die erzieherische Wirkung, die durch die Kritik solcher Muster geübt werden kann. Und er geht noch weiter: »auch von der (möglichst großartigen) Wiedergabe asozialer Handlungen und Haltungen kann erzieherische Wirkung erwartet werden.« (Brecht [1937] 1978: 177) Es geht ihm also nicht um das Lernen an positiven Modellen, sondern um das experimentelle, kooperative Lernen durch die Erfahrungen des Durchspielens von radikalen, auch asozialen Prozessen und Figuren, das Erkennen und Erleben des Möglichen und dessen Diskussionen in Gruppen. In der Großen Pädagogik Brechts soll Theater als eine neue Form von spielender, experimentierender oder auch ›übender‹ Gemeinschaft mit relativ gleichberechtigten Mitgliedern, die zugleich Mitspielende sind, etabliert werden. Es handelte sich dabei um Gruppen, die sich bestimmte Texte als Spiel- und Diskussionsanlässe für alternatives Handeln und Verhalten nahmen und nicht auf ›schönes Spiel‹ oder Vorspiel, sondern auf kritisches und selbstkritisches, lernendes Tätigsein setzten. »Ästhetische Maßstäbe für die Gestaltung von Personen, die für die Schaustücke gelten, sind dabei außer Funktion gesetzt« (Brecht 1937: 177). Die Texte, die Brecht als »Lehrstücke« bezeichnete, waren im Plot überaus radikal und existenziell in ihren Konflikten, die Widersprüche in ihnen scharf herausgetrieben und überwiegend nicht aufzulösen, so dass man sich ihnen schwer entziehen konnte und auch die Spielenden selbst zu Entscheidungen gezwungen wurden. Zudem spielten die meisten dieser Lehrstücke nicht in einer Konfliktkonstellation von Freund und Feind, schon gar nicht von ›gut‹ und ›böse‹ oder Sympathieträgern bzw. Sympathieträgerinnen und ›Schuft‹, sondern ihre Hauptkonflikte waren in den eigenen Reihen angesiedelt. Das machte
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sie gegenüber der Kleinen Pädagogik so einzigartig und zugleich so gut geeignet für Gruppen und Gemeinschaften, an ihnen Erfahrungen im eigenen Umgang und Verhalten zu sammeln, Haltungen in und zu den Gruppenmitgliedern und den Konflikten übend einzunehmen und zu diskutieren. Diese hier gegebene Interpretation der Lehrstücke und der Lehrstückpraxis Brechts ist allerdings nicht unumstritten. Obgleich Brecht in den Anmerkungen zum Badener Lehrstück im Heft 2 der Versuche 1930 eine ausführliche »Theorie der Pädagogien« ankündigte (vgl. Brecht 1930: 141), hat er sie tatsächlich nie geschrieben. So wissen wir nicht exakt, was Brecht intendiert hatte, das überlieferte Material ist äußerst heterogen und widersprüchlich. Das allerdings hält auch die Diskussion frisch. Insbesondere die Musik zu den Lehrstücken, die oft nicht ganz einfachen Partituren etwa des Schönberg-Schülers Hanns Eisler für die Maßnahme, stellen sich quer zu dieser Interpretation, in ihnen werden die Brechtschen Lehrstücktexte vorrangig zu Libretti (vgl. u.a. Krabiel 1993). Die oben gegebene kurze Beschreibung der Lehrstücktheorie ist selbstredend auch beeinflusst von einer entfalteten Lehrstückpraxis der Gegenwart – darauf wird später noch einzugehen sein. Mich interessiert nun zu fragen, wo in den Jahren vor 1930 Anregungen für diese neue ›Pädagogik‹ hergekommen sein mögen. Ich will dabei einer Überlegung nachgehen, die bisher wohl eher als abwegig im Zusammenhang mit Persönlichkeit und Werk Bertolt Brechts angesehen wurde: um die Einflüsse der zu jener Zeit in Deutschland entfalteten und gerade in intellektuellen Kreisen überaus populären Reformpädagogik, mit der auch Brecht zahlreich in Kontakt gekommen ist. Es geht dabei allerdings keinesfalls darum etwa nachzuweisen, dass Brecht ›eigentlich‹ Reformpädagoge gewesen sei. Sondern es geht um wechselseitige Beeinflussung, um zeitweise Kommunikationen zwischen – um es systemtheoretisch auszudrücken – verschiedenen ›Systemen‹. Schaut man sich nur die personalen Kontakte zu Reformpädagogen und Reformpädagoginnen an, mit denen Brecht zusammenarbeitete und befreundet war, so sind sie überaus vielfältig. Brecht war geradezu von Reformpädagogen und Reformpädagoginnen umstellt: Angefangen bei der Ehefrau und Kollegin, der Schauspielerin Helene Weigel, die das erste reformpädagogische Gymnasium der Eugenie Schwarzwald in Wien besuchte, über die Komponisten Hanns Eisler, Paul Hindemith, Paul Dessau, die in engen Arbeitszusammenhang mit der Schulmusikbewegung standen, bis
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hin zum Freund und Verleger Peter Surkamp, der in den 20er Jahren Schulleiter der reformpädagogischen Freien Schulgemeinde in Wickersdorf/ Thüringen war.1 Ich möchte mich hier auf Walter Benjamin konzentrieren, weil gerade dessen pädagogischen Skizzen bisher recht wenig in den Zusammenhang mit den Lehrstücken gesehen wurden. Brecht und Benjamin waren ab 1929 in einem sehr regen, produktiven intellektuellen und freundschaftlichen Kontakt, das Zeitschriftenprojekt Krise und Kritik, das sie gemeinsam mit anderen wichtigen Intellektuellen (Bloch, Lukács, Krakauer, Kurella – auch ein Reformpädagoge, Ihering) 1930/31 starten wollten, ist nur ein Ausdruck dessen (vgl. Wizisla 2004). Ich gehe dabei in folgenden Schritten vor: • • • •
Benjamin, Wyneken und die Jugendkulturbewegung Benjamin, Lacis und das Programm für ein proletarisches Kindertheater Brechts Große Pädagogik – eine Pädagogik für den demokratischen ›Sozialismus‹ ? Zwei Gründungsdokumente eines neuen Fachs
1. B ENJAMIN , W YNEKEN UND DIE J UGENDKULTURBEWEGUNG Es war wohl Walter Benjamins angegriffene Gesundheit, die zu der Entscheidung im Hause des Kunst- und Antiquitätenhändlers Benjamin geführt hatte, ihn auf dem Lande weiter unterrichten zu lassen (vgl. Brodersen 2005: 15). Dass dabei ein Lietzsches reformpädagogisches Landerziehungsheim gewählt wurde, ist wiederum kein Zufall. Die Kinder aus dem Großbürgertum bevölkerten diese Schulen, 44% waren Söhne bzw. (später auch aufgenommen) Töchter von Industriellen und Kaufleuten, fast 34% von Akademiker, über 12% von Großgrundbesitzern (vgl. Oelkers o.J.:
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Diesen personalen Zusammenhängen bin ich ausführlicher nachgegangen in dem Aufsatz Lehrstückprozess bei Brecht und Reformpädagogik (Streisand 2016). In dem hier vorliegenden Beitrag konzentriere ich mich ausschließlich auf die Beziehungen zwischen Bertolt Brecht, Walter Benjamin und Asja Lacis unter den beschriebenen Gesichtspunkten.
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14). Die Internats- und Schulgelder lagen in diesen Jahren bei bis zu 2.000 Goldmark jährlich – eine enorm hohe Summe (vgl. Schwerdt 1998: 396). So wurde Benjamin im wichtigen Alter von 13 und 14 Jahren in den Schuljahren 1905/06 (teilweise) und 1906/07 (gänzlich) Schüler im reformpädagogischen Landerziehungsheim Haubinda in Thüringen. Zu Ostern 1907 kehrte er an die Berliner Kaiser-Friedrich-Schule am Savignyplatz in Charlottenburg zurück (vgl. Reijen/Doorn 2001: 19), die er seit 1901 besucht hatte und an der er schließlich 1912 sein Abitur ablegte. Während er von dieser Berliner Schule, wie er selbst schrieb, »keine einzige heitere Erinnerung« bewahrte (zit. nach Brodersen 2005: 15), genoss er die Unterbrechung im reformpädagogischen Landerziehungsheim (LEH) unweit der Grenze von Thüringen zu Bayern sehr. Die Jahre in Haubinda erschienen Benjamin später stets als die schönsten seines Lebens und Lernens (vgl. Reijen/Doorn 2001: 44; Brodersen 2012: 44), sogar mit etwas Wehmut dachte er an sie zurück (vgl. Brodersen 2005: 15). Haubinda war das zweite Lietzsche Landerziehungsheim nach der Erstgründung 1898 in Ilsenburg im Harz. Walter Benjamin lernte hier eine ganz andere Art des Unterrichts und des Umgangs zwischen Lehrern und Schülern, aber auch der Schüler untereinander kennen als in Berlin. Die Internate sollten keine einfachen Unterrichtsanstalten, sondern Erziehungsgemeinschaften darstellen, die bewusst in der Abgeschiedenheit des Landlebens fernab der ›dekadenten‹ Großstadt mit ihren negativen Einflüssen aufgebaut wurden. Naturverbundenheit, Wandern, Sport und Spiel im Freien wie auch gelegentliche Garten- und Feldarbeit zum Zweck der Selbstversorgung der Internatsinsassen gehörte ebenso zum Erziehungsprogramm wie Literatur, Musizieren, Theaterspielen und Malen. Die Landerziehungsheime sollten – so zumindest der Anspruch, die Realität sah deutlich anders aus (vgl. Oelkers 2010; Oelkers o.J.) – einen freundschaftlichen, nicht autoritären und gegenseitig inspirierenden Umgang zwischen Lehrenden und Lernenden ermöglichen. Sie waren in Lebensgemeinschaften – in Haubinda hießen sie »Familien«, später in Wickersdorf »Kameradschaften« – zusammengefasst. Dies waren Gemeinschaft mit Schülern unterschiedlichen Alters, die sich um einen Lehrer oder ein Lehrerehepaar gruppierten und gemeinsam die Freizeit gestalteten, Fahrten und Wanderungen unternahmen und teilweise sogar zusammenwohnten (vgl. Schwerdt 1998). Engagierte Pädagogen hatten sich in Haubinda zusammengefunden, ihre Namen stehen noch heute für eine bedeutende – und nicht unumstrittene
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– Etappe von pädagogischen Versuchen in Deutschland, auf der viele weitere Formen alternativer Pädagogik aufbauten: der spätere Leiter der Odenwaldschule Paul Geheeb; der für die Geschichte der Theaterpädagogik interessante Theaterlehrer Martin Luserke (der eine neue Form des Laienspiels ausprobierte und später in einem Buch mit dem Titel Shakespeare als Bewegungsspiele vorstellte) sowie der Musikpädagoge und bekannte reformpädagogische Schulmusiker August Halm. Insbesondere aber war der charismatische Gustav Wyneken Lehrer am LEH Haubinda, über den noch zu reden sein wird. Ab 1905/06 verließen übrigens vor allem diese Lehrer aus Opposition gegen Hermann Lietz das LEH in Haubinda und gründen selbständig die ›Freie Schulgemeinde Wickersdorf‹, ebenfalls in Thüringen gelegen. Gerade in den Jahren, in denen Benjamin im LEH Haubinda Schüler war, wurden dort einige wichtige Neuerungen zur Demokratisierung des Schulbetriebs gestartet. Dazu gehörte die Einführung der sogenannten ›Generalversammlung‹, der »nach Bedarf einberufenen Versammlung von Lehrern und Schülern, um – in parlamentarischer Form – aktuelle Fragen des Zusammenlebens zu diskutieren und künftige Handlungsweisen festzulegen« (Heckelmann 2005: 263). In diese Zeit fällt auch die Einführung der Koedukation im Landerziehungsheim, die sich allerdings nur sehr langsam durchsetzte. In einem Bericht über die Schuljahre 1905/06 schreibt August Halm, dass »die Zahl der Schülerinnen [...] allmählich auf drei« angewachsen sei (ebd.). Zentrales pädagogisches Mittel und Medium der reformpädagogischen Erziehung in den LEH war die Schaffung und Pflege von Gemeinschaften, die als Gegengift gegen die Vereinzelung, Kälte und Fremde in der Gesellschaft angesehen wurden. Es ist die Zeit einer vehementen Bejahung von Gemeinschaft, grundiert wird dieser Diskurs durch die, rund 15 Jahre zuvor erschienene epochemachende Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies ([1887] 1912). Die große, öffentliche »Gesellschaft« sah der Soziologe als eine unpersönliche, fremde, nur »äußerlich« und zweckrational hergestellte Ordnung; die »Gemeinschaft« als ganzheitliche, personale und organisch gewachsene Verbundenheit. Seine Sympathie lag bei der »Gemeinschaft« und damit beim sozial »Intimen«. »Alles vertraute, heimliche, ausschließende Zusammenleben (so finden wir) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist Öffentlichkeit, ist die Welt. In
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Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde. [...] Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares.« (Tönnies 1991: 3f.)
Dabei ging es bei dem reformpädagogischen Erziehungskonzept in Haubinda und anderswo keinesfalls um die bedingungslose Unterordnung der Interessen des Einzelnen unter die der Kollektive, wie wir es später in diversen Diktaturen, die sich sozialistisch nannten (die stalinistische Sowjetunion, das maoistische China u.a.), kennengelernt haben. In Haubinda wurde demgegenüber gerade die Individuation und Selbstverwirklichung des Einzelnen inmitten der Gemeinschaft angestrebt – und zwar in Form von selbst gewählten (also nicht erzwungenen oder naturgegebenen) ›geistigen Gemeinschaften‹. Der Antagonist von Gemeinschaft war dabei auch hier die Gesellschaft. Doch muss man bei diesem Programm auch bedenken, um welche sozialen Gemeinschaften es sich hier handelte. Wie schon erwähnt, war an der Lietzschen Schule die »wirklich vermögende Oberschicht der wilhelminischen Gesellschaft unter sich blieb, woran auch einige wenige AlibiStipendien für Schüler minderbemittelter Familien nichts änderten« (Brodersen 2012: 46). Auf der anderen Seite ermöglichten die guten finanziellen und personellen Ausstattungen der Landerziehungsheime es, Versuche pädagogischer Innovationen und Reformen nicht nur zu debattieren, sondern auch praktisch auszuprobieren. Die nicht einmal zwei Jahre, die Benjamin hier verbrachte, mögen unbedeutend klingen, waren aber für Benjamins intellektuelle Biographie von großer Bedeutung. In einem, von Benjamin für das Abitur verfassten Lebenslauf heißt es, Haubinda sei vor allem darum für ihn bedeutend gewesen, weil »[…] ich dort, vor allem im deutschen Unterricht diejenigen Anregungen empfing, die seitdem mein Streben und meine Interessen geleitet haben. Meine Neigung zur Literatur, die ich bis dahin in einem ziemlich ungeregelten Lesen befriedigt hatte, wurde durch kritische ästhetische Normen, die der Unterricht mir entwickelte, vertieft und in gewisse Richtung bestimmt; daneben rief dieser Unterricht das Interesse für Philosophie in mir wach.« (Zit. nach Reijen/Doorn 2001: 20)
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Benjamin setzt damit seinem Lehrer im Fach Deutsch ein Ehrenzeichen. Es handelte sich bei dieser verehrten Lehrerpersönlichkeit um den berühmtberüchtigten Reformpädagogen Gustav Wyneken. Berühmt, weil er wie wenige andere euphorische Formeln von den Vorstellungen und Zielen der neuen Jugendbewegung entwarf, die jugendliche Gegenöffentlichkeit organisierte bzw. unterstützte und für viele jungen Leute als Leiter und Vorbild fungierte. Berüchtigt deshalb, weil Wyneken in den Kreis jener Reformpädagogen gehörte, auf die in den letzten zwei Jahrzehnten in neuer Weise das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit fiel. Auch Gustav Wyneken wurde – wie zahlreiche andere Pädagogen in den reformpädagogischen Internatsschulen bis in die 1980/90er Jahre hinein – des Missbrauchs von Abhängigen und der Pädophilie überführt, er wurde mehrfach angeklagt, 1922/23 sogar zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, vom Schuldienst suspendiert und als Pädagoge nicht mehr zugelassen. Er war, schreibt Lorenz Jäger in seiner neuen Benjamin-Biographie, der »archetypische, charismatische und pädophile […] Reformpädagoge, wie er sich fast bis in unsere Tage etwa an der Odenwaldschule erhalten hat« (Jäger 2017: 23). Zwischen den Selbstdarstellungen von der großen Gemeinschaft und Partnerschaft zwischen Lehrenden und Lernenden in den Landerziehungsheimen und der Realität, die oft von Gewalt, Herrschaft und Missbrauch bestimmt war, klafften offenbar erhebliche Lücken. Ob und inwieweit dieser Machtmissbrauch und – was im Fall Benjamin besonders erstaunt – auch der Antisemitismus Wynekens bereits dem Schüler bekannt war, ist nicht überliefert. Er fühlte sich seinem Lehrer auch noch nach der Schulzeit im LEH eng verbunden. »Mich haben zwei Lehrer auferzogen, deren einer sind Sie«, schrieb Walter Benjamin später an Wyneken (Benjamin 1966: 120). Als 16-Jähriger schloss sich Benjamin, schon wieder in Berlin, der Jugendkulturbewegung an, deren Zentralgestalt der Reformpädagoge Wyneken war. Diese Bewegung war – im Gegensatz etwa zur Wandervogelbewegung – geistig anders ausgerichtet und sozial anders zusammengesetzt. Im Vergleich zu dieser Organisation eine Minderheit, rekrutierte sie sich aus wohlhabenden, oft jüdischen Familien. In Berlin waren neben Benjamin Mitglieder der Bewegung: Martin Gumpert, Ernst Joel, Wieland Herzfelde, Hans und Bernhard Reichenbach; in Wien Siegfried Bernfeld, Norbert Elias, Otto Fenichel sowie Elfriede, Hanns und Gerhart Eisler, in Stuttgart Carlo Schmid u.v.a. (vgl. Steizinger 2013: 26f.). Auch hier handelte es sich also offensichtlich wieder um einen Bund von
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Jugendlichen mit wohlhabenden intellektuellen oder akademischen Hintergründen. Wyneken reklamierte für sich, Erfinder des Begriffs ›Jugendkultur‹ gewesen zu sein. Was er darunter verstand, geht aus der knappen Formel hervor, die er bei seiner Rede auf dem Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913 prägte, an dem Benjamin vermutlich teilgenommen hat. »Die freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.« (Wyneken, zit. nach Steizinger 2013: 23)
Welche Bedeutung und welcher Wert dabei insbesondere den Gemeinschaften beigemessen wurden, geht wiederum aus einer anderen programmatischen Äußerungen Wynekens hervor. Wyneken meinte, es könne »keine andere Erziehung geben als die Gemeinschaftserziehung. Erziehung in der sich selbst erziehenden Gemeinschaft […] Es gibt nicht mehr Subjekte und Objekte des Schulbetriebs, es gibt nur noch eine Gemeinschaft der um den Geist Versammelten und Bemühten.« (Wyneken, zit. nach Schwerdt 1998: 403)
Wichtig war Wyneken der Bruch, die Zäsur und Verwerfung zwischen den Generationen. Er forderte, was zeitgleich auch von Teilen der expressionistischen Literatur propagiert wurde – die Lösung des Generationskonflikts nicht mehr zugunsten einer harmonischen Versöhnung der Generationen oder der Unterordnung des Kindes unter den autoritären und zugleich gütigen Vater. Sympathieträger war demgegenüber nun die Jugend. Nach Wyneken sollte die Jugend nicht mehr den Normen des patriarchalisch regierenden Vaters folgen, sondern ausschließlich sich selbst und den eigenen Idealen. »Zum ersten Mal bekommt die Erziehung eine weltgeschichtliche Aufgabe. Sie soll nicht den Geist der alten Generation fortpflanzen und fortsetzen, sondern mit ihm brechen und einen neuen schaffen.« (Wyneken, zit. nach Steizinger 2013: 29)
Wyneken plädierte konsequent dafür, dass eine unabhängige Jugendkulturbewegung sich selbst öffentliche Medien in eigener Regie und Verantwor-
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tung schaffen solle, um auf diesem Wege eine Gegenöffentlichkeit entwickeln zu können. In diesem Geiste wurde die Zeitschrift Anfang gegründet, die seinerzeit für Aufsehen sorgte (vgl. Laermann 1985: 360). Benjamin hat in dieser Zeitschrift in den Jahren 1913-1914 unter dem Pseudonym Ardor mehrere Artikel publiziert. In diesem Sinne wurde 1912 auch die sogenannte ›Sprechsaal‹-Bewegung ins Leben gerufen, wo es um eine »von Walter Benjamin und seinen Freunden gegründete Veranstaltung zur Aussprache über Probleme der Jugend im Geiste Wynekens, der vor allem 1913 und 1914 viele Schüler und Studenten anzog« (Adorno/Scholem 1966: 55). 2 Innerhalb dieser autonomen Gemeinschaften der Jugendkulturbewegung galt zugleich aber auch das Prinzip der ›Kameradschaft‹ oder des ›Führertums‹, wie es damals hieß. Zu diesem Führer fühlte sich zweifelsfrei Gustav Wyneken berufen und er wurde von den Jüngern dazu erkoren. »Wir durften erfahren, was Führung ist«, schrieb Benjamin in dem erwähnten Brief an Wyneken (Benjamin 1966: 121). Zweifelsfrei hatte Wyneken dieses ›Führertum‹ mehrfach missbraucht – sexuell und militaristisch. Der jugendbewegte 23-jährige Walter Benjamin distanzierte sich 1915 unter dem Eindruck von Gustav Wynekens Kriegsbegeisterung von seinem Lehrer. Ein mehrseitiger Abschiedsbrief Benjamins an den einstigen ›Führer‹ beginnt mit den erstaunlichen Worten: »Lieber Herr Doktor Wyneken, ich bitte Sie diese folgenden Zeilen mit denen ich mich gänzlich und ohne Vorbehalt von Ihnen lossage als den letzten Beweis der Treue, und nur als den, aufzunehmen.« (Benjamin 1966: 120)
Dennoch blieb Verschiedenes aus Wynekens Denken, insbesondere das Ideal der Selbsterziehung der Jugend in autonomen, quasi bündischen Gemeinschaften, für Benjamin wichtig und wurde bis in sein späteres Denken und Schreiben über Jugend und Kinder übernommen. Es gehört unter anderem auch zu den zentralen pädagogischen Ideen und Grundsätzen des Pro-
2
Darüber hinaus war Benjamin bis 1915 Mitglied des »Akademischen Comitès für Schulreform« (A.C.S.) und des Bundes für Freie Schulgemeinden, hier engagierte er sich für die Durchsetzung reformpädagogischer Prinzipien im Sinne Wynekens (vgl. auch Broderson 2005: 19).
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gramms für ein proletarisches Kindertheater, das Benjamin in den Jahren 1928/29 gemeinsam mit Asja Lacis entwarf.
2. B ENJAMIN , L ACIS
UND D AS P ROGRAMM FÜR EIN PROLETARISCHES K INDERTHEATER
Gerade in dieser Frage der Selbstorganisation von Erziehung in relativ autonomen Gruppen überkreuzten sich auch Benjamins und Asja Lacis’ Denken, ihre Erfahrungen und ihr Hoffen. Benjamin hatte seine Geliebte Asja Lacis 1924 auf Capri kennen gelernt, sie machte ihn später mit Brecht bekannt. Lacis war es also, die den Bund gestiftet hatte zwischen dem »bedeutendsten deutschen Autor und dem bedeutendsten Kritiker der Epoche«, wie Hannah Arendt es rückblickend nannte (Arendt 2017). Bereits am Anfang der Bekanntschaft zwischen beiden hatte Lacis nach eigenen Angaben von ihrer Theaterarbeit im nachrevolutionären russischen Orel erzählt. Sie wird damit auf großes Interesse bei Benjamin gestoßen sein. Schließlich war Benjamin seit seiner Zeit in der Jugendkulturbewegung engagiert in Fragen der Erziehung, der Stellung der Jugend, der Schulreform, kurz: der Ermöglichung von anderen, neuen Erfahrungen für junge Menschen als denen der üblichen bürgerlichen Sozialisation. In Asja Lacis fand Benjamin eine Persönlichkeit, mit der sich für ihn bis dato völlig neue, unbekannte Perspektiven eröffneten. Hier war die Tochter von einem wirklichen Arbeiter, hier war die – wie er selbst schrieb – »russische Revolutionärin aus Riga« (zit. nach Broderson 2012: 32), die ihm die Welt der der »politischen[n] Praxis des Kommunismus (nicht als theoretisches Problem, sondern zunächst als verbindliche Haltung« (ebd.) erschloss. In den Jahren 1928/29 bildeten die Erzählungen von Lacis die Grundlage für das von Benjamin in Berlin formulierte Programm für ein proletarisches Kindertheater. Asja Lacis gehörte zu den zentralen Persönlichkeiten der russischen Theateravantgarde. Sie hat revolutionäre eigene Theaterarbeiten vorgelegt und mit mehr oder weniger allen wichtigen Theatermachern des ›Theateroktober‹ zusammengearbeitet, etwa mit Meyerhold, Evreinov, Tretjakow, Majakowski und vielen anderen. Sie war die »Hauptakteurin des lettischen ›Theateroktober‹« (Paškevica 2006: 101). Aber auch in Deutschland war sie mit der linken künstlerischen Avantgarde eng verbunden. 1924 assistier-
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te sie Brecht bei der Aufführung Leben Eduards des Zweiten von England (nach Marlow) an den Münchner Kammerspielen und gehörte fortan zu seinem ›Kreis‹, trat am Deutschen Theater in Berlin unter Bernhard Reich (ihrem späteren Ehemann) auf, unterstützte Ernst Toller, arbeitete mit Fritz Lang bzw. mit Friedrich Wolf sowie Erwin Piscator zusammen. Daneben war sie als große ›Netzwerkerin‹ sowohl auf sowjetischem als auch auf deutschem Boden bekannt, ab 1928 war sie als Leiterin des Ressorts Film in der Handelsabteilung der sowjetischen Botschaft in Berlin tätig. Unzählige Arbeitskontakte zwischen avantgardistischen Künstlern beider Länder gingen auf ihr Betreiben zurück. Das betrifft übrigens nicht weniger auch jene Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der sie – nach ihrer Verurteilung im Zuge der Säuberungen Stalins und ihrer Lagerhaft 1938 bis 1948 sowie ihrer Rehabilitierung 1955 – wieder am Theater arbeitete. Sie machte Brecht in Lettland bekannt, unterstützte vom sozialistischen Realismus abweichende Regisseure wie Juri Ljubimow dramaturgisch (vgl. ebd.: 82), vermittelte zwischen deutschen und sowjetischen Theaterleuten und berichtete von ihren Erfahrungen und theatralen Experimenten in linken Kreisen in Ost- und Westberlin. Lacis’ Bedeutung auch für ein alternatives Kinder- und Jugendtheater ist bekannt und beschrieben. Hildegard Brenner, die Chefredakteurin der legendären alternative, hat schon frühzeitig sowohl in ihrer Zeitschrift (Heft 59/60 aus dem Jahr 1968) als auch in dem von ihr herausgegebenen Band Asja Lacis: Revolutionär im Beruf (vgl. Lacis 1976) auf sie hingewiesen. Dennoch fiel Asja Lacis’ Name – so wie es vielen Frauen in der Literatur- und Theatergeschichte ergangen ist – wie durch ein Wunder immer wieder aus den ›Erzählungen‹ über die Theaterarbeiten der Avantgarden der 1920er Jahre heraus. Erst in den letzten Jahren wurde ihr erfreulicherweise mehr Aufmerksamkeit zuteil, wichtige Bücher, die sich mit ihrem Schaffen auseinandersetzen, sind endlich erschienen (vgl. ebd. sowie Burk 2015). Das Programm für ein proletarisches Kindertheater und die Lehrstücke entstanden parallel. Lacis und Benjamin lebten 1929-30 zusammen in Berlin, Brecht und Benjamin sind ab 1929 miteinander durch verschiedenen Arbeitsprojekte und eine enger werdende Freundschaft verbunden (vgl. Wizisla 2004). Beide »Programme« stellen eine Revolution auf zentralen Gebieten des Theaters und der Pädagogik dar. Sowohl in dem, was Lacis/ Benjamin über die Beziehung zwischen Spielern und Zuschauern in ihrem
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anvisierten »proletarischen Kindertheater« schreiben als auch bei dem, was sie zu den Methoden der Theaterarbeit notieren, steht das Programm für ein proletarisches Kindertheater in seiner Radikalität den Brechtschen Lehrstücktheorien in Nichts nach. Darum zunächst zu den Erfahrungen, die Lacis ab 1917/18 in Orel bei Theaterarbeiten mit Kindern in ›Kinderclubs‹, wie Benjamin das nannte, gemacht hatte und die die Basis der Überlegungen beider bildeten. Asja Lacis berichtete über ihre Arbeit in Orel 1918, zur Zeit des so genannten ›Kriegskommunismus‹ in Russland: »Auf den Straßen von Orel, auf den Marktplätzen, auf den Friedhöfen in Kellern, in zerstörten Häusern sah ich Scharen verwahrloster Kinder […] Sie gingen immer in Gruppen, hatten einen Häuptling, stahlen, raubten, schlugen nieder. Kurz gesagt, es waren Räuberbanden […] Die sowjetische Regierung bemühte sich, die streunenden Kinder in Erziehungshäusern und Werkstätten sesshaft zu machen. Aber sie brachen immer wieder aus.« (Lacis 1976: 25)
Zugleich gab es auch in städtischen Heimen untergebrachte Kriegswaisen, die zwar sauber gekleidet waren, »aber sie blickten drein wie Greise: müde, traurige Augen, nichts interessierte sie« (ebd.). Mit diesen Kindergruppen arbeitete Asja Lacis und entwickelte ihre Form eines autonomen Kindertheaters – und zwar nicht, indem sie ein fertiges Kinderstück einstudierte. Lacis ließ die Kinder alles, was sie für die Aufführung benötigten – etwa Requisiten, Kostüme, Dekorationen – selbst anfertigen, sie ließ die Kinder nach bestimmten Themen in einem gegebenen Rahmen frei improvisieren sowie sich selbst organisieren. So erzählt Lacis beispielsweise, wie sie den Kindern die Improvisationsaufgabe gab, die Szene »Räuber sitzen im Wald« (ebd.: 28) zu spielen. Hier konnten die obdachlosen Kinder, die sich Lacis insbesondere durch die Distanz, die sie zu ihnen wahrte, angenähert hatten, spontan ihr eigenes Erleben vorzeigen. »Nach einer Weile trat Wanjka, ihr Häuptling, in den Kreis der Spielenden, gab seiner Gruppe einen Wink – sie drängten die Kinder beiseite und begannen, selber die Szene zu spielen. Sie renommierten mit Mordtaten, Brandstiftungen, Beraubungen, wobei sie sich gegenseitig an Grausamkeiten zu übertrumpfen suchten. Dann standen sie auf und schauten mit höhnischer Verachtung unsere Kinder an: ›So sind Räuber‹.« (Ebd.)
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Diese Szene ist symptomatisch dafür, wie Lacis ihre Kindertheaterarbeit beschrieb und wie sie Benjamin fasziniert haben dürfte. Die wichtigen Stichworte dabei dürften sein: Improvisation und Beobachtung; »Kinder spielten für Kinder« (ebd.: 27); Anknüpfen an die eigene Erfahrung der Teilnehmenden; Kinder als ihre eigenen Lehrmeister; kollektives Tun; Selbstorganisation; Autonomie gegenüber dem Erzieher, der sich moralisch und pädagogisch zurückhält. Der oder die Erzieher(in) tritt gleichsam nur mehr als Organisator und ›Ermöglicher(in)‹ von Erfahrungen auf. Aufgeführt wurde das Resultat, die Theateraufführung, dann als ein Programmpunkt neben vielen anderen innerhalb eines großen Straßenfestes, nach »in einer Art Karnevalsumzug« (ebd.: 29) durch die ganze Stadt auf der Freilichtbühne von Orel. Ein Fest, bei dem gesungen und getanzt wurde – alles ganz so, wie wir es etwa auch aus den Dionysien der griechischen Antike kennen, der Geburtsstunde des europäischen Theaters. Als Benjamin 1928 auf Bitten von Edwin Hoernle und Hanns Eisler ursprünglich für die KPD das Programm für ein proletarisches Kindertheater notierte, waren wesentliche Punkte von Lacis’ Methoden, aber auch Benjamins frühen Erfahrungen aus der ›Jugendkulturbewegung‹ darin gespeichert und abstrahiert. Benjamin hielt fest, dass die Aufführungen eines proletarischen Kindertheaters gewissermaßen ›nebenbei‹ zustande kommen sollten, »man könnte sagen aus Versehen, beinahe als Schabernack der Kinder« (Benjamin 1991: 768). Die Aufführungen werden nicht mehr zum Ausgangs- und Zielpunkt aller Bemühungen; so sie entstehen, sind sie ein willkommenes Nebenprodukt der Theaterarbeit. Die Aufführung ist – so schreibt Benjamin – die »Pause im Erziehungswerk« (Benjamin 1991: 765). Die Kinder arbeiten in verschiedenen ›Kinderklubs‹ unter sich zusammen und eine »moralische Einwirkung gibt es hier nicht. Unmittelbare Einwirkung gibt es hier nicht […] Die unvermeidlichen moralischen Ausgleichungen und Korrekturen nimmt das Kollektiv der Kinder selbst an sich vor. […] Es gibt keinen möglichen Standort für überlegenes Publikum vorm Kindertheater. […] Das Kaltstellen der ›moralischen Persönlichkeit‹ im Leiter macht ungeheure Kräfte frei für das eigentliche Genie der Erziehung: die Beobachtung. Sie allein ist das Herz der unsentimentalen Liebe. […] Jede erzieherische Liebe […] taugt nichts.« (Ebd.: 765f.)
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Moral, Ideologie und auch intentionale Pädagogik werden so weit als möglich aus diesem Kindertheater verbannt. In dem von Benjamin aufgeschriebenen Programm heißt es weiter – und greift hier strukturell nicht weniger radikal in die Gepflogenheiten des traditionellen Theaters wie der Lehrstückprozess ein –, Konzeption dieser Theaterästhetik sei die »wilde Entbindung der kindlichen Phantasie« (ebd.: 768) dadurch, dass Kinder selbst für Kinder Theater spielen. Die Erwachsenen mit ihrem Verhaltenskodex und ihrem Erfahrungsvorschuss, aber auch mit ihren festegesetzten Vorstellungen von Werten und Normen bzw. tradierten ästhetischen Verfahren soll in diesem Kindertheater ad acta gelegt werden. »Dieses Theater ist zugleich für den kindlichen Zuschauer das einzig brauchbare. Wenn Erwachsene für Kinder spielen, kommt Lafferei heraus.« (Ebd.: 768f.) Es ist unverkennbar, wie nahe sich in diesem Punkt die frühen Ideen Benjamins aus der reformpädagogisch begründeten Jugendarbeit und die Kindertheaterarbeiten im so genannten ›Theateroktober‹ sind, die ihm durch Asja Lacis bekannt wurden – jeweils wurde eine, wenn auch kleine und begrenzte Gegenöffentlichkeit geschaffen.
3. B RECHTS G ROSSE P ÄDAGOGIK – EINE P ÄDAGOGIK FÜR DEN DEMOKRATISCHEN ›S OZIALISMUS ‹? Zugleich wird ersichtlich, wie sich beide Linien wiederum in einem Dritten, nämlich in der Brechtschen Lehrstückkonzeption und -praxis, treffen konnten (vgl. auch Burk 2015: 125ff.). Die Lehrstücke sind nicht weniger ein Theater für Laien, ein Mitmachtheater, das keinen auszuschließen sucht. Auch die Lehrstücke werden in autonomen Gemeinschaften, geradezu ›bündisch‹ erarbeitet. Zentral ist die Diskussion, nicht die Repräsentation. Auch hier soll die Emanzipation des Einzelnen im Kollektiv erfolgen und das Kollektiv soll sich selbst organisieren – ohne moralische Instanz, ohne präjudizierte Ideologie und ohne Lehrer. Auch hier ist die Aufführung – wenn sie überhaupt zustande kommt – die ›Pause‹ in der eigentlichen Theaterarbeit der Kollektive. Dabei korrespondieren verschiedene Formulierungen und Überlegungen hinsichtlich der Bedeutung von ›Gemeinschaften‹ und ›Kollektiven‹ in allen drei Textkonvoluten. Allerdings wird nur im Falle von Brechts Lehr-
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stücktheorien offensichtlich ein besonderer Begriff des ›Staats‹ entwickelt. Hierbei kann es sich nur um einen utopisch anvisierten sozialistischen Staat, um ein erträumtes – wie es bei Benjamin heißt – »vollendetes Gemeinwesen« (Benjamin 1967: 95) handeln. Als dessen »Vorschein« (um mit Ernst Bloch zu reden) könnte Brecht gewissermaßen die Lehrstückarbeit betrachtet haben, um auf diese Weise Theater als Trainingsform für einen »experimentellen Sozialismus« (Axel Honneth) zu nutzen. So heißt es etwa in Theorie der Pädagogien von Brecht 1930: »Die Lust am Betrachten ist für den Staat schädlich; ebenso die Lust an der Tat allein. Indem die jungen Leute im Spiele Taten vollbringen, die ihrer eigenen Betrachtung unterworfen sind, werden sie für den Staat erzogen. Über den Wert eines Satzes oder einer Geste oder einer Handlung entscheidet also nicht die Schönheit, sondern: ob der Staat Nutzen davon hat, wenn die Spielenden den Satz sprechen, die Geste ausführen oder sich in die Handlung begeben. Der Nutzen, den der Staat haben sollte, könnte allerdings von platten Köpfen sehr verkleinert werden, wenn sie zum Beispiel die Spielenden nur solche Handlungen vollführen lassen würden, die ihnen sozial erscheinen.« (Brecht 1930: 169)
Solche Überlegungen werden gestärkt durch die Wiedergabe eines Gesprächs, das Manfred Wekwerth und Hanns Eisler mit Bertolt Brecht kurz vor dessen Tod im Jahr 1956 führten. Brecht soll auf die Frage, welches seiner Stücke er »für die Form des Theaters der Zukunft« halte, ohne zu zögern geantwortet haben: Die Maßnahme (vgl. Steinweg 1972: 62). Auf amüsante Weise erhellt auch der (nicht realisierte) Entwurf von 1931 für ein Lehrstück für Beamte den Zusammenhang weiter. »Es ist Sache der Beamten, das Beamtentum abzubauen. Der beste Satz des besten Beamten lautet: Ich bin überflüssig geworden. Deshalb ist es Sache der Beamten, überall, wo eine Masse vor Aufgaben steht, in ihr Beamte zu erzeugen, welche die Aufgaben zu bewältigen helfen, aber am Ende von der bewältigten Aufgabe selber bewältigt werden können. […] Es ist ein Lehrstück für Beamte nötig, in dem sie die Disziplinlosigkeit des ›Publikums‹ unterstützen, Akten verbrennen und die Wahrheit anhören müssen.« (Brecht 1931: 170f.)
