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German Pages 566 [568] Year 2014
Helga Schultz
Europäischer Sozialismus – immer anders
BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG
Helga Schultz
Europäischer Sozialismus – immer anders Karl Kautsky – George Bernard Shaw – Jean Jaurès – Józef Pi sudski – Alexander Stambolijski – Wladimir Medem – Leo Trotzki – Otto Bauer – Andreu Nin – Josip Broz Tito – Herbert Marcuse – Alva und Gunnar Myrdal
BWV
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BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8305-2009-2
Zeichnungen: Tilo Himmelsbach, Robert Himmelsbach Register: Evamaria Engel © 2014 BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG GmbH, Markgrafenstraße 12 – 14, 10969 Berlin E-Mail: [email protected], Internet: http://www.bwv-verlag.de Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
Danksagung
Viel Unterstützung habe ich bei diesem Buch bekommen, von niemand mehr als von Evamaria und Gerhard Engel. Das Personenregister von Evamaria Engel ist ein ganz außerordentlicher Freundschaftsdienst; sie hat mir damit in der letzten Phase nicht nur Zeit, sondern auch Mut geschenkt. Gerhard Engel hat, seit ich im Sommer 2010 zuerst mit „meinem Kautsky“ in Klausdorf angekommen bin, beharrlich und geduldig mit mir das ganze Manuskript debattiert, manchmal in mehreren Versionen. Ich verdanke ihm wesentliche Denkanstöße, gerade weil wir nicht selten unterschiedliche Perspektiven hatten. Daneben haben liebe Kollegen und Freunde sich überreden lassen, einzelne Kapitel zu lesen, so Nigel Swain und Gangolf Hübinger (Shaw), Rolf Gehrmann (Jaurès), Dagmara JajeńiakQuast (Piłsudski), Georg Iggers (Medem und Marcuse), Walter Schmidt (Trotzki), Roman Holec und Armin Jähne (Stambolijski), Harald Steindl (Bauer und alle anderen auch), José Maria Faraldo (Nin), Britt Liljewall (die Myrdals). Ihnen allen danke ich von Herzen, gaben sie mir doch mehr Sicherheit, wenn ich meinen Helden in Regionen folgte, in denen ich nicht zuhause war. Natürlich bleiben alle Irrtümer und Fehlurteile unverkürzt meine eigenen. Da ich das Buch nicht allein für Historiker schreiben wollte, war es ermutigend, dass auch mein Bruder Jürgen Grimm, Landwirt von Profession, das Manuskript Stück für Stück gelesen hat; möge es viele Leser wie ihn geben. Eine ganz besondere Freude sind mir die Zeichnungen meiner beiden Enkelsöhne Robert und Tilo Himmelsbach. An sie und ihre Altersgefährten habe ich gedacht, als ich den Plan zu diesem Buch fasste. Berlin, Sommer 2014
Helga Schultz
V
Inhalt Einleitung
1
Sozialisten und Konservative Theorien – Ideologien Sozialisten und Arbeiter Bewegung
2 3 5 8
Karl Kautsky (1854 – 1938) Lehrer des Marxismus
13
Vom Tschechentum zum Sozialismus Malthus, Darwin und Marx Die „Neue Zeit“ und das Erfurter Programm Von Bernstein zu Luxemburg Massenstreikdebatte – vom Radikalen zum Zentristen Isoliert in Krieg und Revolution Gegen Bolschewismus und Faschismus Was ist geblieben?
14 18 21 26 32 37 41 44
George Bernard Shaw (1856 – 1950) Faust und Mephisto des Sozialismus
47
Dunkle Jahre in Dublin Nach London! Die Fabian Society Fabian Essays – das Programm Distanz und Nähe: Labour-Party Drinnen und draußen: Sozialistische Internationale Der Dramatiker: Anti-Helden und Übermenschen Der Frauenversteher Im Bann der Diktatoren
48 50 54 59 62 64 69 74 78 VII
Jean Jaurès (1859 – 1914) Internationalist unter der Trikolore
85
Naturtalent und Vorzugsschüler Sozialistische Wegmarken Marxismus, Anarchismus, Syndikalismus Republikanischer Sozialismus Friedensmission Das Attentat
86 89 92 98 107 115
Józef Klemens Pi sudski (1867 – 1935) Der Unabhängigkeitskämpfer als Sozialist
121
Im Schatten des Januaraufstands Parteiungen Sozialdemokraten gegen Sozialpatrioten Führer der Polnischen Sozialistischen Partei Revolutionäre Banditen Durch Krieg zum Sieg Geburtshelfer des neuen Polens Der Weg zur unbedingten Macht Sanacja! – „Gesundung!“
122 126 129 132 138 143 148 152 154
Alexander Stambolijski (1879 – 1923) Staatsmann der Bauern
161
Land des Tabaks und der Rosen Die Bulgarische Bauernunion Kautsky in Bulgarien Agrarsozialismus Drei Kriege Der Weg zur Macht Für ein neues Bulgarien Außenpolitik Der Sturz
161 165 168 171 177 182 187 192 196
VIII
Wladimir Medem (1879 – 1923) Auf der jüdischen Gasse
203
Die Wilna-Gruppe Russische Kindheit Minsker Revolutionäre Exil in der Schweiz Die jüdische Frage Ringen mit Lenins Partei Revolution 1905 – gescheiterte Hoffnung Wege zur jüdischen Gasse Getrennte Wege
204 209 211 215 217 221 224 227 232
Leo Trotzki (1879 – 1940) Luzifer der Revolution
241
Frühe Reife Lenins Feder – Lenins Keule – Lenins Widerpart Revolution – Realität und Theorie Das Irrlicht der Einigkeit Redner der Revolution Zweierlei Umsturzpläne Das Drama von Brest-Litowsk Der Kriegsherr Die neue Gesellschaft – Visionen und Wirren Gegen Stalin um den Neuen Kurs Letztes Exil Welche Alternative?
242 246 250 254 259 263 265 267 273 277 281 288
Otto Bauer (1881 – 1938) Der austromarxistische Hamlet
291
Austromarxisten Parteisoldat Österreichische Revolution Visionär und Programmatiker Kein Schlachtenlenker Die illegale Partei Größe und Scheitern
291 298 303 314 321 328 333
IX
Andreu Nin (1892 – 1937) Vom Anarchosyndikalismus zum Bolschewismus und zurück
335
Der Katalane Spanischer Sozialismus Der Anarchosyndikalist Nach Moskau Trotzkist in der Roten Gewerkschafts-Internationale Zwischen Trotzki und Maurin Führer der katalanischen Revolution Stalins Falle Das Ende Andenken
336 338 341 343 348 354 356 361 365 367
Josip Broz Tito (1892 – 1980) Der jugoslawische Weg
371
Reifejahre Karriere in den Wirren der Partei Stalin oder die Revolution: Die Partisanen Stalin oder die Revolution: Der Bruch Die neue Ordnung – Selbstverwaltungssozialismus Zwischen den Fronten des Kalten Krieges Menetekel Nationalismus Große Entwürfe
372 377 382 388 392 398 402 405
Herbert Marcuse (1898 – 1979) Prophet der Jugendrevolte
409
Bürgersohn in der Novemberrevolution Von Heidegger zu Marx Am Institut für Sozialforschung Beim Geheimdienst – Deutschland- und Sowjetstudien Mit Freud gegen die eindimensionale Gesellschaft Mit der amerikanischen Neuen Linken Idol der europäischen Studentenrebellion Anfeindungen und Entfremdungen Nach der Revolte Nachleben
410 412 414 419 426 432 434 438 440 444
X
Gunnar (1898 – 1987) und Alva Myrdal (1902 – 1986) Architekten des Volksheims
447
Auf dem Weg zum Ruhm Die „Firma Myrdal“ konzipiert das Volksheim Ein schwedischer Tocqueville Nachkriegsplanungen – von Schweden in die Welt Unterentwicklung – das asiatische Drama Heimkehr – Enttäuschungen und Ehrungen Jenseits des Sozialstaats
448 452 460 463 467 470 472
Epilog
477
Revolutionen Nationalismus Visionen
477 479 481
Literaturverzeichnis
485
Abbildungsverzeichnis
539
Personenregister
541
XI
Einleitung Geschichten von Gelehrten und Eiferern, Missionaren und Märtyrern, Rebellen und Tribunen, Abtrünnigen und Unbeugsamen sollen erzählt werden. Oft genug bot das Leben dem Einzelnen mehrere Rollen. Im Rückblick werden Sozialisten zunehmend als eine aussterbende Spezies von Sonderlingen wahrgenommen. Nichts ist falscher. Sie waren zahlreich, und seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert waren sie am Verlauf der Geschichte wesentlich beteiligt. Hier kann nur eine kleine Schar vorgeführt werden. Die Auswahl beschränkt sich auf Europa, denn von hier ging der Sozialismus aus, und er drückte ihm wie keinem anderen Erdteil seinen Stempel auf. Die antikolonialen und antiimperialistischen Bewegungen der außereuropäischen Welt nutzten zwar vielfach sozialistische, insbesondere marxistische Ideologien, sammelten aber ländliche Massen, die sich in Tradition, Organisation und Zielen von der europäischen Arbeiterbewegung unterschieden. Der europäische Horizont soll ausgeschritten werden; jede dieser wenigen Biografien muss daher für eine größere Region und eine ganze Traditionslinie stehen. Sozialismus wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Vision des allgemeinen Glücks einer befreiten Menschheit. Heinrich Heine fasste diese Menschheitssehnsucht im ersten Caput seines „Wintermärchens“ wunderbar in Verse: „Ein neues Lied, ein besseres Lied, O Freunde, will ich euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon Das Himmelreich errichten. Wir wollen auf Erden glücklich sein, Und wollen nicht mehr darben; Verschlemmen soll nicht der faule Bauch, Was fleißige Hände erwarben. Es wächst hienieden Brot genug Für alle Menschenkinder, Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, Und Zuckererbsen nicht minder.
1
Ja, Zuckererbsen für jedermann, Sobald die Schoten platzen!“1 Visionen vom allgemeinen Glück und Überfluss sind uralt. Sie entstanden, solange es eine menschliche Gesellschaft gibt, die über sich selbst reflektiert. Sie verwiesen nicht ins Nirgendwo, sondern gaben sozialen Bewegungen Hoffnung und Richtung. In langer historischer Sicht war der Sozialismus des 19. und 20. Jahrhunderts nur ein Abschnitt des unendlichen Stroms von Bemühungen um die Utopie der endlich gerechten und guten Welt. Der Sklavenführer Spartakus wie der römische Tribun Tiberius Gracchus, die Ketzer, die auf einem egalitären Urchristentum bestanden, und der Bauernführer Thomas Müntzer, Thomas Morus mit seiner „Utopia“ und die Jesuiten in Paraguay, sie alle sahen die modernen Sozialisten um 1900 als ihre Vorläufer.2 Der moderne Sozialismus war die besondere, antikapitalistische Fassung dieser Gesellschaftsutopien, die während des 19. Jahrhunderts aufkam.3 Die Sozialisten wollten die kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung mit ihrem Massenelend und ihrem Expansionsstreben durch eine ausbeutungsfreie, solidarische Gesellschaft der Gleichen überwinden. Die große Zeit des Sozialismus begann, als sich die Ideologie im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Arbeiterbewegung verband, und endete mit der Auflösung dieser Verbindung und dem Zusammenbruch des Staatssozialismus im ausgehenden 20. Jahrhundert. Etwa von 1880 bis 1980 spannt sich deshalb der zeitliche Rahmen dieses Buchs. Es ist ein Blick vom Ende her.
Sozialisten und Konservative Der eine Teil der denkenden Menschheit hat stets die Weltverbesserung auf seine Fahnen geschrieben, während der andere Teil sich die Weltbewahrung angelegen sein ließ. Man kann diesen Dualismus mit den Begriffen des modernen Parteienschemas als Opposition von Linken und Rechten oder Progressiven und Konservativen beschreiben. Die wandelbaren Losungen kreisen um den unauflösbaren Wertegegensatz Gleichheit/Solidarität versus Privateigentum/Individualität. Bei diesem Links-Rechts-Spektrum handelt es sich natürlich nicht um eine Dichotomie, sondern um ein Kontinuum, auf dem die Revolutionäre und Reaktionäre nur dessen äußere Pole bilden. In diesem Zusammenhang wird gern an Bismarck, den „konservativen Revolutionär“ erinnert, oder an den aristokratischen Helden von Lampedusas Roman „Der Leopard“, der sagte: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert“.4 Auf der Seite der Weltverbesserer finden sich aufs Ganze gesehen die originelleren und wagemutigeren Köpfe. Und ungeachtet der beeindruckenden Zahl weiblicher Revolutionärinnen sind es ganz überwiegend Männer, da Frauen Heim und Wiege hüten mussten. Rebellen leben gefährlich, während Konservative unter dem Schirm 1 2 3 4
2
Heine 1989, S. 18 Kautsky 1895 Sombart 1905, S. 12 – 16 Rödder 2002, S. 13
und am Tisch der Mächtigen sitzen. Offenkundig sind aber Weltverbesserer und Weltbewahrer gleich unerlässlich für den Bestand der Menschheit; es braucht wenig Phantasie, sich die Folgen auszumalen, wenn die eine oder die andere Seite komplett die Oberhand gewönne. Der gegenwärtig herrschende Konservatismus möchte in blindem Antikommunismus die sozialistische Tradition insgesamt auf die Müllhalde der Geschichte kippen. Jean Jaurès hielt 1909 im französischen Parlament dagegen, was unverändert gelten darf: „Wir halten die Vergangenheit heilig. Nicht umsonst haben alle Herdfeuer der Menschengenerationen gelodert; aber wir, wir schreiten aus, kämpfen für ein neues Ideal, wir sind die wahren Erben des Herdfeuers unserer Ahnen, wir haben dessen Flamme an uns genommen, ihr habt nur dessen Asche bewahrt“.5 Der Leser hat spätestens jetzt den Eindruck, dass hier für die Weltverbesserer Partei genommen wird – zu Recht. Der weltbewahrende Konservatismus ist ohnedies gewaltig im Vorteil. Ihm dient das bleierne Gewicht der Tradition, deren sichernden Netzen die Menschen sich anvertrauen. Auf seiner Seite sind die Institutionen, die das Gerüst der menschlichen Gesellschaft bilden. Institutionen erhalten nicht nur die Ordnungen von Herrschaft, Wirtschaft und Kultur über die Generationen hinweg, sie organisieren Macht und akkumulieren Übermacht, die sich in tendenziell wachsender Ungleichheit niederschlägt.6 Gegenmacht ist notwendig, damit es die Gesellschaft nicht zerreißt. Das Buch ist geleitet von der Wertetrias der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Diese Maximen bilden den humanistischen Kern moderner Gesellschaftsbilder. Sie sind durchaus in Gefahr, wenn der Sozialismus als Gegenmacht ausfällt, wenn Freiheit auf die Freiheit des Eigentums reduziert ist, Gleichheit selbst als Chancengleichheit verblasst und Solidarität sich auf Mildtätigkeit beschränkt. Andererseits sind die Sozialisten nicht unbedingt Verfechter dieser Wertedreifalt. Gleichheit und Freiheit stehen in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis, aus dem der immer interessenabhängige Begriff der Gerechtigkeit keinen Ausweg bietet. Wo Gleichheit drakonisch durchgesetzt wird, bleibt die Freiheit auf der Strecke. Beispiele lieferte das vergangene Jahrhundert genug, und auch davon wird die Rede sein. Geleitet von der aufklärerischen Wertetrias will dieses Buch für den Sozialismus sprechen und nach den Irrwegen und Irrtümern fragen, die seinen Niedergang herbeiführten.
Theorien – Ideologien Der Sozialismus ist wie alle Ideologien intellektuelle Schöpfung, und um die intellektuellen Führer und Theoretiker geht es hier. Die im Folgenden dargestellten gehören zur großen Zahl jener selbständigen Köpfe, die die Geschichte des Sozialismus fortgeschrieben haben. Sie standen alle in der großen theoretischen Tradition des 19. Jahrhunderts, auf den Schultern von Charles Fourier und Wilhelm Weitling, von Pierre Joseph Proudhon und Ferdinand Lassalle, und von Karl Marx und Friedrich Engels. Diese beiden Letztgenannten schufen eine schlüssige Theo5 6
Jaurès 1909. – Die Übersetzung zitiert: Rolland 1966, S. 180 Piketty, Zucman 2014; Wehler 2013, S. 59 – 64
3
rie des Sozialismus, deren entscheidende Bestandteile die Kritik der kapitalistischen Ökonomie mit der Arbeitswertlehre und die materialistische Geschichtsauffassung mit dem Postulat aufsteigender, ökonomisch begründeter Gesellschaftsformationen waren.7 Karl Marx und Friedrich Engels erklärten mit dem Mehrwert, den der Arbeiter erzeuge und der Unternehmer ihm raube, die Ausbeutung, und sie legten mit der historischen Stufentheorie dar, dass und warum es zum Sozialismus kommen müsse. Was bei Heine ein Lied war, das die alte Weise vom Schlaraffenland variiert, entwickelten Karl Marx und Friedrich Engels zu Theorie und Programm. Ihnen war sein eschatologischer, das Himmelreich auf Erden beschwörender Anspruch durchaus bewusst. Über die Ausgestaltung des Sozialismus sagten sie klugerweise kaum Genaueres als Heinrich Heine mit seinen allegorischen Rosen und Myrten und Zuckererbsen. Vielleicht wegen dieser Unbestimmtheit, jedenfalls aber wegen der Bestimmtheit, mit der die Notwendigkeit des Übergangs zum Sozialismus dargelegt wurde, hatte dieser marxistische Sozialismus die größte Überzeugungskraft. Er wurde eine Signatur des 20. Jahrhunderts. Einflussreich blieb die uralte ethische Begründung des Sozialismus als einer moralisch überlegenen, menschlicheren Weltordnung – in einer säkularisierten Welt eher mit Berufung auf Immanuel Kants Sittenlehre als auf das Christentum. Auch das frühsozialistische und anarchistische Denken war nicht verloren. Über die Frage, was Sozialismus sei und wie er zu machen wäre, haben sich die Nachfahren der Gründerväter das ganze 20. Jahrhundert hindurch erbittert gestritten. Vom Revisionismusstreit um die Wende des 19. Jahrhunderts bis zur Auflösung der Parteien des ehemaligen sozialistischen Lagers ist die Geschichte des Sozialismus eine Abfolge von Spaltungen, Neubildungen, Ketzerverfolgungen und erbittertem Richtungsstreit. In der Sicht der Orthodoxie erschien dies als fortwährender Reinigungsprozess der wahren Lehre. Im Rückblick scheint es naheliegender, die Stärke des Sozialismus nicht in der Einheit und Reinheit seiner Lehre, sondern in der Vielfalt seiner Ausprägungen zu suchen. Ist Variantenvielfalt nicht allgemeines Prinzip der Evolution? Nur so kann sie erfolgreich sein. Grundprinzipien der Evolution gelten offenbar nicht nur in der Biologie, sondern universal und werden daher auch zur Erklärung von Entwicklungen in Technik und Gesellschaft genutzt. Allerdings birgt solche Übertragung Fallstricke, wie die fehlgeleitete Anwendung des Darwinismus auf Politik und Gesellschaft gezeigt hat.8 Die Auswahl der großen Köpfe in diesem Buch will gerade die Vielfalt des Sozialismus in Ideologie und Politik abbilden. Auch nach der russischen Oktoberrevolution erschöpfte sich der Sozialismus nicht im Dualismus von Kommunisten und Sozialdemokraten. Die Strömungen, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in der Sozialistischen Internationale zusammengefunden hatten, blieben erhalten, als der Spaltpilz daraus zwei, drei, vier und einige halbe Internationalen gemacht hatte. Und neue Varianten, wie der Trotzkismus, kamen hinzu. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts formierte sich eine Neue Linke, weitgehend jenseits der Arbeiterbewegung, gegen imperialistische Kriege und Eurozentrismus, solidarisch mit den Befreiungsbewegungen der unterentwickelten Regionen. Die Variantenbildung dauert an.
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4
So die Quintessenz auch bei Engels 1956 – 1990, S. 26 Sarasin et al. 2010, S. 234 – 243, 366 – 375
Gegenwärtig beschäftigt sich die Geschichtsschreibung noch ganz mit dem Kommunismus. Die Abgründe des stalinistischen Terrors, aber auch das Macht- und Bedrohungspotential der sozialistischen Staaten zur Zeit des Kalten Kriegs faszinieren die Historiker. Daraus sind anspruchsvolle sozialhistorische Untersuchungen, wie die von Thomas Kroll zu den kommunistischen Intellektuellen in Westeuropa, und imponierende globale Synthesen, wie David Priestlands Weltgeschichte des Kommunismus, gewachsen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition brachte auch zur Geschichte des deutschen Kommunismus und Linkssozialismus bemerkenswerte Synthesen.9 Andererseits sind viele Veröffentlichungen noch der Totalitarismus-These verpflichtet, sind Abrechnungs- und Bewältigungsliteratur. Faschismus und Stalinismus werden in einem Atem genannt und die gesamte Geschichte des Staatssozialismus dem Modell totalitärer Herrschaft einverleibt. So wird der Sozialismus schlechthin als Irrweg des 20. Jahrhunderts verworfen. Auch das furiose Werk von François Furet zur Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert gehört dazu.10 Er liefert darin eine Fortsetzung seiner Abrechnung mit dem jakobinischen Erbe der großen Revolution von 1789, mit den Jakobinern als Vorläufer und Chiffre der Bolschewiki von 1917 und des späteren stalinistischen Terrors. Es ist eine Abrechnung mit Furets eigenen verlorenen kommunistischen Illusionen. Furet steht in der Nachfolge des vier Jahrzehnte zuvor geschriebenen Buches von Raymond Aron, der in der Auseinandersetzung mit dem einstigen Freund Jean-Paul Sartre und seinem Kreis den Kommunismus als Opium für Intellektuelle, also als Religion enttarnte.11 Nun ist es nicht so originell, wie es scheint, Parallelen zwischen Sozialismus und Religion, sozialistischer Partei und Kirche zu ziehen, denn die Sozialisten selbst taten dies von Beginn an. Die Kanonisierung der Theorie, die ideologische Begründung der Institutionen, schließlich die endzeitliche Zukunftsvision, die apokalyptische Revolution und die messianische Mission des Proletariats boten genug Anknüpfungspunkte. War der Sozialismus deshalb eine Zivilreligion des 20. Jahrhunderts, wie man es vom Nationalismus sagt? Der Sozialismus war allerdings nie so fraglos eingewurzelt in der Identität durch Geburt und kulturelle Zugehörigkeit, und daher nie so mächtig wie der Nationalismus. Er brauchte die Überzeugung durch unleugbare, welterklärende Beweise. Nur als Antireligion mit dem prophetischen Anspruch der Wissenschaft konnte der Sozialismus die Massen ergreifen. Die Gesellschaftskritik verschmolz mit der Utopie und wurde so zur Weltanschauung der Arbeiterbewegung.
Sozialisten und Arbeiter Diese Verbindung entsprang nicht der verblendeten Leidenschaft intellektueller Agitatoren, sondern dem Bedürfnis der mächtig anschwellenden Arbeiterbewegung. Erst mit der Arbeiterbewegung wurde der Sozialismus geschichtswirksam. Werner Sombart schrieb zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass jedermann bei einer ruhigen Betrachtung der Urgewalt dieser Be-
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Kroll 2007; Priestland 2009; Kinner, Klaus 1999 – 2010 Furet 1999; siehe: Traverso 2008 Aron 1957
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wegung sehen könne, „dass sie notwendig, unabwendbar da ist und gar nicht nicht da sein könnte“.12 Die Arbeiter waren in nahezu allen Varianten des europäischen Sozialismus Träger der Zukunftserwartung. Dieses Konzept wurde auch dem agrarischen Osten des Kontinents übergestülpt, und es wirkte selbst noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den außereuropäischen Befreiungsbewegungen nach. Der bulgarische Bauernsozialismus wird die daraus entstandenen Widersprüche aufzeigen. Die Arbeiter, genauer noch die Proletarier der neuen Industrie, sollten als Gegenspieler der Kapitalisten den Kapitalismus überwinden und dann, von Ausbeutung befreit und geleitet von den intellektuellen Propheten sozialistischer Theorie, die neue Gesellschaft errichten. Ihre Emanzipation sollte zugleich Menschheitsbefreiung sein. Am eindrücklichsten haben Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest diese universale Aufgabe des Proletariats beschrieben: „Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. – An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.13 Diese dem Proletariat zugedachte Rolle in der Geschichte bezeichneten schon Karl Marx und Friedrich Engels als dessen historische Mission, bewusst religiöse Metaphern nutzend. Und sie verglichen seine Rolle ausdrücklich mit der des Bürgertums in der französischen Revolution, das seinerzeit die Befreiung von den feudalen Fesseln ebenfalls als universale Emanzipation verstanden hatte. Doch da war ein bemerkenswerter Unterschied: Die universale Überhöhung gehörte zum Selbstbild des Bürgers als Citoyen, die historische Mission der Arbeiterklasse war eine Fremdzuschreibung. Philosophen, Schriftsteller und Künstler standen an der Wiege des proletarischen Helden, der eine Spielart des Neuen Menschen sein sollte.14 Manchmal verstanden die Sozialisten den Proletarier auch biologistisch als Neuen Menschen im Sinne der um 1900 blühenden Lebensphilosophie, deren Vorstellungen im Übermenschen Friedrich Nietzsches gipfelten.15 Immer schrieben sie „der Arbeiterklasse“ aufgrund ihrer sozialen Lage als Ausgebeutete und Unterdrückte und aufgrund ihrer ökonomischen Position in der Großindustrie besondere Tugenden zu. Ein Gemälde des polnischen Malers Stanisław Lentz steht auf eigenartige Weise für die schwankende Gestalt des proletarischen Helden in der Geschichte. Der Schüler des großen polnischen Historienmalers Matejko porträtierte 1910 im Gedenken an die Kämpfe der Revolution von 1905 in Warschau und Łódź drei Streikende in altmeisterlicher Manier. Die Ar-
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Sombart 1905, S. 253 Marx, Engels 1956 – 1990a, S. 482 Lepp et al. 1999 Pieper 2000
beiter zeigen jene übergroßen Fäuste und knochigen Gesichter, jene selbstbewussten Posen, die dem Betrachter später aus ungezählten Bildern des sozialistischen Realismus entgegentraten. Das Pathos erinnert an die Statuen des Belgiers Constantin Meunier, der schon in den 1880er Jahren in seinem unvollendeten großen Ensemble „Denkmal der Arbeit“ den Missachteten Würde verlieh. Zur Zeit des polnisch-sowjetischen Kriegs nach der russischen Oktoberrevolution interpretierte Stanisław Lentz sein Werk neu. Die dargestellten Arbeiter erschienen ihm nun als Bild der finsteren bolschewikischen Bedrohung, als Sinnbild der zerstörerischen, kulturfeindlichen Kraft der Revolution.16 Die Volksrepublik Polen erhob das Gemälde dann zum Vorläufer und zur Ikone des sozialistischen Realismus. In der Warschauer Nationalgalerie kann man es betrachten. Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus verabschiedeten die enttäuschten Intellektuellen ihre proletarischen Helden. Willi Sitte, Maler und ehemals Vorsitzender des Künstlerverbandes der DDR, resümierte: „In völliger Überschätzung der Arbeiterklasse habe ich ihr Denkmale gesetzt, ohne dass es dafür überhaupt ein Verständnis gegeben hätte“.17 Die Problematik der Verbindung von sozialistischer Theorie und sozialer Bewegung wurde im Scheitern klar. Die Beziehung der intellektuellen Sozialisten zu den Proletariern und ihrer Bewegung waren stets ein neuralgischer Punkt des Sozialismus gewesen. Zugrunde liegt eine Ambivalenz der Werte und Ziele, wie sie allen revolutionären Bewegungen der Geschichte eigen ist. Schon die Motive der Intellektuellen, sich der Arbeiterbewegung anzuschließen, waren ambivalent: Da war Mitgefühl mit den Entrechteten und Benachteiligten und der Wunsch, deren Lage zu verbessern; da war aber ebenso das Streben nach einer grundstürzenden Neuordnung der Welt und damit nach rücksichtsloser Zerstörung des Bestehenden. Soziales Mitgefühl und revolutionäres Wollen standen immer in einem Spannungsverhältnis. Die Arbeiter teilten den Wunsch nach Weltzertrümmerung im Allgemeinen nicht. Sie folgten einer „sittlichen Ökonomie“ mit kollektiv gebildeten, austarierten Maßstäben für das, was gerechte Preise und Löhne und angemessene Arbeitsbedingungen sind.18 Diese Wirtschaftsethik war im Kern konservativ, an der Bewahrung des Rechts orientiert. Nur bei grober Verletzung griffen die Arbeiter zur Gewalt, kam es zu Brotunruhen, Streiks und Aufruhr. Das galt nicht nur für die englischen Arbeiter der Frühindustrialisierung, an deren Beispiel Edward P. Thompson diese Wirtschaftsethik herausarbeitete, sondern für die europäischen Arbeitskämpfe im Jahrhundert der Industrialisierung überhaupt. Zwischen dem letzten Drittel des 18. und dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als es die vormodernen Zünfte nicht mehr und die modernen Parteien und Gewerkschaften noch nicht gab, erhoben sich die Arbeiter ohne intellektuelle Führung im Zeichen der „sittlichen Ökonomie“ in Hungeraufständen und spontanen Streiks.19 Diese opferreichen Kämpfe blieben meistens erfolglos. Schließlich formierten sich gegen schärfste Verfolgung durch die Staaten, gegen Koalitionsverbote und Kriminalisierung von Arbeitskämpfen Zusammenschlüsse der Fabrikarbeiter, der Heimarbeiter und der Landarbeiter. Der Kampf um Koalitionsfreiheit, für gewerkschaftliche Organisation, gehörte zum Kampf 16 17 18 19
Von Specht 1992, S. 89 Schirmer, Sitte 2003, S. 91 Thompson 1979 Geary, Fliessbach 1983, S. 13 – 15
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um Arbeit und Lohn. Michael Kittner hat die Eckpfeiler von Thompsons „sittlicher Ökonomie“ – gerechten Lohn, billigen Preis und menschenwürdige Arbeitsbedingungen – deshalb erweitert durch die Freiheit des Zusammenschlusses zur Verteidigung dieser Rechte. So spricht er von der Wertetrias Arbeit, Gerechtigkeit und Freiheit als allgemeiner Grundlage des Arbeitskampfes der Lohnabhängigen.20 Karl Marx hatte früh unter dem Eindruck von Engels’ Studien über die Lage der englischen Arbeiterklasse die Divergenz zwischen den unmittelbaren Bedürfnissen der Arbeiter und der ihnen zugedachten historischen Rolle erkannt und dialektisch aufzulösen versucht: „So ist diese [Arbeiter-] Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf“.21 Im Kern ging es hier nicht nur um das Fortschreiten der Arbeiter zu Bewusstsein und Organisation, zu einem im Gesamtinteresse handelnden Superorganismus Klasse, wie man es mit einem Begriff der modernen Biologie benennen könnte. Es ging Karl Marx auch um das Fortschreiten von der gegebenen „sittlichen Ökonomie“ zur politischen Ökonomie, zur Revolution. Dazu brauchte es denn doch den Welterneuerungswillen und die Weltzertrümmerungsbereitschaft der intellektuellen Führer.
Bewegung Die angemahnte Konstituierung der Arbeiter zur Klasse nicht nur im sozialen, sondern auch im politischen Sinn begann während der Hochindustrialisierung, als die Konzentration der Arbeiterschaft in Fabriken einen Höhepunkt erreichte. Nach einer jahrzehntelangen Zerstreuung und Vereinzelung, die mit der Zerschlagung von Zünften und Gesellenbruderschaften einhergegangen war, bildeten sich Gewerkschaften als neue Organisationen. Die Initiative ging wesentlich von den organisierten Arbeitern selbst aus, in Fabriken, Berufsverbänden und sogar über Staatsgrenzen. Die Internationale Arbeiterassoziation von 1864 war vor allem eine Gründung der englischen Gewerkschaften mit Teilnahme der französischen. Diese Erste Internationale wollte über Grenzen hinweg Solidarität bei Lohn- und Arbeitskämpfen üben, wie es die englischen Textilarbeiter mit den amerikanischen Baumwollsklaven während des Bürgerkriegs getan hatten. Obwohl Karl Marx schließlich die Grundsatzrede schrieb, blieb das sozialistische Ziel noch unklar; Syndikalisten, Proudhonisten, Anarchisten rangen mit Marx und seinen Gefolgsleuten um Einfluss in der Internationalen Arbeiterassoziation. Sie zerbrach schließlich im Machtkampf zwischen Karl Marx und Michael Bakunin. Die Aktivitäten dieser Assoziation waren heroisch, ihre Kräfte und Mittel schwach. Die Revolutionsfurcht, die 20 21
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Kittner 2005, S. 251 Marx 1956 – 1990b, S. 181
sie auslöste, und der Terror, den die Staaten angesichts der Kommune in Paris gegen sie aufboten, waren ganz unverhältnismäßig.22 Die Zweite Internationale von 1889 war dann schon ein wesentlich festerer Bund, ein Zusammenschluss nationaler Parteien. In diesen Parteien verbanden sich soziale Bewegung und sozialistische Theorie. Das war keineswegs selbstverständlich der Marxismus, aber in den zahlreichen mittel-und osteuropäischen Parteien wurde der marxistische Einfluss herrschend. Die Parteien erkämpften das allgemeine, gleiche Wahlrecht und damit politischen Einfluss. Natürlich ging es zunächst um das allgemeine Männerwahlrecht, aber die Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht erhielten Beispiel und Rückhalt. Noch immer ausgegrenzt aus der bürgerlichen Gesellschaft, wegen ihres Internationalismus als „vaterlandslose Gesellen“ beschimpft, wurden die Arbeiter mit ihren sozialistischen Parteien stark und selbstbewusst. Intellektuelle spielten zunächst eine relativ geringe Rolle. Sie dienten vornehmlich als Redakteure. Nachdem das allgemeine Wahlrecht erstritten war, vertraten sie ihre Partei häufiger im Parlament, denn sie waren redegewandter als die Arbeiter und abkömmlicher am Arbeitsplatz. Viel seltener begegnen sie als Parteiführer oder gar als Gewerkschaftsführer. In den Parteien der Vorkriegsinternationale pflegte man ein wohlbegründetes Misstrauen gegen Intellektuelle.23 Die Situation änderte sich grundlegend, als die Parteien mit der russischen Oktoberrevolution von 1917 entzwei brachen. Die Sozialisten vollzogen den organisatorischen Bruch, indem die radikalen, auf eine politische Revolution zielenden Flügel kommunistische Parteien unter der straffen Führung der Moskauer Komintern gründeten, und die reformorientierten Flügel sich zu Reformparteien umbildeten. Wen wundert es, dass die kommunistischen Parteien Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller und Theoretiker, besonders anzogen? Die Kommunisten waren das Lager der großen Entwürfe, der radikalen Aktion, des Neuen Menschen und der Großprojekte auf der grünen Wiese, ganz nach den Idealen der revolutionären Formation der Weltverbesserer. Inwieweit eine Symbiose zwischen kommunistischen Intellektuellen und Arbeitern in diesen Parteien zustande kam, wird an den ganz unterschiedlichen Schicksalen zu verfolgen sein. Ein besonderes Kapitel schrieb der stalinistische Terror; gerade die intellektuelle Führungsschicht fiel ihm zum Opfer. Nach dem Ende des Stalinismus – als die Gräuel öffentlich wurden – und mit der sozialistischen Herrschaft in den ostmitteleuropäischen Staaten änderte sich das Verhältnis der Intellektuellen zu allen Varianten des Sozialismus. Viele westliche Intellektuelle wandten sich vom Kommunismus ab, und die vormals stalinistischen westlichen Parteien wandelten sich zu eurokommunistischen Reformparteien. Aus der Neuen Linken strömten ihnen ebenso wie der Sozialdemokratie intellektuelle Kräfte zu. Während sich die Arbeiter aus den sozialistischen Parteien verabschiedeten, gewannen Intellektuelle an Gewicht. Sozialdemokratische Parteien waren nun vielfach an den Regierungen beteiligt und boten so Karrierechancen und Gestaltungsmöglichkeiten. Das war im Bereich des Staatssozialismus nicht grundlegend anders. Auch hier schwand der ursprünglich hohe Arbeiteranteil in den Staatsparteien zugunsten der akademisch gebildeten Funktionseliten. In dem Maße, wie der Sozialismus auf der
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Bédarida et al. 1975a, S. 187 – 191; Braunthal 1978a, S. 101 – 109 Auernheimer 1985
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Grundlage eines orthodoxen Marxismus-Leninismus zur Staatsdoktrin wurde, verlor er sein subversives Potential, und die Relationen von links und rechts verkehrten sich. Doch man täusche sich nicht, die bedeutenden Dissidenten waren fast alle ehemals engagierte Kommunisten. Auch die Geschichte des Staatssozialismus erzählt vom Philosophen auf dem Thron und seinem Scheitern. Aber nicht nur vom Scheitern kann die Rede sein. Wenn wir den Blick von den großen Entwürfen abwenden hin zur Lebenswelt der Arbeiter, bietet sich ein anderes Bild. Einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg unternahm Adolf Levenstein, ein Gewerkschafter und Autodidakt, eine Umfrage unter 8.000 Arbeitern, um deren Leben, Denken und Gefühlswelt zu erkunden.24 Das Ergebnis stützt im Ganzen die These eines Wertesystems, das auf die Verbesserung, nicht auf den Neubau der Welt zielte. Dietrich Mühlberg fasste zusammen, was Levenstein über die Zukunftswünsche der Arbeiter erfuhr: „Sie träumten davon, endlich satt zu essen zu haben, sich besser kleiden zu können, gesund zu bleiben und keine unerwünschten Kinder zu bekommen. Sie erwarteten, für harte und gefährliche Arbeit anständig bezahlt und behandelt zu werden, den Söhnen und Töchtern eine glückliche Kindheit, eine gute Ausbildung, jedem Kind ein eigenes Bett geben zu können, die Frau nicht mehr in die Fabrik oder zum Wäschewaschen in ‚bessere Familien‘ schicken zu müssen, sich ein Fahrrad oder eine Taschenuhr kaufen zu können, die Wohnung zu einem wirklichen Heim zu machen, einen Garten oder ein eigenes Häuschen zu erwerben, sich eine Zeitung halten zu können, weniger arbeiten zu müssen, um ausschlafen zu können, mehr Zeit für die Familie, für Vergnügungen, Spaziergänge, Basteln, Musizieren, Lesen, für Weiterbildung, Gewerkschafts- und Parteiarbeit zu haben, im Sommer auch einmal reisen zu können und im Alter sorgenfrei zu leben“.25 Die drohende Gebärde eines proletarischen Helden ist aus diesem Wunschkatalog nicht ablesbar; die Arbeiter meldeten ihre Menschen- und Bürgerrechte an. Sichtbar wird, dass das Massenelend früherer Jahrzehnte überwunden war. Solche Wünsche konnten nur keimen, wo schon ein Drittel der Arbeiterkinder das Bett nicht mehr mit Eltern oder Geschwistern teilen musste, wo Laubenkolonien und erste Arbeiter-Reihenhaussiedlungen entstanden waren, wo in den Arbeiterfamilien nicht mehr jeder zweite Säugling starb, wo die Arbeitszeit nicht mehr das ganze Leben auffraß und wo jedermann – und fast jede Frau – lesen konnte. Die lange Konjunktur, die nach der Überwindung der Gründerkrise in den 1880er Jahren einsetzte, begünstigte das Wachsen der Reallöhne nach fast einem Jahrhundert stagnierender Lohneinkommen. Der Arbeitstag wurde schrittweise beschränkt und betrug vor dem Ersten Weltkrieg durchschnittlich neuneinhalb bis zehn Stunden. Die Sozialgesetzgebung der Bismarckzeit bot ein Minimum an Sicherheit in den großen Lebensrisiken Krankheit, Invalidität und Alter und damit ein menschenwürdigeres Leben. Diese Verbesserungen waren in zahllosen Arbeitskämpfen erreicht worden, und sie waren Reaktionen des Staates auf die bedrohlich wachsende politische Bewegung der Arbeiter. Diese 24 25
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Levenstein 1912 Mühlberg 1985, S. 178 – 179
Verbesserungen erschienen also nicht durch bloß gewerkschaftliche Organisation im Rahmen der Verteidigung einer proletarischen Wirtschaftsethik, sondern sie wurden unter dem Druck politischer Parteien errungen, die die Fahne der Revolution schwangen. In diesen Parteien erwarb ein wachsender Teil der Arbeiterschaft jenes Bewusstsein seiner Klassenlage, das Karl Marx angemahnt hatte: das Selbstbewusstsein, Träger einer neuen, besseren Welt zu sein. Wenn zwei, drei Generationen später schließlich die Träume der Arbeiter vom Beginn des Jahrhunderts in den Industrieländern Europas in Erfüllung gegangen waren, und zwar in West wie Ost, so standen dahinter auch Mühen und Kämpfe von Sozialisten, die ihr eigentliches Ziel verfehlten. Der Zukunftsstaat der befreiten Arbeit, in dem alle Klassen aufgehoben sind und die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die Freiheit aller ist, wurde nicht Wirklichkeit. Schon seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts war die Hegemonie der Arbeiter in einem sozialistischen Zukunftsstaat unwahrscheinlich geworden. Einerseits erreichte die Arbeiterbewegung die Integration in die westeuropäischen Sozialstaaten und strebte nicht mehr nach revolutionären Veränderungen.26 Andererseits war der Sozialismus durch die Diktatur volksferner Machteliten im sowjetischen Einflussbereich diskreditiert. Inzwischen hat der Strukturwandel zur postindustriellen Gesellschaft den Kapitalismus so wesentlich verändert, dass die Arbeiter marginalisiert sind. Sie leisten zwar nach wie vor den überwiegenden Teil der Arbeit in allen Bereichen der Gesellschaft, aber sie tun es immer häufiger in prekären Verträgen, unter dem Mantel scheinbarer Selbständigkeit, außerhalb von Gewerkschaften, fernab politischer Parteien.27 Die Arbeiterklasse als – im weitesten Sinne – revolutionäres Subjekt ist aus der Geschichte verschwunden. So konnte ein großer Teil dessen wieder verloren gehen, was in den achtziger Jahren so sicher erreicht schien. Im Osten brachte der Zusammenbruch des Staatssozialismus nicht die Symbiose von sozialistischer Sicherheit und kapitalistischem Wohlstand, und im Westen hielt der Sozialstaat im Schatten wiederkehrender Krisen der marktliberalen Deregulierungswut nicht stand. Das Ende des Kalten Kriegs war zwar nicht der Endsieg des westlichen Kapitalismus, wohl aber ein Triumph des Konservatismus. Das Jahr 1989 besiegelte auch in dieser Hinsicht, was in den siebziger Jahren begann, als der Fortschrittsoptimismus systemübergreifend verloren ging. Die Autorin Christa Wolf schrieb 1980 im Lauf ihrer Arbeit an der „Kassandra“: „Wir können nicht wissen, ob wir in der dunkelsten Mitte oder am Ende der Geschichte sind“.28 Kassandra verdrängte Prometheus als mythologische Leitfigur, und die Erwartung immer neuer ökologischer, demografischer, politischer Katastrophen prägte den Zeitgeist. Die Schreckensvisionen aus Hollywood sind ein Indiz dieses Wandels. Wie weit sind sie von Stanley Kubricks humanistischer Legende „2001: Odyssee im Weltraum“ entfernt, die 1968 gedreht wurde! Doch der Zeitgeist ist eine Diagnose, zur Prognose ist er ziemlich ungeeignet. Wie schon früher in der Geschichte mag die Endzeiterwartung am Vorabend zukunftsträchtiger Entwicklungen stehen. Die Erinnerung an den vielfältigen Sozialismus mit seiner unbeirrbaren, schrecklich irrenden Zukunftserwartung kann in einer oder anderer Weise hilfreich sein.
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Stråth 1996, S. 9 – 13 Tenfelde 2005 Wolf 1983, S. 90
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Karl Kautsky
Karl Kautsky (1854 – 1938) Lehrer des Marxismus Es war kein stilles Begräbnis. Karl Kautskys letzte Fahrt zur Einäscherung auf dem Amsterdamer Friedhof Westerveld am 20. Oktober 1938 wurde noch einmal zu einer Kundgebung der europäischen sozialistischen Bewegung. Hinter dem Spalier aus schwarzumflorten, buntgewürfelten Ersatzfahnen zeigte sich vereinzelt doch eine der verbotenen roten Fahnen, und die niederländische Sozialdemokratische Arbeiterpartei hatte den Sarg mit ihrer eigenen Fahne bedeckt. Unter dem Druck des nationalsozialistischen Deutschland erhielten viele ausländische Sozialisten kein Einreisevisum, aber an der Spitze des Zuges gingen die Führer der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI), der Sekretär Friedrich Adler, der Vorsitzende Louis de Brouckère und der frühere Sekretär Camille Huysmans. Ihnen folgten die niederländischen Parteiführer und die Blocks der Amsterdamer Arbeiter. Die ausländischen Sozialistenführer hatten Redeverbot, so sprachen die Niederländer für die internationale Bewegung, und die Orgel dröhnte trotzig die „Internationale“.1
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Langkau-Alex 1986, S. 53
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Karl Kautsky war am 16. Oktober 1854 in Prag geboren worden und ist am 17. Oktober 1938, am Tag nach seinem 84. Geburtstag, im Amsterdamer Exil am Hirnschlag gestorben. Das eindrucksvolle Begräbnis ehrte den europaweit hochgeschätzten Theoretiker, der noch aus den Tagen von Karl Marx und Friedrich Engels herüber ragte. Allerdings besaß der Verstorbene schon lange keinen großen Einfluss mehr – seit dem Zusammenbruch der zweiten Internationale mit Ausbruch des Weltkriegs. Wie sein einstiger Bewunderer Lenin vorausgesagt hatte, saß er zwischen den Stühlen: Er beharrte gegen die Opportunisten auf der marxistischen Theorie und verdammte gegen die Bolschewiki die russische Revolution.2 Derselbe Lenin heftete ihm das Stigma des Renegaten so unauslöschlich an, dass in den siebziger Jahren Studenten dies für seinen Vornamen hielten. Er wurde der „Renegat Kautsky“.3 Nach dem Zweiten Weltkrieg mochten ihn weder die osteuropäischen Staatsparteien noch die reformistische Sozialdemokratie des Westens in ihre Traditionslinie einreihen, und er geriet in Vergessenheit. Die Geschichte ist nicht gerecht, aber selten war sie es so wenig. Karl Kautsky ist unbeirrbar dem Stern seiner Jugend gefolgt und hat sich zu Recht bis an sein Lebensende als treuen Marxisten und Sozialisten gesehen.
Vom Tschechentum zum Sozialismus Am Anfang und am Ende seines Lebens war er Tscheche. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland hatte er, der seit 1924 wieder in Wien lebte, die Entlassung aus der deutschen Staatsbürgerschaft beantragt und im Juli 1933 um die tschechoslowakische nachgesucht, die er 1935 erhielt. Kautsky entschied sich für die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, weil der Kanzler Engelbert Dollfuß in Österreich einen faschistischen Ständestaat errichtete, mit dem er sich nicht identifizieren wollte. Es war eine Rückbesinnung auf das Tschechentum seiner Kinderjahre. Nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland im März 1938 floh er mit seiner Frau Luise über Bratislava und Prag nach Amsterdam. Bei dem Prager Zwischenstopp begrüßten ihn ehrenvoll die Repräsentanten der Tschechoslowakei.4 Die Entscheidung für das Exil in Amsterdam fiel, weil das dortige Internationale Institut für Sozialgeschichte Kautskys wertvolles Archiv übernahm. Bevor Kautsky in ganz jungen Jahren Sozialist wurde, erzog ihn sein Vater zum tschechischen Nationalisten. Johann Kautsky war ein nationalstolzer Tscheche, die Familie seiner Mutter Minna, geborene Jaich, entstammte zwar auch der Völkervielfalt der Monarchie, fühlte sich jedoch deutschböhmisch. Beide Eltern waren Künstler, die Mutter Schauspielerin, der Vater wie dessen Schwiegervater Jaich Theatermaler. Schauspieler, Künstler und Dichter saßen in den frühen Prager Jahren bei Kautskys um den karg gedeckten Tisch, sodass sich der freie Geist der Bohème mit dem rebellischen Geist des Völkerfrühlings verband. Kautsky erinnerte sich:
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Lenin 1980, S. 50 Steinberg 1992, S. 19 Langkau-Alex 1986, S. 40
„In den Tagen meiner Kindheit herrschte im Hause meiner Eltern noch die Atmosphäre von 1848. In ihr erfüllte ich mich, sobald ich politisch zu denken begann, mit dem Hasse gegen Österreich, mit dem Wunsche nach seiner Zertrümmerung zur Befreiung seiner aneinander gefesselten Völker“.5 Als die Familie 1863 nach Wien zog, besserten sich die Lebensumstände, aber der geistige Kreis beschränkte sich auf die tschechische Kolonie. Dort fand Johann Kautsky Adolph Chlumsky, einen angehenden calvinistischen Prediger, den er als Privatlehrer seiner Kinder engagierte. Dem katholischen Vater war das Tschechentum wichtiger als die Konfession. Chlumsky vermittelte Karl und seiner Schwester Minna das Erbe des Märtyrers Jan Hus. Eine herzliche Freundschaft blieb erhalten, als Chlumsky Prediger in einem böhmischen Dorf geworden war, wo der Junge ihn während der Ferien besuchte. Kautsky erzählt in seinen späten Erinnerungen, wie er zehn Jahre später den Mann verarmt und verbittert fand. Er wusste offenbar nichts von dem guten Ende. Chlumsky wanderte 1886 nach Texas aus, wo er noch heute als Gründer einer Brüder-Unität in ehrendem Andenken ist.6 Unvergessen blieben Kautsky die Ferien beim Onkel Potuček, mit dem er die Tábory des Jahres 1868 erlebte – nach dem Berg der Hussiten benannte Massenversammlungen, auf denen die Böhmen Autonomie forderten.7 Die tschechische Nationalbewegung prägte die kindliche Persönlichkeit, sie gab dem Denken und Handeln eine grundsätzlich emanzipatorische, rebellische Richtung. Die kulturelle Prägung durch das Tschechentum war weitaus schwächer, denn Karl Kautsky wuchs in der deutschen Sprache und Kultur auf. Auch der Vater, der Lehrer Chlumsky und der Onkel sprachen deutsch mit ihm; das Tschechische übernahm er von Spielkameraden und Dorfbewohnern, also eingeschränkt auf alltägliche Mündlichkeit. In seinen Memoiren erzählt er, wie Friedrich Engels ihn einmal bat, aus einer tschechischen Zeitung vorzulesen. Er las so stockend, dass Engels meinte, Kautskys Tschechentum sei ein Schwindel.8 Das war es nicht. Kautskys tschechisch-slawische Persönlichkeitsanteile bewirkten nach eigenem Bekunden eine besondere Nähe zur sozialistischen Bewegung in den slawischen Ländern Osteuropas. Seine slawische Seele führte ihn 1880 in Zürich in den Exilverein „Slawa“, wo allerdings Deutsch die Lingua Franca war.9 Hier traf er die serbische Sozialistin und Frauenrechtlerin Milica Ninković, mit der er eine kurze, unglückliche, und nicht folgenlose Liebesbeziehung hatte. Kind und Mutter starben kurz nach der Geburt.10 Später wird er eine rege Korrespondenz mit den Sozialdemokraten des Balkans und Osteuropas führen und ihnen gastfreundlich sein Haus in Berlin-Friedenau öffnen.11
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Kautsky 1927a, S. XIII Kautsky 1960, S. 109 – 112; 146 – 148. – Polasek 24.06.2007 Kautsky 1960, S. 156 – 158. – Zu den Tábory: Hroch 2010, S. 85 Kautsky 1960, S. 147 Kautsky 1960, S. 455 f. Schelz-Brandenburg 1992, S. 159 – 165. – Zu Milica Ninković siehe de Haan 2008, S. 370 f. Haupt 1986, S. 21
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Als sechzehnjähriger Gymnasiast, ergriffen von der Pariser Kommune, gelangte Karl Kautsky vom tschechischen Nationalismus zum Sozialismus. Es war eine rein ethische Entscheidung, wie er in seinen Memoiren schreibt, der Wunsch, alle Elenden und Geknechteten aus ihrem Elend zu heben und zu befreien.12 Der Weg war einsam, denn in dem Künstlermilieu, in dem Kautsky lebte, war niemand sonst sozialistischen Ideen zugetan, und er fand keinen sozialistischen Schüler- oder Studentenzirkel, wie es wenig später Rosa Luxemburg in Warschau gelang. Der einzige Mensch, dem er sich öffnete, war seine Mutter, die sich unter dem Einfluss ihres Sohnes nun auch mit dem Sozialismus beschäftigte. Minna Kautsky notierte am 12. Januar 1875 – zwei Tage nach dem Parteieintritt des Sohnes – in ihr Tagebuch: „Karls socialdemokratische Ansichten werden immer lebendiger, er denkt sich als Apostel und Mitkämpfer der Volksparthei. Er ist voll Begeisterung und innerster Uneigennützigkeit, voll Überzeugung. Ich fühle und denke wie er“.13 Minna Kautsky war darin zunächst erfolgreicher, denn sie wurde bald eine sehr bekannte sozialistische Romanschriftstellerin. Mag sie auch kaum über den Leserkreis der Arbeiterpresse und der parteinahen Leihbibliotheken hinaus gewirkt haben, weil Verleger wie Philipp Reclam und Samuel Fischer ihre Manuskripte zurückwiesen, bloße Kolportage waren ihre Bücher nicht.14 Als Kautsky 1881 bei Karl Marx Visite machte, fragte der ihn zuerst nach seiner Mutter, deren Romane Frau Jenny und ihre Töchter schätzten.15 Die Partei, der Karl Kautsky beitrat, war in einer traurigen Lage. Sie war erst im April 1874 in Neudörfl gegründet worden, also konspirativ auf ungarischem Gebiet, nachdem die Regierung 1870 die Führer der österreichischen Arbeiterbewegung in einem Hochverratsprozess verurteilt und alle Vereine und Zeitungen verboten hatte. Anlass war eine Demonstration von mehr als 20.000 Arbeitern vor dem Reichsrat gewesen, die eine Bittschrift zur Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts überreichten.16 Nach dem tragischen Ende der Pariser Kommune verschärfte die Regierung ihre Repressionen, und Mutlosigkeit griff um sich. Karl Kautsky fand nur noch die treuesten der Treuen versammelt, ruhige, überlegte Arbeiter, außer ihm keine Akademiker, keine Studenten. Während dieser Wiener Jahre wurde die abstrakte ethische Parteinahme für die Elenden und Geknechteten zu einer tiefen Verbundenheit mit den Arbeitern; diese Zeit prägte sein Arbeiterbild.17 Die Partei spaltete sich mehrfach in „Gemäßigte“ und „Radikale“, eine immerwährende, stets erneuerte Frontlinie in der sozialistischen Bewegung. Zur Zeit der Ankunft von Kautsky führte Heinrich Oberwinder die Gemäßigten, die sich für ein Zusammengehen mit den bürgerlichen Liberalen in der Wahlrechtsfrage aussprachen und starke Vorbehalte gegenüber den tschechisch-slawischen Emanzipationsbestrebungen hatten. Obwohl Oberwinder mit auf dem Eisenacher Gründungskongress der deutschen Sozialdemokraten gewesen war, als deren Teil sich die Österreicher bis zum Neudörfler Gründungstreffen begriffen, war er doch ein Lassalleaner geblieben. Die Verehrung Ferdinand Lassalles war damals unter den österreichischen 12 13 14 15 16 17
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Kautsky 1960, S. 187 Zitiert: Michler 1999, S. 168 Michler 2000, S. 109 Gilcher-Holtey 1986, S. 37 Schöffer 1986, S. 66 Kautsky 1960, S. 366
wie unter den deutschen Arbeitern ganz allgemein. Aus seinen Schriften, in denen sich Gedankengut des Franzosen Pierre Joseph Proudhon und anderer Frühsozialisten mischte, gewannen sie ihre Überzeugungen. Lassalle genoss geradezu religiöse Verehrung, sein Bild hing in Arbeiterwohnungen und prangte auf Vereinsfahnen.18 Die Arbeitermarseillaise hatte zu Lassalles Totenfeier einen neuen Refrain erhalten: „… Der kühnen Bahn nun folgen wir, die uns geführt Lasalle!“19 Auf der Gegenseite stand Andreas Scheu als Anführer der Radikalen. Auch er hatte am Eisenacher Gründungskongress teilgenommen und war in der Ersten Internationale Karl Marx begegnet. Sein Flügel gewann auf dem Neudörfler Kongress die Oberhand, wo ein Programm nach deutschem Vorbild angenommen, jeder Kompromiss in der Wahlrechtsfrage zurückgewiesen und den slawischen Völkern nationale Vertretungen innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie zugesprochen wurden. Die von Scheu gegründete „Gleichheit“ – die Zeitung, die Kautsky auf die Spur der Sozialdemokraten gesetzt hatte – wurde Parteiorgan.20 Bald bildete sich eine neue Spaltung. Die Radikalen wurden ein anarchistisch gesinnter Kreis um Johann Most und seine in London herausgegebene „Freiheit“.21 Kautsky bekannte rückblickend, dass der Anarchismus mit seiner Lobpreisung des illegalen Kampfes und der Attentate zeitweise große Sympathien genoss, in Österreich mehr als in Deutschland. Die Begeisterung für die russischen Volkstümler (Narodniki), die in diesem Jahr 1874 einen Aufstand wagten, trug zum Aufschwung des Anarchismus in Europa bei. Karl Kautsky hat diese schwärmerische Bewunderung noch in Zürich 1880 geteilt, als er im Klub „Slawa“ mit Tschernyschewskis Roman „Was tun?“ bekannt wurde, einem Schlüsseltext der Volkstümler. Das tödliche Attentat auf Zar Alexander II. im folgenden Jahr leitete dann eine europaweite Sozialistenverfolgung ein, die zur Ernüchterung führte.22 Doch in der österreichischen Partei verstärkte sich der Einfluss des Anarchisten Johann Most noch. Die Partei verfiel wiederum in eine Lähmung, die anhielt bis zur faktischen Neugründung auf dem Parteitag in Hainfeld zur Jahreswende 1888/89 unter Führung von Victor Adler.23 Kautsky, der bei seinem Parteieintritt nach eigenem Bekunden von Marx noch kaum etwas wusste, schloss sich traumwandlerisch immer dem Flügel an, der Marxens Linie näher stand. Während der Wiener Studentenjahre befasste er sich dann gründlich mit dem „Kapital“ von Karl Marx, das er mehrfach las. Er studierte die großen klassischen Ökonomen Adam Smith, David Ricardo und Thomas Robert Malthus, den arbeiterfreundlichen, liberalen John Stuart Mill und Wilhelm Roscher, den Vater der deutschen historischen Schule. Zu seiner Lektüre gehörte auch der Sozialist Albert Lange, ein Begründer des Neukantianismus, der damals un18 19 20 21 22 23
Prüfer 2002, S. 287 – 294 Hitzer 2001, S. 23 Droz et al. 1978, S. 96 – 99 Becker 2005 Kautsky 1960, S. 354 – 364 Konrad 1991; Ardelt 1994c; Kurth 1998, S. 78 – 84
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ter den Studenten populär war, wie Kautsky erinnert. Dessen Verführung erlag er nicht, aber Darwin war für ihn eine Offenbarung, vergleichbar den Schriften von Marx. Dazu las er Haekkel, der die Darwinschen Erkenntnisse für breite Bevölkerungsschichten bis in die Arbeiterschaft hinein popularisiert hatte.24 Kurzum, Kautsky grub sich durch ein ganzes Spektrum der älteren und zeitgenössischen Literatur, immer auf der Suche nach der wissenschaftlichen Begründung des Sozialismus.25 So bildete er sich während dieser Studienjahre menschlich, politisch und wissenschaftlich zum Sozialisten.
Malthus, Darwin und Marx Karl Kautsky stand nun seine Bestimmung klar vor Augen, unklar blieb, wie er seinen Lebensunterhalt verdienen sollte. Denn als Sozialdemokrat waren ihm der Staatsdienst und eine akademische Laufbahn versperrt. Schon als Gymnasiast hatte er sein Leben „als Minister oder auf dem Galgen“ enden sehen, ersteres natürlich falls der Sozialismus siegte.26 Eine Parteikarriere schien ebenfalls ausgeschlossen, denn die illegale Partei hatte keine Posten zu vergeben. Und für den Beruf des Anwalts, wie ihn die Partei sicher brauchte, oder auch für die Rolle des Parlamentariers oder Agitators fand Kautsky sich ganz ungeeignet. Offenbar zu Recht. Er war kein Volkstribun, konnte nicht in öffentlichen Versammlungen die Massen mitreißen. Seine Welt waren die Bücher und der Schreibtisch. Also wollte er als Journalist und Wissenschaftler nützlich sein, wie er es schon mit Artikeln für österreichische und deutsche Parteizeitungen begonnen hatte. Er nahm sich vor, die innersten Beweggründe der Geschichte, die Marx in ihrem allgemeinsten Zusammenhang entdeckt hatte, weiter auszuarbeiten. Das Problem des Brotberufs war damit nicht gelöst. Nach dem Vorbild seiner Eltern versuchte er es als Romanschriftsteller und als Theatermaler, beides ohne rechten Erfolg. In dieser Situation, schreibt Kautsky, kam 1879 Karl Höchberg als „deus ex machina, wie er im antiken Drama unmittelbar vor der Vernichtung des Helden niedersteigt und ihm die rettende Hand reicht“.27 Der reiche Gönner der deutschen Sozialdemokratie bot Karl Kautsky 3.000 Mark jährlich als Redakteur seiner „Staatswirtschaftlichen Abhandlungen“. Großzügig ließ ihm Höchberg die Hälfte der Zeit zur freien Verfügung für seine wissenschaftliche Arbeit. Das Gehalt war auskömmlich; denn wenn es auch kaum ein Viertel eines Professoreneinkommens darstellte, so lag es doch deutlich über dem der höchsten Angestelltenkategorie, der Techniker.28 Kautsky ging also um die Jahreswende 1879 nach Zürich zu Höchberg. Die Schweizer Arbeiterbewegung war eines der Zentren der Ersten Internationale gewesen und bot Sozialisten aller Richtungen Unterstützung, den russischen Sozialrevolutionären ebenso wie den von Bismarck verfolgten deutschen Sozialdemokraten. Kautsky trat hier in 24 25 26 27 28
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Weikart 1998 Kautsky 1960, S. 375 – 380 Kautsky 1960, S. 201 Kautsky 1960, S. 400 Nipperdey 1994, S. 576; Pierenkemper 1983, S. 71
engen Kontakt mit Wilhelm Liebknecht, der als der theoretische Kopf der deutschen Partei galt, und mit August Bebel, deren unbestrittenem politischem Führer. Eduard Bernstein, Sekretär bei Höchberg und Redakteur der illegalen Parteizeitung „Sozialdemokrat“, wurde sein Freund. Beide waren bald unzertrennlich wie Orestes und Pylades.29 Mit Höchbergs Druckkostenbeitrag konnte Kautsky eine zwei Jahre zuvor abgeschlossene Arbeit zu Bevölkerungspolitik und Sozialismus drucken lassen. Er versuchte darin, die Gedanken von Malthus sozialistisch umzukehren. Natürlich verurteilte er die Schlussfolgerungen von Malthus und seinen Jüngern, die jegliche Sozialpolitik einstellen wollten, um die Vermehrung der Arbeiter zu begrenzen. Natürlich wies er Malthus’ Prämisse zurück, dass übermäßige Vermehrung der Arbeiter die Ursache ihrer zu zahlreichen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wäre und somit „Elend und Laster“ als unvermeidliche Korrektive zur Folge hätte. Aber Kautsky räumte ein, dass es einen Widerspruch zwischen dem Bevölkerungswachstum und den Nahrungsressourcen geben könne, wenn dies auch keineswegs in der von Malthus behaupteten Weise ehernes Gesetz sei. Damit stand er in sichtbarem Widerspruch zu Marx und den meisten Sozialisten. Wir sind da nicht so sicher und stimmen Kautsky zu, dass Familienplanung und Frauenemanzipation ebenso zusammengehören wie Sozialismus und Ökologie: „Die Ordnung der geschlechtlichen Verhältnisse, die Emanzipation der Frau, die Lösung der Grund- und Bodenfrage, das alles sind nicht Luxusfragen, mit denen man sich erst dann zu beschäftigen braucht, bis [!] die industrielle Arbeiterfrage entschieden ist: Die Lösung der letzteren ist ohne die ersteren gar nicht möglich, sie alle sind gleich wichtig. […] Eine Umgestaltung der Gesellschaft allein kann das Elend und das Laster ausrotten, welche heutzutage neun Zehntel der Gesellschaft zu einem jämmerlichen Dasein verdammen, aber nur eine Regelung der Bevölkerungsbewegung, wie sie am sittlichsten höchstwahrscheinlich durch den präventiven geschlechtlichen Verkehr [Empfängnisverhütung, HS] geschieht, kann verhindern, dass diese Übel wiederkehren“.30 Dieser Einstieg in die Wissenschaft blieb weitgehend unbeachtet, auch in der Partei. Kautsky setzte seine Studien in der Absicht fort, die Geschichtstheorie von Marx durch Verbindung mit der Darwinschen Evolutionstheorie zu vervollkommnen. Kerngedanke wurden ihm die von Darwin beschriebenen sozialen Instinkte. Er bezog sich also nicht auf den von Haeckel fälschlich als Darwins Grundgedanken popularisierten „Kampf ums Dasein“, in dem auch mancher sozialistische Autor ein Urbild des Klassenkampfes sah. Er legte dar, wie die Gefühle der Geselligkeit, der gegenseitigen Hilfe, der Aufopferung für die Gemeinschaft zum Wesen des Menschen gehörten und die Menschwerdung ermöglicht hätten. Die Gesellschaft sei so ursprünglich und nicht erst Ergebnis eines Vertrages, der den Kampf aller gegen alle beendete. Wie bei den Tieren die sozialen Instinkte in der Regel auf die Gruppe und jedenfalls auf die eigene Art beschränkt seien, so seien bei den Menschen die „sozialen Triebe“ ursprünglich auf die Sippe, den Stamm, dann die Klasse, schließlich auf die Nation gerichtet. Die sozialen Triebe identifizierte Kautsky als das moralische Prinzip, das in der Mensch-
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Kautsky 1960, S. 434 – 435 Kautsky 1880, S. 192
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heitsentwicklung gleichwertig mit der Ökonomie wirkte. Er sah die historische Mission der Arbeiterschaft nicht nur mit Marx darin begründet, dass sie in der kapitalistischen Großindustrie in einzigartiger Weise den Produkten ihrer Arbeit und sich selbst entfremdet wäre, er sah sie auch durch ihre besonderen sozialen Tugenden dazu befähigt, die Menschheit zu erlösen. Die Solidarität der Arbeiter in ihren Gewerkschaften und Parteien und über Ländergrenzen hinweg wertete er als ein Zeichen dieser zutiefst menschlichen sozialen Triebe. Seine Erfahrungen mit den Arbeitern der Wiener Sozialdemokratie prägten sein Menschenbild. Marx und Darwin verklammernd schloss Kautsky: „Wir studieren die Vergangenheit, nicht um mit Rousseau für die Wiederkehr zum Naturzustande zu schwärmen, sondern um aus ihr die Überzeugung zu gewinnen, dass unsere Bestrebungen keine Utopien, sondern ebenso sehr im Wesen des Menschen wie im Gange der historischen Entwicklung begründet sind“.31 Das Echo war auch in diesem Fall zurückhaltend; so konnte der russische Anarchist Peter Kropotkin die sozialen Triebe zwei Jahrzehnte später noch einmal entdecken.32 Kautsky spann das Thema fort in einer Arbeit über die Geschichte von Ehe und Familie, die er 1882 – als Höchberg sein Vermögen verloren hatte und er wieder stellungslos war – bei Haeckel in Jena als Doktorarbeit einreichen wollte. Der große Naturforscher reagierte positiv, aber die Philosophische Fakultät schob die Verletzung der Fächergrenzen vor und lehnte ab. Auch aus London von Friedrich Engels kam herbe Kritik, obwohl sich im Frühjahr 1884 ein intensiver Briefwechsel entspann, der für die Abfassung von Engels’ „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ zumindest anregende Wirkung gehabt hat.33 Aus heutiger Sicht war Kautsky auf dem richtigen Weg. Seine Beispiele, großenteils aus dem „Tierleben“ Alfred Brehms entnommen, mögen unzutreffend sein, wie das oft so geht mit den empirischen Belegen inspirierender Theorien. Aber die sozialen Verhaltensweisen der Tiere sind unstrittig. Evolutionsbiologen forschen vor allem bei den staatenbildenden Insekten über „Superorganismen“.34 Und die soziale Komponente bei der Menschwerdung des Affen ist gar nicht zu überschätzen, sie bezieht sich keineswegs nur auf den Werkzeuggebrauch, sondern schließt so merkwürdige Entwicklungen wie den „Großmutterfaktor“ ein.35 Ein ganzer Forschungszweig, die Soziobiologie, hat sich in diesem Grenzbereich zwischen Natur- und Sozialwissenschaften entwickelt, um genau jenen Fragen nachzugehen, die Kautsky stellte.36 Als Kautsky nach der russischen Oktoberrevolution vom marxistischen Papststuhl vertrieben war, beschuldigte man ihn wegen der Verquickung von Marx und Darwin des Sozialdarwinismus, des Darwinomarxismus, des Szientismus und des Positivismus, des Biologismus und einer ganzen Reihe anderer Ismen. Der Kommunist Karl Korsch sprach Kautsky ab, ein Marxist 31 32 33 34 35 36
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Kautsky 1884, S. 125 Kropotkin 1908 Harstick 1992, S. 86 f. Hölldobler, Wilson 2010 Fischer 2010; Hawkes 2010 Gräfrath 1997, S. 1 – 10
zu sein und bezichtigte ihn, die radikal-bürgerliche Ideologie des „Kautskyanertums“ kreiert zu haben. Die vom Kulturalismus geprägte Forschung der letzten Jahrzehnte warf Kautsky vor, dem Marxismus den Hegel – also die Dialektik – ausgetrieben und diesen durch Darwin ersetzt zu haben.37 Gegen den Wortlaut seiner Texte wurde ihm mechanische Geschichtsauffassung und simple Teleologie unterstellt.38 Wie unbegründet solche pauschalen Urteile sind, wird schon bei einer unbefangenen Lektüre des Schlusskapitels von Kautskys geschichtsphilosophischem Hauptwerk klar. Vorstellungen von fortschreitender Vervollkommnung und Zielgerichtetheit des geschichtlichen Prozesses weist er darin zurück. Naturwissenschaftliche Parallelen und die Idee gemeinsamer, Natur und Gesellschaft umfassender Gesetze der Evolution durchziehen sein Werk. Eine erste geschlossene Darlegung publizierte er 1910, die beiden gewichtigen Bände der „Materialistischen Geschichtsauffassung“ von 1927 bildeten die Summe. Er nahm die Aufsätze über die sozialen Triebe von 1883/84 darin auf und bekundete noch in seinen späten Erinnerungen, an seiner Entdeckung dieses moralischen Prinzips der Geschichte festzuhalten.39 Kautskys Faszination durch die Naturwissenschaften entsprang eben nicht nur dem Zeitgeist des wissenschaftsgläubigen späten 19. Jahrhunderts, seine Überzeugung von der biosozialen Einheit des Menschen und seiner Verwurzelung im Tierreich war kein Durchgangsstadium zu einer „reineren“, marxistischen Gesellschaftsauffassung, sondern sie blieb Teil seines Marxismus. Indem er danach strebte, den blinden Fleck von Marxens hegelianischem Ökonomismus aufzuhellen, überschritt er die Grenzen des Marx’schen Paradigmas.
Die „Neue Zeit“ und das Erfurter Programm Karl Kautsky gewann seine Rolle in der deutschen Sozialdemokratie mit der Zeitschrift „Neue Zeit“ und durch die Zusammenarbeit mit Friedrich Engels. Die Zeitschriftengründung war ein Akt der Not. Nach dem Ende seiner Redakteursarbeit für Karl Höchberg ging Kautsky zurück nach Wien ins Elternhaus. Im Kreis der Wiener Freunde, zu dem der spätere österreichische Parteiführer Victor Adler und der einstige Studienkollege Heinrich Braun gehörten, entstand die Idee einer theoretischen sozialistischen Monatsschrift, die dem tagespolitischen „Sozialdemokrat“ an die Seite treten sollte. Gemeinsam mit Heinrich Braun und dem Verleger Johann Heinrich Wilhelm Dietz in Stuttgart gelang die Gründung. Am 1. Januar 1883 erschien das erste Heft der „Neuen Zeit“ mit dem Untertitel „Revue des geistigen und öffentlichen Lebens“. Unter dem Sozialistengesetz war es wichtig, dass dies ein legales und privates Unternehmen der drei Eigentümer Dietz, Braun und Kautsky war. Dessen ungeachtet gab es eine Absprache mit dem Parteivorstand, das heißt mit Wilhelm Liebknecht und Au37
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Korsch 1929, S. 100 – 130; Harstick 1992, S. 77; Hünlich 1981, S. 25 f.; Geary 1987, S. 109; Mozetič 1987, S. 120 f.; Kolakowski 1989, S. II, 47 – 49; Stude 1990; Euchner, Grebing 2005, S. 157; Genett 2008, S. 153 – 164. – Dagegen: Steinberg 1969, S. 45 – 60; Salvadori 1982, S. 30; Häupel 1993, S. 59 Mozetič 1987, S. 120 f. Kautsky 1910; Kautsky 1927, Bd. 2, S. 834 f.; Kautsky 1960, S. 380
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gust Bebel, und mit Friedrich Engels, der gemeinsam mit Marx von London aus die deutsche Partei ziemlich gut im Griff hatte. Wilhelm Liebknecht warf im Auftrag des Parteivorstands ein Auge auf die Redaktionsarbeit, Dietz griff unter kommerziellen Gesichtspunkten ein. Mit seiner Übersiedlung nach London zum Beginn des Jahres 1885 gewann Kautsky Handlungsspielraum gegenüber beiden.40 Die Zusammenarbeit mit Heinrich Braun endete wegen verschiedener Grundsätze. Der Freund wollte die „Neue Zeit“ als pluralistisches sozialistisches Theorieangebot für Akademiker profilieren, während Kautsky den gebildeten Arbeiter und Sozialdemokraten im Blick hatte, der mit dem Sozialismus von Karl Marx und Friedrich Engels vertraut gemacht werden sollte. Braun wollte die Scheidewand zwischen Akademikern und Arbeiterbewegung einreißen, indem er unter Akademikern für den Sozialismus in jedweder Schattierung warb. Kautsky wollte hingegen das „Literaten- und Studententum, das sich an uns herandrängt“, mit Misstrauen beobachten.41 Schon in seiner Wiener Zeit hatte er die Intellektuellen mit ihren theoretischen Debatten als Ursache der Spaltungen in der Arbeiterbewegung ausgemacht.42 Nun ging es ihm unter anderem darum, die „Kathedersozialisten“ genannten Nationalökonomen um Gustav Schmoller und Lujo Brentano abzuwehren, die Bismarcks Sozialpolitik unterstützten. Er warf Braun vor, „gerade das, woran wir so lange zu arbeiten hatten, es den Arbeitern auszutreiben: ihren Respekt vor jedem Doktor oder Professor, ihnen wieder einzuimpfen und sie glauben zu machen, sie hätten von Brentano und seinen Leuten etwas zu erwarten“.43 Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit Beiträgern und Absatz entwickelte sich die „Neue Zeit“ trotz Sozialistengesetz erstaunlich gut. Im Jahr 1890 erreichte die Abonnentenzahl mit 10.000 einen Höhepunkt – dies aber auch infolge der Einstellung des „Sozialdemokrat“.44 Die Umwandlung in eine Wochenzeitschrift und ein erweitertes Feuilleton, für das Franz Mehring verantwortlich war, wurden möglich. Auch inhaltlich hatte das Blatt viel geleistet. Kautsky konzipierte diese Zeitschrift als eine marxistische, um die Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels in der Arbeiterbewegung zu verankern. Zu diesem Zweck hat er den Ausdruck „Marxismus“ erfunden und so – mehr noch als Friedrich Engels – zur Kanonisierung eines Lehrgebäudes beigetragen, wo eigentlich ein recht offenes, von Widersprüchen nicht freies Theoriesystem vorlag.45 Das ist ihm zum Vorwurf gemacht worden, doch der Erfolg war unbestreitbar. Die meisten Artikel zur Popularisierung des Marxismus schrieb er selbst, und er unternahm gleichzeitig die Herstellung einer verständlichen Kurzfassung des „Kapital“ von Karl Marx. Die „Neue Zeit“ brachte Originalartikel von Friedrich Engels und Karl Marx, Texte von Paul Lafargue, dem Marx-Schwiegersohn und französischen Parteiführer, von Georgi W. Plechanow, dem führenden russischen Theoretiker, von Eduard Bernstein und Wilhelm Liebknecht – kurz, von nahezu allen Persönlichkeiten der europäischen sozialistischen Bewegung, die sich zum Marxismus bekannten. Kautsky hatte es zwischen 1883 und 1891 40 41 42 43 44 45
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Gilcher-Holtey 1986, S. 44 – 55 Zitiert: Gilcher-Holtey 1992, S. 381 Kautsky 1960, S. 305 Zitiert: Gilcher-Holtey 1992, S. 381 Gilcher-Holtey 1986, S. 53 Gilcher-Holtey 1986, S. 37
mit seiner Zeitschrift geschafft, der Marx’schen Lehre und Methode in der vielfältigen sozialistischen Landschaft Europas zum Durchbruch zu verhelfen.46 Am erfolgreichsten war er im deutschsprachigen Mitteleuropa und dort, wo der Sozialismus erst Partei wurde, im östlichen Europa. Einen frühen politischen Sieg erreichte Karl Kautsky mit dem Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie von 1891. Nach dem Ende des Sozialistengesetzes wuchs in der Partei das Verlangen nach einem zeitgemäßen Parteiprogramm. Das gültige, auf dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875 angenommene, enthielt starke Zugeständnisse an die Lassalleaner. Vor allem die Idee des Hineinwachsens in den Sozialismus mittels staatlich geförderter Produktivgenossenschaften – darüber hatte Lassalle seinerzeit mit Bismarck vergeblich verhandelt – stand quer zu den Auffassungen der Marxisten über die proletarische Revolution; es stand auch quer zur Rolle der Großindustrie in Deutschland am Ende der Hochindustrialisierung. Der Parteitag in Halle 1890 setzte eine Programmkommission unter Leitung von Wilhelm Liebknecht ein. An der Stirnwand des Tagungssaales hingen noch friedlich nebeneinander die Porträts von Lassalle und Marx, und die Rede, mit der Liebknecht die Programmdiskussion eröffnete, versprach keine klare Konfrontation mit dem Lassalleschen Erbe. So entschloss sich Friedrich Engels, in die Debatte einzugreifen, und er benutzte dazu Karl Kautsky und die „Neue Zeit“. Hinter dem Rücken des Parteivorstands lancierte er die Marx’schen Randglossen zur Kritik des Gothaer Programms in die „Neue Zeit“. Diese scharfe Abrechnung des Übervaters mit dem Lassalleanismus des Programms von Gotha war zwar Wilhelm Liebknecht bekannt gewesen, Bebel und der übrigen Partei aber nicht. Die Aufregung war entsprechend groß. Die Fronten wogten noch ein paarmal her und hin, aber am Ende stand ein marxistisches Parteiprogramm. Den grundsätzlichen Teil hatte im Wesentlichen Kautsky entworfen und der praktisch-taktische Teil stammte von Eduard Bernstein. Das neue Programm markierte einen Generationswechsel. Wilhelm Liebknecht, Kampfgefährte von Marx und Engels seit den Tagen des Bundes der Kommunisten, Kämpfer der Revolution von 1848, Parteigründer, an der Spitze der Reichstagsfraktion unter dem Sozialistengesetz Widerpart Bismarcks, hielt zwar in Erfurt noch die Rede zur Begründung des neuen Programms, überließ die theoretische Führung aber nun den Jungen, Eduard Bernstein und vor allem Karl Kautsky.47 Das Erfurter Programm war revolutionär und modern. Es ging von der fortschreitenden Polarisierung der Gesellschaft in besitzlose Proletarier und Bourgeois aus, von der krisenhaften Verstärkung der Widersprüche und dem immer erbitterteren Klassenkampf. Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen – das sei die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei. Das Proletariat werde damit nicht nur sich selbst befreien, sondern jeder Art Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende machen, gleich ob sie sich „gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse“ richte. Entsprechend forderte der konkrete Teil neben dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht auch die Gleichberechtigung der Frauen. Arbeiterschutz, kostenlose Bildung und Gesundheit und die Trennung von Kirche und Staat waren weitere Kernpunkte.48 46 47 48
Gilcher-Holtey 1986, S. 43 Gilcher-Holtey 1986, S. 59 – 77 Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Erfurter Programm 1891
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Mit Rücksicht auf die eben wiedererlangte Legalität der Partei war nicht die Rede von der demokratischen Republik, so direkt musste man dem Kaiser nicht drohen.49 Kautsky schrieb zu dem kurzen Programm eine längere Erläuterung. Darin setzte er sich ausführlich mit den lassalleanischen, proudhonistischen und anarchistischen Thesen über Genossenschaften, über den Kleinbetrieb und die Mittelschichten, über die Familie und den Staatssozialismus auseinander. Gegen diese Lehren setzte er den Klassenkampf, die Partei und die „historische Mission“ der Arbeiterklasse. Er ging auf die Marx’sche Unterscheidung der „Klasse an sich“ und der „Klasse für sich“ ein. Letztere sei eine im proletarischen Gesamtinteresse agierende „ecclesia militans“ (Streitende Kirche). Er umschrieb die Partei also mit einer jener theologischen Metaphern, die in der frühen sozialistischen Bewegung so beliebt waren. Am Ende stand eine Vision des Zukunftsstaates: „Nicht die Freiheit der Arbeit, sondern die Befreiung von der Arbeit, wie sie das Maschinenwesen in einer sozialistischen Gesellschaft in weitgehendem Maße ermöglicht, wird der Menschheit die Freiheit des Lebens bringen, die Freiheit künstlerischer und wissenschaftlicher Betätigung, die Freiheit des edelsten Genusses“.50 Diese kleine Schrift und seine Popularisierung des „Kapital“ von Karl Marx machten Karl Kautsky zum Lehrer nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Sozialdemokratie. Beide Broschüren wurden bis zum Weltkrieg viel häufiger übersetzt und nachgedruckt als die Schriften von Marx selbst. Viele junge Arbeiter haben zum Sozialismus gefunden, nachdem ihnen die Erläuterungen zum Erfurter Programm in die Hände fielen.51 Zahlreiche sozialdemokratische Parteien nahmen sich das Erfurter Programm und damit die erfolgreiche deutsche Partei zum Muster. Die deutsche Sozialdemokratie „war für uns nicht eine Partei der Internationale, sondern die Partei tout court [schlechthin]“, schrieb Leo Trotzki enttäuscht bei Ausbruch des Weltkriegs.52 „Sozialdemokratisch“ wurde bis zur Revolution der Bolschewiki von 1917 gleichbedeutend mit „marxistisch“. Der Serbe Živko Topalović rühmte Kautsky gar als den geistigen Vater aller osteuropäischen Sozialisten: „Durch seine Erläuterungen und nicht aus den Originalquellen haben die Begründer der modernen sozialistischen Bewegung in allen Balkanstaaten den Marxismus kennengelernt. Er hat die komplizierten Marx’schen Lehren für meine Generation von Intellektuellen sowie auch für unsere Arbeiterklasse verständlich gemacht“.53 Friedrich Engels hat Karl Kautskys Aufstieg zum theoretischen Kopf der deutschen Sozialdemokratie entschieden gefördert. Mit Marx gab es kaum Kontakt, doch Engels nahm ihn bei seinem ersten London-Besuch im Frühjahr 1881 in seine Tafelrunde auf und ließ die Verbin-
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Gilcher-Holtey 1986, S. 77 – 100; Steenson 1992 Kautsky 1893, S. 67 Rossum 1992; Donald 1992 Trotzki 1998, S. 381 Topalović 1954, S. 76
dung nicht abreißen. Während Kautskys Londoner Zeit – 1885 bis 1890 mit einjähriger Unterbrechung vom Sommer 1888 bis zum Sommer 1889 – wurde aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis ein freundschaftliches. Engels vertraute Kautsky die Edition des „Elend der Philosophie“ von Karl Marx an. Beide verband aber auch das Interesse für anthropologische Entdeckungen, die sie in die materialistische Geschichtsauffassung integrierten.54 Einen schweren Stoß erlitt das gute Verhältnis durch Kautskys Liebeshändel. In der Ehe mit der selbstbewussten, attraktiven Louise Strasser kam Kautsky wohl in mancherlei Hinsicht zu kurz, sodass er sich im Sommer 1888 leidenschaftlich, wenn auch vergeblich, anderweitig verliebte. Die Trennung von Kautskys Ehe nahm unter allgemeiner Anteilnahme der Londoner und Berliner Genossen für die verlassene Louise ihren Lauf. Wie Harstick schreibt und Schelz-Brandenburg beschreibt, war Louise durchaus nicht die Lichtgestalt, als die Engels und der gänzlich betörte August Bebel sie erscheinen ließen. Friedrich Engels kündigte Kautsky die Freundschaft, wenn auch nicht die Zusammenarbeit, wie die Entstehung des Erfurter Parteiprogramms zeigt. Louise heiratete Ludwig Freyberger, der sich bald als Hausarzt um Engels kümmerte. Louise besorgte den Haushalt von Friedrich Engels und wurde seine Erbin.55 Seinen schriftlichen Nachlass vermachte er nun nicht Kautsky, sondern Eduard Bernstein und August Bebel. Kautsky heiratete 1890 eine andere Luise, die er im Haus seiner Mutter kennen gelernt hatte. Die Entscheidung für Luise Ronsperger war eine der besten seines Lebens. Sie, die schon eine überzeugte Sozialistin war, als er sie kennenlernte, wurde nicht nur „Sekundantin“ ihres Mannes, wie Friedrich Adler es ausdrückte, sie übersetzte selbst sozialistische Schriften und verfasste kleinere Arbeiten, soweit ihr Zeit blieb. Sie war eine warmherzige Gastgeberin und ihre unbeirrbare Freundschaft machte sie zur Seele des Freundeskreises um Karl Kautsky.56 Sein großes Alterswerk über die materialistische Geschichtsauffassung widmete er ihr, „meiner teuren Luise, der Mutter meiner Söhne, dem treuen Kameraden, der unermüdlichen und verständnisvollen Helferin bei meiner Arbeit, der begeisterten, tapferen Verfechterin unserer gemeinsamen Ideale“.57 Kautsky gründete seinen neuen Hausstand am Sitz des Verlages der „Neuen Zeit“ in Stuttgart, und zog von dort 1897 nach Berlin, um dem Parteivorstand näher zu sein. Er verließ also London gerade in dem Moment, als Eduard Bernstein dort ankam. Während der Verwicklungen des Jahres 1888/89 war Bernstein sein Vertrauter gewesen und hatte auch gegen Engels zu ihm gehalten. Die Freundschaft blieb eng, bis die heftigste Auseinandersetzung innerhalb des Vorkriegssozialismus sie zerstörte.
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Schelz-Brandenburg 1992, S. 87 – 129; Harstick 1992, S. 85 – 92 Schelz-Brandenburg 1992, S. 135 – 156; Harstick 1992, S. 84 f. Miller 1992; Miller 1992a Kautsky 1927a
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Von Bernstein zu Luxemburg Er war ein Kapitel in der unendlichen Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Radikalen und Gemäßigten in allen linken Bewegungen.58 Am Ende zweier Artikel von Eduard Bernstein in der „Neuen Zeit“ fanden sich die verhängnisvollen Sätze, die den Stein ins Rollen brachten: „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Das Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles. Und unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, d. h. den sozialen Fortschritt, wie die politische und wirthschaftliche Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts“.59 Es ist verschiedentlich gerätselt worden, wann Bernsteins Abfall vom Glauben an das sozialistische Endziel begonnen habe. War es anlässlich seines Vortrags im Verein der Fabier in London im Januar 1897, wie er selber einmal schrieb? Zeigen nicht schon frühere Artikel Spuren solchen Denkens? Oder fehlte einfach die leitende Hand von Friedrich Engels seit dessen Tod 1895?60 Auch Karl Kautsky machte die ungünstigen Einflüsse des Londoner Exils in Gestalt des antimarxistischen Fabier-Sozialismus für das Abdriften des Freundes verantwortlich. Bo Gustafsson hat dies detailliert untersucht und tatsächlich eine starke Annäherung an das Programm der Fabier und besonders an die Ansichten von George Bernard Shaw in diesen Jahren gefunden.61 Eduard Bernsteins Äußerungen waren gewichtig, weil seine moralische Integrität und seine Treue zur Partei nicht zu bezweifeln waren: Als Nachlassverwalter von Friedrich Engels und als letztes Opfer des Sozialistengesetzes genoss er hohen Kredit. Der 1850 in Berlin geborene Bernstein verband wie Kautsky sein ganzes Leben mit der Partei. 1872 war er – ebenfalls unter dem Eindruck der Pariser Kommune – in die Eisenacher Partei eingetreten. Sein Bildungsweg war ungleich schwieriger, denn sein Vater, ein jüdischer Lokomotivführer, hatte für eine zahlreiche Familie zu sorgen und konnte den begabten Jungen nur bis zum 16. Lebensjahr aufs Gymnasium schicken. Neben seinem Brotberuf als Bankangestellter arbeitete er für die Partei.62 Die Arbeit als Sekretär für Höchberg und dann die Redaktion des illegalen „Sozialdemokrat“ boten Bernstein die ersehnte Chance, Parteiarbeit mit wissenschaftlicher literarischer Tätigkeit zu verbinden. Auf Druck der deutschen Regierung wurde Bernstein 1888 aus der Schweiz ausgewiesen, und auch nach dem Fall des Sozialistengesetzes und der Einstellung des Blattes wurde der deutsche Haftbefehl gegen den Redakteur des „Sozialdemokrat“ nicht aufgehoben.63 In London lebte Bernstein von 250 Mark, die er monatlich als Mitarbei-
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Steger 1997 Bernstein 1898, S. 556 Gilcher-Holtey 1986, S. 120 – 122; Gay 1954, S. 76 – 83 Gustafsson 1972, S. 127 – 180 Gay 1954, S. 18 – 40 Gay 1954, S. 42 – 66
ter der „Neuen Zeit“ und des „Vorwärts“ erhielt.64 Als selbst diese Bezüge durch den Revisionismusstreit fraglich wurden, erwog Bernstein nach Südafrika auszuwandern. Die Aufhebung des Haftbefehls 1901 ersparte ihm dies, er konnte nach Berlin zurückkehren und persönlich in den Revisionismusstreit eingreifen. Karl Kautsky hatte Bernsteins Artikel 1898 in der „Neuen Zeit“ abgedruckt, offenbar ohne die Brisanz zu bemerken. Bernstein attackierte darin entschieden mehr als die Fixierung der Sozialdemokratie auf den „großen Kladderadatsch“ – so ein geflügeltes Wort von Bebel für den Zusammenbruch des Kapitalismus in der proletarischen Revolution. Was Bernstein predigte, war nicht nur Reformismus statt Revolutionismus, er stellte die Marx’sche Kapitalismusanalyse und Revolutionstheorie in Frage, wie sie in den Grundsätzen des Erfurter Programms verankert waren. Er attackierte mit statistischem Material die Konzentrationstheorie, also die fortschreitende Polarisierung der Gesellschaft und das Verschwinden der Mittelschichten, die Verelendungstheorie und die „Zusammenbruchstheorie“. Bernstein führte schließlich an, dass in der modernen Industriegesellschaft eine Revolution nach dem Muster der französischen von 1789 nicht denkbar wäre, denn Aristokraten könne man außer Landes jagen und die Landgüter parzellieren, der Fabrikbetrieb aber würde in der Volkserhebung zugrunde gehen.65 Bernstein hat diese Thesen im folgenden Jahr – letztlich auf Vorschlag Kautskys – unter dem Titel „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ ausgearbeitet, dabei aber nicht abgemildert, sondern zugespitzt und um Angriffe auf die Wissenschaftlichkeit des Marxismus und seine Hegelsche Dialektik erweitert.66 Nun gingen die Wogen der Auseinandersetzung in der Partei stetig höher, Fronten formierten sich, aber die Korrespondenz der beiden Freunde bildete so etwas wie das Auge des Taifuns.67 Kautsky zögerte lange, öffentlich Stellung zu nehmen. Schließlich zwangen ihn die außerordentlich scharfen Angriffe der polnischen Sozialistin Rosa Luxemburg und des russischen Revolutionärs Alexander Parvus gegen Bernstein, gegen den Freund zu polemisieren. Der Parteitag in Hannover im Oktober 1899 wurde zur großen Abrechnung mit dem Revisionismus. August Bebel hielt eine sechsstündige bewegende Rede, in der er klar machte, dass es um Sein oder Nichtsein der Partei ginge: „Ich mache kein Hehl daraus: An dem Tage, wo solche Grundsätze, wie sie hier Bernstein vertritt, in der Partei zur Geltung gekommen sein sollten, erkläre ich: Du hast 36 Jahre umsonst gearbeitet, jetzt gehst Du und lebst in beschaulicher Ruhe“.68 Der Parteitag fasste mit großer Mehrheit eine Resolution gegen den Revisionismus. Auch Kautsky hatte entschieden gegen Bernstein, der noch im Londoner Exil war, Stellung bezogen. Im Vorwort zu seiner großen „Antikritik“ erinnerte er noch an seine Dankesschuld:
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Schelz-Brandenburg 1992, S. 283 Bernstein 1898, S. 555 Bernstein 1899 Schelz-Brandenburg 1992, S. 307 Gilcher-Holtey 1986, S. 159
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„Ich persönlich schulde ihm nicht bloß jene Anregungen und Belehrungen, die er uns Allen im ‚Sozialdemokrat‘ und der ‚Neuen Zeit‘ geboten, sondern auch jene mächtige geistige Förderung, die aus dem engsten und verständnisvollsten Zusammenarbeiten vieler Jahre sich ergibt. Sollte es mir gelungen sein, auf den folgenden Seiten triftige Argumente gegen Bernsteins jetzige Anschauungen vorgebracht zu haben, so verdanke ich das nicht bloß Marx und Engels, sondern auch Eduard Bernstein.“ Doch den unausweichlichen Gepflogenheiten solcher Auseinandersetzungen innerhalb der Linken entsprechend – der Ketzer wird zum Abtrünnigen, zum Verräter – blieb die Debatte nicht ohne moralische Diffamierung.69 Auch Kautsky schlug in der Folge solche Töne in seinen Briefen an, die Korrespondenz erlosch.70 Nur Luise hielt in den nächsten fünfzehn Jahren noch Kontakt, bis Krieg und Revolutionen die alten Freunde wieder zusammenführten und Bernsteins 75. Geburtstag endlich eine Aussöhnung brachte.71 Der Versuch Bebels, mit Unterstützung Kautskys Bernstein zum Parteiaustritt zu bewegen, scheiterte auch an Victor Adlers Einspruch und Mahnung: Die Partei möge sich nicht in eine Lage bringen, wo für einen Mann wie Ede kein Platz mehr sei.72 Kautsky selbst hatte gezögert, weil er Bernsteins Argumenten eine gewisse Berechtigung nicht absprechen konnte. Nachweisbar wuchs die Zahl der Klein- und Mittelbetriebe mit dem rasanten Wachstum der Industrie; natürlich hatte sich die Lage der Arbeiter deutlich verbessert und von Verelendung konnte im platten Sinne nicht die Rede sein; offenkundig verschärften sich die Geschäftskrisen nicht in Richtung auf einen Zusammenbruch des Systems.73 Kautsky war sogar zu gewissen Korrekturen an den Grundsätzen des Erfurter Programms bereit, die Bebel letztlich ablehnte.74 Es ging ja nicht einfach um Aussagen über gesellschaftliche Entwicklungen, wenn diese Trendaussagen zugleich die Grundsätze eines Systems mit Weltanschauungscharakter waren. Wie August Bebel in seiner flammenden Parteitagsrede, so verteidigte Kautsky den Kern seiner Überzeugung: „Sollte aber einmal die materialistische Geschichtsauffassung und die Auffassung des Proletariats als Triebkraft der kommenden sozialen Revolution überwunden werden, dann müsste ich allerdings gestehn, dann wäre ich fertig. Dann hätte mein Leben keinen Inhalt mehr“.75 Der Glaube an das Endziel einte Anhänger und Führung der Partei, deren Delegierte in Hannover unter dem roten Spruchband mit dem Lassalle-Wort tagten: „Die Arbeiter sind der Fels, auf dem die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll“. Es hätte der Arbeiterbewegung ihren Enthusiasmus genommen, wollte man das Endziel Sozialismus in weite Ferne rücken, die Naturnotwendigkeit seines Eintretens bezweifeln, den Arbeitern den Glauben an ihre historische Mission rauben. Adolf Levensteins Erhebung dokumentiert, in welchem Maße die Arbeiter
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Kautsky 1979, S. VIII Gilcher-Holtey 1986, S. 154 – 171; Schelz-Brandenburg 1992, S. 350 – 354 Kautsky 1954 Gay 1954, S. 93 Kautsky 1979 (1. Auflage 1899) Gilcher-Holtey 1986, S. 167 Meyer 1992, S. 62
diese ganz allgemeine Hoffnung auf den Zukunftsstaat verinnerlicht hatten. Das nahezu religiöse Empfinden eines Bergarbeiters steht für viele: „Ich glaube, und schon der Glaube ist ein Stück Zukunftsstaat. Die Hoffnung stärkt und reißt uns in die Höhe, wenn wir im ungenügenden und unbefriedigenden Leben verzweifelt niedersinken“.76 Kautsky bewältigte den Revisionismusstreit und den Verlust seines engsten Freundes durch eine Bestandsaufnahme – also eine Revision – seines eigenen Marxismus. Das geschah in der Schrift „Die soziale Revolution“ von 1902, deren erster Teil „Sozialreform und soziale Revolution“ betitelt ist und sich also direkt auf Bernsteins Thesen bezog. Die Schrift fixiert die beiden Angelpunkte, an denen Kautskys Sozialismus-Verständnis fortan festhielt: Revolution und Demokratie – Revolution im Sinne einer politischen Machtergreifung der Arbeiterklasse zum Zweck der sozialistischen Transformation, Demokratie im Sinne der parlamentarischen Herrschaft des Mehrheitswillens durch Recht und Gesetz.77 Über die politische Revolution als ersten Akt der sozialen Revolution erklärte er sich nicht näher, da sie das unvorhersehbare historische Ereignis sei, sondern er legte dar, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse zur Revolution hindrängen. Das Elend der Arbeiter sei zwar eingedämmt durch ihre gewerkschaftliche Organisation und das sozialreformerische Eingreifen der Staatsgewalt, aber der Klassengegensatz sei durch die sinkende Lohnquote in Relation zu wachsenden Kapitaleinkommen nicht geringer geworden.78 Die Lohnquote – seit Beginn der neunziger Jahre in Deutschland wieder sinkend – ist auch heute ein harter ökonomischer Indikator. Ebenso wenig wollte Kautsky im „Munizipalsozialismus“ auf Gemeindeebene oder im Genossenschaftswesen Anzeichen eines Hineinwachsens in den Sozialismus sehen. Darin grenzte er sich scharf gegen westeuropäische sozialistische Strömungen ab, wie die französischen Syndikalisten oder die britischen Fabier und Trade Unionisten. Die Aktiengesellschaften seien schon gar nicht Vorformen sozialistischer Vergesellschaftung, sondern neue Formen kapitalistischer Machtkonzentration. Er sah sie als Verflechtung von industriellem und Bankkapital, als Finanzkapital.79 – Diesen Gedanken sollte Rudolf Hilferding in seinem Hauptwerk über „Das Finanzkapital“ (1910) verfolgen und Lenin in seiner Imperialismus-Theorie übernehmen. – Anders als Bernstein rechnete Kautsky nicht auf eine fortschreitende Demokratisierung, denn die von Deklassierung bedrohten Teile des Kleinbürgertums und der Bauernschaft neigten einer „reaktionären Demokratie“ zu, deren Ausdruck Antisemitismus, Nationalismus und Klerikalismus seien – eine vielfach hellsichtige, aber im Hinblick auf mögliche Bündnisse wenig hilfreiche Beurteilung. Insgesamt sei nicht eine Milderung, sondern, wie Marx und Engels prophezeiten, eine Verschärfung der Klassengegensätze zu erwarten.80 Kautsky schloss
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Levenstein 1912, S. 285 Eine verquere, Kautsky als Fürsprecher totalitärer Macht diffamierende Deutung dieser Schrift bei Lemke 2008, S. 205 – 208 Hier nach der 3. Aufl. Kautsky 1911a, S. 24 – 31 Kautsky 1911a, S. 37 – 45 Kautsky 1911a, S. 34 – 35
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mit einem Bekenntnis zur sozialen Revolution in Auseinandersetzung mit dem von Bernstein beschworenen englischen Weg. Denn obwohl das Proletariat nirgends zahlreicher, nirgends besser gewerkschaftlich organisiert, nirgends politisch freier sei als in England, wüsste es doch nirgends schlechter seine Interessen zu wahren: „Die Emanzipation ihrer Klasse erscheine ihnen als ein törichter Traum, dagegen seien Fußball, Boxen, Pferderennen, Wetten Angelegenheiten, die sie aufs tiefste erregten, ihre ganze freie Zeit, ihre Geisteskraft, ihre materiellen Mittel in Anspruch nähmen“.81 Den zweiten Teil, betitelt „Am Tage nach der sozialen Revolution“, bezeichnete der Reichskanzler Bülow im Reichstag als „Baedeker für den Zukunftsstaat“.82 In der Tat durchbrach hier ein an Marx geschulter Sozialist das Bilderverbot, das aus der Auseinandersetzung mit dem utopischen Sozialismus herrührte. Die Darlegung ist indessen nüchtern und im Wesentlichen ökonomisch. Die erste Aufgabe nach der Revolution sei die Vollendung der bürgerlichen Rechte, des allgemeinen Wahlrechts, der Presse- und Versammlungsfreiheit, der Trennung von Kirche und Staat, des Rechts auf gleiche Schulbildung. Auf dieser Grundlage erst werde die sozialistische Ordnung zu errichten sein. Die Sozialisierung des Kapitaleigentums erfolge mit Entschädigung, das heißt durch Umwandlung in Staatsschuldtitel mit Inhaberbindung, die man dann einfach hoch besteuern könne.83 Hohe Löhne und Arbeiterschutz haben die Ausbeutung zuvor unmöglich und den Betrieb für Unternehmer unattraktiv gemacht, sodass kaum Widerstand zu erwarten sei. Durch dieselbe Politik werde die Produktionsarbeit für die Arbeiter anziehend. Lohnsteigerung und Arbeitszeitverkürzung speisten sich nicht aus der Umverteilung der bisherigen Unternehmergewinne, die für Akkumulation und Steuern gebraucht würden, sondern aus der Produktionssteigerung.84 Instrument der Regulation müsse vorrangig die Planung sein, nicht das Wertgesetz. Kautsky schwebten die amerikanischen Trusts als Muster von Rationalisierung und Konzentration vor, er wollte sie jedoch in die Arbeiterselbstverwaltung einer demokratischen Fabrik einpassen.85 Für Wissenschaften, Künste und Bildung sollte dagegen größte Freiheit gelten: „Kommunismus in der materiellen Produktion, Anarchismus in der geistigen: Das ist der Typus der sozialistischen Produktionsweise“.86 Wie konnte es für den Künstlerspross anders sein. Den Neuen Menschen sah Kautsky als einen gebildeten und sich ständig bildenden. Ein höherer Menschentyp als der gegenwärtige, ein zu Freiheit und Selbstverwirklichung begabter, sich über die Alltäglichkeit zu wissenschaftlichem und künstlerischem Tun aufschwingender werde entstehen.87 Nicht anders träumte gleichzeitig auch der britische Fabier George Bernard Shaw vom Übermenschen.
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Kautsky 1911a, S. 63 Kautsky 1911a, S. 40 Kautsky 1911a, S. 75 – 78 Kautsky 1911a, S. 78 – 85 Kautsky 1911a, S. 86 – 102 Kautsky 1911a, S. 109 Kautsky 1911a, S. 110 – 112
Karl und Luise Kautsky vor ihrem Haus in Berlin-Friedenau um 1912
Als Hüter des Marxismus geriet Kautsky auch mit Kurt Eisner aneinander, dem späteren Ministerpräsidenten der Republik Bayern während der Novemberrevolution, der die Redaktion der Parteizeitung „Vorwärts“ leitete. Kautsky beschuldigte ihn des Revisionismus und erreichte den Rücktritt der gesamten „Vorwärts“-Redaktion und die Neubesetzung mit Vertretern der Orthodoxie. In der Tat befürwortete Eisner wie Bernstein ein evolutionäres Hineinwachsen in den Sozialismus.88 Der neuralgische Punkt dieser Konfrontation war aber Eisners Verknüpfung des Marxismus mit dem Neukantianismus, einer damals einflussreichen philosophischen Strömung. Den Neukantianern unter den Sozialisten genügte die Begründung des historischen Materialismus nicht; der Sozialismus solle nicht nur historisch notwendig, sondern auch moralisch geboten sein. Dieselbe Auffassung vertraten auch die französischen Sozialisten um Jean Jaurès und die österreichischen um Max Adler. Kautsky polemisierte dagegen mit seiner Schrift über „Ethik und materialistische Geschichtsauffassung“, weil er das Problem innerhalb des orthodoxen Marxismus durch seine Entdeckung der sozialen Triebe hinreichend gelöst sah.89 – Eisner war nicht nachtragend. Während seiner kurzen Zeit als bayerischer Ministerpräsident bot er Karl Kautsky den verwaisten Lehrstuhl Lujo Brentanos an. Der lehnte ab, sodass schließlich Max Weber berufen wurde.90
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Grau 2001, S. 203 – 219 Kautsky 1906 Gilcher-Holtey 1986, S. 219; Kautsky 1924
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Karl Kautsky wurde im Revisionismusstreit zum Verfechter der marxistischen Orthodoxie, zum „Roten Papst“. Er focht fortan für den Marxismus auf doppelte Weise, alle Angriffe auf die reine Lehre abwehrend und die Lehre für die Erfordernisse der Gegenwart weiter entwickelnd. Er wollte Papst und Reformator sein. Dass beides nicht gut zusammengehen konnte, war absehbar. Der Marxismus hatte gesiegt, doch es war auch deutlich geworden, dass Bernstein in der Partei nicht allein stand. Mit Ignaz Auer und Georg von Vollmar hatte er hochangesehene Fürsprecher. Ebenso wie Karl Kautsky sahen sich auch Eduard Bernstein und seine Anhänger bis zu ihrem Lebensende unverrückt in der Nachfolge von Karl Marx. Das galt gleichermaßen für alle in der Zweiten Internationale, die sich Sozialdemokraten nannten, bis hin zu Lenin und seinen Bolschewiki. Eine Spaltung der Partei lag noch in der Zukunft, sie wurde erst mit der Massenstreikdebatte zur Gefahr.
Massenstreikdebatte – vom Radikalen zum Zentristen Die Debatte um den politischen Massenstreik reflektierte das Wiedererstarken des anarchistischen Syndikalismus. Die Frage Wahlkampf oder Generalstreik war auch eine Entscheidung zwischen Marx und Bakunin beziehungsweise Proudhon. Die deutschen Sozialisten standen in der Internationale sowohl für die Kraft wie für die Nutzlosigkeit des Wahlrechts. Nachdem die Partei in den Reichstagswahlen 1903 mehr als drei Millionen Stimmen gewonnen hatte, vereinte sie fast ein Drittel aller Wähler auf sich, weit mehr als jede andere Partei, und saß trotz der nachteiligen Wahlkreiseinteilung mit 81 Abgeordneten im Reichstag. Doch offensichtlich besaß diese stärkste und größte Partei des Kontinents wenig politische Macht. Jean Jaurès spottete in Amsterdam, man sehe bei der SPD den Widerspruch zwischen der Kühnheit des deutschen Geistes und der Schlaffheit der deutschen Tat.91 Hatte nicht Lassalle gesagt, mit einer halben Million organisierter Arbeiter hinter sich werde er König von Preußen sein? Nun führte Bebel ein Millionenheer, aber wo blieb sein Königtum?92 Offensichtlich waren die parlamentarischen Waffen stumpf, wo der Kaiser ein halbabsolutistisches Regime führte, wo das Parlament keine Gesetzgebungskompetenz hatte, wo der Staat über die stärkste Armee und Polizei Europas verfügte und bereit war, sie gegen streikende Arbeiter einzusetzen. Die Anarchisten und Syndikalisten in der Nachfolge Proudhons, Bakunins und Kropotkins lehnten den politischen Kampf der Parteien ab und setzten ganz auf Selbstorganisation der Arbeiter und „direkte Aktion“ im wirtschaftlichen Kampf. Der Generalstreik war die Krönung dieser direkten Aktion, die schärfste und letzte Waffe. Die Erste Internationale war an der Auseinandersetzung zwischen Karl Marx und Michael Bakunin zerbrochen.93 Der russische Fürst Peter Kropotkin, der um 1900 den Anarchismus maßgeblich vertrat, ging noch weiter als Proudhon, indem er auch das Arbeitseigentum der Bauern und Handwerker ablehnte zugunsten völliger Gleichheit und Freiheit in Gemeinschaften gegenseitiger Hilfe. Anarchismus
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Gilcher-Holtey 1986, S. 206 Gilcher-Holtey 1986, S. 206 Bédarida et al. 1975, S. 204 – 217; Bakunin, Eckhardt 2011
war ethischer Sozialismus. Er argumentierte nicht wie Marx ökonomisch-geschichtsphilosophisch mit der notwendigen Ablösung des Kapitalismus als Gesellschaftsordnung, sondern mit der moralischen Fähigkeit des Menschen zu solidarischem Handeln.94 Die Zweite Internationale hatte auf ihrem Kongress in London 1896 die Anarchisten ausgeschlossen, behielt aber Parteien in ihren Reihen, die syndikalistischen Strategien anhingen. Inzwischen wuchs der Einfluss des Anarchismus und Syndikalismus in den west- und südeuropäischen Ländern, aber auch in den USA und vor allem in Russland. Die Debatte entflammte auf dem Amsterdamer Kongress der Internationale 1904 erneut, nachdem eine Reihe von Generalstreiks in Belgien, Schweden und den Niederlanden die Kraft der Arbeiterschaft gezeigt hatten. Alle endeten unter der Übermacht staatlicher Gewalt im Fiasko.95 Die deutsche Massenstreikdebatte entzündete sich an der russischen Revolution. Rosa Luxemburg wurde 1906 in Warschau Augenzeugin; sie verbrachte mehrere Monate in Haft, unter anderem im berüchtigten X. Pavillon der Warschauer Zitadelle, wo schon die Kämpfer des polnischen Januaraufstands von 1863 geschmachtet hatten.96 Auf ihrer anschließenden Agitationstour durch die deutsche Partei sprühte sie vor revolutionärem Eifer, und die Herzen flogen ihr zu. Karl Kautsky war wie alle von ihrem Enthusiasmus in Bann geschlagen. Seit der gemeinsamen Front gegen Bernsteins Revisionismus waren beide eng befreundet. Zwischen Rosa Luxemburg und Luise Kautsky entstand eine schwesterliche Bindung, und sie gehörte bei den Kautskys zur Familie. Natürlich war Karl Kautsky, wie die ganze internationale Sozialdemokratie, ein begeisterter Parteigänger der russischen Revolution. Aber angesichts des überwiegend bäuerlichen Landes sah er dort weder eine bürgerliche noch eine sozialistische Revolution, wenn auch einen ganz eigenartigen Prozess mit großer Bedeutung für „die ganze Menschheit der kapitalistischen Zivilisation“.97 Kautsky blieb skeptisch, ob die „Lehren von Moskau“ auf die sozialistische Bewegung in Deutschland zu übertragen seien. Rosa Luxemburg forderte genau dies, wiederum sekundiert von Alexander Parvus und unter dem Beifall eines großen Teils der Parteibasis. Sie hatte noch in Russland die Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ verfasst, die alle vor der russischen Revolution liegenden Ausführungen zum Massenstreik für überholt erklärte, einschließlich der Kritik von Marx und Engels an der „bakunistischen Revolutionsmacherei“98. Luxemburg setzte nun auf die Selbstbewegung der Massen: „Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist nicht ein pfiffiges Mittel, ausgeklügelt zum Zwecke einer kräftigeren Wirkung des proletarischen Kampfes, sondern er ist die Bewegungsweise der proletarischen Masse, die Erscheinungsform des proletarischen Kampfes in der Revolution [Hervorhebung im Original, HS]“.99
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Brupbacher 1979; Weber 1989, S. 164 – 169; Crowder 1991, S. 119, 164 – 167 Braunthal 1978a, S. 258 – 262, 298 – 302 Laschitza 2002, S. 234 – 266 Kautsky 1907, S. 333 Luxemburg 1906, S. 3 Luxemburg 1906, S. 28
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Die Schrift atmet trotz aller gegenteiligen Beteuerungen die Faszination durch eskalierende Massenaktionen, aus deren Anarchie der organisierte politische Kampf wachse. Ist es wirklich eine Unterstellung, dass Rosa Luxemburg der Spontaneitätstheorie anhing?100 Luxemburg sah eine solche Perspektive auch für Deutschland. Die Streiks im Crimmitschauer Textilgewerbe 1903 und im Ruhrbergbau 1905 nährten solche Hoffnung. Die Massenstreiks im Bergbau entsprangen jedoch Sonderbedingungen; ansonsten unterdrückte die Zusammenarbeit von Industriellen und Staat wirksam größere Arbeitskämpfe. Die Arbeitskämpfe in Deutschland konzentrierten sich in den Klein- und Mittelbetrieben des Bau- und Metallgewerbes, ohne Tendenz zum Flächenbrand. In Großbetrieben blieb bloße gewerkschaftliche Organisation schwierig.101 Kautsky tat sich schwer, gegen die Freundin zu polemisieren, er wählte einen Umweg. In seinem Artikel „Grundsätze oder Pläne“ schrieb er nicht gegen Luxemburg, sondern gegen Friedrich Stampfer, einen Journalisten des „Vorwärts“ aus der Gruppe der „ethischen Sozialisten“ um Eisner. Kautsky verurteilte Pläne, den politischen Massenstreik ohne Rücksicht auf Erfolgsaussichten und Verluste zur Mobilisierung der unorganisierten Massen einzusetzen, gewissermaßen als Schule der Revolution. Angesichts der starken deutschen Militärmaschine könne die Überführung des politischen Massenstreiks in die revolutionäre Aktion zu einem Entscheidungskampf werden, der mit schweren Rückschlägen für die organisierte Arbeiterbewegung enden müsse.102 Kautsky wollte den politischen Massenstreik nur zur Verteidigung gegen einen Angriff der Regierung auf die Grundrechte der Arbeiter gelten lassen, etwa auf das allgemeine Wahlrecht zum Reichstag. Der Parteitag von Jena 1905 befürwortete unter dem Eindruck der russischen Revolution jedoch den politischen Massenstreik als Kampfmittel. Das stand im Widerspruch zu dem kurz zuvor in Köln gefassten Beschluss der Gewerkschaften, den politischen Massenstreik abzulehnen und seine Ausrufung durch „Anarchisten und Leute ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiete des wirthschaftlichen Kampfes“ zurückzuweisen.103 Ein Jahr später kam es in Mannheim auf dem Parteitag zu einem Übereinkommen, das Kautsky als Sieg für die Position der Partei verbuchte, das in der Tat aber die Unabhängigkeit der Gewerkschaften von Entscheidungen des Parteivorstands anerkannte und so politischen Massenstreiks vorbeugte. Für Kautsky war das eine Niederlage, weil er die Unterordnung der Gewerkschaften unter die Partei zum notwendigen Prinzip erhoben hatte.104 Letztlich war durch diese für Deutschland ziemlich überflüssige Debatte ein Keil zwischen Partei und Gewerkschaften getrieben worden. Ihren Streit um die russische Revolution, den Massenstreik und die Gewerkschaften fochten Karl Kautsky und Rosa Luxemburg noch als Freunde und Verbündete aus. Gegen den Widerstand des Parteivorstandes veröffentlichte Kautsky 1909 seine Schrift „Der Weg zur Macht“. Der Vorstand befürchtete staatliche Repressionen, wenn so öffentlich über den Umsturz nachgedacht würde. Obwohl Kautsky die Revolution nicht als Massenaufstand 100 101 102 103 104
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Laschitza 2002, S. 255 Kittner 2005, S. 378 Kautsky 1906a Kittner 2005, S. 369 Kautsky 1906b
und Bürgerkrieg sah, sondern als längeren Prozess von Kämpfen um die Staatseinrichtungen, durchaus auch mit gesetzlichen Mitteln, konnte er sich noch einig fühlen mit dem radikalen Flügel der internationalen Sozialdemokratie. Lenin hat diese Arbeit hoch geschätzt und später „in aggressiver Unoriginalität“ für die eigene Staats- und Revolutionstheorie genutzt.105 Wie so oft nahm Kautsky Thesen eigener älterer Arbeiten wieder auf, hier war es „Die soziale Revolution“ von 1902. Er zitierte auch jenes Bonmot aus seinem sozialdemokratischen Katechismus von 1893, das später oft als Beweis seiner Abkehr vom revolutionären Geist diente: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei“.106 Das eben war der Punkt, die Linken um Rosa Luxemburg wollten Revolution machen. Leo Trotzki erinnerte sich, wie der Gegensatz schon im April 1907 bei einer großen Wahlrechtsdemonstration offen lag: „Vor der Demonstration im Treptower Park traf ich in der Wohnung von Kautsky Rosa Luxemburg in grimmigem Streit mit dem Alten. Obwohl sie noch per Du und im Tone naher Freundschaft sprachen, konnte man doch in den Repliken von Rosa eine verhaltene Wut verspüren und bei Kautsky eine tiefe innere Verlegenheit, die durch einen hilflosen Scherz maskiert war. […] Scharfe Zusammenstöße gab es auch unterwegs: Kautsky wollte Zuschauer bleiben, Rosa Teilnehmerin sein“.107 Während der preußischen Wahlrechtsbewegung vom Frühjahr 1910 schieden sich dann die Wege. In den großen Städten zwischen Bielefeld und Breslau folgten Hunderttausende dem Aufruf der Parteiführung zu Wahlrechtsdemonstrationen. Rosa Luxemburg sah eine revolutionäre Situation gereift, Kautsky nicht. Rosa Luxemburg reiste landauf landab, um auf Arbeiterversammlungen leidenschaftlich für die Fortsetzung des Wahlrechtskampfes mit politischen Massenstreiks zu werben. Sie hatte schon am 14. März den Streit, den Kautsky unter der Decke halten wollte, mit einem Artikel in der Dortmunder Arbeiterzeitung öffentlich gemacht. Nun gab es keine Schonung mehr, die Debatte wurde auch in der „Neuen Zeit“ geführt und gelangte über die Rolle der Massenaktionen hinaus zur Strategiefrage: „Ermattung oder Kampf?“.108 Sollte die Sozialdemokratie im legalen und parlamentarischen Kampf den Gegner ermatten und durch die Schulung und Organisation das Proletariat zum Kampf rüsten, bis die Zuspitzung der Klassengegensätze und ein unvorhersehbares Ereignis die revolutionäre Situation herbeiführten? Das war Kautskys Position. Oder sollte die Erfahrung von Massenaktionen den Entscheidungskampf vorwärtstreiben, immer größere unorganisierte Massen an sich ziehen, um so den Gegner schließlich niederzuwerfen? Das war die Position Luxemburgs.109 Kautsky resümierte den Konflikt in seiner Schrift „Der politische Massenstreik“ vom Frühjahr 1914, nun in direkter Polemik mit Luxemburgs „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ von 1906.110 105 106 107 108 109 110
Lih 2009 Kautsky 1909, S. 44 Trotzki 1930, S. 205 Luxemburg 1910 Luxemburg 1910 Kautsky 1914
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Der Riss war also damals schon vorhanden gewesen, jedoch durch persönliche und parteipolitische Rücksichtnahme überdeckt. Kautsky litt unter dem Zerwürfnis mit Rosa Luxemburg, wurde krank und zog sich zurück. Luise Kautsky hielt an der Freundin fest. Sie war ihr gerade in dieser Zeit besonders nahe, weil das Neuaufflammen von Luises alter Liebe zu dem lebenslustigeren Bruder Hans Kautsky das Verhältnis der Gatten belastete.111 Rosa Luxemburgs nicht eben angenehmer Charakter erschwerte eine Aussöhnung. Victor Adler schrieb an August Bebel am 10. August 1910: „Sieh Dir die liebe Rosa an. Ich habe ja Gemeinheit genug in mir um einige Schadenfreude daran zu haben, was Karl jetzt an seiner Freundin erlebt – aber es ist wirklich arg – das giftige Luder wird noch sehr viel Schaden anrichten, um so größeren, weil sie blitzgescheit ist, während ihr jedes Gefühl für Verantwortung vollständig fehlt und ihr einziges Motiv eine geradezu perverse Rechthaberei ist“.112 Mit dieser Trennung der beiden „siamesischen Zwillinge“ war die Flügelbildung in der Partei vollendet, nun gab es nicht nur eine rechte, reformistische Gruppierung, sondern auch eine linke, radikale. Kautsky selbst sah beide Extreme als Abweichungen vom Marxismus, seine eigene Position mit der Mehrheit identisch und also im Zentrum der Partei.113 Das Zeichen „Zentrist“ für revolutionäre Rhetorik im Verein mit zaudernder Politik hing ihm deshalb an, bis es durch das Label „Renegat“ übertrumpft und überdeckt wurde.114 Dieter Groh prägte den Begriff „revolutionärer Attentismus“, um diese Haltung Kautskys und der Mehrheit in der Sozialdemokratischen Partei vor dem Ersten Weltkrieg zu beschreiben, der Begriff zieht sich bis heute durch die Literatur.115 Nach 1968 war die westliche linke Geschichtsschreibung von einem Revolutionspathos beseelt, das Kautsky verdammte und Rosa Luxemburg auf den Schild hob – hierin dem Geschichtsbild der DDR ganz ähnlich. Bei den proletarischen Anhängern der Vorkriegs-SPD war Kautskys Position mehrheitsfähig, weil sie das Endziel im Auge behielt und verzehrende Aktionen ersparte. Angesichts der Ausgrenzung der Proletarier im Kaiserreich schuf die Partei mit Gewerkschaften und Maifeiern, Wanderbewegung und Arbeitersport, Schulung und Lektüre eine Gegenwelt, die Hoffnung, Identität und Schutz spendete. Historiker erklären solch wenig revolutionäres Denken und Tun gern als Verbürgerlichung der Arbeiter.116 Das Streben nach menschenwürdigen Lebensumständen hatte allerdings Bürgerlichkeit zum Muster, verstanden im Sinne des Citoyen, nicht des Bourgeois. Die sozialdemokratische Bewegung kann mit Jürgen Kocka als Brückenkopf der Bürgerlichkeit im Unterschichtenmilieu begriffen werden:
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Laschitza 2002, S. 318 – 319, 346; Schelz-Brandenburg 1992, S. 159 Fn. 106; Hertrampf 2011 Zitiert: nach: Laschitza 2002, S. 352 Kautsky 1914, S. 222 Laschitza 1992; Hünlich 1981, S. 170 – 181; dagegen: Grebing 1992 Groh 1973 Grebing 1992, S. 146/147; mit einer Forschungsübersicht zum Konzept: Nolte 2000, S. 351 – 377
„diszipliniert, ordentlich, zielstrebig, bildungsbeflissen, erzieherisch gegenüber den Massen, zunehmend am Leitbild der bürgerlichen Familie und bürgerlichen Sexualität orientiert, modern, sogar technikfreundlich, fortschritts- und wachstumsorientiert“.117 Kritik an Bourgeoisie und kapitalistischer Gesellschaft ist eben nicht gleichzusetzen mit Antibürgerlichkeit; die ist wie das Revoluzzertum eher eine Attitüde intellektueller Bohemiens.
Isoliert in Krieg und Revolution Nichts beschäftigte die Sozialistische Internationale so sehr, wie ihr Zusammenstehen gegen den Krieg. Die Herrschenden aller Länder beargwöhnten die Arbeiter als „vaterlandslose Gesellen“. Die Parteien der Internationale rangen darum, unbeschadet des Rechts der Arbeiter auf Vaterlandsverteidigung gemeinsam den Ausbruch des Kriegs zu verhindern – trotz ihrer Regierungen, nicht diesen zuliebe, wie Bebel es ausdrückte. Dabei kam wieder der Massenstreik ins Spiel, wuchs die schöne Vorstellung, bei Kriegsausbruch könnten gleichzeitige Massenstreiks in allen Ländern die Herrschenden zur Umkehr zwingen, sie zumindest nötigen, ein internationales Schiedsgericht anzunehmen. So lauteten die Anträge der französischen Sozialisten unter Führung von Jean Jaurès auf dem Kongress in Stuttgart 1907. Näher betrachtet türmten sich die Probleme. Müsste nicht gerade die bestorganisierte Arbeiterbewegung auf diese Weise ihr Land der zaristischen Barbarei preisgeben? Drohe der deutschen Arbeiterbewegung nicht die umstandslose Zerschlagung durch die kaiserliche Militärmaschinerie? Die Deutschen, an ihrer Spitze August Bebel und Karl Kautsky, bremsten also entsprechende Beschlüsse. Wie berechtigt nahm sich dagegen der Antinationalismus von Gustave Hervé aus! Nach Kriegsausbruch kippte allerdings auch der in die entgegengesetzte Richtung und entwickelte später eine französische Spielart des Faschismus.118 Ein Grundton der Resignation habe sich durch alle Debatten der Internationale über den drohenden Krieg gezogen, fand ihr Chronist.119 Aufrecht in dieser Versammlung von Kleinmütigen erscheinen Rosa Luxemburg und die russischen Parteiführer Wladimir Lenin und Julius Martow.120 Sie brachten auf dem Stuttgarter Kongress 1907 einen Passus in die Resolution ein, der später die russische Revolution legitimierte: „Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunützen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen“.121 117 Kocka 1994, S. 491; dies belegen exemplarisch für eine reiche regionale Forschung: Nimni 1985; Nimni 2005 118 Groh, Brandt 1992, S. 121 – 130 119 Braunthal 1978a, S. 332 120 Laschitza 2002, S. 277 – 280 121 Braunthal 1978a, S. 371 f.
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Kautsky lehnte wie die meisten Führer der Internationale ein Konzept ab, das den Krieg als Katalysator einer Revolution „auf den Trümmern“ der alten Gesellschaft nutzen wollte. Der Reichstagsabgeordnete Hermann Molkenbuhr beschrieb in seinem Tagebuch 1916 dies als Gegensatz zwischen eigentlicher Arbeiterpolitik, deren Interesse die Erhaltung des Staats sei, und dem Vorgehen von Berufspolitikern wie Rosa Luxemburg, die er unter die Anarchisten reihte.122 Spätestens seit 1910 hatte Kautsky die Auffassung revidiert, dass Kriege notwendig aus dem Wesen des Kapitalismus entsprängen. Er setzte sich unbedingt für die Vermeidung des Kriegs ein, auch im Bündnis mit der bürgerlichen pazifistischen Bewegung.123 In diesem Sinne versuchte die Sozialistische Internationale seit dem Kongress in Kopenhagen 1910 alles, um den Krieg zu verhüten.124 Massenmeetings und Demonstrationen, Verständigungstreffen der Sozialisten beteiligter Länder im Spannungsfall und die feierliche Manifestation des Basler Kongresses von 1912 folgten einander. Der Krieg brach letztlich unerwartet herein, verwirrend und lähmend. Nach der Kriegserklärung Österreichs an Serbien am 28. Juli 1914 versammelten sich die Mitglieder des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel, darunter Karl Kautsky. Sie waren angesichts der Berichte über große Antikriegsdemonstrationen in Deutschland noch zuversichtlich. Doch der aus Wien kommende Victor Adler – um zehn Jahre gealtert – rief verzweifelt aus: „Wir haben den Krieg schon! Wir haben bis jetzt gegen den Krieg gekämpft, so gut wir konnten[…] Aber erwartet von uns keine Aktion mehr! Wir sind im Kriegszustand, unsere Presse ist unterdrückt. Wir haben den Ausnahmezustand und das Kriegsrecht im Hintergrund“. Und Anton Němec aus Prag setzte hinzu: „Was können wir tun? Das Parlament ist ausgeschaltet. Die Versammlungen sind verboten. Wer der Mobilisierung Widerstand leistet, wird aufgehängt“.125 Das war wenige Tage später die Realität fast überall in Europa. Es blieb die Verweigerung der Kriegskredite als letztes Mittel. Karl Kautsky war nicht Mitglied der Reichstagsfraktion, aber eingeladen zur Beratung am 3. August. Weder ließ sich eine Stimmenthaltung durchsetzen, wie es Kautsky nach dem Beispiel August Bebels und Wilhelm Liebknechts von 1870 vorschwebte, noch auch nur ein Vorbehalt gegen Annexionen. Selbst Kautsky war verunsichert, ob nicht die Begründung der Regierung mit der russischen Bedrohung teilweise zu Recht bestünde. Aufs Ganze seines Lebens gesehen war es nur ein Moment des Zauderns, des Zweifels, aber es war der entscheidende Moment, und er war verheerend für Kautskys Bild in der Geschichte, verheerend aber auch für die internationale Sozialdemokratie. Dass Kautsky in diesen entscheidenden Augusttagen mit den Führern der deutschen Partei auf die Burgfriedenspolitik des Kaisers einschwenkte und sich damit von allen Beschlüssen der Sozialistenkongresse in Stuttgart, Kopenhagen, Basel und jüngst noch des Internationalen 122 Molkenbuhr, Braun 2000, S. 289 123 Ratz 1992; Ratz 1966 – In diesem Sinne auch seine Flugschrift anlässlich der 2. Marokkokrise: Kautsky August 1911 124 Blänsdorf 1979, S. 23 – 30 125 Braunthal 1978a, S. 359
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Büros lossagte, das war für die Führer der anderen sozialistischen Parteien Rechtfertigung, ihrerseits dem Patriotismus der Massen und dem Druck ihrer Regierungen nachzugeben und den Krieg zu unterstützen. Nur die russischen, die bulgarischen und die serbischen Sozialdemokraten verweigerten ihren Regierungen die Kriegskredite – wenigstens zunächst.126 Bald gewann Kautsky die Klarheit wieder, mit der er August Bebel auf dem Essener Parteitag 1907 entgegengetreten war, der Vaterlandsverteidigung zur sozialistischen Pflicht erklärte, wenn das reaktionäre Zarenreich angriffe. Damals hatte Kautsky erklärt, dass ein zum Weltkrieg sich weitender europäischer Krieg nur verhindert werden könne, „wenn wir nicht das Kriterium des Angriffskriegs anlegen, sondern das der proletarischen Interessen, die gleichzeitig internationale Interessen sind“.127 In einem vom 8. August 1914 datierten Artikel verurteilte er den Krieg gegen die Demokratien Frankreich und England – aber nicht gegen Russland – und prophezeite eine veränderte Welt nach dem Krieg: Europa ruiniert, die USA zur Vormacht aufgestiegen, das Kolonialsystem erschüttert und das Zarenreich zusammengebrochen. Von den Revolutionen, die er bisher als Ergebnis des Kriegs gesehen hatte, schwieg er – aus Vorsicht?128 Kautsky gehörte zur wachsenden Schar entschiedener Kriegsgegner in Partei und Fraktion – sie reichte von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg über den Vorsitzenden Hugo Haase bis zu Kurt Eisner und Eduard Bernstein. In der Fraktionssitzung im November 1914 stand Kautsky mit Karl Liebknecht und Eduard Bernstein gegen jegliche Kriegsunterstützung.129 Am 19. Juni 1915 veröffentlichten Kautsky, Bernstein und Haase in der Leipziger Volkszeitung ihren Aufruf „Das Gebot der Stunde“ zum Kampf gegen den Krieg.130 Dies geschah im Vorfeld der internationalen Zimmerwalder Konferenz, zu der diese drei als „Sozialpazifisten“ auf Betreiben Lenins nicht eingeladen waren.131 Die Fronde der Kriegsgegner in der Partei wurde den Führern der Burgfriedenspolitik Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann gefährlich. Im Dezember 1915 verweigerten schon 15 sozialdemokratische Abgeordnete die Zustimmung zu weiteren Kriegskrediten. Der Parteivorstand schloss sie daraufhin aus Fraktion und Partei aus. Im April 1917 gründeten die Kriegsgegner, darunter natürlich Kautsky, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Karl Kautsky verlor nun auch die „Neue Zeit“, der Parteivorstand entließ im November 1917 den Gründer und Chefredakteur.132 Doch auch in der USPD befand sich Kautsky in einer zunehmend unbehaglichen Lage, denn deren Zusammensetzung war sehr heterogen, geeint nur durch die gemeinsame Gegnerschaft zur Kriegspolitik der Mehrheitspartei. Die radikalen Linken um Rosa Luxemburg, die sich schon 1915 zur Gruppe Internationale – dem späteren Spartakusbund – zusammengeschlossen hatten, bestimmten nach Auffassung von Kautsky Programmatik und Politik der neuen Partei.
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Braunthal 1978b, S. 17 – 49 Zitiert: Trotzki 1998, S. 424 Kautsky 1914a Rojahn 1992 Bernstein et al. 1915 Braunthal 1978b, S. 55 – 63, bes. 60 Gilcher-Holtey 1986, S. 268
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Je länger der Krieg dauerte, desto bereiter waren die Massen, den revolutionären Aufrufen zu folgen. Die endlosen Materialschlachten im Westen, das Leiden der Zivilbevölkerung an Hunger und Seuchen schürten die Antikriegsstimmung und trugen Massenstreiks und Demonstrationen. Der Sieg der Revolution der Bolschewiki in Russland mit ihrer entschiedenen Friedenspolitik bestätigte und bestärkte die Linken, die auf eine deutsche Räterepublik hinarbeiteten. Warum sah Kautsky diese Politik so schroff ablehnend? Die sachlichen Differenzen, die ihn schon seit 1910 von Rosa Luxemburg getrennt hatten, nahmen immer stärker persönliche Züge an. Karl Kautskys Gegnerschaft zur Spartakusgruppe hatte ursprünglich einen politischen Kern in seiner Ablehnung des revolutionären Aktionismus zur Unzeit. Doch nun war es Zeit, dem Krieg mit Massenaktionen ein Ende zu machen und die politische Macht zu ergreifen. Kautskys Unversöhnlichkeit trennte ihn ab von den meisten seiner Freunde und von den Massen der Arbeiter, denen er sein Leben gewidmet hatte.133 In der deutschen Revolution, die ja seine gewesen wäre, spielte Kautsky folgerichtig kaum eine Rolle. Ende Dezember forderte er das Weitertreiben der Revolution in Richtung auf einen demokratischen Einheitsstaat und die Sozialisierung der Produktion. Er wandte sich aber leidenschaftlich gegen die Absichten des Spartakusbundes, dies durch Aufstände und Streiks, den Sturz der nicht mehr revolutionären Revolutionsregierung und die Umfunktionierung der Räte nach russischem Beispiel zu erreichen: „Vorbedingung [des Sieges und der Weltwirkung der deutschen Revolution, HS] ist allerdings, dass das Proletariat in Deutschland am Ruder bleibt, was nur möglich ist, wenn es geschlossen der bürgerlichen Welt gegenübersteht. Versuche, die Revolution weiter zu treiben durch Methoden, die seine Geschlossenheit zerreißen, treiben die Revolution nicht vorwärts, sondern abwärts, moralischem und ökonomischem Verfall und schließlichem Untergang entgegen“.134 Kautsky hatte wohl Recht, aber er hatte keinen Einfluss.135 Er war entsetzt über das Vorgehen der sozialistischen Regierung und ihrer Noske-Truppen gegen die Revolutionäre in den Berliner Januarkämpfen 1919, umso mehr suchte er eine aktive Rolle in der Revolution. Als Beigeordneter im Auswärtigen Amt wollte er die Akten zum Kriegsausbruch veröffentlichen, um die Abrechnung mit dem wilhelminischen Kaiserreich zu befördern. Die ungeschminkte Wahrheit über die deutsche Kriegsschuld, die er schon nach erster Durchsicht in einer Denkschrift darlegte, verschreckte die Regierung Scheidemann so, dass sie Kautsky die Aktenpublikation aus der Hand nahm und die Denkschrift unterdrückte.136 Als Kautsky ein angemessenes Wirkungsfeld als Vorsitzender der Sozialisierungskommission erhielt, musste er erleben, wie Bürokratie und regierende Sozialdemokraten die Arbeit und die Vorlagen der Kommission torpedierten. So hochrangige Ökonomen und Politiker wie die Österreicher Joseph Schumpeter
133 Kautsky 1922 134 Kautsky 1919 135 Zur Rolle der Räte und der Politik der Spartakusgruppe/KPD siehe: Engel 2009; zu Kautskys Rolle: Klein 1990a; dazu Kautskys Rückblick: Kautsky 1922 136 Dreyer, Lembcke 1993, S. 56 – 76, 114 – 116; 200 – 208; Kautsky et al. 1919; Kautsky 1919b
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und Rudolf Hilferding hatten mitgewirkt.137 Auch seine Hoffnung, die „Neue Zeit“ zurück zu bekommen, erfüllte sich nicht. So waren die Revolutionsjahre für Karl Kautsky Jahre zunehmender Isolation und enttäuschter Hoffnungen. Die Mehrheit der USPD hatte sich der zur Jahreswende 1918 gegründeten KPD angeschlossen. Was blieb, drohte zur Splitterpartei zu werden, sodass Kautsky seit 1922 die Wiedervereinigung mit der SPD betrieb. Schließlich ging er 1924 mit seiner Familie zurück nach Wien, in die Stadt seiner Jugend, und in die Sozialdemokratische Partei Österreichs, so auch räumlich einen Strich unter fast ein halbes Jahrhundert Arbeit in der deutschen Sozialdemokratie ziehend. In Wien schrieb er seine Alterswerke „Die materialistische Geschichtsauffassung“ und „Sozialisten und Krieg“138.