Asja Lacis erinnerte sich an die Situation damals: »Die Kommunisten und die Sympathisierenden glaubten damals, dass die proletarische Revolution
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bald in Deutschland ausbrechen und siegen würde« (Lacis 1976: 64). Die Lehrstücke zeigen sich in diesem Licht als eine Art Übungs-, Diskussionsoder Spielprogramm als Trainingsform für den nicht- hierarchisierten Kampf oder für die Zeit ›danach‹. Wie wir wissen, erwiesen sich diese Hoffnungen als eine (heroische) Illusion. Die Massen wählten Hitler. Das anvisierte »vollkommenes Gemeinwesen« steht bis heute aus. Bei beiden Entwürfen, sowohl bei dem Programm für ein proletarisches Kindertheater als auch bei der Lehrstücktheorie und -praxis, handelt es sich um Projekte, die in diesem Sinne bis heute nicht realisiert wurden. Sie haben ihre Orte noch nicht wirklich gefunden. Es sind – im Wortsinn – Utopien geblieben. Wahrscheinlich haben sie darum ihre Strahlkraft nie eingebüßt.
4. Z WEI G RÜNDUNGSDOKUMENTE FÜR EIN NEUES F ACH Interessant ist darum ihre Rezeptionsgeschichte. In beiden Fällen böte sie ausreichend Stoff für eine gesonderte Abhandlung. Hier seien nur einige Eckpfeiler kurz angedeutet. Sowohl die Wiederentdeckung und (Re-) Konstruktion der Lehrstücktheorie und –praxis, die durch Reiner Steinweg vorgenommen wurde, als auch die Erstveröffentlichung des Programms für ein proletarisches Kindertheater geschahen im deutschsprachigen Raum in ein und demselben zeitlichen Kontext: dem der 1968er Bewegung. Steinwegs bahnbrechende Dissertation auf diesem Gebiet wurde 1972 bei Metzler als Buch veröffentlicht (vgl. Steinweg 1972), Benjamins Programm wurde, wie schon erwähnt, 1968 veröffentlicht und anschließend durch zahlreiche Raubdrucke in Ost und West weiterverbreitet. Zu diesem historischen Moment war die Geschichte in Ost (erinnert sei nur an die Prager Frühling und den Versuch einer Demokratisierung des Sozialismus) und West wieder in Bewegung geraten, eine – vielleicht – neue ›revolutionäre‹ Situation war entstanden, vergleichbar der Situation um das Jahr 1930. Insbesondere im Westen schien das Moment von ›Erziehung‹ gerade als ›Nicht-Erziehung‹, das sowohl Brechts Lehrstücken als auch dem Kindertheaterprogramm inne liegt und im Grunde beides zur Großen Pädagogik macht, eine bedeutende Rolle bei der Revolte in beinahe allen Bereichen des tradierten gesellschaftlichen Lebens, aber auch im Hinblick auf vage umrissene Zukunftsvisionen
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eines neuen ›anti-autoritären‹, nicht hierarchischen, Basis demokratischen Gemeinwesens spielen zu können. Obwohl die Lehrstückrezeption in West und Ost sehr unterschiedlich verlief, entwickelten sich in beiden Teilen des Landes ab 1972 zahlreiche Versuche, Brechts Entwürfe auch praktisch auszuprobieren bzw. neu zu fassen. Um hier zunächst auf einige Aktivitäten in Ostberlin hinzuweisen, die heute weniger bekannt sind und gemeinhin selten zu einer Fachgeschichte der Theaterpädagogik herangezogen werden – wie es mit den theaterpädagogischen Aktivitäten im Osten Deutschland bis auf wenige Ausnahmen ohnehin gewöhnlich geschieht. Der wichtigste deutschsprachige Dramatiker seit Brecht, Heiner Müller, schrieb in diesem Zeitraum neue Lehrstücke als kritische Auseinandersetzung mit dem Lehrmeister. Seine Devise dabei formulierte er 1979: »Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat« (Müller 1989: 36). Entstanden sind unter anderem die »Lehrstück« genannten Texte Horatier und Mauser, beide sind BrechtBegegnungen, wobei das letztgenannte Lehrstück eine nicht weniger radikale Fortschreibung und Negierung von Brechts Die Maßnahme darstellt. Zum anderen arbeiteten der Regisseur Benno Besson und weitere Angehörige der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz im Januar 1975 mit achtzig Arbeitern und Angestellten einer Fabrik in Terni (Italien), anschließend im Februar 1976 mit einer großen Gruppe von Arbeitern und Angestellten der Ostberliner Werke Glühlampenwerk Narva und SECURA für zwei Wochen praktisch mit Brechts Lehrstück Die Ausnahme und die Regel (vgl. Lucchesi/Schneider 1979: 7). Darüber hinaus wurde das Lehrstück Die Horatier und die Kuriatier, 1934 von Bertolt Brecht geschrieben, in den Jahren 1974 bis 1976 an vier verschiedenen Ostberliner Oberschulen praktisch erprobt. Dazu hatte Kurt Schwaen eine neue Musik komponiert. Während es bei Bessons Versuchen um das Ausprobieren, das Spielen und Andersspielen von Szenen des Lehrstücks und deren anschließende Diskussion ging, wobei die Teilnehmenden jeweils sehr rasch auch auf ihre eigene betriebliche Arbeitssituation (und in Italien auch auf größere politische Zusammenhänge) zu sprechen kamen, waren die Lehrstückarbeiten mit Schülern und Schülerinnen an den Berliner Schulen offensichtlich stärker auf eine Aufführung hin ausgerichtet (vgl. Arbeitsheft 1979: 81-143). Im Westen Deutschland und auch in Österreich begannen am Ende der 1970er, zu Beginn der 1980er Jahre an unterschiedlichen Orten kleinere Gruppen von Interessierten mit dem Lehrstückspielen, meist waren das
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Studierende und junge Akademiker aus den geistes- und sozialwissenschaftlichen bzw. pädagogischen Disziplinen. Jeweils fand man sich in wechselnden Zusammensetzungen für ein verlängertes Wochenende oder eine Woche an abgelegenen Orten in Jugendbildungseinrichtungen, Schulungsheimen oder Ähnlichem zusammen, um die von Reiner Steinweg theoretisch entdeckten Methoden des Lehrstückspiels praktisch auszuprobieren. Gearbeitet wurde hier weniger mit den erwähnten großen fertigen Lehrstückwerken als mit von Brecht hinterlassenen Fragmenten wie Der böse Baal, der asoziale, 1968 erstmals bei Suhrkamp erschienen (vgl. Brecht 1968). Diese Texte eigneten sich auf Grund ihrer Kürze, ihrer scharf heraus getriebenen Konflikte, ihrer präzisen, zugleich poetischen Sprache und ihrer unausweichlichen Widersprüche bzw. moralisch-politischen Dilemmata gut für ein spielerisches Ausprobieren, überlegtes Andersspielen ohne ästhetische Maßstäbe und für die ausführlichen Diskussionen ohne öffentliche Präsentation. Dabei haben sich im Laufe der Zeit bestimmte Rituale, ein bestimmtes ›Setting‹ des spielerischen Herangehens und Debattierens herausgebildet. Die Arbeit wurde in Form von Buchpublikationen bzw. in Zeitschriftenartikeln in der 1985 neu gegründeten Zeitschrift für Theaterpädagogik Korrespondenzen zugleich auch dokumentiert. Diskutiert wurde dabei von der politischen über die soziale bis zur psychologischen Dimension des im Spiel Gezeigten, Gesehenen und Erlebten. Es war (und ist) ein Spielen und Auseinandersetzen für sich selbst in autonomen Gruppen zum Zweck ihrer Selbstbildung oder auch – will man es in der Sprache der damaligen Jugendkulturbewegung ausdrücken – ›Selbsterziehung‹. Unter anderem aus diesen Aktivitäten hat sich (neben anderen Quellen) ein eigenes Fach herausgebildet, das man heute an Hochschulen und Universitäten der Bundesrepublik studieren kann: die ›Theaterpädagogik‹. Die Dokumente dieses Prozesses sind inzwischen im Deutschen Archiv für Theaterpädagogik (DATP) gesammelt, sie können teilweise auch online nachgelesen werden (vgl. www.archiv-datp.de ), einige Publikationen zur Geschichte des Fachs sind erschienen (vgl. u.a. Streisand 2012). Das Programm für ein proletarisches Kindertheater ist im Kontext dieses Faches Theaterpädagogik erst richtig zu Ehren gekommen. Die Veröffentlichung 1968 hat einen Schub von Bewusstwerdung über Möglichkeiten der Nutzung von Theater für alternative pädagogische Zwecke ausgelöst und einen Umdenkungsprozess in Gang gesetzt, der bis heute anhält. Heute sind Spielaktivitäten von und mit Kindern und Jugendlichen, die mit,
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aber auch ohne öffentliche oder halböffentliche Aufführungen ablaufen, aus der theaterpädagogischen Arbeit nicht mehr wegzudenken. Vom Theater für und mit den Allerkleinsten bis zu unzähligen Gruppen Theater spielender Kinder und Jugendlicher ist im deutschsprachigen Raum alles zu finden und wird inzwischen auch mit öffentlichen Geldern gefördert. Auch in der DDR gab es den Begriff ›Theaterpädagogik‹. Gemeint waren hiermit aber spezielle pädagogische Abteilungen an den nach dem Zweiten Weltkrieg sogleich nach sowjetischem Vorbild ins Leben gerufenen professionellen Kinder- und Jugendtheatern, die vorrangig auf dem Gebiet der Vermittlung von Theater, der Rezeptionsforschung und der Stückentwicklung tätig waren (vgl. Hawemann 2005, Wardetzky 2005, Hoffmann 2005). In der DDR gab es bereits seit den 1960er Jahren eine große Bewegung ›Kinder spielen für Kinder‹. Kinder und Jugendliche probierten und spielten Theaterstücke vor einem jungen Publikum, häufig organisiert als ›Pioniertheater‹ durch die Pionierorganisation bzw. als ›Dramatischer Zirkel‹ in Kulturhäusern von Großbetrieben durch die Einheitsgewerkschaft FDGB. Das Moment von Beiläufigkeit und Nebensächlichkeit der Aufführung allerdings war hier wenig gegeben, eher wurde versucht, möglichst ›professionell‹ auf der Bühne zu agieren. Gespielt wurden zumeist fertige, für das Berufstheater verfasste Stücke, geleitet wurde das Spiel oft von professionellen oder semiprofessionellen Regisseuren oder Regisseurinnen, die auf eine gelungene Premiere hinarbeiteten. In solchem Fall konnten die Inszenierungen dann auch zu Leistungsschauen in bezirksoder landsweiten Laienspielwettbewerben delegiert werden (vgl. Schrader 2003: 22-24), so wurde der Wettbewerbsgedanken noch verstärkt. Der ›bündische‹ bzw. selbst organisierte, vorrangig auf die Selbstbildung und Selbsterziehung gerichtete Charakter war dabei zurückgedrängt. Das Fach Theaterpädagogik, das sich in der Bundesrepublik inzwischen etabliert hat, findet eine seiner Wurzel in der oben dargestellten seltsamen Melange aus reformpädagogischen und künstlerisch avantgardistischen Quellen, vermittelt und mit weiteren Inhalten aufgefüllt über Ideologie, Politik, Verhaltensmuster und Bewegung der 68er. Die Lehrstückarbeit und auch die Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen wurden in diesem Zusammenhang weniger als künstlerische denn als politische Praxis begriffen. Diejenigen, die sich des Erbes von Brecht, Benjamin und Lacis in diesem Kontext bedienten, waren häufig eher skeptisch all dem gegenüber, was mit ›Theater‹ zu tun hatte. Die Institution Theater galt eo ipso als bür-
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gerlich und ungeeignet, die eigenen Interessen, Wünsche, Utopien zu vertreten. Paradoxerweise sind es heute in Deutschland gerade auch die Theater, die das Fach praktisch nutzen. Kaum existiert noch ein Stadt- oder Staatstheater im deutschsprachigen Raum (und anders als in anderen Ländern), das ohne theaterpädagogische Abteilung auskommt. Eine »politischästhetische Erziehung«, wie der Untertitel von Steinwegs Buch lautete (Steinweg 1972), fand in den 1970er und 1980er Jahren in der Regel bis auf wenige Ausnahmen (etwa das alternative Gripstheater in Westberlin) im Wesentlichen außerhalb des Theaters statt. Die hier diskutierte Verknüpfung von Reformpädagogik und Avantgarde, bei der mit künstlerischen Texten zum Zweck von Selbstbildung und Selbstorganisation politisch gearbeitet wurde, führte zugleich aber auch zu einer neuen Politisierung des Ästhetischen.
L ITERATUR Arendt, Hannah in einem Tondokument, zu hören auf der Ausstellung »Benjamin und Brecht Denken in Extremen«, kuratiert von Erdmut Wizisla und anderen, eröffnet am 25.11.2017 in der Akademie der Künste am Hanseatenweg, Berlin. Arbeitsheft (1979): Arbeitsheft 31 der Akademie der Künste der DDR, hg. von Joachim Lucchesi und Ursula Schneider. Berlin: Henschelverlag. Benjamin, Walter (1966): Brief vom 9.3.1915 an Gustav Wyneken. Brief Nr. 39 in: Ders.: Briefe. Bd. 1, hg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 120-122. Benjamin, Walter (1991): Programm für ein proletarisches Kindertheater, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2., hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1930): Anmerkung zu »Das Badener Lehrstück vom Einverständnis«, in: Ders.: Versuche, Heft 2, Berlin: Aufbau Verlag (Reprint), S. 141. — [1931] (1978): [»Lehrstück für Beamte«], in: Ders.: Die Lehrstücke, hg. von B. K. Tragelehn, Leipzig: Reclam, S. 170-171. — [1932] (1978): Missverständnisse über das Lehrstück, in: Ders.: Die Lehrstücke, hg. von B. K. Tragelehn, Leipzig: Reclam, S. 171-172.
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Sozialistische Hochschulpolitik im Mosambik der 1980er Jahre Das Beispiel einer Fakultät für ehemalige Kämpfer*innen und Arbeiter*innen A LEXANDRA P IEPIORKA
Anfang der 1980er Jahre wurde in der Volksrepublik Mosambik ein außergewöhnliches Bildungsprojekt an der Universität Eduardo Mondlane (UEM) – damals der einzigen Universität des Landes – realisiert. Es wurde 1983 eine »Fakultät für ehemalige Kämpfer*innen und Arbeiter*innen der Avantgarde«1 (Faculdade para Antigos Combatentes e Trabalhadores de Vanguarda, kurz: FACOTRAV) an der Universität geschaffen, welche berufserfahrene Erwachsene in verkürzter Zeit auf den Hochschulzugang vorbereiten sollte. Außergewöhnlich scheint dies, weil kein vergleichbares Bildungsangebot im mosambikanischen Bildungssystem bestand. Außergewöhnlich aber auch, weil sich in der Entstehungsgeschichte dieser Bildungseinrichtung der facettenreiche ›Import‹2 einer sozialistischen Bil1
Die länderspezifischen Institutionenbezeichnungen und alle im Weiteren aus fremdsprachigen Archivdokumenten zitierten Textstellen wurden von der Autorin übersetzt. In den gesichteten Originaldokumenten wurde die hier verwendete, gender-freundliche Schreibweise nicht benutzt.
2
Der Begriff »Import« möchte hier die aktive Rolle der mosambikanischen Bildungsverantwortlichen bei der Suche nach passenden Bildungsmodellen im Ausland betonen. Zur theoretischen Diskussion von internationalen Bildungstransfers als »import« oder »policy borrowing« vgl. Steiner-Khamzi/Waldow
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dungsidee nach Mosambik widerspiegelt. In Bezug auf den ›Bildungsimport‹ wird hier die These vertreten, dass die FACOTRAV eine Arbeiterfakultät (AF) darstellt, wie sie in den sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas, und später in sozialistischen Ländern des ›Globalen Südens‹, u.a. in Kuba und Vietnam, existiert haben.3 Den bildungshistorischen Ausgangspunkt fand diese Bildungsidee 1919 im sozialistischen Russland, wo die erste Rabfak (Kurzform von rabočij fakul’tet, zu Deutsch: Arbeiterfakultät) eröffnet wurde.4 Neben einem gegenprivilegierenden5 Bildungsauf-
2012; Schriewer 2007; Steiner-Khamzi/Stolpe 2006; Phillips/Ochs 2004. Empirisch fundierte Studien zum Bildungszusammenarbeit zwischen sozialistischen Ländern legten u.a. Rupprecht 2015; Verber 2015; Weiser 2013; Reuter/Scheunpflug 2006; Voß 2005 und Müller 1995 vor. Zum Transfer sozialistischer Bildungsideen weltweit siehe z.B. Griffiths/Millei 2013; Spring 2006. 3
Die vorgestellten Ergebnisse sind im Rahmen des DFG-geförderten Forschungsprojekts »Kulturelle und historische Transformation einer Bildungsinstitution. Eine komparative Analyse der ›Arbeiterfakultät‹ in Kuba, Mosambik und Vietnam« unter der Leitung von Prof. Dr. Ingrid Miethe (Justus-LiebigUniversität Gießen) entstanden.
4
Zur ausführlicheren Darstellung des sowjetischen Rabfak-Systems vgl.
5
Eine entsprechende Hochschulpolitik wurde später auch in der DDR, insbeson-
Katunceva 1966; Tandler 1955. dere im Zeitraum 1948-1962, betrieben (vgl. Miethe 2007: 327-342). Offiziell zielte diese Bildungspolitik auf die Brechung des »bürgerlichen Bildungsmonopols« (Geißler 1992: 226), sowie auf die Schaffung einer neuen, systemkonformen Intelligenz aus der Arbeiter*innenklasse (Miethe 2007: 14). Als »Instrumente der Gegenprivilegierung« (Geißler 1992: 228) galten u.a. die klassenspezifischen Zulassungsrichtlinien in Oberschul- und Hochschulbereich, sowie die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten. (vgl. Miethe 2007: 42, 327-330) Zumindest bis Mitte der 1960er Jahre konnte damit eine »Verringerung des Bildungsvorteils der Dienstklasse-Kinder« im Bildungssystem der DDR erreicht werden (Sloga 1995: 188), wobei die Bildungschancen von Kindern aus der »sozialistischen Dienstklasse« stets besser blieben (ebd.: 189). Miethe weist darauf hin, dass die gegenprivilegierende Bildungspolitik der DDR »zeitweilig eine politisch forcierte Benachteiligung von nicht als förderwürdig erachteter Gruppen […], v.a. von Kindern so genannter ›bürgerlicher‹ Herkunft« beinhaltete (Miethe 2007: 40). Deshalb könne Gegenprivilegierung nicht schlicht als »posi-
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trag zugunsten von Arbeiter*innen und der Bauernschaft, wurden mit der Idee der AF auch hochschulpolitische Ziele verbunden. So sollten die sowjetische Rabfak nicht nur zur Ausbildung einer ›proletarischen Intelligenz‹ beitragen, sondern auch die »Proletarisierung der Hochschulen« (Anweiler 1967: 118) befördern. Im historischen Verlauf wurde die Idee der AF als hochschulvorbereitende Fakultät (!) für Arbeiter*innen in unterschiedlichen Regionen der Welt aufgegriffen, im Rahmen von (mehr oder weniger expliziten) internationalen Transferprozessen rezipiert und entsprechend der jeweiligen bildungspolitischen Bedingungen vor Ort umgesetzt. (Vgl. Kaiser et al. 2015; Miethe 2007; Connelly 2000; Williamson 1979: 97, 185f., 197) In diesem Zusammenhang interessiert im Fall von Mosambik, in welcher Form die Bildungsidee der AF in der FACOTRAV Eingang fand, was die mosambikanischen Spezifika ausmachte und in wie fern die FACOTRAV als Ausdruck einer sozialistischen Hochschulpolitik gewertet werden kann. Zur Bearbeitung dieser Fragestellung wurden historische Dokumente6 und Zeitzeug*innen-Interviews7 ausgewertet, sodass im Folgenden die Geschichte einer sozialistischen Bildungseinrichtung rekonstruiert wird.
tive Diskriminierung« oder »Herstellung von Chancengleichheit« verstanden werden, da das gegenprivilegierende Konzept zusätzlich »gezielt über Maßnahmen der Benachteiligung anderer Gruppen [Herv. i.O.]« (ebd.) nachdenken würde. 6
Vorrangig aus DDR-Beständen des Bundesarchivs in Berlin (BArch/ DR3/ II.Schicht) und des Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA/MfAA), sowie aus dem Bestand Universidade Eduardo Mondlane des Historischen Archivs in Maputo (Arquivo Histórico de Moçambique - AHM) (alle nicht paginiert).
7
Es wurden sieben ehemalige FACOTRAV-Lehrkräfte interviewt (Lissabon, Maputo, Rostock, 2014). Zudem wurden zwei ehemalige DDR-Kooperanten befragt, die bildungspolitisch in Mosambik involviert waren (Riesa 2013, Berlin 2015).
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B ILDUNGSGESCHICHTE Bis zur Unabhängigkeit Mosambiks im Jahre 1975 war das formale Bildungssystem des Landes vorrangig für die herrschende Bevölkerungsminderheit der portugiesisch-stämmigen Kolonialist*innen konzipiert. Infolge dieser Struktur lag die Analphabetismus-Rate innerhalb der multiethnischen mosambikanischen Bevölkerung 8 im Unabhängigkeitsjahr 1975 zwischen 85-97%.9 An der Universität10 studierten 1975 nur 40 afrikanischstämmige Personen, was gemessen an der Gesamtstudierendenzahl den marginalen Anteil von nur 1-2% ausmachte (Frey/Utui 1999: 2f.). Neben den kolonial bedingten Lücken in der einheimischen Intelligenz, verursachte zusätzlich die massive Abwanderung von Portugies*innen im Zuge der Unabhängigkeit einen erheblichen Fachkräftemangel. Im Bildungssystem fehlte es an Lehrer*innen mit adäquater Ausbildung und die Universität hatte nur wenige einheimische Dozent*innen vorzuweisen (vgl. Barnes 1982: 406; Mário et. al. 2003: 8f.; Cross 2011: 68). Das koloniale Erbe stellte die Unabhängigkeitsbewegung FRELIMO (Frente para a Libertação de Moçambique, zu Deutsch: Mosambikanische Befreiungsfront) bei ihrer Machtübernahme 1975 vor existenzielle Probleme in der Bildungspolitik und in der Leitung der Staatsgeschäfte. In dieser Situation versuchte die FRELIMO zunächst auf Erfahrungen aufzubauen, die sie während des Unabhängigkeitskampfes (1964-1974) in den sog. ›befreiten Gebieten‹
8
Die Volkszählung von 1970 ergab, dass 97,1% der mosambikanischen Bevölkerung »Afrikaner« (Statistisches Bundesamt 1987: 19) waren, zudem waren 0,6% »Mischlinge« und 0,3% indischen Ursprungs. »Weiße« machten zu dem Zeitpunkt 2% der Bevölkerung aus, wobei sich dieser Anteil bis 1980 auf 0,2% reduzierte. (Ebd.) Es wird außerdem von 16 ethnischen Hauptgruppen innerhalb der afrikanischen Bevölkerung Mosambiks ausgegangen (Ndege 2007: 3).
9
Schätzungen variieren von 85% (Barnes 1982: 406) bis 97% (Mouzinho/Nandja 2006: 3).
10 Diese wurde 1975 noch weiter unter dem kolonialen Namen Universidade Lourenço Marques betrieben (1962 gegründet; ab 1968 Universitätsstatus) (Mário et. al. 2003: 7). Zum 1. Mai 1976 wurde die Universität in Universidade Eduardo Mondlane umbenannt, nach dem ersten Präsidenten der FRELIMO (Fry/Utui 1999: 2f.).
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(zonas libertadas) gemacht hatte.11 Das dort erprobte Bildungssystem, aber auch die kämpferischen Ideale aus dieser Periode, wurden vonseiten der FRELIMO als ideelle Richtschnur für die Bildungspolitik im unabhängigen Mosambik propagiert. (Cross 2011: 49-59, 67; Gómez 1999: 107ff.; Zawangoni 2007) Zusätzlich griff die FRELIMO-Regierung auf internationale Bildungshilfen zurück. Schon während des Unabhängigkeitskampfes unterstützten internationale Kooperant*innen die FRELIMO als Lehrkräfte in den ›befreiten Gebieten‹ und auch nach 1975 setzte die FRELIMO ausländische Kooperant*innen im Bildungswesen ein (Tullner 2005: 389-393; Cross 2011: 74). Nachdem die FRELIMO sich 1977 zu einer avantgardistischen Partei mit marxistisch-leninistischer Ausrichtung erklärt hatte (FRELIMO 1977), gewannen sozialistische Bildungsvorstellungen an Relevanz. Mit der Einführung des Neuen Nationalen Bildungssystems (SNE) 1983 schließlich, wurde das Konzept des »Homem Novo«, des Neuen Menschen,12 zum übergreifenden Erziehungsziel deklariert (Castiano1997: 93). Für die Fallstudie der FACOTRAV ist relevant, dass im Rahmen des neuen Bildungsgesetzes a) die universitätsvorbereitende Erwachsenenbildung (Ensino Pré-Universitário para Adultos) verankert und b) den Arbeiter*innen und Bauern bzw. Bäuerinnen, sowie ihren Kindern, der Zugang zu allen Ebenen des Bildungssystems garantiert wurden.
11 In Tansania und in den »befreiten Gebieten« hatte die FRELIMO Alphabetisierungskampagnen, ein embryonales Schulsystem und Erwachsenenbildung für die Unabhängigkeitskämpfer*innen und ihren Kindern organisiert (Cross 2011: 49-55; Guttschke 2005). 12 Idealbilder von einem sozialistischen »Neuen Menschen« wurden z.B. in der Sowjetunion oder in Kuba (Cheng 2009) formuliert. Das Konzept des mosambikanischen »Neuen Menschen« wurde mit Auslegungen von Karl Marx und Lenin in Verbindung gebracht, bezog sich aber v.a. stark auf die mosambikanische Erfahrung des Kolonialismus und auf den Unabhängigkeitskampf der FRELIMO, vgl. Dokument »O Homem Novo«, 2. Reunião Nacional do M.E.C., ohne Verf., ohne Ort, 1977 (AHM/Bestand Ganhão/Kiste 59). Vgl. auch Bildungsgesetz vom 23. März 1983 (Lei N°. 4/83).
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E INE ARBEITERFAKULTÄT AUF U MWEGEN : V ON B ETRIEBSLEITUNGSKURSEN ZU EINER F AKULTÄT FÜR EHEMALIGE K ÄMPFER * INNEN Der Gründungsprozess der FACOTRAV erstreckte sich von 1979 bis zur ihrer Eröffnung am 7. März 1983. Als Vorläufer der FACOTRAV gelten die an der Ökonomischen Fakultät der UEM durchgeführten ›Betriebsleitungskurse für Arbeiter‹ (1979-1983). Bereits 1977 wurde mit Blick auf die Sozialstruktur der Studierenden an der UEM im Abschlussdokument des III. FRELIMO-Kongresses festgehalten, dass bis 1978 an der UEM »Universitätskurse für Arbeiter« (FRELIMO 1977: 187) eingeführt werden sollten (vgl. Gómez 1999: 310). Die Arbeiter*innen sollten »nach politischen Kriterien und nach ihren beruflichen Kompetenzen« (FRELIMO 1977: 187) ausgewählt werden und ihre Kenntnisse im Rahmen der Universität erweitern. Als Zugangsvoraussetzung wurde die 6. Klasse oder eine entsprechende Befähigung festgeschrieben. Die Kursteilnehmer*innen sollten im Anschluss leitende wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufgaben übernehmen können. (Vgl. ebd.) In der Folgezeit begannen an der UEM Arbeitsgruppen an einem »Ausbildungssystem für Werktätige« zu arbeiten,13 während parallel Verantwortliche des Bildungsministeriums sich mit Modellen der AF in Kuba (1977)14 und der DDR (1979)15 vertraut machten und beide als nützliche für den mosambikanischen Kontext erwogen. Im September 1979 begann die Ökonomische Fakultät der UEM mit der Durchführung von sog. »Betriebsleitungskursen für Arbeiter«16. Diese Kurse hatten die möglichst rasche Steigerung des 13 Vgl. »Halbjahresbericht 2/79 der DDR-Lehrkräfte an der Universität ›Eduardo Mondlane‹ Maputo«, unterz. v. Dora am 30.01. 1980 (Barch/ DR3/ II. Schicht/ 1540). 14 Vgl. Bericht »Relatório: Ensino Superior. Visita da Delegação do MEC à Republica Socialista de Cuba«, MEC, Maputo, 04.07.1977, unterz. v. Patrocínio (AHM/Bestand Ganhão/Kiste 29). 15 Vgl. »Vermerk über ein Gespräch mit Carmen Vaz, verantwortlicher Sekretär des Zentrums für Auslandsverbindungen der Universität Maputo am 11.6.1979«, Maputo, unterz. v. Mörke (PAAA/MfAA ZR 2949/81). 16 Die Bezeichnung des Kurses variiert in den Quellen: »Kurs für Praxiskader«, »ABF-ähnliche Einrichtung«, »beschleunige pre-universitäre Ausbildung«, o.ä.
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allgemeinen Bildungsniveaus der teilnehmenden mittleren Kader aus Verwaltung und Wirtschaft zum Ziel (äquivalent zum Abschluss der 11. Klasse des Regelschulsystems). Im ersten Durchlauf wurden 107 »Studierende« 17 aufgenommen, die von ihren Betrieben delegiert 18 worden waren.19 Im Dezember 1980 standen nach nur drei Semestern die ersten 80 Absolvent*innen zur Verfügung. Diese zügige und praxisnahe Form der Ausbildung wurde in Anbetracht des geringen schulischen Einstiegsniveaus der Kursteilnehmer*innen (6. bis 9. Klasse) als Erfolg gewertet. Entsprechend sahen die entsendenden staatlichen Institutionen den Kurs »als echte Hilfe der UEM bei der Verminderung des Mangels an nationalen Leitungskadern und beim Ausbau von Machtpositionen des Staates«20 an. Zudem stellte die UEM-Parteigruppe der FRELIMO fest, dass die Kurse eine »erste nützliche Erfahrung mit der Arbeiterbildung« darstellten und darüber hinaus, dass
17 Im Folgenden werden die Teilnehmer*innen der Betriebsleitungskurse und die Schüler*innen der FACOTAV als »Studierende« bezeichnet, denn obwohl beide Gruppen einer vor-universitären Ausbildung nachgingen, waren sie an der UEM eingeschrieben. 18 Die betriebliche Delegierung garantierte der UEM formal den Arbeiterstatus der entsandten Studierenden (im Sinne von »Werktätigkeit«). Zugleich sicherte die Delegierung eine Verbindung der Studierenden zu ihren Betrieben, da diese während der Studienzeit weiterhin für die finanzielle und materielle Absicherung ihrer Delegierten verantwortlich blieben, v.a. in Form von Unterkunft und Verpflegung (vgl. Interview Lissabon 2014). Zum Delegierungsprinzip an der FACOTRAV vgl. Broschüre »O que é o Curso Pré-Universitário da Faculdade de Antigos Combatentes e Trabalhadores de Vanguarda«, UEM, Maputo, November 1985 (AHM/Bestand Ganhão/Caixa 16), hier S. 11f. Auch in der DDR war es üblich vom Betrieb aus zum Studium oder zur ABF delegiert zu werden (Schroeter 1994: 78). 19 Vgl. Bericht »Informação. Assunto: Ponto da Situação do 1° Curso de Gestão de Empresas«, UEM, Faculdade de Economia, Juli 1981, o. Verf. (AHM/Bestand Ganhão/Kiste 55). 20 Vgl. Bericht über die Arbeit der Ökonomischen Fakultät (II. Halbjahr/1980) der AG-Universität Maputo, ohne Datum, verf. v. Dora (Barch/ DR3/ II.Schicht/ 1540).
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sich an der UEM die Idee einer »faculdade operário-campesina« (zu Deutsch: Arbeiter-Bauern-Fakultät) abzeichnen würde. 21 Im selben Jahr wurde ein*e Bildungsberater*in zum »Aufbau einer ABF[22] in Maputo«23 im Ministerium für Fach- und Hochschulwesen der DDR (MFH) angefragt.24 Des Weiteren bat die mosambikanische Bildungsministerin 1981 darum, weitere DDR-Kooperant*innen für die Tätigkeit an den »Arbeiter-und-Bauern-Kursen« in Maputo zu entsenden.25 Die Betriebsleitungskurse wurden somit – schon vor Gründung der FACOTRAV – von mosambikanischen und von DDR-Akteur*innen mit Begrifflichkeiten wie »ABF« o.ä. umschrieben, was einen diskursiven Bezug zur Idee der AF nahe legt.26 Den Absolvent*innen der Kurse stand der Weg in alle Studiengänge offen und ca. ¼ ging in ein reguläres Fachstudium über.27 Innerhalb der UEM erfuhren die Betriebsleitungskurse einerseits positive Resonanz, denn beispielsweise an der Ingenieurswissenschaftlichen Fakultät wurde die Möglichkeit zum Aufbau »ähnlicher Kurse für mittlere tech-
21 Vgl. Bericht »A situação politica na Universidade Educardo Mondlane...« (AHM/Bestand Ganhão/Kiste 16), hier S. 5. 22 Die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten (ABF) in der DDR waren 1949-1963 in Betrieb, ihre Vorläufereinrichtungen hießen »Vorstudienanstalten« (1946-1949) (Miethe 2007). 23 Vgl. »Berufungsakte Universität Rostock, Max Zeuske«, paginiert 1-125 (Barch DR/3/B/5697/). 24 Das MFH hatte dafür zunächst einen Bildungsexperten angedacht, der 1962 am Gründungsprozess der AF in Kuba (Facultad Preperatória Obrero-Campesina) mitgewirkt hatte. Die Entsendung konnte jedoch nicht realisiert werden. Vgl. »Berufungsakte …Zeuske...«, paginiert 1-125 (Barch DR/3/B/5697/), hier S. 8589. 25 Vgl. Protokoll mit Anlagen »Gespräch mit Minister Machel vom 29.10.1981« von Prof. Dr. Nast an Minister Prof. Böhme (MFH), ohne Ort, ohne Datum (BArch/DR3/II.Schicht/B 1560/3). 26 Vonseiten der DDR-Kooperant*innen wurde z.B. über den »Beginn weiterer ABF-ähnlicher Kurse« berichtet, vgl. »Halbjahresbericht I/82 der MHFExpertengruppe Maputo vom 25.5.82« an das MHF, Abt. Ausland II (BArch/ DR3/II.Schicht/1540). 27 Vgl. Schätzung des ehemaligen Leiters der Betriebsleitungskurse (Interview Lissbon 2014).
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nische Leitungskader«28 geprüft. Andererseits äußerten einige UEMAngehörige auch öffentlich Einwände »gegen die Förderung von Werktätigen und Frelimo-Kadern in derartigen Kursen.«29 Die Umgestaltung der Betriebsleitungskurse zu einer eigenen, allgemeinbildenden Fakultät für ehemalige Kämpfer*innen und Arbeiter*innen (FACOTRAV) erfolgte 1983.30 Dabei machte sich der Leiter der FACOTRAV durchaus Gedanken um die öffentliche Wahrnehmung einer derart spezifischen Hochschuleinrichtung: »Manche sagen, die Frelimo will an der Fakultät zukünftig ihre Elite ausbilden. ›Elite‹. Wenn ich das höre, stelle ich mir Harvard oder Oxford vor, aber doch nicht diese jungen Leute […] Manche von denen haben weder Strom noch fließend Wasser zuhause« (zitiert nach Dora 2009: 97). Neben solchen Bedenken, schien viel Enthusiasmus mit der Gründung der FACOTRAV verbunden gewesen zu sein, wobei seitens der beteiligten Lehrkräfte ein gewisser pädagogischer Pioniergeist mitschwang. Die FACOTRAV wurde im Kollegium als ein Novum in der mosambikanischen – und teils sogar afrikanischen – Hochschullandschaft interpretiert.31 Am 7. März 1983 wurde die FACOTRAV feierlich eröffnet.32 Mit der neuen Fakultät wurden hochschulpolitische und pädagogische Ziele verbunden. Zum einen sollten die Absolvent*innen der FACOTRAV
28 Vgl. »Halbjahresbericht I/1981 der Gruppe der DDR-Lehrkräfte a.d. UEM – Bereich Gesellschaftswissenschaften«, Maputo, 10.6.1981, unterz. v. Prof. Dr. Schlauch (BArch/DR3/II.Schicht/1540). 29 Vgl. »Halbjahresbericht I/82 der MHF-Expertengruppe…« (BArch/ DR3/ II. Schicht/ 1540). 30 Die Entscheidung zugunsten einer zentralen, allgemeinbildenden Arbeiter*innen- und Kämper*innenfakultät fiel offenbar im Rektorat der UEM. Das dezentrale Modell der stärker fachspezifischen Arbeiter*innenkurse an der Ökonomischen Fakultät wurde mit Gründung der FACOTRAV beendet. Die Kursteilnehmer*innen und der Lehrkörper der Betriebsleitungskurse ging komplett in die FACOTRAV über. (Vgl. Interviews Lissabon, Maputo, Rostock 2014). 31 Vgl. Interviews mit ehemaligen Lehrkräften (Maputo, Rostock 2014); vgl. auch Dora (2009: 87). 32 Vgl. Artikel »Faculdade para Combatentes. Festa universitária marca o acontecimento«, Notícias vom 10.03.1983, Seitenangabe auf Auszug nicht sichtbar.
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als »dynamisierende Elemente« mit Klassenbewusstsein innerhalb der Universität wirken und eine gewisse Vorbildfunktion im Sinne des »Neuen Menschen« übernehmen.33 Zum anderen sollte an der FACOTRAV eine solide Hochschulvorbereitung vermittelt werden, damit die ehemaligen Kämpfer*innen trotz ihrer geringen Vorbildung nicht zu »Studierenden zweiter Klasse« an der UEM würden.34 Entsprechend war das Curriculum der FACOTRAV mit 60 Wochenstunden als Vollzeitstudium ausgelegt, wobei neben akademischen Inhalten auch wöchentliche Betriebspraktika, Charakterbildung35 und politische Inhalte auf dem Lehrplan standen.36 In den ersten vier Semestern wurden allgemeinbildende Fächer unterrichtet, während im fünften und sechsten Semester eine Spezialisierungsphase erfolgte. Diese sollten die FACOTRAV-Studierenden intensiv auf ihren zukünftigen Studienzweig vorbereiten, wobei ein technisch-naturwissenschaftlicher, ein biologischer und ein sozialwissenschaftlicher Zweig 37 angeboten wurde. Neben der Studienvorbereitung sollte die polyvalente Entwicklung der FACOTRAV-Studierenden gefördert werden. Die Studierenden sollten u.a. ihre Kommunikationsfähigkeit verbessern, Selbst- und Fremdeinschätzungen durchführen und die Anleitung von Gruppen üben. Des Weiteren wurden in Wahlpflichtmodule (Centros de Interesse) Themen wie z.B. Theater, Journalismus und Umweltbewusstsein bearbeitet.38 An der FACOTRAV standen in jedem Durchgang 100 Studienplätze zur Verfügung, wobei diese nicht immer ausgeschöpft wurden. Zu den Zu-
33 Vgl. Bericht »Perfil do Finalista - Sintese das Propostas«, FACOTRAV, 13.09.1985, o.Verf. (AHM/Bestand Ganhão/Kiste 16). 34 Vgl. Interviews Maputo, Lissabon 2014. 35 Im Rahmen der Charakterbildung wurden persönliche Kompetenzen wir Selbstkontrolle, die Fähigkeit zur Gruppenarbeit, kritisches Denken und organisatorische Fähigkeiten vermittelt; vgl. Interviews Maputo 2014. 36 Vgl. Broschüre »O que é o Curso Pré-Universitário...« (AHM/Bestand Ganhão/ Caixa 16); vgl. auch Bericht »Perfil do Finalista ...« (AHM/Bestand Ganhão/ Caixa 16). 37 In der Gestaltung dieser Zweige wird möglicherweise der Einfluss der über die DDR-Kooperant*innen eingebrachten Erfahrungen der ABF sichtbar, da an der ABF ähnliche Spezialisierungszweige angeboten wurden. 38 Vgl. Broschüre »O que é o Curso Pré-Universitário ...« (AHM/Bestand Ganhão/ Kiste 16).
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gangsvoraussetzungen gehörte eine Vorbildung von mindestens sechs, jedoch maximal neun Schulklassen, sowie mindestens fünf Jahre Berufserfahrung und der Nachweis über im Arbeitsalltag an den Tag gelegte Qualitäten, wie Lernfreude, Disziplin im Arbeitskollektiv, und hohes gesellschaftliches und politisches Engagement im Rahmen der Betriebsstelle. Die Bewerber*innen sollten im Alter zwischen 24 und 35 Jahren (ausgenommen ehemalige Kämpfer*innen) und von ihrer sozialen Stellung her Werktätige sein.39 Für den ersten Jahrgang 1983 werden je nach Quelle 87 40 bis 98 Studierende (Johnston 1989: 207) angegeben. 41 Im Verhältnis zur Gesamtstudierendenzahl der UEM machten die FACOTRAV-Studierenden damit nur rund 3,5% aus,42 sodass ihr tatsächlicher Beitrag zur ›Proletarisierung‹ der Universitätslandschaft nicht allzu massiv ausgefallen sein wird. Neben dem Vollzeitstudium verblieben den FACOTRAV-Studierenden wahrscheinlich nur wenig Zeitressourcen für hochschulpolitische Aktivitäten.43 Zudem hat sich der soziale Status der meisten FACOTRAVStudierenden aufgrund ihrer Berufstätigkeit verschoben, denn obwohl 88% von ihnen tatsächlich aus Arbeiter- (43%) oder Bauernfamilien (45%) stammen, waren vor Beginn ihres Studium nur rund 15% als »Arbeiter«
39 Zugangsvoraussetzungen ausführlich beschrieben in Broschüre »O que é o Curso Pré-Universitário ...« (AHM/Bestand Ganhão/Kiste 16). 40 Vgl. Bericht »Einschätzung zum Stand und zu einigen Entwicklungen an der UEM« vom Juni 1986, MHF-Expertengruppe in Maputo; darin Tabelle: »Entwicklung der Studenten u. Absolventenzahlen« (DR3/II.Schicht/1538). 41 Die schwankenden Angaben ergaben sich aus studentischer Fluktuation und ggfs. angewandten Nachrückverfahren. 42 An der UEM waren 1983 insgesamt 2622 Studierende eingeschrieben, wobei ein Großteil der Lehrerfakultät angehörte. Vgl. Bericht »Evolução dos Docentes Estrangeiros da U.E.M. Em 31/12/83« inkl. Anlagen, AV-Mitteilung der Botschaft Maputo an die Abt. OZA, Sektor OA II vom 14.2.1984, unterz. v. Dannenberg (BArch/DR3/2.Schicht/1539). 43 Trotz fehlender Informationen zu hochschulpolitischen Aktivitäten der FACOTRAV-Studierenden, ist bemerkenswert, dass 1984-1985 um die 50% Mitglieder der FRELIMO-Partei waren, vgl. »Informationsbericht über die Fakultät für Kämpfer und Arbeiter der Avantgarde« von 1984/85, o. Verf. (Barch/ DR3/II.Schicht/1539).
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tätig.44 Aus Sicht der Lehrkräfte stellte zudem die mehrjährige Unterbrechung der schulischen Ausbildung vieler FACOTRAV-Studierenden eine große pädagogische Herausforderung dar.45 Weiterhin offenbarten sich die Bandbreite der Altersstruktur, heterogene Sprachhintergründe und die weiten Anfahrwege mitunter als Herausforderungen im Lehr- und Lernbetrieb.46 Punktuelle statistische Angaben besagen, dass 25 Personen im Jahr 1985 die FACOTRAV absolviert haben (Johnston 1989: 207) und insgesamt schätzen Zeitzeug*innen die Abschlussquote auf rund ¼ aller Eingeschriebenen. Bis 1988 wurden 663 Studierende in sechs Jahrgängen an der FACOTRAV verzeichnet (FRELIMO 1989: 218).47 Die Fakultät existierte noch bis 1990 fort. Aufgrund von geringen Bewerber*innenzahlen und, wie es offiziell hieß, weil sie zu dem Zeitpunkt ihre historisch »wichtige Mission« erfüllt habe, nahm die FACOTRAV ab 1991 keine neuen Studierenden mehr auf (Langa 2013: 91).48
44 Eigene Berechnungen aufgrund von handschriftlicher Statistik »Zur Bedeutung der Fakultät für Kämpfer und Werktätige der Vorhut im Spiegel statistischer Zahlen« nach Originalquelle der Pädagogischen Leitung der FACOTRAV vom April 1984, Unterschrift nicht lesbar, 30.03.1985 (BArch/DR3/II.Schicht/1539). 45 Interviews Maputo, Rostock 2014. 46 Die Altersspanne reichte 1984 von 20 bis 52 Jahren, wobei die 25- bis 29Jährigen mit 47,8% die größte Altersgruppe ausmachten. Im selben Jahrgang gaben nur 10,4% der Studierenden die portugiesische als ihre Muttersprache an. Über die Hälfte aller Studierenden stammt aus ländlichen Gebieten. Vgl. handschriftliche Statistik »Zur Bedeutung der Fakultät für Kämpfer ...« (BArch/ DR3/ II.Schicht/ 1539). 47 Über die Abschlussquoten und den Verbleib der Absolvent*innen liegen keine umfassenden Statistiken vor. 48 1992 wurde ein neues Bildungsgesetz verabschiedet, welches stellvertretend für die Abkehr der FRELIMO-Regierung vom sozialistischen Entwicklungsweg stand und damit verbundenen Bildungsziele abschaffte (Castiano 1995: 124137).
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D ER INTERNATIONALE L EHRKÖRPER DER FACOTRAV UND I DEENPLURALISMUS IM R AHMEN » SOZIALISTISCHER P ÄDAGOGIK « Die Idee der AF scheint sich im Falle der FACOTRAV primär in strukturellen Parallelen zu historischen Vorläuferinstitutionen aus Sowjetunion, DDR und Kuba niedergeschlagen zu haben. Dafür spricht die Organisation der FACOTRAV als beschleunige Oberstufenausbildung für berufserfahrene Erwachsene im Rahmen einer Universitätsfakultät. Andererseits wurden für AF typische hochschulpolitische Zielsetzungen, wie eine Umschichtung der Studierendenschaft zugunsten der Arbeiterklasse, an der FACOTRAV nur ansatzweise verfolgt. Auffällig sind zudem die zahlreichen Verweise der ehemaligen Lehrkräfte und Zeitzeug*innen auf das »Neue« und das »Eigene« mit Blick auf die FACOTRAV. Mitunter distanzierten sich befragte Zeitzeug*innen sogar von auswärtigen Modellen der AF, wie der sowjetischen Rabfak, der kubanischen Facultad Obrero-Campesina oder der ostdeutschen Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. Angesichts der dokumentierten Bildungszusammenarbeit mit kubanischen und DDR-Partner*innen während des Gründungsprozesses der FACOTRAV, erscheint diese Abgrenzung zunächst erstaunlich.49 Aus Perspektive der Beteiligten ist die Meistererzählung von einer endogen mosambikanischen Fakultät dennoch nachvollziehbar. Im Folgenden werden zwei der lokalen Besonderheiten der mosambikanischen AF skizziert, welche die Wahrnehmung der FACOTRAV als etwas »Neues« und »Eigenes« befördert haben.50 49 Selbst maßgeblich am Aufbau der FACOTRAV beteiligte DDR-Kooperanten gingen nicht von einem Transfer der ABF aus. Vielmehr sei die Idee, eine derartige Fakultät zu gründen »keine importierte, sondern eine mosambikanische und sie entsprach einer realen Dringlichkeit« (Dora 2009: 86). 50 Die selektive Wahrnehmung von globalen und lokalen Faktoren bei dem internationalen Transfer von Bildungsideen wurde u.a. von Steiner-Khamzi (2003) untersucht. Steiner-Khamzi beschreibt drei Phasen des Bildungsimports: diesen zufolge eröffnet die Phase der Rezeption von auswärtigen Bildungsideen den Transferprozess (Externalisierung), gefolgt von der Phase der Implementierung der neuen Bildungsidee in den lokalen Kontext (Rekontextualisierung). In der abschließenden »Phase der Indigenisierung« (ebd.: 381) des Transfers, wird die auswärtige Idee lokal internalisiert. Das heißt, dass die rezipierte Bildungsidee
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Zum einen schien die klassischerweise mit AF verbundene Zielstellung einer gegenprivilegierenden Bildungspolitik zugunsten der Arbeiterklasse, wie im Fall der DDR (vgl. Miethe 2007), keine vorrangige Rolle im Gründungsprozess der FACOTRAV gespielt zu haben. Beispielsweise galten noch Mitte 1981 lediglich »politische Vertrauenswürdigkeit und berufliche Erfahrung«51 als Auswahlkriterien für Bewerber*innen zu den Betriebsleitungskursen, sozialistische Klassenkriterien hingegen wurden ausgespart. Erst im November 1982 wurde vonseiten der UEM erklärt, dass explizit »die Arbeiterklasse, die Bauern, und die am stärksten in der Revolution engagierten Elemente – die Kämpfer« Zielgruppen der »beschleunigten pre-universitären Ausbildung« seien.52 Bemerkenswert ist dabei, dass den Kämpfer*innen ausgeprägte pro-revolutionäre Eigenschaften zugeordnet wurden. Die Spezifizierung dieser Zielgruppe stellt im Vergleich zu anderen AF weltweit eine Besonderheit dar.53 Angesichts des post-kolonialen Kontextes in Mosambik, erscheint diese lokale Anpassung der Bildungsidee der AF einleuchtend, haben doch gerade die ehemaligen Kämpfer*innen zur Unabhängigkeit des Landes beigetragen. Entsprechend kam der Förderung von ehemaligen Unabhängigkeitskämpfer*innen der FRELIMO in Universitätskursen eine wichtige symbolpolitische Bedeutung zu. Die 1983 gegründete FACOTRAV stellte somit mehr als eine atypische Hochschuleinrichtung für Arbeiter*innen dar. Vielmehr sollte sie ehemaligen Unabhängigkeitskämpfer*innen helfen Bildungslücken zu schließen und ihnen zugleich direkten Zugang zum Hochschulsystem gewährte. Trotz
dann nicht mehr als von außen hergebracht, sondern »wie ein hauseigenes Produkt« (ebd.: 388) behandelt und evaluiert wird, da es »zwischenzeitlich modifiziert, rekontextualisiert und indigenisiert wurde« (ebd.). 51 Vgl. Bericht »Informação. Assunto: Ponto da Situação do 1° Curso...« (AHM/ Bestand Ganhão/ Kiste 55). 52 Vgl. Dokument »Linhas fundamentais do desenvolvimento da U.E.M. da década 1981/1990«, Ministério da Educação, UEM, II. Reunião Geral, November 1982, hier: S.6-7 (BArch/DR3/II.Schicht/1539). 53 Obwohl in andern sozialistischen Ländern die ehemaligen Revolutionsteilnehmer*innen (SU, Kuba) oder ehemaligen (Unabhängigkeits-)Kämpfer*innen (China, Vietnam) an AF studieren konnten und sollten, bleibt die explizite Ansprache von ehemaligen Kämpfer*innen im Namen der Bildungseinrichtung sowie ihre gezielte Förderung ein mosambikanisches Spezifikum.
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ihrer gesonderten Ansprache im Namen der FACOTRAV, machen die ehemaligen Kämpfer*innen 1984 lediglich 24 Prozent der FACOTRAVStudierenden aus.54 Dieser Anteil reduzierte sich mit der Zeit, u.a. aufgrund von Schwierigkeiten bei der Unterbringung (FRELIMO 1989: 218), so dass 1989 keine ehemaligen Kämpfer*innen mehr an der FACOTRAV eingeschrieben waren (Henriques 1989). Nichts desto trotz stellte die FACOTRAV zeitweilige ein hochschulpolitisches Instrument zur Förderung dieser spezifischen Zielgruppe dar. Eine zweite lokale Besonderheit bietet im weiteren Sinne der international zusammengesetzte Lehrkörper der UEM. So waren an der UEM im Gründungsjahr der FACOTRAV (1983) insgesamt 242 ausländische Dozierende beschäftigt, von denen zusammengenommen 125 aus der Sowjetunion (61), der DDR (39) und aus Kuba (25) kamen. Zugleich waren Dozierende aus ›westlichen‹ bzw. nichtsozialistischen Ländern vertreten, denn im selben Jahr arbeitete Personal u.a. aus Portugal (25), Dänemark (17), Chile (11) und Großbritannien (9) an der UEM. 55 Zu dem Zeitpunkt machen die ausländischen Lehrkräfte zwei Drittel des Lehrkörpers der UEM aus.56 All diese internationalen Lehrkräfte brachten neben ihrer fachlichen Expertise auch unterschiedliche Vorstellungen zum oder über Sozialismus mit, was sich ggfs. auch in ihrer pädagogischen Praxis niederschlug. Bezeichnenderweise wurden ideologischen Differenzen besonders augenfällig unter den Dozierenden des Fachbereichs ›Marxismus-Leninismus‹ ausgetragen, wobei die ostdeutsche und sowjetische Interpretation des Faches als zu dogmatisch galt (vgl. Tullner 2005: 400).57 Auf den Punkt gebracht, fasste
54 Vgl. handschriftliche Statistik »Zur Bedeutung der Fakultät für Kämpfer ...« (BArch/DR3/II.Schicht/1539). 55 Vgl. Tabelle »Composição dos Docentes da UEM de 1980 a 1983«, Anlage in AV-Mitteilung der Botschaft Maputo an die Abt. OZA, Sektor OA II vom 14.02.1984, unterz. v. Dannenberg; darin »Abschlußbericht über die Tätigkeiten der Abteilung für Angelegenheiten des Lehrkörpers im Jahre 1983«, UEM, Wissenschaftliche Direktion, Abt. Lehrkörper der UEM, Januar 1984, o. Verf. (BArch/DR3/2.Schicht/1539). 56 Eigene Berechnung nach Tabelle »Composição dos Docentes da UEM de 1980 a 1983…« (BArch/DR3/2.Schicht/1539). 57 Vgl. hierzu kritische Kommentare der ehemaligen mosambikanischen Lehrer*innen (Interviews Maputo 2014).
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eine ehemalige FACOTRAV-Lehrerin zusammen: »Ein kanadischer Professor und ein Professor aus der DDR unterrichteten sicherlich nicht in der gleichen Art und Weise!«58 Und auch an der FACOTRAV arbeitete ein international zusammengesetztes Team, das 1983 aus 13 mosambikanischen Lehrkräften und 20 ausländischen Kooperant*innen bestand. Darin waren neben Kooperant*innen aus sozialistischen Ländern (v.a. DDR, Kuba, Bulgarien) auch Lehrpersonal aus dem ›Westen‹ (v.a. Portugal) involviert.59 Gemeinsam diskutierten sie das Curriculum und die pädagogischen Leitlinien der FACOTRAV, sowie ihre teils sehr unterschiedlichen Vorstellungen zur sozialistischen (Hochschul-)Pädagogik. So brachte ein chilenischer Pädagoge60 seine unkonventionellen Ideen zur Erwachsenenbildung ebenso ein, wie die DDR-Kooperant*innen ihre Vorstellungen über die ABF einbrachten.61 Die mosambikanischen Lehrkräfte wiederum erzählen Geschichten aus dem Unabhängigkeitskampf und den ›befreiten Gebieten‹, lasen Paolo Freire und Anton S. Makarenko,62 und diskutierten die Erziehungskonzepte der FRELIMO mit ihren Kolleg*innen aus Ost und West. 63 Dass damit verbundene Aushandlungsprozesse nicht immer reibungslos verliefen, ist dokumentiert. So war es nicht ungewöhnlich, dass an der FACOTRAV »unterschiedliche Standpunkte der Lehrkräfte aus 10 Län-
58 Vgl. Interview 1, Maputo 2014; übersetzt von Alexandra Piepiorka (AP). 59 Vgl. Interviews Lissabon, Maputo 2014; und für Bulgarien vgl. Chard (2005: 136). 60 Der für die FACOTRAV angeworbene Chilene brachte »viel Erfahrung in der Erwachsenenbildung« (Dora 2009: 97) mit und wurde von den Interviewpartner*innen als zentrale Figur bei der Ausarbeitung des pädagogischen Konzeptes der FACOTRAV charakterisiert (Rostock, Maputo und Lissabon 2014). 61 Die ABF war wahrscheinlich allen DDR-Kooperant*innen bekannt, u.a. durch den Roman Die Aula von Hermann Kant (1965). Außerdem haben zwei der interviewten DDR-Kooperant ihre Hochschulzugangsberechtigungen über die ABF erlangt (Interviews Riesa 2013, Rostock 2014). 62 Im Pädagogischen Poem des sowjetischen Pädagogen Makarenko (1933) kommt die AF als Zukunftsperspektive für einige Schüler*innen aus der sog. Gorki Kolonie vor. Im Zeitraum 1923-24 wird von elf Kolonist*innen berichtet, die an einer AF aufgenommen wurden (Furrer 1988: 109). 63 Vgl. Interviews Maputo 2014.
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dern« diskutiert werden mussten.64 Zur Diskussion stand beispielsweise, ob die FACOTRAV allein auf die Vorbereitung von Arbeiter*innen und ehemaligen Kämpfer*innen zielen sollte, oder ob sie nicht auch dazu dienen könnte »das Bildungsniveau von mocambikanischen [sic!] Leitungskadern zu erhöhen«.65 Eine wichtige Rolle bei der Integration von derart unterschiedlichen Ideen spielte u.a. der aus Chile stammende pädagogische Leiter der FACOTRAV. Dieser wurde zwar als Kommunist beschrieben, aber eben als ein »chilenischer Kommunist«66, der einen gewissen Experimentierraum in der pädagogischen Praxis förderte.67 Die Experimentierfreude des chilenischen Kollegen wurde von DDR-Seite allerdings mitunter auch kritisch beurteilt, wenn z.B. »der päd. Direktor mit den Studenten über Probleme wie Bewertung von Leistungen und Einschätzung der Persönlichkeit diskutiert[e]«68 oder pädagogische Prozesse durch »spontane Aktionen« umgesetzt wurden, ohne dass diese »ordnungsgemäss [sic!] festgelegt, kontrolliert und ausgewertet« worden seien.69 Die – hier nur bruchstückhaft skizzierte – Heterogenität im Lehrkörper der FACOTRAV führte also bisweilen zu interkulturellen Verunsicherungen oder zu ideologischen Unstimmigkeiten, doch insgesamt schien eine eher kooperative Haltung sowohl der ausländischen als auch der mosambikanischen Lehrkräfte das Tagesgeschäft bestimmt zu haben.70 Zum potenziellen Transfer der ABF-Idee seitens der DDR-Berater ist daher anzumerken, dass die DDR-Kader keinesfalls die dominierende
64 Vgl. Bericht »Fakultät Lehrerbildung« an das MHF, ohne Datum, unterzeichnet von Gapp (BArch/DR3/II.Schicht/1540); die Heterogenität der Lehrkräfte an der FACOTRAV wird mit beschrieben (S. 3). 65 Vgl. »Informationsbericht über die Fakultät für Kämpfer und Arbeiter der Avantgarde« von 1984/85, o. Verf. (Barch/DR3/II.Schicht/1539). 66 Vgl. Interview 2, Maputo 2014. 67 Vgl. Interviews Lissbon, Maputo, Rostock 2014. 68 Vgl. »Bericht über das 1. Semester 1986 an der ABF« von Hunecke an das MHF vom 28.06.1986 (Barch/DR3/II.Schicht/1538), ohne Seitenangabe. 69 Vgl. »Bericht über das 1. Semester 1986 an der ABF…« (Barch/ DR3/ II. Schicht/ 1538). 70 Vgl. Einschätzung der Zeitzeug*innen (Interviews Lissabon, Maputo, Riesa, Rostock, 2014 und Berlin 2015).
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Gruppe innerhalb des Lehrkörpers der FACOTRAV darstellten; 71 und dies obwohl mindestens ein DDR-Kooperant, und zeitweilig bis zu vier DDRLehrkräfte gleichzeitig, an der FACOTRAV tätig waren (Hegewald 2005: 471). Insgesamt wurde die durch DDR-Kooperant*innen vertretenen Interpretationen des Marxismus von mosambikanischen Kolleg*innen eher als zu »dogmatisch« empfunden.72 Zudem bestanden im Kollegium der FACOTRAV unterschiedliche Vorstellungen zu organisatorischen Abläufen. Dennoch sei die Zusammenarbeit mit den DDR-Kooperant*innen, wie auch mit den anderen internationalen Lehrkräften, gut verlaufen.73 Die von Seiten der mosambikanischen Zeitzeug*innen als gelungen wahrgenommene Kooperation im Projekt FACOTRAV deutet – trotz aller ideologischen (Meinungs-)Verschiedenheiten – auf einen gemeinsamen Referenzrahmen der beteiligten Akteur*innen hin. Dieser Referenzrahmen aus sozialistischen Werten und Bildungsvorstellungen, u.a. zum Themenkomplex Hochschulpolitik und Arbeiter*innenbildung, wurde im Rahmen der UEM umzusetzen, wobei ggfs. auch eine Flexibilisierung einer Zielgruppe als zielführend galt. Die im Gründungsprozess der FACOTRAV ausgehandelten pädagogischen Inhalten und die Nuancierung der Zielgruppe, verleihen der Wahrnehmung der FACOTRAV als ›eigenes‹ und neuartiges Bildungsprojekt seitens der beteiligten Akteur*innen ihre Berechtigung. Zugleich blieben im Rahmen der FACOTRAV die grundlegenden Merkmale einer AF erhalten. Die erzählten Geschichten zeugen in diesem Sinne von einem gewissen Ideenpluralismus im Bereich sozialistischer Hochschulpädagogik, welcher im internationalen Rahmen der UEM praktiziert wurde.
71 Vgl. »Halbjahresbericht 1. Halbjahr 1984 – Gruppe Lehrerbildung«, ohne Datum, unterz. v. Friedrich (BArch/DR3/II.Schicht/1540), zur FACOTRAV hier S. 3. 72 Vgl. Interviews Maputo 2014; zu ideologischen Differenzen im Schulsystem insgesamt vgl. Tullner 2005. 73 Vgl. Interviews Lissabon, Maputo 2014.
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R ETROSPEKTIVE B ETRACHTUNGEN ZUM V ERSUCH EINER SOZIALISTISCHEN H OCHSCHULPOLITIK IN M OSAMBIK Obwohl unterschiedliche Ideen zu sozialistischer Erziehung (darunter auch unorthodoxe74) in die pädagogische Praxis der FACOTRAV einflossen, genoss das Projekt die Unterstützung der FRELIMO-Partei.75 Eine Erklärung dafür bietet Cross (2011), der das Projekt FACOTRAV machtpolitisch auslegt und es mit staatlicher Elitenförderung in Zusammenhang bringt. Er weist darauf hin, dass das Vorhaben als ein Schritt der FRELIMO weg von einem ursprünglich egalitär gedachten Bildungssystem gewertet werden könne. Neben den Spezialschulen für Kinder von FRELIMO-Mitgliedern, sei die FACOTRAV eine weitere Säule der gezielten Elitenförderung gewesen, so Cross (2011: 77f.). Anders interpretiert Johnston (1990) die Hochschulpolitik der FRELIMO. Johnston zufolge hatte die Schaffung von vor-universitären Einrichtungen für bildungsferne Bevölkerungsschichten und die Anwendung von sozialen Kategorien bei der Kaderförderung auch einen gegenprivilegierenden Charakter. So sollte gerade die gezielte Ausbildung von revolutionären Kadern, u.a. an der FACOTRAV, einer Reproduktion von kolonialen Verhältnissen (u.a. in Form von Bildungseliten) entgegengewirkt werden. (Johnston 1990: 303f.) Beide Deutungen der mosambikanischen AF scheinen einleuchtend, denn historische Versuche einer gegenprivilegierenden Hochschulpolitik wurden von ähnlichen Widersprüchen begleitetet. Beispielsweise gehörten sowohl »Bildungschancen für alle«, als auch ideologisch bestimmte »Klassenauslese«, zum Kern der sowjetischen Hochschulpolitik (Anweiler 1967: 117). Und auch im Falle der russischen Rabfak befanden sich »egalitärdemokratischen« und »proletarisch-revolutionären« Zielsetzungen bisweilen miteinander in Konkurrenz (ebd.: 118). Die Hervorhebung der ehemaligen Unabhängigkeitskämper*innen als Zielgruppe der FACOTRAV allerdings weist zusätzlich darauf hin, dass Bildungsgerechtigkeit im mosambikanischen Kontext v.a. die Überwindung eines kolonialen Erbes bedeutete. 74 Als unorthodox können hier pädagogische Ansätze gelten, welche nicht dem offiziellen staatssozialistischen Kanon entsprachen, der von DDR-Kooperanten oder von FRELIMO-nahen Lehrkräften vertreten wurde. 75 Vgl. Interview Lissabon, Maputo, Rostock 2014.
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Noch gegenwärtig, und obwohl sich das Land längst nicht mehr auf einem sozialistischen Entwicklungsweg befindet, werden ehemalige Kämpfer*innen mit besonderen Bildungsmöglichkeiten bedacht. 76 In diesem Sinne kann die FACOTRAV auch als symbolpolitischer Beitrag zur postkolonialen Hochschulentwicklung des Landes gedeutet werden. Abschließend fällt es (mir) schwer, eine Bewertung der FACOTRAV entlang der in der Einleitung des Sammelbandes (Engelmann/Pfützner i.d.B.) entworfenen Kriterien einer ›Sozialistischen Pädagogik‹ zu entwickeln. Aktuell Maßstäbe, wie die Forderung nach »queerer Gleichheit« sind nur bedingt auf die historische Erfahrung der FACOTRAV übertragbar, da derartige Kriterien damals nicht vordergründig waren. 77 Die im sozialistischen Mosambik betriebene Gegenprivilegierung von Arbeiter*innen an der UEM war nicht unbedingt ›queer‹ im Sinne der Herausgeber angelegt. Auch verwandte Forderungen, wie die nach einer ›interkulturelle Öffnung‹, wurde nicht in dem heute üblichen Sinne mitgedacht. Vielmehr zielte die sozialistische Bildungspolitik nach der Unabhängigkeit primär auf den Aufbau eines multiethnischen Nationalstaates unter Führung der FRELIMO-Partei. Kategorien von Gleichheit und Brüderlichkeit waren darin sicherlich impliziert, doch blieben diese eben eher zweitrangig im Verlauf des vonseiten der FRELIMO-Partei anvisierten und durch Bürgerkrieg unterminierten Staatsaufbaus. Dennoch scheinen in diesem Zeitrahmen Spuren einer »transversalen Solidarität« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 33ff.) auf zwischenmenschlicher Ebene und in der Praxis des internationalen Kollegiums an der FACOTRAV spürbar gewesen zu sein. In diesem Sinne stellte die FACOTRAV tatsächlich einen kommunikativen Ort dar, an dem die sozialistische Zukunft der mosambikanischen Universität mitentworfen, gemeinsam ausprobiert und schließlich verworfen wurde.
76 Vgl. Art. 22 und 23 des Gesetztes über die Rechte und Pflichten der ehemaligen Kämpfer*innen vom 10. August 2011 (Lei n.° 16/2011). 77 Zur Diskussion der ggfs. kolonialen Färbung von Gender-Aspekten in Mosambik vgl. Arnfred 2014: 185ff.
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Marxistische Pädagogik Ein historisch-systematischer Abriss D ANIEL B URGHARDT & T HOMAS H ÖHNE
E INLEITUNG Sozialistische Erziehungs- und Bildungskonzepte stehen in einer Traditionslinie mit der materialistischen Pädagogik, deren Wurzeln wiederum in der von Karl Marx vorgenommenen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft liegen. Dieser historische Bezugsrahmen weist darauf hin, dass erst eine umfassende Auseinandersetzung mit Marx und der sich auf ihn berufenden Erziehungswissenschaft, eine sinnvolle Diskussion über Sozialismus und Pädagogik ermöglicht. Wirft man einen Blick auf akademische Disziplinen wie Politikwissenschaft, Geographie oder Soziologie fällt unweigerlich auf, dass es inzwischen auch im deutschsprachigen Raum relevante kapitalismuskritische Debatten und theoretische Neuvorschläge gibt. Dagegen kann in der Pädagogik, abgesehen vom Schlagwort der ›Ökonomisierung‹, von einer Leerstelle gesprochen werden, wenn nach dem gegenwärtigen Stand ›marxistischer‹ oder ›materialistischer Pädagogik‹ gefragt wird. Indes blickt auch die Pädagogik auf eine lange materialistische Tradition zurück. So wird gemeinhin die Linie der Kritischen Erziehungswissenschaft als Hauptströmung der Pädagogik in den 1970er und 80er Jahren begriffen. Mit dem Ende des sog. Realsozialismus und den Abgesängen auf das Ende der Geschichte (Fukuyama) gerieten aber auch diese Ansätze in eine Legitimationskrise, so dass wir uns heute mit einer im alternativlosen Gewand auftre-
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tende kompetenzorientierte Output-Pädagogik konfrontiert sehen. Umgekehrt gibt es in den letzten Jahren eine verstärkte Auseinandersetzung mit Kapitalismuskritik auf Basis der Kritik der politischen Ökonomie. Davon zeugen nicht nur die (Wieder-)Entstehung von Kapital-Lesekreisen in selbstorganisierten Kontexten, sondern auch die ansteigende Zahl von Einführungen und Lesehilfen in die Kritik der politischen Ökonomie. Es ist wohl nicht übertrieben von einer kleinen Marxrenaissance zu sprechen. Der folgende Beitrag versucht sich in einer historisch-systematischen Einordnung der pädagogischen Marx-Rezeption (vgl. dazu auch: Burghardt 2018). Dabei gehen wir davon aus, dass von Sozialistischer Pädagogik nur vor einem materialistisch fundierten Hintergrund gesprochen werden kann. Dagegen tendieren die in der Einleitung zu diesem Band aufgeworfenen Fragen nach einem Sozialismus im Kapitalismus oder einem transmarxistischen Standpunkt dazu, die immanenten und verselbstständigten Bewegungstendenzen des Kapitalismus samt ihrer gesellschaftlichen Grundlagen zu unterschlagen. Erst die Klärung der materialistischen Basiskategorien schafft unseres Erachtens die Voraussetzung dafür eine wie auch immer ausgestaltete ›sozialistische Ethik‹ praktisch werden zu lassen. Vor diesem Hintergrund entfalten wir die Sozialistische Pädagogik als Teilgeschichte der Geschichte des Marxismus. Hierfür werden zunächst exemplarisch einige bildungstheoretische Gedankengänge von Marx vorgestellt, dann sollen pädagogische Theorien und Konzeptionen der Sozialistischen Pädagogik, die hauptsächlich zum Traditionsmarxismus zu zählen wäre, sowie materialistische Bildungstheorien, die in den Umkreis des westlichen Marxismus gehören skizziert werden. Beschlossen wird der Beitrag mit einer Skizze der pädagogischen Relevanz der ›Neuen Marx-Lektüren‹ und einem Ausblick.
1. M ARX : B ILDUNG UND REVOLUTIONÄRE P RAXIS Marx selbst hat bekanntlich keine eigene Erziehungs- oder Bildungstheorie entwickelt. Jedoch zeigt die Marxsche Theorie, inwiefern die Pädagogik in ein soziales Reproduktionsverhältnis gesetzt ist und durch die Aufgabe der Bildung und Erziehung von Individuen als Träger der gesellschaftlichen Praxis bestimmt wird (vgl. dazu Bernhard 2016; Schmied-Kowarzik 1983; Schmied-Kowarzik 1988; Schmied-Kowarzik 2007; Sünker 2012).
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Marx erkannte in der menschlichen Arbeit denjenigen Prozess, durch den sich der Mensch in der Auseinandersetzung mit der Natur selbst hervorbringt, jedoch in entfremdeter Form. In seinen ökonomischen Schriften zeigt Marx die Verkehrungslogik der kapitalistischen Produktionsweise auf, die sich mittels gesellschaftlicher Formbestimmtheit selber reproduziert. Durch die grundlegende Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln produzieren und reproduzieren die Menschen bewusstlos ökonomische, soziale und kulturelle Beziehungen, die wiederum auf die handelnden Individuen zurückwirken. So »erscheinen die Produktivkräfte als ganz unabhängig und losgerissen von den Individuen, als eine eigene Welt neben den Individuen, was darin seinen Grund hat, daß die Individuen, deren Kräfte sie sind, zersplittert und im Gegensatz gegeneinander existieren, während diese Kräfte andererseits nur im Verkehr und Zusammenhang dieser Individuen wirkliche Kräfte sind. Also auf der einen Seite eine Totalität von Produktivkräften, die gleichsam eine sachliche Gestalt angenommen haben und für die Individuen selbst nicht mehr die Kräfte der Individuen, sondern des Privateigentums [sind], und daher der Individuen nur, insofern sie Privateigentümer sind.« (MEW 3: 67)
Auch wenn die emanzipatorische Zielperspektive einer vollständigen Entwicklung aller menschlichen Fähigkeiten durch das Gesamtwerk hinweg konstant bleibt, schreibt Marx der Erziehung v.a. in seinen frühen (humanistischen) Schriften, in der Durchbrechung dieser Logik, eine zentrale Aufgabe zu (vgl. Seddon 1995). Insofern die arbeitsteilige Trennung von Kopf und Handarbeit ebenso wie die gesellschaftliche Klassenhierarchie in der Schule angelegt ist und reproduziert wird, besteht die Marxsche Figur einer polytechnischen Bildung darin diesen Trennungsformen entgegenzuarbeiten. Prominent heißt es in der dritten Feuerbachthese: »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss […]. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.« (MEW 3: 5f.)
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Seitdem kreisen die marxistischen Erziehungsdebatten um die Frage, inwiefern die Erziehung bloßer Bestandteil und gleichzeitig Voraussetzung zur Durchbrechung der bürgerlichen Verkehrungslogik sei. Dabei ist die gesellschaftliche Entwicklung ebenso auf die individuellen Kräfte angewiesen, wie diese durch die Formgestalt der Gesellschaft bedingt oder produziert sind. Movens der Entwicklung sind für Marx die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Einzelnen im kollektiven Rahmen: »Die verschiedene Gestaltung des materiellen Lebens ist natürlich jedesmal abhängig von den schon entwickelten Bedürfnissen, und sowohl die Erzeugung wie die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist selbst ein historischer Prozeß […].« (Ebd.: 71)
In dieser Dialektik kann individuelle Selbstveränderung nur im Zusammenwirken mit einer grundlegend gesellschaftlichen Umwälzung erreicht werden, welche als »revolutionäre Praxis« gefasst wird. Selbstveränderung und Veränderung der Verhältnisse sind also miteinander verzahnt. Weder ist die Gesellschaft bloß vom Individuum und dessen Bewusstsein her zu denken, noch sind die Individuen allein von der Gesellschaft bestimmt: »[W]ie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert.« (MEW 40: 537) Ohne Erziehung und Bildung kann kein Bewusstsein gegen die verselbständigten Verhältnisse entwickeln werden. Diese zu durchbrechen setze eine Klasse voraus, »von der das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution […] ausgeht« (MEW 3: 69). Ferner vertraute Marx darauf, dass die Zuspitzung der kapitalistischen Produktionsentwicklungen, neben einer wachsenden Verelendung auch eine zunehmende Einsicht in die Notwendigkeit einer gesellschaftsverändernden Praxis führe: »In der gegenwärtigen Epoche hat die Herrschaft der sachlichen Verhältnisse über die Individuen, die Erdrückung der Individualität durch die Zufälligkeit, ihre schärfste und universellste Form erhalten und damit den existierenden Individuen eine ganz bestimmte Aufgabe gestellt. Sie hat ihnen die Aufgabe gestellt, an die Stelle der Herrschaft der Verhältnisse und der Zufälligkeit über die Individuen die Herrschaft der Individuen über die Zufälligkeit und die Verhältnisse zu setzen.« (Ebd.: 424).
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Vor diesem Hintergrund zielen die subjektiven Grundbegriffe der Marxschen Bildungstheorie wie Mündigkeit, Emanzipation und Solidarität immer auch auf die objektive Aufhebung gesellschaftlicher Herrschaftsformen. Für eine an Marx anschließende sozialistische Pädagogik bedeuten Mündigkeit, Solidarität und Emanzipation daher Leitziele, die dem Bildungsbegriff mehr abverlangen, als bloße individuelle Selbstständigkeit oder blindes Kollektivverhalten. Mündigkeit setzt eine materialistische Kritik an der kapitalistischen Vergesellschaftungs- und Herrschaftsform voraus und kann sich deshalb nur gesellschaftlich verwirklichen. Emanzipation meint »menschliche Emanzipation« (MEW 1: 370), ohne Rücksicht auf Status, Klasse oder Herkunft. Das Ideal der Bewegung des mündigen Bewusstwerdens durch einen solidarischen Zusammenschluss bezeichnet Marx schließlich als Kommunismus: Und dieser drückt sich nach dem Prinzip aus: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (MEW 19: 21). (vgl. MEW 3: 33ff., 70ff.; MEW 40: 533ff.).