Gegen Bolschewismus und Faschismus Die Oktoberrevolution spaltete die sozialistische Bewegung; Strömungen, die unbedingt zur Revolution der Bolschewiki standen, gründeten kommunistische Parteien und schlossen sich zu einer „Dritten“, „Kommunistischen Internationale“ unter Führung Moskaus zusammen. Der neue Dualismus zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten beendete eher die alte Vielfalt, als dass er neue schuf, bevor er dann wiederum in Spaltungen mündete. Die Kommunisten, die Leninisten waren, behaupteten zugleich die Deutungshoheit über den Marxismus und erklärten alle anderen zu Revisionisten und Reformisten.139 Karl Kautsky beharrte darauf, als Marxist den Kampf gegen den Bolschewismus zu führen. Das füllte zu großen Teilen die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens aus. Der Gegensatz war fundamental. Es ging nun nicht mehr nur um die Anwendbarkeit der „Lehren von Moskau“ in Mittel- und Westeuropa, die er gegen Rosa Luxemburg bestritten hatte, sondern um die Praxis der Bolschewiki in und nach der Revolution. Kautsky, der ja schon 1906 bezweifelt hatte, dass man in Russland ohne liberale Bourgeoisie, mit einer zahlenmäßig geringen und unreifen Arbeiterklasse und mit den Massen ungebildeter Bauern eine sozialistische Revolution machen könne, sah sich bestätigt. Scharfe Kritik übte er 1918 in „Die Diktatur des Proletariats“ und 1919 in „Terrorismus und Kommunismus“. Nicht den Sozialismus hätten die Bolschewiki errichtet, sondern eine Gewaltherrschaft und neue Klassenherrschaft geradezu konterrevolutionären Charakters. Sie hätten sich erst von der Demokratie und dann vom Sozialismus verabschiedet, indem sie die verfassungsgebende Versammlung gleich nach ihrem Machtantritt auflösten, Presse- und Versammlungsfreiheit abschafften und durch ein Netz von Sonderkommissionen Gegner massenhaft und willkürlich erschießen ließen. Die Bolschewiki würden die menschheitsbefreiende Mission der Arbeiterklasse mit Füßen treten, indem sie eine neue Unterklasse als Bourgeois deklarierter maßlos geknechteter Heloten schüfen. Eine Schicht des Volkes nach der anderen würden sie sich zu Fein137 Behrend 1998 138 Kautsky 1937 139 Braunthal 1978b, S. 199 – 248; Vatlin 2009, S. 34 – 39
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den machen, wie das mit den besitzenden Bauern durch die Beschlagnahme der Ernte schon geschehe. Die räuberische Sozialisierung der Industrie hätte die Wirtschaft ruiniert. Unhaltbare Zustände in Transportwesen und Betrieben hätten die Bolschewiki veranlasst, die Alleinherrschaft der Arbeiterräte durch die Alleinherrschaft einer neuen Bürokratie abzulösen, wie auch die Alleinherrschaft der Soldatenräte einer neuen gewaltsam disziplinierten Armee habe weichen müssen. Mit dieser Bürokratie sei eine neue Ausbeuterklasse über dem Proletariat etabliert worden. Das alles traf ins Schwarze, wie im Kapitel über Leo Trotzki zu sehen sein wird. Kautsky folgerte: „Die Motive der Bolschewiki waren sicher die besten. Sie zeigten sich beim Beginn ihrer Herrschaft auch ganz erfüllt von den Humanitätsidealen, die der Klassenlage des Proletariats entspringen. […] Ihre Schuld fällt in die Zeit, als sie gleich den Bakunisten Spaniens aus dem Jahre 1873 die ‚sofortige vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse‘ trotz der Rückständigkeit Russlands proklamierten und zu diesem Zwecke, da die Demokratie ‚versagte‘, ihre eigene Diktatur unter der Firma der Diktatur des Proletariats aufrichteten. – Hier mag man ihre Schuld suchen. Sobald sie einmal diese Bahn betreten hatten, konnten sie dem Terrorismus nicht entgehen. Der Gedanke einer friedlichen wirklichen Diktatur ohne Gewalttat ist eine Illusion“.140 Die Granden der russischen Revolution waren getroffen; Lenin und Trotzki antworteten unmittelbar. Lenin 1918 mit der Schrift „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“, die dem Papst des Marxismus das Verräter-Mal einbrannte, Trotzki 1920 unter Kautskys Titel „Terrorismus und Kommunismus“. Lenin beharrte darauf, dass Karl Marx die Diktatur des Proletariats als Gewaltherrschaft verstanden hätte, die an keine Gesetze gebunden sei. Kautsky hingegen wolle Marx zu einem bürgerlichen Liberalen umbiegen.141 Beide Seiten beriefen sich also auf Marx. Dick Geary fand heraus, dass die Russen Äußerungen zur Diktatur des Proletariats aus Marxens blanquistischer Episode in den Revolutionsjahren zwischen 1847 bis 1849 nutzten, während Kautsky mit Zitaten aus der englischen Zeit nach 1850 konterte.142 In Wahrheit hatten sich beide Seiten von Marx entfernt – Kautsky in Richtung auf eine westeuropäisch-demokratische Auffassung der Revolution, Lenin und Trotzki in Richtung auf einen Kult der Gewalt in der Tradition des russischen Anarchismus und Terrorismus. Mit Lenins und Trotzkis Urteil war Kautsky zum Feind aller Kommunisten geworden und erhielt weitere prominente Gegenschriften: von Georg Lukács, Karl Radek und Karl Korsch.143 Rosa Luxemburg kritisierte die Revolution der Bolschewiki gleichfalls. Sie, die 1905/06 noch der spontanen Massengewalt gehuldigt hatte, geißelte nun die Auflösung der Konstituante, die Aufhebung der demokratischen Grundfreiheiten und die Willkürherrschaft der Sonderge-
140 Kautsky 1919a, S. 138 f. 141 Lenin 1980, S. 16 – 23 142 Geary 1987, S. 100; Detailliert zu den Kontroversen mit Lenin und Trotzki: Zarusky 2007; Lemke 2008, S. 258 – 296 143 Häupel 1993, S. 19; Radek 1920; Korsch 1929
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richte.144 Sie tat dies nicht öffentlich. Erst 1922 veröffentlichte ihr Freund Paul Levy diese Aufzeichnungen – nachdem er die Kommunistische Partei verlassen hatte, denn innerhalb der kommunistischen Bewegung war solche Kritik undenkbar. Als Kautsky Rosa Luxemburgs Schrift über die russische Revolution las, schrieb er bewegt: „Was sie darüber sagt, namentlich über die Degradation des Proletariats durch jene Politik, gehört zu dem bedeutendsten und ergreifendsten, was über den Bolschewismus geschrieben worden ist“.145 Kautsky bemühte sich generell um ein gerechtes Urteil über die einstigen Weggefährten. Als er nach Lenins Tod um einen Gedächtnisartikel für die Regierungszeitung „Iswestija“ gebeten wurde, würdigte er ihn als einen „Heros der proletarischen Revolution“, „Kolossalfigur, wie ihrer nur wenige in der Weltgeschichte zu finden sind“.146 Auch Trotzkis Wirken erkannte er 1925 in einer Untersuchung über „Die Lehren des Oktoberexperiments“ an und stellte sich somit gegen die Troika Stalin-Kamenew-Sinowjew, die Trotzki kalt gestellt hatte.147 Für Kautsky rückte nun die Demokratie noch stärker ins Zentrum seines Nachdenkens über den Sozialismus. Bewegte sich sein Denken also nach rechts? Es wurde weniger revolutionär und stärker reformistisch. Er war überzeugt, dass es Demokratie ohne Sozialismus geben könne, aber keinen Sozialismus ohne Demokratie. Die bürgerliche Demokratie lasse die Möglichkeit offen, durch Aufklärung und Stärkung der Arbeiterbewegung zum Sozialismus zu gelangen. Das undemokratische Sowjetregime müsse durch einen Arbeiteraufstand gestürzt werden, um dem Sozialismus freie Bahn zu schaffen. In diesem Sinne machte sich Kautsky zum Fürsprecher des rechten Minderheitenflügels der Menschewiki anlässlich des Aufstandes in Georgien 1924.148 Georgien stand ihm seit seinem viermonatigen Aufenthalt 1920 in der „sozialdemokratischen Bauernrepublik“ besonders nahe.149 Damit geriet er in Gegensatz nicht nur zu etlichen Parteien der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI), sondern auch zu seinem alten Gefährten Theodor Dan, der den linken Flügel der Exil-Menschewiki anführte. Sie strebten eine „friedliche Liquidation“ der bolschewikischen Herrschaft an, denn jeglicher Aufstand müsse in eine Konterrevolution münden.150 Kautskys Kreuzzug gegen den Bolschewismus im Besonderen und den Kommunismus im Allgemeinen erhielt heftigen Widerspruch von den österreichischen Marxisten, den sogenannten Austromarxisten. Otto Bauer verteidigte die Sowjetunion als erstes Land der proletarischen Revolution. Friedrich Adler, der Sohn Victor Adlers und Sekretär der Sozialistischen Arbeiterinternationale, vertrat die gleiche Ansicht und beharrte gegen Kautsky auf der Notwendigkeit einer Einheitsfront mit den Kommunisten gegen den Faschismus.151 So hatte sich Kautsky auch in der Sozialistischen Arbeiter-Internationale zwischen die Stühle gesetzt. Hat er die faschistische Gefahr unterschätzt, weil er als „unverbesserlicher Marxist“ so unbeirr144 145 146 147 148 149 150 151
Luxemburg 1990 Zitiert: Salvadori 1982, S. 385 Salvadori 1982, S. 411 Salvadori 1982, S. 413 Zarusky 2007, S. 59 Kautsky 1921 Zarusky 1992, S. 217 Mayer 1990; Klein 1990b; Salvadori 1982, S. 427 – 455
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bar an den Sieg der Arbeiterbewegung glaubte? Noch nach der bitteren Niederlage gegen den austrofaschistischen Ständestaat im Februar 1934 vertraute er darauf, dass die sozialistische Arbeiterbewegung die Demokratie siegreich verteidigen werde: „So wird das Proletariat auch diesmal wieder aus der Zeit seiner Prüfungen geläutert und gekräftigt hervorgehen, besser als bisher befähigt, seine große historische Mission erfolgreich durchzuführen, allen Mühseligen und Beladenen Freiheit, Frieden, Wohlstand, Sicherheit zu bringen“.152 Die Realität war bitter, auch für Kautskys Familie. Die Söhne Felix und Karl konnten sich mit ihren Familien ins Exil retten, während Benedikt, der Funktionär der österreichischen Arbeiterbewegung, in Wien verhaftet und durch die Konzentrationslager Dachau, Auschwitz und Buchenwald geschleppt wurde. Luise weigerte sich, der Einladung der britischen Labour Party zu folgen, da ihr von Amsterdam aus ein wundersamer Briefkontakt zu Benedikt gelang. Als die Deutschen im September 1944 ihr Versteck aufspürten, schickten sie die Achtzigjährige ins Konzentrationslager. Einige Wochen später starb Luise Kautsky im Krankenbau des Vernichtungslagers Auschwitz, nur wenige Kilometer von ihrem Sohn Benedikt entfernt.153
Was ist geblieben? Karl Kautskys Erläuterungen zum Erfurter Programm haben ähnlich wie ein halbes Jahrhundert zuvor das „Kommunistische Manifest“ die Vision einer befreiten Menschheit im sozialistischen Zukunftsstaat greifbar gemacht. Die Theorien von Karl Marx haben erst durch seine „Neue Zeit“ ein europaweites Forum erhalten und die Verbindung von sozialistischer Bewegung und Marxismus in weiten Teilen des Kontinents bewirkt. Die deutsche sozialdemokratische Partei wurde zum Vorbild für eine Vielzahl von Parteigründungen in Mittel- und Osteuropa.154 Kautsky war Hüter eines Marxismus, der weniger ökonomisch und stärker evolutionär fundiert war als die Lehre von Marx. Obwohl Kautsky ebenso von der historischen Rolle der Arbeiterklasse ausging, sah er sie nicht messianisch, sondern politisch. Sein Marxismus erweiterte die Revolutionslehre zu einer Transformationslehre und nahm ihr die verschwörerischen und gewaltsamen Züge; so wurde er allen Anhängern blanquistischer Umsturzkonzepte ein Gräuel. Kautsky zeichnete die Umrisse einer sozialistischen Gesellschaft auf demokratischen Grundlagen. Es ist merkwürdig, dass ungeachtet aller dieser Verdienste Lenins Prophezeiung so ganz eingetroffen ist, dass er nicht nur von der kommunistischen Bewegung geschmäht, sondern auch von der sozialdemokratischen verstoßen und vergessen wurde. In Frankreich gibt es keine Stadt, in der nicht ein Ort nach dem Sozialistenführer Jean Jaurès hieße. Die Deutschen haben in ihrer Ruhmeshalle keinen Platz für den nicht weniger bedeutenden Karl Kautsky.
152 Kautsky 1934, S. 55 153 Miller 1992a, S. 153 154 Steinberg 1992, S. 23 f.
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George Bernard Shaw
George Bernard Shaw (1856 – 1950) Faust und Mephisto des Sozialismus Im Oktober 1927 lieferten sich zwei Schriftsteller in der Londoner Kingsway Hall ein Rededuell: George Bernard Shaw, einer der größten Dramatiker seiner Zeit und Nobelpreisträger, und Gilbert Keith Chesterton, Autor zahlreicher Romane und Schöpfer des immer wieder verfilmten „Father Brown“. Der Andrang war groß, erregte Menschenmengen wogten in den Gängen und die BBC übertrug die Veranstaltung live. Unter der rhetorischen Titelfrage „Did we agree?“ ging es nicht um Literatur, sondern um Sozialismus und Glauben, Gerechtigkeit und Eigentum, wie schon mehrfach seit 1911 zwischen den beiden befreundeten und hoffnungslos nicht übereinstimmenden Kombattanten.1 Chesterton, der 1922 zum Katholizismus übergetreten war und nach seinem Tod vom Papst als Defensor Fidei (Verteidiger des Glaubens) geehrt wurde, vertrat die christliche Soziallehre, während Shaw mit seinen sozialistischen Maximen konterte. Wenn Geist und Humor die Rede würzen, erfreut solche Begegnung gegensätzlicher Weltanschauungen.
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Shaw, Chesterton 1930
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Shaw, der als Künstler mit seinem Namenskürzel G.B.S. verschmolz, sah sich selbst vor allem als Sozialist; einmal gab er dies auch als Standesbezeichnung beim Postamt an.2 In den drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zählte er zu den bedeutendsten Sozialisten Englands. Sein dramatisches Werk war mit seinen politisch-philosophischen Überzeugungen unlöslich verbunden. Jedem Stück gab er lange geistvolle Vorreden bei.3 Literaturwissenschaftler sahen den politischen Aspekt von Shaws Dramatik häufig nur als mehr oder weniger krude Zutat.4 Und die Sozialisten aller Art sahen ihn umso weniger als einen der ihren, je älter er wurde; er lebte immerhin 94 Jahre. Alle Seiten befremdete der scheinbare Unernst, mit dem er über die heiligsten Dinge sprach, sein unbezähmbarer Hang zur intellektuellen Provokation. Ein merkwürdiger Sozialist war George Bernard Shaw, merkwürdig im doppelten Wortsinn.
Dunkle Jahre in Dublin Shaw wurde am 26. Juli 1856 in Dublin geboren, in der irischen Wiege der englischen Literatur. Aus Dublin stammten ja auch Oscar Wilde, Shaws Altersgenosse, James Joyce und Samuel Beckett. Sie alle schüttelten den irischen Staub von ihren Schuhen, um sich in der englischen Welt einen Namen zu machen. Shaw führte seine Familie auf schottische Edelleute zurück, die im 17. Jahrhundert mit der englischen Kolonisation als „Besatzergeschlecht“ ins Land gekommen seien. Seine Eltern stammten allerdings von verarmten Seitenzweigen, sodass ihn das Schicksal des „Herabkömmlings“ träfe, dessen Standesbewusstsein und Ansprüche nicht mit seinen knappen Ressourcen in Einklang zu bringen wären. Die Eltern lebten in dürftiger Bürgerlichkeit von einer kleinen Angestelltenpension des Vaters, der mit kaufmännischen Unternehmen gescheitert war. Für den Zwölfjährigen war es demütigend, mit katholischen Krämer- und Handwerkersöhnen in eine Schule gehen zu müssen. Nach sieben Monaten wurde er erlöst, er durfte auf eine gehobene Handelsschule für Jungen wechseln, wo wieder der reinste Protestantismus und der Dünkel der Mittelklasse herrschten. Mit 14 Jahren musste er die Schule verlassen, um als Laufbursche in einer Maklerfirma zum Familieneinkommen beizutragen.5 Als Achtzigjähriger sagte er seinem Biografen, dass er es bereue, überhaupt eine Schule besucht zu haben, denn die Lehrer müssten ja ihre Schüler „wie Folterwerkzeuge“ hassen. Sie seien bloß Gefangenenwärter, angestellt, um „die kleinen Teufel unter Schloss und Riegel zu halten, damit sie ihre Mütter nicht zum Wahnsinn treiben“.6 Shaw löste sich bald vom Adelsstolz und von der anglikanischen Kirche, doch ein aristokratischer Puritanismus prägte ihn ebenso wie die Dürftigkeit seiner Herkunft lebenslang. Er hasste die Armut so sehr, dass er alles tun wollte, um sie auszurotten. Das wurde ein Antrieb 2 3 4 5 6
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Alexander 2009, S. 1 Shaw 1952e Schwanitz 1971, S. 8 – 12 Holroyd 1995, S. 38 – 52 Holroyd 1995, S. 42; siehe auch seinen Essay Shaw 1952a
seines Sozialismus. Shaw erinnerte sich zeitlebens mit Unwohlsein, wenn nicht mit Schrecken seiner Kindheit. Zwei Legenden verstand er überzeugend auszuschmücken und seinen Biografen nahe zu bringen: die Legende des ungeliebten, vernachlässigten Kindes und die Legende des Autodidakten.7 Sein neuester Biograf Anthony Matthews Gibbs korrigierte einige Fehlurteile. So fand er die Familienverhältnisse bei weitem nicht so zerrüttet. Die Ehe der Eltern wäre zumindest während des ersten Jahrzehnts durchaus nicht unglücklich gewesen, wie zärtliche Briefe des Vaters an die Mutter während kurzer Reisen bezeugten. Der Alkoholismus des Vaters hatte offenbar nicht den Grad und die Dauer, wie Shaw meinte. Er begründete wohl das entschiedene Abstinenzlertum des Sohnes, aber kaum die Trennung der Eltern.8 Da mag eher der faszinierende Musiklehrer Vandeleur Lee den Ausschlag gegeben haben, der Familienanschluss und das Herz der Mutter gewann. Die Mutter ging mit Lee und den beiden Töchtern nach London und ließ den Sechzehnjährigen beim Vater und bei seinem Job als Kontorist. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn krankte nach Gibbs nicht an mangelnder Vaterliebe, sondern an Shaws Verachtung für den schwachen, verlassenen Mann. Ebenso wenig kann Gibbs glauben, dass die Mutter selbstsüchtig und lieblos gegen ihre Kinder gewesen sei, und tatsächlich verdankte Shaw seiner Mutter viel. Als Shaw 1876 seine inzwischen recht erfolgreiche Laufbahn im Maklerbüro aufgab, um nach London zu gehen, quartierte er sich für mehr als zwanzig Jahre – bis zu seiner Hochzeit 1898 – bei seiner Mutter ein. Und zumindest in den ersten fünf Jahren lebte er auch von den Einkünften seiner Mutter, die das von Lee gelernte als Gesangslehrerin weitergab. Besucher überliefern einen herzlichen Umgang von Mutter und Sohn. Shaw bedauerte nach dem Tod der Mutter in einem Essay, seine Mutter ungeachtet des langen Zusammenlebens nicht wirklich gekannt zu haben. Mütter seien für die Kinder wie ein Besenstiel oder bestenfalls wie die Sonne, einfach da.9 Shaw verlieh der Heldin seines berühmtesten Dramas die Züge und den Namen seiner Mutter. Eliza, Elizabeth aus „Pygmalion“ ist die selbstbewusste und kluge Frau, die sich unabhängig von männlicher Fürsorge und Bevormundung macht, indem sie lehrt, was sie – hier von Higgins – gelernt hat.10 Auch in den Dubliner Jahren gab es Licht. Da war die Musik, in deren Mysterien Lee ihn einführte, wenn er zusammen mit der Mutter musizierte. Der Lehrer leitete das „Dublin Musical Festival“ und öffnete damit auch dem jungen Shaw die große Welt der Musik. Als Lee und die Mutter nach London gingen, ließen sie das Klavier und einen reichen Vorrat an Noten zurück. Shaw brachte sich selbst Klavierspielen bei und lernte große Teile der europäischen Opernliteratur auswendig. Über die Einsamkeit half ihm Matthew Edward McNulty hinweg, der Freund von der Handelsschule, mit dem er die Dubliner Theateraufführungen erlebte und sonntags durch die National Gallery streifte. Auf diese Weise hatte der junge Buchhalter eine reiche Bildung erworben, als er sich nach London aufmachte.
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Pearson 1965; Henderson 1956 Gibbs 2005, S. 19 – 36 Shaw 1952a Holroyd 1995, S. 646 f.
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Nach London! Shaw kam nach London, um dem Geschäftsleben zu entgehen und Künstler zu werden. Zunächst ließ er sich darauf ein, als Unterauftragnehmer des Hausfreunds Vandeleur Lee Musikkritiken zu schreiben. Der gab sie als vorgeblicher Autor an die Redaktion und händigte Shaw das Honorar aus. Zwei Jahre ging dies gut, dann waren Lee und Shaw enttarnt und der Herausgeber des Journals ruiniert. Shaw berichtete einem Freund: „Ich […] ging daran, die Musikerzunft zu reformieren. Nach einem Jahr war mein Freund [Lee] einer der verhasstesten Männer in London, die Zeitung geriet in Schwierigkeiten, und die Sache komplizierte sich noch dadurch, dass dem Herausgeber Zweifel aufstiegen an einem Kritiker, der nicht nur unerbittlich, sondern dazu noch an zwei Orten gleichzeitig sein konnte“.11 Nun schrieb Shaw Romane, zwischen 1879 und 1883 jedes Jahr einen: „Immaturity“ (dt.: Unreif), „The irrational Knot“ (dt.: Die törichte Heirat), „Cashel Byron’s Profession“ (dt.: Cashel Byrons Beruf), „Love among the artists“ (dt.: Künstlerliebe), „An unsocial Socialist“ (dt.: Der Amateursozialist). Mit äußerster Disziplin, jeden Tag sein Pensum von fünf Seiten schreibend, rang er diese Bücher der Unerquicklichkeit seiner Verhältnisse ab. Denn die Verlage lehnten jedes dieser Manuskripte mit entmutigenden Urteilen ab: zu negativ, nicht interessierend, ohne Talent. Nur der „Unsocial Socialist“ erschien in Fortsetzungen in der sozialistischen Zeitung „To-Day“. Später, als der Autor mit seinen Dramen berühmt geworden war, wurden auch die frühen Romane mehrfach aufgelegt und übersetzt. In dem Roman „Künstlerliebe“ reflektiert Shaw das besondere Verhältnis des Künstlers zur Welt: Er lebt ganz für die Kunst, Frauenliebe, Erfolg in der Gesellschaft und in Geschäften sind ihm daher nicht so wichtig. Die gewöhnlichen Menschen würden durch diese Dinge gewissermaßen für die schöpferischen Wonnen des Genies entschädigt. Solchen Geistesaristokratismus bewahrte sich Shaw, auch als er nicht mehr über den entbehrungsreichen Alltag hinweg fliegen musste. Shaw lebte asketisch – notgedrungen, doch immer mehr aus Überzeugung. Er wurde Vegetarier, denn der Verzehr getöteter Tiere sei „Kannibalismus unter Auslassung des heroischen Zuschlags“.12 Auf seiner Stube kochte er sich Haferbrei, um auch noch das Geld für die vegetarischen Restaurants zu sparen. Die geradezu abgerissene äußere Erscheinung des jungen Mannes schloss ihn aus der Londoner Gesellschaft praktisch aus. Um 1880 entdeckte Shaw den Lesesaal des British Museum als idealen Ort. Er wurde für lange Zeit sein Arbeitszimmer, wie er es auch für den Emigranten Marx gewesen war. Aber er ist dem Alten dort offenbar nicht mehr begegnet. Im British Museum las er sich durch alle Gebiete des Wissens. Hier fand ihn der berühmte Theaterkritiker William Archer, gleichzeitig eine Partitur von Richard Wagner und das „Kapital“ von Karl Marx lesend. Archer nahm ihn unter seine Fittiche und ebnete ihm den Weg die in Feuilletons der großen Zeitungen. Im British Museum absolvierte Shaw auch die theoretische Seite seines Boxtrainings, für die praktische besuchte er den „Lon-
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Holroyd 1995, S. 67 Holroyd 1995, S. 84
don Athletic Club“.13 Shaw teilte die Lust der Engländer am Sport. Schwimmen, Radfahren und Autofahren wurden später seine liebsten Freizeitunternehmungen. Sein Roman „Cashel Byron‘s Profession“ spielte unter Boxern. Nach dem Tod des Vaters 1885 konnte er sich von dessen Lebensversicherung einen wollenen „Jägeranzug“ kaufen. Hinter der Reformkleidung des Zoologen Gustav Jäger, auf die er durch den österreichischen Anarchisten Andreas Scheu aufmerksam geworden war, steckte eine Ideologie der Reinigung und Durchlüftung mittels tierischer Fasern.14 Shaws asketischer Gesundheitswahn wurde Teil seiner Lebensphilosophie. Etwas Fanatismus, Welt- und Menschenverachtung steckt in jeder Askese. Und so war es auch bei unserem Helden. Seine Weltverbesserungspläne entwickelten sich nicht aus empathischer Menschenliebe, sondern aus dem Abscheu vor dem Bestehenden, der zur radikalen Neuordnung leitete. Erst einmal machte der neue Anzug samt Hut, Mantel und Krawatte aus ihm einen repräsentablen Menschen. Indem die Jahre vergingen, wurde der schüchterne, hoch aufgeschossene Jüngling, der 1876 mit dem Fährschiff aus Dublin angekommen war, zu jenem unverkennbar irischen hageren Mann mit der alabasterfarbenen Haut und dem keck aufragenden roten Bart, den wir von zahllosen Bildern kennen. Das London der frühen achtziger Jahre war eine Stadt in lebhafter politischer Bewegung. In unzähligen Klubs und Sozietäten debattierte der neue Mittelstand aus Beamten und Literaten die liberalen Ideen, die das viktorianische England aufbrechen sollten. Die große Krise hatte seit den späten 70er Jahren die Massenarmut gesteigert und die „soziale Frage“ ins Bewusstsein der Londoner Gesellschaft gehoben. Shaws Wunsch, die Armut auszurotten, entstand in diesem Klima. Shaw schloss sich verschiedenen Gesellschaften an, so der Zetetical Society (Wahrheit suchenden Gesellschaft), und der Dialektischen Gesellschaft. So vage wie die Namen war die Orientierung: „individualistisch, atheistisch, malthusianisch, evolutionistisch, darwinistisch“15, also irgendwie liberal. In den Debatten überwand Shaw seine Schüchternheit. Planmäßig und diszipliniert, wie er seine Romane schrieb, schulte er sein Rednertalent, indem er sich öffentlichen Auftritten in Versammlungen und an Speakers Corners aussetzte.16 Die Initialzündung, die diesen Drang nach politischer Wirksamkeit in die sozialistische Richtung lenkte, kam nach Shaws eigenem Bekunden von einem Vortrag des amerikanischen Ökonomen Henry George im September 1882. Dessen Buch „Progress and Poverty“ (dt.: Fortschritt und Armuth, 1881) propagierte die Beseitigung der Armut durch Verstaatlichung des Bodens und Sozialisierung der Grundrente. Es waren Sätze wie diese, die Shaw den Eindruck vermittelten, den Schlüssel zur Lösung des drängendsten Gesellschaftsproblems seiner Zeit in Händen zu halten: „Wenn wir uns heute in der zivilisierten Welt umsehen, finden wir, dass die Arbeit nirgends ihren gerechten Lohn empfängt. Wir finden auch überall Arbeitslosigkeit. Manche
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Holroyd 1995, S. 97 Holroyd 1995, S. 114 Alexander 2009, S. 21 Seidel 1961, S. 27 f.
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Leute nennen diese Erscheinungen ‚Überproduktion‘, andere bezeichnen sie einfach als ‚Wirtschaftskrise‘, andere wieder erklären sie als Folge der Überbevölkerung. Diese Erklärungen sind falsch. Es kann keine Überproduktion geben, solange es Menschen gibt, die hungrig sind, schlechte Kleider tragen und in ärmlichen Häusern wohnen. Es kann keine Überbevölkerung, also keinen Mangel an Arbeitsgelegenheit geben, solange noch so viele menschliche Bedürfnisse unbefriedigt sind. Die wirkliche, fundamentale Tatsache aller dieser Übel ist darin zu finden, dass der Grund und Boden, aus dessen Verbindung mit der menschlichen Arbeit aller Reichtum entsteht, den Volksmassen verschlossen ist“.17 Dieses Buch fußte wesentlich auf Gedanken von John Stuart Mill, dem großen Nationalökonomen, Radikalliberalen und Sozialreformer. Georges Theorie lief zwar letztlich nur auf eine Freihandelspolitik gegen die Großagrarier hinaus, aber, wie Max Beer schreibt, vier Fünftel der jungen britischen Intellektuellen, die in den achtziger Jahren zum Sozialismus kamen, gingen durch die Schule von Henry George.18 Auch Bernard Shaw hatte seine Mission gefunden. Er trat der Land-Reform-Union bei und beschäftigte sich eingehend mit ökonomischer und sozialistischer Theorie. Auf seinem Weg durch die sozialistischen Zirkel fand er sich Anfang 1884 bei der Gruppe um Henry Mayers Hyndman ein, einem wohlhabenden Mann mit politischen Ambitionen.19 Es war die einzige marxistische Gruppierung innerhalb der englischen Arbeiterbewegung. Die englische Arbeiterbewegung war nach der Zerschlagung der Chartisten-Bewegung durch eine Periode der Depression gegangen – wie die deutsche nach 1849 oder die französische nach der Niederlage der Pariser Kommune. Sie lebte weiter in den Gewerkschaften, die sich politisch ganz im Schlepptau der Liberalen bewegten und auch nach der Demokratisierung des Wahlrechts 1867 Kandidaten nur mit liberaler Unterstützung aufstellten. Karl Marx hatte zwar der Ersten Internationale die Inauguraladresse geschrieben und in deren Leitung gewirkt, einen nennenswerten Einfluss auf die englische Arbeiterbewegung hatten die deutschen Exilsozialisten um Karl Marx und Friedrich Engels jedoch nicht. Im Jahr 1880 trat nun Henry Hyndman mit Karl Marx in persönliche Verbindung, nachdem er „Das Kapital“ gelesen hatte. Nach vielen Gesprächen verfasste Hyndman 1881 seine Nutzanwendung des Marx’schen Werkes: „England for all“. Im selben Jahr gründete er die „Democratic Federation“, später „Social Democratic Federation“, um die Radikalen Klubs von den Liberalen loszureißen und unter der marxistischen Fahne zu einen. Karl Marx war darüber keineswegs erfreut. Er ging auf Distanz, weil Hyndman in seinem Buch Namen und Werk von Marx nicht ausdrücklich erwähnt hatte. Friedrich Engels schloss sich dieser Haltung an, was nicht hilfreich für die Verbreitung des Marxismus in England war.20 Da auch Lenin die Feindseligkeit gegen Hyndman und dessen Sozialdemokratische Föderation übernahm, wurde sie in der kommunistischen Bewegung
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Zitiert: Beer 1913, S. 438 f. Beer 1913, S. 439 Alexander 2009, S. 22 – 27; Gibbs 2005; Holroyd 1995, S. 119 f.; Seidel 1961, S. 31 f. Beer 1913, S. 434 – 436; Cole 1950, S. 85 – 87; Bédarida et al. 1975b, S. 19 – 21; Phillips 1994, S. 3 – 5
quasi erblich. Erst Eric Hobsbawm kam im Geist des Eurokommunismus zu einem abgewogenen Urteil über diese Partei, eine Vorläuferin der Kommunistischen Partei Großbritanniens. Hobsbawms Urteil trifft sich ziemlich genau mit dem Max Beers von 1913. Beide erkannten, dass diese Partei vor allem an ihrer Gegnerschaft zu den Trade Unions litt.21 – Als Shaw in Hyndmans Föderation auftauchte, wurde er nicht freudig begrüßt, sondern mit Skepsis aufgenommen; man bedeutete ihm, er solle erst einmal Marxens „Kapital“ lesen. Er vertiefte sich in das französische Exemplar des British Museum und war tief beeindruckt. Im Rückblick beschreibt er die Wirkung auf sein politisches Denken: „Nun war das Geheimnis von Marx’ faszinierender Wirkung in Wirklichkeit sein Appell an eine unbenannte, unerkannte Leidenschaft: den Hass, den die edleren Gemüter unter den Anständigen und Gebildeten den Mittelstands-Einrichtungen entgegen bringen, durch die sie von der Wiege an geistig ausgehungert, verkümmert, irregeführt und korrumpiert wurden. Marx’ ‚Das Kapital‘ ist keine Abhandlung über den Sozialismus; es ist eine Jeremiade gegen die Bourgeoisie, gestützt auf eine Masse offizieller Beweisstücke und getragen von einem unbarmherzigen jüdischen Genie der Anklage. Er richtet sich an die Arbeiterklasse, aber der Arbeiter respektiert die Bourgeoisie und möchte selbst ein Bourgeois sein. Es waren die revoltierenden Söhne der Bourgeoisie selbst, Lassalle, Marx, Liebknecht, Morris, Hyndman (dazu Lenin, Trotzki und Stalin), alle Bourgeois wie ich selber, die die Fahne rot angestrichen haben. Bakunin und Kropotkin, von militärischer und adeliger Kaste waren unsere extremen Linksanarchisten. Die Klassen der mittellosen berufsmäßigen jüngeren Söhne sind das revolutionierende Element in der Gesellschaft; das Proletariat ist das konservative Element, was Disraeli, der demokratische Tory, sehr wohl wusste. Marx machte mich zum Sozialisten und bewahrte mich davor, ein Literat zu werden“.22 Zurück in der Sozialdemokratischen Föderation musste Shaw feststellen, dass außer ihm und Hyndman niemand das „Kapital“ gelesen hatte. Die Gesellschaft hatte etliche Arbeiter unter ihren Mitgliedern, aber auch der englische Mittelstand las damals nicht unbedingt deutsch – das Original des Marx’schen Werkes – oder französisch; die englische Übersetzung durch Edward Aveling erschien erst 1887. Die wackeren Marxisten werden die Grundgedanken von Marx über Hyndmans Popularisierung aufgenommen haben, so wie auch im nächsten Jahrhundert die meisten Anhänger seiner Lehre Popularisierungen von Kautsky, Lenin oder Stalin nutzten. Bernard Shaw hatte schon im unmittelbaren Zusammenhang mit der Marx-Lektüre nach Gegenargumenten gesucht; undenkbar, dass sein lebhafter Geist sich widerspruchslos hätte fesseln lassen. In der „Justice“, der Zeitschrift der Social Democratic Federation, veröffentlichte er unmittelbar nach der Lektüre eine erste „Kapital“-Kritik unter der Überschrift „Wer ist der Dieb?“ Seine Antwort: Nicht nur der Unternehmer, auch der Konsument stecke einen Teil des Mehrwerts ein, wenn er am Markt den Preis drücke. Shaw neigte eher der neoklas-
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Hobsbawm 1964b; Beer 1913, S. 440 – 459 Shaw 1950, S. 75 f.
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sischen Grenznutzenlehre zu, für die Angebot und Nachfrage entscheidende Regulatoren der Wertbildung waren. Eric Hobsbawm stellte Shaws ökonomische Auffassungen in den Kontext der zeitgenössischen Marxkritik, und der Ökonomie-Nobelpreisträger Stigler widmete ihnen einen wohlwollenden Essay.23 Eine vertiefte Rezension folgte 1887 im „National Reformer“, einem radikalliberalen Journal, in dem auch Edward Aveling publizierte, der Gefährte von Marx’ jüngster Tochter Eleanor. Shaw wurde nicht heimisch bei den Sozialdemokraten, denn er entdeckte mittlerweile einen anderen Klub, die „Fabian Society“. In dem intellektuellen Milieu dieser Mittelstandsgesellschaft fühlte er sich besser aufgehoben als bei den proletarischen Hyndman-Anhängern. Er war und blieb ein Bürger.24
Die Fabian Society Die Gesellschaft befand sich im Embryonalzustand, als Bernard Shaw auftauchte. Vor gerade neun Monaten hatte sie sich von einer protestantisch evangelikalen Vereinigung abgespalten, ohne schon ein neues Profil ausgebildet zu haben.25 So war sie bestens geeignet, zu Shaws ganz eigener Plattform zu werden. Was er vorfand, war der Name, der auf den römischen Senator und Feldherrn Fabius Cunctator – „der Zögerer“ – zurückging, und das dazugehörige Motto: „Auf den richtigen Moment musst du warten, wie es Fabius so geduldig tat, als er mit Hannibal Krieg führte, obwohl gar mancher sein Zaudern tadelte; aber wenn die Stunde schlägt, musst du wie Fabius hart zuschlagen, oder dein Warten wird vergebens und fruchtlos gewesen sein“.26 Im Mai nahm Shaw erstmals an einer Sitzung teil, im September trat er förmlich bei und verfasste ein erstes Manifest, und im folgenden Januar übertrugen ihm die Fabier die Geschäftsführung. Shaw machte die Fabian Society groß, indem er ihr eine sozialistische Orientierung gab und begabte Intellektuelle um sich scharte. Da war vor allem Sidney Webb, den er 1880 in der Zetetical Society kennen gelernt hatte, ein Beamter im Kolonialministerium, unglaublich belesen und von unstillbarer Wissbegierde. Er sollte bald gemeinsam mit seiner Frau Beatrice den wissenschaftlichen Einfluss der Society zementieren. Seine Schrift „Labour and the New Social Order“ von 1918 wurde zum Parteiprogramm der Labourpartei, und er selbst Minister in zwei Labour-Regierungen der Zwischenkriegszeit. Muss es uns wundern, dass die Karriere dieses Sozialisten mit der Erhebung zum Ersten Baron Passfield gekrönt wurde? Bernard Shaw erinnerte sich im hohen Alter an den Freund:
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Stigler 1965; Hobsbawm 1964a, S. 247; Wittig 1982, S. 126 Shaw 1950, S. 89 Wittig 1982, S. 24 – 27 Pease 1916, S. 39
„Das klügste, was ich je tat, war, ihm meine Freundschaft aufzudrängen und sie zu bewahren. Denn von da an war ich nicht mehr ein unbedeutender Shaw, sondern ein Komitee Webb und Shaw“.27 Der Biograf fasst dasselbe so zusammen: „Webb und Shaw waren die zwei Supermen der Fabian Society. Webb, als der Mann der Zahlen, gab die Linie vor; Shaw, als der Mann der Worte, gab den Ton an; zusammen schufen sie den legendären Fabier-Ruhm“.28 Unter denen, die sich um die beiden gruppierten, waren Sidney Olivier, Graham Wallas, Annie Besant, Hubert Bland und bald auch Beatrice Potter, die spätere Frau Webb.29 Shaw traf Olivier zuerst in der Land-Reform-Union; er arbeitete damals wie Webb im Kolonialministerium und war mit diesem befreundet. Olivier verband gewinnendes Wesen und soziales Engagement mit literarischen Talenten; dennoch erreichte er höchste Posten in der Kolonialverwaltung. Auch er wurde später unter der Labour Regierung in den Adelsstand erhoben. Graham Wallas war wie Olivier der Sohn eines anglikanischen Geistlichen, die beiden hatten sich beim Studium in Oxford kennengelernt. Askese und analytische Strenge prädestinierten ihn für die wissenschaftliche Arbeit an der London School of Economics, deren Mitbegründer er wurde. Als Schöpfer einer Theorie kreativen Denkens schrieb er sich in die Wissenschaftsgeschichte ein. Wallas und Olivier verkörperten in gewisser Weise die beiden Pole von Bernard Shaws eigenem Wesen – Askese und Phantasie. Annie Besant war nach Shaws Zeugnis der Mann der Tat in diesem Führungszirkel. Die vormalige Gattin eines anglikanischen Geistlichen hatte Shaws Weg schon in verschiedenen sozialreformerischen Zirkeln gekreuzt, nun focht sie mit ihm bei den Fabiern; zeitweise gingen sie eine nähere Verbindung ein. Annie Besant war beteiligt an der Organisation großer Streiks, vor allem der Streik der Zündholzarbeiterinnen 1888 machte sie populär. Nachdem sie 1889 die Bekanntschaft der Okkultistin Helena Blavatsky gemacht hatte, gab sie die Politik auf und wurde Theosophin. Sie war ebenso wie Hubert Bland, Sidney Olivier und Shaw selber gleichzeitig Mitglied in der Social Democratic Federation. Umgekehrt waren zahlreiche Mitglieder der SDF zugleich Fabier, darunter der spätere Begründer und Vorsitzende der Labourpartei James Ramsay MacDonald.30 Die frühen Jahre zwischen 1885 und 1887 „waren eigentlich für Salonsozialismus und politische Stubengelehrsamkeit keine gute Zeit“, schrieb Shaw selbst.31 Die Krise erreichte einen Höhepunkt, und die Arbeitslosen fanden sich unter Führung der Sozialdemokraten zu großen Demonstrationen zusammen. Shaw und die Fabier zogen mit. Die Demonstration zum Trafalgar Square am 13. November 1887, an der wohl zehntausend Arbeitslose und die Führer 27 28 29 30 31
Shaw 1950, S. 99 Holroyd 1995, S. 162 Holroyd 1995, S. 163 – 165; Wittig 1982, S. 28 – 38 Beer 1913, S. 461 – 466; Bédarida et al. 1975b, S. 28 – 36; Alexander 2009, S. 34 Zitiert: Holroyd 1995, S. 170
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aller sozialistischen Gruppen teilnahmen, war der dramatische Höhepunkt und ein Fiasko. Shaw und Annie Besant waren mittendrin und vorneweg. Der Ausgang dieses „Bloody Sunday“ mit Toten und Verletzten wurde zum Trauma für Shaw. Er sah die vor der Polizeigewalt auseinanderstiebenden, kopflosen Arbeitermassen, und das Bild verließ ihn nicht. Hier verlor er den Optimismus, den der Dichter Percy B. Shelley 1819 aus ähnlichem Anlass in dem Gedicht „The Mask of Anarchy“ behauptet hatte: „Ye are many – they are few“.32 Der Glaube an eine historische Mission der Arbeiterklasse – wenn er ihn denn besessen hatte – war dahin. Der Sozialismus wurde für George Bernard Shaw immer mehr ein Projekt „von oben“, eine Sache der Gebildeten. Dennoch stand Shaw zur Maifeier des Jahres 1890 gemeinsam mit Friedrich Engels und den Führern der neuen Gewerkschaftsbewegung auf der Rednertribüne und sprach zu rund 300.000 Londoner Arbeitern, die sich wiederum versammelt hatten.33 Die Arbeiter konnten nicht aufgeben, und Shaw tat es ja auch nicht. Die Gesellschaft hatte anfangs weniger als 200 Mitglieder, wuchs bis 1907 aber auf mehr als 2.600, etwa zur Hälfte in London ansässig, zur anderen Hälfte in der Provinz, vornehmlich an den Universitäten. Es waren Journalisten, Beamte, Lehrer und Geistliche.34 Wie Max Beer schreibt, sahen die Fabier bei ihren Mitgliedern mehr auf Qualität als auf Quantität, modern gesprochen: Sie wandten sich an Multiplikatoren und Entscheidungsträger. „Educate! Agitate!“ war ihr Schlachtruf. Unermüdlich durchforschten sie, wie es auch Karl Marx getan hatte, die offiziellen Berichte und Statistiken. Sie versandten eigene Fragebögen zur Situation in den Fabriken, zur Armenfrage und zum Wohnungswesen. Daraus entstanden Flugschriften und Traktate genannte Studien, die sie an Parlamentarier, Politiker, Gesellschaften, Zeitschriften und Universitäten schickten. Nach dem Zeugnis von Max Beer waren um 1910 insgesamt 163 Broschüren erschienen, von denen jährlich mehr als 100.000 Exemplare abgesetzt wurden.35 Ein bleibendes Ergebnis dieser Forschungs- und Agitationstätigkeit war im Jahre 1895 die Gründung der London School of Economics and Political Science nach dem Vorbild der École Libre des Sciences Politques in Paris. Sidney und Beatrice Webb nutzten dafür das Vermächtnis des wohlhabenden Fabiers Henry Hunt Hutchinson. Sie erhielten Unterstützung bei Behörden und in der Geschäftswelt, indem sie versicherten, dass die Institution neutraler wissenschaftlicher Forschung diene, keines falls sozialistischer Agitation. Shaw und den Fabier-Vorstand, die über die Zweckentfremdung des Vermächtnisses beunruhigt waren, beruhigten sie mit der gegenteiligen Versicherung, dass solche soziologische Forschung unzweifelhaft zum Sozialismus führen müsse. Die London School of Economics (LSE) war zunächst im Haus von Shaws späterer Frau, Charlotte Payne-Townshend, untergebracht.36 Sie ist eine weltberühmte, keineswegs parteigebundene Einrichtung geworden.
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Seidel 1961, S. 85; Holroyd 1995, S. 170 – 175 Gustafsson 1972, S. 144 Beer 1913, S. 467; Hobsbawm 1964d, S. 268 Beer 1913, S. 467 Seidel 1961, S. 125 f.; Holroyd 1995, S. 351 – 353; Dahrendorf 2007, S. 3 – 24
„Educate! Agitate!“, das hieß vor allem schreiben und reden. Die Fabier publizierten in Zeitungen aller Richtungen, um ein breites Publikum zu erreichen. Die Webbs gründeten erst 1913 mit Shaws Unterstützung ein eigenes Blatt, den „New Statesman“. Und sie hielten unentwegt Vorträge. Shaw erinnert sich an das erste Jahrzehnt: „Ich sprach während dieser Zeit durchschnittlich wenigstens dreimal in vierzehn Tagen über den Sozialismus. Ich predigte, wann und wo man es verlangte. Wer zuerst kam, wurde zuerst bedient. Wenn ich zu einem Vortrag aufgefordert wurde, stellte ich mich zum ersten freien Termin zur Verfügung, ob es sich um einen Straßenwinkel, eine Wirtsstube, einen Marktplatz, die Ökonomische Sektion der British Association, den City Temple, einen Keller oder einen Salon handelte. Mein Publikum wechselte von zehn Zuhörern zu vielen Tausenden“.37 Shaw hielt auch in der „Socialist League“ Vorträge, einer Gruppe um William Morris und die Avelings – Marxens Tochter Eleanor und ihren Gefährten. Dieses mächtige Häuflein von Visionären und Anarchisten ging nach wenigen Jahren am inneren Streit zugrunde.38 Zwischen Bernard Shaw und Morris entwickelte sich eine intensive geistige Beziehung. Morris und seine Schüler folgten mit der Bewegung „Arts and Crafts“ dem Ideal selbstbestimmter handwerklicher Arbeit in herrschaftsfreien Gemeinschaften. Die alten Gilden und Zünfte standen im Hintergrund, durch die Ideen Fouriers und Kropotkins utopietauglich veredelt. In dieser Tradition steht auch heute Richard Sennett, der wieder das Loblied kooperativer handwerklicher Arbeit singt – die geistige eingeschlossen.39 Im Freundeskreis von Morris begegnete Shaw dem Anarchisten Andreas Scheu, den wir mit Kautsky in der frühen österreichischen Sozialdemokratie kennen gelernt haben.40 Er lernte in diesem Zirkel die Hochherzigkeit der Anarchisten schätzen, obwohl ihre Überzeugungen dem Streben der Fabier widersprachen, die keineswegs hinter die kapitalistische Industriegesellschaft zurück zu handwerklicher Kooperation wollten. Die Fabier gewannen Einfluss nicht nur auf Entscheidungsträger und Institutionen. Diese als Permeation – Durchdringung – bezeichnete Strategie war dem „Marsch durch die Institutionen“ der Achtundsechziger nicht unähnlich. Die Fabier verstanden sich als Jesuiten der sozialistischen Bewegung, wie ein Ferment überall eindringend, von den Konservativen bis zu den Trade Unions alles mit Sozialismus impfend, dabei unverändert sie selbst bleibend. Zunächst waren die Liberalen bevorzugter Gegenstand dieser Strategie. Die Fabier drangen in die Vorstände der liberalen Klubs vor und machten die liberalen Zeitungen zu ihrer Tribüne. Shaw und Webb schoben den Liberalen 1891 das radikale Newcastle Program gewissermaßen unter. Es enthielt neben der irischen Autonomie – „Home Rule“ – Reformen von Selbstverwaltung, Bildung, Grundbesitz und Parlament. Nachdem die Liberalen 1892 zur Regierung gelangt waren, haperte es jedoch mit der Umsetzung. Die Fabier zogen sich deshalb wieder zurück. Shaw, der sich theoretisch gänzlich vom Liberalismus gelöst hatte, wie an den „Fabian Essays“ ablesbar ist, ging nun auch politisch auf Konfrontationskurs. Die leitende These von James Alexander, dass Shaw anfangs zwischen Liberalismus und Marxismus geschwankt 37 38 39 40
Shaw 1950, S. 90 Beer 1913, S. 446 – 448; Bédarida et al. 1975b, S. 25 – 28; Pierson 1973, S. 75 – 88 Weber 1989, S. 251 – 253; Sennett 2011 Holroyd 1995, S. 131 – 138
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habe, um sich schließlich auf Äquidistanz zu beiden zu begeben, trifft nicht zu. Der Liberalismus wurde immer mehr sein eigentlicher Gegner, die Auseinandersetzung mit dem Marxismus blieb hingegen für Shaw ein Streit im eigenen Lager. Shaw und Sidney Webb schrieben im Herbst 1893 unter dem biblischen Ruf „To Your Tents, O Israel“ – 1. Buch Könige, 12/16: „Zu deinen Hütten, Israel!“ – einen Appell zur Lösung der Arbeiterbewegung von den Liberalen und zur Besinnung auf die eigenen Kräfte. Sie lieferten eine geharnischte Kritik des liberalen Kabinetts und erklärten die sozialistische Infiltration der Liberalen für gescheitert. Das war ein Bekenntnis zur am Jahresanfang gegründeten „Independent Labour Party“, einer Arbeiterpartei mit enger Beziehung zu den Gewerkschaften.41 Zu einer Domäne fabianischer Permeation wurde die kommunale Selbstverwaltung, in der Provinz wie in London. Sidney Webb gelangte mit fünf anderen Fabiern in das Londoner Stadtparlament und wurde zu dessen Vorsitzendem gewählt. Bernard Shaw ließ sich 1897 in den Stadtrat von St. Pancras wählen, eines Londoner Stadtteils mit rund einer Viertelmillion Einwohnern. Für sieben Jahre widmete er sich nun mehrmals in der Woche den kommunalen Finanzen, der Müllabfuhr und den Friedhöfen, dem Gesundheits-, Wohnungs- und Schulwesen. Einer seiner Kollegen im Stadtrat bezeugte: „Shaw bescherte St. Pancras mit Witz, Kraft und guten Ortsstatuten“.42 In „The Common Sense of Municipal Trading“ lieferte er den Erfahrungsbericht zu seiner Auffassung vom Munizipalsozialismus als wichtigster sozialistischer Enklave innerhalb des Kapitalismus. Hier könne das Gemeineigentum auf Kosten des Privateigentums ausgeweitet werden, indem hohe Steuern erhoben und kommunale Projekte am Kapitalmarkt finanziert würden. Der Unterschied zwischen liberaler und sozialistischer Kommunalpolitik sei eben, dass erstere die Aufwendungen gering halten wolle, um die Steuern der Wohlhabenden zu senken, während letztere aus sozialpolitischen Erwägungen die Aufwendungen für kommunale Unternehmungen steigern müsste.43 Shaw hätte seine Arbeit fortgeführt, wäre nicht die Kooptation der Stadträte abgeschafft und durch Wahl ersetzt worden, eine von den Fabiern selbst beförderte Reform. Den Wahlkampf 1904 verlor er krachend. Beatrice Webb schreibt, warum: „Während der Wahl erwies sich Shaw als vollkommen unlenksam. […] Er bestand darauf, ein Atheist zu sein, dass er, obwohl er Abstinenzler sei, jeden Bürger zwingen werde, ein Viertel Rum hinunterzugießen, um jeglicher Tendenz zur Trunkenheit vorzubeugen. Er lachte über das Gewissen der Nonkonformisten, neckte die Katholiken wegen der Transsubstantion, beschimpfte die Liberalen und begönnerte die Konservativen verächtlich, bis beinahe jedermann verärgert war. […] Sogar seine guten Seiten, donquichoteske Ritterlichkeit gegenüber seinen Gegnern und eiskalt gefolgerte Wahrheit, […] sind in einem Wahlkampf völlig fehl am Platze“.44
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Alexander 2009, S. 102 – 110; Seidel 1961, S. 96 – 101; 115; Ballay 1981, S. 163 – 171 Seidel 1961, S. 128; Holroyd 1995, S. 354 – 361 Shaw 1904; siehe die übereinstimmende Bilanz in: Beer 1903 Seidel 1961, S. 133
Shaws Erfahrungen mit korrupten wie gutwilligen Gemeindevertretern, mit endlosen Magistratssitzungen und kommunaler Gesundheitspolitik finden sich in etlichen seiner Dramen und Schriften wieder, so in „Der Arzt am Scheidewege“ (1906), oder in „Heiraten“ (1908).
Fabian Essays – das Programm Die „Fabian Essays“ von 1889 waren ein Gemeinschaftswerk, in dem Sidney Webb die Geschichte, Sidney Olivier die Moral, Graham Wallas die Eigentumsfrage, William Clarke und Annie Besant die sozialistische Produktion und Hubert Bland die Parteipolitik darstellte. Die Abschnitte zur Transformation stammen von George Bernard Shaw und sind wohl die gewichtigsten. Shaws Beitrag ging aus einem Vortrag vor der Ökonomischen Sektion der British Association in Bath im September 1888 hervor und enthält die Quintessenz aller übrigen.45 Shaw legte dar, worin die Fabier mit den Sozialdemokraten – also den Marxisten – übereinstimmten. Wie diese sahen sie die kapitalistischen Verhältnisse als unmenschlich, grausam und ungerecht an, und wie sie machten sie das kapitalistische Privateigentum als Ursache aus. Fabier und Sozialdemokraten stimmten überein im Streben nach einer Gesellschaft der Gleichen. Die Fabier stimmten nicht überein mit der Ableitung der Ausbeutung aus dem Mehrwert, wie ihn die Arbeitswertlehre von Marx begründete. Shaw und Webb widersprachen ebenso der Hegel-Marx’schen Auffassung vom aufsteigenden Geschichtsprozess fortschreitender Emanzipation in dialektischen Sprüngen. Mit einem merkwürdig verklärten, mehr von Morris’ Romantizismus als von Shakespeares Königsdramen gelenkten Blick sahen sie im Feudalzeitalter eine wohltätige ständische Ordnung. Erst im Laissez faire des Kapitalismus hätte die Anarchie triumphiert. Sie glaubten einfach nicht an die Erlöserfunktion der Arbeiterklasse, sondern an die transformatorische Kraft der bürgerlichen Eliten. Shaw wies also sowohl die Geschichtstheorie wie die ökonomische Theorie von Marx als Begründung des Sozialismus zurück. Er kam zu der Überzeugung, dass der Sozialismus keine spezielle Ökonomie brauche, denn er müsse aus jeder ökonomischen Theorie zu folgern sein. Damit schob er gewissermaßen auch seine eigene Gedankenarbeit der achtziger Jahre beiseite, sie hatte nicht zu einem befriedigenden Ergebnis geführt. Shaws Ökonomik war eklektisch. In der Werttheorie ging er auf William Stanley Jevons zurück, der die Beziehung zwischen Wert und Preis in der Weise der neoklassischen Grenznutzentheorie zu lösen suchte. Shaw band die Grenznutzentheorie zurück an die klassische Rententheorie Ricardos und beschrieb kurzerhand den Kapitalzins als Spezialfall der Bodenrente – ein Tribut an die Auffassungen von Henry George. Die einheitliche Rententheorie bildete den Kern von Shaws Ökonomik, die zur Ökonomik der Fabier schlechthin wurde. Die Ausbeutung folgerte Shaw also nicht aus dem Verhältnis von Kapital und Arbeit, nicht der Unternehmer als Räuber des Mehrwerts der Arbeit war der Dieb. Die Erbsünde des Kapitalismus war nicht wie für Marx die Aneignung des Mehrwerts durch den Unternehmer, sondern die Schöpfung von Einkünften ohne Arbeitsleistung. Auch der höhere Lohn des qualifizierten Arbeiters
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Shaw, Reisman 1996, S. 205 – 236; deutsche Ausgabe: Grunwald 1897, S. 252 – 296
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galt als Rente, da er aus günstigen Lebens- und Arbeitsumständen und nicht unmittelbar aus der Arbeitsleistung erwachse.46 Es könne nicht darum gehen, wie Marxens Arbeitswertlehre nahelege, dem Hand- und Maschinenarbeiter seinen geraubten Arbeitsertrag zurückzugeben, sondern allen gleichermaßen vom nationalen Reichtum zuzuteilen. Der Mehrwert wäre nicht Produkt der unmittelbar in der Produktion tätigen Arbeiter, sondern gesamtgesellschaftlicher Mehrwert; ein halbes Jahrhundert nach Marx waren in Großbritannien schon 40 Prozent aller Beschäftigten – doppelt so viele wie in Deutschland – im Dienstleistungssektor tätig.47 Für Shaw beraubte die Gesamtheit der Rentenbezieher die Nation als Ganzes: „In ökonomischer Beziehung bedeutet die vollkommene Durchführung des socialistischen Princips vor allem die Übertragung der Rente von den jetzigen Besitzern derselben auf das ganze Volk […] durch Einziehung sämtlicher Renten und Überweisung derselben an die Nationalkasse“.48 So revolutionär die Enteignung der Besitzenden auch wäre, sie solle nicht durch eine Revolution bewerkstelligt werden, wie Shaw seinen Zuhörern versicherte – die französische Revolution war das Trauma der englischen Mittelklasse. Simple Enteignung sei kein Sozialismus: „Man kann niemanden überzeugen, dass es unmöglich sei, an einem Tag eine Regierung zu stürzen. Aber jeder weiß, dass man durch bloßes Absingen der Marseillaise nicht Wagen erster und dritter Klasse in Wagen zweiter Klasse, elende Baracken und Paläste in komfortable Wohnhäuser […] verwandeln kann“.49 Das sei die eigentliche Revolution, die Schaffung von Gleichheit, und das brauche Zeit und wohlüberlegte Organisation. Dieser Sozialismus der rigorosen Gleichheit wäre Staatssozialismus, und er wäre vor allem Munizipalsozialismus. Die Fabian Essays sahen in den kommunalwirtschaftlichen Wasserwerken, Elektrizitäts- und Verkehrsbetrieben die realen Keimzellen einer sozialistischen Gemeinwirtschaft, die sich durch Wettbewerbsvorteile und Steuern allgemein ausbreiten ließe. Die lokale Selbstverwaltung sollte die politische Grundlage der neuen Gesellschaft bilden:„Erst wenn sie vollkommen durchgeführt sein wird, wird der demokratische Staat den Mechanismus besitzen, den der Socialismus braucht“.50 Im Übrigen habe diese Art Revolution schon begonnen, sie sei aufgetreten in Gestalt von Selbstverwaltung, Wahlrechts- und Steuergesetzen und anderen allgemein für vernünftig gehaltenen Einrichtungen. Shaw beruhigte sein Publikum: „Man kann sie vertreten, ohne die Worte Socialismus und Revolution im Munde zu führen. Vornehmlich aber, ohne für die Guillotine zu schwärmen, Menschenrechte zu pro-
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Wittig 1982, S. 135 – 139; Alexander 2009, S. 45 – 49 Buchheim 1997, S. 28 Grunwald 1897, S. 264, 265 Grunwald 1897, S. 270 Grunwald 1897, S. 277 f.
klamieren, bei dem Altar des Vaterlandes zu schwören, oder ähnliche Dinge, die man allgemein für unenglisch hält“.51 Am Ende seiner Darlegungen lässt er doch den revolutionären Knüppel aus dem Sack gucken: „Es ist keine Schande für die Socialisten, dass sie früher die bewaffnete Organisation der Arbeiterklasse und die gewaltsame Revolution erstrebt haben. Dieser Plan erwies sich als unausführbar. Darum ist er – nicht ohne Bedauern – von englischen Socialisten aufgegeben worden. Aber er bleibt doch stets die letzte mögliche Alternative zur Durchführung des socialdemokratischen Programms, welches ich Ihnen skizziert habe“.52 Was Bernard Shaw hier mit Bekundungen fabianischer Mäßigung nett umhüllt präsentierte, war im Kern ein Programm des radikalen Umsturzes der bestehenden Verhältnisse im Sinne der Gleichheit. Die Hoffnung, eine grundstürzende, wahrhaft revolutionäre Transformation gleichsam unbemerkt durch die Hintertür einführen zu können, war die Philosophie der Fabier. Sie brachte ihnen den Ruf des zögerlichen Reformismus, der Inkonsequenz und der Unzuverlässigkeit ein. Shaw erklärte diese Strategie auf dem Internationalen Sozialistenkongress 1896 in London so: „Der Zweck des Vereins der Fabier ist, das englische Volk zu überreden, seine politische Konstitution durch und durch zu demokratisieren und seine Industrien so zu vergesellschaften, dass seine materielle Existenz vollständig vom privaten Kapitalismus unabhängig wird. Die Fabier erheben nicht den Anspruch, das Volk von England oder auch nur die sozialistische Partei zu repräsentieren; sie stellen deshalb keine Kandidaten [für Parlamentswahlen, HS] auf; jedoch verlieren sie keine Gelegenheit, die Wahlen zu beeinflussen und die Wähler zu überreden, Sozialisten als Kandidaten aufzustellen. Die Fabier halten sich von keiner politischen oder sozialreformerischen Organisation fern; sie sind vielmehr bemüht, sich ihnen anzuschließen und sie so weit als möglich mit FabierIdeen zu durchdringen. Fast alle Organisationen und Bewegungen enthalten Elemente, die dem Sozialismus nützlich sein können. – Sozialismus im Sinne der Fabier heißt die Organisierung und Leitung der notwendigen Industrien und die Aneignung aller Formen von ökonomischer Rente durch die Nation, deren Organe die Regierung und die lokalen Verwaltungen sind“.53
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Grunwald 1897, S. 295 Grunwald 1897, S. 296 Zitiert: Beer 1913, S. 464
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Distanz und Nähe: Labour-Party Die Fabian Society war Teil der sozialistischen Bewegung, allerdings ein schillernder. Das zeigte sich bei der Gründung der Independent Labour Party 1893 in Bradford. Der Ruf nach einer von den Liberalen unabhängigen Arbeiterpartei war mit den Wahlen von 1892 lauter geworden. Shaw hatte mit dem „Election Manifesto“, dem 40. Traktat der Fabier, eingestimmt. Darin erklärte er die Politik, Arbeiterkandidaten auf dem liberalen Ticket ins Parlament zu bringen, für gescheitert und plädierte dafür, eigene Kandidaten aufzustellen mit Geldern, die die Gewerkschaften von ihren Mitgliedern einziehen sollten. Die Trade Unions hatten in den großen Arbeitskämpfen der späten achtziger Jahre durch den Zustrom der Ungelernten neue Kraft gewonnen. Der „New Unionism“ hatte aus berufsständischen Gilden mächtige Branchenverbände geformt, die nun die Parteibildung trugen. Erstmals waren drei Arbeiter ohne liberale Unterstützung ins Unterhaus gewählt worden, unter ihnen John Burns, der Held des Bloody Sunday von 1887 und des Londoner Dockerstreiks von 1889, und Keir Hardie, der schottische Bergarbeiterführer und christliche Sozialist. Keir Hardies charismatische Persönlichkeit war die treibende Kraft der Parteigründung, und er wurde deren erster Vorsitzender. Wie sehr unterschied sich das missionarische Klassenbewusstsein dieses Arbeiterführers von dem trockenen Witz und den politischen Winkelzügen der Londoner Fabier. Hardie erschien im Parlament in Arbeitsrock und wollener Schirmmütze, und bei der Geburt des Thronfolgers forderte er die Königin auf, sie möge in ihrer Anzeige auch der verunglückten 251 Bergarbeiter gedenken. Shaw als Wortführer der Fabier wäre um ein Haar nicht zum Gründungskongress der Independent Labour Party zugelassen worden, da er sich noch am Vorabend auf der Zusammenkunft der Fabian Society von Bradford gegen die Parteigründung ausgesprochen hatte, ganz im Widerspruch zu seinem „Election Manifesto“. Auf dem Kongress lenkte er ein, und einmal zu Wort gekommen, dominierte er neben Keir Hardie den Gründungskongress. Die Sektionen der Fabier wurden Teil der Independent Labour Party. Alle Führer der Partei waren aktive Fabier, wie Hardie, der Schatzmeister der Sektion in Yorkshire war, oder Ramsay MacDonald, der im Exekutivkomitee der Society saß.54 Mit der Gründung der Unabhängigen war die Trennung von den Liberalen vollbracht, aber Klarheit über die Ausrichtung der neuen Partei gab es nicht. So grenzte man sich gegen die abwesende Sozialdemokratische Föderation ab, indem man das Etikett „Sozialistisch“ überhaupt zurückwies: „Der englische Trade Unionismus ist die beste Art von Sozialismus und Arbeiterpolitik. Wir müssen die Trade Unionisten gewinnen, denn diese sind wirkliche Sozialisten und nicht nur revolutionäre Lärmmacher“.55
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Beer 1913, S. 470 – 472; Seidel 1961, S. 104 – 110; Ballay 1981, S. 172 – 181; Bédarida et al. 1975b, S. 46 – 48 Beer 1913, S. 471
Ausbleibende Wahlerfolge und spektakuläre Niederlagen in großen Streiks zwangen die Gewerkschaften, sich auf die Sozialdemokraten zuzubewegen. So gelang im Februar 1900 die Gründung des Labour Representation Committee, das alle drei sozialistischen Gruppierungen – Unabhängige, Sozialdemokraten und Fabier – mit den Gewerkschaften vereinte. Nach dem großen Wahlerfolg 1906 bildete sich das Komitee zur Labour Party um. Die Gründungsgeschichte der britischen sozialistischen Partei war also eher eine Sammlungsbewegung. Die Partei hatte keine Individualmitglieder, sondern bildete ein institutionelles Dach, unter dem auch die Fabian Society blieb. Ihre Kraft bezog die Partei aus den mitglieder- und finanzstarken Gewerkschaften. Die Labour Party verschmolz deshalb mehr und mehr mit dem Trade-Unionismus, die sozialistischen Organisationen konnten allenfalls Hefe im Teig sein. Seit 1911 führte Ramsay MacDonald die Labour Party.56 Die neue Partei absorbierte die Tätigkeit der Fabian Society. Gleichzeitig löste sich die alte Garde auf, weil sie kaum noch Zeit für die traditionellen Büroarbeiten, Sitzungen und Publikationen hatte. Mit dem Angriff des Schriftstellers H.G. Wells auf die alte Garde wurde 1906 die Krise in der Fabian Society offenbar.57 Die Webbs waren durch ihre Forschungen in Anspruch genommen, Sidney auch durch seine Tätigkeit im Londoner Stadtrat. Olivier saß als Gouverneur fernab in den Kolonien und wurde später Präsident der Oberrechnungskammer. Bland hatte als Journalist und Zeitungsherausgeber zu tun, Wallas war durch die London School of Economics und die Volkshochschularbeit ausgefüllt. Auch Shaw, inzwischen ein berühmter Autor, verließ 1911 das Exekutivkomitee der Fabian Society. Sie alle blieben der Society insofern treu, als sie ihre Beiträge zahlten und das Büro aufrechterhielten.58 Wichtiger als die vielfältigen Abhaltungen war die innere Entfremdung der führenden Fabier von der Labour Party. Die innere Abkehr der Webbs von den sozialistischen Idealen der frühen Fabier markiert ihr „Minority-Report“ von 1910, der nicht nur die traditionelle Armenpflege überwinden, sondern auch den Einfluss der Gewerkschaften auf Löhne und Arbeitsbedingungen zugunsten des Staates einschränken wollte. Sidney Webb entwickelte sich zum energischen Befürworter staatlicher Sozialpolitik mit dem Ziel, die „nationale Effizienz“ der Arbeit im Dienst des britischen Empire zu heben.59 Auch Shaw ging wegen des TradeUnionismus auf Distanz zur Labour Party. Die Gewerkschaften sah er nicht als Bundesgenossen, sondern als Verhinderer einer sozialistischen Entwicklung; ihr Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder schien ihm bornierter Egoismus, der der Gleichheit aller entgegen stand. Shaw wurde ein Sozialist, der die originäre Arbeiterbewegung ablehnte. Inwieweit die Fabian Society dessen ungeachtet die Funktion eines Think tank der Labour Party gewann, ist strittig. MacDonald führte in der Zwischenkriegszeit zweimal die Labour Party in die Regierung und stand ein drittes Mal einer nationalen Koalition vor. Seine Poli-
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Beer 1913, S. 478 – 482; Phillips 1994, S. 3 – 26 Pearson 1965, S. 300 – 304; Beer 1907a Pearson 1965, S. 301 f. Wittig 1982, S. 220 – 252
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tik war fabianisch im wahrsten Sinne, zögernd, behutsam, auf Kompromisse bedacht. Trotzki schrieb 1925 zur Labour-Politik unter MacDonald: „Die Fabier, die Unabhängigen, die konservativen Bürokraten der Trade Unions sind jetzt die stärksten gegenrevolutionären Kräfte Großbritanniens und der gesamten Weltentwicklung“.60 Das war sicher übertrieben, aber Fabier und Bolschewiki standen an den jeweils äußeren Enden der europäischen sozialistischen Bewegung; der Staatssozialismus verband sie. Eric Hobsbawm, der einst seine Dissertation über die Fabian Society verfasste, entschleierte deren Mythos und spielte ihren Einfluss herunter, verwies aber zugleich auf die Labour-Regierung von 1945, in der unter Clement Attlee als Premier neun weitere Fabier als Minister saßen, die sich auf eine klare Fabier-Mehrheit unter den 394 Abgeordneten stützten.61 Die Sozialgesetzgebung der Labour-Regierung unter dem Premier Attlee war dem Minority-Report der Webbs verpflichtet.62 Bis heute sind die Führer der Labour Party regelmäßig Mitglieder der Fabian Society.63
Drinnen und draußen: Sozialistische Internationale Shaw hat mehr als andere Fabier versucht, mit der europäischen sozialistischen Bewegung in Kontakt zu kommen und dort Einfluss zu gewinnen. Die deutsche Sozialdemokratie mit ihren Wahlerfolgen, ihrer staatspolitischen Orientierung und ihrem sozialpolitischen Reformprogramm schien ihm ein hoffnungsvolles Gegenstück zum abgehobenen Marxismus von Hyndmans Sozialdemokratischer Föderation, möglicherweise ein bisschen fabianisch. Auch auf der Gegenseite war man offen. Im Vorfeld des Londoner Kongresses besuchte Wilhelm Liebknecht London, und er schaute bei den Fabiern vorbei. Shaw hatte das Treffen mit Instruktionen für alle potentiellen Referenten sorgfältig vorbereitet, es kamen aber nur er selbst und James Ramsay MacDonald zu Wort.64 Eduard Bernstein war in seinem Londoner Exil häufiger Gast bei den Vorträgen der Society; in seinen Erinnerungen berichtet er von seinem Besuch der Vortragsserie im Jahre 1888, die ihn zur Lektüre der Fabian Essays führte.65 Möglicherweise hatte sich der Kontakt nach dem Tod von Friedrich Engels intensiviert, der ja mit den Fabiern nichts im Sinn gehabt hatte. In Absprache mit Shaw hielt Bernstein im Januar 1897 bei den Fabiern einen Vortrag über die Aktualität der Lehren von Karl Marx. Dabei sei ihm zuerst die Notwendigkeit einer Revision der Marx’schen Lehre klar geworden, sagte er später.66 60 61 62 63 64 65 66
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Trotzki 1925, S. 64 Hobsbawm 1964c, S. 250 Wittig 1982, S. 270 Pugh 2010 Alexander 2009, S. 126 – 129 Bernstein 1918, S. 242 Alexander 2009, S. 134 f., 138; Schelz-Brandenburg 1992, S. 291; Zusammenfassung des Vortrags in: Hirsch 1977, S. 121 – 123
Die englische Arbeiterbewegung war seit den Zeiten der Ersten Internationale ein besonders wichtiger Teil der internationalen sozialistischen Bewegung. Auch die Fabier hatten dabei ihre Rolle, und Shaw war wiederum ihr Wortführer. Den Sozialistenkongressen in Zürich 1893 und in London 1896 wurden gründliche Arbeitsberichte vorgelegt. Die Reise der Fabier nach Zürich finanzierte derselbe Henry Hunt Hutchinson, aus dessen Vermächtnis später die London School of Economics gegründet wurde. Shaw nahm an beiden Kongressen nicht nur als Delegierter, sondern auch als Korrespondent für den „Star“ teil. Das war eine Doppelrolle, so recht für den Sitz zwischen den Stühlen geeignet. Größeren Eindruck als seine Reden auf den Kongressen machten daheim seine Zeitungsberichte. Er beschrieb die Kongressdebatten etwa im Stile der „Pickwickier“ von Charles Dickens und verärgerte damit die Sozialisten.67 Später gelangten Szenen in seine Dramen, wie die folgende aus „Mensch und Übermensch“ (1902), die unter Straßenräubern spielt. Nicht nur Max Beer las Shaws mangelnden sozialistischen Ernst heraus.68 Die Dialoge gehen wörtlich zurück auf die tumultuarischen Verhandlungen des Londoner Kongresses um den Ausschluss der Anarchisten und auf eine Szene aus dem Streit der französischen Sozialisten um die Beteiligung an liberalen Koalitionsregierungen. Dabei sollen tatsächlich Fäuste geschüttelt und Morddrohungen ausgestoßen worden sein.69 „DER ANFÜHRER Freunde und Miträuber. Ich habe der Versammlung einen Vorschlag zu machen. Wir haben jetzt drei Abende mit der Erörterung der Frage vergeudet, ob die Anarchisten oder die Sozialdemokraten den größeren persönlichen Mut besitzen. Wir sind in die Grundsätze der Anarchie und der Sozialdemokratie eine große Strecke weit eingedrungen. Die Sache der Anarchie wurde durch den einzigen Anarchisten in unserer Mitte, der übrigens von der Anarchie nichts versteht, sehr würdig vertreten. (Gelächter) erhebt sich Zur Geschäftsordnung, Mendoza –
DER ANARCHIST
heftig Nein, zum Donnerwetter: Du hast zu Deiner letzten Geschäftsordnung eine halbe Stunde lang gesprochen! Überdies glauben Anarchisten nicht an Ordnung.
MENDOZA
milde, höflich aber hartnäckig; er ist tatsächlich der anständig aussehende angejahrte Mann im Zelluloidkragen und mit Zelluloidmanschetten) Das ist ein allgemeiner Irrtum, ich kann beweisen –
DER ANARCHIST
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Alexander 2009, S. 120 – 125 Beer 1907b, S. 126 f. Alexander 2009, S. 132
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MENDOZA
Zur Sache, zur Sache – schreiend Zur Sache, zur Sache. Setzen! Vorsitzender! Maul halten!
DIE ANDEREN
Der Anarchist wird unterdrückt. MENDOZA
Wir haben andererseits drei Sozialdemokraten unter uns. Sie sind auf Kriegsfuß und sprechen nicht miteinander. Sie haben uns drei verschiedene und unvereinbare Standpunkte der Sozialdemokratie vorgelegt. Die drei Männer mit scharlachroten Schleifen. ERSTER
Herr Präsident, ich protestiere. Eine persönliche Auseinandersetzung. ZWEITER
Das ist eine Lüge. Das habe ich nie behauptet. Sei gerecht, Mendoza! DRITTER
Je demande la parole. C’est absolument faux. C’est faux! faux! Faux! assa-s-s-ss-sin!!!!! MENDOZA
Zur Sache, Zur Sache! DIE ANDEREN
Zur Sache, Zur Sache! Herr Präsident! Die Sozialdemokraten werden unterdrückt. MENDOZA
Wir dulden hier alle Meinungen“.70 Im Anschluss an den Kongress in London hatte sich Shaw die Frustration in zwei Essays von der Seele geschrieben, einen direkt über den Kongress, den anderen über die „Illusionen des Sozialismus“. Scharfzüngig und unerbittlich sezierte er die drei großen Illusionen: die wissenschaftliche des gesetzmäßigen Fortschritts, die dramatische des proletarischen Helden und
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Shaw 1911, S. 144
die religiöse der Revolution als dies irae. Wenn man sie verabschiede, bliebe nur die ernüchternde Perspektive der Fabier; und der würde kaum einer von zehn enthusiastischen Sozialisten sein Leben weihen wollen. Man müsse eben rundweg einsehen, „dass es keine Revolution geben werde; dass es keinen Klassenkampf gebe; dass die Lohnarbeiter weit konventioneller, vorurteilsvoller und spießbürgerlicher seien als die Mittelklasse; dass es keine einzige demokratisch konstituierte Autorität in England gebe, das Haus der Gemeinen [Unterhaus, HS] mit inbegriffen, die nicht viel fortschrittlicher wäre, wenn sie nicht durch die Furcht vor dem Volksvotum zurückgehalten würde; dass Karl Marx ebenso wenig unfehlbar sei wie Aristoteles oder Bacon, Ricardo oder Buckle, dass er Fehler mache, die heute jedem Nichtgraduierten klar seien, dass ein erklärter Sozialist moralisch weder besser noch schlechter sei als ein Liberaler oder ein Konservativer und ein Arbeiter weder besser noch schlechter sei als ein Kapitalist; […] dass der Sozialismus in den nüchternen Raten öffentlicher Einrichtungen und öffentlicher Verwaltung durch gewöhnliche Parlamente, Gemeinderatsversammlungen, Magistrate, Gemeindeversammlungen, Schulkommissionen und dergleichen anmarschiert kommen werde; und dass keine einzige von diesen Raten auf eine Revolution hinauslaufen oder eine wichtigere Stelle in dem politischen Programm des Tages einnehmen werde als ein Fabrikgesetz oder ein Provinzverwaltungsgesetz; was alles bedeute, dass das Los des Sozialisten ein Los hartnäckiger politischer Plackerei, aber nicht in einem Kampfe mit den boshaften Anschlägen des Kapitalisten, sondern im Kampfe mit der Dummheit, der Engherzigkeit, mit einem Worte der Idiotie (in des Wortes voller und ursprünglicher Bedeutung) aller Klassen und insbesondere der Klasse sein werde, die am meisten unter der bestehenden Ordnung leide“.71 Überraschend schließt er diesen desillusionierenden Sermon: „Dessen ungeachtet begeistert uns der Schlachtruf des kommunistischen Manifests: ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘ noch immer; und wir gewinnen einen törichten, aber wirksamen Mut, wenn wir dem nur in unserer Einbildung hörbaren Tritt von Millionen Arbeitern lauschen, die zu den mächtigen Kolonnen der Revolution stoßen“.72 Als die beiden Essays von Shaw im Herbst 1896 in der Wiener Zeitschrift „Die Zeit“ erschienen, bat der österreichische Parteiführer Victor Adler Karl Kautsky um eine prinzipielle Entgegnung. Kautsky wiegelte ab, Shaws Schriften enthielten „nichts, was nicht jeder von uns schon hundert Mal zu sich und anderen gesagt hat“. Man erinnert sich, ähnlich hatte er zunächst auf Bernsteins provokante Thesen reagiert. Obwohl er mit den Fabiern theoretisch nicht übereinstimme, wären sie weniger schädlich als die Orthodoxie von Hyndmans Sozialdemokraten. Die Auseinandersetzung überlasse er gern Eduard Bernstein.73 Der befasste sich im folgenden Frühjahr kritisch mit Shaws Essays, machte aber keinen Hehl daraus, dass er eher 71 72 73
Shaw 1927, S. 240 f. Shaw 1927, S. 253 f. Alexander 2009, S. 136 f.
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dem Eklektizismus der Fabier als dem Utopismus des orthodoxen Marxismus zuneigte.74 Bernstein bescheinigte Shaw, den Sozialismus trotz seiner Vorliebe für satirische Paradoxien sehr ernst und gewissenhaft zu nehmen, ein Urteil, das er in seinen späteren Erinnerungen an die Londoner Zeit mit einem sehr positiven Charakterbild Bernard Shaws vertiefte.75 In den folgenden Jahren wuchsen die Gegensätze in dem Maße, wie die deutschen Sozialdemokraten ihren Marxismus festschrieben und international durchzusetzen suchten. Bernard Shaw antwortete auf eine redaktionelle Umfrage der „Sozialistischen Monatshefte“ nach dem Parteitag in Hannover 1899: „Der Bericht der Fabian Society an den Internationalen Sozialistenkongress vom Jahr 1896 zeigt Ihnen, dass der Kampf, welchen Bernstein jetzt für die Reform der sozialdemokratischen Partei in Deutschland beginnt, in England von der Fabian Society bereits durchgefochten und glücklich beendet ist. Ich bin natürlich durch und durch Bernsteinianer“.76 In dem Grundsatzstreit um die Beteiligung von Sozialisten an bürgerlichen Regierungen, der auf dem Amsterdamer Kongress 1904 vornehmlich zwischen August Bebel und Jean Jaurès ausgetragen wurde, nahm Shaw entschieden die Partei des Franzosen. Das entsprach der Durchdringungsstrategie der Fabier, aber auch ihren staatssozialistischen Überzeugungen, die sie mit dem republikanischen Sozialismus von Jaurès teilten. Allerdings war der sozialistische Republikanismus der Franzosen strikt demokratisch angelegt, während Shaw Wahlen und Parlamentarismus immer skeptischer beurteilte. Er traute der Schwarmintelligenz der Massen nicht. Vor allem sah Shaw in Amsterdam eine trügerische Einheit zwischen Befürwortern und Gegnern von Koalitionsregierungen hergestellt, die ihm sachlich und persönlich zuwider war: „Ich weise es unbedingt zurück, mit irgendjemandem über irgendeinen Gegenstand übereinzustimmen, was es auch immer sei. Möge er mit mir übereinstimmen, wenn meine Argumente ihn überzeugen; wenn nicht, mag er bei seinen eigenen Ansichten bleiben. Ich werde nicht meinen Mund halten und mein Denken drosseln wegen des Appells ‚Wir sind Brüder‘“.77 Im Jahr 1907 erschien dann in der „Neuen Zeit“ ein Artikel von Max Beer über Shaw als Dramatiker und Sozialist, der nicht nur seine Gegnerschaft zum Marxismus herausstellte, sondern ihn förmlich aus der sozialistischen Bewegung exkommunizierte: „Der kritische Sinn führte ihn zum Sozialismus, aber derselbe Sinn macht es ihm unmöglich, innerhalb der sozialistischen Bewegung, die zur Achse eine feste Wahrheit haben muss, zu bleiben. Sein Sozialismus ist ihm ja auch nicht ein Ziel, sondern ein Mittel, das man wegwerfen oder modifi-
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Bernstein 1897 Bernstein 1896, S. 80 Shaw 1899, S. 615 Zitiert: Alexander 2009, S. 144
zieren kann, wenn und wie es der Kritik passt“.78 Anlass mag ein Artikel gewesen sein, den Shaw zuvor dem „Vorwärts“ eingereicht und zurück bekommen hatte. Darin hatte er die deutsche Sozialdemokratie in der bekannten Weise abgekanzelt.79 Beers Urteil wird Bernard Shaw nicht gerecht, denn er, der seit mehr als zwanzig Jahren für den Sozialismus gelebt und gestritten hatte, fuhr auf seine Weise damit fort bis zum Lebensende – nur feste Wahrheiten mochte er eben nicht.
Der Dramatiker: Anti-Helden und Übermenschen Bernard Shaws Aufstieg als Dramatiker begann nicht erst um 1904, als er den Hauptteil seiner Zeit und Arbeitskraft von der Politik abzuziehen und auf die schriftstellerische Arbeit zu lenken begann. Die Wahlniederlage in St. Pancras und die für ihn enttäuschende Entwicklung in der internationalen sozialistischen Bewegung mögen zusammen gewirkt haben, um diese Akzentverlagerung des nun fast 50-jährigen Shaw zu bewirken. Ein gutes Dutzend der 45 Komödien waren schon geschrieben, und der Erfolg wenigstens einiger, zumindest in Amerika, hatte ihn vom ständigen Geldmangel erlöst. Für seine unermüdliche Vortragstätigkeit hatte Shaw nie einen Penny Honorar genommen, um unabhängig zu bleiben. Selbstredend trug auch die Abfassung fabianischer Traktate nichts ein. So war er froh, mit Hilfe der amerikanischen Honorare Ende der 1890er Jahre die zeitraubende Rezensententätigkeit für den „Star“ und die „Saturday Review“ aufgeben zu können.80 Den Durchbruch auf den europäischen Bühnen verdankte er schließlich dem österreichischen Übersetzer Siegfried Trebitsch, denn erst über Wien und Berlin wurde Shaw auch in London eine Berühmtheit.81 Den Anstoß für Shaws Laufbahn als Dramatiker gab eine Sommerschule der Fabier 1890, die sich dem Sozialismus in der Literatur widmete. Shaw „nahm sich Ibsen vor“, den er bis dahin nur vom Hörensagen kannte. Über Ibsen kam er zu einer Poetik des modernen sozialistischen Dramas und nahm seine eigene künstlerische Produktion wieder auf, nun als Dramatiker statt als Romancier.82 Sein großer Essay „Die Quintessenz des Ibsenismus“ legte die Verstörung als Kern von Ibsens Dramen bloß. Ibsen entblößte die Tyrannei und die Fragwürdigkeit der Tugendideale. Die Moral seiner Stücke zeige, wie viel verheerender es sein könne, sich diesen Idealen zu opfern, als sie mit Füßen zu treten.83 Die Ideale seien ja nichts anderes als Masken, hinter denen die Menschen ihr Leiden an den Institutionen zu verbergen suchten. Die Wandelbarkeit der Institutionen, besonders von Ehe und Familie, sei Ibsens großes Thema.84 Shaw
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Beer 1907b, S. 124 f. Wittig 1982, S. 129 Pearson 1965, S. 240 Holroyd 1995, S. 428 – 435; Knoll 1992 Evans 2003; Dukore 1980; Dukore 2000 Shaw 1908, S. 158, 167 Shaw 1908, S. 9
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illustriert dann diese Wandelbarkeit nicht mit Bezug auf Ehe und Familie, sondern auf die für den Sozialismus zentrale Eigentumsfrage. Er kommt auf Proudhon zu sprechen, „der nahezu vor einem halben Jahrhundert das ‚Eigentum‘ verleumdete und Diebstahl nannte. Man hielt diesen Ausspruch für das tollste Paradoxon, das je ein Mensch gewagt hatte; es schien auf der Hand zu liegen, dass eine Gesellschaft, die eine solche Behauptung unterstützen wollte, sofort in den Zustand einer geplünderten Stadt versetzt werden würde. Heutzutage sind Vorschläge, durch Besteuerung der Minenanteile und Grundrenten das Vermögen zu konfiszieren, Gemeinplätze der sozialen Reform“.85 Shaw folgte Ibsens Spuren, aber er riss die Masken auf spezifisch fabianische Weise herunter. Anders als Ibsen weckte er kein Mitleid mit seinen Figuren, und anders als bei Ibsen sind diese kaum in Gefahr, Opfer ihrer Ideale zu werden. Der Umgang mit den Masken erscheint in Shaws Stücken routiniert bis spielerisch, sie werden recht umstandslos fallen gelassen, wenn die Selbstbehauptung im herrschenden System es erfordert. In seinem ersten Stück „Die Häuser des Herrn Sartorius“ (1892) ist es nicht eine einzelne Institution, die angeklagt wird. Der Mietwucherer und sein verächtlicher Mieteintreiber sind kaum schuldiger, als der Angehörige der Aristokratie, der seine Renten aus diesem Immobilienkapital bezieht, oder als die gebildete junge Dame, deren Erziehung aus solchem Geld bezahlt wurde. Alle profitieren, und so muss am Ende die Mitgift nicht zurückgewiesen werden, die Empörung kann sich legen und die Hochzeit stattfinden. Shaw verarbeitete hier seine Jugenderfahrungen bei dem Dubliner Immobilienmakler und die Forschungen der Webbs zur Wohnungsfrage. Wen wundert es, dass dieses Lehrstück kein Erfolg wurde. Nicht viel anders ging es dem nächsten Stück „Frau Warrens Gewerbe“, in dem sich die Heldin zunächst aus proletarischer Not prostituierte. Inzwischen machte Frau Warren als Bordellbesitzerin ein blühendes Geschäft daraus, und einer ihrer ehemaligen Kunden – alles ehrbare Herren – ist ihr Teilhaber. Angesichts der Hungerlöhne junger Arbeiterinnen bekommt dieses Gewerbe auch stets Nachwuchs. Die Illusion der Wohlanständigkeit, die auch in diesem Stück schrittweise abgebaut wird, kann nicht durch neues Einvernehmen ersetzt werden, denn der Inzestverdacht schwebt unabweisbar über den Verlobten. Auch in diesem Stück wird die emanzipierte Tochter nicht unbedingt sympathisch, wenn sie die Mutter mit der Geste moralischer Überlegenheit endgültig zurückweist. Für „Frau Warrens Gewerbe“ kam der Erfolg durch ein Missverständnis. Die britischen Behörden verweigerten die Lizenz zur Aufführung, worauf man in Amerika schreckliche Obszönitäten witterte und die Kassen stürmte. Sogar der Zensor fühlte sich getäuscht, als er im Textbuch nichts dergleichen fand.86 Shaw ging es um mehr als viktorianische Doppelmoral. Auch wo die Komödien ins Burleske gehen, bleiben sie Lehrstücke. So werden in „Helden“ (1894) die Ideale der romantischen Liebe, der nationalen Begeisterung und der militärischen Tapferkeit dem Zuschauer schon deshalb suspekt, weil sie in der zivilisatorisch rückständigen Balkangesellschaft blühen. Erlösung bietet der in serbischen Diensten stehende schwei85 86
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Shaw 1908, S. 15 Pearson 1965, S. 225 f.
zerische „Pralinésoldat“ Bluntschli, der mit fabianischer Nüchternheit den glücklichen Heimweg der bulgarischen Truppen organisiert und die realen Gefühle hinter den Masken weckt. Er soll dem Freund Webb nachgebildet sein. Erst eine Aufführung im Berliner Schillertheater 1921 machte das Stück den Bulgaren bekannt. Der Verein bulgarischer Studenten nötigte den Regisseur, die Vorstellung für eine Verteidigungsrede zu unterbrechen. Shaw gilt den Bulgaren seither als Ahnherr aller Verächter ihres Landes.87 Wenn der Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr meinte, „Bernard Shaw ist das Lachen von Karl Marx“, hatte er solche Wirkungen nicht bedacht.88 Shaw verband in seinen reiferen Jahren den fabianischen Reformismus mit der Idee einer „schöpferischen Evolution“. Diese Gedanken äußerte er zum ersten Mal in seinem großen Wagner-Essay von 1898. Wagner habe nach den desillusionierenden Erfahrungen der Revolution von 1848/49 und der Pariser Kommune von 1871 den Glauben an den revolutionären Sieg über den Kapitalismus – also über Alberich, Loke und Wotan – aufgegeben. Damit habe er auch seinen Helden Siegfried fallen gelassen und sich auf Parzivals Botschaft der Demut und christlichen Liebe zurückgezogen.89 Für Shaw ist jedoch Siegfried die Hoffnung auf die wahre Götterdämmerung im „Neuprotestantismus“, in einer radikal gottlosen, menschlichen Welt. Er ist „der geborene Anarchist, das Idealbild von Bakunin, eine Vorahnung von Nietzsches ‚Übermensch‘“.90 Nachdem Shaw kaum je an die Arbeiterklasse geglaubt hatte, fand er auch die parlamentarische Demokratie angesichts der konservativen Vorlieben des Wahlvolks wenig zur Weltverbesserung geeignet; denn die Demokratie könne nicht besser sein, als „das Menschenmaterial, aus dem ihre Wahlmänner gemacht sind“.91 Shaw unterbreitete seine sozialphilosophischen Anschauungen in dem „Katechismus des Umstürzlers“, den er seinem 1902 geschriebenen Stück „Mensch und Übermensch“ beigab, und in „Die Fünf Dezennien des Unglaubens“, dem Vorwort zu „Zurück zu Methusalem“ (1921). In dem ersten Stück bringt der Revolutionär Tanner – Shaws alter ego – seinen Katechismus unter die Leute und in die Hölle. Dort will er den Teufel überzeugen, dass der Übermensch die einzig verbliebene Hoffnung sei: „Der einzige grundlegende und mögliche Sozialismus ist die Verallgemeinerung der Zuchtwahl des Menschen, mit anderen Worten: die Verallgemeinerung der menschlichen Evolution. Wir müssen den Yahoo ausrotten, oder sein Votum wird den Staat und die bürgerliche Gesellschaft zugrunde richten“.92 Als Yahoo bezeichnet er die gegenwärtige Stufe menschlicher Evolution nach den primitiven Kreaturen in Jonathan Swifts Erzählung von Gulliver bei den klugen Pferden. In dem zweiten Stück, das aus fünf Einzelstücken über mehrere Abende besteht, unternimmt Shaw eine lange Reise durch die Menschheitsgeschichte von der Schlange im Paradies bis zu den langlebigen Übermenschen einer fernen Zukunft. Beides sind mehr philosophische Lehrstücke als Komödien oder Dramen. 87 88 89 90 91 92
Petrov, Gehl 2007; Petrov 2007 Zitiert bei: Bauer, Margarete 1924 Shaw 2004, S. 141 Shaw 2004, S. 72 Shaw 1952b, S. 199 Shaw 1952b, S. 225
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Shaws Evolutionsverständnis orientierte sich nicht an Darwin. Mit ähnlicher Vehemenz, wie er Marx nach der Bekanntschaft mit dessen Hauptwerk zu widerlegen begann, ging Shaw an die Entthronung Darwins. Damit befand er sich in radikalem Gegensatz zu Karl Kautsky, der sich in beiden Fällen zum Jünger machte. Aber waren die Ergebnisse ihres Denkens am Ende ebenso konträr wie der Gestus? Allerdings, sie waren es. Kautsky dachte die historische Mission der Arbeiterklasse über Marx hinaus bis zum demokratischen Sozialismus unter deren Führung; Shaw entkleidete gegen Marx die Arbeiterklasse jeglicher Mission und entwarf die totalitäre Diktatur einer sozialistischen Elite. Kautsky sah die Darwinsche Evolution durch Prinzipien der Kooperation bestimmt und leitete daraus eine optimistische Geschichtssicht ab. Für Shaw war ein positiver Gang der Evolution ohne willentliches Eingreifen nicht denkbar; er wollte verhängnisvolle Pfadabhängigkeiten, die er in Darwins Lehre erkannte, durch menschliche Selbstbestimmung überwinden.93 Shaw berief sich auf den Willen Arthur Schopenhauers, den Übermenschen Friedrich Nietzsches und die Lebenskraft des Franzosen Henri Bergson. Im gleichen Atemzug beharrte er darauf, über den herrschenden Zeitgeist hinaus kein Anhänger dieser Philosophen zu sein. Mehr als anderen war er Samuel Butler verpflichtet, dem kritischen Evolutionstheoretiker und Autor des utopischen Romans „Erewhon“. Mit Butler wollte Shaw an die Stelle des blinden Zufalls der darwinschen Evolutionstheorie die genetische Fixierung von Wirkungen der Lebenskraft setzen.94 Es ging ihm also um die Vererbung erworbener Eigenschaften, die Jean-Baptiste de Lamarck vor Darwin zur Basis seiner Evolutionstheorie gemacht hatte. Shaw rief Butler noch einmal als Gewährsmann auf, als er sich dreiundneunzigjährig in dem Streit um den Mitschurin-Schüler Trofim D. Lyssenko zu Wort meldete, natürlich auf Seiten Lyssenkos.95 Die Umsetzung sah Shaw ganz praktisch: „Aber die Entwicklung des Holzapfels zum Pipinapfel, des Wolfes und des Fuchses zum Haushunde, des Schlachtrosses Heinrich V. zum Zug- und Rennpferde ist eine Wirklichkeit, denn hier hat der Mensch Gott gespielt, indem er die Natur seinen Zwecken unterwarf und das Leben für einen bestimmten Zweck veredelte oder erniedrigte. Und was man mit einem Wolf machen kann, das kann man auch mit einem Menschen machen“.96 So wie der Sportler seine Muskeln trainiert, wollte der arbeitsbesessene Asket, der exzessive Freizeitsportler und Meister der Sublimierung seiner Sinnlichkeit Geist und Talente durch entsprechende Lebensführung zur Vollendung treiben. Die Selbstkultivierung bis ins Körperliche war immer schon der Weg der Eliten, wie Askese deren wahres Kennzeichen ist – human enhancement ohne Apparate und Chemie. Shaw wollte jedoch nicht Eliten bilden, sondern die Gattung als solche zum Übermenschentum, zum Neuen Menschen führen. Es ging ihm um die Verallgemeinerung einer guten Menschenaufzucht. Der Demos müsse genau so sorg-
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Shaw 1952c, S. 466 – 486 Gräfrath 1997, S. 49 – 51 Shaw 1949b Shaw 1952b, S. 183
fältig aufgezogen werden, wie bisher die Könige. Vor allem müsse die Zuchtwahl des Menschen revolutioniert werden: „Die Menschheit in kleine Sippschaften zerstückeln und die Wahl des Individuums auf seine eigene Sippschaft beschränken heißt: das Erscheinen des Übermenschen auf Äonen, wenn nicht auf ewige Zeiten hinausschieben. Es sollte nicht nur jeder Mensch daraufhin ernährt und erzogen werden, möglicherweise einmal Vater oder Mutter zu werden, sondern es sollte bei der natürlichen Wahl auch nicht die Möglichkeit eines solchen Hindernisses geben, wie den Einwand einer Gräfin gegen einen Erdarbeiter, oder den eines Herzogs gegen eine Scheuerfrau“.97 Shaws Programm verknüpfte die Veredlung der Menschheit mit der Gleichheit. Er forderte nicht nur die Abschaffung des Eigentums, auch die Ehe, soweit sie sich auf die Fortpflanzung bezog, solle liquidiert werden, damit völlig freie Gattenwahl hergestellt sei. Jedermann müsse über das gleiche Einkommen verfügen, prinzipiell gleiche Lebensbedingungen haben und auf gleiche Weise erzogen werden: Krieg den Palästen und den Hütten, ZweiteKlasse-Abteile und hygienische Wohnungen für alle! Ein allgemeines, für ein menschenwürdiges Leben hinreichendes Grundeinkommen für Arbeitsunfähige und Arbeitslose als erster Schritt dorthin erschien ihm machbar; er unterstützte deshalb mit ganzem Einsatz die Kampagne für den Minority-Report, den Beatrice Webb als Mitglied der Königlichen Kommission für die Armengesetze 1909 einbrachte. Seine Enttäuschung über das Scheitern im Parlament war groß.98 Die Einkommensgleichheit wurde danach immer mehr zum militanten Kern von Shaws Sozialismus. Das ist nur nachzuvollziehen, wenn man den philosophischen Kontext bei Shaw bedenkt: „Der einzige grundlegende und mögliche Sozialismus ist die Verallgemeinerung der Zuchtwahl des Menschen, mit anderen Worten: die Verallgemeinerung der menschlichen Evolution“.99 Bernard Shaws Programm war gerade nicht rassistisch oder sozialdarwinistisch, oder was man an Etiketten rascher Distanzierung finden möchte. Es beruhte auf der Überzeugung von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen und von der Macht der Erziehung. Die liebenswürdigste Illustration gab der Autor in „Pygmalion“ (1913), wo Blumenfrau und Herzogin nach kurzem Training ununterscheidbar sind. Die Dramen von George Bernard Shaw sind grundsätzlich missverstanden worden, gerade auch dort, wo sie unterhalten und erhoben haben. Er bekam 1925 den Nobelpreis für Literatur zugesprochen. Die Übergabe zog sich hin, weil es Debatten um das Preisgeld gab, das Shaw zurückwies und schließlich als Stiftung zur Übersetzung schwedischer Autoren ins Englische bestimmte. Per Hallström als Laudator der Schwedischen Akademie rühmte vor allen ande-
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Shaw 1952b, S. 187 Alexander 2009, S. 203 f. Shaw 1952b, S. 225
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ren Werken sein jüngstes, die „Heilige Johanna“. Johannas Heldentum stehe einzig da in einer Zeit, die Heldentum kaum noch gelten lasse.100 Aber das war ganz und gar nicht Shaws Absicht. In der Vorrede dekonstruiert Shaw gerade die romantische Idealisierung Johannas ins Heldenmäßige durch Friedrich Schiller und andere Dichter.101 Er schrieb das Werk 1923, nachdem die römische Kirche die Jungfrau heiliggesprochen hatte, und das Stück war ein Protest gegen diesen Akt. Im Epilog wird der Revisionsprozess, mit dem Karl VII. von Frankreich den Makel seiner Krönung durch die Ketzerin abwaschen wollte, als korrupter Schwindel gezeigt, genauso ein Schwindel wie die Heiligsprechung, mit der die Kirche Johanna in ihren Schoß zurückholen wollte. Der moderne Überbringer dieser neuesten Botschaft macht im Epilog eine klägliche Figur. Den Inquisitionsprozess hingegen zeigt Shaw als rechtmäßig in seiner Zeit. Johanna war nach den katholischen Maßstäben eine Ketzerin, die auf ihre Stimmen hörte und nicht auf die Kirche. Shaw zeichnet Johanna als ein schlichtes Bauernmädchen von ungewöhnlicher körperlicher Stärke und außergewöhnlicher Einbildungskraft, Ausdruck „jener treibenden Kraft, die hinter jeder Entwicklung steckt und die ich eben den Hunger nach Weiterentwicklung genannt habe“.102 Shaw zeigt sie uns als das weibliche Gegenstück zum Siegfried in Wagners Nibelungen-Ring, als den weiblichen Übermenschen. Heilig ist sie als Trägerin der vorwärts treibenden Lebenskraft, als Verkörperin eines künftigen edleren Geschlechts. Dazu stimmen die Schlussworte Johannas: „O Gott, der du diese wundervolle Erde geschaffen hast, wie lange wird es dauern, bis sie bereit sein wird, deine Heiligen zu empfangen, wie lange, o Gott, wie lange?“103
Der Frauenversteher In Shaws Stücken sind Frauen die interessantesten Figuren; sie sind emanzipierte Frauen, fern vom viktorianischen Ideal der aufopferungs- und hingebungsvollen, schutzbedürftigen Kindfrau. Shaw verabscheute weibliche Selbstaufopferung aus Grundsätzen wie aus Erfahrung: „Jeder, der Gegenstand einer solchen Verblendung wird, schreckt instinktiv davor zurück. Die Liebe verliert ihren Reiz, wenn sie nicht frei ist“.104 Die Frauen sind bei Shaw die eigentlichen Trägerinnen der „Lebenskraft“, auf sie kommt es bei der Evolution an. Sie sind daher die Jägerinnen des Mannes, auf der Jagd nach dem bestgeeigneten Vater ihrer Nachkommen. Max Beer hat diesen Angelpunkt von Shaws Dramatik geistreich am verkehrten Don-JuanStück „Mensch und Übermensch“ erörtert.105 Die Emanzipation der Frau ist so gesehen Mittel der Evolution, Befreiung zur unbeschränkten Selbstvervollkommnung und Partnerwahl.
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Hallström 1967, S. 25 Shaw 1967b, S. 208 – 212 Shaw 1967b, S. 197 Shaw 1967a, S. 390 Shaw 1908, S. 47 Beer 1907b, S. 87 – 94
Deshalb wehrte Shaw sich so vehement dagegen, seinem populären „Pygmalion“ das Happyend zu geben, das Zuschauer und Regisseure immer wieder forderten. In seinem essayistischen „Nachwort“ erzählt er die Geschichte weiter: Nicht Higgins, sondern Freddy EynsfordHill soll Eliza heiraten, dieser verwöhnte Nichtstuer, der ihre Rippenstöße braucht, um einige Lebenstüchtigkeit zu erwerben. Schließlich werden beide mit geborgtem Geld, gesellschaftlichen Beziehungen und einigen Buchhaltungskursen ein gut gehendes Blumengeschäft gründen, das die Familie anständig erhält.106 Für Verfilmung und Musical musste er am Ende doch dem allgemeinen Verlangen nachgeben und Eliza mit Higgins verbinden.107 Man kann annehmen, dass Bernard Shaws Frauenbild durch die Mutter früh geprägt und in der Fabian Society bekräftigt wurde. Dort war ein ungewöhnlich großer Teil der Mitglieder weiblich. Im Jahre 1912 waren es insgesamt 30 Prozent, unter den Londoner Mitgliedern sogar 43 Prozent, derselbe Anteil wie schon 1890, zu Zeiten von Shaws lebhaftestem Wirken.108 Neben Annie Besant und Beatrice Webb traten die Anarchistin Charlotte Wilson, die Australierin Maud Pember Reeves und Charlotte Payne-Townshend hervor. Anfangs hielten die Fabier wie alle Sozialisten die Frauenfrage für eine abgeleitete, also nachrangige, obwohl entsprechende Forderungen nach Wahlrecht und gleicher Entlohnung für Frauen schon in den Fabian Essays enthalten waren. Die Suffragettenbewegung für das Frauenwahlrecht rüttelte die Fabier auf, und Maud Pember Reeves formierte ein spezielles Frauenkomitee.109 Shaw war einbezogen, er verfasste gemeinsam mit Beatrice Webb Schriften zur politischen Vertretung und arbeitsrechtlichen Stellung der Frau und sah die Frauenfrage zunehmend als ein zentrales Problem des Sozialismus. Bernard Shaw lebte in der Fabian Society und ihrem weiteren sozialistischen Umfeld unter vorzüglich gebildeten, geistreichen und meist sehr ansehnlichen Töchtern der englischen Mittelklasse. Er bewegte sich unter ihnen souverän und charmant. Gibbs stellt die ersten fünfzehn Jahre in der Fabian Society unter die Überschrift „Ein Fabianischer Don Juan“.110 Das mag zutreffen, wenn man den kontemplativen Don Juan aus „Mensch und Übermensch“ im Blick hat. Shaw, der als erfolgloser Romanautor mönchisch lebte und dann eine längere, sehr irdische Beziehung mit Jane Patterson hatte, einer Witwe und Schülerin seiner Mutter, knüpfte mit Vorliebe geistig erotische Bande. Leicht geriet er dabei in die Rolle des „Sonntagsgatten“, wie er es selbst nannte, des aufmerksamen Verehrers vernachlässigter Frauen. So saß er bei der schönen Eleanor Marx, musizierend, lesend und über das Theater debattierend, das auch sie leidenschaftlich liebte, während der unzuverlässige Edward Aveling eigene Wege ging.111 Shaw zog sich vor dem tragischen Ende dieser informellen Ehe zurück und knüpfte flugs ähnlich zarte Bande zu Edith Bland, der Frau von Hubert Bland, dem Mitbegründer der Fabian Society. Frau Bland war eine sehr aparte Autorin von Kinderbüchern. Auch hier kam er so ge-
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Shaw 1967c, S. 165 – 180 Shaw 1967c, S. 390 Beer 1913, S. 467; Hobsbawm 1964c, S. 268 Pugh 2010, S. 106 – 116 Gibbs 2005, S. 103 – 122 Holroyd 1995, S. 141 – 143; Gibbs 2005, S. 112
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rade noch mit heiler Haut und ohne Schuld davon.112 Weniger gut ging es mit William Morris’ Tochter May. Als ständiger Gast im Haus des Künstlers hatte Shaw ein inniges Einverständnis mit May entwickelt, das beide als stilles Verlöbnis nahmen. May wartete und wartete auf Shaws Erklärung und heiratete schließlich einen anderen. Nun trat Shaw als Dritter im Bunde wieder auf, bis die Ehe zerbrach. Zu der Zeit liebte er schon wieder anderswo.113 Indem er sich dem Theater verschrieb, wurden Schauspielerinnen Gegenstand der Liebe und Verehrung. Intensiv und rückhaltlos war seine Bindung an Ellen Terry, wohl weil es eine Briefliebe war. Sie vermieden die Begegnung bis ganz zum Schluss.114 Die Biografen berichten ausführlich über diese und andere Beziehungen des großen Liebhabers George Bernard Shaw, unter die auch seine Heirat keinen Schlusspunkt setzte. Für die verehrten Schauspielerinnen schrieb er seine großen Rollen, und die geliebten Sozialistinnen fanden sich in seinen Heldinnen wieder. Shaw war ein Frauenversteher, er kannte die merkwürdigen Wege des weiblichen Denkens und Fühlens wie kaum ein anderer moderner Dramatiker, und seine Stücke leben durch die Frauengestalten.
George Bernard Shaw in Ayot Saint Lawrence, auf seine zum Sonnenlicht rotierende Schreibhütte schauend
112 Holroyd 1995, S. 143 – 147; Gibbs 2005, S. 131 f. 113 Holroyd 1995, S. 203 – 210; Gibbs 2005, S. 113 f. 114 Holroyd 1995, S. 308 – 320; Terry 1931
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So sehr Shaw der Liebe zugeneigt war – nicht als romantisches Gefühl, sondern als leidenschaftliche geistig erotische Bindung – so wenig hielt er von der Ehe als einer Zwangsinstitution zur zivilisierten Kanalisation der Fortpflanzung, wie er es nannte.115 Gelten ließ er die Ehe als geordnete Häuslichkeit zur Steigerung von Wirtschaftlichkeit und Bequemlichkeit.116 So wird verständlich, warum er 1898 doch noch heiratete. Die resolute Charlotte PayneTownshend bemühte sich um ihn, eine Freundin der Webbs, Irin wie er und – anders als er – wohlhabend. Als Shaw an einer ziemlich üblen Fußentzündung litt, das Bett hüten und seine vernachlässigten Junggesellenumstände offenbaren musste, pflegte sie ihn und brachte ihn – noch humpelnd – zum Standesamt.117 Beide waren über vierzig, eher guten Mutes als romantisch gestimmt, und vor ihnen lagen viereinhalb Jahrzehnte einer asexuellen harmonischen Ehe, wie alle Biografen übereinstimmend behaupten. Nach seinem siebzigsten Geburtstag wandte sich Shaw – angestoßen durch seine Schwägerin – mit der Summe seiner politischen Überzeugungen und Einsichten an das weibliche Geschlecht, dessen Lieblingsautor er war. Getreu dem alten Fabier-Motto „Educate! Agitate!“ wollte der „Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus“ (1928) die gebildeten Frauen der englischen Mittelklasse für seinen Sozialismus gewinnen. Für seine Leserinnen ging er die Problemkreise der „Fabian Essays“ von einst wieder durch und verband sie mit seinem neuem Credo der Einkommensgleichheit: „Sie können, wenn es Sie lockt, alle die Bücher lesen, die zur Erklärung des Sozialismus geschrieben worden sind. Sie können den utopistischen Sozialismus des Sir Thomas Moore studieren, den theokratischen der Inkas, die Grübeleien Saint-Simons, den Kommunismus Fouriers und Robert Owens, den sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus von Karl Marx, den christlichen Sozialismus des Domherren Kingsley und des hochwürdigen F.[rederick] D.[enison] Maurice, William Morris ‚Neues aus Nirgendland‘ (ein literarisches Meisterwerk, das Sie auf jeden Fall lesen sollten), den verfassungsmäßigen Sozialismus von Sidney und Beatrice Webb und der hochachtbaren Gesellschaft der Fabier, und verschiedene phantastische Abarten des Sozialismus, gepredigt von jungen Männern, die noch nicht Zeit hatten, berühmt zu werden. Aber so klug sie alle sein mögen: Verlangen sie nicht Gleichheit des Einkommens, so verlangen sie nichts, was die Zivilisation retten könnte“.118 Das Buch war unglaublich erfolgreich. Bis 1931 erlebte allein die deutsche Übersetzung zwanzig Auflagen. Ramsay MacDonald meinte, es sei das bedeutendste Buch der Menschheit neben der Bibel. Die fünfte britische Auflage erschien als billige Volksausgabe pünktlich zum Wahlkampf 1929, der Labour unter Ramsay MacDonald zurück an die Regierung führte. Gerade war das Wahlalter für Frauen von 30 auf 21 Jahre gesenkt worden, und man schrieb es durchaus Shaws Buch zu, einen Teil dieser fünf Millionen neuen Stimmen der Labour Party
115 116 117 118
Shaw 1908, S. 30 – 33 Shaw 1952b, S. 190 – 192 Holroyd 1995, S. 388 – 398 Shaw 1928, S. 136
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zugeführt zu haben.119 Die Jungwählerinnen hatten sich offenbar nicht abschrecken lassen von Shaws Urteil über weibliches Wahlverhalten: „Die Vorstellung, dass die Wählerin politisch klüger oder vornehmer sein werde als der Wähler, erwies sich als ebenso große Täuschung wie die frühere, dass der Geschäftsmann politisch weiser wäre als der Landedelmann oder der Handarbeiter weiser als der Mann des Mittelstandes“.120
Im Bann der Diktatoren Shaw war nie ein unbedingter Befürworter der parlamentarischen Demokratie gewesen. Zu ungebildet fand er den Demos für die Wahl und Vertretung der eigenen Interessen, zu unkritisch der Agitation der Konservativen zugeneigt. Zugleich glaubte er lange an die Einrichtung des Sozialismus auf dem Weg der Wahlen und der Gesetzgebung. Die Institutionen der gleichen Bildung und Lebensführung müssten dann die breite Bevölkerung heben. Die Erfahrungen von Krieg und Revolution haben Shaws Denken radikalisiert und seinen Glauben an die Demokratie vernichtet. In der großen Antikriegsschrift „Common Sense about the War“ (1914), in den ersten Monaten des Kriegs geschrieben, rechnete er mit der Verlogenheit der westlichen Demokratien ab, die sich mit der russischen Autokratie verbanden, anstatt die Friedenskarte zu ziehen, die durchaus im Spiel gewesen wäre. Er geißelte die Unfähigkeit der englischen politischen Klasse und deren Missachtung der Soldaten, die mit Patriotismus statt Fürsorge für ihre Familien abgespeist würden. Ungeachtet des Fiaskos der Sozialistischen Internationale beharrte er darauf, dass die Sozialisten allein noch Haltung bewahrten, obwohl sie ihren Führer Jaurès verloren hatten, „der für Frankreich und für Europa mehr wert war, als zehn Armeekorps und hundert Erzherzöge“.121 Sein Stück „Haus Herzenstod“ (1919) zeigt die Verderbtheit und Todessüchtigkeit der englischen Oberklasse, die den Krieg schließlich als Einbruch des Außerordentlichen in die alltägliche Sinnlosigkeit begrüßt. Schon in der Schrift von 1914 zeigte Shaw den Widersinn der maßlosen, unbestimmten Kriegsziele, die den Rückzug blockieren würden. Seine „Winke zur Friedenskonferenz“ vom März 1919 waren verzweifelte Mahnungen. Sie riefen die englische Politik zur Ritterlichkeit gegenüber den Kriegsverlierern und warnten den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vor den Schlichen des französischen Präsidenten Clemenceau und des englischen Premiers Lloyd George. Shaw stand isoliert gegen eine nationalistisch aufgepeitschte Öffentlichkeit. Ähnlich wie sein Mit-Fabier John Maynard Keynes mit seiner Schrift über „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ (1920) wurde er getadelt, wenn nicht gar als Staatsfeind geächtet. Nachdem auch Woodrow Wilson als der Vorkämpfer einer friedlicheren Weltordnung versagt hatte, wandte Shaw sich von dem politischen System der westlichen Demokratien ab, insbesondere vom englischen. Selbst die Labour-Regierung unter Ramsay MacDonald erfüllte 119 Holroyd 1995, S. 799 120 Shaw 1928, S. 519 121 Shaw 1919, S. 75
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seine Hoffnungen nicht. Shaw lobte allenfalls die Außenpolitik, wenn Deutschlands erneute Integration in die westlichen Bündnisse betrieben und damit der französischen, Spannungen verschärfenden Politik Paroli geboten wurde. Die Innenpolitik gefiel ihm dagegen ganz und gar nicht. Da die Labour-Regierung sich seiner Meinung nach an den Interessen der Gewerkschaften orientierte, konnte er sie nicht als sozialistisch anerkennen – zu viel Interessenpolitik, zu wenig Gleichheit. Shaw wandte seine Sympathien der Sowjetunion zu, wo ohne das Volk für das Volk regiert werde, wie er wohlwollend bemerkte. Lenin schien ihm noch der einzige interessante Staatsmann in Europa.122 Shaw hatte Lenin sein „Back to Methusalea“ mit der antidarwinistischen Vorrede geschickt, und Lenin hatte über ihn gesagt: „Ein guter Mann, der unter die Fabier gefallen ist“.123 Während Karl Kautsky seinen Feldzug gegen die Gräuel der bolschewikischen Revolution führte, lobte Shaw: „Das soll nicht heißen, dass die russische Revolution ein Fehlschlag war. In Russland gilt nun der Grundsatz, dass das Kapital für den Menschen und nicht der Mensch für den Kapitalismus erschaffen wurde. Die Kinder werden in der christlichen Moral des Kommunismus unterwiesen, anstatt in der mammonistischen des Kapitalismus. Die Paläste und Vergnügungsstätten der Plutokraten dienen nun der Erholung von Arbeitern, anstatt der Entnervung überspannter Verschwender. Müßige Damen und Herren begegnen heilsamer Verachtung, die Hemdbluse des Arbeiters aber gebührenden Ehren. Die Kunstschätze, verehrt und gehütet mit einem Verantwortungsgefühl, das uns und unsere Plünderungen in China wie unsere Bilderstürmerei und sonstigen Vandalismen daheim tief beschämt – die Kunstschätze also sind jedermann zugänglich“. Doch er fuhr fort: „Aber es ist kein Sozialismus. Die Ungleichheit des Einkommens herrscht immer noch genügend vor, um auf die Dauer alle Errungenschaften zu verwässern und die kommunistische Republik auf das Niveau der alten kapitalistischen Republiken von Frankreich und Amerika herunterzudrücken“.124 In Shaws Denken waren totalitäre Elemente seit jeher angelegt; sein Staatssozialismus lief auf eine Verteilungs- und Erziehungsdiktatur hinaus. Seit seinen Italienaufenthalten 1926/27 erwärmte er sich für Mussolinis Faschismus. Katalysator mag wohl seine letzte Liebe zu der jungen Amerikanerin Molly Tompkins gewesen sein, denn in deren Kreis in Stresa traf er führende Faschisten wie Carlo Emanuele Basile, den Provinzgouverneur und Autor faschistischer Propagandaschriften.125 Shaw verteidigte Mussolini gegen den Vorwurf illegitimer Herrschaft, indem er die Diktatoren von Augustus bis Napoleon aufmarschieren ließ, die durch blutige Staatsstreiche legitime Macht begründeten und dann Großes geleistet hätten. Als Shaw diese Verteidigung Mussolinis 1927 in der englischen Presse veröffentlichte, waren die Webbs und 122 123 124 125
Holroyd 1995, S. 696 – 700 Alexander 2009, S. 217 Shaw 1928, S. 434 Gibbs 2005, S. 395 – 399
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James Ramsay MacDonald wie alle seine Fabierfreunde entsetzt. Über italienische und englische Zeitungen geriet er zudem in eine heftige öffentliche Kontroverse mit Friedrich Adler, dem Sekretär der Sozialistischen Internationale. Er setzte Adler auseinander, dass Mussolini anders als die Sozialdemokraten der Aristokratie die Staatsgewalt entrissen habe und dies konnte, weil er ein Sohn des Volkes sei. Wenn Adler warten wolle, bis er eine Parlamentsmehrheit hinter sich habe, „werden Sie friedlich in Ihrem Bett sterben wie ein guter Bourgeois, während der ‚Höllensohn‘ das Land regiert. Oh Friedrich, Friedrich!“126 Mussolini hatte einst als Sozialist begonnen, und Shaw hielt ihn noch immer dafür. Er sah Mussolini und sogar Hitler als Reformer, die das Chaos ordneten und dabei im Sinne der Fabier vorgingen: „Einige Dinge, die Mussolini getan hat und einige, die er androht zu tun, gehen weiter in Richtung Sozialismus, als die englische Labour Party wagen könnte, selbst wenn sie die Macht hätte“.127 Im Mai 1933 erklärte er gegenüber seinem Übersetzer Trebitsch, dass Hitler die Idee des Arbeitsdienstes von ihm, Shaw, und die Verstaatlichung der Gewerkschaften von der Sowjetunion entlehnt habe.128 In seinen Reflexionen „Über die Todesstrafe“ von 1933, der Vorrede zu seinem Stück „On the Rocks“ (dt.: Festgefahren!) zeigte er die Ausrottung von Gegnern und Unangepassten als generelle Praxis von Regierungen. Das geschehe durchaus mit öffentlichem Einverständnis. Ob staatliche Gewalt die Hinrichtung eines Mörders oder das Hinschlachten von Millionen Soldaten im Krieg befehle, ob die englische Regierung die Aufstände in Indien niederschlüge oder die sowjetrussische die Oberklasse und die Kulaken verfolge, es gäbe prinzipiell keinen Unterschied. Als Shaw 1937 seinen „Führer für die intelligente Frau“ um Kapitel über „Faschismus“ und „Sowjetismus“ erweiterte, erschien ihm der Faschismus wiederum als bloße Neuauflage autoritärer Herrschaft unter charismatischer Führung im Stile Cäsars, Cromwells und Napoleons. Aber er sah ihn nun als Gegenspieler des Sozialismus. Faschismus sei die Organisation der Dummheit und der romantischen Narretei der Massen, denn der Durchschnittsbürger sei Faschist von Natur und Erziehung. Aus der Faszination patriotischer und militärischer Aufzüge wachse die Lust an der Gewalt. Die Gewaltexzesse lösten unfähige Regierungen durch Führer ab und entmachteten die alten Eliten. Dann aber richte sich die Gewalt gegen die Arbeiterorganisationen. Die Faschisten ersetzten den Kapitalismus nicht durch eine Ökonomie der Gleichheit, sondern sie fütterten die Reichen und stießen die Armen beiseite. Faschismus sei daher nicht der Weg zur Rettung der Zivilisation, sondern die breite Straße zu ihrer Zerstörung.129 Auf eine ganz und gar abschüssige Bahn geriet Shaw mit seinen Vorstellungen über die Menschenzucht. Sein Weg zum Übermenschen war ein eugenisches Programm, auch wenn es menschenfreundlich anmutet, weil es über Gleichheit führt. Er rechtfertigte selbst die Rassenpolitik der Nationalsozialisten bis zu einem gewissen Punkt. Irrig glaubte er 1933, die Ausrottung
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Shaw 1988, S. 72 Seidel 1961, S. 197 Weiss 1986, S. 332 Shaw 1949a, S. 481 – 483
der Juden habe nur für die Dauer einiger Augenblicke des Wahnsinns auf Hitlers Programm gestanden.130 Doch noch am 6. Februar 1938 schrieb er an Beatrice Webb: „Ich denke, wir sollten die Judenfrage so behandeln, dass Staaten das Recht zuerkannt wird, eugenische Experimente zu machen, indem sie Stämme ausjäten, die sie für unerwünscht halten; dass wir aber darauf bestehen, dass sie es so human wie möglich tun und nicht die Zivilisation durch solche Missgriffe schockieren, wie die Vertreibung und Beraubung Einsteins“.131 Beim „Anschluss“ Österreichs einen Monat später entkam sein jüdischer Übersetzer Siegfried Trebitsch nur mit knapper Not ins Exil. Shaw sandte eine Postkarte mit Glückwünschen zum Anschluss – er hatte alle Schritte Hitlers zur Revision von Versailles begrüßt – und mit der Einladung nach England. Das Ehepaar Trebitsch floh über Prag und Paris in die Schweiz. Erst mit dem Pogrom vom 9. November 1938 sah Shaw sich mit dem ganzen Schrecken der Realität konfrontiert und beschloss, die deutschen und italienischen Faschisten nicht mehr gegen die Beschuldigungen der bürgerlichen Öffentlichkeit zu verteidigen.132 Auf die sowjetische Entwicklung blickte Shaw dagegen mit ungeteilter Zustimmung, er sah dort das eigentliche Reich des Sozialismus. Nach seiner Reise in die Sowjetunion 1931 wurde er zum unbedingten Verteidiger. Er lobte die fortschreitende Durchsetzung sozialer Gleichheit nach dem Abschied von der Neuen Ökonomischen Politik; ihm gefielen die öffentliche Kindererziehung, die Brigaden in den Fabriken, die Kollektivwirtschaften. Die Verfassung von 1936, die nach seiner Ansicht von Thomas Paine hätte geschrieben sein können, erschien ihm dagegen als Zugeständnis an den Liberalismus.133 Shaw hatte die Reise in bester konservativer Gesellschaft unternommen – mit dem Tycoon Waldorf Astor und seiner Gattin Nancy, mit der Shaw eine bis ans Lebensende dauernde Freundschaft verband.134 Natürlich stand Shaw in Moskau im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die Visite nahm die Dimensionen eines Staatsbesuchs an. Als weltberühmter Autor und als bekannter Sozialist mit Sympathien für die Bolschewiki war er ein hochwillkommener Besucher. Shaw wies später zurück, was kaum zu leugnen war, dass es Musikkapellen, Aufmärsche und rote Halstücher gegeben habe. Der Volkskommissar Maxim Maximowitsch Litwinow, Außenminister der Sowjetunion, und der Kulturpolitiker Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski, bis vor kurzem Erziehungsminister, führten ihn herum. Die Gastgeber fügten sich verschiedentlich seinen Wünschen. Er traf den berühmten Theaterregisseur Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, der schon in einem Leningrader Altersheim lebte. Er fuhr zu dem kranken Maxim Gorki, mit dem er manchmal Briefe gewechselt hatte, auf die Datsche. Und er bestand darauf, Lenins Witwe Nadeshda Krupskaja aufzusuchen, die Stalin in strenger Isolation hielt. Shaw besuchte Theateraufführungen und Konzerte, besichtigte eine elek130 131 132 133 134
Shaw 1952d, S. 345 – 349 Michalos et al. 2002, S. 233 Weiss 1986, S. 368 Shaw 1949a, S. 455 – 474 Wearing et al. 2005
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trotechnische Fabrik, eine Kolchose und auch ein Erziehungslager für straffällig gewordene Jugendliche, das zweifellos nach den Grundsätzen von Anton Semjonowitsch Makarenko geführt wurde, die Shaws Erziehungsmaximen so nahe kamen. Shaw bekam zu sehen, was er sehen sollte, und sah, was er sehen wollte.135 Anlässlich von Shaws 75. Geburtstag gab es einen glänzenden Empfang im Adelssaal des Kreml, wobei Shaw die Komplimente des Festredners Lunatscharski überschwänglich an die Gastgeber zurückgab. Höhepunkt der Reise war das Treffen mit Stalin; der Diktator machte auf Shaw den liebenswürdigsten, klügsten, einsichtsvollsten Eindruck.136 Shaw war er einer von vielen, die Visionen für die Wirklichkeit nahmen. Es war die Zeit der großen Weltwirtschaftskrise, in der kapitalistische Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie jeden Kredit verloren. Nachdem der große Ökonom John Maynard Keynes schon in den Zwanzigern das Ende des Laissez Fair angekündigt hatte, fürchtete nun auch Joseph Schumpeter, dass der Kapitalismus nicht überleben werde.137 Als Shaws Freunde Beatrice und Sidney Webb in Stalins Reich reisten, begrüßten auch sie die neue Zivilisation, die sie dort vorfanden.138 Leo Trotzki, der zu eben dieser Zeit ein Land auf der Weltkugel suchte, das ihm Zuflucht gewähren könnte, sah sich geradezu umstellt von westlichen Freunden Stalins.139 Shaw wollte auch in den folgenden Jahrzehnten den Stalinismus nicht als gescheiterten Sozialismus wahrnehmen, sondern als dessen einzig mögliche Form. In seinem letzten Brief an Friedrich Adler 1927 hatte er sich ja zu einem Sozialismus ohne Demokratie bekannt. In diesem Brief stellte er sich selbst in ein Jahrhundert sozialistischer Bewegung: „Ich kann nun – wie Ihr Vater und [Wilhelm, HS] Liebknecht und Bebel und Vandervelde – auf eine tadellose Laufbahn als Propagandist der Sozialdemokratie zurückblicken, während derer der Erfolg des Sozialismus vollständig zunichte gemacht wurde durch die Vergeblichkeit der Demokratie. Ich erinnere Bebels Prahlerei von der großartigen Organisation und Ausbreitung der Partei in Deutschland mit dem Vorwurf an Frankreich, dass es so weit zurück liege, und der scharfen Erwiderung von Jaurès: ‚Oh, wenn wir all das in Frankreich hätten, dann würde etwas geschehen.‘ Ich erinnere mich, wie wir mithin niemals irgendetwas taten als predigen. Ich erinnere Liebknechts Sohn, in leidenschaftlicher und verachtungsvoller Opposition gegen die Mehrheit des deutschen Volkes, wie er im Namen dieses Volkes ins Gefängnis geworfen und schließlich erschossen wurde, weil er sich seiner angenommen hatte. Ich erinnere Adlers Sohn [der Adressat selbst, HS], der nicht wie sein Vater auf ein Mandat dieser Mehrheit warten wollte und aus eigener Verantwortung den reaktionären Premierminister erschoss. Ich erinnere, wie der Krieg die Reiche erschüttert und sie der Gnade irgendeiner organisierten und entschlossenen Partei anheim gegeben hat, die imstande war, die Gegenkräfte zu binden, und ich erinnere die absolute und schmachvolle Unfähigkeit der Sozialdemokraten, die Gelegen-
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Gibbs 2005, S. 406 – 409 Shaw 1950, S. 121 – 127; Holroyd 1995, S. 885 – 897 Keynes 1926; Schumpeter 1950, S. 61 Webb 1935; Webb 1998 Trotzki 2009, S. 293 – 298; Shaw 1988
heit zu ergreifen. Und ich sehe ebenso wie Sie auf die sich mehrenden Beweise dessen, was ich schon vor Jahren sagte; dass die Schwierigkeit, mit Zustimmung des Volkswillens zu regieren, darin besteht, dass das Volk niemals einwilligen würde, regiert zu werden, denn die Massen sind zu ignorant und subjektiv in ihren Ansichten, um zu verstehen, was Regierung meint, und sie sind in dieser Ignoranz sorgfältig bewahrt durch die Schulen des kapitalistischen Staates. Es ist unmöglich, dass sie verstehen könnten, was Sozialismus bedeutet, oder dass sie der eingeimpften Meinung entkommen, dass Sozialismus eine kriminelle Verschwörung gegen die öffentliche Wohlfahrt ist. Sogar jene, die wir durch unsere Propaganda erreicht haben, die für sozialistische Kandidaten stimmen (die meisten denken dabei nicht an Sozialismus, sondern sie meinen nichts als den Labour-Kapitalismus der Gewerkschaften), sind nur Partisanen in dem Klassenkampf, den sie als einen Kampf für Freiheit wie in den 1848er Revolutionen begreifen. Nun haben wir Sozialisten aber nichts zu tun mit Freiheit. Unsere Botschaft, wie die von Mussolini, ist Disziplin, Dienst, und das schonungslose Zurückweisen jeglicher Anerkennung natürlicher Vorrechte“.140 Beschreibt dies die Fratze des Sozialismus oder sein wahres Gesicht? Es ist mehr Wahrheit darin, als uns lieb sein kann. – George Bernard Shaw lebte nach seiner Rückkehr aus Moskau noch fast zwanzig Jahre, bis zum 2. November 1950. Er schrieb bis zum Ende: Autobiografisches, Politisches, auch noch Stücke, vermehrt nun Drehbücher. Während der dreißiger Jahre reiste er mit seiner Frau um die Welt, nach Südafrika, Amerika, Neuseeland, Japan, Ceylon. Dann setzten der Krieg und die Leiden des hohen Alters ein Ende. Überall wurde er mit Ehrungen empfangen, manche glänzender als die von Moskau 1931. Sein Denken weitete sich, indem er von der äußeren Welt auf Europa sah, beeindruckt von östlichen Philosophien und der natürlichen Anmut der Menschen in fernen Weltteilen. In diesen letzten Wandlungen und in den historischen Ereignissen von Krieg und Nachkrieg blieb Shaw indessen ein enthusiastischer Parteigänger Stalins und des sowjetischen Kommunismus. Gleich dem blinden Faust, der das Graben der Lemuren als Meliorationswerk der neuen Zeit deutet, sah er dort sein sozialistisches Ideal verwirklicht. Shaw war ein Weltverbesserer, und er war der Geist, der stets verneint, er war Faust und Mephisto der sozialistischen Bewegung
140 Shaw 1988, S. 73 f.
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Jean Jaurès
Jean Jaurès (1859 – 1914) Internationalist unter der Trikolore Anlässlich des internationalen Sozialistenkongresses 1907 begegnete der britische LabourFührer James Ramsay MacDonald zum ersten Mal Jaurès: „Einst ging ich durch eine Straße in Stuttgart und sah vor mir ein eigenartiges Geschöpf. […] Munter saß auf seinem Haupte ein abgetragener Strohhut. Seine Kleider hingen wie ein Sack um ihn herum […], und unter seinem Arm trug, oder richtiger schleppte er einen Überzieher. Er betrachtete im Vorbeigehen die Läden und Häuser und schien nur von sich erfüllt zu sein, wie ein Jüngling, der in eine neue Welt versetzt wurde“.1 Selbstlose Güte muss eine hervorstechende Eigenschaft des französischen Sozialistenführers gewesen sein. Wenn wir uns an Shaws ironische Schilderung von Sozialistenkongressen er-
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Zitiert: Jackson 1949, S. 10 f.
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innern, war diese Eigenschaft unter den Wahrheitsaposteln eher selten, umso mehr, wenn sie mit einem Talent zu vermitteln einherging: „Wie sehr wusste er an Kongressen und überhaupt immer zwischen verschiedenen Richtungen zu vermitteln. Er konnte zürnen wegen Gemeinheit und Engherzigkeit, aber er war gut wie ein Kind“.2 Seine vermittelnde Güte kam aus einem heißen Herzen. Berühmt war seinerzeit der Redner Jaurès, wie ihn Romain Rolland schildert: „Ich sehe ihn mit schweren Schritten auf der Rednertribüne hin und her gehen wie ein Bär, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, um sich mit einmal scharf umzudrehen und die Menge mit seiner metallischen, gleichmäßigen Stimme anzufeuern. Seine Worte waren wie Trompetenrufe, die die fernsten Sitze in dem weiten Amphitheater erreichten, einem jeden ins Herz drangen und die Seele der ganzen Masse in gemeinsamer Erregung aufwühlten“.3 So oder ähnlich erinnerten sich Freunde und auch Gegner des großen Jaurès, des international hoch geachteten Führers der französischen Sozialisten und bedeutendsten Politikers der Dritten Republik.
Naturtalent und Vorzugsschüler Jean Jaurès wurde am 3. September 1859 in der Kleinstadt Castres nicht weit von Toulouse geboren. Seine Heimat war der französische Süden, wo das rebellische Erbe der albigensischen Ketzer des 13. Jahrhunderts und der Revolutionäre von 1789 lebendig war. Seine Eltern ernährten sich von der Landwirtschaft, entstammten aber alteingesessenen bürgerlichen Familien, in denen es Admirale, Doktoren und Professoren gab. Ein Admiral-Onkel unterstützte die Schulausbildung von Jean und seinem Bruder Louis. Der Vater, noch im Kaiserreich verwurzelt, nötigte seinen Söhnen seine monarchistischen Ansichten so wenig auf, wie die Mutter ihren strengen Katholizismus gegen sie durchsetzte. Beide wurden Republikaner und Freidenker. Es herrschte die liberale Atmosphäre eines Provinzbürgertums, dem Bildung mehr galt als Güter und Repräsentation.4 Die Lehrer berichteten den Biografen, dass Jean Jaurès ein herausragender Schüler gewesen sei. Er habe es genossen, die lateinischen Klassiker zu lesen – wie einen Gänsebraten am Sonntag. Er aß schon als Kind gerne. Der junge Jaurès wuchs ohne einschnürende Konventionen in der bergigen Landschaft auf. In den Bauwerken und in der heimatlichen Sprache
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Volkart 1917, S. 26 Zitiert: Jackson 1949, S. 11 Jackson 1949, S. 20, 74; Goldberg 1962, S. 4 – 8
des Languedoc umgab ihn die römische Antike. Jaurès half dem Vater auf dem Hof und beim Verkauf der Ernte; halb scherzhaft nannte er sich später selbst einen Bauern. Gleichzeitig entdeckte er sein Rednertalent. In der Pause sprang er manchmal auf eine Bank und hielt eine lateinische Ansprache an seine Mitschüler. So gewann er in den zahlreichen Wettbewerben des französischen Schulsystems fast alle Preise. Als 1875 der Generalschulinspektor und renommierte Literaturforscher Félix Deltour nach Castres kam, hielt Jaurès die lateinische Begrüßungsrede so geistreich und ohne Floskeln, dass der Inspektor sich eingehender mit ihm befasste. Auf die Frage nach seinen Zukunftsplänen soll er geantwortet haben, dass er Postbeamter werden wolle. Deltour überzeugte die erfreuten Eltern leicht, dass mehr in ihrem Sohn stecke. Sie sollten ihn auf ein Pariser Lyzeum zur Vorbereitung auf die Elitehochschule schicken, er werde für das nötige Stipendium sorgen.5 Die Elitehochschule École Normale supérieure bildete seit der Französischen Revolution den Nachwuchs für die höchsten Stellungen in Staat und Wissenschaft aus. Dort studierten gleichzeitig mit Jaurès auch Émile Durkheim, der Begründer der französischen Soziologie, Lucien Lévy-Bruhl, der bedeutende Ethnologe, der die literarische Avantgarde der zwanziger Jahre beeinflussen sollte, und Henri Bergson, der als ein Begründer der Lebensphilosophie kaum weniger einflussreich werden sollte als Nietzsche. Jaurès und Bergson waren nach Herkunft und Charakter sehr verschieden, der eine bodenständig und extrovertiert, das Große der Menschheit umfassend, der andere ein urbaner Intellektueller, grüblerisch ins Innere der Dinge dringend. In Wetteifer und Gedankenaustausch waren beide wichtig füreinander, wenn sie auch später in jeder Hinsicht verschiedene Wege gingen. Jaurès beendete 1878 die Ausbildung in Philosophie als Jahrgangsbester. Die Zulassungsprüfung für das Lehramt bestand er 1881 als Dritter hinter Bergson.6 Im Anschluss an die École trat Jaurès eine Anstellung als Gymnasiallehrer in Albi an, um den Eltern nahe zu sein. Nach dem Tod des Vaters übersiedelte er im Herbst 1883 gemeinsam mit der Mutter nach Toulouse, wo er zuvor schon Vorlesungen an der Universität gehalten hatte. Er heiratete 1886 die achtzehnjährige Louise Bois, eine Bürgertochter von auffallender Schönheit. Sie brachte ein Landgut im nahen Bessoulet in die Ehe, das in der Pariser Zeit Sommersitz der Familie und Rückzugsort für Jaurès werden sollte, aber auch Anlass für Angriffe seiner Gegner. Louise war ohne geistige Interessen und tieferes Verständnis für die Ambitionen ihres Mannes, aber sie gebar ihm drei Kinder und hielt die alltäglichen Widrigkeiten von ihm fern. Besucher wunderten sich sowohl über das Speisezimmer, das auch als Salon diente und mit pseudo-antiken Möbeln, Wachsblumen unter Glas und Familienfotos in Plüschrahmen ausgestattet war, als auch über das Studierzimmer, in dem Jaurès mit schadhaften Möbeln und Bücherregalen aus rohem Fichtenholz hauste.7 Man kann sicher sein, dass er diese umstandslose Dürftigkeit gewollt hat. Gerade dieser Gegensatz lässt ahnen, wie unentbehrlich die Fürsorglichkeit seiner Frau und die Geborgenheit der Familie für Jaurès gewesen sind. Er war ein treuer und liebevoller Familienvater, der einzige Politiker der Dritten Republik ohne Skandale, wie man sagte. Seine Auffassung von der Rolle der Frau und dem 5 6 7
Goldberg 1962, S. 8 – 12; Werwie 1957, S. 2 f. Goldberg 1962, S. 16 – 22; Chevalier 1926, S. 47 Jackson 1949, S. 13
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Verhältnis der Geschlechter war – ganz anders als bei Karl Kautsky und oder gar bei George Bernard Shaw – äußerst konservativ. Er hielt die wirtschaftliche und gesellschaftliche Abhängigkeit der Frau vom Mann in der bürgerlichen Ehe für gegeben, und sie schien ihm das Beste für die Würde der Frau. Einer jungen Frau, die ein Liebesverhältnis mit einem verheirateten sozialistischen Politiker hatte, hielt er einmal entgegen: „Liebe, das ist ein Heim, Kinder, ein Ruhepunkt nach den öffentlichen Auseinandersetzungen des Tages“.8 Liebe, das war für ihn verlässliche Vertrautheit, kein „privates Weltereignis“, wie Alfred Polgar verstörende Leidenschaft treffend benannte.9 Bei so vielen anderen jungen Revolutionären flossen die Feuer der Liebe und des revolutionären Kampfes ineinander und nährten sich wechselseitig. Bei Jaurès nicht, vielleicht, weil er nicht so sehr Revolutionär wie Vollblutpolitiker war. Auch aus dem Feuer der französischen Revolution wollte er ja das Herdfeuer der Menschheit gewinnen, nicht die Fackel, die eine Weltrevolution entzündet. Kaum hatte Jaurès seine Position in der Universität gefestigt und seinen Hausstand begründet, machte er sich auf, Politiker zu werden. Er begann diese Laufbahn als Republikaner. Die Dritte Republik, Ergebnis des deutsch-französischen Kriegs von 1870/71, war noch bedroht durch den Monarchismus und durch die Kirche im Bunde mit dem Vatikan. Als Jaurès im Parlamentswahlkampf von 1885 zufällig in eine bonapartistische Versammlung geriet, übermannte ihn sein „oratorischer Dämon“, und er hielt eine flammende Verteidigungsrede für die Republik und den von ihm verehrten Ministerpräsidenten Jules Ferry, der gerade über seine Kolonialpolitik stürzte. Damit und durch seine Artikel in der liberalen „Dépêche de Toulouse“ empfahl er sich den Republikanern. Er bewarb sich mit Unterstützung des Rektors der Universität und seines Onkels, des Admirals Benjamin Jaurès, um ein Abgeordnetenmandat seiner Heimatstadt Castres, und er gewann. Mit 26 Jahren war Jaurès zurück in Paris, als jüngster Deputierter der Kammer, die gemeinsam mit dem Senat die Nationalversammlung der Dritten Französischen Republik bildete. In dieser ersten Periode als Abgeordneter gesellte er sich als partei- und fraktionsloser Abgeordneter zu den Republikanern. Mit ihnen stimmte er oft genug gegen die vier sozialistischen Abgeordneten, die sich erstmals den Weg ins Parlament erkämpft hatten.10 Er verurteilte insbesondere die Eskalation der Gewalt im Streik der Bergleute von Decazeville 1886, wo die Arbeiter einen Ingenieur lynchten.11 Gemeinsam mit den Sozialisten setzte er sich indessen energisch und vorerst erfolglos für eine paritätische Unfall-, Kranken- und Altersversicherung ein, wie sie Bismarck in Deutschland gerade auf den Weg gebracht hatte.12 Seine erste Parlamentsperiode war für Jaurès eine Zeit der politischen Erfahrung, verbunden vor allem mit Enttäuschungen. Er sah, wie die bürgerlichen Parteien, gerade auch die Republikaner und ihr radikaler Flügel, nicht entsprechend den Maximen der Großen Revolution handelten, sondern nach parteipolitischem Kalkül. Er sah, wie sie blind waren für die sozialen Probleme
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Goldberg 1962; Jackson 1949, S. 127 Polgar 1928, S. 85 Werwie 1957, S. 10 – 22 Lafargue 2010 Goldberg 1962, S. 37 – 46
der Arbeiter. Mit den sozialen Fragen hatte er sich während dieser ersten Legislaturperiode eingehender auseinandergesetzt. Wollte er die Dinge zum Besseren wenden, durfte er nicht aufgeben. Er trat 1889 erneut in seinem Heimatwahlkreis an. Seine Gegner waren die konservativen Kandidaten des Baron Reille und dessen Schwiegersohns Marquis de Solages. Der Clan Reille–Solages beherrschte nicht nur die Bergwerke und Glasfabriken und ausgedehnte Ländereien, sondern auch die Politik der Gegend. Der Clan sah diese Alleinherrschaft durch Jaurès bedroht und mobilisierte alle Mittel der Wahlbeeinflussung bis hin zu Gewalt gegen die Wähler der anderen Seite.13 Jaurès unterlag. Er kehrte nach Toulouse an die Universität zurück. Es war kein Abschied von der Politik, denn er ließ sich zum Stadtrat und stellvertretenden Bürgermeister für das Bildungswesen in Toulouse wählen und schrieb nun regelmäßig für Zeitungen. In diesen Jahren justierte Jaurès seinen inneren Kompass neu, er näherte sich dem Sozialismus.