2. S OZIALISTISCHE P ÄDAGOGIK Historisch setzten die ersten materialistischen Erziehungstheorien Ende der 1880er Jahre, u.a. mit der proletarischen Frauenbewegung, ein um im Zuge der reformpädagogischen Bewegung in den 1910er und 1920er Jahren zu expliziten Konzepten sozialistischer Pädagogik ausgebaut zu werden (vgl. Pfützner 2017). Die sozialistische Pädagogik stellt einen ersten Versuch dar, an das uneingelöste Vermächtnis der bürgerlichen Gesellschaft von Freiheit, Gleichheit und Solidarität anzuknüpfen und dieses gegen den Kapitalismus zu verteidigen (vgl. dazu Becker 1984, Suchodolski 1974). Viele der Ansätze waren zwischen einem Traditionsmarxismus und einer undogmatischen (westlichen) Marxauffassung angesiedelt: So tauchen in den einzelnen Konzepten explizit und implizit Auffassungen einer deterministischen Geschichtsentwicklung auf, an deren Ende die klassenlose Gesellschaft stehe. Der Analogieschluss von historischen bzw. gesellschaftlichen Zusammenhängen und Naturgesetzlichkeiten lieferte Vorschub für einen parteidoktrinären Sozialismus, wonach diese Gesetze nur noch planmäßig verwaltet und angewandt werden müssten. Die Pädagogik markiert darin eine beschleunigende Gehilfin der Entwicklung. Vor diesem Hintergrund
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schien es gewissermaßen naturnotwendig, dass das Proletariat die entfremdeten Verhältnisse durchschauen würde. Dieser revolutionsmetaphysische Automatismus der Befreiung ging schließlich oftmals staatsideologisch mit dem Sozialismus als historisches Entwicklungsstadium und der Utopie einer kommunistischen Gesellschaftsform als geschlossene Weltanschauung zusammen. Andererseits fanden in einzelne Strömungen der Pädagogik auch undogmatische Positionen Einlass: So arbeiteten vor allem Adler und Bernfeld eindrucksvoll die Möglichkeiten und Grenzen der Erziehung im Kapitalismus heraus. Allgemein reichte die konkrete sozialistische Pädagogik von den Analysen zu den sozialen Bedingungen und dem revolutionären Potential proletarischer Kinder (Rühle, Kanitz, Löwenstein, Hoernle), über eine z.T. psychoanalytisch fundierte Erarbeitung einer geschichtsmaterialistischen Grundlage der Pädagogik (Bernfeld, Siemsen, Specht, Adler, Reich) bis hin zu der Rolle der proletarischen Frau im Sozialismus (Zetkin). In den meisten dieser Ansätze war die praktische Zielsetzung der Pädagogik mit einer sozialistischen Gesellschaftsform verknüpft. Charakteristisch war die Einnahme des Standpunkts der Arbeiterklasse, die Annahme eines daraus resultierenden gemeinsamen Interesses und die Fragen nach dem sozialen Ort der Erziehung, die wiederum mit einer Kritik der klassischen Familienerziehung korrespondierte. Darüber hinaus zeichnet viele Ansätze eine gewisse Nähe zu Feldern der heutigen Sozialpädagogik, sowie der Rückgriff auf die Frühsozialisten, als deren pädagogisch relevanteste Vertreter Charles Fourier und Robert Owen gelten können, aus. Vor allem Owens Versuche mit genossenschaftlich organisierten Gemeinschaftsformen, sei es in der Fabrik oder in Siedlungskonzeptionen, dem Kapitalismus entgegenzutreten können als ein sozialistisches Bildungsarrangement bezeichnet werden (vgl. Bach 2016). Auch die internationale Strahlweite (real-)sozialistischer Erziehungskonzepte war groß und reichte von den Gorki-Kolonien Makarenkos über die reformpädagogisch orientierte Freinet-Pädagogik bis zur KibbuzBewegung. Nicht zuletzt ist das demokratische Erziehungsideal John Deweys von sozialistischen Ideen beeinflusst (vgl. Schmied-Kowarzik 1988: 20ff.). Im Zuge der 1968er Bewegung entwickelten viele der antiautoritären Erziehungskonzepte ein sozialistisches Selbstverständnis, was sich in informellen Schüler- und Studentengruppen sowie in der Kinderladenbewegung auszudrücken begann. Angriffsfläche bot dabei vor allem die klein-
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bürgerliche Gesellschaft der Nachkriegszeit und deren autoritäre Erziehungsformen. Theoretisch entwickelte sich eine Analyse der politischen Ökonomie des Ausbildungssektors (Altvater und Huisken) und eine Ideologiekritik des Curriculums bzw. der allgemeinen und fachspezifischen Didaktik. In einem der wenigen aktuellen Beiträge wird gegen jede Form eines vergangenen oder noch existierenden realen Sozialismus diskutiert, inwiefern Sozialistische Pädagogik explizit gemacht werden muss bzw. ob diese nicht immer schon dann implizit abläuft, sobald es um eine gemeinsame Form der Selbstbestimmung geht. Folgen wir Winkler/Pfützner/PaulSiewert (2016) greifen in Zeiten der kapitalistischen Krise und einer daraus resultierenden Abstiegsgesellschaft (Nachtwey 2016), solidarische Formen der Selbstverwaltung und Erziehung immer auch auf sozialistische Ideen zurück. Daher könne die Praxis sozialistischer Pädagogik, so die These, »auf einen politischen Begriff von Sozialismus verzichten« (Winkler/Pfützner/Paul-Siewert 2016: 19).
3. M ATERIALISTISCHE B ILDUNGSTHEORIEN DES WESTLICHEN M ARXISMUS 3.1 Westlicher Marxismus Als Kritik an den zentralen Dogmen der orthodoxen Tradition ging der westliche Marxismus ab den 1920er Jahren aus dem Zerbrechen der Zweiten Internationalen, dem Erstarken faschistischer Kräfte und dem Scheitern der Revolutionen in Mittel- und Südeuropa hervor. Diese Strömung kann auch als Versuch betrachtet werden Marx vor dem Parteimarxismus zu retten. Vor diesem Hintergrund wurde vor allem auf den humanistischen und anthropologischen Marx rekurriert, was diese Strömung vor allem für bildungstheoretische Überlegungen anschlussfähig machte (vgl. Behrens/ Hafner 2017). Gegen die Ökonomisierungstendenzen des Traditionsmarxismus bildete nun Marx’ humanistisches Frühwerk den Deutungshorizont für sein ökonomisches Hauptwerk – eine Unterscheidung die im Anschluss an Althussers strukturalistische Marxlektüre vorgenommen wurde (vgl. Elbe 2008). Unter den westlichen Marxismus werden recht heterogene Theoretiker und Schulen wie Lukács und Korsch, die Kritische Theorie um
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Horkheimer und Adorno, aber auch Gramsci, Sartre, Althusser, Lefebvre u.a. subsumiert. Namentlich Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein gilt als Gründungsdokument des westlichen Marxismus. Gemeinsam ist allen Theorien eine Wendung auf das Subjekt sowie ein grundlegend gesellschaftheoretischer Pessimismus bzw. ein gebremster Optimismus hinsichtlich der geschichtlichen Verwirklichungstendenzen revolutionärer Praxis. Von der Kritischen Theorie wurde in der Wahrnehmung des Hegelschen Erbes im Marxismus dieser um eine kulturtheoretische und psychoanalytische Dimension erweitert. Diese brachte gegen eine geschichtsdeterministische Marxauffassung die Ideologiekritik als Methode in Stellung. In der Pädagogik entwickelte sich schließlich ab den 1960er Jahren eine zum Teil auf der Folie des westlichen Marxismus aufbauende kritische Erziehungswissenschaft (Mollenhauer, Blankertz, Klafki u.a.) sowie eine kritisch-materialistische Bildungstheorie (Adorno, Heydorn, Koneffke, Gamm u.a.). Im Folgenden werden drei Zugänge zu materialistischen Bildungstheorien vorgestellt, die einmal in unausgesprochener, einmal in expliziter Nähe zueinander am Begriff der Bildung, als humanistischen Widerpart zur Herrschaft, festhalten. Für Adorno, Heydorn und Koneffke bildet die Marxsche Praxisphilosophie jeweils der Fluchtpunkt von Bildung: 3.2 Adorno In seiner Theorie der Halbbildung überträgt Adorno seine Kritik an der Allgegenwart der Kulturindustrie subjekttheoretisch auf den Bereich der Bildung (vgl. Schäfer 2004: 35). Den Bildungsbegriff definiert er »als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung« (Adorno 2003: 94). In Adornos bildungstheoretischer Zeitdiagnose wird in der vorherrschenden Halbbildung ein deformierter Bewusstseinszustand erkannt, welchen Adorno mit Marxschem Vokabular als eine Erscheinungsform des »vom Fetischcharakter der Ware ergriffene[n] Geist« (ebd.: 108) bezeichnet. Die Form der Halbbildung verlangt dem Individuum nur noch ein Minimum ab. Damit vereint sich Bildung mit dem kollektiven Narzissmus des Verfügens, des Mitredens und des Dazugehörens. Das Selbstverständnis von Halbbildung definiert sich über Distinktionsstrategien. »[D]as allseitige Bescheidwissen immer zugleich auch ein Besserwissen-Wollen« (ebd.: 116). Es reicht bereits, aus gutem Hause zu kommen, eine höhere Schule besucht zu
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haben oder diverse Buch-, Musik und Filmrankings richtig wiedergeben zu können, um sich ex negativo durch ein unablässiges: »Wie, das wissen Sie nicht?« (ebd.: 118) zu charakterisieren. »Der Halbgebildete betreibt Selbsterhaltung ohne Selbst.« (Ebd.: 115) Somit ist Halbbildung nicht etwa schon die halbe Bildung, sondern gewinnt keine Distanz mehr zu den Gegenständen, indem sie mit deren Warenförmigkeit verschmilzt. Herrschaft wird von der Kritischen Theorie als Herrschaft des Identifikationsprinzips begriffen, die sich im Prinzip des Warentauschs zeigt, wenn die besonderen Tätigkeiten der Menschen, durch abstrakte Arbeitszeit identifiziert, vergleichbar gemacht werden. Zielte die neuhumanistische Konzeption der Geistesbildung noch auf Mündigkeit, begreift Adorno den aktuellen Zustand als eine Form der kollektiven Entmündigung. Vor diesem Hintergrund leuchtet es ein, wenn Adorno das pädagogische Thema der Bildung unter Bedingungen der Halbbildung nicht mehr dem Bereich der Pädagogik zuordnet. Halbbildung ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen – Adorno spricht auch von Wahn –, das sich zu großen Teilen im Unbewussten abspielt und von der kapitalistischen Gesellschaft selbst reproduziert wird. »Halbbildung [ist] tendenziell unansprechbar: das erschwert so sehr ihre pädagogische Korrektur« (ebd.: 119). Gleichwohl hält Adorno dialektisch am traditionellen Begriff der Bildung fest. »Taugt jedoch als Antithese zur sozialisierten Halbbildung kein anderer als der traditionelle Bildungsbegriff, der selber zur Kritik steht, so drückt das die Not einer Situation aus, die über kein besseres Kriterium verfügt als jenes fragwürdige, weil sie ihre Möglichkeit versäumte. Weder wird die Restitution des Vergangenen gewünscht, noch die Kritik daran im mindesten gemildert.« (Ebd.: 102)
Im traditionellen Bildungsbegriff ist das uneingelöste Versprechen »eines Zustands der Menschheit ohne Status und Übervorteilung« (ebd.: 97) aufgehoben. Indes gerät Bildung durch ihre sozialbefreite ›Reinheit‹ zur Ideologie. Dennoch ist nach Adorno mit Blick auf den Bildungsbegriff der »Anachronismus an der Zeit: an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog. Sie hat aber keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig
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wurde« (ebd.: 121). – Ein Faden der von Heydorn wieder aufgegriffen wird. 3.3 Heydorn In seinem Hauptwerk Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft und der Studie Zur Neufassung des Bildungsbegriffs entwickelt Heydorn einen dialektischen Bildungsbegriff, der die Widersprüche pädagogischer Praxis in ihrer Verwobenheit mit Herrschaft aufzeigt, ohne diese zugleich als affirmativ gänzlich zu negieren. Dadurch erhält Bildung eine doppelte Funktion: Sie dient der Reproduktion der Gesellschaft und trägt gleichzeitig durch ihr unverfügbares Moment eine emanzipative Potenz der Befreiung in sich: »Bildung ist der große Versuch […], den Menschen zum Menschen zu begaben; er muss nicht gelingen (Heydorn 2004a: 282). Geschichtsphilosophisch folgt für Heydorn der universellen Ausbreitung der Technik die Universalisierung des Menschen nach: Unter Rückgriff auf Bildungskonzepte von Comenius, Kant oder Humboldt arbeitet Heydorn in nuce den Widerspruch von Bildung als ökonomischem Herrschaftszweck und eine gleichzeitige Freisetzung von Widerstandspotentialen heraus, der schließlich auf materialistischer Basis als das Auseinandertreten von Produktivkraftentwicklung und Bewusstseinsbildung dargestellt wird. Im Anschluss an den polytechnischen Allgemeinbildungsgedanken von Marx, erkennt Heydorn im Begriff der Bildung einen Widerspruch, oder wenigstens ein Widerspruchspotential, zur Herrschaft: »Mit der Marxschen Bildungstheorie sind alle Kategorien entwickelt, um das Verhältnis von Bildung und Herrschaft aufzudecken.« (Ebd.: 149) Zur Dialektik von Bildung gehört, dass sie selbst widersprüchlich innerhalb der bürgerlichen Herrschaftsform ist und gerade daraus ein Widerstandspotential entwickelt. Bezogen auf die Industrialisierung konstatiert Heydorn: »Indem die Großindustrie stetig gebildetere Arbeiter fordern muss, da nur sie den sich unaufhörlich verändernden Bedingungen des Produktionsprozesses gewachsen sind, gerät sie in einen tödlichen Widerspruch. Sie muß die Bildung der Massen heben und ihr Bewußtsein zur gleichen Zeit paralysieren. In diesem Widerspruch liegt der revolutionäre Bildungsansatz.« (Ebd.: 143)
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Im 20. Jahrhundert bemächtigt sich die spätkapitalistische Gesellschaft, nicht zuletzt durch die technische Entwicklung, in einem noch nie dagewesenen Ausmaß der Bildung. Sie benötigt diese zur Herrschaftssicherung und trägt gleichzeitig ihre eigenen Widersprüche in die Bildung hinein. Angesichts der Bildungsreform der frühen Siebziger Jahre ging Heydorn noch davon aus, dass die Verwertungszwänge im Bildungswesen ihre eigene Negation erzeugen: Die Rationalisierung der Bildung in allen Feldern der Pädagogik – andere Beispiele bilden die Curriculumsrevision oder die Gesamtschulreform – legt auch deren emanzipatorisches Potential frei. Im Unterschied zur Kritischen Theorie Adornos ist Heydorns Denken von einer optimistischen Haltung getragen, deren Zielperspektive dadurch bestimmt ist, dass »das Individuum nur mit allen oder überhaupt nicht mündig werden kann« (Heydorn 2004b: 63). So spricht Heydorn der Pädagogik grundsätzlich zu, dass sie ihrem Selbstverständnis nach auf Mündigkeit ausgerichtet sei, denn diese wird von ihm als Grund und Zweck der Bildung begriffen. Anhand der Genese von Mündigkeit, lässt sich darstellen, wie dieser mit dem Aufstieg des Bürgertums in seine historische Rolle gesetzt wurde, indem er für radikale Selbst- und Weltaufklärung stand. Dabei reichen die Wurzeln des Begriffs bis in die Antike zurück: »Mündigkeit bindet sich an die erste Erweckung der Rationalität, an den anhebenden Versuch, den Menschen aus seiner mythischen Verhaftung zu entlassen« (ebd.: 56). Indes ist die ›unerbittliche Rationalität‹ ist durch ihre spätere Harmonisierung zugedeckt worden. Heydorn erkennt im Schicksal des bürgerlichen Mündigkeitsversprechens parallelen zur Entwicklung des Subjekts. Beide geraten vor dem Hintergrund der marktförmigen Verfügung in die Mechanismen der bloßen Persönlichkeitsbildung. Bildete einst die ökonomische Freiheit die Voraussetzung einer historischen, sieht Heydorn nun beide Formen durch den Kapitalismus verstellt. Mündigkeit bleibt damit die zentrale Kategorie für eine emanzipatorische Bildung: Sie ist Gegenstand und Maßstab der Kritik. 3.4 Koneffke Ebenso wie Heydorn entwickelt Koneffke seine Kritische Theorie der Bildung explizit vor dem Hintergrund der Kritik der politischen Ökonomie weiter. Auch philosophisch rekurriert Koneffke auf eine sich selbst vergewissernde Vernunft, die sich erst mit der Aufklärung begründet hat. Die
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pädagogische Zielbestimmung ist seitdem vor allem durch den Begriff der Mündigkeit ausgedrückt. So ist jede materialistische Bildungstheorie zwar auf die Kenntnisse der Kritik der politischen Ökonomie angewiesen, ein ›Grundlagentext‹ sei aber Das Kapital für eine pädagogische Theoriebildung nicht. Eine materialistische Pädagogik begründet sich gerade nicht aus der bloßen Kritik des Kapitalismus heraus, sondern aus der Selbstbefreiung der Menschen, wie sie als Versprechen in der bürgerlichen Gesellschaft mitangelegt war und welches diese zugleich sabotiert: »Die bürgerliche Gesellschaft ist schon die Gesellschaft der Mündigen, aber – wie Bloch sagen würde – sie hat sich noch nicht« (Koneffke 2006: 42). Danach betreibe Marx’ Analyse »die proletarische Wiederherstellung der subversiven Funktion, die das Bildungswesen als bürgerliches von Anfang an hatte« (Koneffke 1969: 414). Denn im Bildungswesen hat der Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft seinen verwundbarsten Punkt, da in diesem die Mündigkeitspotentiale der Subjekte nie dermaßen in Gänze durchgestrichen werden können, wie etwa in der Fabrik, dem Hospital, der Psychiatrie usw. Gleichwohl betont Koneffke, dass das demokratische Bildungswesen nie weiter davon entfernt war, »die subjektiven Voraussetzungen zur humanen Überwindung des gesellschaftlichen Status quo zu vermitteln« (ebd.: 418). Indem er festhält, inwiefern gerade der demokratische Schein des Schulwesens eine integrierende Nivellierung und Entintellektualisierung subversiver Ansätze bewirkt, baut der Ansatz Koneffkes eine Brücke zwischen Marxistischen und gouvernementalen Ansätzen, die mit Foucault versuchen das Bildungswesen zu analysieren. So hat sich vor dem Hintergrund neoliberaler beziehungsweise postfordistischer Arbeitsverhältnisse die unbegriffene Herrschaft des Wertgesetzes tief in die Subjekte eingenistet. Jedoch kann eine materialistische Pädagogik auf dieser Ebene nicht stehen bleiben. Denn der subjektive Anspruch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum wird vom objektiven Zwang der Kapitalakkumulation in Ungleichheit und neue Abhängigkeit verkehrt.
4. N EUE M ARX -L EKTÜRE
UND
W ERTKRITIK
Die am Anfang angesprochene Marx-Renaissance hat ihren maßgeblichen Bezugspunkt jedoch nicht im ›Westlichen Marxismus‹, sondern bezieht sich vorwiegend auf die sogenannte ›Neue Marx-Lektüre‹. Der Begriff
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wurde von Hans-Georg Backhaus, neben Helmut Reichelt einer der Begründer der ›Neuen Marx-Lektüre‹, in den 1970ern eingeführt. Ihre neueren Vertreter wie Michael Heinrich, dessen Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie nach der Erstauflage 2004 derzeit in der 13. Auflage erschienen ist, stehen zudem für eine Marxinterpretation, die ähnlich wie der strukturalistische Marxismus Althussers die philosophischen Grundlagen des Marxschens (Früh)Werkes nicht als Voraussetzung für dessen Verständnis auffassen (vgl. Heinrich 2005). Das Zentrum des Zugangs bildet die Kritik der politischen Ökonomie und im Besonderen die Formanalyse der Ware, wie sie im Fetischkapitel entfaltet wird. Dabei wird vor allem auf den Zusammenhang von Ware, Geld und Kapital abgehoben. Dies hat Konsequenzen für den Begriff von Gesellschaft, da der Nachweis des notwendigen Zusammenhangs von Ware und Geld auf eine Form der Vergesellschaftung hinweist, die sachlich vermittelt ist und sich somit der Kontrolle der Akteure (weitestgehend) entzieht. Im Fokus steht also weniger das Klassenverhältnis von Produktionsmittelbesitzern und Lohnabhängigen, sondern die sich im Geld darstellende Kategorie des Werts, durch welchen sich die voneinander isolierten Warenproduzenten als Konkurrenten aufeinander beziehen. Aus diesem Strukturverhältnis verselbstständigen sich die ökonomischen Verkehrsformen wie Geld, Kapital oder Mehrwert gegenüber den Akteuren. Für die Pädagogik ergeben sich mit der Fokussierung auf die ökonomischen Formbestimmungen und der damit einhergehenden Betonung der verselbstständigten Struktur des Kapitalismus erst einmal kaum greifbare Anschlüsse. Schmied-Kowarzik (2010) spricht hinsichtlich der Fokussierung auf das Marxsche Spätwerk von der Misere aktueller Marxinterpretation, da er es für unmöglich erachtet, Marx nur von der Kritik der politischen Ökonomie her zu verstehen. Nichtsdestotrotz muss es als Verdienst der Neuen MarxLektüre angesehen werden, dass sie gegenüber einer moralisierenden Kapitalismuskritik gerade auf die Sachlogik kapitalistischer Vergesellschaftung insistiert. »Die Menschen machen sich – als Personifikation der Lohnarbeit wie des Kapitals – zum Mittel der Verwertung des Werts, welche keinen anderen Zweck hat als eben diese Verwertung« (Heinrich 2012: 39). Mit dem Verständnis der Selbstverwertung des Werts als einem verselbständigten Prozess der »Personifizierung der Sache und Versachlichung der Person« (MEW 23: 128) bezieht sich Heinrich auf die Marxsche Wendung
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vom »automatischen Subjekt«, um die kapitalistische Warenproduktion zu charakterisieren. Das Verständnis, dass es sich beim Kapital um ein »automatisches Subjekt« handelt, wird auch von den VertreterInnen der sogenannten Wertkritik geteilt. Die Wertkritik geht auf die Arbeiten der Gruppe ›Krisis‹ zurück, deren prominentester Vertreter der 2012 verstorbene Theoretiker Robert Kurz war. Sie fasst das Kapitalverhältnis als eine gesellschaftliche Maschine auf, als »ein kybernetisches System der Verwertung des Werts oder ein ›automatisches Subjekt‹ (Marx), in dem es keine unabhängigen Produzenten mehr gibt, sondern nur noch verschiedene soziale Funktionskategorien des systemisch geschlossenen Verwertungsprozesses, der unaufhörlich und auf stetig erweiterter Stufenleiter abstrakte menschliche Energie (‚Arbeit‹) in Geld verwandelt.« (Kurz/Lohoff 1998)
Die Nähe zur ›Neuen Marx-Lektüre‹ wird hier deutlich, zumal auch für die WertkritikerInnen die Wertformanalyse als zentraler theoretischer Bezugspunkt ihrer Marxinterpretation fungiert (vgl. Lohoff 2013: 21). Grundlegende Differenzen finden sich dagegen in der krisentheoretischen und fundamental arbeitskritischen Ausrichtung der Wertkritik. Hier lassen sich allerdings Anschlüsse an eine materialistische Pädagogik herstellen. So spricht Erich Ribolits in seinem Buch Die Arbeit hoch? Berufspädagogische Streitschrift wider die Totalverzweckung des Menschen im Postfordismus (1997) der Pädagogik nicht nur einen großen Anteil an der Idealisierung der Arbeit zu, sondern sieht »die Geschichte des neuzeitlichpädagogischen Denkens […] untrennbar verbunden mit der sich seit Ende des Mittelalters herausbildenden Veränderung des Stellenwerts der Arbeit im Bewusstsein des Menschen« (ebd.: 23). Die kultische Überhöhung der Arbeit, das »krampfhafte Festhalten am Arbeitsfetisch« (Ribolits 2000: 119) gerät in den Fokus der materialistischen Kritik. Dabei stuft Ribolits den Anteil den die wissenschaftliche Pädagogik an der Errichtung des Arbeitsfetischs hat als immens ein. »Nur über den Zwischenschritt einer pädagogischen Anthropologie, die mit der Behauptung, dass der Mensch sich über die Arbeit verwirklicht, die Frage nach einer übergeordneten Begründung menschlichen Tuns weitgehend exekutiert hatte, war es
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möglich, dass die Arbeit eine so zentrale Stellung in der menschlichen Existenz einnehmen konnte.« (Ribolits 1997: 51)
In seinen neueren Texten und seinen Lehrveranstaltungen zeigt Ribolits wie sich eine kritisch-materialistische Pädagogik hinsichtlich veränderten Formen der Arbeitskraftverwertung auch mit poststrukturalistischen Theoremen verbinden lässt. Auch gegenüber der wertkritischen Position gibt es fundierte Einwände, die sich einerseits auf deren Arbeitskritik, andererseits auf die Vorstellung des Kapitalverhältnisses als automatischem Subjekt beziehen. So stellt Bonefeld (1997) fest, dass diese Vorstellung dazu führen könne, dass der Klassenkampf aus der Analyse hinausgeworfen werde. »Diese Betonung der Vorrangigkeit des Kapitalverhältnisses konzentriert sich auf die objektiven Züge der kapitalistischen Entwicklung. Als Subjekte tauchen in diesem Ansatz nur die Strukturen auf. Der Klassenkampf wird als eine von der strukturellen Entwicklung abgeleitete Größe behandelt […]. Die praktischen Konsequenzen sind katastrophal. Mit Marxismus wird nicht mehr die Negation und der Kampf für eine Welt ohne Antagonismus verbunden, sondern er wird zu einer wissenschaftlichen Untersuchung über die Selbstkonstituierung des Kapital.« (http://www.wildcatwww.de/zirkular/36/z36bonef.htm)
John Lütten differenziert diesen Einwand gegen die Wertkritik aus: »Wird das Klassenverhältnis theoretisch unter ein als eigenständiges und vom Klassenverhältnis gelöst unterstelltes Kapitalverhältnis subsumiert, kommen auch Klassenkonflikte und das Handeln der Akteure bloß in ihrer das Kapitalverhältnis reproduzierenden Funktion in Betracht. Gesellschaftliche Strukturen erscheinen dann als dem Handeln der Akteure entzogene, Klassenkonflikte sinken hinab zur ausschließlich funktionalen Binnenkategorie eines übermächtig erscheinenden Kapitalverhältnisses […]. Eine solche strukturfetischistische Position versteht denn auch den Marxschen Begriff des automatischen Subjekts nicht mehr auch als kritische Beschreibung eines von Menschen produzierten Zusammenhanges, der, fetischistisch mystifiziert, eine scheinbar eigengesetzliche und verselbständigte Bewegung vollzieht. Vielmehr nimmt sie den Schein für bare Münze und hält das ›automatische Subjekt‹ ausschließlich für eine eigenständige Struktur, welche Kapitalisten und
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Arbeiter gleichermaßen setzt, beherrscht und zum Handeln zwingt.« (Lütten 2015: 122)
Letztlich kann mit Gernot Koneffke daran erinnert werden, dass »nicht das Kapital [...] das Subjekt konstituiert, sondern dieses das Kapital. Das heißt: nicht das Subjekt braucht das Kapital, sondern dieses das Subjekt; ohne die unablässige Selbstunterwerfung käme der Verwertungsprozess an sein Ende. Hier hat materialistische Pädagogik ihren historischen Ort.« (Koneffke 2006: 43)
Diese Bemerkung ernst genommen bedeutet, dass die strikte Abwendung vom ›Westlichen Marxismus‹ für die materialistische Pädagogik fatale Konsequenzen zeitigen könnte. Trotzdem verweist die Skizzierung der Grundpositionen der ›Neuen Marx-Lektüre‹ und der Wertkritik sowie der kritischen Einwände auf die Notwendigkeit der Weiterführung der Diskussion über die Grundlagen materialistische Gesellschaftskritik. Die marxistische Pädagogik – sofern man ihr in der Gegenwart überhaupt noch eine Existenz zusprechen mag – hat sich an dieser Debatte bislang nicht beteiligt, obwohl hier grundlegende Positionen neu verhandelt werden. Eine Aktualisierung marxistischer Pädagogik wird dem nicht ausweichen können, sondern sollte sie vielmehr produktiv für ihre Revitalisierung nutzen.
5. AUSBLICK Ob und wie sich das Nischendasein einer materialistischen Pädagogik zu ändern vermag, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Es lässt sich aber festhalten, dass seit der Rückkehr der Krise des Kapitalismus, andere Disziplinen die Rolle einer kritischen Gesellschaftstheorie ausfüllen: Zu verweisen wäre etwa auf die kritische Soziologie, die sich verstärkt krisenhaften Subjektformen der Entfremdung, der Überforderung oder auch der mangelnden Resonanz widmet sowie auf die kritische Psychologie, die eine Kritik neoautoritärer Kompetenz,- Erziehungs- und Lerndiskurse vornimmt (vgl. Rosa 2013; Markard 2010). Allein im angelsächsischen Raum wäre die Critical Pedagogy hervorzuheben, deren Debatten durch eine größere Nähe zu den stattfindenden sozialen Kämpfen wesentlich breiter geführt werden (vgl. Giroux 2011; McLaren 2010).
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Indes gilt es auch für eine Allgemeine Pädagogik an der Marxschen Grunderkenntnis festzuhalten: nämlich, dass die bürgerliche Gesellschaft ihre Widersprüchlichkeit selbst hervorbringt und diese gerade deshalb praktisch aufhebbar ist, sowie der Tatsache, dass die ökonomischen Krisen der Gesellschaft nicht auf mangelnden Willen und/oder fehlende Moral der Akteure zurückzuführen sind, sondern einen strukturell-materialistischen Kern umkreisen. Daneben wird in der Soziologie auch wieder ganz offen von einer neuen Klassengesellschaft gesprochen, nachdem sich die Ideologien des nivellierten Mittelstandes und der Individualisierung jenseits von Klassen und Schicht (Beck) als offensichtlich verkürzt erwiesen haben (vgl. Nachtwey 2016: 169). Das umgekehrt deshalb noch lange kein Klassenbewusstsein vorausgesetzt werden kann, kann hier nicht weiter erörtert werden. Auch scheint eine strukturelle Auseinandersetzung mit den Folgeerscheinungen des sich in der Krise befindlichen kapitalistischen Systems unausweichlich. Spätestens seit der finanzbasierten Krise des Kapitalismus ab dem Jahr 2007 haben die antiemanzipatorischen Regressionserscheinungen wieder einen festen Platz in der Mitte der Gesellschaft erhalten. Das regressive Aufbegehren reicht von neurechten Bewegungsformen wie Pegida oder dem hippen Ableger der Identitären Bewegung, über die AfD als deren parlamentarisches Rückgrat. An die Pädagogik werden einmal mehr die Bitten herangetragen, sich solcher Phänomene im sozialen Bereich anzunehmen, ohne deren gesellschaftlich-strukturelle Verankerung zu sehen. Gerade die wertkritischen Ansätze sowie die der Neuen MarxLektüre schärfen den Blick für regressive und ressentimentbeladene Formen der Kapitalismuskritik und sind deshalb für die politische Bildung unverzichtbar. Auch Teilbereiche materialistischer Pädagogik wie die über Jahrzehnte bedeutsame Friedenspädagogik bedürfen in Zeiten von Verschwörungsideologien und Querfrontpolitiken eine auf Höhe der gegenwärtigen materialistischen Debatten stehende Reflexion. Bleibt diese aus, ist entsprechenden theoretischen Interventionen nicht nur der Vorwurf der Antiquiertheit zu machen, sondern sie leisten schlechterdings antiemanzipatorischen Kräften den Vorschub. Dieser Problematik muss sich unseres Erachtens auch jede Debatte über die Zukunft der sozialistischen Pädagogik stellen.
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Sozialismus, Pädagogik und Funktionalität Oder: Gehört es zum Wesen sozialistischer Pädagogik, funktional zu sein? Historische Betrachtungen und Beispiele H ENNING S CHLUSS
1. E INLEITUNG In der Selbstkonstruktion der Geschichte der Pädagogik ist es ein wesentlicher Topos, die Pädagogik mit einem gewissen Eigenrecht auszustatten und sie nicht anderen (vor allem politischen aber auch ökonomischen) gesellschaftlichen Interessen unterzuordnen. Von Luther über Comenius, Rousseau, den Philanthropen bis hin zu Schleiermacher, Herbart und Humboldt und Dewey oder Luhmann und Benner (um nur einige zu nennen) sind sich darin alle Klassiker der Pädagogik einig, wenn auch die Frage des Grades der Beziehungen zu den anderen Teilbereichen der Gesellschaft durchaus sehr kontrovers beantwortet wird. Vor einigen Jahren machte Ulrich Wiegmann unter Bildungshistoriker_innen, die sich mit der Geschichte der DDR-Pädagogik befassen, durchaus Furore mit zwei Aufsätzen, die die Frage thematisierten, weshalb Robert Alt seine Bildungstheorie funktional konzipierte. Er konnte darin erstaunliche Genealogien aufzeigen, die über ideologische Grenzen hinwegreichten. Dieser Beitrag möchte die Frage thematisieren, ob es neben diesem genealogischen Grund der Neigung zu einer funktionalen Bildungstheorie des führenden wissenschaftlichen Pädagogen der DDR nicht auch einen sachlichen oder systematischen Grund
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gegeben haben mag, der eben darin begründet liegt, dass es sich um eine sozialistische Bildungstheorie handelt. Dafür wird in gewisser Weise exemplarisch noch einmal ein Blick auf Robert Alts Rekonstruktion des Bildungsmonopols geworfen, sodann auf einen der Pioniere sozialistischer Pädagogik geschaut, Siegfried Bernfeld, um der Frage nachzugehen, inwiefern der Funktionalismusvorbehalt gegen des Konzept sozialistische Pädagogik berechtigt ist.
2. P ÄDAGOGIK ALS SELBSTÄNDIGER B EREICH , S UBSYSTEM ODER P RAXIS 1 Die Herausgeber dieses Bandes haben einleitend vier Varianten des Begriffs sozialistischer Pädagogik diskutiert und letztlich für die vierte optiert, nach der sie »das sozialistische Pädagogik nennen können, was anhand bestimmter, qualitativer auszuweisender Kriterien als sozialistisch und pädagogisch zu bezeichnen ist [Herv. i.O.]« (Engelmann/Pfützner i.d.B. 41). Mit dieser Addition umgehen sie die Frage, ob es in diesem Kompositum eine Hierarchie der Teilbegriffe geben soll. Ihrem Vorschlag folgend, sollte eine sozialistische Pädagogik sowohl sozialistisch, als auch pädagogisch sein. Näherhin verstehen sie unter Sozialismus in Anlehnung an die Ideale der Französischen Revolution ein Miteinander von »sozialer Freiheit, queerer Gleichheit und transversaler Solidarität« (ebd.:). Unter Pädagogik verstehen sie »sowohl die Praxis als auch die Reflexion der intendierten und nicht intendierten individuellen oder auch kollektiven Steuerung von Lernprozessen« (ebd.). Wenn die Autoren mit Sozialismus damit weniger eine Herrschaftsform, als eine Praxis im Blick haben, stellen sich einige der in diesem Text aufgeworfenen Probleme, der eher mit einem Großteil der sozialistischen Tradition von einem Herrschaftskonzept von Sozialismus ausgeht, nicht in dieser Schärfe. Gleichwohl stellt sich aber auch hier die Frage, inwiefern sich Pädagogik ihrem vorangestellten Adjektiv unterord-
1
Die Vortragsversion des Textes, die gemeinsam mit Heinz Ganser entworfen war, enthielt auch die Reflexion einiger Ausschnitte aus Unterrichtsaufzeichnungen aus der DDR, was in der Publikationsfassung vor allem aus pragmatischen Gründen weggelassen wurde (vgl. http://www.fachportal-paedagogik.de/ forschungsdaten_bildung/studie.php?studien_id=4&la=de).
P ÄDAGOGIK , S OZIALISMUS UND FUNKTIONALISMUS
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net. Gibt also das Adjektiv ›sozialistisch‹ der Pädagogik ihre Ziele und Methoden vor? Und muss sie dieses möglicherweise sogar, um von sozialistischer Pädagogik überhaupt sprechen zu können? Wenn dem nicht so sein soll, was trüge dann das Adjektiv bei? Dieser Frage will der vorliegende Aufsatz nachgehen. Dass Pädagogik in ihrer Reflexion wie in ihrer Praxis eine gewisse Selbstständigkeit habe und sich nicht von anderen Praxen, Subsystemen oder gesellschaftlichen Bereichen bestimmen lassen kann, ist weithin Konsens der zeitgenössischen wissenschaftlichen Pädagogik und findet sich in der ein oder anderen Weise bei den meisten Klassikern des Faches, wenn auch in durchaus unterschiedlicher, Ausprägung, Konzeption und Begründung. Insofern ist es hier müßig alle die unterschiedlichen Konzeptionen aufzuzählen, die sich zumindest für eine Teil-Autonomie der Pädagogik aussprechen. Um die Behauptung aber doch ein wenig zu illustrieren, seien ein paar herausragende erziehungswissenschaftliche Bezugnahmen auf ein pädagogisches Konzept, dass vielleicht wie kein zweites Geschichte machte und sich dezidiert nicht für eine Autonomie der Pädagogik, sondern für ihre klare Unterordnung aussprach. Die Rede ist für dieses Mal nicht von Emile Durkheim, der sie der Soziologie untergeordnet wissen wollte (Durkheim [1903] 1984), sondern von Platons Politeia, dem Staat, von dem Rousseau schon so treffend sagte, dass es oft wiederholt worden ist, »Das ist kein politisches Werk, wie die Leute behaupten, die die Bücher nur nach dem Titel beurteilen: es ist die schönste Abhandlung über die Erziehung, die jemals geschrieben wurde« (Rousseau [1762] 1996: 13). Seine Wertschätzung, die Rousseau dem Platonischen Konzept entgegenbrachte, beruhte darauf, dass es sich hier um ein Musterbeispiel einer Erziehung zum Bürger, zum Staatsbürger (Citoyen), handelte. Der Staatsbürger ordnet seine gesamte individuelle Existenz als Mensch dem Dasein als Bürger seines Staates unter – so sah es zumindest Rousseau. Aristoteles hätte dieser Sichtweise sicher durchaus widersprochen und hervorgehoben, nur im Staat kann der Mensch überhaupt zu sich selbst kommen, nur in der Polis ist die Muße möglich, die die höheren und freien Künste und Wissenschaften bedürfen. Nur dort kann Verstand und Wort frei geführt werden um andere zu überzeugen. Darum ist für ihn der Mensch sowohl zoon politikon und zoon logon echon, Mensch sein mit dem freien Gebrauch von
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Vernunft und Sprache ist nur in der Polis möglich.2 Sehr schön führt Aristoteles dieses antike In-Eins-Fallen von Mensch und Bürger in der Nikomachischen Ethik aus, wenn er über die Tugendhaftigkeit als Maß der Glückseligkeit eines Menschen handelt: »Unter menschlicher Tugend verstehen wir aber nicht die Tüchtigkeit des Leibes, sondern die der Seele, wie wir ja auch unter der Glückseligkeit eine Tätigkeit der Seele verstehen. Ist dem aber also, so muß der Staatsmann und der Lehrer der Staatswissenschaft bis zu einem gewissen Grade mit der Seelenkunde vertraut sein, grade wie einer, der die Augen oder sonst einen Leibesteil heilen will, deren Beschaffenheit kennen muß, und zwar jener noch viel mehr als dieser, weil die Staatskunst viel würdiger und besser ist als die Heilkunst.« (Aristoteles 1995: 23)
Für Rousseau dagegen war der Mensch außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft am ehesten bei sich selbst. Die bürgerliche Gesellschaft habe den Menschen verdorben, ihn von sich selbst entfremdet und ihn durch die Erzeugung von Bedürfnissen, die er sich selbst nicht erfüllen kann, unfrei gemacht. Schon deshalb ist für Rousseau die bürgerliche Erziehung oder die Erziehung zum Bürger keine Option mehr, weil die Selbstlosigkeit des antiken Staatsbürgerideals mit diesem ausgestorben sei und nur ein vorteilsheischender Bourgeois übrig geblieben ist, der die Gesellschaft um seines Vorteils willen ausbeutet und auf ihre Kosten lebt.3 Ihr stellt Rousseau die Erziehung zum Menschen strikt gegenüber, die nur an der Natur des Menschen orientiert ist, die allerdings unbekannt ist, weshalb diese Natur in einem pädagogischen Gedankenexperiment allererst erforscht werden muss. Eine Unterordnung unter politische Ziele ist dieser Art von Pädagogik ihrer Programmatik nach prinzipiell unmöglich, ob das auch in der Praxis so sein muss, sei dahingestellt. Auch wenn die deutschen Phi-
2
Vgl. Aristoteles 1996 und weiterhin zunächst Aristoteles zitierend, dann aber
3
»Wer innerhalb der bürgerlichen Ordnung seine natürliche Ursprünglichkeit
mit anderer Akzentsetzung: Arendt (1993: 11); Arendt (1996: 24). bewahren will, der weiß nicht, was er will. Im Widerspruch mit sich selbst, zwischen seinen Neigungen und Pflichten schwankend, wird er weder Mensch noch Bürger sein. Er ist weder sich noch anderen nützlich. Er wird ein Mensch von heute sein, ein Franzose, ein Engländer, ein Spießbürger: ein Nichts.« (Rousseau [1762] 1996: 13)
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lanthropen gerade diese schroffe Entgegensetzung von Mensch und Bürger wie kaum etwas am doch auch für sie maßgeblichen Emile (vgl. Tenorth 2005) kritisierten und diskutierten4 und auch wenn die deutschen aufklärerischen Pädagogen die Nützlichkeit der Pädagogik hochhielten, so befürworteten sie doch keineswegs eine kritiklose Unterordnung unter den Staat. Kant vorweg hatte sich klar für eine Privaterziehung ausgesprochen, weil jeder Staat indoktrinierende Absichten haben müsse (Kant [1803] 1983). Auch viele Neuhumanisten unterschieden sich zumindest anfänglich darin nicht von ihren philanthropischen Vorgängern und Lehrern. Wilhelm von Humboldt hat seine zentrale bildungsphilosophische Schrift der Untersuchung der Grenzen des Staates gewidmet und er hat diese bekanntlich ausgesprochen eng gezogen. Jedes Eingreifen des Staates in Fragen der Bildung und Erziehung hielt er für ausgesprochen schädlich (Humboldt 1792). Gerade wegen dieser Schrift wurde er Jahre später in der Ära der preußischen Reformen unter Stein und Hardenberg ins Amt für Kultus beim Innenministerium berufen und hatte dort ironischerweise die Aufgabe, staatliche Schulpläne zu entwickeln.5 Sein Zeitgenosse Friedrich Schleiermacher verwendet viel Mühe darauf nachzuweisen, dass die Erziehung älter ist als der Staat und also nicht von ihm abhängen könne (Schleiermacher [1814] 1983) und durchaus im Fahrwasser Platons (den er ja übersetzt hat) entwickelt er eine Erziehungstheorie, in der zwar die Erziehung wie bei Platon der Ethik (der Idee des Guten) untergeordnet ist, nicht aber der Politik, sondern ausdrücklich: »Die Pädagogik ist eine rein mit der Ethik zusammenhangende, aus ihr abgeleitete angewandte Wissenschaft, der Politik koordiniert« (Schleiermacher [1826] 1983: 42).6 John Dewey nimmt seinerseits Platon ebenfalls ausgesprochen positiv auf, wenn er konstatiert, dass es doch ein Anliegen sei, dass aller Ehren wert sei, wenn es Platon darauf angelegt habe, einen Staat zu schaffen, in dem jedem Menschen entsprechend seinen Anlagen ein entsprechender Ort zukomme. Was dieser nur unterschätzt habe, ist, dass es weit mehr als die drei von ihm angenommenen Anlagen gäbe, sondern diese mannigfaltig
4
Man beachte die ausufernden Kommentare und Diskussionen im Revisionswerk
5
Auch Humboldt nimmt übrigens Rousseaus Bemerkung über Platons Staat auf
Campes gerade in diesem Zusammenhang der Emile-Ausgabe (Campe 1789). (vgl. Humboldt 1792: 3). 6
Vgl. zum Zusammenhang von Bildung, Staat und Öffentlichkeit Schluß 2017.