Sozialistische Wegmarken An der Weggabelung stand Lucien Herr, der 1888 Bibliothekar der École Normale geworden und zur selben Zeit zum Sozialismus gelangt war, ein zarter, feinsinniger Mann von großer Leuchtkraft des Denkens. Während seiner 38 Jahre an der Schule formte er Generationen von Studenten zu Sozialisten, darunter auch den späteren Premierminister Léon Blum. Lange philosophische und politische Gespräche begründeten damals eine lebenslange Freundschaft zu Jean Jaurès. Lucien Herr bestärkte nicht nur das Interesse des fünf Jahre älteren für den Sozialismus, sondern lenkte ihn auch auf dessen Quellen in der deutschen Philosophie. Der aus Altkirch im Elsass stammende Lucien Herr war aus vollem Herzen Franzose, zugleich aber ein Mittler zwischen der deutschen und der französischen Kultur.14 Das Thema der zweiten für die Universitätslaufbahn geforderten These fand Jaurès in dieser Freundschaft: „De primis socialismi germanici lineamentis apud Lutherum, Kant, Fichte et Hegel“ (Die Ursprünge des Sozialismus in Deutschland). Die französische Habilitationsordnung schrieb das Lateinische vor, aber Jaurès fand eine tiefere Begründung: „Und es hat mir auch gar nichts ausgemacht, diese zeitgenössischen Fragen in Latein abzuhandeln, denn in dieser Sprache wurde das Menschenrecht der antiken Moralphilosophie formuliert, in ihr haben die frühchristlichen Gemeinschaften geseufzt und gesungen. Darüber hinaus ist das Latein bis heute die einzige gemeinsame Sprache der Völker. Sie passt also zum universalen Sozialismus“.15 In dieser Schrift führte Jaurès die Gedanken seiner ersten These fort. Dort hatte er angenommen, dass die Harmonie von Mensch, Natur, Geist und Gott in steter Weiterentwicklung zur
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Goldberg 1962, S. 58 – 60 Blum 1999 Jaurès 1974a, S. 103
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Vollkommenheit erreichbar sei. In seiner zweiten These erschien die Evolution des Sozialismus als Versöhnung von Rationalität und Glaube, Individuum und Gemeinschaft. Sie verwirklichte sich fortschreitend vom christlichen Sozialismus Luthers über den moralischen Sozialismus Kants und Fichtes zum dialektischen Sozialismus Hegels und Marxens, denn: „Um den heutigen Sozialismus zu verstehen, genügt es nicht, die besondere und vorübergehende Form zu kennen, die ihm Bebel und andere gaben“.16 Er fand in Luthers Beschreibung des Raubs durch Wucher Parallelen zur kapitalistischen Ausbeutung, in Fichtes „Geschlossenem Handelsstaat“ Ansätze zur Arbeitswertlehre von Marx, und in Hegels Rechtsphilosophie und Staatslehre die Keime eines sozialistischen Kollektivismus. Er schloss: „Die Stunde ist nahe, da alles von überall her zusammenrückt und sich vereint zu einem einzigen Sozialismus; alle Seelen, alle Geister, alle Kräfte und Fähigkeiten des Bewusstseins, auch die brüderliche christliche Gemeinschaft, die Würde und wahre Freiheit der menschlichen Persönlichkeit, ja selbst die immanente Dialektik der Dinge, der Geschichte und der Welt“.17 Nicht das Verlangen nach revolutionärem Umsturz der Weltordnung leitete Jaurès, sondern das Bedürfnis nach deren Vervollkommnung durch Aufhebung der Gegensätze. Heinz Abosch sieht in diesen Bekenntnissen den Glauben einer glücklicheren Zeit, die von den Weltkriegen und Völkermorden des kommenden Jahrhunderts noch nichts wusste, der Epoche eines Liberalismus, der sich stetig fortschreitend zu Vernunft und Emanzipation wähnte. Und Abosch zitiert Lévy-Bruhl, den Mitschüler auf der École, der die religiöse Substanz des Denkens von Jaurès erfasste: „Bei Jaurès strömt das religiöse Gefühl aus zwei Quellen, die nie versiegten. Die eine ist die Liebe zur Natur, schon beim Kind erkennbar, die innige Verschmelzung seines Wesens mit dem Boden, dem Himmel, dem Wald, den Feldern, den Grillen und Bienen, mit dem ganzen pulsierenden und schwirrenden Leben seines geliebten Südens. … Die andere Quelle ist das tiefe Bedürfnis nach Gerechtigkeit, Ahnung und Forderung einer harmonischen und wahrhaft humanen Gesellschaftsordnung, die sich, obwohl von der gegenwärtigen Realität noch weit entfernt, notwendig verwirklichen muss. Dieser vom Zweifel nie berührte Glaube hat tatsächlich religiösen Charakter“.18 Kirchenferne Religiosität verband sich mit humanistischer, optimistischer Geschichtsphilosophie. Viel später erklärte Jaurès, als er Angriffe seiner sozialistischen Weggefährten wegen der Kommunion seiner Tochter abwehren musste:
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Jaurès 1974a, S. 102 Jaurès 1974a, S. 102 Abosch 1986, S. 25
„Ich glaube an das Übernatürliche, ich glaube an Gott. Ich glaube an etwas Jenseitiges und über das hinaus, was ich wahrnehmen kann. Ich glaube an einen Gott, zu dem sich die Welt hinbewegt“.19 Im Denken von Jean Jaurès führte der Weg der Evolution also zu Gott, anders als bei Bernard Shaw, der die Vergöttlichung des Menschen anstrebte. Im Februar 1892 hatte Jaurès seine These verteidigt und also seine universitären Studien endgültig abgeschlossen. Sein Verlangen nach Gerechtigkeit wie sein Drang, in die Politik zurückzukehren, führten ihn an die Seite der streikenden Bergleute von Carmaux. Die im Gouvernement Tarn nordöstlich von Toulouse gelegene Kleinstadt mit 10.000 Einwohnern wurde ganz von den Kohlengruben und der Glashütte des Clans Reille-Solages dominiert. De Solages saß als Abgeordneter des Distrikts in der Kammer, war also der Gegenspieler von Jaurès im kommenden Wahlkampf. Die Bergarbeiter hatten schon im Frühjahr für höhere Löhne gestreikt. Sie hatten sich damit in die Streikwelle eingereiht, die seit der Mitte der achtziger Jahre durch Frankreich rollte, seit 1884 Gewerkschaften legal geworden waren. Die Welle erreichte ihren Höhepunkt 1888 –1893, als die langdauernde wirtschaftliche Depression wich, die Arbeitskämpfe fast aussichtslos machte und lähmte.20 In diesem Kampf siegte der Marquis de Solages. Als bald darauf Bürgermeisterwahlen in Carmaux waren, wählten die Bergleute einen der ihren, den Gewerkschaftssekretär und revolutionären Sozialisten Jean-Baptiste Calvignac. Das geschah immer häufiger, seitdem die Zweite Republik 1848 erstmals das allgemeine Männerwahlrecht durchgesetzt hatte. Und ebenso häufig erfolgte ebenderselbe Gegenschlag der Bourgeoisie, denn Gemeinderäte und Bürgermeister der Landstädte waren ehrenamtlich: Als Calvignac zur Erfüllung seiner Amtspflichten von der Arbeit fernblieb, wurde er entlassen. Die Bergleute forderten die Wiedereinstellung von Calvignac und hinreichende Freistellung für sein Amt als Bürgermeister. Sie stießen auf taube Ohren. Nach einer erregten Versammlung am 15. August fand sich ein Trupp zusammen, der in das Haus des Direktors der Minengesellschaft eindrang und ihm ein Ultimatum stellte. Marquis de Solages ergriff mit den Seinen die Flucht ins nahe Albi. Die Bergleute traten in Streik, und die Regierung entsandte 1.500 Soldaten, einen auf je zwei Streikende. Der Streik dauerte unter großer nationaler und internationaler Anteilnahme bis in den Oktober und endete nun mit dem weitgehenden Sieg der Bergleute. Unter dem Gesang der jakobinischen „Carmagnole“, erweitert um Spottverse gegen den Marquis, gingen sie wieder zur Arbeit.21 Jean Jaurès hatte während dieser Monate in der „Dépêche de Toulouse“ Partei für die Bergarbeiter ergriffen. Er sah mit dem Angriff auf das Wahlrecht der Arbeiter eine Grundlage der republikanischen Ordnung gefährdet. Er forderte die Anwendung eines Gesetzes von 1838, das den Entzug der Bergwerkskonzession androhte, wenn der Unternehmer die öffentliche Ordnung gefährdete. Die sozialistischen Abgeordneten brachten darauf einen solchen Antrag
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Jackson 1949, S. 130 Rebérioux 1975, S. 8 – 10, 49 f. Goldberg 1962, S. 102 – 104
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in die Kammer ein. Jaurès war nicht nur über die Missachtung der politischen Rechte empört, er begriff ebenso die soziale Lage der Bergleute als Kränkung ihrer Menschenwürde: „In Carmaux gibt es mehr als 2.000 Bergleute, und Baron Reille, der über sie herrscht, kennt sie nicht einmal vom Ansehen. Er lebt in Paris während des Winters und im Sommer in Saint-Amans. […] Die Arbeiter von Carmaux sind nur ebenso viele Goldstücke, die sich in seiner Kasse sammeln“.22 Jaurès hatte mit seinen glänzenden Artikeln in dem überregional gelesenen Blatt wesentlichen Anteil an der Beachtung, die dieser politische Streik bis in das Parlament fand. Nachdem de Solages das Kampffeld und seinen Parlamentssitz geräumt hatte, wurde Jaurès Kandidat für die Nachwahl. Das ging nicht so einfach vonstatten, denn die Arbeiter hätten lieber einen der ihren gehabt, und allein mit Rhetorik ließ sich Vertrauen nicht gewinnen. Ein Glasmacher sagte über das Mandat, das die sozialistische Wahlversammlung dem Kandidaten mitgab: „Wir haben Sie bekämpft, Bürger Jaurès, aber die Mehrheit ist mit Ihnen. Wir wollen hart arbeiten für Ihre Wahl. Wenn Ihre Linie die richtige ist, werden sie keine treueren und ergebeneren Freunde haben als uns“.23 Und so war es. So zog Jaurès bei den Nachwahlen am 8. Januar 1892 mit 5.317 zu 4.843 Stimmen wieder in die Deputiertenkammer ein, diesmal als Sozialist. Es war eine Ankunft, über die er im Rückblick schreibt: „Für solche wie mich, die auf einem einsamen Weg zum Sozialismus gekommen sind, die niemals Teil einer Organisation waren, niemals die Torturen der Frühzeit erlitten haben, war diese neue und herzliche Verbundenheit mit den erfahrenen Streitern erregend und stärkend“.24
Marxismus, Anarchismus, Syndikalismus Die Bergleute hatten Jaurès unter der Bedingung unterstützt, dass er das Programm der Französischen Arbeiterpartei anerkennte. Dies führt uns in das Dickicht der Organisationen und Strömungen des französischen Sozialismus, der sich – anders als der deutsche – nicht auf eine zentralisierte Organisation und den Marxismus als anerkannte Lehre stützte, sondern auf jakobinische und frühsozialistische Traditionen. Erst im Juli 1880 trat die Amnestie der Kommunarden voll in Kraft, und die Verurteilten kamen aus der neukaledonischen Verbannung, aus dem Gefängnis und aus dem Exil zurück. Unter ihnen war Auguste Blanqui, der Held der 22 23 24
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Goldberg 1962, S. 103 f. Goldberg 1962, S. 106 Goldberg 1962, S. 109 f.
Revolutionen von 1830 und 1848, der die Theorien von François Noël Babeuf, Charles Fourier und Claude-Henri Comte de Saint-Simon in eine eigene Theorie der revolutionären Diktatur des Proletariats überführt hatte. Aus London kam sein Kampfgefährte Edouard Vaillant und aus Italien Jules Guesde, der dort eine Sektion der Ersten Internationale gegründet hatte und im Kontakt mit Karl Marx stand. Auch Louise Michel, die Jeanne d’Arc der Pariser Kommune, die glühende Anarchistin, kam jetzt heim. Paul Lafargue, der kubanische Schwiegersohn von Karl Marx, kehrte aus dem spanischen Exil zurück, wo der Spanischsprachige das marxistische Häuflein gegen die Übermacht der anarchistischen Internationale Bakunins gestärkt hatte.25 So viele Helden, so viele Überzeugungen! Während der Friedhofsruhe und der Organisationsverbote nach der Niederschlagung der Kommune war die Arbeiterbewegung auf Produktivgenossenschaften und auf lokale gewerkschaftliche Zusammenschlüsse – die Syndikatskammern – zurückgeworfen gewesen, die vornehmlich gelernte städtische Arbeiter organisierten.26 Nach der Legalisierung 1884 entfaltete sich daraus eine starke Gewerkschaftsbewegung mit den Arbeiterbörsen (Bourses du Travail) als Stützpunkte. Die Gemeindeverwaltungen finanzierten Gebäude und Tätigkeit der Arbeiterbörsen, die zugleich Arbeitsvermittlung, Versammlungsort und Bildungsstätte waren, um soziale Integration und politische Kontrolle zu erreichen. Um 1894 schlossen sich die lokalen Syndikate zur Confédération Générale du Travail (CGT) zusammen, und 1902 vereinigten sie sich mit der Fédération des Bourses du Travail. Da organisierten die Gewerkschaften schon fast eine Million Arbeiter.27 Der Geist dieser Bewegung war ein „revolutionärer Syndikalismus“, das war eine Umschreibung für die Symbiose von Proudhon und Bakunin im Anarchosyndikalismus. Revolutionär sein bedeutete damals in Frankreich Anarchist sein, und Syndikalismus meinte gewerkschaftlich-kooperative Zusammenschlüsse jenseits von Zentralisation und Parteibindung. Ferdinand Pelloutier, der Inspirator der Arbeiterbörsen, war ein Anhänger Pierre-Joseph Proudhons. Proudhon griff seinerseits auf die „Phalanstèren“ von Charles Fourier zurück, die Utopie autonomer vernetzter Arbeits- und Lebensgemeinschaften in einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Kommunale und kooperative Produktion in den Händen der Arbeiter, verbunden mit dem Arbeitseigentum der Bauern und Gewerbetreibenden, das war das Gesellschaftsideal Proudhons und auch Pelloutiers. Es entsprach in den neunziger Jahren noch der überwiegend bäuerlichkleingewerblichen Struktur des Landes.28 Auch weite Teile des Mittelmeerraumes waren von der Industrialisierung noch wenig erfasst, die Arbeiter waren noch mit Kleingewerbe, Handel und Landwirtschaft verbunden. Proudhons Lehren leuchteten da weit eher ein als die von Marx. Im agrarischen Osten Europas hatte der Anarchismus ohnehin in den Volkstümlern seine feste Basis, die sich um die Banner von Michael Bakunin, Nikolai Tschernyschewski und Peter Kropotkin scharten. Die Anarchisten lehnten Nationalstaaten, Militär und Kriege als Ausdruck staatlicher Herrschaft ab, und damit auch Parteien und Parlamentarismus. Karl Marx hatte sich schon 1847 in seiner Schrift „Das Elend der Philosophie“ mit Proudhon aus25 26 27 28
Vilar 1975, S. 47; Heywood 1990, S. 12 f. Rebérioux 1975, S. 14 – 20; Lafargue 1890 Schöttler 1982 Weber 1989, S. 176 – 181
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einandergesetzt, ohne doch dessen Geltung weit über Frankreich hinaus erschüttern zu können. Die proudhonistische Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung erwartete Verbesserungen der Lage der Arbeiter nicht von Reformen der Regierung, sondern von der „direkten Aktion“ der Arbeiter im Streik.29 In der Streikwelle von 1889 bis 1893 wurde der Mythos des Generalstreiks geboren, eines landesweiten allgemeinen Streiks, der zum revolutionären Umsturz der Verhältnisse leiten sollte.30 Zum Generalstreik trat der Terror. Enttäuscht von der Schwäche der Republik, die beinahe dem nationalistischen Putsch des Generals Boulanger erlegen wäre, und von deren Korruption, die im Skandal um den Panama-Kanal offenbar wurde, setzten die Anarchisten auf die „Propaganda der Tat“. Eine Welle von Attentaten erschütterte seit 1892 das Land. Höhepunkte waren die Explosion einer Bombe im Parlament im November 1893 und die Ermordung des Präsidenten der Republik im Juni 1894. Notstandsgesetze waren die voraussehbare Folge.31 Jenseits des revolutionären Syndikalismus der Arbeiter blühte der Anarchismus der Intellektuellen im Pariser Quartier Latin und in den sozialistischen Zirkeln von Bordeaux und Toulouse. Ihr Aktionsfeld waren die sozialistischen Zeitschriften, die wie Pilze aus dem Boden schossen, und die Revolutionierung der Kunst. Der individualistische Anarchismus wehte durch den Symbolismus in der Literatur, wie ihn Stéphane Mallarmé verkörperte, und durch die Kunst der Neoimpressionisten wie Paul Signac und Henri de Toulouse-Lautrec. Die Reihe anarchistischer Attentate verstärkte den Kult des Übermenschen, des Zertrümmerers der bestehenden Ordnung.32 Die intellektuelle Avantgarde, die Bakunins Bonmot „Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!“33 zum Motto ihrer Kunst machte, propagierte einen elitären Sozialismus, fern von den Bedürfnissen der Arbeiter und ihrem revolutionären Syndikalismus der genossenschaftlichen Zusammenschlüsse und der Streiks. Jaurès stand allen Varianten des Anarchismus fern. Das galt ästhetisch für die symbolistische und neoimpressionistische Kunst, vor der er zu seinen alten flämischen Meistern floh, und es galt umso mehr politisch für die terroristische „Propaganda der Tat“ und für den Kult des Streiks als „direkte Aktion“.34 In der französischen Arbeiterbewegung vertraten vor allem die Blanquisten unter Edouard Vaillant solchen Anarchismus. Jaurès warb unermüdlich um sie. Der Streik sei „ein Krieg mit gekreuzten Armen gegen den Kapitalismus“ und der Staatsstreich ein undemokratischer Weg zum Sturz der herrschenden Clique, während der republikanische Parlamentarismus zum Erfolg führe.35 Daher war er auch entschieden auf Seiten der Marxisten in der Internationale, als auf dem Londoner Kongress 1896 der Schlussstrich unter die langdauernde Auseinandersetzung mit dem Anarchismus gezogen werden sollte. Die Erste Internationale war am erbitterten Ringen zwischen Karl Marx und Michail Bakunin zerbrochen, die Zweite Internationale schloss die Anarchisten aus. Der Beschluss kam unter Feder29 30 31 32 33 34 35
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Weber 1989, S. 454 – 478 Rebérioux 1975, S. 59 f. Rebérioux 1975, S. 65; Lafargue 1894a, S. 676 – 681 Sonn 1989; Rebérioux 1975, S. 59 – 61 Elysard 1842, S. 1002 Jaurès 1893 Beer 1915, S. 10
führung der deutschen Sozialdemokraten zustande, bei denen der Anarchismus keine Rolle spielte. Ein Drittel der englischen und über die Hälfte der französischen Delegierten stimmten dagegen.36 Es sollte niemals gelingen, den Anarchismus gänzlich aus der sozialistischen Bewegung zu verbannen. Der Marxismus hatte es in diesem französischen Umfeld schwer. Der erste Band des „Kapital“, 1872 bis 1875 in Heften auf Französisch erschienen, fand kaum ein Echo; selbst die Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, in der Marx die Pariser Kommune analysierte, fand kein entsprechendes Interesse. Erst der 1880 von Paul Lafargue übersetzte Auszug aus dem „AntiDühring“ von Engels eröffnete einen populären Zugang zu den komplexen Gedankengebäuden von Marx, er blieb lange das eigentliche Marx-Brevier. Madeleine Rebérioux führt eine ganze Reihe von Gründen an, warum das so war.37 Im Unterschied zu den Lehren Proudhons und der Frühsozialisten kam der Marxismus als eine fremde Lehre daher. Er kam aus Deutschland und galt daher als preußisch. Im Wahlkampf von 1893 konnte heftig Stimmung gegen die Sozialisten gemacht werden, weil sie 2.500 Franc Wahlkampfhilfe von den deutschen Sozialdemokraten erhalten hatten. Die Summe wurde zu mehreren Hunderttausenden aufgeblasen.38 Marxens ökonomische Analysen waren ungewohnt und schwerer verständlich als die gesinnungsethische Argumentation der Frühsozialisten und Proudhons; Brüderlichkeit und Gerechtigkeit lagen den Franzosen näher als eine geschichtsphilosophisch begründete Mission. Der Marxismus galt als dogmatisch. Das sahen nicht nur die Syndikalisten so, sondern auch die Intellektuellen, deren Kultur im Unterschied zu den ökonomisch geschulten Engländern ganz geisteswissenschaftlich war; das trennte die Franzosen auch von der naturwissenschaftlich geprägten deutschen akademischen Tradition. Hinzu kam die Unkenntnis der deutschen Sprache, die seit 1871 als Bildungsgut noch weniger galt als zuvor. Jaurès mit seiner ausgezeichneten Kenntnis der deutschen Sprache und Philosophie war da die Ausnahme. – Unterm Strich war die Situation aber nicht so viel anders als in Großbritannien, wenn wir uns Shaws Erfahrung mit der Marx-Lektüre im Hyndman-Zirkel vergegenwärtigen. Und doch wurde der Sozialismus in Frankreich unter dem Einfluss von Karl Marx und Friedrich Engels politische Partei. Entscheidend waren zwei Männer, Jules Guesde und Paul Lafargue. Jules Guesde, der Kommunarde und vormalige Anhänger Bakunins, hatte nach seiner Rückkehr aus dem Exil 1878 die Wochenzeitschrift „Egalité“ – Gleichheit – gegründet, um einen Sozialismus marxistischer Prägung zu verbreiten. Die Lektüre des soeben französisch erschienenen ersten Bandes des Kapital und die Bewunderung für die wohlorganisierte deutsche Sozialdemokratie hatten ihn dazu bewogen.39 Auf dem Arbeiterkongress in Marseille 1879 gewann er unter den Abgesandten von Syndikaten und Produktivgenossenschaften eine Mehrheit für die Parteigründung. Das Programm holte er aus London, wo er sich mit Karl Marx, Friedrich Engels und Paul Lafargue, dem Schwiegersohn von Marx, zusammensetzte. Die bedeutungsschweren „Erwägungen“ des Beginns hat Marx selbst in die Feder diktiert, sie standen später auch hinter Kautskys Grundsätzen des Erfurter Programms: 36 37 38 39
Braunthal 1978a, S. 150 – 153, 258 – 262 Rebérioux 1975 Lafargue 1894b, S. 146 Bourgin 1929; Rappoport 1908
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„In Erwägung, dass die Emanzipation der produktiven Klasse die aller menschlichen Wesen ohne Unterschied des Geschlechts oder der Rasse ist; dass die Produzenten nicht frei sein können, wenn sie nicht im Besitz der Produktionsmittel sind; […] dass der Übergang der Produktionsmittel in den Gemeinbesitz nur hervorgehen kann aus der revolutionären Tätigkeit der als selbständige politische Partei organisierten produktiven Klasse, des Proletariats; dass eine solche Organisation mit allen dem Proletariat zu Gebote stehenden Mitteln angestrebt werden muss, inbegriffen das allgemeine Stimmrecht, das so aus einem Mittel der Prellerei, das es bisher gewesen, zu einem Mittel der Emanzipation wird“.40 Auf dieses Programm mit seinen Grundsätzen, Maximal- und Minimalforderungen, die in dem Bericht von Lafargue nachzulesen sind, schworen die Arbeiter von Carmaux im Jahre 1892 Jaurès ein. Zehn Jahre zuvor hatte das Programm erst einmal gespalten, denn große Teile der Anarchisten und der Syndikalisten mochten es nicht mittragen. Eine gemäßigte Mehrheit fand sich in der Sozialistischen Arbeiterpartei (Parti Ouvrier Socialiste) zusammen, unter Führung Paul Brousses, eines Mediziners, der im Schweizer Exil erst zum Anarchismus und dann zu einem evolutionären Sozialismus gelangt war. Diese Gemäßigten strebten nach einem Gemeindesozialismus mit Produktionsmitteln in kommunaler Hand und vertrauten auf ein Bündnis mit den Radikalen Republikanern. Wegen ihrer Beschränkung auf das Mögliche an Reformen galten sie als „Possibilisten“. Edouard Vaillant versammelte gleichzeitig die zahlreichen Anhänger des alten Kommunarden Blanqui im sansculottischen Geist von Babeuf; auch sie hatten ihre Revolutionäre Sozialistische Partei (Parti Socialiste Révolutionnaire). Zurück blieb ein Häuflein von „Guesdisten“, das sich um das marxistische „Londoner Programm“ scharte und die Französische Arbeiterpartei (Parti Ouvrier Français, P.O.F.) bildete. Französische Sozialisten aller Richtungen fanden sich damals unter dem überwölbenden Begriff „Kollektivismus“ wieder.41 Wie anders begegnet uns die französische Arbeiterbewegung mit ihrer Vielfalt der Strömungen und Parteien als die deutsche zu dieser Zeit! In den folgenden Jahren gewannen alle Strömungen des Sozialismus Anhänger: aus Enttäuschung über die ausbleibende Sozialpolitik der Republikaner, mobilisiert durch die Streikwelle, beflügelt durch Manifestationen zum Ersten Mai, erbittert über Militäraktionen, wie das Blutbad in Fourmies am Ersten Mai 1891. Bei den Wahlen 1893 errangen alle Sozialisten zusammen dreimal so viele Stimmen wie 1889. Auch gemeinsam waren das nur fünf Prozent, brachte aber dreißig Sitze in der Abgeordnetenkammer. Etwa zwanzig Radikale unter Führung von Alexandre Millerand schlossen sich ihnen an.42 Jean Jaurès, obwohl auf dem Ticket der Guesdisten in der Kammer, wurde nicht Mitglied dieser Partei. Sein philosophischer Sozialismus war vage genug, um innerhalb des zersplitterten und zerstrittenen französischen Sozialismus nach vielen Richtungen anschlussfähig zu sein. Jaurès fühlte sich Benoît Malon 40 41 42
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Lafargue 1890, S. 345; Derfler 1991, S. 161 Rebérioux 1975, S. 35 – 37 Lafargue 1894b, S. 145; Rebérioux 1975, S. 66 f.
am nächsten, der mit einem „integralen Sozialismus” zwischen Proudhon und Marx vermitteln wollte. In dessen „Revue Socialiste“ war seine Schrift über die Ursprünge des deutschen Sozialismus 1892 erschienen. Die Übersetzung hatte Adrien Veber besorgt, ein Verfechter des Gemeindesozialismus.43 Jaurès schloss sich keiner der verschiedenen Richtungen an, aber er war bereit, mit all seinem Talent für den Sozialismus zu streiten. Sein Programm beschrieb er im September 1893 in einem Artikel für die „Dépêche de Toulouse“: „Der Sozialismus oder Kollektivismus kann als Ganzes bei Marx nicht gefunden werden. In Frankreich ist er aus französischer Tradition und französischer Auffassung erwachsen. […] Der französische Sozialismus besteht bereits und wird in wachsendem Maße durch drei Punkte charakterisiert sein: 1. Er wird leidenschaftlich republikanisch sein: Wir werden niemals wirtschaftliche Fragen von politischen trennen, noch die soziale Gerechtigkeit von der Freiheit, die der Sozialismus der Revolution war. 2. Er wird gleichzeitig wissenschaftlich und idealistisch sein. Er wird nicht, wie Marx es getan hat, sich auf die Feststellung beschränken, dass die Abschaffung des kapitalistischen Systems unvermeidlich ist; er wird auch beweisen, dass diese Abschaffung gerecht ist. 3. Schließlich, und das ist das Entscheidende, wird sich der französische Sozialismus innerhalb des kollektiven Rahmens mit besonderer Energie dafür einsetzen, dass die individuellen Energien gewahrt bleiben, dass die persönliche Initiative, die privaten Ersparnisse und die privaten Rechte geschützt werden oder, um es kurz zu sagen, das Privateigentum, soweit es gesetzlich und wesentlich ist, geschützt wird“.44 Das war ein Bekenntnis zu einem besonderen französischen Sozialismus, deutlich anders als die Doktrin von Marx, mit einem Vorrang des Politischen vor dem Ökonomischen, der bürgerlichen Freiheit ebenso verpflichtet wie der Wahrung des Privateigentums im gesetzlichen Rahmen – eines Sozialismus, der nicht ökonomisch und nicht geschichtsphilosophisch begründet ist, sondern moralisch, durch die überlegene Gerechtigkeit. Auf Einladung „kollektivistischer“ Studenten im Quartier Latin lieferten sich Paul Lafargue, der am meisten marxistische unter den Guesdisten, und Jean Jaurès ein Rededuell über idealistische und materialistische Geschichtsauffassung, das Karl Kautskys „Neue Zeit“ abdruckte. Lafargue vermaß den Graben, der zwischen beiden klaffte, während Jaurès auf die Brücken wies, die darüber hinweg führten: „So wurde wohl die Entwicklung der moralischen Ideen des Menschen durch die Entwicklung der wirthschaftlichen Verhältnisse bestimmt, aber gleichzeitig suchte und bethätigte sich die Menschheit selbst in und mit den einander ablösenden sozialen Einrichtungen. Wie grundverschieden auch das Milieu, die Zeitverhältnisse, die wirthschaftlichen Forderungen sind: Der nämliche Klagehauch, die nämliche Hoffnungsfreude zittert von
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Vorwort von Veber 1892 in: Jaurès 1974a, S. 104 – 106 Zitiert: Jackson 1949, S. 46
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den Lippen des Sklaven, des Hörigen, des Proletariers. Und dieser unsterbliche Odem des Menschlichen macht die Seele dessen aus, was man als das Recht bezeichnet“.45 Doch Paul Lafargue wollte die fortschrittstreibende Kraft solcher in das Allgemeinmenschliche eingeschriebenen Ideen nicht gelten lassen: „Wir sind nicht Utopisten, Träumer, wie die Lollarden Englands, wie die Plebejer Roms. Wir sind Männer der Wissenschaft, wir erfinden keine neuen Gesellschaftsformen, sondern leisten der kapitalistischen Gesellschaft Geburtshelferdienste, wenn die Geburtsstunde der sozialistischen Gesellschaft schlägt“.46 Jaurès wurde kein Marxist, aber er hat Marxens ökonomischer Lehre Respekt gezollt und dessen Bedeutung für die internationale sozialistische Bewegung anerkannt. Ihn zu einem Theoretiker des Marxismus zu erklären, der ein Vorläufer von Antonio Gramsci gewesen wäre, ist ebenso abwegig wie unnötig.47 Es war die Größe von Jaurès, dass er in seinen sozialistischen Überzeugungen ebenso unabhängig wie unbeirrbar blieb. Und es war die Stärke der zersplitterten sozialistischen Bewegung Frankreichs, dass ein solcher Mann an ihrer Spitze möglich war.
Republikanischer Sozialismus Bei seiner ersten Rede nach der Wiederwahl ins Parlament am 21. November 1893 rechnete Jaurès mit seinen früheren Weggefährten, den Republikanern ab. Er geißelte ihre Verweigerung sozialer Reformen, ihren bourgeoisen Egoismus, und er machte klar, was er unter französischem Sozialismus verstand, nämlich einen republikanischen Sozialismus in der Nachfolge der großen Revolution von 1789: „Sie, meine Herren Republikaner, haben die Republik gegründet – das ist Ihre Ehre; Sie haben sie unangreifbar und unzerstörbar gemacht, aber Sie haben gleichzeitig einen unerträglichen Widerspruch zwischen der politischen und wirtschaftlichen Ordnung geschaffen. […] Durch das allgemeine Wahlrecht, durch die Herstellung der nationalen Selbstherrlichkeit, die ihren endgültigen und logischen Ausdruck in der Republik findet, haben Sie aus den Bürgern – also auch aus den proletarischen Bürgern – eine Versammlung von Königen gemacht […] Aber im selben Augenblick, als der proletarische Bürger seinen souveränen Willen auf politischem Gebiete kundtut und den Ministern die Macht aus den Händen schlägt, kann er selber aus Arbeit und Brot gejagt und mittellos aufs Pflaster geworfen werden. […] Ja, die Republik wird bedroht und ihre Existenz gefährdet sein, solange der Kapitalismus andauert. Der Widerspruch, der in ihr steckt, wird 45 46 47
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Jaurès 1895, S. 556 Lafargue 1895, S. 680 Groh 1989, S. 10
sie nie zur Ruhe kommen lassen. Erst durch die Verwirklichung des Sozialismus wird die Republik vervollständigt werden und unzerstörbar sein“.48 Jaurès bekannte sich zu einem republikanischen Sozialismus, zu einem Sozialismus in den Farben Frankreichs, der die Flamme und nicht die Asche der Großen Revolution bewahrte, zu einem Sozialismus, der die Republik nicht in Frage stellte, sondern seine Basis in deren politischen Institutionen hätte. Auf diese denkwürdige Rede folgte frenetischer Beifall auf der Linken, Wutgeschrei aus den Reihen der Republikaner und vier Tage später der Rücktritt des attackierten Innenministers Charles Dupuy.49 In der Kammer war Jaurès dank seiner Rednergabe, der Kraft seines Verstandes und seiner Persönlichkeit bald das inoffizielle Haupt der Vereinigten Sozialisten. Paul Lafargue lobte anlässlich der Disputation einige Monate später den philosophischen Kontrahenten und die Kohlengräber von Carmaux, die ihn gewählt hatten: „Welches Glück, dass dieser Teufelskerl zu uns gehört“.50 Einen erbitterten Kampf hatte Jaurès von 1894 bis 1896 in seinem Wahlkreis an der Seite der Glasmacher von Carmaux zu bestehen.51 Die Unternehmer – der Clan Reille-Solages im Bunde mit dem Besitzer der Flaschenfabrik in Carmaux – versuchten mit allen Mitteln der Intrige und des Drucks, den sozialistischen Bürgermeister und die Gemeinderäte loszuwerden, am besten den sozialistischen Abgeordneten Jaurès gleich mit. Insoweit war es die Fortsetzung des Konflikts von 1892. Jaurès verteidigte die Rechte der Arbeiter und ihrer gewählten Vertreter. Gemeinsam mit anderen sozialistischen Abgeordneten wie Millerand brachte er den Fall vor die höchsten Organe der Republik und erfuhr dabei am eigenen Leib Willkür und Verunglimpfung. Nach dieser Erfahrung war Jaurès umso mehr davon überzeugt, dass die republikanische Politik mit allen Mitteln die Bourgeoisie stützte und die Arbeiter als Stiefkinder behandelte, sodass nur der Sozialismus die Republik retten könne. Am Ende gründeten die ausgesperrten Arbeiter mit seiner Hilfe eine genossenschaftliche Glasfabrik in Albi, die bis heute besteht. Jaurès hatte seitdem ein tieferes Verständnis von Kooperativen als einer sozialistischen Alternative. Während der sogenannten Dreyfus-Affäre geriet der republikanische Sozialismus von Jaurès in eine Zerreißprobe.52 Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus war 1894 unter der Anklage, militärische Geheimnisse an Deutschland verraten zu haben, lebenslang auf die Teufelsinsel verbannt worden. Bald wurden begründete Zweifel an der Schuld des Deportierten laut, denn Beweisfälschungen und Vertuschungen durch die Armeeführung und das Kriegsministerium kamen ans Licht. Gegen die Kritiker des Verfahrens, unter denen Protestanten und Glaubensgenossen des Verurteilten waren, erhob sich die alte antirepublikanische „Allianz aus Säbel und Weihwedel“, begleitet von einer antisemitischen und nationalistischen Pressekampagane. Als Émile Zola am 13. Januar 1898 seinen Artikel „J’accuse“ in einer der auflagenstärksten Pariser Zeitungen veröffentlichte, rüttelte dies alle Anhänger der Republik 48 49 50 51 52
Zitiert: Beer 1915, S. 5 f. Goldberg 1962, S. 112 Lafargue 1895, S. 577 Scott 1980, S. 139 – 166; Goldberg 1962, S. 137 – 152 Abosch 1986, S. 34 – 43; Derfler 2002, S. 29 – 38; 92 – 95; Goldberg 1962, S. 235 – 249
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zur Verteidigung ihrer Institutionen und Ideale auf, ließ aber auch den Antisemitismus, Monarchismus und Nationalismus auf der Gegenseite hochschäumen. Frankreich spaltete sich in Dreyfusards und Antidreyfusards, und Jaurès wurde als Abgeordneter und Journalist an der Seite von Zola zum Wortführer der Dreyfusards. Lucien Herr hatte ihn für die Sache gewonnen, die zur Frage der Republik und der Menschlichkeit geworden war. Die Rede von Jaurès in der Kammer am 22. Januar – eine Verteidigung Zolas und eine flammende Anklage gegen die antirepublikanische Rechte – erregte einen Aufruhr unter den konservativen Abgeordneten. Jaurès wurde tätlich angegriffen.53 Seine Parteinahme erhöhte das Prestige der Sozialisten unter den Pariser Intellektuellen, kostete ihn aber 1898 seinen Sitz in der Abgeordnetenkammer. Der Marquis Ludovic de Solages als Kandidat der Konservativen des Bezirks Tarn warf alle Mittel der Propaganda, der Wohltaten und der Drohungen an die Front, während Jaurès nur seinen Kopf, sein Herz und seine Füße dagegen setzen konnte, wie Goldberg schreibt. Er sprach mit den Arbeitern von Carmaux und mit den Bauern der verstreuten Bergdörfer. In Carmaux schadete es ihm, dass die Gruben wieder eine wirtschaftliche Flaute verkraften mussten und auch die Glasmachergenossenschaft in Albi gar nicht gut lief. Bei den Bergbauern verunglimpften ihn die Gegner wegen seiner antiklerikalen Haltung. Ein alter Bauer fragte ihn: „Sind Sie nicht der, der die Kirchen niederreißen will?“ Jaurès entgegnete: „Und was, mein Freund, sollte ich wohl mit so vielen Steinen anfangen?“54 Vier Jahre war Jean Jaurès nun ohne Mandat, aber er lebte weiter in Paris, stritt für die Rehabilitation des Hauptmanns Dreyfus, ernährte seine Familie mit journalistischer Arbeit und verfolgte die politischen Kämpfe im Parlament von der Tribüne aus. Gleichzeitig recherchierte er in der Nationalbibliothek und in den Archiven für eine Geschichte Frankreichs seit der Großen Revolution in sozialistischer Sicht. Die ersten vier Bände der „Histoire Socialiste“55 über die Französische Revolution bis zum Ende der Jakobinerdiktatur schrieb er selbst, ebenso den Band über den deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Für die anderen Teile des zwölfbändigen Werkes gewann er Freunde, darunter so bekannte Sozialisten wie René Viviani. Er wollte die Arbeiter für einen republikanischen Sozialismus gewinnen, der auf den Idealen der Französischen Revolution ruhte; deshalb ließ er das Werk in wöchentlichen Lieferungen zu 50 Centime vertreiben. Jaurès sah die Revolution als universellen Ausgangspunkt für die moderne Geschichte Frankreichs und der Menschheit. Er schrieb nach eigenem Bekunden gleichermaßen im Sinne von Marx und von Michelet. Mit Karl Marx ging er von den grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen aus und beschrieb die Revolution als Freisetzung der kapitalistischen Kräfte durch die Bourgeoisie. Mit Jules Michelet beschwor er den Geist der großen Revolution, wie er sich in ihren Helden verkörperte, allen voran Danton. Danton, der ausgleichende, der lebensvolle war sein Liebling, nicht der radikale, fanatische Robespierre. Wie der große sozialistische Revolutionshistoriker unserer Zeit, Michel
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Goldberg 1962, S. 225 Goldberg 1962, S. 228 Jaurès 1901 – 1908
Vovelle, schreibt, hat Jaurès das Tor zu einer jakobinischen Geschichtsschreibung über die Revolution aufgestoßen.56 Der republikanische Sozialismus von Jaurès, der die Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit über den Klassenkampf stellte, war unter den Sozialisten nicht konsensfähig. Die Guesdisten und die Blanquisten hatten sich in der Dreyfus-Affäre heraushalten wollen, da sie darin eine Auseinandersetzung innerhalb der herrschenden Klassen sahen. Das Engagement von Jaurès störte. Der Konflikt brach auf, als im Jahre 1899 der Sozialist Alexandre Millerand als Minister für Handel und Industrie in die radikal-republikanische Regierung Waldeck-Rousseau eintrat, nachdem das alte Kabinett über die Dreyfus-Affäre gestürzt war. Besonders heikel war Millerands Schritt, weil auch General Gaston de Galliffet, der Henker der Kommune von 1871, Kriegsminister in dieser neuen Regierung wurde. Für das rigorose Verständnis der Guesdisten vom Klassenkampf war Millerands Regierungsteilnahme Verrat, sie war womöglich noch unerträglicher für den alten Kommunarden Vaillant und seine Blanquisten, inakzeptabel war sie auch für die syndikalistischen Gewerkschafter. In Lille lieferten sich die beiden Männer, die verschiedener nicht sein konnten, im Oktober 1900 eine Redeschlacht: Jules Guesde, der hagere, asketische Analytiker mit den glühenden Augen, und Jean Jaurès, der untersetzte, sanguinische, zur Synthese strebende Südfranzose – ein schönes Motiv für den Karikaturisten Henry Somm. Guesde griff an: „Um der Sache der legalen Justiz und der individuellen Rehabilitation willen hat sich Jaurès mit einer gegnerischen Klasse verbunden, und er wird jetzt dazu gebracht, gemeinsame Sache mit dieser Klasse in der Regierung zu machen“. Jaurès entgegnete: „Wenn die republikanische Freiheit auf dem Spiele steht, wenn die Gewissensfreiheit bedroht ist, wenn alte Vorurteile, die den Rassenhass und die grausamen religiösen Streitigkeiten vergangener Jahrhunderte wiedererwecken, erneut ihr Haupt erheben, – dann ist es die Pflicht des sozialistischen Proletariats, mit denjenigen Teilen der Bourgeoisie vorwärts zu gehen, die entschlossen sind, nicht zurück zu weichen“.57 In der Dreyfus-Krise der Republik zerbrach die sozialistische Einigung von Saint-Mandé. Dort, an der heutigen Peripherie von Paris, konnte Millerand 1896 bei einem Bankett tausend Abgeordnete und frisch gewählte Gemeinderäte aller sozialistischen Strömungen auf ein reformistisches Minimalprogramm einschwören.58 Mit dieser sehr französischen Veranstaltung hatten die Sozialisten an die Massenbankette der Liberalen vom Vorabend der Revolution 1848 angeknüpft. Die marxistische P.O.F. mag schon in Saint-Mandé nur halb überwältigt, halb grummelnd zugestimmt haben. Nun, im Jahre 1901, schlossen sich die revolutionären Sozialisten um Guesde und Vaillant zur Sozialistischen Partei Frankreichs (Parti Socialiste de France) 56 57 58
Vovelle 1982, S. 61 – 63 Beide zitiert: Jackson 1949, S. 110 Rebérioux 1975, S. 79 f.
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zusammen, während die Reformisten und vormals Unabhängigen um Jean Jaurès, Alexandre Millerand, René Viviani, Aristide Briand, Paul Brousse, Jean Allemane und Pierre Renaudel die Partei der Französischen Sozialisten (Parti Socialiste Français) bildeten. Tatsächlich blieben die Erfolge der Regierungskoalition aus. Nicht einmal die volle Rehabilitation des Hauptmanns Dreyfus wurde erreicht, Millerands Sozialreformen blieben halbherzig und unvollendet, und die Regierung, deren Mitglied er war, setzte wiederholt Militär gegen Arbeiter ein.59 Jaurès rechtfertigte die Teilnahme an der Koalition dessen ungeachtet als Erfolg sozialistischer Politik und als Chance zur Durchsetzung von Reformen. In einer Artikelserie in Millerands Zeitung „La Petite République“ 1901 berief er sich auf jüngst bekannt gewordene Äußerungen Wilhelm Liebknechts, in denen der Koalitionen befürwortet habe.60 Die Artikel erschienen 1902 übersetzt im Verlag der „Sozialistischen Monatshefte“ als Buch. Die Monatshefte waren das Organ des Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie, das Gegenstück zu Kautskys „Neuer Zeit“. Diese „Sozialistischen Studien“ von Jaurès standen im Kontext der Revisionismusdebatte um die Thesen von Eduard Bernstein. Kautskys Schrift „Die soziale Revolution“ erschien im selben Jahr, sie war auch eine Antwort an Jaurès. Der hatte aus seinem unmarxistischen Herzen gar keine Mördergrube mehr gemacht und sich ziemlich klar auf die Seite Bernsteins gestellt. Schon in der Einleitung verwarf er die Revolutionstheorie des Kommunistischen Manifests als blanquistisch: „Heute ist der bestimmte Modus, wie Marx, Engels und Blanqui die proletarische Revolution auffassten, von der Geschichte ausgemerzt worden. […] [Das Proletariat] hat seine eigne Organisation, seine eigne Macht. Es hat in den Gewerkschaften und Genossenschaften eine wachsende wirtschaftliche Macht. Es hat durch das allgemeine Stimmrecht und die Demokratie eine legale und unendlich steigerungsfähige Kraft. […] Es bereitet seine eigene Revolution methodisch vor oder besser gesagt: Es beginnt sie methodisch durch die schrittweise und legale Eroberung der Macht der Production und der Macht des Staates“.61 Entschieden wies er – wie Bernstein – die Marx’sche These von der fortschreitenden Verelendung des Proletariats zurück. Es lasse sie ja kein Sozialist mehr gelten, „die einen offenkundig, die anderen mit unendlichen Verclausulierungen, manche mit einer maliciösen wienerischen Gemütlichkeit“.62 Nicht aus dem Elend käme die Erlösung, sondern aus der Stärke des Proletariats, wie einst die Große Revolution aus der Stärke der Bourgeoisie. Schließlich bekannte er sich aber doch – gegen Bernstein – zum Endziel der sozialistischen Gesellschaft: „Einige unserer Gegner sagen, dass diese dem Gesetz der Demokratie unterworfene Methode der Evolution das socialistische Ideal schwächen und verdunkeln werde. Das Gegenteil ist der Fall. Die declamatorischen Gewaltphrasen, die halb mystische Erwartung
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Braunthal 1978a, S. 263 – 266 Jaurès 1974b, S. 100 – 108 Jaurès 1974b, S. 29 Jaurès 1974b, S. 41
einer rettenden Katastrophe verhindern die Menschen, ihre Gedanken näher zu bestimmen und ihr Ideal genau zu umschreiben. […] Je mehr die socialistische Partei sich durch die endgiltige Annahme der Demokratie und der Gesetzmäßigkeit [meint: Gesetzlichkeit, HS] mit der Nation identificieren wird, um so mehr wird sie verpflichtet sein, ihre eigene Auffassung zu bekunden; und in der weniger aufgeregten Atmosphäre wird sich das Endziel besser bestimmen lassen. […] Ich weiß nicht, ob Bernstein nicht durch die Notwendigkeit der Polemik dazu geführt wurde, in erster Linie die kritische Seite seines Werkes auszuführen. Es wäre jedenfalls ein schwerer Irrtum und ein großer Fehler, das Endziel des Socialismus im Dunkel der Zukunft verschwimmen zu lassen. Der Communismus muss die leitende und sichtbare Idee der ganzen Bewegung bleiben“.63 In einer Zukunftsstaatsdebatte des französischen Parlaments 1906 umriss Jaurès dieses Endziel, wie es Kautsky im zweiten Teil seiner Schrift für den „Tag nach der Revolution“ getan hatte.64 Beide gingen von einer Machtergreifung aus, die durch die Mehrheit des Volkes legitimiert wäre. Beide wollten die kapital- und grundbesitzenden Klassen nicht berauben, sondern entschädigen. Beide wollten an die Stelle der Profitmaximierung die Produktion von Gebrauchswerten setzen, ohne das Wirtschaftswachstum zu drosseln. Beide wollten ein Höchstmaß an Demokratie und absolute Gesetzlichkeit in Produktion und Gesellschaft. Doch während Kautsky ganz auf den Industriearbeiter als Messias eingeschworen war, sorgte sich Jaurès um die französischen Bauern und Handwerker, und er beharrte auf genossenschaftlichen und kommunalen Wegen in die neue Gesellschaft. So ähnlich sich die beiden Sozialisten aus der Ferne des 21. Jahrhunderts ausnehmen mögen, die Kluft war unüberbrückbar. Jaurès Sozialismus kam eher von Proudhon als von Marx. Kautsky sah in Jaurès keinen Sozialisten, er sah in ihm den Träger des „Systems Millerand“ und das Haupthindernis der Einheit der französischen Sozialisten, wie er in der Nachschrift zu einem Bericht des Marx-Enkels Jean Longuet erklärte.65 Die Situation spitzte sich noch zu, als nach den Wahlen 1902 eine neue Regierung unter Émile Combes gebildet wurde, der die Sozialisten zwar nicht mehr angehörten, die sich jedoch auf einen Linksblock von Radikalen und Sozialisten stützte. Jaurès, der sein Mandat in Carmaux zurückerobert hatte, fiel dank seiner Rolle in der Dreyfus-Affäre die Führung zu. Er hatte erheblichen Anteil an den antiklerikalen Gesetzen dieses Kabinetts, die aus Frankreich eine laizistische Republik machten. Die katholischen Orden wurden auf gewöhnliche bürgerliche Vereine zurückgeschnitten und der Schulunterricht wurde ihnen entzogen. Staat und Kirche wurden vollständig getrennt. Das waren starke, einschneidende Schritte, aber Sozialreformen, wie sie die Arbeiter von den Sozialisten erwarteten, blieben aus. Als Jaurès auch noch zum Vizepräsidenten der Kammer gewählt werden sollte und hinter den Kulissen das Kabinett zu dirigieren schien, war das Maß für Guesde und die Seinen voll. Sie entschlossen sich, den Fall vor das Tribunal des Internationalen Sozialistenkongresses in Amsterdam 1904 zu bringen. Auf die Unterstützung der deutschen Sozialdemokratie konnten sie bauen, denn Rosa Luxemburg
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Jaurès 1974b, S. 43 f. Jaurès et al. 1906, S. 6 – 11 Longuet 1901/02, S. 659 – 661
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hatte wiederholt den „Millerandismus“ und speziell die Haltung von Jaurès gegeißelt. Dabei wusste sie Kautsky und die nichtrevisionistische Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie hinter sich.66 Die Guesdisten bezogen sich auf die Resolution des Dresdener Kongresses der deutschen Sozialdemokratie von 1903, die Koalitionen mit bürgerlichen Parteien grundsätzlich untersagt hatte. Sie forderten nichts weniger als den Ausschluss von Sozialisten, die in bürgerliche Kabinette eintreten, also den von Millerand, aber sie wollten auch Jaurès exkommunizieren, der deshalb von Guesde als „Ex-Genosse“ bezeichnet wurde.67 In Amsterdam kam es aus diesem Anlass zu dem denkwürdigen Rededuell zwischen Jean Jaurès und August Bebel, zwei gleichermaßen glänzenden Rednern. Jeder zerbrach sich den Kopf über die Probleme des anderen. Jean Jaurès meinte – in der Simultanübersetzung von Rosa Luxemburg – dass es nicht die französischen Kompromisse seien, die den Fortschritt des internationalen Sozialismus belasteten, sondern die Ohnmacht der deutschen Sozialdemokratie: „O ja, am Tag nach jenen Juniwahlen, die euch die drei Millionen Stimmen gebracht haben, ist es allen deutlich geworden, dass ihr eine bewundernswerte Kraft der Propaganda, der Werbung, der Einigung habt, aber dass weder die Traditionen eures Proletariats noch der Mechanismus eurer Verfassung euch erlauben, diese scheinbar kolossale Macht von drei Millionen […] in die politische Aktion umzusetzen. Warum? Ihr habt weder die revolutionäre noch die parlamentarische Aktion. […] Es hat im deutschen Proletariat Beispiele bewunderungswürdiger Hingabe gegeben. Aber es hat in seiner Geschichte keine revolutionäre Tradition. Es hat sich das allgemeine Wahlrecht nicht auf den Barrikaden erobert. Es hat es von oben bekommen. Und wenn man nicht daran denken kann, es denen zu entreißen, die es sich selbst erobert haben, weil sie es leicht zurückerobern können, kann man dagegen wohl daran denken, von oben zu nehmen, was man von oben gegeben hat. Und ihr könnt keine Sicherheit dagegen geben, ihr, die ihr gesehen habt, wie euer rotes Königreich, euer sozialistisches Königreich Sachsen die Fortnahme des allgemeinen Wahlrechts über sich ergehen ließ (lebhafter Beifall) […] Je mehr Demokratie, je mehr Freiheit ein Land hat, je mehr das Proletariat wirksame politische Aktion in seinem Land auszuüben vermag, umso mehr wird es durch euren Antrag verletzt, der ein Hemmnis der Entwicklung der allgemeinen politischen Freiheit und damit des internationalen Sozialismus sein wird“.68 Bebel trat ans Pult und gab Jaurès Recht in seiner Kritik an den deutschen Zuständen, um dann die Grenzen der bürgerlichen Republik zu zeigen. Auch er ging zum Angriff über: „Die Episode Millerand ist vorüber, aber die daraus entstandenen verhängnisvollen Streitigkeiten, unter denen die französische Sozialdemokratie so schwer leidet, dauern fort. […] Nicht den Internationalen Sozialistenkongress hat 1900 Millerand begrüßt, wohl aber vor dem blutigen Despoten Europas, dem Zaren, Bücklinge gemacht. Und als wir
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Luxemburg 1901 Abosch 1986, S. 51 f.; Jackson 1949, S. 143 – 145; Braunthal 1978a, S. 282 – 284 Hirsch 1985, S. 41
auf dem Père Lachaise zu Ehren der gemordeten Kommunarden einen Kranz niederlegen wollten, begrüßte uns die Infanterie, Kavallerie und Artillerie des Ministeriums Waldeck-Rousseau-Millerand. Man sah mehr Polizeiagenten als Deputierte, und man tat alles, um die internationale Ehrung der Communards unmöglich zu machen. Diese eine Tat hätte schon damals genügen müssen, um Millerand für immer unmöglich zu machen. (Beifall) Und seitdem sehen wir, dass bei fast jeder Abstimmung im französischen Parlament sich die jaurèsistische Fraktion in zwei oder drei Teile spaltet, das heißt, der Welt ein Schauspiel bietet, wie es in Deutschland nur die verachtetste kapitalistische Partei, die Nationalliberalen, uns geben“.69 Am Ende dieser Redeschlacht stand zum Glück für die internationale sozialistische Bewegung ein Kompromiss. Der Kongress nahm die leicht veränderte Resolution gegen die Teilnahme an Koalitionen als Richtschnur der internationalen sozialistischen Taktik an. Er folgte jedoch nicht dem Begehren der Guesdisten nach Ausschluss der Abweichler. Und er gab auf Bebels Drängen den zerstrittenen Franzosen auf, sich in einer Partei zu einen. Dies sollte sich als ein Pyrrhussieg für Guesde entpuppen. Die meisten reformistischen Führer verließen die Partei und bekleideten schon bald hohe und höchste Ämter der Republik, wie Millerand, Viviani und Briand. Nicht wenige Sozialisten hatten gefürchtet, und die Konservativen hatten gehofft, dass Jaurès ebenso handeln könnte. Seine schöne Frau Louise sah sich wohl schon als Ministersgattin. Doch Jaurès war keineswegs geschlagen und verbittert. Er war eigentlich der Sieger von Amsterdam, denn die Einheit der Sozialisten war sein innerstes Streben. Er wurde zum entschiedensten Werber für die Einheit, ja zu ihrem Architekten.70 Im April 1905 fand im Pariser Globe-Theater tatsächlich der Einigungskongress statt. Die geeinte Partei nannte sich Sozialistische Partei – Französische Sektion der Arbeiterinternationale (Section française de l’Internationale ouvrière, S.F.I.O.).71 Obwohl Jules Guesde, Jean Jaurès und Édouard Vaillant ein Leitungskollegium bildeten, ging die tatsächliche Führung mehr und mehr an Jean Jaurès über. Dafür gab es mehrere Gründe. Mit den Wahlerfolgen hatte die Parlamentsfraktion seit den neunziger Jahren eine immer wichtigere Rolle für die Politik des vielfältigen französischen Sozialismus gewonnen, und diese Koordinierungs- und Lenkungsfunktion verlor sie mit der Einigung nicht. Jaurès aber war deren Führer. Ähnlich wichtig wurde die Zeitung „L’Humanité“, die Jaurès 1904 gegründet hatte. Anfangs stürzte jede Papierrechnung, jedes Nachlassen des dünnen Rinnsals der Abonnenten Jaurès in Sorgen. Die großenteils selbst geschriebenen Artikel waren für eine Tageszeitung zu lang und für eine Arbeiterzeitung nicht populär genug. Als Jaurès das änderte, florierte das Blatt und wurde zum offiziellen Organ der Partei.72 Max Beer erkannte, wie sehr die überragende Stellung von Jaurès nicht auf seinem Durchsetzungsvermögen, sondern auf seiner Begabung für die Vermittlung und den Ausgleich ruhte. Er zeigte,
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Hirsch 1985, S. 43 f. Goldberg 1962, S. 329 f. Rebérioux 1975, S. 96 – 105 Jackson 1949, S. 147 f.; Goldberg 1962, S. 319 f.
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„warum Jaurès dem Syndikalismus gegenüber eine sympathischere Haltung einnahm als Jules Guesde. Jaurès sah in der syndikalistischen Bewegung ein Streben, wenn auch noch ein überschwängliches, mystisches Streben nach der wirthschaftlichen Volksherrschaft – nach der industriellen Demokratie. Er öffnete die ‚L’Humanité‘ den syndikalistischen Schriftstellern, und trotz der maßlosen Beschimpfungen, mit denen die Denker des Syndikalismus ihn überhäuften, sowie trotz des Missfallens der Guesdisten […] ließ Jaurès den Draht zwischen dem parlamentarischen und antiparlamentarischen Sozialismus nicht unterbrechen“.73 Die französischen Sozialisten waren geeint, aber sie bildeten keine Einheit, und schon gar keine unter dem Dach des Marxismus, wie es die deutsche Sozialdemokratie zur gleichen Zeit vormachte. Der Geist des anarchistischen Syndikalismus war keineswegs ausgetrieben, sondern trug die Bewegung weiter. Die verschiedenen Gruppen bewahrten sich ein gewisses Eigenleben, gerade wenn sie keine Hegemonie in der neuen Partei erreichen konnten. Die Guesdisten wurden mehr und mehr Fraktion. Madeleine Rebérioux schreibt: „Von den anderen Sozialisten, die nach ihrem Urteil weniger sozialistisch seien als sie selbst, unterschieden sie sich in ihrem Vokabular, ihrem Rigorismus und sogar in ihrer Kleidung: Sie trugen den berühmten guesdistischen Hut mit breiter Krempe und die Künstlerschleife à la Lavallière. Auf Kongressen wohnten sie alle im selben Hotel, verkehrten selten mit anderen Genossen, nahmen ihre Mahlzeiten gemeinsam ein und reservierten in den Sitzungen einen ‚guesdistischen‘ Platz für sich, von dem aus derselbe Beifall oder dasselbe verächtliche Schweigen anhob“.74 Schließlich gelang es Jaurès, auch den Widersacher Jules Guesde zu versöhnen. Um die Alterssicherung für Arbeiter durchzubringen, musste er den Widerstand der Marxisten um Hervé, Lafargue, Rappoport und Guesde überwinden, die ihm wieder „Millerandismus“ vorwarfen. Er überzeugte sie, indem er die regierenden Radikalen ins Boot holte.75 Beim Streik der Eisenbahner 1911 standen alle Sozialisten hinter ihm, als er sich in der Kammer direkt an die ehemals sozialistischen Minister wandte, die nach dem Amsterdamer Beschluss zu anderen Parteien gegangen waren: „Ich erinnere – und Sie haben dies vielleicht vergessen, nun wo Sie Männer der Macht sind – ich erinnere die großen Volksversammlungen, die wir zusammen bestritten haben. Ich sehe vor mir die rauen alten Männer, dem Lebensende nahe, die staunend hörten, nicht alles sei vergebens gewesen. Und ich sehe vor mir die jungen Männer, Jünglinge von vierzehn, fünfzehn oder sechzehn Jahren, die Augen entflammt in einem neuen Glauben, als sie Ihr Programm hörten. Nun sind dies Männer von dreißig, fünfunddreißig Jahren, und wenn sie in der Zeitung lesen, dass Sie es sind – Millerand, Viviani und
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Beer 1915, S. 11 Rebérioux 1975, S. 111 f. Goldberg 1962, S. 404 – 407
Briand – die ihnen das Streikrecht verweigern, dann müssen sie sich fragen, ob das Leben nicht am Ende doch ein böser Traum ist“.76 Auch für Jaurès war Amsterdam eine Wegscheide gewesen. Immer weniger vertraute er der reformistischen Politik, sein Denken radikalisierte sich. Die Vision der zukünftigen Gesellschaft wurde der Kraftquell seines Lebens und Handelns, für Jaurès wie für die ganze internationale sozialistische Bewegung: „Das edelste Ideal bedeutet eine Gesellschaft, in der die Arbeit herrscht, in der es weder Ausbeutung noch Unterdrückung gibt, in der die Kräfte aller sich in freier Eintracht vereinen, in der das soziale Eigentum Grundlage und Bürgschaft der persönlichen Entfaltung aller bedeuten wird. […] Wenn die Menschen erst weniger darauf erpicht sein werden zu herrschen, wenn sie auch von der Sorge sich zu verteidigen weniger in Bann gehalten und ihrer selbst und der anderen sicherer sein werden, dann werden sie auch mehr Muße und geistige Unbefangenheit haben, um Körper und Geist zu bilden; dadurch wird die erste wahrhafte Kultur freier Menschen heraufkommen, als würde die wunderbar sich entfaltende Blüte Griechenlands statt durch die Sklaverei zu verwelken, durch eine allgemeine Menschlichkeit wiedergeboren“.77
Friedensmission Die Zeit der inneren Kämpfe war vorüber. Unter der Führung von Jean Jaurès schickten sich die französischen Sozialisten an, eine zentrale Rolle in dem tragischen letzten Akt der zweiten Sozialistischen Internationale zu spielen. Alle anderen Fragen wurden zunehmend zweitrangig vor der einen, der Verhinderung des Kriegs. Die Internationale, im Jahre 1905 ganz mit der russischen Revolution befasst, wurde aufgeschreckt durch die erste Marokkokrise. Der deutsche Kaiser hatte mit einem Staatsbesuch beim marokkanischen Sultan in Tanger Frankreichs Absichten zur Errichtung eines Protektorats in Frage gestellt und damit auch das herzliche Einvernehmen – „Entente cordiale“ – zwischen England und Frankreich zur Aufteilung der afrikanischen Einflusssphären empfindlich gestört. Der große europäische Krieg, bisher eher theoretisch erörtert, wurde zur realen Gefahr, und mit den französischen und den deutschen Sozialisten waren die beiden mächtigsten Parteien des Bundes betroffen. Alles kam nun darauf an zu zeigen, dass es den Sozialisten ernst war mit der internationalen Solidarität gegen den Krieg. Jean Jaurès in Berlin und August Bebel in Paris sollten den Friedenswillen der Proletarier beider Länder bekunden. Die deutsche Regierung, die in Jaurès durchaus einen Verbündeten sah, wenn er den französischen Militarismus bekämpfte, untersagte ihm jedoch die Einreise nach Deutschland. Der
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Goldberg 1962, S. 412 Jaurès 1913, S. 375
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deutsche Botschafter suchte Jaurès ungewöhnlicher Weise zuhause auf, um ihm das Verbot zu begründen. Und er begab sich auf den Bahnhof um sich von dessen Befolgung zu überzeugen.78 Die Berliner Kundgebung fand statt, und die Rede von Jaurès, die verlesen und gleichzeitig in der „L’Humanité“ und im „Vorwärts“ gedruckt wurde, hatte ein womöglich noch stärkeres Echo.79 Ebenfalls gegen den Widerstand der deutschen Polizei organisierten die Sozialisten einen internationalen Antikriegstag an der Schweizer Grenze. Ursprünglich sollte die gemeinsame Kundgebung am 9. Juli 1905 in Konstanz stattfinden. Den Ausländern wurde jedoch der Auftritt verboten, sodass hier nur August Bebel sprach. Nach seiner Rede zogen die fast 10.000 Teilnehmer ins schweizerische Kreuzlingen, wo der Österreicher Victor Adler, der Italiener Angiolo Cabrini und der Schweizer Greulich zum Widerstand gegen den drohenden Krieg aufriefen.80 Weder für die Internationale, noch für Jaurès lagen die Dinge jedoch so einfach. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Problemen der Nation, des Imperialismus und des Kriegs wurde notwendig. Jaurès hatte den französischen Militarismus und Nationalismus während der Dreyfus-Affäre und zuvor während des drohenden Staatsstreichs des General Boulanger erbittert bekämpft. Die Verteidigung der Republik, auch militärisch, lag ihm deshalb nicht weniger am Herzen. Er wandte sich deshalb entschieden gegen den extremen Antinationalismus des Guesdisten Gustave Hervé, der seinen Anhängern zurief „Zum Teufel mit der Fahne!“81 Er unterstützte die „friedliche Durchdringung“ Marokkos, um den französischen Nationalismus von der Elsass-Lothringen-Frage abzulenken, und weil er – wie auch die englischen und belgischen Sozialisten – dem Kolonialismus eine kulturelle Mission zusprach.82 Er widersprach der französischen Politik der Annäherung an Russland und befürwortete ein europäisches Bündnissystem unter Einschluss Deutschlands. Er war Gegner des Revanchismus, der die Rückgewinnung Elsass-Lothringens durch Krieg propagierte, und hoffte, gemeinsam mit den deutschen Sozialdemokraten eine „republikanische Autonomie“ der Provinzen zu erreichen.83 In all dieser Widersprüchlichkeit und Unübersichtlichkeit wurde er zum Friedensapostel, wie sein Biograf Auclair beschreibt: „Toulouse, Lille, Montpellier, Roanne, Montluçon, Dijon, Nimes, Bordeaux, Guise, Reims, Roubaix, Avignon, Marseille, Carmaux, Toulon, Lyon – an jeder Eisenbahnstation in Frankreich, schien es, stieg irgendwann Jaurès aus dem Zug, seinen Koffer in der Hand, als unermüdlicher Reisender des Friedens. In das kleinste französische Dorf, in die großen Hauptstädte Europas kam er […] speziell in diesen Jahren als Botschafter des Kampfes der Sozialisten gegen den Krieg“.84
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Brand 1973, S. 79; Groh, Brandt 1992, S. 97 Jackson 1949, S. 160 f.; Groh, Brandt 1992, S. 88 – 111 Lampe 1990, S. 285 Jackson 1949, S. 167; Goldberg 1962, S. 343 – 352 Jackson 1949, S. 197; Goldberg 1962, S. 424 – 427 Jackson 1949, S. 64, 157 – 161 Zitiert: Goldberg 1962, S. 381
Auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 bestimmte die Kriegsgefahr die Debatten. Jaurès sprach sich dort – Seite an Seite mit den radikalen Linken – für den internationalen Generalstreik als letztes Mittel bei Ausbruch eines Kriegs aus. Er erscheint somit als Verfechter einer revolutionären Linie, wie sie dann ja auch in der Schlussresolution mit dem Passus von Luxemburg, Lenin und Martow verabschiedet wurde. Jaurès wurde deshalb von späteren Historikern als aufrechter Streiter gegen die Zögerlichkeit der deutschen Sozialdemokratie auf den Schild gehoben.85 Tatsächlich verteidigte er die gemeinsam mit Hervé und Vaillant eingebrachte Resolution, bezog sich dabei jedoch ausdrücklich auf die Massenaktionen zur Verhinderung des Kriegs, nicht auf die von den Russen und Luxemburg erwogene revolutionäre Umkehr der Waffen im Kriegsfall: „Es wäre traurig, wenn wir nicht mehr sagen könnten als Bebel, dass wir kein bestimmtes Mittel wissen, um die Völkerverhetzung und den Völkermord zu verhindern; traurig, wenn die gewaltig gestiegene Macht der deutschen Arbeiterklasse, des internationalen Proletariats nicht weiter reichte! In keiner Frage begnügen wir uns mehr mit der parlamentarischen Aktion. […] Auch zur Verhinderung des Kriegs muss das Proletariat alle Kräfte freimachen, die es in seinen gewaltigen Massen hat“.86 Stärker als die beeindruckenden Wortgefechte und theoretischen Differenzen innerhalb der Internationale wog jedoch die Gemeinsamkeit ihrer Parteien, ihre Gemeinsamkeit in Zielen, Aktionen, Hoffnungen und Irrtümern. Richtig ist, dass Jaurès genau wie Kautsky und Bebel und die Mehrheit der Internationale den Krieg nicht mehr für einen unvermeidlichen Ausfluss imperialistischer Politik hielt. Richtig ist, dass er wie eben diese Mehrheit der Sozialistischen Internationale im Krieg keinen Katalysator der Revolution sah, sondern im Frieden die Bedingung für die Fortentwicklung zum Sozialismus.87 Richtig ist ferner, dass er genau wie die deutschen Sozialdemokraten um Bebel das Dilemma zwischen Landesverteidigung und Kriegsverhinderung sah. Die Forschung neigt inzwischen der Meinung zu, dass Jaurès vor allem deshalb gemeinsam mit Vaillant für den Generalstreik plädierte, weil er die syndikalistische CGT, die französischen Gewerkschaften, einbinden wollte. Der Generalstreik machte in seinem Denken nur Sinn im Zusammenhang mit einem internationalen Schiedsgericht.88 Schon im Dezember 1905 hatte Jaurès vor der Abgeordnetenkammer ein solches schiedsrichterliches Verfahren im Kriegsfall gefordert und es mit der Drohung von internationalen Aktionen der Arbeiter verbunden.89 Jaurès, der im Unterschied zu den anderen Sozialistenführern über staatspolitische Erfahrung verfügte, setzte also nicht so sehr auf die direkte Aktion, sondern auf die Waffen der Diplomatie und des Völkerrechts. Der internationale Generalstreik sollte die zum Krieg bereiten Staaten zwingen, das Schiedsgericht anzurufen. Wer sich weigerte, wäre als Angreifer gebrandmarkt. Nach seiner Rückkehr aus Stuttgart berichtete Jau-
85 86 87 88 89
Groh, Brandt 1992, S. 121 – 130 Zitiert: Blänsdorf 1989, S. 27 So am 4. August 1905 in der Humanité: Jackson 1949, S. 165 Blänsdorf 1989, S. 29; Jackson 1949, S. 164 Jackson 1949, S. 164
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Jean Jaurès spricht am 25. Mai 1913 gegen die Wehrpflicht
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rès in einer großen Volksversammlung in der Tivoli-Vaux-Hall, wobei er auch hier die revolutionäre Option der Stuttgarter Resolution außer Acht ließ: „Die Internationale hat zwei unteilbare und nicht voneinander zu lösende Wahrheiten proklamiert. Die erste Wahrheit ist, dass autonome Nationen das Recht haben, ihre Souveränität mit aller Energie zu bewahren. Die zweite Wahrheit ist, dass zur Verhinderung plötzlicher mörderischer Ausbrüche, in denen die Arbeiter nicht nur ihr Blut vergießen, sondern auch an ihrem Gewissen Schaden nehmen, es die Pflicht der Arbeiter ist, den Krieg zu verhindern. […] Sie müssen den Keim der verhängnisvollen Kriege durch parlamentarische oder durch die soziale Aktion zertreten“.90 Die beiden Wahrheiten waren hingegen keineswegs so unteilbar. Dahinter stand der Widerspruch zwischen dem nationalistisch-republikanischen Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker und dem sozialistischen Grundsatz des Internationalismus der Arbeiter. Landesverteidigung und Kriegsverhinderung bildeten eher ein Dilemma. Denn lieferte man das eigene Land nicht mit dem Kriegsstreik dem despotischen, unentwickelteren Angreifer mit der schwächeren sozialistischen Bewegung aus, der keinem Kriegsstreik erlag? Als solchen sahen die Deutschen Russland, und die Franzosen Deutschland vor sich. Jaurès wandte sich dem Problem der Friedenssicherung mit seinem Buch „Die neue Armee“ von der militärwissenschaftlichen Seite zu. Es sollte das erste Werk in einer Reihe sein, mit der Jaurès die Institutionen eines sozialistischen Frankreich systematisch ausarbeiten wollte. Er präsentierte den Plan einer Milizarmee und schlug damit eine wahrhaft republikanische Reform der französischen Streitkräfte vor. Die wären noch immer in den Händen einer aristokratischen Offizierskaste, wie der Dreyfus-Skandal gezeigt habe. Er plädierte gegen die aktuell in der Kammer debattierte dreijährige Wehrpflicht und unterbreitete dagegen den Milizgedanken als entscheidendes Mittel zur Friedenswahrung. Es war seine wohlbegründete Überzeugung, dass eine im Volk verwurzelte Milizarmee – anders als das gegenwärtige stehende Heer – sich jedem Angriffskrieg verweigern und die republikanischen Institutionen weit besser gegen jeden Angriff von innen und außen schützen könne. Im Verein mit dem internationalen Schiedsgerichtsverfahren könnten so Kriege abgewendet werden. Jaurès ließ das Buch 1910 als Gesetzentwurf in der Parlamentsdruckerei erscheinen. Von der Mehrheit der Abgeordneten wurde die Vorlage voller Hohn abgewiesen.91 Die internationale Aufmerksamkeit war indessen beträchtlich; schon drei Jahre später erschien das Werk auf Deutsch bei Diederichs in Jena. Leo Trotzki, als Korrespondent der „Kijewskaja Mysl“ in Frankreich, sah Jaurès im November 1914 bestätigt: „Alle inneren Reibungen wurden dadurch überwunden, dass man sich der unmittelbaren Gefahr bewusst wurde, die dem Land drohte. […] Was den Geist, die innere Einstellung und die sie umgebende Atmosphäre betraf, so verwandelte sich die französische Armee de facto in eine Miliz, d. h. in eine Organisation der nationalen Selbstverteidigung par excellence. Alle Theorien der Militär-Bürokraten zugunsten einer dreijähri-
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Zitiert: Jackson 1949, S. 174 f. Jackson 1949, S. 178 – 189
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gen Wehrpflicht waren total gescheitert“.92 Der Labourführer Ramsay MacDonald allerdings schrieb nach den Erfahrungen des Weltkriegs kritisch zum Milizplan von Jaurès: „Eine Nation in Waffen denkt in Feldlagern und gehorcht den Impulsen des Militarismus bereitwilliger als eine Nation, die nicht unter Waffen steht“.93 Und doch bleibt der Milizplan von Jaurès grundlegend für jede demokratische Armee, gegen die aristokratischen stehenden Heere ebenso wie gegen die Söldnertruppen der Gegenwart. Eindringlich befasste sich Jaurès mit dem Verhältnis von Nationalismus und Internationalismus, denn sein Buch war auch eine Auseinandersetzung mit Hervé und Guesde. Karl Marx habe mit seiner verkürzten Aussage im „Kommunistischen Manifest“, dass die Arbeiter kein Vaterland hätten, den Gedanken der Tirade geopfert. Dies hätte allenfalls einige Wahrheit gehabt, „da die Arbeiterklasse in ganz Europa, in England, in Frankreich eben sowohl als in Deutschland, vom allgemeinen Wahlrecht ausgeschlossen, mit politischer Ohnmacht geschlagen und durch die Bourgeoisie selbst aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen war“.94 Doch selbst zu diesen Zeiten hätten die Arbeiter sehr wohl ihre Rolle in der nationalen Geschichte gehabt, wie viel mehr erst unter republikanischen Verhältnissen. Jaurès, der die nationalistischen Leidenschaften beim Putschversuch von Boulanger und in der Dreyfus-Krise erfahren hatte, verkannte die Schattenseiten des Nationalismus nicht: „Indem das Vaterland die Egoismen der Einzelnen aufsaugt, oder vielmehr zu einem großen Kollektivegoismus steigert, leiht es oft den brutalsten Begierden einen Schein von Edelmut. Die Menschen können die Illusion haben, der Gerechtigkeit zu dienen, selbst wenn sie sich den ungerechten Interessen einer Macht weihen, der sie angehören, die aber viel stärker ist als sie selbst. Daher die blinde Verstiegenheit und die brutalen Maximen. Daher anerkennen sogar hohe Geister die abscheuliche Formel: Mag es Recht oder Unrecht haben, es ist mein Land“.95 Er sah aber – anders als Hervé und die antinationalistische Linke in der Internationale – die Nation als wesentliches Element der künftigen sozialistischen Gesellschaft: „Wenn man sagt, die soziale und internationale Revolution beseitige das Vaterland, was will man damit sagen? Behauptet man, die Umwandlung einer Gesellschaft müsse sich von außen her und durch eine äußere Gewalt vollziehen? Das wäre die Negation des ganzen sozialistischen Gedankens, der erklärt, dass eine neue Gesellschaft nur entstehen kann, wenn ihre Elemente schon in der gegenwärtigen Gesellschaft vorbereitet worden
92 93 94 95
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Trotzki 1998, S. 21 Jackson 1949, S. 187 Jaurès 1913, S. 385 Jaurès 1913, S. 397
sind. Daher wird die evolutionäre, internationale Aktion notwendig das Kennzeichen der nationalen Tatsachen tragen. Sie wird in jedem Lande besondere Schwierigkeiten zu bekämpfen haben, und sie wird in jedem Lande, um diese Schwierigkeiten bekämpfen zu können, über besondere Mittel verfügen: die Eigenkräfte der nationalen Geschichte, des nationalen Geistes. Die Stunde ist vorbei, da die Utopisten den Kommunismus für eine künstliche Blume hielten, die man nach Belieben in einem Klima, das ein Sektenoberhaupt ausgewählt hätte, zur Blüte bringen könnte. Es gibt kein Ikarien mehr. Der Sozialismus trennt nicht mehr vom Leben, er trennt nicht mehr von der Nation; er bedient sich des Vaterlandes selbst, um es umzubilden und zu vergrößern. Ein abstrakter und anarchistelnder Internationalismus, der von allen Vorbedingungen des Kampfes, der Aktion und Entwicklung jedes einzelnen historischen Verbandes absehen würde, wäre nur noch ein erkünstelteres und altmodischeres Ikarien als jenes andere“.96 Am Ende band er die beiden Wahrheiten des Sozialistenkongresses auf das Schönste zusammen: „In der Internationale findet die Unabhängigkeit der Nationen ihre höchste Gewähr; in den unabhängigen Nationen wiederholt die Internationale die stärksten und edelsten Organe. Man könnte fast sagen: Ein wenig Internationalismus entfernt vom Vaterland; viel Internationalismus führt zum Vaterland zurück. Ein wenig Patriotismus entfernt von der Internationale, viel Patriotismus führt zur Internationale zurück“.97 Doch was war dies anderes als eine Tirade und ein Gedankenopfer? In Wahrheit gab es keine solche Auflösung des Dilemmas. Der Nationalismus, auch der republikanische, ließ sich mit dem sozialistischen Internationalismus weder überwinden, noch ließ er sich einfach darin auflösen. Wie ein Unterbewusstes breitete sich der nationalistische Zeitgeist auch in den sozialistischen Parteien aus, vorerst glühend bekämpft im Namen des Internationalismus, der gewiss mehr war als Rhetorik, und doch diesen unablässig aushöhlend.98 Inmitten aller Debatten und Kämpfe um die Beilegung der einander immer rascher ablösenden internationalen Krisen unternahm Jean Jaurès im Sommer 1911 die einzige Überseereise seines Lebens. Die Sozialistischen Parteien Brasiliens und Argentiniens hatten ihn eingeladen. Die Vortragstour bedeutete für Jaurès neue Hoffnung für die Ausbreitung des Weltsozialismus und für die Gastgeber politische Unterstützung in ihrem Kampf um Unabhängigkeit. Schon auf der Hinreise in Lissabon war er von Regierung und Parlament der neu errungenen portugiesischen Republik enthusiastisch gefeiert worden: „Viva Jaurès! Viva la Republica Francesa!“99 Bei seiner Rückkehr war die zweite Marokkokrise auf dem Höhepunkt. Jaurès und seine Sozialisten unterstützten das Marokko-Kongo-Abkommen, das im November die Krise beendete. 96 97 98 99
Jaurès 1913, S. 398 Jaurès 1913, S. 407 Kriegel 1976, S. 37 Goldberg 1962, S. 421 f.
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Die Deutschen akzeptierten darin das französische Protektorat über Marokko im Tausch gegen ein Stück vom Kongo („Neu-Kamerun“). Jaurès war sich wohl bewusst, welch abschüssige Bahn die Sozialisten mit solcher Beihilfe zu imperialistischer Expansion betraten, aber er tröstete sich: „Einstweilen haben wir die Krise in den französisch-deutschen Beziehungen gelöst“.100 Der von Jaurès mit der Mehrheit der Internationale begangene Weg der Verhandlungen und Demonstrationen schien erfolgreich; er befriedigte vorerst auch die radikalen Flügel der sozialistischen Parteien. War nicht die zweite Marokkokrise 1911 auch unter dem Druck der sozialistischen Kundgebungen in Madrid, Paris und Wien beigelegt worden? Hatte die Internationale nicht ihre Macht gezeigt, als alle Sektionen auf Anweisung des Internationalen Büros am Sonntag, dem 17. November 1912, Kundgebungen gegen die Ausdehnung des Balkankriegs abhielten? Diese Versammlungen waren der Auftakt gewesen zur mächtigen Anti-Kriegs-Manifestation des Internationalen Sozialistenkongresses in Basel am 24. November 1912. Tausende waren mit Sonderzügen aus dem Elsass, aus Baden und der Schweiz herbeigekommen und versammelten sich gemeinsam mit den Delegierten vor dem Dom. Weißgekleidete Kinder mit Birkenzweigen, die dem Wald roter Fahnen voranschritten, gaben dem Einzug etwas Opernhaftes. Nachdem die mächtigen Glockenschläge verhallt waren, nahm Jaurès in seiner Eröffnungsrede das Motto auf, das Friedrich Schiller seinem „Lied von der Glocke“ vorangestellt hatte: „Vivos voco. Mortuos plango. Fulgura frango“. („Die Lebenden ruf’ ich. Die Toten beklag’ ich. Die Blitze brech’ ich“.) Seine Rede war ein einziger Appell an die Kraft, die aus der Friedenssehnsucht der Völker wachsen musste. Er schloss: „Die Regierungen sollten daran denken, wenn sie die Kriegsgefahr heraufbeschwören, wie leicht die Völker die einfache Rechnung aufstellen könnten, dass ihre eigene Revolution sie weniger Opfer kosten könne, als der Krieg der anderen“.101 Die Baseler Manifestation wurde durch Europa gehört und verbreitete Hoffnung gegen die Kriegsfurcht. Louis Aragon, als Kommunist kein Bewunderer von Jaurès, setzte dieser Rede ein Denkmal in seinem Roman „Die Glocken von Basel“: „In diesem Augenblick […], wo er das Herz der Arbeiterschaft schlagen hört, das er letzten Endes doch zum Ausdruck bringt, verkörpert Jaurès wirklich den Kampf gegen den Krieg. […] Jaurès spricht von den Glocken von Basel […] Alles, was sie während ihres Glockenlebens zusammen geläutet haben, diese Glocken, zieht jetzt in der singenden Glut der Worte Jaurèsʼ noch einmal durch den Raum. Es zieht dahin mit der Wärme, die er den Worten zu geben weiß, mit der Wärme der Glocken seiner Stimme. […] Die Hoffnung der Revolution steigt aus dieser immer leidenschaftlicher werdenden Rede auf“.102
100 Goldberg 1962, S. 425 101 Braunthal 1978a, S. 351 102 Aragon 1956, S. 433
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Dem ersten Balkankrieg folgte ein zweiter auf dem Fuß, auch er wurde im August 1913 durch die Diplomatie der Großmächte beendet. Obwohl alle Seiten ihre Rüstungen in dem Maße verstärkten, wie ihre Furcht voreinander wuchs, schien noch die Krise nach den Schüssen von Sarajevo am 28. Juni 1914 wie eine Neuauflage der kürzlich bewältigten. Das eilig zusammengetretene Internationale Büro in Brüssel begriff nicht die Verzweiflung der österreichischen und tschechischen Parteiführer, deren Länder sich schon im Krieg befanden. Es rief zu Kundgebungen auf, um den Druck auf eine schiedsrichterliche Einigung Österreichs und Serbiens zu verstärken. Jean Jaurès und der deutsche Parteivorsitzende Hugo Haase, der von großen Friedensdemonstrationen berichten konnte, versicherten einander, dass ihre jeweiligen Regierungen keinen Krieg wollten. Auf einer Versammlung im Cirque Royal in Brüssel am 29. Juli bekräftigte Jaurès diese Überzeugung. Erst am 31. Juli, als auf die russische Generalmobilmachung die deutsche Kriegserklärung folgte, sah Jaurès die Gefahr in voller Größe. Er rief auch dann nicht die französischen Arbeiter zum Generalstreik auf, und das wohl nicht, weil er auf eine entsprechende Aktion der deutschen Sozialdemokratie wartete.103 In der Analyse des Zusammenbruchs der Internationale, die Leo Trotzki im Oktober 1914 in Zürich verfasste, erklärt er dieses verhängnisvolle Stillhalten nach dem jahrelangen Anrennen gegen den Krieg: „Diese drohende Position der Sozialdemokratie, nicht nur der deutschen, sondern auch der internationalen, war nicht ohne Resultat. Die Regierungen haben wirklich alle Anstrengungen gemacht, um den Ausbruch hinauszuziehen. Aber nicht nur das. Die Monarchen und Diplomaten haben mit verdoppelter Aufmerksamkeit ihre Schritte der friedlichen Psychologie der Volksmassen angepasst, zischelten mit den sozialistischen Führern, schnupperten im Internationalen Büro und schufen sonach eine Stimmung, dank welcher es Jaurès wie Haase möglich war, in Brüssel zu behaupten – einige Tage vor Ausbruch des Kriegs – dass ihre Regierungen kein anderes Ziel kannten als die Erhaltung des Friedens. Und als sich das Ungewitter entlud, suchte die Sozialdemokratie eines jeden Landes den Schuldigen – auf der anderen Seite der Grenze!“104
Das Attentat Jaurès ging am Morgen des 30. Juli in Brüssel noch ins Museum zu seinen geliebten flämischen Malern. Er konferierte nach der Rückkehr in Paris mit seinen Fraktionskollegen und mit dem Außenminister. Er schrieb den Leitartikel für die „L’Humanité“ und wollte auch am 31. Juli die Redaktionsarbeit nur kurz unterbrechen, um mit seinen Mitarbeitern in einem Café zu Abend zu essen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lauerte Raoul Villain, sein Mörder. Drei Kugeln des Nationalisten durch das Fenster des Cafés trafen Jaurès tödlich.105 103 Blänsdorf 1989, S. 31 – 34 104 Trotzki 1998, S. 425 105 Goldberg 1962, S. 458 – 474
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Vorausgegangen war eine hemmungslose Diffamierungskampagne. Nicht nur die konservative Presse, die Jaurès als Gegner des Monarchismus, Militarismus und Klerikalismus spätestens seit den Tagen der Dreyfus-Affäre hasste, die gesamte bürgerliche Presse prangerte ihn als Deutschenfreund und Vaterlandsverräter an, den Internationalisten, Friedensapostel und Fürsprecher einer Aussöhnung mit Deutschland, ihn, der doch zugleich ein glühender Patriot und Verteidiger des revolutionären Republikanismus war. Einer der schlimmsten Eiferer gegen Jaurès war sein einstiger Bewunderer Georges Sorel, nach dem Übergang auf die nationalistische Rechte ein geistiger Wegbereiter des Faschismus. Nicht wenige sahen den Mord deswegen auf seinen Schultern und denen von Charles Péguy lasten – ebenfalls ein ehemaliger Sozialist und Freund.106 Nun war sogar die großbürgerliche „Temps“ entsetzt: „Wir, die wir nie aufgehört haben, den Leiter der ‚Humanité‘ zu bekämpfen, seine gefährliche Rolle zu denunzieren, die Irrtümer in der auswärtigen Politik und die antimilitaristische Haltung eines Mannes von dieser äußersten Intelligenz und vollkommenen Rechtschaffenheit zu verurteilen, – wir haben das Recht, unserer Entrüstung über den Meuchelmord Ausdruck zu geben und dem Toten zu salutieren“.107 Die Nachricht von diesem Mord ging zugleich mit der vom Ausbruch des Kriegs um die Welt. Inmitten des nationalistischen Taumels fand am 4. August unter großer Anteilnahme der Pariser Arbeiter das Begräbnis von Jaurès statt. Camille Huysmans sagte namens des Internationalen Sozialistischen Büros: „Zehn Millionen organisierte Arbeiter und Sozialisten sahen in Jaurès die Verkörperung des edelsten, beredtesten und vollkommensten Strebens des Sozialismus. Das Genie von Jaurès schloss sich nicht im Rahmen einer Partei ein. Er war noch mehr als der Vertreter einer Klasse. Er war das Sinnbild des Zeitalters. Jaurès gehörte nicht nur den Franzosen, er gehörte allen Nationen“.108 Der Mörder wurde gefasst, aber man wagte es bis zum Friedensschluss nicht, ihm den Prozess zu machen. Die „Union Sacrée“ (Geheiligter Bund), der die sozialistischen Fraktionskollegen von Jaurès ebenso samt und sonders beitraten, wie die deutschen Sozialdemokraten dem kaiserlichen Burgfriedensangebot, sollte nicht gestört werden. Als Villain dann 1919 als unzurechnungsfähig freigesprochen wurde, musste dies die Freunde und Genossen von Jaurès empören. Die Arbeiter von Carmaux traten wie schon am Tag nach dem Attentat in Streik gegen dieses Urteil bürgerlicher Klassenjustiz. Am 23. November 1924 wurde der Leichnam von Jean Jaurès in den Pantheon überführt, seine Büste war mit Kreuzen der Ehrenlegion geschmückt, 350.000 Menschen säumten die Straßen.109 Am Rande des langen Zuges stand auch ein sowjetischer Dichter, Wladimir Majakowski, der schrieb ein langes Poem, voll Zorn und Trauer. 106 107 108 109
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Freund 1972, S. 146; Genett 2008, S. 311 Beer 1915, S. 19 Beer 1915, S. 21 f. Dieseldorff 1922, S. 7 – 17, 32 – 34
Jaurès (1924) November. Bekümmert und arbeitslos das Volk von Paris. Da schau ich: ein Aufzug in Autos! Ganz groß. Was ist los? In Dreispitzen, pomphaft, beschaulich. In Handschuhn die Mörderhände des Kriegs, seit rote Chancen aufschienen, – sie machen uns ein U für ein X um an Jaurès zu verdienen. Sie zeigen den Arbeitern: „Seht, auch Jaurès ruht nun mit den großen Unsrigen! Er wird, als Franzose, wir hoffen es, das Pantheon nicht beunruhigen“. Schon längst die rührselige Redensart floss: Interessengemeinschaft, Progress … Halt, stillgestanden! Wer von euch schoss durchs Fenster feig auf Jaurès? Jetzt kommt man mit Seelenmess und Choral. Arbeiterklasse, pass auf! Genosse Jaurès, zum zweiten Mal sucht dich der Revolverlauf! Jaurès wird nicht fallen. Unterm Mastenwald 117
der Fahnensegel, laut und lichterloh, zieht er, wie einst, die Rednerfaust geballt, mit seinem Volk zum Pantheon durch die Rue Soufflot.110
110 Majakowski 1968, S. 131 – 133
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Józef Klemens Pi sudski
Józef Klemens Pi sudski (1867 – 1935) Der Unabhängigkeitskämpfer als Sozialist Als „Schöpfer des modernen Polen“ war er schon zu Lebzeiten Gegenstand eines überbordenden nationalen Kults.1 Dass er Sozialist gewesen war, wurde dabei verdrängt und vergessen. Doch Piłsudskis sozialistische Periode war mehr als eine Jugendtorheit, und in allen politischen Lagern identifizierte man ihn noch mit dem polnischen Sozialismus, als er sich schon ganz davon losgesagt hatte. Der adlige Haudegen hat seinen Platz unter den europäischen Sozialisten, und er war durchaus keine Randfigur. Sein Sozialismus war so unlösbar mit dem Kampf um Unabhängigkeit verquickt, wie es für die Völker des östlichen Europa charakteristisch war, die im Schatten der Machtpolitik umliegender Großreiche zur Nation wurden. Nationalismus blieb auch unter der Pax Sovietica Wesensbestandteil des osteuropäischen Sozia-
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So der Untertitel der ersten deutschsprachigen Biografie seit mehr als 70 Jahren: Michael 2010; zum Kult: Hein 2002
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lismus, getragen von einer beträchtlichen personellen und geistigen Kontinuität intellektueller Eliten, und er war mehr als ein Instrument zur Integration der sozialistischen Gesellschaften. Nationalismus und Sozialismus gingen seit den Zeiten der Ersten Internationale eine Symbiose ein, nie unangefochten durch kosmopolitische Gegenbewegungen.
Im Schatten des Januaraufstands Józef Klemens Piłsudski wurde am 5. Dezember 1867 im litauischen Zułów als viertes von zwölf Geschwistern geboren. Das heutige Zalava liegt 60 Kilometer nordöstlich von Wilna, nahe der weißrussischen Grenze.2 Er war ein Kind der Kresy, der weiten östlichen Grenzländer, wo ein polonisierter Adel über litauische und „ruthenische“, also weißrussische und ukrainische, Bauern herrschte. Dort war das Städtenetz weitmaschiger als im mittleren Polen um Warschau und Lodz, und das jüdische Stetl prägte die städtische Kultur. Die Kluft zwischen Adel und Bauern war tief, so tief, dass die Bauern 1863/64 ihre Gefolgschaft im Aufstand gegen die russische Herrschaft verweigerten und ihre Herren oft genug deren Feinden ans Messer lieferten.3 Der Vater, ebenfalls Józef geheißen, war während des Aufstands für die Nationalregierung der Rebellen tätig gewesen, und seine Güter waren infolgedessen konfisziert worden. Das Landgut Zułów war Erbe der Mutter, es umfasste rund 3.000 Hektar, und es gab daneben andere Güter. Die Eltern, die Cousins dritten Grades waren, führten ihre Familien auf die litauischen Fürstengeschlechter Ginaitis und Gediminas zurück. Von kleinadeliger Herkunft, wie immer wieder zu lesen ist, kann also nicht die Rede sein. Piłsudski erinnerte sich später wehmütig an die Weite der waldigen Landschaft und an die gemeinsamen Reitausflüge mit seinem ein Jahr älteren Bruder Bronisław. Es war eine Kindheit im Widerschein jener „sarmatischen“ Freiheit, die Maria Bogucka als die Lebenswelt des frühneuzeitlichen polnischen Adels beschreibt, eine stadtferne Welt ursprünglicher Naturverbundenheit, in der die ritterlichen Tugenden der Ehre, der militärischen Tapferkeit und des Kampfes für König, Gott und Vaterland galten.4 Der Vater hatte versucht, das Gut Zułów mit allerlei verarbeitenden Betrieben von der Mühle bis zu Brennerei und Sägewerk ertragreicher zu machen; die Investitionen überforderten ihn jedoch, und ein Brand vollendete das Fiasko. Die Agrarkrise der siebziger Jahre setzte allgemein dem polnischen Adel noch härter zu als die Bauernbefreiung des Jahres 1864, mit der die russische Regierung den Besiegten die Abgaben und Dienste ihrer Bauern entzogen hatte.5 Die Familie zog deshalb 1874 nach Wilna, in Verhältnisse, die durch die wachsende Geschwisterschar immer enger wurden. Die Mutter war bis zu ihrem frühen Tod ein Jahr vor dem Abitur des jungen Piłsudski dessen wichtigste Bezugsperson, und er, der von allen zärt2 3 4 5
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Für die folgenden Ausführungen zu Kindheit und Jugend: Garlicki 1995, S. 1 – 11; Mettler 1938, S. 1 – 13; Michael 2010, S. 19 – 25 Blit 1971, S. 3 Mettler 1938, S. 11; Bogucka 1996 Trees 2007, S. 33
lich „Ziuk“ genannt wurde, war ihr Liebling. Zeitlebens hatte er das Bild der Mutter in seinem Schlafzimmer hängen, und seinem Wunsch gemäß wurde am Ende sein Herz auf dem Grab der Mutter in Wilna beigesetzt. Maria Piłsudska war eine polnische Mutter, wie sie im Buche steht, ihren Kindern den Patriotismus wie eine Religion einflößend. Piłsudski beschreibt, wie sie mit feierlichem Ernst die Bücher der polnischen Dichter hervorholte, die unter der russischen Herrschaft verpönt waren, um den Kindern daraus vorzulesen. Juliusz Słowacki wurde noch vor Mickiewicz sein Lieblingsdichter. Er trug dessen Poeme in Gefängnis, Verbannung und Krieg mit sich und sorgte später als Staatsmann dafür, dass dessen Gebeine aus der Emigration heimgeholt und auf dem Wawel in Krakau bei den Königen beerdigt wurden. Piłsudski erinnerte sich an die stillen Andachten bei den im Wald verborgenen Gräbern der gefallenen Aufständischen. Das waren die prägenden Eindrücke seiner Jugend. Die russische Schule wirkte abschreckend, denn sie machte alles Polnische verächtlich und strafte mit Karzer den, der Polnisch sprach. Die Schule schürte den Hass auf die russische Fremdherrschaft, wie die mütterliche Erziehung den Wunsch nach Rache für die Niederlage von 1863 nährte.6 Die Anlehnung an die Mutter war offenbar verbunden mit der Abwendung vom Vater und von dessen Versuchen, in der bürgerlichen Welt zu bestehen. Zeitgeschichtlicher Hintergrund war die „organische Arbeit“, wie sie die Warschauer und Posener Positivisten propagierten. Diese Strömung wuchs mit der bürgerlichen Entwicklung nach dem Wiener Kongress und gewann nach dem Fehlschlag des Januaraufstands stark an Boden. Die Positivisten wollten die polnische Nation entwickeln, indem sie die Modernisierung in Wirtschaft und Gesellschaft vorantrieben. Der Franzose Auguste Comte war ein wichtiger Ideengeber, in seinem Geist sollten Volksaufklärung und Beförderung naturwissenschaftlicher Bildung wichtiger werden als die Wiedergewinnung der alten Adelsrepublik. Bolesław Prus war der schriftstellerische Propagandist dieses Liberalismus, sein Roman „Die Puppe“ wurde sinnstiftend.7 Piłsudski wies bürgerliches Erwerbsstreben als Verrat an der Tradition der Aufstände zurück. Er nannte es verächtlich „ein so verständiges, ein so praktisches Geschäftchen, das zwar kaum seine drei Groschen täglich abwirft, doch von der mächtigen, hochtrabenden Losung einer patriotischen organischen Arbeit geschützt wird“.8 Er und seine Altersgenossen konnten dem Warschauer Positivismus auch deshalb nichts abgewinnen, weil von Osten wieder mächtig der Wind des Aufruhrs wehte. Die Ermordung des Zaren Alexander II. im Jahr 1881, ausgeführt von dem polnischen Petersburger Studenten Ignacy Hryniewiecki, begeisterte die Wilnaer Gymnasiasten. Dahinter stand die terroristische Geheimorganisation der Volkstümler „Narodnaja Wolja“ (Volkswille). So wie die polnischen Studenten in St. Petersburg eine „Kommune Polnischer Sozialisten“ bildeten, schlossen sich auch die aufrührerischen polnischen Gymnasiasten in Wilna in einer „Spójnia“ (Verbindung) 6 7 8
Mettler 1938, S. 15 – 18 Blejwas 1984; Żurowski 1985 Piłsudski 1935/36, Bd. 1, S. 35
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zusammen.9 Noch zum Ende der Schulzeit in Wilna kamen die Brüder Piłsudski in Kontakt mit Petersburger Studenten, die der Geheimorganisation angehörten. Piłsudski sah hier den Beginn seiner Laufbahn als Sozialist, auch wenn dies mehr oder weniger nur eine Mode unter den Gymnasiasten gewesen sei.10 Als er 1885 dem Wunsch seines Vaters folgend nach Charkow zum Medizinstudium ging, kam er erneut in Berührung mit der Narodnaja Wolja. Seit 1883 hatten diese Anarchisten ein Zentrum in Charkow, weil ihr Petersburger Quartier zerschlagen worden war. Aufwühlende Nachrichten vom Prozess gegen das Warschauer „Proletariat“ erreichten Charkow. Diese erste polnische sozialistische Organisation verübte nach dem Vorbild der russischen Volkstümler Terroranschläge, sodass die Mitglieder 1883 verhaftet und deren Führer hingerichtet oder verbannt wurden.11 Piłsudski beschäftigte sich in Charkow intensiver mit sozialistischen Schriften; er nennt später verschiedentlich das „Kapital“ von Karl Marx, dessen abstrakte theoretische Argumentation ihn aber abgestoßen hätte. Lieber berief er sich auf die Schriften der Polenfreunde Wilhelm Liebknecht und Alexander Herzen. Ob Piłsudski sich in Charkow am Rande der revolutionären Gruppen bewegte, wie er selbst und die meisten seiner Biografen glauben machen, oder ob er vorneweg bei Straßendemonstrationen und Versammlungen mittat, wie Mettler berichtet, muss offen bleiben. Er wurde jedenfalls mit Ende des ersten Studienjahres als Unruhestifter von der Universität verwiesen. Danach bemühte er sich vergeblich um einen Studienplatz im baltischen Dorpat (Tartu). Er war nur ein mäßiger Schüler und kein besonders eifriger Student gewesen, so sollte ihn dies nicht allzu tief betrübt haben. Da seine persönliche Situation aber ebenso trübe und aussichtslos war, wie die politische, geriet er in eine tiefe Krise. Wie auch später an Tiefpunkten seines Lebens plagte sich der zu Depressionen neigende Piłsudski mit Selbstmordgedanken.12 Er fand wieder Sinn in der Untergrundarbeit für die Narodnaja Wolja, für die er nun in Wilna eine kleine Zeitschrift herausgab. Über seinen Bruder Bronisław geriet er im März 1887 in den Umkreis des missglückten Attentats auf Zar Alexander III. Die unmittelbar Beteiligten, darunter Lenins Bruder Alexander Uljanow, wurden hingerichtet. Bronisław Piłsudski wurde zu 15 Jahren Zwangsarbeit auf der Pazifikinsel Sachalin verurteilt, also zur „Katorga“, der härtesten Freiheitsstrafe. Józef Piłsudski wurde für fünf Jahre nach Sibirien verbannt. Von Mai bis Weihnachten dauerte der qualvolle Transport, zu Fuß vom Moskauer Gefängnis über Nishni Nowgorod nach Irkutsk, dann nach eingetretenem Frost tausend Kilometer die vereiste Lena hinauf in den Verbannungsort Kirensk.13 Dort traf er auf Polen, Opfer früherer Wellen der autokratischen Unterdrückung. Unter ihnen war Stanisław Landy, der 1878 in Warschau gemeinsam mit Ludwik Waryński und Stanisław Mendelson sozialistische Zirkel gegründet hatte, dann in den berüchtigten X. Pavillon der Warschauer Zitadelle gesperrt und
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Blit 1971, S. 18 Piłsudski 1935/36, Bd. 1, S. 11 Blit 1971, S. 85 f.; 132 – 143 Garlicki 1995, S. 3 Garlicki 1995, S. 4 – 5; Piłsudski 1935/36, Bd. 1, S. 16 f.; Reddaway 1939, S. 17 f.
nach dem Angriff auf einen Wächter lebenslänglich nach Sibirien verbannt worden war.14 Diesem gebildeten und erfahrenen jüdischen Sozialisten schloss sich Piłsudski an, und dessen Schwägerin Leonarda Lewandowska wurde seine erste Liebe. Mit ihr lebte er zwischen Sommer 1889 und März 1890 zusammen, dann endete Leonardas Exil. Das Ehepaar Landy hatte schon vorher die Erlaubnis zum Umzug nach Irkutsk erhalten. In der Zwischenzeit drückte ihn die Verlassenheit so nieder, dass er die Behörden – vergeblich – ersuchte, seinem Bruder in das Straflager auf Sachalin folgen zu dürfen.15 Sein Bruder Bronisław erforschte während seiner Strafzeit die indigenen Völker Sachalins und wurde ein bedeutender Ethnologe; er starb im Mai 1918 in der Seine, wohl durch Selbstmord.16 Im August 1890 durfte endlich auch Piłsudski Kirensk verlassen und sich 200 Kilometer südwestlich von Irkutsk in Tunka ansiedeln. Die Behörden hatten ein Einsehen wegen des rauen Klimas in Kirensk, das Piłsudski zu schaffen machte. Seine Konstitution war zeitlebens schwach. In Tunka traf Piłsudski Bronisław Szwarce, einst Mitglied des Zentralen Nationalkomitees, das den Aufstand von 1863 vorbereitete; er war schon 1862 verhaftet und verbannt worden. Ob Piłsudski zu ihm ein ähnlich vertrautes Verhältnis wie zu Landy gewann, ist nicht überliefert.17 Mit Leonarda wechselte er noch eine Zeitlang Briefe, bis ihn neue Liebschaften ablenkten.18 In Tunka unterrichtete er die Kinder eines ukrainischen Arztes. Ansonsten streifte er durch die Wälder, bestritt mit dem erlegten Wild seinen Lebensunterhalt, spielte ausdauernd Karten und auch Schach. Er führte eher das Leben eines Adligen als das eines Intellektuellen, die poesievolle Naturnähe seiner Kindheitstage umfing ihn wieder. – Im Jahre 1933 sandte Piłsudski einen seiner Männer auf Spurensuche an die Orte seiner Verbannung. Dessen Bericht vermeidet sicher absichtsvoll jede Erinnerung an politische Gespräche und Motive und zeichnet mit zahlreichen Jagdgeschichten ein eher romantisches Bild jener Jahre, die den überschwänglichen Jüngling zum harten Mann machten.19 Am 30. Juni 1892 kam Józef Piłsudski wieder zuhause in Wilna an. Die Jahre des Exils waren für seine berufliche Bildung und Orientierung verloren, die Familie hatte fast alle ihre Güter verkauft und konnte ihm nur den nötigsten Rückhalt bieten, eine Anstellung fand sich nicht.20 Die Lage war verzweifelt, da eröffnete sich ihm ein neuer Weg als Berufsrevolutionär. Im Januar 1893 traf Stanisław Mendelson als Emissär der soeben in Paris gegründeten Polnischen Sozialistischen Partei in Wilna ein. Piłsudski war sein Ansprechpartner.
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Blit 1971, S. 34 f. Mettler 1938, S. 38 f. Bronisław Piotr Piłsudski, 30.06.2001; Piłsudski, Majewicz 1998 Haustein 1969, S. 147 Garlicki 1995, S. 6 f. Lepecki 1937 Garlicki 1995, S. 11; Mettler 1938, S. 38 – 45
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Parteiungen In Polen war die sozialistische Parteibildung noch komplizierter als in anderen Ländern, denn sie vollzog sich innerhalb der drei Kaiserreiche Österreich, Deutschland und Russland. Es blieb bis zur Wiedergeburt Polens eine ungelöste Frage, ob eine gemeinsame sozialistische Partei anstatt polnischer Parteien in den Teilungsgebieten angestrebt werden sollte, oder ob gar eine Integration in die Sozialdemokratie der jeweiligen Kaiserreiche zweckmäßig sei. Die mehrfachen Spaltungen und Zusammenschlüsse, die den heutigen Betrachter in der Frühgeschichte aller Parteien verwirren, werden im polnischen Fall also dreifach komplizierter. Im Zentrum steht im Folgenden Polen unter russischer Herrschaft. Das bestand aus dem Königreich Polen, nach dem Wiener Kongress auch Kongresspolen genannt, das nach dem Januaraufstand als „Weichselland“ gänzlich dem Russischen Reich eingegliedert wurde, und aus den litauisch-weißrussischen Provinzen der alten Adelsrepublik. Hier vollzog sich die Entwicklung unseres Helden. Die Frühgeschichte des polnischen Sozialismus war wesentlich eine Geschichte des Exils. Das erste Zentrum der polnischen Emigration war die Schweiz: Genf als Zentrum der Sozialistischen Internationale und Zürich als bevorzugter Studienort.21 Dorthin flohen die Geschlagenen des Januaraufstandes von 1863 und jene, die den Verhaftungswellen nach Aufdeckung der sozialistischen Zirkel und des „Proletariat“ entkommen konnten. Ludwik Waryński, der 1882 nach Warschau zurückkehrte, um das „Proletariat“ zu gründen und 1889 auf der Petersburger Festung Schlüsselburg starb, und Stanisław Mendelson, der sein Vermögen für Druckereien und sozialistische Zeitschriften hergab, sollen hier für viele stehen.22 Auf Druck des russischen und des deutschen Kaiserreichs wies die Schweiz Ende der achtziger Jahre die polnischen Exulanten aus. Sie verlegten ihre Zentrale nach Paris, und als auch Paris infolge der französisch-russischen Annäherung kein sicherer Ort mehr war, gingen sie nach London.23 Diese polnischen Flüchtlinge waren ganz überwiegend Adlige. Unter 23 führenden Sozialisten der achtziger und neunziger Jahre, die Haustein in seinen Fußnoten mit Kurzbiografien bedenkt, entstammten 17 dem Adel der östlichen Kresy. Fünf waren jüdischer Herkunft: Stanisław Mendelson, der dem Warschauer Zweig der Berliner Bankiersfamilie entstammte, Adolf Warszawski, genannt Warski, Feliks Perl, Leo Jogiches, der wie Piłsudski in Wilna revolutionäre Arbeit leistete und nach dem Zarenattentat in die Schweiz entkommen konnte, und Władysław Gumplowicz, ein Cousin von Otto Bauers Frau Helene Landau, einer geborenen Gumplowicz. Julian Marchlewski kam aus halb deutschem Bürgertum Kongresspolens. Wie sich bald zeigen sollte, folgten die jüdischen und bürgerlichen Sozialisten anderen Sternen als ihre adeligen Genossen, die mehrheitlich Söhne oder nahe Verwandte von Teilnehmern des Januaraufstandes waren.24 Józef Piłsudski schwamm in diesem Milieu wie ein Fisch im Wasser.
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Für das Folgende siehe: Gruner 1981; Haustein 1969, S. 65 – 68, 81 – 87 Blit 1971, S. 19 – 23, 37 f.; Haustein 1969, S. 20 Haustein 1969, S. 193 Cała 2010; Haustein 1969, S. 20, 28, 32, 42, 48, 58, 60, 79, 91, 100 f., 104 f., 107 f., 146, 178, 191, 194, 197
Die eigenartige Bindung des polnischen Adels an die sozialistische Bewegung lässt sich durch die Beziehung zur Internationale erklären. Der polnische Januaraufstand stand an der Wiege der Internationalen Arbeiterassoziation. Englische und französische Gewerkschafter bekundeten 1863 gemeinsam ihre Solidarität mit dem polnischen Volk, um England und Frankreich zum Eingreifen auf Seiten der Aufständischen zu bewegen.25 Karl Marx, Friedrich Engels und Wilhelm Liebknecht nahmen wie die große Mehrheit der internationalen Sozialisten in zahlreichen Reden und Schriften Partei für den polnischen Unabhängigkeitskampf, weil ihnen die Aufständischen als erbittertste und verlässlichste Gegner des verhassten Zarentums galten. War nicht das Zarenreich seit den Tagen der Heiligen Allianz Hort der europäischen Reaktion gewesen?26 Die Russen Michael Bakunin und Alexander Herzen waren der polnischen Realität näher. Sie sahen, dass sie mit der aristokratischen Bewegung, die zurück zur goldenen Adelsfreiheit strebte, nur den Feind gemeinsam hatten. Dessen ungeachtet eilte Michael Bakunin den Polen zur Hilfe. Bakunins Anarchismus und mehr noch die verschwörerischen Lehren der Blanquisten fanden offene Herzen bei den Polen.27 Die Verwechslung und Vermischung von nationaler und sozialer Befreiung, von Nationalismus und Sozialismus, war mithin schon ein Geburtsfehler der Internationale. Die polnischen Unabhängigkeitskämpfer hatten in der Tat nirgendwo so enthusiastische Verbündete wie unter den Sozialisten. Sie lebten in der internationalen Emigrantengemeinde in Genf, meldeten sich auf allen internationalen Kongressen vernehmlich zu Wort, hielten Verbindung zu den Führern der Sozialistischen Internationale und auch zur schweizerischen Arbeiterbewegung unter Hermann Greulich.28 Gänzlich ohne Vorbehalte blieben die Sozialisten indessen nicht. Erst nachdem Ludwik Waryński anlässlich der Feier des 50. Jahrestages des polnischen Novemberaufstands am 29. November 1880 dem polnischen Messianismus und Nationalismus entsagt hatte, nahm sie der Genfer Klub der sozialistischen Exilvereine auf. Waryński erklärte: „Wir treten hier nicht auf als Kämpfer für den künftigen polnischen Staat, sondern als Vertreter und Verteidiger des polnischen Proletariats. […] Unser Vaterland, das ist die ganze Welt. Wir sind Mitglieder einer großen Nation, derjenigen Nation, die unglücklicher ist als die polnische – der Nation des Proletariats“.29 Reichte das Wort weiter als die Not des Augenblicks? Ebenso wichtig wie die Sozialistische Internationale waren die russischen „Volkstümler“ (Narodniki) als Saatbeet des polnischen Sozialismus. Diese Bewegung hatte sich 1879 gespalten in die zum Marxismus geneigte „Schwarze Umverteilung“ (Tscherny Peredel) und die terroristische Verschwörung „Volkswille“ (Narodnaja Wolja). Der Schwarzen Umverteilung verbunden waren die Leitfiguren des russischen Exils in Zürich, Pjotr L. Lawrow und Georgi
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Braunthal 1978a, S. 103 Haustein 1969, S. 25 – 31 Herzen et al. 1988, S. 341 – 362; Blit 1971, S. 24 – 50, 67; Weber 1989, S. 354 Gruner 1981, S. 14 – 17 Zitiert: Laschitza 2002, S. 59; Gruner 1981, S. 19
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W. Plechanow.30 In deren Umkreis fanden sich die Polen Bolesław Limanowski, Vordenker eines polnischen Agrarsozialismus, Edward Abramowski und Władysław Grabski, beide Begründer des polnischen Genossenschaftswesens.31 An der Heimatfront hatte hingegen die Narodnaja Wolja den größten Einfluss, wie der Werdegang Józef Piłsudskis zeigt. Auch Ludwik Waryński, der mit einem von Plechanow abgezeichneten Programm für die Gründung des „Proletariat“ nach Warschau kam, schuf diese Organisation notgedrungen als Filiale der Petersburger Narodnaja Wolja.32 Das Verhältnis zur russischen Bewegung und Partei blieb eine der kritischen Fragen für den polnischen Sozialismus. Seitdem die westeuropäischen Sozialisten Parteien gegründet und sich 1889 zur Sozialistischen Arbeiter-Internationale zusammengeschlossen hatten, war es auch für die Polen Zeit, vom blanquistischen Terror kleiner Verschwörerzirkel Abschied zu nehmen und Partei zu werden. Das hieß, sich dem politischen Kampf und der Organisation von Massenbewegungen zuzuwenden. Auch in Polen entwickelte sich eine spontane Arbeiterbewegung. Am 1. Mai 1891 waren die Arbeiter in Polen wie in vielen anderen Ländern zum ersten Mal für höheren Lohn und kürzere Arbeitszeit auf die Straßen gegangen. Mehr als 15.000 sollen es in Warschau, Lodz und Żyrardów gewesen sein. Am 2. Mai 1892 brach in Lodz ein Aufstand aus, der in antisemitische Ausschreitungen überging und in blutigen Zusammenstößen mit Soldaten und Polizei endete.33 Auf Initiative Stanisław Mendelsons trafen sich im November 1892 in Paris 18 Vertreter verschiedener Gruppierungen und gründeten einen „Auslandsverband der polnischen Sozialisten“ (ZZSP) zum Zweck der Parteigründung. Das Programm folgte dem Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie, das ja Musterprogramm der Zweiten Internationale war. Ein Kern- und Streitpunkt dieses Programms war die Forderung nach einer selbständigen demokratischen Republik. Im polnischen Kontext wurde dies als Wiedergewinnung der Rzeczpospolita verstanden, des unabhängigen polnisch-litauischen Staatsverbandes.34 Eben dies war die von Mendelson und dem Auslandsverband verfolgte Absicht. Die Bildung der Partei führte in Polen hin zur nationalen Emanzipation als Nahziel. Mendelson traf auf offene Ohren, als er zu Jahresbeginn 1893 zu Piłsudski und seinen Genossen nach Wilna kam. Die Wilnaer Gruppe war ganz auf den Unabhängigkeitskampf eingeschworen, und die erwachende sozialistische Massenbewegung erschien dafür die beste Plattform. Anders entwickelte sich das Verhältnis zum Warschauer Arbeiterbund ZRP, der zwar der neuen „Polnischen Sozialistischen Partei“ (PPS) beitrat, aber keiner nationalpolnischen Linie folgen wollte. Er führte den Klassenkampf für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Die Warschauer wiesen daher das von der Auslandsleitung zum Maifeiertag 1893 übersandte Material zurück. Zum Eklat kam es im Sommer desselben Jahres auf dem internationalen Sozialistenkongress in Zürich, als „die Arbeiter in der PPS“ Mendelson ihr Mandat entzogen und
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Baron 1995 Cottam 1978; Holec 2010; Janicki 2010 Strobel 1974, S. 31 – 48; Blit 1971, S. 51 – 80 Golczewski 1981, S. 52 – 59; Crago 2000, S. 16, 23 – 28 Strobel 1974, S. 71 – 76; Haustein 1969, S. 102 – 118
es Rosa Luxemburg übertrugen.35 Die Führer der PPS erhoben erfolgreich Einspruch gegen Rosa Luxemburgs Mandat. Sie konnten aber nicht verhindern, dass noch im selben Jahr eine zweite sozialistische Partei um den Kern des Warschauer Arbeiterbundes entstand, dessen Köpfe der Arbeiter Marcin Kasprzak, Julian Marchlewski, Adolf Warski, Leo Jogiches und Rosa Luxemburg waren. Keiner von den Adelssozialisten der östlichen Provinzen war darunter. Jogiches und Luxemburg leiteten die Partei vom Züricher Exil aus und gaben in Paris die Zeitschrift „Arbeitersache“ (Sprawa Robotnicza) heraus. Die Partei nannte sich „Sozialdemokratie des Königreichs Polen“ (SDKP), damit betonte sie die marxistische Orientierung nach deutschem Muster.36
Sozialdemokraten gegen Sozialpatrioten Die Spaltung des polnischen Sozialismus war nicht persönlichen Querelen oder Irrtümern geschuldet, sie lag in der Bewegung selbst. Gruner macht hinter der leitmotivischen Auseinandersetzung um Unabhängigkeitskampf oder Sozialismus weitere Bruchlinien aus, die sich mit dieser überlagerten: die Wahl zwischen Verschwörer- oder Massenorganisation, terroristischer oder legaler Bewegung, politischem oder sozialem Kampf. Diese Bruchlinien waren mit überwiegend aristokratischer oder eher proletarischer Anhängerschaft verknüpft.37 Es war für Piłsudski niemals fraglich, auf welcher Seite er jeweils in den Kampf ziehen würde. Im Jahr 1893 verlief diese Bruchlinie geografisch zwischen Wilna und Warschau, zwischen den Parteien Rosa Luxemburgs und Józef Piłsudskis. In seiner Schrift „Wie ich Sozialist wurde“ von 1903 hatte Piłsudski als Fazit seiner Verbannungszeit festgehalten: „Und wenn ich an mein Volk dachte, mit dem mich alle Freude und aller Schmerz, alle meine Gedanken und alle meine Gefühle verbanden, dann kam ich zu der Überzeugung, dass meine kindlichen Träume und Schwärmereien mit der Weltanschauung meiner Jünglingsjahre in Einklang standen: Ein Sozialist in Polen muss zuerst nach der staatlichen Unabhängigkeit seiner Heimat trachten, denn staatliche Unabhängigkeit ist die wesentliche Bedingung für den Sieg der sozialistischen Idee“.38 In dieser Gemengelage von kindlichen patriotischen Träumen und jugendlichem sozialistischem Eifer hatte zu diesem Zeitpunkt schon die nationale Begeisterung entschieden das Übergewicht gewonnen. Piłsudski erklärte nun im Bedarfsfall, der Sozialismus solle auf die Zeit nach dem Sieg über Russland vertagt werden, das befreite Polen wäre zunächst eines der alten Ordnung. Piłsudski war nur insofern Sozialist, als er das sozialistische Fernziel nicht ganz
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Haustein 1969, S. 137 – 140; Strobel 1974, S. 77 – 93 Strobel 1974, S. 94 – 105; Laschitza 2002, S. 47 – 51 Gruner 1981, S. 19 Piłsudski 1935/36, Bd. 1, S. 18
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gestrichen hatte, denn nur so konnte er auch die Arbeiter zum Kampf gegen die Fremdherrschaft mobilisieren. Denn den Bauern misstraute er, zu tief hatte er die Erfahrungen des Januaraufstands verinnerlicht. Auch seine Gegnerschaft zum Agrarsozialismus der russischen Volkstümler hatte in dieser Überlieferung seine Wurzeln. Piłsudski baute auch nicht auf die Klassensolidarität der internationalen sozialistischen Bewegung, schon gar nicht auf die Brüderlichkeit der russischen Sozialisten, sondern auf den gemeinsamen Kampf der vom Zarismus unterdrückten Völker – der Ukrainer, Weißrussen, Litauer, Letten – die unter polnischer Führung die alte Union von der Ostsee bis zur Schwarzmeerküste wiedererstehen lassen sollten. Diese Ansichten und Überzeugungen legte er in den ersten Nummern des „Robotnik“ (Der Arbeiter) dar, wie er die Zeitschrift nannte, die er 1894 als Organ der Polnischen Sozialistischen Partei gründete.39 Im Dezember 1894 nahm Piłsudski am Kongress des Auslandsverbands der polnischen Sozialisten in Zürich teil und lernte dort die führenden Exilsozialisten kennen. Eine weitere Reise führte ihn im Sommer 1896 in die Zentrale nach London, wo in dieser Zeit der Internationale Sozialistenkongress tagte. In der Zweiten Internationale hatten sich die Gewichte der beiden rivalisierenden polnischen Parteien inzwischen verschoben; es stand nicht mehr die international gut vernetzte Auslandsleitung gegen eine Warschauer Splittergruppe, wie in Zürich drei Jahre zuvor. Die Auslandsleitung und ihre Piłsudski-Partei im Lande hatten an Kredit verloren, weil sie zur russischen Bewegung auf Distanz gingen. Die internationalistische Sozialdemokratie des Königreichs Polen um Luxemburg, Jogiches und Marchlewski hatte hingegen Ansehen und Fürsprecher gewonnen. Der Kongress wollte im Streit der Polen nicht Partei nehmen und erklärte deshalb höchst allgemein, „dass er für volles Selbstbestimmungsrecht aller Nationen eintritt und mit den Arbeitern jeden Landes sympathisiert, das gegenwärtig unter dem Joche des militaristischen, nationalen oder anderen Despotismus leidet“.40 Selbstbestimmungsrecht bedeutete noch keineswegs eigene Staatlichkeit, sondern Autonomie im weitesten Sinn. Rosa Luxemburg entfachte im Vorfeld des Kongresses in der „Neuen Zeit“ eine Debatte um die nationale Politik der Polnischen Sozialistischen Partei. Sie polemisierte gegen die „Sozialpatrioten“, weil sie sich von den russischen Sozialisten abkehrten, und sie war überhaupt dagegen, Polen vom Russländischen Reich loszureißen und mit den Teilen unter österreichischer und deutscher Besatzung zu vereinen.41 Sie argumentierte ganz ökonomisch, wie schon in ihrer Züricher staatswissenschaftlichen Dissertation, dass die Verflechtung der polnischen Industrie mit dem russischen Markt inzwischen viel zu eng sei, um schadlos gelöst zu werden.42 Polen hatte ja seit der Teilung die Strukturbrüche der Industrialisierung als Teil dreier sehr verschiedener Großreiche erlebt; noch heute sind die Spuren dem polnischen Eisenbahnnetz eingeschrieben. Allerdings war der Nationalismus als moderne Zivilregion viel zu stark,
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Garlicki 1995, S. 21 – 23 Garlicki 1995, S. 21; Laschitza 2002, S. 58 – 66; Strobel 1974, S. 111 – 116; Haustein 1969, S. 207 – 211; Landau [1929], S. 75 f. Luxemburg 1896b; Luxemburg 1896a; Luxemburg 1897; Laschitza 2002, S. 58 – 66; Haustein 1969, S. 211 – 218; 220 – 225 Luxemburg 1898
um sich durch solche Gründe einhegen zu lassen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden überall in Europa Grenzen gegen wirtschaftliche Vernunft gezogen.43 Karl Kautsky tadelte Luxemburgs dürren Ökonomismus, denn der Fehlschlag von Russifizierung und Germanisierung erweise, wie tief der Nationalismus in der Sprach- und Kulturgemeinschaft eingewurzelt sei. In einem Aufsatz zur österreichischen Nationalitätenfrage legte er die mögliche Lösung dar, wie sie die österreichischen Sozialdemokraten in ihrer Parteiorganisation schon vorführten: Selbständigkeit der Nationen nicht nach dem Territorialprinzip historischer Provinzen, sondern nach Sprachgemeinschaften. Erst auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen Wahlrechts und umfassender demokratischer Freiheiten könne der Staat der Königreiche und Länder durch den Staat der föderierten Nationen ersetzt werden; erst so könne sich der Klassenkampf des Proletariats voll entfalten.44 Kautskys Vision von der friedlichen Koexistenz autonomer Nationen im demokratischen Verband der Vielvölkerstaaten wollte den aufschäumenden Nationalitätenkampf im Habsburgerreich überwinden und darüber hinaus Kriegen um Grenzen und Provinzen überhaupt vorbeugen. Gleich weit entfernt vom nationalen Nihilismus Rosa Luxemburgs wie vom Nationalismus Józef Piłsudskis entsprach dieser Multikulturalismus den Verhältnissen einer industriellen Welt, in der sich die Nationalitäten auf der Suche nach Arbeit neu mischten. Kautskys Artikel inspirierte die Auffassung der österreichischen Partei von der Nationalitätenfrage, die dann von Karl Renner (1899/1902) und Otto Bauer (1907) ausgearbeitet wurde. Dieses multikulturelle Konzept konnte sich in der sozialistischen Bewegung letztlich nicht durchsetzen. Für Lenin bedeutete das Selbstbestimmungsrecht der Nationen territoriale Autonomie mit dem Recht der Lostrennung. Die territoriale Auffassung der Nation wurde zum leninistischstalinistischen Dogma.45 Lenin redete während seines Krakauer Aufenthalts 1912/13 lange und offenbar einvernehmlich mit Piłsudski über das Thema.46 Beide waren sich einig, dass sowohl Luxemburgs Kosmopolitismus, als auch der Nationalitäten-Föderalismus der österreichischen Sozialdemokraten zu bekämpfen wären. In diesen Gesprächen wurde das als Autonomie verstandene Selbstbestimmungsrecht der Nationen zur scharfen Klinge des Sezessionsrechts umgeschliffen, zum Recht eines jeden Volkes auf einen eigenen, unabhängigen Staat in dem Gebiet, in dem es die Mehrheit bildet, und damit zur Waffe gegen multinationale Staatswesen, insbesondere das russische. Nach dem Sieg richtete die Sowjetunion diese Waffe gegen die westlichen Kolonialmächte. Als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 Lenins Formel in sein 14-Punkte-Programm aufnahm – bislang hatte er nur von self-government im Sinne von Demokratie gesprochen – war dies eine Kampfansage an die besiegten Mittelmächte und das Osmanische Reich.47 Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen blieb eine mächtige Waffe im außenpolitischen Arsenal. Als Sezessionsrecht in der schlichten Einheit von Staat, Volk und Territorium sollte es durch das 20. Jahrhundert –
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Schultz 2002 Kautsky 1898 Lenin 1955 – 1989g; Löw 1984, S. 37 – 42; Konrad 1993 Strobel 1974, S. 440 Fisch 2010, S. 136 – 149; Heater 1994, S. 32 – 46
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fortwährend neue Staaten gebärend – Kriege und ethnische Säuberungen begründen. Kaum sonst irgendwo war dies so unheilvoll wie im östlichen Europa.48 Die Sozialistische Internationale vergab in ihrer großen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die historische Chance, mit der exterritorialen Konzeption der Austromarxisten den aufflammenden Nationalitätenkämpfen zu widerstehen. Stattdessen knüpfte sie die Beziehung zum vermeintlich emanzipatorischen Nationalismus fester, diktatorischen Regimes den Weg bahnend. Für die deutsche Sozialdemokratie war es doppelt schwierig, eine klare Linie zum polnischen Unabhängigkeitskampf zu beziehen. Sie musste gegen nationalistische Strömungen in den eigenen Reihen die Abtretung des preußischen Teilungsgebiets an einen künftigen polnischen Staat gut heißen. Und sie stand im Wettbewerb mit den nationalpolnischen Agitatoren um die Gewinnung der zahlreichen polnischen Arbeiter im Reich. Der SPD fiel es daher leichter, die „internationalistische Linie“ der Partei Rosa Luxemburgs zu unterstützen. Einzig der alte Wilhelm Liebknecht bewahrte aus den Tagen der 1848er Revolution die Solidarität mit dem polnischen Freiheitskampf; er bekundete immer wieder seine Sympathie für die nationalpolnische Politik von Piłsudskis Partei.49
Führer der Polnischen Sozialistischen Partei Die Partei in Gründung bot Piłsudskis politischem Ehrgeiz die ideale Startrampe. Zunächst glich sie noch einer Verschwörergruppe. Zu jener Zusammenkunft Ende Juni oder Anfang Juli 1893, die später als erster Parteikongress gezählt wurde, trafen sich acht Männer in einem Wald bei Wilna. Nach einer Reihe von Verhaftungen führten bald drei von ihnen – Józef Piłsudski, Stanisław Wojciechowski und Aleksander Sulkiewicz – die Partei allein. Wojciechowski, der später Präsident des neuen Polen werden sollte, pendelte zwischen der Londoner Zentrale und dem Hauptquartier in Wilna hin und her. Zum engen Vertrauten wurde auch Witold Jodko-Narkiewicz, ein lebensfroher, trinkfreudiger Mann, der in London die Parteizeitung „Przedświt“ (Morgenröte) herausgab; nach 1918 fand er als Botschafter Verwendung. Piłsudski erwarb Vertrauen und Ansehen bei den erfahrenen Führern des Auslandsverbandes wie bei seinen Mitstreitern. Die Verbannung umgab ihn mit dem Nimbus des Märtyrers, und seine Schweigsamkeit bei größeren Zusammenkünften ersparte ihm Feinde, wie sein Charme im kleinen Kreis ihm Freunde gewann.50 In den neunziger Jahren zählte die Partei kaum mehr als 50 Mitglieder. Diese wenigen entfalteten jedoch eine Tätigkeit, die Polizei und Adressaten ihrer Propaganda an eine mächtige Organisation denken ließ.51 Helene Landau, polnische Sozialistin und Frau Otto Bauers, legte in ihrer Studie über die Geschichte der PPS das Schwergewicht auf die großen Streiks die-
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Sundhaussen 2000; Fisch 2010, S. 157 – 167, 256 – 268 Dziewanowski 1951; Rzepa 2008; Wehler 1962 Haustein 1969, S. 158 – 162 Garlicki 1995, S. 24
ser Jahre in den Industriestädten von Warschau bis Białystok.52 Piłsudski hatte keinen Teil an diesen Kämpfen. Er war kein guter Redner und fand keine Verbindung zu den Arbeitern, auch später als Staatsmann suchte er nicht das Bad in der Menge. Das machte ihn zum Agitator ungeeignet. Doch er schrieb gern. Das Herzstück seiner Agitation wurde die selbst produzierte Parteizeitschrift „Robotnik“. Auch dieses gefahrvolle Unternehmen startete Piłsudski gemeinsam mit Wojciechowski und Sulkiewicz. Wojciechowski kaufte die Druckerpresse in London, von wo sie in Einzelteilen per Schiff nach Königsberg gebracht und mit Hilfe von Sulkiewicz über die Grenze geschafft wurde. Seit dem Sommer 1894 bis in den Ersten Weltkrieg hinein erschienen nun in mehr oder weniger großen Abständen, immer mehrmals im Jahr, die 12 Seiten starken Hefte. Die Auflage umfasste mehr als 1.000, später über 2.000 Exemplare; die Leserschaft war um ein Mehrfaches zahlreicher. Das Motto der ersten Nummer lautete nach Lassalle: „Die Arbeiter sind der Fels, auf dem die Kirche der Zukunft gebaut werden soll“.53 Nur ein Wort hatten die Herausgeber verwechselt: Lassalle sprach von der Kirche der Gegenwart. War dies ein „Freudscher Versprecher“, der verrät, wie fern diesen Sozialisten die sozialistischen Ziele gerückt waren? Piłsudski schrieb die Zeitschrift großenteils selbst. Der „Robotnik“, der über zwei Jahrzehnte kontinuierlich als Sprachrohr der Parteiführung erschien, war sicherlich Piłsudskis wichtigste Leistung für den Aufbau und die Stabilisierung der Polnischen Sozialistischen Partei. Piłsudski erinnerte sich, wenn er auf die frühen Jahre der Partei zurückblickte, an die gefahrvolle Verbreitung illegaler Schriften, „Bibuła“ genannt. Angesichts des generellen Verbots patriotischer polnischer Literatur zählten von der klassischen Dichtung bis zum politischen Flugblatt fast alle polnischen Druckerzeugnisse dazu, insbesondere aber die Parteiliteratur. Mehrere Tausend Exemplare der Londoner „Przedświt“ wurden von der Londoner Zentrale über Königsberg, Krakau und Lemberg geschmuggelt. Die polnischen Schwesterparteien, die sich innerhalb der österreichischen und der deutschen Sozialdemokratie formiert hatten, halfen mit mehr als 20.000 weiteren Broschüren und Büchern jährlich. Dieser umfangreiche Schmuggel konnte nur gelingen, weil die Polnischen Sozialisten eine Vielzahl aufopferungswilliger Helfer hatten, die ihre Wohnungen als Zwischenlager bereit stellten, zu obskuren Treffpunkten kamen, in nächtlichen Zugfahrten Abonnenten und Vertrauensleute belieferten, und unter den Augen der zarischen Geheimpolizei Flugblätter und Aufrufe verteilten. Sie lieferten auch die Korrespondenzen über die Geschehnisse im Lande für den „Robotnik“. Eine Schlüsselrolle übernahm Aleksander Sulkiewicz, der beim Zoll tätig war; seine tatarische Abstammung und sein islamischer Glaube machten ihn offenbar für den russischen Staatsdienst gebräuchlicher, als seine katholischen Adelsgenossen.54 Piłsudski beschrieb die gefahrvollen und abenteuerlichen Wege dieses Literaturvertriebs und meinte, dass dies die beste Art der Parteiarbeit in der Illegalität sei: „Das Buch besaß als Agitator unter der Herrschaft des Zaren unschätzbare Vorteile. Es hinterließ keine solchen Spuren wie ein Mensch, es wirkte in der Stille, ohne Lärm, es
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Landau [1929] Zitiert: Haustein 1969, S. 162, 162 – 165; Piłsudski 1935a, S. 30 – 35; Garlicki 1995, S. 19, 24 Haustein 1969, S. 165 f.; Garlicki 1995, S. 17 f.