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wie die Menschen selbst sind, und somit sein avisierter Idealstaat zur einengenden Diktatur werden muß. »Es ist nirgends eine tiefere Einsicht in die Aufgabe der Erziehung – die Erkennung der persönlichen Fähigkeiten und ihre Schulung zum Zusammenwirken mit denen der anderen – vorhanden gewesen. Die Gesellschaft, in der diese Theorie vertreten wurde, war jedoch so undemokratisch, daß Plato eine Lösung des Problems nicht geben konnte, so klar er auch die Bedingungen der Aufgabe übersah. Während er nachdrücklich forderte, daß die Stelle des Individuums in der Gesellschaft nicht durch Geburt oder Reichtum oder irgendwelche konventionellen Regeln bestimmt werden dürfe, sondern durch seine Wesensart, wie sie durch den Vorgang der Erziehung erkannt werden sollte, so hatte er doch keine Vorstellung von der Einzigartigkeit des Individuums. Für ihn gehört jeder von Natur in eine bestimmte Klasse, noch dazu in eine, deren es nur sehr wenige gibt.« (Dewey [1916] 1993: 124)
Letztlich ist mit dieser Kritik die Rousseausche Unbekanntheit der Natur des Menschen wieder eingeholt, auch wenn Dewey in seiner pädagogischen Konzeption nicht direkt an dieser ansetzt, wie Rousseau, sondern pragmatisch von vorfindlichen Prinzipien jeder Gesellschaft ausgeht und spekulative Gedankenexperimente ablehnt. Die auch noch von Schleiermacher vertretene Unterordnung unter eine umfassende, wenn auch inhaltlich umstrittene Formel des Guten wurde spätestens in der westdeutschen Pädagogik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weithin aufgegeben.7 Adorno hatte in seiner Erziehung nach Auschwitz allen positiven Erziehungs- und Bildungsidealen Valet gesagt. »Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole« (Adorno 1970: 92). Wie eine solche Erziehung gelingen könne, war nicht in der Aufrichtung neuer Bildungsideale, sondern lediglich in der (selbst-)kritischen Durchdringung aller vermeintlicher Ideale möglich, wie schön sie auch immer klingen mögen:
7
Im Osten Deutschlands war dies unter dem Vorzeichen einer »sozialistischen Pädagogik« nicht möglich (vgl. Benner/Fischer/Gatzemann/Göstemeyer/Sladek 1998).
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»Nötig ist, was ich unter diesem Aspekt einmal die Wendung aufs Subjekt genannt habe. Man muß die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden, muß ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewußtsein jener Mechanismen erweckt. […] Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion.« (Adorno 1970: 94)
Selbst in den bewegten Endsechziger und Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat sich der Vordenker der emanzipativen Pädagogik, Klaus Mollenhauer, in der Auseinandersetzung mit den Forderungen des SDS nicht dazu hinreißen lassen, ein neues inhaltliches Erziehungsideal aufstellen zu lassen, sondern er fordert zwar Parteilichkeit der politischen Bildung ein, aber eine Parteilichkeit nicht zugunsten irgendeines Bildungsideals und sei es auch eines sozialistischen, sondern er fordert Parteilichkeit für: Rationalität. »Es ist nämlich mit dieser Rationalität zugleich der Wille gesetzt, die politischen Prozesse in die Verfügung durch den Bürger zu bringen und sie nicht als gleichsam blindes Schicksalsgeschehen über sich ergehen zu lassen.« (Mollenhauer [1968] 1973: 151) Für Dietrich Benner sind es gleichberechtigte Praxen, die menschliches Leben kennzeichnen und deren Erziehung eine ist wie Politik oder Ökonomie. Diese sind prinzipiell gleichberechtigt und nichthierarchisch zu verstehen und sollen sich wechselseitig kritisieren können (Benner 2012). 8 Dabei verschweigt Benner Tendenzen und Bemühungen aus und in den Einzelpraxen nicht, die ein oder andere als übergeordnet zu etablieren. Historisch könne durchaus wechseln, welche der Einzelpraxen das Primat für sich beansprucht. Insofern sei das Konzept eines nicht-hierarchischen Zusammenhangs der menschlichen Praxen eine regulative Idee, die man anerkennen oder auch bestreiten könne (vgl. ebd.: 45). Würden aber einzelne Praxen oder Gruppen von Praxen prioritär herausgestellt, so sei damit durch die Verkürzung auf den Primat eben dieser Einzelpraxen die menschliche Gesamtpraxis als Ganze in Gefahr. Eine Unterordnung der Pädagogik unter die Politik ist hier ebenso, wie in den anderen skizzierten Modellen der Idee nach ausgeschlossen. Anders sah das der führende Erziehungswissenschaftler der DDR, Robert Alt.
8
Vgl. zu einem Vergleich der Nichthierarchizität mit der Unterordnung unter ein umstrittenes Gut auf normative Implikationen hin: Schluß 2013.
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3. R OBERT ALT
UND SEINE FUNKTIONALE
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Der Ostberliner Bildungshistoriker Robert Alt hatte in seiner Arbeit Das Bildungsmonopol die Strukturen des bürgerlichen Bildungsmonopols herausgearbeitet. Dabei kam es ihm nicht auf die Trägerschaft der Schule an – ob kirchlich, privat oder staatlich war in seiner Analyse einerlei – vielmehr war er sicher, dass der Klassencharakter der Erziehung sich auch in den Bildungsinstitutionen niederschlägt und dass es sich dabei um eine Wahrheit vom Rang eines »gesellschaftlichen Gesetzes« handelte das dem »Gesetz vom Klassencharakter der Erziehung« (Alt 1978: 18). korrespondiere. Der Zweck des bürgerlichen Bildungsmonopols sei ein doppelter, zum einen die Reproduktion der Besitzverhältnisse und zum anderen der Klassenherrschaft. Dies werde z.B. erreicht, indem »verkehrtes Bewusstsein als Grundlage systemkonformen Handelns« (ebd.: 65) erzeugt werde und »idealistische und religiöse Auffassungen« (ebd.: 71) verbreitet würden. Als ein besonders raffiniertes Mittel zur Reproduktion der Klassenherrschaft identifiziert Alt die »Erweckung von Illusionen« (ebd.: 94). Dabei geht Alt nicht so weit, wie ein halbes Jahrhundert vor ihm Siegfried Bernfeld, der das gesamte Konzept von Bildung selbst als gigantische Illusion zum Klassenerhalt der wirklich Besitzenden, nämlich im Sinne der Marxschen Theorie (ökonomisches!) Kapital besitzenden, entlarvt hatte.9 Alt denkt das Konzept der Illusion schlichter, dass nämlich das Bildungsmonopol zum einen mithilfe dieser Illusionen gesellschaftliche Ungleichheit legitimieren soll (ebd.: 94ff.). Alt nimmt auch die deutsche Arbeiterbewegung von dieser Kritik nicht aus: »Auch der Opportunismus in der deutschen Arbeiterbewegung unterliegt solchen Illusionen, die irgendwelchen Reformmaßnahmen der Schule zumindest die Mitwirkung an einer ›Austilgung der Klassengegensätze‹ zusprechen möchten« (ebd.: 100). 10
9
Von Marx her verstand er als Kapital dabei einzig Produktionsmittel und dessen tauschbare Äquivalente. Bildung zählte er nicht dazu – Das Konzept des kulturellen Kapitals konnte er noch nicht kennen. Bildung sei vielmehr der große Schwindel der Kapital Besitzenden, dem nicht Kapital besitzenden Bürgertum vorzumachen, es habe Teil an der Gesellschaft und sei den Besitzenden ebenbürtig (vgl. Bernfeld, 1994: 93ff.).
10 Ein anderes Mittel um Ungleichheit zu legitimieren ist für Alt »Verschleierung und Mystifikation von Tatsachen und Zusammenhängen« (Alt 1978: 85), die er
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Zum anderen den Menschen z.B. die Illusion des Konzepts von Gleichheit, sei es vor Gott oder nach dem Feudalismus auch vor dem Gesetz, vermitteln würde, was jedoch realiter in der Klassengesellschaft illusorisch sei (vgl. ebd.: 101f.).11 Nach einer so grundlegenden Kritik am Bildungsmonopol folgt für Alt die Frage, wie denn dieses umfassende Bildungsmonopol gebrochen werden könne? Im Bereich der Pädagogik sieht er keine Möglichkeit dazu. Hier seien bestenfalls kosmetische Korrekturen möglich, die eher dem Systemerhalt als dem Sturz des Systems dienen. »Der Kampf um die Demokratisierung der Schule, um den Einfluss vorwärtsweisender pädagogischer Strömungen und um das Wirken dem gesellschaftlichen Fortschritt sich verpflichtet fühlender Pädagogen kann – unter jeweils wechselnden Voraussetzungen – mannigfache Gelegenheiten bieten, die Macht der herrschenden Klasse, den Einfluss der Monopole auf die Schule zurückzudrängen und die Verbreitung fortschrittsfeindlicher Ideologien im Unterricht einzudämmen. Alle solche Bestrebungen können die Notwendigkeit, das Bildungsmonopol aufzuheben, verstärken und deutlicher hervortreten lassen, können es aber selbst nicht brechen.« (ebd.: 319)
Im bürgerlichen Bildungsmonopol fließen sowohl die ökonomische, wie die politische, als auch die gesellschaftliche, freilich auch die religiöse Di-
vor allem an Volksschullehrbüchern des 19. Jahrhunderts aufzeigt, sie aber auch in zeitgenössischen westdeutschen Lehrbüchern entdeckt, die in virtueller Zeitgenossenschaft behandelt werden, weil sie alle der kapitalistischen Klassengesellschaft entstammen. 11 Freilich wurde dieser doppelte Zweck selbst von ihren angeblichen Profiteuren nicht immer erkannt. Aufschlussreich ist z.B. die Einlassung von preußischen Junkern, die Max Weber in seiner Untersuchung zur Lage der Ostelbischen Landarbeiter am Ende des 19. Jahrhunderts in Bezug auf die allmählich auch dort sich durchsetzende Einführung der Schulpflicht, die zwar lange schon verordnet war, dokumentiert: Die Schule sei für die Disziplin der Landarbeiter von Nachteil, weil diese dort nur Rechte und keine Pflichten gelehrt bekommen (Weber, [1892] 1984: 889). Wohl gemerkt handelt es sich dabei nicht um eine irgendwie avancierte Schule, sondern es ist die schlichteste Volksschule, die sogar oftmals nur im Winter stattfand.
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mension zusammen. In der Form dieser Kritik ist es nicht wichtig, wer die Träger von Bildungseinrichtungen sind und welche Ziele sie sich setzen.12 Institutionalisierte Bildung unter den Bedingungen der Klassenherrschaft arbeite sich bestenfalls an Symptomen ab, ohne an deren Ursache auch nur kratzen zu können. Die Pädagogik erfülle letztendlich immer nur systemstabilisierende Funktionen, selbst da wo sie anscheinend dem bürgerlichen System entgegenarbeitet. In der Abwandlung des Adornoschen Diktums kann es hier keine richtige Pädagogik im Falschen geben. In dieser funktionalistischen Perspektive auf Bildung und Erziehung kann die Kritik am bürgerlichen Bildungsmonopol somit nicht zu einem nichtmonopolistischen Konzept von Pädagogik führen, sondern lediglich das schlechte Monopol durch das gute Monopol ersetzen.13 »Erst die Umwälzung der Grundlagen der Klassengesellschaft, […] setzt das Bildungsmonopol außer Wirksamkeit« (ebd.: 319). Die Lösung, die Alt sieht, ist nicht die Abschaffung des Bildungsmonopols, sondern die Ersetzung des bürgerlichen Bildungsmonopols durch das der Arbeiter- und Bauernmacht. Der Berliner Bildungshistoriker Ulrich Wiegmann ist in zwei Aufsätzen der Frage nachgegangen, weshalb Alt keine andere Option sehen konnte (vgl. Wiegmann 2004 und 2006). Wiegmanns Antwort (der dazu nicht auf die Spätschriften Alts, wie hier Das Bildungsmonopol, sondern auf seine ersten Veröffentlichungen zurückgreift, u.a. auf seine Vorlesungsskripte und seine Dissertation, die bereits 1937 abgeschlossen war, wegen der Rassegesetze jedoch nicht mehr eingereicht werden konnte und somit erst 1948 angenommen wurde) legt nahe, dass Alt sein pädagogisches Konzept im Grundsatz ausgerechnet Ernst Krieck verdankt, dessen funktionalistisches Erziehungskonzept im Nationalsozialismus zu hohen Ehren kam (Giesecke 1999). Alt war 1928/29 zur gleichen Zeit an der Frankfurter Pädagogischen
12 Ob die Pädagogik z.B. Inklusionsgedanken verfolgt oder ob Sie sich an der Beschulung von Straßenkindern versucht, ob sie zur politischen Emanzipation befähigen oder zur Mündigkeit erziehen will. 13 Dieses Konzept des guten Bildungsmonopols wurde in der DDR programmatisch bis zu ihrem Ende weiter kultiviert. Noch auf ihrer vier Stunden langen Rede auf dem letzten pädagogischen Kongress der DDR verteidigte Bildungsminister Margot Honecker das Bildungsmonopol als großartige Errungenschaft des Sozialismus und bis in die letzten Interviews ließ sie von dieser Überzeugung nicht ab (vgl. Honecker 2012).
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Akademie Student, an der Ernst Krieck mit einigem Aufsehen zum dortigen Professor für Allgemeine Pädagogik berufen wurde (vgl. Wiegmann 2006; Müller 1978: 82). Nach Wiegmann ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch wenn das ideologische Vorzeichen bei Alt ein ganz anderes war als bei Krieck, er das funktionale Konzept doch von diesem übernahm; die Pädagogik sei in Theorie und Praxis den Zielen des Staates unterzuordnen. Diese Erkenntnis ist insofern verstörend, als Robert Alt ein Opfer des Nationalsozialismus war, der als Jude und Antifaschist doppeltem Verfolgungsdruck ausgesetzt war.14 So überraschend diese Erkenntnis war, dass ausgerechnet Robert Alt, als Verfolgter des Nationalsozialismus, diesem in seiner Erziehungskonzeption darin nicht nur nicht nachstand, dass sie genauso funktionalistisch angelegt war, wie die von Ernst Krieck, sondern er sie auch von ihm übernommen haben könnte, so soll hier doch noch eine weitere Frage aufgeworfen werden, ob es nicht auch andere, systematische, Gründe haben kann, weshalb Alt Erziehung funktional konzipiert. Ein Blick auf andere Erziehungswissenschaftler der DDR ist da nicht unbedingt erhellend, weil diese sich spätestens seit den 60er Jahren nicht durch besondere gedankliche Eigenständigkeit auszeichnen, jedenfalls nicht, was solche fundamentalpädagogischen Fragen angeht. Diejenigen, die in den ersten Jahren der SBZ und DDR etwas anders dachten, wie Theodor Litt in Leipzig oder der ehemals engste Mitarbeiter Robert Alts, Max Gustav Lange in Berlin, der als Herausgeber der führenden Fachzeitschrift Pädagogik schon sehr früh vor einem funktionalistischen Erziehungsbegriff gewarnt hatte, hatten schon in den 50er Jahren die DDR verlassen (müssen).15 Lange hatte dabei interessanter Weise direkt auf Krieck Bezug genommen, wie Wiegmann fein herausarbeitet: »Lange anerkannte zwar im funktionalen Erziehungsbegriff einen ›wertvollen Ansatz‹, aber er warnte zugleich davor, ›eine Theorie schon dann als fortschrittlich anzusehen, wenn sie auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge des Erziehungsgeschehens hinweist‹« (Lange 1946: 23f.). Langes stärkstes Argument war die Tatsache, dass ausgerechnet der Faschist Krieck »schon in seinen frühen Schriften die Theorie von der sozia-
14 Vgl. Wiegmann (2006: 144). 15 Im Fall Langes war es wohl seine verschwiegene NSDAP-Mitgliedschaft, deren mögliche Entdeckung Anlass des spektakulären Frontwechsels war (vgl. Wiegmann 2004).
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len Funktion der Erziehung radikal durchzuführen versucht [hat]« (ebd.: 23). Insofern mag es sinnvoll sein, den Blick noch weiter zurückzuwerfen in eine Zeit, in der der Sozialismus noch nicht gesiegt und die Macht übernommen hatte, sondern diese historische Zäsur zumindest in Westeuropa noch ausstand. Die Rede ist von Siegfried Bernfelds Sisyphos, der ausdrücklich im Titel schon die Grenzen der Erziehung thematisiert. Er beginnt mit einer sehr erhellenden Debatte über die Erziehung zur Freiheit, die die Fröbelsche Methode verspreche, die dem verantwortlichen Geheimrat doch sehr suspekt vorkommt und er nicht etwa bezweifelt, dass die Methode Fröbels die Freiheit befördere, sondern er fürchtet gerade diese Freiheit. Die letzte Grenze, die Bernfeld in seinem von Marx und Freud gleichermaßen inspirierten Buch thematisiert, ist die Grenze der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Deren individualistische Pädagogik, die an der Paarbeziehung ausgerichtet ist, und sich in der Gesellschaft eingerichtet habe und nur hier und da in der pädagogischen Dyade von Erzieher und Zögling eine kleine Verbesserung der Sitten hervorrufen möchte, sei gar nicht in der Lage, grundlegend etwas an der Situation zu ändern.16 Im Großen und Ganzen stellt Bernfeld allerdings für die Erziehung fest: »Die Erziehung ist konservativ. Ihre Organisation ist es insbesondere. Niemals ist sie die Vorbereitung für eine Strukturänderung der Gesellschaft gewesen. Immer – ganz ausnahmslos – war sie erst die Folge der vollzogenen« (Bernfeld [1925] 1967: 119). Sein Resümee ist deshalb auch klar: »Das hieße: es gibt keinen Fortschritt der Erziehung? Nein, es gibt keinen« (ebd.). Ganz klar sieht Bernfeld eine soziale Grenze jeder Erziehung, die sich aus Marx’s Schriften ergebe: »Die Einsicht in diese, die soziale, Grenze der Erziehung verurteilt jegliche Bemühung, vor vollzogener Änderung der gesellschaftlichen Struktur etwas an ihrer Erziehungsorganisation zu verändern, etwas irgend Beträchtliches. Sie lenkt die Kraft, die solchen Bemühungen gewidmet wird, auf das Zentrum, die gesellschaftliche
16 »Die Erziehungswissenschaft findet keinen festen Grund unter ihren Füßen, wenn sie diese im Wesen auf diePaargruppe gerichteten Fragen beantworten muß. Nur solche aber sind für die bürgerlich-kapitalistische Ordnung von Wert. […]Aber sie kann auch keine Erziehungswissenschaft dulden.« (Bernfeld [1925] 1967: 151)
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Evolution oder Revolution, je nach der Bescheidenheit solcher Änderungslust.« (Ebd.: 123)
Eine solche wahrhafte, weil sozialistische Erziehungswissenschaft ist dann endlich von der obsessiven Fixierung auf die Paargruppe befreit und kann rational die Gesamtgruppe der Kinder in den Blick nehmen und so wahrhaft wissenschaftlich agieren. Dafür schreckt Bernfeld auch nicht vor einem Vergleich mit der Rationalität eines Generalstabes in der Schlacht zurück: »Es drängt sich hier der Vergleich mit der Strategie auf, die – Verwirrung und Unheil genug – sozialistische Methoden der Menschentötung verwendet, in einer Ordnung, die für friedlichere und sympathischere Zwecke die mörderischen Mittel der Haßgesellschaft Kapitalismus eingeführt hat. Die Armeeleitung schätzt die bei einem Angriff zu erwartenden Verluste; findet sie sich mit ihrer Höhe ab, so wird sie ihn wagen und zufrieden sein, wenn ihre Schätzung sich nicht als zu niedrig erweist. Ob Mayer unter den Toten oder Lebenden ist, eine Frage, die dessen Verwandten und Freunden – mit Recht – die wichtigste des Krieges dünkt, ist dem Kommando völlig gleichgültig. Vorausgesetzt, daß die Strategie nicht durch Protektion gestört oder vielmehr gemildert wurde. Die Erziehung wird sich immer, welcher sozialen Ordnung sie auch diene, um die Einzelschicksale kümmern und sorgen. Aber der Entwurf des Grundrisses des Erziehungswesens und die Bewertung der Erziehungseinflüsse und -mittel im allgemeinen wird in einer Gesellschaft, deren Erziehungsproblem das Gesamtschicksal der ebengeborenen Kindergeneration und nicht das des Säuglings Mayer ist, weitgehend rationalisiert sein können und müssen.« (Ebd.: 149)
Bernfeld ist in seinen Visionen sicher noch radikaler als die ostdeutschen Erziehungswissenschaftler und auch als Robert Alt. Seine Hoffnung auf die gerechte kommende Gesellschaft, den Sozialismus, geht so weit, dass es in ihr wohl gar keine Erziehung mehr brauche, sondern man in der gerechten Gesellschaft durch Hineinsozialisation auskomme 17 »In solch idealer Ge-
17 Eine sehr aufschlussreiche Parallele im Übrigen zum des Sozialismus ganz unverdächtigen John Rawls und seiner Konzeption einer gerechten Gesellschaft, in die, wenn sie erst einmal erreicht ist, auch nur noch hineinsozialisiert werden müsse, um sie zu erhalten (vgl. Rawls 1991), aber auch wiederum zu Platons Politeia, wo jedem die seiner Psyche zukommende gesellschaftliche Position
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sellschaft ist dann aber vielleicht völlig gleichgültig, wie die Kinder aufwachsen, sie werden durch Identifikation auf alle Fälle Gerechte.« (Ebd.: 156.)18 Vor diesem Hintergrund stellen sich an Konzepte sozialistischer Erziehung mindestens drei plus eine dringliche Fragen. Erstens: Inwiefern geben sie die Eigenständigkeit der Erziehung auf und ordnen sie diese, nach einem mehr oder weniger platonischen Muster der Politik unter? Zweitens: Arbeiten sie damit nicht, wie in der Perspektive Bernfelds nachgezeichnet wurde, der einzig wahrhaft freien Erziehungswissenschaft zu, weil die Erziehungswissenschaft in der sozialistischen Gesellschaft »von ideologischer Rechtfertigung unbewußter Wünsche auch von verborgenen Tendenzen der herrschenden Minderheit weitgehend befreit sein« (ebd.: 149) werde, sondern in Wahrheit vielmehr einer ›Geschlossenen Gesellschaft‹ wie Karl Popper sie beschreibt? Drittens: Müssen nicht einer solchen Erziehungswissenschaft immer wenige zugunsten der bislang unterdrückten Masse aufgeopfert werden? Wie Bernfeld am Schicksal des Soldaten/Säuglings Mayer sichtbar machte? Und Viertens, wenn diese Fragen alle verneint werden können, weshalb genügt dann nicht das Kants (der sicher nicht im Verdacht steht, Sozialist zu sein) Prinzip der Aufgabe der Erziehung: »Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden« (Kant [1803] 1983: 702), sondern weshalb braucht es dann das Adjektiv sozialistisch, vor der Pädagogik? Aber genauso gut ließen sich weitere Fragen anschließen: Können sich solche sozialistischen Pädagogiken noch nichtsozialistischen Kritiken stellen? Oder andersherum, sind Pädagogiken, die sich den oben beschriebenen Zielen verpflichtet sehen, automatisch sozialistisch, auch wenn sie sich selber gar nicht als sozialistisch begreifen? Wird Kant so postum noch zum
einnehmen könne, was letztlich noch Marx als Prinzip des Kommunismus aufnimmt: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (MEW 19: 21) 18 Dass sowohl Alt als auch Bernfeld einen ausgesprochen weiten Erziehungsbegriff vertreten, könnte in diesem Zusammenhang auch noch erörtert werden.
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Sozialisten, ebenso wie Martin Luther, der in seiner Ratsherrenschrift sicher die ein oder andere Bresche für die Kriterien geschlagen hat, die hier unter sozialistisch firmieren sollen (vgl. Luther [1524] 1899; Schluß 2016)? Ich bin skeptisch, ob das Adjektiv ›sozialistisch‹ vor Pädagogik mehr Gewinn als Verlust bringt. Die Beispiele sozialistischer Pädagogik, die wir in der Geschichte haben, führen erhebliche systematische Probleme mit sich, die vor allem mit einer Unterordnung der Pädagogik unter eine andere Praxis, ein anderes gesellschaftliches Teilsystem zu tun haben, von dem her seine Prinzipien abgeleitet werden sollen. Demgegenüber vermag ich nur wenig bis keine Gewinne einer solchen Adjektivkonstruktion zu erkennen.
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Kommentare
Vom Vergessen Ein Kommentar aus Perspektive feministischer Theorie R ICARDA B IEMÜLLER & J EANNETTE W INDHEUSER
Der nachfolgende Beitrag hat es zur Aufgabe, den vorliegenden Sammelband aus einer feministischen Perspektive zu kommentieren. Das geht mit einer Herausforderung einher, die sich vorerst in einem Vergessen oder einer Verdrängung manifestiert. Das hier einzuholende Vergessen von Geschlecht ist keineswegs ein ungewöhnliches Phänomen in der (Erziehungs-) Wissenschaft (vgl. Rendtorff 2005; Moser/Rendtorff 1999) – insofern ist zunächst infrage zu stellen, ob es sich bei dem Sammelband um eine »Gegenerzählung« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 17) zum Bestehenden handelt. Angesichts der im Folgenden konstatierten Leerstelle liegt die Herausforderung vor allem darin, eine Beitragssammlung1 zum Gegenstand einer feministischen – keiner gender- oder queer-theoretischen – Analyse zu machen, die genau die dafür relevanten Fragen nicht thematisiert: die Geschlechterdifferenz, das Geschlechterverhältnis und die (historische) Position der Frau in der Gesellschaft. Die Kategorie Geschlecht und spezifisch die Unterdrückung der Frau sind weder Teil der Reflexionen der Herausgeber über die »Voraussetzun1
Da sich die Leerstelle so gut wie durch den gesamten Sammelband zieht, sehen wir von einer Besprechung der einzelnen Beiträge weitestgehend ab und stellen die Kontur und Genese der Leerstelle in den Mittelpunkt. Dem Konzept und dem Beitrag der Herausgeber widmen wir stärker Aufmerksamkeit, weil deren spezifischer Anspruch an die Darstellung des Zusammenhangs von Sozialismus und Pädagogik in den Einzelbeiträgen wieder aufgegriffen wird.
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gen [ihres] Sprechens und Schreibens über Sozialismus, Pädagogik und sozialistische Pädagogik« (ebd.: 16), noch gelangen sie in den einzelnen Beiträgen über den Status einer ›Randnotiz‹ hinaus. Doch obgleich die Frage von Geschlecht in den hier vorgelegten Reflexionen über die gegenwärtige Möglichkeit und Notwendigkeit einer sozialistischen Pädagogik kein oder nur ein marginales Thema darstellt, ist in der Sache das Ausblenden des Geschlechterverhältnisses in Geschichte und Gegenwart nicht zu begründen. Feminismus, als »eine politische Form der Bekämpfung einer spezifischen Herrschaft, die sich durch Praktiken der aggressiven Beherrschung bzw. Verdrängung der menschlichen Angewiesenheit äußert« (Casale 2013: 16), ist damit keine ›additiv‹ vorzunehmende Perspektive neben anderen Formen der Kritik. Sie nimmt etwas gesellschaftlich und gattungsgeschichtlich Konstitutives mit der beschriebenen Form der Herrschaft in den Blick: Dabei gehört zu dieser »historisch – nicht nur, aber auch – die Diskriminierung und Missachtung von Frauen und dem, worunter sie symbolisch gefasst werden – der Weiblichkeit« (ebd.). Im Modus der immanenten Kritik möchte der Kommentar die von den Herausgebern formulierten Ansprüche, welche etwa in dem »Aufzeigen unterschiedlicher historischer Erfahrungen« (Engelmann/Pfützner: 16), dem »Anknüpfen an aktuelle pädagogische und sozialwissenschaftliche Debatten« (ebd.) und der »systematische[n] Bestimmung sozialistischer Pädagogik« (ebd.: 40) bestehen, aus einer feministischen Perspektive mit der Form und dem Gehalt ihrer Realisierung konfrontieren. Gemeinsam sind den Beiträgen die Verdrängung der menschlichen Angewiesenheit und die damit verbundene Verdrängung der mit Weiblichkeit konnotierten Position in Theorie, Gesellschaft und Geschichte. Im vorliegenden Band äußert sich dieser Ausschluss insbesondere in der Figur der »queeren Gleichheit« (ebd.: 32), die nicht nur an der ›Frauenfrage‹ vorbeigeht, sondern auch eine herrschaftserhaltende Funktion hat. Neben der Kritik an diesem Zusammenhang wird im Kommentar zudem angestrebt, den Gegenstand – feministisch-theoretisch begründet und darüber hinausweisend – geschichtlich zu denken. Werden die menschliche Angewiesenheit bzw. ihre Leugnung und daraus resultierende Herrschaft zum Ausgangspunkt der Kritik, kann angesichts des Themas des Sammelbandes Sozialismus und Pädagogik, die Kategorie Geschlecht schwer alleine stehen. Die feministische Theorieperspektive ist um die erziehungswissenschaftliche zu erweitern, was zu dem in der Sache begründeten wechselseitigen Verhältnis der Kategorien Ge-
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schlecht und Generation führt. Als doppelte Angewiesenheit gehören sie ebenso zu den Voraussetzungen von »Sprechen und Schreiben« aber auch zu denen von Sozialismus und Pädagogik. Zudem erschöpfen sie sich nicht in der »Erzählung« (ebd.: 19), dem Diskursiven: Die doppelte Angewiesenheit betrifft das Soziale wie das Materielle, was anthropologisch und historisch begründet werden kann. Ohne die Angewiesenheit wären Fragen nach den ökonomischen Verhältnissen, der gesellschaftlichen Ordnung und der Gestaltung von Erziehung und Bildung, von wenig Relevanz. Der Umgang mit den materiellen Lebensbedingungen, die Verteilung von Besitz, die Arbeitsteilung und das Generationenverhältnis (in der Differenz von Kindern und Erwachsenen) wie die Generativität und Sexualität (in der Geschlechterdifferenz) sind Teil davon. Historisch manifestiert sich die Verschränkung von Geschlecht und Generation mit gesellschaftlicher Ordnung und Ökonomie insbesondere in der Familie, als dem Ort, an welchem die Angewiesenheit und ihre kulturelle Bearbeitung verhandelt wird (Becker-Schmidt 2007). Die kapitalistische ökonomische und gesellschaftliche Struktur ist abhängig von der Familie und der dort durchgesetzten Unterdrückung der Frau (vgl. Horkheimer [1936] 1987).2 Zugleich ist es diese Struktur, in der Frauenarbeit wenig geldwert oder unbezahlt ist, die deren Unterdrückung ermöglicht (ebd.).
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Historisch ist die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise gekoppelt an die Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft. Obwohl unter anderem die Beiträge von Petula Neuhaus sowie von Daniel Burghardt und Thomas Höhne in diesem Band darauf verweisen, wird dieser konstitutive Zusammenhang nicht hinsichtlich seines immanenten Geschlechterverhältnisses, dem Patriarchat, reflektiert. Es ist bemerkenswert, dass ein Sammelband, der sich in der Hauptsache mit dem Verhältnis von Sozialismus und Pädagogik befasst, gänzlich auf eine Kritik an dem patriarchalen Gesellschaftsverhältnis, worin sowohl Geschlechter- als auch pädagogische Verhältnisse eingebettet sind, verzichten kann. Dabei ließe sich analytisch an Theorietraditionen, Politik sowie historischen und zeitdiagnostischen Analysen des sozialistischen Feminismus anschließen, welche die Frauenunterdrückung in der modernen Welt in Zusammenhang mit der Geschichte des Kapitalismus und ihrer Gesellschaftsform, der bürgerlichen Gesellschaft, stellt. Aus deren Perspektive sind feministische Veränderungsforderungen in Kritik an den strukturellen Verbindungen zwischen Patriarchat und Kapitalismus zu entwickeln (vgl. Haug 2010).
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Die Familie ist folglich nicht der einzige (pädagogische) Ort, an dem Geschlecht für Pädagogik und Gesellschaft relevant ist. Sie ist vielmehr für marxistisch-psychoanalytisch geschulte Autor/innen kulturelles Fundament und Modell für pädagogische Institutionen und deren herrschaftserhaltende Funktion (vgl. insb. Bernfeld [1925] 1973; Schmidt 1924). Die Kritik am autoritären Vater, der sexuellen Repression (vgl. Reich [1936] 1966) und an der bürgerlichen Enge machte die fundamentale Kritik an der Ehe und Familie insbesondere für die Studentenbewegung und APO in den langen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts attraktiv. Die zweite Frauenbewegung entlarvte jedoch nicht nur die ›Sexuelle Revolution‹ als Befreiung der vornehmlich männlichen Sexualität von Verantwortungsübernahme; sie arbeitete insbesondere auch die Bedeutung der Geschlechterordnung in der Weitergabe der bestehenden Verhältnisse an die nachfolgende Generation heraus (vgl. Baader 2012).3 In der Trennung und Hierarchisierung von öffentlicher und privater Sphäre, von Politik und Persönlichem, von Kultur und Natur, von Geist und Körper, und nicht zuletzt in der von produktiver und reproduktiver Sphäre findet dies seinen Ausdruck (vgl. Casale/Windheuser 2018). Diese Formation von Denken und gesellschaftlicher wie pädagogischer Praxis ist eingelassen in die begriffliche Unterscheidung von Erziehung und Bildung wie auch in die ökonomische und gesellschaftliche Struktur. Sie ist damit für die zentrale Frage nach einer sozialistischen Pädagogik von enormer Bedeutung. Wie bereits oben eingeleitet, hat sich vor diesem Hintergrund der Kommentar dem Vergessen der Reflexion des Geschlechterverhältnisses in diesem Sammelband zu widmen. Dazu werden folgende Ebenen zur Analyse des Vergessens von Geschlecht im vorliegenden Sammelband in den Blick genommen: die erkenntnistheoretische (1.), die theoriegeschichtliche und die gesellschaftsanalytische (2.).
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Spätestens damit ist darauf verwiesen, dass Linke und Frauenbewegung zwar gemeinsame Gegenstände haben können, daraus jedoch nicht auf eine genuine Zusammengehörigkeit zu schließen ist. Daher reicht es auch nicht, die proletarischen Frauenbewegung und ihre pädagogischen Ansätze in sozialistischer Pädagogik aufgehen zu lassen (vgl. Burghardt/Höhne i.d.B.) oder die Frauenbewegung als Teil der Arbeiterbewegung zu betrachten (vgl. Engelmann/Pfützner zu transversaler Solidarität).
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1. E RKENNTNISTHEORIE O DER: D IE ATTRAKTIVITÄT
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VON QUEER
Zentrales Anliegen der Herausgeber ist es, eine systematische Bestimmung des Sozialismus mit der Reflexion der »eigenen politisch-sozialen Situiertheit« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 16) zu verknüpfen. Wird die (theorie-) geschichtliche Situiertheit des Sammelbandes ernst genommen, kann die These vertreten werden, dass darin »queere Gleichheit« einmal mehr zur De-Thematisierung von Geschlecht und speziell der Unterdrückung von Frauen beiträgt. Zunächst soll an dieser Stelle erläutert werden, was unter feministischer Theorie zu verstehen ist. Darauf aufbauend wir danach gefragt, inwiefern die im vorliegenden Band genutzte Vokabel »queerer Gleichheit« an der ›Frauenfrage‹ vorbeigeht, wenn nicht gar herrschaftserhaltende Funktion hat. Feministische Theorie beschäftigt sich mit der Frage, unter welchen Bedingungen Unterdrückung qua Geschlecht und spezifisch der Frau, erfolgt und was Geschlecht überhaupt ›ist‹ (vgl. Windheuser 2018, vgl. Rubin 2006/1975). Wesentlich dafür ist, »die Logik, das ›Gesetz‹, den Rahmen der hierarchisierenden Geschlechterordnung zum Gegenstand der Analyse zu machen« und sich auch mit dem zu befassen, »wofür in der herrschenden Logik kein Platz vorgesehen ist«, was eine »utopische Dimension« (Casale 2013: 17) eröffnet. Als theoretische und politische Bewegung ab Mitte des 20. Jahrhunderts betrachtet, kann der Feminismus historisch in Gleichheitsfeminismus, Differenzfeminismus, und Gender-Theorie rekonstruiert werden (vgl. Casale/Windheuser 2018)4: Für Simone de Beauvoir ([1949] 1997) bildet die Arbeit »die Voraussetzung für die Gleichheit der Geschlechter, die dann sowohl politisch als auch ökonomisch zu realisieren sei [Herv. RB/JW]« (Casale/Windheuser 2018). Die Frau habe ähnlich wie der Mann über diesen Weg eine Emanzipation aus der Natur zu vollziehen. Insbesondere in den Werken Shulamith Firestones (1970) und Kate Millets ([1969] 2016) werden sexualpolitische Konsequenzen daraus gezogen. Dem gegenüber betrachtet der Differenzfeminismus die Orientierung der Frauenbefreiung am männlichen Transzendenzmodell für kontraproduktiv: Differenz wird von Autorinnen, wie
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Die Darstellung der drei feministisch-/gendertheoretischen Positionen beruht auf dem Handbuchartikel »Feminism« von Casale/Windheuser 2018.
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Luce Irigaray ([1974] 1980), Julia Kristeva ([1969] 1980) und Hélène Cixous ([1975] 2013) »als Spaltung in der symbolischen Ordnung [Herv. i. O.]« (Casale/Windheuser 2018) verstanden. Das gesamte abendländische Denken – von dem sich auch studentische und marxistische Bewegung nicht lösen können – ist in ihren Augen einer »phallogozentrischen Logik unterstellt« (ebd.). Die sexuelle Differenz ist für die differenzfeministische Theorie sowohl das im vorherrschenden Denken Ausgeschlossene als auch Name für eine womöglich andere symbolische Ordnung. Aus der darin angestrebten relationalen Beziehung – entgegen einer, in der die Gleichheit der Männer auf der Ausbeutung der Frauen beruht – gehen auch pädagogische Konzeptionen hervor, die der Mutter »nicht nur reproduktive, sondern generative Funktion« (ebd.) zuschreiben (Diotima 1989). Während für den Differenzfeminismus die Abwertung und der Ausschluss der Frau (symbolisch wie gesellschaftlich) das Geschlechterverhältnis bestimmen, ist es in der gender- und queertheoretischen Perspektive die Zweigeschlechtlichkeit bzw. die Normativität der Heterosexualität (Rubin [1975] 2006; West/Zimmermann 1987; West/Fenstermaker 1995). In dem Kontext der dabei aufgeworfenen Frage, ob Geschlecht natürlich oder kulturell begründet sei, gewinnt die sex/gender-Unterscheidung an Relevanz. Insbesondere für die deutschsprachige Rezeption in der Erziehungswissenschaft wird Judith Butlers Gender Trouble ([1989] 1991) Ausgangspunkt für konstruktivistische Perspektiven eines doing gender, in dem letztlich sex eine Folge von gender darstellt. Politisch handelt es sich bei ›queer‹ zunächst um einen emanzipativen Akt der Begriffsaneignung, indem eine ursprünglich diskriminierende Bezeichnung durch einen diesen Kontext überschreitenden Gebrauch ins Positive gewendet wird. Dessen historischen Hintergrund bildet die (USamerikanische) Gay-Liberation ab den 1970er Jahren und die TransgenderBewegung in den darauffolgenden Jahrzehnten bis heute. In der GenderTheorie bekommt queer seine Bedeutung als performative Parodie, welche den diskursiven Charakter von sex und gender entlarven soll (vgl. Butler [1989] 1991). Die sprachpolitischen Konsequenzen finden sich im vorliegenden Sammelband, insofern erstens mit der *-Regelung eine »Entnennung« (Knapp 2013) von Geschlecht vollzogen wird. Während in der Gender- und Queertheorie die Benennung von Geschlecht als normative Zuschreibung oder Ausdruck sprachlicher Gewalt betrachtet wird, kann aus einer differenzfeministischen Perspektive ein
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neuer-alter »Verdeckungszusammenhang« (Bitzan 2000) beobachtet werden: Hinter einer vermeintlich geschlechtsneutralen Sprache bleiben Geschlechterhierarchie sowie die ökonomische, soziale und psychische Ausbeutung der Frau unmarkiert. Zweitens setzt so die Vorstellung queerer Gleichheit die Identifizierung von sozialen Herrschaftsverhältnissen mit kultureller Normativität voraus. Zu diesem Ergebnis kommen jedoch nur solche Perspektiven, die Geschlecht und Identität lediglich in ihrer kulturellen, nicht jedoch in ihrer ökonomischen Vermittlung betrachten. Mit der queertheoretischen Perspektive ist jedoch »eine Verankerung des Kulturellen in der Arbeitsteilung« (Soiland 2009: 3) nicht zu reflektieren und zu problematisieren. In ihrer Entstehung ebenso wie in ihrer Geltung ist die Idee des Sozialismus jedoch nicht zu trennen von der Frage, wie sich die gesellschaftliche und ökonomische Arbeitsteilung jenseits kapitalistischer Produktionsverhältnisse organisieren lässt. Auch wenn sich mit der im Sammelband vorzufindenden ›honnethschen‹ Sozialismuslektüre ein Abschied von der Analyse der materiellen Bedingungen abzeichnet, sei hier auf die Ignoranz bezüglich der Frauen-Frage als ›Nebenwiderspruch‹ verwiesen: Mit Bezugnahme auf Gayle Rubin (s.o.), Luce Irigaray ([1977] 1979) und Claude Meillassoux ([1975] 1976) zeigt Regina Becker-Schmidt, dass bereits Marx »die Konnexion von ›Hausarbeit und Mehrwertproduktion‹« nicht nur vernachlässige, sondern »vielmehr der Frage ausweicht, wie eine Gesellschaft generative und regenerative Prozesse in Gang hält« (Becker-Schmidt [2014] 2016). Die Bezugnahme auf »queere Gleichheit« mag gegenwärtigen ›Fortschrittserzählungen‹ in postfeministischen Zeiten entgegenkommen, sie hinterlässt jedoch eine historisch, theoretisch wie politisch entleerte Worthülse: Weder wird der sozialgeschichtlichen Bedeutung des Begriffs ›queer‹ aus der Homosexuellen- und Transgender-Bewegung Rechnung getragen, noch kann mit ihm als theoretischem Konzept theoriegeschichtlich eingefangen werden, was Gegenstand und Analyse der feministischen Theorie5 ist. Vielmehr wird der Begriff in Besitz genommen und es stellt
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Tatsächlich ist die Frage nach dem Verhältnis von Gleichheit und Differenz (wobei Differenz wie oben beschrieben relational und nicht als Vielfalt zudenken ist) schon mit Olympe de Gouges’ Erklärung der Rechte der Frau und der
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sich die Frage, warum er – ebenso wie die Rezeption Butlers – an Attraktivität gewinnt, in einem (erziehungs-)wissenschaftlichen Publikationsbetrieb, der sich größtenteils wenig für die eigene geschlechtliche Angewiesenheit und Bedingtheit interessiert. Verspricht er ein ›immer mitgedacht‹, um sich der Kritik an einem weiterhin männlich-dominierten Blick zu entledigen? Oder wird mit der De-Thematisierung als ›Mehr desselben‹ erneut die Logik nach einem Maßstab ohne Differenz aufrechterhalten? Ermöglicht er einen diskursiven Austausch unter Männern6 (und ihnen ähnlich denkenden Frauen) über Gegenstände – Pädagogik, Gesellschaft, Arbeit – ohne deren generative, reproduktive, natürlich-körperliche Bedingungen und deren Zurichtung mitdenken zu müssen?
2. T HEORIEGESCHICHTE UND G ESELLSCHAFTSANALYSE In dem von Engelmann und Pfützner bezeichneten »Aufschlag«, dem es darum gehe, »zu diskutieren, was die Begriffe Sozialismus und Pädagogik [...] bedeuten können, sowie zu fragen, was sozialistische Pädagogik als Kompositum beider Begriffe sein kann [Herv. i.O.]« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 19) zeichnet sich ein ambivalentes Verhältnis der Reflexionen ab. Diese Ambivalenz manifestiert sich erstens sozialgeschichtlich, zweitens in der immanenten Geschichtlichkeit der Ideen und der Theorien, auf die sich die Überlegungen stützen, und drittens in der geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedeutung des Geschlechterverhältnisses. Im Hinblick auf die sozialgeschichtlichen Entwicklungen und Zusammenhänge, insbesondere in Bezug auf den realexistierenden Sozialismus, wollen Engelmann und Pfützner keinen Zweifel daran aufkommen lassen,
Bürgerin Bestandteil einer frauenbewegten revolutionären (und nicht reformerischen) Geschichte (vgl. Gerhard u.a. 1990). 6
Luce Irigaray beschreibt die spezifische Ausgestaltung der symbolischen Ordnung als eine der ›Hom(m)osexualité‹ (Wortspiel mit dem frz. homme, was Mann und Mensch bedeutet): diese ist als ein materieller wie auch symbolischsexueller Tauschhandel unter Männern zu verstehen, in den Frauen zwar als Getauschte, aber nicht als Tauschende oder Gestaltende der Ordnung selbst eintreten können (vgl. Irigaray [1974] 1980; [1979] 1979).
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dass »die Verbrechen, die unter Berufung auf den Namen von Sozialismus und Kommunismus begangen wurden, […] nicht zu relativieren« (ebd.: 34) seien. Zugleich nehmen sie jedoch eine relativierende Position dazu ein, wenn sie schreiben, dass eine Reduzierung des pädagogischen Blicks auf eben jenen eine »arge und unsaubere Perspektivverkürzung [sei]. Sich lediglich auf eine, dann auch noch historische, empirische Realität zu beziehen, in der man ein objektives Bild zu erkennen glaubt, reproduziert eher herrschende Vorurteilsstrukturen, als wissenschaftliches Verstehen zu ermöglichen« (ebd.: 15f.). Diese Ambivalenz besteht auch dort, wo einerseits sozialismuskritische Perspektiven auf die Ereignisse der Vergangenheit in das Reich der Vorurteile verschoben werden, andererseits die Autoren die Vergangenheit mit einer positiven politischen Bedeutung versehen. Dies ist dann der Fall, wenn die Autoren sich für eine kritisch-solidarische Haltung gegenüber vergangenen Kämpfen aussprechen und zum »normativen und politischen Standpunkt« (ebd.: 18) erheben. Ungeklärt bleibt, was unter einer kritisch-solidarischen Haltung zu verstehen ist. Dies schlösse auch die Frage nach dem Geschlechterverhältnis sowie nach der Position der Frau mit ein. Begründet wird die Solidarisierung mit vergangenen Kämpfen im Namen einer sozialistischen Veränderung damit, dass »unter dieser Losung seit mehr als 200 Jahren Menschen für eine andere, eine bessere Welt« kämpfen (ebd.: 18). Der Mensch wird als solcher vorausgesetzt, ohne jedoch weiter darauf einzugehen, welche Rolle die sexuelle Differenz und deren historische Bedeutung für ihn spielen könnten. Der Ausschluss von Frauen und der weiblichen Erfahrung sowohl in politischen Kämpfen, als auch in Bezug auf politische Denkmöglichkeiten müsste explizit zum Thema einer kritischen Haltung gegenüber der Geschichte gemacht werden. Aber nicht nur der Geschichtsrelativismus und Traditionalismus irritieren, wenn es um die Begründung der Notwendigkeit sozialistischer Perspektiven geht, sondern auch der Umstand, dass dem Beitrag eine grobmaschige, zeitdiagnostisch allenfalls oberflächliche Geschichte des Verfalls zugrunde gelegt wird. Es sind aber gerade die Erzählungen im Gegensatz zu strukturellen Analysen, welche die Grenzen zwischen einer populistischen und einer substantiellen Problemdiagnose kontinuierlich aufweichen: »Wir sind Zeugen und Akteure einer Epoche, in der die Gewissheiten eines fortschrittsoptimistischen, eurozentrischen und – zumindest in den kapitalistischen Zen-
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tren – sozial befriedeten Zeitabschnitts erodiert sind. Die multiplen globalen Krisen, die normativen Verunsicherungen der Postmoderne, die Rückkehr der sozialen Frage in das öffentliche Bewusstsein und die Herausforderung des Klimawandels machen die Suche nach Alternativen zum business as usual dringend notwendig [Herv. i.O.].« (Ebd.: 17)
Gleich dem benjaminischen Bild vom Griff zur Notbremse, mit dem die laufende Maschine angehalten werden muss, wollen die Autoren geschichtlich tabula rasa machen und den Sozialismus in einer revidierten Form an den Anfang eines politischen Neubeginns stellen. Worin gründet jedoch die Möglichkeit der Veränderung, wenn diese geschichtlich und gesellschaftlich unbestimmt bleibt? Wer ist dieses in Anspruch genommene, aber nicht weiter spezifizierten »Wir«?7 Darüber hinaus hat die Enthistorisierung auch eine methodologische und gesellschaftstheoretische Dimension. Auf methodologischer Ebene zeigt sich diese in dem wiederkehrenden Vorgehen, Theorieperspektiven aus ihrem ideen- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang herauszunehmen, wie etwa in der Abkehr von der geschichtsphilosophischen Begründung der Idee des Sozialismus. Darin zeigt sich eine bedeutende Verschiebung im Verhältnis von Theorie und Geschichte.8 Die geschichtsphilosophische Perspektive ist getragen von der Annahme, dass spezifische Bestimmungen nicht nur geschichtlich begründet, sondern auch ein Konstitutionsverhältnis im geschichtlichen Verlauf markieren können. Der vorlie-
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Gerade angesichts der Forderung nach einer revidierten Form des Sozialismus ist nach einer Spezifizierung des »Wir« zu fragen. Denn dieses, wie auch die Utopie eines Neuen bedürfte einer Analyse des Bisherigen. Wenn das ›Wir‹ nicht reflektiert, wer dazu gehört und wer nicht, oder was das ›Wir‹ bedingt, bleibt voraussichtlich ausgeblendet, dass es – an Heide Schlüpmann (2014) anschließend – die Frauen, Arbeiter/innen und Migrant/innen sind, die für das bürgerliche, weiße, männliche Subjekt Sorge tragen.
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Nicht zu verwechseln sind Geschichte und Geschichtlichkeit sowie Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt. Während spezifische historische Ereignisse und Entwicklungen zentraler Gegenstand der Rekonstruktionen und Analysen der verschiedenen Beiträge sind, werden diese kaum in einen geschichtsphilosophischen Zusammenhang gestellt. Die Geschichtlichkeit des Denkens und die Historizität des Gegenstandes bleiben in der Analyse unvermittelt.
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gende Text zeigt sich gleichgültig gegenüber dem historischen und geschichtsphilosophischen Kontext, in welchem die Idee des Sozialismus Ende des 18. Jahrhunderts im Anschluss an die drei großen Normen, die mit der Französischen Revolution ins Zentrum der modernen Gesellschaft gerückt wurden, steht.9 Stattdessen werden diese unvermittelt zur großen Gegenerzählung gemacht, die als »soziale Freiheit, queere Gleichheit, transversale Solidarität« (ebd.: 30) erzählt wird. Nicht zufällig schließen sie dabei an die Idee »sozialer Freiheit«, wie sie Axel Honneth in seinem Buch Die Idee des Sozialismus (2015) entwickelt, an. Honneth argumentiert darin, dass die normative Kraft der Idee des Sozialismus davon abhängt, diese aus ihren geschichtlichen Beschränkungen herauszulösen und auf einer abstrakteren und höheren Ebene zu reformulieren, so dass sie formaler ist, auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge übertragen werden und die moralischen Antriebskräfte wiederbeleben kann (ebd.: 146). Alex Demirović (2016) hat in seiner Kritik an Honneths Überlegungen darauf hingewiesen, dass dieser von vornherein die Frage nach dem Sozialismus von materiellen hin zu moralphilosophischen Fragen verschiebe. Auch Engelmann und Pfützner vollziehen diese Verschiebung, wenn sie Freiheit, Gleichheit und Solidarität von ihren immanenten geschichtlichen Voraussetzungen entkoppeln und vorschlagen, diese auf der einen Seite als Gegenerzählung zu situieren, auf der anderen Seite im erkenntnistheoretischen Widerspruch zur Narrativität der Perspektive ethisch zu begründen. Diese Ambivalenz zeigt sich etwa dort, wo der Anspruch einer ethischen Begründung, also der überzeitlichen und überindividuellen Festschreibung einerseits und die Inanspruchnahme der Perspektive von queer, die sich kritisch gegenüber jeder Form der identifi-
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Nicht so der Beitrag von Burghardt und Höhne, welcher sozialistische Pädagogik als »Teilgeschichte der Geschichte des Marxismus« (Burghardt/Höhne i.d.B.: 204) auffasst und davon ausgehend die materiellen und symbolischen Herrschaftsverhältnisse, die Erziehung und Bildung in der bürgerlichen Ideologie bestimmen, in den Blick nimmt. Im Zentrum ihrer materialistischen Analysen steht primär der Widerspruch zwischen dem universalistischen Anspruch auf Freiheit der für den modernen Bildungsbegriff konstitutiv ist und der hierarchischen Herrschaftsstruktur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Die patriarchale Struktur der bürgerlichen Gesellschaft wird dabei jedoch nicht zum Gegenstand der Kritik gemacht.
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zierenden Festschreibungen positioniert, unvereinbar sind. Einem Denken jedoch, welches glaubt, sich in zweifacher Weise von seiner geschichtlichen Bedingtheit und somit auch von seiner immanenten Widersprüchlichkeit befreien und die ihm geschichtlich aufgegebenen Probleme auf einer abstrakten Ebene lösen zu können, droht dadurch stets, genau in diesen verfangen zu bleiben. Mit der Abkehr von der geschichtlichen und materialistischen Dimension des sozialistischen Anliegens schließen die Autoren aber nicht nur an jene Denkpositionen an, die darauf zielen, sozialphilosophische Antworten auf gesellschaftliche Problemstellungen zu geben (vgl. Honneth 2015; Jaeggi 2014), sondern auch an die postmarxistischen Entwicklungen der linken Theorie in Frankreich, welche den Grundfehler des klassischen Marxismus darin sieht, gesellschaftstheoretisch zu denken (vgl. hierzu kritisch: Menke 2015). In dem Anspruch des Sammelbandes drückt sich aus, was Rita Casale als einen »Übergang von einer Gesellschaftstheorie zu einer politischen Epistemologie [Herv. i.O.]« (Casale 2008) bezeichnet. Nicht mehr Gesellschaft als historisch gewachsenes, in und durch seine politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Zusammenhänge und Widersprüche hindurch vermitteltes und institutionell sedimentiertes Verhältnis materieller und symbolischer Strukturen, sondern das Soziale, das als eine diskursiv hervorgebrachte und relationale Gesamtheit sozialer Elemente und Phänomene aufgefasst wird, ist zentral für die Analyse sozialer Phänomene, etwa die Geschlechterverhältnisse. Während eine materialistische Perspektivierung sozialer Zusammenhänge die Frage fokussiert, wie Produktion und Reproduktion, die in einer kapitalistischen Gesellschaft auf die Erzeugung von Mehrwert zielen, gesellschaftlich organisiert ist, geht es einer post-materialistischen Perspektive nunmehr um die Materialität des Symbolischen und die Frage, wie und wo sich kulturelle Normen sedimentieren.10 Mit der queer-theoretischen Interpretation des Gleichheitsbegriffs sowie dem Konzept einer transversalen Solidarität, d.h. eine über die Grenzen der Kulturen, der Generationen, der Geschlechterdifferenz hinausgehende Form der Gemeinschaft, suchen die Autoren einen Ausweg aus den gesellschaft-
10 Folgt man Boltanski/Chiapello ([1999] 2003) zeichnet sich dieser Wandel insbesondere in einem Übergang von der »Sozialkritik« zur »Künstlerkritik« in den 1970er Jahren ab.
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lichen und ökonomischen Ungleichheitsverhältnissen aufzuzeigen. De facto haben sich auf kultureller und staatspolitischer Ebene viele der Forderungen der queer-Perspektive im neoliberalen Gesellschaftsregime bereits durchgesetzt. Doch auch nach der weitreichenden Enttraditionalisierung der Geschlechterrollen sowie einer »Entstandardisierung der biographischen Verläufe« (Annuß 1996: 514) von Frauen, bleibt die grundlegende Hierarchisierung zwischen den Geschlechtern erhalten (vgl. Soiland 2009). Dies zeigen unter anderem verschiedene Analysen, die sich mit den Konsequenzen des Rückzugs des Staates aus der postfordistisch organisierten Sphäre sozialer Reproduktion einerseits und dem Zusammenhang zwischen der Identifizierung von Fürsorge als ›Frauenarbeit‹, den prekären Arbeitsbedingungen im Care-Sektor und der Tatsache, dass diese überwiegend von Frauen ausgeübt werden befassen (vgl. Chorus 2007; Kratzer/Sauer 2007; Theobald 2008). Indem die kritische Analyse der geschlechterhierarchischen Strukturierung der Arbeitsverhältnisse und der Verteilung von Produktionsmitteln vernachlässigt werden, verbleibt die Trennung von produktiver und reproduktiver Sphäre unsichtbar. Selbst der Neoliberalismus, in dessen Humankapitaltheorie (fast) jede menschliche Regung als Arbeitskraft gewertet und damit marktrelevant wird (vgl. Becker 1962), baut auf die schlecht oder unbezahlte reproduktive Mehrarbeit von Frauen. D.h. weder die kapitalistische, bürgerliche Gesellschaft – welche untrennbar mit der Sphärentrennung verbunden ist – noch ihre Transformationen der Gegenwart – wie dem Wandel vom family wage zum double-earner family modell11 (vgl. Fraser 2016) – können mit einem narrativen und von der Kapitalismuskritik bereinigten Sozialismus-Begriff erfasst werden. »Soziale Freiheit« blendet dann die für eine gesellschaftliche Veränderung notwendige Auseinandersetzung mit der Logik und dem Wert ›weiblicher‹ Arbeit12 aus. Die Negation der Geschlechterdifferenz kann der männlichen
11 Diese Veränderung ›funktioniert‹ allerdings nur durch eine erneute Auslagerung der Arbeit an Frauen: Durch eine global care chain (Hochschild 2000) wird die Sorgearbeit des Westens und Nordens an entsprechende Migrantinnen unter prekären Bedingungen weitergereicht. 12 Wie Gisela Bock und Barbara Duden bereits 1977 rekonstruieren, stellt dabei die »Erfindung« und Durchsetzung der Hausarbeit eine bedeutende Rolle für die moderne westliche und kapitalistische Gesellschaft. Dabei ist die Notwendigkeit von Sorgearbeit nicht als solche ›erfunden‹, allerdings ihre Zuweisung an eine
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Aufklärungstradition, für die die Leugnung der geschlechtlichen und generationalen Angewiesenheit konstitutiv ist (insofern der Zögling insbesondere zur Autonomie finden soll und die Mutter nur einen natürlichen Urgrund vor der Initiation des Vaters darstellt), nichts entgegensetzen.
E PILOG Die gesellschaftliche Realisierung einer sozialistischen Utopie ist u.E. nicht zu trennen von der Frage, wie sich die gesellschaftliche und ökonomische Arbeitsteilung jenseits kapitalistischer Produktionsverhältnisse organisieren. Die Arbeitsteilung in der produktiven wie reproduktiven Sphäre – in Betrieben, öffentlichen (Bildungs-/Erziehungs-) Einrichtungen und im Privaten/der Familie – ist in ihrer Trennung und Wertigkeit nach kapitalistischen Maßstäben patriarchal gebunden. Zwar lassen sich in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Konstellation post-bürgerliche Tendenzen festhalten, die auch das Geschlechterverhältnis betreffen, dennoch bleiben bestimmte Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft insbesondere in der Arbeitsteilung und ihrer Hierarchie wirkmächtig. 13 In der Fokussierung der Herausgeber auf eine kulturelle Neugründung des Sozialismus finden diese materiellen Verhältnisse und die zugehörige symbolische Ordnung keinen Eingang. Damit läuft der Sammelband Gefahr, Sozialismus und Pädagogik von einer feministischen Gesellschaftsanalyse zu entkoppeln. Kulturell vermittelt wird dabei Sozialismus zur Erzählung und führt damit zum Ausschluss der Angewiesenheit auf Materialität und Natur. Diese Aussparung folgt einem Denken, das auch für das bürgerlich-männliche Subjekt charakteristisch ist: Androzentrisch wird so die Angewiesenheit auf Andere in seine Peripherie verlagert, womit Frau und Kind gemeint sind. Ausschluss und Abwertung des Kreatürlichen, der
Hälfte der Bevölkerung und deren Abwertung – gebunden an eine Ideologie von »Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit« (Bock /Duden 1977). Weiterführend zur Bedeutung von Care, Geschlecht und Ethik: Dingler 2016. 13 Die ›Ehe für alle‹ ist prägnantes Beispiel einer Ambivalenz von anwesendabwesender Bürgerlichkeit. Wie jüngste Daten der OECD zeigen, hat sich zudem in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in heterosexuellen Kleinfamilien nur bedingt eine Änderung eingestellt (vgl. OECD 2017).
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(vermeintlich reinen) Natur, der Sorgearbeit für Andere (die nicht im Monetären oder im Tausch von Äquivalenten einfach aufgeht) und der Frau sind der unbehagliche Untergrund einer männlichen Subjektlogik und einer spezifischen gesellschaftlichen wie ökonomischen Ordnung. Werden die Vorstellung ›queerer Gleichheit‹ und der der materialistischen Analyse enthobene Sozialismus-Begriff bedacht, ist zu fragen, ob hier nicht in gewisser Weise die Fortsetzung eines zentralen Problems vollzogen wird – das sich geschichtlich konstituierte, gesellschaftlich sedimentierte und institutionell stabilisierte (patriarchale) Geschlechterverhältnis –, wenn dieses zwar auf einer kulturellen Ebene vermeintlich aufgehoben wird, jedoch ökonomisch fortbesteht. Werden geschlechtliche Differenz und ihre strukturelle gesellschaftliche wie ökonomische Materialität dem Vergessen preisgegeben, wird sich schwerlich eine Herrschaftsanalyse und daraus abgeleitete Utopie contra des Bestehenden entwickeln lassen.
L ITERATUR Annuß, Evelyn (1996): Umbruch und Krise der Geschlechterforschung: Judith Butler als Symptom, in: Das Argument 216, Jg. 38, H. 4, S. 505524. Baader, Meike Sophia (2012): ›Wir streben Lebensverhältnisse an, die das Konkurrenzverhältnis von Männern und Frauen aufheben‹. Zur Kritik von Frauen an Männlichkeitskonstruktionen im Kontext von 1968, in: Dies./Bilstein, Johannes/Tholen, Toni (Hg.): Erziehung, Bildung und Geschlecht. Männlichkeiten im Fokus der Gender-Studies, Wiesbaden, S. 103-116. Beauvoir, Simone de [1949] (1997): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg. Becker, Gary S. (1962): Investment in Human Capital: A Theoretical Analysis, in: Journal of Political Economy 70 (1962), S. 9-49. Becker-Schmidt, Regina (2007): Geschlechter- und Arbeitsverhältnisse in Bewegung, in: Aulenbacher, Brigitte/Funder, Maria/Jacobsen, Heike/Völker, Susanne (Hg.): Arbeit und Gesellschaft im Umbruch der modernen Gesellschaft, Wiesbaden, S. 250-268. — [2014] (2016): Abstraktionsprozesse in der kapitalistischen Ökonomie – Ausblendungen in der Selbstrepräsentation von Männlichkeit: theoreti-
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»back to the future« Anmerkungen zu den Un_Möglichkeiten sozialistischer Bildung M ARÍA DO M AR C ASTRO V ARELA & J ANEK N IGGEMANN »Das war kein Sozialismus, das war Spießerkram – wir sind nicht am Ende, wir fangen an.« KNARFF RELLÖM
E INLEITUNG Die Einleitung des Buches, in der das Ziel des Bandes bestimmt wird, trägt den Titel Sozialismus + Pädagogik = Sozialistische Pädagogik? und weist schon daraufhin, dass es unter anderem um die Suche nach einem normativen Verständnis von sozialistischer Pädagogik geht. »Notwendig erscheint uns diese Auseinandersetzung aus pragmatischen Gründen: Es geht uns um eine Selbstvergewisserung über unsere Position in den Feldern der akademischen und praktischen Pädagogik, um Orientierung: Welchen Standpunkt wollen wir beziehen? Wie können wir bestimmte Positionen begründen? Welche Perspektiven machen für uns Sinn, um erziehungswissenschaftlich zu forschen, zu lehren und pädagogisch zu arbeiten?« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 17)
Es wird unserer Meinung nach allerdings ein eher unproduktiver Weg eingeschlagen: 1. statt von gesellschaftlich produzierten Widersprüchen ist
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von Prinzipien die Rede, 2. statt von den politischen Projekten sozialistischer Tradition auszugehen und sie in Richtung einer Weiterentwicklung heute zu kritisieren und darin auch die Selbstverortung im Kontext von Befreiungsbewegungen zu suchen, wird von Sozialismus als Idee und Denkweise ausgegangen, nicht von seinen Praxen, Pädagogiken und Gewaltverhältnissen und 3. werden nachfolgend die entsprechenden Gruppen, Projekte, Parteien und Kontexte nicht rekonstruiert oder auf eine mögliche Veränderung in ihren politischen Strategien hin untersucht oder für ihre autoritären Lernformen kritisiert. Sozialismus ist unseres Erachtens aber kein normatives Prinzip, sondern der Name für die Vorstellung einer anderen, besseren, heute noch nicht vorstellbaren Gesellschaft der freien Assoziation. Unter Sozialismus werden aber auch die vielen gescheiterten Versuche verstanden, eine Alternative zu imperialer kapitalistischer Entwicklung zu erkämpfen, die so unterschiedlich sind, dass Sozialismus im Plural von Sozialismen gedacht werden muss. Jeder dieser Versuche braucht eine Historisierung, die nicht selbst einer musealen oder totalisierenden Festlegung folgt, sondern die die Widersprüche ihrer Entwicklungen und der historischen Kontexte und Tendenzen im Hinblick auf eine gegenwärtige Praxis von Befreiung denkt. Diese Historisierung kann fragmentarisch sein, aber sie muss ihren Gegenstand klar konstruieren und ihren Zweck benennen, sonst wird mehr verdeckt, als sichtbar gemacht; dann muss mehr gelöscht werden als neu zusammengesetzt. Um sich kritisch in der Wissenschaft zu verorten, was angesichts der möglichen Breite von Sozialismen bereits eine radikale Verengung wäre, braucht es weniger eine Verbindung von Sozialismus und Pädagogik, als eine Selbstreflexion der Wissensproduktion im Kontext der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und der Kritik an der Illusion einer Neutralität und Harmlosigkeit von Wissenschaft, die lediglich den Status Quo als gegeben anerkennt und reproduziert. Warum sollten wir Sozialismus als Begriff oder als Perspektive verwenden und warum sollten wir dazu auf jene Definitionen zurückgreifen, die vor seiner Geschichte oder an ihrem Anfang liegen? Wäre es nicht umgekehrt sinnvoll zu überlegen, welche sozialen Gruppen zu welcher Zeit und mit welcher Absicht Sozialismus zum Fixpunkt ihres Denkens und Handelns, ihrer praktischen Philosophie gemacht haben und so jede seiner begrifflichen Festlegungen mit ihrer Intervention praktisch und theoretisch kontaminiert
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haben?1 Für jene, die über Sozialismus als positivem Bezugspunkt sprechen, kann es kein Zurück zu früheren Bedeutungen geben, sondern nur die Einheit von Kritik und Weiterentwicklung, wie Alex Demirović betont: »Wenn wir heute über Sozialismus sprechen, dann ist dies ein reflexiver und kritischer Sozialismus, der von den Fehlern der sozialistischen Experimente ebenso weiß, wie er ernst nimmt, dass diese Fehler im Namen des Sozialismus begangen wurden und sie ihm nicht allein nur von außen widerfuhren.« (Demirović 2012: 161)
Für uns wäre dementsprechend ein Aufgreifen des Begriffes Sozialismus dann sinnvoll, wenn die Widersprüche sozialistischer Politik kritisch reflektiert werden, statt zu vermeintlich unschuldigen oder historisch weniger belasteten Begriffsdeutungen zu greifen, um sie zum normativen Maßstab einer wissenschaftlich-pädagogischen Praxis heute zu erheben. Anders als die Herausgeber, die schreiben, »Wir glauben aber, dass die Begrenzung des pädagogischen Blicks auf die Zurichtungspraxis, die unter dem Deckmantel von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im realexistierenden Sozialismus waltete, nicht die einzige Möglichkeit ist, über Verknüpfungen von Pädagogik und Sozialismus zu diskutieren[,]« (Engelmann/ Pfützner i.d.B.: 15)
gehen wir davon aus, dass es nicht möglich ist, »Sozialismus und Pädagogik« ohne einen Blick auf die gewaltvollen Praxen, die unter den Namen ›sozialistische Pädagogik‹ figurierten, zu erörtern. Auch ist es bei Weitem nicht so, wie die Autoren konstatieren, dass die Aufarbeitung der Verbre-
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Die Spannbreite eines solchen Vorgehens wäre enorm vielfältig. In Deutschland arbeiten aktuell bspw. SJD Die Falken mit dem Konzept »Sozialistischer Erziehung«. In der Geschichte globaler sozialistischer Politiken reichen die Gruppen vom Sozialistischen deutschen Studentenbund SDS über die sozialistischen Parteien des ehemaligen Ostblocks und Lateinamerikas bis zu den sozialistischen Gegenströmungen innerhalb der kommunistischen Länder Südostasiens. Jede dieser Gruppen verfolgt aber unter »sozialistisch« eigenständig akzentuierte Politiken, Pädagogiken und Strategien, so dass die Frage wäre, an welche heute ein Projekt sozialistischer Bildung anschließen könnte und von wem es getragen werden würde.
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chen, die mittels ›sozialistischer Pädagogik‹ begangen wurden, noch in den Kinderschuhen stecken würde. Wir wissen bereits sehr viel. Genug zumindest, um eine Analyse zum Zusammenhang von emanzipatorischer Theorie und gewaltvoller Praxis durchzuführen. Die Selbstkritik an der Verstrickung des eigenen Denkens, Lehrens und Lernens begründet eine Haltung, die sich weigert, Wissenschaft und Staatsbürger*innenschaft zu spalten und die eine Seite als neutral zu imaginieren, während die andere ihre Herrschaftsansprüche durchsetzt. Was ist die gewaltvolle Seite bisheriger Politik und Wissenschaft im Namen von Sozialismus? Wie wurde mit all jenen Strömungen, Personen, Perspektiven verfahren, die sich der jeweils angestrebten Form von Sozialismus nicht unterwerfen wollten? Von den Debatten um das ›Lumpenproletariat‹ und den Pauperismus als Grenzen der Arbeiter*innenklasse bis zur Psychiatrisierung und Ermordung oppositioneller Kräfte im Kalten Krieg wäre eine schonungslose Aufarbeitung der teils vernichtenden Ausschlüsse im Namen sozialistischer Politik nötig, die freilegt, welches konstitutive Außen in der jeweiligen Variante von Sozialismus bestand und welche Folgen sich dadurch ergaben. Des Weiteren wäre es dann wichtig, die Rolle der Pädagogik und sozialistischer Bildungskonzepte in diesen Gewaltverhältnissen zu bestimmen. Denn die sozialistische Pädagogik ist nicht unschuldig. »Eine der wesentlichen Korrekturen am Begriff des Sozialismus ist, dass das Emanzipationsprojekt als plural und vielseitig verstanden wird und es mit Sicherheit nicht dadurch gelingen wird, wenn endlich einmal alle Proleten sind, deren Partei dann die Führung in Politik und Gesellschaft übernimmt – wovon die Arbeiterbewegung in vielen ihrer Schattierungen träumte und wie es in staatssozialistischen Ländern versucht wurde zu verwirklichen.« (Demirović 2012: 161)
In der Einleitung des Bandes wird aus der Losung der Französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« eine aktualisierte Chiffre gemacht. Hier ist von »Sozialer Freiheit, queerer Gleichheit und transversaler Solidarität« (Engelmann/Pfützner i.d.B.: 39) die Rede und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die jahrhundertealte Geschichte der Aufklärung und ihre Dialektik nun mit supplementierenden Adjektiven neu ausgerichtet wird. Und weil nicht klar wird, wie die Auswahl zustande kommt, bleibt diese merkwürdig losgelöst von aktuellen Auseinandersetzungen darum,
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wer soziale, queere, transversale Politiken unter einer gemeinsamen Perspektive mit dem Namen ›sozialistisch‹ zusammenführt. Zudem wird in dieser versuchten Erweiterung der Bedeutung ignoriert, dass soziale Freiheit nicht die ›bessere Idee‹ ist, sondern das Freiheit und soziale Freiheit zwei Pole eines geschichtlichen Widerspruches bilden und sich nicht austauschen lassen, sondern das spannungsreiche Problem bilden, das begrifflich und politisch anzugehen wäre. Ähnlich verhält es sich mit der unreflektierten Vereinnahmung einer Idee von »queerer Gleichheit«. Dies erscheint aus mindestens zwei Gründen problematisch: Erstens, wie soll Gleichheit queer sein können, wenn es queeren Ansätzen eher um das Recht auf Differenz und die Absicherung von sozialen Rechten geht? Und zweitens, wenn queer nun zu einem Attribut verkürzt wird, bleibt fraglich, ob queer in dieser Bezeichnung nicht unfreiwillig selbst der Enteignung queerer Politiken zuarbeitet, indem es zu einem zeitgenössischen Label für akzeptable Gleichheitsvorstellungen runtergebrochen wird (vgl. auch Woltersdorff 2017). Auch die Idee einer »transversalen Solidarität« ist nicht per se abzulehnen, lässt aber im unklaren, wie historisch der Weg der Kämpfe von der ›Brüderlichkeit‹ bis zum Transversalen gegangen werden könnte oder bereits gegangen wird. In gewisser Hinsicht überspringt diese Vorgehensweise der Herausgeber also die Rekonstruktion politischer Konzepte und Begrifflichkeiten und umgeht die Frage, für wen ein erneuertes Projekt sozialistischer Praxis und Pädagogik wünschenswert und dann zu formulieren wäre. Bezeichnungen wie ›sozialistisch‹ sind wirkmächtig, weil sie selbst Terrains und Medien gesellschaftlicher Bedeutungskämpfe sind. Eine definitorische Festlegung historischer Begriffe durch die Ergänzung mit vermeintlich aktuellen Attributen geht diesem Problem nicht nur aus dem Weg, sondern verstellt sich ihm, indem es diese Auseinandersetzungen abzuschließen versucht. Für aktuelle Bezüge auf Sozialismus stellt sich das Problem anders. Wir folgen auch hier Demirović: »Es ist keineswegs selbstverständlich, dass alle diese Emanzipationsprojekte ihrem Selbstverständnis nach sich mit Sozialismus verbinden. Dennoch ist Sozialismus das Sinnelement – der historisch überlieferte leere Signifikant, der Sinngenerator – dass alle diese Emanzipationsbestrebungen miteinander verknüpft, weil es dafür steht, alle Verhältnisse umzustürzen, unter denen Menschen geknechtet sind.« (Demirović 2012: 162)
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Eine materialistische, praxisphilosophische Perspektive auf Sozialismus, die sowohl für dekonstruktive wie für dialektische Vorgehensweisen Sinn bringend wäre, braucht eine Analyse gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und demokratische Konflikte um die Formen, Strategien und Perspektiven sozialistischer Transformationen. Nur dann erweist sich Sozialismus in den aktuellen Auseinandersetzungen tatsächlich als jener »leere Signifikant«, den Demirović im Sinn hat. Da Sozialismen auch politisch-strategische und theoretische Grundlage vieler antikolonialer Befreiungsbewegungen - etwa der indischen Befreiungsbewegung unter Nehru oder Obervolta unter Sankara – waren, erstaunt es sehr, dass dieses Wissen wieder neu unsichtbar gemacht wird. So bleibt auch hier die Geschichte sozialistischer Erfahrungen eine Geschichte der bekannten sozialistischen Formen und Akteur*innen. In der Einleitung zum Band wird zudem die Trennung von Umverteilungs- und Identitätspolitik wiederholt, obwohl es ja darum geht, dass nichts eine* fesseln soll an ihren sozialen Platz und dass es um eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums an Ressourcen, Zugängen und Entwicklungsmöglichkeiten ginge.