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konnte notfalls in einem Augenblick vernichtet werden. Bei Verhören war es nur ein stummer Zeuge“.55 Wenig glücklich agierte der Parteiführer gegenüber den sozialistischen Schwesterparteien, die auf demselben Gebiet ihre Anhängerschaft suchten, also gegenüber der Litauischen Sozialdemokratie LSD, die 1896 entstand, gegenüber dem 1897 gegründeten sozialdemokratischen Allgemeinen Jüdischen Arbeiter-Bund, kurz „Bund“ genannt, und gegenüber der 1898 gebildeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Er behandelte diese Parteien nicht als sozialistische Bundesgenossen, sondern vom staatsmännischen Standpunkt eines künftigen unabhängigen Polen in den Grenzen von 1772, auf dessen Territorium konkurrierende Parteien sich einzugliedern hätten. Die litauische Sozialdemokratie hatte auf ihrem Gründungskongress noch eine gleichberechtigte Föderation mit Polen als Ziel ihres nationalen Unabhängigkeitskampfes in ihr Programm aufgenommen; sie war zur gleichberechtigten Kooperation mit der PPS bereit. Wie in allen gemischtnationalen Gebieten waren die Identitäten fließend; die gebildeten städtischen Litauer sprachen polnisch – oder russisch – und engagierten sich doch in der jungen Nationalbewegung. Polnisch waren auch die meisten Publikationen der litauischen Sozialdemokratie abgefasst. Als die Litauer 1897 ihr Programm so änderten, dass sie sich auch mit Russland in der künftigen Föderation sahen, war Piłsudskis Kompromissfähigkeit erschöpft. Der Nationalitätenkampf zwischen Polen und Litauern bestimmte nun die Polemik der Parteien. Der marxistische Flügel der litauischen Partei schloss sich darauf 1900 der internationalistischen SDKP von Jogiches und Luxemburg an, die sich nun Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polen und Litauens (SDKPiL) nannte, während andere Gruppen zu Piłsudskis PPS stießen.56 Das schwierige Verhältnis zum „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Russland und Polen“ war ebenfalls auf Konkurrenz gebaut; Antisemitismus lag Józef Piłsudski fern. Schon anlässlich der Gründung der Polnischen Sozialistischen Partei hatten Piłsudski und Mendelson vergeblich versucht, die jüdischen Sozialisten der Wilna-Gruppe um Arkadi Kremer und Leo Jogiches zur Mitarbeit zu bewegen.57 Eine Partei, deren Kernpunkt der polnische Unabhängigkeitskampf sein sollte, entsprach weder den Bedürfnissen der jüdischen Arbeiter noch der kosmopolitischen Überzeugung ihrer marxistischen Intellektuellen. Die Wilna-Gruppe schuf im September 1897 aus sozialdemokratischen Komitees in den Zentren der jüdischen Bewegung – Wilna, Minsk, Białystok, Grodno, Kiew – den Bund als Partei aller jüdischen Arbeiter im Zarenreich.58 Die Juden der Kresy stellten eine starke Mehrheit der städtischen Handwerker und Arbeiter, während Polen in diesen Schichten kaum vertreten waren. Insgesamt waren die Polen ja eine Minderheit in den östlichen Provinzen, dominant nur in der aristokratischen Oberschicht. Die Arbeiter lebten in der jiddischen Kultur des Stetl und die Gebildeten in der russischen Kultur, anders als das aufgeklärte polonisierte Judentum des Königreichs, dem auch die PPS-Mitbegründer Mendelson und Perl entstammten. Indessen, der Bund be-
55 56 57 58
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Piłsudski 1935a, S. 25 Zimmerman 2004, S. 87 f.; Haustein 1969, S. 252 – 257; Strobel 1974, S. 135 Zimmerman 2004, S. 27 – 33 Bunzl 1975, S. 60
ackerte dasselbe Terrain wie die polnische Partei, und Piłsudski und seine Genossen sahen seine Gründung daher mit Missvergnügen. In dem Artikel „Über die jüdische Frage“, 1898 im „Robotnik“ erschienen, setzte Piłsudski auseinander, wie schädlich solche Konkurrenz der sozialistischen polnischen Sache sei, und vor allem, wie unheilvoll die jüdische Russophilie wäre. Mit diesen Vorwürfen hatte Piłsudski schon seit 1893 die Wilna-Gruppe attackiert. Als Anfang 1898 die Führer des Bundes die Initiative zur Gründung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ergriffen und mit dieser föderierten, war das Tischtuch zwischen PPS und Bund zerschnitten.59 John Mill, der unter allen Führern des Bundes die größte Nähe zur polnischen Kultur und zu den polnischen Sozialisten hatte, schrieb im Rückblick: „Unsere Beziehungen zur PPS waren von Anfang an negativ. Nicht so sehr wegen ihres Programmpunktes der Unabhängigkeit Polens als wegen der Motive dazu. Wir, die wir den gemeinsamen Kampf aller sozialistischen und revolutionären Organisationen gegen den Zarismus als die wichtigste Sache betrachteten, […] konnten das Misstrauen der PPS zu den russischen Sozialisten, ihre unbegründeten Zweifel an der Möglichkeit einer Revolution in Russland, ihre chauvinistische Sprache […] nicht hinnehmen“.60 Die PPS bemühte sich nun verstärkt um die jüdischen Arbeiter. Sie gab die Zeitschrift „Der arbeyter“ und andere Schriften in jiddischer Sprache heraus.61 Nachdem Piłsudski 1901 bei seinem Aufenthalt in London lange und schließlich freundschaftlich mit Arkadi Kremer geredet hatte, sah er ein, dass eigenständige Organisationen der jüdischen Arbeiterbewegung berechtigt seien. Danach gründete sich eine jüdische Sektion innerhalb der PPS. Sie hatte ihr hauptsächliches Wirkungsfeld im Königreich.62 Das Verhältnis zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands konnte sich nur unerquicklich entwickeln, denn die Loslösung von der russischen sozialistischen Bewegung gehörte zum Kern des Programms, das sich Piłsudski nach der Rückkehr aus der Verbannung vorgenommen hatte. Die Gründung der Polnischen Sozialistischen Partei leitete den Bruch der polnischen Sozialisten mit den Traditionen des gemeinsamen Exils und des gemeinsamen Kampfes in der Narodnaja Wolja ein. Piłsudski gelang es binnen Kürze, dies zur Parteilinie zu machen. Die russischen Genossen um Plechanow und Lawrow hatten noch bis zum internationalen Kongress in London 1896 die PPS unterstützt, auch gegen die Angriffe der Sozialdemokratischen Partei um Luxemburg und Jogiches. Doch mahnte Plechanow schon 1894 anlässlich der 100-Jahrfeier des Kościuszko-Aufstands vor dem Auslandsverband in Zürich, dass „die Verpflichtung der europäischen Revolution gegenüber Polen nur durch die Arbeiterklasse erfüllt wird, denn niemand anders ist imstande, sie zu erfüllen“.63 Als Piłsudski und seine Genossen sich nun im „Robotnik“ und anderenorts immer häufiger absprechend über die 59 60 61 62 63
Zimmerman 2004, S. 86 – 90; Bunzl 1975, S. 61 – 63 Zitiert: Bunzl 1975, S. 93 Zimmerman 2004, S. 132 – 152 Zimmerman 2004, S. 165 – 168; Zimmermann 1998 Haustein 1969, S. 236 Fn. 23
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russische Arbeiterschaft und die dortige sozialistische Bewegung äußerten, gingen auch die Russen auf Distanz. Zum Gründungskongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands im März 1898 in Minsk, ähnlich wie der Gründungskongress der PPS vier Jahre zuvor eine Veranstaltung von acht Verschwörern, war die PPS nicht geladen – was Piłsudski weiteren Grund zur Entzweiung gab.64 Alles in allem hat Piłsudskis nationalistische Linie seine Partei von den benachbarten sozialistischen Parteien isoliert und die konkurrierende internationalistische SDKP Rosa Luxemburgs gestärkt. Zunächst aber fiel die Partei Rosa Luxemburgs den großen Verhaftungswellen des Jahres 1894 fast vollständig zum Opfer. Die SDKP hatte ihre Schwerpunkte in den Industriezentren Warschau und Lodz; dort gründete sie Gewerkschaften und Widerstandskassen für Streiks, veranstaltete Schulungen für die Arbeiter, die als Ausflüge getarnt waren, und zog eine demokratische Parteiorganisation nach dem Vorbild der deutschen Sozialdemokratie auf.65 Diese Breitenarbeit machte sie anfällig für Entdeckung und Verrat, während die PPS als blanquistische Verschwörerorganisation deutlich geringere Verluste zu beklagen hatte. Nun flüchteten sich die führerlos gewordenen Gruppen der SDKP in Warschau und Lodz unter das Dach der PPS, die damit plötzlich so etwas wie eine Massenbasis gewann.66 Das Zentrum der Partei blieb jedoch in Wilna, wo Piłsudski mit den Seinen die illegale Druckerei unterhielt und den „Robotnik“ herstellte. Piłsudski sah streng auf die Regeln der Illegalität, Briefe mussten vernichtet, Nachrichten mündlich übermittelt, Aufzeichnungen vermieden werden. So entstand wenig Material für Historiker und reichlich Stoff für Legenden. Die illegale Arbeit ließ durchaus Zeit für das gesellige Leben der Salons. Dort sammelte sich die national gesinnte Jugend um Maria Koplewska, eine vielgerühmte Schönheit, zwei Jahre älter als Piłsudski. Die Tochter eines Wilnaer Arztes hatte schon mit 16 Jahren einen wohlbestallten Ingenieur geheiratet und war mit ihm nach St. Petersburg gegangen. Sie trat dort wie in Warschau, wohin sie nach ihrer Scheidung zog, in Verbindung zu illegalen Zirkeln. Sie wurde mehrfach verhaftet und schließlich nach Wilna verbannt. Hier bemühte sich auch Roman Dmowski um sie, der spätere Gründer der nationaldemokratischen Partei. Er wird sie schon aus Warschau gekannt haben, aus dem Zirkel um die Wochenzeitung „Głos“, wo die volkstümlerischen Ideen der „Schwarzen Umteilung“ sich mit der nationalen Begeisterung des „Jungen Polen“ trafen – einer intellektuellen und künstlerischen Reaktion auf die Resignation der positivistischen Periode.67 Dmowski soll oft von seinem Verbannungsort Mitau herübergekommen sein, um Maria Koplewska zu sehen. Schon 1895 floh er jedoch aus dem russischen Herrschaftsbereich nach Lemberg. Józef Piłsudski mag Roman Dmowski im Salon der Maria Koplewska das erste Mal begegnet sein. Der Nebenbuhler entstammte ebenfalls altem Adel, kam jedoch aus Kongresspolen, wo auch der Adel den bürgerlichen Idealen des Positivismus aufgeschlossen war. Weit über die private Rivalität hinaus sollte Dmowski zu seinem politischen Gegenspieler werden. Piłsudski warb erfolgreich um die schöne Frau. Am 15. Juli 1899 wurden sie in einem Dorf bei Łomża in Kongresspolen getraut, also fern von Wilna 64 65 66 67
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Haustein 1969, S. 226 – 236 Strobel 1974, S. 108 f. Landau [1929], S. 73 f. Blejwas 1984, S. 181 – 184
und in aller Heimlichkeit, der Bräutigam mit falscher Identität. Piłsudski musste zum evangelisch-lutherischen Glauben übertreten, um die geschiedene Frau heiraten zu können. Man darf annehmen, dass er darin kein Problem sah, weil er als Sozialist genügend Distanz zur Kirche hatte. Im Jahre 1916 konvertierte er dann ebenso heimlich in umgekehrte Richtung – auf dem Krankenbett und also wohl aus dem Bedürfnis einer Versöhnung mit Gott.68 Das Paar übersiedelte im Herbst 1899 aus konspirativen Gründen mit der geheimen Druckerei nach Lodz. Er fand dort eine geräumige Vier-Zimmer-Wohnung über einem Baumwolllager. Hinter dem Salon verbarg sich ein Zimmer, das bei Tag wie ein Ingenieurbüro wirkte und nachts in eine Druckerei verwandelt wurde. Der Drucker war Hausgenosse der Piłsudskis. Die Gerätschaften mussten vor dem Dienstmädchen versteckt, und der Besucherverkehr mit den Geschäften des Hausherrn in Einklang gebracht werden.69 Tagsüber die Texte verfassend, die er nachts drucken half, verbrachte Piłsudski sein Leben in größter Abgeschiedenheit. Gänzlich unberührt war er offenkundig von den brodelnden sozialen Problemen und den politischen Bestrebungen in der Industriemetropole Lodz, dem polnischen Manchester, dem „gelobten Land“ des Kapitalismus, das Władysław Stanisław Reymont in seinem berühmten Roman beschrieb. Piłsudski hielt nichts vom sozialen Kampf, nichts vom Kampf um Lohn, Zeit und Arbeit. Mettler gibt seine Äußerung wieder, dass zehn Groschen mehr Lohn es nicht wert seien, darum zu sterben. Einzig der Tod fürs Vaterland verdiene solches Opfer.70 Deshalb bemühte die PPS sich auch nicht um Widerstandskassen, Fachverbände oder Gewerkschaften. Die Sozialdemokratische Partei von Luxemburg und Jogiches, die sich gerade um die sozialen Anliegen kümmerte, fasste hingegen schnell Fuß. Dazu trug namentlich auch Julian Marchlewski bei, der selbst in den Lodzer Poznański-Werken als Färber gearbeitet hatte. Er genoss hohes Ansehen bei den Arbeitern aller Nationalitäten in der Stadt, bei Polen, Deutschen und Juden. Vor allem die deutschen und jüdischen Arbeiter sammelten sich bei der internationalistischen SDKP, sie bauten dann auch diese Partei wieder auf.71 Aber auch die bürgerliche nationale Bewegung, die sich unter Führung von Roman Dmowski 1897 als Nationaldemokratische Partei (nach den Anfangsbuchstaben: „Endecja“) konstituiert hatte, wirkte erfolgreich unter den polnischen Arbeitern. Die nationale Gemengelage in der Textilstadt war brisant; soziale und ethnische Scheidelinien liefen ineinander: Russisch war die Macht, jüdisch das Geld, deutsch das Knowhow und polnisch die Arbeit. Die Arbeiter, großenteils als Ungelernte in der ersten Generation vom Dorf gekommen, schufteten unter dem Kommando deutscher Meister und Vorarbeiter in den Fabriken deutscher Unternehmer, deren Erzeugnisse von jüdischen Kaufleuten und Bankiers unter der Aufsicht russischer Beamter im weiten Zarenreich vermarktet wurden. Deutsch war die Sprache der Fabriken, die Vorbedingung jeglichen Weiterkommens. Die Arbeiter fühlten sich als Polen diskriminiert und entwickelten ein kräftiges, eigenständiges nationales Bewusstsein. Die Nationaldemokraten – unter ihnen besonders viele Rechtsanwälte, Lehrer, Ärzte – kümmerten sich um sie und ihre sozialen Nöte. Sie setzten sich für polnische Schulbildung und berufliche Fort68 69 70 71
Garlicki 1995, S. 28; Rhode 1982, S. 272 f. Piłsudski 1935a, S. 32 – 34 Mettler 1938, S. 49 Garlicki 1995, S. 31; Strobel 1974, S. 107
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bildung, für Gesundheitsvorsorge und bessere Wohnverhältnisse ein. Die Nationaldemokraten füllten die Lücke, die beide sozialistische Parteien gelassen hatten, die eine wegen ihres Internationalismus, die andere wegen ihrer Verachtung der sozialen Probleme. So wurde die Nationaldemokratie zur stärksten politischen Kraft unter den polnischen Arbeitern, in Lodz mehr noch als anderswo.72 Diese Niederlage empfand Piłsudski kaum. Für ihn kam der Schlag in der Nacht zum 22. Februar 1900, als die Druckerei im Hinterzimmer entdeckt wurde. Nun schleppte man ihn wieder auf die Warschauer Zitadelle, und er musste noch froh sein, mit dem Leben davon zu kommen. Auch seine Frau wurde verhaftet, wenn auch bald wieder freigelassen. Die folgenden Ereignisse muten nun wie ein Stück aus einem Roman von Alexandre Dumas an. Piłsudski gelang die Flucht, indem er eine Geisteskrankheit simulierte und daraufhin in ein Spital in St. Petersburg verlegt wurde. Dort war die Befreiung durch ein Netzwerk von PPS-Vertrauten schon vorbereitet. Im Mai 1901 reiste Piłsudski gemeinsam mit dem treuen Sulkiewicz als Zollbeamter verkleidet nach Reval (Tallinn), um von dort den russischen Herrschaftsbereich zu verlassen. Über Lemberg ging er in das österreichische „Galizien“ nach Krakau, wo er mit seiner Familie vereint die nächsten Jahre lebte.73
Revolutionäre Banditen Wieder in Freiheit kannte Piłsudski seine alte Partei nicht wieder. Die Verhaftungen und der Verlust der Druckerpresse hatten die PPS in eine tiefe Krise geführt, oder vielmehr, sie hatten die Krise der Partei offenbar werden lassen. Eine Gruppe spaltete sich unter dem traditionsreichen Namen „Proletariat“ ab, andere gingen zur Sozialdemokratischen Partei SDKPiL. Diese ungeliebte Konkurrenz überflügelte dank der Aufbauarbeit von Feliks Dzierżyński, dem späteren Chef der sowjetischen Geheimpolizei, die Piłsudski-Partei deutlich. Die Industriearbeiter im russischen Polen nahmen in jenen Jahren an Zahl und Selbstbewusstsein rasch zu, das äußerte sich in zahlreichen Streiks und im Zulauf zu den sozialistischen Parteien. Die neue Opposition der „Jungen“ in der PPS sah, wie sehr die „Alten“ die Partei in die Sackgasse geführt hatten, indem sie einseitig auf den bewaffneten Unabhängigkeitskampf setzten und den Klassenkampf auf den Sankt-Nimmerleins-Tag nach dem Sieg verschoben.74 Unter den Wortführern dieser Opposition war Feliks Sachs, der Leiter der jüdischen Sektion und Herausgeber des „Arbeyter“. Er vertrat jene internationalistisch gesinnten Sozialisten in der Partei, die von einer polnischen Unabhängigkeit die Unterdrückung anderer Minderheiten fürchteten; deshalb waren sie für Autonomie statt Unabhängigkeit und für ein Zusammengehen mit den anderen sozialistischen Parteien des Russischen Reiches. Auch Kazimierz Kelles-Krauz, der herausragende Theoretiker der Partei, hatte sich den „Jungen“ genähert.75 Es gelang Piłsudski
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Crago 2000; Trees 2007, S. 55, 66, 77 – 81 Haustein 1969, S. 269 – 273 Garlicki 1995, S. 36 – 38 Zimmerman 2004, S. 165 f., 172; Kolakowski 1978, S. 241 – 248
nicht, wieder die alte Führungsrolle einzunehmen, er mochte noch so bemüht sein, zwischen der Auslandsleitung in London, dem neuen Hauptquartier in Krakau, Warschau und Wilna die Fäden zu knüpfen.76 Als 1904 der russisch-japanische Krieg ausbrach, eröffneten sich Józef Piłsudski neue Perspektiven. Ein Krieg gegen Russland, bei dem das Zarenreich so geschwächt würde, dass Polen sich in einem – vierten – Aufstand losreißen könnte, war immer in seinem Kalkül gewesen. Er hatte dabei an einen Krieg der Teilungsmächte untereinander gedacht, wie er dann ja auch im Ersten Weltkrieg Realität wurde. Nun schien Japan eine Chance. Tatsächlich machte sich Piłsudski im Frühjahr 1904 auf den Weg, nachdem die Parteiführung der „Alten“ bei den japanischen Gesandtschaften in Wien, Paris und London vorgefühlt und schließlich eine Einladung erreicht hatte. An seinem Weg über London und die USA nach Tokio lag Amsterdam, wo im August 1904 die Internationale ihren Kongress abhielt. Die Sozialisten tagten unter dem Doppelvorsitz des Russen Plechanow und des Japaners Katayama; der Händedruck der beiden unter dem Jubel der Delegierten setzte ein Zeichen gegen diesen Krieg.77 Piłsudski und die alte Garde der PPS hofften indessen, dass die Japaner mit Geld und Waffen einen polnischen Aufstand im Rücken des Feindes munitionieren würden. Sie wollten dafür Sabotageakte an russischen Militäreinrichtungen verüben, Kundschafterdienste leisten und die polnischen Soldaten zur Desertion aufrufen. Dann, so hoffte man, würden die Russen keine Polen mehr rekrutieren und die Japaner die polnische Frage auf der Friedenskonferenz zur Sprache bringen. Die Japaner waren an dem fernen Bundesgenossen wenig interessiert, allenfalls Informationen und Sabotageakte sahen sie gern, dafür wollten sie auch zahlen. Versprechungen für die Friedenskonferenz machten sie nicht.78 Piłsudski fand zu seiner großen Überraschung in Tokio schon seinen alten Widersacher Roman Dmowski vor. Ist die Japan-Mission deshalb gescheitert? Die spätere Parteigeschichtsschreibung möchte es so sehen, und in der Tat lässt die unverhoffte Begegnung an das Märchen von Hase und Igel denken. Doch Dmowski soll nichts von Piłsudskis Reise geahnt haben und war schon zwei Monate vor ihm dort. Wesentlich besser vorbereitet als Piłsudski, mit besserer Landeskenntnis und informativen Denkschriften ausgestattet, erreichte er seine Ziele: politische Kontakte und Betreuung der Kriegsgefangenen. Sollte auch die Verhinderung von Piłsudskis Aufstandsplänen dazu gehört haben, so gelang auch dies, indessen benötigten die Japaner darin kaum Nachhilfe. – Nach einem zufälligen Zusammentreffen auf der Straße verbrachten die beiden Reisenden einige Tage gemeinsam, bei langen Gesprächen, bei Besichtigungen und in Theateraufführungen. Dmowski machte den kundigen und unterhaltsamen Stadtführer. Die Standpunkte näherten sich nicht.79 Roman Dmowski war von Herzen überzeugt, dass ein Aufstand der falsche Weg sei, opferreich und zum Scheitern verurteilt. Er strebte Polens Unabhängigkeit mit politischen Mitteln an, auf gesetzlichem und verfassungsmäßigem Wege. Ihm schwebte lange ein „Ausgleich“
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Reddaway 1939, S. 42 f. Braunthal 1978a, S. 250 Hausmann 1973, S. 370 – 373 Hausmann 1973, S. 373 – 383
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nach österreichisch-ungarischem Vorbild im Rahmen des russischen Reichs vor. Nach der Revolution von 1905, als der Zar einige konstitutionelle Zugeständnisse machen musste, wurden die Wahlen zur Petersburger Duma ein erfolgreiches Kampfmittel der Nationaldemokratie. Da das polnische Bürgertum – verglichen mit dem jüdischen und deutschen – nur eine sehr schmale Schicht war, suchte die Nationaldemokratie ihre Wähler unter den bäuerlichen Massen und landete im antisemitischen Ressentiment.80 Piłsudski verachtete das Bürgertum Kongresspolens und die von Dmowski geführte Nationaldemokratische Partei, haftete deren bürgerlichem Nationalismus doch immer noch das Odium der kleinmütigen „organischen Arbeit“ an. Die Sozialisten boykottierten die Wahlen. Als Piłsudski Anfang Oktober 1904 aus Japan nach Krakau zurückkehrte, riefen im russischen Polen die sozialistischen Parteien zu Massendemonstrationen gegen die Rekrutierungen auf, es kam zu ersten bewaffneten Zusammenstößen. Nach dem Petersburger Blutsonntag am 22. Januar 1905 ergriff die Revolution das Königreich. Warschau, Lodz und andere große Städte waren im Aufruhr, SDKPiL, PPS und Bund riefen zum Generalstreik auf. Um die Massenaktionen zu schützen, bewaffneten sich die Sozialisten aller Parteien. Bald wurde jedoch aus dem Kampf gegen die russische Staatsmacht ein polnischer Bruderkrieg, denn auch die Nationaldemokraten formierten bewaffnete Trupps, aber gegen die Sozialisten. Diese Schlägergruppen der bürgerlichen Rechten machten gezielt gegen jüdische Kämpfer mobil, antisozialistische und antisemitische Agitation und Aktion flossen ineinander. Allein in Lodz sind 1905/06 etwa 325 Sozialisten getötet und rund 400 verwundet worden.81 Die Erfahrung der Revolution trieb das Bürgertum Kongresspolens und seine nationaldemokratische Partei weiter in die Arme der Zarenpolitik. Die bewaffnete Kampforganisation der Polnischen Sozialistischen Partei, Ende 1905 schon 1.345 Kämpfer stark, war Piłsudskis Werk. Waffen hatte er von dem japanischen Geld in England gekauft.82 Piłsudski und seine „Alten“ hielten nichts von einem Zusammengehen mit der russischen Revolution; sie sahen die Zeit gekommen, das polnische Volk gegen Russland in den Aufstand zu führen. Deshalb hielt er seine Kampfverbände von revolutionären Aktionen fern und trainierte sie als Kaderverbände eines Volksheeres. Das musste die Gegensätze in der Polnischen Sozialistischen Partei auf die Spitze treiben. Als die „Jungen“ auf dem Kongress in Warschau im März 1905 eine Mehrheit für ihr Bekenntnis zur russischen Revolution fanden, erlitt Piłsudski eine Niederlage. Im November 1906 auf einem Parteikongress in Wien wurde die Trennung vollzogen. Anlass war Piłsudskis Kampforganisation. Feliks Sachs forderte, dass sie nicht dem Kommando der Partei entzogen und ausschließlich zur Kadertruppe für den Unabhängigkeitskampf gedrillt werden dürfte. Er berief sich auf die Erfahrungen seiner jüdischen Sektion während der Revolution, deren Mitglieder den Attacken der nationaldemokratischen Kampfgruppen besonders ausgesetzt gewesen waren, ohne von Piłsudskis Verbänden Hilfe zu erhalten. In der Annahme der Resolution durch die linke Mehrheit sahen Piłsudski und die Seinen die Abkehr vom Pariser Gründungsprogramm von 1892, hin zu einer klassenkämpferischen, internationalistischen Linie. Sie verließen die Partei und grün80 81 82
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Trees 2007, S. 50 f.; 384 – 394 Strobel 1974, S. 294 – 298; Zimmerman 2004, S. 202 – 204 Zimmerman 2004, S. 202; Garlicki 1995, S. 44 – 50; Hausmann 1973, S. 378
deten in Krakau eine neue, die sie „PPS Revolution“ nannten – eine völlige Verkehrung der Tatsachen, um sich des populären Revolutionsmythos zu bedienen. Die Mehrheitspartei hieß nun „PPS Linke“. Die mitgliederstarken Verbände der Arbeiter in Warschau und Lodz blieben bei der Linken.83 Das Wort Revolution stand hinfort bei Piłsudski nicht mehr für die sozialistische Revolution, sondern für den bewaffneten Unabhängigkeitskampf. War Piłsudski überhaupt jemals Sozialist gewesen, hatte er den Sozialismus und die sozialistische Partei nicht nur für seine Idee des Unabhängigkeitskampfes benutzt? Das sind häufige Fragen in der vielfältigen PiłsudskiLiteratur. Der Widersacher Roman Dmowski war ebenso überzeugt wie der bürgerliche Historiker Gotthold Rhode, dass es Piłsudski nie wirklich ernst war mit dem Sozialismus, dass darin nicht mehr als eine Anhänglichkeit an seine Jugendträume zu sehen sei.84 Aber diese Anhänglichkeit nährte sich von der gemeinsamen Geschichte des europäischem Sozialismus und des polnischen Unabhängigkeitskampfs. Sie wurzelte auch in dem antikapitalistischen aristokratischen Wertehorizont, der insbesondere dem Adel des östlichen Grenzlands eigen war. Gleichgültig und fremd waren ihm die Konflikte der modernen Welt und die Verhaltensweisen ihrer Bewohner, ob es sich nun um das Warschauer Bürgertum handelte, das er verachtete, oder um die Arbeiter von Lodz, die ihm fremd blieben. In Zürich oder London bewegte er sich offenbar nur in der abgeschotteten Welt des polnischen Exils, ohne Interesse für die dortigen sozialen Probleme und Bewegungen. Es war sicherlich Piłsudskis Überzeugung, dass die Befreiung vom russischen Joch die eigentliche Revolution sei, und dass diese Befreiung ein Polen moralischer Aufrichtigkeit und sozialer Gerechtigkeit bringen würde – was immer das in seinem Wertekanon hieß. Nach der Parteispaltung löste er die so verstandene revolutionäre Aktion ab von jeglicher Bindung an die Arbeiterbewegung, seine Erwartung richtete sich auf das Volk als Ganzes. Die Krise von Piłsudskis politischem Wirken nach der Spaltung der Partei wurde von einer Ehekrise begleitet, verstärkt durch den Tod seiner geliebten Stieftochter; sie weitete sich zur Lebenskrise. In dieser Situation begegnete ihm Aleksandra Szczerbińska. Sie war ein hübsches, selbstbewusstes und kluges Mädchen, 15 Jahre jünger als er, das bei der Aufsicht über die geheimen Waffenlager der Kampforganisation beschäftigt war. Rückhaltlos bewunderte sie den Parteiführer, der durch das Martyrium der Verbannung gegangen war. Spätestens 1907, als sich beide nach einer kurzen Haft Aleksandras in Kiew trafen, wurden sie ein Paar. Piłsudskis Frau Maria verweigerte die Scheidung, sodass er Aleksandra erst 1921 heiraten konnte, als Maria gestorben war. Da hatte sie ihm schon die Töchter Wanda (1918) und Jadwiga (1920) geboren.85 Die Geschichte dieser Liebe ist durch Aleksandra Szczerbińska selbst überliefert; der langdauernde Ablösungsprozess Piłsudskis von Maria, mit der er noch lange Jahre in der Krakauer Wohnung lebte, wird verständlicherweise übergangen.86
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Garlicki 1995, S. 51 – 53; Zimmerman 2004, S. 198 – 201, 212 – 214 Hausmann 1973, S. 388; Rhode 1982, S. 275 Garlicki 1995, S. 51, 55, 87 Pilsudska 1940, S. 116 – 120; 148 f., 181
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Józef Piłsudski verlor das Interesse an der „PPS Revolution“, jenem Teil seiner Partei, der ihm in Wien gefolgt war. Im Zentrum seines Tuns und Trachtens stand die Kampforganisation. Er löste sie schrittweise von der Partei, bis zur Verselbständigung im „Aktiven Kampfbund“ im Oktober 1908.87 Dafür stand ein „polnischer Kriegsschatz“ von mehr als 140.000 Kronen zur Verfügung. Teils soll er aus Spenden amerikanischer Polen gestammt haben, vorwiegend aber aus Überfällen auf Banken, Poststationen und Geldtransporte. Diese „Expropriationen“ waren ebenso wenig wie die bewaffneten Kampfgruppen eine besondere Erfindung Piłsudskis; nach der Revolution übten sich verschiedene revolutionäre Parteien des Zarenreichs darin, voran die Bolschewiki. Auf dem Londoner Parteikongress von 1907 versuchten die Menschewiki und die polnischen Sozialdemokraten Rosa Luxemburgs, dem Einhalt zu gebieten, doch der Beschluss bewirkte wenig.88 Trotzki bemerkt dazu in seinen Erinnerungen: „Nach einer niedergeschlagenen Revolution werden bewaffnete Expropriationen und terroristische Überfälle unvermeidliche Quellen zur Desorganisation auch der revolutionärsten Partei“.89 Piłsudskis Kämpfer wurden so zu Terroristen und er selbst zum Bandenchef. Aleksandra war in den waghalsigen Operationen an seiner Seite. Legendär wurde der Überfall auf den Postzug von Wilna nach St. Petersburg im September 1908 bei Bezdany, bei dem 100.000 Dollar Zolleinnahmen erbeutet wurden.90 Als das wiedererstandene Polen später unter dem Bandenwesen der ukrainischen Nationalisten zu leiden hatte, tilgte man diese Periode aus dem Leben des großen Marshalls.91 Vor diesem Hintergrund wird der Brief an den langjährigen Gefährten Feliks Perl verständlich, in dem Piłsudski sich zu einem Kult des gefährlichen Lebens bekannte, wie er exzentrische Jugendbewegungen von Schillers Räubern bis zur Roten Armee-Fraktion charakterisiert, wie er aber auch dem kriegerischen Geist der alten Adelsrepublik entsprach: „Ich kämpfe und sterbe allein deshalb, weil ich in dem Scheißhaus, das unser Dasein ist, nicht leben kann. Es ist eine Kränkung – hörst du mich? Es kränkt mich als würdiges, freies menschliches Wesen. Mögen andere vorgeben, es ginge ihnen um das Allgemeinwohl, oder um Sozialismus, oder um das Polnische, oder was immer in diesem Scheißhaus. Ich kann es nicht! […] Weder Verzweiflung noch Selbstaufopferung leiten mich, sondern der Wille zu gewinnen und alles für den Sieg vorzubereiten. Meine entscheidende Idee, die ich anders noch auf keine Weise umsetzen konnte, ist die Notwendigkeit, unter unseren Bedingungen unsere Körperkräfte zu entwickeln“.92 Nicht nur körperlichen Drill, auch militärtheoretische Schulung ließ der Autodidakt Piłsudski seinen Kämpfern angedeihen. Seine Schützen rekrutierten sich aus Freiwilligen, die zu einem Viertel aus adeligen Familien im russischen Herrschaftsgebiet stammten. Sie waren die eigentliche Gefolgschaft des „Kommandanten“, wie Piłsudski von nun an genannt wurde, die Saat 87 88 89 90 91 92
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Garlicki 1995, S. 60 f.; Biskupski 2005, S. 79 f. Medem, Portnoy 1979, S. 433 f.; Service 2002, S. 245; Broué 2003, S. 135 Trotzki 1930, S. 209 Garlicki 1995, S. 58 – 60; Stefancic 2005, S. 105 Hein 2002, S. 38 Fn. 19 Garlicki 1995, S. 59
der künftigen Elite Polens. Unter ihnen nahm die engere Piłsudski-Gruppe der alten Kampfgefährten eine privilegierte Stellung ein, sie nannten den Kommandanten noch bei seinem Kindernamen Ziuk. Garlicki nennt vor allen anderen Witold Walery Sławek, mehrfach Ministerpräsident der zukünftigen Republik, Kazimierz Sosnkowski, späterer Kriegsminister, Leon Wasilewski, erster Außenminister der späteren Republik. Piłsudski war schon im Herbst 1906 – nach der Niederlage der Revolution in St. Petersburg und Warschau – gemeinsam mit Jodko-Narkiewicz auf den Chef der Abwehr im galizischen Przemyśl zugegangen, um ihm dieselbe Offerte wie vorher den Japanern zu unterbreiten. Ein Bündnis mit den Österreichern sollte seine Kampforganisation auf eine feste Basis stellen. Das Angebot war heikel für die Polen, weil es sich um eine der Teilungsmächte handelte; es war auch heikel für die Österreicher, die sich ins eigene Fleisch schneiden mussten, wenn sie den polnischen Unabhängigkeitskampf auf Kosten Russlands forcierten. Piłsudski erhielt deshalb zunächst eine Abfuhr.93 Die Dinge änderten sich in dem Maße, wie sich die österreichischrussischen Beziehungen verschlechterten; dafür sorgten bald die Balkankrisen. Seit 1910 ermöglichten die Österreicher in Gestalt ihres galizischen Statthalters Bobrzyński Piłsudski, seine Kampforganisation als Schützenbund zu legalisieren.94 Als mit den Balkankrisen die Kriegsgefahr wuchs, strömten aus ganz Galizien junge Leute zu den Schützenverbänden, bald zählten sie mehr als 10.000 Mann. Darunter waren nun vermehrt Arbeiter und Handwerker.95 Piłsudski reifte in diesen Jahren zum militärischen Führer. Im schlichten Militärrock ohne Rangabzeichen, ausgezeichnet allein durch seine persönliche Autorität, genoss er die uneingeschränkte Verehrung seiner Schützen.
Durch Krieg zum Sieg Während die Sozialistische Internationale verzweifelt um die Erhaltung des Friedens kämpfte, sehnte Piłsudski den großen Krieg herbei. Er soll im Vorfeld prophezeit haben: „Die polnische Frage wird für uns günstig entschieden werden, wenn Deutschland Russland schlägt und selbst von Frankreich besiegt wird“.96 Aus dem Krieg sollte der Aufstand geboren werden, darauf hatte er die Schützen eingeschworen. Auf den Trümmern der Teilungsmächte wollte er an der Spitze eines polnischen Volksheeres in Warschau einmarschieren und den unabhängigen polnischen Staat errichten. Mit dieser Konzeption stand er ziemlich allein da. Alle politischen Parteien in Galizien verfolgten austro-polnische Lösungen, denn die weitgehende polnische Selbstverwaltung hatte Hoffnungen genährt, innerhalb der Monarchie eine autonome Stellung erringen zu können, wie sie die Ungarn seit dem Ausgleich von 1867 besaßen. Die galizische Polnische Sozialistische Partei unter Führung von Ignacy Daszyński, der Abgeordneter im österreichischen Reichsrat war, strebte lange nach Autonomie in einer demo-
93 94 95 96
Garlicki 1995, S. 55 – 57; positiv dagegen: Michael 2010, S. 42 – 46 Conze 1958, S. 39 f.; Michael 2010, S. 49 Garlicki 1995, S. 65 – 67 Zitiert: Conze 1958, S. 42
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kratischen Nationalitätenföderation statt nach eigener polnischer Staatlichkeit. So sah es das Programm der österreichischen sozialdemokratischen Gesamtpartei vor. Die polnische Aristokratie, deren Herrschaft durch Wien kaum beschränkt war, die hohe und höchste Ämter in Reichsrat, Verwaltung und Armee einnahm, hatte schon gar kein Interesse an einer Loslösung von Österreich durch einen Volksaufstand.97 So begann der große Krieg enttäuschend. Zwar erhielt Piłsudski die Erlaubnis, seine Schützen zu mobilisieren und Richtung Kielce gegen die Russen zu marschieren, da er den massenhaften Zustrom von Freiwilligen nach Überschreiten der russischen Grenze in Aussicht gestellt hatte. Er formierte eine Kaderkompanie von 144 Absolventen seiner Schützenausbildung, die Offiziere dieses erwarteten Volksheeres. Der Auszug aus Krakaus Oleanderhainen am 6. August, später zum Mythos verdichtet, wurde keineswegs zum Triumphzug. Es half auch nichts, dass Piłsudski – um Zeit und Handlungsfreiheit gegenüber den Österreichern zu gewinnen – eine polnische Nationalregierung in Warschau erfand, der er sich unterstellt habe. Nach dem Überschreiten der russisch-polnischen Grenze schlugen den Schützen von der Landbevölkerung Ablehnung und Anfeindungen entgegen. Die Freiwilligen blieben aus.98 Das österreichische Oberkommando stellte ihn nun vor die Alternative, seine Schützenverbände aufzulösen, oder sie dem nächstgelegenen österreichischen Truppenverband zu unterstellen. Rettend griff hier ein neues polnisches Oberstes Nationalkomitee ein, das alle galizischen Kräfte im Sinne der austro-polnischen Lösung vereinte. Es handelte mit dem österreichischen Oberkommando die Bildung polnischer Legionen innerhalb der k.u.k. Armee aus, worin Piłsudskis Schützen die 1. Brigade bildeten.99 Piłsudski berichtet in seinen Erinnerungen von den Demütigungen dieser Unterstellung, von der Arroganz der polnischen Offiziere und der tschechischen Etappenbeamten, von der Inkompetenz des Nationalkomitees, von der vernachlässigten Ausrüstung seiner Brigade.100 Gleichermaßen depressiv war die Stimmung seiner Schützen: „Wir wollen eure Anerkennung nicht länger, weder eure Worte, noch eure Tränen. Vorbei die Tage, als wir euer Mitleid suchten, zur Hölle mit euch!“101 Piłsudski verfolgte sein Ziel unbeirrt. Er schuf eine Polnische Kampforganisation (POW), die auch gegenüber den Österreichern geheim gehalten wurde. Sie bildete im russischen Teilungsgebiet Kämpfer aus; ihre Mitglieder zählten bald Zehntausende. Gleichzeitig arbeitete er der offiziellen Werbung für die Legionen innerhalb der österreichischen Armee entgegen.102 Die Popularität des „Kommandanten“ vervielfachte sich mit der wachsenden Zahl der Untergrundkämpfer. Sie stieg noch, als die Deutschen ihn nach der Einnahme Warschaus im Au-
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Bauer 1976h, S. 544 – 547; Conze 1958, S. 24 – 28, 46 – 52 Garlicki 1995, S. 68 – 71; Piłsudski 1935/36, Bd. 1, S. 13 – 15 Garlicki 1995, S. 73; Biskupski 2005, S. 81 Piłsudski 1935/36, Bd. 1, S. 102 – 104 Garlicki 1995, S. 73 Michael 2010, S. 60 – 65; Stefancic 2005, S. 107 – 111
gust 1915 aus der Stadt verbannten. Damit bekam er wieder einen Märtyrerbonus. Piłsudski war ohne seine Kämpfer nach Warschau gekommen, aber er war als Verkörperung des polnischen Unabhängigkeitswillens beunruhigend genug.103 Für ihn blieb es ein Stachel, dass die Befreiung Warschaus von den Russen durch die Deutschen ohne eine polnische Truppe unter seiner Führung geschehen war. Die Anstrengungen und Rückschläge hinterließen Spuren, seelische und körperliche. Piłsudski war über seine Jahre hinaus gealtert. Seine Legionäre nannten ihn respektvoll „Großvater“. Der deutsche Diplomat und Schriftsteller Harry Graf Kessler begegnete ihm im Oktober 1915 an der Front in Wolhynien bei seiner polnischen Legion unter österreichischem Kommando: „Wir fanden ihn inmitten seiner, sogar an der Front, in Erdlöchern und im Walde, phantasievoll uniformierten Polen in Zivil: einen einfachen Mann, mit einem wollenen, grauen, gestrickten Sweater, zurückhaltend, nüchtern bis auf einen mystischen Einschlag, wenn von Polen die Rede war. Er erschien etwas müde, früh gealtert, unmilitärisch gebückt; hatte aber merkwürdig schöne, tiefe, energische, plötzlich wieder weiche und dann auch junge Augen. Das Gesicht, Schnitt und Ausdruck, erinnerte an Dostojewski, auch an Nietzsche“.104 Die Legionäre kämpften mit großer Tapferkeit, und sie hatten außerordentliche Verluste. In der Offensive des russischen Generals Brussilow im Juli 1916 verloren sie 530 Mann, darunter Bataillons- und Kompanieführer. Offensichtlich brauchten die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn die Polen als Hilfstruppen, wollten aber wirkliche Unabhängigkeit nicht gewähren. Es war Zeit, das Tischtuch zu zerschneiden. Piłsudski stellte namens des Rates der Obersten ein Ultimatum, in dem er eine polnische Regierung für das gesamte, mittlerweile in der Hand der Mittelmächte befindliche Territorium des alten Polen forderte und verlangte, die Legionen aus dem Verband der k.u k. Armee herauszulösen. Das Ultimatum blieb unbeantwortet, und Piłsudski verließ am 26. September 1916 die Armee. Seine Erste Brigade – die ehemaligen Schützen – und ein Teil der Offiziere und Legionäre folgten ihm; unter den Zurückgebliebenen herrschte Orientierungslosigkeit. Selbstmorde fielen vor.105 Im Untergrund der Polnischen Kampforganisation baute Piłsudski mit den Seinen weiter an der polnischen Volksarmee.
103 Conze 1958, S. 85 104 Hausmann 1980, S. 234 105 Conze 1958, S. 199; Garlicki 1995, S. 81 f.; Stefancic 2005, S. 111 f.
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Józef Klemens Pi sudski mit dem Lieblingspferd Kasztanka an der österreichisch-russischen Front 1914
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Als der deutsche und der österreichische Kaiser am 5. November 1916 ein polnisches Königreich proklamierten, legten sie die Regentschaft in die Hände der alten Aristokratie, der Radziwiłł und Lubomirski. Nun schien sich Piłsudskis Verhältnis zu den Mittelmächten noch einmal zu wenden. Man holte den verbannten Piłsudski und ernannte ihn zum Mitglied des Staatsrats im Satellitenkönigreich ohne König. Er sollte aus den Legionen unter österreichischem Kommando eine polnische Armee formen. So weit war es mit den stolzen Kaiserreichen gekommen, dass sie den unzuverlässigen Kombattanten, den noch immer als Sozialist beargwöhnten Unruhestifter, den verachteten Kommandanten ohne Militärakademie zu Hilfe rufen mussten. Ganz offensichtlich schielte die hungrige vereinte Militärmaschinerie auf mehr polnisches Kanonenfutter. Als im Juli 1917 die Legionen einen Eid auf die beiden Kaiser schwören sollten, zerbrach das unmögliche Bündnis. Piłsudski und die erste und die dritte Brigade verweigerten den Eidschwur. Soweit sie österreichische Staatsbürger waren, wurden sie an die italienische Front geschickt, Józef Piłsudski kam auf die Festung Magdeburg. Die zweite Brigade unter General Józef Haller leistete zunächst den Eid, desertierte jedoch nach dem Frieden von Brest-Litowsk im März 1918. Haller baute dann in Frankreich die polnische „Blaue Armee“ auf. Frankreich wurde nun Schutzmacht der polnischen Sache, denn die Nationaldemokratie unter Roman Dmowski hatte ihr Hauptquartier schon im November 1915 von St. Petersburg nach Paris verlegt.106 Wie Piłsudski in seinen Erinnerungen schreibt, wurde er in der Magdeburger Festungshaft achtungsvoll behandelt. Er hatte drei Räume zur Verfügung und konnte sich in Festung und Garten frei bewegen. Schließlich kam auch Freund Sosnkowski auf die Festung, und sie vertrieben sich die Zeit mit „endlosen Gesprächen und endlosem Schachspiel“. Doch er litt unter der Trennung von Aleksandra, die im Februar 1918 ihre erste Tochter Wanda geboren hatte, und unter der Entfernung von den Ereignissen in Warschau.107 Im Rückblick konnte ihm jedoch nichts Besseres geschehen als dieser Arrest. So war er dem Parteienstreit entrückt, vom Verdacht der Kumpanei mit den deutschen Teilungsmächten befreit und zum Märtyrer und Symbol des polnischen Unabhängigkeitskampfes erhoben. Unter dem Druck der russischen Revolution war die Lage der Deutschen und ihres polnischen Regentschaftsrates in Warschau im Oktober 1918 unhaltbar geworden. Von jenseits des Bug wehte der Geist der russischen Revolution herüber und beförderte Unruhen unter roten Fahnen und bolschewikischen Losungen. Piłsudskis Polnische Kampforganisation tauchte aus dem Untergrund auf und rief zum nationalen Aufstand. In Lublin hatte sich am 7. November 1918 eine „Provisorische Volksregierung der Republik Polen“ auf den Trümmern der österreichischen Herrschaft gebildet, ein Bündnis aller sozialistischen Gruppierungen und der Bauernpartei von Wincenty Witos unter dem Sozialisten Ignacy Daszyński.108 Piłsudski erschien allen Seiten als der allein mögliche Retter und Stabilisator der Verhältnisse, sodass sich im Oktober sowohl die Fürsten Zdzisław Lubomirski und Janusz Radziwiłł namens des Regentschaftsrates an die deutsche Regierung, als auch Ignacy Daszyński an den neu ernannten sozialdemokrati106 Stefancic 2005, S. 111 – 113; Conze 1958, S. 227, 242 – 244, 281, 295 – 297; Garlicki 1995, S. 83 – 87 107 Piłsudski 1935/36, Bd. 1, S. 4 – 9 108 Michael 2010, S. 80
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schen Staatssekretär Scheidemann wandten, um Piłsudski freizubekommen.109 Am 8. November traf Harry Graf Kessler in Magdeburg ein, um Piłsudski und Sosnkowski nach Warschau zu bringen. Der Graf überliefert in seinem Tagebuch die Umstände der Reise über Berlin, wo soeben die Revolution ausbrach und die Reisepläne über den Haufen warf. Er gibt in seinen Erinnerungen auch ein farbiges Bild der ersten Regierungswochen Piłsudskis, da er bis Mitte Dezember als deutscher Botschafter in Warschau wirkte, bis die diplomatischen Beziehungen auf Drängen der Siegermächte und der Nationaldemokratie abgebrochen wurden.110
Geburtshelfer des neuen Polens Auf dem Wiener Bahnhof in Warschau wurden Piłsudski und Sosnkowski am frühen Morgen des 10. November vom Fürsten Lubomirski und einer Abordnung der Polnischen Kampforganisation empfangen, beide in feindseliger Distanz zueinander. Währenddessen zogen durch die Straßen Warschaus Arbeiter, die nach Revolution riefen. Piłsudski nahm die Macht weder aus den Händen der Aristokraten noch der Sozialisten entgegen. Nach der Selbstauflösung des Regentschaftsrates ernannte er sich in einem Dekret selbst zum Provisorischen Staatsführer, ein Titel, den er sich durch das gewählte Parlament im Februar bestätigen ließ. Er befreite sich von den letzten sozialistischen Eierschalen, indem er die Lubliner Regierung auflöste; seine Vertrauten Leon Wasilewski und Edward Rydz-Śmigły waren Außenminister und Verteidigungsminister dieser Regierung gewesen. Rydz-Śmigły herrschte er an, warum er sich unnötigerweise in die Politik gemischt habe. Bolesław Limanowski, einem Gründungsvater des polnischen Sozialismus, antwortete er auf entsprechende Vorhaltungen, dass er nun nicht mehr Sozialist sei, sondern ganz Polen gehöre.111 In seiner eigenen Wahrnehmung verschmolz Piłsudski immer mehr mit Polen; er sah sich als einzig legitimierten Sachwalter der Nation. Die landesweit mehr als hundert Arbeiterräte wurden nach den Sejmwahlen im Januar entmachtet; die Linkssozialisten – PPS-Linke und SDKPiL, die sich inzwischen zur Kommunistischen Partei zusammengeschlossen hatten – wurden in die Illegalität gedrängt.112 Piłsudski einigte sich mit den Nationaldemokraten, indem er den berühmten Pianisten Ignacy Jan Paderewski, der gemeinsam mit Dmowski die polnische Sache auf der Friedenskonferenz in Paris vertrat, zum Regierungschef ernannte. Das war ein nach innen wie nach außen geschickter Schachzug. Das Pariser Nationalkomitee der Nationaldemokraten unterstellte sich nun Piłsudski und führte die Verhandlungen in Paris fortan in dessen Auftrag. Damit hatte der selbst ernannte Staatsführer die Anerkennung der Siegermächte gewonnen.113
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Conze 1958, S. 386 – 391 Hausmann 1980 Michael 2010, S. 81 Strobel 1974, S. 685 – 687 Garlicki 1995, S. 89
Nun endlich konnte er mit einem polnischen Heer gegen den Hauptfeind Russland ziehen, was ihm während des Kriegs wieder und wieder verwehrt worden war. Er formierte die neue Armee aus seiner Kampforganisation POW, aus der heimgekehrten „Blauen Armee“ des General Haller und mit der Einberufung jener, die zu Hunderttausenden in den Armeen der Teilungsmächte gekämpft hatten. Mitte des Jahres 1920 zählte das Heer mehr als eine Million.114 Piłsudski sandte die Truppen in das Land hinter dem Bug, das nach Kriegsende von den deutschen Heeren geräumt war. Dort trafen sie auf die Rote Armee. Die russischen Revolutionäre hatten schon nach der Februarrevolution 1917 das Recht Polens auf unabhängige Staatlichkeit anerkannt, eine Erklärung, die von Lenins Sowjetrussland mehrfach wiederholt wurde. Lenin hatte die langen Gespräche in Krakau im Winter 1912/13 und seine damaligen Zusicherungen nicht vergessen. Aber Piłsudski wollte mehr: ein Polen in den Grenzen der alten Adelsrepublik von 1772, wo Polen „von Meer zu Meer“ die Vormacht der Völker am Rande der russischen Welt wäre. Diese „föderalistisch“ genannte Vorstellung trieb Piłsudski, seine Armee nach Kiew, Wilna und Minsk zu schicken, wo Ukrainer, Litauer und Weißrussen um eigene Staatlichkeit rangen. Seine militärischen Offerten fanden jedoch keine Gegenliebe. An Leon Wasilewski, seinen Vertreter auf der Pariser Friedenskonferenz, schrieb er am 8. April 1919 über seine Vorstellung von Föderalismus: „Du kennst in dieser Hinsicht meine Absichten, die darin bestehen, dass ich weder ein Imperialist noch ein Föderalist sein will, solange ich nicht die Möglichkeit habe, in diesen Fragen mit einem solchen Gewicht zu sprechen – und mit dem Revolver in der Tasche“. Mit Bezug auf Wilsons Programm für das Selbstbestimmungsrecht der Völker fuhr er fort: „Angesichts dessen, dass auf Gottes Erden anscheinend das Geschwätz über Brüderlichkeit der Menschen und Völker sowie amerikanische Doktrinen zu siegen beginnt, neige ich mich äußerst gerne auf die Seite der Föderalisten“.115 Solcher Föderalismus hatte nichts mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und viel mit Großmachtpolitik zu tun. So entwickelte sich in den Jahren 1919 und 1920 ein polnisch-sowjetrussischer Krieg, der die Ressourcen beider Staaten erschöpfte und das ukrainische und weißrussische Land, das ähnlich wie Flandern zu den Hauptschlachtfeldern des großen Kriegs gehört hatte, schwer schädigte. Am Ende war eine Viertelmillion Polen gefallen.116 Budjonnys Reiterarmee trieb die polnischen Truppen aus der Ukraine zurück, und General Tuchatschewski gelangte mit seinen Truppen bis Warschau, von wo dann Piłsudski ihn in dem viel gerühmten „Wunder an der Weichsel“ zurückschlug. In seinem wenig später verfassten Bericht über das Jahr 1920 glorifizierte Piłsudski diesen Erfolg als Rettung Polens vor dem sowjetischen Revolutionsexport, 114 Swietochowski 1988, S. 279 115 Zitiert: Jena 1980, S. 16 f. 116 Jena 1980, S. 21 – 34; Michael 2010, S. 102; Davies 2003
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spätere Historiker und Politiker sahen darin gar die Rettung ganz Europas vor der bolschewikischen Gefahr.117 Die Schlacht um Warschau wird seitdem immer wieder verglichen mit der Rettung Wiens vor den Türken durch König Jan Sobieski ein Vierteljahrtausend früher; der Mythos von Polen als „Eckstein der Christenheit“ lebt. Natürlich führte Piłsudski keinen Verteidigungskrieg, wessen auch immer, sondern ohne jede Not einen Angriffskrieg zur Verwirklichung seines großen Traumes. Einmal angegriffen probten die Bolschewiki den Revolutionsexport. In der sowjetischen Führung äußerte Trotzki Bedenken, unter den polnischen Kommunisten war es Marchlewski, beide erfolglos. So trug die sowjetische Führung den Krieg weit nach Polen hinein, um „mit den Bajonetten [zu] sondieren, ob die soziale Revolution des Proletariats in Polen herangereift ist“.118 Sie war es nicht. Trotz Inflation, Hunger und Arbeitslosigkeit machte das polnische Volk den Schutz seines neuen Staates zur eigenen Angelegenheit, dies umso mehr, als inzwischen eine Koalition der Bauernpartei „Piast“ unter Wincenty Witos und mit den Sozialisten unter Ignacy Daszyński regierte. Lenin sagte 1921 zu Clara Zetkin: „Die Revolution in Polen, mit der wir gerechnet hatten, blieb aus. Die Bauern und Arbeiter, von den Piłsudski- und Daszyńskileuten beschwindelt, verteidigten ihre Klassenfeinde, sie ließen unsere tapferen Rotarmisten verhungern, lockten sie in Hinterhalte und schlugen sie tot“.119 Europa war gespalten. Die Westmächte unterstützten Piłsudskis Krieg, während Gewerkschaften und sozialistische Parteien Verschiffung und Entladung der Hilfslieferungen unter der Losung „Hände weg von Sowjetrussland!“ verweigerten. Die englische Labour-Opposition zwang ihre Regierung zur Neutralität, indem sie mit einem Generalstreik drohte.120 Auch Deutschland, das sich neutral erklärte, und die Tschechoslowakei, die mit Polen wegen des schlesischen Teschen im Streit lag, verweigerten die Durchleitung der Waffenlieferungen. Die polnische Armee drang indessen weit nach Osten vor, und so konnte am 18. März 1921 in Riga ein Friedensvertrag geschlossen werden, der Polens Ostgrenze entschieden jenseits der Linie festlegte, die nach dem britischen Außenminister Lord Curzon benannt war; sie hatte dem anfänglichen Willen der Westmächte entsprechend nur ethnisch polnisch dominierte Gebiete eingeschlossen. Da Piłsudski gleichzeitig auch noch in einem Handstreich seine Vaterstadt Wilna mit Umland okkupieren ließ und den Litauern so ihre Hauptstadt nahm, hatte er zwar nicht die Grenzen von 1772 erreicht, aber den neuen Staat doch in einem Maße ausgedehnt, das mit dem modernen Nationsbegriff der Einheit von Volk, Staat und Territorium nicht vereinbar war.121 Das neue Polen war ein Nationalitätenstaat mit einem Drittel nichtpolnischer Bevölkerung, darunter etwa fünf Millionen Ukrainern und reichlich einer Million Weißrussen
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Halecki 1957 Mehls 2001, S. 98 f.; Zernack 2000 Jena 1980, S. 32 Braunthal 1978a, S. 202 – 206 Zernack 1994, S. 407 – 413
im Osten.122 Das war eine schwere Hypothek, denn das neue Polen hatte mit den Nationalitätenproblemen auch äußere Feinde an seinen östlichen Grenzen hinzugewonnen. Unterdessen hatte Dmowski auf der Pariser Friedenskonferenz bedeutende Zugeständnisse im Westen erreicht, auch hier unter dem angestrebten Maximum bleibend, aber doch im Wesentlichen das einst von Preußen geraubte Großpolen und Westpreußen zurückgewinnend, dazu schließlich einen Teil Oberschlesiens und wertvolle Rechte in Danzig, das unter Völkerbundmandat gestellt wurde.123 Als Roman Dmowski nach seiner Rückkehr von der Friedenskonferenz dem Staatsführer in dessen Amtssitz Belvedere Bericht erstatten wollte, erhielt er erst keine Audienz und dann kein Lob. Piłsudski nannte die Westgrenze wegwerfend ein „Geschenk der Westmächte“. Es war die letzte Begegnung der beiden Widersacher und die einzige im neuen Staat.124 Dabei waren die Deutschland abgerungenen Landstriche ungleich wertvoller, weil entwickelter als die weiten Wald- und Sumpfgegenden, die Piłsudski im Rigaer Frieden gewonnen hatte. Sie waren sowohl in wirtschaftlicher, als auch in politischer Hinsicht eine ungleich bessere Grundlage für die Entwicklung Polens. Dmowskis Konzept der Nation, das er 1903 in seinen „Gedanken eines modernen Polen“ (Myśli nowoczesnego Polaka) niederlegte, sah die Nation als Einheit von Staat und Volk, als lebendigen Organismus, der höher steht als jedes Einzel- oder Gruppeninteresse.125 Klassenkämpfe waren damit genauso ausgeschlossen wie Minderheitenrechte, die fraglose Eingliederung des Individuums in das Volksganze geboten. Das war der „moderne“ Nationalismus jener Zeit, der die Klassengesellschaft durch die Volksgemeinschaft überwinden wollte. Die gegenwärtige Forschung nennt diesen Nationalismus des 20. Jahrhunderts „integral“; treffender wäre „totalitär“, denn ins Totalitäre zielte er unbedingt, wenn er dies glücklicherweise meistens auch verfehlte. Weil die Nationaldemokraten vor allem jene mehr oder weniger polnisch besiedelten Gebiete an Oder und Ostsee forderten, die unter den Piasten, der ältesten Dynastie, zu Polen gehört hatten, den polnischen Staat also auf eine völkische Grundlage zu stellen suchten, wurde Dmowskis Konzept „piastisch“ genannt und dem „jagiellonischen“ Piłsudskis gegenübergestellt. Auf Piłsudskis Nationskonzept passt die historisierende Kennzeichnung viel besser, denn er blieb im Grunde der altständischen Vorstellung einer politischen Nation verhaftet, die verkörpert wird durch die Einheit der staatstragenden Eliten.126 Völkisches Denken war Piłsudski fremd, und gewaltsame Polonisierung von Minderheiten entsprach nicht seinen Absichten, solange sie das Staatsinteresse nicht gebot. Es scheint, als hätten Piłsudski und seine adeligen Kampfgefährten aus den östlichen Kresy die Emanzipation von Bauern und Bürgern ausgeblendet, die soziale Erweiterung der Nation durch Modernisierung nicht wahrgenommen. Dazu passt die Volksverachtung, die Gotthold Rhode als eine der Merkwürdigkeiten in Piłsudskis Charakter anmerkt und mit dem Stoßseufzer des Marschalls illustriert: „Ich bitte
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Jena 1980, S. 35 – 41 Lundgreen-Nielsen 1979, S. 32 – 34 Hausmann 1973, S. 391 Brock 1971, S. hier 342 Hausmann 1978, S. 68 f.
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Sie, was könnte ich alles leisten, wenn ich ein anderes Volk regierte!127 Feliks Tych meint deshalb, Piłsudski sei eigentlich kein Nationalist gewesen.128 Tatsächlich ging es Piłsudski nicht um das polnische Volk, nicht um die Nation im modernen Sinne, sondern immer um den Staat der einstigen Goldenen Freiheit, die Zweite, wiedergeborene Republik Polen, wie sie sich bald in bewusster Anknüpfung an die Adelsrepublik nannte.129
Der Weg zur unbedingten Macht Ungeachtet der Erfolge ging Piłsudski aus dem polnisch-sowjetischen Krieg nicht gestärkt hervor, seine Popularität als Staatsführer sank. Eine Viertelmillion Polen waren gefallen, die Staatsfinanzen durch die Kriegsausgaben zerrüttet und die Industrie im Krieg zerstört. Polens Wirtschaft war von ihren Märkten abgeschnitten und unverbunden dreigeteilt. Die galoppierende Inflation und die Arbeitslosigkeit führten in eine Staatskrise. Der Unmut der Massen brach auf in Streiks und Demonstrationen; die moderne Sozialgesetzgebung nach austromarxistischem Muster, die von der Regierung unter Witos und Daszyński in Angriff genommen worden war, konnte noch kaum Erfolge vorweisen.130 Den sozialen Spannungen entsprach die politische Instabilität. Im Parlament waren 18 kaum koalitionsfähige Parteien vertreten, und schon bis 1926 wechselten sich vierzehn verschiedene Kabinette ab. Die Verfassung von 1922 sah anstatt des Staatsführers einen Präsidenten mit sehr beschränkten Vollmachten vor. Diesen Posten lehnte Piłsudski ab und ließ statt seiner Gabriel Narutowicz wählen, einen alten PPS-Genossen und Universitätsprofessor. Schon zehn Tage später, am 16. Dezember 1922, wurde der von rechten Nationalisten erschossen. Nun wurden auch die PPS-Sozialisten aus der Regierung verdrängt; Wincenty Witos bildete 1923 eine Regierung mit den Nationaldemokraten.131 Mit diesem Pakt opferte Witos eine durchgreifende Landreform zugunsten der Bauern, um als Statthalter der Rechten an die Macht zu gelangen. Stanisław Thugutt, der Führer der konkurrierenden linken Bauernpartei „Wyzwolenie“ (Befreiung) sagte dazu: „Witos hätte ein großer Bauernführer sein können, doch er zog es leider vor, der Hofnarr des Adels zu werden“.132 Piłsudski schmerzte nicht die ausbleibende Landreform, sondern seine faktische Entmachtung als Erster Marschall Polens; diesen Titel hatte ihm der Sejm 1920 zusammen mit der Vollmacht des Generalinspektors der Armee und des Oberbefehlshabers in Kriegszeiten zuerkannt. Nun wurden seine Leute in Armee und Ministerien durch Anhänger der Nationaldemokratie ersetzt. Piłsudski legte seine verbliebenen Ämter und Würden nieder und zog sich, noch nicht 56jährig, als „Einsiedler von Sulejówek“ im Sommer 1923 auf sein nahe Warschau 127 128 129 130 131 132
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Rhode 1982, S. 276 Tych 1995 Rothschild 1988; Politt 1999 Siewierski 1989 Garlicki 1995, S. 105 – 112 Zitiert: Rothschild 1962, S. 248; würdigend: Mędrzecki 2010
gelegenes kleines Gut zurück. Er schrieb über den Krieg von 1920, las bis in die Nacht militärgeschichtliche Literatur und zerstreute sich bei Patiencen.133 Das Anwesen war ein Geschenk seiner Legionäre, und es ermöglichte ihm, mit seiner Familie von den bescheidenen Einkünften seiner Vortrags- und Publikationstätigkeit zu leben. Die Pension, die ihm aus seinen Staatsämtern zustand, hatte er stolz zurückgewiesen und zum Unterhalt von Witwen und Waisen des polnisch-sowjetrussischen Kriegs bestimmt. Sein Lebensstil war asketisch, wie man es oft bei Menschen findet, deren ganzes Streben sich in einem großen Ideal zusammenzieht. Er brauchte wenig mehr als Tabak und Unmengen starken Tees, den er auf russische Art brühte; er trug unentwegt den grauen Legionärsrock ohne Orden und Rangabzeichen und reiste zu seinen Vorträgen zweiter Klasse mit der Eisenbahn. Das war keine bemühte Volksnähe, doch diese Schlichtheit machte ihn weit über den Kreis seiner Legionäre hinaus zum verehrten „Großvater“.134 Die Entfernung von der Macht hatte durchaus ihr Gutes, sie wirkte ähnlich wie die Magdeburger Haft als Entrückung. Piłsudski wurde nicht verantwortlich gemacht für die Hyperinflation von 1923 und die steigende Arbeitslosigkeit, er musste nicht den Generalstreik desselben Jahres gewaltsam niederschlagen, nicht das Elend der Landbevölkerung nach der Missernte von 1925 verantworten, nicht dem bewaffneten Widerstand der Ukrainer entgegentreten, nicht den Zollkrieg mit Deutschland bewältigen, das ab 1925 keine schlesische Kohle mehr abnehmen wollte.135 So wuchs seine Popularität mit jeder scheiternden Regierung, bis der Einsiedler von Sulejówek zum Hoffnungsträger aller wurde, die nicht dem rechten Lager angehörten.136 Die Einsiedelei war keineswegs wörtlich zu nehmen. Natürlich kamen seine Vertrauten regelmäßig vorbei, um über den Gang der Dinge Bericht zu erstatten, und Piłsudski seinerseits wurde immer wieder im Belvedere vorstellig, um eine Rückkehr als Armeeführer zu seinen Bedingungen zu erreichen.137 Dort präsidierte jetzt Stanisław Wojciechowski, der alte Genosse aus frühen PPS-Tagen, der nun Parteigänger der Nationaldemokraten war. Im Herbst 1925 hat Piłsudski dann offenbar den Entschluss gefasst, gestützt auf die Armee an die Macht zurückzukehren. Er begann in der Presse die Regierung und das Parlament scharf anzugreifen, die herrschenden Parteien und Politiker der Korruption, der Missachtung des nationalen Interesses und der moralischen Verkommenheit zu beschuldigen. Seine Anhänger entfachten in den folgenden Monaten eine regelrechte Kampagne gegen den Sejm, dessen Unfähigkeit zur Meisterung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes als Ausdruck der allgemeinen Krise des parlamentarischen Systems gewertet wurde, und gegen die Nationaldemokratie, die beschuldigt wurde, einen faschistischen Putsch vorzubereiten. Allein Präsident Wojciechowski wurde verschont. Die Propaganda zeigte Wirkung. Als der Präsident am 10. Mai erneut ein Mitte-Rechts-Kabinett unter Witos berief, kam es zu Massendemons-
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Rothschild 1962; Garlicki 1995, S. 122 – 126 Michael 2010, S. 112 – 114; Garlicki 1995, S. 129 Kowal 2001 Garlicki 1995, S. 119 – 121 Rothschild 1962
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trationen der Arbeiter in Warschau, die nach Piłsudski riefen, und sogar die Kommunisten riefen auf, das Piłsudski-Lager beim Sturz der Regierung zu unterstützen.138 Am 12. Mai marschierte Piłsudski mit ihm ergebenen Regimentern nach Warschau zum Amtssitz des Präsidenten. Er versprach seiner Frau, abends zurück zu sein, denn er glaubte, die bloße Drohung würde genügen, diesen zur Machtübergabe zu bewegen. Wojciechowski eilte ihm entgegen, traf zu einem minutenkurzen Gespräch mit Piłsudski auf der Poniatowski-Brücke zusammen, blieb aber hart. Die Regierung beorderte Regimenter aus dem nationaldemokratisch gesinnten Posener Gebiet herbei. Der alte Weggefährte General Kazimierz Sosnkowski, der nach seiner Entmachtung als Kriegsminister nach Posen verbannt worden war, unternahm einen Selbstmordversuch, um dem Konflikt zwischen Eid und Treue zu entgehen. Es war kein Einzelfall. Am Ende standen sich in einer dreitägigen Auseinandersetzung 11.000 Soldaten des Piłsudski-Lagers und 7.000 der Regierung gegenüber, 379 Tote und 920 Verletzte fielen den Kämpfen zum Opfer.139 Piłsudskis Staatsstreich war erfolgreich. Wie sich schnell zeigte, war es kein Sieg der Linken.
Sanacja! – „Gesundung!“ Der Staatsstreich war das Ende des Parlamentarismus und der Parteiendemokratie in der Zweiten Republik Polen. Piłsudski jagte den Sejm nicht auseinander, er schickte ihn in die Ferien. So vermied er Neuwahlen, die voraussehbar einen Sieg der Linken gebracht hätten. Stattdessen ließ er den Lemberger Professor Kazimierz Bartel ein konservatives Experten-Kabinett bilden. Piłsudski hatte dem Parlament nach dem Staatsstreich gedroht: „Wenn ihr nicht so handeln wollt, sehe ich die Zukunft für euch in schwarzen Farben und auch für mich in unangenehmer Färbung, denn ich möchte nicht mit der Peitsche regieren“.140 Das Parlament wählte Piłsudski Ende Mai mit großer Mehrheit zum Präsidenten, so seinen Coup nachträglich absegnend. Der lehnte die Wahl jedoch ab und präsentierte dafür den Chemieprofessor Ignacy Mościcki, ebenso wie Bartel ohne eigenes Gewicht. Piłsudski übernahm das Kriegsministerium und den Posten des Generalinspektors der Armee.141 Seiner Auffassung nach ruhte der Staat auf der Regierung und der Armee. Eine selbständige Rolle der bürgerlichen Gesellschaft lag außerhalb seines Begriffshorizonts. In den Parteien sah er nur Organisationen von Gruppeninteressen gegen das Wohl des Staats. Die Abneigung gegen parlamentarische Herrschaft, ja gegen die moderne Parteiendemokratie an sich, war Piłsudskis tiefe Überzeugung; nach Feliks Tych war sie dessen einzige Ideologie. Wenn er 138 139 140 141
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Garlicki 1995, S. 127 – 131 Garlicki 1995, S. 135 f.; Tych 1995, S. 182 Piłsudski 1935/36, Bd. 3, S. 211 Garlicki 1995, S. 136 – 144
bei aller Verunglimpfung und Marginalisierung der demokratischen Institutionen doch einen Schein davon bestehen ließ, so geschah dies vornehmlich aus außenpolitischen Rücksichten auf die Westmächte, seine unverzichtbaren Bundesgenossen.142 Die tatsächliche Herrschaft lag so wenig bei den Ministern wie bei Präsident und Premier, sie lag bei dem Marschall selbst und bei einem engen Kreis von Vertrauten, die in der Regel entscheidende zweite Positionen als Amtschefs in den Ministerien besetzten. Hier wie auf den Kommandostellen der Armee war auf den Mai-Coup eine gründliche „Säuberung“ erfolgt. Opfer wurden besonders Generäle der ehemals österreichischen Armee, die Piłsudski einst im Wege gestanden hatten, darunter auch General Haller. Die Kamarilla um den Marschall sorgte für die kongeniale Umsetzung seiner einsamen Entschlüsse. Es waren alte Kampfgefährten aus der Zeit den PPS-Kampforganisationen, der Schützenverbände, der 1. Brigade und der geheimen Kampforganisation POW. Einfluss hatten insbesondere Aleksander Prystor als Minister, Kazimierz Świtalski als Minister, Ministerpräsident und dann Marschall des Sejm, Walery Sławek als Ministerpräsident, Janusz Jędrzejewicz ebenfalls Ministerpräsident, Józef Beck, der spätere Außenminister, und Edward Rydz-Śmigły, zuständig für die östlichen Gebiete.143 Wie bei jeglicher persönlicher Herrschaft spielte die First Lady Aleksandra Piłsudska eine Rolle. Der den Kommunisten nahe stehende Dichter Aleksander Wat erinnerte sich, wie seine avantgardistische Bühnenschau zum zehnjährigen Jubiläum der Sozialgesetzgebung auf Geheiß von Prystor und Madame Piłsudska bei deren Besuch in Posen abgesetzt wurde.144 Das Piłsudski-Lager gab seiner Herrschaft das Odium einer Erziehungsdiktatur, indem es sie als „Sanacja“ (Gesundung) bezeichnete. Das war eine der Rechtfertigungen des Staatsstreichs, die Piłsudski am 24. Mai 1926 im Sejm vorbrachte: „Im wiedergeborenen Staat ist keine Wiedergeburt der Volksseele erfolgt“.145 Die unentwegte Propaganda über die Verderbtheit der Abgeordneten und Parteien machte dies einer breiteren Öffentlichkeit plausibel. Der Mythos von Piłsudski als Mentor des Volkes wurde zu einem Eckpfeiler des Piłsudski-Kults, der sich nach dem Mai-Putsch mit öffentlichen Feiertagen entfaltete – so am 19. März, dem Namenstag, und im Gedenken an die Rückkehr aus Magdeburg am 11. November.146 Der PiłsudskiKult wurde vom Sanacja-Lager getragen, das im weiteren Sinne etwa 20.000 bis 30.000 ehemalige Legionäre umfasste, erweitert bald um die „vierte Legion“ von Neulingen und Karrieristen. Dazu zählte aber auch der überwiegende Teil der Intelligenz im Staatsdienst und in den freien Berufen. Sie, die wie Piłsudski und seine Gefährten überwiegend aus dem Adel stammten und ihre Werte aus der romantischen Tradition der Aufstände schöpften, waren offenbar besonders anfällig für den Führerkult um den Marschall.147 Der sowjetische Dichter Ilja Ehrenburg bereiste Polen nicht lange nach dem Mai-Umsturz und war schockiert:
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Tych 1995 Garlicki 1995, S. 145 – 147 Wat, Miłosz 2000, S. 88 Piłsudski 1935/36, Bd. 3, S. 208 Hein 2002, S. 316 – 338 Żarnowski 1985, S. 606 f.
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„In Warschau gibt es ein literarisches Café – ‚Mała Ziemiańska‘ –, dorthin kommen die polnischen Dichter und die polnischen Offiziere. Sie sind nicht nur Tischnachbarn. Sie sind gute Freunde. Man sagt, das habe nach dem Sieg Piłsudskis begonnen – die Militärtressen seien damals in die polnische Literatur eingedrungen. […] In vielen Zeitungen wird bei der Erwähnung Piłsudskis ‚er‘ mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben. Doch nicht nur die Zeitungen – Dichter vergöttern ihn in Versen. Ich sah im Zimmer eines sehr begabten und sehr ‚linken‘ Dichters zwei Bildnisse Piłsudskis. Das waren keine Zeitdokumente, sondern Heiligenbilder …“148 Das Sanacja-Regime Piłsudskis verkörpert wohl, was Max Weber 1921, noch in Unkenntnis der Ausprägungen dieses Typs von Mussolini bis Hitler, als charismatische Herrschaft beschrieben hat.149 Dass Piłsudski 1935 im nationalsozialistischen Deutschland eine repräsentative Werkausgabe mit einem Geleitwort von Hermann Göring bekommen hat – von Marschall zu Marschall – illustriert die politische Annäherung beider Regimes, aber wohl auch die Geistesverbundenheit.150 Die außenpolitische Annäherung Piłsudskis an Hitlerdeutschland wurde mit dem Nichtangriffspakt vom Januar 1934 besiegelt, der die Danzig-Krise und den neunjährigen Handelskrieg beendete.151 Ob man Piłsudskis Herrschaft als faschistisch oder faschistoid bezeichnen kann, ist heftig umstritten. Strobel hat die Ähnlichkeiten zu Mussolinis Italien und zu den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland scharf herausgearbeitet.152 Michael lehnt solche Parallelen ebenso vehement ab.153 Das Sanacja-Regime war ungeachtet des sehr fadenscheinigen konstitutionellen Mäntelchens zweifellos autoritär und diktatorisch. Es fügte sich ein in die autoritären Diktaturen, die während der Zwischenkriegszeit von Portugal bis Estland vom Bankrott der Demokratien in der europäischen Peripherie zeugten.154 Die Linken von Piłsudskis ehemaliger Polnischer Sozialistischer Partei PPS bis zu den Kommunisten, die den Staatstreich mit getragen hatten, trennten sich nur mühsam von ihren Illusionen. Piłsudski wies ihr soziales Programm zurück und überging ihre Vertreter bei der Regierungsbildung. Stattdessen ging er auf die Konservativen und den Klerus zu. Die katholische Kirche erhielt über die Festlegungen des bestehenden Konkordats mit Rom hinaus Einfluss auf die Schulen. Dem Großgrundbesitz wurde zugesagt, auf weitere Landaufteilungen zu verzichten; die Landreform hatte bisher nur nichtpolnische Eigentümer betroffen. Aufsehen erregte Piłsudskis Besuch in der Residenz des Fürsten Radziwiłł im weißrussischen Nieświeź, der das Bündnis mit der Aristokratie besiegelte.155 Piłsudski sah sich überparteilich, er wollte weder mit der Linken, noch mit der Rechten regieren – eine Selbsttäuschung, denn natürlich
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Ehrenburg 1982, S. 118 f. Weber, Winckelmann 1990, S. 124, 142 f. Piłsudski 1935/36, Bd. 1 Roos 1957, S. 129 – 138; Hoensch 1998, S. 271 f. Strobel 1995, S. 268 f. Michael 2010, S. 126 – 145 Berend 1998, S. 154 – 159, 314 – 318 Garlicki 1995, S. 148 f.
war das ein konservatives Programm der Zementierung des sozialen Status quo. Ansonsten gab es kein Programm. Niemals hat das Sanacja-Lager ein Wahl- oder Regierungsprogramm aufgestellt. Auch der „Überparteiliche Block der Zusammenarbeit mit der Regierung“, den Walery Sławek in Vorbereitung der Sejmwahlen 1928 aufbauen musste, hatte kein Programm außer „Piłsudski!“156 Gleich nach dem Coup verkündete Piłsudski, Polens Einheit und Stärke auf die Kraft und Unabhängigkeit der vollziehenden Gewalt gründen zu wollen, eine Kampfansage nicht nur an die legislative, den Sejm, sondern auch an die unabhängige Gerichtsbarkeit.157 Die linken und die Bauernparteien hatten 1928 trotz des „Überparteilichen Blocks“ die meisten Stimmen gewonnen, sodass Piłsudski den unbequemen Sejm mit dem verhassten Sejm-Marschall Ignacy Daszyński kaltstellte und so bald wie möglich auflöste. Roman Dmowskis Nationaldemokratie blieb Piłsudskis Intimfeind, aber noch konnte man die nationaldemokratischen Politiker, die brutal zusammengeschlagen wurden, an einer Hand abzählen. Offene Gewalt trat 1930 mit der großen Weltwirtschaftskrise in den Vordergrund. Sie brach über Polen herein mit einem millionenstarken Arbeitslosenheer unter der gar nicht so zahlreichen Arbeiterschaft und mit nacktem Elend unter der Landbevölkerung. Soziale Unruhen drohten, die PPS und die Bauernparteien rückten nach links und schlossen sich zu einem Mitte-Links-Bündnis gegen das Sanacja-Lager zusammen. Da ließ Piłsudski erst die oppositionellen Sejm-Abgeordneten und dann weitere rund 5.000 Politiker der gegnerischen Parteien verhaften. Die Politiker, darunter die vormaligen Premierminister Wincenty Witos und Wojciech Korfanty, wurden auf der Festung Brest-Litowsk eingesperrt und gepeinigt.158 Die „Brester Wahlen“ von 1930 bedeuteten den Übergang von der autoritären Herrschaft zur Gewaltherrschaft. 1934 richtete das Sanacja-Regime ein Konzentrationslager für politische Gegner nach deutschem Vorbild in Bereza Kartuska ein. Das waren damals noch Internierungslager, Orte staatlicher Gewalt jenseits des Rechts; die Vernichtungslager schufen die Deutschen im Krieg. In Bereza Kartuska waren überwiegend Kommunisten und ukrainische Nationalisten interniert.159 Die militärische „Befriedung“ der ukrainischen Aufstandsgebiete war Teil der Gewaltspirale.160 Józef Piłsudski war in seinen letzten Lebensjahren durch Krankheit gezeichnet. Er alterte rasch. Ein Schlaganfall im April 1928 beeinträchtigte nicht nur Sprache und Beweglichkeit seiner rechten Körperseite, die Arteriosklerose hatte auch Einfluss auf seine Persönlichkeit. Unflätige Beschimpfungen von Parlament und Politikern, zunehmende Menschenverachtung und heftige Ausbrüche gegen Vertraute mögen auch der Erkrankung zuzuschreiben sein. Er starb am 12. Mai 1935 an Krebs. Sein Tod erschütterte das Land. Er erhielt ein Staatsbegräbnis mit königlichen Ehren, sein Leichnam wurde in der Gruft der polnischen Könige auf der Wawel-Burg in Krakau beigesetzt.161
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Michael 2010, S. 134 f. Piłsudski 1935/36, Bd. 3, S. 198 – 200 Garlicki 1995, S. 171 f.; Michael 2010, S. 139 f. Garlicki 1995, S. 178; Michael 2010, S. 142 Bömelburg 1991, S. 92 f. Garlicki 1995, S. 63 f., 179
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Nach Piłsudskis Tod übernahm Edward Rydz-Śmigły den Marschallstab. Unter seiner Führung verzichtete das Sanacja-Lager, gedeckt durch eine hinterrücks verabschiedete Verfassung nach Maß, nahezu völlig auf parlamentarische Drapierung. Es übernahm nun auch die aggressive Minderheitenpolitik und den Antisemitismus des rechten, nationaldemokratischen Lagers und verschärfte die politischen Konflikte in der Gesellschaft.162 Angesichts der Zuspitzung der internationalen Situation durch den deutschen Nationalsozialismus war das eine gefährliche Entwicklung. Józef Piłsudski hatte einen weiten Weg zurück gelegt, vom sozialistischen Untergrundkämpfer zum autoritären Staatenlenker. Auf diesem Weg ist er sich selbst treu geblieben, nicht der sozialistischen Idee, die als Hülle seines eigentlichen Strebens nach Wiederherstellung der Adelsrepublik wohl eher ein wechselseitiges Missverständnis war. Ob die Metapher vom Schöpfer des modernen Polen ihm gerecht wird, darf bezweifelt werden, denn der modernen Welt begegnete er nur mit Misstrauen und Unverständnis. Sein Mythos ist mit dem Mythos Polen verschmolzen, in der gegenwärtigen Dritten Republik Polen offenbar noch mehr als zu Lebzeiten.
162 Hoensch 1998, S. 268 – 278
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Alexander Stambolijski
Alexander Stambolijski (1879 – 1923) Staatsmann der Bauern Der Bulgare ist Held einer Tragödie, von der die Geschichte des Sozialismus nichts weiß, weil die Sozialisten aller Richtungen keine gute Figur darin machten. Stambolijski steht für einen Gegenentwurf zur russischen Revolution, für die Überwindung der Rückständigkeit durch eine Bauernrevolution, für den agrarsozialistischen Weg.
Land des Tabaks und der Rosen Die Geschichte spielt im paradiesischen Südosten Europas, wo sich nördlich des regenreichen Balkangebirges mit seinen Eichen- und Buchenwäldern die fruchtbare Donauebene für den Weizenanbau öffnet, und wo südlich davon in der thrakischen Tiefebene zwischen Rhodopen und Schwarzem Meer Rosen und Tabak, Oliven, Reis und Baumwolle gedeihen. Bulgarien war ein Bauernland, es schickte seine Erzeugnisse vor allem nach Konstantinopel, in
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den gierigen Schlund des großen Osmanischen Reiches. Dort hatte auch der Vater Stoimen so häufig Geschäfte abzuwickeln, dass die Hauptstadt seinen Familiennamen abgab.1 Als Alexander Stambolijski am 1. März 1879 geboren wurde, war Bulgarien gerade erst aus der Taufe gehoben worden. Auf dem Berliner Kongress von 1878 setzten die Großmächte Alexander Battenberg auf den Fürstenstuhl, Neffe und Protegé des Zaren. Stambolijski erhielt seinen Vornamen nach dem Zaren, dem gefeierten Befreier vom Türkenjoch, nicht nach dem Fürsten, der erst nach seiner Geburt auf den Thron kam. Battenberg verlor nach weniger als einem Jahrzehnt glückloser Politik seinen Rückhalt in St. Petersburg, und Ferdinand aus dem europaweit verschwägerten Haus Sachsen-Coburg-Gotha bestieg den bulgarischen Fürstenstuhl. Bulgarien war damit nicht aus der Oberhoheit des Osmanischen Reichs entlassen, sondern musste Tribut an die Pforte zahlen. Der eigentliche Einfluss ging mit wechselnden Gewichten von St. Petersburg, Wien und Berlin aus.2 Der Sozialist Janko Sakasow beschrieb zur Jahrhundertwende die Stricke, an denen die Großmächte Bulgariens Politiker hielten: „Je mehr sich unsere regierenden Klassen wieder Russland zuwandten, desto feindlicher wurde das Abendland, umso unerbittlicher wurden seine Banken gegen die Notlage des bulgarischen Staates. Unser Kredit ging mehr und mehr zurück. Die Österreichische Länderbank und die Deutsche Vereinsbank beherrschen ihn; sie sind auch die Herren der Eisenbahnen der Compagnie Orientale und eines Teiles der Staatsbahnen. Ihnen sind alle übrigen bulgarischen Staatseisenbahnen sowie die Hafenanlagen von Varna und Burgas verpfändet, und ihnen werden wahrscheinlich auch noch die wichtigeren Staatseinnahmen verpfändet werden“.3 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs fand Raiko Daskalow, ein Mitstreiter Stambolijskis, die Lage noch hoffnungsloser. In seiner Greifswalder Dissertation über „Das ausländische Kapital in Bulgarien“ ging er mit Berufung auf Friedrich List der alten Frage nach, warum sich Kapitalien und Fabriken in einer Nation im Überfluss häuften, während „der größte Teil des menschlichen Geschlechts in Rohheit, Unwissenheit und Armut versunken“ bleibe.4 Er wies nach, dass die Zinsen der Anleihen inzwischen nahezu die Hälfte der Staatseinnahmen verschlängen. Auf Minderung sei nicht zu hoffen, denn die Eisenbahnen und Seehäfen seien nicht rentabel und das Steuersystem könne nicht verändert werden, weil alle wichtigen Steuern verpfändet seien. So hoffnungslos hatte auch schon Sakasow die Lage des Landes gesehen. Die Großmächte exportierten mit den Dynastien auch ihre politischen Einrichtungen. Bulgarien erhielt mit Einkammerparlament und allgemeinem Männerwahlrecht durchaus besten europäischen Standard und war mit seinem Konstitutionalismus anderen Balkanstaaten voraus. Wenn Bulgarien trotzdem nicht demokratisch, sondern mit wechselnden Kabinetten und
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Wladigeroff 1930, S. 653; Bell 1977, S. 55 Crampton 2005, S. 85 – 116 Sakasow 1900, S. 85; siehe: Crampton 2008, S. 153 – 157 Daskaloff 1912, S. 7; Tishev 2010
ständigen Neuwahlen regiert wurde, so war das dem schwachen Parteiensystem geschuldet, das importierten Parlamentarismus bis heute kennzeichnet. Liberale und Nationale brachten immer neue Abspaltungen hervor, stützten sich auf die gleiche korrupte Klientel aus Bürokratie und Armee und füllten sich abwechselnd die Taschen. „Partisanstwo“ (Parteienklüngel) nannte das Volk das Parteiensystem. Das Wort wurde zum Synonym für die ganze städtische Gesellschaft, die der Bauer mit seiner Arbeit ernährte: Bürokratie, Militär, Wucherer und Anwälte.5 Und doch boten Verfassung und allgemeines Wahlrecht Möglichkeiten zur Veränderung des Systems von innen, sie öffneten schließlich der Partei Stambolijskis den Weg zur Macht. – Erwähnt werden muss, was allzu oft verschwiegen wird, dass der Hass der Landbevölkerung auch ethnische Komponenten hatte: Die Wucherer und Händler waren oft jüdisch, und die kaufmännische und bürokratische Oberschicht entstammte teils noch den griechischen „Phanarioten“, der städtischen Herrenschicht aus osmanischer Zeit, die heute gleichrangig mit den Kommunisten für die Rückständigkeit des Balkans herhalten müssen. Das persönliche Regime Ferdinands hielt Bulgarien in der Abhängigkeit von den Großmächten. Der übermäßige Aufwand für Armee, Hofhaltung und den Ausbau der neuen Hauptstadt Sofia verschlang die Mittel des Landes. Im Zirkel von Abhängigkeit, Verschuldung und Korruption steckte es fest. Trotzki, der Westler, sah jedoch Institutionen- und Kapitaltransfer als Königsweg nachholender Modernisierung, als er das Land zu Beginn der Balkankriege bereiste: „Wie alle rückständigen Länder hat Bulgarien keine Möglichkeit, im freien Kampf seiner inneren Kräfte neue politische und kulturelle Formen zu erschaffen; es ist gezwungen, jene fertigen Kulturprodukte zu assimilieren, die die europäische Zivilisation in ihrer Entwicklung hervorgebracht hat. Ob es die einzelnen regierenden Gruppen wollen oder nicht, Bulgarien ist gezwungen, und noch dazu schleunigst, Eisenbahnen und Brücken zu bauen sowie die Armee umzurüsten, und das bedeutet, Kredite aufzunehmen; man muss ein ordentliches Berichtswesen einführen und ergo auch parlamentarische Formen; die europäischen politischen Programme müssen nachgestaltet werden und die Proletarisierung der Bevölkerung ist zu fördern, folglich braucht es auch eine soziale Gesetzgebung, und so weiter und so fort“.6 Der amerikanisch-russische Wirtschaftshistoriker Alexander Gerschenkron war ebenso überzeugt, dass staatliche Industriepolitik gestützt auf westlichem Kapital- und Technologietransfer aus der Rückständigkeit führte, im russischen wie grundsätzlich auch im bulgarischen Fall. Energisch widersprach er jedoch der Auffassung des Marxisten Blagoew, den er hoch schätzte, dass um die Jahrhundertwende eine ursprüngliche kapitalistische Akkumulation in Gang gekommen sei.7 Gerschenkrons Tabellen offenbarten hingegen, dass weder die Arbeitsproduktivität noch die Betriebsgrößen in der bulgarischen Industrie erkennbar zunahmen – auch in der Periode zwischen den Weltkriegen nicht. Die Seele des Landes, das bäuerliche Wertesystem der Gleichheit und Selbstgenügsamkeit, habe sich gegen die Industrialisierung gestemmt. Die
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Crampton 2008, S. 146 – 149 Trotzki 1995, S. 71 Gerschenkron 1961, S. 198 f., 218 – 221
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Beharrungskraft der Bauernschaft sei zudem übermächtig durch das allgemeine Wahlrecht. Was hieße, Modernisierung sei ohne Demokratie vorzuziehen. Gerschenkron sah den stillen Widerstand des Dorfes in der Unentschlossenheit der Politiker gespiegelt und schloss seinen Bulgarien-Essay mit Grillparzers Urteil über das Haus Österreich: „[A]uf halben Wegen und zu halber Tat, mit halben Mitteln zauderhaft zu streben“.8 Auch am Ende des 20. Jahrhunderts ähnelte das Land dem westlichen Muster nicht. Holm Sundhaussen urteilte über den europäischen Südosten im Allgemeinen und über Bulgarien im Besonderen ganz ähnlich wie Jahrzehnte zuvor Gerschenkron: Der unausrottbare Traditionalismus in Mentalität und Kultur sperre sich gegen jegliche Transformation.9 Es ist die alte Geschichte von Europas Westen und dessen südlicher und östlicher Peripherie, die wir noch immer erzählen. So betrachtet wäre das Bauernregime Alexander Stambolijskis der Tiefpunkt des bulgarischen Sonderwegs jenseits der europäischen Moderne gewesen. Ob das so war, werden wir sehen. Vier Fünftel der Bulgaren waren Bauern. Seit die türkischen Begs und Sipahi im Befreiungskrieg 1877/78 fluchtartig das Land verlassen hatten, gab es keine Herren mehr. Die freien Eigentümer saßen allerdings mehrheitlich auf sehr kleinen Wirtschaften: Ein Drittel der Bauern besaß weniger als zwei Hektar, nur ein Fünftel hatte mehr als zehn Hektar Land, und es gab sehr wenige große Grundbesitzer. Mangels anderer Erwerbsmöglichkeiten verdingten sich Tausende Bulgaren als Wanderarbeiter in der Türkei, in Serbien oder Ungarn.10 Der Dichter Elin Pelin schildert Bauern aus dem Norden, die als Schnitter nach Thrakien kamen, wo die Ernte früher reifte; in ihrer jugendlichen Einfalt ertrugen sie die Trennung nicht.11 Die Kleinbauern überlebten unter dem Schirm der alten Nachbarschaftsgemeinde in ihren traditionellen Wirtschaftsformen; Marktproduktion und Lohnarbeit konnten sich nicht entwickeln. Es gab eine Kluft zwischen der verwestlichten Sofioter Gesellschaft und dem Dorf, die den Dichter Iwan Wasow verstörte: „Diese Masse schleppt geduldig und widerspruchslos ihr schweres Dasein, ohne sich für unseren Fortschritt, unsere kulturellen Errungenschaften, für die erlesenen geistigen Genüsse und lauthals verkündeten Entdeckungen und für die noch lauteren Phrasen von der Verbesserung dieses Daseins zu interessieren oder überhaupt Kenntnis von ihnen zu haben, sie ahnt nicht einmal etwas von unserem Dasein, und sie braucht es auch gar nicht, um zu arbeiten, zu leiden, und in Ruhe zu sterben“.12 Trotz allem trog die Ruhe des Dorfes. Ein anderes, so gar nicht mittelalterlich weltverlorenes Bild gibt das Tagebuch des Ilja Wankow aus Bjala Tscherkwa, nahe der alten Hauptstadt Tarnowo gelegen. Im Dorf entwickelten sich vielfältige Aktivitäten um eine Gruppe radikaler Schullehrer. Wankow war Sekretär der sozialdemokratischen Ortsgruppe und Mitglied der 8 9 10 11 12
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Gerschenkron 1961, S. 234 Sundhaussen 1989; Sundhaussen 1990 Crampton 2009, S. 22 Pelin 1977 Wasow 1978b, S. 139
Bauernunion. Die Statuten der Genossenschaftsbank in seinem Nachlass weisen ihn als Teilhaber aus, und er gehörte dem örtlichen Lesezirkel an. Dass er auch im Beirat der Schule mitwirkte, verwundert nicht. Er hatte natürlich auch die sozialdemokratische Zeitung „Dorfbote“ abonniert, die seit 1895 der Lehrer Zanko Bakalow herausgab, der sich Zerkowski nannte.13 Bjala Tscherkwa war das Zentrum der Dorfagitation, aber es gab vornehmlich in der nördlichen Tiefebene weitere Zellen der Aufklärung und des Fortschritts. Die bulgarischen Bauern waren eben nicht so ungebildet, wie manchmal zu lesen ist. Seit der Staatsgründung 1878 galt die allgemeine Grundschulpflicht, und um 1900 scheint schon ein dichtes Netz dörflicher Schulen bestanden zu haben, unterhalten aus den Einkünften der Tavernen. Der 1869 geborene Ilja Wankow wird schon zur Schule gegangen sein. Um die Jahrhundertwende war etwa ein Viertel der Landbevölkerung alphabetisiert, das war offenbar ein hinreichendes Publikum für Zeitschriften und Zeitungen, die sich speziell an die Bauern wandten.14 Nach dem Bericht eines Londoner Journals 1920, der offenbar auf offiziellen Mitteilungen aus Stambolijskis Umfeld beruhte, waren 1913 nur fünf Prozent der bulgarischen Rekruten Analphabeten, verglichen mit 30 Prozent in Griechenland und 41 Prozent in Rumänien.15 Dass dies nicht alles leerer Wahn von Bürokratie und Statistik war, bezeugt das Heer der Volksschullehrer. Die Lehrer und Lehrerinnen bildeten den idealistischen, dem „Partisanstwo“ fernstehenden Zweig der neuen bulgarischen Intelligenzija. Wie in allen rückständigen Ländern bildeten auch in Bulgarien die Intellektuellen in Staatsdienst und freien Berufen ein Ersatzbürgertum; sie formten die liberalen, die demokratischen und die sozialistischen Parteien. Die Lehrer hatten häufig russische Schulen besucht und brachten den Geist der Volkstümler nach Bulgarien, und seit den späten achtziger Jahren gingen viele von ihnen mit Plechanow zum Marxismus über.16 Die Lehrer schlossen sich 1894 zu einem landesweiten Verein mit mehreren Tausend Mitgliedern zusammen, der an die sozialdemokratische Partei heranrückte. Diese Partei war 1891 von Dimitar Blagoew gegründet worden, dem bulgarischen Plechanow, dem bedeutendsten marxistischen Denker des Balkans. Zu der Gründergruppe zählte auch Janko Sakasow, der in Kautskys „Neuer Zeit“ über sein Heimatland schrieb.17
Die Bulgarische Bauernunion Die Agrarkrise verhalf der Bauernbewegung ans Licht, die Volksschullehrer waren ihre Geburtshelfer. Die Getreideexporte der USA drückten wie überall in Europa auch in Bulgarien auf die Preise; eine Reihe schlechter Ernten kam hinzu. Gleichzeitig erhöhte der Staat die Bodensteuer und die indirekten Steuern auf Salz, Zündhölzer und Zigarettenpapier. Die Bauern bekamen nirgends anders Kredit als beim Wucherer, der ihnen buchstäblich das letzte Hemd
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Terajima 1997, S. 30 – 47 Crampton 2009, S. 8; Gerschenkron 1961, S. 216 Bourchier 1920, S. 785 Bell 1975a; Haupt 1986, S. 72 Bell 1986, S. 6 f.
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auszog. „Es ist wie unterm Türken, nur schlimmer“, ging die Rede.18 Etwas musste geschehen. Man dachte nicht an Aufstand, aber an Organisation. Im April 1899 versammelte Zanko Bakalow-Zerkowski in Bjala Tscherkwa mehrere hundert Bauern, die ein Vorbereitungskomitee unter seinem Vorsitz wählten und beschlossen, eine nationale Bauernorganisation ins Leben zu rufen. Als Zentrum bot sich das Weinbauinstitut im nahen Plewen an, dessen Direktor Janko Sabunow im Juni 1899 die Zeitschrift „Semledelska Saschtita“ (Schutz der Landwirtschaft) begründete. In diesem Blatt mit einer Verbreitung von mehr als 2.500 Exemplaren veröffentlichte Zerkowski seinen „Appell an die Bauern Bulgariens“.19 Er rief auf, sich nicht länger von den bürgerlichen Parteien benutzen zu lassen, die vor den Wahlen Krokodilstränen über das Los der Bauern vergössen und sie dann doch nur als Treppenstufen zu fetten Pfründen benützten. Sie müssten ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen. Zerkowski wollte aber keine Bauernpartei, er warb für eine ökonomische Gesellschaft mit Gewerkschaftsfunktion nach dem Beispiel der Volksschullehrer. Nicht politischer Kampf sei angesagt, sondern die Verbesserung der Lage durch effizientere Arbeit. Aufklärung und Reform waren sein Programm. Die Bauern müssten sich neues Wissen und moderne Techniken aneignen, um auf ihrem Boden annähernd so viel ernten zu können, wie die deutschen, französischen, englischen Bauern. Die Welt um sie her hätte sich verändert, auch der ärmste Bauer säße nicht mehr auf dem Boden, sondern nutzte Tisch und Stühle, er besäße Kamm und Lampe und Schuhe für die Kinder. Arbeiten würde er aber nach Urväterweise mit dem hölzernen Pflug, und die mageren Ernten nähme er als Fluch des Himmels hin. All das ließe sich ändern in einer landesweiten Organisation. Warum ließ Zerkowski seinen starken Worten gegen das bestehende politische System einen so zahmen Vorschlag folgen? Die Sorge seiner Partner vom Weinbauinstitut, der Sozialdemokrat könne einen revolutionären Ton anschlagen, war jedenfalls unbegründet. Der Appell hatte ein starkes Echo, und die Plewener übernahmen die Vorbereitung des Kongresses. Mit Rücksicht auf die Weihnachtsferien der Schullehrer wurde der Kongress für den 28. bis 30. Dezember 1899 nach Plewen einberufen. Es versammelten sich 845 Delegierte aus 45 von 71 bulgarischen Distrikten, meist aus der nördlichen Tiefebene. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit war groß, weil die Gründung einer landesweiten Bauernorganisation unabhängig von den Zielen der Veranstalter ein politisches Ereignis war. Nicht nur die Presse, auch Abordnungen der Parteien drängten sich daher auf der Galerie des Lesesaals der öffentlichen Bibliothek von Plewen. Den Organisatoren gelang es nicht, ihren agrarökonomischen Papieren Gehör zu verschaffen, denn der Kongress ereiferte sich über drei brennende Themen: die Steuern, den Wucher und das Parteiensystem. Zerkowski war der Held der Versammlung. Am besten traf Dimitar Dragiew die Stimmung; sein Weg hatte ihn vom Marxismus zum Protestantismus und zum Tolstojanertum geführt: „Ihr Herren, Vertreter der blutsaugenden Parteien, und Ihr Sozialisten, die ihr das Recht auf Privateigentum zurückweist, ihr seid als ungeladene Gäste gekommen, um die Or18 19
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Crampton 2008, S. 158 f. Bell 1975b
ganisation, die sich hier zur Beratung ihrer ureigenen Lage und ihrer Schicksalsfragen versammelt hat, zu euch herüberzuziehen. Ihr solltet bei eurer Ankunft hier auf die Knie fallen, als ob ihr eine Kirche betretet, um nicht die Halle zu entweihen, wo das Bauernvolk seine heiligen Angelegenheiten verhandelt“.20 Die Delegierten gründeten die Bulgarische Bauernunion nicht als politische Partei, darin folgten sie dem Aufruf der Organisatoren. Parteien aller Art waren dem Landvolk ja als korrupt verhasst. Die Bauernunion sollte aber in allen Dörfern „Druschba“ (Gemeinschaft) genannte Abteilungen bilden. Damit knüpften sie an Gemeindetraditionen an. Der Kongress wählte ein Exekutivkomitee, in dem Zerkowski, Dragiew und die Plewener um Sabunow vertreten waren. Das Programm enthielt agrarökonomische Schulen und Öffentlichkeitsarbeit, billigen und leicht zugänglichen Kredit durch Genossenschaftsbanken mit staatlicher Förderung und Lobbyarbeit zur Verteidigung des bäuerlichen Eigentums. In diesem Sinne verabschiedete der Kongress eine Resolution an den Präsidenten der Nationalversammlung gegen das bauernfeindliche Steuersystem.21 Statt einer Antwort erhielten die Bauern drei Wochen später einen neuen Schlag. Die Nationalversammlung bewilligte die Einziehung einer Naturalsteuer, des Zehnten aller Erträge und Produkte; denn weder in der Staatskasse noch bei den Untertanen war Bargeld, um die ausländischen Anleihen zu bedienen. Die Wiederbelebung dieser verhassten Steuer aus der Türkenzeit erbitterte die Landbevölkerung. Die Führung der neuen Bauernunion versuchte, den Protest in friedliche Bahnen zu lenken. Die Druschbi hielten Meetings ab und sandten Protestschreiben an den Fürsten. Als Zehntausende zu Demonstrationen an den Sitzen der Bezirksund Provinzverwaltungen zusammenströmten, musste sich die Union an ihre Spitze stellen. Der Fürst war jedoch noch nicht gesonnen, die Bauernproteste ernst zu nehmen, und die Provinzgouverneure sahen im Einsatz von Polizei und Militär ein geeignetes Mittel. So erlebte Bulgarien im ersten Halbjahr 1900 einen Bauernaufstand, in dem Hunderte getötet oder verletzt und noch mehr ins Gefängnis gesteckt wurden, darunter viele Aktivisten der Bauernunion. Nach dem blutigen Gefecht bei Schabla-Durankulak (nahe Varna) flohen achthundert Bauern über die Donau nach Rumänien, ihr Führer war Mitglied des Exekutivkomitees der Bauernunion.22 Schließlich stürzte die Regierung und die Zehntsteuer musste zurückgenommen werden. Die Bauernunion gewann in dieser Auseinandersetzung enorm an Ansehen; überall entstanden neue Druschbi und neue Mitglieder strömten ihr zu. Die Führer der Bauernunion hatten im Aufstand begriffen, dass jenseits der Politik keine Verbesserung erreicht werden konnte. Über Charakter und Programm der Union wurde daher auf den Komiteesitzungen und Kongressen der nächsten Jahre heftig gestritten. Die Politisierung setzte sich schrittweise durch. Im Januar 1901 stellte die Union erstmals Kandidaten für die Wahlen zur neuen Nationalversammlung auf und gewann 24 Sitze. Auf ihrem dritten Kongress im Oktober desselben Jahres wandelte sie sich in eine politische Organisation um. Nun nannte sie sich Bulgarische Nationale Bauernunion und formulierte ihr Ziel neu: „Verbes20 21 22
Bell 1977, S. 37 Bell 1977, S. 32 – 39; Crampton 2009, S. 27 f.; Rankoff 1977, S. 469 f. Bell 1977, S. 39 – 46; Crampton 1996, S. 17
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serung der Landwirtschaft mit ihren Zweigen, und die moralische, politische und materielle Besserung der Lage der Bauern und des ganzen Volkes“. Das schloss ausdrücklich die Teilnahme an nationalen, regionalen und kommunalen Wahlen ein.23 Die Erfolge standen in merkwürdigem Gegensatz zum gleichzeitigen Erosionsprozess. Nach dem Sieg über die Zehntsteuer lösten sich die Druschbi allenthalben auf; die Zahl der Delegierten zu den Kongressen schrumpfte; die bäuerlichen Abgeordneten schlossen sich nach ihrer Wahl anderen Parteien an. Die alte Führungsgarde resignierte, Präsident Sabunow gab krankheitshalber auf und Zerkowski verließ die Bauernunion nach dem dritten Kongress. Zurück blieb Dragiew, der den Sitz der Union in seine Heimatstadt Stara Sagora am Südhang des Balkangebirges verlegte, entfernt von den bisherigen Zentren der Bewegung. Die Zeitung verschmolz er mit seiner eigenen zum „Semledelsko Sname“ (Ländliches Banner). Die Bauernunion gewann dadurch nicht. Wenige Jahre nach ihrer Gründung schien sie am Ende. Bell erklärt dies mit dem Fehlen eines Gründungsmythos, einer begeisternden und einenden Idee, die über den Tag und den Anlass einer konkreten Bedrückung hinaus trägt, die Erlösung und eine bessere Zukunft verheißt.24 Das ist in der Tat das Problem jeder reformerischen Bewegung, die auf Evolution statt auf Revolution setzt. Hüterin der revolutionären Perspektive war die Konkurrenz, die Sozialdemokratie. Ihr schloss sich Zerkowski als Abgeordneter der Nationalversammlung wieder an. Gleich ihm gingen viele Bauern, darunter auch Ilja Wankow, zu den Sozialdemokraten. Doch die Union verschwand nicht, in Alexander Stambolijski sollte ihr ein Retter erscheinen, der ihr wieder Idee und Struktur gab. Dabei wurde er wider Willen zum Gegenspieler der sozialdemokratischen Partei und ihrer Führer Dimitar Blagoew und Janko Sakasow.
Kautsky in Bulgarien Die bulgarische Sozialdemokratie stand bis zum Ersten Weltkrieg unter dem Einfluss Karl Kautskys; er und seine „Neue Zeit“ waren die Autorität der Sozialistischen Internationale. Als die bedeutendste marxistische Partei des Balkans hatte die bulgarische eine besondere Beziehung zu Kautsky. Die Bulgaren nannten ihn „Lehrer und Meister“. Die Korrespondenz mit Janko Sakasow umfasste von 1899 bis 1931 ein ganzes Menschenleben. Sakasow traf mit Kautsky auf Kongressen und im Internationalen Sozialistischen Büro zusammen, und er besuchte ihn in Friedenau. Häufiger als die anderen, wenn auch seltener als er wünschte, kam Sakasow in der „Neuen Zeit“ zu Wort.25 Die bulgarischen Sozialdemokraten publizierten mehr marxistische Literatur als der ganze übrige Balkan. Kautskys Erläuterungen zum Erfurter Programm, das seit 1893 auch das Programm der bulgarischen Partei war, und seine Popularisierung der ökonomischen Lehren von Karl Marx standen ganz oben.26 Auch Blagoew fand die
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Bell 1977, S. 51; Crampton 2009, S. 29 – 31 Bell 1977, S. 46 – 54; zitiert: 54 Kautsky 1986b Rossum 1986, S. 17
„Neue Zeit“ richtungsweisend und benannte das eigene Parteijournal danach „Nowo Wreme“ (Neue Zeit).27 Bell meint, die Kontakte zu den russischen Sozialisten seien bis 1917 ganz unbedeutend gewesen. Blagoew habe sogar, aus Lenins „Was tun?“ zitierend, diesen für ein neues Pseudonym von Plechanow gehalten. Das ist wohl eine zu schroffe Abkehr von der offiziellen Legende sozialistischer Zeiten, die ganz auf die russische Tradition setzte. Wenn auch 40 Prozent der übersetzten Parteiliteratur aus dem Deutschen stammten, so kamen doch 26 Prozent aus Russland; Plechanow führte hinter Kautsky und vor Marx die Hitliste der Autoren an, in der auch die Russen Bogdanow und Kropotkin mit je acht Titeln mittlere Plätze hatten.28 Trotzki begegnete 1910 in Bulgarien dem russischen Einfluss auf Schritt und Tritt, nicht nur im Parteileben, sondern auch in den revolutionären Gesängen der Arbeiter.29 Die sprachliche und die historische Nähe zu den Türkenbefreiern, das Hin und Her von Studenten, Wanderarbeitern, Revolutionären webte schließlich doch engere Bande zwischen den Nachbarvölkern, als sie der deutsche Einfluss von Sozialistischer Internationale, Literatur und Hofgesellschaft knüpfen konnte. Georges Haupt, der weitaus beste Kenner der Quellen, sah die Führungsrolle der deutschen Sozialdemokratie recht kritisch. Die Parteiführer des Balkans, die an intellektuellem Potential und Sprachenkenntnis westlichen Sozialisten nicht nachgestanden hätten, wären aus Schüchternheit, kulturellen Minderwertigkeitskomplexen und Respekt vor der Orthodoxie in theoretische Abhängigkeit geraten.30 Tatsächlich war Kautskys Einfluss in Bulgarien nicht unbedingt segensreich, er wirkte als Katalysator für die Spaltung der Sozialdemokraten und für die Abwendung von der Bauernunion, wie ein genauerer Blick auf die bulgarische Sozialdemokratie zeigt. Bald nach der Gründung der Partei in den frühen neunziger Jahren standen sich die Verfechter einer strikt marxistischen, proletarischen Bewegung um Blagoew und die Anwälte einer breiten, die bäuerlichen Massen einbeziehenden Volksbewegung gegenüber. Letztere scharten sich um Sakasow und seine Zeitung „Obshto Djelo“ (Allgemeine Sache). Gemeinsam mit 150 Sozialdemokraten nahm Sakasow am Gründungskongress der Bauernunion teil. Sie stießen auf Ablehnung, denn es war landauf, landab bekannt, dass die Sozialdemokraten den Bauern das Land nehmen und sie zu Proletariern machen wollten – ob das nun die pure Wahrheit war oder nicht. Als der Premierminister damit auch noch in der Nationalversammlung hervorkam, versicherte Sakasows Zeitung zwar unverzüglich, man wolle nur die großen Güter nationalisieren, aber Blagoew hielt prompt dagegen, die Partei wolle tatsächlich alles Privateigentum abschaffen: „von der größten Maschine bis zur Nadel des Schneiders, vom weitesten Gutsareal bis zum letzten Zoll Land“.31 Blagoew verhielt sich wie der Städter in Iwan Wasows Erzählung „Brennende Garben“. Der steckt versehentlich mit seiner Zigarette das Feld des Bauern in Brand, entschädigt ihn mit dem doppelten Preis und wundert sich, dass
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Bell 1986, S. 9 – 11 Haupt 1979, S. 20; Rossum 1986, S. 17 Trotzki 1995, S. 57 Haupt 1979, S. 23 Bell 1986, S. 10; Bell 1977, S. 33
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der Bauer immer noch jammert. Der alte Gendarm erklärt in Wasows Geschichte den Wert des bäuerlichen Eigentums jenseits von Geld: „Entschuldigen Sie, Herr Doktor, unsere Bauern sind einfache Leute. Sie haben ihre Freude an dem, was sie hervorbringen und dann in die Scheuer einfahren. Dort dreschen sie, und nun freuen sich auch die Kinder, denn sie dürfen auf dem Dreschschlitten sitzen; danach bringen sie das Getreide in die Stadt und verkaufen es auf dem Markt, wie es üblich ist. Anschließend geben sie in der Kneipe einen aus und prahlen damit, wessen Acker wie viel getragen und wie viel das Korn einem jeden eingebracht hat. So sehen sie dann sozusagen die Annehmlichkeit des Geldes“.32 Als die Bauernunion gegründet wurde, war soeben Kautskys „Agrarfrage“ erschienen, noch im selben Jahr 1899 ins Bulgarische übersetzt und publiziert. Es war eine beeindruckende, den deutschen, oder besser den preußischen Fall tiefgründig von allen Seiten betrachtende, überall auf der Welt gelesene Schrift des großen Denkers.33 Kautsky nahm darin manches von dem vorweg, was in den zwanziger Jahren der russische Ökonom Alexander Tschajanow über die bäuerliche Familienwirtschaft schreiben sollte. Die Schrift war entschieden polemisch. Gegen Forderungen nach einem Agrarprogramm, wie es Sozialdemokraten aus dem bäuerlichen deutschen Süden und Westen verlangten, und wie sie aus Frankreich herüberdrangen, legte Kautsky dar, dass es kein marxistisches Bauernschutzprogramm geben könne. Selbstausbeutung und Unterkonsumtion hielten die Bauernwirtschaften aufrecht, und ihr Bestand dürfe schon deshalb kein sozialistisches Ziel sein. Das ökonomische Interesse der Bauern an hohen Lebensmittelpreisen kehre sich gegen die Arbeiter, wie deren Staatshörigkeit und Traditionalismus sich politisch gegen das kämpfende Proletariat wendeten. Obwohl Kautsky die Enteignung des bäuerlichen Betriebs durch die sozialistische Revolution durchaus nicht für notwendig ansah, war für ihn klar, dass man mit den Bauern keine Bündnisse schließen, sondern diese bestenfalls neutralisieren könne: „Die Sozialdemokratie wird immer in ihrem Kern eine proletarische, städtische Partei bleiben, immer eine Partei des ökonomischen Fortschritts; sie wird bei dem konservativen Bauern, der dem städtischen Wesen abhold ist und auf dem Boden der patriarchalischen Familie mit völliger Unterordnung von Magd und Knecht, von Weib und Kind unter seinen Willen steht – sie wird bei diesem Bauern stets mit tief eingewurzelten Vorurtheilen zu kämpfen haben“.34 Um ein Vorwort für die bulgarische Ausgabe gebeten, räumte Kautsky ein, dass die westeuropäisch-preußischen Verhältnisse nicht übertragbar seien, blieb aber dabei: Nur wo es eine kräftige Sozialdemokratie gäbe, könne man daran denken, „um den Kern dieses politischen und sozialen Fortschrittsheeres herum die Bauern als Hilfstruppen zu gruppieren“.35 32 33 34 35
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Wasow 1978a, S. 131 Lehmann 1970, S. 253 – 262; Lehmann 1992; Love 2010 Kautsky 1899, S. 439 Kautsky 1986c, S. 616
Das war keine gute Begleitmusik zu Sakasows Bündnisbemühungen. Auf dem Parteikongress zu Beginn des Jahres 1900 stand der neugegründete Bauernbund im Zentrum der Debatte. Sakasow selbst schien verwirrt, als er in seinem Referat abwechselnd aus Kautskys Schrift und dessen Vorwort zur bulgarischen Ausgabe Widersprüchliches zitierte. Nur die Kleinbauern könnten revolutionär sein, meinte er; sie kämen als Bündnispartner infrage, die Bauernunion sei jedoch von Großbauern dominiert. Unter dem Eindruck des opferreichen Bauernkampfes gegen die Zehntsteuer widersprachen viele, und auch Sakasow revidierte sich.36 Auf dem zweiten Kongress der Bauernunion im Oktober 1900 entrollten Sozialdemokraten Losungen, die für ein allgemeines Arbeiter-Bauern-Handwerker-Bündnis warben, aber, wie Sakasows „Allgemeine Sache“ berichten musste, sie prallten ab an der herrschenden Feindseligkeit gegen den Sozialismus.37 Über diese Frage und über die Haltung zu den Gewerkschaften zerbrach die bulgarische Sozialdemokratie dann 1903 in die „Engen“ um Blagoew und die „Weiten“ um Sakasow. Die Scheidung stand im Zusammenhang mit der deutschen Revisionismus-Debatte; Blagoew wandte Kautskys Bernstein-Kritik gegen Sakasow. Auch in der Bauernfrage zitierte er immer wieder Kautskys „Agrarfrage“. Fortan gab es alles zweimal: Partei, Gewerkschaften, Volksschullehrerverband, Zeitungen und Verlage. Für die sozialistische Bewegung auf dem Balkan war das tragisch. Die „Weiten“ versuchten mehrfach, sich wieder mit den „Engen“ zu vereinigen; 1910 soll neben Christian Rakowski auch Trotzki an einem solchen Bemühen beteiligt gewesen sein, aber es führte kein Weg dorthin.38 Offenbar gelang es den Sozialdemokraten aber, unter der Bauernschaft Fuß zu fassen: wenn 1903 nur drei Prozent ihrer Mitglieder Bauern waren, so waren es 1914 schon 30 Prozent.39 Dieses Ergebnis erstaunt umso mehr, als es neben dem unaufhaltsamen Aufstieg der Bauernunion errungen wurde.
Agrarsozialismus Stambolijski kam aus der Bauernschaft, wie die anderen großen ostmitteleuropäischen Bauernpolitiker seiner Zeit, wie der Pole Wincenty Witos, der Kroate Stjepan Radić, der Tscheche Antonin Švehla, und wie der Rumäne Ion Mihalache.40 Er wurde im Dorf Slawowiza nahe der Stadt Pasardschik in der fruchtbaren oberthrakischen Tiefebene geboren. Sein Vater besaß mit zehn Hektar mehr Land als die meisten Bauern. Brucciani teilt mit, dass er auch Lehrer gewesen sei, was keiner der anderen Autoren bestätigt.41 Auf einem Foto von Vater und Sohn Anfang der zwanziger Jahre steht der Vater etwas verhutzelt in der traditionellen Bauernkleidung neben dem berühmten Sohn im städtischen Anzug. Stambolijskis Elternhaus hatte drei
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Rossum 1986, S. 43 – 45 Bell 1977, S. 48 Bell 1986, S. 10 – 12; Sakasow 1986; Rakowski 1911; Blagoew 1909; Tishev 1966, S. 11 – 15 Rossum 1986, S. 44 Murgescu 2010 Brucciani 2004, S. 162
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Räume, einen Wohn- und Schlafraum mit Ofen, einen Arbeitsraum mit Webstuhl und eine Küche. Die Trennung der Bereiche war schon Luxus. Die Mutter starb bald nach seiner Geburt, sodass er mit einer Stiefmutter und zwei Stiefgeschwistern aufwuchs. Alle Klischees des ungeliebten mutterlosen Kindes sollen sich hier erfüllt haben, sodass er während der Hütearbeit in Büchern und Träumen Zuflucht suchte.42 Aber er liebte Vater und Geschwister; der Bruder kämpfte und starb am Ende mit ihm. Im Heimatdorf baute Stambolijski später sein Haus. Den Besuch der Mittelschule in Ichtiman – eine Stadt auf halbem Weg zwischen Pasardschik und Sofia – setzte er mit Unterstützung der Lehrer gegen die Familie durch. Mit seinem vorzüglichen Abschlusszeugnis erhielt er 1893 einen Studienplatz an der Staatlichen Landwirtschaftschule in Sadowo. Nach einer Studentendemonstration wurde er 1895 von der Schule verwiesen, sein erster Konflikt mit der Obrigkeit, worauf ihn das weithin berühmte Weinbauinstitut in Plewen aufnahm.43 Der Direktor Janko Sabunow erkannte offensichtlich die besonderen Anlagen dieses Studenten und zog ihn zur Mitarbeit an der Redaktion der Zeitschrift „Orala“ (Der Pflüger) heran. Der väterliche Lehrer und Begründer der Bauernunion hatte entscheidenden Einfluss auf die geistige und politische Bildung Stambolijskis. Am Gründungskongress der Bauernunion nahm er noch als Beobachter teil, schrieb aber schon im Verlauf des folgenden Jahres 1900 für die Zeitung der Bauernunion „Semledelska Saschtita“.44 Nach dem Abschluss im Jahre 1899 arbeitete er als Lehrer in dem kleinen Ort Wetren nahe bei Slawowiza. Dort heiratete er 1900 Milena Daskalowa, die ebenfalls Lehrerin in Wetren war. Seine Frau war etliche Jahre älter, gebildet und selbstbewusst, es war also keine traditionelle Ehe. Milena war eine herbe Frau, auch auf dem Hochzeitsfoto lächelt sie nicht. Sie half ihm, den Traum von tieferer Bildung zu verwirklichen. Stambolijski gab die Lehrerstelle auf und fuhr nach Halle; dort war er spätestens zu Beginn des Jahres 1901 angelangt, wie eine romantisch tröstende Postkarte an Milena vom 18. März 1901 beweist.45 Die Wahl des Studienorts war keineswegs zufällig. Julius Kühn hatte 1863 in Halle an der Philosophischen Fakultät eines der ersten Landwirtschaftsinstitute begründet, das weithin im östlichen Europa berühmt wurde. Unter anderem hatte der polnische Ökonom und Finanzpolitiker Władysław Grabski kurz vor Stambolijski dort studiert. Stambolijski vertiefte sich nicht nur in agrarwissenschaftliche, sondern auch in politische und philosophische Schriften. Als Zeugnis seines Studieneifers finden sich in seinem Nachlass deutsche Fachbücher mit ausführlichen Randnotizen.46 Fotos aus seiner Hallenser Zeit zeigen ihn schmal, elegant und sehr ernst. Stambolijski lebte in Halle so ärmlich, das Quartier war so elend kalt und die Ernährung so mangelhaft, dass er Tuberkulose bekam. Also fuhr er im Frühjahr 1902 nach Hause, in die Rhodopen, wo seine Frau ihn in der Bergluft bei Joghurt und Käse gesund pflegte. Eine erneute Studienreise, diesmal in das klimatisch zuträglichere
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Bourchier 1920, S. 785 Bell 1977, S. 56 Crampton 2009, S. 34 Stambolijski 1934, S. 4; Dimov 1999; vgl. Crampton 2009, S. 35 Liste 1987; Holec 2010, S. 44
Südtirol, ist nur durch ein Foto in der Bildbiografie des Sohnes bezeugt.47 In dieser Zeit gebar Milena ihr erstes Kind, Nadeshda; im Jahr 1904 folgte der Sohn Asen.48 Stambolijski nutzte die Zeit in den Bergen zum Studium und zum Schreiben für die Zeitung der Bauernunion. Mit neuem Elan warf er sich in die Politik; der Niedergang der Union eröffnete Chancen für neue Männer. Der Kongress wählte Stambolijski, inzwischen Redakteur des „Semledelsko Sname“, 1904 erstmals ins Exekutivkomitee, bald wurde er Vizepräsident. Gemeinsam mit den jungen Lehrern Alexander Dimitrow, Marko Turlakow und Zanko Bakalow-Zerkowski, dem Verfasser des Gründungsappells, bildete er nun einen Führungszirkel um den Vorsitzenden Dimitar Dragiew. Die jungen Leute machten sich daran, der Union den Charakter einer modernen Partei zu geben, dabei immerfort betonend, dass dies keine Partei wie die anderen sei, dass sie nichts mit dem Partisanstwo zu tun habe, sondern ausschließlich die Interessen der Bauern vertrete. Dimitrow reiste als „Apostel der Bauernunion“ über die Dörfer, um schlafende Druschbi zu wecken und neue gründen zu helfen. Die Drushbi waren auch eingeschlafen, weil ihnen nach dem großen Zehntaufstand Aufgaben und Struktur fehlten. Nun beschloss der Kongress, dass jede mindestens zehn Mitglieder zählende Druschba sich im Winter wöchentlich und von April bis Oktober monatlich treffen sollte. Alle hätten das „Semledelsko Sname“ zu abonnieren und auf diesen Zusammenkünften zu besprechen. Zerkowski kümmerte sich um die vielen Lesestuben, die damit entstanden, und richtete eine zentrale Bibliothek ein, die die Lesestuben mit Literatur versorgte. Turlakow brachte die Finanzen in Ordnung. Nur Druschbi, die auch ihren Teil der Mitgliedsbeiträge an die Unionskasse zahlten, sollten Delegierte zu den Kongressen entsenden dürfen. Doppelmitgliedschaften in anderen Parteien wurden ausgeschlossen. Kandidaten für die Nationalversammlung mussten fortan mindestens zwei Jahre Mitglied der Union sein und durften sich keiner anderen Fraktion mehr anschließen. Auf dem neunten Kongress 1907 eröffnete die junge Garde den Machtkampf gegen den Präsidenten Dragiew und blieb siegreich. Die Zentrale wurde nach Sofia verlegt und die Editoren von „Semledelsko Sname“ unter Stambolijskis Führung bildeten ein neues Exekutivkomitee.49 Die Bauernunion gewann wieder beeindruckende Stärke. Bei den Wahlen im Mai 1908 erhielt sie mehr als 100.000 Stimmen und konnte 23 Abgeordnete in die Nationalversammlung schicken. Darunter waren Dragiew, Stambolijski, Alexander Dimitrow und Zerkowski. Zu dieser Zeit wurden mehr als 1.100 Druschbi mit über 17.000 zahlenden Mitgliedern gezählt, und das „Semledelsko Sname“ hatte fast 6.000 Abonnenten. Auf keinem anderen Feld wirkten die Druschbi so erfolgreich, wie bei der Gründung von Genossenschaften. Anknüpfend an traditionelle Gemeindestrukturen organisierten sie den genossenschaftlichen An- und Verkauf, die Vergabe von Kleinkrediten und sogar Versicherungen gegen Ernte- und Unfallschäden. Die Bauernunion gründete einen landesweiten Fonds, der die Produkte im Großen auch ins Ausland vermarktete. Als Raiko Daskalow nach seiner Rückkehr vom Studium in
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Stambolijski 1934, S. 3 Bell 1977, S. 55 – 57, 156; Stambolijski 1934, S. 5 Bell 1977, S. 73 – 81
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Deutschland Direktor wurde, kam der Fonds richtig in Schwung.50 – Das Selbstbewusstsein der Bauern wuchs. Anlässlich des zehnten Gründungstages kamen etwa zehntausend Bauern in Sofia zusammen, um mit Fahnen und Blaskapellen unter den staunenden Augen der Hauptstädter im Festzug zu den Denkmälern der Türkenbefreiung zu marschieren und in den Reden der Führer die neu gewonnene Stärke ihrer Organisation zu feiern.51 Die neue Struktur hätte nichts vermocht ohne den Geist, den Stambolijski ihr einflößte. Er schrieb große Artikelserien im „Semledelsko Sname“, so erreichte er die Mitglieder am sichersten. Die programmatischen Beiträge referierend zeigt Bell, dass Stambolijski jenen Zukunft verheißenden Mythos schuf, den die Bauernunion so sehr entbehrte: Der Bauernstand sei zur Herrschaft berufen. Als Eigentümer in der dörflichen Gemeinde und Genossenschaft verwurzelt, vereine er Individualismus und Kollektivismus. Sein Eigentum sei Arbeitseigentum, kein Herreneigentum. So seien die Bauern die Hüter der Gerechtigkeit und der Demokratie in einer von Eigennutz und Korruption verderbten Gesellschaft. Dass die Bauern den zahlreichsten Stand bildeten, legitimiere sie zusätzlich und sei die Gewähr, dass sie über das Wahlrecht die Macht ergreifen könnten. Stambolijski vertrat eine evolutionäre und organische Staatsauffassung. Die Gesellschaft, die von der Wildheit zur Zivilisation und von der Autokratie zur Demokratie fortschreite, werde von Berufsständen getragen, die sich im Zuge der Arbeitsteilung ausgliederten. In Bulgarien seien es derzeit Bauern, Arbeiter, Handwerker, Unternehmer, Kaufleute, Beamte. Das Militär und die Intellektuellen der freien Berufe erwähnt er nicht; in Gestalt von Anwälten und Offizieren waren ihm beide gleich verhasst. Diese Stände, die Stambolijski verschiedentlich Klassen nennt, hätten widerstreitende Interessen, die sie ausfechten müssten. Anders als die Marxisten glaubten, gäbe es aber nicht nur zwei polarisierende Klassen, und die Interessen seien nicht antagonistisch, sondern könnten im Gesamtinteresse zum Kompromiss geführt werden. Die Interessenvertretung erfordere strikt an der ständischen Gliederung orientierte Parteien statt des überholten Systems der Partisanstwo: Ständeparteien statt Klientelparteien.52 Stambolijski argumentierte also wissenschaftlich, von der Analyse zur Begrifflichkeit und zum Programm fortschreitend. Bell vergleicht ihn darin mit Marx – eine Analogie, die nicht so aberwitzig ist, wie sie dem Marxisten scheinen mag. Gerade in dieser wissenschaftlichen Argumentation lag die Überzeugungskraft des Mythos. So wie bei Marx die Arbeitswertlehre den Kern bildete – die Lehre vom Mehrwert, den der Arbeiter schafft und der Unternehmer sich aneignet –, so stand bei Stambolijski das bäuerliche Arbeitseigentum im Zentrum. Es versicherte die Bauern, dass sie das Recht hätten zu kämpfen – gegen räuberische Steuern des Staates, gegen Wucherer und gegen die Enteignungsideen der Sozialisten. Diese Bauernideologie war revolutionär, denn sie zielte auf eine andere, gerechte und friedliche Ordnung der Welt, doch sie war es nicht im engeren Sinne. Nach der russischen Revolution von 1917 beschrieb Stambolijski den Gegensatz so:
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Bell 1977, S. 78 Bell 1977, S. 82 – 84 Bell 1977, S. 58 – 71; Brucciani 2004; Stambolijski 1919
„Unser soziales System ist wie ein alter Baum. Die Bolschewiken sagen, er lebt schon zu lange, und sie wollen ihn fällen und einen Setzling an seiner statt pflanzen. Wir Bauern sagen, er soll nicht gefällt werden, weil er eine lange, lange Zeit benötigt hat, zu wachsen. Wir glauben daran, dass man ihn nur ausschneiden muss und ein wenig mehr Licht hereinlassen“.53 Stambolijski setzte auf die Übernahme der Macht im Rahmen der Tarnowo-Verfassung von 1878 und auf Reformen. Steuererleichterung und Umlenkung der öffentlichen Mittel in den Ausbau des ländlichen Schulwesens, öffentliche Gesundheitspflege und Unterstützung von Kredit- und Vermarktungsgenossenschaften; direkter Zugang zur Rechtspflege ohne wucherische Anwälte; Einführung des Verhältniswahlrechts anstelle des geltenden, für die Massen ungünstigen Mehrheitswahlrechts, das waren die Gegenwartsforderungen der Bauernunion.54 Stambolijski schöpfte seine Ideen aus unterschiedlichen geistigen Quellen. Östliche und westliche Ströme formten sein Denken. Stark war der Einfluss der russischen Volkstümler Peter Lawrow und Nikolai Michailowski. Michailowskis ganzheitliche, organische Weltsicht stand in der russisch-orthodoxen Tradition; sie wandte sich gegen die westliche Auffassung von Pluralismus und fortschreitender Komplexität der Gesellschaft: „Fortschritt ist die allmähliche Annäherung an die Einheitlichkeit der Individuen, an die möglichst vollständige und umfassende Arbeitsteilung zwischen den Organen [den Ständen der Gesellschaft, HS] und die möglichst geringe Arbeitsteilung zwischen den Menschen. […] Moralisch gut, gerecht, vernünftig und nützlich ist nur das, was die Ungleichartigkeit der Gesellschaft vermindert und damit die Vielseitigkeit ihrer einzelnen Mitglieder verstärkt“.55 Am Weinbau-Institut in Plewen wurde Stambolijski mit den Schriften der russischen Volkstümler bekannt. Auch Stambolijski hatte eine ganzheitliche, organische Auffassung vom Bauern als vollkommener Persönlichkeit in nicht entfremdeter Arbeit: „Jeder Bauer ist eine Enzyklopädie in sich selbst. Er versteht das Leben der Pflanzen und Tiere, kennt ein wenig Astronomie, pflügt das Land, züchtet Vieh, baut und repariert seinen Wagen, und sagt das Wetter genauer voraus als manche meteorologische Station. Im Bauern ist die Saat der voll entwickelten menschlichen Persönlichkeit angelegt. Er benötigt nur Organisation und mehr Wissen“.56 Schon am Weinbauinstitut wurde Stambolijski ebenso mit deutschen und englischen Zeitschriften bekannt. In den breiten Strom des zeitgenössischen westlichen Denkens tauchte Stambolijski während seines Aufenthalts in Halle ein. Er berief sich in den programmatischen
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Zitiert: Jackson 1966, S. 164 Bell 1977, S. 71 – 73 Zitiert: Zweynert 2002, S. 255 Zitiert: Crampton 1989, S. 128
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Aufsätzen nach seiner Rückkehr auf die Entwicklungslehren des Sozialdarwinisten Herbert Spencer und des Anthropologen Lewis Henry Morgan, ohne deren prokapitalistischen Liberalismus zu übernehmen. Wichtiger noch war die Bekanntschaft mit dem Reformismus, mit den Schriften von Eduard Bernstein und insbesondere von Eduard David. Zanko Zerkowski, der nach eigenem Bekunden von Plechanow und Kautsky zu Bernstein und David gelangt war, bestärkte ihn darin. Zerkowski berief sich auf die erregte Debatte um das sozialdemokratische Agrarprogramm, die seit dem Breslauer Parteitag 1895 auch auf den Seiten der „Neuen Zeit“ hohe Wellen schlug und nicht nur von den bulgarischen Sozialdemokraten, sondern auch im Weinbauinstitut in Plewen aufmerksam verfolgt worden ist.57 Während Stambolijskis Studienzeit dort erreichte die Debatte ihren Höhepunkt. Kautsky hatte 1899 mit seiner „Agrarfrage“ die Auseinandersetzung gewissermaßen negativ beendet. Eduard David setzte 1903 seine positive Antwort dagegen. Er beschwor die universale Menschheitsbotschaft des Sozialismus, der sich nicht auf die Interessenvertretung der Industrieproletarier beschränken dürfe. Mit Max Sering stritt er für die Zukunftsfähigkeit des bäuerlichen Kleinbetriebs. Und gegen Kautsky, der die Kredit- und Vermarktungsgenossenschaften als Weg in den Kapitalismus verdammt hatte, sah er gerade diese Produzentengenossenschaften und nicht die „kommunistischen Produktivgenossenschaften“ als fruchtbare Vergesellschaftung des bäuerlichen Wirtschaftsbetriebs.58 Stambolijski bezog sich in seinen zahlreichen Artikeln zur Propagierung von Kredit- und Vermarktungsgenossenschaften wiederholt auf David.59 Stambolijskis Bauernideologie wurzelte in den Ideen der russischen Volkstümler wie der deutschen Reformisten, sie gründete auf Arbeitseigentum, Dorfgemeinde und Genossenschaft und strebte nach der freien Entfaltung und sozialen Verankerung der Bauern in einer solidarischen Gesellschaft. Dieses Bauernprogramm stand dem Liberalismus als der Ideologie des freien Marktes und des ungebundenen Individuums ebenso entgegen, wie dem Marxismus als messianischer Weltanschauung einer proletarischen Industriegesellschaft. Es war konservativer, weniger wachstumsorientiert, mit Stambolijskis Worten: nachhaltig wie das Auslichten eines alten Baumes. Das Programm war verschieden von den Modernisierungsvisionen Trotzkis und Gerschenkrons, kein Mittelweg, sondern alternativ zu beiden. Roman Holec zeigt die Agrardemokratie des Slowaken Milan Hodža als Modell eines solchen Dritten Weges aus bäuerlicher Wurzel.60 Stambolijskis Programm war radikaler, alle Sphären der Gesellschaft erfassend. Es stand den russischen Volkstümlern und ihren Erben näher, den Sozialrevolutionären und den Neo-Narodniki um Alexander Tschajanow. Man wird es als agrarsozialistisch bezeichnen können.61
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Bell 1975b, S. 187 f.; Lehmann 1970, S. 223 – 235; zu David: 97 David 1903, S. 19 f., 57 – 60 Bell 1977, S. 60 Holec 2010, S. 46 – 49; Held 1996, S. 2 Holec 2010, S. 43 – 46; Hildermeier 1978, S. 2, 20 – 25; Hahn 1994, S. 1 – 10
Drei Kriege Europa erinnert sich an den Ersten Weltkrieg als an seine Urkatastrophe, und je länger das Geschehen zurückliegt, je mehr tritt selbst der Zweite Weltkrieg als dessen offenbare Folge in seinen Schatten. Die Balkanvölker betrachten die Geschichte anders, für sie beginnt das Unheil mit den Balkankriegen. Die Wolken zogen sich schon 1908 zusammen. Ermutigt durch die Jungtürkische Revolution in Konstantinopel, die die Widerstandskraft der Pforte lähmte, setzte sich Österreich gegen den Berliner Vertrag von 1878 in den alleinigen Besitz der Provinz Bosnien-Herzegowina. Im Windschatten dieser Annexion löste sich auch der bulgarische Fürst Ferdinand vom Osmanischen Reich und erklärte sich als „Zar der Bulgaren“. Stambolijski und die Deputierten der Bauernunion erkannten diese Okkupation nicht an. Sie verweigerten dem Fürsten den Zarentitel, wie sie ihm schon seit der ersten Sitzung der neu gewählten Nationalversammlung im Mai 1908 den Beifall verweigert hatten. Die Führer der Bauernunion hatten ebenso wie die Sozialisten die Jungtürkische Revolution als Schlag gegen den Absolutismus begrüßt, wie sie schon die russische von 1905 willkommen geheißen hatten. Sakasow schrieb in den Sozialistischen Monatsheften über die allgemeine Freude: „Die Völker verbrüderten sich, die bulgarischen Makedonier fühlten sich als künftige Bürger des großen türkischen Reichs, und die Bulgaren im Fürstentum begrüßten mit Freuden ein solches Zusammenarbeiten aller Elemente des Fortschritts und der Kultur“.62 Zum Eklat kam es 1911, als eine Große Nationalversammlung entsprechende Verfassungsänderungen bestätigen und den Zaren ermächtigen sollte, ohne Parlament auswärtige Verträge zu schließen. Stambolijski begnügte sich nicht mit stillem Widerstand, wie die übrigen Deputierten der Oppositionsparteien.63 Christian Rakowski berichtete darüber in der „Neuen Zeit“, ohne es doch über sich zu bringen, den Namen dessen zu nennen, der hier Bürgerstolz vor Königsthronen bewies: „In demselben Augenblick, in dem der König sich auf seinen Thron setzt, um die Eröffnungsrede zu verlesen, erhebt sich ein Bauer und protestiert im Namen der Bauern, der Sozialisten und der Radikalen gegen die Anwesenheit des Königs in der großen Nationalversammlung, die, da sie die höchste Autorität des Landes darstellt, keine andere ihr übergeordnete Autorität anerkennen könne“.64 Warum diese Heftigkeit? Stambolijski und seine Freunde waren streng republikanisch gesinnte, entschiedene Gegner von Ferdinands „persönlichem Regiment“, aus dem das Partisanstwo quoll. Nun fürchtete die Opposition aus Bauernunion und Sozialisten, dass Ferdinands Größenwahn die Nationalisten wieder zur vaterländischen Befreiung Makedoniens rufen würde. Das war begründet. Ferdinands Anspruch, Zar „der Bulgaren“ zu sein, nicht Bulgariens, zielte auf die bulgarischen Bewohner Makedoniens und anderer unerlöster Gebiete, 62 63 64
Sakasow 1908, S. 1381 Bell 1977, S. 83, 97; Crampton 2009, S. 45 – 47; Crampton 2008, S. 190 f. Rakowski 1911, S. 686
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die einstmals zum Reich frühmittelalterlicher Bulgarenkönige gehört hatten. Die „Makedonienfrage“ war der Sprengsatz des Balkans und der Angelpunkt bulgarischer Politik seit der Neugründung des Staates. Das alte Durchgangsland der Kulturen beherbergte vielerlei Völkerschaften, sein Zentrum Saloniki (Thessaloniki), Geburtsort Kemal Atatürks, war die größte jüdische Stadt auf dem Balkan. Noch befand sich Makedonien unter türkischer Herrschaft, doch bulgarische, serbische und griechische Nationalisten brannten darauf, es heimzuholen, und die Banden der „Makedonischen Revolutionären Befreiungsorganisation“ terrorisierten die nichtslawische Bevölkerung.65 Stambolijski und Zerkowski warben in der Nationalversammlung, im „Semledelsko Sname“ und bei jeder sich bietenden Gelegenheit dafür, das Wohl Bulgariens durch wirtschaftliche Entwicklung zu mehren und die Mittel nicht für militärische Abenteuer hinauszuwerfen. Energisch sprach sich Stambolijski für eine demokratische und republikanische Balkanföderation brüderlicher Völker aus, den einzigen Weg zur Unabhängigkeit von den Großmächten.66 Die Balkanföderation wurde eine lebenslange Leitidee Stambolijskis. Damit nahm er ausdrücklich die Forderung der Konferenz sozialdemokratischer Balkanparteien auf, die im Januar 1910 in Belgrad getagt hatte.67 Er war ebenso unbedingt Internationalist wie die Sozialdemokraten. Die bulgarischen Agrarsozialisten standen hierin den Engsozialisten näher als den Weitsozialisten, und sie verabschiedeten sich entschiedener vom Nationalismus als die russischen Sozialrevolutionäre. Die Sozialdemokraten nahmen von diesen potentiellen Bundesgenossen jedoch kaum Notiz, waren sie doch „Kleinbürger“.68 Eine Verbindung zur Sozialistischen Internationale wurde dementsprechend nicht geknüpft. Dort behaupteten sich – erstaunlich genug – die russischen Sozialrevolutionäre als einzige agrarsozialistische Partei; der Respekt vor der Volkstümlerbewegung als gemeinsamer Wurzel aller sozialistischen Parteien im Russischen Reich schützte sie. Stambolijski sah auf die Arbeiterinternationale und dachte über eine eigene „Grüne Internationale“ der Bauern nach. Das Internationale Landwirtschaftsinstitut in Rom, das 1905 mit Bulgariens Teilnahme gegründet wurde, begrüßte er hoffnungsvoll als Kern dieser Internationale.69 Unter Stambolijskis Einfluss wurden Pazifismus und Internationalismus zu Prinzipien der Bauernunion. Einer ihrer Abgeordneten, ein Historiker, der die makedonische Politik der Regierung unterstützte, musste die Fraktion verlassen. Diese Politik kostete die Union 1911 ein Drittel der Wählerstimmen.70 Das Bauernvolk ist noch mühseliger vom Nationalismus wegzuführen als die Arbeiter. Beim Ausbruch des ersten Balkankriegs im Oktober 1912 war der nationale Enthusiasmus allgemein. Trotzki fand unter den Verwundeten in den Lazaretten kaum einen Bauern, der nicht darauf brannte, wieder an die Front zu kommen, um für die Befreiung des ganzen Balkans von der türkischen Tyrannei zu kämpfen. Und er traf – trotz der Friedensproklamationen beider sozialdemokratischer Parteien – genug bulgarische Sozialisten, die bereit waren, im Bal65 66 67 68 69 70
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Sakasow 1903; Troebst 2007 Bell 1977, S. 94 f. Tucović (Tutzowitsch) 1910; Haupt 1979, S. 24 f.; Trotzki 1995, S. 58 – 63 Rakowski 1911, S. 685 f. Bell 1977, S. 67; v. Stockhammern 1928, S. 24 Bell 1977, S. 101 – 108
kanbund der Fürsten Bulgariens, Griechenland, Montenegros, Serbiens und Rumäniens ein wenig von der erstrebten Balkanföderation der Völker zu sehen.71 Das änderte sich, als dem ersten Krieg im Sommer 1913 der zweite folgte, in dem die Verbündeten gegeneinander um die Verteilung der Beute stritten, ohne dass die bulgarischen Soldaten auch nur zur Erntearbeit beurlaubt gewesen wären.72 Die Kriege hatten die kläglichsten Resultate. Bulgarien verlor noch mehr Soldaten durch die Cholera als in der Schlacht; es gewann nur einen kleinen Teil Makedoniens, dafür helle Scharen auf Rache sinnender makedonischer Flüchtlinge; es verlor an Rumänien die fruchtbare Dobrudscha südlich der Donau. Nicht die Leiden der Bulgaren, sondern die Gräuel, die sie mit der Abschlachtung türkischer Gefangener und der Brandschatzung türkischer und griechischer Dörfer verübt hatten, wurden Thema der entsetzten Weltöffentlichkeit – wie die Kriegsverbrechen der anderen beteiligten Seiten. Dabei sahen die großen britischen, deutschen und russischen Zeitungen durch ihre jeweils spezielle partei- und machtpolitische Brille.73 „So geschlagen, beraubt und beschimpft, mit Schulden belastet, isoliert und verlassen, muss jetzt das unglückliche Land sein Leben weiterführen“, resümierte Sakasow.74 Schuldige wurden gefunden, Regierungen stürzten, der Zar sank noch tiefer im allgemeinen Ansehen, und man erinnerte sich nun häufig an Stambolijskis mannhaftes Auftreten in der Großen Versammlung. Die Bauernunion gewann bei den Wahlen im November 1913 wieder mehr als ein Fünftel der Stimmen, noch etwas mehr, als Weit- und Engsozialisten zusammen.75 Nahezu die Hälfte der Bulgaren neigte also nun den radikalen Kritikern der Kriegspolitik zu. Aber Bulgariens makedonische Wunde brannte wie vor den Kriegen und in der Dobrudscha war ihm eine neue geschlagen worden, so blieben die Auseinandersetzungen scharf und die Kriegsgefahr bedrohlich. Als die Schüsse von Sarajewo den europäischen Weltkrieg ankündigten, stellten sich zunächst alle drei Parteien gegen einen Kriegseintritt Bulgariens. Blagoew wies Plechanows Drängen auf Unterstützung der Entente gegen den deutschen Angreifer zurück, man werde an der internationalen proletarischen Solidarität festhalten. Das Zentralkomitee der Engsozialisten wandte sich im Oktober 1914 an Kautsky um einen Gegenartikel: „In diesem für die Sozialdemokratie wichtigen Augenblick kommt es nicht darauf an, wer Angreifer und wer Angegriffener ist – auf diese Weise würden wir ja wieder dort landen, wo alle Bruderparteien landeten, die sich im ersten Moment der Empörung dazu verleiten ließen, irgendeines der kriegführenden Länder zu unterstützen oder zu verurteilen. […] Was ist jetzt und nach dem Kriege unsere Aufgabe? Schnell und rasch den Krieg beenden. […] Von diesem Gesichtspunkt aus halten wir die Versuche, die Zentrale der Internationale wieder ins Leben zu rufen und den Kontakt zwischen den Bruderparteien wieder herzustellen, für durchaus angebracht und zu einem günstigen Zeit-
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Trotzki 1995, S. 179, 213 – 226 Sakasow 1913b Körber 1990; Boeckh 1996, S. 1765 – 1776; zur Carnegie-Kommission: Keisinger 2008 Sakasow 1913a, S. 1668 Bell 1977, S. 109 f.
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punkt unternommen. Unsere Bestrebungen gehen dahin, nicht zuzulassen, dass unser Land in den Krieg verwickelt wird“.76 Die Engsozialisten sprachen energisch gegen den Krieg und für die Neutralität der Balkanvölker. Sie taten es auf der zweiten Balkankonferenz im Juli 1915 in Bukarest, wo sie die Linkssozialisten Rumäniens, Serbiens und Griechenlands trafen, wie im September im schweizerischen Zimmerwald. Und sie taten es in der bulgarischen Nationalversammlung, als es um die Kriegsfinanzierung ging.77 Indessen waren nicht sie die wirkungsvollsten Widersacher der Kriegspolitik des Zaren, sondern die Bauernunion; nicht Blagoew, sondern Stambolijski setzte die Zeichen in der bulgarischen Öffentlichkeit. Zwei Wochen vor den Schüssen auf den österreichischen Erzherzog – anlässlich des Jahrestags des bulgarischen Angriffs auf Serbien in Makedonien, der den zweiten Balkankrieg eröffnet hatte – führte Stambolijski eine Demonstration auf dem Platz vor der Nationalversammlung an. Unter der Reiterstatue des Befreiers Alexander II. rief er, das Denkmal wäre ein guter Galgen, um den Kriegsverbrecher Ferdinand kopfunter daran aufzuknüpfen. Das war Majestätsbeleidigung, doch man verhaftete ihn nicht – ein merkwürdiges Zeichen für die Schwäche der Regierung und die außerordentliche Stellung des Bauernführers. Die alarmierenden Nachrichten aus den europäischen Hauptstädten kamen unverzüglich nach Sofia. Am 5. August 1914 (23. Juli alten Stils) veröffentlichte das „Semledelsko Sname“ einen Nachruf von Stambolijski auf Jaurès, „den Mann, der für den Frieden eintrat“; in derselben Ausgabe verurteilte Stambolijski die ungarischen und deutschen Sozialisten, weil sie ihre Regierungen unterstützten. Nun, wo der Frieden verloren war, rang die Bauernunion ebenso wie die Engsozialisten um die Neutralität des Landes. Die Bauernunion agitierte auf den Seiten des „Semledelsko Sname“, in den Versammlungen der Druschbi und auf den Straßen gegen Bulgariens Kriegseintritt.78 Bulgarien wurde von beiden kriegführenden Seiten umworben, denn es war die stärkste Militärmacht auf dem Balkan und zwischen Serbien und der Türkei von strategischer Bedeutung – mit Churchills Worten „der dominante Faktor auf dem Balkan“.79 Es sollte erneut zum Spielball und Schlachtfeld der Großmächte werden. Der Zar und die regierenden Liberalen neigten den Mittelmächten zu, gedrängt von den makedonischen Organisationen, die im Offizierskorps starken Rückhalt hatten. Nur an der Seite der Mittelmächte konnten sie hoffen, Makedonien zu gewinnen, nicht mit Russland, dem Verbündeten der Griechen und der Serben. Die traditionell russophilen bürgerlichen Oppositionsparteien hielten dagegen, mehr aber noch die Bauernunion. Mit patriotischem Pathos schleuderte Stambolijski dem Zaren bei dessen Thronrede im November 1914 entgegen: „Wir werfen den Abenteurern den Fehdehandschuh hin, gleich woher sie kommen, und wir werden alles ertragen, um Bulgarien vor dieser furchtbaren Gefahr zu beschützen. Und wenn wir in dieser Schlacht fallen, werden wir ruhig sein, denn wir werden die Schande
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Zentralkomitee der Engen 1986, S. 156 f.; Kautsky 1986a Bell 1986, S. 18 – 20; Haupt 1979, S. 28 f.; Kalbe 2005, S. 56 f. Bell 1977, S. 113 Crampton 2008, S. 207
und den Untergang Bulgariens nicht mit ansehen müssen, und wir wissen, dass die Generation, die Sie Ihrem Abenteuer zum Opfer bringen wollen, Ihnen streng und gerecht zurückzahlen wird für Ihre irrsinnige Politik“.80 Im Sommer 1915 halfen Erfolge der deutsch-österreichischen Truppen in Galizien und erhebliche Subsidien der Entscheidung nach, Zar und Regierung schlossen einen Geheimvertrag mit den Mittelmächten und rüsteten die Truppen.81 Die Führer der Oppositionsparteien verlangten Aufklärung in einer Audienz beim Zaren. Dort kam es am 4. September (alten Stils) nachmittags zu einem weiteren Zusammenstoß zwischen Stambolijski und Ferdinand. Der Ablauf ist ausführlich von Stambolijski selbst überliefert und bei Bell zitiert.82 Ein kürzerer Bericht von dritter Seite erzählt nichts anderes und sei hier wiedergegeben: „Anwesend Herr Gueshoff [Iwan Geschow, Nationale Partei, HS], Herr Daneff [Stojan Danew, Liberale Fortschrittspartei, HS] von der russophilen Partei, und Alexander Stambolijski. Der letztere fragte geradeheraus, ob Ferdinand die Armee gegen die Alliierten mobilisieren wolle. Der König antwortete, dass er glaube, es sei im Interesse des Landes, wenn er so verfahre. Stambolijski antwortete: ‚Ich sehe, dass Sie ihren eigenen Weg gehen wollen. Tun Sie das, und ich folge meinem. Die Nation wird sich ihrem Mobilmachungsbefehl widersetzen und sich zur Revolution vereinen‘. Der König antwortete kühl: ‚Ich habe meine Entscheidung getroffen.‘ Stambolijski antwortete: ‚Wenn sie so handeln, werden Sie Ihren Kopf verlieren‘. Der König, nach Herrn Gueshoffs Bericht der Szene, guckte ernst in das erhitzte Gesicht des Bauernführers und antwortete: ‚Sorgen Sie sich nicht um meinen Kopf, ich bin alt. Achten Sie auf ihren eigenen. Sie sind jung.‘“83 Stambolijski stürmte in das Quartier, das er mit Turlakow teilte, und schrieb ein Flugblatt, in dem er den Wortwechsel wiedergab und das Volk aufrief, sich der Mobilmachung zu widersetzen. Vergeblich versuchten seine Freunde ihn zurückzuhalten. Das war zu viel für die Langmut und die Selbstachtung des Zaren. Der Zar ließ die Flugblätter einsammeln, Stambolijski verhaften und wegen Vaterlandsverrats zum Tode verurteilen. Er wandelte das Urteil dann in lebenslange Haft. Ferdinand scheint Respekt oder gar eine widerwillige Zuneigung für seinen ungestümen Gegenspieler empfunden zu haben. Die Regierung zerschlug nun die Führung der Union, denn mit vollem Recht sah sie hier und nicht bei den Sozialdemokraten, selbst nicht bei den Engen, die gefährliche innere Opposition gegen die Kriegspolitik. Daskalow, Direktor des Nationalfonds, Turlakow und Alexander Dimitrow wurden angeklagt, französische Agenten zu sein. Allerdings hatte der Fonds Getreide in großem Stil nach Frankreich verkauft, so die Kriegskonjunktur für die bulgarischen Bau-
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Zitiert: Bell 1977, S. 85 Crampton 2008, S. 204 – 209 Stambolijski 1919a; Bell 1977, S. 119 f. Muir 1957, S. 188 f.
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ern nutzend.84 So fanden sich Alexander Stambolijski, Raiko Daskalow, Alexander Dimitrow, Marko Turlakow, Nedeltscho Georgiew und Grigor Bojadshiew im Sofioter Zentralgefängnis zusammen. Zurück blieb nur ein schwaches Häuflein unter Dimitar Dragiews Führung, das im Dezember 1915 den Kriegskrediten zustimmte – wie alle außer den Engsozialisten. Kriegsgegner und Anhänger russlandfreundlicher Politik wurden überall im Land verhaftet, während die bulgarischen Bauern an die Fronten in Makedonien und Thrakien ausrückten. Stambolijski und seine Gefährten versuchten mit ihren Briefen aus dem Gefängnis die kopflose Parlamentsfraktion zu lenken und versorgten die Agitatoren der Bauernunion in den Schützengräben mit Flugblättern.85 Die gefangenen Führer wurden zur Untergrundleitung, die sich auf die Machtübernahme vorbereitete. Ihr Denken radikalisierte sich; sie entwarfen die Grundrisse einer bäuerlichen Volksmacht: eine Landreform, die auf dem Arbeitseigentum beruht, Genossenschaften als Weg in die Moderne, Bauernmacht im Verhältnis zu Arbeiterparteien und „alten Parteien“, friedliche Beziehungen zu den verfeindeten Nachbarn. Stambolijski legte Wesentliches in seinen Gefängnisschriften nieder.86 Ein Foto zeigt ihn schreibend an einem Stuhl, den er auf den Tisch gestellt hat, um dem Zellenfenster näher zu sein.87 Raiko Daskalow gab für seine Schrift zur Landreform auch das Gefängnis als Ursprung an.88
Stambolijski im Licht des Kerkerfensters schreibend 84 85 86 87 88
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Bell 1977, S. 116 f., 120 f., 124 Stambolijski 1919c Stambolijski 1919d; Stambolijski 1919b Stambolijski 1934, S. 9, 10 Bell 1977, S. 133
Der Krieg fraß sich in den makedonischen Schützengräben ebenso fest wie in den flandrischen. Gemessen an seiner Bevölkerung hatte Bulgarien mehr Kriegstote zu beklagen als jedes andere Land. Die Mittelmächte griffen nach den bulgarischen Rohstoffen und Ernten, bis das Volk hungerte; da auch die Zugtiere weggeführt wurden, halbierte sich die Ernte während des Kriegs. Zum Internationalen Frauentag 1917 demonstrierten die Frauen für Brot und gegen den Krieg – in Sofia und Plovdiv wie in St. Petersburg und überall in Europa. Milena Stambolijska war eine der Organisatorinnen, auch sie wurde nun verhaftet. Sie teilte die politischen Überzeugungen ihres Mannes und stand an seiner Seite. Ein Foto zeigt den gefangenen Stambolijski unter schwerer Bewachung allein mit den beiden Kindern. Milena ging offenbar so bald wie möglich mit den Kindern nach Frankreich, denn Stambolijski nutzte 1920 einen Aufenthalt in Paris, um seine Kinder zu besuchen, die dort studierten. Das Paar hatte sich offenbar getrennt, zumindest begünstigt durch die widrigen Umstände.89 Die russische Revolution fachte die Russophilie mächtig an und damit die Gefahr, dass die Soldaten die Gewehre umkehrten. Nun wuchs Stambolijski – der Mann, der gegen den Krieg aufgestanden war – im Bewusstsein des Volkes ins Heldenhafte. Als die Bauernunion im Juni 1918 Massenversammlungen an der Front organisierte, löste die Regierung den „Generalstab“ im Zentralgefängnis auf; Stambolijski wurde nach Widin gebracht, wo er isoliert unter schlimmen Bedingungen lebte.90
Der Weg zur Macht Mit dem Durchbruch der britischen und französischen Truppen an der makedonischen Front kam Mitte September der Zusammenbruch. Die Soldaten flohen in ihre Dörfer, noch mehr schlossen sich zusammen, um nach Sofia zu marschieren und die Schuldigen zu strafen. In dieser Not holte Ferdinand den Gegenspieler aus dem Gefängnis, damit er die meuternden Truppen beruhige und das Regime rette. In der denkwürdigen Begegnung vom Nachmittag des 25. September – Bulgarien hatte inzwischen den westeuropäischen Kalender eingeführt – rang Stambolijski dem Zaren ab, sofort um Waffenstillstand nachzusuchen und wenigstens die meisten politischen Gefangenen freizulassen. Dann machte er sich gemeinsam mit Raiko Daskalow auf den Weg an die makedonische Front. In Radomir trafen sie auf Truppen, die sich zum Marsch auf Sofia formierten. Stambolijski erinnerte sie, dass sie ihm nicht gefolgt wären, als er zum Widerstand gegen die Mobilisierung aufrief; nun sollten sie in der Stunde der Gefahr Ruhe bewahren und das Vaterland verteidigen, bis der Waffenstillstand geschlossen wäre. Stambolijski wollte sich also zunächst an die Übereinkunft mit dem Zaren halten. Daskalow wollte ebenso offenkundig die Machtübernahme. Er blieb im Lager bei Radomir, konnte Stambolijski aber nicht von der Weiterreise nach Kjustendil abhalten. Der fand im dortigen Hauptquartier alles in Unruhe und keine Nachricht vom Waffenstillstand. Daskalow hatte sich inzwischen an die Spitze der etwa 10.000 Aufständischen gesetzt und bewog Stambolijski
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Bell 1977, S. 124, 156; Stambolijski 1934, S. 12 Crampton 2008, S. 210 – 217; Bell 1977, S. 122 – 128
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telegrafisch, der Proklamation einer provisorischen Regierung zuzustimmen. Wieweit dieser Schritt tatsächlich Stambolijskis Einverständnis hatte, ist nicht klar. Zu Zeiten der Volksrepublik wurde die „Republik von Radomir“ zum revolutionären Mythos der eigenen Tradition.91 Die Rebellion endete in einem Fiasko, auch weil Daskalow bis zum Morgen des 30. September vor Sofia wartete, um Plünderungen und Blutvergießen in der nächtlichen Stadt zu vermeiden. Die makedonischen Truppen des Zaren erhielten inzwischen deutschen Beistand und schlugen die anrückenden Rebellen umso leichter, als sich gleichzeitig die Nachricht verbreitete, dass in Saloniki der Waffenstillstand geschlossen wäre; die Soldaten liefen nach Hause. Daskalow und Stambolijski mussten in den Untergrund.92 Auf Druck der Siegermächte dankte der Zar zugunsten seines Sohnes Boris ab und floh. Regierungen wurden gebildet, in denen Weitsozialisten und Bauernpolitiker Minister waren, formell auch Stambolijski, der nach einer Amnestie Anfang Januar 1919 aus seinem Versteck kam. Doch ihm ging es nicht um Ministerposten in einer Regierung der alten Parteien, er wollte mit den Seinen das radikale Programm der Bauernpartei durchsetzen. Dazu mussten sie zunächst die ganze Union hinter diesem Programm versammeln. Auf dem Parteikongress im Mai 1919 kam es zum Bruch mit den Gemäßigten um Dimitar Dragiew. Im Rückblick auf zwei Jahrzehnte im Dienst der Bauernunion beschrieb der tief religiöse Dragiew die Kluft, die ihn von Stambolijski schied: „Für mich gibt es eine andere Welt, und mein Werk kann allmählich fortschreiten. Für Stambolijski als Materialisten ist die Welt hier, und er ist schnell, er will alles in wenigen Jahren erreichen – er will nicht warten. […] Er ist ein Revolutionär, ich bin es nicht“.93 Stambolijski war nun der unbestrittene Führer der Bauernunion. Um die Macht zu erringen, drang er auf Wahlen, die ersten nach mehr als fünf Jahren. Im August fanden sie endlich statt. Die Union ging daraus mit 28 Prozent der Stimmen als klarer Sieger hervor. Die nächststärkste Partei waren mit 18 Prozent die Engsozialisten, die sich inzwischen zur Kommunistischen Partei Bulgariens umgebildet hatten, ihnen folgten die Sozialisten um Sakasow mit 13 Prozent. Auf der Suche nach Koalitionspartnern ging Stambolijski zuerst zum Vorsitzenden der Kommunisten.94 Schon einmal, am 29. September 1918 von den Aufständischen aus Radomir kommend, hatte Stambolijski dem überraschten Dimitar Blagoew angeboten: „Ihr seid stark in den Städten, wir sind es in den Dörfern, lasst uns gemeinsam die Macht ergreifen“. Seine Union wolle das ganze kommunistische Programm akzeptieren, ausgenommen die Ablehnung des Bauerneigentums. Blagoew lehnte ab, die Differenzen seien unüberbrückbar. Auch jetzt wies er die ausgestreckte Hand zurück. Auf der vermeintlich steigenden Woge der internationalen Revolution und des bulgarischen Kommunismus reitend, meinte er die Macht al-
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Daskalov 2011, S. 89 f. Bell 1977, S. 130 – 140; Crampton 2008, S. 217 f.; Crampton 2009, S. 65 f.; Daskalov 2011, S. 90 – 93 Zitiert: Bell 1977, S. 142 Bell 1977, S. 143 f.
lein ergreifen zu können – wie die russischen Bolschewiki. In Stambolijski sah er den bulgarischen Tschernow oder Kerenski.95 Stambolijski wandte sich nun den Sozialisten zu, dem eigentlich gewünschten Koalitionspartner, wie Bell glaubt. In der Tat hatte er mit Sakasow Programm und Modalitäten einer Koalition besprochen, als sie beide mit der bulgarischen Delegation bei der Friedenskonferenz in Paris waren. Zurück in Sofia forderten die Sozialisten aber die Ministerien für Inneres, Krieg, Handel, Post, Telegrafen und Eisenbahnen, also die Schlüsselministerien für einen Staatsstreich. Das akzeptierte die Bauernunion nicht. Stambolijski wurde so am 6. Oktober Ministerpräsident einer Koalition mit jenen russophilen bürgerlichen Parteien, die in Opposition zum Krieg gegen die Entente gestanden hatten. Bell meint zu Recht, dass das Scheitern der Koalition mit den Sozialisten ein Unglück für die Bauernregierung und für das Land gewesen sei. Die Sozialisten hätten die Kompetenz und die Fachleute beisteuern können, die der Bauernunion weithin fehlten, weil ihnen große Teile der niederen Beamtenschaft und der Verwaltungsangestellten anhingen, und sie hatten jene Hälfte der Gewerkschaften hinter sich, die nicht kommunistisch war.96 Erste Regierungsmaßnahme war die Verhaftung der Kriegsschuldigen, der Minister des Kabinetts, das den Kriegseintritt von 1915 zu verantworten hatte, und der Anführer der makedonischen Bewegung. Sie entgingen so der Auslieferung als Kriegsverbrecher an Griechenland, Serbien oder Rumänien.97 Stambolijskis Ernennung war der Rücktritt der bürgerlichen Koalitionsregierung voraufgegangen. Dieser Rücktritt folgte nicht dem Wählerwillen, sondern war Flucht aus der Verantwortung für die unausweichliche Unterschrift unter den Friedensvertrag. Stambolijski fuhr also allein nach Paris und unterschrieb im Rathaus von Neuilly-sur-Seine den Vertrag, der Bulgarien wie alle besiegten Länder tief demütigte und mit unerfüllbaren Bedingungen ohne Möglichkeit des Einspruchs beschwerte. Stambolijski hatte nach seiner Ankunft an Clemenceau, den Vorsitzenden der Konferenz, und an die Delegationsleiter der benachbarten Siegermächte Serbien, Griechenland und Rumänien geschrieben, um ein wenig Erleichterung für Bulgarien zu erreichen. Die Briefe blieben unbeantwortet.98 Während Stambolijski noch in Paris war, riefen Kommunisten und Sozialisten zum Kampf gegen die „rechte, bürgerliche“ Regierung. Die Gewerkschaften stellten unerfüllbare Lohnforderungen, Generalstreik und gewaltsame Auseinandersetzungen drohten. Hunger und Not waren drückend genug, da die siegreichen Nachbarn entsprechend dem Vertrag die Auslieferung riesiger Viehherden und großer Teile der Kohleproduktion forderten; sie führten also das Geschäft fort, dass die Verbündeten während des Kriegs betrieben hatten. Die Regierung war zwischen den Forderungen der Sieger und der Gewerkschaften eingekeilt. Die Bauernunion rüstete sich für den Kampf, der im Kern politisch war – ein Machtkampf zwischen Sozialisten, Kommunisten und Bauernunion. Innenminister Alexander Dimitrow, der Stambolijski als Ministerpräsident vertrat, und Marko Turlakow, Minister für Eisenbahnen, Post und
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Bell 1986, S. 23 – 26; Tishev 1966, S. 15 – 19 Bell 1977, S. 144 – 146 Bell 1977, S. 170 f.; Holy 2002, S. 68 f. Crampton 2009, S. 75 – 78
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Telegrafen, mobilisierten die Bauern in den Druschbi. Als Stambolijski nach seiner Rückkehr am 24. Dezember die Nationalversammlung eröffnete, standen den Demonstrationen bewaffneter kommunistischer Kampfgruppen in den Städten etwa 10.000 Mann starke Bauernabteilungen entgegen, die eine Eskalation verhüteten. Streiks begannen, die am 28. Dezember in den Generalstreik mündeten. Die Regierung verhängte das Kriegsrecht. Bauern, die bei Transporteinheiten gedient hatten, hielten den Eisenbahnverkehr aufrecht. Die streikenden Bergarbeiter der Kohlengruben von Pernik wurden verhaftet und durch Streikbrecher aus den Druschbi ersetzt. Arbeiter, die noch immer streikten, erhielten keine Lebensmittelkarten mehr und wurden aus ihren staatlichen Wohnungen geworfen. Am 5. Januar beendete die Kommunistische Partei den Generalstreik.99 Die Stambolijski-Regierung schrieb Neuwahlen aus und gewann im März knapp die absolute Mehrheit, indem sie die Mandate einiger Abgeordneter annullierte, die zugleich lokale Amtsträger waren – ein seit langem nicht mehr angewandtes Gesetz. Am 20. Mai trat die Bauernunion die Alleinregierung an. Stambolijski hielt die Funktionen des Premierministers, des Außenministers und des Kriegsministers in seiner Hand; Alexander Dimitrow wurde Innenminister, Zanko Zerkowski Minister für öffentliche Güter, Marko Turlakow Finanzminister und Raiko Daskalow Handelsminister. Auch die übrigen Ressorts waren in den Händen enger Weggenossen.100 Der Weg zur Macht führte durch einen Krieg zwischen Dorf und Stadt. Bulgariens Bauernrevolution war ein Gegenstück zur urbanen Revolution der Bolschewiki, hier obsiegte das Dorf. Die Stadtfeindlichkeit der bulgarischen Bauernmacht ist von ihren Feinden im Nachhinein grotesk überzeichnet worden. Die alten Eliten sahen auf die Bauernpolitiker als „Auswurf des bulgarischen Dorfes“ herab. Eine Hofdame, die einen Bittgang zu Stambolijskis Residenz antrat, floh angewidert von gackernden Hühnern und ländlichen Gerüchen zurück nach Sofia. Stambolijskis Sodom-und-Gomorrha-Rede von 1921, in der er Pech und Schwefel auf das verderbte Sofia mit seinen blutsaugenden Anwälten, Spekulanten, Bürokraten und Wucherern regnen lassen wollte, folgten weitere, und sein Ton wurde nicht milder.101 Die Stadtfeindlichkeit der Bauernunion galt keineswegs den städtischen Arbeitern und auch nicht den als nützlich begriffenen Lehrern, Ingenieuren und Ärzten. Wenn Stambolijski bemerkte, er habe seinen kommunistischen Bären gezähmt und führe ihn nun vor, um die Bourgeoisie gefügig zu machen, so war das nicht partnerschaftlich, aber zutreffend. Der eigentliche Gegensatz tat sich zwischen den Bauern und den alten bourgeoisen, aristokratischen, militaristischen Eliten auf. Anders als die russische Revolution erfolgte die bulgarische in den Schranken der Verfassung und des Parlamentarismus, wie es das Programm der Bauernunion von 1919 vorsah: „Die Errichtung einer verfassungsmäßigen parlamentarischen Herrschaft des Volkes“.102 Obwohl Stambolijski überzeugter Republikaner war und die Bauernunion in seinem Geist geprägt hatte, blieb die Monarchie unangetastet. Stambolijski war ein Feind der „Methoden von Lenin und Trotzki“, andererseits hob er hervor, dass im Nachkriegseuropa nur seine und Lenins Regierung eigene Antworten im Kampf gegen Armut und soziale Ungerechtigkeit ge-
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Bell 1986, S. 27 – 29; Tishev 1966, S. 18 – 20 Bell 1977, S. 147 – 153 Bell 1996, S. 41 – 46 Petrova 1990, S. 36
funden hätten. Er begrüßte den Übergang zu „mehr demokratischen Formen“ mit der Neuen Ökonomischen Politik in Russland 1921.103 Stambolijskis Regierung versuchte im Widerspruch von Legalität und Revolution die Quadratur des Kreises.
Für ein neues Bulgarien In vielen Reden hat Stambolijski seinem Volk die Zukunft ausgemalt, und wie alle großen politischen Führer, wie Jaurès und wie Trotzki, redete er lange, leidenschaftlich und ohne Manuskript; von zehn Stunden am Stück wird berichtet.104 Die Bauernmacht stand in der Massenkultur des frühen 20. Jahrhunderts mit ihren Aufmärschen und Massenversammlungen, Gesängen und wehenden Fahnen. Sie setzte das aggressive Orange gegen das Blutrot der Arbeiterbewegung. Orange waren nicht nur die Fahnen und Spruchbänder, orange waren die Staatskarossen, die Dokumente, oft die Tinte, sogar die Geldscheine.105 Die Ästhetik der Bauernmacht war so modern wie ihre Ideologie, wie Stambolijskis Vision, die Bell wiedergibt: „In zwanzig Jahren, sagte er voraus, wird Bulgarien ein landwirtschaftlicher Musterstaat sein. Seine Städte und Dörfer sind sowohl frei von schlammigen, holprigen Straßen, als auch von menschlichen Blutsaugern. Sie sind versehen mit gesundem, trinkbarem Wasser, baumbestandenen Parks, modernem Dünger, Telegraf und Telefon und elektrischem Licht. Sie haben entwickelte Genossenschaften und ein ausgedehntes Eisenbahnnetz, mit Speichern für Getreide und Tabak an jeder Station. Jedes Dorf wird ein ‚Haus der bäuerlichen Demokratie‘ haben, wo Vorträge stattfinden, Schauspiele und Filme gezeigt werden, und wo die Bauern Aufzeichnungen der besten politische Reden hören können. Dort ist die Lokalverwaltung zuhause und öffentliche Gerichtsverhandlungen ohne Anwälte finden statt. Bulgarien hat den Niedergang der alten Parteien gesehen, an deren Stelle führt die Bauernunion eine Koalition mit den Organisationen der Arbeiter, die sich von der Kontrolle der Rechtsanwälte und Intellektuellen befreit haben, und mit der Organisation der Handwerker. Gemeinsam meistern sie Bulgariens wirtschaftliche Probleme und entwickeln ein ehrenwertes, gut funktionierendes, demokratisches politisches System. Die Frauen haben das Wahlrecht bekommen und erhalten einen eigenen Platz im politischen Leben“.106 Die ausdrückliche Erwähnung der Frauenrechte ist bemerkenswert, auf dem osmanisch geprägten Balkan mehr noch als sonst in den europäischen Bauerngesellschaften. Diese Vision erinnert stark an den kurz zuvor – 1920 – erschienenen utopischen Roman des Neo-Narodnik Alexander Tschajanow „Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie“.107 103 104 105 106 107
Bell 1977, S. 183, 195 Daskalov 2011, S. 113 Daskalov 2011, S. 113 Troebst 1987, S. 92; Bell 1977, S. 160 Tschajanow 1984
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Die Entsprechung ist so groß, dass man annehmen darf, Stambolijski hat das Büchlein gelesen. Hinter beiden stand ein politisches Programm. Der Staatsstreich am 9. Juni 1923 degradierte Stambolijskis Vision zur Utopie, ebenso wie Stalins Industrialisierung Tschajanows Ideen den Garaus machte. Die Landreform war die dringendste Aufgabe der Bauernregierung, denn zur ohnehin demografisch wachsenden Dorfarmut kamen Flüchtlinge aus jenen Gebieten, die nach dem Vertrag von Neuilly zu Jugoslawien und Griechenland geschlagen wurden. Ende 1920 registrierten die Behörden bei einer Gesamtbevölkerung von 5,2 Millionen 175.192 Flüchtlingsfamilien, mehr als eine halbe Million Menschen.108 Sie alle sollten Land erhalten, also musste das vorhandene besser verteilt werden. Nach intensiver öffentlicher Diskussion verabschiedete die Nationalversammlung am 25. April 1921 das „Gesetz über den Arbeitslandbesitz“. Es erhielt eine Mehrheit, obwohl die bürgerlichen Parteien es als Angriff auf das geheiligte Recht des Eigentums verdammten. Das Gesetz legte die obere Grenze des Arbeitseigentums einer Bauernfamilie auf 30 Hektar fest, was darüber war, sollte in den staatlichen Bodenfonds eingebracht und verteilt werden. Einzuziehen wären ebenso Waldbesitz oberhalb bestimmter Grenzen, Landbesitz in entlegenen Orten, der nicht selbst bearbeitet werde, Großgrundbesitz des Staates, der nicht ertragreich bewirtschaftet werde, Klosterländereien, die die Mönche nicht selbst bebauten. Die Enteignung erfolgte keineswegs entschädigungslos, sondern gegen den Durchschnittspreis der zehn Vorkriegsjahre, abgestuft von 90 Prozent für geringe Flächen bis auf 50 Prozent für ausgedehnten Großgrundbesitz. Die Bedürftigen sollten ihren Arbeitslandbesitz bis zur Größe von vier bis zehn Hektar nach Lage und Familiengröße für ein Fünftel des Vorkriegspreises in langfristigen Raten kaufen können. Natürlich gab es heftige Gegenwehr, Bestechungs- und Umgehungsversuche seitens der großen Landeigner, unter denen die orthodoxe Kirche und die Monarchie die größten waren. Bis zum Sturz der Bauernregierung konnten erst 81.000 Hektar von 230.000 erwarteten dem Bodenfonds zugeführt werden; 94.000 Familien erhielten daraus Land oder wurden auf Staatsland angesiedelt. Nach dem Sturz der Bauernregierung wurde die Reform beschnitten und gestoppt, ganz rückgängig machen ließ sie sich nicht.109 Mit einem weiteren Gesetz dehnte Stambolijskis Regierung die Umverteilung auf die Städte aus, um das Wohnungsproblem zu lösen, das ja ebenfalls mit dem Flüchtlingsstrom verbunden war. Familien sollten nur noch zwei Räume mit Küche bewohnen dürfen, zusätzlich einen Raum für je zwei halbwüchsige Kinder. Das versetzte die bürgerlichen Schichten in Aufruhr. Noch größer war das Geschrei über eine progressive Einkommenssteuer, die anstatt der bäuerlichen Bodensteuer erhoben werden sollte – zweifellos eine drastische Umverteilung der öffentlichen Lasten auf Kosten der bürgerlichen Schichten.110 Gleichermaßen attackiert fühlten sich die städtischen Eliten durch die allgemeine Arbeitsdienstpflicht. Das Gesetz vom Mai 1920 beabsichtigte, „in allen Bürgern ohne Ansehen ihrer sozialen und materiellen Lage die Hingabe für das allgemeine Wohl und die Liebe zur körper-
108 Crampton 2009, S. 99 f. 109 Wladigeroff 1930; Bell 1977, S. 162 – 167 110 Bell 1977, S. 167 f.
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lichen Arbeit zu wecken“.111 Die Bauernregierung wollte damit der Jugendarbeitslosigkeit und der Vernachlässigung öffentlicher Einrichtungen gleichermaßen abhelfen. Dieser Dienst fürs Vaterland sollte an Stelle der im Vertrag von Neuilly untersagten Wehrpflicht treten und im besten Sinne zur Schule der Nation werden. Männer ab 20 Jahre mussten ein Jahr und Frauen ab 16 Jahre sechs Monate dienen; zunächst erfolgte die Einberufung aber nur für wenige Wochen. Bei den Frauen waren mannigfaltige Ausnahmen für Verheiratete, Mütter und Mohammedanerinnen vorgesehen. Die Frauen leisteten weibliche Arbeiten, Nähen und Gartenbau, auch dies war schon ein unerhörter Schritt aus der patriarchalischen Dorfgemeinschaft. Alle erhielten staatspolitische Erziehung und Unterricht in Hygiene und Lebensfragen. Die Bataillons und Kompanien trugen Uniformen mit dem Emblem „Arbeit für Bulgarien“, im Sommer Leinenröcke und Strohhüte. Unter Anleitung zahlreicher Spezialisten bauten sie Straßen und Eisenbahntrassen, reparierten öffentliche Gebäude und schlugen Holz ein. Sie stellten in eigenen Werkstätten die benötigten Uniformen, Stiefel und Werkzeuge her, und erzeugten auf staatlichen Farmen die Lebensmittel für den Dienst. Die Besitzenden und Gebildeten empörten sich, weil ihre Söhne und Töchter Seite an Seite mit gewöhnlichen Bauern grobe körperliche Arbeit verrichten sollten. Sie wandten sich an die alliierte Kommission, die in Sofia die Einhaltung des Vertrags von Neuilly überwachte; die sah das Wehrpflichtverbot prompt umgangen. Stambolijskis Regierung beantragte daraufhin eine internationale Untersuchung, und das International Labour Office in Genf sandte 1922 den französischen Soziologen Max Lazard nach Bulgarien. Lazards Bericht rechtfertigte die Einrichtung vollkommen: „Wo immer Demokratie sich organisiert, ist die Notwendigkeit mehr oder weniger stark fühlbar nach dem bewussten Zusammenwirken der sozialen Einheiten zum Besten des Ganzen. Arbeitsdienstpflicht ist eine Methode unter vielen anderen, die Erziehung zur Solidarität in das nationale Leben zu inkorporieren“.112 Da hatte die alliierte Kontrollkommission schon eine Revision erzwungen, die den Freikauf gestattete. In dieser Gestalt blieb der Arbeitsdienst nach dem Sturz der Bauernregierung erhalten. Mit dem Genossenschaftswesen griff die Bauernregierung direkt in die Eigentumsrechte von Banken und großen Unternehmen ein. Die Bauernunion schuf ein nationales Netzwerk, und jedes ihrer Mitglieder musste Genossenschaftler werden. Genossenschaften waren neben dem Arbeitseigentum Kern des Agrarsozialismus. Es gibt keine Bauernbewegung ohne Genossenschaften, wie keine Arbeiterbewegung ohne Gewerkschaften sein kann. Die politische Druschba und die wirtschaftliche Genossenschaft sollten wie Bruder und Schwester sein, erklärte Stambolijski. Nationalbank, Landwirtschaftsbank und Genossenschaftsbank reichten bevorzugt und verbilligt Kredite an die Genossenschaften aus. Die Krönung war ein Getreidekonsortium, das den Genossenschaften das Getreide zu Höchstpreisen abkaufte, um es bei entsprechenden Weltmarktpreisen mit Gewinn zu exportieren. Die Gewinne flossen teils zurück an die Genossenschaften, teils in einen Fonds zur Verbesserung landwirtschaftlicher Ein-
111 Crampton 2009, S. 95 112 Lazard 1975, S. 117; Bell 1977, S. 171 – 176
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richtungen. Der Getreidehandel wurde Staatsmonopol. Massiver Protest der Getreidekaufleute und privaten Banken veranlasste die alliierte Kommission, das Konsortium aufzulösen, worauf die Regierung den genossenschaftlichen Getreidehandel dezentralisieren musste. Die Bauern protestierten landauf landab in Massenversammlungen gegen die Abschaffung des Getreidekonsortiums, mit dem Freihandel hatten die Spekulanten gesiegt. Die Regierung machte einen anderen Versuch mit dem Tabakmonopol und dem Aufkauf von Rosenöl, und scheiterte ebenso an der Kommission.113 Die alliierte Kommission, aus je einem britischen, französischen und italienischen Bevollmächtigten bestehend, unterhielt enge Beziehungen zu den Politikern der alten Parteien und zu den Sofioter Finanzkreisen. Sie war durchaus nicht der ehrliche Makler im Ringen zwischen der Stambolijski-Regierung und alten Eliten, wie Crampton und auch Bell uns glauben machen. Seit ihrem Eintreffen in Sofia Ende Februar 1921 übte sie massiven Druck auf Stambolijski aus, eine Koalition mit den alten Parteien einzugehen. Unnachgiebig die Zahlung der halbjährlich fälligen Reparationen von 45 Millionen Goldfrancs fordernd, hintertrieb sie das Reformwerk und die Handlungsfähigkeit der Regierung. Jedes Budget musste vorgelegt werden: Die Bodensteuern und die Verbrauchssteuern mussten erhöht, die Ausgaben für Soziales und für Bildung gekürzt werden. Warum so viele Meliorationen und Aufwendungen für Straßenbau und Kommunikation? Warum so viel Geld für Chinin, wo doch die Malaria auch in Italien ganz gewöhnlich sei? Warum eine landwirtschaftliche Fakultät, wo es doch bisher auch ohne ging? Warum so viel Geld für Bibliotheken, Museen, Schulen?114 Wie alle Sozialisten waren die Bauernpolitiker durchdrungen vom Aufklärungsglauben an die Macht der Erziehung. Auch sie wollten den Neuen Menschen, gebildet, kultiviert, und ihrer Ideologie ergeben. Bildungsminister Stojan Omarschewski gestaltete die Lehrpläne entsprechend. Naturwissenschaften, angewandte Agrar- und Technikwissenschaften, moderne Sprachen und Buchhaltung rückten ins Zentrum, die Religion geriet an den Rand. Beeindruckt von den Lehren des amerikanischen Pädagogen John Dewey – desselben, der Trotzkis Verteidigung betreiben sollte – suchte Stojan Omarschewski theoretische und praktische Ausbildung zu verschränken. Die Nationalversammlung verabschiedete ein Gesetz über die Kontrolle und Wahl der Lehrer von Elementarschulen und Progymnasien durch die Gemeinden. Damit gewannen die Druschbi die Herrschaft über das lokale Schulwesen – zum Leidwesen der Kirche wie der Kommunisten, die in der Lehrerschaft starken Anhang hatten. Die Bauernregierung führte ein dreijähriges Progymnasium ein, so die Schulpflicht auf sieben Jahre ausdehnend. Einheiten des Arbeitsdienstes errichteten die Gebäude. Mehr als 800 Progymnasien und 311 neue Elementarschulen entstanden während der Bauernherrschaft. Neue Pädagogische Institute in den ländlichen Zentren Ichtiman, Stara Sagora und Bjala Tscherkwa – nicht zufällig Lebensstationen von Stambolijski und Zerkowski – sorgten für den Lehrernachwuchs. Stambolijski schickte das Priesterseminar der Hauptstadt ins Rila-Kloster und wandelte das Gebäude in eine Landwirtschaftsschule um; den protestierenden Synod beschied er, dass es in den Bergen ja näher zu Gott sei. Die Universität Sofia, bisher ein Hort der alten Sprachen und der historischen Studien, deren Professoren sich im Nebenberuf gern in die Politik misch113 Bell 1977, S. 168 – 170; Petrova 1990, S. 39 – 43 114 Petrova 1990
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ten, sollte Fakultäten für Medizin, Tiermedizin und Landwirtschaft erhalten. Politiker wurden aus dem Lehramt entfernt.115 Die Stambolijski-Regierung suchte den territorialen Nationalismus, der auf „Rückeroberungen“ und „Wiedervereinigungen“ zielte, durch einen Kulturnationalismus zu ersetzen. Nicht vergangene Herrschaft, sondern kulturelle Größe sollte zur Grundlage des Nationalstolzes werden. Das ging nicht ohne Widersprüche ab. So ehrte die Regierung Iwan Wasow als nationalen Bauerndichter ungeachtet seiner antiserbischen und antigriechischen Prosa. Unverfänglich waren die Kyrill- und Method-Feiern, die das Bildungsministerium erstmals am 24. Mai 1921 als Volksfest der Schüler mit Trachten, Liedern und Rezitationen arrangierte. Die Bauernunion präsentierte die Slawenapostel als Stolz Bulgariens und sein Geschenk an die Brudervölker. Omarschewski bereicherte die nationale Traditionspflege außerdem um die Bogomilen, eine mittelalterliche Ketzerbewegung, die sich von Bulgarien über Europa verbreitet hatte.116 Die Bogomilen hatten Armut gepredigt und die Macht der Kirche abgelehnt. Die antiklerikalen, egalitären Agrarsozialisten sahen die asketischen Ketzer des Mittelalters als Brüder im Geiste. Omarschewski erklärte „die balkanische Eintracht und Verständigung“ zum Erziehungsideal. Die Balkanföderation, die Stambolijski seinem Volk in hunderten Reden als einigende Idee nahezubringen suchte, war auch die Leitidee der neuen Schule. Omarschewski verordnete dafür sogar das Unterrichtsfach Esperanto als künftige Gemeinschaftssprache der Föderation.117 Die Kunstsprache war in der internationalen sozialistischen Bewegung populär. Sie hatte den Vorteil, dass sie – anders als Englisch oder Französisch – keiner Großmacht Kulturhoheit verschaffte und keines der Balkanvölker privilegierte, weder die Slawen noch die romanischen Rumänen oder die Griechen. Als Omarschewski dann auch noch eine Modernisierung der bulgarischen Rechtschreibung verordnete, empörte sich das Bildungsbürgertum, und seine Bastionen Akademie und Universität sagten der Regierung den Kampf an. Stambolijski sandte seinen Minister in diplomatischer Mission nach Brasilien und trat in dieser Frage den Rückzug an.118 Auch für die Reformen in Bildung und Wissenschaft gilt: Gemessen an der kurzen Dauer der Bauernherrschaft, der eingeschränkten Souveränität unter Aufsicht der alliierten Kommission und der Feindseligkeit der alten Eliten leisteten die Männer um Stambolijski Beeindruckendes. Man wird ihrem Modernisierungswerk keine Zauderlichkeit vorwerfen können, wie Gerschenkron sie bei den bürgerlichen Kabinetten fand. Der Bauernmacht fehlte allerdings die Zeit, das Gesicht des bulgarischen Dorfes gründlich auf die Zukunft auszurichten.
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Bell 1977, S. 176 – 180 Weber 2006, S. 218 – 235 Weber 2006, S. 213 – 217 Bell 1977, S. 180 f.
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Außenpolitik Als Stambolijski die Regierung antrat, war Bulgarien ausgeplündert, gedemütigt und von feindlichen Nachbarn umringt. Er war zu einer radikalen Wende entschlossen, die er mit seinen Freunden im Gefängnis in den „Prinzipien der Bauernunion“ niederlegte: „Die Bauernunion ist für dauerhafte, friedliche, nachbarliche Beziehungen zwischen Bulgarien und den umliegenden Staaten. Sie wendet sich gegen alles, was von Bulgariens Seite einen bewaffneten Konflikt herbeiführen könnte. Ihre Anstrengungen richten sich auf die Stärkung der guten Beziehungen durch eine Union Bulgariens mit den anderen Balkanstaaten auf föderativer Basis“.119 In manchen Reden beschwor Stambolijski die Föderation als Bundesstaat nach dem Vorbild der USA, so wurde sie wohl auch den Esperanto büffelnden Schulkindern vorgestellt.120 Tagesaufgabe war das nicht. Sein unmittelbares Ziel waren freundliche Beziehungen zu den Nachbarn unabhängig von den Großmächten, deren Politik die Völker der Region in Sieger und Besiegte geschieden hatte. Sobald wie möglich legte Stambolijski die Zügel in die Hände seiner Freunde, ernannte den bewährten Alexander Dimitrow zu seinem Vertreter und machte sich auf eine hunderttägige Reise durch die Hauptstädte der Sieger. Ausgerechnet aus Belgrad hatte man ihm bedeutet, dass er nicht willkommen sei. Er wollte die Siegermächte von Bulgariens gutem Willen überzeugen und die kargen Versprechungen des Friedensvertrags einfordern: Zugang zu einem Hafen am Ägäischen Meer und Minderheitenschutz für die Bulgaren in den abgetrennten Gebieten.121 Die Aufzeichnungen Nadeshda Stantschowas, der Tochter des bulgarischen Botschafters in Großbritannien, berichten von der Reise. In einem eigenen Zug machte sich die Gesellschaft auf den Weg. Es muss spätestens Anfang September 1920 gewesen sein, denn in Genf stiegen die Briten Ramsay MacDonald und Tom Shaw und der Belgier Émile Vandervelde zu, die dort im August auf dem Kongress der Sozialistischen Internationale gewesen waren. Sie ließen sich ausführlich von den bulgarischen Reformen erzählen, besonders das Genossenschaftswesen interessierte Vandervelde, der sich selbst politisch und theoretisch gründlich damit auskannte.122 Großbritannien war der erfolgreichste Teil der Reise. Botschafter Stantschow und der Kaufmann Bourchier, ein guter Freund der Bulgaren, hatten den Boden bereitet. Der Empfang bei Außenminister Lord Curzon war kühl, er wollte von keinem Ägäis-Zugang wissen. Der Premier Lloyd George konterte Stambolijskis halbernstes Ansinnen, Makedonien zum Schutz der Minderheiten unter britisches Mandat zu stellen, mit dem Gegenvorschlag, Bulgarien möge Irland beaufsichtigen. Er versprach aber, sich für Bulgariens Aufnahme in den Völkerbund einzusetzen.123 Sein Wort galt, Bulgarien wurde ein Jahr später als erstes besieg-
119 120 121 122 123
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Zitiert: Bell 1977, S. 185 Crampton 2009, S. 106 f. Bell 1977, S. 189 f.; Holy 2002, S. 62 Muir 1957, S. 219; Braunthal 1978b, S. 177 – 179; Vandervelde 1974 Bourchier 1920; Muir 1957, S. 220 – 228
tes Land in den Bund aufgenommen und gewann so ein wenig Schutz gegen Siegerwillkür. Stambolijski fuhr mit den Seinen durch England und Schottland, traf Geschäftsleute, besichtigte Städte, Industrieunternehmen und Hochschulen. In abendlicher Runde äußerte er: „Wir Balkanvölker – und ich schließe Rumänien ein – können nachahmen, was in Rom, Brüssel, Paris geschieht, aber London ist ein Mysterium, das niemand von uns jemals verstehen kann, nur studieren, beobachten, bewundern“.124 Mit Sympathie beobachtete die Dolmetscherin Nadeshda Stantschowa den Staatschef, der auf dem fremden diplomatischen Parkett im engen Gesellschaftsanzug wie ein ungelenker Bär wirkte. Stambolijski war während des Gefängnisaufenthalts dick geworden. Doch er war humorvoll, charmant, leidenschaftlich. Während seiner Zeit als Staatsmann liebten ihn die Frauen, und er liebte das Theater und die Schauspielerinnen. Seine Feinde nutzten dies weidlich, um ihn zu verunglimpfen.125 Ein Londoner Gesprächspartner urteilte: „Er hatte alle Vorzüge des Bulgaren, aber nicht alle Fehler desselben. Von massiger Statur, breitschultrig, mit ungehobelten Bewegungen und heftiger Redeweise, beeindruckte er jedermann mit seiner Energie, seiner Ernsthaftigkeit und seiner Furchtlosigkeit. Sein großes, dunkles Gesicht unter den dichten schwarzen Haaren mit dem hoch gezwirbelten Schnurrbart verlieh seiner Erscheinung eine gewisse Wildheit. Es war ein streitlustiges Funkeln in seinen Augen, eine tiefe Stirnfurche und eine durchaus fein geschnittene Nase zwischen ihnen. Seine Offenheit war erfrischend in einem Land, wo dies die seltenste aller Eigenschaften ist“.126 Paris war eine eher unerquickliche Station der Reise, mit frostigen, kurzen Gesprächen. Das Zusammentreffen mit den fast erwachsenen Kindern war der einzige Lichtblick. Dann ging es nach Prag, wo die mitteleuropäischen Unzuträglichkeiten – langsame Züge, flackerndes Licht, schlechte Heizung – dem Englandreisenden fast so sehr auf die Nerven gingen wie der allgegenwärtige Nationalismus. Er sprach mit Tomáš Masaryk und Edvard Beneš russisch, also ohne Nadeshda Stantschowa. Sie sprachen über die „kleine Entente“, das Bündnis der Tschechoslowakei, Jugoslawiens und Rumäniens, von dem Stambolijski zu Recht argwöhnte, dass es gegen alle Länder gerichtet sei, die eine Revision der Pariser Verträge anstrebten. Die beiden Tschechen sagten aber zu, die Bemühungen um Annäherung an die Nachbarn zu unterstützen und verwandten sich tatsächlich in Belgrad für das slawische Bruderland.127 Enthusiastisch wurde Stambolijski von Antonín Švehla empfangen, dem Vorsitzenden der mächtigen tschechischen Bauernpartei und späterem Ministerpräsidenten. Ihm trug er seinen langgehegten Plan einer Grünen Internationale vor, und er konnte sein Gegenüber begeistern. Beide entwickelten den Plan eines Internationalen Agrarbüros mit Sitz in Prag, das die Koordination übernehmen sollte. Beflügelt fuhr er weiter nach Polen, wo er in Warschau und Zakopane den Bauernführer und Ministerpräsidenten Wincenty Witos traf. Auch ihn überzeugte 124 125 126 127
Zitiert: Muir 1957, S. 221 Bell 1977, S. 156 f. Zitiert: Crampton 2009, S. 35 f. Muir 1957, S. 232; Troebst 1987, S. 32 f.; Holy 2002, S. 69 f.
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er von der Grünen Internationale. Das unfreundliche Bukarest als letzte Station konnte ihm den Erfolg seiner Reise nicht trüben; von der Grenzstadt Ruse bis nach Sofia berichtete er auf Massenkundgebungen, dass Bulgarien nun in West- und Osteuropa als friedliebend anerkannt und die Bauernmacht überall im Wachsen sei. Der Kongress der Bauernunion stimmte der Gründung der Grünen Internationale begeistert zu.128 Im Frühjahr 1921 reiste Alexander Dimitrow nach Prag und Warschau, um das Unternehmen voran zu treiben, dafür hatte er 300.000 Lewa für die Partei von Witos im Gepäck. Das Prager Internationale Agrarbüro wurde zwar 1921 gegründet, aber der Zusammenschluss krankte an auseinander strebenden Interessen. Die Prager sahen die Bauerninternationale als ein weiteres Instrument ihres Slawismus, ihres Strebens nach Dominanz im slawischen Zwischeneuropa; die Rumänen waren eben deshalb abgestoßen.129 Witos missfiel Stambolijskis selbstherrliches Auftreten und der Kult um dessen Person, den er bei einem Gegenbesuch bei der bulgarischen Bauernunion im Mai 1922 bemerkte. Der polnische Bauernführer wollte die Bauerninternationale nicht unter bulgarischer Dominanz sehen, den Zusammenschluss jedoch ganz gegen Sowjetrussland ausrichten.130 Das war nicht im Sinne von Stambolijski, er verteidigte die Bauernsache gleichermaßen gegen weiße und rote Übergriffe. Im April 1921 zitierte ihn die New York Times: „Ich zweifle nicht, dass unsere Grüne Internationale Russland schließlich von den Sowjets befreien wird. Zumindest ist vorgesehen, die Bauern anderswo von den ungerechten Beschränkungen zu befreien, die ihnen von Industriellen und Kapitalisten aufgebürdet wurden, die nichts von der Landwirtschaft verstehen, und beiden klar zu machen, dass der Bauer ebenso notwendig für das Leben des Landes ist, wie die Wanderarbeiter, die Fabrikarbeiter oder die Eisenbahnarbeiter“.131 Eine Annäherung an die Sowjetunion brachte die Konferenz in Genua im April/Mai 1922. Stambolijski sah Lenins Land seit der bauernfreundlichen Kehrtwende der Neuen Ökonomischen Politik in milderem Licht. Mit Christian Rakowski, dem gebürtigen Bulgaren, sprachen Stambolijski und Turlakow über die Wrangel-Armee. Nach dem Scheitern der Intervention hatten die Alliierten diese Weißgardisten nach Bulgarien evakuiert, wo sie 15.000 Mann stark in Waffen standen, eine Macht im demilitarisierten Land, noch dazu in freundlichem Kontakt mit den murrenden bulgarischen Offizieren. Rakowski kam mit den Bulgaren überein, dass diese Armee entwaffnet und möglichst repatriiert werden sollte. So geschah es. Ein Teil, wohl Anhänger der Sozialrevolutionäre, ging zur Bauernunion über und siedelte sich in Bulgarien an.132 In Genua war Stambolijski mit Asen, die Reise nimmt entsprechend Raum im Erinnerungsbuch des Sohnes ein. Ein Foto zeigt ihn gemeinsam mit dem Vater und Iwan Bojadshiew, dem 128 129 130 131 132
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Muir 1957, S. 231 – 233; Hodza 1995, S. 170, 176; Bell 1977, S. 192 Bell 1977, S. 192 f. Nach Mitteilungen von Roman Holec: Witos, Borkowski 1989, S. 162 Zitiert: Stavrianos 1958, S. 648 Bell 1977, S. 195 – 197; Spasov 2008, S. 84 – 100
Sohn eines Bauernpolitikers, der mit Stambolijski im Gefängnis gesessen hatte. Iwan wurde Stambolijskis Schwiegersohn. Das Hochzeitsfoto von Nadeshda und Iwan zeigt die große Festversammlung in städtischer Kleidung – keine Trachten, keine Folklore – auf einer Wiese in Slawowiza sitzend – noch einmal ein Augenblick des Glücks.133 Stambolijski hatte in Genua zunächst ergebnislos die Lockerung der Reparationsverpflichtungen verfolgt. Im März 1923 erreichte er sie endlich. Im Vertrag von Neuilly waren 2,25 Milliarden Goldfrancs gefordert, die das Land nie und nimmer zahlen konnte. Mussolini-Italien drohte deshalb mit Beschlagnahme von Hafenzöllen und Kohlengruben. Stambolijskis britische Beziehungen halfen zu einer Neuregelung, zugleich eine Minderung und Streckung. Frankreich akzeptierte murrend, Italien zähneknirschend.134 Wenig erreichte Stambolijski in Genua gegenüber Jugoslawien. Die Aussöhnung mit Jugoslawien war lebenswichtig für Bulgarien, sie war nach zwei bulgarischen Angriffskriegen und den Kriegsverbrechen in Serbien ähnlich schwierig, wie zwischen Frankreich und Deutschland. Auf dem Weg zwischen Sofia und Belgrad lag Makedonien. Es nützte nichts, dass Stambolijski öffentlich auf Makedonien Verzicht tat, solange die Makedonische Befreiungsorganisation einen Bandenkrieg im jugoslawischen Grenzgebiet führte. Diese Geste zog ihm den Hass der nationalistischen Oberschicht, der Offizierskaste und besonders natürlich der Exilmakedonier zu. Die beiden Makedonierführer Todor Aleksandrow und Alexander Protogerow, die Stambolijski bei Regierungsantritt wegen ihrer Kriegsverbrechen in Serbien verhaften ließ, waren von befreundeten Offizieren freigelassen worden. Das Offizierskorps war der Bauernregierung großenteils feindlich gesinnt. General Protogerow hatte bei Kriegsende große Mengen Waffen und militärisches Material ins Pirin-Gebiet geschafft, den letzten Zipfel Makedoniens, der Bulgarien geblieben war. Beide rekrutierten nun in den dortigen Flüchtlingslagern ihre erneuerte Makedonische Befreiungsorganisation. Sie errichteten einen Staat im Staate. Jugoslawien drohte wegen dieser ständigen Übergriffe gemeinsam mit Griechenland und Rumänien, Bulgarien zu besetzen, weil es den Vertrag von Neuilly verletze. Nur mit Hilfe des Völkerbunds gelang es Stambolijski, die Intervention abzuwenden.135 Stambolijski übertrug seinem getreuen Alexander Dimitrow das Kriegsministerium und die Bekämpfung der makedonischen Banden. Der entfernte die Sympathisanten der Makedonier aus Armee, Polizei und allen Ämtern und stellte loyale Truppen gegen die Basen im Pirin-Gebiet auf. Dort lauerten ihm die Banditen am 22. Oktober 1921 während einer Inspektionsreise auf. Sie erschossen ihn und seine Begleiter und zerhackten sie mit Bajonetten. Doch es war Dimitrow gelungen, den Bandenkrieg einzudämmen, die Führer verschwanden im Untergrund. Stambolijski konnte endlich nach Belgrad reisen und die Aussöhnung einleiten. In Niš unterzeichnete er am 23. März 1923 einen Vertrag mit Jugoslawien über gemeinsame Bandenbekämpfung im Grenzgebiet. Zurückgekehrt führte er einen weiteren Schlag gegen die militanten Makedonier: alle ihre Organisationen wurde für illegal erklärt und ihre Publikationen verboten.136
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Stambolijski 1934, S. 18, 29 Troebst 1987, S. 39 – 41; Crampton 2009, S. 98 – 101 Troebst 1987, S. 37, 88 – 94; Hatschikjan 1988, S. 25 Bell 1977, S. 200 – 207; Crampton 2009, S. 107 – 109
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Außenpolitisch brachte Stambolijskis Regierung also Erstaunliches zuwege: Aufnahme in den Völkerbund, Stiftung der Grünen Internationale, Minderung der Reparationen, beginnende Aussöhnung mit Jugoslawien. Dies gelang, obwohl das neue Bulgarien von aggressiven Nationalismen umstellt war, die solche Politik möglichst vereitelten und höchstens im eigenen Interesse honorierten. Man vergleiche Stambolijskis Erfolge mit der Regierung des Polen Piłsudski, der es nach seinem Regierungsantritt binnen Kurzem schaffte, dass sein Land von Feinden umzingelt war. Und doch hoben Zeitgenossen und Historiker Piłsudski als Held auf den Schild und verdammten Stambolijski als Verräter.
Der Sturz Das Ende kam vorbereitet und unverhofft. Die Ermordung Alexander Dimitrows war ein grausiges Zeichen gewesen. Seit dem Frühjahr 1922 formierten sich die Oppositionsparteien in einem „Verfassungsblock“, der eng mit dem Bund der Reserveoffiziere zusammenarbeitete. Sehr viele Offiziere hatten mit der Demilitarisierung des Landes Status und Existenz verloren. Die Makedonische Befreiungsorganisation schloss sich im Sommer 1922 an. Kirche, Universität und Hochfinanz standen dahinter, Zar Boris abwartend beiseite. Das beschworene Vorbild war Mussolini-Italien, eine faschistische Herrschaft das Ziel. Der Block stellte militante Jugendorganisationen auf und wirkte mit Propaganda in die Öffentlichkeit. Seitdem Aleksandrows und Protogerows „Revolutionäre Makedonische Befreiungsorganisation“ Anlehnung an die Sowjetunion suchte, reihten auch die Kommunisten sich in diese Einheitsfront ein.137 Waren sie von der verhängnisvollen Neigung getrieben, noch die dubioseste nationalistische Fronde als revolutionäre Emanzipationsbewegung zu begrüßen? Oder bestimmte schon die Kommunistische Internationale diese Linie nach Stalins außenpolitischen Vorgaben? Am 17. September 1922 kam es in der alten Hauptstadt Tarnowo, wo der Block eine Massenkundgebung organisierte, zu einem ersten Zusammenstoß. Die Bauernunion hatte am selben Ort Kongresse der Rübenzüchter und der Kriegsinvaliden einberufen. Der Block hatte eine Reihe von Massenkundgebungen organisiert, die in einen Marsch auf Sofia münden sollten – nach dem Vorbild von Mussolinis Marsch auf Rom. Der Sturz der Bauernregierung sollte das Ergebnis sein. Die Bauern verhinderten schon das Treffen in Tarnowo, sie stoppten den Zug und zerrten die Oppositionspolitiker heraus. Die Anführer wurden festgenommen, darunter Minister von Kriegskabinetten. Ein Referendum im November, bei dem Bauernunion und Kommunisten endlich einmal zusammengingen, forderte ein öffentliches Gerichtsverfahren. Im Oktober beschloss der Kongress der Bauernunion die Bildung der paramilitärischen Orangen Garde zum Schutz der Bauernmacht – also erst als Antwort auf den versuchten Umsturz und nicht schon 1919, wie in der Literatur vielfach zu lesen ist. Raiko Daskalow, der meistgehasste Mann in Opposition und Kommission, wurde ihr Kommandeur. Natürlich verlangte die alliierte Kommission unverzüglich die Auflösung der Garde, weil sie gegen den Vertrag
137 Troebst 1987, S. 94 – 103; Hatschikjan 1988, S. 27 – 29
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von Neuilly verstieße. Die internationale Presse beschuldigte die Stambolijski-Regierung nun im Chor mit der Opposition des Bolschewismus.138 Die Angriffe mehrten sich, gerade weil Stambolijski in der Reparationsfrage und in den Beziehungen zu Jugoslawien so erfolgreich war. Ein Attentat auf Stambolijski im Theater schlug fehl. Stambolijski versuchte einen Befreiungsschlag mit Neuwahlen im April und gewann 212 von 245 Sitzen; 16 gingen an die Kommunisten, die Sozialisten waren mit zwei Mandaten zur Splitterpartei geschrumpft. Dahinter standen allerdings nur 54 Prozent der Stimmen für die Bauernunion – Stambolijski hatte das Mehrheitswahlrecht wieder eingeführt. In der neuen Regierung saß der Nachwuchs der Bauernpartei, niemand aus der alten Garde. Daskalow war auf Druck der Kommission als Generalbevollmächtigter zur Grünen Internationale nach Prag gesandt worden. Turlakow und andere langjährige Gefährten fehlten. Bell meint, dass einige sich anlässlich des Attentats als Verräter gezeigt hätten. Petrova schreibt, dass sich nun ein rechter, bürgerlichen Koalitionen nicht abgeneigter Flügel bildete. Stambolijski ließ sich nicht beirren, er bereitete die nächste Runde innerer Reformen vor, und seine Gegner befürchteten Einschränkungen ihrer verfassungsmäßigen Rechte. Der vielbeschworene Raum der Verfassung von Tarnowo war ausgeschritten, der Machtkampf ging nun um Revolution oder Restauration. Der „Verfassungsblock“ und seine Verbündeten hatten mit Morden und Attentaten den Boden des Rechts verlassen, und die Bauernunion war zur Gegenwehr entschlossen, wie das Referendum über die Verurteilung der Kriegsschuldigen und die Bildung der Orangen Garde zeigten.139 Doch es blieb keine Zeit für politische Auseinandersetzungen. Am 9. Juni 1923 putschten Reserveoffiziere, die Banden der Makedonischen Befreiungsfront und Teile von Armee und Polizei gegen die entwaffnete Bauernmacht. Alliierte Kommission und Zar sahen zu, eher beifällig als gleichgültig. Stambolijski hielt sich in seinem Haus in Slawowiza auf und versuchte, mit seiner Leibwache und den Bauern der Umgebung die Putschisten aus Pasardschik zu vertreiben. Das misslang. Er ging mit seinem Bruder Wasil in die Berge, aber in Wetren, wo er einst als Lehrer begonnen hatte, wurden beide von einer Makedonierabteilung gefangen und gefoltert. Sie schlugen Stambolijski die Hand ab, „die den Vertrag von Niš unterzeichnete“, und auch die Finger der anderen Hand. Vielfach von Bajonetten durchbohrt starb Stambolijski am 14. Juni 1923. Sein Kopf war die Trophäe der Putschisten.140 Sein Bruder starb mit ihm. Binnen einer Woche war der Widerstand der Bauern niedergeschlagen, die Führer verhaftet, gefoltert, ermordet. Es hatte Verräter in den eigenen Reihen gegeben, doch die meisten kämpften heldenhaft. Zanko Bakalow-Zerkowski starb 1926 an den Folgen der Gefängnishaft. Raiko Daskalow versuchte in Prag eine Exilorganisation aufzubauen und wurde im August von einem Agenten der Makedonierorganisation erschossen.141 Warum dieser blanke Hass, diese grässliche Brutalität? Die moderaten Reformen der Bauernregierung – die Landreform mit Entschädigung, die Einkommenssteuer bis zu 35 Prozent, die überfällige Rechtschreibreform – erklären nichts. Es war sozialer Hass, Kulturkampf, wie Bell es nennt, oder 138 139 140 141
Petrova 1990, S. 49 – 53; Crampton 2009, S. 119 – 121 Petrova 1990, S. 54 f. Bell 1977, S. 208 – 241; Bell 1996; Troebst 1987, S. 99 – 103 Tishev 2010
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altmodisch ausgedrückt: Klassenkampf.142 Die bourgeoisen Schichten steigerten sich in ein Gefühl existentieller Bedrohung, und sie nutzten den Nationalismus zur Mobilisierung und als moralischen Schild. Die Weltöffentlichkeit stöhnte kurz auf und erkannte das Regime an.143 Etliche bulgarische Sozialisten dienten sich den neuen Herren an und übernahmen Ministerposten. Erschüttert erinnerte sich Émile Vandervelde seiner Gespräche mit Stambolijski auf der Rückreise vom Sozialistenkongress 1920. Als Vorsitzender des Exekutivkomitees der Sozialistischen Internationale fuhr er Anfang 1924 nach Bulgarien und berief für den März eine Balkankonferenz der sozialistischen Parteien nach Bukarest ein. Dort wurde das Geschehene zwar bedauert, die bulgarische Sozialistische Partei aber von jeder Verantwortung freigesprochen.144 Der Bruder des neuen Ministerpräsidenten, Asen Zankow, erhielt in den „Sozialistischen Monatsheften“ Gelegenheit zu einer Reinwaschung seiner Partei.145 – In einem letzten Brief Sakasows an Karl und Luise Kautsky vom Jahresbeginn 1929 mag Einsicht aufscheinen, wenn er beklagt, dass die Sozialisten keine Politik gefunden hätten, die der armen Bauernschaft verständlich gewesen wäre.146 Unter den Kommunisten hatte der Sturz der Bauernregierung ein tragisches Nachspiel. Die bulgarische Kommunistische Partei war der Bauernmacht nicht zur Hilfe gekommen. Sie erklärte sich für neutral, weil sie den Putsch als einen „Kampf der Stadtbourgeoisie gegen die Dorfbourgeoisie“ interpretierte. Auf der Tagung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale in Moskau erntete sie deshalb harsche Kritik. Zu dieser Zeit wogte in Moskau der Kampf zwischen den Industrialisierern um Trotzki und den Bauernfreunden um Bucharin. Auf Stalins Geheiß lobte Sinowjew, der noch vor kurzem Hohn und Spott über Stambolijskis Bemühungen um die Grüne Internationale ausgegossen hatte, nun dessen Regierung und forderte von den Bulgaren, der Bauernmacht beizustehen, wie einst Lenin der Regierung des Sozialrevolutionärs Kerenski gegen den Kornilow-Putsch hätte beispringen wollen. Noch einmal eine Revolution als Kostümstück? Die bulgarische Partei sträubte sich, schritt aber im September unter Führung von Wasil Kolarow und Georgi Dimitrow tatsächlich zum Aufstand. Viele Bauern schlossen sich noch einmal an. Die Opfer waren entsetzlich. Der Putsch und die nachfolgenden Kämpfe forderten schätzungsweise 16.000 Opfer unter Bauern und Kommunisten. Nach der bulgarischen Niederlage ging Sinowjew an die Gründung einer eigenen Bauerninternationale, der „Krestintern“. Auf der Tagung der Kommunistischen Internationale im Oktober 1923 trat sie ins Leben, von 1928 bis zu ihrem Ende 1939 hatte der Führer des Septemberaufstands Wasil Kolarow den Vorsitz.147 Mit Stalins gewaltsamer Kollektivierung der Landwirtschaft wurde die Krestintern unglaubwürdig und verlor international an Einfluss. Georgi Dimitrow, der andere Aufstandsführer des September 1923, trug die Lehre der bulgarischen Niederlage, dass Arbeiter und Bauern nicht Rivalen, sondern Schicksalsge142 143 144 145 146 147
198
Bell 1996, S. 41 Bell 1977, S. 242 – 245; Jackson 1966, S. 52 – 64; Tishev 1966, S. 22 – 28 Vandervelde 1925; Braunthal 1978b, S. 312 f. Zankow 1924 Kautsky 1986b, S. 183 Jackson 1966, S. 65 – 77; Rosmer 1989, S. 197 – 202
nossen seien, in die kommunistische Bewegung. Er hatte sich an der Spitze von rund tausend Geschlagenen auf jugoslawisches Territorium retten können. Nach seinem Triumph über Göring im Berliner Reichstagsbrandprozess wurde er Führer der Kommunistischen Internationale. Gegen Stalin gelang es ihm auf deren Kongress in Moskau 1935, das Steuer herumzureißen und die Kommunisten zur Volksfrontpolitik gegen den Faschismus zu bewegen. So berichtet es der Augenzeuge des Kongresses, der österreichische Kommunist Ernst Fischer, der die Hintergründe aus langjähriger Zusammenarbeit mit Georgi Dimitrow kannte.148 Stambolijskis letzter Landwirtschaftsminister Alexander Obbow, der 17.000 Bauern gegen Plewen geführt hatte und nach Rumänien entkommen konnte, berichtete im Herbst in Prag vor dem Kongress der Grünen Internationale über das Geschehen.149 Eine solidarische Aktion der dort versammelten Bauernparteien folgte nicht. Erst nach der bulgarischen Tragödie fand die Grüne Internationale wirklich zusammen. Dies geschah auf der Basis eines Dritten Weges bäuerlicher Marktwirtschaft, der sich gegen sowjetische Kollektivierungen abgrenzte, sich im Laufe der dreißiger Jahre aber nach rechts zu faschistischen Strömungen öffnete.150 Die slawische Agrarjugend, die sich 1924 im slowenischen Ljubljana zu einem Bund zusammenschloss, ehrte das Andenken Stambolijskis und seines Mitstreiters Raiko Daskalow, der in Prag beerdigt war.151 Politiker der Agrarparteien wie Milan Hodža distanzierten sich bald von der „harten Klassenpolitik“, die Stambolijskis Bauernrepublik betrieb.152 Mit Alexander Stambolijski hatte nicht nur der Agrarsozialismus eine Niederlage erlitten, es ging nun mit der politischen Rolle der Bauern allgemein bergab. Die herrschenden Bauernparteien im Ostmitteleuropa der Zwischenkriegszeit entwickelten sich zu nationalistischen Volksparteien und trugen autoritäre Regimes. Als antisowjetisches Sammelbecken wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg ärgste Rivalen der Kommunisten; deren Umarmung erdrückte sie.153 In Bulgarien kehrte der ehemalige Komintern-Präsident Georgi Dimitrow nach dem Zweiten Weltkrieg die Bauernunion mit eisernem Besen aus. Der Vorsitzende, sein Namensvetter, floh 1945 ins amerikanische Exil, während der Bauernführer Nikola Petkov nach einem Schauprozess 1947 hingerichtet wurde.154 Doch nach der klugen These von Nigel Swain machten die Kommunistischen Parteien im östlichen Europa Bauernpolitik ohne Bauernparteien, auch sie pflügten gewissermaßen mit dem Kalb der Opposition, wie einst Stalin in der Industrialisierung. Die Produktionsgenossenschaften glichen dem stalinistischen Modell nicht völlig, sie bewahrten in den verschiedenen osteuropäischen Ländern in unterschiedlichem Maße Elemente des bäuerlichen Arbeitseigentums und der Familienwirtschaft; als Kern der bäuerlichen Landwirtschaft waren sie nach Karl Kautskys und Lenins Muster aufgehoben. Die Kommunisten modernisierten Lebens- und Arbeitsweise des bulgarischen Dorfes.155 So erfüllte sich 148 149 150 151 152 153 154 155
Fischer 1987, S. 324 – 326; siehe McLoughlin et al. 2009, S. 346 f. Obboff 1923 Holec 2010, S. 49 – 53 Holec 2013 Hodža 1995, S. 170 – 76 Harre 2010; Swain 2010; Tishev 1966, S. 82 – 100 Swain 2010, S. 169; Dimitrov 2008, S. 162 – 172 Swain 2010, S. 171 – 174
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Alexander Stambolijskis Zukunftsvision der Bauernherrschaft nicht, aber in mancherlei Hinsicht wurde das Leben leichter und reicher. Das Land, das Gerschenkron so heillos rückständig sah, entwickelte für einige Jahrzehnte eine beeindruckende Wachstumsdynamik – bis es wieder in die europäische Peripherie zurücksank.156
156 Dimitrov 2004, S. 69 – 92; Berend 2001
200
Wladimir Medem
Wladimir Medem (1879 – 1923) Auf der jüdischen Gasse Als „Legende der jüdischen Arbeiterbewegung“ erinnert der Grabstein in New York an ihn, und in der Zwischenkriegszeit hing sein Porträt neben dem von Karl Marx in jüdischen Gewerkschaftshäusern.1 Heute ist Wladimir Medem fast vergessen, wie auch der „Allgemeine jüdische Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland“, kurz Bund genannt, dem er sein Leben widmete. Einst, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war der Bund die stärkste Arbeiterpartei im Zarenreich, zahlreicher als Lenins Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei und auch als die sozialistischen Parteien Polens. Nun ist er aus der Geschichte verschwunden. Hinreichend aber nicht vollständig erklärt wird dies durch den deutschen Völkermord, der die Welt des osteuropäischen Stetl auslöschte.2 Wer sollte sich am hundertsten Jahrestag seiner Gründung im September 1997 des Bundes erinnern, wenn nicht ein Häuflein weißhaariger Veteranen in einer New Yorker Synagoge und eine Handvoll Spezialisten auf einer Warschauer
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Medem, Portnoy 1979, siehe Abb. n. 566 Bauer 2009
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Tagung? Ganz anders wurde das Jubiläum des wenige Wochen später entstandenen Zionistischen Weltbundes begangen, denn der Zionismus ist der Gründungsmythos des Staates Israel und sammelt hinter sich alle Kraft eines nationalen kulturellen Gedächtnisses.3 Wladimir Medem verdient das Vergessen nicht, ebenso wenig wie die jüdische Arbeiterbewegung. Sie leistete ihren besonderen Beitrag zum europäischen Sozialismus in der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Nation, Staat und Revolution. Der revolutionäre Sozialismus des Bundes gab den ostjüdischen Arbeitern Hoffnung und Identität, auch in Konkurrenz mit dem sozialistischen Zionismus, der angesichts des Antisemitismus der Staatsvölker anschwoll. Der Bund wollte den Weg des Zusammenlebens von ostjüdischem Volk und Staatsvölkern gehen. Denn die Juden waren keine gewöhnliche Nation, fraglos sich selbst und den Nachbarn, wie die Polen. Die Theorie dazu – „Neutralismus“ und die „national-kulturelle Autonomie“ – lieferte nach austromarxistischem Vorbild Wladimir Medem. Die Quellen- und Literaturbasis dieser Studie ist unsicherer als bei den voraufgegangenen. Da die Veröffentlichungen des Bundes durchweg in jiddischer Sprache und also in hebräischer Schrift erschienen sind, verschließen sie sich dem nicht speziell Gebildeten. Das betrifft eine 1943 in New York erschienene Gedenkschrift für Medem ebenso wie die Lebenserinnerungen seiner Frau Gina.4 Wenig ist übersetzt, darunter glücklicherweise die Autobiografie Medems, die mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Niederschrift ins Englische übertragen wurde.5 Und neben der zionistischen Geschichtsschreibung, die den Bund nur so weit gelten lässt, wie er sich auf den Zionismus zubewegte,6 gibt es in den USA, in Israel und Europa eine Reihe unabhängiger Forschungen zum Bund und zur jüdischen Arbeiterbewegung im Allgemeinen, in denen Medem natürlich eine Rolle spielt. So tritt seine Gestalt inmitten seiner Gefährten schließlich doch deutlich genug aus dem Nebel der Überlieferung heraus. Zunächst soll jedoch erzählt werden, wie sich die jüdischen Sozialisten formierten, denn dies geschah, bevor Wladimir Medem kam, und ohne diese Vorgeschichte ist Wladimir Medem nicht verständlich.
Die Wilna-Gruppe Die litauische Hauptstadt Wilna (Vilnius), mit Berufung auf Napoleon „Jerusalem des Nordens“ genannt, war die Wiege der jüdischen Arbeiterbewegung, wie sie eine Wiege der polnischen war. Piłsudskis geliebter polnischer Osten war zugleich die Heimat der jüdischen Sozialisten, ihr Wilna-Minsker jiddisches Vaterland, wie die großrussischen Genossen spotteten. Wilna und Minsk waren die Zentren des „Ansiedlungsrayons“, den schon Zarin Katharina II. den Juden zugewiesen hatte. Er umfasste die litauischen, weißrussischen und ukrainischen Gouvernements des Reiches, ergänzt durch das Königreich Polen. Der Siedlungsraum 3 4 5 6
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Brumberg 1999; Jacobs 2001 Vladimir Medem, 1943 Medem, Portnoy 1979 Gorny 2006, S. 1 – 15
wurde weiter eingeschränkt durch die Maigesetze des Jahres 1882, nun war den Juden auch die Niederlassung in Dörfern verboten. Vorgeblich erlassen, um sie vor Übergriffen der Bauern zu schützen, verstärkten die Einschränkungen die traumatische Wirkung der Pogrome von 1881. Antisemitische Gerüchte, die etwa die Urheberschaft der Juden an dem Attentat auf Alexander II. behaupteten, hatten diese Pogrome im ukrainischen Süden des Ansiedlungsrayons geschürt. Die Bauern verehrten den Reformzaren, der die Leibeigenschaft aufgehoben hatte. Polizei und Militär schauten dem Pogrom tagelang zu, bevor sie eingriffen. Bis 1917 flackerten Pogrome immer wieder auf, besonders um die orthodoxen Ostern, wenn Ritualmordanklagen gegen Juden erhoben wurden.7 Während die westeuropäischen Juden durch die Emanzipation der napoleonischen Ära geprägt waren, lebten die russischen Juden unter der Drohung der Pogrome und der staatlichen Repression.8 Doch der Schrecken von 1881 ergriff auch die Judenheit außerhalb des Zarenreiches und bereitete dem Zionismus den Weg. Obwohl nach den Pogromen etwa eine Million Juden aus Russland nach Amerika flohen, drängten sie sich im Ansiedlungsrayon in zunehmender Enge.9 Ihre Sterblichkeit war auf Grund der rituellen Nahrungs- und Reinigungsgebote geringer als die der übrigen Bevölkerung. Die Juden machten mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung Weißrusslands und Litauens aus, sie waren dort weit zahlreicher als Polen und Russen. Das Elend war unbeschreiblich. Nur am Rande und außerhalb des Ansiedlungsrayons, in Warschau, Lodz, Białystok und Odessa, entwickelte sich Industrie. Juden fanden in den großen Fabriken schon wegen der Schabbat-Ruhe keine Arbeit. So blieben nur die jüdischen Werkstätten, wo die Zwischenmeister oft so arm wie ihre Arbeiter waren. Die Handwerkerdichte im Verhältnis zur Bevölkerung war in den Städten des Ansiedlungsrayons sechsmal so hoch wie in deutschen Städten.10 Arbeitslosigkeit und bittere Not waren die Folge. Von „Luftmenschen“ war die Rede, ohne jede reale Grundlage ihr Dasein von der bloßen Luft fristend.11 Der Bürgersohn Wladimir Medem schildert, wie unangenehm ihm die Armseligkeit und Unkultur jüdischer Großfamilien war. Er kam erstmals 1901 auf seiner Flucht aus Russland mit ihnen in enge Gemeinschaft, als er mehrere Tage in billigen Herbergen und überfüllten Waggons mit ihnen reisen musste. Die Reisegefährten wollten sämtlich nach Amerika, wie Joseph Roths „Hiob“ Mendel Singer. Nur als Vertriebenem und Unbehaustem schien Medem im Rückblick selbst das Kerzenlicht der ärmlichen jüdischen Gassen von Minsk am Freitagabend heimelig.12 Um solche Armut als pittoreske Stetl-Kultur zu verklären, braucht es eine ziemliche Distanz, so weit wie die unsrige von jener versunkenen Welt. Uns gilt die Klezmer-Musik des ostjüdischen Stetl, reimportiert aus den USA, heute als Inbegriff jüdischer Folklore. Verdunkelt dies nicht den außerordentlichen Anteil west- und mitteleuropäischer Juden an der Entwicklung der europäischen Nationalkulturen? Während die westeuropäischen Juden, getragen von Bildung und
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Baron 1987, S. 43 – 48; Frankel 1984, S. 1; Levin 1977, S. 3 – 20 Hildermeier 1984 Baron 1987, S. 49 Zimmerman 2004, S. 37 f.; Bunzl 1975, S. 28 – 38 Berg 2008, S. 7 Medem, Portnoy 1979, S. 206 – 209, 179
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Erwerbsstreben, einen erstaunlichen sozialen Aufstieg in der bürgerlichen Welt nahmen, lebten die russischen Juden buchstäblich gefesselt unter der Knute der Autokratie.13 Die Intellektuellen, die sich 1890 zur Wilna-Gruppe zusammenschlossen, entstammten nicht dem Stetl. Sie kamen aus russifizierten Mittelklassefamilien, die der Haskala, der jüdischen Aufklärung, mehr verpflichtet waren als den traditionellen Bräuchen. Sie hatten russische staatliche Schulen besucht und einige waren auf den Universitäten und technischen Lehranstalten in St. Petersburg, Kiew und Riga gewesen. Im Unterschied zu den polnischen Sozialisten in Wilna standen sie niemals der Narodnaja Wolja nahe, denn die russischen Volkstümler konnten keine Partner für jüdische Intellektuelle sein, nachdem sie die russischen Bauern wegen der Pogrome in Schutz genommen hatten.14 Die Gruppe wandte sich also unmittelbar dem Marxismus der Plechanow-Anhänger zu. Georgi Walentinowitsch Plechanow hatte sich inzwischen von dem Agrarsozialismus der Volkstümler abgewandt, dem er noch mit seiner „Schwarzen Umteilung“ angehangen hatte, und gemeinsam mit Pawel Axelrod und Wera Sassulitsch die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ gegründet. Diese Gruppe setzte alle Hoffnung auf die Arbeiterklasse und wurde Keimzelle der russischen sozialdemokratischen Partei. Die Wilna-Gruppe bezeichnete sich deshalb bald als Jüdische Sozialdemokratische Gruppe in Russland. Leo Jogiches – offenbar trotz Verbannung und Flucht in die Schweiz – und Semach Kopelson werden als Gründer genannt. An die Stelle von Jogiches, der bald mit Rosa Luxemburg zur polnischen Sozialdemokratie ging, trat 1891 Arkadi Kremer. Mit ihm stießen seine spätere Frau Pati Srednitskaja und John Mill zur Gruppe, dessen Name dem großen englischen Liberalen huldigte. Mit anderen Studenten kamen Wladimir Kossowski und Yekusiel „Noah“ Portney hinzu.15 Sie alle gehörten später zum engeren Führungskreis des Bundes. Diese Intellektuellen wollten die Handwerker und Arbeiter im Ansiedlungsrayon zu Klassenbewusstsein führen, sie mit dem Marxismus vertraut machen und so die russische revolutionäre Bewegung stärken, die sich nach dem Scheitern der Volkstümler noch im Embryonalzustand befand. Eine unmögliche Mission, wie nicht nur Gottfried Schramm in seinem WilnaAufsatz bemerkt, denn das Elend im Rayon kam sichtlich nicht von der kapitalistischen Ausbeutung, sondern eher aus dem Mangel daran. Doch die Verzweiflung war tief genug, um die religiöse Hoffnung auf den Messias, der so sehr zauderte, durch die weltliche Erwartung der Revolution zu ersetzen. Die Arbeiter verstanden im Allgemeinen nur ihre jiddische Muttersprache; die Zirkel vermittelten mit dem Marxismus deshalb auch die russische Sprache als Tor zu Theorie und Kultur. Die Gruppe hatte am 1. Mai 1892 in Wilna schon etwa hundert jüdische Arbeiter mobilisiert, von denen einige auch Reden hielten – in Russisch! Indessen, die Zirkel waren eine Sackgasse. Die Wilna-Gruppe war eine intellektuelle Vorhut ohne Streitmacht.16 Arkadi Kremers Schrift „Über Agitation“ leitete 1894 eine Wende ein. Den Anstoß hatte Georgi Plechanows Artikel „Über die Aufgaben der Sozialisten im Kampf gegen die Hungersnot
13 14 15 16
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Schramm 1994, S. 129 f. Frankel 2009, S. 59 Zimmerman 2004, S. 39 f. Levin 1977, S. 228 – 230; Zimmerman 2004, S. 45
in Russland“ (1892) gegeben, der verlangte, vom propagandistischen Zirkelwesen zur Massenagitation überzugehen, um so zur politischen Partei zu werden. Auch Kremer forderte nun seine Genossen auf: „In di gasn, zu di masn“, wie es ein populärer Song bald sagte. Zweierlei sei dafür notwendig: Man müsse auf die alltäglichen wirtschaftlichen Probleme der Arbeiter eingehen, also auf Lohn und Arbeitsbedingungen; und man müsse mit den Arbeitern in ihrer Sprache reden, also in Jiddisch. Plechanows Appell blieb vorerst folgenlos, Kremers schlug durch. Die Gruppe organisierte fortan Streiks und Streikkassen, die sich zu gewerkschaftlichen Berufsverbänden entwickelten. In den Streiks spaltete sich die jüdische Gemeinschaft und machte dem Klassenkampf Platz. Die Sozialisten unterminierten die Autorität von Honoratioren und Rabbinern und zeigten die Kluft zwischen Arbeitern auf der einen und Meistern und Unternehmern auf der anderen Seite.17 Die Gruppe schrieb, druckte und verteilte zehntausende Maiaufrufe und Broschüren und seit Ende 1896 auch eine Zeitschrift in jiddischer Sprache: „Der Jiddischer Arbeter“. Die Hinwendung zum Jiddischen brachte Schwierigkeiten für die russifizierten Intellektuellen mit sich, denn sie beherrschten das Idiom nicht hinreichend.18 Also fassten sogenannte „Halbintellektuelle“ – Absolventen von Rabbinerschulen – als Redakteure in der Bewegung Fuß. Nur vereinzelt stiegen sie, wie Abraham Litwak (Chaim Jankl Helfand), in die Führungsriege des Bundes auf. Litwak wurde bald ein geschätzter Autor auch in Kautskys „Neuer Zeit“. Je mehr der Bund unter der jüdischen Arbeiterschaft Wurzeln schlug, desto heftiger wurde die Spannung zwischen der Wirklichkeit jüdischen Lebens im Rayon und der blassen Theorie des Klassenkampfes. Die „Jiddischkeit“, das heißt die jüdische Identität jenseits der religiösen Tradition, wurde unversehens zu einem Merkmal der Wilna-Gruppe, sie bestimmte notgedrungen immer mehr Form und Inhalt der Agitation.19 Die Intellektuellen mussten den Kampf gegen die Diskriminierung der Juden zu ihrem Anliegen machen, obwohl die sozialistische Revolution das eigentliche Ziel blieb. Julius Martow, der spätere Führer der Menschewiki, der an Kremers Broschüre mitgewirkt hatte, machte dies unverzüglich klar; er sorgte sich, dass dieses eigentliche Ziel in die zweite Reihe rücken könne. In seiner Mairede vor Wilnaer Arbeitern 1895 befürwortete er zwar eine autonome jüdische Organisation, die gegen die Unterdrückung der Juden im Zarenreich kämpfen sollte, betonte aber im selben Atemzug, dass dies nur eine taktische Orientierung sein könne. Nach der Revolution würden alle nationalen Schranken und Bedrückungen ein Ende haben, also sei sie das wichtigste Ziel.20 Die engere Führung beharrte lange auf dem kosmopolitischen Internationalismus, das bedeutete, sie sahen sich als Teil der sozialdemokratischen Bewegung im Russländischen Reich. – „Russländisch“, synonym „allrussisch“, bezieht sich auf den Staatsverband des Zarenreichs und steht für das russische „rossijski“, im Unterschied zum ethnisch verstandenen „russkij“. – Die jüdischen Sozialisten sahen den Bund als Teil einer allrussischen Sozialdemokratie, gleichrangig mit der polnischen, litauischen und lettischen Sozialdemokratischen Partei, die assoziierte Mitglieder der Russländischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei wurden. Das neue 17 18 19 20
Levin 1977, S. 250 – 255 Finnis-Marten 2001 Vgl. Frankel 1984, S. 174; Pickhan 2001a, S. 49 f. Martow 1973, S. 30 f.; Zimmerman 2004, S. 52 f.
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Programm des „In di gasn, zu di masn!“ veränderte den Stil sozialdemokratischer Agitation über die jüdische Welt hinaus, im ganzen Russland. Die Wilna-Gruppe wuchs zur Organisation, in der Tausende Arbeiter Mitglied waren, sie wuchs zum Netzwerk, das sich über die Städte des nordwestlichen Russland ausbreitete und Emissäre in den Süden, ins Königreich Polen und ins innere Russland sandte. So ging John Mill, der als Hauslehrer in einer Wilnaer Adelsfamilie Polnisch gelernt hatte, nach Warschau; Litwak wandte sich nach Jekaterinoslaw (Dnipropetrowsk). Kopelson ging nach Genf und vertrat die Gruppe in Plechanows „Befreiung der Arbeit“, dem Auslandszentrum der russischen Sozialdemokratie. Gerade die führenden Intellektuellen wanderten zwischen den nationalen Gruppierungen, meist in Richtung auf die große russische Partei. Julius Martow war der bekannteste Führer, den der Bund der russischen Partei schenkte.21 Plechanow rühmte 1896 in seinem Bericht an den Londoner Kongress der Sozialistischen Internationale die jüdischen Sozialdemokraten als „Avantgarde der Arbeiterarmee Russlands“.22 Die Gruppe war zur Partei geworden. Förmlich wurde sie es am 7. Oktober 1897 in einem Handwerkerhaus in der Wilnaer Vorstadt, wo sich 13 Männer und Frauen aus Wilna, Warschau, Witebsk, Minsk und Białystok versammelten und den „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund“ für das Zarenreich gründeten. Den Anstoß mag eine herablassende Bemerkung von Plechanow zu Kremer während einer gemeinsamen Bahnfahrt gegeben haben; weit wichtiger war aber die Situation in Warschau, wo die von Mill aufgebaute jüdische Organisation in die Polnische Sozialistische Partei abwanderte. Mill drängte deshalb Kremer bei dessen Besuch in Warschau zur eigenen Parteigründung, um zwischen der Skylla des Nationalismus der polnischen Sozialisten und der Charybdis des Internationalismus der polnischen Sozialdemokraten die Interessen des jüdischen Proletariats vertreten zu können. Der Gründungskongress wählte ein dreiköpfiges Zentralkomitee aus Kremer, Kossowski und Abraham Mutnik, das wegen der dichten Polizeiüberwachung sofort nach Minsk übersiedelte. „Di Arbeter Stimme“ sollte unter Kossowskis Leitung als Parteizeitschrift in Wilna herausgegeben werden, denn „Der Jiddischer Arbeter“ war inzwischen in die Schweiz emigriert.23 Die Parteigründung war indessen nur der erste Ausfall eines Doppelschritts. Um die wirkliche Vertretung des jüdischen Proletariats in der allgemeinen russländischen Bewegung zu werden, musste diese Bewegung selbst erst einmal Partei sein. Die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands erfolgte deshalb wesentlich auf Initiative der jüdischen Sozialdemokraten. Vom 1. bis 3. März 1898 versammelten sich in Minsk neun Delegierte, darunter Kremer, Mutnik und der Arbeiter David Katz vom Bund, Stepan Radtschenko vom Petersburger „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“, dem auch Julius Martow und Lenin angehörten, und Boris Eidelman von der Kiewer „Arbeiterzeitung“. Kremer, Eidelman und Radtschenko bildeten das Zentralkomitee. Das Gründungsmanifest, von Peter Struve verfasst, später erbitterter Gegner der Bolschewiki, wurde in der Druckerei des Bundes in Bobruisk in
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Tobias 1972, S. 41 – 47; Zimmerman 2004, S. 44 – 48; Frankel 1984, S. 171 – 176; Levin 1977, S. 253 Bunzl 1975, S. 60 Zimmerman 2004, S. 83 – 86
Jiddisch und Russisch gedruckt.24 So schlüpften die beiden Parteien, die sich in der Folge so heftig bekriegen sollten, aus einem Ei. – Zu eben dieser Zeit kam Medem zum Bund.
Russische Kindheit Wladimir Medem wurde im Juli 1879 in der lettischen Hafenstadt Libau geboren, während der Sommerfrische. Sein Vater David war russischer Militärarzt im Rang eines hohen Offiziers mit dem Titel eines Staatsrats. Die Familie lebte in behäbigem Wohlstand in Minsk, einer Gouvernementshauptstadt von fast 100.000 Einwohnern. Das herrschaftliche Haus besaß einen Garten und sechs Zimmer, neben vier Dienstboten gab es eine deutsche Kinderfrau für den kleinen Wolodja. Deutsch war in diesen gebildeten Kreisen die Sprache der gehobenen Konversation, deutsche Literatur war neben der russischen wesentlich. Jiddische Laute drangen nur an sein Ohr, wenn eine alte Verwandte zur Mutter kam; jüdische Tradition pflegten nur die mütterlichen Großeltern, die nicht im Haus wohnten. Die Familie beging die russischen Feiertage und fühlte sich ganz und gar russisch.25 Medem beginnt seine Erinnerungen mit dem mehrdeutigen Verhältnis der Familie zur Religion. Der Übertritt zum Christentum war wohl kein schwieriger, aber auch kein selbstverständlicher Schritt auf dem Weg der Assimilation. Die ältere Schwester konvertierte, als sie einen russifizierten Polen heiratete, die drei Brüder, acht bis siebzehn Jahre älter, offenbar nach der Militärakademie. Der Vater vollzog den Schritt erst kurz vor seinem Tod und die Mutter sogar erst als Witwe – ohne erkennbaren Anlass. Alle konvertierten zum evangelischlutherischen Glauben, weil dies einfacher gewesen sei, wie Medem schreibt. Er selbst wurde hingegen bei seiner Geburt im russisch-orthodoxen Glauben getauft und wuchs so als kleiner Christ unter indifferenten Juden auf. Gesänge, Bilderglanz und liturgische Pracht der orthodoxen Kirche beeindruckten den empfindsamen Knaben sehr. Den Gymnasiasten trieben Glaubensfragen um. Mit der Pubertät verlor er seinen frommen Kinderglauben, doch noch als Emigrant und leitender Bundist in Genf bat er, in der Osternacht am Gottesdienst in der russischen Kirche teilnehmen zu dürfen; vergeblich, denn er hatte keine Einladung vom Konsulat.26 Medem konvertierte niemals zum Judentum. Als Sozialist war er natürlich auch bekennender Atheist. Er wurde nicht durch Konversion, sondern allmählich zum Juden, aus dem Gefühl tiefer sozialer Zugehörigkeit. Medems Kindheit war überschattet von der Parkinson-Krankheit seiner Mutter. Die Mutter im Rollstuhl und ihr jüngster Sohn waren innig verbunden, unter ihren schützenden Armen wuchs er heran. Vergeblich träumte er, einmal wie die anderen Jungen an der Hand seiner Mutter durch die Straßen zu gehen.27 Auch hier gab eine starke Frau – und seelisch stark ist Rosalie Medem zweifellos gewesen – ihrem Sohn die Kraft für ein ungesichertes, ganz ei24 25 26 27
Martow 1973, S. 34; Bunzl 1975, S. 61 – 63 Medem, Portnoy 1979, S. 17 – 21 Medem, Portnoy 1979, S. 1 – 17 Medem, Portnoy 1979, S. 27 – 29
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ner großen Sache verschriebenes Leben, wie wir dies schon bei Kautsky, Shaw und Piłsudski gesehen haben. Die Kindheit und das großzügige Leben der Familie wurden durch den Tod des Vaters jäh beendet, als Wladimir Medem 14 Jahre alt war. Auch in dem bescheideneren Domizil lebte er geborgen mit der Mutter und den Geschwistern; er schloss sich besonders seinem Schwager an, der liberale Ideen hatte und zu abenteuerlichen Unternehmungen bereit war. Medem hing sehr an seiner Familie. Später besuchten ihn Schwester und Brüder im Exil, und wenn er illegal in Russland war, lebte er bei ihnen. In diesen Jugendjahren verschlang er die russische und die Weltliteratur von Homer bis zu Knut Hamsun und Turgenjew, und er liebte das Minsker Theater. Seine politischen Eindrücke – Tod und Krönung des Zaren, der Besuch im sommerlichen Militärlager des Bruders – führten ihn nicht auf umstürzlerische Wege. Mit dem jüdischen Minsk kam er nur sporadisch in Kontakt. Ostern 1896 erlebte er einen Zusammenstoß zwischen jüdischen Arbeitern und dem Militär mit gemischten Gefühlen. Schicksalhaft war seine Schulfreundschaft mit Jaschka Kaplan, einem der sieben oder acht Juden in seiner Klasse, die einfach intelligenter und deshalb interessanter gewesen seien als die übrigen Knaben.28 Wladimir Medem hatte als Neunzehnjähriger Krisen und Verluste zu bewältigen. Zunächst fiel ihm der Abschied schwer, als er im Sommer 1897 nach Kiew zum Medizinstudium ging. Im Januar befiel ihn eine Typhuserkrankung, die ein lebenslanges Nierenleiden zur Folge hatte; er unterbrach das Studium und fuhr heim. Im Sommer 1898 starb die geliebte Mutter.29 Der Freund Kaplan fing ihn auf. Kaplan brachte ihn 1898 zum Sozialismus und letztlich auch zum Bund. Sie wohnten zusammen, und er studierte nun gemeinsam mit Kaplan und anderen Minsker Freunden Jura. Kaplan führte ihn in sozialdemokratische Studentenzirkel ein, und er las sozialistische Autoren, allen voran Marx. Das gemeinsame Zimmer war Treffpunkt von Bundisten, darunter Moissei Urizki, der ein enger Mitstreiter Lenins und Trotzkis wurde. Mit angespannter Hochstimmung warf Medem sich im Frühjahr 1899 in seine erste politische Aktion, den reichsweiten Studentenstreik. Er überwand seine Schüchternheit in der öffentlichen Rede, wurde ins Streikkomitee gewählt und schließlich mit Hunderten verhaftet, relegiert und nach Minsk zurück gebracht. Seine Universitätslaufbahn war beendet, der Weg zum Berufsrevolutionär eingeschlagen.30 Wie bei Piłsudski – und wie wir sehen werden, bei Trotzki – hatte auch bei Medem die harte Reaktion der russischen Exekutive den Prozess beschleunigt, den sie bekämpfen wollte, die Entwicklung jugendlicher Oppositioneller zu Untergrundkämpfern.
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Medem, Portnoy 1979, S. 88 – 93 Medem, Portnoy 1979, S. 105 – 111 Medem, Portnoy 1979, S. 112 – 115
Minsker Revolutionäre Minsk war um die Jahrhundertwende ein Zentrum der russischen und insbesondere der jüdischen sozialistischen Bewegung.31 Es war neben Wilna Zentrum des Bundes, da sich bis Mitte 1898 das Zentralkomitee mit der geheimen Druckerei hier aufgehalten hatte. Selbst die Minsker Bundisten wussten nichts von der Anwesenheit der Führung, „damit ihr Wort gehört und ihr Körper unsichtbar sei“.32 Minsk war auch eine Wiege der Sozialrevolutionären Partei, die sich aus den Trümmern der Volkstümler gebildet hatte. Medem traf die Sozialrevolutionäre im Kreis des Apothekers Grigori Gerschuni. Als „Gesellschaft der Schönen Künste“ getarnt, zog sein politischer Debattierklub Gymnasiasten und Studenten an. Dort traf Medem die damals 55-jährige Jekaterina Breschkowskaja, die „Großmutter der Russischen Revolution“. Als eine Führerin der Narodnaja Wolja hatte sie Verbannung und Katorga erlitten. Mit Gerschuni gründete sie als Vorläufer der Sozialrevolutionären Partei die „Arbeiterpartei für die politische Befreiung Russlands“, die das Erbe der Narodnaja Wolja aufnahm, die Neigung zu Terrorakten inbegriffen.33 Man darf Medem glauben, dass er sich schon im Sommer 1899 im Haus des verehrten Revolutionärs gegen den Terror aussprach.34 Sein Weg war die Agitation. Gemeinsam mit Jaschka Kaplan, der inzwischen aus dem Kiewer Gefängnis entlassen war, begab sich Wladimir Medem im Herbst 1899 zum Bund. Als rechter „Goi“ erhielt er den Auftrag, unter den christlichen Arbeitern zu agitieren; das waren vor allem weißrussische und polnische Eisenbahnarbeiter. Ihnen wollte er den Marxismus nahebringen. Die Aufgabe war dringend, denn die unorganisierten christlichen Arbeiter waren allzu leicht als Streikbrecher zu gebrauchen. Medem musste erhebliche Fremdheit überwinden. Bei einer Zirkelzusammenkunft war er der einzige in russischer Bluse, die Arbeiter saßen erwartungsvoll in Hemd und Kragen. Und er war verblüfft, dass ein klassenbewusster Verbindungsmann ein Gespräch darüber anknüpfte, wie man zu einem Fahrrad kommen könnte.35 Es war die Fremdheit des Intellektuellen gegenüber dem Arbeiter, nicht die des Juden gegenüber dem Christen, wie sie sein Genosse Scholem Levin bei der Arbeit in einer christlichen Buchbinderei – ebenfalls in Minsk – erlebte. Die Arbeiter dort schütteten in ziemlichen Mengen Wodka in ihren Tee, und Levin machte mit, in der Hoffnung, ihnen im Gegenzug Klassenbewusstsein beibringen zu können. Er wurde kein Trinker, aber die Agitation misslang ihm ebenso wie Medem.36 Die Organisation einer „christlichen“ sozialdemokratischen Ortsgruppe der russischen Partei war schon deshalb eine kaum lösbare Aufgabe, weil von dieser Partei damals kaum mehr als der Name geblieben war. Unmittelbar nach dem Gründungsparteitag in Minsk im März 1898 hatte die Geheimpolizei das ganze Zentralkomitee und alle Aktivisten, derer man habhaft werden konnte, verhaftet, also auch Arkadi Kremer und die anderen Bundisten im russländischen Zentralkomitee. Im Juli 1898 rollte die Verhaftungswelle auch über den Bund. Min31 32 33 34 35 36
Mishkinsky 1969 Tobias 1972, S. 70 Gerschuni 1909; Hildermeier 1978, S. 43 – 45 Medem, Portnoy 1979, S. 144 Medem, Portnoy 1979, S. 146 – 150 Mendelsohn 1968, S. 249
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destens 70 Bundisten wurden ins Moskauer Gefängnis gebracht, 63 wurden zu Zwangsarbeit oder Verbannung verurteilt.37 Doch der Bund konnte nicht ausgelöscht werden, da er sein stabiles Netzwerk von Ortsgruppen hatte und eng mit den gewerkschaftlichen Unterstützungskassen verbunden war. Jüngere rückten in die örtlichen Komitees auf, so im Jahr 1900 auch Wladimir Medem und sein Freund Jaschka Kaplan. Medems Eintrittskarte war der Minsker Maiaufruf 1900, die erste Parteipublikation, die er verfasste.38 Das Jahr 1900 erinnerte Medem als eine Zeit unermüdlicher, gefahrvoller Parteiarbeit, aber auch als eine Zeit intensiver Freundschaft, gemeinsamer Ausflüge, nächtlicher Debatten, erlebter Opferbereitschaft für einander, für den Bund, für die gemeinsame Sache. Die jungen Leute, die meisten noch jünger als der zwanzigjährige Medem, beseelte das Hochgefühl der Jugend, zu dem die erotische Spannung zwischen den Geschlechtern gehört. Jungen und Mädchen waren in etwa gleicher Zahl und unbedingt gleich geachtet in der Bewegung. Rückblickend fand er das Gefühl jener Jugendzeit in den Versen eines russischen Dichters, die er einst auf die Rückseite der Fotografie einer Freundin geschrieben hatte: „An diesem strahlenden Morgen unseres Lebens, der uns eisige Stürme verheißt, sende ich Dir mein Bild, Schwester und geliebte Freundin“.39 Offensichtlich gibt es neben der sozialen Empathie und dem Streben nach Weltveränderung ein drittes Motiv, sich revolutionären Bewegungen anzuschließen, den Wunsch nach Zugehörigkeit. Das war Medems Motiv. Er beschreibt in seinen Erinnerungen, wie ihn erstmals das Glück überkam, Teil eines großen machtvollen Ganzen zu sein, als er beim Besuch im Sommercamp des Bruders mit der Armee marschierte. Er bemerkt dazu: „In späteren Jahren wandelte sich der Inhalt, das Gefühl an sich dauerte an“.40 In dieser Zeit trat er in engere Beziehung zum Judentum. Die jüdischen Gassen wurden ihm durch die Parteiarbeit vertraut. Im Bund hatte das Jiddische wachsenden Raum. Doch es sollte weit mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis er es fließend sprechen und schreiben konnte. Ein älterer Genosse, nahm ihn zum Gottesdienst in die Synagoge mit. Ein Freitagabendspaziergang mit ihm durch die dunklen Gassen, in deren Fenstern Sabbatlichter schimmerten, blieb Medem im Gedächtnis; in seinen Memoiren knüpfte er daran sein Bekenntnis zur Jiddischkeit des litauischen Stetl.41 Auch hier ist die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu spüren, die den früh verwaisten, introvertierten Mann zeitlebens umtrieb. Die jüdische Arbeiterbewegung in Minsk umfasste inzwischen rund tausend gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, ebenso viele wie in der Industriestadt Białystok. In keiner anderen
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Tobias 1972, S. 80 – 83 Medem, Portnoy 1979, S. 151 – 157 Medem, Portnoy 1979, S. 186 – 190 Medem, Portnoy 1979, S. 77 Medem, Portnoy 1979, S. 178 f.
Stadt war der Anteil der organisierten Arbeiter so hoch.42 Medem erinnert, wie ihn dennoch im Sommer 1900 die Furcht befiel, die Bundisten könnten wie die russischen Sozialdemokraten eine Vorhut ohne Gefolgschaft werden, eine intellektuelle Organisation, die ihre Ideen von oben nach unten an die Massen durchzureichen versucht, statt sich im lebendigen Austausch auf die Bedürfnisse der Arbeiter einzulassen.43 Die Sorge war begründet. Der Bund begann sich von dem Programm des wirtschaftlichen Kampfes abzuwenden, das Kremers „Über Agitation“ vorgegeben hatte; politische Agitation und Demonstrationen gegen den autokratischen Zarismus rückten in den Vordergrund. Die ungezählten, oft genug blutig endenden Streiks brachten nämlich immer weniger handfeste Ergebnisse, da seit 1899 eine Absatzkrise den Ansiedlungsrayon heimsuchte. Im Kampf „Armut gegen Armut“, den die Arbeiter gegen die ebenso elenden Zwischenmeister führten, war wenig zu gewinnen.44 Ein weiterer Grund, sich vom wirtschaftlichen Kampfplatz zurückzuziehen, war sicher die erbitterte Fehde der russischen Marxisten von Plechanow bis Lenin gegen die „Ökonomisten“, zu denen der Bund ebenso wie die Anhänger des Revisionismus von Eduard Bernstein gezählt wurde.45 Die Arbeiter und ihre Gewerkschaften begannen sich vom Bund zu lösen.46 Diesen Zwiespalt verstand Sergej Subatow zu nutzen, der Leiter der Moskauer Geheimpolizei. Subatow war ein ebenso ehrgeiziger wie kluger Beamter, durchdrungen von der Mission, die Monarchie zu stabilisieren, indem er die revolutionäre Bewegung in eine reformerische verwandelte. Die Versöhnung von Selbstherrschertum und Sozialismus, das war in Russland um 1900 noch unrealistischer als das Bündnis von Absolutismus und Aufklärung vor der Französischen Revolution. Revolutionen ließen sich in beiden Fällen nicht verhindern.47 Aber so wenig, wie der aufgeklärte Absolutismus gegen die Aufklärung spricht, widerlegt Subatows Polizeisozialismus die sozialistische Bewegung – einschließlich des Reformismus. Subatow versuchte die sozialistischen Führer auf seine Seite zu ziehen. Mit den Inhaftierten von 1898, die hart traktiert wurden, gelang ihm das nicht. Mit der großen Zahl Minsker Bundisten und Arbeiter, die er 1899 und im Frühjahr 1900 gefangen nahm, verfuhr er sanfter. In stundenlangen Einzelgesprächen ging er auf die jeweiligen Überzeugungen und Befindlichkeiten ein. Dabei las er aus den Schriften von Sidney Webb und anderen Fabiern vor und überreichte Bernsteins Buch zur Lektüre – wohl das jüngst erschienene „Die Voraussetzung des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“. Nach wenigen Tagen wurden die Arretierten wieder freigelassen, in etlichen Fällen durchaus nachdenklich, ob eine Konzentration auf den ökonomischen Kampf, legal und mit Unterstützung der Polizei, nicht vielversprechend wäre.48 Subatow wollte sogar den 1900 gerade freigekommenen Arkadi Kremer für sich gewinnen. Der floh aber unverzüglich in die Schweiz, als er die telegrafische Vorladung erhielt, nicht ohne
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Tobias 1972, S. 98 Medem, Portnoy 1979, S. 168 f. Bunzl 1975, S. 66 f. Martow 1973, S. 53 – 55; Frankel 1984, S. 229 f.; Medem, Portnoy 1979, S. 225 f. Schneiderman 1976, S. 221 – 224 Daly 1998 Schneiderman 1976, S. 227 – 230; Tobias 1972, S. 120 – 127; Tidmarsh 1960; Medem, Portnoy 1979, S. 191 – 195
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vorher die Mitglieder des Zentralkomitees zu warnen.49 Wladimir Medem wurde zu Beginn des Jahres 1901 verhaftet. Auch ihn brachte man nach Moskau und vor Subatow. Da er sich nicht beugte, sollte er nach Sibirien verbannt werden. Seine chronische Nierenkrankheit verschaffte ihm Aufschub, sodass seine Familie ihm zur Flucht helfen konnte.50
Die Synagoge in Minsk um 1900
Subatow stieg an die Spitze der russischen Geheimpolizei auf, genoss das Vertrauen des Innenministers Wjatscheslaw von Plehwe und zog ein Netz von Spitzeln auf, das im ganzen Reich die sozialistische Bewegung infiltrierte. Gleichzeitig unterstützte er gewerkschaftliche Zusammenschlüsse und Streiks, indem er sie vor Polizeiverfolgung schützte. Minsk war sein Hauptaktionsfeld. Hier gründeten Manja Wilbuschewitsch und Alexander Chemeriski im Sommer 1901 im Einvernehmen mit Subatow die „Unabhängige Jüdische Arbeiterpartei“. Diese Partei grub dem Bund gefährlich das Wasser ab. Sie breitete sich im ganzen Ansiedlungsrayon aus und führte unter Polizeischutz erfolgreich Kämpfe um kürzere Arbeitszeiten und mehr Lohn.51 Besonders in Minsk bildete sich zudem ein Dreiecksverhältnis zwischen der Unabhängigen Partei, Subatow und dem Zionismus heraus. Von Minsk nahm der sozialistische Zionismus seinen Ausgang. Die Partei nach den Ideen von Nachman Syrkin hatte seit 1900 in Minsk Fuß gefasst. In den Stuben der jüdischen Arbeiter schlugen die Debatten hohe Wellen. Manja Wil-
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Tidmarsh 1960, S. 341 Fn. Medem, Portnoy 1979, S. 202 – 205 Tobias 1972, S. 128 f., 140 – 47
buschewitsch war eine glühende Zionistin geworden. Zionismus und Subatow-Strategie gingen ja durchaus zusammen, denn die Stoßrichtung war nicht wie beim Bund gegen die antisemitische Politik der Regierung, sondern gegen den Antisemitismus der christlichen Nachbarschaft gerichtet. Unter Subatows „Rekruten“ waren die Zionisten besonders zahlreich. Das ging so bis zum Pogrom von Kischinew im April 1903, wo Juden gebrandschatzt und erschlagen wurden, ohne dass die Polizei eingriff. Daraufhin lösten die Minsker die „Unabhängige Jüdische Arbeiterpartei“ auf und zerschnitten das Tischtuch mit Subatow. Die „Sozialistischen Zionisten“ waren durch ihr enges Verhältnis zu den Subatow-Organisationen in Minsk ziemlich diskreditiert.52 Der Zionismus neigte generell zur Übereinkunft mit den Regierungen. Theodor Herzl verhandelte noch nach dem Pogrom von Kischinew mit von Plehwe wegen der jüdischen Siedlungspläne. Der verlangte dafür die Auslieferung der jüdischen revolutionären Bewegung – zu der Herzl keinerlei Zugang hatte.53 Subatows Politik war am Ende, als im Sommer 1903 ein Generalstreik seiner Organisation in Odessa aus dem Ruder lief und vom Militär in Blut erstickt wurde. Er verlor alle Protektion und wurde verbannt wie einst die von ihm Verfolgten. In der Februarrevolution erschoss er sich. Von Plehwe starb ein Jahr nach dem großen Pogrom durch ein Attentat der Sozialrevolutionäre, einen Terrorakt, der in allen Zweigen der sozialistischen und der jüdischen Bewegung tiefe Befriedigung auslöste.54 – Die Forscher sind sich einig, dass der Bund letztlich in den Auseinandersetzungen gewachsen ist. Tausende Arbeiter sind durch Subatows Partei und Gewerkschaften mobilisiert und organisiert worden und kamen in der Folge zum Bund. Auch Führer wie Alexander Chemeriski kehrten zurück.
Exil in der Schweiz Auf abenteuerlichen und gefahrvollen Wegen kam Wladimir Medem im Sommer 1901 über die russisch-preußische Grenze nach Bern. Die dortige russische Kolonie, alles junge Sozialisten, gab ihm Geborgenheit, sodass er das Heimweh bald überwand. In Bern sammelten sich die Russen, weil die Universität keine Zugangsbeschränkungen hatte. Die Kolonie bestand nach Medems Zeugnis fast ganz aus Stetl-Juden: Mädchen, die Medizin studierten und Jungen, die den Talmud-Studien entflohen waren. Man lebte isoliert von der Schweizer Bürgerwelt.55 Auch Medem besuchte Vorlesungen, offenbar eher philosophische und staatswissenschaftliche als juristische, befasste sich intensiv mit der Ethik Spinozas und dem „Kapital“ von Marx und begann eine Abhandlung über die Französische Revolution. Er begegnete Plechanow, dem großen Mann der russischen Sozialdemokratie, deren Führer sich ja sämtlich im Schweizer Exil befanden, und er lernte John Mill kennen, der hier das Auslandskomitee des 52 53 54 55
Schneiderman 1976, S. 231 – 258; Tobias 1972, S. 128 f., 140 – 147; Halpern, Reinharz 1988, S. 245 Medem, Portnoy 1979, S. 292 – 295; Kornberg 1980; Dieckmann 1995, S. 95 f. Daly 1998, S. 140 – 142; 148 f. Medem, Portnoy 1979, S. 217 – 223
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Bundes vertrat, das sich mit Arkadi Kremer derzeit in London aufhielt.56 Die langen Universitätsferien verbrachte er gemeinsam mit seiner Schwester und deren kleinem Sohn in einem Chalet in den Bergen. Die Schweizer Bergwelt wurde ihm später ebenso zum Sehnsuchtsort wie die Vaterstadt Minsk.57 In dieser Berner Zeit zwischen Sommer 1901 und Frühjahr 1903 erlebte Medem eine tiefe Liebe, über die er nur in Andeutungen schreibt. Wie er einem Freund abwiegelnd gestand, sei dies zwar nicht Inhalt seines Lebens, denn das bliebe die Parteiarbeit, die Liebe gäbe aber doch seinem ganzen Leben einen leuchtenden Rahmen. Als sie zerbrach, floh er geradezu aus Bern, erst nach München, dann nach Genf.58 Die junge Frau ging zurück nach Russland und gebar einen Sohn. Eine Bundistin berichtete fünfzehn Jahre später von einer Begegnung mit dem jungen Mann, der wie Medem aussehe und auch dessen Namen trage.59 Merkwürdig ist in diesem Zusammenhang der Bericht, den Medem über eine Versammlung der Berner Kolonie gibt.60 Er reiste dazu im Sommer 1904 aus Genf an. Es war eines jener peinvollen Tribunale, wie sie in den Parteien leninistischen Typs bis in die 1970er Jahre gebräuchlich waren, Ausdruck eines moralischen Purismus, wie er in Kirchen und Ketzerbewegungen hoch gehalten wird. Ein junger Mann aus der Kolonie war angeklagt, eine seiner Genossinnen geschwängert zu haben, ohne die Konsequenz – Heirat – tragen zu wollen. Medem schmerzte besonders, dass der Freund Slawek, der polnische Bundist Bronisław Grosser also, so rigoros Bestrafung forderte. Kann damals in Medems eigener Sache verhandelt worden sein? Unmöglich, denn Medem schiebt ja die Pointe nach, dass das Mädchen gar nicht schwanger war und dass geheiratet wurde … In diesen vier Jahren des ersten Schweizer Exils reifte Medem zum Mann und zum Führer des Bundes. Nach einem eindrucksvollen Auftritt auf dem 5. Bundeskongress im Juni 1903 wurde er Mitglied des Auslandskomitees. Er zog nach Genf um, wo er in der Geschäftsstelle des Bundes sein Junggesellenquartier aufschlug. Den Lebensunterhalt der hauptamtlichen Funktionäre deckten vor allem Spenden, die überwiegend von jüdischen Sozialisten in den USA kamen.61 Sitzungen und Versammlungen prägten nun seinen Alltag. Aber er kam auch in den Auslandskolonien herum, deren Netz in der Schweiz und den deutschen Universitätsstädten geknotet wurde und sich über ganz Westeuropa erstreckte. Als Parteiführer nahm er an den großen Internationalen Sozialistenkongressen ebenso teil wie an den Kongressen des Zionistischen Weltbunds. In seinen Erinnerungen zeichnet er lebhafte Porträts der bedeutendsten sozialistischen und jüdischen Führer seiner Zeit.
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Medem, Portnoy 1979, S. 251 f. Medem, Portnoy 1979, S. 253 – 256 Medem, Portnoy 1979, S. 255 f. Medem, Portnoy 1979, S. 359 Fn. Medem, Portnoy 1979, S. 310 – 312 Weill 2001
Die jüdische Frage Im Herbst 1902 setzte Wladimir Medem sich erstmals mit der jüdischen nationalen Frage auseinander. Damals trat er bei einer mehrtägigen öffentlichen Debatte Chaim Weizmann gegenüber, dem späteren ersten israelischen Staatspräsidenten. Medem vertrat den Bund und Weizmann den Zionistischen Weltbund.62 Medem hatte auf dem simplen internationalistischen Standpunkt beharrt, wonach es keine jüdische Frage, sondern nur eine Klassenfrage gäbe. Weizmann konfrontierte ihn mit dem jüdischen Nationalismus als Antwort auf den modernen Antisemitismus, der in der Dreyfus-Affäre hervor gekrochen war. Ringsum wachse der Nationalismus auch in den sozialdemokratischen Parteien. Medem fragte sich, wie die Antwort des Bundes auf diese Herausforderungen lauten könne. Gab es für die Juden einen dritten Weg zwischen der Assimilation, wie sie in der Zweiten Internationale Konsens war, und dem Nationalismus der Zionisten? Die Auseinandersetzung mit der Polnischen Sozialistischen Partei Piłsudskis hatte schon in den neunziger Jahren John Mill, Wladimir Kossowski und Arkadi Kremer in eine stärker nationale Richtung gedrängt. John Mill fand seinen dritten Weg, als er Anfang 1898 Kautskys Artikel „Der Kampf der Nationalitäten und das Staatsrecht in Österreich“ in der „Neuen Zeit“ las. Föderierte Nationalitäten ohne Rücksicht auf Grenzen und Territorien, das war die Lösung! Die kulturell-nationale Autonomie, wie Kautsky sie für die Völker des Habsburgerreiches skizzierte, das musste auch der Weg für das friedliche Zusammenleben in einem demokratisch verfassten Russländischen Reich sein. Mill verfasste zwei Artikel für die Zeitschrift „Der Jiddischer Arbeter“, die er in Genf herausgab. Darin übertrug er Kautskys Gedanken auf die Juden im Russländischen Reich.63 Auf dem dritten Kongress des Bundes im September 1898 im litauischen Kaunas erntete Mill deshalb herbe Kritik. Die Mehrheit meinte, im Kampf gegen den Antisemitismus genüge es, gleiche staatsbürgerliche Rechte zu fordern. Die USA und Großbritannien seien ja das Beispiel. Mills Anhänger verwiesen dagegen auf die Lage der Polen im deutschen Kaiserreich, wo sich Rechtsgleicheit mit Antisemitismus trefflich vereine. Die Sache blieb unentschieden. Der Kongress beschloss, das Kommunistische Manifest und Kautskys Erfurter Programm auf Jiddisch zu veröffentlichen.64 Strikter Internationalismus sollte die Richtschnur bleiben: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Mill gab nicht auf und wurde bestärkt durch eine kleine Schrift des sozialdemokratischen Abgeordneten im österreichischen Reichstag Karl Renner, der Kautskys Gedanken verfassungsrechtlich untermauerte und radikalisierte. Er forderte die Nationalitäten gänzlich von Grenzen zu lösen, also auch von Sprachgrenzen, und sie als Korporationen aufzufassen, die auch jene umschlössen, die verstreut unter anderen Nationen lebten.65 Mill schrieb 1899 über Renners Schrift in „Der Jiddischer Arbeter“; er veröffentlichte dort im Dezember 1899 auch Kautskys Artikel.66 Tatsächlich revidierte sich der Bund unter dem Eindruck dieser Autoritätsbeweise. 62 63 64 65 66
Medem, Portnoy 1979, S. 261 – 263 Jacobs 1992b, S. 124 f. Frankel 1984, S. 218 – 220; Tobias 1972, S. 88 Synopticus (d. i. Karl Renner) 1899 Gechtman 2005, S. 19 – 31; Tobias 1972, S. 106 – 109
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Kremer und Kossowski, die aus der Haft freigekommen waren, haben ebenfalls die Waage in die nationale Richtung geneigt. In enger Anlehnung an Kautskys Artikel bekannte sich der Bund im April 1901 in Białystok zum nationalen Kampf: „Der Kongress anerkennt, dass das sozialdemokratische Programm nicht nur die Unterdrückung einer Klasse durch eine andere verdammt; nicht nur die der Bürger durch die Regierung, sondern auch die Unterdrückung einer Nationalität durch eine andere, und die zwangsweise Verdrängung einer Sprache durch eine andere. – Der Kongress anerkennt, dass ein Staat wie Russland, der aus vielen verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzt ist, sich in der Zukunft zu einer Föderation von Nationalitäten entwickeln muss, in der jede Nationalität volle nationale Autonomie genießt, unabhängig von dem Territorium, auf dem sie lebt. – Der Kongress anerkennt, dass der Begriff ‘Nationalität’ auch für die Juden anwendbar ist“.67 Mit all diesen Beschlüssen, Schriften und Artikeln setzte sich Wladimir Medem auseinander, als er nach dem besonderen Ort der jüdischen Partei in der internationalen Sozialdemokratie suchte. Da erschütterte der Pogrom im südrussischen Kischinew die zivilisierte Welt, schrecklicher Höhepunkt einer neuen Pogromwelle im Ansiedlungsrayon. Am Osterfeiertag 1903 verloren in diesem Massaker mehr als vierzig Juden ihr Leben, zehnmal so viele wurden verletzt, mindestens 1.500 Wohnungen und Läden verwüstet. Die antisemitische Politik des Zarenreichs war zumindest insofern schuldig, als sie die Aufhetzung der Massen beförderte und die Opfer nicht schützte. Die liberale Öffentlichkeit Westeuropas und der USA protestierte.68 Karl Kautsky schrieb auf Bitten der polnischen Sozialdemokraten unverzüglich einen Aufsatz für die „Neue Zeit“, der den ganzen Abscheu gegenüber diesen Gräueln ausdrückte, aber auch die Frage zu beantworten suchte, warum das arme russische Volk seinen Hass nicht gegen das Zarenregime, sondern gegen seine dürftigen jüdischen Nachbarn kehrte. Als Heilmittel empfahl er Volksaufklärung und Bildung des revolutionären Bewusstseins, damit Juden und Christen in einer Front gegen ihre wahren Peiniger stünden.69 Das war auch die Meinung des Bundes. Der beließ es jedoch nicht bei der revolutionären Propaganda, sondern ging daran, Selbstverteidigungseinheiten aufzustellen. Sie boten noch im selben Sommer den nationalistischen „Schwarzen Hundertschaften“ beim Pogrom in Gomel die Stirn. In der Revolution von 1905 sollten die Kampfgruppen des Bundes bei der Verteidigung von Demonstrationen und Streiks wichtig werden, ebenso wie die jüdischen Kampfgruppen der polnischen Sozialisten, die von Piłsudskis Kampforganisation im Stich gelassen wurden.70 Medem reiste in den Wochen nach dem Pogrom durch die russischen Kolonien der Schweiz und Deutschlands, um die Politik des Bundes zu erklären. Dabei traf er in Karlsruhe das erste Mal auf Trotzki.71 Er hatte schon durch dessen Schwester, eine Berner Studentin, von dem 67 68 69 70 71
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Zitiert: Frankel 1984, S. 220 Dieckmann 1995, S. 44 – 49, 80 – 86 Kautsky 1903 Tobias 1972, S. 224 – 227 Trotzki 1930
jungen Revolutionär in der sibirischen Verbannung gehört. Nun gehörte Trotzki zum Kreis um Lenin. Medem war wegen dessen scharfem Verstand und seiner noch schärferen Zunge gleichermaßen angezogen und abgestoßen. Beide führten eine öffentliche Debatte über das nationale Programm des Bundes von 1901; die Teilnahme eines Zionisten trug zur Zuspitzung bei. Trotzki widersprach natürlich der These, dass die Juden eine Nation seien, ebenso wie der Notwendigkeit, neben dem Klassenkampf noch nationale Ziele zu verfolgen.72 Von dieser Begegnung ist ein Dialog überliefert. Medem fragte Trotzki: „Aber für Ihre eigene Person können Sie doch nicht ignorieren, dass Sie einer bestimmten Nation angehören. Sie selbst, nehme ich an, betrachten sich eher als einen Russen, denn als einen Juden?“ Trotzki gab kurz zurück: „Nein, Sie irren sich! Ich bin ein Sozialdemokrat, nichts sonst“.73 Das war auch noch immer die Meinung der meisten Führer des Bundes, trotz der Beschlüsse von 1901 und des Pogroms von Kischinew, der ja nur die Spitze des antisemitischen Eisbergs war. So tief war der Internationalismus, den die Antisemiten jüdischen Kosmopolitismus nannten, verinnerlicht. Die Abgrenzung gegen den rasch wachsenden Zionismus mag dazu gedrängt haben, die jüdische Frage zu negieren. Ebenso wichtig war wohl die in der Internationale herrschende Ansicht, dass die Juden keine Nation sein könnten und auf dem Weg in die Moderne durch Assimilation in den Mehrheitsvölkern aufgehen würden. Am entschiedensten vertraten die konkurrierenden polnischen und russischen Sozialdemokraten solches Assimilationsdenken. Jack Jacobs machte hinter den schockierenden Äußerungen, die beispielsweise von Rosa Luxemburg über die jüdischen Sozialisten überliefert sind, das Verlangen der assimilierten Warschauer Hauptstadtjuden aus, sich möglichst weit von der deprimierenden StetlWelt abzusetzen.74 Die Auffassung der Sozialisten über die Assimilation ging auf Marx’ antisemitisch gefärbte Frühschrift „Zur Judenfrage“ zurück und schien durch die erfolgreiche Emanzipation der westeuropäischen Juden bestätigt. Kautsky lag Antisemitismus fern, und er berief sich daher nicht auf Marx. Er kannte die völlig andere Bedrängnis der russischen Juden, und er hatte große Sympathie für das Wirken des Bundes. John Mill erfuhr dies – wie andere Bundisten auch – bei einem Besuch in Friedenau während eines langen Gesprächs.75 Allerdings vertrat Kautsky in dem Artikel zu Kischinew ebenfalls die Ansicht, dass Assimilation der vorgezeichnete und wünschenswerte Weg zur Emanzipation sei.76 Erst in seiner großen Streitschrift gegen den Antisemitismus „Rasse und Judentum“ (1914), gestand er zu, dass dies nur auf lange Sicht geschehen könne. In jener späteren Schrift sah er es als Aufgabe des Bundes, zuvor dahin zu wirken, dass sich die jiddischsprachige Nationalität voll entfalte. Die Assimilation folge schließlich der nationalen Emanzipation in der sozialistischen Gesellschaft, sie sei kein Weg dahin. Karl Marx hatte siebzig Jahre zuvor böse geschlossen: „Die
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Medem, Portnoy 1979, S. 267 – 270 Levin 1977, S. 291 Jacobs 1992a, S. 84 Jacobs 1992c, S. 24 Kautsky 1903, S. 306
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gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum“.77 Kautsky endete hoffnungsvoll: „Ahasver wird dabei endlich zur Ruhe kommen. Er wird fortleben in der Erinnerung als der größte Dulder der Menschheit, der am meisten von ihr gelitten, der ihr am meisten geschenkt“.78 Medem suchte also einen Weg zwischen dem Nationalismus Chaim Weizmanns und dem Assimilationismus Trotzkis. Auf dem 5. Bundeskongress in Zürich im Juni 1903 schlugen die Wogen hoch, zwölf Stunden stritten die Bundisten über die nationale Strategie nach Kischinew. Gechtman gibt die Auseinandersetzungen nach dem erhaltenen Protokoll wieder und meint, dass eine Spaltung des Bundes gedroht hätte.79 Nur Mill, Kremer, Kossowski und der junge Mark Liber vertraten noch das nationale Programm von 1901. Die Mehrheit meinte, das Programm sei damals nur unter dem Druck der nationalistischen Polnischen Sozialistischen Partei und der Zionisten angenommen worden, und es könne keinen Bestand haben. Die Betonung nationaler Differenzen und nationaler Ziele würde nur Streit in die internationale Bewegung tragen, vornehmlich in die russländische, und somit vom Kampf abhalten. Medem entwickelte nun in einem eindrucksvollen Vortrag seinen dritten Weg des „Neutralismus“. Hinter diesem Konzept konnte sich schließlich die Mehrheit versammeln und das nationale Programm von 1901 noch einmal bestätigen. So rettete Medem die Einheit des Bundes und stieg zugleich unverhofft zum leitenden Theoretiker der Partei auf. Was bedeutete nun Neutralismus? Medem hat dies 1904 unter dem Titel „Sozialdemokratie und nationale Frage“ in „Der Jiddischer Arbeter“ näher ausgeführt; in englischer Übersetzung ist der Artikel online zugänglich.80 Gut marxistisch geht Medem davon aus, dass der Nationalismus im Grunde eine bürgerliche Strategie zur Ausweitung und Abgrenzung von Märkten sei. Der Nationalismus, der den Kampf der Nationen als den eigentlichen Inhalt der Geschichte und die nationale Kultur als das Eigentliche der Gesellschaft hinstelle, lenke vom sozialen Kampf ab und nähme die Arbeiter in Geiselhaft für die Ziele der Bourgeoisie. Es sei kein Unterschied, ob es sich um einen unterdrückten oder herrschenden Nationalismus handele, denn nach der Befreiung verkehrten sich die Fronten der beiden nur. Ein Nationalgeist, eine Nationalkultur mit eigenem Inhalt existiere nicht, denn das Nationale könne nur die unterschiedliche Färbung sein, in der die universellen Menschheitswerte bei den Völkern auftreten, der nationale Stempel, den jedes Volk der Menschheitskultur aufdrücke. Soviel offenbar an die Adresse der polnischen Nationalisten wie der jüdischen Zionisten. Aber auch der Assimilationismus sei keine Antwort, denn auch er diene den Interessen der Bourgeoisie, nämlich den Interessen der herrschenden Bourgeoisie, die so ihren Markt erweitere. Zwangsassimilation sei besonders schlimm für die Arbeiter, die nur ihre Muttersprache hätten und dann vom Zugang zur Kultur und zum politischem Leben ausgeschlossen seien, 77 78 79 80
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Marx 1956 – 1990a, S. 71 Kautsky 1976, S. 94; siehe: Jacobs 1992c Gechtman 2007, S. 74 – 76 Medem 1904; Medem 2010; vgl. die Interpretation von Traverso 1995, S. 111 – 116
während die Bourgeoisie der unterdrückten Völker mittels Assimilation Zugang zum großen Markt gewänne. Der Assimilationist sei ein umgekehrter Nationalist, der jüdische Assimilationist also ein polnischer oder russischer Nationalist. Soviel wohl vor allem an die Adresse der Genossen Luxemburg und Trotzki. Sozialdemokraten müssten deshalb gegen die nationale Unterdrückung kämpfen, ohne den Erhalt der nationalen Eigenart zum Ziel zu erheben. Sie müssten jedem Zwang zur Assimilation entgegentreten, ohne die Assimilation dort zu hindern, wo sie unaufhaltsam mit der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens voranschreite. Sozialdemokraten müssten also im Hinblick auf die anonyme Tendenz der Geschichte neutral sein. – Es ist bemerkenswert, dass Revolutionäre, die angetreten waren, die Welt aus den Angeln zu heben, sich hier auf den schmalen Grat der Neutralität gegenüber einem anonymen Geschichtsprozess retteten. Auf dem zweiten Parteikongress der Russländischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei wenige Wochen später sollte der Bund unter dieser Fahne um seine Existenz kämpfen.
Ringen mit Lenins Partei Das Verhältnis der russischen Partei zum Bund war von Beginn an schwierig gewesen. Für den großrussischen Hochmut war es offensichtlich eine Kränkung, dass die jüdischen Sozialdemokraten eine stabile Organisation von rund 30.000 Mitgliedern aufgebaut hatten. Der Bund konnte dem Kongress der Russländischen Partei einen eindrucksvollen Bericht über die letzten zwei Jahre vorlegen. Darin war von Streiks und Demonstrationen mit Tausenden Arbeitern die Rede, von Zeitschriften, Flugblättern und politischen Broschüren, von seiner Verankerung in den Städten zwischen der litauischen Ostseeküste und dem Schwarzen Meer.81 Der Bund war d i e wirkliche sozialdemokratische Partei in Russland, weit vor der russischen, die wenig mehr war als die Verknüpfung intellektueller Zirkel im Ausland mit kleinen Gruppen in den großen Städten Russlands. Das Verhältnis wurde nicht einfacher mit dem wachsenden Zwiespalt der verschiedenen Emigrantengruppen der Partei. Als Lenin sich 1900 anschickte, mittels der Zeitung „Iskra“ die Macht zu übernehmen, musste er auch den Angriff auf den Bund eröffnen. Medem charakterisierte Lenins Plan der „Partei neuen Typs“ als sein Streben nach einer konspirativen Kommandostruktur, die den lokalen Organisationen keine Macht ließe, von außen und oben gelenkt durch ein Komitee, das mit der Redaktion der Iskra identisch wäre.82 Es ging also eigentlich um eine Partei ziemlich alten, blanquistischen Typs in der russischen Tradition des Verschwörertums und des Anarchismus, für die Bakunin und die Narodnaja Wolja standen. Der lokal verwurzelte und vernetzte Bund passte nicht in dieses Modell, sein Anspruch auf gleichberechtigte Autonomie unter dem Dach der russländischen Partei schon gar nicht.
81 82
Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland, 1904 Medem, Portnoy 1979, S. 229
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Lenin griff seit Beginn des Jahres 1903 den Bund in den Spalten der Iskra immer schärfer an, und er schwor in Briefen seine russischen Genossen für den bevorstehenden Parteikongress auf seine Linie ein: „Und jedem muss eingetrichtert werden, bis es fest ‚im Schädel sitzt‘, dass man gegen den Bund einen Krieg vorbereiten muss, wenn man mit ihm Frieden haben will. Krieg auf dem Parteitag, Krieg bis zur Spaltung – um jeden Preis“.83 Die Führer des Bundes spürten die Konfrontation, aber sie glaubten noch, dass es um programmatische Differenzen ginge. Niemand wollte die Spaltung. Drei führende Bundisten richteten aus dem Gefängnis einen flammenden Appell an den Bundeskongress, um jeden Preis einen Bruch zu vermeiden, dafür auf das nationale Programm zu verzichten und sich der Iskra unterzuordnen.84 Der Zürcher Bundeskongress gab seinen Delegierten zum russländischen Kongress auf, die föderative Mitgliedschaft in der Gesamtpartei zu vertreten, als Minimum aber die Autonomie des Bundes in der Vertretung der jüdischen Arbeiter im ganzen Zarenreich zu behaupten. Alles andere wäre ja das Ende der jüdischen Sozialdemokratie.85 Medem war anfangs nicht unter den Delegierten zum 2. Kongress der Russländischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Man holte ihn dazu, um das Konzept der nationalen Neutralität vorzutragen. Es kam nicht dazu. Die fünf Bundisten standen gegen die versammelte Überzahl der um Lenins Iskra gescharten Delegierten. Am 18. August lehnte der Kongress mit großer Mehrheit auch den Minimalantrag ab. Daraufhin erklärte Mark Liber die Trennung von der russländischen Partei.86 Er war während der Auseinandersetzungen zum Wortführer geworden, während Medem ziemlich sprachlos daneben stand. Dass Lenin anschließend auch noch den Bruch zwischen Bolschewiki und Menschewiki einleitete, fiel zunächst kaum ins Gewicht. Gegen den Bund hatten alle zusammengestanden, auch spätere Führer der Menschewiki wie Martow, einst Aktivist der Wilna-Gruppe.87 Die Delegierten mussten nun das Geschehene berichten und erklären, die einen den Organisationen daheim in Russland, die anderen, wie Medem, in den Auslandskolonien. Es gab Austritte, Übertritte zur russischen Partei.88 John Mill schreibt in seinen Erinnerungen, dass er bei der Nachricht „offen weinte wie ein Kind, ohne Scham“.89 Nachdem der Bund aus der russländischen Partei gedrängt war, rechtfertigte Lenin dies im Oktober 1903 in der „Iskra“: „Die Idee einer jüdischen ‚Nationalität‘ trägt einen betont reaktionären Charakter nicht nur unter ihren beständigen Anhängern (den Zionisten), sondern auch unter denen, die sie 83 84 85 86 87 88 89
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Lenin 1967 – 1976, S. 284 Frankel 1984, S. 236 Medem, Portnoy 1979, S. 281 f.; Frankel 1984, S. 240 Tobias 1972, S. 211 – 217; Medem, Portnoy 1979, S. 283 – 291 Martow 1973, S. 65 f., 85 f. Medem, Portnoy 1979, S. 302 Frankel 1984, S. 250
mit den Ideen der Sozialdemokratie zu verbinden suchen (den Bundisten). Die Idee widerspricht den Interessen des jüdischen Proletariats, weil sie in ihrer Mitte direkt und indirekt eine feindselige Stimmung gegen die Assimilation schafft, einen ‚Getto-Geist‘“.90 Medem hat spätestens nach diesen Ereignissen Lenin herzlich verabscheut. Schon bei der ersten Begegnung Anfang 1902 in Bern hatte er einen ungünstigen Eindruck. Lenins Durchsetzungswille und seine misstrauischen kleinen Augen erinnerten ihn an einen „listigen russischen Getreidehändler“.91 Dieses Urteil war durch die Erfahrungen geprägt, die Medem noch mit dem Führer der Bolschewiki machen sollte. Es war auch nicht unbeeinflusst von Beschimpfungen, die die jüdischen Parteiführer seitens der Russen und Polen erdulden mussten, so als Rosa Luxemburg sie auf dem Londoner Kongress 1907 als jüdische Zuckerkrämer verunglimpfte.92 Der erzwungene Auszug aus der russländischen Partei hatte Konsequenzen für die Position des Bundes in der Sozialistischen Internationale. Der Bund hatte bisher einen beträchtlichen Teil der gesamtrussischen sozialdemokratischen Delegation auf den internationalen Kongressen gestellt und war auch im Internationalen Büro vertreten gewesen. Auf dem Sozialistenkongress in Amsterdam 1904 hingen die Bundisten nun in der Luft, wie Medem als Delegierter wahrnahm. Sie konnten sich nicht den Sozialrevolutionären anschließen, die das zweite russische Votum besaßen, oder sich gar um die Anerkennung als exterritoriale, internationale jüdische Partei bemühen, wie der Sozialrevolutionär Schitlowski empfahl. „Wir sind russische Sozialdemokraten“, beharrte Wladimir Medem. Durch Kautskys Vermittlung wurde das sozialdemokratische russische Votum geteilt, der Bund erhielt eine eigene Stimme in der Internationale.93 Kautskys Sympathien für die jüdischen Sozialdemokraten gaben den Ausschlag. Er hatte auch den Arbeitsbericht des Bundes an den Parteitag der russländischen Gesamtpartei unverzüglich in der „Neuen Zeit“ abgedruckt.94 Erst zwei Jahre später war dort ein Bericht der Lenin-Gruppe über die Jahre 1898 bis 1903 zu lesen, worin der Bund nur im Zusammenhang mit seinem Austritt vorkommt, der fälschlich als freiwillig deklariert wird. Die unermüdlich streikende Arbeiterbewegung wird darin wesentlich der Iskra-Gruppe im Exil zugeschrieben – ein Paradox, da diese Gruppe zugleich den Feldzug gegen die „Ökonomisten“ führte.95 Nach dem Bruch mit der russischen Partei war der Bund von feindlichen Brüdern umzingelt. Die Polnischen Sozialisten Piłsudskis bekämpften ihn unversöhnlich, weil er die polnische Unabhängigkeit nicht unterstützte, die polnischen Sozialdemokraten um Rosa Luxemburg attackierten ihn, weil er ihrem „internationalistischen“ Assimilationskonzept entgegen stand, und die drei übrigen jüdischen sozialistischen Parteien warfen ihm Internationalismus vor. Versuchten Medem und seine Genossen sich an der Quadratur des Kreises, wenn sie in diesem Umfeld unter der Flagge des Neutralismus jüdische Arbeiterpolitik machen wollten? 90 91 92 93 94 95
Zitiert: Hertz 1969, S. 62 Medem, Portnoy 1979, S. 227 Medem, Portnoy 1979, S. 428; Jacobs 1992a Medem, Portnoy 1979, S. 325 – 327 Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland, 1904 Axelrod 1906
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War nicht der Austritt aus der russischen Partei eigentlich die beste Lösung? Aber die meisten Führer des Bundes waren so sehr russische Sozialdemokraten, dass sie die erste Gelegenheit ergriffen, sich wieder zu vereinigen. Die kam schon im Mai 1906 auf dem Parteitag der russländischen Partei in Stockholm, den Lenin als Vereinigungsparteitag gestaltete, zum Zweck der Wiedervereinigung von Bolschewiki und Menschewiki ebenso wie mit dem Bund. Woher diese Wendung? Lenin brauchte Verbündete gegen die Menschewiki, die das Übergewicht in der wiedervereinigten Partei hatten. Die Wiederaufnahme gelang nur knapp, da die Menschewiki überwiegend dagegen stimmten. Tatsächlich unterstützten die Bundisten gegen die Menschewiki den Boykott der Dumawahlen. Der Bund erkaufte die Wiedervereinigung mit einem Kompromiss: Lokale Organisationen durfte er nur noch bilden, wo jüdische Arbeiter klar überwogen, aber unter den jüdischen Arbeitern durfte er weiterhin ohne regionale Eingrenzung tätig werden.96 Der siebente Bundeskongress stimmte in Lemberg im September 1907 mit großer Mehrheit der Wiedervereinigung zu. Medem trat als lebhafter Befürworter auf, ebenso natürlich die „Internationalisten“ um Isaiah „Judin“ Eisenstadt. Kossowski, Mill und „Slawek“ Grosser, die Väter der nationalen Konzeption, waren jedoch dagegen. Trotz der Tränen nach der Trennung angesichts von Lenins drakonischem Regiment in der russländischen Partei schien die Rückkehr teuer erkauft. Der Kongress sah den Beitritt als Kompromiss, denn er erblickte „im vorliegenden Statut eine Übergangsform der Vereinigung, die dem Bund die Möglichkeit eines erfolgreichen Kampfes innerhalb der Partei für den Sieg seiner Ansichten über die Organisations- und nationale Frage gibt“.97 Der Kongress wählte Wladimir Medem in das Zentralkomitee und signalisierte so, dass der Neutralismus auch weiterhin die Konzeption sein sollte, mit der man sich in der russländischen Partei behaupten wollte.98 So viel Halbheit und Vorbehalt – wie sollte das gut gehen!
Revolution 1905 – gescheiterte Hoffnung Der Bund hatte die Wiedervereinigung mit den russischen Sozialdemokraten im Mai 1906 noch in dem Glauben vollzogen, so für die unmittelbar bevorstehende entscheidende Schlacht mit dem Absolutismus besser gewappnet zu sein.99 Die Revolution von 1905 war Höhepunkt und Krise im Wirken des Bundes. Sie hatte alle apokalyptischen und messianischen Hoffnungen beflügelt. Der Sturz des Zarismus, Verfassung, bürgerliche Freiheiten und gleiches Recht für alle Nationalitäten, auch für die jüdische, schienen ebenso erreichbar wie Arbeiterherrschaft und gerechter Lohn und Land für die Bauern.