I M Z ICK -Z ACK NACH V ORNE : AUSLASSUNGEN , L ÖSCHUNGEN
UND
U MGEHUNGEN
Im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Projekt und der Programmatik des vorliegenden Bandes, wagen wir hier eine notwendigerweise lückenhafte Widerrede, indem wir diese einem queeren und postkolonialen Blick unterwerfen. Wir möchten zudem erste Ideen des Weiterdenkens einer sozialistischen Bildung skizzieren, die die Widersprüche und Kontingenzen der sozialistischen Praxen zum Ausgangspunkt nimmt, um eine Neurahmung von Bildung als Praxis sozialer Gerechtigkeit vorzunehmen. Wir suchen eine Perspektive, die weder nostalgisch verklärt auf die Geschichte des Sozialismus und die damit einhergehenden sozialen Bewegungen schaut, noch sich an einer Löschung und Dämonisierung der sozialistisch-pädagogischen Experimente beteiligt. Dabei geht uns weder um ein Entweder-oder, noch um ein willkürliches Sowohl-als-auch. Eher beschreiben wir unser eigenes Tun als Suchbewegung, die uns einen Zick-ZackKurs aufnötigt.
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Beginnen wir mit der quasi unhinterfragten Normativität des im Sammelband explizierten politischen Anliegens: Die Debatte um Normen und Normativität ist eine, die wir durchaus als zentral für die Auseinandersetzung mit Pädagogik im Allgemeinen und mit sozialistischer Pädagogik insbesondere ansehen. Fragen die sich stellen sind hier etwa: Muss pädagogisches Tun entlang normativer Vorstellungen geschehen? Wer bestimmt die Normen und wer kann und will sie erfüllen? Wie könnte eine antinormative Pädagogik aussehen? Und dann: Müssen wir Pädagogiken überhaupt normativ definieren? Wer kann sich das Recht rausnehmen, festzulegen, was sozialistische Pädagogik umfasst und was nicht? Welche Ausgrenzungen und Ausschließungen werden hingenommen oder als quasi notwendig in Kauf genommen? Wer bespielt den Kanon sozialistischer Pädagogik? Es scheint uns wenig zufällig zu sein, dass die meisten der zitierten Autor*innen wieder einmal weiß, deutsch und männlich sind. Auch wenn wir selbst keine Apologet*innen einer simplifizierenden Identitätspolitik sind, so sind die Auslassung so vieler bedeutsamer außereuropäischer und nicht weißer Autor*innen (etwa Paulo Freire [1973], der stark in deutschsprachigen progressiven pädagogischen Diskursen rezipiert wird, aber auch bell hooks [1994]) wie auch die Löschung vieler Debatten um sozialistische Pädagogik, die in frauenbewegten und feministischen Kreisen stattgefunden haben, bezeichnend. Normativ ist mithin nicht nur die Setzung, von dem was als ›sozialistisch‹ gelten kann – und letztlich auch soll –, sondern auch die problematische Re-Kanonisierung sozialistischer Schriften und das ohne zu fragen, für welche Gruppen und Akteur*innen überhaupt welche Argumente, Positionen und Kritiken relevant sein könnten. Es ist eine durchaus wichtige Lehre, die wir aus den postkolonialen und dekonstruktiven intellektuellen Eingriffen in kritische Wissensproduktionen gezogen haben, dass ein Rückgriff auf emanzipative (Denk-)Bewegungen einer (selbst-)kritischen Betrachtung wie auch der damit einhergehenden permanent erneuernden Kanonisierung bedarf. Nicht nur weil im Namen des Sozialismus auch pädagogische Praxen entwickelt wurden, die im höchsten Maße bedenklich sind, sondern weil jede progressive Idee und Bewegung nur solange progressiv bleibt, wie sie sich einer persistenten Kritik unterwirft. Pädagogiken im Sozialismus waren selbst Terrains der Auseinandersetzung um seine Realisierung und Ausrichtung, nicht nur in ihrer klassischen Zuspitzung als Dialektik von Elite und Massen, aus der sowohl
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Intellektualitätsfeindlichkeit wie Autoritarismus vergangener sozialistischer Politiken resultierten. Der Zwang, zu einer fortschrittlichen Gemeinschaft zu erziehen, trägt eine eigene Geschichte physischer, psychischer und normativer Gewalt in sich. Judith Butler (2007) zufolge, ist normative Gewalt eine Gewalt, die nicht sichtbar ist. Sie wirkt normalisierend und ausschließend. An Michel Foucaults und Butlers Überlegungen anknüpfend möchten wir in diesem Sinne dafür plädieren, den Ruf nach Normativität zu problematisieren. Obschon wir wohl wissen, dass Normen unumgänglich sind, so ist doch die in ihnen inhärente Gewalt zumindest zu reflektieren. Die Geschichte der Pädagogik – auch der sozialistischen – ist schließlich auf engste verflochten mit Imperialismus und kolonialer Herrschaft (siehe hierzu Castro Varela 2016). Der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos (2014) spricht beispielsweise von der intendierten und gnadenlosen Vernichtung von Wissen. Einen Prozess, den er als Epistemizid bezeichnet und der ein wichtiger Teil der kolonialen Entfaltung und imperialistischen Beherrschung bildete. Die postkolonialen und auch dekolonialen Interventionen in Wissensproduktionen können deswegen nicht ohne die Thematisierung der systematischen Auslöschung von Wissen verstanden werden. Epistemische Gewalt verstehen wir allerdings als eine Gewalt, die Wissen vernichtet, aber auch produktiv ist, insofern ein spezifisches universalisierbares Wissen hervorgebracht wird (vgl. Spivak 2012). Dabei geht es nicht darum, sich auf die Suche nach unkontaminiertem Wissen zu machen, sondern darum, die Prozesse der Wissensproduktion unter Macht- und Herrschaftsaspekten genauer zu untersuchen (Castro Varela/Dhawan 2015: 39). Dann erscheinen uns weder die Herstellung von Wissen noch die produzierte asymmetrische Ignoranz verstörend. Ist doch die Produktion von Ignoranz, ein wichtiger Effekt der Auslöschung und Vergessenheit anderer Wissensproduktionen. Weswegen es wichtig ist, sich diesem systematischen Vergessen und Löschen zu stellen. Es erscheint uns auch aus den genannten Gründen sinnvoll, Bildung mit Spivak (2008: 12) als eine zwangsfreie Neuordnung von Begehren zu bestimmen. Eine Neuordnung von Begehren ist der Versuch, möglichst zwangsfrei die Anpassung an hegemoniales Wissen, machtförmiges Erinnern/Vergessen in Schwingung zu versetzen. Im Sinne einer Dekonstruktion werden dafür unter anderem die Widersprüche und Aporien freigelegt, die das Feld des Wissens und die Praxen des Erinnerns umlagern. Spivak
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zufolge erfordert dies eine transnationale Bildung, die insbesondere die globale Klassenapartheid in den Blick nimmt (ebd.: 16). Auch wenn Spivak marxistische Schriften mobilisiert, um ihre Bildungsvorstellungen zu entfalten, geht es ihr nicht darum, Marxismus als abgeschlossenen Korpus zu sehen, sondern als Prozess der lernenden (Selbst-)Kritik, die nicht nur die Neuordnung von Begehren fokussiert, sondern sich zugleich in die Lage bringt, politische Auseinandersetzungen zu führen und zu gewinnen.
D IE F RAGE
NACH DEM
E THISCH -P OLITISCHEN
Offen bleibt die Frage nach dem Ethisch-Politischen einer sich als sozialistisch beschreibenden Pädagogik. Wie es Spivak in ihren Schriften immer wieder anmahnt geht es weniger darum, immer wieder eine neue Avantgarde auszurufen und auch kaum darum, das Scheitern der Kämpfe sozialer Bewegungen zu entschuldigen. Vielmehr sollten die Fehler zu analysieren, die Gewalt anzuklagen und das Scheitern als eine Chance für eine radikale Neuformulierung zu nutzen. Dagegen scheint die Programmatik des Buches, so wie sie in der Einleitung dargelegt wird, trotz gegenteiliger Aussage, eine Rehabilitation alter Ansätze über eine Anreicherung mit willkürlich zusammengewürfelten kritischen Interventionen zu intendieren. Dies wird aber weder den Ansätzen gerecht, die zur Rehabilitation produktiv gemacht werden sollen, noch den sozialistischen Ansätzen. Die Reformulierung einer Bildungsidee, die soziale Gerechtigkeit intendiert und sich weder als Opposition zu einer humanistischen Bildung, aber auch nicht als deren einfache Fortführung sieht, muss einige Spannungen aushalten. Spivak, deren Ansätze wir hier produktiv machen wollen, spricht etwa von einer affirmativen Sabotage, bei der es nicht darum geht, die Schriften der Aufklärung zu verwerfen, sondern sich diese anzueignen, um sie dann gewissermaßen gegen dieselben zu richten (vgl. Spivak 2012). Was würde dies nun für unser Unternehmen bedeuten? Nun, es wäre uns wichtig, tatsächlich die Schriften der sozialistischen Pädagogik zu er- und bearbeiten. Dabei sollte es weder darum gehen, wie Spivak im Zusammenhang mit den Schriften der Aufklärung schreibt, diese zu entschuldigen, aber auch nicht diese nur anzuklagen oder zu verwerfen. Der Sammelband will weder anklagen, noch entschuldigen, allerdings fehlt die ethisch-politische Sabotage, die wir für wichtig erachten, um den Raum für eine Neurahmung und -ausrichtung zu
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ermöglichen. Sabotieren bedeutet vor allem, den Maschinen einen anderen Rhythmus aufzuzwingen. Es war eine wichtige Strategie des Industrieproletariats, wobei es weniger darum ging, das System zu zerstören als ihm einen anderen Rhythmus aufzuzwingen, damit es die gestellten arbeitskämpferischen Forderungen erfüllte. Wir können auch mit Ideen, Ideologien, Konzepten so umgehen. Nicht einfach den Rhythmus übernehmen, nicht unkritisch ihren Nahelegungen folgen, aber auch nicht zerstören, sondern vielmehr stoppen, überarbeiten, Forderungen stellen. Eine abstrakte Negation würde übersehen, dass in der Dekonstruktion einer affirmativen Sabotage ihre rekonstruktive Fähigkeit enthalten ist, Neues aufzubauen, ohne das Alte zu vergessen oder zu vernichten. Um ethisch-politisch zu sein, muss eine Programmatik eben das kritisieren, was ihr erst einmal unhinterfragbar erscheint und die Frage nach der Produktion des Gemeinsamen, der Zukunft und der Kämpfe als demokratisches Projekt der Vielen formulieren, nicht als Plan einer Avantgarde, die die Massen zugleich führt und verachtet.
U N _ MÖGLICHKEITEN EINES B EGRIFFS SOZIALISTISCHER
B ILDUNG
Begriffe enthalten die Spuren ihrer früheren Bedeutungen, ihre Geschichte ist nicht linear. Insofern schlagen wir nicht vor, eine Genealogie des Sozialismus als Projekt zu verfolgen, sondern fragen uns, warum wir heute aus welchen Gründen Sozialismus als Begriff (nicht) verwenden. Was arbeitet im Inneren der Geschichte seiner Problematisierung? Sozialistische Bildung steht zunächst vor der Herausforderung, die Fähigkeit zur dynamischen Persistenz von Herrschaft der bürgerlichen Klasse zu verstehen, deren Wandelbarkeit und globale Dominanz, also zu erklären, welche Gründe, Wünsche und Privilegien die Menschen verfolgen, indem sie im Alltag bestimmte Denkweisen und Gefühlsmuster nutzen, wie sie also eingebunden sind in Prämissen und Formen ungleicher sozialer Bedingungen. Für Antonio Gramsci ist jedes Verhältnis von Hegemonie, also auch das der Gegenbewegungen, ein pädagogisches Verhältnis. Politische Projekte setzen dementsprechend am Alltagsverstand ihrer Protagonisten an, um die Verstrickung der Denkweisen und Gefühlsmuster zu bearbeiten und so progressiv oder konservativ auszubilden.
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»Eine neue Kultur zu schaffen bedeutet nicht nur, individuell ›originelle‹ Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu ›vergesellschaften‹ und sie dadurch Basis vitaler Handlungen, Element der Koordination und der intellektuellen und moralischen Ordnung werden zu lassen.« (Gramsci 1991 GH Heft 11, §12, 1377)
Wenn Sozialismus kein utopischer Endpunkt ist, sondern gesellschaftliche Herrschaft durch sozialistische Transformation herausgefordert werden soll und das, um eine ganz neue Kultur zu erschaffen, braucht es dazu Bildungsformen, die systematisch Weltveränderung und Persönlichkeitsentwicklung aufeinander beziehen, sowohl in der Analyse der Vergesellschaftung wie auch im Aufbau alternativer Prozesse. »Gramsci kritisierte die im Marxismus verbreitete Auffassung einer objektiv bereits vorhandenen Klassenidentität, die als Bildungskonzept lediglich die Aufklärung über die eigenen Interessen oder den zu erwartenden Lauf der Geschichte habe. Es ging um eine neue Weise zu leben, zu arbeiten, zu lieben und zu kämpfen und schließlich hegemonial zu werden, um die Notwendigkeit von Hegemonie selbst zu überwinden.« (Niggemann 2016: 59)
Im Zentrum einer so gedachten Bildung stünde eine Konfliktfähigkeit, die anders als die bürgerlichen Strategien des Teilens und Herrschen das gemeinsame Lernen und Agieren erarbeiten und das Verhältnis von Vernunft und Emotionalität nicht hierarchisch reproduzieren. Bildung ist als Entfaltungspraxis aller Möglichkeiten des ganzen Menschen den realen Begrenzungen durch soziale Herrschaft entgegenzustellen. (Selbst-)Kritik und Weiterentwicklung, der eigenen Identitäten und der sozialen Zugangsmöglichkeiten bilden die Grundlage einer solchen nicht-avantgardistischen Auffassung von Bildung. Sozialistische Transformation durch Bildung müsste berücksichtigen, dass Affekte und Emotionen nicht die Gegenbegriffe zu Vernunft und Strategie darstellen. Die Art und Weise des Umgangs mit ihnen ist entscheidend für das Verständnis aktueller Diskurse (wie bspw. in der moral panic von rechts die Affektlogiken der Migrationsgesellschaft deutlich hervortreten, vgl. Castro Varela/Mecheril 2017) wie für den Erfolg von Bildungskonzepten und Politikformen. Wenn ein Projekt sozialer Emanzipation erfolgreich sein möchte, muss die Frage gestellt werden, wie und wodurch ein Begehren nach Veränderung entstehen kann. Ein Begeh-
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ren, das nicht rationalistisch Sozialismus als das vernünftigerweise erstrebenswerte allein erachtet, sondern wirklich die in dieser Perspektive sich vereinigenden größtmöglichen Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten verbindet und gegen die Angst und Dominanz identitärer Festigung und rechter Ausschlusspraxis aller ›Anderen‹ offensiv herstellt. Hier lässt sich Adorno zitieren: »Erziehung müßte Ernst machen mit einem Gedanken, der der Philosophie keineswegs fremd ist: daß man die Angst nicht verdrängen soll. Wenn Angst nicht verdrängt wird, wenn man sich gestattet, real so viel Angst zu haben, wie diese Realität Angst verdient, dann wird gerade dadurch wahrscheinlich doch manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewußten und verschobenen Angst verschwinden.« (Adorno 1972: 97)
Eine sozialistische Bildung wäre mindestens ein kollektiver Lernprozess des Verhandelns und Aushandelns von Verfügungsmöglichkeiten über die eigenen sozialen Bedingungen und entsprechend kein planbares Projekt, sondern ein Prozess mit ungewissen Richtungswechseln und Herausforderungen. Ausschluss von allem, was unangenehm, problematisch oder ambivalent bleibt, kann darin kein langfristiges Mittel sein. »Emanzipatorische politische Bildung, die sich parteiisch am Aufbau von Gruppen und Klassen beteiligt, muss mindestens zwei Kriterien erfüllen: sie sollte lernende Konfliktverarbeitung sozialer Ungleichheiten sein können, um politische Projekte zu formieren. Und sie sollte helfen, Erfahrungen in die Krise zu treiben und Widerspruchsorientierung in Theorie und Praxis zu bilden, indem sie demokratische LehrLernverhältnisse aufbaut und eine eigene praktische Philosophie formuliert.« (Niggemann 2016: 70)
Die Frage ist aber, ob mit den in der Einleitung des Bandes aufgeworfenen Prinzipien überhaupt denkbar und wünschenswert ist, einen derartigen Prozess demokratisch zu organisieren, oder ob nicht eine solche Ausrichtung an Prinzipien und eine additive Verknüpfung von sozialistisch plus pädagogisch insoweit problematisch bleibt, als dass sozialistische Bildung unabhängig von einer sich auf Sozialismus beziehenden sozialen Bewegung entworfen wird.
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P OSTKOLONIAL - QUEERE G EGENREDE Eine Rekalibrierung sozialistischer Pädagogiken verlangt unseres Erachtens eher nach einer fundierten Gegenrede, als nach Rehabilitation durch die Aneignung progressiver Theorieversatzstücke. Vor allem dann, wenn im Unklaren bleibt, an wen sich der Appell, eine sozialistische Bildung zu entwerfen und aufzubauen, überhaupt richtet. Sowohl die postkoloniale Theorie als auch queere Diskursinterventionen taugen nicht dazu, sie einfach anzueignen, um sozialistische Pädagogik einer Verjüngungskur zur unterziehen. Das beraubt die Ansätze ihrer Radikalität und lässt sozialistische Ideen blass und obsolet erscheinen, nach allem greifend, was irgendwie neu und brauchbar erscheint. Wäre es nicht sinnvoll, sie sich eingebettet in globale emanzipative Bewegungen anzusehen? Welche Lehren könnten wir beispielsweise ziehen aus den Ansätzen der Pädagogik der Unterdrückten (Freire 1973; vgl. auch Hahn 2012: 61f.)? Und welche Bedeutung haben biografische Notizen von Intellektuellen wie James Baldwin, der sich, als afro-amerikanischer Intellektueller, in den 1940er Jahren als Third Camp socialist verstand und dennoch aufgrund seines Schwul-Seins nicht der Independent Socialist League (ISL) beitrat. »Baldwin apparently felt his homosexuality would make it difficult for him to be completely accepted and to participate fully in the socialist movement of that era.« (La Botz 2017: o. S.) Wir begegnen hier in aller Deutlichkeit den Schwierigkeiten, die sich Befreiungsbewegte gegenübersahen, wenn sie nicht die Normen erfüllten, die die sozialistischen Bewegungen (unausgesprochen) aufstellten und durchsetzten, wozu lange auch heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit und die Probleme einer nicht beschämenden Politik gehörten. Ein Blick in die schwierigen Kapitel der Geschichte sozialistischer Bewegungen und ihrer politischen und pädagogischen Strategien bleibt weiterhin Notwendigkeit und es ist nicht damit getan, wahllos zwei bis drei afrikanische Philosophen zu zitieren und die Anschlussfähigkeit ihrer Ideen mit einer normativ gedachten und so für uns unmöglichen sozialistischen Pädagogik darzulegen. Uns interessiert eher die Komplizenschaft sozialistischer Pädagogiken mit einer imperialistischen, rassistischen und sexistischen Agenda, weil dies auf die wunden Punkte deutet, die nicht zu einer Verbannung der Praxen, sondern eher zu einer affirmativen Sabotage (Spivak 2012) aufrufen, um sie weiterhin verfolgen zu können.
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S OZIALE B EWEGUNG UND AKADEMISCHE W ISSENSPRODUKTION »Überleben ist keine akademische Fertigkeit.« AUDRE LORDE 1981
Die Ausgangsfragen des Bandes sind nicht von der Hand zu weisen. Eine kritische Haltung begründet sich im Handgemenge von Praxis, Diskurs und Wahrheitskämpfen. Kritik kann als eingreifendes Denken zu einer ›affirmativen Sabotage‹ beitragen, und das bei jenen Konzepten, die die Leidenschaften, die Scham, die Wut und den Stolz jener, die an ihre Unterdrücker nicht mehr glauben, mobilisieren wollen. Wie lassen sich aber Positionen sozialistischer Kritik gegen sich selbst wenden, um über sie hinauszuweisen? Ein Grund, weiterhin über Sozialismus zu sprechen, ist das Scheitern seiner bisherigen Versuche und die anhaltende Kälte und Brutalität globaler Ungleichheit. Ein anderer, in die Zukunft als Aufgabe gerichteter wäre der, eine sozialistische Utopie zu formulieren, die die Ränder in die Zentren rückt, die keine Gruppe, Klasse oder Identität als Avantgarde favorisiert, damit sich einige nicht auf dem Weg hinterrücks vor den Augen aller zu ihren Führern aufschwingen müssen. Die Poesie des Noch-nicht-Sagbaren ist ein Referenzpunkt für die harten und ungleichen Kämpfe um Verteilungen, Identitäten und ihre Überwindung. Kritik kann so beschaffen sein, dass sie einen Rest Wärme ermöglicht und einen Riss zwischen der Eiswüste des Realismus und der verordneten Gewalt des positiven Denkens eröffnet, durch den ein anderes Licht aus der Zukunft ins Heute scheint. Eine Kritik, die an Weltveränderung festhalten will, hätte die Aufgabe, keinen Stein auf dem anderen zu lassen, um sie werfen zu können, wenn es sein muss auch gegen sich selbst und aus denen zugleich ein Fundament für etwas gelegt werden könnte, was in ferner Zukunft einmal so etwas wie ein transformatorisches Projekt Namens Sozialismus sein könnte. Die Kehrseite der bisherigen Versuche sind nicht einfach Irrtümer. Es sind die Toten in seinem Namen, die Eingesperrten und Psychiatrisierten, an deren »notwendiges Opfer« nur glauben kann, wer selbst überlebt hat, davongekommen ist, oder die Seiten gewechselt hat. Auch im Namen des Sozialismus gab es Gewalt, Profiteure, Rassismus, Sexismus und einiges mehr.
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S CHLUSS »You gotta make a decision to be the one difference in your life and turn it around – even when you think you’re dumbing it down.« ANGEL HAZE: A TRIBE CALLED RED
Sozialismus ist in seiner bestmöglichen Bedeutung ein utopischer Entwurf gesellschaftlicher Verhältnisse, der auf der radikalen Vergesellschaftung von Arbeit, Reichtum, Ressourcen und Möglichkeiten basiert. Die gerechte Verteilung der Ressourcen und der Arbeit, die dazu führen soll, genug Zeit zum guten Leben zu haben und eine gerecht geteilte Arbeit zu verrichten, die sich an den eigenen körperlichen und psychischen Möglichkeiten orientiert. Sozialismus in the future ist das Ergebnis einer ›revolutionären Realpolitik‹, die die Herrschaft von Menschen über Mensch, Natur und Produkte kollektiver Anstrengungen beendet, um die Basis für eine ganz andere Entfaltung von Menschlichkeit, Kooperation und Weiterentwicklung zu legen. Er dient als Kontrastfolie zu dem als ›notwendig‹ oder ›unausweichlich‹ empfundenen »kapitalistischen Realismus« (Mark Fisher 2013), der alles und jeden als naiv und dumm betitelt, was sich nicht um ›instrumentelle Vernunft‹ schert, also dem Kalkül der Verwertbarkeit unterwirft, lediglich um den eigenen Vorteil bedacht ist. Sozialismus als real existierender und gescheiterter Versuch einer anderen Gesellschaftsform muss also neu anfangen und das in und mit der eigenen Geschichte, sozialistische Bildung und Pädagogik entsprechend auch. Schon beim ersten Blick auf sozialistische Traditionen zeigen sich direkt ›Sozialismen‹, von denen gesprochen werden muss. Auch wenn Sozialismus als Projekt einer nichtherrschaftsförmigen Universalisierung und Transformationsperspektive bezeichnet wurde, die eben alles Partikulare als Grundlage von Herrschaft überwinden will, so muss eine Neubesetzung des Begriffes mit der Kritik seiner Geschichte beginnen. Dazu müssten einzelne Sozialismen historischspezifisch analysiert, rekonstruiert und auf ihre Widersprüche und toten Winkel hin kritisiert werden. Die Un_möglichkeiten einer sozialistischen Bildung ohne ihre möglichen Adressat*innen zu formulieren läuft Gefahr, im traurigen Elend der richtigen Absichten und Prinzipien zu vereinsamen und wirkungslos zu bleiben. Dass über Sozialismus wieder neu gedacht,
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geschrieben und gestritten wird lässt zumindest die Hoffnung auf eine ganz andere Welt aufscheinen, in der back to the future nicht die Zukunft für Wenige bedeutet, sondern für Alle möglich sein wird.
L ITERATUR Adorno, Theodor W. [1972] (1966): Erziehung nach Auschwitz, in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959-1969, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 88-104. Butler, Judith (2007): Kritik der ethischen Gewalt. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Castro Varela, María do Mar (2015a): Von der Notwendigkeit eines epistemischen Wandels. Postkoloniale Betrachtungen auf Bildungsprozesse, in: Geier, Thomas/Zaborowski, Katrin (Hg.): Migration: Auflösungen und Grenzziehungen. Perspektiven einer erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung, Wiesbaden: Springer VS. — (2015b): Strategisches Lernen, in: http://www.zeitschrift-luxemburg.de/ strategisches-lernen/, letzter Aufruf: 02.12.2017. — (2016): Postkolonialität, in: Mecheril, Paul (Hg.): Handbuch Migrationspädagogik, Weinheim: Beltz. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 2. ergänzte Auflage, Bielefeld: transcript. Castro Varela, María do Mar/Mecheril, Paul (2016): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart, Bielefeld: transcript. Demirović, Alex (2012): Drei Sinngeneratoren: Kapitalismus – Demokratie – Sozialismus, in: Demirović, Alex/ Kaindl, Christina (Hg.): Gegen den Neoliberalismus andenken. Linke Wissenspolitik und sozialistische Perspektiven, Hamburg: VSA-Verlag. Fisher, Mark (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Hamburg: VSA-Verlag. Freire, Paulo (1973): Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Hahn, Marco (2012): Paulo Freire: Bewusstwerdung ermöglichen, in: Niggemann, Janek (Hg.): Emanzipatorisch, sozialistisch, kritisch, links? Zum Verhältnis von (politischer) Bildung und Befreiung. Manuskripte
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Kritische Pädagogik und politische Bildung im linken Mosaik M ARCUS H AWEL & S TEFAN K ALMRING
Sozialistische Pädagogik? Das klingt erst einmal antiquiert. Schließlich leben wir im postkommunistischen Zeitalter. Da scheint eine Beschäftigung mit den sozialistischen Traditionsbeständen in der pädagogischen Profession allenfalls noch von dogmenhistorischer Relevanz zu sein. Dass dieser Eindruck vorschnell ist und trügt, verdeutlichen die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes. Die Herausgeber_innen und Autor_innen zeigen, dass viele Debatten im gegenwärtigen Bildungsdiskurs durchaus von den älteren Kontroversen aus der sozialistischen Pädagogik profitieren könnten, wenn sie diese nur ernsthaft zur Kenntnis nähmen. Die Kontrahent_innen etwa der zeitgenössischen Inklusions- oder Bildungsgerechtigkeitsdebatten würden mit großer Wahrscheinlichkeit schnell merken, dass sie das pädagogische Rad gar nicht zum zweiten, dritten oder gar vierten Mal neu erfinden müssten, da sie – zumindest an bestimmten Punkten – auf die älteren sozialistischen Debatten kritisch aufbauen könnten. Aufbauen heißt dabei nach unserer Auffassung, dass die sozialistischen Debatten vergangener Zeit weder künstlich zu bewahren noch in Gänze zu verwerfen sind, sondern in kritischer Absicht aufzuheben wären. Auf der einen Seite wäre es ein Fehler, ungebrochen an die klassische sozialistische Pädagogik anzuknüpfen. Denn wo linear fortgeschrieben werden soll, oder eine Bewegung ›Zurück zu den Ursprüngen‹ verfolgt wird, wird schlicht geleugnet, dass wir mit der dynamischen Veränderung unseres sozialen Zusammenhangs auch immer wieder mit neuen Herausforderungen und
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neuen Fragen konfrontiert werden und somit Neues gedacht werden muss (Kalmring/Nowak 2017). Die Annahme eines klaren Bruchs verkennt auf der anderen Seite, dass von älteren Ansätzen gelernt werden kann, und auch, dass gewisse Erkenntnisse schlicht auch deshalb gültig bleiben, weil der soziale Kontext an seinem Fundament der Gleiche geblieben ist (Kalmring 2012). Die sozialistische Pädagogik hat Antworten auf Herausforderungen gesucht, denen wir z.T. heute noch gegenüberstehen – wie etwa die der Inklusion oder auch die einer Implementierung von Bildungsgerechtigkeit. Deshalb ist eine Beschäftigung mit ihr nach wie vor interessant. Die kritische Theorie hat uns in dieser Hinsicht zwei Dinge gelehrt. Einerseits sollte man ein gutes Gespür für den »Zeitkern« (Horkheimer/Adorno 1992: ix) einer Theorie entwickeln. Theorie ist stets vergänglich und muss fortwährend verändert und überarbeitet werden, da sie immer kontextgebunden ist. Andererseits gilt es anzuerkennen, dass kritische Gesellschaftstheorien auch eine gewisse ›Festigkeit‹ hinsichtlich ihrer Existenzialurteile besitzen, wie Max Horkheimer es einst treffend ausdrückte. Diese rühren »daher, dass bei allem Wandel der Gesellschaft doch ihre ökonomisch grundlegende Struktur, das Klassenverhältnis in seiner einfachsten Gestalt, und damit die Idee seiner Aufhebung identisch« (Horkheimer 1988: 208) geblieben ist. Wir wollen uns in unserem kurzen Kommentar im Folgenden auf zwei Punkte fokussieren. Zum einem wollen wir die Frage aufwerfen, wie nach dem Epochenbruch von 1989/90 produktive Bezüge zur sozialistischen Tradition insgesamt gestaltet werden sollten. Wir halten solche nach wie vor für wichtig, da das gesellschaftskritische Potential eines zeitgenössischen Sozialismus wachgehalten werden sollte, um einem marktradikal geprägten Kapitalismus etwas Wirksames entgegenzusetzen. Die zentrale Vorbedingung hierfür ist nach unserer Auffassung jedoch, dass sich die sozialistische Tradition durch eine weitreichende Selbstkritik erneuert (Hawel/Kalmring 2014). Zum anderen wollen wir einige Überlegungen zu den Aufgaben einer zeitgenössischen linken politischen Bildung – also nicht zu denen einer kritischen Pädagogik insgesamt – anstellen. Mit der deutlichen Veränderung des linken politischen Feldes in den letzten Jahrzehnten, haben sich auch die Herausforderungen geändert, denen sich eine solche politische Bildung stellen muss. Eine Aktualisierung tut nach unserer Auffassung dringend not (Hawel/Kalmring 2016).
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Zunächst zur Frage, warum wir es nach wie vor für geboten halten, sich in die Traditionslinie eines (radikal-)demokratischen Sozialismus zu stellen. Bezugnahmen auf das sozialistische Paradigma scheinen uns heute wichtig, da der neoliberale Kapitalismus die Sicht auf alternative gesellschaftliche Horizonte jeglicher Art in einer qualitativ neuen Weise verstellt zu haben scheint. Gleichzeitig aber – neben seinen nicht zu leugnenden produktiven Momenten – hat er zu enormen sozialen, ökologischen und politischen Verwerfungen geführt. Mark Fisher hat von einem »kapitalistischen Realismus« (Fisher 2013) im Alltagsdenken breiter Bevölkerungsteile gesprochen, um das Phänomen einer scheinbaren Alternativlosigkeit der etablierten Sozialstrukturen einzufangen. Der kapitalistische Realismus nehme laut Fisher das Gegebene nicht nur hin, sondern umschreibe mit diesem »nahtlos den Horizont des Denkbaren« (ebd.: 16). Der Rückgriff auf die Geschichte sozialistischer Gesellschaftskonzeptionen ist nach unserer Auffassung schon deshalb wichtig, um die politisch notwendige Diskussion über Modelle und Ansätze einer alternativen Vergesellschaftung jenseits des Kapitalismus wieder zu beflügeln und den Raum des Denkbaren wieder zu öffnen, den der kapitalistische Realismus verschlossen hat. Dafür ist es jedoch notwendig, dass sich die Linke dem alten orthodox-marxistischen Anti-Utopismus entzieht. Es geht nicht darum, den klassischen Utopismus wiederzubeleben, der detailverliebte Bilder eines ganz Anderen dem Bestehenden unvermittelt gegenübergestellt hat, sondern um die Ausbildung »realer Utopien« (Bloch 1985), die aus den Widersprüchen und Entwicklungstendenzen der bestehenden Gesellschaft entwickelt werden und wirklich realisiert werden können und sollen. Es geht im Wesentlichen um die Klärung der Funktionsweise von Kerninstitutionen der Gesellschaft, die sich von den heutigen basal unterscheiden (vgl. Dutschke 1968: 6) und die die kommende Gesellschaft einerseits als lebensfähig und andererseits als wünschenswert umschreiben. Wo plausible und machbare Alternativen im öffentlichen Diskurs fehlen, verliert die Kritik am bestehenden insgesamt ihre Kraft. Sie wird kurzlebig, verfällt allein auf die kulturellen und diskursiven Erscheinungsformen der bestehenden Gesellschaft, ohne noch auf das Wesentliche zielen zu können. Zentrale Maßstäbe und Orientierungspunkte einer fundierten Gesellschaftskritik gehen mit der »Vorstellung vom Anderen, Besseren, vom viel zitierten ›guten Leben‹« (Notz 2012: 24) verlustig. Die postmoderne
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Linke ist ein beredtes Beispiel hierfür. Ihr ziemlich schwindsüchtiger Charakter ist nicht zufällig, da sie feste Orientierungspunkte im Handeln vermissen lässt. Neben Maßstäben und Zielmarken einer grundsätzlich gerichteten Gesellschaftskritik vermag uns also die sozialistische Tradition verschiedene Kategorien und Denkmittel zu liefern, die nach wie vor zur konkreten Kritik der bestehenden Ordnung genutzt werden können – und nach unserer Position auch sollten. An sie gilt es deshalb anzuknüpfen. Die Marxschen Analysen über die global prägende Kraft des Kapitals, verschiedene Versuche zur Entfaltung eines »erfahrungsbezogenen Klassenbegriffs« (Hirsch/Roth 1986: 185), der den Konstituierungsprozess von Klassenbewegungen ins Blickfeld rückt, indem er auf deren Lern- und Kampfzyklen abstellt (Vester 2016) und auch die reale Vielgestaltigkeit von Klassen berücksichtigt, indem er Mehrfachunterdrückungen wie gender oder race nicht ausspart, sondern den Stellenwert zuweist, der ihnen zukommt (Demirovic 2017), können hierfür ebenso genannt werden, wie Versuche, die Gesellschaft als ein komplexes Ganzes zu fassen, in dem die Teilbereiche (wie Ökonomie, Politik, Recht oder Kultur) aufeinander bezogen und miteinander verwoben sind (Hall 1989). Wer verstehen will, was kapitalistische Gesellschaften zur gleichen Zeit so stabil und instabil, so produktiv und destruktiv macht, sollte nach wie vor beim Marxschen Kapital Inspiration suchen. Dies darf uns alles aber nicht über die deutlichen Schwächen der Kategorien und Ansätze aus der klassisch-sozialistischen Tradition hinwegtäuschen – z.T. auch bei Marx selbst (Kalmring/Nowak 2017). Ökonomismus, Klassenreduktionismus, Autoritarismus oder Eurozentrismus waren und sind untrennbare Bestandteile einer sozialistischen Linken im 19. und 20. Jahrhundert (Kalmring 2012). Sie müssen in zäher und kleinteiliger Begriffsarbeit, aber auch praktisch politisch in sozialen Bewegungen, NGOs, Parteien und Gewerkschaften überwunden werden, wenn eine sozialistische Kritik wieder attraktiv werden will. Nachdrücklich plädieren wir deshalb dafür, dass Linke selbst das janusköpfige Gesicht des Sozialismus in seinem bisherigen Verlauf zum Thema machen, um einen weitreichenden Selbsterneuerungsprozess sozialistischer Gesellschaftskritik offensiv einzuleiten. Dieser sollte auch eine schmerzliche Infragestellung inzwischen liebgewonnener Interpretationsmuster einschließen. Unter dem Begriff Sozialismus sind in der Geschichte sowohl umfassende Befreiungs- und Emanzipationsbestrebungen zu finden, wie auch Legitimationsversuche
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von Herrschaft. Wir halten es für keinen Zufall, dass das eine wie das andere zur bisherigen Geschichte der sozialistischen Linken gehört, auch nicht, dass viele Befreiungsversuche letztendlich doch wieder in Herrschaft umgeschlagen sind. Diesem Phänomen gilt es sich zu stellen (Haug 2007). Der Mechanismus, der zu diesem Umschlag in großer Regelmäßigkeit geführt hat, ist aufzuspüren und mit Entschiedenheit so zu blockieren, dass die autoritären kurzen Wege mit ihren verheerenden Sackgassen, in denen viele der gesellschaftlichen Experimente der politischen Linken im 20. Jahrhundert geendet haben, nicht mehr, auch nicht unbeabsichtigt, eingeschlagen werden können. Anknüpfungspunkte hierfür sehen wir vor allem bei jenen Strömungen, die schon früh versucht haben, entsprechende Tendenzen in der Theorie und Praxis des Sozialismus zu erklären und stillzulegen. Ein zeitgenössischer Sozialismus muss für radikale Demokratie, nachhaltiges Wirtschaften und für soziale Gleichheit ohne Diskriminierungen auf der Grundlage von race, gender, Herkunft, körperlicher Beschaffenheit oder anderer Merkmale stehen. Dementsprechend wird er seine Ahnenlinie bei Ansätzen suchen wie dem niederländischen Rätekommunismus, dem Anarchosyndikalismus, der politischen Ökologie eines Andre Gorz (Hawel 2013), dem sozialistischen Feminismus, der Neuen Linken der 1950er und 60er Jahre oder den explizit antirassistischen und antieurozentrischen Sozialismusmusvarianten, wie sie z.B. beim Student Nonviolent Coordinition Commitee (SNCC) in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entwickelt wurden (Jacobs/Landau 1969; Carson 2004). Denn ihr Kritikpotential richtet sich nicht nur gegen die bürgerliche Warenproduktion, sondern auch gegen die Orthodoxien aus den Hauptströmungen der alten Arbeiter_innenbewegung. Es gilt, dieses zu aktualisieren und fortzuentwickeln. All diese Strömungen haben eines gemeinsam. Mehr oder weniger explizit kritisieren sie die Hauptströmungen der alten Linken nicht dafür, dass sie zu radikal, sondern, dass sie zu wenig konsequent in ihrer Kritik waren. Der alten Linken habe es an der Fähigkeit gemangelt, ihre Kritik zu Ende zu denken und diese auch gegen sich selbst, insbesondere gegen den eigenen Hang zum Autoritarismus, zu richten – in Anerkennung des Sachverhalts, dass auch sie von den bestehenden Herrschaftszusammenhängen durchdrungen ist und deshalb ihre Interpretations- und Interaktionsmuster in einem mühsamen Prozess alltagspraktisch verändern müssen (Narr 1980). Auch wir denken, dass die sozialistische Traditionslinie ihre Kritik
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gegenwärtig konsequent weiterdenken sollte – und nicht inhaltlich abschwächen –, wenn sie künftig wieder auf der Höhe der Zeit agieren will. Die sozialistische Arbeiter_innenbewegung krankte daran, dass sie, wie Max Horkheimer bemerkte, »nur zu häufig den Zustand, den sie angreift, negativ« (Horkheimer 1987: 300) widerspiegelte. Sich so manch repressiver Momente des kapitalistischen Modernisierungsprozesses offenbar nicht ausreichend Gewahr, haben die Mehrheitsströmungen der alten Linken viele Aspekte ihres Weltverständnisses, ihrer Zukunftsvorstellungen und ihrer Organisierungskonzepte aus der Ordnung der bestehenden Verhältnisse recht ungebrochen abgeleitet, statt sie grundlegend zu kritisieren, um sie zu überschreiten (Weil 1975). Ein naiv lineares Fortschrittsdenken, Technikgläubigkeit, ein protestantisches Arbeitsethos, das Lob bürokratischer Planungsprozesse, Modernisierungsdenken, weitreichende Stellvertreter_innenideologien wie traditionelle Geschlechtervorstellungen und Eurozentrismus haben ihr Weltbild deshalb weitreichend geprägt. Damit sollte Schluss sein (Hawel/Kalmring 2014). Wir denken, dass die »politische Orientierungslosigkeit« (Hirsch 1991: 12) vieler Linker, wie oben erwähnt, aus ihrer Ziellosigkeit resultiert. Sie resultiert aber auch aus einem eklatanten Mangel an kritischer Selbst- und Metareflexivität. Die Instrumente der klassischen Ideologiekritik werden daher nur unzureichend auf linke Kritikmuster selbst angewendet, um Bewahrenswertes von Kritikwürdigem sachbezogen zu scheiden. Die Überlagerung der weitreichenden Emanzipationsversprechen linker Politik durch die Anmaßungen eines im Kern bürgerlichen Modernisierungsdenkens und den Imperativen einer verselbstständigten Ökonomie sind nach unserer Ansicht zu beseitigen. Sozialismus sollte um die Idee einer radikaldemokratischen Selbstregierung der direkten Produzent_innen kreisen und ihren Gehalt nicht primär in Planbarkeit, Rationalisierung und Produktivitätswachstum suchen. Schon früh hatte Theodor W. Adorno etwa die »blinde Wut des Machens« kritisiert, die als Fortschreibung bürgerlicher Prinzipien in die Vorstellungswelten des Sozialismus hineingelangt ist. Er wollte eine Neuorientierung sozialistischer Kritik, die stattdessen um das »Wohlleben« der Menschen kreisen sollte. In dieser Kritik finden wir uns wieder: »Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. […] Genuss selber würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges
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Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen, seinem Wollen, Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ›sein, sonst nichts, ohne weitere Bestimmung und Erfüllung‹ könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft in das Versprechen der dialektischen Logik einmünden, in ihren Ursprung münden.« (Adorno 2003: 178f.)