96 97 98 99
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Anin 1906; Frankel 1984, S. 247 – 256 A. L. (Litwak) 1907 Medem, Portnoy 1979, S. 378 f., 383 f., 395 – 397 A. L. (Litwak) 1906b; Kossowski 1908
Nach dem „Petersburger Blutsonntag“ am 9. Januar 1905 (alten Stils), als das Militär die vom Popen Gapon geführte Arbeiterdemonstration zusammenschoss, entfaltete der revolutionäre Prozess elementare Kraft. Weitgehend ohne Führung durch die im Exil sitzenden Parteizentralen schaukelte er sich auf in immer mächtigeren Streiks, Demonstrationen, blutigen Zusammenstößen mit Polizei und Militär. Die Angriffe des Militärs auf Demonstrationen streikender Eisenbahn- und Fabrikarbeiter, die Gegenaktionen der revolutionären Kampfgruppen, die Pogrome, gegen die sich die jüdischen Gemeinden bewaffneten, dies alles führte in eine Spirale der Massengewalt und der Massenfurcht. Der jugendliche Arbeiter Hersch Mendel in Warschau beschreibt Furcht als das beherrschende Gefühl jener Monate.100 Eine Studie über die Industriestadt Jekaterinoslaw (Dnipropetrowsk) im südlichen Ansiedlungsrayon zeigt die Kulmination in den Oktobertagen. Während kaum mehr als einer Woche überschlugen sich die Ereignisse. Die gemeinsame Trauer der Bürger und Arbeiter beim Begräbnis der Opfer von Militärgewalt und Pogrom und die allgemeine Hochstimmung nach dem Manifest des Zaren, das konstitutionelle Rechte zugestand, brachen jäh ab in einem drei Tage dauernden Pogrom, veranstaltet von einer unorganisierten Menge unter den beifälligen Augen der Obrigkeit.101 Medem saß währenddessen mit allen Führern des Bundes in der Schweiz fest; erst im November, nachdem der große russische Eisenbahnerstreik beendet war, konnte er nach Russland reisen. Zuvor hatte er noch Aufsehen in der jüdischen Presse erregt, weil er das in den Pogromen vergossene jüdische Blut in einem Vortrag als „Schmiermittel der russischen Revolution“ bezeichnet haben sollte. Er wehrt sich in seinen Memoiren gegen diese böswillige Interpretation, vergebens, denn sie hing ihm über den Tod hinaus an.102 In Russland erlebte er den Kipppunkt der Revolution. Als er ankam, war Wilna „unsere Stadt“, die Revolutionäre wurden im Klub der Intellektuellen hofiert und alle Häuser standen ihnen offen. Als er im Dezember von seiner Agitationsreise nach Odessa zurückkehrte, verschloss sich die Stadt feindselig gegen die gestürzten Helden.103 Die Revolution von 1905 war ein Wendepunkt in der Geschichte der russischen Juden, vergleichbar mit 1881 und womöglich wichtiger als 1917.104 Die Wellen der Pogrome und das Scheitern der messianischen Hoffnungen auf die Revolution führten in tiefe Verzweiflung. Die Auswanderung, vor allem in die USA, wurde zur Massenflucht. Besonders zahlreich gingen die Intellektuellen. Den sozialistischen Parteien liefen die Mitglieder davon. Der Bund, der im August 1906 noch 33.890 Mitglieder in 54 Ortsgruppen besaß, zählte ein dreiviertel Jahr später, im April 1907, nur noch 25.468 Mitglieder. Die Zahl der Ortsgruppen erreichte 1912 ihren Tiefpunkt mit 23.105 Entsprechend schwanden die Ressourcen. Auch der wichtige Spendenfluss aus den USA versiegte, denn die dortigen Organisationen des Bundes hatten alle Hände voll zu tun mit der Sorge für die Flüchtlinge. So fehlte das Geld für den Unterhalt der Funktionäre. Vor allem den Funktionären der Ortsgruppen, den „Halbintellektu100 101 102 103 104 105
Mendel, Löw-Beer 2004, S. 26 – 30 Surh 2003 Medem, Portnoy 1979, S. 354 Medem, Portnoy 1979, S. 365, 371 Nathans 2008 Levin 2008, S. 112 – 115
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ellen“ und den Arbeitern, gelang es, legale Arbeit auch weiterhin mit Arbeit für den Bund zu vereinen. Die studierten Lehrer oder Juristen, die für die zentralen Gremien arbeiteten, konnten das nicht; sie mussten häufiger die Parteiarbeit aufgeben oder emigrieren, wie es ein Drittel der Aktivisten des Bundes tat.106 Arkadi Kremer hatte während der Revolution im Petrograder Sowjet gearbeitet und war dann bis 1908 im Gefängnis. Er wirkte danach nicht mehr im Bund, ging 1912 nach Frankreich, wo er als Ingenieur arbeitete, und kehrte erst 1921 nach Wilna zurück. Dort lehrte er am Jüdischen Lehrerbildungsinstitut Mathematik. Seine Studenten wussten nur noch aus der Parteiliteratur von seiner bedeutenden politischen Vergangenheit. Erst 1927 stieß er wieder zum Bund.107 Wladimir Medem blieb zweieinhalb Jahre illegal in Russland, der Bund war verboten. Er gab gemeinsam mit Isaiah „Judin“ Eisenstadt, und Wladimir Kossowski eine Zeitung in Wilna und Kaunas heraus. Mehrmals erschien die Zeitung nach Verboten neu, als „Die Volks-Zeitung“ und „Die Hoffnung“, dann als Wochenzeitung „Der Morgenstern“.108 Die journalistische Arbeit war Medem auf den Leib geschrieben, die Redaktion einer Zeitung war schon länger sein großer Wunsch. Dabei lernte er nun auch Jiddisch.109 Während dieser Jahre besuchte er seine Schwester und die Brüder häufiger, er genoss bei den Aufenthalten in Moskau das Leben in der russischen Kultur und Sprache und fühlte sich wieder zuhause. Bitter war die Illegalität, die ihm den Aufenthalt in Minsk unmöglich und das Leben in Wilna schwer machte. Immer wieder musste er ein freudiges Wiedererkennen – „Du bist doch Medem, erinnerst du dich nicht?“ – schroff abwehren. Nachdem im Herbst 1907 das illegale Leben immer schwieriger und – wie er fand – nutzloser für die Partei wurde, entschloss Medem sich im Mai 1908 nach Genf zurück zu kehren.110 Hier heiratete er noch im selben Jahr Gina Birenzweig, eine 22-jährige Bundistin, Tochter eines assimilierten polnisch-jüdischen Kaufmanns, die schon als Gymnasiastin zum Schrecken der Familie die Fabrikarbeiter ihres Onkels sozialistisch agitiert hatte. Sie war soeben aus einer Haft freigekommen. In ihren Lebenserinnerungen schreibt sie über die Begegnung mit dem auffällig blassen, ernsten Mann: „In einer seltsam mädchenhaften Eingebung verstand ich plötzlich, was ich für diesen einzigartigen, begabten jungen Arbeiterführer tun musste, der der Welt so viel geben konnte, wenn da nur jemand wäre, der für ihn einem normalen, gesunden Leben und all den Erwartungen und Abwechslungen abschwören würde, die die Einbildung eines jungen Menschen beflügeln, sei es Junge oder Mädchen, einschließlich der Aussicht auf eine berufliche Karriere“.111
106 107 108 109 110 111
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Tobias, Woodhouse 1977 Pinson 1945; Pickhan 2001b, S. 70; Pickhan 2001a, S. 163 Medem, Portnoy 1979, S. 371 – 374, 376, 440 – 43 Medem, Portnoy 1979, S. 372 f. Medem, Portnoy 1979 Klepfisz 1994, S. 29
Sie hat diese liebevolle Aufopferung treu geleistet bis zu Medems frühem Tod. Mit der Heirat setzten sich beide über die Einwände von Ginas Eltern gegen den christlichen Bräutigam hinweg. Da Medems russisch-orthodoxe Kirche Ginas Konversion zur Bedingung machte, trat Medem zur lutherischen Konfession über. So wurden sie von einem lutherischen Prediger getraut, allein mit den Trauzeugen.112 Warum trat Medem bei dieser Gelegenheit eigentlich nicht zum Judentum über? Er erklärt es nicht.
Wege zur jüdischen Gasse Die bittere Niederlage der Revolution von 1905 bestärkte Parteien, die für die Emanzipation der jüdischen Arbeiter durch Siedlung und nicht durch Revolution stritten. Der Bund geißelte diese Parteien als nationalistisch, gerade wenn sie als sozialistisch firmierten. Medem polemisierte 1911 gegen die Auffassung einer „Jüdischen Weltnation“, womit er sich gegen den Zionismus allgemein und den Arbeiterzionismus insbesondere wandte. Nicht das weltweite, sondern das osteuropäische Judentum müsse zur Nation werden, und zwar in der russländischen Heimat. Weltweit teilten die Juden weder das historische Gedächtnis, nach dem Franzosen Renan Bedingung nationaler Identität, denn die Wege hätten sich seit der nebelhaften biblischen Frühzeit getrennt. Sie teilten auch nicht die hebräische Sprache, die die Zionisten wiederbeleben wollten. Die jüdische Nation lebe einzig noch in der jiddischen Kultur des östlichen Europa.113 Die „Sozialistischen Zionisten“ gingen auf Nachman Syrkins Gründung zu Beginn des Jahrhunderts in Minsk zurück. Die Partei soll 1905 schon rund 16.000 Anhänger gehabt haben.114 Syrkins Arbeiterzionismus entwickelte sich in Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Zionistischen Weltkongress Theodor Herzls. Die Sozialistischen Zionisten gingen davon aus, dass auch nach einer siegreichen Revolution der Antisemitismus des russischen Volkes nicht verschwinden würde, und dass die Erlösung der jüdischen Massen aus Armut und Unterdrückung durch Assimilation weder machbar noch wünschbar wäre. Sie sahen deshalb das Heil in der Massenaussiedlung und in der Errichtung eines eigenen sozialistischen Staates – nicht unbedingt in Palästina. Die Bewegung betrachtete wie der Zionistische Weltkongress das Hebräische als die nationale Sprache der Juden.115 Unter Syrkins frühen Schülern war der junge Ber Borochow, der zwanzigjährig 1901 in Jekaterinoslaw den „Sozialistischen Zionistischen Arbeiterbund Poale Zion [Arbeiter Zions]“ gründete.116 Borochows Organisation war während der Revolution in Jekaterinoslaw am stärksten und breitete sich in der ganzen Ukraine aus.117 Borochow propagierte einen Arbeiterzio112 113 114 115 116 117
Klepfisz 1994, S. 29 f. Gorny 2006, S. 40 f. Tobias 1972, S. 239 Halpern, Reinharz 1988 Katz 2010; A. L. (Litwak) 1906a; Traverso 1995, S. 120 – 132 Zimmerman 2004, S. 229 f.
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nismus auf marxistischer Grundlage, das verband ihn mit dem Bund und schürte zugleich die Feindseligkeiten. Er argumentierte, dass unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit, des Elends der kleinen Werkstätten und des Kampfes „Armut gegen Armut“ die Selbstbefreiung der jüdischen Arbeiter durch Klassenkampf unmöglich zu erreichen sei. Erst wenn die Juden in der Urheimat Palästina als Nation mit normaler Klassenstruktur siedeln könnten, wären ein erfolgreicher Klassenkampf und die sozialistische Revolution möglich.118 Poale Zion und die Sozialistischen Zionisten beförderten gleichermaßen die Auswanderung junger Juden nach Palästina und ihre Ansiedlung als Bauern oder Handwerker. Nach der Revolution von 1905 schwoll sie zur Auswandererwelle. Die Partei breitete sich bald über die Grenzen des Zarenreiches und nach den USA aus und erklärte sich zur weltweiten Organisation. Unter Führung von Ben Gurion schrumpfte Poale Zion letztendlich auf den nationalen Rahmen der israelischen Arbeiterpartei.119 Der Bund erklärte nun entschieden die „Gegenwartsarbeit“ zu seinem Feld. Die „Jiddischkeit“ und die „Hiesigkeit“ wurden in der Auseinandersetzung mit dem Zionismus zu Markenkernen des Bundes, gegen Hebräertum und verheißenes Eretz Israel. Doch auch der Arbeiterzionismus der Parteien von Syrkin und Borochow wandte sich nun mehr den alltäglichen Belangen der Arbeiter zu und ließ neben dem Hebräischen schließlich auch das Jiddische gelten. Jiddischkeit und Hiesigkeit verbanden den Bund mit der „Sozialistischen Jüdischen Arbeiterpartei“, der dritten Konkurrentin. Sie wurde nach dem Oktobermanifest 1905 als legale Partei von dem Sozialrevolutionär Chaim Schitlowski gegründet, entsprechend wurzelte sie in der Tradition der Volkstümler. In der Internationale hatte sie Stimmrecht über das Votum der Sozialrevolutionären Partei. Ihr Ziel war es, die jüdischen „Luftmenschen“ aus der Armut des Rayon hinauszuführen durch bäuerliche Ansiedlung im inneren Russland. So sollten zugleich der Gegensatz zum bäuerlichen russischen Volk und der russische Antisemitismus überwunden werden. Die Partei setzte sich für das Jiddische als Grundlage jüdischer Kultur ein und stritt für die national-kulturelle Autonomie, die durch einen jüdischen Sejm zu sichern wäre.120 Deshalb wurden die Anhänger auch „Sejmisten“ genannt. Ungeachtet der Gemeinsamkeiten suchte der Bund auch hier keinen Schulterschluss. Je schärfer die Bundisten in der russischen Partei wegen ihres vermeintlichen Nationalismus attackiert wurden, umso entschiedener grenzten sie sich gegen Arbeiterzionisten und Schitlowski-Sozialisten ab. Die Bundisten reagierten besonders erbittert auf ein Interview, das Plechanow Ende 1905 dem Zionisten Wladimir Jabotinsky gab. Darin schmähte Plechanow die Bundisten als Zionisten, die Angst vor Seekrankheit hätten. Gleichzeitig äußerte er sich anerkennend über Poale Zion.121 Die Rivalitäten gelangten in die Sozialistische Internationale. Der Bundist Boris Frumkin berichtete in der „Neuen Zeit“ über die „kleine Tragikomödie“ am Rande des Stuttgarter Sozialistenkongresses von 1907, wo der Bund und die russische Sozialdemokratie sich erfolgreich
118 119 120 121
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Borochov 1969; Perlmutter 1968 Gorny 2006, S. 58 – 70 Frankel 1984, S. 258 – 287 Frankel 2009, S. 160
gegen die Teilnahme der sozialistischen Zionisten sperrten.122 Auch Poale Zion blieb ausgesperrt. Die Geschichte wiederholte sich anlässlich des nächsten Kongresses. Dort beantragten die drei konkurrierenden jüdischen Parteien, gemeinsam als exterritoriale jüdische Sektion in die Internationale aufgenommen zu werden. Medem sah darin einen „nationalistischen Vorschlag“.123 Maxim Anin-Schatz, der führende Kopf der Sozialistischen Zionisten, konterte in den „Sozialistischen Monatsheften“. Er bezeichnete Medems Vorwurf als ganz und gar inkonsequent. Der Bund beziehe sich in seinem Programm ja selbst auf die exterritoriale jüdische Nation, und die Statuten der Internationale kennten keine Bindung der Nation an Staat oder Territorium. Der Bund sollte sich besinnen und gemeinsam mit den anderen jüdischen Parteien den Forderungen der Internationalisten nach Assimilation entgegentreten: „Der jüdischen Assimilation aber, als einem P r o g r a m m , mit ihrer zwar ungewollten, aber nichtsdestoweniger sich offenkundig geltend machenden Förderung des Asemitismus, den vom Antisemitismus schließlich nur eine Gefühlsnuance trennt, würde die Schaffung einer jüdischen Sektion eine ihrer Stützen rauben“.124 Hier muss man Anin wohl recht geben, der Neutralismus des Bundes stand dem assimilatorischen Internationalismus noch immer sehr nahe, solange er sich nicht klar zu dem tagespolitisch längst akzeptierten Programm von Jiddischkeit und Hiesigkeit bekannte. Die Differenz lässt sich jedenfalls nicht auf den Gegensatz von Revisionismus und Marxismus, Nationalismus und Internationalismus zurückführen, wie es Keßler möchte.125 Ungeachtet aller Proteste gegen Antisemitismus und Pogrome gab es Unverständnis und Vorbehalte in allen nichtjüdischen Parteien. Die Verurteilung des Antisemitismus verband sich aufs Beste mit der Ignoranz gegenüber der nationalen Dimension der osteuropäischen Judenfrage und der Forderung nach umstandsloser Assimilation. Diese Haltung fand Traverso bei Lenin, Stalin, Luxemburg und Trotzki, und er sieht sie nicht zu Unrecht allgemein bei Marxisten verbreitet.126 Auch Otto Bauer wollte in seinem Grundsatzwerk zur Nationalitätenfrage den galizischen Juden keine Autonomie zugestehen. Die fehlende geschlossene Siedlung und der niedere Stand der jiddischen Sprache und Kultur würden die osteuropäischen Juden hindern, wie die Tschechen von einer geschichtslosen zu einer historischen Nation aufzusteigen. Sie müssten sich mit der Entwicklung des Kapitalismus assimilieren. Also keine jüdischen Schulen, keine Förderung des jiddischen „Jargon“, und keineswegs eine gesonderte Partei! Die Gründung einer Abzweigung des jüdischen Bundes in Galizien 1905 geißelte Bauer deshalb als Separatismus.127 Indessen wandelte sich der Bund nach der Niederlage der Revolution unter dem Zwang der Umstände zur nationalen jüdischen Partei. Da die Verfolgungen illegale Arbeit fast unmög122 123 124 125 126 127
Rosin 1909 Medem 1910 Anin 1911, S. 400; Anin 1910 Keßler 1994 Mendelsohn 1964; Traverso 1995, S. 150 f. Bauer 1975, S. 430 – 435, 414 f.; Gechtman 2005, S. 35 – 48; Hanisch 2011, S. 96 – 101
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lich machten, verlagerte sich die Tätigkeit auf legale Organisationen. Die drei anderen sozialistischen jüdischen Parteien gingen denselben Weg, und in den Einrichtungen vor Ort traf man sich.128 Die intellektuellen Bundisten, die so lange gegen das Rabbinat und die Tradition gekämpft hatten, fassten nun in den jüdischen Gemeinden Fuß und setzten sich für die Verteidigung der Sabbatruhe ein. Sie engagierten sich in der Kulturarbeit, gründeten die „Gesellschaft für Musik, Tanz und Schauspiel (Harp)“ und schafften es sogar, in Lodz eine Jüdische Sektion der nationaldemokratischen „Gesellschaft für die Verbreitung der Aufklärung“ zu bilden. Eine dritte Säule waren die Gewerkschaften. Die Erfolge waren bescheiden, wie die „Stimme fun Bund“ klagte: „Die breiten Massen der Arbeitenden verloren letztlich das Interesse daran. In Białystok haben alle demokratischen Elemente den Jüdische-Kunst-Zirkel verlassen, sodass er sich in eine Amateurtruppe verwandelte; die Harp in Lodz hat auch Schwierigkeiten zu arbeiten“.129 Aber nichts war vergeblich. Es entstand ein Netzwerk jiddischer Arbeiterbibliotheken, Bildungseinrichtungen, Kindergärten und Konsumgenossenschaften. So überlebte die Organisation und die Aktivisten fanden ein legales Wirkungsfeld. Auf dem Kongress in Lemberg 1910 bekannte sich der Bund zu dieser Wendung von der illegalen zur legalen und von der politischen zur national-kulturellen Arbeit. Dies geschah erst nach erregten Debatten, in denen in alter Weise die jüdisch-nationale Fraktion mit Mark Liber, Wladimir Kossowski und Yekusiel „Noah“ Portney gegen die russisch-internationalistische um „Judin“ Eisenstadt stand. Erstmals war Jiddisch die Sprache des Kongresses – ein starkes Zeichen.130 Der Bund verließ somit den Neutralismus. Medem selbst sprach sich nun entschieden für die Entwicklung der modernen jüdischen Nationalität aus. Für sechs Millionen Juden sei Assimilation kein Weg; Klassenkampf und nationale Emanzipation ließen sich nicht trennen. In diesem Kampf schüfe die jüdische Arbeiterbewegung aus dem verachteten „Jargon“ eine nationale Sprache und aus Gettobewohnern eine moderne Kulturnation. An die Stelle der anonymen Tendenz der Geschichte, die den Neutralismus begründet hatte, trat nun das Volk selbst, das seine Kultur entwickelt und verteidigt: „Das organisierte jüdische Proletariat ist das Rückgrat der Kulturbewegung, wie es das Rückgrat der politischen Bewegung ist. Zusammen mit dem allgemeinen politischen Kampfe führt es den Kampf für die Entwicklungsmöglichkeiten seiner demokratischen Kultur“.131 Der Bund trieb wieder Wurzeln im jüdischen Alltag und gewann seine alte Stärke zurück. Als demokratische Massenbewegung erschien er auf der Wiener Parteikonferenz der russländi-
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Levin 2008 Levin 2008, S. 120 Medem, Portnoy 1979, S. 471 – 476; Zimmerman 2004, S. 249 – 252 Medem 1911, S. 263
schen Sozialdemokraten im August 1912. Medem hat den Bund auf dieser Konferenz vertreten. Er schreibt in seinen Erinnerungen – ähnlich wie Trotzki – von seiner Müdigkeit und Enttäuschung über den unendlichen Zwist in der russischen Sozialdemokratie, denn die AugustKonferenz brachte neuen Hader. Trotzki hatte diese Konferenz als einen letzten Versuch zur Einigung der russischen Sozialdemokraten organisiert. Doch Lenin, der zu Beginn des Jahres 1912 seine eigene bolschewikische Parteiorganisation gegründet hatte, boykottierte das Treffen und zog heftig gegen die „Liquidatoren“ vom Leder, die sein Konzept der Avantgardepartei im Untergrund ablehnten. Sein Zorn traf wiederum vor allem den jüdischen Bund als Vorreiter der national-kulturellen Autonomie, denn die Konferenz hatte sich auf Antrag der Juden und der Kaukasier dazu und zur föderalen Parteigliederung bekannt.132 Lenin beauftragte Stalin mit einer Kampfschrift gegen die „Liquidatoren“ und ihre österreichischen Ideengeber.133 Stalins Pamphlet „Nationale Frage und Sozialdemokratie“ erklärte national-kulturelle Autonomie für die Juden für unvereinbar mit dem Fortschritt und dem Klassenkampf des Proletariats, denn Sabbatruhe und jiddischer Jargon seien ebenso wie die Blutrache der Kaukasier mittelalterliche Gebräuche.134 Diese tagespolitische Schrift sollte das territoriale Prinzip zum Dogma kommunistischer Nationalitätenpolitik erheben. Lenin identifizierte sich völlig damit: „Der Artikel ist sehr gut. Es handelt sich um eine Kampffrage, und wir werden von unserer prinzipiellen Position gegenüber dem Gesindel vom ‘Bund’ um kein Tüttelchen abweichen“.135 Wladimir Medem war im Frühjahr 1912 nach Wien gekommen, um dort gemeinsam mit Bronisław Grosser, Abraham Litwak und Rafail Abramowitsch die Wochenschrift „Lebnsfragn“ herauszugeben. Nach viereinhalb Jahren erschien so wieder eine Zeitschrift des Bundes, sehnlich erwartet und freudig begrüßt. Wien lag außerhalb der Reichweite der zarischen Geheimpolizei und doch viel näher an Russland als Genf; Druck und Vertrieb erfolgten von Warschau aus. Gleichzeitig arbeitete Medem für große russische Zeitungen als Korrespondent, um den Lebensunterhalt zu verdienen, wie es zur selben Zeit auch Trotzki als Wiener Korrespondent der „Kijewskaja Mysl“ (Kiewer Gedanke) tat. Medem liebte das Wiener Kaffeehaus nicht weniger als Trotzki, der berühmte Stammgast des „Café Central“. Sie müssen sich vielfach und nicht nur zufällig begegnet sein, doch in beider Lebenserinnerungen findet sich davon nichts. Nach der Oktoberrevolution standen sie auf verschiedenen Seiten der Barrikade, so strichen sie Begegnungen aus dem Gedächtnis. Im Juni 1913 ging Medem, der das multikulturelle, lebensfrohe Wien in seinen Erinnerungen nicht genug rühmen konnte, zu seinem Bruder nach Kaunas, also zurück ins Zarenreich. Der Grund war offenbar das unstillbare Heimweh seiner Frau. Die Rückkehr geschah im Vertrauen auf die Amnestie zum 300. Thronjubiläum der Romanows, die viele politische Emi132 133 134 135
Gechtman 2008; Medem, Portnoy 1979, S. 464; Pickhan 2001a, S. 61 Stalin 1950, S. 363 f.; 379 – 381 Stalin 1950, S. 300 – 306 Stalin 1950, S. 364
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granten zur Heimkehr bewog. Doch Wladimir Medem wurde fast unverzüglich verhaftet und angeklagt. Anlass waren die „Lebnsfragn“. Schon die zweite Ausgabe erregte auf dem Weg zum Warschauer Drucker die Aufmerksamkeit der Geheimpolizei, weil Medem seine jiddischen Artikel mit lateinischen Lettern geschrieben hatte. Die hebräischen machten ihm immer noch Schwierigkeiten.136 Man warf ihn in den berüchtigten 10. Pavillon der Warschauer Zitadelle. Dort traf er auf führende polnische Sozialisten und Sozialdemokraten, wie Aleksander Prystor und Feliks Dzierżyński, die schon jahrelang eingekerkert waren, und auf zahlreiche Bundisten. Mit Kriegsausbruch begann eine schreckliche Odyssee durch russische Gefängnisse und zurück nach Warschau. Dort kam der Nierenkranke in lebensbedrohlichem Zustand ins Gefängnishospital. Als die Deutschen im August 1915 Warschau einnahmen, war er frei.137 Sein Zellengenosse erinnerte sich später mit Bewunderung und Zuneigung an den eleganten, blassen blonden Mann, den seine Genossen mit Verehrung umgaben und vor schweren und schmutzigen Arbeiten bewahrten.138 Wladimir Medems Lebenserinnerungen enden hier. Die letzten acht Jahre, die seiner Ansicht nach die wichtigsten seines Lebens waren, müssen ohne Selbstzeugnis erzählt werden.
Getrennte Wege Das Königreich Polen unter deutscher Besetzung stand unter Kriegsrecht und musste bis zur Erschöpfung Arbeitskräfte und Rohstoffe für die deutsche Kriegsführung liefern. Doch es gewann verglichen mit dem Regime des Zaren ein wenig mehr bürgerliche Freiheiten. So entstanden wieder legale Gewerkschaften unter Führung des Bundes, jüdische Teeküchen, Mittagstische und Konsumgenossenschaften. Wladimir Medem gab seit Februar 1916 erneut die „Lebnsfragn“ als Zeitung des Bundes heraus. Die Zeitung erschien bis 1920, bis Wladimir Medem den polnischen Bund verließ. Bedingung war eine Verbeugung vor den Besatzern im Editorial. Medem lobte darin ganz gegen die Parteilinie die Burgfriedenspolitik der deutschen Sozialdemokratie. Obwohl die Zeitung fortan nicht mehr von der strikten Anti-Kriegs-Linie des Bundes abwich, bleibt dies beschämend. Es soll während der Besatzungszeit Beziehungen zwischen dem Bund und der deutschen Sozialdemokratie gegeben haben; eine kleine Delegation habe sich aus Berlin auf den Weg gemacht.139 Medem setzte sich besonders für den Aufbau eines weltlichen, modernen jüdischen Schulwesens ein, um die Bildung der Kinder den religiösen Kräften zu entreißen und Jiddisch als offizielle Sprache im künftigen polnischen Staat zu etablieren. Er schuf die Organisation „Unsere Kinder“, aus der 1919 die „Zentrale Jiddische Schulorganisation“ hervorging. Sie wurde
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Medem, Portnoy 1979, S. 481 – 484, 496 f.; Levin 1977, S. 354 f. Medem, Portnoy 1979, S. 495 – 566 Samuel Portnoys Auszug aus Dvoraks Erinnerungen: Medem, Portnoy 1979, S. 550 – 558 Johnpoll 1967, S. 41 f.
vom Bund gemeinsam mit Poale Zion getragen und hat nicht nur die Jiddischkeit, sondern auch sozialistisches Gedankengut zur Grundlage gehabt. Bis 1927 unterhielt die Organisation rund 200 Schulen in Polen. Dieses jüdische Schulwesen gilt als eine bleibende Leistung Wladimir Medems, deshalb wurde 1926 auch das Kindersanatorium für Tuberkulosekranke nahe Warschau nach ihm benannt.140 Hatte sich Medem in früheren Jahren erbittert mit dem Zionismus auseinandergesetzt, suchte er nun Bündnisse mit anderen jüdischen Parteien, um der national-kulturellen Autonomie in einem künftigen polnischen Staat den Weg zu ebnen. So ging er 1916 zu einem Treffen jüdischer Organisationen im Vorfeld der Wahlen zu den Gemeindevertretungen, „wissend, dass der Bund die Wahlen gegen die Chassidim [religiöse Fundamentalisten, HS] verlieren wird. Das ist allemal besser, als die Kontrolle einer polnischen Gemeindevertretung“.141 Das Bündnis kam nicht zustande, der Bund ging daher in diesen Wahlkampf gemeinsam mit der PPS-Linken. In einer Atmosphäre des polnischen Nationalismus und Antisemitismus gewann er nur zehn Prozent der Stimmen und – aufgrund des Wahlsystems – nur einen einzigen der 90 Abgeordneten zum Warschauer Stadtrat.142 Die Februarrevolution 1917 in Russland sah den Bund in Gemeinschaft mit den Menschewiki als siegreichen Akteur. Die neue Regierung beseitigte sofort die mehr als 650 Bestimmungen, die im Zarenreich die Rechte der Juden beschränkt hatten.143 Der Bund erhielt starke Positionen in den Sowjets, einer der beiden Säulen der Doppelherrschaft. Der Bundist Henryk Erlich hatte als Mitglied des Russländischen Arbeiter- und Soldatenrats in Petrograd eine Schlüsselstellung inne. Die Bundisten in Polen blieben abgeschnitten. Medem gelang es nicht, nach Petrograd zu reisen, wo ihn der 10. Bundeskongress im April 1917 erneut in das Zentralkomitee gewählt hatte. Ganz in Medems Sinn entschied der Kongress, sich sowohl an einem alljüdischen Kongress, als auch an der Konstituierenden Versammlung des Russländischen Reiches zu beteiligen. Beide wurden gewählt, aber nach der Revolution der Bolschewiki konnten sie nicht mehr zusammentreten. Medem war entschieden gegen die Beteiligung der Menschewiki an der Koalitionsregierung mit den Konstitutionellen Demokraten („Kadetten“) und anderen bürgerlichen Kräften, er geißelte dies in den „Lebnsfragn“ als Betrug an den Arbeitern. Darin war er zu dieser Zeit mit Trotzki ganz einig, wie wir sehen werden. Der menschewikischen Theorie, dass sich der Kapitalismus in Russland erst entwickeln müsse, bevor der Sozialismus siegen könne, konnte er nichts abgewinnen. Schärfer noch urteilte er über Lenins Politik, die Revolution mit dem Schlachtruf „Alle Macht den Sowjets!“ weiterzutreiben. Der Ruf „Nieder mit der Regierung“ werde sich bald in „Nieder mit den Sowjets“ verwandeln, bis Lenin Diktator von Russland sei –
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Gorny 2006, S. 44; Pickhan 2001a, S. 90, 238 – 240 Gorny 2006, S. 45 Johnpoll 1967, S. 42, 50 – 52 Traverso 1995, S. 152
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eine hellsichtige Vorschau auf die Revolution der Bolschewiki. Nichts sei jedoch verderblicher, als Streit unter den Sozialisten, denn der könne nur die Konterrevolution ermutigen.144 Ehe das Jahr verging, wurden Medems Befürchtungen wahr, ein konterrevolutionärer Putsch wendete das Blatt zugunsten der Bolschewiki. Der Bund war mit den Menschewiki unter den Besiegten. Medem sah die Niederlage als Versagen der Menschewiki gegenüber dem revolutionären Verlangen der Massen: „Da waren Energien entfesselt, die nichts von komplexen politischen Theorien wussten, Energien, die nur eingefangen werden konnten durch simple Losungen: ‚Nieder mit den Herren!‘, ‚Nieder mit den Bossen!‘, ‚Machen wir uns selbst zu Herrschern des Landes!‘. Die Arbeiter verließen die Menschewiki und liefen zu Lenins Fahne“.145 Im Sommer 1918 erklärte Medem in der Wilnaer Zeitung „Unser Stimme“: „Sozialismus ist die Herrschaft – die wahre, nicht die fiktionale Herrschaft – der Mehrheit, die schließlich ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen muss“. Die Bolschewiki hätten hingegen die Diktatur einer Minderheit errichtet. Sie hielten sich nur durch Terror an der Macht, durch die gewaltsame Ausschaltung jeglicher Opposition, gestützt auf die Bajonette der Roten Garden und die allgemeine Apathie. So drohe die Konterrevolution.146 Medems Sicht stimmte wesentlich überein mit den gleichzeitig geäußerten Bedenken von Karl Kautsky, der sich auch einen Sozialismus ohne Demokratie, eine proletarische Herrschaft ohne die Zustimmung der Mehrheit des Volkes, nicht vorstellen konnte. Ähnlich wie Kautsky in Deutschland wurde Medem zum Rufer, der immer weniger Gehör fand. Die Oktoberrevolution der Bolschewiki veranlasste die Bundisten in Polen, einen eigenen Zusammenschluss zu bilden. Das geschah auf einer Zusammenkunft in Lublin im Dezember 1917, also im österreichischen Galizien. Diese Tagung gilt als Geburtsstunde des „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (,Bund‘)in Polen“. Es wurde ein eigenes Zentralkomitee gewählt, dem die alten Führer Waldimir Medem und Yekusiel „Noah“ Portney angehörten.147 Die Erwartungen an den neuen polnischen Staat, der sich im November 1918 formierte, waren begrenzt, für die jüdischen Sozialdemokraten war er klar die zweitbeste Lösung. Medem war überzeugt, dass die durch den Versailler Vertrag geschaffenen Nationalstaaten bald multinationalen Staaten weichen müssten, in denen die national-kulturelle Autonomie voll verwirklicht werden könnte.148 Er wollte jedoch die parlamentarisch demokratischen Mittel des polnischen Staates für dieses Ziel nutzen, denn eine revolutionäre Situation sah er nicht. Damit begab Medem sich schon auf der Landeskonferenz Ende des Jahres 1918 in Gegensatz zu einer wachsenden Minderheit, die an die Übertragung der russischen Revolution auf Polen glaubte und sich vor allem auf die Arbeiterräte stützen wollte.149 Man wollte es besser machen als die 144 145 146 147 148 149
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Johnpoll 1967, S. 54 – 61 Zitiert: Johnpoll 1967, S. 63 Johnpoll 1967, S. 65 Pickhan 2001a, S. 79 Gorny 2006, S. 44 Pickhan 2001a, S. 85; Johnpoll 1967, S. 82 – 85
Bolschewiki. Henryk Erlich, der seine Funktion im Allrussischen Sowjet niederlegte und im Sommer 1918 nach Warschau zurückkehrte, übernahm den Vorsitz im Warschauer Arbeiterrat. In „Unser Stimme“ beantwortete er die Frage, ob die Sowjetregierung eine Arbeiterregierung sei, bitter: „Nein. Sie hat kein Recht, sich Arbeiterregierung zu nennen. Sie hat kein Recht, im Namen der russischen Arbeiterklasse zu sprechen“.150 Piłsudskis östliche Feldzüge, die man als Staatsgründungskriege bezeichnen kann, zerstörten die Hoffnungen beider Fraktionen. Die Ausweitung der russischen Revolution schlug fehl, da die polnischen Arbeiter stärker nationalistisch als sozialistisch geprägt waren; die Arbeiterräte wurden aufgelöst. Der Krieg verschlechterte die Lage der Juden in Polen dramatisch, sie gerieten zwischen die Fronten des Kriegs. In Lemberg, Kielce, Wilna und anderen Orten flammten Pogrome auf.151 Auch der Minderheitenschutzvertrag vom Juni 1919, den die Versailler Konferenz Polen aufnötigte, konnte die mehr als drei Millionen Juden der Zweiten Republik nicht schützen. Natürlich nahm der Bund entschieden Stellung gegen den Krieg. Als Henryk Erlich im Januar und im Juli 1920 in der Warschauer Stadtverordnetenversammlung sofortige Friedensverhandlungen mit Sowjetrussland forderte, brach ein Tumult aus, vor dem sich die Bundisten mit knapper Not in Sicherheit bringen konnten. Die Presse eröffnete eine Kampagne, in der sie dem Bund die Kooperation mit dem sowjetischen Feind unterstellte, obwohl Erlich in jener Rede klar gesagt hatte: „Wir sind Gegner jeglicher Invasionen. Wir meinen auch, dass Sozialismus nicht auf der Spitze von Bajonetten gebracht werden kann“.152 Mit Erlich wurden zahlreiche andere Bundisten verhaftet, die Zeitungen des Bundes wie auch die Partei selbst wurden für die Dauer des polnisch-sowjetischen Kriegs verboten. Medem erlebte mit Sorge, wie sich mit solchen Erfahrungen die Mitglieder des Bundes radikalisierten und die Anhängerschaft der Bolschewiki wuchs. Seinem Appell zur Beteiligung an den Sejm-Wahlen Anfang 1919 war die Partei nicht gefolgt, die Wahlen wurden boykottiert. Er suchte weiter nach Verbündeten für das Ziel der national-kulturellen Autonomie. Sein Bemühen um Zusammenarbeit mit bürgerlichen jüdischen Organisationen im Kongress für Jiddische Kultur stieß auf Ablehnung, ebenso sein Vorschlag zur Beteiligung an den jüdischen Gemeindewahlen 1918.153 Im April 1920 auf dem Parteitag in Krakau kam es zum Eklat. Der Kongress war ein Vereinigungsparteitag mit dem galizischen Bund, doch er wurde um ein Haar zum Spaltungskongress zwischen dem rechten und dem linken Flügel der Partei. Wie noch so oft in den nächsten Jahren im polnischen Bund ging es um die Verankerung in der Internationale. Die Bolschewiki, die sich nun Kommunisten nannten, hatten in Moskau eine eigene Kommunistische Internationale (Komintern) begründet, der sich europaweit die linken, mit der russischen Oktoberrevolution sympathisierenden Parteien anschlossen. Eine knappe Mehrheit des Krakauer Kongresses sprach sich für Beitrittsverhandlungen mit der Moskauer Internationale aus.154 Der
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Zitiert: Johnpoll 1967, S. 62 f. Abwiegelnd: Piotrowski 1998, S. 41 – 43 Zitiert: Pickhan 2001a, S. 81; Pickhan 1996, S. 424 f. Gorny 2006, S. 44 f., 89 f. Pickhan 1996, S. 426 – 429
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Anschluss kam schließlich nicht zustande, weil die Komintern im Juli desselben Jahres 21 Punkte für beitrittswillige Parteien aufstellte, worin sie strenge Unterwerfung unter die Moskauer Zentrale und Entfernung aller reformistischen Führer und Institutionen forderte. Die langjährige Auseinandersetzung mit Lenins Prinzipien der „Partei neuen Typs“ hatte zu tiefe Spuren ins Gedächtnis der Bundisten gegraben. Aber ein Teil der Mitglieder – genannt wird bis zu einem Viertel – spaltete sich zunächst als „Kombund“ ab und trat dann zur Kommunistischen Arbeiterpartei Polens über. Kurz vor seinem 25. Jubiläum spaltete sich also der Bund, der bisher mehr als andere sozialistische Parteien die Einheit gesucht und bewahrt hatte. Die Ortsgruppen vollzogen die Beschlüsse in Zorn und Trauer, nach entgegengesetzten Seiten auseinandergehend, die einen die alte Bundeshymne „Der Schwue“ (Der Schwur), die anderen die „Internationale“ singend.155 Es war nicht das Ende des Bundes. In der Zweiten Republik Polen gewann er in seiner Arbeit „gegen den Strom“ des Antisemitismus in den dreißiger Jahren erneut Anhänger und Einfluss „auf der jüdischen Gasse“, wie Gertrud Pickhan zeigt. Der Bund zögerte bis 1930, der Sozialistischen Arbeiter-Internationale beizutreten; denn er fühlte sich aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit und seiner revolutionär-marxistischen Ideologie den kommunistischen Parteien der Sowjetunion und Polens verbunden. Es war eine unerwiderte Zuneigung. Die polnische Kommunistische Partei bekämpfte den Bund erbittert, bis hin zum bewaffneten Überfall auf das Medem-Sanatorium 1930.156 Kehren wir zu Medem zurück. Wladimir Medem hatte im April 1920 auf dem Krakauer Kongress eine Niederlage erlitten, offenbar die schmerzlichste seines Lebens. Auf diesem Kongress wurde er nicht wieder in das Zentralkomitee gewählt. Zu Genossen sagte er, dass die Bindung des Bundes an die sowjetischen Kommunisten nicht von Dauer sein könne. Aber solange sie bestehen bliebe, wolle er nichts mehr mit dem Bund zu tun haben. Daraufhin legte er alle Parteiämter nieder und erklärte seine Auswanderung in die USA. Eine geplante Abschiedsveranstaltung zu seinen Ehren lehnte er brüsk ab.157 Im Dezember 1920 verließ er Warschau und ließ sich in New York nieder, wo er für die Bund-Zeitung „Forverts“ schrieb und seine Memoiren verfasste. Am 9. Januar 1923 starb Wladimir Medem an seinem Nierenleiden.158 Medem hatte in diesen letzten Jahren neben allen anderen Trennungen und Enttäuschungen noch die Krise seiner Ehe zu bewältigen. Die elegante, stolze und kluge Gina ging zwar mit ihm in das amerikanische Exil, aber sie wurde eine entschiedene Anhängerin des sowjetischen Kommunismus. Die persönliche Tragödie des Paares, das die 1916 geborene Tochter Natascha schon ein Jahr später durch eine Hirnhautentzündung verlor, mag zu der Entfremdung beigetragen haben. Die Entwicklung unvereinbarer politischer Positionen war schwerwiegender. Der Herausgeber Portnoy macht darauf aufmerksam, dass Medem in seinen Er-
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Pickhan 1996, S. 436 – 438 Pickhan 2001a, S. 322 – 324; 373 – 400 Johnpoll 1967, S. 95 Gechtman 2010
innerungen seine Frau gerade achtmal erwähnt.159 Und dies geschieht in gewundener Weise ohne Namensnennung. Nach seinem Tod führte Gina Medem das Engagement ihres Mannes für die moderne jiddische Bildung der Kinder fort, schrieb aber vor allem in Zeitschriften und Büchern werbend über das jüdische Leben in der Sowjetunion.160 Doch ist sie deshalb zu verurteilen? Die jüdischen Sozialisten in Sowjetrussland hatten bald ihren Frieden mit der Herrschaft der Kommunisten gemacht. Die schrecklichen Pogrome der Konterrevolution während des Bürgerkriegs gaben den Ausschlag, die Sowjetmacht war der einzige Schutz. Die sowjetrussische Kommunistische Partei verweigerte dem Bund, dem noch Mark Liber vorstand, im März 1921 endgültig die Aufnahme als föderierte Partei. Der Bund wurde aufgelöst, wie nach dem Kronstädter Aufstand alle konkurrierenden sozialistischen Parteien. Die Bundisten mussten einzeln in die Kommunistische Partei eintreten – eine vollständige Kapitulation. Innerhalb der Kommunistischen Partei wurden jüdische Sektionen unter straffer zentralistischer Führung gebildet. Die staatliche Entsprechung waren lokale Abteilungen des Jüdischen Kommissariats bei Stalins Volkskommissariat für Nationalitäten. Die Sowjetunion machte ihre Politik für die drei bis vier Millionen Juden mit jüdischen Kommunisten, die den jüdischen Arbeiterparteien nicht angehört hatten und nicht in der jiddischen Kultur verwurzelt waren. Erstaunlicher Weise nahm diese Politik vorrevolutionäre Maximen der jüdischen Parteien auf. Die jiddische Kultur- und Bildungspolitik folgte weitgehend dem Neutralismus des Bundes; die bäuerliche Siedlung in den westlichen Gebieten ging unverkennbar auf Ideen der Sozialistischen Jüdischen Arbeiterpartei Schitlowskis zurück; das weitgehend fehlgeschlagene Experiment eines Autonomen Jüdischen Gebiets in Birobidshan im fernen Sibirien versuchte den Arbeiterzionismus von Poale Zion aufzunehmen.161 Natürlich bedeutete all dies nicht die Erringung national-kultureller Autonomie, um die Medem und der Bund im Geist des Austromarxismus gekämpft hatten. Die hätte ein demokratisches Staatswesen erfordert. Doch die Juden lebten in der Sowjetunion befreit von Diskriminierung und Pogromfurcht mit neuen Bildungs- und Aufstiegschancen. Sympathien der polnischen und der amerikanischen Juden für die Sowjetunion sind daher erklärlich. Nicht nur Gina Medem, die mehrfach die Sowjetunion und auch Birobidshan bereiste, schaute zu lange weg.162 Der stalinistische Terror der dreißiger Jahre wendete das Blatt. Jüdische Kultureinrichtungen wurden geschlossen, Juden wahllos des Trotzkismus oder des „Bundismus“ angeklagt und hingerichtet. Auch Mark Liber kam 1937 so ums Leben.163 Die Bund-Führer Henryk Erlich und Wiktor Alter wurden im März 1943 in der Sowjetunion hingerichtet, zur Zeit des Warschauer Gettoaufstands, an dem der Bund so großen Teil hatte. Bernard Goldstein, ein überlebender Bundist, erinnert sich:
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Medem, Portnoy 1979, S. 359 Fn., 498 f. Fn. Klepfisz 1994, S. 30 – 33 Greenbaum 1965; Kuzmany 2005 Medem 1950 Traverso 1995, S. 152 – 158
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„Dann erlitt die Stimmung der jüdischen Arbeiter im Getto einen furchtbaren Schlag. Durch den polnischen illegalen Sender hörten wir, dass unsere Genossen Henryk Erlich und Wiktor Alter von der Sowjetregierung ermordet worden waren. Noch heute kann ich vor mir die Gesichter unserer Leute in jenen Tagen sehen, als wir erfuhren, dass unsere geliebten Genossen und Führer in Stalins GPU-Kellern umgebracht worden waren. […] Bei Gedenkfeiern versuchten wir die Motive zu analysieren, die zu diesem abscheulichen Verbrechen geführt hatten. Doch wir konnten nicht das verzerrte politische Denken eines Regimes begreifen, das zu solchen Mordtaten fähig war“.164 Wladimir Medem blieb im Bund unvergessen und hoch geehrt. Henryk Erlich widmete ihm einen langen Nachruf, beginnend mit den Worten „Es ist ein Lehrer, ein Wegweiser, ein anerkannter Führer von uns gegangen“.165 Anlässlich seines Todestages versammelten sich die Bundisten zu Gedenkfeiern, fast tausend waren es 1928 im Neuen Theater von Warschau. Nach ihm wurde nicht nur das Kindersanatorium in Polen benannt, sondern auch die 1929 gegründete Medem-Bibliothek in Paris, noch heute das größte Zentrum jiddischer Kultur in Europa.
164 Goldstein 1965, S. 163 165 Pickhan 2001a, S. 162 f.
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Leo Trotzki
Leo Trotzki (1879 – 1940) Luzifer der Revolution Trotzki ist ein Mythos der sozialistischen Bewegung, der Mythos einer uneingelösten Alternative zum Stalinismus. Der Trotzkismus beflügelt bis heute eine internationale sozialistische Strömung. Sie besteht wesentlich aus Intellektuellen und dominiert im Internet und auf dem Buchmarkt die Publikationen zu Trotzkis Leben und Wirkung. Auf der Gegenseite stand bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts die sowjetische Geschichtslegende, die für alle Länder und Parteien unter Moskauer Führung verbindlich war. Diese Doktrin tilgte Trotzki aus der Geschichte der Sowjetunion und des internationalen Kommunismus. Sie retuschierte ihn aus historischen Fotos heraus, schrieb seine Verdienste und Erfolge anderen Führern zu – vor allem Stalin – und verdammte ihn als Verräter. Von archaischem Hass getrieben ließ Stalin Trotzki und alle, die ihm nahe standen, ermorden und ihr Andenken auslöschen. Der Kehrichthaufen von Fälschungen und Verleumdungen, der Trotzkis Andenken begrub, war durch die Gegendarstellungen seiner Anhänger nicht einfach abzutragen. Zur Verteidigung gedrängt hat Trotzki selbst zur Vernebelung seiner historischen Rolle beigetragen, indem er sich kleiner und Lenin größer machte und sich über alle Zerwürfnisse hinweg als Jünger 241
Lenins beschrieb – so in seiner Autobiografie oder in seiner Darstellung der russischen Revolution, beide um 1930 entstanden.1 Die wunderbare Biografie von Isaac Deutscher folgt hierin zu sehr Trotzkis Intentionen, jedoch nicht im selben Maße wie das Monumentalwerk von Pierre Broué.2 Mit dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus sind die Kontroversen um Trotzki nicht verstummt; Dissertationen, Biografien und Aufsätze erscheinen, und der politische Streit entzündet sich an jedem Buch neu. Selbst Geoffrey Swains abwägende, kluge Biografie blieb nicht verschont.3
Frühe Reife Leo Trotzki war wie Medem ein jüdischer Russe. Er wuchs noch ferner vom Getto des Ansiedlungsrayons auf, in dem Kolonisationsgebiet um Odessa, das Katharina II. einst für Russland gewonnen hatte. Am 25. Oktober (alten Stils) des Jahres 1879 wurde er als Lew Dawidowitsch Bronstein auf dem Gut Janowka geboren. Schon sein Großvater war dem Rayon entflohen, um sich als Kolonist in „Neurußland“ anzusiedeln. Seine Eltern hatten das Gut halb gekauft, halb gepachtet und mehrten unermüdlich arbeitend mit harter Hand gegen Bauern und Lohnarbeiter den Wohlstand der Familie. Janowka lag Dutzende Kilometer von jeder Bahn- oder Poststation entfernt an einem der Enden der Welt: „In den unermesslichen Steppen des Gouvernements Cherson und der gesamten Noworossija führte das Reich des Weizens und der Schafe sein Leben nach besonderen Gesetzen. Es war gegen das Eindringen der Politik durch seine Ausdehnung und das Fehlen der Wege sicher geschützt“.4 In dieser wohlbestellten, behäbigen Umgebung genoss Ljowa seine Kindheitsjahre, als jüngstes von fünf überlebenden Geschwistern behütet von Familie und Gesinde, zärtlich geliebt wegen seiner Hübschheit und Klugheit. Die Eltern standen der jüdischen Kultur fern. Den religiösen Geboten kamen sie kaum nach, und sie sprachen nicht Jiddisch, sondern den lokalen ukrainisch-russischen Dialekt. Sie waren kaum gebildet; der Vater Dawid Bronstein war Analphabet, die Mutter Anna Bronstein las russische Romane, mit dem Finger die Zeilen entlangfahrend. Doch für ihre Kinder waren sie bildungsbewusst. Ihren Jüngsten schickten sie vom sechsten bis zum neunten Lebensjahr auf die Schule in der jüdischen Kolonie Gromoklej, wo er bei einer Tante einquartiert wurde, um Russisch, Rechnen und die hebräische Bibel lesen zu lernen. Trotzki schreibt, dass er dort kreuzunglücklich war und wenig lernte, vorgeblich, weil er sich mit den Jungen der Kolonie
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Trotzki 1930; Trotzki 2010a; Trotzki 2010b Deutscher 1972; Broué 2003 Wolkogonow 1992; Bergmann 1993; Placke 1994; Thatcher 2003; Swain 2006; Saccarelli 2008; Meißner 2011; Service 2009; dagegen die Trotzkisten North 2010; Weber 19.11.2011 Trotzki 1930, S. 7
nicht auf Jiddisch verständigen konnte.5 Mit neun Jahren wurde er nach Odessa auf die Realschule gesandt. Die Schule erwies sich als Glücksgriff, da sie unter der Aufsicht der lutherischen Gemeinde stand und neben russischen, polnischen und jüdischen Schülern zahlreiche Söhne deutscher und schweizerischer Einwanderer aufnahm. Vielfältiger und toleranter als an anderen höheren Schulen war auch der Lehrkörper. Der junge Bronstein beherrschte am Ende seiner siebenjährigen Schulzeit Deutsch und Französisch und kannte die westeuropäische Literatur so gut wie die russische. Er bewunderte Kultur und Institutionen Westeuropas, wie viele Intellektuelle in Russland. Als „Westler“ sahen sie sich den „Slawophilen“ gegenüber, den Verfechtern eines russischen Sonderwegs in die Moderne, zu denen auch die agrarsozialistischen Volkstümler zählten. Dankbar erinnert sich Trotzki an Moissej Filippowitsch Spenzer, einen Verwandten, bei dem er in Odessa lebte. Spenzer hatte als Verleger über Südrußland hinaus Erfolg. Dieser liberale Intellektuelle hat ihn zum denkenden Menschen erzogen, mehr noch als die Schule. Der Heranwachsende hörte gern den Gesprächen bekannter Schriftsteller und Künstler zu, die im Haus verkehrten, und er liebte es, seinem Mentor bei der Verlagsarbeit zu helfen. So entwickelte er die Leselust, die Hochachtung vor dem geschriebenen Wort und den Wunsch, selbst Schriftsteller zu werden. In der Tat sollte er die meiste Zeit seines Lebens mit der Feder sein Brot verdienen, und das auf anerkannt glänzende Weise. Trotzki erzählt, dass er bei Konflikten in der Schule oder zwischen den Landarbeitern und dem Vater auf dem heimatlichen Gut stets die Partei der Schwachen ergriff. Unglaubwürdig ist das nicht, auch wenn er so das Werden eines jungen Revolutionärs stilisiert. Der Schüler bildete früh eine aristokratische Geisteshaltung aus: „Ich versuche auf mich zurückzublicken. Der Knabe war zweifellos ehrgeizig, jähzornig, vielleicht auch unverträglich. […] Von dem Augenblick an, wo er, den Zweiten weit überholend, Primus wurde, fühlte der kleine Abkömmling aus Janowka, dass er mehr konnte als die anderen. Die Knaben, die sich ihm näherten, erkannten seine Überlegenheit an. Das konnte nicht ohne Einfluss auf seinen Charakter bleiben. […] Dem Knaben fehlte es nicht an Selbstkritik. Er stellte sogar große Ansprüche an sich. […] Der Gedanke, dass man besser, erhabener, belesener sein müsse, bohrte stets in seiner Brust. Er dachte an die Bestimmung des Menschen im Allgemeinen und an die seine im Besonderen“.6 Fluch und Segen seiner außergewöhnlichen Talente äußerten sich lebenslang in schwer erträglichem Hochmut und in hochgemutem Handeln. So war er zu Großem befähigt und machte sich viele Feinde. Weil die Odessaer Realschule nicht zur Universitätsreife führte, absolvierte er 1896/97 ein letztes Schuljahr in Nikolajew. Hier geriet er nun auf den Weg zum Revolutionär. Die Söhne seiner Wirtsleute waren überzeugte Sozialisten. Sie führten ihn in den geheimen Zirkel eines tschechischen Gärtners ein, bei dem sich auch altgediente Revolutionäre der Narodnaja Wolja trafen, des revolutionär-terroristischen Zweigs der Volkstümler. Im Herbst schrieb sich Bronstein zwar noch zu naturwissenschaftlichen Studien in Odessa ein, überwarf sich dann aber 5 6
Trotzki 1930, S. 37 – 39. – Kindheit und Schulzeit folgen der Autobiografie. Trotzki 1930, S. 87
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mit seinem Vater und zog in die revolutionäre Kommune, die sich im Gartenhaus des Tschechen zusammengefunden hatte. Lew Bronstein versenkte sich ganz in die einschlägige Literatur von John Stuart Mill über Jeremy Bentham bis zu Nikolai Tschernyschewskis berühmtem „Was tun?“. Er warf sich in die Debatten zwischen Volkstümlern und Marxisten, die die russische Jugend erregten, dabei die Partei der heroischen Attentäter gegen die „trocken rationalistischen Marxisten“ ergreifend. An und für sich sollte dem „Westler“ Bronstein der Marxismus näher gelegen haben, als der slawophile Agrarsozialismus der Volkstümler. Zum Marxismus bekehrte ihn aber erst die schöne, einige Jahre ältere Alexandra Lwowna Sokolowskaja. Alle in der Gruppe waren in sie verliebt, sie wählte Lew, den jüngsten der Feuerköpfe.7 Die Gruppe gründete einen „Südrussischen Arbeiterbund“, ein Zeichen ihrer Hinwendung zum Marxismus, denn die Frage, ob man sich der Bauernschaft oder den Arbeitern zuwenden, in diesen oder jenen die eigentliche revolutionäre Kraft sehen sollte, machte damals unter den russischen Sozialisten den sichtbarsten Unterschied aus. Lew Bronstein übernahm die Führung. Mit dem Vater bald wieder versöhnt, war er in die Fabrik eines Onkels in Odessa eingetreten, um Ingenieur zu werden. So konnte er Verbindungen zwischen den Fabrikarbeitern in Nikolajew und Odessa knüpfen und die Zeitung des Arbeiterbunds vertreiben. Rückblickend meint er: „Vielleicht niemals in all den späteren Jahren hatte ich Gelegenheit gehabt, mit den Arbeitern aus der Masse in so nahe Berührung zu kommen, wie in Nikolajew. Ich hatte damals noch gar keinen ‚Namen‘, und nichts hatte mich von ihnen getrennt. Die grundlegenden Typen des Proletariats sind dort für immer in mein Bewusstsein eingegangen“.8 Die meisten intellektuellen Berufsrevolutionäre, so auch Lenin, hatten kaum unmittelbare Kenntnis vom Arbeitermilieu. Der Südrussische Arbeiterbund war von April 1897 bis Januar 1898 aktiv. Dann merkte die Geheimpolizei, dass nicht gefährliche Revolutionäre, sondern „die Bengels im Garten“ dahinter steckten, und verhaftete die Gruppe zusammen mit etwa 200 Arbeitern.9 Fast zwei Jahre in den Gefängnissen von Cherson und Odessa folgten. Zeitweise waren die Haftbedingungen unerträglich, zu anderen Zeiten konnte Bronstein sich fast ungehindert in die europäische Geistesgeschichte versenken. Es war die Zeit Subatows und seines Polizeisozialismus, dem Wladimir Medem und seine Genossen gerade die Stirn boten. Auch Lew Bronstein ließ sich weder brechen noch korrumpieren, das Gefängnis schmiedete ihn zum Revolutionär. Ende 1899 erhielten die Gefangenen ohne Prozess ihr Urteil, die Führungsgruppe wurde auf vier Jahre nach Sibirien verbannt. Vor dem Transport ließen sich Alexandra und er im Moskauer Etappengefängnis vom Gefängnisrabbiner trauen. Trotzkis trockene Begründung in den Memoiren, es sei der Wunsch nach demselben Verbannungsort gewesen, wird durch seine mitgefangenen Freunde korrigiert. Sie berichten von der leidenschaftlichen Liebe beider.10 7 8 9 10
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Trotzki 1930, S. 93 – 100; Broué 2003, S. 40 – 46; Deutscher 1972a, S. 36 – 40 Trotzki 1930, S. 175 Trotzki 1930, S. 101 – 109; Broué 2003, S. 51 – 54; Thatcher 2003, S. 23 f. Trotzki 1930, S. 120; Deutscher 1972a, S. 51
Die Reise an die Lena und den Fluss hinunter nach Norden dauerte den Sommer und den Herbst des Jahres 1900. Es war derselbe Weg, den Józef Piłsudski, die Führer des jüdischen Bund und unzählige andere russische Sozialisten gegangen waren. In dem Goldsuchernest Ustj-Kut ließen Lew und Alexandra sich nieder, hier wurde 1901 Sinaida geboren und schon im folgenden Jahr das Töchterchen Nina. Bronstein verdiente den Unterhalt der Familie als Buchhalter bei einem Pelzhändler, bis er durch einen groben Fehler die Anstellung verlor. Es war nicht sein Metier. Nach mehreren Gesuchen wurde ihnen erlaubt, in das Städtchen Wercholensk bei Irkutsk umzusiedeln, wo das Klima bekömmlicher war, wo er schreibend sein Brot verdienen konnte, und wo er Verbindung zum sozialdemokratischen „Sibirischen Bund“ fand. Bronstein wählte das Pseudonym Antid Oto – „Gegenmittel“ – das ihm aus einem italienischen Wörterbuch entgegensprang. Er schrieb vor allem für die Irkutsker „Östliche Rundschau“, vornehmlich literarische Essays und Kritiken über das ganze Feld der modernen westlichen und russischen Literatur: Nietzsche, Hauptmann, Zola und Ibsen, Belinski, Uspenski, Gogol und Gorki.11 Die literarische Kritik blieb ein Pfeiler seiner schriftstellerischen Arbeit im Exil; von der Qualität legt der Gedächtnisartikel für Leo Tolstoi in der „Neuen Zeit“ Zeugnis ab.12 Im Sommer 1902 erreichte Bronstein Lenins Schrift „Was tun?“ mit einigen Nummern von dessen Zeitung „Iskra“ (Funke). Die Schrift mit dem Titel von Tschernyschewskis berühmtem Buch war ein Weckruf. Gerade weil sie dem Verschwörertum der Narodnaja Wolja entschieden näher stand als den Ideen von Marx, begeisterte sie so viele junge Intellektuelle in Russland.13 Die erzwungene politische Untätigkeit war Bronstein unerträglich geworden, zu fruchtlos schienen ihm die endlosen Debatten der Verbannten, zu eng wohl auch die Familie, deren Sorgen und Lasten kaum noch durch romantische Liebe aufgewogen wurden. Alexandra ließ den Mann ziehen, sie half ihm bei der Flucht. Für Frau und Töchter sorgten in der Folge die Eltern Bronstein. Sinaida wuchs lange Jahre bei den Großeltern auf und besuchte später mit ihnen den Vater im Exil. Hat der junge Revolutionär Frau und Kinder verlassen? Broué hält das für eine übelwollende Interpretation.14 Die Genossen in Irkutsk sorgten für respektable Kleidung und für einen falschen Pass. Bronstein trug den Namen eines Odessaer Gefängniswärters ein: Trotzki. Die deutsche Bedeutung „der Trotzige“ war gewiss bestimmend für diese Wahl. So kam er unangefochten über Samara und Wien, wo ihm Victor Adler Reiseunterstützung gab, an einem frühen Oktobermorgen in London bei Lenin an.15
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Trotzki 1930, S. 119 – 126; Deutscher 1972a, S. 52 – 63; Broué 2003, S. 63 – 69 Trotzki 1908 Martow 1973, S. 74 – 76; Ruge et al. 2010, S. 60 f. Broué 2003, S. 70 Trotzki 1930, S. 128 – 136; Deutscher 1972a, S. 63 – 65; Broué 2003, S. 69 – 71
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Lenins Feder – Lenins Keule – Lenins Widerpart Lenin beauftragte den Flüchtling, dem das Lob seiner journalistischen Arbeiten und der Beiname „die Feder“ voraus eilten, sofort mit Beiträgen zur „Iskra“. Er quartierte Trotzki bei Julius Martow und Wera Sassulitsch ein, der damals 53-jährigen, die als Studentin mit einem Attentat auf den Stadthauptmann von St. Petersburg zur Heldin der Volkstümler geworden war und später an der Seite Plechanows stand, des Vaters des russischen Marxismus. Julius Martow stand einst an der Wiege des jüdischen Bund und sollte bald zu Lenins Widersacher werden. Beide waren starke Raucher und verachteten häusliche Ordnung und Sauberkeit als bürgerliches Relikt. Im schöpferischen Chaos dieser Wohngemeinschaft entstanden in großen Debatten die Nummern der „Iskra“, die über ein Netz von Agenten ins Russische Reich gelangten und tatsächlich die verstreuten sozialdemokratischen Gruppen um Lenins Fahne scharten. Lenin stand in der Redaktion oft genug mit Julius Martow gegen „die Alten“ – Plechanow, Sassulitsch, Axelrod – und hoffte mit Trotzki seine Position zu stärken. Als er den vielversprechenden Neuling zum ordentlichen Mitglied der Redaktion machen wollte, protestierte Plechanow, dem Trotzki nicht respektvoll genug begegnete. Eine gegenseitige Abneigung auf Dauer entstand.16 In Frühjahr 1903 bereiste Trotzki im Parteiauftrag die Zentren der russischen Emigration, um Vorträge über die Bestrebungen der Iskra-Gruppe zu halten, denn Lenin schätzte ihn zu Recht auch als Redner. Dabei begegnete er in Karlsruhe Wladimir Medem, wie wir erinnern, und in Paris Jean Jaurès, der keinen großen Eindruck auf ihn machte, weil er ihn nur als Gegner sah. Und er traf die Kunststudentin Natalja Sedowa, die ihm die Sehenswürdigkeiten von Paris zeigte: „Odessa ist schöner“, meinte er. Natalja wurde seine Frau. Sie blieb es fürs Leben, wenn auch ohne Trauschein, denn seine Ehe mit Alexandra wurde nie geschieden.17 Diese Frühjahrsmonate waren angefüllt mit Vorbereitungen für den zweiten Parteikongress. Schon seit dem Vorjahr hatte Lenin mit Plechanow um das neue Programm und die Statuten gerungen. Schließlich schien alles unter Dach und Fach. Lenin hatte geschickt Einfluss auf die Auswahl der Delegierten genommen und so vorgesorgt, dass das letzte Hindernis beiseite geräumt werden konnte, das der faktischen Neugründung der Partei nach seinen Wünschen entgegenstand: der kräftige und selbständige jüdische Bund. Die Iskra-Mannschaft mit Martow und Trotzki stand fest hinter Lenins Parteikonzept, kam darin doch der Iskra-Redaktion die Rolle des politischen Zentrums zu, von dem das Zentralkomitee und somit alle sozialdemokratischen Organisationen in Russland zu steuern wären. Als der Kongress Ende Juli 1903 in Brüssel begann – vor der belgischen Polizei musste er im August nach London ausweichen – schien alles nach Plan zu laufen. Trotzki erwarb in seinem Auftreten gegen den Bund den Titel der Keule Lenins. Er verliert kein Wort darüber in seinen Erinnerungen – aus Scham?18
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Trotzki 1930, S. 146 – 149 Trotzki 1930, S. 140 – 143; Serge 1978, S. 21 f. Trotzki 1930, S. 150 – 154; Service 2002, S. 196 – 198, 204 – 206; Broué 2003, S. 76 – 82; Ruge et al. 2010, S. 62 – 66
Der Kongress ist in die sowjetische Parteigeschichte eingegangen als Ausgangspunkt der Spaltung der Partei in Bolschewiki und Menschewiki, einer Spaltung im Streit um einen Paragrafen der Statuten, der eine engere oder weitere Definition von Mitgliedschaft ins Auge fasste. Diese Erzählung besitzt nicht mehr Wahrheit als Geschichtslegenden im Allgemeinen. Die russischen Sozialdemokraten gingen nach diesem Kongress noch durch eine Vielzahl von Spaltungen und Vereinigungen, besonders in den Jahren 1908 bis 1910 ähnelten die Verhältnisse einem Tollhaus, sodass die Internationale es ablehnte, sich mit den russischen Querelen zu befassen. Erst 1912 formierten sich die Bolschewiki in einem Handstreich als eigene Partei, so die Spaltung vollziehend. Tatsächlich scheiterte Lenins Parteitagstaktik 1903, als er nicht nur sein Parteikonzept durchsetzen, sondern auch noch die Iskra-Redaktion umkrempeln wollte. Sie sollte nur noch aus Plechanow, Martow und ihm bestehen, die „Alten“ Wera Sassulitsch und Pawel Axelrod, hochangesehene Vorkämpfer der russischen Sozialdemokratie, sollten ausscheiden. Die Empörung darüber war groß, Trotzki schreibt: „Mein ganzes Wesen lehnte sich gegen diese erbarmungslose Absägung der Alten auf, die endlich bis an die Schwelle der Partei gekommen waren. Aus dieser meiner Empörung ergab sich der Bruch mit Lenin auf dem zweiten Kongress“.19 Eine Reihe erregter Redaktionssitzungen am Rande des Kongresses verschärfte den Streit über die Statuten im Plenum, sodass sich unter Martows Führung die meisten Delegierten der Emigration gegen Lenin stellten. Nach dem erzwungenen Auszug der fünf Delegierten des Bundes waren sie knapp in der Minderheit, sodass sie die Bezeichnung „Menschewiki“ auf sich zogen, während Lenins Anhänger als „Bolschewiki“ firmierten. Die Mehrheit ging den Bolschewiki auf nachfolgenden Konferenzen verloren, das eindrucksvolle Markenzeichen behielten sie bei. Trotz seines Abstimmungssieges hatte Lenin auf dem zweiten Parteikongress eine Niederlage erlitten; er trat selbst aus der Redaktion der Iskra aus. Die Iskra war nun Zeitschrift der Menschewiki, redigiert von der alten Formation, ohne Lenin, aber mit Trotzki.20 Hinter den wenig bedeutenden Differenzen, die die Delegierten entzweit hatten, wurden tiefere Gegensätze sichtbar. Trotzki schrieb sich seinen Zorn in einem „Bericht der Sibirischen Delegation“ von der Seele – er war ja auf dem Kongress als Delegierter des Sibirischen Bundes aufgetreten: „Die in die ‚Regierung‘ der Partei gesetzten Hoffnungen waren zu groß, ganz entschieden zu groß. Die Komitees waren sicher, dass sie ihnen Menschen, Literatur, Befehle, materielle Mittel geben würde. Ein Regime jedoch, das zum Weiterbestehen damit anfängt, seine besten Kader auf theoretischem und praktischem Gebiet zu verfolgen, ein solches Regime verheißt zu viele Hinrichtungen und zu wenig Brot“. 21
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Trotzki 1930, S. 155 Service 2002, S. 209 – 213; Broué 2003, S. 83 – 87; Ruge et al. 2010, S. 67 – 69 Zitiert: Broué 2003, S. 86
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Im Frühjahr 1904 legte Trotzki mit der Broschüre „Unsere politischen Aufgaben“ gründlich nach, sie fand mehr Leser als der hektografierte „Bericht“, der nur unter der Hand kursierte, und amüsierte weder Lenin noch Plechanow.22 Trotzki goss beißenden Spott über Lenins Vorliebe für unzeitgemäße Parallelen zu den Jakobinern der französischen Revolution und nannte ihn eine Karikatur Robespierres. Es sei ein Attentat auf den Klassencharakter der Partei, die Arbeiterklasse einem Tugendterror nach Art der Jakobiner zu unterwerfen, anstatt sie auf die politische Herrschaft vorzubereiten. Verhängnisvoll sei die von Lenin angestrebte Substitution der Arbeiterklasse durch die Partei, der Partei durch die Berufsrevolutionäre, und dann auch noch der Führungsgruppe durch einen einzigen Willen. Trotzki wollte sich Zentralismus nicht ohne Meinungsstreit vorstellen, auch für die Zeit nach dem Sieg der Revolution: „Die Aufgaben des neuen Regimes sind so kompliziert, dass sie nicht anders gelöst werden können als mittels des Wettstreits verschiedener Methoden des ökonomischen und politischen Aufbaus, mittels langer ‚Streitgespräche‘, mittels systematischen Kampfes, nicht nur der sozialistischen Welt mit der kapitalistischen, sondern auch der verschiedenen Strömungen innerhalb des Sozialismus untereinander, Strömungen, die sich unvermeidlich einstellen werden, sobald die Diktatur des Proletariats Dutzende und Hunderte neuer, von niemand im Voraus lösbarer Probleme aufstellen wird“.23 Lenin, nun weitgehend isoliert, schrieb im selben Jahr „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritt zurück“ – seine Sicht des zweiten Parteitags. Darin hob er die „Partei neuen Typs“ aus der Taufe. In diesem Parteityp herrschte der Zentralismus absolut, und die Fraktionsbildung wurde zur Todsünde. In diesem Katechismus, der in den Parteien der sozialistischen Staatenwelt bis zum Schluss in Geltung blieb, war der „Substitutionalismus“ entlang der Linie Masse-Klasse-Partei-Führung verankert.24 Lenin schrieb dieses Pamphlet nicht nur gegen Trotzki, Martow, Plechanow, sondern auch gegen das Parteiverständnis nahezu aller anderen Parteien der Sozialistischen Internationale. Wie sich das mit seiner bekundeten Wertschätzung für Karl Kautsky und andere europäische Parteiführer vertrug, machte ihm kein Kopfzerbrechen. Rosa Luxemburg kritisierte denn auch in einem Artikel, den sie erst in der „Iskra“ und dann in der „Neuen Zeit“ veröffentlichte: „Der von Lenin befürwortete Ultrazentrialismus scheint uns aber in seinem ganzen Wesen nicht vom positiven schöpferischen, sondern vom sterilen Nachtwächtergeist getragen zu sein. Sein Gedankengang ist hauptsächlich auf die Kontrolle der Parteitätigkeit und nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht auf die Entfaltung, auf die Schuhriegelung und nicht auf die Zusammenziehung der Bewegung zugeschnitten“.25 Dass es über diese Gräben hinweg ernsthafte Bemühungen der Wiederannäherung gegeben habe, wie Trotzki in seinen Erinnerungen schreibt und seine wohlmeinenden Biografen für 22 23 24 25
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Broué 2003, S. 91 – 95; Thatcher 2003, S. 31 – 33 Zitiert: Broué 2003, S. 96 Lenin 1955 – 1989b; Malycha, Winters 2009, S. 53 f. Luxemburg 1904, S. 492
möglich halten, ist unwahrscheinlich. Trotzkis Weg führte ihn in diesem Jahr 1904 aber auch von den Menschewiki fort, bis hin zum Austritt aus der Iskra-Redaktion. Es ging auch hier nicht um Launen und Empfindlichkeiten, sondern um Prinzipien, nämlich um das Verhältnis zu den Liberalen. In Russland geriet die Zarenmacht ins Wanken, seit sich mit dem Untergang des Pazifikgeschwaders im August 1904 eine Niederlage im Krieg mit Japan abzeichnete. Eine ernstzunehmende liberale Bewegung formierte sich, vornehmlich in den Städten und getragen von Intellektuellen, deutlich unterschieden von dem zarentreuen Adelsliberalismus, der uns etwa von den Helden in Tolstois Romanen vertraut ist. Im Herbst 1904 starteten die Liberalen eine „Bankett-Kampagne“ nach französischem Vorbild, sie luden also zu öffentlichen Gastmählern, auf denen an der Zensur vorbei aufrührerische Reden gehalten wurden. Die Forderungen waren den sozialistischen zum Verwechseln ähnlich: Konstituante, Achtstundentag, Landreform. Lag das tatsächlich an der gleichen Verwurzelung im intellektuellen Milieu, wie Hildermeier meint, oder einfach an der Dringlichkeit der Agrarfrage und der Lage der Fabrikarbeiter?26 So gleich waren die Milieus beider intellektueller Fraktionen nicht. Bei den Liberalen sammelte sich die etablierte Intelligenzija der Staatsdiener und Freiberufler, während die Berufsrevolutionäre aller Parteien definitionsgemäß deklassierte Intellektuelle waren.27 Die Menschewiki überzeugten sich, dass man mit den Liberalen zusammengehen sollte, die Bolschewiki lehnten entschieden ab. Trotzki war hierin mit Lenins Gefolgsleuten einig; er sollte diese Abneigung lebenslang bewahren und zur Richtschnur wesentlicher politischer Entscheidungen machen. – Die Debatte war ein Widerschein des heftigen Streits um Bündnisse und Koalitionen, der unter dem Schlagwort „Millerandismus“ in der Internationale tobte und in dem denkwürdigen Rededuell zwischen Bebel und Jaurès auf dem Sozialistenkongress in Amsterdam 1904 gipfelte. In der Tat begannen sich hier die Wege zwischen Reformern und Revolutionären zu trennen. Trotzki hing nun zwischen beiden Fraktionen in der Luft, frei, aber auch ohne das Brot der Iskra-Redaktion. Die Einladung von Alexander Parvus nach München kam wie gerufen. Dieser Wanderer zwischen allen Welten, Freund Rosa Luxemburgs, Autor der „Neuen Zeit“ und Sympathisant der Menschewiki, öffnete Trotzki nicht nur den Zugang zur Münchener Künstlerszene, sondern auch die weltpolitische Perspektive. Ihre Freundschaft zerbrach nach Beginn des Weltkriegs, als Parvus in den Waffenhandel einstieg. Trotzki gewann nicht leicht Freunde. Lunatscharskis Erinnerung aus jenen Tagen bestätigt Wladimir Medems Eindruck und ist ganz unverdächtig, weil nicht durch politische Gegnerschaft gefärbt: „Trotzki war damals – anders als wir anderen – ungewöhnlich elegant und ansehnlich. Diese Vornehmheit, sowie seine nonchalante, herablassende Art, zu den Menschen zu sprechen (gleich wer sie waren), versetzte mir einen gewissen Schock. Ich betrachtete diesen jungen Dandy mit äußerstem Missfallen, als er seine Beine übereinanderschlug und sich einige Notizen für seine Stegreifrede auf der Versammlung machte“.28
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Hildermeier 2009, S. 42 – 46, 58 – 61 Daten zu beiden Fraktionen der Sozialdemokraten und zu den Sozialrevolutionären: Hildermeier 1972, S. 522 f. Lunatscharski 1968, S. 50
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Doch im Nähertreten entfaltete sich die Anziehung dieses geistvollen, leidenschaftlichen jungen Mannes. Lunatscharski wurde sein Freund, obwohl er Trotzki – während der Revolution auf dem Gipfel der Macht – oft genug als herrisch erleben sollte. Als die Nachricht vom Petersburger Blutsonntag eintraf, dem Massaker des Militärs an der unbewaffneten Arbeiterdemonstration vom 9./22. Januar 1905, hielt Trotzki nichts mehr im schönen München. Der flüchtige, höchst gefährdete Verbannte reiste unverzüglich nach Russland.29
Revolution – Realität und Theorie Die Revolution brach spontan aus, als Gegenwehr der städtischen Arbeitermassen gegen die Gewaltherrschaft des Zaren und gegen die Lasten, die der andauernde Krieg mit Japan dem Volk aufbürdete. Erst am Ende des Revolutionsjahres breiteten sich Bauernaufstände aus. Die Revolutionsparteien, Sozialdemokraten wie Sozialrevolutionäre, hatten wenig Anteil an der Erhebung. Während die sozialdemokratischen Führer sich im Schweizer Exil in ihre Fraktionskämpfe verbissen, entfaltete sich die Streikbewegung in den russischen Industriestädten.30 Erst im November, nach dem Zarenmanifest, das neben dem Versprechen von Verfassung und bürgerlichen Freiheiten auch die Begnadigung der Verbannten gewährte, trafen Lenin und die anderen Exilrevolutionäre am Ort des Geschehens ein. Trotzki kam im Februar 1905 und warf sich mit seiner ureigenen Waffe, der Feder, in die Kämpfe. Er gewann leicht Zugang zu menschewikischen wie bolschewikischen Kreisen in Moskau und St. Petersburg. Der Ingenieur Leonid Krassin – später Namenspatron eines berühmten sowjetischen Eisbrechers – nahm ihn auf und öffnete ihm die Türen. Trotzki schreibt in seinen Erinnerungen, Krassin sei ein „versöhnlerischer Bolschewik“ gewesen.31 Er war mehr als das: ein aufopferungsvoller Sozialdemokrat, ein wahrer Revolutionär, der die Partei mit Waffen, Druckereien und Geld versorgte – dank seiner ausgezeichneten Beziehungen zu Industriellen wie Sawwa Morosow. Krassin hielt es „für irrelevant, Geld und Zeit zu verschwenden, Dutzende von Leuten ins Ausland zu schicken, um die unwesentlichen Zänkereien in Genf zwischen Lenin und seinen Freunden einerseits und Plechanow und den Iskra-Menschewiken andererseits zu ergründen“.32 Trotzki wich nach Finnland aus, als seine Frau Natalja Sedowa bei einem Meeting am 1. Mai verhaftet wurde, kehrte aber auf die Nachricht vom Generalstreik der Eisenbahner im Oktober unverzüglich zurück. Die Streikbewegung hatte sich politisiert und radikalisiert. Im Sep29 30 31 32
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Broué 2003, S. 98 – 102 Hildermeier 1990, S. 513 f. Trotzki 1930, S. 105 f. Williams 1986, S. 61 – 63, zitiert: 62 f.
tember weigerten sich die Drucker, zensierte Schriften zu drucken, und im Oktober traten die Eisenbahner im ganzen Zarenreich in den Streik gegen die Selbstherrschaft. Straßendemonstrationen und Versammlungen erhöhten den Druck. Der politische Massenstreik, als Generalstreik von den Blanquisten zum Mythos erhoben und heftig umstritten in der Sozialistischen Internationale, hatte in dieser russischen Revolution seine große historische Stunde.33 Nur diesem äußersten proletarischen Druck verdankten die Liberalen das Zarenmanifest vom 17. Oktober, das die Duma als konstituierende Versammlung sowie Presse- und Koalitionsfreiheit zugestand. Schon seit dem Sommer bildeten die Arbeiter Fabrikkomitees, zunächst zum Schutz ihrer Arbeitsplätze in der Nachkriegskrise. Daraus entwickelten sich lokale Arbeiterdeputiertenräte, Sowjets. Die Bolschewiki boykottierten die Räte, weil sie überparteilich waren und die Unterordnung unter bolschewikische Führung verweigerten.34 Am 15. Oktober schickte das menschewikische Komitee den eben zurückgekehrten Trotzki zu einer Versammlung des Sowjets. Seine leidenschaftliche und klare Rede beeindruckte die Deputierten so sehr, dass sie ihn auf der Stelle ins Exekutivkomitee wählten. Täglich schlossen sich neue Fabriken dem Petersburger Deputiertenrat an, bald vertrat er mehr als 100.000 Arbeiter. Für 50 Tage, vom 13. Oktober bis zum 3. Dezember, war der Rat Herz und Hirn der Revolution und Trotzki sein intellektueller und politischer Führer. Bald war er der Vizepräsident und am Ende der Vorsitzende des Petersburger Sowjet. Trotzki verfasste die Resolutionen und die Leitartikel der „Iswestija“ (Nachrichten), der Zeitung des Deputiertenrats. Gleichzeitig schrieb er für die „Natschalo“ (Beginn), die Nachfolgerin der „Iskra“, und er redigierte gemeinsam mit Parvus die „Russkaja Gaseta“ (Russische Zeitung), die als Massenblatt für eine Kopeke eine Auflage um 100.000 erreicht haben soll. Trotzki gab überall schreibend und redend die Linie vor, die unabhängig war und geeignet, zwischen Bolschewiki und Menschewiki zu vermitteln.35 Er sorgte dafür, dass die Revolution nicht am Jubel über das Zarenmanifest erstickte. Unter seinem Einfluss verweigerte sich der Sowjet strikt jeder Zusammenarbeit mit den Liberalen und rief zum Boykott der Duma-Wahlen auf. Er ließ den November-Generalstreik – eine Reaktion auf das Kriegsrecht in Polen – nach fünf Tagen abbrechen, um eine blutige Konfrontation mit der Polizeigewalt zu vermeiden, und er riet zum Abbruch des Streiks für den Achtstundentag, weil die Unternehmer in der Krise mit Aussperrung reagierten. Er schaffte es, dass noch der Abbruch des Generalstreiks – prompt und zur selben Stunde – ein Siegeszeichen war.36 Trotzki schrieb im Rückblick: „Wenn wir auch nicht den Achtstundentag für die Massen gewonnen haben, so haben wir doch die Massen für den Achtstundentag gewonnen“.37 Stalin hat ihm später diese Mäßigung zum Vorwurf gemacht. Trotzkis Politik hat die Handlungsfähigkeit des Deputiertenrats als revolutionäre Gegenregierung gegen die Beschwichtigungspolitik des liberalen Premiers Witte und gegen die Gewaltdrohung des Polizeiministers 33 34 35 36 37
Braunthal 1978a, S. 291 – 309 Hildermeier 2009, S. 62 – 66; Broué 2003, S. 108 f. Martow 1973, S. 142 – 144 Trotzki 1930, S. 166 – 170; Deutscher 1972a, S. 121 – 140; Broué 2003, S. 110 – 118; Swain 2006, S. 20 – 22 Zitiert: Broué 2003, S. 118
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erhalten. Der Deputiertenrat beschirmte und beförderte das Aufblühen politischer und gewerkschaftlicher Organisationen in den begrenzten Freiräumen, die das Zarenmanifest öffnete. Die Arbeiter strömten in Massen in die revolutionären Parteien, für die Sozialrevolutionäre werden etwa 42.000 und für Menschewiki und Bolschewiki je um 40.000 Mitglieder im Jahre 1906 angegeben.38 Am 3. Dezember, dem Tag nach Erscheinen des Finanzmanifests, in dem der Sowjet zum Boykott von Steuern und Papiergeld und zur Auflösung der Bankguthaben aufrief, verhaftete das Militär den ganzen Deputiertenrat.39 Der Moskauer Sowjet löste einen Aufstand aus, der umgehend niedergeschlagen wurde. Danach lagen „tausend bartlose Ideologen nutzlos auf dem Pflaster“, wie der Zeitzeuge Max Weber vermerkte.40 Das war der bittere Ertrag einer nicht abwägenden, nicht am Maß des Möglichen orientierten Politik. Der Prozess begann erst im September 1906, nach dem Sturz Wittes und der Machtübernahme Stolypins. Er sollte der Abrechnung mit dem liberalen Vorgänger dienen, wurde aber zum Triumph des St. Petersburger Arbeiterdeputiertenrats, der in den Aussagen unzähliger Zeugen – Arbeiter, Abgeordnete, Polizisten, Studenten, Soldaten, Beamte – wieder auferstand. Das öffentliche Interesse war riesig, Blumensträuße, Bonbonnieren, Grußschreiben für die Angeklagten wurden hereingereicht. Auch Trotzkis Eltern waren da, sie lauschten stolz seiner großen Rede, in der er den bewaffneten Aufstand – den der Sowjet nicht vorbereitet habe – als legitime Verteidigung der erstrittenen Freiheiten und Institutionen begründete. Seine Popularität machte ihn zum Volkstribun. Als schließlich aufgedeckt wurde, dass der Polizeiminister im Komplott mit den Schwarzen Hundertschaften die antirevolutionären Pogrome in Gang gesetzt hatte, wandte sich aller Zorn gegen die Regierung, und die Führer des Sowjets waren gerechtfertigt.41 Das Urteil lautete dessen ungeachtet auf lebenslange Verbannung. Trotzki konnte fliehen, da er einige Goldstücke und einen falschen Pass im Schuh versteckt hatte. In einem Jakutenschlitten durch die frostklirrenden sibirischen Weiten gelangte er zur Eisenbahn im Ural. Auf einer Zwischenstation traf er Natalja, die inzwischen seinen Sohn Lew geboren hatte. Trotzki fuhr weiter nach Finnland.42 Im Gefängnis hatte Trotzki die Bilanz der Revolution gezogen und daraus seine Theorie der permanenten Revolution abgeleitet.43 Deutscher stellte diese „Ergebnisse und Perspektiven“ gar dem Kommunistischen Manifest an die Seite. Davon abgesehen, dass sie so gut wie kein Echo hatte – auch Lenin las sie erst nach der Oktoberrevolution – zeigt sie vor allem eine erhebliche Nähe zu den Auffassungen, die Lenin im Vorjahr veröffentlicht hatte. Lenins Schrift „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ war eine Polemik gegen Plechanows und Martows Annäherung an die liberale russische Opposition gewesen.44 Trotzki ging nicht darauf ein, wird die Schrift aber wohl gekannt haben. In den Hauptlinien sind sich beide so nahe, dass es schwer fällt, daraus einen Gegensatz zu Lenin abzuleiten. 38 39 40 41 42 43 44
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Hildermeier 1990, S. 515 – 517; Hildermeier 2009, S. 64 Weber 1996a, S. 108 Weber 1996b, S. 44 Broué 2003, S. 122 – 127 Trotzki 1930, S. 185 – 192 Trotzki 1906 Lenin 1955 – 1989c; dagegen Martow 1905
Beide verlangten die unbedingte Führung der Arbeiterklasse und meinten damit die Führung der Sozialdemokratischen Partei. Sie begründeten dies mit der Schwäche der russischen Bourgeoisie und mit der Neigung des Liberalismus, sich aus Furcht vor dem Proletariat mit der alten Ordnung zu verbünden. Sowohl Trotzki wie Lenin forderten darum die Fortsetzung der Revolution über die demokratisch-konstitutionellen Ziele hinaus bis zur Machtergreifung des Proletariats, also die „Revolution in Permanenz“, wie Trotzki es in Anlehnung an die Analyse der 1848er Revolution von Marx und Engels formulierte. Mehring hatte eben diesen Gedanken unmittelbar nach dem Zarenmanifest in der „Neuen Zeit“ ausgeführt.45 Anders als Lenin setzte Trotzki nicht auf die Führung der blanquistischen Parteiorganisation, sondern auf die Deputiertenräte als Institutionen der Massengewalt.46 Rätedemokratie oder Parteiherrschaft, das war ein Differenzpunkt bis in die Revolution von 1917 hinein. Beide sahen Russland als neues Zentrum der europäischen Revolution – trotz und wegen der nachhinkenden kapitalistischen Entwicklung. Beide entfernten sich mit der Begründung einer russischen Revolution weit von Marxens ökonomisch fundierter Revolutionstheorie. Lenin glaubte in seiner Schrift „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ (1899) nachgewiesen zu haben, dass der Kapitalismus hinreichend herangereift sei – in Gestalt des „Kustargewerbes“ sogar auf dem Dorf. Er hielt deshalb eine eigenständige russische Revolution für möglich, eigenständig innerhalb eines welthistorischen Prozesses. Auch Trotzki sah in der russischen Rückständigkeit die Chance des Spätstarters. Ähnlich wie später der russisch-amerikanische Wirtschaftshistoriker Alexander Gerschenkron beschrieb er den russischen Staat als Motor nachholender Entwicklung, der die Rüstungsindustrie aus dem Boden stampfte und westliche Unternehmer ins Land holte.47 Eine staatsfromme und schwache russische Bourgeoisie stünde so einem Proletariat gegenüber, das mehr als das westliche in Großbetrieben konzentriert und diszipliniert sei – eine Chance für die russische Revolution, aber nur in ihrem Beginn. Die russische Revolution müsse europäisch werden, um nicht an der Rückständigkeit des Bauernlandes zugrunde zu gehen. Trotzki und Lenin sahen aus verschiedenem Blickwinkel auf die Bauern in der Revolution. Trotzki, aus bäuerlichem Milieu kommend, hielt sie für unzuverlässige Bündnispartner. Das war die traditionelle marxistische Sicht, die Kautskys Schrift „Die Agrarfrage“ 1899 ausführlich begründet hatte, gegen bayerische Sozialdemokraten und französische Sozialisten.48 Lenin proklamierte in seiner Schrift die „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, denn er glaubte an den revolutionären Elan der russischen Bauernschaft und die Tradition ihrer großen Aufstände. Auch hierin war er Erbe der revolutionären Narodnaja Wolja. Schon 1902 hatte er gegen Kautskys Auffassung ein Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie entworfen.49 Trotzki hielt solches Bündnis für unmöglich. Die neue Macht müsse ausschließlich Arbeitermacht sein: „Das Proletariat, das sich an der Macht
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Marx, Engels 1956 – 1990b, S. 247 f.; Mehring 1905/06; siehe auch Day, Gaido 2011 Siehe die Analyse der Deputiertenräte in der russischen Revolution: Trotzki 1907 Selwyn 2011 Kautsky 1966; Lehmann 1992; Selden 1993 Lenin 1955 – 1989a; Kolakowski 1978, S. 452 – 461
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befindet, wird vor die Bauernschaft als die sie befreiende Klasse treten“.50 Wenn die russische Bauernschaft erst Land erhalten hätte, könne sie zum Hort der Konterrevolution gegen das kollektivistische und internationalistische Proletariat werden, fürchtete Trotzki. Deshalb müsse aus dem Sieg der Revolution in Russland die europäische Permanenz folgen, das eigentlich revolutionäre Westeuropa mit seinem reifen Kapitalismus müsse die russische Revolution retten. Dieser europäische Blick des Westlers Trotzki auf Russland weitete sich in der Perspektive des späteren Trotzkismus zur Weltrevolution.
Das Irrlicht der Einigkeit Trotzki zog es nicht in die russischen Exilkolonien nach Genua, Genf, Zürich oder Paris. Er wollte seine Unabhängigkeit zwischen den streitenden Fraktionen bewahren und aus dieser Position für die Einigung wirken. Anziehend war für ihn die deutsche Sozialdemokratie mit ihren führenden Köpfen Kautsky, Luxemburg und Karl Liebknecht, und so wandte er sich zu Freund Parvus nach Berlin. Doch die deutsche Polizei erlaubte dem verurteilten Revolutionsführer die Niederlassung nicht, er musste nach Wien ausweichen. Dort lebte er sieben Jahre mit Natalja und den beiden Söhnen, Lew und dem 1908 geborenen Sergej. Er ernährte die Familie wieder mit der Feder, hauptsächlich mit Korrespondenzen für die liberale „Kijewskaja Mysl“ (Kiewer Gedanke). Die Lebensumstände der Familie werden entsprechend als dürftig, aber nicht unglücklich beschrieben. In der Rodlergasse 25 in Döbling erinnerte man sich noch vor wenigen Jahren an den nachmals berühmten Mieter: „Es gab Stockbetten und ansonsten nur wenige Möbel. Nur zu Weihnachten leisteten sich die Bronsteins einen großen Christbaum. Das war dann immer ein schönes, heimeliges Fest. Natalja, seine Frau, kam regelmäßig zur Mutter meiner Nachbarin, um sich Geschirr auszuborgen“.51 Ein amerikanischer Besucher bemerkte: „Als ich das Heim besuchte, fand ich Mrs. Trotzki mit Hausarbeit beschäftigt, während die beiden blonden, hübschen Jungen dabei nützliche Hilfe leisteten. Was allein dieses Heim aufhellte, waren Bücherstapel in allen Ecken“.52 Trotzki verbrachte seine Zeit eher schreibend zuhause als politisierend im Café Central, traf sich dort aber regelmäßig mit den Spitzen der österreichischen Sozialdemokratie. In diesen Jahren gehörte er der österreichischen Partei an, deren Parteileben den vollendeten Kontrast zu den Petersburger Revolutionstagen bildete. In seinen Erinnerungen schildert er die Größen des Austromarxismus – Otto Bauer, Karl Renner, Max Adler – als Philister. Einzig Victor Adler und dessen Sohn Friedrich lässt er gelten.53 Oft reiste er nach Berlin, um die bele-
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Trotzki 1906, Kapitel 5 Gepp 07.11.2007 Zitiert: Swain 2006, S. 35 Trotzki 1930, S. 198 – 201
bende Luft der deutschen Sozialdemokratie zu atmen, er wurde regelmäßiger Beiträger der „Neuen Zeit“ und verkehrte mit den führenden Köpfen. Seine erste Begegnung mit Kautsky ist sichtlich von späteren Eindrücken überlagert: „Kautsky sah ich zum ersten Mal im Jahre 1907. Mich brachte Parvus zu ihm. Nicht ohne Erregung ging ich die Treppe des sauberen Häuschens in Friedenau bei Berlin hinauf. Ein weißer, lustiger kleiner Alter, mit klaren blauen Augen, begrüßte mich auf Russisch“.54 Kautsky war damals gerade fünfzig Jahre alt. Karl Liebknecht und Luxemburg ausgenommen kommt die deutsche Sozialdemokratie in den Erinnerungen nicht viel besser weg als die österreichische. Die Enttäuschung über den Verrat während der Schicksalstage in Brest-Litowsk 1918, als die russische Revolution allein gelassen wurde, bestimmte das Urteil. Trotzki erinnert sich an ein Treffen in einem Berliner Café mit dem Briten Ramsay MacDonald, zu dem Hilferding geladen hatte. Eduard Bernstein dolmetschte. „Ich fragte mich in Gedanken: Wer von diesen drei Menschen ist am weitesten entfernt von dem, was ich gewohnt bin als Sozialismus zu betrachten?“55 Trotzkis wichtigstes Projekt in diesen Wiener Jahren war die „Prawda“ (Wahrheit). Die Zeitung war in der Revolution von Kiewer Menschewiki gegründet worden, die Ende des Jahres 1908 angesichts schwindender Mitglieder- und Leserzahlen froh waren, dass Trotzki das Blatt übernahm. Wenn die unregelmäßigen Spenden der deutschen Partei und anderer Sponsoren für Druck und Porto nicht reichten, steckte Trotzki einen Teil seiner Einkünfte von der „Kijewskaja Mysl“ in das Unternehmen. Dann wanderten auch Bücher ins Pfandhaus, um den Mietzins zu zahlen.56 Trotzki wollte eine Zeitung machen, die den russischen Arbeitern in der Zeit der Reaktion Hoffnung und Richtschnur gäbe, in der sie Nachrichten über die internationale Bewegung und über die Sozialdemokratie im Russischen Reich nebst Belehrung über die Hintergründe finden sollten, und wo sie selbst zu Wort kämen. Das ist ihm offenbar gelungen. Die ersten fünf Ausgaben haben insgesamt eine Auflage von mehr als 30.000 gehabt, die folgenden je etwa drei bis vier Tausend. Hunderte Leserbriefe trafen ein, 204 wurden abgedruckt. Davon kam je ein Drittel aus der Ukraine und aus den Arbeiterhochburgen St. Petersburg, Moskau und Baku. Das restliche Drittel verteilt sich über ganz Russland, bis in die sibirischen Verbannungsorte.57 Der Erfolg gründete sich auf Trotzkis kräftige und klare Sprache, auf seine Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte unter Vermeidung von Fremdwörtern einfach zu erklären. Die meisten Artikel schrieb er selbst, die übrigen, auch die von Freund und Mitstreiter Adolf Joffe, hat er sprachlich überarbeitet.58 Wichtig für die Leser war die Richtung des Blattes, die Trotzki im Editorial benannt hatte: „Dienen nicht führen – einigen, nicht spalten“. Die Sehnsucht nach Einheit der Partei war groß unter den sozialdemokratischen Ar-
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Trotzki 1930, S. 204 Trotzki 1930, S. 197 Corney 1985, S. 248 – 250; Serge 1978, S. 33 Corney 1985, S. 258 f. Trotzki 1930, S. 211
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beitern in Russland. Sie beseelte unter den Revolutionären im Exil kaum jemanden mehr als Trotzki, von dem Deutscher sagt, dass er dem Irrlicht der Einigkeit nachjagte.59 Die Einigung der russischen Sozialdemokratie erwies sich als aussichtslos. Nach dem äußerlichen Brückenschlag auf dem Parteitag in Stockholm im Mai 1906, der noch im Glauben an den revolutionären Aufschwung geschah, zerfiel die Partei in den Jahren der Reaktion in immer neue Spaltungen – Ausdruck der Ratlosigkeit und des Niedergangs. Arbeiter wie Intellektuelle liefen ihr in Scharen davon, und der Geldfluss liberaler Sponsoren versiegte. So verfielen Lenins Bolschewiki darauf, durch räuberische „Expropriationen“ Geld für die illegale Arbeit zu beschaffen, wie wir das auch bei Piłsudskis Partei gesehen haben. Die Menschewiki kamen mit geringeren Mitteln aus, da sie unter dem Druck der Umstände häufiger das Dasein eines Berufsrevolutionärs gegen das eines freien Publizisten oder eines Angestellten tauschten. Sie beschränkten ihre politische Arbeit vornehmlich auf legale Vereine, Gewerkschaften und Genossenschaften. Die Bolschewiki verschmähten solchen Kleinmut, eine Fraktion forderte nach dem reaktionären Staatsstreich vom Juni 1907 sogar, die Duma-Fraktion abzuberufen. So beschimpfte man sich gegenseitig als Expropriateure, Liquidatoren (der illegalen Partei, d. h. der Bolschewiki), oder als Abberufler. Trotzkis Prawda wollte über dieser Zwietracht stehen. Auf Druck von Parteiorganisationen in Russland kam im Januar 1910 in Paris eine gemeinsame Konferenz unter Mediation von Kautsky, Zetkin und Mehring zusammen. Sie beschloss, dass Bolschewiki und Menschewiki sich von ihren extremen Fraktionen trennen und ihre jeweiligen Kampfblätter einstellen müssten. Trotzkis Prawda erkoren die Mediatoren zum Organ der Aussöhnung, wobei Kamenew, der mit Trotzkis Schwester Olga verheiratet war, die Bolschewiki in der Redaktion zu vertreten habe. Zum Unterhalt der Zeitung waren jährlich 150 Rubel aus dem Fond der Bolschewiki bestimmt, den nun die Mediatoren ohne Rücksicht auf seine zweifelhafte Herkunft verwalteten.60 Doch keine Seite hielt sich an die Beschlüsse, und so floss auch kein Geld. Der enttäuschte Trotzki ging im Sommer 1910 in die Offensive. Er thematisierte die Differenzen in seiner Prawda und schrieb darüber – auf Bitten Kautskys – in der deutschen sozialistischen Presse. Trotzki teilte in seinen Artikeln nach beiden Seiten aus, gegen die kriminellen „Expropriationen“ der Bolschewiki ebenso wie gegen den „menschewistischen Hamlet“.61 Lenin, dem Trotzki während der gemeinsamen Fahrt zum Kopenhagener internationalen Kongress eröffnete, dass ein Artikel in der „Neuen Zeit“ erscheinen würde, verlangte aufgebracht, den Druck zu stoppen. Unterstützt von Plechanow – persönliche Abneigung ist hartnäckig – drängte er die russischen Delegierten, den Verfasser als Nestbeschmutzer zu verurteilen. Nachdem die Übersetzung verlesen war, wiesen die Delegierten das Ansinnen zurück.62 Beide Parteifraktionen steuerten nun auf die endgültige Trennung zu, doch Trotzki focht mit umso größerem Eifer für die Einheit. Er bereitete einen Vereinigungsparteitag für August 1912 in Wien vor. Lenin kam ihm jedoch zuvor und berief im Januar 1912 in Prag eine rein bol-
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Corney 1985, S. 255; Deutscher 1972a, S. 188 Corney 1985, S. 260 – 262; Swain 2006, S. 37 – 41; Broué 2003, S. 147 – 149 Trotzki 28.08.1910; Trotzki 1910 Deutscher 1972a, S. 193
schewikische Versammlung ein, die er als Parteitag deklarierte; neue Leitungen wurden gewählt. Das bedeutete die Neugründung einer bolschewikischen Partei unter Okkupation von Namen und Tradition der alten Gesamtpartei.63 Auf ähnliche Weise raubte Lenin Trotzkis Prawda. Er ließ im April 1912 in St. Petersburg eine von Stalin redigierte Parteizeitung unter diesem Namen erscheinen. Trotzki war wütend, verzweifelt, drohte mit juristischen Schritten, und erntete nur Hohn.64 Die Petersburger Prawda sollte eine lange und große Geschichte haben, Trotzkis Wiener blieb Episode. – Der Vereinigungsparteitag, den Trotzki vorbereitet hatte, tagte nun in Wien ohne Bolschewiki, als Zusammenschluss unterschiedlicher menschewikischer Fraktionen und nationaler Gruppierungen. Auch Wladimir Medem war für den Bund dabei, wie wir erinnern. Dort formierte sich mit dem „Augustblock“ die menschewikische Parteiorganisation.65 Trotzki war verbittert. Das Angebot der „Kijewskaja Mysl“, als Korrespondent auf den Balkan zu gehen, kam daher wie gerufen. Als er im Oktober 1912 dort anlangte, brach der erste Balkankrieg aus, unversehens war er Kriegsberichterstatter geworden. Trotzki arbeitete sich tief in die Geschichte der Konflikte ein, sprach mit Politikern, Wissenschaftlern und Schriftstellern, befragte Verwundete, Invaliden und Gefangene. Trotzkis Korrespondenzen schonten den nationalen Chauvinismus der Politiker in den Balkanstaaten so wenig wie den unheilvollen Panslawismus des Zarenreiches, er enthüllte die Interessenpolitik Österreich-Ungarns und das Schweigen der Liberalen zu den Gräueln, die Bulgaren und Serben an Türken verübten. Die beklemmend aktuellen Studien wandten sich gleichermaßen gegen den Nationalismus der Kleinen und den Imperialismus der Großen. 66 Zu Gast war er bei Christian Rakowski, dem bulgarischen Europäer aus der Dobrudscha, einem Sozialisten und Arzt, der sein Lebensfreund wurde.67 Sie kannten sich aus den Zirkeln der russischen Emigration und hatten gemeinsam im Januar 1910 an der sozialdemokratischen Balkankonferenz in Belgrad teilgenommen. Die Vision der Konferenz, sichtlich geprägt vom austromarxistischen Konzept der nationalkulturellen Autonomie, leitete Trotzkis Kriegsreportagen: „Der einzige Ausweg aus dem nationalen und staatlichen Chaos und aus dem blutigen Durcheinander im Leben auf dem Balkan ist die Vereinigung aller Völker der Halbinsel zu einem wirtschaftlichen und staatlichen Ganzen auf der Grundlage einer nationalen Autonomie der einzelnen Bestandteile. Nur im Rahmen eines einheitlichen Balkanstaates können sich die Serben aus Makedonien, aus dem Sanshak, aus dem eigentlichen Serbien und aus Montenegro zu einer national-kulturellen Gemeinschaft vereinen und gleichzeitig alle Vorteile des gemeinsamen Balkanmarktes nutzen. Nur vereint können die Balkanvölker den schamlosen Forderungen des Zarismus und des europäischen Imperialismus eine wirksame Abfuhr erteilen“.68
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Ruge et al. 2010, S. 76 f.; Swain 2006, S. 42 Corney 1985, S. 265 f.; Deutscher 1972a, S. 194 f. Trotzki 1930, S. 215 f.; Swain 2006, S. 44 Trotzki 1995, S. 50 – 52, 58 – 63, 185 – 192 Trotzki 1995, S. 440 – 446 Trotzki 1995, S. 60 f.
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Den begrenzten Kriegen folgte der Weltkrieg. Trotzki fand sich im August 1914 mit zahlreichen Russen und Serben, die vor den Internierungslagern flohen, in der Schweiz wieder. Dort schrieb er „Der Krieg und die Internationale“, eine glänzende Analyse und eine glühende Antikriegsschrift, die von allen kriegführenden Seiten sofort verboten wurde. Er geißelte den Krieg als Ergebnis der imperialistischen Politik aller beteiligten Staaten, ein Fiasko des Kapitalismus und des Nationalstaats, das nur Verlierer hinterlassen werde. Die republikanischen Vereinigten Staaten von Europa müssten der Grund sein, auf dem die revolutionäre Sozialdemokratie den Sozialismus erkämpfte – auch hier nimmt er Gedanken des Österreichers Otto Bauer auf. Dass Lenin diese Losung schroff ablehnte, verwundert nicht.69 Die Sozialisten aller Länder müssten ihre zerrissene Verbindung unverzüglich wieder knüpfen, um durch eine „Agitation mit allen den Mitteln, über welche die Sozialdemokratie jetzt verfügt, wie mit denjenigen, deren sie sich bei gutem Willen bemächtigen könnte“, einen unbedingten Friedensschluss zu erzwingen: „Keine Kontributionen! Das Recht jeder Nation auf Selbstbestimmung! Die vereinigten Staaten Europas – ohne Monarchien, ohne ständige Heere, ohne regierende Feudalkasten, ohne Geheimdiplomaten!“70 Das wurde der Geist des Zimmerwalder Manifests. Anfang September 1915 versammelten sich in diesem Dorf bei Bern 38 Delegierte jener Flügel der sozialistischen Parteien Europas, die gegen die Burgfriedenspolitik standen; Trotzki war mit Martow aus Paris angereist. Das Manifest rief zum Kampf für einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen: „Über die Grenzen, über die dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer hinweg, Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“71 Es war Trotzkis Entwurf und Lenins Niederlage. Lenin hatte in seinem Memorandum für die Konferenz erklärt: „Aber nur, wenn gleichzeitig zu revolutionärem Kampf aufgerufen wird, erhält die ‚Friedens‘-forderung proletarischen Sinn. Ohne eine Reihe von Revolutionen ist der sogenannte demokratische Frieden eine spießbürgerliche Utopie“.72 Die versammelten Sozialisten wollten angesichts der Millionen Opfer auf den flandrischen und galizischen Schlachtfeldern nicht zum Bürgerkrieg aufrufen. Die Mehrheit folgte ebenso wenig Lenins Verlangen, eine neue Internationale zu bilden, anstatt die Fäden der alten wieder zu knüpfen.73 Martow blieb nach der Zimmerwalder Konferenz in der Schweiz, Trotzki fuhr nach Paris zurück, wo sie bis dahin gemeinsam die Zeitschrift „Nasche Slowo“ (Unser Wort) herausgegeben hatten, strikt internationalistisch, leidenschaftlich gegen den Krieg. Konflikte gab es, weil Martow sich von den Menschewiki um Plechanow und Sassulitsch – den „Sozialpatrioten“ – organisatorisch nicht trennen und sie nicht öffentlich bekämpfen mochte. Im April 1916 trat
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Bauer 1975, S. 567 – 570; Lenin 1955 – 1989f, S. 346; Thatcher 2003, S. 70 – 76 Trotzki 1998, S. 453 Trotzki 1981a, S. 86 Lenin 1988, S. 150 Braunthal 1978b, S. 56 – 61
Martow aus der Redaktion aus.74 Der französische Anarchosyndikalist Alfred Rosmer nennt in seinem Essay über „Nasche Slowo“ das glänzende Häuflein russischer Sozialdemokraten, das in dieser Redaktion der Zensur und – schlimmer noch – der Geldnot trotzte. Hier seien nur jene genannt, die später Ruhm erwarben: Lunatscharski als Kulturpolitiker, Rjasanow als Hüter des Marx-Engels-Nachlasses, Alexandra Kollontai als Feministin, Losowski als Gewerkschaftführer, Tschitscherin als Diplomat, Radek als Agent der Weltrevolution, Rakowski als Revolutionär des Balkans und der Ukraine, Sokolnikow am Hebel der Neuen Ökonomischen Politik, Urizki als Begründer der Tscheka. Die Redaktion der syndikalistischen Zeitung „La Vie ouvrière“ war den Russen eng verbunden.75 Trotzki lebte seit November 1914 mit seiner Familie in Paris, wo ihm die „Kijewskaja Mysl“ wieder Arbeit als Kriegskorrespondent bot. Wie in den Balkankriegen studierte er die in- und ausländische Presse, sprach mit Politikern und Journalisten, fuhr in die Lazarette und Gefangenenlager und hörte denen zu, die aus den Schützengräben kamen.76 Wie kaum ein anderer Emigrant kannte er das Grauen des Kriegs. Seine glänzenden Reportagen und Essays störten die Zensur in Kiew auf und alarmierten die russische Polizei. Im Herbst 1916 forderte die russische Regierung vom französischen Alliierten Trotzkis Ausweisung.77 Der bekannte Streiter gegen den Krieg war in keinem Land der Entente gelitten, auch nicht im neutralen Spanien. Die spanische Polizei schob ihn und seine Familie nach Amerika ab. Als Trotzki am 13. Januar 1917 in New York an Land ging, ahnte er nicht, wie bald er die Neue Welt wieder verlassen sollte.
Redner der Revolution Diesmal war Lenin vor ihm auf dem historischen Schauplatz, gewissermaßen per Express von der deutschen Regierung dorthin geliefert. Der deutsche Generalstab hoffte, ein revolutionäres Russland werde aus der Entente ausscheren. Trotzki traf erst einen Monat später ein, am 4. Mai, denn die Engländer hatten ihn in derselben Erwartung in Kanada festgehalten. Die Revolution hatte wie 1905 ohne die Planung der Revolutionäre begonnen, ausgelöst durch eine Frauendemonstration in Petrograd anlässlich des Internationalen Frauentags (23. Februar/8. März), aus der sich lawinenartig eine Streikbewegung von Hunderttausenden und die Dienstverweigerung der hauptstädtischen Garnison entwickelte.78 Nach zweieinhalb Jahren bitterer Leiden in einem dilettantisch und menschenverachtend geführten Krieg war der patriotische Enthusiasmus für den Zaren aufgebraucht, die Arbeiter schlossen an die aufschäumende Streikwelle der unmittelbaren Vorkriegsjahre an und forderten gemeinsam mit den Soldaten: Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung!
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Martow 1973, S. 278 f. Rosmer et al. 2000, S. 46 – 50 Trotzki 1998 Trotzki 1930, S. 241 – 249; Thatcher 2003, S. 77 Hildermeier 1998, S. 64 – 68
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Die Revolution war ein einheitliches Geschehen von der Abdankung der Zarenregierung am 27. Februar bis zum Staatsstreich der Bolschewiki am 25. Oktober, vorwärts getrieben von der widersprüchlichen Logik der Forderungen nach Frieden, Land und Brot, und doch keineswegs schicksalhaft den Handelnden entzogen. Darin ist Hildermeiers sozialhistorischer Perspektive zuzustimmen, gegen die antikommunistische Auffassung von der Lenkung einer blindwütigen Menge durch gewissenlose Ideologen, wie sie etwa Pipes vertritt, und gegen die leninistische Sicht einer eigenständigen, zum Massenaufstand stilisierten Oktoberrevolution.79 Trotzki begab sich, nachdem er Frau und Jungen im Hotel untergebracht hatte, direkt zum Sowjet in den Smolny. Wie 1905 bildeten die Deputierten der Fabrikkomitees diesen Rat, nun verstärkt durch die Abgesandten der Garnison. Die Deputierten begrüßten ihn enthusiastisch und wählten den Vorsitzenden von 1905 ins Exekutivkomitee. Trotzki dämpfte die Freude, denn er musste mit ansehen, wie die sozialrevolutionären und menschewikischen Minister in eine Regierung mit den Konstitutionellen Demokraten („Kadetten“) gingen. Entschieden verurteilte er die Koalitionsregierung, deren sozialistische Minister sich gerade vorstellten. Er verurteilte sie grundsätzlich, denn jedes Bündnis mit den Liberalen, jede Teilung der Macht mit den Bürgerlichen war ihm ein Gräuel. Er verurteilte die Koalition mit den Konstitutionellen Demokraten insbesondere, weil die immer mehr die Sache der alten Ordnung von Militär und Aristokratie vertraten. Während die Versorgung von Armee und Bevölkerung nicht mehr zu gewährleisten war, während in der Hauptstadt die Streiks in den Fabriken und die Desertionen in der Garnison stetig zunahmen, während vom Lande Nachrichten über spontane bäuerliche Landnahmen hereinkamen, wälzten Liberale und Nationaldemokraten die Verantwortung auf die sozialistischen Parteien über. Sie willigten in die Doppelherrschaft mit dem Sowjet ein, um ihn zur Geisel der Regierungspolitik zu machen, erklärte Trotzki. Daran ändere sich nichts, wenn der Deputiertenrat im Namen einer „revolutionären Demokratie“ die sozialistischen Minister auf unverzüglichen Friedensschluss nach den Grundsätzen von Zimmerwald, auf Arbeiterkontrolle und Landreform verpflichtete. Trotzki forderte reale revolutionäre Demokratie, deshalb alle Macht für die Sowjets, wie es auch Lenins Losung war.80 Trotzki trieb die Revolution durch Reden voran, während Lenin, von der Öffentlichkeit wenig beachtet, die massenhaft anschwellende Parteiarmee der Bolschewiki formierte. Lunatscharski verglich Trotzki als Redner mit Jaurès. Er selbst stand dem Gefährten nicht nach. Trotzki und Lunatscharski waren die großen Redner der russischen Revolution, ihre Popularität übertraf von Mai bis Oktober die aller anderen Parteiführer, von den Menschewiki und Sozialrevolutionären bis zu den Bolschewiki.81 Trotzkis Rede packte die Matrosen der Kronstädter Festung ebenso wie die Massen, die sich allabendlich im Zirkus Modern drängten. Dort gab es flüchtige Begegnungen mit seinen beiden halbwüchsigen Töchtern, die mit ihrer Mutter in der Nähe lebten. Die Söhne hatten in diesen Monaten kaum mehr vom Vater. Da auch Mutter
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Hildermeier 1990, S. 528 f.; Hildermeier 2009; Pipes 1992, S. 785 – 805; kritisch zur leninistischen Sicht: Hedeler et al. 2008 Hildermeier 1998, S. 79 f.; Swain 2006, S. 57 f. Lunatscharski 1968, S. 55
Natalja rund um die Uhr bei der Holzarbeitergewerkschaft arbeitete, nahmen die Eltern das Angebot von Freunden, die Jungen aufzunehmen, dankbar an.82 Trotzkis wichtigstes Aktionsfeld war der Petrograder Deputiertenrat der Arbeiter und Soldaten, wo man ihn bei allzu pathetischer Rede ermahnte, hier sei nicht der Zirkus Modern. Lenins Bolschewiki waren hier in der Minderheit. Zwar waren sie wie alle sozialistischen Parteien mit der Revolution zur Massenpartei geworden, den größten Zulauf aus der Arbeiterschaft hatten jedoch die Menschewiki, deren legale Tätigkeit in Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften sich nun auszahlte. Gleich stark waren die Sozialrevolutionäre. Diese agrarsozialistischen Erben der Volkstümler fanden in der Garnison unter den Bauernsöhnen im Soldatenrock ihren Anhang. Im Allrussischen Sowjetkongress, zu dem sich Anfang Juni 822 Deputierte von 305 örtlichen Sowjets in der Hauptstadt versammelten, dominierten die Militärmäntel und Bauernkittel der 285 sozialrevolutionären Delegierten noch auffallender. Fast ebenso stark waren auch hier die 248 Menschewiki, während die Bolschewiki 105 Delegierte aus den Arbeiterzentren der Großstädte entsandten.83 Lenin suchte Verstärkung. Es gelang ihm nicht, Martow und seine Internationalisten-Menschewiki herüberzuziehen. Das war jene Fraktion der Menschewiki, die sich anders als die Anhänger Plechanows konsequent jedem „sozialpatriotischen“ Einverständnis mit dem Krieg des Zaren verweigert hatten und auf der Position der Zimmerwalder Konferenz standen. Lenins Auge fiel nun auf Trotzki und die „Zwischenbezirksorganisation der vereinigten Sozialdemokraten“, kurz: Interrayon-Gruppe, russisch abgekürzt: Meschrayonzy, die in Aktion und Programm den Bolschewiki nahe kam. Diese Sozialdemokraten zwischen den Fraktionen hatten im Mai drei bis viertausend Mitglieder und zehn Sitze im Allrussischen Sowjetkongress, waren aber „ein Gestirn glänzender Generale ohne Armee“.84 Wenig spricht dafür, dass Trotzki die Gruppe 1913 gegründet und geleitet hat, wie Deutscher meint, inspiriert von seinem Streben nach Einheit zwischen Bolschewiki und Menschewiki. Eher war es eine Konzentration jener Kräfte, die das Räteprinzip der Arbeiterselbstorganisation vertraten. Ihnen stand Trotzki nahe. Die Gruppe betrieb im Februar 1917 unter Führung von Konstantin Jurenew, der später Sowjetbotschafter in Österreich und Deutschland wurde, die Wiedergeburt des Petrograder Sowjets.85 Zur Interrayon-Gruppe gehörten die Gefährten, die Trotzki bei seiner Ankunft in Petrograd begrüßt hatten und die ihm aus der Arbeit an der Wiener „Prawda“ und am Pariser „Nasche Slowo“ vertraut waren: Joffe, Lunatscharski, Urizki und Rakowski.86 Diese bisher zu wenig beachtete Gruppe war geistiger Sauerteig in der russischen revolutionären Bewegung. Ihre Mitglieder arbeiteten in Paris mit den französischen Anarchosyndikalisten zusammen. Sie hatten auch intensive Kontakte zur Gruppe „Vpered“ (Vorwärts), die sich 1909 in Gorkis Villa in Capri um Bogdanow und Lunatscharski zusammenfand. Bogdanow war der gefallene Engel der Bolschewiki, der Arbeiterräte und Selbstorganisation auf das Podest einer proletarischen Religion heben wollte. Trotzki hielt im Winter 1910/11 Lektionen an der 82 83 84 85 86
Trotzki 1930, S. 285, 321 f. Hildermeier 1998, S. 80 – 84 Deutscher 1972a, S. 246 – 250 Hasegawa 1977 Rosmer et al. 2000, S. 47 – 49
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Parteischule dieser „Gotterbauer“ in Bologna. Die Zeitung der Interrayon-Gruppe knüpfte in Namen und Tendenz an „Vpered“ an.87 Der Rätegedanke verband Trotzki mit den Anarchosyndikalisten und mit der Gruppe um Bogdanow; nicht zufällig betrieb gerade die InterrayonGruppe die Auferstehung des Sowjets in der Revolution. Trotzki spielte später sein Wirken in der Interrayon-Gruppe herunter; es durfte kein Zweifel an seiner bolschewikischen Treue bleiben.88 Seine Neigung zu Räteherrschaft und Syndikalismus und seine Kritik an Lenin und der Parteiherrschaft „neuen Typs“ sollten vergessen werden. Als Lenin am 10. Mai 1917 in Begleitung von Kamenew und Sinowjew zur Interrayon-Gruppe kam, um die Aufnahme in seine Partei und wichtige Funktionen in Führung und Presse anzubieten, war Trotzki keineswegs bereitwillig. Wie seine Mitstreiter wollte er nur den Zusammenschluss zu einer ganz neuen Partei akzeptieren. Deutscher gibt Trotzkis Reaktion nach Lenins Aufzeichnungen wieder: „Ich kann mich nicht als einen Bolschewiken bezeichnen. Es ist nicht wünschenswert, an der alten Firmierung festzuhalten“.89 Eine Reaktion aus Ehrgeiz und Eitelkeit? Nach Lunatscharskis Zeugnis waren Trotzki beide Regungen fremd, sein Hochmut war von anderer Art, er war überzeugt, im Einklang mit der Geschichte zu sein. Acht Wochen später wurden die Mitglieder der Interrayon-Gruppe Bolschewiki und Trotzki, Urizki und Joffe Mitglieder des Zentralkomitees.90 Die Generäle hatten nun ihre Armee. Trotzki und die Seinen entschieden sich in der Julikrise. Nach dem Scheitern der militärischen Offensive vom Juni, nachdem Fürst Lwow zurückgetreten und der Sozialrevolutionär Kerenski die Regierungsgewalt übernommen hatte, nach den Unruhen in Petrograd Anfang Juli und der Flucht Lenins vor der Beschuldigung, als deutscher Agent für das ganze Desaster verantwortlich zu sein, nach all diesen Zeichen des Unheils und der Ratlosigkeit war es geboten, Partei zu ergreifen. Trotzki hatte am 4./17. Juli den sozialrevolutionären Landwirtschaftsminister Tschernow vor dem Volkszorn gerettet, dem ein Arbeiter ins Gesicht schrie: „Nimm, Hundesohn, die Macht, wenn man sie dir gibt!“91 Einige Tage später solidarisierte sich Trotzki in Gorkis Zeitung „Nowaja Schisn“ (Neues Leben) in einem offenen Brief an den sozialrevolutionären Regierungschef mit den führenden Bolschewiki: „Aus all dem, was ich gesagt habe, geht klar hervor, dass Sie keinen Grund haben, mich von der steckbrieflichen Verfolgung Lenins, Kamenews und Sinowjews auszuschließen“.92 Kerenski ließ sich nicht zweimal bitten. Bis Anfang September saß Trotzki in derselben Festung wie zwölf Jahre zuvor, mit denselben Wärtern, und wie damals nutzte er die Isolation für eine zeithistorische Analyse. Die Schrift „Charakter der russischen Revolution“ ist die genaue Nutzanwendung der 1906 entwickelten Theorie auf die aktuelle Lage. Trotzki enthüllte das Doppelspiel der Doppelherrschaft zweier unvereinbarer Systeme, der Räteherrschaft und der Koalitionsregierung mit den bourgeoisen Parteien. Gegen den erklärten Willen des Sowjets setzte die Regierung den
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Williams 1986, S. 155 – 158 Trotzki 2010a, S. 406 Deutscher 1972a, S. 249 Trotzki 2010a, S. 267 f. Trotzki 2010a, S. 44 Trotzki 1981b, S. 111; Swain 2006, S. 61 – 64
Krieg fort, aus Angst vor der Revolution fürchte sie den Frieden. Trotzki zitierte den General Kornilow: „Der Frieden kann jetzt schon aus dem Grunde nicht erlangt werden, weil wir nicht imstande sind, die Demobilisierung durchzuführen. Es ist notwendig, das Prestige der Offiziere zu heben“.93 Weil die Regierung keinen Frieden schlösse, könne sie den Arbeitern kein Brot und den Bauern kein Land geben. Die proletarische Revolution müsse alle Macht den Räten übertragen; nur die Bolschewiki seien dazu imstande. Trotzki sagte sich hier von Martow los: „Was Martow mit den Sozialpatrioten verbindet, das ist nicht eine leere Tradition der Fraktion, sondern die tiefgehende opportunistische Betrachtung der Revolution als eines fernen Ziels, durch das unsere jetzigen Aufgaben nicht bestimmt werden können. Und dasselbe trennt ihn von uns“.94 Er erklärte sich somit zum Gefolgsmann Lenins, der die Revolution und die Macht wollte, unverzüglich und bedenkenlos.
Zweierlei Umsturzpläne Russland rollte dem Abgrund entgegen und riss die „revolutionäre Demokratie“ der Doppelherrschaft mit sich. Kerenskis General Kornilow putschte, die deutschen Truppen nahmen Riga und rückten auf die Hauptstadt vor. Die Arbeiter wandten sich von den Menschewiki ab, den Bolschewiki zu. Anfang September wählte eine neue Mehrheit im Petrograder Sowjet Trotzki zum Vorsitzenden des Exekutivkomitees. In seiner Antrittsrede beteuerte er, auch im heftigsten Parteienstreit niemals die Minderheit unterdrücken zu wollen – ein bald gebrochenes Versprechen. Einige Jahre später darauf angesprochen, soll er versonnen geantwortet haben: „Ja, das waren gute Zeiten“.95 Getragen vom Rhythmus der Revolution und von der Bewegung der Massen vertrat er bald, was er so lange verabscheut hatte: Parteiherrschaft, Unterdrückung von Minderheiten, und den Terror.96 Es folgten Wochen erbitterten Ringens der bolschewikischen Führung um die Taktik des Umsturzes. Lenin drängte aus dem finnischen Exil zum bewaffneten Aufstand der Roten Garden, der Kampforganisation seiner Partei, um der Versammlung des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses mit dessen sozialrevolutionärer Mehrheit zuvorzukommen. Das Zentralkomitee der Bolschewiki war dagegen, weil nach den Erfahrungen der Julitage die Gefolgschaft der
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Trotzki 1921, S. 34 Trotzki 1921, S. 53 Deutscher 1972a, S. 275 f. Abosch 1975, S. 53
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Massen ungewiss war; Kamenew und Sinowjew ließen sich bis zum Schluss nicht umstimmen. Trotzki verfolgte ein anderes, wie sich zeigen sollte, außerordentlich erfolgreiches Konzept. Er wollte die Kerenski-Regierung mit den Sowjets und für die Sowjetherrschaft stürzen. Den Sowjetkongress der Nördlichen Region überzeugte er am 11. und 12. Oktober in leidenschaftlicher Rede, die Macht unverzüglich denen zu entreißen, die weder Krieg führen noch Frieden schließen könnten und die Hauptstadt dem Feind auslieferten. Im Namen dieses Kongresses funkte er – „An alle, alle, alle!“ – schleunigst Delegierte zum Zweiten Allrussischen Sowjetkongress zu entsenden. Inzwischen nutzte er das Revolutionäre Militärkomitee des Petrograder Sowjets, um die Garnison Truppenteil für Truppenteil aus der militärischen Befehlslinie zu lösen und dem Sowjet zu unterstellen. Die Regierung gewahrte die Bedrohung spät, als sie zur Gegenwehr rüstete, war sie schon entmachtet. Kritisch war die Nacht vom 24. zum 25. Oktober. Schwager Kamenew wachte im Smolny mit Trotzki, der total übernächtigt nach dem Rauchen einer Zigarette in Ohnmacht fiel. Am Morgen waren Bahnhöfe und Telegrafenamt besetzt, die Regierung im Winterpalais umstellt und Kerenski geflohen. Die Roten Garden kamen in Petrograd kaum zum Zuge – kein bewaffneter Aufstand, kein Sturm auf das Winterpalais, einfach ein Staatsstreich. Trotzki und Lenin handelten von gegensätzlichen Positionen. War Trotzkis Handeln aus dem Sowjet und für den Sowjet nur eine legalistische Täuschung, um Lenins Zweck, die Aufrichtung der Parteiherrschaft der Bolschewiki, umso sicherer zu erreichen?97 Diese Deutung wird Trotzki nicht gerecht, denn seit der Revolution von 1905/06 setzte er auf die Machtergreifung des Proletariats durch die Arbeiterdeputiertenräte, den bewaffneten Aufstand zur Verteidigung eingeschlossen. Dieses Konzept hatte er mit Lenins Partei umgesetzt – ohne Aufstand. Anders als Lenin war ihm die Partei nur Mittel zum Zweck. Unabhängig vom Konzept Trotzkis oder Lenins war der Umsturz ein Triumph des Blanquismus, nicht des Marxismus, wie wenig die beiden Führer sich dies auch eingestehen mochten. Lenin blieb der Mythos des Aufstands, dessen Sieg er dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress verkündete. Zugleich legte er den Delegierten die beiden Dekrete vor, die die Zustimmung der Massen sicherten: das Dekret über den Frieden mit den Worten des Zimmerwalder Manifests, und das Dekret über den Boden, das dem Parteiprogramm der Sozialrevolutionäre entstammte und die wilden Landverteilungen legitimierte.98 Die Erfüllung der allgemeinen Sehnsucht nach Frieden, Land und Brot musste die Machtübernahme sichern. Der Rat der Volkskommissare – die Revolutionsregierung – sollte ausschließlich aus Bolschewiki bestehen. Nach der Verlesung der Liste verließen Sozialrevolutionäre und Menschewiki empört den Kongress. Trotzkis Biograf Deutscher rechtfertigt das Vorgehen: Sozialrevolutionäre und Menschewiki hätten ihre Hände nicht ausgestreckt, um zu helfen, sondern um die Bolschewiki zu erwürgen.99 Rückblickend wird man jedoch die Ausschließung der konkurrierenden sozialistischen Parteien von der Macht als Ursünde der Revolution und Geburtsfehler der so-
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Abosch 1975, S. 47 – 50; Aschmoneit 1991, S. 270 – 278 Deutscher 1972a, S. 277 – 287; Wolkogonow 1992, S. 116 – 118; Hildermeier 1998, S. 109 – 113; White 1999; Swain 2006, S. 64 – 75; Hildermeier 2009, S. 229 – 239; Ruge et al. 2010, S. 113 – 119 Deutscher 1972a, S. 317
zialistischen Ordnung sehen müssen. In einer Schlüsselszene des Allrussischen Sowjetkongresses kanzelte Trotzki den langjährigen Gefährten Julius Martow ab: „Unser Aufstand hat gesiegt. Und jetzt schlägt man uns vor: Verzichtet auf euren Sieg, geht eine Verständigung ein. Mit wem? Ich frage: Mit wem sollen wir die Verständigung eingehen? Mit jenen kläglichen Häuflein, die davongelaufen sind? […] Wir haben sie in all ihrer Größe gesehen. Hinter ihnen steht niemand in Russland. […] Ihr seid armselige Einzelgänger, ihr seid Bankrotteure, eure Rolle ist ausgespielt, schert euch hin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte“.100 Trotzki und Lenin waren nun aneinander gekettet. Trotzki stand mit Lenin bei Pulkowo an der Spitze der Roten Garden gegen die Kosakenregimenter Kerenskis; er blieb fest, als die Eisenbahnergewerkschaft eine Koaltionsregierung mit den Sowjetparteien – Menschewiki und Sozialrevolutionäre – im Generalstreik erzwingen wollte, als auch das Zentralkomitee mehrheitlich auf diesen Kurs einschwenkte, als Kamenew, Sinowjew und mehrere Volkskommissare dafür ihre Ämter in Partei und Regierung niederlegten. Die Verhandlungsführer der konkurrierenden Sowjetparteien forderten vom Zentralkomitee der Bolschewiki die Preisgabe Lenins und Trotzkis.101 Die linken Sozialrevolutionäre fanden dann doch Platz im Rat der Volkskommissare, und die unterlegenen Mitglieder des Zentralkomitees kehrten in hohe Ämter zurück. Es war noch möglich, Konflikte in der Parteispitze zivilisiert auszutragen. Als Konsequenz schuf sich Lenin eine engere Führungsgruppe mit Trotzki, Stalin und Swerdlow, woraus sich das Politbüro entwickeln sollte. In einem Moment des Zögerns bot Lenin, der den Vorsitz im Rat der Volkskommissare führte, Trotzki als dem treuesten der Treuen dieses Amt an, denn er sah sich selbst eher als Parteiführer. Trotzki wies das zurück, ihm fiel schließlich die Außenpolitik zu.102
Das Drama von Brest-Litowsk Trotzkis erste Aufgabe als Volkskommissar für äußere Angelegenheiten war es, Frieden zu schließen. Das Friedensdekret des Sowjetkongresses hatte an die Völker und die Regierungen appelliert, die Waffen niederzulegen und einen allgemeinen Frieden zu schließen. Der Autor des Zimmerwalder Manifests veröffentlichte die Geheimverträge des Zaren mit den Entente-Partnern und deckte damit die russischen Eroberungsziele in Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich auf. Dies war der Anstoß zu den späteren Aktenpublikationen aller Großmächte. Trotzki forderte England und Frankreich auf, gemeinsam mit Russland in Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten einzutreten. Es gab keine Antwort. Sowjetrussland schloss darauf Mitte Dezember einen separaten Waffenstillstand.
100 Trotzki 2010b, S. 562 f. 101 Hildermeier 1998, S. 120 – 122, 129 – 131; Ruge 2008, S. 60 – 62 102 Deutscher 1972a, S. 310 – 328
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Während des russischen Weihnachtsfests Anfang Januar 1918 reiste Trotzki selbst zu den Friedensverhandlungen ins litauische Brest (Brest-Litowsk). Auf dem Weg dorthin fand er die russischen Schützengräben verwaist, die Soldaten waren zur Verteilung des Herrenlands in ihre Dörfer davon gelaufen. Sowjetrussland war wehrlos. Mit ihm reiste Karl Radek, ein galizischer Jude, der in der polnischen und in der deutschen Sozialdemokratie aktiv war und nun zum innersten Zirkel der Bolschewiki gehörte.103 Er führte Koffer voller revolutionärer Flugblätter mit sich, die er zum Ärger der österreichischen Militärs in Brest an die Soldaten verteilte. Am Verhandlungstisch beendete indessen Trotzki alle Vertraulichkeit, auf die Freund Joffe sich eingelassen hatte, und lehnte die monströsen Forderungen der anderen Seite rundweg ab. Er hoffte auf die proletarische Erhebung und spielte auf Zeit. Trotzki appellierte „An die unterdrückten und erschöpften Völker Europas“: „Die Arbeiter und Soldaten müssen die Entscheidung über Krieg und Frieden den verbrecherischen Händen der Bourgeoisie entreißen und in ihre eigenen Hände nehmen. […] Wir haben das Recht, dies von Euch zu verlangen, denn wir haben dies in unserm eigenen Lande getan“.104 Tatsächlich erhoben sich im Januar die Arbeiter in Wien und großen Teilen Österreichs und in Berlin. Überzeugt, dass nicht der Friedensschluss, sondern die europäische Revolution die Sowjetherrschaft retten würde, plante er sogar nach Wien zu reisen, um mit der Führung der österreichischen Sozialdemokratie zu reden. Doch ehe dies geschehen konnte, war das revolutionäre Feuer in Wien und Berlin unter massiver Gewaltdrohung verraucht; die einstigen Wiener Vertrauten Friedrich Adler und Otto Bauer taten viel, es unter der Decke zu halten.105 Lenin rief Trotzki schließlich erzürnt zurück nach Petrograd. Im Zentralkomitee kam es zu erregten Auseinandersetzungen. Drei Konzeptionen standen gegeneinander. Lenin drängte mit einer schwachen Minderheit, zu der Stalin, Kamenew und Sinowjew gehörten, auf einen Frieden um jeden Preis, auf eine Atempause für Sowjetrussland. Das bedeutete einen Separatfrieden mit den Mittelmächten, dem deutschen und dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich und den Bruch des Bündnisses mit der Entente. Die Internationalisten um Bucharin, Urizki und Radek lehnten es ab, einen Separatfrieden mit den imperialistischen Mittelmächten zu schließen und so die Hoffnungen der dortigen Arbeiter auf die russische Revolution zu enttäuschen. Stattdessen sollten die letzten Reserven des geschundenen Landes für einen revolutionären Krieg mobilisiert werden. Sie hatten sowohl unter den Bolschewiki, als auch im Sowjetkongress und im Zentralkomitee der verbündeten linken Sozialrevolutionäre die meisten Befürworter. Gegen beide stand Trotzkis Taktik des „weder Krieg noch Frieden“; sie wirkte unter diesen Umständen vermittelnd. Er schlug vor, einseitig die Kämpfe einzustellen, die Armee zu demobilisieren, und so ein Signal an die Armeen und Völker zu geben, den Krieg an allen Fronten zu beenden. Vom Glauben an die deutsche Revolution getragen hielt
103 Heym 1998 104 Zitiert: Braunthal 1978b, S. 116 105 Trotzki 1930, S. 347 – 364; Swain 2006, S. 78 – 80
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er vor dem Sowjetkongress eine seiner großen Reden. In Brest erklärte er den fassungslosen Diplomaten und Generälen: „In Erwartung der nicht mehr fernen Stunde, in der die arbeitenden Klassen aller Länder die Macht ergreifen werden […], ziehen wir unsere Armee und unser Volk aus dem Krieg zurück. Unser Soldat, der Bebauer des Landes, soll zurück auf sein Land gehen, um es in diesem Frühjahr zu bestellen – es ist das Land, das die Revolution dem Grundbesitzer nahm und dem Bauern gab. Unser Soldat, der Arbeiter, soll an seine Werkbank zurückgehen, nicht um Werkzeuge der Zerstörung, sondern um Werkzeuge des Aufbaus herzustellen“.106 Während Trotzki noch glaubte, als Sieger über die imperialistische Diplomatie heimzukehren, nutzten die Deutschen die russische Demobilisierung skrupellos, um weit nach Russland vorzustoßen. Im Zentralkomitee forderte Stalin Trotzkis Ausschluss aus der Partei. Das Ringen zwischen den Fraktionen im Zentralkomitee wogte erneut hin und her. Lenin drohte mit Rückzug von der Parteispitze. Nun sah Trotzki Partei und Revolution gefährdet und schlug sich auf Lenins Seite, gleichzeitig trat er als Außenkommissar zurück. Am 3. März unterzeichnete sein Nachfolger Grigori Sokolnikow in Brest-Litowsk den Separatfrieden. Lenin hielt Trotzki in der Partei und im Zentralkomitee. Er schlug dem außerordentlichen Sowjetkongress, der den Frieden ratifizierte, Trotzkis Ernennung zum Volkskommissar für das Kriegswesen vor.107 Später brandmarkten die Stalinisten Trotzkis Verhalten in Brest-Litowsk als Vaterlandsverrat. Die meisten Autoren bescheinigen ihm Realitätsverlust in seiner aberwitzigen Hoffnung auf die europäische Revolution. Noch bevor das Jahr 1918 zu Ende ging, sollte sich jedoch mit den Revolutionen in Wien und Berlin zeigen, wie stark der Realitätsverlust der deutschen und österreichischen Gegenspieler war. Wie alternativlos war Lenins Devise „Frieden um jeden Preis“ wirklich? Deutscher verweist darauf, dass nicht wirklich eine Atempause folgte, sondern der Bürgerkrieg.108 Was war die Alternative zum Frieden um jeden Preis, ein Siegfrieden?
Der Kriegsherr Der Bürgerkrieg begann, als sich die Verlierer des bolschewikischen Umsturzes und des Brester Friedens vereinten, also die Sozialrevolutionäre mit der alten Offiziers- und Aristokratenkaste und im Lande befindlichen Ententetruppen. Möglicherweise wäre das Unheil zu verhindern gewesen, wenn Lenins Partei die Sowjetherrschaft mit den Sozialrevolutionären ehrlich geteilt und eine gemeinsame bauernfreundliche Politik betrieben hätte. Auch die Landesverteidigung wäre unter diesen Bedingungen nicht unrealistisch gewesen.
106 Zitiert: Deutscher 1972a, S. 360 107 Trotzki 1930, S. 364 – 379; Broué 2003, S. 251 – 260; Deutscher 1972a, S. 329 – 381 108 Deutscher 1972a, S. 367 f.; Wolkogonow 1992, S. 151; Swain 2006, S. 82
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Als Organisator und Führer des Oktoberumsturzes ist Trotzki vom Lenin-Mythos verdeckt. Seine Rolle beim Friedensschluss gilt bis heute als Debakel. Seine Leistung als Schöpfer der Roten Armee und Feldherr des Bürgerkriegs blieb jedoch im Gedächtnis. Legendär ist der gepanzerte Zug. Zwei Lokomotiven zogen ihn. Er trug Kraftwagen, Flugzeuge und schweres Geschütz, verfügte über Telegrafenstation und Rundfunksender, Kraftwerk und Tankstation, eine Bibliothek, die Druckerei für die Zeitung „Unterwegs“, Krankenstation und Badestube. Er beherbergte Berater und Sekretärinnen und die legendären lettischen Schützen in schwarzer Lederkleidung. Mit diesem Zug fuhr Trotzki mehr als zwei Jahre lang zwischen Ural und Ukraine von Front zu Front, ein Fanal der Modernität und Effizienz inmitten der archaischen Gräuel, des Chaos und der Not.109 Ruge beschreibt Trotzkis Rolle: „Traf er irgendwo ein, hielt er vor den angetretenen Mannschaften eine knappe Ansprache über die internationale Situation und die konkreten Aufgaben im Einsatzgebiet, zeichnete Soldaten, die sich hervorgetan hatten, mit Uhren und anderen Geschenken (bald auch mit dem auf seine Initiative gestifteten Rotbannerorden) aus, verfügte – immer mit einem sicheren Gespür für die Stimmung der Truppe – die Erschießung von Deserteuren oder auch die Aussetzung ihrer Strafen zur Bewährung“. Ruge fährt polemisch fort: „Das Wort ‚erschießen‘ ging ihm ebenso leicht über die Lippen wie Lenin“.110 Willkürliche Urteile scheinen zumindest nicht die Regel gewesen zu sein; auch sein ärgster Feind Stalin brachte im Trotzki-Prozess einzig die Erschießung der 20 fliehenden Rotarmisten um den Regimentskommissar Pantelejew vor Kasan zur Sprache.111 Hinrichtungen von Gegnern rechtfertigte Trotzki: „Den staatlichen Terror der revolutionären Klasse kann nur der ‘moralisch’ verurteilen, der überhaupt jede Gewalttätigkeit – folglich auch jeden Krieg und jeden Aufstand – prinzipiell (in Worten!) ablehnt. Dazu muss man einfach ein heuchlerischer Quäker sein“.112 Dieses Bekenntnis zur revolutionären Gewalt verbindet Trotzki mit jeglichen Politikern; es ist nicht geeignet, ihn zum blutrünstigen Schlächter zu stempeln. Nur wenige Monate blieben Trotzki nach der Amtsübernahme, um die Armee aus dem Boden zu stampfen, die den Bürgerkrieg gewinnen sollte. Die alte Zarenarmee war mit der Demobilisierung endgültig zerstoben, und die Roten Garden der Partei waren zu sehr von revolutionärer Unbotmäßigkeit geprägt. Militärwissenschaftliche Kenntnisse hatte er sich in seiner Pariser Zeit als Kriegskorrespondent angeeignet. Trotzki schaffte die Wahl der Offiziere ab und führte klare Kommandostrukturen und die Todesstrafe wieder ein. Das Offizierskorps rekrutierte er bis in die höchsten Ränge zu drei Vierteln aus „Spezialisten“ der Zarenarmee. In der Parteiführung stieß er damit auf heftigen Widerstand, eine Gruppe um Stalin sah die Par-
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Trotzki 1930, S. 398; Broué 2003, S. 277; Swain 2006, S. 94 Ruge et al. 2010, S. 267 Spirin 1993, S. 155 Trotzki 1920, S. 43
teidominanz gefährdet. Als Kompromiss wurden Politkommissare eingeführt, die jeden Befehl abzuzeichnen hatten, eine Einrichtung der sowjetischen Armee, die dauerhaft wurde.113 Wie ein Architekt formierte Trotzki die Armee in konzentrischen Kreisen nach Gesellschaftsschichten entsprechend ihrer revolutionären Zuverlässigkeit: im Kern die Freiwilligen aus den Fabriken, um diese die wehrpflichtigen Städter, schließlich die Bauernschaft, die im Rhythmus der Feldarbeiten desertierte und wieder zusammengetrieben werden musste. Elitetruppen waren die „Zehner“, aus Gruppen von drei Bolschewiki und sieben anderen Kämpfern zu Hundertschaften formiert. Die Armee zählte wenige Hunderttausend, als der Bürgerkrieg begann, sie war fünf Millionen Mann stark an dessen Ende. Sie brachte militärische Führer hervor, die an die Seite und an die Stelle der alten Offiziere traten, darunter Kriegshelden wie den legendären Reitergeneral Budjonny.114 Trotzki verfuhr nicht nach dem gerühmten Konzept der Miliz-Armee von Jaurès, doch er leistete, was in einem Land ohne Traditionen republikanischer Freiheiten und Tugenden möglich war, um revolutionären Elan und militärische Disziplin zu verbinden. Trotzki hat sich zu keinem Zeitpunkt mit dem Brester Frieden abgefunden, er suchte gegen Lenins Politik nach einem Ausweg. Swain schreibt von Trotzkis Vorhaben, seine neue Armee mit englischen Landungstruppen und mit der tschechischen Legion gegen die Deutschen zu führen. Tomáš Garrigue Masaryk hatte die Legion aus den Gefangenenlagern als Nukleus tschechischer Staatlichkeit formiert, und sie kämpfte tapfer an der Seite der Russen. Zur Zeit des Brester Friedens war sie 42.000 Mann stark, die einzig intakte Armee im Land. In der Ukraine kämpfte sie noch im März 1918 gegen die Deutschen.115 Swain berichtet auch, dass Trotzki bereits Ende März 40 Militärberater der Entente in seinem Stab gehabt habe, ein klarer Verstoß gegen den Separatfrieden. Die Sozialrevolutionäre hätten den Plan unterstützt, gemeinsam mit der tschechischen Legion und den Engländern den Kampf gegen die Mittelmächte wieder aufzunehmen, aber das Zentralkomitee habe ihn im Mai unter Lenins starkem Druck verworfen.116 Um die Bestimmungen des Brester Friedens zu erfüllen, sollte die tschechische Armee nun entwaffnet werden. Sie sollte sich auch nicht in Wladiwostok nach Frankreich einschiffen, um weiter zu kämpfen. Der Maiaufstand der tschechischen Armee folgte; Otto Bauer sah ihn schon als Beginn des Bürgerkriegs.117 Die Tschechen wirkten zumindest als Brandbeschleuniger im Konflikt zwischen Bolschewiki und Sozialrevolutionären. Die linken Sozialrevolutionäre hatten die Koalition im Februar im Protest gegen den Friedensschluss verlassen. Sie gingen vollends auf Konfrontation, als die Bolschewiki „Komitees der Dorfarmut“ als Keil in die Bauerngemeinden trieben. Diese Komitees lieferten den Getreideeintreibern Vorräte und widerspenstige Bauern aus. Als die Komitees der Dorfarmen auch noch Delegierte zum Sowjetkongress entsandten, schritten die linken Sozialrevolutionäre zum Aufstand. Zur Eröffnung des Kongresses am 6. Juli 1918 ermordeten sie den deutschen Botschafter Mirbach. Auch Urizki wurde getötet und Lenin am 30. August durch Schüsse ei113 114 115 116 117
Broué 2003, S. 284 – 287; Swain 2006, S. 1001 – 1106 Deutscher 1972a, S. 382 – 386; Hildermeier 1998, S. 141 – 143; Broué 2003, S. 269 f. Leidinger, Moritz 2003, S. 223 – 277; Župcan 2008 Swain 2006, S. 85 – 93 Bauer 1976h, S. 534 f.
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ner Sozialrevolutionärin verletzt. Das Zentralkomitee eröffnete den Roten Terror gegen die Sozialrevolutionäre – gegen die Stimmen Kamenews und Sinowjews und gegen die Proteste Maxim Gorkis und des berühmten Anarchisten Kropotkin.118 Jetzt weiteten sich die Machtkämpfe unter den revolutionären Parteien zum Bürgerkrieg. Sozialrevolutionäre und Tschechen verbündeten sich. Die Sozialrevolutionäre hatten im Herzen der russischen Bauernschaft an der unteren Wolga um Samara und Kasan eine Gegenrepublik errichtet, die ihre Legalität aus der widerrechtlich aufgelösten Konstituante herleitete. Tschernow, der Präsident der Konstituante, hatte den Vorsitz, und 101 gewählte Abgeordnete waren schon nach Samara gelangt. Diese Regierung stand unter dem Schutz der tschechoslowakischen Legion. Trotzki eilte mit seinem Zug an die Wolga, eroberte Kasan zurück, schlug die Tschechen und verfolgte Koltschak, den General der Weißen, der sich der Gegenrepublik bemächtigt hatte.119 Bauernaufstände begünstigten Koltschaks Vormarsch. Die Bauern wehrten sich gegen den Roten Terror der Requirierungen und Erschießungen und gegen die gewaltsame Kollektivierung, eine Politik, die Trotzki unterstützte. Er sah die Bauern an der Seite der Konterrevolution und somit seine Theorie der permanenten Revolution von 1906 bestätigt. Seine Rotarmisten gruben auf Denunziation der Dorfarmen selbst das Saatgetreide aus. Sie wurden dafür von den Bauern vertrieben, grässlich misshandelt und getötet, und metzelten ihrerseits ganze Dorfschaften nieder. Der „Klassenkampf auf dem Dorf“ ernährte die Städte nicht, bedrohte jedoch die Sowjetherrschaft in der Weite des Landes. Lenin musste vor Jahresende 1918 die Dorfarmenkomitees auflösen, ohne dass die Requirierungen aufgegeben oder auch nur eingeschränkt worden wären.120 Bevorzugtes Schlachtfeld dieser Jahre war Trotzkis südrussisch-ukrainische Heimat. Die Weißen machten Jagd auf alle, die Bronstein hießen. Trotzki versuchte seinen Verwandten zu helfen, so der Familie Spenzer, bei denen er während der Schulzeit in Odessa gelebt hatte. Dawid Bronstein, inzwischen ein Witwer in den Siebzigern, war durch die Sowjetmacht von seinem Gut vertrieben worden und wurde von den Weißen als Vater des Volkskommissars verfolgt. Mehr als 200 Kilometer schlug er sich zwischen den Kämpfenden durch, um in Odessa Unterschlupf zu finden. Der Sohn holte ihn dann nach Moskau, wo er noch die Leitung einer staatlichen Mühle übernahm.121 Die Kosaken im Dongebiet, von den Bolschewiki als Privilegierte des Zaren und Kulaken diffamiert, gingen auf die Seite der weißen Generäle Kornilow und Denikin über. Selbst die ukrainische Partisanenarmee des Anarchisten Machno wandelte sich zum Feind der Sowjetmacht. Unter der schwarzen Fahne der Anarchie hatten sie an der Seite der Roten Armee gegen alle gekämpft, die ihnen das Land streitig machten – deutsche Heere und ukrainische Nationalisten, polnische Pans und weiße Generäle. Ihr Ziel war eine Bauernrepublik der lokalen Sowjets, und sie kämpften nach eigenen Regeln. Trotzki machte sie für Niederlagen der Roten
118 Deutscher 1972a, S. 380 f.; Figes 1998, S. 684; Hildermeier 1998, S. 134 – 138, 151; Ruge et al. 2010, S. 240 – 242 119 Deutscher 1972a, S. 392; Broué 2003, S. 284 f.; Swain 2006, S. 100 120 Hildermeier 1998, S. 146 121 Trotzki 1930, S. 21; Serge 1978, S. 108 f.; Service 2009, S. 262 – 264
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Leo Trotzki spricht aus seinem gepanzerten Zug zu Rotarmisten
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Armee verantwortlich, versuchte die Verbände gewaltsam aufzulösen und ließ viele Anführer erschießen. Nestor Machno entkam.122 Auch der letzte Akt der russischen Tragödie vollzog sich in der südrussisch-ukrainischen Kornkammer des Reichs. Ausgelöst durch die Requirierungen erhoben sich im August 1920 im Gouvernement Tambow Zehntausende Bauern. Der Sozialrevolutionär Antonow übernahm die Führung, und sozialrevolutionär waren auch die Losungen der Aufständischen. Unter roten Fahnen forderten sie die Rückkehr zum Oktober 1917, also zum sozialrevolutionären Programm des Dekrets über den Boden, und zur Konstituierenden Versammlung. Lenin sandte den General Tuchatschewski vom polnischen Kriegsschauplatz gegen die Rebellen. Die Aufstände erloschen erst in der entsetzlichen Hungersnot des Winters und Frühjahrs 1921/22.123 Nicht der Triumph im Oktober 1917, sondern die Behauptung der Sowjetmacht in den nächsten Jahren war das eigentliche Wunder. Dem nahezu unblutigen Oktoberumsturz folgte der schrecklichste Bürgerkrieg der europäischen Neuzeit, ein Kampf, der Russland mehr Opfer kostete als der Weltkrieg. Die sowjetische Legende deutete das Geschehen zum Interventionskrieg der imperialistischen Mächte um. Das ist wenig überzeugend, denn die gelandeten Interventionstruppen – die Franzosen in Odessa, die Amerikaner in Wladiwostok, die Briten in Archangelsk – verharrten an der Peripherie, die „weißen“ Konterrevolutionäre mit Geld und Material versorgend. Im Bürgerkrieg standen nicht nur die Weißen gegen die Roten, es wütete auch ein Krieg des Dorfes gegen die Herrschaft der Bolschewiki, die in den Städten wurzelte. Letztlich hielten die Bauern zu den Roten, die ihnen das Land gegeben hatten. Die Weißen unterlagen trotz der ausländischen Unterstützung, weil sie nichts zu bieten hatten, als die Restauration der alten Verhältnisse. Die Bauern folgten der Sowjetmacht mit schleppenden Schritten, wie Hildermeier bildhaft sagt.124 Ohne Trotzkis neue Rote Armee, seine Leistung als Feldherr und seinen unermüdlichen Einsatz an allen Fronten wäre der Sieg nicht möglich gewesen, aber nur militärisch war er nicht zu gewinnen. Nach dem Sieg im Bürgerkrieg war Leo Trotzki auf dem Gipfel seines Lebens. Die Anarchistin Emma Goldman notierte über eine Begegnung im April 1920 im Petrograder Theater: „Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Mann in Militäruniform trat ein. Als die Lichter angingen, erkannte ich Leo Trotzki. Wie hatten sich seine Erscheinung und seine Haltung innerhalb von drei Jahren verändert! Er war nicht mehr der blasse, magere, schmalbrüstige Verbannte, wie ich ihn im Frühjahr 1917 in New York gesehen hatte. Der Mann in der Loge schien größer und breiter geworden, zeigte aber keinen überflüssigen Fettansatz. Sein blasses Gesicht war nun gebräunt, sein rötliches Haar und sein Bart sichtbar ergraut. Er hatte die Macht gekostet und war sich seiner Autorität bewusst. […] Er sprach mit niemandem und ging bald wieder“.125
122 123 124 125
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Serge 1977, S. 138 – 141; Figes 1998, S. 700 f.; Swain 2006, S. 107 – 111; Arsinov, Becker 1998 Figes 1998 Hildermeier 1998, S. 143 Goldman et al. 2010, S. 724
Die neue Gesellschaft – Visionen und Wirren Am Ende des Bürgerkriegs lag die Wirtschaft am Boden. Das war nicht nur in Russland so. Die Liquidierung großer Agrarbetriebe im Zuge der Landreformen war überall im östlichen Europa von einem drastischen Rückgang der Marktproduktion gefolgt, und in etlichen Ländern Nachkriegseuropas herrschte Hyperinflation. Die spezifisch bolschewikische Antwort führte aus der Krise in den Zusammenbruch. Der „Kriegskommunismus“ war keineswegs der Kriegsnot geschuldet. Trotzki und eine Mehrheit im Zentralkomitee probten so den direkten Übergang zum Kommunismus, treu nach den wenigen Äußerungen von Marx zum Zukunftsstaat.126 Die große Industrie wurde nationalisiert und alle wichtigen Erzeugnisse zum Staatsmonopol erklärt. Beschlagnahme und Verteilung ersetzten Markt und Geld. Das Ergebnis war fürchterlich. Die Bauern schlachteten das Vieh und drosselten den Getreideanbau, und die Arbeiter verließen die hungernden Städte. Die Arbeiterklasse, in deren Namen und zu deren Bestem alles unternommen worden war, löste sich auf.127 Sie verlor sich in den Dörfern, sie diente in der Roten Armee, und sie erklomm Posten im neuen Partei- und Staatsapparat. Aber die Sowjetmacht, stolzes Ergebnis der Revolution, war ausgehöhlt bis zur Ohnmacht durch Kommissionen und Komitees aller Art, die nur eine Aufgabe hatten, den Willen der Zentrale an den Sowjets vorbei zu exekutieren. Die Zentrale, das war der Rat der Volkskommissare, dem Allrussischen Sowjetkongress förmlich zwar noch rechenschaftspflichtig, doch ganz ausführendes Organ der Führung der Kommunistischen Partei. So nannten sich die Bolschewiki nun, die keine Sozialdemokraten mehr sein wollten. Partei und Rat waren Verkörperungen des Einen Vorsitzenden Lenin. Lenin hatte alle Macht, aber kein Konzept. Maxim Gorki sah ihn nach dem Oktoberumsturz als den großen Experimentator, der mit dem russischen Volk nach Gutsherrenart umspränge.128 Wolfgang Ruge spricht vom „Großen Unvermögen“ der russischen Parteiführung und merkt an, dass Lenin nach der Revolution nichts Substantielles zur neuen Ordnung verfasste.129 Das traf keineswegs auf die ganze Führung zu. Gegen Lenins körperliche und gedankliche Schwäche stand Trotzkis zupackender Entwurf einer vollkommen rationalen, geplanten und gelenkten Gesellschaft. Die Grundzüge finden sich in seinem Anti-Kautsky, den er unter Kautskys Titel „Terrorismus und Kommunismus“ im rollenden Stabsquartier des Bürgerkriegs verfasste. Die Schrift geriet zum dunklen Gegenstück der Vision vom Zukunftsstaat, die Kautsky 1902 entworfen hatte. Sie war auch aus der Resignation geboren, denn diesseits der Weltrevolution sei kein Paradies denkbar, und die Revolutionen in Berlin, München, Wien und Budapest wären gescheitert. Man könne nicht so einfach aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit treten, Zwang sei vorerst vonnöten.130 Die Idee pluralistischer Debatten um die neue Gesellschaft, die Trotzki 1904 gefordert hatte, gab er ebenso auf, wie das Ideal der Rätedemokratie. Er fand Gründe: „Man hat uns vielfach vorgeworfen, wir hätten die Dikta126 127 128 129 130
Trotzki 2009, S. 71 – 73; Day 1975, S. 197 – 199 Hildermeier 1998, S. 145 – 148 Gorki 1974, S. 98 Ruge et al. 2010, S. 156 Trotzki 1920
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tur der Sowjets nur vorgetäuscht, in Wirklichkeit aber eine Diktatur unserer Partei verwirklicht. […] In dieser ‚Unterschiebung‘ der Macht der Partei an Stelle der Macht der Arbeiterklasse liegt nichts Zufälliges und dem Wesen nach ist auch durchaus keine Unterschiebung vorhanden. Die Kommunisten bringen die grundlegenden Interessen der Arbeiterklasse zum Ausdruck“.131 Das war Substitutionalismus pur. Um die durchgreifende Modernisierung des Landes unter zentraler Planung zu gewährleisten, strebte Trotzki eine „Militarisierung der Arbeit“ an. Militärische und ökonomische Funktionen sollten in einem Arbeitsheer verschmelzen, rekrutiert nach Gebieten, militärisch diszipliniert. Arbeitsbummelei müsse wie Fahnenflucht geahndet werden. Die Idee war aus Bürgerkrieg, Chaos und allgemeinem Mangel geboren, und der Milizgedanke von Jaurès musste Pate stehen.132 Auf dem Allgemeinen Gewerkschaftskongress im April 1920 musste Trotzki sich gegen den Vorwurf der Menschewiki um Martow wehren, dass sein Sozialismus der altägyptischen Sklaverei gleiche. Trotzki entgegnete, dass die ägyptischen Bauern den Bau der Pyramiden nicht in Räten beschlossen hätten, während nun die Arbeiter- und Bauernmacht herrsche – ein fadenscheiniges Argument, wenn man seine Ausführungen zur Unterschiebung der Macht der Partei an Stelle der Macht der Arbeiterklasse bedenkt. Der Mensch sei „ein rechtes Faultier“. Faulheit sei zwar die Grundlage aller Erfindung, aber in der Übergangsepoche vom Kapitalismus zum Sozialismus mache sie Zwang und Arbeitspflicht unvermeidlich.133 War es nur der herrschenden Not geschuldet, dass Trotzki keinen Gedanken an Lohnanreize und Mitbestimmung als Alternative zum Zwang verwendete? Kautsky hatte über solche Instrumente nachgedacht und Zwang ausgeschlossen. Im Spätwinter 1920 machte Trotzki im Ural mit der Armee, die Koltschak geschlagen hatte, einen Anfang zur Militarisierung der Arbeit. Sein Zug in Jekaterinenburg wurde zur Basis für die Zwangsregistrierung zur Ersten Arbeitsarmee. Die in Arbeiter verwandelten Soldaten fällten Bäume, bauten Baracken und reparierten Lokomotiven. Als Trotzki auch noch das Volkskommissariat für Transportwesen erhielt, machte er diese Branche zum Experimentierfeld seiner Militarisierung der Arbeit. Er schaffte die Gewerkschaften der Eisenbahner und der Seeleute ab und ersetzte sie durch die zentralisierte staatliche Organisation Zektran. Trotzki scheiterte bald an fehlenden Ressourcen für die Versorgung der Arbeitsheere, aber mehr noch am vereinigten Widerstand der Gewerkschaften. Wortführer seiner Gegner im Zentralkomitee war Sinowjew, aber auch Lenin ließ ihn fallen. Lenins und Sinowjews Gewerkschaftskonzept setzte sich durch: Die Gewerkschaften blieben erhalten, wenn auch nur als ohnmächtiger „Transmissionsriemen der Partei“ zur politischen Erziehung der Arbeiter. Ihr Sieg über Trotzki rettete die Produktionsdemokratie nicht.134 Zu Beginn des Jahres 1921 hatte die Kommunistische Partei nur noch eine Minderheit des Volkes hinter sich. Eine „Dritte Revolution“ bahnte sich an. Als sich zu den fortdauernden Bauernunruhen Massenstreiks der Arbeiter in Moskau und Petrograd gesellten, als die Matrosen von Kronstadt meuterten, die Trotzki einst „Stolz und Ruhm der russischen Revolution“ ge131 Trotzki 1920, S. 88 f. 132 Trotzki 1920, S. 110 – 130 133 Trotzki 1920, S. 109, 118, 142; mit fälschlichem Bezug auf Kautskys Zukunftsstaat-Konzept: Kößler 1993 134 Broué 2003, S. 302 – 318; Swain 2006, S. 122 – 126, 129 – 133
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nannt hatte, als sich in der Partei eine „Arbeiteropposition“ von Gewerkschaftern formierte, da zeigte sich, dass Trotzki zum bestgehassten Mann Russlands geworden war. Er stand für die Entmachtung der Gewerkschaften und der Fabrikkomitees durch Spezialisten und Wirtschaftsbürokratie, für die „Stock-Erziehung“ des Arbeiters, der „selbst in der sowjetischen Arbeitsrepublik ein geschändetes, elendes Zuchthäuslerdasein“ führt, wie Alexandra Kollontai in dem Manifest der „Arbeiteropposition“ schrieb.135 Die Kronstädter veröffentlichten in ihrer Zeitung lange Reihen mit Namen von Kommunisten’ die nicht mehr „in der Partei des Henkers Trotzki bleiben“ wollten.136 Da stand die grausige Schlacht auf dem Eis noch bevor, bei der die Eliteregimenter und Kadetten gegen die Kronstädter geschickt wurden und auf beiden Seiten mehr als zehntausend den Tod fanden. Etwa 300 Delegierte des in Moskau versammelten zehnten Parteitags zogen mit gegen die Festung. So unbeteiligt, wie Trotzki später erklärte, war der Volkskommissar für das Kriegswesen bei der Niederschlagung des Aufstandes nicht.137 Alle oppositionellen Sozialisten – Sozialrevolutionäre, Anarchisten, Menschewiken, jüdische Bundisten – wurden nun unerbittlich verfolgt, verhaftet, ausgewiesen, sofern sie sich nicht zur Kommunistischen Partei bekannten. Auch innerhalb der Partei sollte es fortan keine Fraktionen wie die „Arbeiteropposition“ mehr geben. Das war sicher nicht das Ende des Pluralismus in der Partei und der Demokratie in Sowjetrussland, wie viele Autoren meinen, beides gab es nicht. In einer leninistischen „Partei neuen Typs“ und einem Land ohne Verfassung, Wahlen und Gewaltenteilung konnte davon ohnehin keine Rede sein. Doch für den anstehenden Machtkampf Trotzkis mit Stalin wurde das Fraktionsverbot ausschlaggebend.138 Wichtiger für die Lebensumstände des Volkes war es, dass der Kriegskommunismus aufgegeben wurde. Die Neue Ökonomische Politik, kurz NÖP, ersetzte willkürliche Beschlagnahme und Verteilung wieder durch die regelnde Wirkung von Markt und Geld. Eine gemischte Wirtschaft mit einem florierenden privaten und einem schwächelnden staatlichen Sektor entstand. Vor allem die größeren Bauernwirtschaften profitierten vom Verkauf ihrer Produkte, während die kleineren sich nun endlich selber satt aßen. Die Not war nicht gebannt, das Volk hatte noch immer weniger Fleisch und Brot als vor dem Krieg, aber der Wiederaufbau begann.139 Unter Lenins Obhut ließ Sokolnikow, der Volkskommissar für Finanzen, dem Markt Spielraum. Mit geordneten Steuern und Konzessionen für ausländische Investoren verhalf er der Sowjetunion zu ausgeglichenem Staatshaushalt und einer Währung auf Goldstandard. Trotzki hielt die Rückkehr zum Markt zwar auch für unausweichlich, wollte ihn aber mittels zentraler Planung beschränken. Ein staatliches Außenhandelsmonopol sollte sichern, dass die Erträge des Agrarexports für den Import von Investitionsgütern verwandt würden, um über den Weltmarkt an westlicher Technologieentwicklung teilzuhaben. Darüber geriet er in Streit mit Sokolnikow und zeitweise auch mit Lenin.140 Die blutige Niederschlagung jeglicher Opposi135 136 137 138 139 140
Kollontai 1921 Berkman 1923, S. 15 f. Avrich 1970, S. 229 f.; Figes 1998, S. 309 f. Hildermeier 1998, S. 161, 231 – 233 Ruge et al. 2010, S. 295 – 319; Hildermeier 1998, S. 159 – 165 Day, Trotzki 1973, S. 47 – 65; Nove 1981, S. 88 f.; Shapiro 1993
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tion und Rückkehr zum Markt retteten die Macht der bolschewikischen Partei und beendeten die Revolution. Lenin hat zu dieser Zeit wiederholt zu Trotzki und anderen Vertrauten seine Furcht geäußert: „Das ist der Thermidor. Aber wir werden uns nicht guillotinieren lassen. Wir machen selbst Thermidor!“141 Trotzki sann nach dem Scheitern des Kriegskommunismus auf neue Wege zum Zukunftsstaat, gemeinsam mit Jewgeni Preobraschenski arbeitete er an einer Alternative. Eine brüderliche, moderne und kultivierte Gesellschaft entsprechend den alten sozialistischen Idealen sollte entstehen, wie Trotzki in zahlreichen Prawda-Artikeln zu Alltags- und Kulturfragen ausmalte.142 Erreichbar schien ihm dies nur durch zentrale Planung, Lenkung und Erziehung, durch die Errichtung einer Diktatur der Rationalität über die Unvernunft und den Unwillen der Massen. Den Schlüssel fand er in beschleunigter Industrialisierung als Weg zur Dominanz des Staatseigentums und zu einer wachsenden Arbeiterklasse, die solche Diktatur tragen könnte. Preobraschenski entwickelte in Anlehnung an Karl Marx’ ursprüngliche kapitalistische Akkumulation die Theorie dazu. Die Ressourcen für die Industrialisierung müssten im Land gewonnen werden, da mit revolutionärer Unterstützung westlicher Industrieländer vorerst nicht zu rechnen wäre, also durch eine ursprüngliche sozialistische Akkumulation. Eine Quelle wäre die progressive Besteuerung der Bauern, die Gewinner der NÖP waren und sich in den Augen von Trotzki und Preobraschenski zu Kapitalisten mauserten. Der entscheidende Prozess wäre aber treu nach Marx die Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln, also der Zusammenschluss der selbstgenügsamen Bauernwirtschaften zu mechanisierten Kollektivwirtschaften. Dann würden Arbeitskräfte für die Industrie freigesetzt, die wiederum die landwirtschaftlichen Maschinen liefern müsste.143 So sollten Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft Hand in Hand gehen. Es war eine schlüssige Theorie; als solche war sie blind für die praktischen Probleme und sozialen Konsequenzen solch gewaltiger Umwälzungen. Auf dem Parteikongress im April 1923 unternahm Trotzki einen Vorstoß. Mit einem Diagramm demonstrierte er die „Scherenkrise“ stark steigender Industriepreise und schwächelnder Agrarpreise. Die Bauern könnten die überteuerten Industrieprodukte nicht kaufen, das billige Angebot von Pflug und Nagel, Kattun und Zündhölzern sei aber die Grundlage des Bündnisses von Bauern und Arbeitern. Energische Förderung und Modernisierung der Industrie sei vonnöten. Die Kosten müssten zugleich gesenkt werden, veraltete, unrentable Fabriken wären zu schließen und die Arbeiter umzulenken. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit war das keine populäre Forderung. Swain fühlte sich an die Politik von Margaret Thatcher erinnert. Tatsächlich lag ein Großteil der Kapazitäten besonders in der Schwer- und Rüstungsindustrie noch brach, darunter auch die legendären Petrograder Putilow-Werke. Allerdings wäre auch die gegenteilige Schlussfolgerung plausibel gewesen, wie sie Bucharin vortrug: Man müsse die Bauernschaft entlasten, um ihre Kaufkraft zu stärken und wirtschaftliche Anreize für die Marktproduktion zu schaffen.144 141 142 143 144
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Zitiert: Serge 1977, S. 150; Koslow 1993, S. 103 f. Trotzki 2001 Preobraschenski 1973; Day 1975; Day 1982 Selden 1993, S. 240 – 245; Swain 2006, S. 139 – 141
Die Differenz entwickelte sich zur Frontlinie, auf der einen Seite Trotzki und Preobraschenski mit ihren Anhängern, auf der anderen Bucharin, hinter dem bald Stalin stand. Gemeinsam mit Preobraschenski hatte Bucharin wenige Jahre zuvor das „ABC des Kommunismus“ verfasst; nun hatte er den Glauben an die Arbeiterschaft gegen die Überzeugung getauscht, dass die Sowjetmacht – so verlassen von der europäischen Revolution – ihr Heil bei den Bauern suchen müsse.145 Beide Seiten waren sich im Kern einig, dass Industrialisierung nötig wäre, und beide waren auch überzeugt, dass ohne Kollektivierung aus dem rückständigen Bauernland keine sozialistische Gesellschaft werden könne. So ging der Streit um das Tempo. Während die eine Seite zweistellige Wachstumsraten der Industrie und gleichzeitig Kollektivierung forderte, bestand die andere darauf, das bäuerliche Russland im Schneckentempo mit sich zu ziehen, um es nicht zu verlieren. Wenige Jahre später, nachdem er Trotzki ins Exil verbannt hatte, setzte Stalin das Konzept des verhassten Gegenspielers um. Vermutlich hätte diese grundstürzende Transformation unter Trotzkis und Preobraschenskis Diktat nicht Millionen Opfer gefordert, sie wäre planmäßiger und professioneller durchgeführt worden. Doch ohne hinreichende Ressourcen und Anreize für die neuen Kollektivwirtschaften hätten sie auf Freiwilligkeit kaum rechnen können. Ohne massenhafte Repressionen, nicht nur gegen Kulaken, wäre es auch ohne Stalin nicht abgegangen.146
Gegen Stalin um den Neuen Kurs Der Kampf zwischen Stalin und Trotzki lässt sich als schicksalhafter Diadochenkampf erzählen, wurzelnd im Gegensatz der Charaktere und in der Rivalität um die Nachfolge Lenins, zurückreichend in die Kompetenzstreitigkeiten des Bürgerkriegs, wenn nicht bis zu Stalins Raub der Wiener Prawda. So war es nicht, zumindest nicht im Kern. Stalin sah zwar in Trotzki das große Hindernis auf dem Weg zur Macht, Trotzki hingegen ignorierte dies, unternahm nichts und hielt sich mit abfälligen Bemerkungen über Stalins Intelligenz und Person nicht zurück. Im Unterschied zu Stalin wollte Trotzki nicht die Macht in Partei und Staat; er wollte seine Vision einer sozialistischen Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Europa umsetzen. Die rückständige Sowjetunion war ihm dafür notdürftige Ausgangsbasis und die Kommunistische Partei das Vehikel. Trotzki war und blieb ein „Westler“. Stalin wollte die Sowjetunion stärken und entwickeln. Er spielte, obwohl Georgier, den Part des Slawophilen, des großrussischen Nationalisten. Diese Bestrebungen schlossen Bündnisse nicht aus, führten aber notwendig zur Konfrontation. Die Konflikte brachen im Jahre 1923 auf, als Trotzki auf dem Parteikongress im April zu seinem Herzensthema gesprochen hatte, der planmäßigen Industrialisierung. In der nachfolgenden „Scherendiskussion“ konnte Trotzki sich mit seiner Hochschätzung von Plan und Experten nicht gegen die Mehrheit im Politbüro behaupten, die auf der strikten Herrschaft der Par145 Deutscher 1972b, S. 228 f. 146 Nove 1981, S. 91; Trotzki 2009, S. 80 – 89
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tei über die Wirtschaft beharrte. Im Politbüro dominierte inzwischen das Triumvirat Stalin, Kamenew und Sinowjew. Die ältesten Mitstreiter Lenins verbündeten sich mit ihrem künftigen Mörder, um Trotzki als designierten Nachfolger Lenins zu verdrängen. Dagegen formierte sich um Trotzki eine „Linke Opposition“, der neben Preobraschenski, dem Theoretiker der Industrialisierung und Kollektivierung, mehrere Dutzend führende Kommunisten angehörten. Das Triumvirat, hinter dem die Parteimehrheit stand, ging zum Angriff über, indem es Trotzkis Unterstützer vom Kampfplatz entfernte. Auch Rakowski verlor seinen Posten als Präsident der Ukrainischen Sowjetrepublik und wurde in den diplomatischen Dienst abgeschoben.147 Trotzki reagierte auf seine Weise, mit der Feder. Eine Artikelserie in der Prawda forderte den „Neuen Kurs“, einen Kurs der erneuerten Meinungsvielfalt in der Partei. Er begründete die Notwendigkeit von Gruppierungen und offenen Diskussionen. Somit knüpfte er an seine alte Kritik der „Partei neuen Typs“ an und widerrief seine Mitwirkung beim Fraktionsverbot des 10. Parteitags, selbstverständlich unausgesprochen, durch die Blume. Es war ein Angriff auf die von Lenin geschmiedete und vom Triumvirat zementierte Einheit der Partei, nicht direkt auf Stalin.148 Trotzki wich dem Machtkampf mit Stalin lange aus. Gegen Lenins Weisung hatte er Stalins georgische Politik auf dem Parteitag 1923 nicht entlarvt, sondern im Gegenteil Lenins vertrauliche Dokumente an die Gegenseite weitergegeben. Die nächste Gelegenheit, den Generalsekretär zu stürzen, bot Lenins politisches Testament. Trotzki stimmte zu, dass es nur im engen Kreis verlesen und als überholt zur Seite geschoben würde. Als Lenin starb, war Trotzki unterwegs in den Kaukasus zur Erholung. Es mag sein, dass Stalins Telegramm irreführend mitteilte, die Beisetzung sei in drei statt in vier Tagen angesetzt. Aber warum unternahm Trotzki nicht alles, um doch noch rechtzeitig in Moskau zu sein, sondern fuhr nach Suchumi weiter und blieb dort bis zum Vorabend des Parteikongresses im Mai? Selbst Sohn Ljowa schrieb ihm enttäuscht und verständnislos.149 Ein eigener Ausdruck seines Fluchtverhaltens war das Fieber, das ihn in kritischen Lagen ergriff. So lag er im Herbst und Winter 1923 zu Bett, als die Linke Opposition mit der alten Garde rang, und er wurde ein Jahr später wieder krank, als die Empörung in der Partei mit der Forderung nach seiner Ablösung als Volkskommissar für das Kriegswesen einen Siedepunkt erreichte. Sinowjew und Kamenew, deren zögerndes Verhalten in der Oktoberrevolution er in seiner Schrift „Lehren des Oktober“ ausgebreitet hatte, forderten seinen Skalp. Stalin rettete ihn vor dem Parteiausschluss und schickte ihn wieder in den Kaukasus zur Kur. Wie Broué treffend schreibt, war Trotzki kein Parteimensch. Und er war als Bündnispartner unzuverlässig, wie Swain bemerkt. Er war unfähig und unwillig Allianzen zu schmieden. Mit achtlos ausgestreuten verletzenden Bemerkungen provozierte er geradezu „Koalitionen der getretenen Hühneraugen“.150 Das heißt nicht, dass er keine Freundschaften knüpfen konnte, Christian Rakowski und Adolf Joffe sind nur zwei Zeugen für lebenslange Verbundenheit. Trotzki war schlicht nicht interessiert an der Position des Parteiführers. Er war ein intellek147 148 149 150
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Britovsek 1993; Swain 2006, S. 135 – 147, 152 – 155 Trotzki 1972, S. 31 – 44 Deutscher 1972b, S. 136 – 141; dagegen Broué 2003, S. 339 – 343, 364 – 371, 390 – 99, 45 f. Spirin 1993, S. 157
tueller Weltverbesserer, der die Welt grundstürzend neu bauen wollte, vielleicht mehr als alle anderen Sozialisten, die wir bisher betrachtet haben. Er wollte es kraft seiner Ideen und Argumente. Im Bündnis mit der ungeheuerlichen Autorität Lenins war ihm das in erstaunlichem Maße gelungen. Ohne Lenin war er waffenlos, „der unbewaffnete Prophet“, wie Deutscher ihn nennt. Trotzki war bis zum Sommer 1917 der große Einzelgänger gewesen, nun wurde er es wieder. Deutscher meint, Trotzki lebte in einer anderen Welt, sich und seinen Gedanken hingegeben. In den Sitzungen des Zentralkomitees sei er pflichtschuldigst erschienen, habe sich aber in ein Buch vertieft, meist einen französischen Roman.151 Was als Geste grenzenloser Arroganz wahrgenommen wurde, war eher Ausdruck der Resignation. Zu dieser Zeit waren schon unzählige Demütigungen und Diffamierungen auf den Revolutionsführer niedergeprasselt. Seine Gegner hatten ihn erfolgreich von der Macht verdrängt. Nach der Rückkehr von der Kur im Mai 1925 war Trotzki fast ohne Amt. Stalin übertrug ihm die Leitung der Arbeiten am Dnjepr-Staudamm, dem mächtigen Pionierprojekt sowjetischer Elektrifizierung. Es war eine Aufgabe nach seinem Herzen. Er studierte die technischen Fragen und wurde zum „virtuellen Diktator seiner Heimatregion“.152 Er hatte wieder mehr Zeit zu schreiben, über internationale und historische Fragen der Revolution und über Literatur. Daneben war die Jagd sein wichtigstes Vergnügen geworden. Auch die Familie erhielt wieder mehr Aufmerksamkeit. Sie wohnten im Kreml mit den anderen Familien der Parteiführung. Seine Frau Natalja arbeitete in der zentralen Museumsverwaltung. Die Kinder waren herangewachsen, die Töchter Sina und Nina hatten eigene Familien und lebten in Moskau, in Kontakt zum Vater. Ihre Mutter Alexandra Lwowna gehörte in Leningrad zum Kern der trotzkistischen „Linken Opposition“. Sohn Ljowa war schon als Komsomolze mit dem Vater in den Bürgerkrieg gezogen und stand in der Opposition an der Seite des Vaters, während Sergej rebellierte, mit Politik nichts im Sinn hatte und mit Zirkusleuten auf Tournee ging, bevor er ein Studium begann.153 Im Frühjahr 1926 drohten dem Staudammprojekt die Mittel auszugehen, von Einstellung war die Rede. Stalin hielt ohnehin nichts davon, er hatte geäußert, es sei, als wenn sich ein armer Bauer ein Grammophon statt einer Ziege kaufe.154 Wutentbrannt schloss Trotzki sich Sinowjew und Kamenew an, die mit Stalin gebrochen hatten, und verließ das Staudammprojekt. Gegen diese „Vereinigte Opposition“ eröffnete Stalin eine gnadenlose Treibjagd. Inhaltlich traten zwei neue Themen in den Vordergrund: Stalin erfand die „Theorie“ vom Sozialismus in einem einzigen Land, behauptend, Trotzki würde den sowjetischen Aufbau negieren. Trotzki hingegen malte die Gefahr des sowjetischen Thermidor an die Wand, behauptend, unter Bucharins und Stalins Führung würden Parteibürokraten, Kulaken und NÖP-Leute der Revolution den Garaus machen, wie einst die Guillotine der Jakobinerherrschaft. Lenins Partei sah sich seit jeher als Reinkarnation der französischen Jakobiner von 1793 – eine keines-
151 152 153 154
Deutscher 1972b, S. 245; Swain 2006, S. 155 – 158; Broué 2003, S. 425 – 437 Swain 2006, S. 159 f. Deutscher 1972b; Broué 2003, S. 456 – 461 Day, Trotzki 1973, S. 79 – 91; Trotzki 2009, S. 73 – 78
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wegs hilfreiche Analogie, die Trotzki in seiner hellsichtigen Schrift von 1904 noch gegeißelt hatte, nun aber selbst aufnahm.155 Die Kontroverse über den „Sozialismus in einem Land“ entwickelte sich um Trotzkis immer erneuerte Hoffnung auf auswärtige revolutionäre Entwicklungen. Da war zunächst die deutsche Krise des Jahres 1923, als die KPD-Führung unter Heinrich Brandler von der Moskauer Kommunistischen Internationale, der Komintern, zur Revolutionsvorbereitung ermuntert und von Trotzki mit Aufstandsplänen versorgt wurde. Wieder sah er mit der deutschen Revolution die Vereinigten Staaten von Europa in Reichweite kommen, wie er noch im Juni in einem Prawda-Artikel darlegte. Das Vorhaben endete tragisch. Die Reichsregierung exekutierte die Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen, an denen Kommunisten beteiligt waren, bevor sie die Rolle des Petrograder Sowjets zu Ende spielen konnten. Nun verdammte die Komintern Trotzki und die KPD-Führung Heinrich Brandlers.156 Danach gab die Komintern die Beförderung der Weltrevolution auf. In Trotzkis Augen opferten Stalin und die Seinen die Revolution der sowjetischen Außenpolitik. Den nächsten Anlass bot 1926 die Niederlage des englischen Generalstreiks. Trotzki hatte schon im Vorjahr in seiner Schrift „Wohin treibt England?“ die britische Labourpartei wegen ihres Reformismus und Opportunismus gegeißelt. Nun polemisierte er gegen die Politik der gemeinsamen sowjetischenglischen Gewerkschaftskommission.157 Erbittert stritt Trotzki auch gegen die China-Politik der Komintern. Weil die Sowjetunion im Bündnis mit Sun Yat-sen war, hatten die chinesischen Kommunisten eine Allianz mit der nationalistischen Kuomintang von Chiang Kai-schek eingehen müssen. Trotzki sah seine schlimmen Ahnungen bestätigt, als die Kuomintang-Partei im Shanghai-Massaker vom April 1927 die Kommunisten hinmetzelte.158 Aus ähnlichen Erwägungen schloss Stalin 1939 auch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Für Stalin zählte nur die Sicherheit der Sowjetunion, nicht die Weltrevolution. Gegen Trotzkis unbesiegbare Hoffnung erhob Stalin den „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ zum Glaubensartikel des Sowjetpatriotismus und zum Maßstab der Treue der assoziierten Kommunistischen Parteien. Mit diesem Argument konnte er Trotzki als Feind der Sowjetunion brandmarken. Mitte der zwanziger Jahre zog Trotzki Seite an Seite mit seinem langjährigen Gegner Sinowjew, der die Leitung der Leningrader Parteiorganisation schon verloren hatte, aber noch an der Spitze der Komintern stand, gegen Stalin und Bucharin zu Felde, ersteren als „Zentristen“, letzteren als „Rechten“ anklagend. Trotzkis Furcht vor dem Thermidor wuchs ins Irrationale. Als er in einer stürmischen Politbüro-Sitzung im Oktober 1926 Stalin entgegen schleuderte: „Der Generalsekretär kandidiert für den Posten des Totengräbers der Revolution!“, verloren Trotzki und Sinowjew ihre Plätze im Politbüro.159 Der Ausschluss aus dem Zentralkomitee folgte, im Sommer 1927 auch Verurteilungen durch die Komintern-Exekutive und ihre Parteien. Trotzki konnte nirgendwo mehr publizieren, der Staatsverlag stoppte die Herausgabe
155 156 157 158 159
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Koslow 1993 Trotzki 1926; Deutscher 1972b, S. 143 – 147; Becker 2001, S. 217 – 250; Jentsch 2009 Trotzki 1925; Alter 1983; Swain 2006, S. 165 f., 175 Smith 2000; Broué 2003, S. 564 – 568 Deutscher 1972b, S. 288
seiner Werke.160 Die Opposition ging mit einer weit gestreuten Erklärung von 83 namhaften Parteifunktionären zum Angriff über. Der Versuch, die Parteibasis zu mobilisieren, stieß auf taube Ohren. Weder der ehemalige Kriegs- und Arbeitskommissar Trotzki noch der vormalige Leningrader Parteichef Sinowjew waren glaubwürdige Kämpfer für innerparteiliche Demokratie. Einige Tausend versammelten sich in Wohnungen und am Stadtrand, überwiegend alte Bolschewiki. Victor Serge sah tröstlich diese Rückkehr der Größen von Gestern in die Armenviertel, Trotzki „unverkennbar gealtert, fast schlohweiß, in aufrechter Haltung, mit zerklüfteten Zügen“.161 Die Staatspolizei griff ein, als die Opposition am 10. Jahrestag der Revolution mit Losungen wie „Nieder mit den Kulaken, den NÖP-Männern und den Bürokraten!“ und „Lenins Testament vollstrecken!“ eine eigene Demonstration veranstaltete. Verhaftungen, Parteiausschlüsse, Deportationen folgten. Sinowjew und Kamenew leisteten Abbitte, um dem Parteiausschluss zu entgehen. Joffe beging Selbstmord; er hinterließ einen Brief an Trotzki, in dem er ihn zur Fortsetzung des Kampfes gegen den Thermidor mahnte und ihm die kompromisslose Zielstrebigkeit ans Herz legte, die Lenin zum Sieg verholfen habe.162 Stalin bewies diese Eigenschaft in hohem Maße bei der Niederschlagung der Opposition. Trotzki wurde am 17. Januar 1928 in das kasachische Alma Ata deportiert, begleitet von seiner Frau und dem Sohn Lew. Sergej war bei seiner Familie in Moskau geblieben. Ein Jahr verbrachten sie isoliert „in Gesellschaft von Briefen, Büchern und der Natur“, so Nataljas Worte. Aus Moskau kamen schlimme Nachrichten. Die Töchter lebten mit ihren Kindern in Not, denn als Oppositionelle waren sie arbeitslos und ihre Ehemänner deportiert. Beide erkrankten an Tuberkulose. Im Juni starb Nina, aufopferungsvoll gepflegt von ihrer Schwester Sinaida. Trotzki versenkte seinen Kummer in der Arbeit am Programm der Opposition für den sechsten Kongress der Komintern.163 Unermüdlich versuchte er, die losen Fäden der in alle Winde verstreuten Opposition wieder zu knüpfen. Lew Sedow, noch immer Ljowa genannt, zählte als Organisator und Sekretär des Vaters annähernd tausend eingehende Briefe. Seit dem Herbst unterband Stalin Trotzkis Kontakte mehr und mehr, im Januar 1929 ließ er ihn mit Frau und Sohn nach Odessa an Bord eines Schiffes bringen, das ihn in Konstantinopel/Istanbul an Land setzte. Der Offizier übergab ihm namens der Sowjetregierung einen Umschlag mit 1.500 Dollar zur Ansiedlung in der Türkei – eine Kränkung, die der Ausgesetzte nicht zurückweisen konnte.164
Letztes Exil Vergebens versuchte Trotzki, in ein demokratisch regiertes westliches Land zu kommen. „Planet ohne Visum“ überschreibt er dieses Kapitel seiner Autobiografie. Auch dort, wo Sozialis-
160 161 162 163 164
Lesnik 1993 Serge 1977, S. 247 Trotzki 1930, S. 513 – 523; Swain 2006, S. 173 – 177 Trotzki 1929 Trotzki 1930, S. 523 – 548
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ten regierten, so in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, wollte man den verstoßenen Revolutionsführer nicht haben. George Bernard Shaw kritisierte einigermaßen halbherzig die Labour-Regierung, die den allerreaktionärsten Gegnern das Asylrecht gewährte, es diesem „sehr bedeutenden Sozialisten“ aber verweigerte. Freilich hätten viele vor dem Löwen im Käfig eine unvernünftige Furcht, da Trotzkis „große literarische Fähigkeiten und die Macht, die er dank seiner außergewöhnlichen Laufbahn auf das Denken der modernen Welt ausübt“, ihn zum „leuchtenden Vorbild und Held sämtlicher zum Kampf entschlossenen Anhänger der extremen Linken auf der ganzen Welt“ machen könnten. Man solle ihm indessen gestatten, nach England zu kommen, und sei es nur, um die Schlüssel zu seinem Käfig in Händen zu halten.165 Die Konservativen verabscheuten den Revolutionär, und die sozialistischen Politiker wollten sich nicht mit Stalin anlegen. Trotzki und die Seinen richteten sich also auf Prinkipos ein, einer Insel, die schon den byzantinischen Kaisern zur Entsorgung ihrer konkurrierenden Brüder und Vettern gedient hatte. Er stürzte sich in die Arbeit, vollendete die Autobiografie und schrieb eine dickleibige „Geschichte der russischen Revolution“. Der Schriftsteller lebte wieder vom Ertrag seiner Feder, und der war dank Vorabdrucken in großen Zeitungen und Übersetzungen ins Deutsche, Französische und Englische ausreichend für den wachsenden Haushalt mit Sekretären und Freunden. Auch die Herausgabe einer Zeitschrift wurde möglich. Im Juli 1929 erschien als gemeinsames Werk von Vater und Sohn erstmals das Bulletin der Opposition, im Untertitel gekennzeichnet als bolschewikisch-leninistisch. In russischer Sprache verfasst sollte das Blatt der Verständigung der sowjetischen Opposition dienen.166 Um diese Opposition stand es schlecht. Stalin hatte nach Trotzkis Ausweisung eine radikale Kehrtwende der sowjetischen Politik eingeleitet. Im Mai 1929 leitete Stalin mit einer kräftigen Aufwärtskorrektur des ersten Fünfjahrplans jene beschleunigte Industrialisierung ein, die Trotzki, Preobraschenski und ihre Mitstreiter gefordert hatten. Auslöser war der Brotmangel der Städte, Vorbote einer gefährlichen Systemkrise. Als am 27. Dezember 1929 die Prawda mit Stalins Artikel „Zum Teufel mit der NÖP!“ erschien, da war die stalinistische Revolution von oben, die große Transformation zum sowjetischen Wirtschaftssystem, schon ein Jahr lang in vollem Gange.167 Gerschenkron sah noch 1968 in einer Rezension zu Alec Noves Buch „Was Stalin really necessary?“ übereinstimmend mit dem Autor Stalins Politik alternativlos: „Ohne Zwangskollektivierung und Superindustrialisierung wäre die Sowjetdiktatur wahrscheinlich zerfallen“.168 Zunächst hatte man im Winter 1928/29 rigoros erhöhte Getreidesteuern von den Bauern eingetrieben und sich dann der bauernfreundlichen „Rechten“ um Bucharin entledigt. Noch im Jahre 1929 begann die „Liquidierung der Kulaken als Klasse“, die Millionen Opfer forderte, die besitzenden Bauern in die unwirtlichen Gegenden Sibiriens und die übrigen in die Kolchosen trieb. Die Kollektivierung war ebenfalls Programm der
165 Deutscher 1972c, S. 30 166 Deutscher 1972c, S. 33 – 38; Broué 2003, S. 814 – 817 167 Siehe zur „Revolution von oben“ Hildermeier 1998, S. 367 – 434; grundsätzlich zum Stalinismus derselbe Autor: Hildermeier 1997; Nove et al. 1980 168 Gerschenkron 1968, S. 488
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Opposition gewesen. Stalin pflügte mit dem Kalb der Opposition, zitiert Deutscher ein russisches Sprichwort.169 Die Streiter der Linken Opposition in den sibirischen Deportiertenkolonien und den „Isolatoren“ genannten Gefängnissen sahen den Grund ihrer Leiden schwinden. Sie sehnten sich danach, an dem großen Werk der Umgestaltung teil zu haben, wieder in der Partei und bei ihren Familien zu sein. Überdies waren die Nachrichten von Trotzki unsicher; offiziell wurden ihm seine Veröffentlichungen in der „bourgeoisen Presse“ als Verrat angekreidet. Den Anfang machten im April 1929 die Altbolschewiki Radek und Preobraschenski. Sie wurden vorerst in Gnaden wieder aufgenommen. In mehreren Wellen folgten jeweils Hunderte. Nur wenige hielten aus wie Christian Rakowski, darauf beharrend, dass es nicht nur um die Industrialisierung und den Kampf gegen Kulaken und NÖP-Leute gegangen sei, sondern um Pluralismus in der Partei und um Trotzkis Rückkehr.170 Die Beurteilung des Geschehens war schwierig, auch für Trotzki im Exil. Alec Nove hat das Bulletin der Opposition von 1929 bis 1931 durchgesehen.171 Die meisten Artikel schrieb Trotzki selbst, einen anderen großen Teil bildeten die Briefe aus den Deportiertenkolonien, die in winziger Schrift auf Zigaretten- und Packpapier verfasst über sowjetische Diplomaten zu Lew Sedow gelangten, dem Redakteur. Sie waren neben der sowjetischen Presse Trotzkis Quelle. Trotzki sah Stalins neue Politik als einen Linksruck, zu dem der Druck der Opposition erheblich beigetragen habe. Er analysierte auch den Zwang von rechts, den Ablieferungsstreik der Kulaken, Vorboten eines drohenden Thermidor. Also begrüßten Trotzki und die Seinen Stalins Kurswechsel. Die enormen Ungleichgewichte und Mangelerscheinungen der Hau-Ruck-Industrialisierung erschienen im Bulletin als Folge der Versäumnisse seit 1924 und vor allem als Versagen der Bürokratie. Der Linksruck habe an der „zentristischen“ Position Stalins und der Parteibürokratie grundsätzlich nichts geändert. Eine Kehrtwende sei möglich, da ein Zickzackkurs im Wesen des Zentrismus liege. Noch 1934, nach Abschluss des ersten Fünfjahrplans, sollte Trotzki irrig eine Rechtswendung zu einer „Neo-NÖP“ diagnostizieren.172 Trotzki fürchtete ein Widererstarken des Kulakentums inmitten der Kolchosen, als die bäuerliche Mittel- und Oberschicht schon grausam vernichtet war. Erst in seiner Schrift „Die verratene Revolution“ von 1936 schrieb er über den brutalen Raubzug der Bürokratie, der nicht nur Ziegen und Hühner „entkulakisierte“, sondern selbst kleinen Kindern die Filzstiefel von den Füßen zog. Er wusste, dass Millionen Menschen durch „Hunger, Kälte, Seuchen und Repressalien“ umgekommen waren, doch: „Die Schuld für diese Opfer trifft nicht die Kollektivierung, sondern die blinden Abenteurer- und Gewaltmethoden ihrer Durchführung. Die Bürokratie hat nichts vorausgesehen“.173
169 170 171 172 173
Deutscher 1972c, S. 70 Deutscher 1972c, S. 69 – 89; Broué 2003, S. 765 – 780 Nove 1977 Broué 2003, S. 966 Trotzki 2009, S. 84 – 86
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Nach Ausschaltung der Rechten erklärte Trotzki die Bürokratie zur Hauptgefahr, auf sie stütze sich Stalins Verrat an der Revolution. Sie sei jedoch keine neue herrschende Klasse, denn es gäbe sie in allen Gesellschaften, sondern ein Auswuchs, der durch einen revolutionären proletarischen Aufschwung beseitigt werden könne. Das blieb im wesentlichen Trotzkis Überzeugung auch in der „Verratenen Revolution“. Alec Nove stellt Trotzkis Argumentation die Einsichten von Christian Rakowski entgegen, dessen Denkschrift „Die ‚beruflichen Gefahren‘ der Macht“ vom August 1928 im Bulletin erschien. Rakowski erkannte in der Bürokratie eine neue Klasse von Herrschenden, die sich nach der Machtübernahme aus dem Proletariat selbst bilde, wachsend mit den neuen Institutionen, mit der Verstaatlichung der Wirtschaft und mit der zentralen Planung. Die Macht der Bürokratie über die Massen und ihr Anteil am Nationaleinkommen müssten unaufhörlich wachsen, dem Sowjetsystem nicht wesensfremd, sondern wesenseigen, unabhängig von bourgeoisen Elementen. Diese bittere Einsicht wollte Trotzki nicht akzeptieren, für ihn blieb die Sowjetunion ein Arbeiterstaat.174 In der Tat ist die Verfügungsgewalt der Staatsverwaltung über die gesellschaftlichen Ressourcen nirgends größer als in einer staatlichen Zentralplanwirtschaft, und jegliche Form von Arbeiterkontrolle bleibt eine Illusion. Unterdessen bahnte sich auf Prinkipos eine Familientragödie an. Trotzkis symbiotische Verbundenheit mit dem Sohn Lew hinderte ärgerliche Ausbrüche nicht. Die Trennung wurde beschlossen, nachdem Sedow sich mit Jeanne Martin des Pallières verbunden hatte, der Frau eines der Mitarbeiter seines Vaters. Seine Ehe in Moskau war inzwischen zerbrochen. Vor der Abreise von Lew und Jeanne kam im Januar 1931 Sinaida mit ihrem fünfjährigen Sohn Sewa (Wsewolod) Wolkow nach Prinkipos. Ihre kleine Tochter hatte sie als Stalins Geisel bei der Großmutter Alexandra Lwowna Bronstein in Leningrad zurücklassen müssen, wo schon Ninas beide Kinder lebten. Sina, die ihrem Vater von allen Geschwistern am ähnlichsten war, hatte die Nähe des Vaters stets vermisst und sah nun eifersüchtig die enge Beziehung zwischen Vater und Sohn. Nicht weniger zwiespältig war ihr Verhältnis zu Trotzkis Frau Natalja. So verkehrte sich das ersehnte Glück zunehmend ins Gegenteil. Sinaida war offenbar nicht nur lungenkrank, sondern auch seelisch krank, meinte jedenfalls ihre Familie. Trotzki schickte sie zum Bruder nach Berlin, um sich kurieren zu lassen, zunächst ohne Sewa. Doch es gab keine Hilfe, sie tötete sich am 5. Januar 1933 mit Gas. Trotzki machte sich bittere Vorwürfe und litt furchtbar. Sewa blieb bei seinem Onkel Lew und Jeanne bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten in Berlin, dann flohen sie gemeinsam nach Paris.175 Trotzki alterte in dieser Zeit sichtlich, er verlor seinen Elan und seinen Humor. In Paris waren Lews Verbindungen zu den Oppositionellen in der Sowjetunion gänzlich abgerissen, und die Herrschaft des Faschismus und Nationalsozialismus über immer größere Teile Europas schnitt alle Möglichkeiten ab, sie wieder zu knüpfen. So entschloss Trotzki sich im März 1933, an die sowjetische Führung zu schreiben und seine Zusammenarbeit unter der Bedingung anzubieten, dass die Linke Opposition als selbständige Tendenz in die Partei integriert würde.176 Der schwer begreifliche Schritt erklärt sich wohl auch durch Trotzkis Annahme, Stalins Stel174 Trotzki 2009, S. 239 – 256 175 Broué 2003, S. 835 – 848 176 Broué 2003, S. 886; Getty 38
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lung in der Führung sei schwächer geworden. Handelte er anders als Stalins gequälte Gefangene, die er Kapitulanten nannte? Die Antwort aus Moskau war dröhnendes Schweigen. Er würde also nie mehr zurückkehren können. Nun brach Trotzki die Brücken zur sowjetischen Kommunistischen Partei und zur Komintern ab. Am 15. Juli 1933 erschien im Bulletin der Opposition unter dem Pseudonym G. Gurow ein Aufruf zur Bildung neuer bolschewikisch-leninistischer Parteien und einer neuen Internationale; auch seinen Brief an die Moskauer Führung veröffentlichte er hier. Seit Jahren bekämpfte Trotzki die stalinistische Kommunistische Internationale sowohl wegen ihrer Einschätzung des Nationalsozialismus, als auch wegen der Politik, die sie ihren Mitgliedsparteien aufnötigte. Die reformistische Sozialdemokratie galt der Komintern als der gefährlichere Gegner. Vor allem die deutsche kommunistische Partei trieb Trotzki zur Verzweiflung, weil sie vom „Sozialfaschismus“ faselte, anstatt das Bündnis mit den Sozialdemokraten gegen die nationalsozialistische Gefahr zu suchen. Den Aufstieg von Hitlers NSDAP lastete er dieser von der Komintern gesteuerten Politik an. Für Trotzki war der Nationalsozialismus nicht eine Erscheinungsform kapitalistischer Politik, sondern ein Aufstand des Pöbels, des desorientierten und verzweifelten Kleinbürgertums, der beschäftigungslosen Unteroffiziere des Weltkriegs. Warum warf sich die Bourgeoisie so bereitwillig in die Arme dieses faschistischen Pöbels aus eisernen, braunen oder schwarzen Garden und ließ alle liberalen Errungenschaften ihrer großen Revolutionen fahren? Dieser „Konterrevolution von unten“ müsse durch revolutionäre, einige sozialistische Parteien entgegengetreten werden, wie er sie im Geist eines wahren Bolschewismus entstehen sah und in einer Vierten Internationale vereinigen wollte.177 War Trotzkis Beschreibung wirklichkeitsnäher als Georgi Dimitrows Erklärung, dass der Faschismus die Diktatur des imperialistischen Finanzkapitals sei? Trotzki beschrieb eine andere Seite der komplexen Realität. Dimitrow leitete aus seiner Definition immerhin ab, dass eine antifaschistische Volksfront aller Sozialisten und Demokraten nötig und möglich wäre, und erreichte so auf dem Kongress der Kommunistischen Internationale im Juli/August 1935 die überfällige politische Korrektur.178 Wenn wir die Schatten der Volksfrontpolitik auch noch am Beispiel des spanischen Bürgerkriegs sehen werden, sie erfüllte doch viele Kommunisten mit Hoffnung. Trotzkis Heilmittel – die Gründung einer Vierten Internationale – konnte solche Hoffnung nicht geben. Lew Sedow knüpfte von Paris aus neue Netzwerke zwischen den in ganz Europa und Amerika verstreuten Bolschewiki-Leninisten, wie sich Trotzkis Anhänger nannten. Es ging Trotzki jedoch nicht nur um diesen Kern, er mühte sich, möglichst viele linkssozialistische Parteien und Gruppen um seine Fahne zu sammeln, so aus Deutschland die Sozialistische Arbeiterpartei um den Reichstagsabgeordneten Max Seydewitz, dazu den Leninbund und auch die oppositionellen Kommunisten um Ruth Fischer und Arkadi Maslow. Beide wurden im ersten Moskauer Prozess in Abwesenheit als Trotzkisten verurteilt.179 Seydewitz distanzierte sich nach dem Prozess wieder von Trotzki. Große Hoffnungen setzte Trotzki auf eine spanische Revo-
177 Trotzki 1932; Trotzki 1931 178 Kinner 1999, S. 166 – 212 179 Keßler, Fischer 2013
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lution. In Spanien war Andreu Nin sein Sachwalter, Führer einer katalanischen Linkspartei, von dem später ausführlich zu reden ist. Trotzki überwarf sich auch mit ihm.180 Von Stalinisten und Faschisten verfolgt, blieb die neue Internationale im Stadium widerstreitender Dissidenten-Gruppen stecken, die keine Massen um sich sammeln konnten. Trotzki hatte sich immer von Prinkipos fortgewünscht, näher an die Zentren der Politik. Als er im Juli 1933 endlich ein französisches Visum erhielt, ahnte er nicht, dass das einsame Eiland der beste Teil seines Exils gewesen sein sollte. Stalin und Hitler jagten ihn vereint, der Konservative Churchill gesellte sich hinzu. Seine Bemühungen um die neue Internationale ließen Trotzki noch gefährlicher erscheinen. In Frankreich lebten Trotzki und Natalja inkognito an abgelegenen Orten unter Bewachung von Freunden. Getrieben von einer Pressekampagne, an der sich auch die kommunistische „L’Humanité“ beteiligte, entzog ihnen die sozialistische Regierung schon im April 1934 das Visum wieder, ohne sie allerdings tatsächlich auszuweisen. Im Sommer 1935 gelang es schließlich, in Norwegen neues Asyl zu finden, wo eine sozialistische Partei an die Macht kam, die sowohl zur Zweiten wie zur Dritten Internationale Distanz hielt.181 Sie waren in Norwegen, als 1936 der erste Schauprozess gegen Sinowjew und Kamenew stattfand, mit Trotzki als abwesendem Hauptangeklagten. Nach Stalins Drehbuch gestanden die gefolterten und erniedrigten Angeklagten ungeheuerliche Mordkomplotte und Verschwörungen, in deren Mittelpunkt Trotzki und sein Sohn Lew Sedow gestanden haben sollten.182 Die Lage der Asylanten wurde unhaltbar. Alle Welt glaubte das Unvorstellbare, nicht nur die Parteien der kommunistischen Dritten Internationale, auch die einflussreichen Gesellschaften intellektueller „Freunde der Sowjetunion“, die sich überall in der westlichen Welt gebildet hatten. Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger und der Botschafter der Vereinigten Staaten, die im Gerichtssaal saßen, verbürgten sich für die Rechtsstaatlichkeit des Prozesses. Die Sowjetunion übte Druck auf die norwegische Regierung aus, die auf den Bündnis- und Handelspartner angewiesen war. Die wies Trotzkis Mitarbeiter aus und internierte ihn und seine Frau. Als letztes Asyl öffnete sich Mexiko, ein kleiner Erdöltanker brachte das Paar im Januar 1937 über den Atlantik.183 Neues Unheil wurde Gewissheit. Sergej, der unpolitische Professor einer Technischen Hochschule, war mit der Repressionswelle nach dem Mord am Leningrader Parteichef Kirow deportiert worden, ebenso Alexandra Lwowna Bronstein und ihre drei verwaisten Enkel. Wie auch fast alle Geschwister, Ehegatten, Kinder von Trotzkis Verwandtschaft kamen auch diese um, nur Ninas 1923 geborene Tochter Alexandra Sacharowna Moglina überlebte die Straflager und wurde 1956 rehabilitiert. Trotzkis Sohn Sergej wurde im Oktober 1937 in Workuta
180 181 182 183
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Seydewitz 1938; Broué 2003, S. 898 – 920, 1059 – 1072; Deutscher 1972c, S. 194 – 198 Deutscher 1972c, S. 259 – 261 Schlögel 2009, S. 103 – 117 Broué 2003, S. 995 – 1006; Saccarelli 2008, S. 90
ermordet.184 Angesichts von Nataljas Leid sagte Trotzki: „Und das Ergebnis ist, dass wir ihn geopfert haben. Genau das ist es“.185 Lew Sedow blieb in Paris und stellte in minutiöser Detektivarbeit ein „Rotbuch“ zusammen, das die Beweise der Prozesse als Fälschungen entlarvte, von der väterlichen Ungeduld heftig bedrängt.186 Im Februar 1938 starb er in einem Pariser Krankenhaus. Da sein nächster Vertrauter sich als Stalins Agent entpuppte, war wohl auch dies ein Mordanschlag.187 Sedows Arbeit wurde die Grundlage eines Gegenprozesses. Es waren mehrheitlich politische Gegner Trotzkis, amerikanische Liberale, die diesen Prozess zur Verteidigung der Vernunft anstrengten. Im März 1937 bildeten sie eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des großen Philosophen und Pädagogen John Dewey. Die Kommission prüfte jede der in Moskau erhobenen Anklagen, und Dewey reiste nach Mexiko, um Trotzki eingehend zu vernehmen. Der hatte erklärt, falls die Kommission ihn in irgendeinem Punkt schuldig fände, werde er sich an die Sowjetunion ausliefern lassen. Das Ergebnis rechtfertigte Trotzki uneingeschränkt.188 Doch was vermochte die Wahrheit gegen Stalins Wahn. Ein zweiter und ein dritter Terrorprozess nahmen ihren Lauf, in denen Altbolschewiki wie Radek, Preobraschenski und Bucharin irrsinnige Selbstbezichtigungen und Beschuldigungen ausstießen, obwohl sie den Tod gewiss vor Augen hatten. Schließlich raste das Morden ohne Prozess durch die Straflager und Gefängnisse, ergriff Trotzkisten, Sinowjewisten, Bucharinisten und was die Markierungen dieses Totentanzes sonst sein mochten. Es war Stalins Sieg über Lenins Partei.189 Trotzki fühlte sich wie der einzige Überlebende einer vernichteten Armee. Natalja erinnerte sich: „Wir gehen im kleinen tropischen Garten von Coyoacán in Begleitung von Phantomen spazieren, deren Stirnen Einschusslöcher tragen“.190 In der Sonne des mexikanischen Exils ließ sich das Grauen zeitweise einhegen. Der Maler Diego Rivera, ein aktiver Kommunist, hatte Trotzki und seiner Frau das mexikanische Visum verschafft. Für fast zwei Jahre wurden die Männer Freunde. Es gab im Frühsommer 1938 eine Phase intensiver Dreier-Debatten um eine sozialistische Kunsttheorie mit dem französischen surrealistischen Dichter André Breton. Die Freundschaft scheiterte an politischen Differenzen, zum guten Teil an Trotzkis Unduldsamkeit.191 Wohl unbemerkt von Rivera entwickelte sich im Sommer 1937 eine Liebesgeschichte zwischen Trotzki und der Malerin Frida Kahlo, Riveras Frau, in deren Haus die Trotzkis wohnten. Natalja hatte ernstlich Grund zur Eifersucht.192 Am Ende führte die Krise zu neuer Nähe der Gatten.
184 185 186 187 188 189 190 191 192
Lubitz, Lubitz 2004 Broué 2003, S. 968 Sedow 1988 Broué 2003, S. 1050 f. Dewey 1937 Hildermeier 1998, S. 444 – 463; Schlögel 2009, S. 603 – 642; Naimark 2010, S. 99 – 120 Broué 2003, S. 1105 Broué 2003, S. 1073 – 1088 Broué 2003, S. 1013 – 1016
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Gemeinsam erwarteten sie seit dem Beginn der Moskauer Prozesse den Mörder, „mit einer Gewissheit, die aus unseren Herzen kommt“.193 Ende Mai 1940 gab es einen Überfall unter dem Kommando des Malers David Alfaro Siqueiros, eines fanatischen Stalinisten, bei dem Trotzki und sein Enkel Sewa leicht verletzt wurden. Am 20. August verschaffte sich der Meuchelmörder Ramón Mercader im Auftrag von Stalins Geheimpolizei Zutritt und schlug Trotzki mit einem Eispickel nieder. Trotzki starb am nächsten Abend.194 Sewa überlebte als Esteban Wolkow.
Welche Alternative? Leo Trotzki ist einer der großen Revolutionäre der Weltgeschichte. Er ist groß in seinen Ideen und in seinen Taten, unter denen die Oktoberrevolution und der Sieg im Bürgerkrieg herausragen. Unvergessen sollte sein Kampf gegen den Krieg bleiben, gegen den er mit den sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa und einer neuen Internationale Dämme bauen wollte. Gab es eine trotzkistische Alternative zu Stalin? John Dewey meinte nach dem Gegenprozess, dass „kein überzeugter Kommunist irgendwie zu der Schlussfolgerung kommen könnte, dass er jetzt, da er Stalin nicht mehr glauben kann, seine Hoffnungen auf Trotzki übertragen muss“.195 Er sah keinen Wesensunterschied zwischen Stalinismus und Bolschewismus, ausgenommen den blinden Terror, den Stalin dem Leninismus hinzufügt hatte. Trotzki wurde Namensgeber einer vielfach zersplitterten und zerstrittenen Bewegung marxistischer Sekten, die sich vor allem auf seine Schriften zur „Permanenten Revolution“ und zur „Verratenen Revolution“ berufen. Der Anwalt zentraler Planung und Leitung wird für demokratische Selbstorganisation in Anspruch genommen, und der strikte Verfechter proletarischer Hegemonie soll die Revolution in unterentwickelten Erdteilen inspirieren. Dazu müsste man ignorieren, dass Trotzki sich selbst nach der Oktoberrevolution als wahrhaften Leninisten und Bolschewiken deklariert hat. Man müsste auf seine rätedemokratische Periode zwischen Herbst 1905 und Sommer 1917 und seinen Flirt mit dem Anarchosyndikalismus bis 1920 abheben. Als Alternative zum Realsozialismus der östlichen Staatengemeinschaft und Verkünder der Weltrevolution wurde er in den sechziger Jahren populär bei westlichen Intellektuellen. Allerdings waren „die nie endenden Versammlungen, die Losreißung vom persönlichen Leben und die unvermeidliche Entfernung von der ‘normalen’ Gesellschaft“ des orthodoxen Trotzkismus im
193 Serge 1978, S. 311 194 Serge 1978, S. 315 – 321, 327 – 342; Broué 2003, S. 1106 – 1120 195 Broué 2003, S. 137 – 139
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Rückblick nichts für zarte Gemüter, wie ein Zeitgenosse erinnert.196 War er ein Aufklärer? Im Nachwort seiner „Geschichte der russischen Revolution“ bekannte sich zur rationalen Organisation der Gesellschaft als Vollendung der Aufklärung: „Den historischen Aufstieg der Menschheit kann man, im Ganzen genommen, resümieren als eine Kette von Siegen des Bewusstseins über die blinden Kräfte – in Natur, Gesellschaft und im Menschen selbst. […] Der Parlamentarismus hat ein Licht nur auf die Oberfläche der Gesellschaft geworfen, und auch da nur ein recht künstliches Licht. Im Vergleich zur Monarchie und anderen Erbschaften von Menschenfresserei und wildem Höhlenzustand stellt die Demokratie gewiss eine große Errungenschaft dar. Doch lässt sie das blinde Spiel der Kräfte in den sozialen Wechselbeziehungen der Menschen unberührt. Gerade gegen dieses tiefste Gebiet des Unbewussten erhob zum ersten Mal die Hand die Oktoberumwälzung. Das Sowjetsystem will Ziel und Plan hineintragen in das Fundament der Gesellschaft, wo bis jetzt nur angehäufte Folgen herrschten“.197 Diese total geplante und geleitete Gesellschaft ist offenbar unmöglich und ein Grauen dazu, denn alle Versuche mündeten in totalitäre Herrschaft. Wir haben gesehen, wie Trotzkis Lebenswerk zum Nachtstück der Aufklärung wurde. Seine grandiose Leistung in Revolution und Bürgerkrieg mündete in die Tragödie von Kronstadt, und Stalin vollendete sie durch eine entsetzlich opferreiche „sowjetische Revolution“. Trotzkis Scheitern war nicht das Ende menschlichen Strebens, regulierend in das blinde Spiel der Kräfte einzugreifen, die Menschheit wird in Hoffnung und Schrecken damit fortfahren.
196 Cox 1993, S. 138; vgl. Knei-Paz 1993; Mandel 1993; Saccarelli 2008, S. 91 f.; Meißner 2011, S. 114 – 141 197 Trotzki 2010b, S. 593
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Otto Bauer
Otto Bauer (1881 – 1938) Der austromarxistische Hamlet
Austromarxisten So nannte man vor dem Ersten Weltkrieg einen Freundeskreis sozialistischer Intellektueller in Wien. Das waren der Philosoph Max Adler, der Nationalökonom Rudolf Hilferding, der Staatsrechtler Karl Renner, der Naturwissenschaftler Friedrich Adler und Otto Bauer, Jurist und Historiker.1 Diese Theoretiker prägten Geist und Politik der österreichischen Sozialdemokratie und strahlten in die internationale Bewegung aus. Die Austromarxisten interpretierten den Marxismus neu und entfernten sich dabei weit von Marx, ohne sich als Revisionisten zu sehen; in der Revisionismus-Debatte fochten sie mit Kautsky gegen Bernstein. Nach dem Weltkrieg wurde Otto Bauer Führer der österreichischen Sozialdemokratie und theoretischer 1
Bauer 1980g, S. 752; vgl. den Essay von Kolakowski 1978, S. 275 – 342, hier: 275
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Kopf der Sozialistischen Arbeiter-Internationale. Austromarxismus, das war in der Zwischenkriegszeit das Rote Wien als Leuchtturm sozialistischer Reformpolitik, aber auch das Beharren auf der revolutionären Perspektive und der verzweifelte Aufstand gegen den österreichischen Faschismus. Aus der Niederlage schöpften im Kalten Krieg Sozialdemokraten und Kommunisten Munition für das Kreuzfeuer, das Otto Bauers Andenken herabzog. Die kurze Renaissance des Austromarxismus im Zeichen des Eurokommunismus änderte daran wenig.2 Die Weltgeschichte wirft sich auch hier als Weltgericht in die Brust, und so nennt Ernst Hanisch im Titel seiner Biografie Otto Bauer den „großen Illusionisten“.3 Für das bürgerliche Lager bleibt er der meistgehasste Politiker der Zwischenkriegszeit. Otto Bauer wurde am 5. September 1881 als Sohn des jüdischen Kaufmanns Philipp Bauer und seiner Ehefrau Katharina in Wien geboren. Das mütterliche Großelternpaar war tschechisch und vermittelte dem Enkel einige Sprachkenntnis. In der Metropole der kaiserlich-königlichen Doppelmonarchie war zu dieser Zeit jeder zehnte Einwohner jüdisch, in der Leopoldstadt mit ihrer prächtigen Synagoge war es jeder zweite. Dort wohnte die Familie. Bauer bekannte sich Zeit seines Lebens zu seinem Judentum, ohne im engeren Sinne religiös zu sein.4 Das Wiener jüdische Milieu war ein Quell der europäischen Moderne. So lebten in Wien um die Jahrhundertwende die Musiker Gustav Mahler und Arnold Schönberg und die Schriftsteller Arthur Schnitzler und Karl Kraus. Hier entwickelte Theodor Herzl den Zionismus und gleichzeitig trieb der Antisemitismus unter dem Bürgermeister Karl Lueger üble Blüten. In Wien deckte Sigmund Freud die Geheimnisse der menschlichen Seele auf, eine geistige Revolution, die nicht weniger grundstürzend war als die Marx’sche Geschichtsphilosophie und die Darwinsche Evolutionstheorie. Freuds Einfluss auf die jungen Sozialisten war beträchtlich. Die Forscher widerstehen nicht immer der Verführung, die Austromarxisten ihrerseits psychoanalytisch zu deuten. Sie sehen dann in Bauers schwieriger Familie und in Friedrich Adlers Spannung zum Vater und Parteivorsitzenden, grundiert von antisemitischen Kränkungen, den Antrieb ihres politischen Engagements.5 Sozialismus als neurotische Störung? Otto Bauers Familie stand mit Sigmund Freud verschiedentlich in Beziehung. Der Vater suchte seine Hilfe und schickte auch seine heranwachsende Tochter Ida zu ihm, die Freuds berühmter Hysterie-Fall Dora werden sollte.6 Ida beklagte in der Analyse, dass der Bruder, nur reichlich ein Jahr älter, bei Konflikten zur Mutter hielt, die unter der Nichtachtung des Vaters litt. Er zöge sich zunehmend in seine Bücherwelt zurück.7 Schon der Zehnjährige schrieb erstaunliche Dramen, offenkundig nach Grillparzers Vorbild. – Kindheit und Schulzeit verbrachte Bauer im südtirolischen Meran, wohin die Familie wegen der Kränklichkeit des Vaters übergesiedelt war. Das letzte Schuljahr absolvierte er im nordböhmischen Reichenberg, in dessen
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Leser 1985b; Albers 1985; Löw 1986; Czerwinska-Schupp, Smidowicz 2005; Sandner 2006, S. 295 – 298; 315; Amon et al. 2010 Hanisch 2011 Hanisch 2011, S. 19 – 29 Blum 1985, S. 72 – 108 Freud 1961, S. 18; King 1995, S. 15 – 19 Freud 1961, S. 179
Umkreis die Textilfabriken des Vaters lagen. Zur Jahrhundertwende kehrte die Familie wegen der Studien des begabten Sohnes nach Wien zurück.8 Auf der Universität hörte Otto Bauer gemeinsam mit Joseph Alois Schumpeter, Ludwig von Mises und Rudolf Hilferding Vorlesungen bei Eugen Böhm von Bawerk.9 Schumpeter und Mises machten die marktliberale österreichische Schule der Nationalökonomie weltbekannt. Rudolf Hilferding begann seine wissenschaftliche Laufbahn mit einer Gegenkritik der Kritik seines Lehrers Böhm-Bawerk an der Arbeitswertlehre von Karl Marx.10 Unter dem Titel „Das Finanzkapital“ legte Hilferding 1910 eine Theorie des modernen Kapitalismus vor, die grundlegend für die Imperialismus-Theorie von Lenin werden sollte. Kautsky lobte das Werk als Fortsetzung von Marxens „Kapital“ und als bemerkenswerteste Schöpfung der neueren marxistischen Literatur überhaupt.11 Otto Bauer war durch seinen Onkel Karl mit sozialistischen Ideen geimpft, das Fabrikleben in Reichenberg gab die lebendige Anschauung dazu. Als Gymnasiast las er das „Kapital“ von Karl Marx, fiebernd vor Neugierde und im Innersten erschüttert durch die meisterliche Enthüllung des Werdegangs der leidenden Menschheit, wie er aus Anlass des vierzigsten Jahrestags dieses Werks schrieb.12 Es war kaum Zufall, dass der Jurastudent sich dem glänzenden Dreigestirn sozialdemokratischer Theoretiker – Max Adler, Rudolf Hilferding, Karl Renner – anschloss. Renner dichtete nach einem Ausflug mit Bauer und Hilferding im Frühjahr 1902: „Die Rosse rasten – im Wagen wir fuhren dahin zu drei’n, wir hörten die Hufe nicht schlagen, die Räder nicht rasseln am Stein. Die Räder, das waren Gedanken, Blitzräder von Licht und Glut! Die Rosse, die hurtigen, schlanken: Tatwille, Hoffen und Mut! Die Achse aber, die feste, dran Mann und Rad und Ross, das war vom Gefährt das Beste: Die Freundschaft, die uns umschloss!“13 Der Freundschaftsbund schuf sich mit eigenen Institutionen ein breites Wirkungsfeld. Der Verein „Zukunft“ entstand 1903; im Jahr darauf begründeten Max Adler und Rudolf Hilfer-
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Hanisch 2011, S. 29 – 31; Braunthal 1961, S. 11 – 14 Hanisch 2011, S. 68 – 70 Von Böhm-Bawerk 1974; Hilferding 1973 Kautsky 1911b, S. 765 Bauer 1907, S. 24 Braunthal 1961, S. 15
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ding die „Marx-Studien: Blätter zur Theorie und Politik des wissenschaftlichen Sozialismus“. Die jungen Himmelsstürmer genossen Victor Adlers Vertrauen und die Förderung des Parteivorstands. Im Jahre 1907 ernannte der Parteivorstand Otto Bauer und Karl Renner zu Redakteuren der neuen theoretischen Zeitschrift „Der Kampf“, die Kautskys „Neuer Zeit“ an die Seite treten sollte.14 Diese Jungen sahen sich als Erneuerer des Marxismus, wie ihn die Generation von Kautsky und Plechanow geschaffen hatte, nicht als bloße Fortsetzer. Bauer fragt in seinem Bekenntnisartikel zum Jubiläum des „Kapital“: „Was sind Marx’ Kapitalisten, die ein paar hundert Arbeiter regieren, gegen die Machthaber moderner Kartelle und Trusts, die ganze Industriezweige mit Hunderttausenden von Arbeitern beherrschen, gegen die modernen Großbanken, denen die Industrie ganzer Länder hörig geworden ist?“15 Damit bezog er sich auf die noch unveröffentlichte Theorie des Freundes Hilferding. Bauers Jubiläumsartikel offenbart, wie weit sich diese Erneuerer vom Werk des Meisters gelöst hatten: „Wir haben das Bekenntnis zu Marx’ Lehre in schwerem Kampfe uns selbst abgerungen; darum kann sie uns kein Schema sein, das uns beherrscht, sondern nur eine Methode, die wir beherrschen“.16 Die Methode, das war für Bauer die Untersuchung der menschlichen Geschichte in all ihren Zweigen nach den Maßstäben einer Gesetzeswissenschaft, also in naturwissenschaftlicher Weise, vergleichbare Regelhaftigkeiten voraussetzend. Bauer grenzte sich damit gegen den Neukantianismus Windelbands und Rickerts ab; beide sprachen den Kulturwissenschaften nur hermeneutische, individualisierende Erkenntnis zu.17 Auch die Austromarxisten waren Neukantianer. Sie führten die Methode von Marx über Hegel hinweg auf Kant zurück. Nicht zu Unrecht meint Pfabigan, die Austromarxisten hätten dem Marxismus sowohl den materialistischen Kern als auch die Hegelsche Dialektik geraubt. Ob man aber seiner Erklärung folgen soll, dass dies mit dem Wiener jüdischen Bildungsbürgertum zusammenhinge, das gegenüber französischem Materialismus und Hegelscher Dialektik gleichermaßen gefremdelt hätte, das bleibt fraglich.18 Otto Bauer war besonders in seiner Jugend Neukantianer, als Max Adler den größten Einfluss auf sein Denken hatte. Er übernahm den ethischen Sozialismus der Neukantianer. Sie wollten den Sozialismus nicht nur geschichtstheoretisch und ökonomisch begründet sehen, sondern auch ethisch. Sozialismus war für die Neukantianer nicht nur zwangsläufiges Ergebnis von Marxens Geschichtsteleologie, sondern auch Gebot des Kantschen Sittengesetzes. Denn was entspräche diesem Gesetz mehr
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Hanisch 2011, S. 115 Bauer 1907, S. 23 Bauer 1907, S. 33 Bauer 1907, S. 31 Pfabigan 1985; Pfabigan 1986
als eine brüderliche Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung der Entwicklung aller ist, wie das Kommunistische Manifest forderte? Das schloss nach Kants „Metaphysik der Sitten“ ein, dass der Mensch Zweck an sich ist, niemals nur Mittel, dass er keinem höheren Prinzip und keiner historischen Notwendigkeit geopfert werden darf. Otto Bauer verteidigte diese Ethik im Streit zwischen Kautsky und Eisner in der „Neuen Zeit“.19 Der ethische Sozialismus der Neukantianer fand sich genauso in der Auffassung von Jean Jaurès und eines großen Teils der französischen Sozialisten wieder. Bauers bedeutendster Beitrag zum Marxismus war sein Werk „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“, das 1907 als zweiter Band der „Marx-Studien“ erschien. Der junge Mann hatte das fast 600 Seiten starke Opus neben der Doktorprüfung in kaum zehn Monaten geschrieben.20 Anlass war die Zuspitzung der Nationalitätenkämpfe in der Monarchie, die auch die Sozialdemokratie zu zerreißen drohten. Und wie im russländischen Fall verknüpfte sich auch im österreichischen die Frage nach der Zukunft des Nationalitäten-Imperiums aufs engste mit der Parteigliederung. Die Sozialdemokraten der österreichischen Reichshälfte hatten sich schon 1897 unter gemeinsamem Dach in je eine deutsche, tschechische, polnische, italienische und südslawische Organisation geteilt, so eine „kleine Internationale“ bildend. Der gemeinsame Kampf für Wahlrecht, bürgerliche Freiheiten und Verbesserungen für die Arbeiter litt unter der Teilung, der Sprachenstreit lähmte schon 1897 die Parlamentsfraktion. Bald kandidierten deutsche und tschechische Sozialdemokraten in den Wahlkreisen gegeneinander, schließlich schlossen sich sozialdemokratische Abgeordnete den nationalen Klubs der bürgerlichen Parteien an. Als die Gewerkschaftseinheit in Böhmen zerbrach, beschäftigte das sogar den internationalen Sozialistenkongress in Kopenhagen 1910. Otto Bauer sprach auf diesem Kongress, dem einzigen der alten Internationale, an dem er teilnahm, für die gemeinsame Aktion von Tschechen und Deutschen.21 Auf dem Brünner Parteitag im September 1899 hatten die Delegierten heftig um Lösungen gestritten. Kautsky, noch immer mit einem Bein in der österreichischen Partei stehend, hatte 1898 in der „Neuen Zeit“ seinen Vorschlag zur Autonomie entlang der Sprachgrenzen gemacht, der das Erweckungserlebnis für den jüdischen Bund gewesen war.22 Weiter ging der Vorschlag von Karl Renner. Er löste sich von der individualistischen Auffassung des Liberalismus, dass die staatsbürgerlichen Freiheitsrechte ausreichender Schutz der Nationalitäten wären. Nationalitäten brauchten kollektive Rechte. Staat und Nation seien ebenso zu trennen wie Staat und Kirche, und ebenso wie eine Kirche sei die Nation nicht durch ein Territorium, sondern als Körperschaft definiert, als Gemeinschaft ihrer Mitglieder, und die Mitgliedschaft werde durch Bekenntnis begründet.23 Dies war die konsequent gruppenrechtliche Fassung des Selbstbestimmungsrechts als national-kulturelle Autonomie. Ganz ähnlich lautete der Vorschlag von Etbin Kristan aus Triest, der seine slowenischen Arbeiter in den angren19 20 21 22 23
Bauer 1906 Hanisch 2011, S. 96 f. International Socialist Congress 1910, S. 81 – 84; Mommsen 1963; Löw 1984; Leichter 1970, S. 227 Kautsky 1898 Synopticus (d. i. Karl Renner) 1899; Renner 1902; Böhm 1993
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zenden deutschen, italienischen und kroatischen Industrieregionen verstreut sah und deshalb im Sommer 1898 in der Prager Zeitschrift „Akademie“ unter dem Titel „Nationalismus und Sozialismus in Österreich“ das territoriale Prinzip ebenfalls ablehnte.24 Doch die Tschechen beharrten auf der territorialen Einheit der Länder der böhmischen Krone unter tschechischer Hoheit, unabhängig von der Nationalität der Bewohner. Die Polen und die Ruthenen (Ukrainer) erklärten sogar, an dieser Debatte nicht teilzunehmen, da sie ihr Recht nicht im Rahmen des Reiches, sondern in der Vereinigung mit den Brüdern jenseits der Grenze suchen wollten. Die Uneinigkeit der Nationalitäten drohte die Solidarität der Arbeiter zu zerreißen. Der Parteitag fasste dann doch einen Beschluss im Sinne der national-kulturellen Autonomie. Das künftige Österreich nach der Revolution solle ein demokratischer Nationalitätenbundesstaat sein, nicht mehr auf den Kronländern, sondern auf nationalen Selbstverwaltungskörpern ruhend. Eine territoriale Auslegung blieb offen. Die deutsche Partei bestand auch nicht mehr auf der deutschen Staatssprache. Soweit eine Vermittlungssprache nötig sei, werde das künftige Reichsparlament darüber beschließen.25 Dessen ungeachtet nahm die Entfremdung ihren Lauf, getrieben vom deutsch-tschechischen Konflikt. Otto Bauer fußte in den politischen Teilen seines Buches ganz auf dem Konzept seines Freundes Karl Renner, eindringlich die Grundsätze des Brünner Programms einschärfend, aber sie in Renners Sinn nicht territorial deutend. Er wollte, dass die Sozialdemokratie „vom naiven Kosmopolitismus zum bewussten Internationalismus“ gelange. Der naive Kosmopolitismus, das war die Auflösung der Nationalitätenfragen in der sozialen Frage, die Auffassung, dass es angesichts von Klassenkampf und Klassensolidarität keine nationalen Gegensätze geben dürfe. Damit verband sich die Erwartung, dass mit der Überwindung der Klassengegensätze im sozialistischen Zukunftsstaat auch die nationalen Gegensätze hinfällig wären.26 Gegen diesen naiven Kosmopolitismus, der weit über die strengen Internationalisten um Rosa Luxemburg und Leo Trotzki hinaus in der Sozialistischen Internationale verbreitet war, schrieb Bauer den furiosen historischen Durchgang des ersten Teils, seine eigentliche theoretische Leistung. Bauers Ausgangspunkt war die neukantianische Idee Max Adlers von den sozialen Apriori, die vor aller individuellen Erfahrung stünden. Jedes individuelle Bewusstsein entwickelte sich nur in der Teilhabe am allgemeinen menschlichen Bewusstsein. In dieser Transzendenz – dieser übersinnlichen Wirklichkeit – sei es von allem Anfang an vergesellschaftet.27 Bauer rühmte noch in seinem Nachruf auf Max Adler von 1937 dessen Idee, weil sie anders als Lenins grobschlächtige Verteidigung des Materialismus gegen Bogdanow kreativ auf neue philosophische Entwicklungen reagierte.28 Aber er kritisierte auch das unhistorische Denken seines Lehrers Adler. Bauer verstand die Nation als Charaktergemeinschaft, als ein soziales Apriori im Sinne von Max Adler. Das Individuum sei mit seiner Nationalität als Bestandteil seines gesellschaftlichen Wesens konfrontiert. Aber Bauer sah dieses Apriori in historischer Wand24 25 26 27 28
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Rozman 1993 Löw 1984, S. 37 – 42; Rozman 1993 Bauer 1975, S. 575 Kolakowski 1978, S. 295 – 305 Bauer 1980g; Lenin 1955 – 1989d; Rowley 1996
lung und Entwicklung. Zu grauer Vorzeit in Abstammungsgemeinschaft wurzelnd, habe sich die Nation als Schicksalsgemeinschaft gebildet, sei in Wechselwirkung mit den Nachbarn, durch Wanderungs-, Integrations- und Ablösungsprozesse verändert und gereift und zur Kulturgemeinschaft geworden. Am deutschen und österreichischen Beispiel zeigte er, wie diese Kulturgemeinschaft lange auf die Oberschichten begrenzt blieb, wie dann das kapitalistische Marktinteresse die Einbeziehung der breiteren Volksschichten gebot und mit Literarisierung und Industrialisierung förderte, und wie Klassenorganisationen und allgemeines Wahlrecht Bauern und Arbeitern den Zugang zur nationalen Kulturgemeinschaft öffneten. Nur die Arbeiterbewegung könne die volle Teilhabe erstreiten, gegen bourgeoisen Staat und Liberalismus, die den nationalen Hader schürten. Erst im Sozialismus könnten sich so die nationalen Kulturgemeinschaften und Nationalcharaktere ganz ausprägen.29 Das sozialistische Nationalitätsprinzip sollte indessen nicht im veralteten Nationalstaat gipfeln, sondern durch internationale Arbeitsteilung, Kooperation und Verträge in einen Bundesstaat neuer Art münden. So entwarf Bauer als erster Sozialist die Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“, die Trotzki in seinen Anti-Kriegsschriften aufnahm. Da Bauer zugleich vorschlug, die Arbeitsmigration innerhalb dieser Vereinigten Staaten zu regeln, um die fortschreitende Durchmischung der Nationalitäten einzudämmen, waren ihm die Tücken der Realisierung wohl bewusst.30 Bauers Auffassung der Nation als soziales Apriori stand nicht nur quer zum naiven Kosmopolitismus der Internationalisten, sondern auch zur konstruktivistischen Auffassung der modernen Kulturwissenschaften. Sie begreifen die Nation als identitätsstiftenden Mythos, als „vorgestellte Gemeinschaft“, geschaffen erst im Zeitalter der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen.31 Bauer verstand die Nationen hingegen als einen realen, wesentlichen Bestandteil menschlicher Vergesellschaftung, tief in der Menschheitsgeschichte verwurzelt. Bauers Abhandlung fand nicht nur Beifall. Kautsky widersprach, weil er seinen eigenen Gedanken der Kulturnation als Sprachnation unzureichend berücksichtigt fand. Bauer reagierte mit einer geistreichen Betrachtung über den Zusammenhang von Charaktergemeinschaft und Sprachgemeinschaft, dabei Eigenarten des Englischen und des Französischen mit der Dominanz von Händlern hier und Höflingen dort erklärend.32 Die Kritik minderte Kautskys Respekt vor der Leistung des jungen Mannes nicht: „So stelle ich mir den jungen Marx vor“, soll er angesichts von Bauers ersten Einsendungen zur „Neuen Zeit“ geäußert haben.33 Kautsky hatte eine theoretische Debatte geführt, Lenin und Stalin fuhren schweres Geschütz auf. Den politischen Hintergrund bildete ihr Feldzug gegen den jüdischen Bund, wie im Kapitel über Wladimir Medem dargestellt ist. Lenin beorderte Stalin im November 1912 nach Krakau, um die Konzeption zu besprechen, und sandte ihn dann Anfang des Jahres 1913 nach Wien. Dort trug er nach Lenins Worten „sämtliche österreichische und andere Materialien“ zusammen, um schon im Februar den Artikel „Nationale Frage und Sozialdemokratie“ vorzulegen. Er erschien unter dem Pseudonym K. Stalin in Nummer 3 – 5 der Zeitschrift „Proswesch29 30 31 32 33
Bauer 1975, S. 69 – 91 Bauer 1975, S. 567 – 570 Anderson 1998; Hobsbawm 1992 Kautsky 1908; Bauer 1975, S. 51 – 68 Hanisch 2011, S. 105
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tschenije“ (Die Aufklärung) und im folgenden Jahr unter dem Titel „Nationale Frage und Marxismus“ als Broschüre. So gelangte er unter die kanonischen Schriften des Marxismus-Leninismus.34 Sein Biograf Smith bezweifelt mit guten Gründen, dass die Schrift Stalins eigenes Werk ist, vielmehr sei sie aus Zuarbeiten Petersburger Genossen zusammengeschustert.35 Stalin lebte bei der Familie Trojanowski in der Schönbrunner Schlossstraße und ging seinen Feinden Otto Bauer, Karl Renner, Wladimir Medem und Leo Trotzki aus dem Weg, die alle in diesem Januar in den innerstädtischen Cafés saßen, lief möglicherweise aber in den verlassenen, januarkalten Alleen Schönbrunns an Adolf Hitler vorbei, der dort als gescheiterter Kunstmaler seine Runden zog.36 So entging Stalin die Identität von Synopticus, Rudolf Springer und Karl Renner, aber auch jegliche Feinheit der Argumentation. Er definierte die Nation simpel aufzählend und erkennbar abhängig von Bauer: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart“.37 Das Territorium war die alles entscheidende Zutat, denn Stalins Kritik richtete sich ganz gegen das Programm der national-kulturellen Autonomie. Nationen ohne eigenes, abgegrenztes Territorium, wie sie die Juden im russländischen Reich waren, durfte es nicht geben. Im November 1913 legte Lenin mit einem eigenen Artikel nach. Er wetterte darin gegen die „opportunistischen, spießbürgerlichen Intellektuellen Österreichs“, die durch die Trennung des Schulwesens nach Nationalitäten die Einheit der Arbeiterklasse zerreißen wollten, und meinte, man solle sich nicht das rückständige Österreich zum Vorbild nehmen, wenn man Föderalismus wolle, sondern die fortschrittlichen USA.38 Lenin wollte keinen Föderalismus, er propagierte das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als Recht auf Lostrennung, als Waffe gegen das russische Zarenreich, wie im Zusammenhang mit Piłsudskis Kampf gezeigt ist.
Parteisoldat Das literarisch glänzende, in den Gegenwartsteilen reich mit statistischen Daten unterfütterte Buch katapultierte Otto Bauer mit einem Schlag in die erste Reihe der sozialistischen Theoretiker. Seine ernsthafte Arbeit für die Partei in den Wahlrechtskämpfen mit zahlreichen Artikeln in der „Arbeiter-Zeitung“ und unermüdlicher Vortragstätigkeit empfahl ihn gleichfalls
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Stalin 1950, S. 266 f.; S. 363 f.; 379 – 381 Smith 1969, S. 287 – 289; 302; 304 – 309 Illies 2013, S. 26 f. Stalin 1950, S. 272 Lenin 1955 – 1989e, S. 499 – 501
für größere Aufgaben. So wurde er 1907 – neben der Arbeit als Redakteur von „Der Kampf“ – Sekretär der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion. Das war nicht wenig Arbeit, denn die Partei zog in diesem Jahr mit 87 Mandaten ins Parlament ein; Voraussetzung war der Erfolg im Kampf um das allgemeine Männerwahlrecht gewesen. Die Verhältnisse in der Fraktion waren wegen des Nationalitätenstreits denkbar heikel und Bauer mit seiner Expertise die ideale Besetzung. Seine Kenntnis der slawischen Sprachen empfahl ihn zusätzlich: das Tschechische aus den Kindheitsjahren, das Russische, das er sich während der Revolutionsjahre 1905/06 angeeignet hatte, das Polnische, das ihm durch seine Freundin Helene Landau vertraut wurde. Doch auch er konnte die Gesamtpartei nicht zusammenhalten, die Tschechen verließen 1911 Fraktion und Partei. Otto Bauer war nun Berufspolitiker mit einem jährlichen Gehalt von 3.000 Kronen, umgerechnet etwa 10.000 Euro jährlich. Victor Adler, von Krankheit gezeichnet, stützte sich immer mehr auf ihn. Als 1912 ein Redakteursposten im Parteiblatt „Arbeiter-Zeitung“ vakant war, übertrug er ihm auch noch dieses Amt. Obwohl Parlament und Redaktionen die Kräfte eines Mannes ausschöpften, schrieb Bauer weiter Abhandlungen zu Zeitfragen – zur Teuerung und zu den Balkankonflikten vor allem – und übernahm noch Lehrtätigkeit an der Arbeiterschule.39 In dieser Zeit traf er Helene Landau. Sie war zehn Jahre älter als er, stammte aus Krakau und war eine Nichte des berühmten Grazer Soziologen Ludwig Gumplowicz. Sie hatte eine wirtschaftswissenschaftliche Doktorarbeit verteidigt.40 Helene war mit dem Rechtsanwalt Max Landau verheiratet und hatte mehrere Kinder geboren: Wanda 1896, Lech 1897, die einjährig verstorbene Olga 1899 und Władysław Henryk 1901.41 In ihrem Salon verkehrten die Führer der polnischen Sozialisten Ignacy Daszyński, Herman Lieberman und zuweilen auch Piłsudski. Dort waren auch Karl Renner und Rudolf Hilferding regelmäßige Gäste, die zwischen 1904 und 1907 Otto Bauer und Helene Landau miteinander bekannt gemacht haben.42 Die Liebesgeschichte war dramatisch. Meist wird berichtet, dass Helene Landau 1911 mit ihrem Mann und den Kindern nach Lemberg ging, drei Jahre später aber ihre Familie verließ, um mit Otto Bauer zu leben. Nach dem Zeugnis ihrer Enkelin Helena Lanzer-Sillén blieb Helene Landau jedoch 1911 allein in Wien, „studienhalber“, wie den Kindern gesagt wurde.43 Helene Landau und Otto Bauer bezogen spätestens zu Beginn des Jahres 1914 die Wohnung in der Kasernengasse, die heute nach Otto Bauer benannt ist. Der Luxus des Paares war bescheiden. In der Dreizimmerwohnung mit Möbeln aus Bauers Elternhaus, ergänzt durch einen Raum für die Hausgehilfin, wohnten sie bis zur Flucht 1934. Sie heirateten 1920, nachdem die Ehe der Landaus 1918 geschieden worden war.44 Ist es nicht seltsam, dass Bauer nach Piłsudski, Trotzki und Stambolijski der vierte unter den Helden dieses Buches ist, der eine deutlich ältere, überaus gebildete und politisch engagierte Gefährtin wählte, gleichsam als Vollendung seiner revolutionären Sozialisation? – Als der Weltkrieg losbrach, wurde Otto
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Hanisch 2011, S. 122 – 128; Braunthal 1961, S. 19 f. Gumplowitz-Landau 1906 Kintaert 2011, S. 131 – 133 Leichter 1970, S. 25 Kintaert 2011, S. 133 Hanisch 2011, S. 32 – 36
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Bauer eingezogen. In einem Brief vom 28. September 1914 legte er den Freunden im Parteivorstand ans Herz: „Dass Ihr Verkehr mit Helene angeknüpft habt, ist mir sehr willkommen. Ihr werdet diese Frau, der ich außerordentlich viel intellektuelle und moralische Bereicherung, Lebensweisheit und Lebensglück verdanke, hoffentlich schätzen lernen, wie sie es verdient“.45 Otto Bauer setzte sich als Offizier an der galizischen Front ganz ein, wie seine Feldpostkarten an Victor Adler und Kautsky und der einzige erhaltene Brief an Helene bezeugen.46 Der Sozialdemokrat sah sich dabei nicht im Widerspruch zur pazifistischen Haltung der Vorkriegspartei. Unter Victor Adlers einigender Führung stellte sich die österreichische Partei ziemlich umstandslos auf die Seite der Vaterlandsverteidigung gegen das russische Zarenreich. Die Massen folgten zunächst. Debatten gab es nicht und Kriegskredite waren nicht zu bewilligen, denn der Ministerpräsident Graf Stürgkh hatte das Parlament schon im Frühjahr in die Wüste geschickt. Er regierte nun absolutistisch, hob bei Kriegsbeginn Presse- und Versammlungsfreiheit auf und verhängte das Kriegsrecht. Die Sozialdemokratie beugte sich, ihre Hammerbrotwerke buken Armeezwieback und die Konsumvereine sicherten die Versorgung. Victor Adlers Autorität und die Parteitradition verhinderten die Spaltung entlang der Linie zwischen Gegnern und Befürwortern des Burgfriedens, wie sie die deutsche Partei zerriss.47 – Otto Bauer geriet schon bei einem Gefecht am 23. November 1914 in russische Gefangenschaft – infolge „übergroßer Schneidigkeit“, wie sein Vorgesetzter schrieb.48 Fast drei Jahre verbrachte er nun in sibirischen Gefangenenlagern. Die Russen unterschieden zwischen den slawischen Brüdern im österreichischen Heer und den deutschen und ungarischen Gefangenen, die ins ferne Sibirien transportiert wurden. Als Offizier war Bauer privilegiert, befreit von der Arbeitspflicht der Soldaten, einigermaßen ernährt, mit Bademöglichkeit, sogar versehen mit den Zeitungen der Russen und ihrer Verbündeten.49 Fern von Bibliotheken ganz auf sein Gedächtnis zurückgeworfen schrieb er, um sich fit zu halten, einen Abriss der modernen europäischen Philosophie unter der Überschrift „Das Weltbild des Kapitalismus“.50 Aus den Zeitungen wird Otto Bauer von der unerhörten Tat seines Freundes Friedrich Adler erfahren haben, der am 21. Oktober 1916 den Ministerpräsidenten Stürgkh mit vier Revolverschüssen im Restaurant eines Wiener Hotels tötete. Victor Adlers Sohn hatte nach der Zimmerwalder Konferenz, an der kein Österreicher teilnahm, eine linke Parteiopposition um sich geschart, die das Ende des Burgfriedens und einen sofortigen Frieden ohne Annexionen forderte. Vor Gericht sagte er: „Wir leben in einer Zeit, wo die Schlachtfelder von Hunderttausenden Toten bedeckt sind und Zehntausende Menschen in den Meeren liegen. Es ist der Krieg, es ist die Not, sie 45 46 47 48 49 50
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Zitiert: Hanisch 2011, S. 37 Hanisch 2011, S. 80 – 86 Butterwegge 1991, S. 162 – 172; Ardelt 1994b Hanisch 2011, S. 86 Leidinger 2008, S. 259 – 276 Bauer 1976c; Hautmann 1987, S. 187 – 194
haben es gerechtfertigt. – Aber wenn dann einmal ein Mensch fällt, der die Verfassung in Österreich vernichtet hat, der alles Recht und Gesetz zu Boden getreten hat, wenn einer der Schuldigen an allem Entsetzlichen fällt, da tritt man mir entgegen und sagt plötzlich: Heilig ist das Menschenleben. Da erinnert man sich plötzlich an das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten“.51 Zwischen der Tat und dem Prozess im Mai 1917 lag der Umschwung der Stimmung im Land. Inzwischen war Österreichs Krieg eine Kette von Niederlagen, Soldaten und Arbeiter litten Mangel an fast allem und wollten Frieden. Jenseits der Front grollte drohend die russische Revolution. Der Attentäter wurde zwar zum Tode verurteilt, aber vom neuen Kaiser Karl unverzüglich zu lebenslanger Haft begnadigt und auf die Festung Stein gebracht. Das Urteil hatte heftige öffentliche Reaktionen und Proteststreiks der Arbeiter zur Folge; die neue Regierung musste Parlamentarismus und verfassungsmäßige Freiheiten wieder einsetzen. Die Tat versöhnte die kriegsmüde Arbeiterschaft mit der Partei, die sich wohl oder übel dazu bekennen und von der Burgfriedenspolitik abrücken musste. Otto Bauer nannte Friedrich Adlers Tat später einen Wendepunkt in der Geschichte der Arbeiterbewegung, eine Wendung zu Gegenwehr und Hoffnung.52 Der greise Victor Adler verlor in dem Sohn eine Stütze der Parteiarbeit, wenn der auch mit seiner linken Fronde gegen den Einigungswillen des Vaters opponiert hatte. Er unternahm nun alles, um wenigstens den politischen Ziehsohn Otto Bauer zurückzubekommen. Das gelang mit Hilfe des schwedischen Parteiführers Hjalmar Branting, der wohl direkt bei der neuen menschewikischen Regierung in Petrograd intervenierte, aber sicher auch den Weg über die dänische Kommission nutzte, die für die österreichischen Kriegsgefangenen zuständig war. So brachte man Otto Bauer schon im Juli 1917 aus dem Gefangenenlager Beresowka am Baikalsee nach Petrograd, und von dort Ende August nach Wien, als einen von 22.000 ausgetauschten österreichisch-ungarischen invaliden Kriegsgefangenen. Ob tatsächlich auch das österreichische Außenministerium in Petrograd interveniert hatte, wie Bauer bei der Einvernahme nach der Rückkehr aussagte, oder ob er damit nur von der sozialistischen Spur ablenken wollte, bleibt unklar.53 Victor Adler schrieb an Kautsky: „Jetzt ist alles leichter, da Otto da ist. Allerdings ist er noch ein wenig zu viel Bolschewik und muss sich an das alte Milieu erst wieder anpassen. Aber welche Erlösung es für mich ist, ihn da zu haben, kannst Du Dir kaum denken“.54 Der schneidige Offizier vom Kriegsbeginn kehrte nach drei Jahren Gefangenschaft als ein anderer zurück, und die Wochen im Herzen der Revolution hatten ihn tief beeindruckt. Bolschewik wurde Otto Bauer darum nicht. Er hatte die meiste Zeit bei Theodor und Lydia Dan
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Zitiert: Ardelt 1994a, S. 183 Bauer 1976h, S. 564; Unfried 1988, S. 164; Butterwegge 1991, S. 173 – 176; Ardelt 1994a, S. 186 – 197; Leser 1985b, S. 121 – 125 Leidinger 2008, S. 265; Hanisch 2011, S. 88 f. Hanisch 2011, S. 90
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verbracht, bei denen auch Lydias Bruder Julius Martow wohnte. Bauer lebte also im Kreis der leitenden Menschewiki, wobei Dan dem regierenden reformistischen Flügel angehörte, während Martow die revolutionären Internationalisten anführte. Der Österreicher suchte die menschewikischen Ministern Matwej Skobelew und Irakli Zereteli auf, die er aus ihren Wiener Exiltagen kannte, und er besuchte Sitzungen des Petrograder Sowjets, ohne dort Trotzki zu begegnen, der noch im Gefängnis saß.55 Nach seiner Heimkehr schrieb er an Kautsky: „Im Allgemeinen stehe ich auf dem Standpunkt Martows und seiner Freunde. Die eigentlichen Menschewiki haben eine meines Erachtens unmögliche Politik gemacht […], dass die Arbeiter den Menschewiki in Scharen davongelaufen sind. Auf der anderen Seite aber haben die Bolschewiki eine Politik der gefährlichsten Abenteuer betrieben. Die Überschätzung der eigenen Kraft, die im russischen Proletariat infolge der Märzereignisse entstehen musste, hat in der Taktik Lenins und Trotzkys ihren getreuen Ausdruck gefunden. Der Aberglaube der Jakobiner an die Allmacht der Guillotine ist in Petersburg wiedererstanden als Aberglaube an die Allmacht der Maschinengewehre. Zwischen diesen beiden Extremen haben die Menschewiki-Internationalisten unter Martows Führung die richtige Mitte gehalten. Recht hat auch dort das ‚marxistische Zentrum‘“.56 Julius Martow und Theodor Dan, der nach Martows Tod 1923 in dessen Sinn die Exil-Menschewiki führte, verteidigten ungeachtet erlittener Verfolgung zeitlebens die Revolution, denn die habe trotz Terror und Diktatur die Arbeitermacht errichtet. Otto Bauer tat es ihnen gleich. In einem anderen Brief an Kautsky Anfang Januar 1918 tadelte er die deutsche Parteipresse wegen ihrer Angriffe auf die Bolschewiki heftig. Die Sympathien der europäischen Sozialdemokratie müssten bei den Bolschewiki sein, „solange sie, was ja nicht zu bezweifeln, die Wortführer des russischen Proletariats sind“.57 Noch vor dem Oktoberumsturz in Petrograd übergab Otto Bauer den österreichischen Arbeitern seinen Bericht über die russische Revolution, von deren Sieg alles abhinge: die Demokratie, die nationale Autonomie und der Achtstundentag in Europa, und überall in der Welt die Bodenreform. Nur Frieden brauche die Revolution, und es sei die Schande der Internationale, dass sie nicht einmal eine Friedensbewegung zustande gebracht habe, um der Revolution zur Hilfe zu kommen.58 Otto Bauer setzte sich nun an die Spitze der Linken, die ohne Friedrich Adler verwaist waren, um eine Volksbewegung im Geist des Zimmerwalder Manifests zu entfachen. Seine Stellung war durchaus heikel. Er war noch aktiver Offizier, als Nationalökonom in das Kriegsministerium abkommandiert, deshalb keineswegs frei, sich politisch zu betätigen. Er schrieb unter verschiedenen Decknamen. Auf dem Parteitag, der nach mehr als drei Jahren im Oktober 1917 wieder zusammentreten konnte, schwieg er.59 Das Manifest der Linken forderte mit August Bebels markigen Worten „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“, doch
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Löw 1980, S. 9 – 11 Bauer 1980c, S. 1039 Bauer 1980d, S. 1044 Bauer 1976i, S. 87 Hanisch 2011, S. 132 – 134
es fand keine Mehrheit. Die Delegierten verstanden nicht, dass es notwendig sei, sofort und unbedingt Frieden zu schließen und die Auflösung des Reiches in den nationalen Revolutionen zu billigen. Verstanden sie es nicht, weil Karl Renner so vehement für die Bewahrung des Reichs agitierte, oder vielleicht deshalb nicht, weil Otto Bauer auf Bitten Victor Adlers auch die Mehrheitsresolution geschrieben hatte?60 Bauers innerstes Wesen neigte zum Kompromiss, er hat ihn später immer wieder gesucht, um so die Einheit der von Victor Adler übernommenen Partei zu bewahren. Die Sympathie der Arbeiter mit der russischen Revolution wuchs, je länger der Krieg dauerte. Als der deutsche Verhandlungsführer in Brest-Litowsk die Auslieferung aller russischen Provinzen zwischen Ostsee und Schwarzem Meer forderte und dazu noch die Mehlrationen der österreichischen Arbeiter halbiert wurden, fand Trotzkis Appell „An die unterdrückten und erschöpften Völker Europas“ Gehör. Ein Generalstreik breitete sich Mitte Januar 1918 von den Munitionsfabriken in Wiener Neustadt her in die niederösterreichischen und steirischen Industriegebiete aus. Auf erregten Versammlungen wurden Arbeiterräte gewählt.61 Der revolutionäre Aufstand war möglich. Doch ein Manifest der Partei und eine von Victor Adler und Karl Seitz geführte Abordnung des Arbeiterrates zum kaiserlichen Außenminister kanalisierten die Energie. Graf Czernin versprach angesichts der drohenden Revolution fast alles, sodass der Arbeiterrat nach einer Woche den Streik für beendet erklärte. Auch die Linken um Otto Bauer und Friedrich Adler folgten den Posaunen der Bolschewiki nicht. Ein starkes Argument waren kaisertreue rumänische, bosnische und ruthenische Truppen, die von der Militärregierung herangeführt wurden.62 Die Revolution, auf die Trotzki in Brest-Litowsk so verzweifelt wartete, blieb aus. Bauers Dienstherr vermerkte mit Wohlwollen dessen mäßigenden Einfluss; eine staatspolizeiliche Untersuchung gegen ihn wegen bolschewikischer Untergrundarbeit wurde niedergeschlagen.63 Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass der als Bolschewik verschriene Linke den revolutionären Aufstand verhütete. Er wollte die Arbeitermacht erobern, aber nicht wie Trotzki und Lenin, sondern wie Martow und seine Freunde beabsichtigten: mit politischen Mitteln und möglichst ohne Blutvergießen. Allerdings war der Erfolg nicht mit Martow gewesen.
Österreichische Revolution Als „österreichische Revolution“ betitelte Otto Bauer 1923 das Geschehen der Jahre 1918 bis 1920 in seiner großen Darstellung. Da war ihm Österreich noch das gesamte Kaiserreich, genauer die österreichische Hälfte der Doppelmonarchie. Er ging zurück bis zu den Anfängen der nationalen Bewegungen der Tschechen, Südslawen und Polen, und erst zum Ende hin ver-
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Butterwegge 1991, S. 182 – 185; Hanisch 2011, S. 133 f. Hautmann 1987, S. 153 – 175 Bauer 1976h, S. 578 – 581; Braunthal 1978b, S. 116 f.; Leser 1985b, S. 128 – 133; Butterwegge 1991, S. 189 f. Hanisch 2011, S. 91 f.; Leidinger, Moritz 2003, S. 473
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engte sich die Darstellung auf das Gebiet, das nach dem Willen der Siegermächte in Kontinuität von Schuld und Sühne Österreich sein sollte. Bauer entwarf ein Panorama verschränkter Revolutionen. Insofern die Entente gegen die oligarchischen Militärmonarchien der Mittelmächte kämpfte, hätte sie im Verein mit den nationalen Bewegungen im Habsburgerreich eine bürgerliche Revolution ausgefochten, „die blutigste bürgerliche Revolution der Weltgeschichte“. Die österreichische Revolution, das war die nationale bürgerliche Revolution der Tschechen, Polen und Südslawen. Die russische Revolution hatte daran Anteil, indem sie alle Völker der Habsburgermonarchie in den Gefangenenlagern und auf den Schlachtfeldern revolutionierte.64 Seit der Januarkrise suchten der Hof und die altösterreichischen Eliten einen Anker in der Sozialdemokratie. Hatte die Partei Victor Adlers nicht neben der katholischen Kirche und der Armee als gesamtösterreichische Kraft gegolten, verspottet als k k. Sozialdemokratie? Zu spät, die inneren Unruhen fanden ihr Echo an den Fronten. Mehr als 4.000 Matrosen hatten im Februar 1918 auf den Kriegsschiffen in der Bucht von Cattaro die rote Fahne gehisst und ihre Offiziere gefangen gesetzt; unzählige Meutereien der zerlumpten, hungernden Truppen folgten. Wenn sich auch Slowenen, Tschechen, Ruthenen, Polen und Ungarn noch Ende Oktober ins Feuer einer italienischen Offensive werfen ließen, so fürchteten die Besitzenden den Revolutionsgeist der Soldaten am Ende doch so sehr, dass sie die Heere lieber in italienischer Gefangenschaft als heimkommen sahen. Deshalb baten die Tiroler um Schutz durch reichsdeutsche und Ententetruppen und das Armeeoberkommando befahl die Waffenruhe einen Tag vor Inkrafttreten des Waffenstillstands am 4. November.65 Noch im Oktober hatte der Kaiser, dessen Bitte um Waffenstillstand Präsident Wilson lange keiner Antwort würdigte, seinen Völkern Autonomie in Anlehnung an Karl Renners Vorschläge geboten. Zu spät, die Völker hörten nicht mehr hin; Polen, Tschechen und Ungarn gründeten eigene Staaten. Die Völker hatten Lenins Botschaft der nationalen Selbstbestimmung als Lostrennung aus Wilsons Mund vernommen. Bloße Autonomie hieß, ihnen Steine statt Brot zu bieten, wie Jörg Fisch treffend schreibt.66 So machten auch die Deutschösterreicher, von den anderen Völkern der Monarchie verlassen, ihre Revolution, die alle aristokratischen und dynastischen Herrschaftsrechte beseitigte. Die Sozialdemokraten veranlassten daraufhin alle deutschösterreichischen Abgeordneten, sich am 21. Oktober als Provisorische Nationalversammlung zu konstituieren. Die berief einen Staatsrat, in dem die Sozialdemokraten zwar nicht die Mehrheit, aber die Entscheidungsgewalt besaßen. Die bürgerlichen Parteien – christlichsoziale und deutschnationale – waren wie gelähmt angesichts der Massendemonstrationen von Arbeitern und Soldaten vor dem Parlament und auf den Straßen, die nach Räteherrschaft und Sozialisierung riefen und vor Plünderungen nicht zurückschreckten. Karl Renner wurde Staatskanzler und Victor Adler Außenstaatssekretär. Der Sozialdemokrat Julius Deutsch als Stellvertreter des Heerwesens hielt auch Sozialwesen und Inneres in der Hand. Drei Tage nach der Novemberrevolution in Berlin proklamierte der Staatsrat am 12. November die Republik Deutschösterreich als Bestandteil der 64 65 66
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Bauer 1976h, S. 633, 635; vgl. Kriechbaumer 2001, S. 197 – 203; Maderthaner 2008 Bauer 1976h, S. 612 f.; Bihl 1983, S. 50 Fisch 2010, S. 155
deutschen Republik. Otto Bauer hatte dafür schon auf dem Parteitag im Oktober 1918 geworben: „Was heute siegt und unsere Hoffnung ist, ist das Deutschland Liebknechts und Bebels, das Deutschland der deutschen Demokratie und des deutschen Proletariats“.67 Mehr war nicht entschieden, nicht die äußeren Verhältnisse des neuen Staates und nicht die Machtbalance der politischen Kräfte und sozialen Klassen im Innern. Als Victor Adler am 11. November starb, kaum dass er seinen befreiten Sohn Friedrich in die Arme geschlossen hatte, musste Otto Bauer das Außenamt übernehmen. Zugleich fiel ihm mit dem stellvertretenden Parteivorsitz – hinter Karl Seitz, dessen Stärke mehr das Repräsentative als das Politische war – wesentlich die Führung der Partei zu. Mit einem Schlag war er aus der Ruhe der Redaktionsstuben auf die Bühne der Politik geworfen worden. Ein Genosse berichtete vom Besuch in Bauers Amtszimmer: „Er war abgemagert, das Gesicht voller Falten, die Augen müde. Seine dreifache Belastung machte sich bemerkbar: Redakteur der ,Arbeiter-Zeitung‘, Außenminister und Politiker, der immer gerufen wurde, wenn es galt, radikale Wünsche zu dämpfen, ohne den Ruf des zielbewussten Austro-Marxisten zu gefährden. Sein Aschenbecher war voller Stummeln, und auch während meines Besuches hörte er nicht auf zu rauchen“.68 Zwei Aufgaben waren zu meistern: die Bändigung des Chaos und die Beschaffung von Nahrung und Heizung für den Winter. Das Chaos strömte mit den Hunderttausenden von Soldaten des sich auflösenden Heeres und mit Flüchtlingen aus den neuen Nachbarstaaten herein. Die Republik hatte keine Machtmittel gegen Plünderungen und Gewalttaten und ging deshalb unverzüglich an den Aufbau einer neuen bewaffneten Macht, der Volkswehr. Julius Deutsch hatte schon seit dem Frühjahr 1918 mit sozialdemokratischen Vertrauensleuten eine geheime Organisation in den Kasernen aufgebaut. Mit ihrer Hilfe formte er die neue Truppe als verlässliches Instrument der Partei. Den kaiserlichen Offizieren, auf die nicht zu verzichten war, stellte er Soldatenräte zur Seite. Otto Bauer sagte 1921 in einem Vortrag vor Offizieren: „Die Rettung der Republik vor den Gefahren des politischen Abenteurertums, das uns damals in den Bürgerkrieg gestürzt, das uns die Invasion, die Besetzung durch fremde Truppen gebracht, das damit den letzten Rest unseres Wohlstands und den letzten Rest unserer nationalen Selbständigkeit zerstört und uns in die blutige Konterrevolution geschleudert hätte, diese rettende Leistung war […] die Leistung jener Tausende organisierter Arbeiter, die, dem Ruf unserer Partei folgend, in die Volkswehr eingetreten waren, und vor allem die Leistung der vielgeschmähten Soldatenräte“.69 Mit Abenteurertum meinte er eine Revolution nach dem Muster der Bolschewiki, die von November 1918 bis Juni 1919 eine reale Gefahr war. Die russische Revolution kam mit den Tausenden entlassenen Kriegsgefangenen und mit den sowjetrussischen Emissären ins Land.
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Holtmann 1986, S. 149; Bauer 1976h, S. 614 f. Hanisch 2011, S. 150 Zitiert: Naderer 2005, S. 143; vgl. Botz 1987c, S. 20; Hautmann 1987, S. 242 – 252
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Die sowjetrussische Kriegsgefangenenmission, mit deren Leitern Bauer sich im August 1918 getroffen haben soll, war das Zentrum. Bauer wies als Außenstaatssekretär diese Vorhut der Komintern aus, aber er tat es erst im Januar 1919, später als alle Nachbarländer.70 Treibende Kraft einer bolschewikischen Revolution war die Kommunistische Partei, am 3. November 1918 von linken Sozialdemokraten und Kriegsheimkehrern gegründet. Sie forderte schon am 12. November vor dem Parlament lautstark die Rätediktatur und riss den weißen Streifen aus der rot-weiß-roten Fahne. Auch als sich die hungernden Arbeiter radikalisierten und von den benachbarten Räterepubliken Unterstützung erwarteten, blieben die Kommunisten eine Randgruppe.71 Sie hätten stärkeren Anhang gefunden und wären – wie in Deutschland – zur Massenpartei geworden, wenn der Volksheld Friedrich Adler ihrem Drängen nachgegeben und den Vorsitz übernommen hätte. Friedrich Adler machte sich jedoch zum Führer der sozialdemokratischen Rätebewegung, darin unterstützt von Max Adler. Die Arbeiterräte, die in der Januarkrise zuerst hervorgetreten waren, wurden allgemein, auch Behördenangestellte und Handelsgehilfen wählten ihre Räte. Allein die Arbeiterräte hielten vielerorts Produktion und Versorgung aufrecht. Da anfangs nur Sozialdemokraten gewählt werden durften und die Räte mit den Gewerkschaften verzahnt wurden, war diese Rätebewegung kein Instrument der Anarchie, sondern eine Ordnungsmacht in den Händen der regierenden Sozialdemokratie.72 Die Soldatenräte der Volkswehr wurden den Arbeiterräten eingegliedert. Als es nach wenigen Monaten gelang, die kommunistische Rote Garde als Volkswehrbataillon 41 zu integrieren und Kommunisten in die Arbeiterräte aufzunehmen, hatten die regierenden Sozialdemokraten die Oberhand gewonnen. Dies gelang nicht durch Gewalt und Blutvergießen, sondern durch Überzeugung und Organisation, mit geistigen Mitteln, wie Bauer hervorhob. Otto Bauer und Friedrich Adler zogen von Versammlung zu Versammlung, Bauer schrieb Artikel um Artikel, um die Arbeiterschaft vor der kommunistischen Versuchung zu bewahren. Die Arbeiter begriffen in den Auseinandersetzungen, dass es ihre, und vor allem ihre Republik war. Die bürgerlichen, monarchistischen, klerikalen und aristokratischen Gegner der Republik sahen den Kämpfen innerhalb der Arbeiterschaft zu, hoffend, dass die Kontrahenten einander zerfleischten.73 Die bolschewikische Revolution wetterleuchtete erneut, als im Frühjahr 1919 Räterepubliken in Bayern und Ungarn entstanden. Vor allem von Ungarn her kamen Emissäre in großer Zahl, um die Arbeiter zum Aufstand zu bewegen. Die Entente bedrohte jede Unterstützung der bayerischen oder ungarischen Räteherrschaft mit militärischen Strafmaßnahmen. Und doch schmuggelten die Arbeiter des Wiener-Neustädter Bezirks große Mengen Waffen über die Grenze, marschierte ein 1.200 Mann starkes deutschösterreichisches Bataillon zur Unterstützung nach Ungarn, verweigerte Otto Bauer Waffenlieferungen an die Tschechoslowakei zum Kampf gegen Ungarn. Otto Bauer schrieb an Karl Renner, der bei der Friedenskonferenz
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Leidinger, Moritz 2003, S. 523 f., 565; McLoughlin et al. 2009, S. 33 Leser 1985b, S. 142 – 144; Butterwegge 1991, S. 234 f. Hautmann 1987, S. 253 – 287 Bauer 1976h, S. 726 – 731; Gulick 1950b, S. 120; Braunthal 1961, S. 40 f.; Leser 1985b, S. 142 f., 156 – 159; Hautmann 1987, S. 288 – 367; Butterwegge 1991, S. 218 f.; Bruckmüller 1985, S. 458 – 462
in Paris war, die Gefahr, „dass wir, zwischen Tschechen und Ungarn, dann doch in irgendeine schwere Krise hineingetrieben werden, bleibt sehr groß“.74 Am Gründonnerstag 1919 griffen die Anhänger einer deutschösterreichischen Rätediktatur das Parlament an, und am 15. Juni versuchten die Kommunisten wiederum, eine Rätediktatur im Bündnis mit Ungarn zu erzwingen, beide Male schlug die Volkswehr den Putsch nieder.75 Die Gewalt forderte Opfer. Gerhard Botz zählte von der Gründung des Staates bis Ende 1920 insgesamt 209 Getötete und Schwerverletzte in Deutschösterreich, darunter 156 Kommunisten und Sozialdemokraten.76
Bauer als Außenstaatssekretär 1919
Von November 1918 bis zum Juni 1919 waren Aufstand und Staatsstreich nach dem Muster der Bolschewiki möglich. Von kommunistischen und linkssozialistischen Politikern und Geschichtsschreibern wird Otto Bauer vorgeworfen, dass er sich jedes Mal dagegen stemmte.
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Bauer 1980e, S. 1053 Leichter 1970, S. 207 f.; Szinai 1985, S. 13 f., 22; Haas 1985, S. 135; Leidinger, Moritz 2003, S. 594 Botz 1987c, S. 17
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Die Kritik geht von der Annahme aus, dass in Deutschösterreich wie in Russland das Unwahrscheinliche hätte geschehen können, dass eine kommunistische Diktatur sich behauptet und der Weltgeschichte eine andere – bessere – Wendung gegeben hätte.77 Otto Bauer sah das anders: „Die Bürgerlichen sind Gegner des Bolschewismus, weil sie den vorübergehenden Sieg des Proletariats fürchten, ich aber, weil ich dem Proletariat die darauf folgende Niederlage ersparen will“.78 Otto Bauers zentristische Überzeugung, dass der Sozialismus mit politischen Mitteln, durch Gewinnung von Mehrheiten errungen werden müsse, verband sich mit seinem tief innerlichen Abscheu gegen den Bürgerkrieg. Die Gegenseite war nicht so zimperlich. Nach dem Zeugnis des Staatskanzlers Renner baten Vertreter von Adel und Großbürgertum in jenen Wochen bei der italienischen Vertretung und der Militärmission um die Besetzung Wiens durch italienische Truppen, obwohl keine Siegermacht sich der Bevölkerung so verhasst gemacht hatte, wie die Italiener.79 Am Tag nach dem Putsch, am 16. Juni 1919, sandte Otto Bauer Robert Danneberg nach Budapest mit einem Brief an den ungarischen Revolutionsführer Béla Kun. Bauer schrieb von dem gemeinsamen Interesse, die Konterrevolution abzuwehren, wenn er auch die Methoden der Räterepublik nicht gutheißen könne. Wegen der Drohungen der Entente könne sich Deutschösterreich unmöglich auf die Seite der Ungarn schlagen.80 Genauso äußerte er sich auch am 21. Juni gegenüber dem ungarischen Gesandten Böhm, der bis zum Ende am 1. August Kriegsminister der Räterepublik war. Die Räteregierung floh kurz darauf vor den rumänischen Invasionstruppen. Kuns Unfähigkeit trug zu dem Desaster bei. Böhm nannte ihn einen „als Staatsmann verkappten Poseur“.81 Victor Serge lernte ihn bald darauf als Verräter an der verbündeten anarchistischen Machno-Armee kennen.82 Österreich bot den Führern der Räterepublik und ihren Familien Asyl – von der bürgerlichen Presse harsch kritisiert, dankbar anerkannt von der sowjetischen Führung, die Kun nun zur Legende aufbaute.83 Bauers österreichischer Weg blieb ein Mittelweg. Er bekämpfte den kommunistischen Umsturz und blieb doch grundsätzlich auf Seiten der Revolution, mochte sie selbst kommunistisch sein. Nach dem Ende der Béla-Kun-Regierung schickte er dem sudetendeutschen Sozialdemokraten Oswald Hillebrand einen Resolutionsentwurf für den dortigen Parteitag: „Von der russischen bis zur deutschen Revolution war die Entente eine revolutionäre Macht. Ihr Sieg über die Mittelmächte war eine bürgerliche Revolution: der Sieg der bür77 78 79 80 81 82 83
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Butterwegge 1991, S. 202 f., 226 – 229; vgl. Leser 1985b, S. 146 – 150 Zitiert Leser 1985b, S. 146 Renner 1953, S. 37 Bauer 1980a Böhm 1924, S. 498 – 524, zitiert 520 Serge 1977, S. 141, 158 f. Stamm 1983, S. 365 f.; McLoughlin et al. 2009, S. 39 f.; Serge 1977, S. 141, 159
gerlichen Demokratie des Westens über die halb feudalen, halb absolutistischen Militärmonarchien Mitteleuropas.[…] Kaum hatte die Bourgeois-Demokratie der Entente die feudalabsolutistischen Mittelmächte besiegt, wendete sie ihre ganze Macht gegen die proletarische Revolution in Russland, Deutschland, Deutsch-Österreich, Ungarn. Die Entente […] wurde nun zur konterrevolutionären, Heiligen Allianz gegen das Proletariat“.84 Notgedrungen schlug sich Bauer auf die Seite dieser Heiligen Allianz. Die Not, schon im letzten Kriegsjahr an den Hungerrationen der Soldaten im Feld und der Arbeiter in den Fabriken ablesbar, steigerte sich, als die Nachfolgestaaten der Monarchie die Zufuhr von Lebensmitteln und Kohle nach Deutschösterreich sperrten. Das von Kriegsinvaliden und heimkehrenden Soldaten überquellende Wien drohte schon aus Hunger ins Chaos zu stürzen. Die Situation in Wien war schlimmer als in irgendeiner deutschen Großstadt. Der später so berühmte Ökonom John Maynard Keynes, britischer Sachverständiger bei der Friedenskonferenz in Paris, wies auch auf die Not der Wiener, um das Herz der Sieger zu bewegen.85 Nach verzweifelten Bitten kamen endlich seit Anfang Januar über Italien amerikanische Lieferungen an, geknüpft an die Erwartung, kommunistische Aufstandsversuche zu unterdrücken und keinesfalls den benachbarten Räteregierungen Unterstützung zu geben.86 Otto Bauer versuchte, der Zwickmühle zu entkommen, indem er den Anschluss an die deutsche Republik betrieb. Als die slawischen Nachbarstaaten nach der Handelssperre die Währungseinheit aufkündigten, als sie deutschösterreichisches Gebiet besetzten, als dann das bäuerliche Vorarlberg und Tirol zur Loslösung von Wien schritten, da schien es offensichtlich, dass dieses Restösterreich nicht lebensfähig sei und schon deshalb den Anschluss suchen müsse. – Die mangelnde Lebensfähigkeit wurde mit dem Hinweis auf den späteren, sehr viel späteren Wohlstand des kleinen Staates gern als Lebenslüge der österreichischen Sozialdemokratie bezeichnet, übersehend, dass Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg nur durch europäische Integration und enge wirtschaftliche Bindung an die Bundesrepublik Deutschland möglich wurde.87 Otto Bauer wollte den Anschluss auch, weil er die nationale Revolution der Deutschösterreicher als Erfüllung des Traums von 1848 sah. Bauer warb darum mit allen Kräften. Er schrieb an Sozialistenführer wie den Marx-Enkel Jean Longuet und gewann mittels der österreichischen Delegierten Friedrich Adler und Karl Seitz die Führer der Sozialistischen Internationale, die sich im Februar 1919 in Bern versammelten.88 Er verhandelte in Berlin mit dem deutschen Außenminister über die Modalitäten des Anschlusses. Dabei schrieb er sowohl die wirtschaftliche Sonderstellung Deutschösterreichs in einer Zollunion mit den Nachfolgestaaten als auch die besonderen Beziehungen zum Vatikan und Sonderregelungen des katholischen Eherechts fest.89 Doch das Ergebnis blieb ein Geheimpapier ohne Wirkung, denn die Vereinigung mit Deutschland hatte in beiden Ländern nicht nur Befürworter: Teile der Arbeiterschaft wollten
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Bauer 1980f Keynes 1921, S. 203 – 206 Garamvölguyi 1981; Loewenfeld-Russ, Ackerl 1986, S. 197 – 203; Haas 1989 Schausberger 1989; Butterwegge 1991, S. 204 – 206 Bauer 1980b; Leichter 1970, S. 107 – 110 Schausberger 1986; Haas 1985
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nach der Niederschlagung der deutschen Linken im Januar nicht in ein Noske-Deutschland, die österreichischen Monarchisten und das im Donauraum engagierte Kapital träumten von der Wiedergewinnung Altösterreichs, die Christlichsozialen, die im ländlichen Raum das Sagen hatten, wollten nicht in ein protestantisch geprägtes Deutschland. Die Deutschen hegten spiegelbildlich dieselbe Abneigung, und sie weigerten sich angesichts eigener Not, den Österreichern mit Anleihen und Hilfslieferungen beizuspringen. Im Ganzen bewegte der Anschlussgedanke die Deutschen nicht, selbst die Sozialdemokraten blieben desinteressiert an dieser Politik der österreichischen Bruderpartei.90 In beiden Ländern war man von der Furcht beseelt, die eigene Position in den Pariser Friedensverhandlungen zu schwächen.91 Dort war der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau die beherrschende Gestalt. Er hielt nichts von Wilsons Parolen des Selbstbestimmungsrechts der Völker und schmiedete, getrieben von Rache gegen die Besiegten, auf deren Kosten neue Allianzen in Ostmitteleuropa. So enthielten die Friedensverträge mit Deutschland in Versailles und mit Österreich in St. Germain nicht nur erhebliche Gebietsabtrennungen, sondern auch das ausdrückliche Verbot staatlicher Vereinigung. Die Republik musste das „Deutsch“ aus ihrem Namen streichen und als „Österreich“ die Kriegsschuld der ganzen Monarchie tragen.92 Als den Österreichern die erste Fassung des Friedensvertrages übergeben wurde, sah Otto Bauer sich als Außenstaatssekretär gescheitert. Am 13. Juli 1920 begründete er im Brief an Karl Renner seinen Rücktritt: „Annäherung an Frankreich setzt aber meine Demission voraus. Ich bin den Franzosen als exponierter Großdeutscher und als vermeintlicher Bolschewik verdächtig“.93 Seine innenpolitischen Gegner schoben ihm die Verantwortung für die harten Einschnitte des Friedensvertrages zu – eine verfehlte Beschuldigung, wenn man bedenkt, dass auch die Deutschen, Ungarn, Bulgaren, Türken, und wer sonst den Verlierern zugeschlagen worden war, durch keine Demutsgeste das Ergebnis der Friedensbestimmungen beeinflussen konnten. Als nach der Erfahrung von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in der Zweiten Republik die österreichische Nation Staatsdoktrin wurde, galt Otto Bauer als Deutschnationaler, ja sogar als geistiger Wegbereiter des nationalsozialistischen Anschlusses von 1938.94 Bauers Mitstreiter Braunthal und Leichter betonten dagegen, dass Bauer weiser gewesen sei als die Entente, dass ein Anschluss Deutschösterreichs an die Weimarer Republik heilsamer für die Traumata beider Völker gewesen wäre und möglicherweise den Aufstieg des Nationalsozialismus verhütet hätte.95 Die österreichische Sozialdemokratie strich den Anschluss „angesichts der durch den Faschismus veränderten Lage des deutschen Volkes“ 1933 aus ihrem Parteiprogramm.96 Nach der Übergabe des Außenamts an Staatskanzler Renner blieb Otto Bauer Vorsitzender der Sozialisierungskommission. Die Arbeiterschaft forderte im Frühjahr 1919 eine unverzüg90 91 92 93 94 95 96
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Miller 1971 Braunthal 1961, S. 34 Suppan 1994; Mikoletzky 2008 Zitiert: Leichter 1970, S. 130 Leser 1985b, S. 170; Schausberger 1986; Butterwegge 1991, S. 204; Konrad 1993; Hanisch 2008; Steingress 2008; Hanisch 2011, S. 157 – 161 Braunthal 1961, S. 37 f.; Leichter 1970, S. 112 Bauer 1976l, S. 1039 Fn.
liche, durchgehende Sozialisierung nach russischem und ungarischem Vorbild. Gegen solche Blitzsozialisierung mahnte Bauer ganz nach der Weise der britischen Fabier, die soziale Revolution könne nicht im Straßenkampf, sondern nur in langwieriger schöpferischer Gesetzgebungs- und Verwaltungsarbeit vollbracht werden.97 Otto Bauer entwickelte diesen „Weg zum Sozialismus“ im Frühjahr 1919 in der „Arbeiter-Zeitung“; die Artikel wurden als Broschüre immer wieder aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt. Er folgte darin gegen russischen Bolschewismus und preußischen Staatssozialismus „jener echten, aus individualistischer Wurzel entsprossenen Demokratie, die im englischen Gedanken des industrial selfgovernment, der sozialen Umgestaltung durch die Selbsttätigkeit und Selbsterziehung der Masse, ihre Verwirklichung sucht“.98 Bauers Plan hielt sich eng an den Gildensozialismus von G.D. H. Cole, einem Mitglied der Fabian Society. Die großen Unternehmen wären gegen Entschädigung zu verstaatlichen; die Mittel seien durch eine stark progressive Vermögensabgabe aufzubringen. Sie sollten dann als „gemeinwirtschaftliche Anstalten“ in Drittelparität von ihren Arbeitern und Angestellten, von den durch Konsumgenossenschaften und Endproduzenten vertretenen Konsumenten, und vom Staat als Vertreter des Allgemeininteresses geführt werden. Bauer entwarf Szenarien für die verschiedenen Zweige der Volkswirtschaft, erklärte, warum man mit der Grundstoffindustrie beginnen und die Banken bis zuletzt aufschieben müsse, und wo Sozialisierung gar keinen Platz hätte, nämlich in der bäuerlichen Landwirtschaft. Genossenschaften als Pächter sozialisierter Unternehmungen sollten neben den Gewerkschaften die zweite Säule der Wirtschaftsdemokratie sein. Bauer blieb wenig Zeit, um gemeinsam mit dem Sozialminister Hanusch die soziale Revolution auf den Weg zu bringen, denn die Vorherrschaft der Arbeiterpartei konnte nur solange dauern, wie der revolutionäre Druck von innen und außen das bürgerliche Lager lähmte. In der Blütezeit der Arbeiterräte, im Frühjahr 1919, verabschiedete die Nationalversammlung das Gesetz über die Betriebsräte, gleichsam eine Symbiose von Fabiern und Bolschewiki. Bauer sah die Betriebsräte als Schule der Selbstverwaltung für die Arbeiterschaft, als Vorbedingung der Sozialisierung. Dasselbe Ziel verfolgten die Arbeiterkammern, die von nun an den Handelskammern als Sozialpartner gegenüber traten. Achtstundentag, Mindestlöhne, bezahlter Urlaub und erweiterte Arbeitslosen- und Sozialversicherung waren gleichfalls Früchte des revolutionären Aufschwungs. Österreich wurde zum sozialpolitisch fortschrittlichsten Staat in Europa.99 Als der Kapp-Putsch in Deutschland die revolutionäre Erregung der Arbeiter im März 1920 noch einmal in die Höhe trieb, gelang es der sozialdemokratisch geführten österreichischen Regierung noch schnell, ein Wehrgesetz im Parlament zu verabschieden. Darin erhielten die Soldaten staatsbürgerliche und gewerkschaftliche Rechte; das von der Entente im Friedensvertrag verordnete Bundesheer aus Berufssoldaten konnte so nicht dem sozialdemokatischem Einfluss entzogen werden.
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Bauer 1976f, S. 95; mit Berufung auf: Cole 1913; Webb 1920; siehe: Cole 1921 Bauer 1976a, S. 357 Bruckmüller 1985, S. 462 f.; Butterwegge 1991, S. 248 f.
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Die Verfassung des neuen Staates trug die Handschrift von Bauers Studienfreund, dem bedeutenden Staatswissenschaftler Hans Kelsen. Er war häufig Gast bei Helene und Otto Bauer und einer der ganz wenigen Duzfreunde.100 Die Verfassung sicherte die parlamentarische Demokratie gegen die Sonderinteressen der Länder und erhob die Gemeinde Wien, Hochburg der Arbeiterschaft und Herz der Sozialdemokratie, zum eigenen Bundesland. So wurde das Rote Wien möglich.101 Auch für die Sozialisierung hatte Bauer im März 1919 einen Studienfreund in die Regierung geholt, Joseph Alois Schumpeter, ebenfalls bald ein Jahrhundertdenker, der soeben gemeinsam mit Rudolf Hilferding in Kautskys deutscher Sozialisierungskommission bis zu deren bitterem Ende mitgewirkt hatte.102 Schumpeter vertrat noch im Mai vor der Nationalversammlung das Sozialisierungsprogramm einschließlich der eingreifenden Vermögensabgabe, neigte aber mit der geänderten Großwetterlage seit dem Sommer zur konservativen Seite und deren christlichsozialem Führer Ignaz Seipel. Bauer wurde vollends mit ihm uneins, als der Finanzminister Schumpeter den Aufkauf der Aktien der Alpine-Montan-Gesellschaft durch italienische Investoren geschehen ließ und so die Sozialisierung des wichtigsten österreichischen Erzproduzenten verhinderte. Der Leiter der Alliierten Waffenstillstandskommission, General Roberto Segré, stand hinter diesem Coup. Ähnlich wie in Stambolijskis Bulgarien war die Entente-Kommission auch in Wien ein Bollwerk gegen revolutionäre Eingriffe in die Wirtschaft, und da sie in italienischer Hand lag, verfolgte sie massiv italienische Kapitalinteressen. Schumpeter hat die Vorwürfe später gegenüber dem Historiker Charles Gulick damit zu entkräften gesucht, dass er keinerlei Einfluss auf Börsengeschäfte gehabt hätte; die Quellenforschung widerlegt ihn.103 Der spektakuläre Fehlschlag bei der Alpine-Montan-Gesellschaft steht für den ganzen Sozialisierungsplan. Nur wenige kriegswirtschaftliche Staatsbetriebe wurden in sogenannte Gemeinwirtschaftliche Anstalten überführt, also gemeinnützige Unternehmen in öffentlicher Trägerschaft ohne Gewinnerzielungsabsicht. Als öffentliche Träger traten auch Gewerkschaften auf, gemeinnützig und nicht gewinnorientiert sollten Verkehrs- und Versorgungsbetriebe und Sparkassen sein. Wenn der gemeinwirtschaftliche Sektor schließlich so unbedeutend blieb, war nicht so sehr der immer wieder angeführte Kapitalmangel Schuld, sondern die zögerliche Durchführung. Statt im Frühjahr 1919 die Gunst der Stunde für eine schlagartige Teilsozialisierung nach Bauers Plan zu nutzen, ermöglichten fünfmonatelange Debatten massenhafte Kapitalflucht und die Sammlung der Gegenkräfte.104 Im Oktober 1919 legte Bauer enttäuscht den Vorsitz der Sozialisierungskommission nieder. Die soziale Revolution stockte, weil die politische Macht verloren ging, „denn die soziale Revolution setzt die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat voraus“, wie Bauer
100 101 102 103 104
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Leichter 1970, S. 24 Gulick 1950d; Ableitinger 1983; Broucek 1983 Behrend 1998 Bauer 1976h, S. 721 f.; Gulick 1950h, S. 192 – 195; März 1981, S. 337 – 341; März, Weber 1986 Stiefel 2011, S. 20 f.
gegen alle reformistischen Illusionen im „Weg zum Sozialismus“ geschrieben hatte.105 Die Arbeiterschaft gewann in der Revolution ganz neue Rechte, und sie gewann auch in der nachfolgenden Inflationskonjunktur, die über wachsende Exporte Arbeit und über steigende Löhne Brot brachte. Dieselbe Entwicklung enteignete aber das altösterreichische Bürgertum der Beamten, Hausbesitzer, Kleingewerbetreibenden und freien Berufe. „Sehr bald wurde die Erbitterung gegen die Arbeiter stärker als die Erbitterung gegen die Schieber“, schreibt Bauer. Wie sehr das Klima sich verändert hatte, zeige der Kontrast zwischen der revolutionären Apokalypse „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus und den nun aufschießenden antisemitisch gefärbten literarischen Verunglimpfungen der Sozialdemokratie.106 Das Bürgertum sammelte sich gemeinsam mit der tief katholischen Bauernschaft der Länder hinter der Christlichsozialen Partei. Die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung im Frühjahr 1919 hatten der Sozialdemokratie noch die Mehrheit gebracht, sodass sie eine Koalitionsregierung mit den Christlichsozialen anführen konnte. Bei der Wahl zum neuen Nationalrat im Oktober 1920 ging diese relative Mehrheit an die Christlichsozialen verloren. Die Sozialdemokraten hatten schon im Sommer 1920 die Koalition aufgekündigt. Die österreichische Revolution war an ihr Ende gekommen. Ungeachtet aller Historikerbedenken war es eine Revolution; sie hat nicht nur ein großes europäisches Reich zum Einsturz gebracht, sondern in dessen nachgebliebenem Kern mehr bürgerliche und soziale Gleichheit bewirkt.107 Die Sozialdemokratie unter Bauers Führung hat eine demokratische Republik errichtet und verteidigt, und sie hat Bürgerkrieg und Diktatur nach russischem Muster verhütet. Gemeinsam mit Friedrich Adler und Karl Renner wendete Bauer die Spaltung der Partei ab. Die deutschösterreichische Sozialdemokratie vermied wesentliche Fehler der deutschen, deren rechte Führung um Ebert, Noske und Scheidemann mit Hilfe reaktionärer Militärs im Januar 1919 die aufständischen Arbeiter und Matrosen niederschlug, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordete und so die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in Kommunisten und Sozialdemokraten herbeiführte.108 Anders als in Deutschland vereinte die Partei auch weiterhin reformerische und revolutionäre Kräfte und konnte so das Maß des historisch möglichen Systemwandels ausschreiten. Angesichts der politischen und sozialen Erträge, die in die konservative Konsolidierung herübergerettet werden konnten, durfte Otto Bauer mit der deutschösterreichischen Sozialdemokratie aufrecht in die Opposition gehen.