Die Aufgaben einer linken politischen Bildung der Gegenwart sind nach unserer Auffassung unmittelbar mit den Herausforderungen verbunden, mit denen die politische Linke heutzutage konfrontiert ist. Aus dem oben Ausgeführten ergibt sich, dass sie unbedingt etwas zu entfalten versuchen sollte, das Oskar Negt einmal »soziologische Phantasie« (Negt 1968) genannt hat. Da die Menschen in der postkommunistischen Ära ihres Antizipationsvermögens hinsichtlich einer kommenden gesellschaftlichen Alternative nahezu vollständig verlustig gegangen zu sein scheinen (Kritidis/Hawel 2006), ist es sinnvoll, dieses auch mit Hilfe von politischer Bildung wiederzubeleben. Sie sollte die Geschichte verschiedener sozialer Bewegungen zu ihrem Gegenstand haben, um aus deren Stärken, aber eben auch aus ihren Fehlentwicklungen produktiv lernen zu können, wie wir es oben bereits in allgemeiner Weise eingefordert haben. Aber damit nicht genug: Auf das ›Weshalb‹ weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen sollte die politische Bildung ebenfalls eine Antwort geben. Sie sollte die Alltagsprobleme von Menschen politisieren und zum Thema machen, indem sie herausarbeitet, dass ihre privaten Probleme allgemein-gesellschaftliche Probleme darstellen. Sie sollte verschiedene Kategorien und Denkinstrumente anbieten, um diese in kritischer Absicht durchdringen zu können und um sie im Grundsatz als veränderbar aufzuzeigen. Dies alleine reicht immer noch nicht aus. Die Erkenntnis, dass Zustände kritikwürdig und prinzipiell veränderbar sind, vermag das allgemeine Ohnmachtsgefühl nicht zu überwinden, das viele Menschen im Angesicht der schieren Übermacht des Bestehenden regelrecht blockiert. Politische Bildung sollte sich auch mit konkreten Wegen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse beschäftigen und einem Raum für politische Praxisreflexion und für strategische Fragestellungen zur Verfügung stellen. Viele Linke sind durchaus gut in dem, was sie tun. Sie liefern hervorragende Analysen der Gegenwart, entfalten gute Aktionen und Kampagnen und leisten eine hervorragende Mobilisierungsoder Medienarbeit. Aber sie scheitern in dem sukzessiven Aufbau einer
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Gegenmacht über einen längeren Zeitraum, der die herrschenden Verhältnisse wirklich herauszufordern in Lage wäre. Hier gilt es einen Hebel, auch in der politischen Bildungsarbeit, anzusetzen. Denn wenn eine grundlegende Transformation der sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse angestrebt werden soll, wird es eben auch auf entsprechende Kompetenzen ankommen. Eine besondere Anforderung für eine politische Bildungsarbeit im linken Feld der Gegenwart gilt es noch herauszustreichen: Die politische Linke war immer – auch zu Zeiten der klassischen Arbeiter_innenbewegung – divers und vielgestaltig und hatte deshalb Mechanismen einer Abstimmung unterschiedlicher Interessen auszubilden. Bereits die ständige Neugestaltung der Klassen- und Geschlechterverhältnisse im Kapitalismus hat für eine entsprechende Notwendigkeit gesorgt. Unterschiedliche Konfessionszugehörigkeiten, verschiedene weltanschauliche Grundlagen, Branchenunterschiede oder regionale Besonderheiten haben ihr Übriges getan. Im neoliberal geprägten Kapitalismus hat sich das Problem noch um einiges potenziert. Der flexibilisierte Kapitalismus spaltet die Subalternen in besonderer Weise. Er setzt Kernbelegschaften und Leiharbeiter_innen, er setzt alte und junge Menschen, die Geschlechter und Menschen mit verschiedenen Pässen einander entgegen. Er differenziert Milieus und Identitäten aus. Das einst in bestimmten Sektionen der alten Arbeiter_innenbewegung populäre alte Mehrsäulenmodell einer linken Politik ist eindeutig zerfallen. Dieses sah auf den zentralen gesellschaftlichen Feldern der Politik, Ökonomie und Kultur verschiedene Organisationstypen vor (Parteien, Gewerkschaften, genossenschaftliche Selbsthilfeorganisationen sowie Bildungsund Kulturvereine), die in einem wechselseitigen Bezug zueinander standen und eine integrale Gegenkultur zum herrschenden Kapitalismus schafften, die diesen schließlich überschreiten sollte (vgl. Novy 1983). Heute laufen Parteilinke, Gewerkschaftslinke, Linke, die in NGOs, solidarökonomischen Initiativen oder linken Subkulturen agieren, weitgehend ohne größere Bezüge aufeinander nebeneinander her. Selbst der bloße Anspruch, ein größeres Gemeinsames auszudrücken, scheint ihnen verloren gegangen zu sein. Ein demokratischer Sozialismus, als relativ unbestimmte, aber gemeinsame Integrationsklammer unterschiedlicher linker Strömungen, ist schon lange vor dem Epochenschnitt von 1989/90 verloren gegangen. Die Frage, wie die zentralen Herrschaftslinien des Kapitalismus (Race, Class, Gender) zueinander in Beziehung stehen, und welches Gewicht ihnen theoretisch
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und politisch-praktisch zukommen soll, spaltet das linke politische Feld ebenso, wie die Themenpalette linker Politik schier endlos geworden ist. Sie reicht vom Klimawandel, über die Krise der europäischen Flüchtlingspolitik, zu Ernährungsfragen, Fragen betrieblicher Organisierung, über die Aufgaben der Müllbeseitigung bis zum sozialen Wohnungsbau. Thematische Expert_innengruppen konkurrieren eher um das linke gesellschaftliche Feld, als dass sie sich produktiv aufeinander beziehen. Aber auch ein gemeinsamer theoretischer Interpretationsrahmen ist nicht auszumachen. Das Vokabular und die Grammatik von Poststrukturalismus, Marxismus, Monetärkeynesianismus oder Queerfeminismus unterscheiden sich z.T. so sehr, dass eine Verständigung untereinander kaum noch möglich scheint. Wir sehen mithin Handlungsbedarf – gerade auch auf dem Gebiet einer linken politischen Bildung. Diese sollte einen Aktivismus zu fördern versuchen, der verknüpfen will, indem er bewusst Verbindungen innerhalb des linken Spektrums schafft und eine Übersetzungsarbeit zwischen verschiedenen Perspektiven leistet (Kalmring 2016). Ein verknüpfender Aktivismus bzw. eine linke Bildung, die versucht, einen eben solchen zu fördern, probiert, divergierende Sprachen, Positionen, Organisationskulturen, Themata oder Milieuanbindungen in eine lebhafte Auseinandersetzung zu bringen. Als Bildungsprogramm erklärt sie die Zusammenarbeit und die Vernetzung von linken Teilakteuren zu einem eigenständigen Ziel und sucht deshalb immer wieder nach neuen Anlässen, um Kooperationen zu befördern. Es geht darum, aktiv Räume der Begegnung und Kommunikation zu schaffen, die ergebnisoffen gehalten werden und in denen sich auf Augenhöhe begegnet wird. Das preguntado caminamos (fragend voranschreiten) der globalisierungskritischen Bewegungen ist in einem solchen Verständnis von Bildung und linker Politik wesenseigen, gerade auch deshalb, weil die Vielfalt der widerstreitenden Interessen und Ansätze respektiert werden muss. Pluralität sollte einer solchen politischen Bildung ebenso ein unhintergehbarer Wert sein, wie die Erzeugung von Möglichkeiten einer kollektiven Handlungsfähigkeit. Beides geht nur zusammen, wenn diese nicht als schlichte Vereinheitlichung gedacht wird, sondern weiter Raum für Unterschiede und auch Reibungsflächen bietet. Es würde sich nach unserer Auffassung lohnen, ein solch verbindendes Bildungskonzept für eine plurale Linke der Gegenwart konkret auszuarbeiten und umzusetzen.
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L ITERATUR Adorno, Theodor W. (2003): Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main. Bloch, Ernst (1985): Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände, Frankfurt am Main. Carson, Clayborne (2004): Zeiten des Kampfes. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afroamerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren, Nettersheim. Demirovic, Alex (2017): Die Zumutungen der Klasse. Vielfältige Identitäten und sozialistische Klassenpolitik, in: Klasse neu denken, Realistisch und Radikal – Das Debattenheft der Sozialistischen Linken, Nr. 7, S. 16-19. Dutschke, Rudi (1968): Zu Protokoll. Fernsehinterview mit Günter Gaus, Voltaire Flugschriften, Nr. 17, Frankfurt am Main. Fisher, Mark (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift, Hamburg. Hall, Stuart (1989): Das ›Politische‹ und das ›Ökonomische‹ in der Marxschen Klassentheorie, in: Ders.: Ideologie, Kultur, Rassismus, Ausgewählte Schriften, Band 1, hg. v. Nora Rätzel, S. 11-55. Haug, Wolfgang Fritz (2007): Dialektik des Antikapitalismus, in: Das Argument, Nr. 289, 49. Jg., H. 1, S. 11-34. Hawel, Marcus (2013): Der lange Abschied vom Proletariat. Erneuerungsversuche des westlichen Marxismus, in: Berliner Debatte Initial, H. 4, S. 17-34. Hawel, Marcus/Kritidis, Gregor (2006): Aufschrei der Utopie. Möglichkeiten einer anderen Welt, Hannover. Hirsch, Joachim/Roth, Roland (1986): Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Postfordismus, Hamburg. Hirsch, Joachim (1991): Sozialismus. Oder was sonst?, in: Deppe Frank u.a. (Hg.): Eckpunkte moderner Kapitalismuskritik, Hamburg, S. 12-36. Horkheimer; Max (1987): Autoritärer Staat, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 5: Dialektik der Aufklärung und andere Schriften 1940-1950, hg. v. Gunzelin Schmidt-Noerr, Frankfurt/Main, S. 293-319. — (1988): Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Gesammelte Schriften Band 4: Schriften 1936-1942, hg. v. Gunzelin Schmidt-Noerr, 2. Auflage, Frankfurt/Main, S. 162-216.
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Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1992): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main. Jacobs, Paul/Landau, Samuel (Hg.) (1969): Die Neue Linke in den USA. Analyse und Dokumentation, München. Kalmring, Stefan (2012): Die Lust zur Kritik. Plädoyer für soziale Emanzipation, Berlin. Kalmring, Stefan/Hawel, Marcus (2014): Politische Lernprozesse. Zur schwierigen Rolle der kritischen Intellektuellen in sozialen Bewegungen, in: Marcus Hawel/Stefan Kalmring (Hg.): Bildung mit links! Gesellschaftskritik und emanzipatorische Lernprozesse im flexibilisierten Kapitalismus, Hamburg, S. 16-33. — (2016) (Hg.): Wie lernt das linke Mosaik? Die plurale Linke in Bewegung, Hamburg. Kalmring, Stefan/Nowak, Andreas (2017): Stuart Hall und die Selbsterneuerung der Gesellschaftskritik, in: Backhouse, Maria/Kalmring, Stefan/Nowak, Andreas (Hg.): In Hörweite von Stuart Hall. Gesellschaftskritik ohne Gewähr, Hamburg, S. 33-48. Narr, Wolf-Dieter (1980): Zum Politikum der Form. Oder warum Emanzipationsbewegungen Herrschaft nur fortlaufend erneuern, allenfalls besänftigen, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, H. 2, 8. Jg., S. 143-163. Negt, Oskar (1968): Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung. Frankfurt am Main. Notz, Gisela (2010): Theorien alternativen Wirtschaftens. Fenster in eine andere Zukunft, Stuttgart. Novy, Klaus (1983): Genossenschaftsbewegung. Zur Geschichte und Zukunft der Wohnreform, Berlin. Vester, Michael (2016): Pluralisierung und Konfliktlinien in der Klassengesellschaft. Die Wiederentdeckung der Differenzierungen der alten und der neuen sozialen Bewegungen und Milieus, in: Kalmring, Stefan/Hawel, Marcus (Hg.): Wie lernt das linke Mosaik? Die plurale Linke in Bewegung, Hamburg, S. 120-156. Weil, Simone (1975): Reflexionen über die Ursachen von Freiheit und Unterdrückung, in: Dies.: Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften, hg. v. Heinz Abosch, München, S. 151-240.
Zur Gestaltbarkeit des Spannungsfeldes von ethischen Prinzipien und konkreter Praxis Ein Kommentar aus der Perspektive Sozialer Arbeit K ATHRIN W ITEK
Einen Band zu »verbrannter Erde« zu veröffentlichen, wie die Herausgeber es nennen, ist ein nachvollziehbares Vorhaben – gehen doch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wichtige Ideen, die in der Vergangenheit diskutiert wurden, unter dem Einfluss aktueller gesellschaftlich dominanter Diskurse verloren, um schließlich, nicht zuletzt unter dem Einfluss anderer wissenschaftlicher Diskursstränge, inhaltlich wieder an Relevanz zu gewinnen. Ein prominentes Beispiel hierfür sind verschiedenste Ideen der Reformpädagogik, die im Zuge neoliberaler Entwicklungen aus dem breiten gesellschaftlichen Diskurs verschwunden sind und nun aus der Perspektive der Hirnforschung und, populär vertreten durch den Neurobiologen Gerald Hüther, im Kontext der ›Schule der Zukunft‹ wieder diskutiert werden. Warum also nicht eine Sozialistische Pädagogik, die auf eine lange Tradition zurückblicken kann, neu und kritisch diskutieren und auf ihre Aktualität hin untersuchen? Sozialistische Pädagogik, so Sebastian Engelmann und Robert Pfützner, dürfe heute kaum noch thematisiert werden, gleichzeitig stellen sie eine »ironischerweise« große Relevanz sozialistischer Motive in der aktuellen Pädagogik unter modernen Stichworten wie Inklusion, Bildungsgerechtigkeit, interkulturelle Öffnung fest. Der Gebrauch eben dieser Motive bei
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gleichzeitiger Missbilligung des Begriffs wird von ihnen erklärt mit der Negativassoziation der DDR, welche die Debatten rund um eine Sozialistische Pädagogik aus aktuellen Diskursen zumindest begrifflich verbannt habe. Ausgespart bleiben bei dieser Aufzählung von modernen Stichworten sozialistischer Motive die Methoden Sozialer Arbeit.1 Beim Lesen des Bandes werde ich zunehmend stutzig, sind hier doch zahlreiche Themen angesprochen, mit denen sich die Soziale Arbeit ständig beschäftigt: angefangen beim Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft über Ethik bis zu Institutionalisierung, Normierung und Erziehung in Auseinandersetzung mit Indoktrination, wobei das hier insbesondere von Stephan Geuenich angesprochene Dilemma der Sozialistischen Pädagogik im methodischen Handeln in der Sozialen Arbeit das Kernthema darstellt. Konkret geht es hier um eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit den Widersprüchen von Konzept und Adressat*inneninteressen, denen begegnet werden sollen, indem Sozialarbeitende ihre Methoden in Koproduktion mit den Adressat*innen entwickeln (Ehrhardt 2010), wobei man dies genauso benennen könnte, wie Robert Schneider es für die schulpädagogische Fragestellung der Inklusion herausarbeitet: einen »(totalen) Kommunikationsprozess bzgl. des gemeinschaftlichen Willens« (Schneider i.d.B.: 106). Die konkrete Ausgestaltung solcher Kommunikationsprozesse, in denen Professionelle und Adressat*innen zunächst zu einer gemeinsamen Sprache finden müssen, um daraufhin ein gemeinsames Ziel zu definieren, ist Gegenstand der Überlegungen zum methodischen Handeln in der Sozialen Arbeit. Diese werden zwar aktuell in Studium und Praxis dominiert von einem entsprechenden Verständnis von Beratung, gerade aber die von Stephan Geuenich angerissenen Themen der kulturellen Organisation von Pädagogik wie auch die Wechselwirkung von Raum und Subjekt, die Clemens Bach (i.d.B.) mit Blick auf die sozialistische Baugestaltung thematisiert, sind gut aufgehoben in einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit. Dabei wird auf den Punkt gebracht, was die Autoren des Bandes umtreibt: Geht es in der Sozialistischen Pädagogik darum, in gesellschaftliche Wandlungsprozesse einzugreifen (hier durch die Gestaltung von Raum als Basis einer gemeinschaftlichen Organisation, die Partizipation erst möglich
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Hinweise auf die Diskurse der Sozialen Arbeit finden sich beispielsweise in Michael Mays Beitrag i.d.B.
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macht)? Nach Geuenich (i.d.B.: 84) wäre dies eine Erziehung mit sozialistischem Ziel mit der Gefahr einer Indoktrination (denn eine unpolitische Pädagogik gibt es nicht). Dem würde die Soziale Arbeit sicherlich zustimmen, nur politisch in wessen Sinne? Den Sozialist*innen, so zitieren Engelmann und Pfützner (i.d.B.: 23) Axel Honneth (2015), sei ihr revolutionäres Subjekt abhandengekommen. Dem wäre zuzustimmen, wenn es darum ginge, das Ziel der Intervention einseitig vorzudefinieren – was etwas anderes ist, als Kommunikationsprozesse über ein Ziel für eine Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Vernachlässigung der Perspektive Sozialer Arbeit im Kontext von Sozialistischer Pädagogik wundert jedoch nicht angesichts der Rolle, die Soziale Arbeit im spätkapitalistischen Wohlfahrtsstaat einnimmt (vgl. Fraser 1994), wirkt sie doch stabilisierend für den Kapitalismus und wird so, wie Timm Kunstreich (1975) es zuspitzt, zum »institutionalisierten (Klassen)konflikt«. Möglicherweise ist sie deshalb den Herausgebern des Bandes nicht als fruchtbare wissenschaftliche Disziplin für ihre Thematik eingefallen. Auf der anderen Seite aber, so denke ich, ist es genau diese Position, die die Disziplin und Profession Soziale Arbeit zu immer neuer, kritischreflexiver Auseinandersetzung mit sich selbst verpflichtet. Und nicht zuletzt ist es diese Auseinandersetzung, die die hier behandelten Inhalte für mich einigermaßen vertraut erscheinen ließen. Engelmann und Pfützner führen den Abschnitt zu Sozialismen damit ein, dass sie die sozialistische Grundidee der Gütergemeinschaft theologisch begründet bereits bei den Wiedertäufern und damit außerhalb kapitalistischer Gesellschaften verorten. Die spannende Frage, ob die Utopie der Gütergemeinschaft ausschließlich als Gegenfigur zum Kapitalismus verstanden werden kann, ist von besonderer Relevanz für die Soziale Arbeit als Profession, die sich an den »Principles of social justice, human rights, collective responsibility and respect for diversities« (IFSW 2014) orientiert. Nun kann natürlich die hier postulierte Gleichberechtigung nicht gleichgesetzt werden mit einer Gleichheit im marxistischen Sinne. Eine Brücke könnte hier jedoch der von Geuenich herausgearbeitete syndikalistische Kulturbegriff darstellen, der Gleichheit als Gleichheit von Zugängen bzw. zu Teilhabe thematisiert. Michael May (i.d.B.: 53) verweist entsprechend auf die Möglichkeiten einer »bedingungsanalytischen Forschung« und im Zuge dessen auf den aktuellen Capability Approach. Eine Zusammenfüh-
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rung solcher aktueller Debatten mit einer Sozialistischen Pädagogik könnte über die Fokussierung der Motive funktionieren. Betrachtet man jedoch den von Engelmann und Pfützner (i.d.B.) angeführten ethischen Sozialismus, so lässt sich auch die Verwandtschaft zu den ethischen Prinzipien die in der Sozialen Arbeit als relevant gelten, nicht leugnen, insbesondere, wenn es neben dem Prinzip der Gleichheit vor allem um das Prinzip der Autonomie geht. Die Realisierung eines solchen ethischen Sozialismus in der Pädagogik wird konkret im dialogischen Prinzip gesehen, was verdeutlicht, wie nah wir uns hier an den Auseinandersetzungen im Kontext methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit bewegen. Methoden in der Sozialen Arbeit verstanden als eingreifendes Handeln im Sinne der Adressat*innen, die von sozialer Ausschließung und Unterdrückung betroffen sind und ihr Recht auf Gleichheit nicht verwirklicht sehen. Nicht umsonst findet sich das Parteilichkeitsprinzip, das seinen Ursprung bei Lenin ([1908] 1975) hat, bis heute als Handlungsprinzip in vielen Bereichen Sozialer Arbeit wieder, so z.B. in der feministischen Sozialen Arbeit. Die Soziale Arbeit braucht eine entsprechende ethische Orientierung als Regulativ, um in der konkreten Praxis nicht zum Instrument des neoliberalen Staates zu werden. Die hier angestoßenen Debatten sind also in jedem Fall auch für diese Disziplin fruchtbar. Umgekehrt jedoch, und diesen Aspekt sehe ich im vorliegenden Band wenig berücksichtigt, könnte gerade die Auseinandersetzung mit einem Methodenbegriff, der sich dialogisch versteht und in der Sozialen Arbeit etabliert wird, dazu führen, den Diskurs um sozialistische Pädagogik um eine konkrete Praxis der Verwirklichung ihrer ethischen Prinzipien zu erweitern, ohne zu behaupten, dies gelänge der Sozialen Arbeit. Aber gerade die Auseinandersetzung auf dem Spannungsfeld von Staat und ethischen Prinzipien der Gleichheit und Autonomie sowie der ganz konkreten Umsetzung würde hier möglicherweise zu einer fruchtbaren und stärker empirisch orientierten wissenschaftlichen Diskussion führen. Empirie scheint hier ein eher vernachlässigter Aspekt zu sein, der sich laut den Herausgebern z.B. im Sinne einer kritisch-analytischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Konzepten und Praxen, wie dem Negativbeispiel des Sozialismus der DDR zwar lohnen würde, jedoch werden im Band Beispiele wie die Praxen im Kibbuz (Lilker 1982; vgl. Engelmann/Pfützner i.d.B.: 24) nur kurz erwähnt, mit dem Hinweis, es fehle an entsprechender Forschung. Eine Perspektive jedoch, die die Erfahrung von Praxis in den hier prakti-
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zierten Diskurs einfließen ließe, könnte der Idee einer sozialistischen Pädagogik vielleicht zu einer Transzendenz »im Sinne einer Aufhebung, in der sich postkaptitalistischer Liberalismus, eine postbourgeoise Demokratie und ein postmarxistischer Sozialismus treffen können« (Künzli 2011 zit. in Engelmann/Pfützner i.d.B.: 23) möglicherweise ein Stück voranbringen. Denn warum sollte die Praxis einer Wissenschaft zur sozialistischen Pädagogik im Spannungsfeld von deren Potenzial der Emanzipation und Gefahr der Beeinflussung nicht den Weg der Partizipation nutzen, um eben diese Ambivalenz gestaltbar zu machen? Diese nicht weiter ausgeführten Gedanken zu Partizipation und einem dialogischen Prinzip im Sinne Bubers (1995) wären aus meiner Sicht einer weiteren Behandlung wert, auch wenn es darum geht, das Spannungsverhältnis von wissenschaftlicher Gesellschaftsanalyse und utopisch inspirierten ethisch begründeten Zukunftsentwürfen zusammenzubringen. Um es noch einmal deutlich zu formulieren: Hier ist keine Gleichsetzung von sozialistischer Pädagogik und Sozialer Arbeit gemeint, deutlich werden in diesem Band jedoch die sich ähnelnden Motive. Warum also nicht die Erfahrungen nutzen und auf diese Weise potenziellen Adressat*innen einer solchen Pädagogik Beteiligung ermöglichen, auch am wissenschaftlichen Diskurs? Das Dilemma, von Geuenich (i.d.B.: 84) thematisiert mit der Intention des Erziehenden, die immer herrschaftliche Verhältnisse mit sich bringt, wurde in der Sozialen Arbeit insbesondere in Zusammenhang mit deren wissenschaftlicher, professioneller und politischer Kritik in den 1970erJahren diskutiert (vgl. Cremer-Schäfer 2010). Dass diese Definitionsmacht entsprechende Etikettierungen mit sich bringt und aus Adressat*innen Objekte von Interventionen macht (ebd.), ganz ähnlich wie in den von Geuenich (i.d.B.: 85) angeführten Beispielen zum Zusammenhang von ›kindlicher Natur‹ und generationalem Machtverhältnis, war Gegenstand dieser Kritik, in deren Folge der Situationsbegriff Einzug in die Soziale Arbeit hielt. Die Beforschung von sozialen Situationen, wie Cremer-Schäfer (2010: 240) mit Blick auf die Arbeiten Erving Gofmans aufzeigt, macht deutlich, dass selbst in einer tendenziell ›totalen Situation‹ Akteur*innen an solchen Verdinglichungsprozessen arbeiten bzw. situativ entgegenwirken, sofern sie ein entsprechendes Wissen darüber entwickeln können. Die Perspektive der Situation ermöglicht insofern, Adressat*innen und Professionelle als Koproduzierende zu denken, ohne dabei die Dimensionen von
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Macht außer Acht zu lassen. Sie lädt jedoch auch geradezu ein, sich konkrete Praxen anzusehen, was auch eine Sozialistische Pädagogik dazu zwingen würde, sich ihre Umsetzung bzw. die Bearbeitung ihrer Motive anzuschauen. Dies wäre ohne eine konkrete Empirie nicht möglich. Dass die in diesem Band zusammengefassten Abhandlungen eher theoretischer Natur sind und, liegt sicherlich einerseits am anfangs erwähnten Mangel an Empirie zur Sozialistischen Pädagogik. Andererseits zeigt sich in diesem Band, dass hier vorwiegend aus der Perspektive einer universitär geprägten Sozialpädagogik und Schulpädagogik argumentiert wird. Überlegungen aus der Richtung Sozialer Arbeit könnten die Debatte deshalb bereichern, weil an deren Anfang eben »keine theoretischen Überlegungen und Konzepte, sondern Praxen der organisierten, kommunalen Armenfürsorge und -pflege, der außerfamilialen Unterbringung, Erziehung und sozialen Disziplinierung von auffällig oder straffällig gewordenen sowie als ›verwahrlost‹ etikettierten Kindern und Jugendlichen in Heimen und Anstalten, Formen der Betreuung, Pflege und Erziehung von sozial marginalisierten Kindern in Kinderbewahrstuben und Kindergärten, unterschiedliche Praxen der Gesundheitsfürsorge sowie soziale Politiken der außerschulischen, verbandlichen und staatlichen Jugendpflege und -fürsorge« (Thole 2010: 22)
standen. Eine entsprechende Würdigung dieser Tradition könnte die in diesem Band aufgeworfene, spannende und wichtige Diskussion um ein konkretes ›Wie‹ erweitern.
L ITERATUR Cremer-Schäfer, Helga (2010): Situation, in: Reutlinger, Christian/Fritsche, Caroline/Lingg, Eva (Hg.): Raumwissenschaftliche Basics. Eine Einführung für die Soziale Arbeit, Wiesbaden: VS, S. 239-246. Ehrhardt, Angelika (2010): Methoden der Sozialen Arbeit, Schwalbach: Wochenschau-Verlag. International Federation of Social Workers (=IFSW) (2014): Global definition of social work. Bern: IFSW [online verfügbar unter: http:// ifsw.org/get-involved/global-definition-of-social-work, (letzter Zugriff: 05.06.2017)].
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Kunstreich, Timm (1975): Der institutionalisierte Konflikt. Eine exemplarische Untersuchung zur Rolle des Sozialarbeiters in der Klassengesellschaft am Beispiel der Jugend- und Familienfürsorge, Offenbach: Verlag 2000. Lenin, Wladimir Iljitsch [1908] (1975): Materialismus und Empiriokritizismus, in: W.I. Lenin Werke, Band 14, 7. Auflage, Berlin: Dietz. Thole, Werner (2010): Die Soziale Arbeit – Praxis, Theorie, Forschung und Ausbildung. Versuch einer Standortbestimmung, in: Ders. (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch, 3., überarb. u. erw. Aufl., Wiesbaden: VS, S. 19-70.
Autor*innen
Clemens Bach (M.A.), Promotionsstipendiat des Landesgraduiertenstipendiums der Friedrich-Schiller-Universität Jena und freier Autor. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Pädagogik (Erziehungs- und Bildungstheorie, methodologische Fragestellungen); interdisziplinäre Verschränkung von Pädagogik, Soziologie, Kunst-, Literatur- und Theaterwissenschaft; Geschichte und Theorie der Ästhetischen Bildung sowie der historischen Avantgardebewegungen. Ricarda Biemüller (M.A.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft/ Theorie der Bildung der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie, Kritische Theorie und dialektisch-materialistische Theorie, Begründungsfragen des Pädagogischen. Daniel Burghardt (Dr. phil.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Anthropologie, Pädagogische Raumtheorie und Kritische Pädagogik. María do Mar Castro Varela (Dr., Dipl.-Psych., Dipl.-Päd.), Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Postkoloniale Theorie, Kritische Migrationsforschung, Critical Education und Gender und Queer Studies. Sebastian Engelmann (Dr. phil.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Allgemeine Pädagogik der Universität Tübingen. Arbeits-
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schwerpunkte: Historische Pädagogik; Bildungsphilosophie mit Schwerpunkt Materialität und Posthumanismus. Stephan Geuenich (M.A.), studierte Pädagogik an der LudwigMaximilians-Universität München und reichte dort 2017 seine Doktorarbeit zu pädagogischen Ansätzen im historischen Syndikalismus ein. Aktuell arbeitet er mit Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten. Arbeitsschwerpunkte: Reformpädagogik, historische Bildungsforschung, politische Bildung und Demokratiepädagogik. Marcus Hawel (Dr. phil.), Soziologe und Sozialpsychologe, Referent für Bildungspolitik in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Kritische Theorie, Geschichtspolitik, Politische Staats-, Demokratie- und Bildungstheorien. Thomas Höhne (Dipl-Sozialpäd. FH, M.A.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Verband Deutscher Sinti und Roma, Bayern; zuvor Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Kritische Pädagogik/ Critical Pedagogy, materialistische Bildungstheorie, rassismuskritische Bildungsarbeit. Stefan Kalmring (Dr. der Soziologie, Dipl.-Volkswirt), Referent für politische Weiterbildung in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Kapitalistische Landnahmen, Bildungstheorie und Dialektik des Antikapitalismus. Michael May (Dr. phil. habil.), Professor für Theorie und Empirie Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Gemeinwesenarbeit an der Hochschule RheinMain Wiesbaden, Sprecher des Hessischen Promotionszentrums Soziale Arbeit, Mitglied der Widersprüche-Redaktion. Arbeitsschwerpunkte: Politik und Pädagogik des Sozialen, Gemeinwesenarbeit, Professionalität Sozialer Arbeit, Intersektionalität. Petula Neuhaus (Dipl.-Päd.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Kritisch-politisches Bewusstsein Studierender vor dem Hintergrund kritischer Erziehungswissenschaft, politischer Bildung und bil-
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dungstheoretisch orientierter Biographieforschung, Kindheit und Jugend in der DDR sowie Transformationsprozesse nach der Vereinigung. Janek Niggemann (M.A.), Gastdozent für Inklusion/ Exklusion sowie Theoriezugänge und Struktur Sozialer Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Arbeitsschwerpunkte: »Normierung«, »Normalisierung« und »Othering« in der Professionalisierung von Sozialarbeiter_innen, politische Bildung, Hegemonietheorie und Intersektionalität, Klassismus und Habitusforschung, Emotionalitäts- und Affekttheorien, Cultural Studies und critical pedagogy, Kritische Psychologie und Psychoanalyse. Robert Pfützner (Dr. phil.), Lehrbeauftragter an den Universitäten Darmstadt und Hildesheim, freier Mitarbeiter am Haus der Kulturen der Welt und Berufsschullehrer in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Praxis solidarischer Bildungsprozesse, Profession und Ethik in pädagogischen Handlungsfeldern, Geschichte und Systematik sozialistischer Pädagogik. Alexandra Piepiorka (M.A.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale und Vergleichende Erziehungswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Arbeitsschwerpunkte: internationale Bildungszusammenarbeit, insbesondere in Bezug auf sozialistische Solidarität und Ost-Süd-Beziehung, sowie historisch vergleichende Hochschulforschung. Marianne Streisand (Dr. phil.), Professorin für Angewandte Theaterwissenschaft am Institut für Theaterpädagogik und wissenschaftliche Leiterin des Deutschen Archivs für Theaterpädagogik an der Hochschule Osnabrück. Arbeitsschwerpunkte: Bertolt Brecht, Heiner Müller, Konzepte der künstlerischen Avantgarde, Geschichte der Theaterpädagogik im 20./ 21. Jahrhundert. Henning Schluß (Dr. phil.), Professor für Bildungstheorie und Bildungsforschung an der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Untersuchungen zum Verhältnis von Politik, Religion und Bildung sowohl im historischen als auch im aktuellen Zusammenhang.
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Robert Schneider (Dr., MMag.), Professor für Erziehungswissenschaft im Bereich Inklusion an der Pädagogischen Hochschule Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: allgemeine inklusive Pädagogik, pädagogische Ethik, personalistische Anthropologie und Demokratiepädagogik. Jeannette Windheuser (Dipl.-Päd.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft/ Theorie der Bildung der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeitsschwerpunkte: Erziehungstheorie, Wissenschaftstheorie und Disziplingeschichte, Theoretische und Historische Geschlechterforschung. Kathrin Witek (Dipl.-Sozialpäd., M.A.), Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain Wiesbaden. Arbeitsschwerpunkte: Methoden der Sozialen Arbeit, Sozialraumorientierung, informelle und non-formale Bildungsprozesse, Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, Soziale Arbeit mit Frauen.
Pädagogik Anselm Böhmer
Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten 2016, 120 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3450-1 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1
Jan Erhorn, Jürgen Schwier, Petra Hampel
Bewegung und Gesundheit in der Kita Analysen und Konzepte für die Praxis 2016, 248 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3485-3 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3485-7
Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)
Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule Juni 2017, 726 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2594-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2594-7
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Pädagogik Elisabeth Kampmann, Gregor Schwering
Teaching Media Medientheorie für die Schulpraxis – Grundlagen, Beispiele, Perspektiven (unter Mitarbeit von Linda Leskau, Kathrin Lohse, Arne Malmsheimer und Jens Schröter) März 2017, 304 S., kart., zahlr. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3053-4 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3053-8
Juliette Wedl, Annette Bartsch (Hg.)
Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung 2015, 564 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-2822-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2822-1
Peter Bubmann, Eckart Liebau (Hg.)
Die Ästhetik Europas Ideen und Illusionen 2016, 206 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3315-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3315-7
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