105 Bauer 1976f, S. 95 106 Bauer 1976h, S. 758 – 760 107 Leser 1985b, S. 139 – 142; Bruckmüller 1985, S. 463 – 467; Hautmann 1986; Hanisch 1994, S. 274 108 Miller 1981, S. 16 – 19
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Visionär und Programmatiker Der Bruch der Koalition war allgemeiner Wille gewesen, sowohl der sozialdemokratischen Anhängerschaft wie der Führer. Aber war die Entscheidung klug? Otto Bauer stellte das bald selbst infrage, denn alle Versuche, aus der Opposition Einfluss zu nehmen, liefen ins Leere. Als die Inflationskonjunktur in der Hyperinflation erstickte, wies die bürgerliche Koalitionsregierung den sozialdemokratischen Sanierungsplan zurück, obwohl der mit den Lebensmittelsubventionen auch Arbeiterinteressen opfern wollte und also einen echten Kompromiss bot. Der christlichsoziale Kanzler Ignaz Seipel nahm lieber Zuflucht zur Anleihe des Völkerbunds, erkauft mit eingeschränkter Souveränität unter der Kontrolle des Sparkommissars aus Amsterdam. Sozialabbau lief nun am Parlament vorbei, während die Arbeitslosigkeit über den europäischen Durchschnitt stieg.109 Otto Bauer entwickelte dessen ungeachtet 1923 in seiner Bilanz der österreichischen Revolution Prinzipien zentristischer Koalitionspolitik zwischen Bolschewismus und Reformismus. Seit dem Regierungseintritt des französischen Sozialisten Millerand im Jahre 1899 wurde darum heftig in der Sozialistischen Internationale gestritten, wie im Kapitel über Jean Jaurès dargestellt ist. Bauer wandte sich gegen die linke Verweigerung, die nun zum Glaubenssatz der Kommunistischen Internationale geworden war. Er ging auf gleiche Distanz zum Reformismus der Zweiten Internationale, zu jener staatstragenden Politik, die während des Weltkriegs die europäischen Sozialisten zu Gehilfen der kriegführenden Mächte werden ließ. Eine Koalition dürfe nicht dazu führen, die Sozialdemokratie in Haftung für bürgerliche Politik zu nehmen, die gegen die Arbeiterschaft gerichtet ist, sie als Schutzschild einer solchen Politik zu gebrauchen. Eine Koalition sei also nur sinnvoll, wenn die Sozialdemokratie stark genug sei, im Interesse der Arbeiter mitzuregieren, wenn nicht sogar – wie in der Revolutionszeit – der Politik ihren Stempel aufzudrücken, wenn also zumindest ein Gleichgewicht der Klassenkräfte bestünde. Davon könne nun nicht die Rede sein, die Vorherrschaft sei an die Bourgeoisie gefallen.110 Freund und Feind haben Bauers Politik gescholten, da sie offensichtlich scheiterte; das politische Gleichgewicht konnte nicht zurückgewonnen werden. Wohl am weitesten geht Norbert Leser, der meint, dass alles hätte anders kommen können, hätte Bauer 1920 an der Koalition festgehalten; sogar die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Mitteleuropa hätte nicht geschehen müssen.111 Die Kritik von rechtssozialistischer und konservativer Seite beruft sich stets auf Karl Renner, dessen Staatsverständnis sich in der Tat von dem Bauers wesentlich unterschied. Während Bauer davon ausging, dass der Staat entsprechend dem herrschenden Kräfteverhältnis Instrument von Klasseninteressen sei, sah Renner den Staat jenseits von Klassen und Parteien als Besitztum aller Angehörigen der Nation, an dem die Arbeiterschaft ihren Anteil behaupten müsse.112 Karl Renner stellte die Unvereinbarkeit der Charaktere der Parteiführer von Christlichsozialen und Sozialdemokraten in den Vordergrund:
109 110 111 112
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Gulick 1950c, S. 426 – 428; Bruckmüller 1985, S. 501 f. Bauer 1976h, S. 857 – 861 Leser 1985b, S. 182 Leser 1985a, S. 28 – 32
„Zwei Männer verlegten diesen Ausweg: Ignaz Seipel auf der einen und Otto Bauer auf der anderen Seite. Erziehung und Charakter hatten der unbestreitbaren staatsmännischen Begabung Ignaz Seipels unübersteigbare Schranken gesetzt. Als Priester, als Professor der Moraltheologie, als leidenschaftlicher Katholik, dem die Kirche als ,ewige‘ Institution immer mehr galt als die zeitliche Institution des Staates, war er beherrscht von unüberwindlicher Abneigung gegen die sozialdemokratische Partei, in der er den Todfeind der Kirche und des Glaubens sah. […] Er bekannte sich, wenn auch vielfach verklausuliert, in Worten öfter zur Demokratie und zu einer sozialen Gesetzgebung, aber gerade in den demokratischen und sozialen Errungenschaften der zwei ersten Jahre der Republik sah er ,revolutionären Schutt, den man wegräumen‘ müsse, den wegzuräumen eine seiner Lebensaufgaben sei“. Zum Gegenspieler Otto Bauer setzt Renner fort: „Einer der Führer des sogenannten Austromarxismus, jener Schule von Theoretikern und Praktikern des Sozialismus, welche die Lehren ihres Meisters am erfolgreichsten fortgebildet hatten, Beherrscher vieler wissenschaftlicher Disziplinen, durch drei Jahre russischer Kriegsgefangenschaft noch mehr in sich selbst konzentriert und unter dem Eindruck der russischen Revolution Kerenskijs von 1917, die ihn freigesetzt und nach Petersburg geführt hatte, noch tiefer in die revolutionäre Ideologie verstrickt, erlag er dem gleichen Dogmatismus als linker Sozialist wie Seipel als katholischer Priester“.113 Wie weit war die Jugendfreundschaft entrückt, der Karl Renner einst das Gedicht vom blitzend rollenden Wagen gewidmet hatte. Die Entfremdung war schon im Krieg eingetreten, als Renner an der Rettung des Reiches mehr gelegen war als an sozialistischer Politik. Als 1920 der Parteitag über den Koalitionsbruch beschloss, hatte Renner aber geschwiegen und zugestimmt.114 Renners unfreundliche Charakteristik entsprach dem gegnerischen Vorurteil, Otto Bauer sei ein Dogmatiker gewesen, ein Theoretiker, der Politik aus blutleeren marxistischen Formeln hergeleitet und die Arbeiterschaft mit klassenkämpferischer Rhetorik irregeleitet hätte. Wo ist das Quäntchen Salz in dieser Behauptung? Bauers Faszination für Theorie liegt auf der Hand, wiederholt klagte er, sich nicht ganz in die Wissenschaft versenken zu können. Jedes politische Problem musste er theoretisch bis auf den Grund durchdenken. Diese Neigung verband sich mit der Lust an historischer Quellenarbeit. Seine Bücher zur Nationalitätenfrage, zur österreichischen Revolution, zur Agrargeschichte Deutschösterreichs weisen ihn als profunden Historiker aus. Doch er war auch ein begabter und leidenschaftlicher Politiker. Als Redner verglich man auch ihn mit dem legendären Jaurès.115 Nicht kraft eines Amtes war er Parteiführer – abgesehen von der Revolutionszeit hatte er kein Regierungsamt, und er war nie Parteivorsitzender – sondern Kraft seiner Persönlichkeit. Sein Gegenspieler Ignaz Seipel meinte, Bauer hätte zwei linke Hände für die Politik. Das ist falsch. Allerdings
113 Renner 1953, S. 37 114 Braunthal 1961, S. 72 115 Braunthal 1961, S. 85; Leichter 1970, S. 40 – 42
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mochte er ebenso wenig taktieren wie persönliche Gefolgschaft sammeln; er warb mit offenem Visier für seine Politik. Sein Wesen erschwerte sicherlich seine Wirkung auf die Umgebung. Auch Vertraute berichten von der Kühle, die den Rastlosen umgab, sie betonen die Distanz, die er gegen nahezu alle Mitstreiter wahrte, ablesbar nicht nur am „Sie“, das selbst zwischen ihm und dem Lebensfreund Friedrich Adler blieb.116 Der langjährige Weggefährte Wilhelm Ellenbogen tadelt seine „geringe Menschenkenntnis und die sich daraus ergebende unrichtige Menschenbehandlung, die zuweilen bis zur groben Taktlosigkeit gehen konnte“.117 Aus intellektueller Überlegenheit flossen Ungeduld und Hochmut, wie wir das in weit höherem Maße bei Trotzki gesehen haben. Was Bauer zum Sozialismus führte, soll indessen nicht in erster Linie die theoretische Faszination durch den Marxismus gewesen sein, auch nicht die Lust, eine neue Welt zu bauen, die Trotzki beseelte, auch nicht die Sehnsucht nach Gemeinschaft, wie Wladimir Medem offenbarte, sondern die Empathie mit der leidenden Menschheit. So hat er es in der „Neuen Zeit“ anlässlich des Jubiläums des „Kapital“ geschrieben. Nicht nur Otto Leichter, der Bauer sehr verbundene, auch der Biograf Ernst Hanisch, gewiss kein Bewunderer, spricht von Demut gegenüber der Partei und den Arbeitern: „Tatsächlich, er, der gegenüber anderen Intellektuellen Verachtung, gegenüber anderen Arbeiterführern Sarkasmus, gegenüber politischen Gegnern puren Hohn zeigen konnte, hatte immer Respekt, ja eine echte Demut vor dem einfachen Arbeiter. Dieser sollte ja der Träger des Erlösungswerks werden“.118 Es bleibt das Bild eines schwierigen Mannes, der seine Umgebung überragte und doch in der Arbeit an der gewählten Aufgabe weder einsam noch unglücklich war. Der Asket hielt ein Übermaß an Arbeit durch bis ans Ende, wach gehalten in langen Redaktionsnächten von unzähligen Zigaretten. Otto Leichter, der seit 1919 mit Otto Bauer in den Redaktionen von „Kampf“ und „Arbeiter-Zeitung“ zusammenarbeitete, hat einen gewöhnlichen Arbeitstag beschrieben: „Um acht Uhr früh unterrichtete er in der Arbeiterhochschule Nationalökonomie, dann fuhr er ins Parlament und nahm an der Klubsitzung [Fraktionssitzung, HS] teil, am Nachmittag sprach er im Nationalrat oder in einem Ausschuss oder verhandelte mit der Regierung, am Abend hielt er einen Vortrag oder besuchte eine Bezirkskonferenz. Um neun Uhr abends oder noch später kam er dann in die Redaktion, wo er oft während der Arbeitsbesprechung ein kaltes Abendessen, das seine Hausgehilfin gebracht hatte, hinunterschlang. – Tag für Tag besprach er sich mit Austerlitz und dann mit Oscar Pollak, der in den letzten Jahren vor 1934 Chefredakteur wurde. In der Regel ließ er sich von mir über gewerkschaftliche Ereignisse informieren. Diese waren dann auch sehr oft Gegenstand von Leitartikeln. […] Bauer schrieb ungefähr eineinhalb Stunden an seinem Artikel, meist mit der Hand, manchmal diktierte er ein druckreifes Manuskript. Dann öffnete
116 Leichter 1970, S. 27 117 Ellenbogen, Weissensteiner 1981, S. 10 118 Hanisch 2011, S. 105
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er die Tür seines Zimmers, aus dem die Rauchschwaden von vielleicht zwanzig Zigaretten quollen, die er inzwischen geraucht hatte. Nun begann für ihn sozusagen das gesellschaftliche Leben. Er ging zu Austerlitz in dessen Zimmer und sprach mit ihm über Politik, Literatur, über interne Parteifragen und anderes. Man konnte mit Bauer faszinierende, anregende Gespräche führen. […] Gegen zwölf oder halb ein Uhr nachts erhielt er die Korrekturen seines Artikels; gelegentlich, in kritischen Situationen, zeigte er Austerlitz die eine oder andere Passage. Danach ließ er sich die deutschen, französischen und englischen Blätter bringen, die er bis etwa zwei Uhr las. Dann war für ihn der Arbeitstag beendet“.119 Und wo blieb dabei Helene? Die Beschreibung wird ein wenig übertreiben. Alle Tage sind nicht gewöhnliche Arbeitstage gewesen, ein zumindest zweiwöchiger Urlaub in den Bergen gehörte dazu.120 Otto Leichter meint überdies, die totale geistig-seelische Gemeinschaft der beiden habe die Nähe zu anderen geradezu verhindert. Otto Bauer sei in der Nachmittagspause oft in die nahe Wohnung geeilt, habe gefragt: „Ist die Frau zuhause?“ um Helene anderenfalls aus dem Café herbeizurufen, wo sie gewöhnlich arbeitete.121 Helene Bauer schrieb regelmäßig für den „Kampf“ und andere sozialistische Blätter. Gemeinsam trugen sie die Trauer um Helenes Sohn Lech Landau, der im polnisch-sowjetrussischen Krieg im August 1920 in Piłsudskis legendärer Schlacht an der Weichsel fiel. Tröstlich war 1922 die Rückkehr der Tochter Wanda zum Studium nach Wien. Sie promovierte über marxistische Krisentheorie und baute das Arbeiter-Abendschulwesen in Wien auf. Bis zu ihrer Eheschließung wohnte Wanda bei Otto und Helene Bauer. Die Heirat mit dem Juristen Felix Lanzer und die Geburt zweier Töchter waren für Wanda Lanzer kein Grund, ihre Tätigkeit aufzugeben, auch darin folgte sie dem mütterlichen Vorbild. Helene Bauer war als Dozentin an der Arbeiter-Hochschule, als Leiterin der Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft für Wirtschaft und Politik und im Wiener Stadtschulrat in die Bildungsarbeit eingespannt.122 Während Otto Bauer die Strategie der Partei entwickelte, sie mit scharfer Rede an der Spitze der Fraktion im Nationalrat vertrat und mit eigener Feder die Linie der Parteipresse bestimmte, wirkten die weiblichen Familienmitglieder am Aufbau des Roten Wien und an der Schaffung des Neuen Menschen. In Wien, wo die Sozialdemokratie die absolute Stimmenmehrheit jedes Mal deutlich übertraf, fand sie ihr Praxisfeld, nachdem die Regierungsmacht verloren gegangen war. Karl Seitz als Bürgermeister, Robert Danneberg als Präsident von Landtag und Gemeinderat, Hugo Breitner als Finanzstadtrat, Julius Tandler als Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen und Otto Glöckel als Präsident des Wiener Stadtschulrats standen für die Errichtung dieser sozialistischen Insel, Zukunftswerkstatt und Leuchtturm in der internationalen Arbeiterbewegung. Die Mittel kamen aus der Kehrtwende von den indirekten zu den direkten Steuern, zu Luxussteuern und hoch progressiven Wohn- und Einkommenssteuern.123 Schule und Weiterbildung
119 120 121 122 123
Leichter 1970, S. 311 f. Hanisch 2011, S. 137 Leichter 1970, S. 24 Leichter 1970, S. 363; Dvorák; Nusko Hofbauer 1926; Lehnert 1991, S. 139 – 156; Seidl 2006
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waren eine der Säulen dieses Modells. Glöckels Reform wollte mit Einheitsschule und Arbeitsschule die reformpädagogischen Maximen der Zeit umsetzen, die Benachteiligung der Arbeiterkinder beseitigen und alle Bildungswege für Mädchen und Frauen öffnen. Die Einheitsschule scheiterte am Widerstand der bürgerlichen Bundesregierung, doch die Hürden zur Mittelschule konnten abgesenkt werden. In Wien fiel die Pflicht zum Religionsunterricht, ein Eckstein der Trennung von Kirche und Staat; die Christlichsozialen liefen entsprechend dagegen Sturm.124 Die zweite Säule war das Fürsorgesystem, das die Arbeiterschaft buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre schützend umgab. Mit Mütterberatung, Gesundheitsfürsorge in Schulen, öffentlichen Hygieneeinrichtungen und Pflichtuntersuchungen sagten die Sozialdemokraten der hohen Tuberkulose- und Syphilis-Sterblichkeit den Kampf an. Als Asket engagierte Otto Bauer sich immer wieder für die Abstinenzbewegung.125 Die Erfolge waren offensichtlich, aber aus bürgerlicher Sicht war das „Sozialbolschewismus“. Die Kritik an vormundschaftlicher und eingreifender Fürsorge hält an.126 All dies – ein Steuersystem zugunsten der Armen, Bildungswesen, Kultureinrichtungen und Gesundheitsfürsorge – wurde beseitigt, als die Christlichsozialen und ihre Verbündeten in den dreißiger Jahren den „revolutionären Schutt“ in der Gemeinde Wien wegräumten. Unübersehbar steht bis heute die dritte Säule, die grandiosen Gemeindebauten des Roten Wien. In nur vier Jahren gelang es, Zehntausende Wohnungen zu errichten. Die Wohnungen waren klein, zunächst umfassten sie mehrheitlich weniger als 40 Quadratmeter. Gemessen an der Vorkriegssituation, wo ein sehr großer Teil der Arbeiterfamilien gedrängt in dunklen Einzimmerwohnungen ohne eigenen Gas- und Wasseranschluss hauste und das Bettgängerwesen verbreitet war, bedeutete dies einen Fortschritt. Licht kam von der Straße oder dem weiten Innenhof mit Kinderspielplätzen und Planschbecken herein, Wohn- und Schlafräume waren mit pflegeleichten Hartholzböden ausgestattet, eigene Toiletten, Gas-, Elektro- und Wasseranschlüsse brachten Komfort, Gemeinschaftsbäder, Bibliotheken, Kinos sorgten für Hygiene, Bildung und Kultur. Wenn der Wiener Arbeiter auch mit seinem Reallohn vor Rom und Warschau fast am Ende der europäischen Metropolen rangierte, die Gemeindebauwohnung hob ihn entschieden über dieses Niveau hinaus.127 So kam es, dass die österreichische Arbeiterschaft der Sozialdemokratie folgte und auch Angestellte und kleine Beamte in die Partei drängten. „Sozialdemokratie, das war damals noch eine Partei der Hoffnung, die als Ziel die Umwandlung der Gesellschaft zum Sozialismus in sich trug. Es war die Partei eines Adler, Bauer, Seitz, Tandler und Renner. Der Spruch ,Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will‘, der traf nun buchstäblich auf die Eisenbahner zu“,
124 125 126 127
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Gulick 1950e, S. 264 – 292; Adam 1983 Bauer 1976j Gulick 1950f; Wolfgruber 1997; Byer 1988 Gulick 1950g, S. 128 – 130, 170 – 177; Weihsmann 1985
erinnert sich der Eisenbahner Karl Mandler an diese große Zeit.128 Nach einem Wort Otto Bauers war die Partei ihren Mitgliedern Vaterhaus und Lebensinhalt. Émile Vandervelde rühmte die österreichische Sozialdemokratie als eiserne Division in der Internationale.129 Zum zehnten Jahrestag der Republik zogen wohl eine Viertelmillion Anhänger am neuen Republikdenkmal mit den Büsten Victor Adlers, des ersten sozialistischen Wiener Bürgermeisters Reumann und des Sozialministers Hanusch vorbei – eine Partei, die für Demonstrationen zu groß geworden sei, wie ein ausländischer Korrespondent staunend fand.130 Im Jahre 1929 erreichte die Mitgliederzahl mit 718.026 ihren Höhepunkt, etwa acht Mal so viele wie vor dem Krieg auf demselben Territorium, nahezu jeder zweite der reichlich 1,6 Millionen Arbeiter; ein Drittel der Mitglieder waren Frauen.131 Mit 1,54 Millionen Stimmen von 42,3 Prozent der Wähler erreichte die Sozialdemokratie 1927 fast wieder den Stand des revolutionären Frühjahrs 1919. Sie war unverändert die stärkste Fraktion im Parlament, doch fern der Mehrheit und der Macht.132 Otto Bauer wusste, um das zu ändern genügte die soziale Basis der Arbeiterschaft nicht, man musste die Mehrheit des Volkes gewinnen, das ländliche, tief katholische, dem Moloch Wien fremd und misstrauisch gegenüberstehende Österreich. Der Industriellensohn und Wiener Intellektuelle näherte sich dem Problem auf ganz eigene Weise. Er studierte die alten Weistümer und was er an Quellen und Untersuchungen zur Agrargeschichte des Alpenlandes finden konnte – anders als die deutsche Agrargeschichte war dies noch ein vernachlässigtes Feld. Daraus wuchsen die historisch-politische Abhandlung „Der Kampf um Wald und Weide“, das sozialdemokratische Agrarprogramm vom November 1925 und eine dicke Broschüre zur Erläuterung der Agrarpolitik.133 Bauer setzte sich mit der deutschen Agrardebatte der neunziger Jahre auseinander und begründete mit David gegen Kautsky, dass die österreichischen Bauern auch unter der globalen Konkurrenz des modernen Kapitalismus effizient wirtschaften könnten. In einer sozialistischen Gesellschaft sollte dies erst recht möglich sein. Diese Erkenntnis gewinnt erst im 21. Jahrhundert wieder Anhänger, nachdem die großbetriebliche Landwirtschaft sowohl sozialistischen wie kapitalistischen Typs als Weg zur Transformation bäuerlicher Gesellschaften versagt hat.134 Bauer beabsichtigte zunächst, die Bauern von der Überlast der Hypothekarkredite zu befreien. Staatliche Agrarhandelsmonopole sollten die Bauern vor Spekulation und Verschuldung schützen und den bäuerlichen Genossenschaften Marktzugang gewährleisten. Der in Österreich seltene Großgrundbesitz und der Wald sollten sozialisiert, das Gemeindeeigentum gestärkt werden. Die allgemeine Nutzung von Wald und Weide sollte als Almende wiederhergestellt werden. Auch daran erinnern sich nun wieder die Verfechter nachhaltigen Wirt-
128 129 130 131 132 133 134
Mandler 1996, S. 10 Miller 1985, S. 10 f. Gulick 1950a, S. 46 Gulick 1950c, S. 442; Bruckmüller 1985, S. 478 Gulick 1950c, S. 433 f., 461; Republik Österreich. Bundesministerium für Inneres Bauer 1976e; Bauer 1976n; Bauer 1976b Pearce, Gockel 2012, S. 13 – 32, 321 – 354
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schaftens.135 Gemeindesozialismus war ein Schlüsselbegriff in Bauers Konzept. Dazu müssten die Gemeinden der privilegierten Bauernschaften für die Kleinbesitzer geöffnet werden. Bauer entwarf ein Siedlungsprogramm für Landarbeiter, um sie Haushalt und Herrschaft der Großbauern zu entziehen und den Industriearbeitern gleichzustellen. Bauers Programm ähnelte dem der bulgarischen Agrarsozialisten in vielem, vom landwirtschaftlichen Bildungswesen bis zu den Genossenschaften. Wie Stambolijski, von dem er wohl nichts wusste, und wie Tschajanow, dessen Schrift über die bäuerliche Wirtschaft er zitierte, sah er das Arbeitseigentum der Bauern eingebettet in starke Genossenschaften und Gemeinden als Basis des Sozialismus auf dem Dorf. Bauers Schriften zur Agrarfrage beeinflussten den Slowaken Milan Hodža, Landwirtschaftsminister und Ministerpräsident der Tschechoslowakei, bei seiner Konzeption einer Agrardemokratie des Dritten Weges.136 – Mit raschem durchschlagendem Erfolg war nicht zu rechnen. Das Misstrauen gegen die als kollektivistisch verschriene Sozialdemokratie fand durch Stalins Zwangskollektivierung reiche Nahrung. Die Sozialdemokraten holten 1930 auf dem Land nur sechs Prozent der Stimmen, weit abgeschlagen hinter Christlichsozialen, Landbund und Deutschnationalen.137 So sehr die bäuerliche Bevölkerung dem sozialdemokratischen Kollektivismus misstraute, so tief verabscheute sie zusätzlich den Atheismus der Sozialisten. Schon deshalb war das ländliche Österreich fest in der Hand der Christlichsozialen. Bauer suchte die Auseinandersetzung mit der Programmschrift „Sozialdemokratie, Religion und Kirche“. Diese „Partei der bürgerlich-großbäuerlichen Massen, die sich in allen wirtschaftlichen und sozialen Fragen unter die Führung der Großbourgeoisie, in allen Kulturfragen unter die Führung der Kirche gestellt“ habe und unter dem Vorsitz des Prälaten Ignaz Seipel zum „Konzentrationszentrum aller antimarxistischen Elemente“ bestimmt sei, vertrete nie und nimmer die Sache des breiten Landvolks.138 Bauer unterschied zwischen der Kirche als Machtapparat und der Religion als Volksfrömmigkeit: „Der Papst, die Kardinäle, die Bischöfe, die Prälaten – das ist die Kirche. Der arme Kleinbauer, der, wenn die Wolken aufziehen und der Hagelschlag die Frucht auf dem Felde, die Frucht mühseliger Jahresarbeit zu vernichten droht, die Hände faltet und betet: ,Unser täglich Brot gib uns heute‘ – das ist Religion“.139 Er führte aus, wie die Ketzerbewegungen allezeit eine arme und machtlose Kirche gewollt hätten, sodass die sozialdemokratische Forderung nach Trennung von Kirche und Staat aus dem Schoß des Christentums selbst käme. Er widmete seine Schrift den Täufern, die von den Habsburgern zur Reformationszeit mit Feuer und Schwert verfolgt wurden. Sozialismus und Materialismus seien nicht unbedingt gekoppelt. Ein Sozialist könne auch gläubig sein.140 135 136 137 138 139 140
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Helfrich 2012 Holec 2010, S. 47 f. Leser 1985b, S. 226 – 228; Mattl 1985, S. 226 f.; Hanisch 2011, S. 228 – 230 Bauer 1976m, S. 462 Bauer 1976m, S. 464 Bauer 1976m, S. 449 – 451; 492, 509 f.
Diese Grundsätze wurden wie das Agrarprogramm Teil des Linzer Programms von 1926. Dieses Programm enthielt die politische Quintessenz des Austromarxismus. Gemäß dem von Bauer stets verkündeten Zentrismus suchte es einen Weg zwischen der Scylla Bolschewismus, die die Höllenhunde des Bürgerkriegs entfesselt, und der Charybdis Reformismus, die alle Zukunftsvision in ihren Schlund saugt und nur die leere Hülle des Alltagspragmatismus zurücklässt. Das Programm formte aus dem Projekt des Roten Wien eine Zukunftsvision für das Land. Diese Zukunft schien real und erreichbar. Die politische Herrschaft der Arbeiterklasse und ihrer Partei sollte wie in Wien im Kampf um die Seelen der Volksmehrheit durch Wahlen errungen und nicht anders als in den Formen der Demokratie ausgeübt werden. Weitergehende Vorstellungen zur Überwindung des Kapitalismus knüpfte das Programm an die Veränderung der internationalen Großwetterlage durch sozialistische Siege. Nur so sei auch die wirtschaftliche Entmachtung der Bourgeoisie entsprechend dem Sozialisierungsprogramm Otto Bauers von 1919 möglich. Das Programm rechnete mit dem Widerstand des gegnerischen Lagers. Es beschwor die Loyalität von Polizei und Bundesheer unter sozialdemokratischem Einfluss. Nur wenn sich die Bourgeoisie „durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen“.141 Gewalt und Diktatur waren nur defensiv, in Notwehr gedacht. Das bürgerliche Lager leitete daraus in Verdrehung der Worte und der Tatsachen eine staatsfeindliche Bedrohung durch die Sozialdemokratie ab, so die eigenen Vergehen gegen die Demokratie bis hin zum faschistischen Ständestaat rechtfertigend. Linkssozialisten sahen im Abscheu vor Diktatur und Bürgerkrieg, den das Programm ausdrückte und den Otto Bauer in Reden und Schriften bekundete, eine Einladung an die Gegenseite zur gewaltsamen Offensive.142 Sie sollten allzu bald Recht erhalten.
Kein Schlachtenlenker Nüchtern betrachtet gab es keine sozialistische Nahperspektive, nicht einmal das Gleichgewicht der Klassenkräfte, das nach Otto Bauers Einsicht erst sozialdemokratische Politik in der bürgerlichen Republik ermöglichte. Die Gewichte verschoben sich stetig zuungunsten der Arbeiterschaft. Sie bezahlte die Währungsstabilisierung mit Niedriglöhnen und Arbeitslosigkeit, während Industrie und marktproduzierende Bauernschaft gewannen.143 Eine liberaldemokratische Kraft fehlte, so klaffte ein Abgrund zwischen den politischen Lagern der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten. Der Weltanschauungskonflikt zwischen den Lagern hatte das Hasspotential eines Religionskampfes. Religion und Kirche ließen sich eben nicht trennen, wie Otto Bauer es wünschte. In einem Hirtenbrief zum Advent 1925 schrieben die Bischöfe:
141 Bauer 1976l, S. 1024 142 Hanisch 2011, S. 230 – 232; Butterwegge 1991, S. 317 – 321 143 Bruckmüller 1985, S. 463 – 501
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„Der Heiland richtet diese Worte ernsthaft an die Arbeiter: Was gewinnt ihr, wenn ihr bessere Arbeitsbedingungen bekommt, die Macht im Staate ergreift, eine Diktatur über eine andere Gesellschaftsschicht errichtet und eure Machtgelüste stillt – gleichzeitig aber euer ewiges Seelenheil verliert? […] Die Sozialdemokratie ist euer Verderben und das Verderben der Gesellschaft“.144 Die Lager rüsteten nicht nur verbal, sondern auch paramilitärisch gegeneinander auf. Nach dem Vertrag von St. Germain gab es nur ein kleines Berufsheer, aber genug arbeitslose Frontkämpfer auf beiden Seiten. So entstanden rechte Heimwehren und der sozialdemokratische Republikanische Schutzbund im Gleichtakt. Die sozialdemokratische Parteiführung verfügte zwar nach der Auflösung der Volkswehr über umfangreiche Waffenlager, der Schutzbund wurde jedoch nur mit Knüppeln ausgerüstet und bis 1927 nicht militärisch ausgebildet.145 Die einen störten Maikundgebungen, die anderen Fronleichnamsprozessionen, beide gerieten immer wieder blutig aneinander. Bruckmüller sieht seit 1927 Österreich im latenten Bürgerkrieg.146 Den Auftakt bildete der blutige 15. Juli 1927. Am Vortag war der Freispruch des Geschworenengerichts im Schattendorfprozess ergangen. In jenem burgenländischen Grenzort hatten im Januar rechte Frontkämpfer im Konflikt mit Schutzbündlern einen Invaliden und ein Kind erschossen. Es war nicht das erste Mal, dass Tote auf Seiten der Sozialdemokraten ungesühnt blieben. Die Wiener Arbeiter waren aufs äußerste erbittert, und der Leitartikel des Chefredakteurs der „Arbeiter-Zeitung“, Friedrich Austerlitz, verlieh der Empörung Worte. Am nächsten Morgen, einem Freitag, streikten die Elektrizitätswerker, die Straßenbahnen standen still und die Arbeiter zogen in ungeordneten, langen Zügen in die Innenstadt. Vor dem Parlament warf sich ihnen berittene Polizei entgegen, die mit Säbeln auf die Menge eindrang und die Erbitterung ins Maßlose steigerte. Der Justizpalast, die vermutete Festung der Klassenjustiz, ging in Flammen auf. Schließlich verteilte der Kommandant, da Bürgermeister Karl Seitz den Einsatz des Heeres verweigerte, an Polizei und unausgebildete Wachtleute Waffen. Eine wilde Hatz auf fliehende Arbeiter begann, die bis in den nächsten Tag dauerte. Am Ende waren 89 Tote und annähernd tausend Verletzte auf Seiten der Arbeiter zu beklagen, auf der Gegenseite gab es rund 200 Tote und Verletzte.147 Otto Bauer und der Parteivorstand standen angesichts der Ereignisse wie gelähmt beiseite. Als in der Nacht zum 15. Juli eine Delegation der Elektrizitätswerker ins Parteihaus kam, wich Otto Bauer ihr aus. Das berichtet Ernst Fischer, der damals in der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ tätig war. Er selbst habe zu Streik und Demonstrationen geraten, erinnerte sich der nachmalige Kommunist.148 Bauer erklärte danach in der Parlamentsrede, dass der Parteivorstand keinen Protest gegen ein Geschworenenurteil wollte, weil die Geschworenengerichte ureigene sozialdemokratische Forderung und Errungenschaft seien. Und er gestand ein, dass es falsch war, nicht zu geordneter Demonstration – wogegen, wofür? – aufgerufen und nicht
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Zitiert: Gulick 1950c, S. 437 Naderer 2005, S. 13 Bruckmüller 1985, S. 506 Botz 2002, S. 43 Botz 2002, S. 33
den Schutzbund mobilisiert zu haben.149 Wahrscheinlich hätte der Parteivorstand so die Erregung dämpfen und die gewalttätige Eskalation eindämmen können. Da liegt die Schuld Otto Bauers und des Parteivorstands. Otto Bauer empfand die Juliereignisse als persönliche Niederlage. Aber die vielen Toten und Schwerverletzten forderte der späte, unkoordinierte und maßlose Polizeieinsatz. Letztlich standen hinter dem Volkszorn länger wirkende Faktoren, wie die Kette ungesühnter Opfer von Auseinandersetzungen mit den Heimwehren und der starke soziale Druck von Arbeitslosigkeit und Niedriglohnpolitik.150 Die Linken warfen dem Vorstand vor, Demonstranten und Schutzbündlern angesichts der um sich schießenden Polizei Waffen verweigert zu haben. Bauer und der Vorstand hielten dagegen, dass sie keinen revolutionären Aufstand entfesseln dürften, ohne dass der im Linzer Programm genannte Fall – der konterrevolutionäre Angriff auf die demokratische Republik – gegeben wäre. Auf dem nachfolgenden Parteitag brachen die Gräben auf, Otto Bauers langjährige Gefährten Karl Renner und Max Adler attackierten ihn von rechts und links, jener plädierte für eine unbedingte Koalition mit den Christlichsozialen, dieser für die Diktatur des Proletariats.151 Nicht diese oder jene Fehler der Führer trieben die österreichischen Arbeiter in die Defensive, sondern alles wandte sich gegen sie, der Aufstieg faschistischer Regimes in Europa und die Weltwirtschaftskrise, Weltgeist und Weltmarkt. In den folgenden Jahren rüsteten die Heimwehren auf. Die Agrarkrise trieb ihnen die Bauernsöhne in Scharen zu. Sie probten den Putsch, angeführt von Ernst Rüdiger Starhemberg, einem Aristokraten, der die Restauration der Habsburgermonarchie in Österreich und Ungarn betrieb, und geschult von Bundesstabsleiter Waldemar Pabst, der den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht befohlen und mit Kapp und Lüttwitz gegen die deutsche Republik geputscht hatte. Offen gefördert von Regierung und Christlichsozialer Partei und in tätiger Waffenbrüderschaft mit dem italienischen und ungarischen Faschismus gelangten die Heimwehren in den Nationalrat und in die Regierung.152 Die Heimwehren suchten die Konfrontation mit der Arbeiterbewegung in den Industriezentren; dort folgten nun die Demonstrationen des Republikanischen Schutzbundes im Wochenabstand den Heimwehraufmärschen. Regierung und Unternehmer nötigten Staatsangestellte, Eisenbahner und Arbeiter, aus den sozialdemokratischen Gewerkschaften in Heimwehrgewerkschaften und „Vaterländische Front“ überzutreten und bauten die „sozialen Lasten“ aus der Revolutionszeit ab. Die Angriffe auf alle Bereiche sozialdemokratischen Lebens waren schon 1931 so massiv, dass der Parteivorstand für den Fall eines faschistischen Staatsstreiches die Parteigelder, das Archiv und die Gelder von parteinahen Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften bei Friedrich Adler in Zürich deponierte.153 Die Weltwirtschaftskrise traf die exportorientierten, monostrukturellen österreichischen Industrieorte schwer. Die Arbeitslosigkeit demoralisierte die Arbeiter und ließ ihre Waffen im wirtschaftlichen Kampf stumpf werden. Die europaweit berühmte Studie von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld über die Textilarbeitersiedlung Marienthal bei Wien zeigt die Folgen in Alltag 149 150 151 152 153
Bauer 1976b, S. 538 f.; Fischer 1987, S. 168 – 182 Botz 2002, S. 43 – 46 Leser 1985a, S. 32; Pfabigan 1985, S. 47 f.; Butterwegge 1991, S. 351 – 353 Kerekes 1966; Wiltschegg 1985, S. 43 – 77; Gietinger 2009 Friedrich Adler Papers
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und Mentalität; Otto Bauer hat sie angeregt.154 Er untersuchte gleichzeitig die Rationalisierung nach dem Weltkrieg am Beispiel Deutschlands und der USA. In Anwendung der Grenznutzentheorie der österreichischen klassischen Schule wies er nach, wie Rationalisierung sich immer wieder in Krisen erschöpfen müsse. Bauer erkannte wie sein Studienkollege Schumpeter die ungeheure innovative Kraft der kapitalistischen Rationalisierung während des Aufschwungs. Er begriff mit Marx und Schumpeter die schöpferische Zerstörung während der Krise, die in der Ausmerzung des Veralteten liegt. Aber die betriebswirtschaftliche Effizienzsteigerung habe ihre Kehrseite in volkswirtschaftlicher Fehlrationalisierung, weil die Allgemeinheit die Kosten der Arbeitslosigkeit tragen müsse. Das sowjetische Kontrastprogramm stalinistischer Kollektivierung und Industrialisierung wies er als menschenverachtend zurück, es führe gleichfalls in soziale Krisen. Die Arbeiterklasse müsse einen demokratischen Weg finden, betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Effizienz zusammenzuführen.155 Otto Bauers Sozialdemokratie verharrte in trotziger Defensive, während die christlichsoziale Regierung seit 1932 in Koalition mit der Heimwehr eine österreichische Variante des Faschismus etablieren wollte – ständestaatlich und klerikal, angelehnt an Mussolini-Italien den großdeutschen Nationalsozialismus abwehrend, der mächtig herüber schwappte.156 Im Rückblick nach der Niederlage bekannte Bauer sich zu drei Fehlentscheidungen.157 Hätte man nicht 1932 die christlichsoziale Regierung tolerieren sollen, anstatt im Nationalrat auf Neuwahlen hinzusteuern und so deren Koalition mit der Heimwehr zu begünstigen? Falsch schien schon, das möglicherweise ernst gemeinte Koalitionsangebot Seipels nach dem Zusammenbruch der österreichischen Creditanstalt 1931 nicht angenommen zu haben. Aber selbst Karl Renner hatte den Beschluss des Parteivorstands unterstützt, nicht beim massiven Sozialabbau in der Regierung mitzutun.158 Als zweiten Fehler nannte Bauer den Rücktritt Karl Renners als Präsident des Nationalrats am 4. März 1933. Dies geschah auf Bauers Rat, weil die Fraktion mit Renners Stimme Repressionen gegen Eisenbahner verhindern wollte. Das daraus folgende Durcheinander nutzte die Regierung Dollfuß, um den Nationalrat zu schließen. Bauer selbst sah es als dritten und schlimmsten Fehler, gegen diesen Staatsstreich nicht zum Aufstand geschritten zu sein. Noch wäre der Schutzbund stark gewesen, die Waffen zugänglich, die Arbeiter nicht im gleichen Maße entmutigt, wie ein Jahr später. Wahrscheinlich war dies wirklich der letzte Moment, um den Kampf für die Rettung der österreichischen Demokratie aufzunehmen – mit ungewissem Erfolg, denn die Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland verschob im März 1933 die Gewichte in Mitteleuropa entscheidend. Otto Bauer hielt in dieser Situation eine Rede vor den Vertrauensleuten der Wiener Sozialdemokratie, in der er der Regierung noch einmal die Zusammenarbeit zur Bewältigung der Krise und zur Abwehr der deutschen Nationalsozialisten anbot. Er warnte, dass,
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Jahoda et al. 1933; Lazarsfeld 1969, S. 275 Bauer 1976k, S. 861 – 914; Chaloupek 2009 Botz 1987a, S. 155 – 180; Tálos et al. 2005 Bauer 1976d, S. 987 – 990 Leser 1985b, S. 272 – 275, 295 – 302; Botz 1987a, S. 156 – 160; Hanisch 2011, S. 273 – 277
„wenn es zum Entscheidungskampf kommt, Opfer fallen würden, die wir vor den Müttern dieses Landes nur verantworten können, nachdem wir vorher alles getan haben, was eine friedliche Lösung auf dem Boden der Volksfreiheit möglich macht“.159 Anderenfalls, wenn die Partei zerschlagen werden sollte, wollten sie kämpfen bis zum letzten Blutstropfen. Da hielt es die mehr als tausend Männer und Frauen nicht auf ihren Sitzen, da riefen sie mit hochgereckten Fäusten „Freiheit! Freiheit! Freiheit!“ So berichtet Julius Braunthal, der dabei war.160 Es war Otto Bauers großartigste und enttäuschendste Rede, schreibt Otto Leichter, Ermutigung und Beschwichtigung in einem.161 Bauers Berufung auf die Verantwortung vor den Müttern des Landes diente seinen Gegnern noch lange für Hohn und Spott. Tatsächlich ging Bauer mit seiner Partei in den folgenden Monaten sehr weit in der Suche nach einer Verständigung mit der Regierung, um die Legalität der Partei zu erhalten. Er wollte sogar das ständestaatliche Konzept des Kanzlers unterstützen, wenn nur der Parlamentarismus wiederhergestellt werde.162 Schlau nutzte der Kanzler Dollfuß das Zögern. Anfang Mai schrieb er an Mussolini: „Die Sozi haben sich alles gefallen lassen, weil sie sich sagen, es sind noch immer nicht die Nazi. Die Meinung mancher Herren, es noch schärfer und rascher zu machen. Aber nichts geht den Sozi mehr auf die Nerven als diese gewisse, langsame Taktik. Alles auf einmal bringt die Leute zum Kampf“.163 Dollfuß ging mit Notverordnungen nach deutschem Vorbild vor; Schritt für Schritt verbot er den Schutzbund und sozialdemokratische Versammlungen, ließ die Arbeiterpresse zensieren und nahm den Gewerkschaften das Streikrecht.164 Gleichzeitig lieferten die Italiener über Ungarn Waffen nach Österreich, die Auflagen von St. Germain missachtend, und die deutschen Nationalsozialisten geboten ihren österreichischen Trabanten, die Kämpfe mit der Heimwehr einzustellen.165 Die Regierung ging Mitte Januar zur Offensive über, nachdem ein italienischer Staatssekretär in Mussolinis Auftrag „den Kampf gegen den Marxismus, die Reform der Verfassung in einem antiparlamentarischen und korporatistischen Sinne“ gefordert hatte. Als Anfang Februar 1934 ein Großteil der Schutzbundführer verhaftet und ihre Waffenlager ausgehoben wurden, als Vizekanzler und Heimwehrführer Fey am 11. Februar den Sozialdemokraten drohte: „Wir werden morgen an die Arbeit gehen und wir werden ganze Arbeit leisten“, als in der Frühe des 12. Februar die Schutzbündler in Linz den Verteidigungskampf
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Zitiert: Butterwegge 1991, S. 451 Braunthal 1961, S. 85 Leichter 1970, S. 40 f. Hanisch 2011, S. 291 f. Zitiert: Hanisch 2011, S. 285 Botz 1987b, S. 189 Kerekes 1966, S. 180
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aufnahmen, da musste Otto Bauer alle Bedenken beiseiteschieben und dem Vorstand raten, Generalstreik und Aufstand einzuleiten.166 Otto Bauer und Julius Deutsch saßen in der improvisierten Kampfleitung in einem der Wiener Gemeindebauten, dem Ahornhof. Sie sandten Motorradboten in die Ecken des Landes, um das Signal zum Kampf zu überbringen. Eine Sekretärin stenographierte die Radioberichte, ansonsten gab es kaum Verbindungen zu den Orten der Kämpfe in den Wiener Arbeitervierteln außerhalb des Gürtels. Der Schutzbund kämpfte unkoordiniert, die militärischen Führer saßen im Gefängnis, die Waffenverstecke fand man daher oft nicht. Auch der Eisenbahner Karl Mandler stand so in Kufstein mit den Seinen ohne Waffen auf verlorenem Posten und irrte dann mittel- und obdachlos durchs Land.167 Nur in Oberösterreich und der Steiermark erhoben sich Schutzbundeinheiten. Der entscheidende Generalstreik kam nicht zustande. Die Eisenbahnen fuhren, wie Deutsch in der Nacht im Blick von der Höhe wahrnahm, und am Morgen des 13. Februar bewiesen die pünktlich erschienenen Zeitungen, dass auch die Druckereien arbeiteten. Heimwehr, Polizei und Bundesheer benötigten zwar vier Tage, um den letzten Widerstand zu brechen, doch der Artilleriebeschuss auf die Gemeindebauten, in denen sich die Schutzbündler verschanzt hatten, entschied die Niederlage.168 Der Aufstand besiegelte die Tragödie der stolzen österreichischen Sozialdemokratie. Hunderte Tote und Tausende Verletzte waren zu beklagen, darunter viele Frauen und Kinder. Die Sieger verhängten das Standrecht. Neun Schutzbündler starben am Galgen, einen Schwerverletzten schleppte man auf der Trage dorthin. Etwa tausend wurden angeklagt, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und in Konzentrationslagern interniert. Vielfach mehr entkamen in die Tschechoslowakei, von wo wiederum mindestens tausend in die Sowjetunion abgeschoben wurden. Ganze Kontingente Schutzbündler, sowohl aus den tschechoslowakischen wie aus den sowjetischen Lagern, meldeten sich zum Kampf im spanischen Bürgerkrieg. Julius Deutsch war dort General, sein Sohn fiel wie Hunderte andere Schutzbündler in Spanien oder in der Sowjetunion Stalins Terror zum Opfer.169 Die Sozialdemokratische Partei wurde samt allen ihren Organisationen und Publikationen verboten, ihre Führer verhaftet, ihr Vermögen beschlagnahmt. Den Bürgermeister Karl Seitz trug man gewaltsam aus dem Wiener Rathaus.170 Dollfuß wurde seines Sieges nicht froh, er bahnte letztlich Hitler den Weg nach Österreich. Zwar konnte Dollfuß mit Mussolini und dem ungarischen Faschistenführer Gömbös am 17. März 1934 die sogenannten Römischen Protokolle unterzeichnen, aber die Achse BudapestWien-Rom erregte Unwillen in Berlin, ebenso die wieder aufflammenden Kämpfe zwischen Heimwehr und österreichischen Nationalsozialisten. Im Juni putschten die Nationalsozialisten und ermordeten Dollfuß.171
166 Botz 1987b, S. 191; Naderer 2005, S. 312 – 315 167 Mandler 1996, S. 87 168 Fischer 1987, S. 256 – 287; Botz 1987b, S. 192 – 195; Marschalek 1990, S. 10 – 14; Naderer 2005, S. 324 – 335 169 McLoughlin, Schafranek 1999, S. 327 – 330 170 Marschalek 1990, S. 21 171 Kerekes 1966, S. 187 f.; Botz 1987b, S. 195 – 197
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Eines der wirksamsten Mittel der Dollfuß-Propaganda, um die Geschlagenen zu demütigen, war die Verbreitung von Gerüchten über die Flucht Otto Bauers vom Kampfplatz, vorzeitig und auch noch unter Mitnahme der Parteikasse. Die Vorwürfe sind bis heute lebendig, darum nach polizeilichen und anderen Quellen genauestens untersucht und, soweit sie die moralische Integrität Otto Bauers in ein schiefes Licht rücken, widerlegt.172 Im Kern ist der Darstellung Joseph Buttingers, eines Führers der illegalen Revolutionären Sozialisten, nichts hinzuzufügen: „Noch in der qualvollen, bereits ohne Verbindung mit den Kämpfen zugebrachten Nacht von Montag, den 12., auf Dienstag, den 13. Februar, hatte Bauer ein längeres Verbleiben in Wien als sinnlos erkannt und seinen besorgten Mitarbeitern die Erlaubnis erteilt, seine Flucht vorzubereiten. Pleyl hatte spät am Abend erfahren, dass Ernst Paul aus dem Sekretariat der deutschen Sozialdemokratie der Tschechoslowakei mit einem Auto in Wien eingetroffen war und seine Dienste anbot. Mit ihm leitete Pleyl Bauers Flucht in die Wege. Zeitlich früh am Dienstag verließ Bauer als Marktgeher verkleidet die Wohnung, in der er die Nacht zugebracht hatte, um an verabredeter Stelle das Auto Pauls zu besteigen. Mit dem Reisepass des ebenfalls in Wien angelangten Redakteurs des Prager ‘Sozialdemokrat’, Emil Franzel, ausgestattet wurde der Führer der im Untergrund befindlichen Sozialdemokratie bei Preßburg über die österreichische Grenze in die Tschechoslowakei gebracht“.173 Die Niederlage wird immer wieder Otto Bauer angelastet, der Generalstreik und Aufstand erst einleitete, als es schon zu spät war. Der Vergleich mit dem Dänenprinzen Hamlet, dem ewig Zögerlichen, zieht sich durch die Erinnerungen der Zeitgenossen und die Urteile der Historiker. Ihn hemmte „der bange Zweifel, welcher zu genau bedenkt den Ausgang“, zitiert Ernst Fischer Shakespeare.174 Braunthal schreibt, Bauer sei durch die Natur nicht zum Schlachtenlenker bestimmt gewesen, er sei nicht aus Lenins Teig gemacht. Im Gegensatz zu Lenin konnte er kein Blut sehen, merkt auch Leichter an. Bauer hat die Feldschlachten des Klassenkampfes bis zuletzt zu vermeiden gesucht, gewiss nicht aus Feigheit, sondern aus Verantwortungsbewusstsein. Selbst Norbert Leser, der ihm gar nicht wohl will, spricht von Bauers Humanismus als Urgrund seines Abscheus vor Gewalt.175 Aber hätte eine rechtzeitige Entscheidung für den Aufstand tatsächlich den Vormarsch des Faschismus und Nationalsozialismus stoppen können, wie Butterwegge meint, oder wäre im Gegenteil eine bedingungslose Unterwerfung unter christlichsoziale Politik nötig gewesen, um Österreichs Unabhängigkeit von Nazideutschland zu behaupten, wie Hanisch nahelegt?176 Historiker als rückwärtsgewandte Propheten sind naturgemäß allemal die besseren Schlachtenlenker. Bauer hatte in seiner Fehler-
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Marschalek 1990, S. 14 f. Buttinger 1953, S. 51 f. Fischer 1987, S. 340 Braunthal 1961, S. 83; Leichter 1970, S. 246, 289 – 294; Ellenbogen, Weissensteiner 1981, S. 72; Leser 1985b, S. 243 f. 176 Leser 1985b, S. 34 – 36, 192, 194 f., 344 – 351; Butterwegge 1991, S. 454; Hanisch 2008, S. 220; Hanisch 2011, S. 91 f.; Ellenbogen, Weissensteiner 1981, S. 67
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analyse unmittelbar nach dem Kampf die Schicksale der ungarischen Sozialisten 1919, der italienischen 1922 und der deutschen 1933 betrachtet, die alle untergingen, obwohl die einen eine radikal linke, die anderen eine rechte reformistische Politik trieben. Daraus schloss er, dass die österreichischen Sozialisten sich offenbar mit keiner anderen Taktik hätten behaupten können.177 Aus der Niederlage wuchs der Mythos. Die Schriftsteller woben ihn, von Anna Seghers’ Psychogramm des verlorenen Schutzbündlers vor Gericht in der Novelle „Der Weg durch den Februar“, über Stefan Zweigs Betrachtungen des unbeteiligten Zeitzeugen, bis zu Erich Frieds Erinnerung an das Auflachen der Großmutter angesichts der regierungsamtlichen Diffamierungen aus dem Radio.178 Anderswo in Europa schöpften Sozialisten Mut, weil die österreichischen Sozialdemokraten Widerstand gegen den Faschismus gewagt hatten. Der Refrain des Liedes „Arbeiter von Wien“ von Fritz Brügel aus den Julitagen 1927 klang fortan in vielen Sprachen: „So flieg, du flammende, du rote Fahne, voran dem Wege, den wir ziehn. Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer, wir sind die Arbeiter von Wien“.
Die illegale Partei Otto Bauer durchlitt in den ersten Wochen des Exils tiefe Niedergeschlagenheit. Selbstanklagen wie die schon eine Woche vor dem Aufstand zu Otto Leichter geäußerte beherrschten sein Denken: „Ich weiß, was man von mir sagen wird: dass ich die Partei auf ihrem Höhepunkt von Victor Adler übernommen habe – und dass dies alles nun so endet“.179 Am 2. März berichteten ihm Otto und Käthe Leichter aus Wien von einem Komitee jüngerer Funktionäre, das die Geschlagenen sammelte: „Leichter brachte ihm, was seinem Leben in der Emigration einzig und alleine Sinn geben konnte: Eine illegale Organisation, die um seine Anerkennung warb, deren erster Schritt zu ihm führte, die von Leuten geschaffen und gelenkt wurde, deren Ergebenheit er sicher war“.180 Die illegale Organisation arbeitete unter dem Namen „Revolutionäre Sozialisten“ – zu Bauers anfänglicher Enttäuschung, denn er hätte den Parteinamen gern erhalten gesehen, doch
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Bauer 1976d, S. 990 Weinzierl 1984 Leichter 1970, S. 223; Ellenbogen, Weissensteiner 1981, S. 84 f. Buttinger 1953, S. 59
die jungen Leute wollten den Neuanfang. Otto Bauer bildete in Brünn ein „Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten“, das mit dem Wiener Komitee Kontakt hielt, und er arbeitete schon im März die Prinzipien und Statuten der illegalen Partei aus. Vor allem gründete er die „Arbeiter-Zeitung“ und die Zeitschrift „Der Kampf“ neu, sein ureigenes, geistiges Feld der Einwirkung auf die Bewegung zurückgewinnend. Wilhelm Ellenbogen meint: „Die unmittelbare Wirkung dieser seiner neu erwachten Aktivität war auch das Neuerwachen der Liebe der Arbeiterschaft zu ihrem Vorkämpfer, die unter der unmittelbaren Einwirkung der Februarniederlage zeitweilig einer Erbitterung gegen ihn gewichen war“.181 Doch so einfach lagen die Dinge nicht. Zwar sammelten sich die weitaus meisten verbliebenen Sozialisten wieder unter sozialdemokratischer Fahne, aber nicht unbeträchtliche Gruppen gingen zu den Kommunisten und – vor allem im ländlichen Österreich – zu den Nationalsozialisten über, die beide vom Dollfuß-Regime bekämpft wurden. Während weniger Wochen nach dem 12. Februar wuchs die Kommunistische Partei von 3.000 auf 12.000 Mitglieder an. Einer der später bekanntesten Neukommunisten war Ernst Fischer; er ging nach Moskau, da nur die Sowjetunion der faschistischen Flut noch Einhalt gebieten könne.182 Die Revolutionären Sozialisten im Lande knüpften an die Kampfweise und die Ideologie der vorrevolutionären Bolschewiki an. Otto Bauer hinterließ ihnen seine Schrift über die illegale Partei, an der er bis zuletzt gearbeitet hatte. Es war sein Wunsch, dass die Österreicher das Beispiel einer „integralen“, sowohl den sozialdemokratischen wie den kommunistischen Strang des Sozialismus bündelnden Partei geben könnten; er erlebte es nicht.183 Eine junge, schöne Frau war als Kurierin zwischen Brünn und Wien besonders eifrig; ihr Mann, Schiller Marmorek, kümmerte sich in Wien um juristischen Beistand für die angeklagten Schutzbündler. Zwischen Hilde Marmorek und Otto Bauer bestand seit Jahren ein Liebesverhältnis, wie nun offenbar wurde. Wilhelm Ellenbogen beschrieb sie als anbetungswürdiges Wesen, und Otto Leichter meinte, alle, die Otto Bauer zugetan waren, müssten ihr dankbar sein, dass sie seine letzten, oft bitteren Jahre verschönt habe.184 Wieweit diese Liebe Otto Bauers Bindung an seine Frau Helene gelockert hat, bleibt Spekulation. Sie blieben zusammen. Otto Bauer hatte seine Frau noch 1932 nach Warschau begleitet, wo ihr jüngster Sohn Władysław Henryk Landau, inzwischen ein anerkannter Wirtschaftswissenschaftler, schwer erkrankt war. Otto Bauer hat die Sorge seiner Frau um den Sohn, der 1933 starb, und die Freude über den damals einjährigen Enkel Zbigniew geteilt.185 In den Fußstapfen der Großmutter wurde Zbigniew Landau ein weltweit geschätzter Wirtschaftshistoriker. Das Exil in der Tschechoslowakei trennte Helene Bauer von ihrer Tochter Wanda Lanzer. Wanda blieb mit ihrer Familie in Wien, obwohl sie 1934 ihre Anstellung in der Arbeiterkammer verlor. Sie emigrierte 1939 nach Stockholm, nachdem ihr Mann auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ums Leben
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Ellenbogen, Weissensteiner 1981, S. 85; Pelinka 1981; Marschalek 1990, S. 39 – 42 Marschalek 1990, S. 32 f.; Fischer 1987, S. 286 f. Bauer 1976g, S. 432 – 441; Fischer 1987, S. 344 Ellenbogen, Weissensteiner 1981, S. 86 – 91; Leichter 1970, S. 12 Leichter 1970, S. 363; siehe Mróz 2001
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kam. Die Mutter folgte ihr.186 In der schwedischen Hauptstadt war Helene Bauer für Bruno Kreisky, den späteren Vorsitzenden der österreichischen Sozialdemokratie und Bundeskanzler, wie für andere Emigranten Rückhalt. Er beschreibt sie als „eine elegante, äußerst gepflegte Polin, nicht hübsch, aber eine eindrucksvolle alte Dame“. Als sie 1942 starb, widmete er der „bekannten Marxismus-Theoretikerin“ einen einfühlsamen Nachruf. Sie war noch 1941 mit dem Grazer sozialistischen Journalisten Moritz Robinson in die USA weitergereist.187 Otto Bauer musste sich theoretisch mit dem Geschehenen auseinandersetzen. Er veröffentlichte schon 1936 in Bratislava „Zwischen zwei Weltkriegen?“ Dies war nicht die geplante Fortsetzung von „Rationalisierung – Fehlrationalisierung“ von 1931, denn Vorarbeiten und Bibliothek waren durch die Flucht verloren, sondern ein neuer Entwurf zu einer nicht geschriebenen größeren Arbeit.188 Otto Bauers Gedanken kreisten um die Frage, wie der Faschismus angesichts einer starken Arbeiterbewegung an die Macht kommen konnte, und welche Optionen nun blieben. Sie liefen auf die ewige strategische Frage hinaus, ob der evolutionäre Weg der Reformen oder der revolutionäre des gewaltsamen Umsturzes der richtige wäre. Bauer sah auch jetzt noch den reformerischen Weg als grundsätzlich wirkungsvoller: „Die Kapitalistenklasse und der Großgrundbesitz haben die Staatsmacht den faschistischen Gewalthaufen nicht deshalb überantwortet, um sich vor einer drohenden proletarischen Revolution zu schützen, sondern um die Löhne zu drücken, die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerstören, die Gewerkschaften und die politischen Machtpositionen der Arbeiterklasse zu zertrümmern; nicht also, um einen revolutionären Sozialismus zu unterdrücken, sondern um die Errungenschaften des reformistischen Sozialismus zu zerschlagen“.189 Wenn aber der Faschismus dem reformistischen Sozialismus eine unüberwindliche Grenze zöge, wenn die Liquidierung der Demokratie zudem mit wachsender Kriegsgefahr einhergehe, so bleibe nur, das kapitalistische System zu stürzen und den Sozialismus zu erkämpfen.190 Der Zentrist Bauer wurde notgedrungen zum Revolutionär, zum Befürworter des bewaffneten Aufstands. Das war noch einmal ein Bekenntnis zum Februaraufstand. Da dieser Kampf nun verloren war, richtete sich auch Bauers Hoffnung auf die Sowjetunion; sie richtete sich auf die „historische Tat nicht nur in den kapitalistischen Ländern, sondern auch in der Sowjetunion selbst“, also auf eine neue proletarische Revolution.191 In der Sowjetunion sah er die Revolution heranreifen – gegen Stalins Terrorregime und mit der stalinistischen Revolution von oben in den Jahren 1929 bis 1934, mit der die Arbeiterklasse wachse. Stalins „Rechtskurs“ seit 1934, der ein wenig mehr Konsum einräumte, und die Verfassung von 1936, die mehr Demokratie brächte, müssten die Arbeiterklasse stärken. Sie könne nicht 186 187 188 189 190 191
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Kintaert 2011, S. 138 – 143; Nusko Kreisky 1987, S. 336, 338 Bauer, Krätke 2010 Bauer 1976o, S. 147 Bauer 1976o, S. 94 – 109, 159 Bauer 1976o, S. 165 – 179, 215
mehr dulden, dass die Bürokratie sich dauerhaft zur Herrin aufwürfe und über ihren Arbeitsertrag verfügte. Das war eine grandiose Fehleinschätzung. Die Austromarxisten hatten sich seit der Gründung der Kommunistischen Internationale in Moskau gegen die Spaltung der sozialistischen Bewegung gestemmt und deshalb 1921 die Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien angeregt, die von Karl Radek als „Internationale 2½“ verspottet wurde. Diese sogenannte Wiener Internationale schloss sich 1923 wieder mit den reformistischen Parteien zur Sozialistischen Arbeiter-Internationale zusammen. Friedrich Adler war auch hier Sekretär und Otto Bauer neben dem Franzosen Léon Blum geistiger Kopf. Er hielt auf jedem Kongress ein Hauptreferat, Wien 1931 bildete den Höhepunkt.192 Grundsätzliche Solidarität bei ebenso grundsätzlicher Kritik der Sowjetunion bestimmte Bauers Politik in der Internationale auch weiterhin, eine Politik des Brückenbaus und der Verteidigung der Revolution. Anlässlich von Lenins Tod schrieb er 1924 in der Moskauer „Iswestija“: „Die Danton, Marat, Robespierre, die haben einander leidenschaftlich bekämpft, einander auf die Guillotine geschickt. Heute erscheint die Revolution uns doch als ihr gemeinsames Werk. So wird erst kommenden Geschlechtern die große Revolution unserer Zeit dereinst trotz alles dessen, was heute Kommunisten und revolutionäre Sozialdemokraten scheidet, als unser gemeinsames Werk erscheinen“.193 Versöhnung blieb ein zentristischer Traum, um den er mit dem alten Karl Kautsky ebenso stritt wie mit Teilen der menschewikischen Exilorganisation. Der alte Bundist und Menschewik Rafail Abramowitsch setzte sich schon nach dem Erscheinen von „Rationalisierung – Fehlrationalisierung“ im Berliner Julius-Martow-Klub eingehend mit dem „Bauerismus“ auseinander.194 Nur Theodor Dan stand Bauer bei.195 Er war seit jenen Augusttagen des Jahres 1917, als Bauer Gast in Dans Haus gewesen war, nach links gerückt, zu seinem Schwager Julius Martow, und diese in Bauers Sinn zentristische Haltung behielt er auch in der Emigration bei. Gemeinsam mit Theodor Dan und dem französischen Linkssozialisten Jean Zyromski verfasste Bauer Thesen, die die Internationale im Fall eines neuen Weltkriegs zur Verteidigung der Sowjetunion verpflichten sollten – mit geringem Wiederhall.196 Inmitten der allgemeinen Niedergeschlagenheit schien ein Hoffnungsstrahl aus Moskau zu kommen. Der siebte Kongress der Kommunistischen Internationale im Sommer 1935 warb unter der Leitung des Bulgaren Georgi Dimitrow in einer abrupten Kehrtwende um Einheitsund Volksfront gegen den nun endlich als Hauptgefahr erkannten Faschismus. Für Otto Bauer bestätigte sich damit seine Hoffnung auf Wandlung zum Guten in der sowjetischen Politik. Eine nächtliche Szene auf dem Bahnhof im tschechischen Iglau (Jihlava) führt dies vor Augen.197 Dort traf Bauer Anfang September 1935 Ernst Fischer, der vom Moskauer Weltkongress kommend, als Emissär auf der Durchreise nach Österreich war. Die Begegnung ist dop-
192 193 194 195 196 197
Leichter 1970, S. 229 – 236; Braunthal 1978b, S. 249 – 259; Steiner 1991 Steiner 1967, S. 4 Dan et al. 1999, S. 33 f. Dan et al. 1999, S. 27 Bauer et al. 1976 Braunthal 1961, S. 93 – 98; Löw 1985; Mayer 1990
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pelt überliefert, von Otto Bauer in einem langen Brief an Theodor Dan und von Ernst Fischer in einem eigenen Kapitel seiner Memoiren.198 Beide schreiben von unveränderter gegenseitiger Zuneigung und Hochachtung. Mehrere Stunden schritten sie den einsamen Bahnsteig auf und ab, Fischer anfangs berichtend, Bauer angespannt lauschend. Dann sprach Bauer, Möglichkeiten entwickelnd, Botschaften nach Österreich formulierend, immer drängender mit jener leisen, dunklen Stimme, die Ernst Fischer so gut von ihm kannte – aus den Momenten höchster Konzentration und Erregung. Otto Bauer verdoppelte in der Folge seine Anstrengungen für eine Einheitsfront mit den Kommunisten und erntete neue Enttäuschungen. Bei den österreichischen Revolutionären Sozialisten wie bei den österreichischen Kommunisten stießen Bauers „ernste und einsame Bemühungen“ auf Unverständnis und Ablehnung.199 Der Briefwechsel zwischen Theodor Dan und Otto Bauer spiegelt verzweifelte Ratlosigkeit, als Stalins Mordwelle an seinen politischen Gegnern einsetzte. Theodor Dan war durch die erpressten Geständnisse nicht verunsichert, wie Bauer und fast alle Welt.200 Doch auch Bauer unterstützte Friedrich Adler und Louis de Brouckère, die namens der Sozialistischen Arbeiter-Internationale im August 1936 telegrafisch vom Rat der Volkskommissare einen fairen Prozess ohne Todesurteile, mit unabhängigen Anwälten und Berufungsmöglichkeit forderten. Friedrich Adler hatte wegen der Missachtung dieser Rechtsgrundsätze von Hexenprozess geschrieben.201 Bauer schrieb im Prager „Sozialdemokrat“ einen Artikel gegen die Ausrottung von Lenins Führungsgarde. Die Komintern eröffnete darauf eine maßlose Verleumdungskampagne gegen ihn. Ernst Fischer zitiert den Redner einer Versammlung in der Kominternzentrale: „Der gefährlichste Feind der revolutionären Arbeiterklasse ist heute Otto Bauer. Man muss ihn öffentlich brandmarken. Er ist ein Verräter, ein Trotzkist, ein Agent der Bourgeoisie“.202 Bruno Kreisky traf Bauer ein letztes Mal 1937 in dessen Brünner Quartier, einem nur mit Messingbett und Diwan möblierten Zimmer. Als er Bauer in den Mantel half, klagte der über Rheumatismus im linken Arm. Helene flüsterte Kreisky zu: „Das ist kein Rheumatismus, das sind die Moskauer Prozesse“.203 Im März 1938 vollzog Hitlers Wehrmacht den Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. Die Lage der sozialistischen Emigration im nahen Brünn wurde unhaltbar. Im April siedelten auch Otto und Helene Bauer nach Paris über, in ein kleines Hotel am Hang des Montmartre. Obwohl er mit der Einrichtung des Auslandsbüros der österreichischen Sozialdemokraten zu tun hatte, sich sofort um die Neubegründung des „Kampf“ kümmerte und daran ging, weiter an der Broschüre „Die illegale Partei“ zu arbeiten, war er 198 199 200 201 202 203
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Dan et al. 1999, S. 63 – 66; Fischer 1987, S. 340 – 349 Löw 1985, S. 58 – 64; Buttinger 1953, S. 300; Steiner 1967, S. 20 Dan et al. 1999, S. 94 – 101; 118 – 121; Schrader 1995, S. 59 – 62 Adler 1936 Fischer 1987, S. 353; McLoughlin et al. 2009, S. 263; Marschalek 1990, S. 217 Kreisky 1987, S. 240
tief traurig. Die verlorene Verbindung zur Heimat und die ganze verhängnisvolle Entwicklung drückten ihn nieder. Am Abend des 4. Juli 1938 rief Helene Otto Leichter und Friedrich und Kathia Adler herbei: „Helene glaubte, Otto schliefe. Er lag ruhig im Bett in dem engen Zimmer, als ob er friedlich und glücklich schlummerte; er sah nicht vergrämt oder bleich und übermüdet aus, wie so oft seit den tragischen Märztagen; ein kühner Zug lag über seinem Gesicht, und das Haar fiel in einer Welle über die stolze Stirn. Mein Instinkt sagte mir, dies sei kein vorübergehender, sondern ein ewiger Schlaf“.204 Ein russischer Arzt stellte den tödlichen Herzinfarkt fest.
Größe und Scheitern „Tragödie oder Triumph?“ so fragt der Untertitel von Otto Leichters Biografie, die er vor allem gegen Versuche geschrieben hat, „Otto Bauers geschichtemachendes Wirken auszuradieren“.205 Karl Renners nachgelassene Erinnerungen und Norbert Lesers revisionistische Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie „Zwischen Reformismus und Bolschewismus“ gaben den Anlass. Ausradieren lässt sich Otto Bauers Wirken nicht mehr. Es gibt eine monumentale Werkausgabe mit wunderbaren Einleitungen von Julius Braunthal, leider mit nur ganz wenigen Briefen. Leichters rhetorische Frage hat keine simple Antwort. Otto Bauer hat seinem Charakter gemäß eher die Größe der Niederlagen erlebt – 1920 den Vertrag von St. Germain, den blutigen 15. Juli 1927, die Niederlage des Februar 1934 – als die Momente des Triumphes an der Spitze der stolzen österreichischen Partei und als gefeierter Redner der Sozialistischen Internationale. Seine theoretischen und politischen Leistungen wiegen im Rückblick schwerer als die Niederlagen. Otto Bauers Buch zur Nationalitätenfrage sollte hervorgeholt werden, wenn es an die Überwindung der europäischen Kleinstaaterei geht. Noch der tragische Februaraufstand gereicht ihm und seiner Partei zur Ehre. Dieses Aufbäumen gegen den Austrofaschismus sollte Österreichs Ehre sein, mit mindestens demselben Recht, wie der Aufstand adeliger Offiziere vom 20. Juli 1944 zum Feigenblatt der deutschen Schande wurde. Otto Bauer hat das große Ziel seines Lebens verfehlen müssen: die Errichtung einer gerechten Welt durch eine möglichst unblutige Revolution in einer demokratischen Herrschaft der Arbeiterbewegung. Er suchte nach dem dritten Weg für den Sozialismus, gewaltlos und demokratisch, bis er die Übermacht der Gewalt erkennen musste. Dass die Arbeiterbewegung in Faschismus, Stalinismus und Krieg untergehen werde, konnte Otto Bauer nicht voraussehen.
204 Leichter 1970, S. 13 205 Leichter 1970, S. 236
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Andreu Nin
Andreu Nin (1892 – 1937) Vom Anarchosyndikalismus zum Bolschewismus und zurück Im Sommer 1937 las man an Häuserwänden in Barcelona die bange Frage „Wo ist Nin?“ – „In Salamanca [bei Franco, HS] oder in Berlin“ höhnte es zurück. Der sowjetische Geheimdienst, in der tödlich bedrohten Republik als verbündete Macht unbeschränkt waltend, verunglimpfte Nin als Überläufer: Mit Hilfe der Gestapo sei er geflohen. Nins Kampfgenossen befürchteten indessen, dass er in einem der „Cheka“ genannten Folterkeller umgebracht worden sei. So war es.1 Andreu Nins Ende wurde Teil der Auseinandersetzung über die sowjetische Politik im spanischen Bürgerkrieg. Für die Republik kämpften Sozialisten aller Richtungen aus ganz Europa, den USA und Lateinamerika. George Orwells authentischer Bericht aus Katalonien 1937 leitete eine Flut von Memoiren ein, die das Geschehen im europäischen
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Gorkin et al. 1980, S. 164 – 185; Alba, Schwartz 1988, S. 243 – 255; Palomar Baró 2008
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Gedächtnis bewahren.2 Die Erinnerungen blieben gegensätzlich wie die Positionen von Kommunisten, Sozialdemokraten und Anarchisten im Bürgerkrieg, unbeschadet der detaillierten Aufklärung durch die historische Forschung.3 Noch Mitte der neunziger Jahre erregte der Film „Land and Freedom“ von Ken Loach, der auf Orwells Katalonienbuch beruht, heftigen Widerspruch von Spanienkämpfern.4 Das Leben des Andreu Nin tritt so hinter seinem Sterben zurück. Doch es ist reicher, es umfasst Spaniens Irrwege und die der Kommunistischen Internationale. Nin wanderte zwischen Parteien und politischen Brennpunkten. Vom katalanischen Nationalismus ging er zum Sozialismus, schloss sich zur Zeit der russischen Revolution 1917 dem Anarchosyndikalismus an und wurde in Moskau zum Kommunisten. Als Anhänger Trotzkis kehrte er 1930 nach Spanien zurück, wo er an der Spitze einer kleinen marxistischen Partei gemeinsam mit katalanischen Anarchosyndikalisten für eine soziale Revolution wirkte. Heute ist er ein Mythos der anarchosyndikalistischen Bewegung.
Der Katalane Am 4. Februar 1892 wurde Andreu Nin – die spanische Namensform ist Andrés Nín – in der Kleinstadt El Vendrell in der katalanischen Provinz Tarragona als Sohn eines Schuhmachers und einer Bauerntochter geboren. Spanien war wie Russland oder Bulgarien und wie die ganze europäische Peripherie noch überwiegend agrarisch. Die Landbevölkerung lebte unter dem Druck der aristokratischen Großgrundbesitzer und des ihnen verbundenen Klerus ohne Infrastruktur, Gesundheitsfürsorge, Bildung und politische Rechte dahin. Zwei Drittel der Spanier waren Analphabeten, unter den Kleinbauern und Landarbeitern waren es fast alle. Die Tuberkulose grassierte, und die Cholera hielt immer wieder ihre Ernte unter der hungernden Bevölkerung. Geburtlichkeit und Sterblichkeit hatten vormoderne Spitzenwerte. Die Not gebar Revolten und Räuber. Dass die Elenden damit nach E.P. Thompson einer vormodernen moralischen Ökonomie folgten und nach Eric Hobsbawm Sozialrebellen waren, machte es nicht besser.5 Der Staat übte mit der Guardia Civil blutige Vergeltung. Die Hinrichtungen im Prozess von Montjuic schockierten 1897 das zivilisierte Europa.6 Modernisierung war auf die Randgebiete beschränkt, peripher in jeder Hinsicht. Im Baskenland trieben englische Investoren die Ausbeutung der reichen Eisenerzvorkommen voran; wer aus Madrid nach Bilbao kam, konnte sich in eine mittelenglische Industriestadt versetzt fühlen. Kataloniens Metropole Barcelona, wo Textilindustrie, Handwerk und Handel eine bürgerliche Entwicklung trugen, atmete europäische Modernität – „gleichweit entfernt vom blendenden Licht der Tropen und vom geisterschaffenden Dunkel des Nordens“, wie Walther 2 3 4 5 6
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Orwell 1975 Bernecker 1997; Schwartz 2010 Heimberg 1996; Uhl 1999, S. 516; Behrend 2005, S. 35 Thompson 1979; Hobsbawm 1971 Bernecker 2010, S. 23 f.; Vilar 1975, S. 55 – 57
Bernecker einen Zeitgenossen zitiert.7 Die Halbmillionenstadt erhielt um die Jahrhundertwende durch Architekten wie Antoni Gaudí ein glanzvolles Jugendstilgesicht. In den Opernhäusern blühte der Wagnerkult im Wettstreit mit der Verdi-Verehrung. Innerhalb einer reichen Kunstszene schuf Pablo Picasso seine frühen Bilder. – Handel und Wandel litten zwar unter dem Verlust des kubanischen Marktes im Krieg mit den USA 1898. Doch das katalanische Bürgertum suchte Trost in der großen Tradition des mittelalterlichen Königreichs Aragonien und stritt für liberale Reformen in Katalonien und Mitregierung in Madrid.8 In dieses Barcelona kam der junge Andreu Nin im Jahr 1910. Seine Eltern hatten ihm unter Entbehrungen Schulbesuch und Lehrerausbildung in Tarragona ermöglicht. Nun zog es Nin in die Großstadt, um weiter zu studieren und als Lehrer zu arbeiten. Die „Tragische Woche“ des Juli 1909 warf noch ihre Schatten über die Stadt. Damals hatte die Einschiffung von Reservisten zum neuerlichen Kolonialkrieg in Marokko Unruhen und Kirchenplünderungen in Stadt und Umgebung ausgelöst. Nicht die Tragische Woche, wohl aber die Rache der Herrschenden war blutig. Attentate und Exekutionen wurden Teil des Lebens in Barcelona, die politischen Kräfte polarisierten und radikalisierten sich.9 Nin unterrichtete an der Escola Horaciana, einer 1905 gegründeten Reformschule jenseits von Kirche und Staat, die Kinder von Arbeitern und Handwerkern aufnahm, Jungen wie Mädchen. Die Schule folgte den Grundsätzen des anarchistischen Pädagogen Francisco Ferrer, der im Oktober 1909 als Anstifter der Unruhen angeklagt worden war. Vor seiner Hinrichtung rief er: „Ich bin unschuldig. Es lebe die moderne Schule!“10 Der achtzehnjährige Andreu Nin warf sich in den Strudel der Politik. Es drängte ihn auf die Seite der Radikalen – aber welcher Spielart? Sozialisten, Anarchisten, Nationalisten? Alle diese Ideen wirbelten in seinem Innern durcheinander, wie sie auch in der Realität Barcelonas ineinander gingen. Der Katalanismus zog um die Jahrhundertwende große Teile der Arbeiterschaft in seinen Bann. Die Arbeiter beherrschten meistens die kastilische spanische Hochsprache nicht, daher sprach sie der kulturelle Katalanismus mehr an, als die internationalistischen Sozialisten. Die reformeifrigen Nationalisten schienen sich wirklich um die alltäglichen Sorgen der Arbeiter zu kümmern.11 Auch Andreu Nin begann seine politische Karriere bei den Nationalisten. Schon als Schüler in Tarragona hatte er sich vom Katalanismus angesprochen gefühlt. 1911 treffen wir ihn beim Zusammenschluss linksnationalistischer Gruppen zur Föderalistisch-Nationalistisch-Republikanischen Union (UFNR).12 Was bedeuteten diese Etiketten? „Föderalistisch“ meinte, dass Katalonien in einem spanischen Staatsverband Autonomie erhalten wollte, möglichst unter Teilnahme Portugals; „nationalistisch“ reklamierte Katalonien als eigenständige Nation in diesem Verband, „republikanisch“ sagte der Monarchie und ihren Stützen Aristokratie und Klerus den Kampf an. Links verstanden sich Nin und seine Freunde, weil sie eine Agrarreform und sozialistische Reformen in Bildung und Arbeit 7 8 9 10 11 12
Bernecker 2010, S. 26 Bernecker 2010, S. 62 – 66; Nagel 1991, S. 341 – 343 Bernecker 2010, S. 69 – 74; Nagel 1991, S. 324 – 330, 332 Klemm 2004; Solano 2006, August, S. 1; Tosstorff 2003, S. 219; Grup Enciclopèdia Catalana Nagel 1991, S. 47 – 51 Heywood 1990, S. 27, Tosstorff 2003, S. 218; Nagel 1991, S. 375 – 385
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anstrebten. Nin war ein politisches Naturtalent; bald leitete er die Parteijugend. Er arbeitete an der Zeitung „La Barricada“ mit, die den ausgesprochen radikalen Flügel dieser linksnationalistischen Partei vertrat, und war unter den „Barrikadenkämpfern“ wiederum der Sozialist. Seine Argumentation war polemisch, seine Sprache klar, er fesselte als Redner wie als Journalist.13 Schließlich wechselte er ganz zu den Sozialisten.
Spanischer Sozialismus Der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (Partido Socialista Obrero Espanol, PSOE) und ihrer Gewerkschaft, dem Allgemeinen Arbeiterbund (Unión General de Trabajadores, UGT), stand noch immer der allseits verehrte Pablo Iglesias in Personalunion vor, der noch aus der Zeit der Ersten Internationale herüber ragte. Die ehrwürdige spanische Partei war unter den ältesten der Sozialistischen Internationale und hatte unter allen spanischen Linksparteien das größte Beharrungsvermögen, aber sie besaß wenig Durchschlagskraft.14 Die anarchistischen Lehren schlugen hingegen Wurzeln. Bakunin hatte einst in Spanien eine Sektion des anarchistischen Zweiges der Internationalen Arbeiterassoziation begründet. Seine Idee lustvoll schaffender Zerstörung verband sich zwanglos mit Peter Kropotkins sanften Visionen der Aufhebung allen Streits und allen Mangels in gegenseitiger Hilfe. Bei den bitterarmen andalusischen und kastilischen Landarbeitern schloss Kropotkins Botschaft eines Kommunismus ohne Eigentum und Herrschaft an Gemeindetraditionen an, und Bakunins „Propaganda der Tat“ rechtfertigte die Explosionen des Zorns in Aufständen und Attentaten. So gingen diese Lehren im ländlichen Spanien von Mund zu Mund.15 Die Arbeiter und Handwerker Kataloniens nahmen hingegen den französischen Syndikalismus auf, der auf Pierre-Joseph Proudhon zurückging. Arbeitseigentum war für sie wesentlich, nicht eigentumslose Gleichheit. Selbstorganisation in beruflichen und lokalen Zusammenschlüssen sollte Arbeit, Alltag und Widerstand tragen. Dieser Syndikalismus war weitgehend mit Gewerkschaftsorganisation synonym, aber anders als in den Gewerkschaften, die der Zweiten Internationale nahestanden, war er unabhängig von irgendeiner Partei. Der Syndikalismus lehnte Parteien und Parlamentarismus ab, ebenso wie das Militär und jegliche staatliche Macht. Herrschaftsfreiheit und Selbstorganisation der Arbeiter waren die anarchistischen Wesenszüge des Syndikalismus. Nicht von Parteipolitik und Gesetzen, sondern von der „direkten Aktion“, die im Generalstreik gipfelte, sei die Befreiung der Arbeiter zu erwarten.16 Den Anarchisten aller Spielarten schienen die Parteien der Zweiten Internationale samt und sonders revisionistisch, sie selber aber revolutionär, während die Gegenseite darauf beharrte, dass es ohne Partei keine Revolution geben könne und die Arbeiter den Staat erobern müssten, um frei zu sein. Diese syndikalistische Welt hob sich zunächst klar ab von den amor-
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Nagel 1991, S. 385; Solano 2006, August, S. 1 Vilar 1975; Heywood 1990, S. 24 f.; Nagel 1991, S. 365 – 374 Vilar 1975, S. 33, 48 f.; Braunthal 1978a, S. 149 – 153 Thorpe 1989, S. 32 – 35; Bernecker 1987
phen Strukturen und der rohen Gewalt des flachen Landes. Doch von dort strömten Arbeiter in hellen Scharen in die katalanische Industrie und führten ihren Anarchismus mit sich.17 So teilten sich die anarchistischen Sozialisten das Land geografisch und sozial und ließen den marxistischen Sozialisten wenig Raum. Die Sozialisten erhielten Zulauf, als sich nach der Tragischen Woche selbst der radikale bürgerliche Katalanismus vom Proletariat trennte und unter die Fittiche des Zentralstaats schlüpfte.18 Im Mai 1913 trat auch Andreu Nin zur Sozialistischen Jugend über, am 12. Oktober 1913 wurde er gemeinsam mit anderen ehemaligen Nationalisten ins städtische Exekutivkomitee der Sozialistischen Partei gewählt. Nin war ein eigener Kopf mit frischen Ideen, der dieser Partei gut tat und rasch in ihr aufstieg.19 Das Interesse für Theorie war in der spanischen Partei immer gering gewesen. „La Nueva Era“, eine theoretische Zeitschrift nach dem Muster von Kautskys „Neuer Zeit“, hatte 1902 nach nur einem Jahr aufgegeben. Andreu Nin kritisierte nun selbstbewusst, Bernsteins Ideen wären von Kautsky mit Vernunftgründen in einem Buch widerlegt worden, in Spanien kämpfte man mit Beleidigungen statt mit Argumenten.20 Nin blieb Redakteur der Zeitschrift „El Poble Catala“, sein Übertritt zum parteiförmigen Sozialismus war also keine Absage an den Katalanismus. Bei einer Vortragstour durch die Städte seiner Heimat um die Jahreswende 1913/14 warb er für die Gründung einer eigenen katalanischen sozialistischen Partei; aber das Vorhaben fand keinen Widerhall unter den Arbeitern.21 Seine Anhänglichkeit an den katalanischen Nationalismus bezeugt auch eine Debatte vom Frühjahr 1914 in einer Parteizeitung mit einem engen Mitstreiter des Parteiführers Iglesias. Nin beharrte darauf, dass Nationalismus und Sozialismus gleichrangige Emanzipationsbewegungen seien, denn kleine Völker wie die Katalanen litten unter dem Zentralismus der Staaten nicht weniger, als die Arbeiter unter dem Kapitalismus. Der Katalanismus sei eine lebendige, im Volk verwurzelte Kraft, genauso wichtig wie der Sozialismus.22 Im Mai 1915 verlangte Nin auf einem Meeting der Industrie- und Handelskammer von Barcelona patriotisches Handeln, also einen Kriegseintritt Spaniens auf Seiten der Entente. Er wandte sich ausdrücklich gegen den Internationalismus, denn der könne die Rechte der kleinen Nationen nicht verteidigen.23 Das entsprach dem Interesse der katalanischen Industrie, sozialistisch war es nicht. Er zählte damit zu einer starken Minderheit, die auf dem Parteitag im Oktober 1915 von den Anhängern der Neutralität nur knapp überstimmt wurde.24 Die sozialistische Partei beharrte also auf dem Internationalismus der Zweiten Internationale, wenn sie auch der Zimmerwalder Konferenz fernblieb. Erst 1918 bekannten sich die Sozialisten zur katalanischen Autonomie, weil die nationalistischen Republikaner die Arbeiterschaft mobili-
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Bernecker 2010, S. 55 – 57 Nagel 1991, S. 346 – 353; Bernecker 2010, S. 62 – 74 Nagel 1991, S. 368 f. Heywood 1990, S. 1 – 28, S. 32 Nagel 1991, S. 369, 393 – 401 Nagel 1991, S. 369 f. Nagel 1991, S. 371 Heywood 1990, S. 26 f.
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siert hatten.25 Nin blieb Zeit seines Lebens dem Katalanismus verhaftet, welcher sozialistischen Partei er sich auch zuwenden mochte. Nins Lage war schwierig geworden. Die Regierung hatte die Escola Horaciana schon nach dem anarchistischen Attentat auf den Ministerpräsidenten 1912 geschlossen, sodass er sich als freier Journalist durchschlagen musste.26 Mit Kriegsbeginn 1914 musste er wie viele Sozialisten für einige Zeit ins Gefängnis. Ein Freund verhalf ihm dann zu einer Anstellung bei einem großen Textilunternehmen, für das er im Frühsommer 1915 knapp ein Jahr nach Ägypten ging.27 Spanien lag im Windschatten des großen Kriegs. Der Anarchist Victor Serge war im Frühjahr 1917, von Paris kommend, überwältigt von den „Ländern der Ruhe und der Fülle“, die er jenseits der Pyrenäen fand: „Barcelona war mitten im Festtrubel, die Ramblas nachts ein Lichtermeer, am Tag lagen sie im prächtigen Sonnenschein, von Vögeln und Frauen bevölkert. Auch hier floss der Paktolus [für: Goldfluss, HS] des Kriegs. Für die Alliierten wie auch für deren Feinde arbeiteten die Fabriken mit voller Kapazität. Die Firmen scheffelten Geld. Lebensfreude auf allen Gesichtern. In allen Schaufenstern, in den Banken, in den Lenden! Es war zum Wahnsinnigwerden“.28 Doch unter der leuchtenden Oberfläche rumorte die Staatskrise. König und Regierung sahen sich zugleich einer Rebellion des unterbeschäftigten Offizierscorps, einer Autonomiekampagne des durch die Kriegskonjunktur doppelt selbstbewussten katalanischen Bürgertums und bedrohlichen Unruhen der Arbeiterschaft gegenüber. Die Arbeiter hatten vom Boom nur Arbeitsdruck, stagnierende Löhne und Inflation abbekommen. Die Gefahr zerteilte sich, als das Militär den landesweiten gemeinsamen Generalstreik der sozialistischen und der anarchosyndikalistischen Gewerkschaften im August 1917 niederschlug und die bürgerlichen Katalanen sich erschrocken auf die Seite der Regierung warfen.29 Der Katalanismus hatte die Arbeiter wieder einmal enttäuscht, aber auch der reformistische Sozialismus ging ohne Ruhm vom Kampfplatz. Die russische Revolution wirkte nun als mächtiger Katalysator für den Aufschwung des revolutionären Anarchismus. Die Welle trug auch Andreu Nin an neue Ufer. Vermutlich schon 1918 engagierte er sich, obwohl noch Mitglied der sozialistischen Partei, für die Organisation einer anarchosyndikalistischen Angestelltengewerkschaft.30
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Nagel 1991, S. 374, 432 – 436 Grup Enciclopèdia Catalana Nagel 1991, S. 370 f. Serge 1977, S. 63 Nagel 1991, S. 411 – 415; Bernecker 2010, S. 75 – 81 Tosstorff 2003, S. 220
Der Anarchosyndikalist Anders als die spanischen Sozialisten hatten die Anarchisten – ihren antinationalistischen und antimilitaristischen Grundsätzen getreu – sich auf die Seite der Zimmerwalder Bewegung gestellt.31 Je mehr die Kriegsmüdigkeit der Arbeiter wuchs, desto stärkeren Zuspruch erhielt der Nationale Arbeiterbund (Confederación Nacional del Trabajo, CNT). Syndikalisten gründeten ihn 1911 in Barcelona nach dem Muster der französischen CGT. Unter seinem Führer Salvador Seguí sollte dieser Gewerkschaftsverband frei bleiben vom Anarchismus der Geheimbünde und Attentate. Aber die Ausdehnung der Organisation auf ganz Spanien, der Zustrom ländlicher Arbeiter in die katalanische Industrie und schließlich das Feuer der russischen Revolution verschmolzen Syndikalismus und Anarchismus im Nationalen Arbeiterbund.32 Im Anarchosyndikalismus verband sich Proudhons Selbstorganisation der Arbeiter mit Bakunins revolutionärer „direkter Aktion“ und mit Kropotkins Vision eines eigentumslosen und herrschaftsfreien Kommunismus allgemeiner Menschenliebe. In dieser Verbindung wurde der Syndikalismus revolutionär und der Anarchismus organisiert. Anarchismus blieb jedoch ein Schmähwort, in den Augen der bürgerlichen Welt mit dem Odium des Bombenlegens behaftet und von den Kommunisten verdammt, weil quer zur Parteiherrschaft der „Diktatur des Proletariats“ stehend. Die Anarchosyndikalisten bezeichneten sich daher gern als „revolutionäre Syndikalisten“ oder „freiheitliche [libertäre, HS] Kommunisten“. Diese Entwicklung nahm auch in den anderen westeuropäischen und amerikanischen Zentren des Anarchismus ihren Lauf.33 Die Mitgliedschaft des Nationalen Arbeiterbundes verdoppelte sich von 1911 bis 1918 auf reichliche achtzigtausend Mitglieder, allein in Katalonien hatte sie sich mit mehr als siebzigtausend Mitgliedern fast verfünffacht. 1919 waren es schon mehr als 700.000 Mitglieder, mehr als das Dreifache der sozialistischen Gewerkschaft.34 – In diesem Stimmungsumschwung hatte auch Andreu Nin sein Erweckungserlebnis, das ihn vom Sozialismus zum Anarchosyndikalismus und zur Revolution der Bolschewiki führte. Auf dem Kongress des Arbeiterbundes im Dezember 1919 vollzog er öffentlich den Übertritt. Er bekannte: „Ich bin ein Fanatiker der Aktion, der Revolution; ich glaube mehr an die Handlungen als an die fernen Ideologien und an die abstrakten Fragen. Ich bin ein Bewunderer der russischen Revolution, weil sie eine Realität ist. Ich bin ein Anhänger der Dritten Internationale, weil sie eine Realität ist, weil sie über den Ideologien stehend ein Prinzip der Aktion, ein Prinzip der Koexistenz aller wahrhaft revolutionären Kräfte darstellt, die danach streben, den Kommunismus sofort einzuführen“.35 Die meisten im Arbeiterbund CNT teilten diese Begeisterung. Die Zeitung „Solidaridad Obrera“ (Arbeitersolidarität) jubelte:
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Tosstorff 2004, S. 99 Bar 1990, S. 123 f. Bernecker 1987, S. 15; Thorpe 1989, S. 75 – 85; Nagel 1991, S. 443 f. Bar 1990, S. 122 – 126 Tosstorff 2004, S. 101
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„Bolschewismus ist der Name, aber die Idee ist die aller Revolutionen: die ökonomische Freiheit. […] Der Bolschewismus stellt das Ende des Aberglaubens, des Dogmas, der Sklaverei, der Tyrannei, des Verbrechens […] dar. Der Bolschewismus ist das neue Leben, das wir anstreben, ist Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, ist das Leben, das wir wollen und das wir auf der Welt durchsetzen“.36 Im fernen Russland schien sich unter ähnlich rückständigen Verhältnissen die befreiende Aktion der Tat zu ereignen, durch die Arbeiter selbst mit ihren Sowjets. War nicht der altehrwürdige Fürst Kropotkin selbst nach Russland geeilt, der Revolution so seinen anarchistischen Segen gebend? Der Madrider Kongress des Nationalen Arbeiterbunds im Dezember 1919 erschien Beobachtern wie ein Sowjetkongress, so begeistert erklärten sich die Anwesenden für die Revolution.37 Gleichzeitig nahm die Versammlung den „freiheitlichen Kommunismus“ der Anarchisten als Endziel ins Programm, also einen Gewerkschafts- und Gemeindesozialismus, in dem Arbeit und Leben kollektiv und frei wären und ein Bund von Gemeinden an die Stelle des Staates treten sollte.38 Der Kongress beschloss den Beitritt zur dritten, Kommunistischen Internationale, die im März 1919 in Moskau gegründet worden war. Die Sozialistische Partei rang sich nach kontroversen Debatten nicht dazu durch. Doch auch die Anarchosyndikalisten erklärten den Beitritt nur vorläufig, die endgültige Entscheidung sollte fallen, wenn die Abgesandten zum zweiten Kongress der Dritten Internationale aus Moskau zurückkehren und berichten würden. Von der Delegation kam nur Ángel Pestaña, Chefredakteur des „Solidaridad Obrera“, nach Moskau durch, und seine Rückkehr stand in den Sternen. Der Madrider Kongress war ein Wendepunkt für Andreu Nin. Hier gewann er den vier Jahre jüngeren Joaquin Maurin aus dem katalanischen Lleida zum Mitstreiter und lebenslangen Freund. Der spätere Weggefährte Victor Alba, eigentlich Pere Pagès, beschreibt beide als verschieden und tief verbunden: Maurin ruhig, geduldig, scharf im Urteil, Nin von lebhaftem Temperament, ein mitreißender Redner. Beide waren Lehrer und Journalisten; sie waren als Volksaufklärer in die Politik gegangen und begeisterten sich nun für die Revolution. Beide begannen soeben, den Marxismus zu studieren.39 Gemeinsam übernahmen sie die Führung des Arbeiterbunds CNT, Maurin in Katalonien und Nin im Nationalkomitee in Madrid. Dies geschah in der Illegalität und inmitten von sozialen Konflikten, die die heftigsten im Nachkriegseuropa außerhalb Russlands waren. Streikwellen ergossen sich in dichter Folge über das Land. Die katalanischen Unternehmer terrorisierten die Arbeiterorganisationen durch Banden gedungener „Pistoleros“; fast täglich kam es zu Straßenschlachten in den Industriestädten. Salvador Seguís gemäßigter Syndikalismus verlor seinen Einfluss, und radikale Anarchisten gewannen die Oberhand. In den Jahren 1919 bis 1923 ereigneten sich mehr als 700 politische Attentate, eines tötete den Ministerpräsidenten. Landbesetzungen und Aufstände der Landarmen in Andalusien kamen hinzu. Diese Jahre sind als „bolschewikisches Triennium“ im Gedächtnis. Als
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Tosstorff 2004, S. 101 Meaker 1974, S. 234 Souchy 1955, S. 91, 256; Thorpe 1989, S. 112; Tosstorff 2004, S. 100 f. Alba 1975; Alba, Schwartz 1988, S. 7
im September 1923 der General Miguel Primo de Rivera eine Militärdiktatur errichtete und so die offenen Kämpfe beendete, waren nicht nur die Monarchisten erleichtert.40 Sozialisten wie Anarchisten hatten unter der alten wie der neuen Regierung nur Verfolgung zu erwarten. Nahezu die ganze alte Führungsgarde des Arbeiterbunds CNT fiel dem Terror zum Opfer. Nin selbst entging 1920 nur mit knapper Not einem Anschlag und wurde mehrfach verhaftet. Als der Generalsekretär des Arbeiterbunds ins Gefängnis geworfen wurde, fiel diese Aufgabe im März 1921 Nin zu.41 Nin führte eine harte Sprache. Zum Bündnis mit der damals ebenfalls probolschewikischen sozialistischen Gewerkschaft UGT erklärte er im Oktober 1920 auf einer Arbeiterversammlung in Barcelona: „Wir haben das Bündnis nicht gemacht, weil wir eine Zeit des Friedens wollen, sondern weil wir Krieg wollen, weil wir den Klassenkampf wollen“.42 Die Vorherrschaft der probolschewikischen jungen Garde in der Führung des Nationalen Arbeiterbunds entsprach der Stimmung in der Basis nicht unbedingt. Sie endete gewissermaßen durch Selbstausschaltung, weil sich die Führung großenteils auf den Weg nach Moskau machte. Im April 1921 beschloss eine geheime Zusammenkunft des Nationalkomitees in Lleida, wo von den zehn Anwesenden sieben dem Kommunismus zuneigten, einer neuerlichen Einladung aus Moskaus folgend fünf Delegierte zum Gründungskongress der Roten Gewerkschafts-Internationale zu entsenden. Vier gehörten dem Nationalkomitee an: Andreu Nin, Joaquin Maurin, der Tischler Hilario Arlandis aus dem levantinischen Valencia und Jesús Ibáñez aus Asturien. Gaston Leval kam als Vertreter der „reinen“ Anarchisten dazu. Mochten sie sich auch eng mit der russischen Revolution verbunden fühlen, sie waren doch noch alle Anarchosyndikalisten. Nin erklärte: „Wir gehen nach Moskau mit der festen Absicht, die Vereinigung aller revolutionären Kräfte zu erreichen und die Grundsätze und den Geist des revolutionären Syndikalismus zu verteidigen“.43
Nach Moskau Getrennt machten sie sich auf den Weg, Nin gemeinsam mit Maurin, der die Reise später beschrieben hat. Von der Polizei unbemerkt entkamen sie mit den Gästen eines Maifestes in Lleida über die französische Grenze, zu Fuß über die schneebedeckten Pyrenäen, ohne Geld und ohne Pässe. Pfingsten waren sie in Toulouse. In Paris half ihnen Pierre Monatte, ein Führer des französischen anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsbundes, der 1923 zu den Kommunisten übertreten sollte. Monatte übergab den beiden Geld, das die schwedischen Anarcho40 41 42 43
Bernecker 2010, S. 82 f.; Nagel 1991, S. 454 – 462 Solano 2006, August, S. 3; Nagel 1991, S. 463 Meaker 1974, S. zitiert: 327, 332, 390 – 392 Zitiert: Meaker 1974, S. 393
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syndikalisten für die verfolgten spanischen Genossen gesammelt hatten, und besorgte ihnen Pässe nach Berlin. Dort waren inzwischen auch Arlandes, Ibáñez und Leval eingetroffen. In Berlin war Rudolf Rocker Anlaufpunkt für die Spanier, der Begründer und theoretische Kopf der jungen deutschen anarchosyndikalistischen Bewegung. Von hier aus half die sowjetische Botschaft weiter, sie tarnte die spanische Delegation zum großen Moskauer Kongress als russische Kriegsheimkehrer und sandte sie mit Schiff und Zug über Reval (Tallinn) nach Petrograd und Moskau.44 Maurin berichtet von ihrer Ankunft in Moskau Ende Juni 1921: „Die Internationale brach von unseren Lippen und aus unseren Herzen. Eine starke Bewegung ergriff unsere Seelen. Wir treten ein in die große Bruderschaft, in das Land der Brüder. Kommend von dort, wo die Arbeiter verfolgt werden, sind wir nun dort, wo die Arbeiter mit den Ausbeutern abgerechnet haben. Wir haben das Russland der sozialen Revolution erreicht. Es lebe Russland!“45 Die Begeisterung war nicht naiv, auf der Reise waren ihnen genug Gründe zum Zweifeln begegnet. Ángel Pestaña, ihr Delegierter zum Komintern-Kongress 1920, hatte in Moskau erschreckende Informationen über die Verfolgung der russischen Anarchisten erhalten, sein Zimmer war Treffpunkt der internationalen Anarchosyndikalisten gewesen. So hatte er die verheißene Herrschaft des Proletariats als Diktatur der Kommunistischen Partei erfahren.46 Die Spanier hatten dies nicht direkt von ihm hören können, denn Pestaña war auf der Rückreise vom Kongress für ein Jahr verhaftet worden. Doch in Berlin hatte Pestaña zu Rudolf Rocker gesagt, dass er nun „Hoffnungen zerstören müsse, die so groß waren und besonders in Spanien ein so mächtiges Echo fanden, weil wir glaubten, die Russische Revolution würde das Signal zu unserer eigenen Befreiung sein“.47 Dies zumindest wird Rocker den Reisenden erzählt haben, und er wird sie auch ausführlich über die internationale Versammlung von Anarchosyndikalisten unterrichtet haben, die im Vorfeld des Gründungskongresses der Roten Gewerkschafts-Internationale im Dezember 1920 in Berlin stattfand. Gerade die Deutschen um Rocker hatten dort Zweifel gesät.48 Von der Erschießung und Verhaftung so vieler Anarchisten nach der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands hatten sie schon in Paris gelesen und dies sicher mit Monatte besprochen. Während der Weiterreise nach Moskau kam es zu heftigen Auseinandersetzungen unter den spanischen Delegierten, sogar von Handgreiflichkeiten ist die Rede. Nin und Maurin verarbeiteten das Gehörte anders als die Anarchisten Arlandis und Leval.49
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Meaker 1974, S. 394; Riottot 1999; Tosstorff 2005a, S. 33 Zitiert: Meaker 1974, S. 395 Goldman et al. 2010, S. 729; Tosstorff 2004, S. 220 Thorpe 1989, S. 175 Tosstorff 2004, S. 223 – 227 Meaker 1974, S. 394
Inzwischen bereitete sich Moskau auf die beiden Großereignisse vor, den Gründungskongress der Roten Gewerkschafts-Internationale und den dritten Kongress der Kommunistischen Internationale. Rote Fahnen und Spruchbänder grüßten die Delegierten vieler Länder mehrerer Kontinente, fast die golden glänzenden Kuppeln der Kirchen und Klöster verdeckend. Im Sommer 1921 wurde das Hotel „Lux“ in der berühmten Twerskaja-Straße zum internationalen Gästehaus – privilegiert versorgt angesichts des Hungers im Land, streng überwacht durch die Tscheka. Lastwagen fuhren die jungen Revolutionäre vom Bahnhof ins „Lux“, wo sie zu dritt oder viert die Zimmer bezogen. Mehr als die langen Reden der Kongresse – oft unzulänglich übersetzt aus Sprachen, die sie nicht verstanden – faszinierte viele die Hauptstadt der Revolution mit ihren Theatern und langen Sommerabenden am Ufer der Moskwa.50 Der internationale Gewerkschaftskongress wurde zur Arena des Streits zwischen Anarchosyndikalisten und Kommunisten. Bolschewismus und Anarchosyndikalismus waren zunächst in gegenseitiger Umarmung von der revolutionären Welle der Jahre 1917 bis 1919 emporgetragen worden. Überall schwollen die anarchosyndikalistischen Organisationen an – wie der spanische Nationale Arbeiterbund CNT. Das Bündnis beruhte indessen auf Missverständnissen und konnte nicht von Dauer sein. Es war schon ein Missverständnis, dass die Bolschewiki die anarchosyndikalistischen Organisationen schlicht als Gewerkschaften definierten und ihrem Gewerkschaftsverständnis unterwarfen. Die Anarchosyndikalisten hingegen glaubten fälschlich, in Lenins „Staat und Revolution“ die Absage an Parlamentarismus und Staat und im Sowjetsystem die erstrebte Räteherrschaft zu finden. War nicht Lenin in dieser Schrift einen großen Schritt auf die Anarchisten zugegangen, indem er die Kritik der Zweiten Internationale an ihnen zurückwies?51 Und hatte nicht das Einladungsschreiben für eine dritte, kommunistische Internationale ausdrücklich auch den anarchosyndikalistischen Organisationen gegolten? Daraufhin waren ja die italienischen und die spanischen Anarchosyndikalisten der Kommunistischen Internationale beigetreten; beide saßen im Exekutivkomitee.52 Ob Bucharin den Entwurf dieses Einladungsschreibens lieferte, oder ob Trotzki es selbst verfasst hat, ebenso wie das Gründungsmanifest der Komintern, ist nicht entscheidend.53 Trotzki schmiedete jedenfalls dieses Bündnis revolutionärer Sozialisten mit. Seit der gemeinsamen Pariser Zeit mit der Redaktion von „La Vie ouvrière“ fühlte sich Trotzki bei den Syndikalisten „als Genosse unter Genossen“, Pierre Monatte und Alfred Rosmer wurden seine Freunde.54 Trotzki, der spätestens seit der Revolution 1905 das Rätesystem höher schätzte als eine leninistische Parteiorganisation, teilte Grundüberzeugungen mit den Anarchosyndikalisten. In seiner Umgebung gaben während der Revolution Männer und Frauen den Ton an, die vom Anarchismus Bakunins und Kropotkins beeinflusst waren oder der syndikalistischen „Vpered“-Gruppe um Alexander Bogdanow nahegestanden hatten. Sie fanden sich während des Weltkriegs in Paris bei Trotzkis Zeitung „Nasche Slowo“ wieder, und sie trafen sich in der In50 51 52 53 54
Goldman et al. 2010, S. 822; Mayenburg et al. 1978, S. 71; Rosmer 1989, S. 139; Tosstorff 2004, S. 327 Rosmer 1989, S. 55 – 57 Thorpe 1989, S. 127 f.; Tosstorff 2004, S. 118; Tosstorff 2008 Broué 2003, S. 374; Hedeler 2008, S. XXVIII Rosmer 1989, S. 76
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terrayon-Gruppe, die in der Februarrevolution eine wichtige Rolle spielte, wie gezeigt worden ist. Alexander Losowski – ursprünglich Solomon Abramowitsch Dridso – gehörte diesem Kreis an. Er hatte als Exilant lange Jahre in der französischen syndikalistischen Gewerkschaftsbewegung gearbeitet, nun sollte er Vorsitzender der Roten Gewerkschafts-Internationale werden. Unter den Bolschewiki mit syndikalistischen Erfahrungen und Sympathien waren ebenso Anatoli Lunatscharski oder Alexandra Kollontai, Führerin der syndikalistischen „Arbeiteropposition“.55 Der Machtpolitiker Lenin hatte seine blanquistische Avantgardepartei gegen Bogdanows syndikalistisches Ketzertum behauptet und wollte sie nun im internationalen Maßstab durchsetzen. Er wollte die revolutionären Kräfte von den Parteien der Sozialistischen Internationale abspalten, sie sollten sich entsprechend den 21 Aufnahmebedingungen des zweiten Komintern-Kongresses von 1920 durch stete Säuberung zu kommunistischen Parteien formen und als Sektionen der Moskauer Zentrale funktionieren.56 Eine solche Weltpartei konnte anarchosyndikalistischen Überzeugungen nicht entsprechen. Daraus wuchs der Streit zwischen Kommunisten und Anarchosyndikalisten auf dem zweiten Kominternkongress 1920, wo Ángel Pestaña auf den anarchosyndikalistischen Prinzipien beharrt hatte. Trotzki hatte zu vermitteln gesucht: „Der Genosse Pestaña […] ist nach Moskau gekommen, weil es bei uns Genossen gibt, die mehr oder weniger zur syndikalistischen Familie gehören […] Was bieten wir ihm also? Wir bieten ihm die internationale kommunistische Partei, d. h. die Vereinigung der fortgeschrittensten Elemente der Arbeiterklasse, die ihre Erfahrung hierherbringen, sie miteinander austauschen, einander kritisieren und nach der Diskussion Entscheidungen treffen“.57 Trotzki hatte Pestaña nicht überzeugt. Dessen Weltpartei hätte möglicherweise vielfältiger, offener sein können als die blanquistische, straff vom Moskauer Zentrum geführte Komintern, die tatsächlich auf diesem Kongress entstand. Im Kern wäre es wohl dasselbe gewesen. Im Bündnis mit Lenin hatte Trotzki seine syndikalistischen Eierschalen inzwischen abgestreift. Wie sein italienischer Genosse Armando Borghi war Ángel Pestaña vom Kominternkongress direkt nach Berlin zum Treffen der Anarchosyndikalisten gegangen. Dort hatte man im Dezember 1920 aber ungeachtet aller Zweifel beschlossen, im kommenden Juli zum Gründungskongress der Roten Gewerkschafts-Internationale nach Moskau zu fahren.58 Die Gemeinsamkeit von Bolschewiki und Anarchosyndikalisten hatte sich also schon im Vorfeld des Kongresses als brüchig erwiesen, aber der Gründungskongress sah immerhin 340 Delegierte aus 41 Ländern. Am 3. Juli 1921 traten sie im Marmorsaal des Gewerkschaftshauses zusammen, parallel tagte der dritte Kongress der Komintern. Es war eine große Revue, sorgfältig vorbereitet und geprobt, wie die Anarchistin Emma Goldman von der Zuschauerbank beobachtete.59 Zu diesem Zeitpunkt war die Sowjetführung, Trotzki und seine Anhänger eingeschlossen, nicht mehr sonderlich am Bündnis mit den Anarchosyndikalisten interessiert; zu viel war im letz55 56 57 58 59
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Williams 1986, S. 175 – 187 Vatlin 2009, S. 25 – 38 Zitiert: Rosmer 1989, S. 76; Broué 2003, S. 378 f.; Tosstorff 2004, S. 145 – 148, 157 – 167 Tosstorff 2004, S. 143 – 168, 223 – 227 Goldman et al. 2010, S. 822 f.
ten Jahr geschehen. Der Kampf der Roten Armee gegen den ukrainischen Anarchistenhauptmann Machno, die blutige Niederschlagung des Kronstädter Aufstands und die Auseinandersetzung mit der syndikalistischen „Arbeiteropposition“ stellten für die sowjetrussischen Kommunisten die Machtfrage.60 Die Rote Gewerkschafts-Internationale sollte deshalb unter deren Aufsicht und Kommando der Kommunistischen Internationale die anarchosyndikalistischen Organisationen disziplinieren. Die meisten Delegationen waren kleiner als die spanische, und die Organisationen, die sie vertraten, unbedeutender als der Arbeiterbund CNT. Spanien spielte daher eine Rolle auf dem Kongress, ehe es für die Kommunistische Internationale wieder hinter dem Horizont verschwand, wo das wilde, traurige Land am Rand der alten Welt schon für die Zweite Internationale gelegen hatte. Andreu Nin war wie sein Freund Maurin hin und hergerissen zwischen seinem anarchosyndikalistischen Mandat und seiner kommunistischen Begeisterung. Wie die anderen Spanier nahmen beide an den geheimen Zusammenkünften der Anarchosyndikalisten aus den romanischen Ländern teil. Dort einigte man sich, in der Gewerkschafts-Internationale zu bleiben, aber sich keineswegs der Komintern zu unterwerfen. Indessen gelang es dem Franzosen Alfred Rosmer noch einmal, eine Mehrheit der Delegierten zu überreden, dass die Bindung an die Kommunistische Internationale den Zielen des Anarchosyndikalismus entspräche.61 Auch Nin und Maurin stimmten einer „organischen Verbindung“ beider Internationalen durch wechselseitige Vertretung zu. Nin erklärte vor dem Kongress seine Gründe: Marx und Proudhon hätten in der russischen Revolution ihre Synthese gefunden, und für den revolutionären Syndikalismus sei keine Existenz außerhalb dieses revolutionären Zentrums mehr möglich.62 Nin und Maurin entfernten sich jedoch im Lauf des Kongresses immer weiter vom Anarchosyndikalismus. Der Rubikon war überschritten, als sie die Diktatur des Proletariats als Parteiherrschaft anstelle von Arbeiterherrschaft akzeptierten, wie Nin es in seiner Rede tat. Beide blieben schließlich sogar dem Befreiungskomitee für die russischen Anarchisten fern. Ihre spanischen Genossen Arlandis und Leval unterzeichneten hingegen das mit Trotzki ausgehandelte Schriftstück über Freilassung und Ausweisung der anarchistischen Gefangenen.63 Zwei Männer sorgten für die Vollendung der kommunistischen Bildung von Nin und Maurin, zwei Männer, die selbst den Weg vom Anarchisten zum Kommunisten gingen: Alfred Rosmer und Victor Serge. Sie wohnten ebenfalls im Hotel „Lux“ und kümmerten sich nach Kräften um die beiden Spanier. Rosmer freute sich über Nins Reden auf dem Kongress und fand beide „jung, begeistert, enthusiastisch, und persönlich sehr sympathisch“.64 Serge nahm die beiden zu Tagungen des Komintern-Kongresses mit und meinte später: „Ich habe immer zu sehen geglaubt, dass gelungenes Menschentum sich tatsächlich in der physischen Erscheinung ausdrückt. Das Format jenes Schullehrers aus Lleida, Maurin, und jenes Schullehrers aus Barcelona, Nin, sah man auf den ersten Blick. Maurin 60 61 62 63 64
Serge 1977, S. 149 f.; Lenin 1955 – 1989i Rosmer 2000a Tosstorff 2004, S. 325 – 331; Tosstorff 2008, S. 234; Meaker 1974, S. 402 Goldman et al. 2010, S. 832; Tosstorff 2004, S. 347 – 359 Meaker 1974, S. 396; Solano 2006, August, S. 3 f.
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hatte das Auftreten eines jungen Ritters, wie ihn die Präraffaeliten malten. Nin trug hinter seiner goldgefassten Brille einen konzentrierten Ausdruck zur Schau, den seine Lebensfreude milderte. Beide setzten ihr Leben ein. […] In diesem Augenblick waren sie nichts als Begeisterung und Drang nach Verständnis“.65
Trotzkist in der Roten Gewerkschafts-Internationale Der Heimweg vom Kongress wurde zur Odyssee, für Andreu Nin dauerte er fast ein Jahrzehnt. Hilario Arlandis und offenbar auch Andreu Nin waren in das Exekutivkomitee der Roten Gewerkschafts-Internationale gewählt worden, denn beide waren im Herbst 1921 in deren Auftrag in Deutschland tätig. Beide wurden in Berlin verhaftet, ebenso Gaston Leval. Arlandis und Leval kamen bald wieder frei und schließlich nach Spanien zurück. Ibáñez gelangte zwar unbehelligt an die spanische Grenze, wurde dort aber sofort ins Gefängnis gesteckt.66 Nins Lage schien schlimmer als die seiner Genossen, denn die spanische Regierung bedrohte ihn mit der Todesstrafe. Als Generalsekretär des Arbeiterbunds CNT sollte er für das Attentat auf den spanischen Ministerpräsidenten verantwortlich gewesen sein. Eine Kampagne der deutschen Kommunistischen Partei befreite ihn nach viermonatiger Haft im Januar 1922 und erwirkte seine Ausreise in die Sowjetunion.67 Alexander Losowski ergriff die Gelegenheit, Nin zu seinem Stellvertreter im Vorsitz der Roten Gewerkschafts-Internationale zu machen. Losowski war um geeignetes Personal äußerst verlegen und hatte ihn auf dem Gründungskongress als einen Wortführer des kommunistischen Flügels der Anarchosyndikalisten schätzen gelernt. Nins phänomenale Sprachkenntnisse ebenso wie seine Erfahrung als Journalist und Parteiführer waren ein Glücksfall für das Exekutivkomitee.68 Nins Metamorphose war total. Er lernte russisch, wurde Bürger der Sowjetunion und 1923 Mitglied der sowjetischen Kommunistischen Partei. Er wurde zum Moskauer. Schon bald verliebte er sich in Olga Pawlowa Tarejewa, eine Tänzerin am Bolschoi-Theater, die er 1922 heiratete. Die beiden müssen sich nicht unbedingt im Theater kenngelernt haben, denn Olga war wie Nin gewähltes Mitglied im Moskauer Stadtsowjet, und sie arbeitete bald auch im Büro der Roten Gewerkschafts-Internationale. Olga gebar 1923 Drillinge und einige Jahre später ein viertes Kind, doch nur die Töchter Ira und Nora überlebten.69 Diese Verbindung hatte nichts von der Leichtlebigkeit und Flüchtigkeit so vieler anderer, von denen Ruth von Mayenburg aus der Frühzeit des Hotel „Lux“ berichtet: hungrige Moskauerinnen, verlockt durch ein paar Köstlichkeiten vom Kongressbankett, und junge Delegierte, die sich leicht banden, weil eine
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Serge 1977, S. 163 Meaker 1974, S. 417 f.; Losowski 1921a, S. 75 Tosstorff 2003, S. 34 Tosstorff 2004, S. 440 f. Tosstorff 2003, S. 221; Solano 2006, S. 5 f.; Palomar Baró 2008
sowjetische Eheschließung daheim ungültig war.70 Nin musste sich mit seiner wachsenden Familie in der Enge des Hotels einrichten, in einem einzigen Raum. Berichte deutscher Emigranten, die in den dreißiger Jahren dort hausten, lassen die Belastungen ahnen.71 Die Arbeitsbedingungen waren gleichfalls unbequem. Der deutsche Kommunist Fritz Heckert, der nach dem Gründungskongress der Roten Gewerkschafts-Internationale kurz im Exekutivkomitee tätig war, klagte: eiskalte Zimmer, knappes Essen, kein Geld und keine Zeit für Theater und Museumsbesuche.72 Ein Foto zeigt den dreißigjährigen Andreu Nin hemdsärmelig an seinem großen Schreibtisch zwischen zwei Telefonen vor Papierstapeln sitzend, versonnen lächelnd. Joaquin Maurin hatte sich nach dem Gründungskongress nach Hause durchschlagen können und fand dort einen gänzlich veränderten Arbeiterbund vor. Verfolgung und Terror und das Verebben der revolutionären Flut in Europa entmutigten die Arbeiter, die Mitglieder zerstreuten sich. Maurin wurde zwar im Oktober 1921 als Nachfolger des abwesenden Nin zum Generalsekretär gewählt, aber seine Berichte vom Moskauer Kongress fanden keinen Beifall, und als er im Februar 1922 verhaftet wurde, änderte eine neue Führung die Richtung. Pestañas Bericht über die Kommunistische Internationale, im Gefängnis geschrieben und nun öffentlich gemacht, war einflussreicher. Aus Italien tönte Borghis Stimme ganz ähnlich herüber. So kehrte der Arbeiterbund zu Bakunins und Proudhons Prinzipien zurück und kündigte die Mitgliedschaft in den beiden Moskauer Internationalen auf. Wie die Spanier machten auch die Italiener ihren Beitritt zur Kommunistischen Internationale und zur Roten GewerkschaftsInternationale daraufhin rückgängig.73 Maurin ging mit dem kommunistischen Flügel 1924 zur kleinen, einflusslosen kommunistischen Partei.74 Andreu Nin repräsentierte nun niemand mehr, er war ein Funktionär der Internationale ohne Rückhalt in der Heimat. Doch er ließ die Verbindung nach Spanien nicht abreißen. Immer wieder schrieb er Artikel über Unruhen, Streiks, Verfolgungen dort für die Pressekorrespondenz der Kommunistischen Internationale.75 Mit Freund Joaquin Maurin stand er in regem Briefwechsel und schrieb für dessen Zeitung „La Batalla“ (Der Kampf). Als Maurin 1923 und 1924 zu Kongressen nach Moskau kam, bot sich die ersehnte Gelegenheit zum unmittelbaren Austausch. 1923 bemühte sich Nin gemeinsam mit Losowski, den Arbeiterbund-Führer Salvador Seguí nach Moskau einzuladen, doch der wurde erschossen, bevor er annehmen konnte. 1925 war Nin Gastgeber und Übersetzer für den Führer der linksrepublikanischen Partei Kataloniens, Oberst Francesc Macià. Der Katalane bat die Kommunistische Internationale um Unterstützung für einen Aufstand gegen die Militärdiktatur Primo de Riveras, stieß aber bei Sinowjew und Bucharin auf Ablehnung.76 Der Einsatz für einstige Gefährten entsprach einem Grundzug von Nins Wesen. Und unter der Decke seines kommunistischen Bewusstseins schlug sein katalanisches Herz, ein wenig schlug es auch noch anarchosyndikalistisch. 70 71 72 73 74 75 76
Mayenburg et al. 1978, S. 72, 93 f. Schälike, Preiß 2006; Solano 2006, August, S. 6 Tosstorff 2004, S. 438 Meaker 1974, S. 418 – 421; Bernecker 1987 Tosstorff 2003, S. 228; Alba, Schwartz 1988, S. 12 Nin 1923g; Nin 1923f; Nin 1923c; Nin 1923d; Nin 1923b; Nin 1923a Alba, Schwartz 1988, S. 11, 14
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Andreu Nin sah die Probleme der Sowjetunion durchaus. An einen Madrider Anarchisten schrieb er 1922: „Es gab Irrtümer, Ungerechtigkeiten. Wer bezweifelt das? Aber wer hätte ihnen entgehen können? Sind wir alle fehlerlos? Ganz und gar nicht. Und nicht wir machten die Revolution“.77 In Moskau fiel Nin die Aufgabe zu, das Wegdriften der Anarchosyndikalisten aufzuhalten. Aber alle seine Artikel, Briefe, Reden waren letztlich vergeblich. Die Resolution über die „organische Verbindung“ zwischen Komintern und Gewerkschafts-Internationale, von Rosmer und Losowski als erfolgreicher Kompromiss zwischen Anarchosyndikalismus und Kommunismus betrachtet, erwies sich als Katalysator einer raschen Trennung. Nach dieser Resolution wandten sich die Anarchosyndikalisten entweder ab oder traten zum Kommunismus über.78 Die Anarchosyndikalisten trafen sich wiederholt in Berlin zu eigenen Konferenzen und gründeten schließlich eine eigene Internationale, kaum dass die Rote Gewerkschafts-Internationale im November 1922 zu ihrem zweiten Kongress zusammengetreten war. Mit Berufung auf die Gründung von Marx und Bakunin nannten sie ihre Gründung Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA).79 Nin setzte sich in mehreren Artikeln mit dieser Konkurrenz auseinander. Er benutzte die bewährte kommunistische Methode der Diffamierung des politischen Gegners, wenn er sie einen „Schwatzklub der Borghi, Rocker und Co“. nannte. Der Anarchosyndikalismus schlage seine letzte Chance aus, wenn er die Bindung an die russische Revolution löse. Warum wolle der anarchosyndikalistische Kongress nicht anerkennen, dass die Gewerkschafts-Internationale kurz zuvor auf ihrem zweiten Kongress die unglückliche Bestimmung über die „organische Verbindung“ mit der Komintern fallen gelassen habe?80 Nin selbst hatte das Hauptreferat auf dem Kongress gehalten und sich darin ganz unversöhnlich gezeigt. Er wies sowohl die Forderung der anarchosyndikalistischen Organisationen nach Unabhängigkeit von der Komintern als auch ihr Verlangen nach Kongressen in westeuropäischen Zentren zurück. Das ginge erst, wenn dort auch die Revolution gesiegt hätte.81 Da der französische Delegationsführer aber wenigstens bei der ersten Bedingung hart blieb, hatte Losowski zu Lenin gehen und um die Streichung der „organischen Verbindung“ nachsuchen müssen.82 Rosmer und Losowski konnten nur so die prokommunistischen französischen Anarchosyndikalisten bis auf weiteres bei der Roten Gewerkschafts-Internationale halten. Nin mit seiner eher starren Haltung war nicht hilfreich gewesen.83 Die Abhängigkeit von der Internationale der Parteien nahm ungeachtet der Statutenänderung zu, die Gewerkschafts-Internationale wurde Teil des Komintern-Apparates.84 Schlimmer noch, die widersprüchliche Gewerkschaftspolitik der Komintern führte zu einem fortschreitenden Bedeutungsverlust der RGI. Geplant war sie als Konkurrenzgründung zum wiedererstande77 78 79 80 81 82 83 84
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Tosstorff 2008, S. 238 Serge 1977, S. 125 f.; Tosstorff 2004, S. 131 – 136 Tosstorff 2004, S. 398 – 406 Nin 1923e; Nin 1923j Nin 1923h Monmousseau 1923; Tosstorff 2004, S. 512 – 515 Tosstorff 2005a, S. 34 f.; Tosstorff 2004, S. 406; Losowski 1921b; Rosmer 2000b Tosstorff 2004, S. 529, 612 f.
nen reformistischen Internationalen Gewerkschaftsbund in Amsterdam. Mit Hilfe der revolutionären Syndikalisten hätte eine mächtige kommunistische, von Moskau geleitete Gewerkschaftsbewegung entstehen sollen.85 Das misslang auch, weil die Komintern unter dem Banner der Einheit die Taktik des trojanischen Pferdes beschloss. Sie stützte sich dabei auf Lenins Anweisung in seiner Broschüre „Der ‚Linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“, die in dem von der Gegenseite viel geschmähten Satz gipfelte: „Man […] muss zu jedwedem Opfer entschlossen sein und sogar – wenn es sein muss – alle möglichen Schliche, Listen und illegalen Methoden anwenden, die Wahrheit verschweigen und verheimlichen, nur um in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten“.86 Die kommunistischen Gewerkschafter erhielten also den Auftrag, innerhalb der reformistischen Organisationen zu wirken. So vereinte die Rote Gewerkschafts-Internationale schließlich keine kommunistischen Gewerkschaften, sondern nur noch Minderheiten und Splittergruppen. Bald nach ihrer Gründung hatte sie eigentlich ihren Sinn verloren, und tatsächlich erhoben sich Stimmen für die Auflösung.87 Die Lage war umso bedrohlicher, als auch Losowski angreifbar war. Er war nach der Oktoberrevolution auf Lenins Geheiß aus der Partei ausgeschlossen worden, weil er sich in Gorkis Zeitung „Nowaja Schisn“ (Neues Leben) und in der Gewerkschaftszeitung gegen die Diktatur des Proletariats erklärt und syndikalistische Sympathien bekundet hatte.88 Erst zwei Jahre später, als er die Leitung der Gewerkschafts-Internationale übernehmen sollte, wurde er wieder Mitglied. Im Februar 1922 beriet das Politbüro der Partei über einen Nachfolger, musste dann aber doch einsehen, dass Losowski mit seiner internationalen Erfahrung unersetzlich war. Die Rote Gewerkschafts-Internationale war erneut bedroht, als der Amsterdamer Internationale Gewerkschaftsbund 1926 den russischen Gewerkschaften die Mitgliedschaft anbot. Es ist erstaunlich, dass die russische Gewerkschaftsführung angesichts dieser Verlockung in dem folgenden Machtkampf Losowski nicht an die Wand drückte.89 Für Losowski und Nin war es eine Lebenfrage, den Gang der Russen nach Amsterdam zu verhindern. Die Verteufelung der Amsterdamer war ein Mittel. So erklärte Nin 1927 anlässlich des achten Jahrestags des Amsterdamer Gewerkschaftsbunds unter der Überschrift „Acht Jahre im Dienste des Kapitalismus“: „Die Arbeiterklasse hat gegenwärtig keinen schlimmeren Feind als die Amsterdamer Internationale.“ Für die Rote Gewerkschafts-Internationale gab er die Losung aus, sich in der Arbeit auf die kolonialen und halbkolonialen Länder zu konzentrieren, also jungfräulichen Boden zu beackern, auf den die Amsterdamer ihren Fuß noch nicht gesetzt hätten.90 Das Beharrungsver85 86 87 88 89 90
Tosstorff 2005b Lenin 1955 – 1989h, S. 40; Rosmer 1989, S. 60 – 63 Tosstorff 2004, S. 377 – 396 Lenin 2003 Tosstorff 2005a, S. 41 f.; Tosstorff 2004, S. 441 – 443, 614 – 634 Nin 1927, S. 1532
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mögen, das alle Institutionen haben, rettete zunächst auch die Gewerkschafts-Internationale; erst 1937 löste die Komintern sie im Zuge der Volksfrontpolitik auf. Losowski schob man auf unbedeutendere Posten ab, wo er bis 1949 übelebte; dann brachte der antisemitische Terror der späten Stalinjahre ihn ins Gefängnis und 1952 zu Tode.91 Losowski und Nin entfalteten ungeachtet aller Widrigkeiten eine emsige Tätigkeit. Mitteilungsblatt und Schriften der Roten Gewerkschafts-Internationale erschienen in mehreren Sprachen. Auf Reisen zu den Gewerkschaftern in Europa knüpften sie Netzwerke und sammelten Informationen, wenn nötig mit falschen Pässen und mit dem Risiko, verhaftet zu werden. So geschah es Nin 1925 in Paris.92 Aufmerksam verfolgte Nin die neue Gefahr des Faschismus. Schon 1923 vertrieb die RGI in mehreren Sprachen in Europa und Amerika seine Schrift über den „Kampf der Gewerkschaften gegen den Faschismus“. Er zeigte das Wesensgleiche in den unterschiedlichen Erscheinungen des soeben an die Macht gekommenen Mussolini-Faschismus, der Freikorps und der Hitler-Partei in Deutschland, der Heimwehren in Österreich, der Pistoleros-Banden in Spanien, und wie die entsprechenden Rotten in Ungarn, Argentinien und anderswo sonst noch heißen mochten. Schon zehn Jahre vor Hitlers Machtergreifung sah Nin die Modernität dieser Bewegungen: krisengeängstigte Bauern und Bürger unter dem Kommando von Weltkriegssoldaten, die von der Einheit des Vaterlandes tönten, um den Krieg der Bourgeoisie gegen die organisierte Arbeiterschaft zu führen. An die Stelle des Klassenkampfes setze der Faschismus die nackte Gewalt.93 Trotzkis Analyse zehn Jahre später war nicht wesentlich anders, und sie dürfte sich auf Materialien und Einsichten Andreu Nins gestützt haben. Als Nin die italienischen Gewerkschaften besuchte, musste er feststellen, dass auch die Anarchosyndikalisten dem einstigen Sozialisten Mussolini folgten: „Von den ehemaligen Ultrarevolutionären der italienischen syndikalistischen Vereinigung bleiben nur einige zerstreute Elemente übrig, die für den – Faschismus arbeiten.“94 Auch in der Sowjetunion liefen die Dinge übel. Victor Serge traf Nin und Losowski Anfang 1924 in Wien auf der Durchreise nach Rom; sie berichteten ihm von Lenins bevorstehendem Tod. Der überlieferte Dialog endete: „Und danach?“ – „Danach wird es drunter und drüber gehen. Die Einheit der Partei hängt nur noch an diesem Schatten.“95 Nach Trotzkis Zeugnis gehörte Andreu Nin seit 1923 – das hieße seit seinem Eintritt in die Kommunistische Partei – förmlich zur Linken Opposition. Nins öffentliche Distanzierung von der Opposition 1925 war jedenfalls erzwungen, da ein geheimer Briefwechsel mit Rosmer und Monatte in Paris abgefangen worden war.96 Gemeinsam mit Victor Serge, Karl Radek und anderen arbeitete Nin seit 1926 in der internationalen Kommission der Opposition. Er rebellierte gegen die Bürokratisierung und Verwässerung der Revolution und gegen Stalins These vom „Sozialismus in einem Land“. Dies alles stand quer zu Nins Idealen und Hoffnungen als Re-
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Tosstorff 2004, S. 659, 684 – 706 Alba, Schwartz 1988, S. 13; Tosstorff 2005a Nin 1923i Nin 1924 Serge 1977, S. 199 Alba, Schwartz 1988, S. 13; Tosstorff 2005a, S. 38
volutionär, als Internationalist und als Spanier, und es verband ihn mit Trotzki.97 Erstaunlich viele ehemalige Anarchosyndikalisten gehörten dem Kern der trotzkistischen Opposition an. Nin war dabei, als sie anlässlich des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution an die Öffentlichkeit trat. Er entging den Verhaftungen und Deportationen, die unmittelbar darauf einsetzten; vorerst schützte ihn seine internationale Bekanntheit. Im Februar 1928 schloss man ihn aus der Kommunistischen Partei aus. Er nahm noch am vierten Kongress der GewerkschaftsInternationale im März teil und hielt dort eine Rede, die trotzkistisch genug war, um den Saal in Unruhe zu versetzen. Das war das Ende seiner Arbeit im Exekutivkomitee der Roten Gewerkschafts-Internationale.98 Nin wohnte weiter im „Lux“. Victor Serge kam wiederholt aus Leningrad herüber, auch um Nin zu treffen, der „immer gut gelaunt und die Haare vom Wind zerzaust, mit mir Moskau durchstreifte, Schritt für Schritt von Aufpassern verfolgt“.99 Auf dem letzten Kongress der Gewerkschafts-Internationale hatte Nin den mexikanischen Maler Diego Rivera kennen gelernt und übersandte nun in dessen Namen einen Bildband mit Grüßen an Trotzki nach AlmaAta – ein erster Kontakt für Trotzkis letztes Asyl.100 Es war schwer, ohne Anstellung und Funktion mit der Familie in Moskau durchzukommen. Nin half sich genau wie Serge mit Übersetzungen. Er übertrug russische Werke ins Spanische und Katalanische, darunter Dostojewskis „Schuld und Sühne“; später in Spanien kam neben Tolstois „Anna Karenina“ auch Trotzkis „Geschichte der russischen Revolution“ hinzu.101 Seit Trotzki Anfang 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war, wollte auch Nin das Land verlassen, so schrieb er an Maurin. Maurin war 1925 wieder verhaftet worden und 1927 – nachdem eine Kampagne der französischen kommunistischen Partei ihn befreit hatte – nach Paris ins Exil gegangen.102 Nin bemühte sich mit Hilfe eines niederländischen Genossen um Asyl irgendwo in Europa, ebenso erfolglos wie Trotzki. Schließlich schaffte ihn kurz vor Beginn des Kongresses der Gewerkschafts-Internationale im August 1930 die Staatsmacht außer Landes. Frau und Töchter sollten bleiben. Olga Nin musste mit Selbsttötung drohen und Alexander Losowskis Fürsprache mobilisieren, damit alle gemeinsam ausreisen konnten. In Riga ließen sich Andreu Nin und Olga noch einmal standesamtlich trauen, um ihre Ehe auch außerhalb der Sowjetunion zu legalisieren. Inzwischen war die Diktatur Primo de Riveras am Ende, und Nin konnte – nach Aufenthalt bei den Pariser Freunden – noch im September nach Spanien weiterreisen.103
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Serge 1977, S. 243; Solano 2006, August, S. 6; Tosstorff 2005a, S. 43 Tosstorff 2005a, S. 44 f. Serge 1977, S. 307 Mayenburg et al. 1978, S. 154 f., 189 Pagès 1975, S. 333 f. Alba, Schwartz 1988, S. 12 Serge 1977, S. 273, 284; Tosstorff 2005a, S. 46 f.; Solano 2006, August, S. 6 f.; Palomar Baró 2008
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Zwischen Trotzki und Maurin Nin ließ sich mit seiner Familie in Barcelona nieder, wo Maurin schon seit dem Frühjahr war. Den Lebensunterhalt bestritt er auch hier mit Übersetzungen und journalistischer Arbeit. Zahlreiche Leser fand sein Buch „Diktaturen unserer Zeit“, das er schon in Moskau als Antwort auf Francesc Cambó geschrieben hatte, den Führer der republikanischen Rechten Kataloniens. Während Cambó Mussolinis Italien als Alternative zu Primo de Riveras Diktatur empfahl, sah Nin noch immer die Diktatur des Proletariats als die wirkliche Überwindung des Faschismus, der sich in Europa wie ein Krebsgeschwür ausbreitete.104 Nach dem Diktator räumte der König im April 1931 das Feld für die Zweite Republik; die Wahlen im Juni 1931 brachten eine überwältigende Mehrheit für eine Reformregierung aus Republikanern und Sozialisten. Spanien trat nach den Jahren der Friedhofsruhe unter Primo de Rivera in die Auseinandersetzung um die Wege überfälliger Modernisierung ein. Die Regierung stand vor mehreren verfallenen Baustellen, die sie gleichzeitig angreifen musste: eine Verfassung nach österreichischem und Weimarer Vorbild erarbeiten, Katalonien Autonomie einräumen, die Übermacht der Kirche in Staat und Schule brechen, den Landhunger der Arbeiter auf den Latifundien des Südens stillen. Alles geschah lavierend zwischen dem mächtigen Widerstand der Konservativen und der drohenden Ungeduld der Anarchosyndikalisten. Die Landreform verglich der sozialistische Arbeitsminister Francisco Largo Caballero mit einer Prise Aspirin gegen eine Blinddarmentzündung. In Andalusien hatten die Landarbeiter schon im Frühjahr 1931 die soziale Revolution erwartet, sie trugen Papierhüte mit den Initialen des Arbeiterbundes CNT und der Iberischen Anarchistischen Föderation FAI. Streiks und wilde Landnahmen flammten auf und wurden blutig unterdrückt von der Regierung. Eine provozierende Erklärung des Primas der spanischen Kirche gegen die laizistischen Dekrete der neuen Regierung beantworteten die Anarchosyndikalisten mit Kirchenbränden.105 Andreu Nin und Joaquin Maurin standen am Rande, sie waren Kommunisten und damit ziemlich einflusslos. Maurin hatte in Katalonien eine eigene kommunistische Gruppierung gebildet, die unabhängig von der Kommunistischen Partei agierte. Nin war mit gutem Willen zurückgekehrt, auch in Katalonien Anhänger für die kleine spanische Linksopposition zu werben; das war Trotzkis Auftrag an seinen Gefolgsmann. Nin rechnete dabei auf den alten Freund Maurin, der natürlich auf Verstärkung durch Nin hoffte. Nins Bedürfnis nach persönlicher Loyalität brachte ihn in eine Zwickmühle. Den Winter über vertröstete er Trotzki, dass Maurin zweifellos zu ihnen stoßen werde, wenn man ihn nur nicht zu hart angehe.106 Als im Frühjahr die spanischen Verhältnisse zu tanzen begannen, als Oberst Francesc Macià – derselbe, der einst in Moskau Unterstützung gesucht hatte – nach dem Wahlsieg seiner linksrepublikanischen Partei die Freie Katalanische Republik ausrief, als dann Joaquin Maurin sich mit seinem neuen „Arbeiter-und Bauern-Block“ dem mächtigen Arbeiterbund CNT annäherte und Maciàs Reformpolitik unterstützte, musste Nin sich entscheiden. Zunächst entschied er sich im Mai für Maurins Block, möglicherweise Trotzkis Anweisung folgend, in die sozia104 Cambó 1929; Nin 1977b; Alba, Schwartz 1988, S. 41 105 Souchy 1955, S. 49 – 61; de Tuñón Lara 1987, S. 36 – 38; Bernecker 2010, S. 117 – 121 106 Alba, Schwartz 1988, S. 20 – 25; Tosstorff 1987, S. 9 – 11
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listischen Parteien einzutreten, um dort nach der bewährten Taktik des Trojanischen Pferdes für die trotzkistische Linksopposition zu arbeiten. Genau das wollte die Führung des Blocks nicht und wies Nin zurück.107 Als die Freunde im Juni 1931 an aufeinanderfolgenden Tagen im Ateneo von Madrid ihr politisches Programm für das neue Spanien darlegten, kam es zum Bruch. Nin vollzog ihn, indem er Maurin in mehreren Zeitschriften der internationalen trotzkistischen Linksopposition angriff; Trotzki drängte mit Macht dazu. Nin tadelte Maurin für seine Irrtümer und falschen Bündnisse und setzte das trotzkistische Credo dagegen: Die Revolution habe demokratisch und sozialistisch in Permanenz unter proletarischer Hegemonie zu sein, keineswegs sei sie spezifisch katalanisch. Auf seine lange Freundschaft zu Maurin verweisend schloss er mit Aristoteles: Amicus Plato, sed magis amica veritas – ein Freund ist Platon, aber eine größere Freundin ist die Wahrheit.108 Andreu Nin sollte diese fragwürdige Weisheit bald beiseiteschieben. In der Folgezeit kühlte sich das Verhältnis zu Trotzki ab. Persönliches war im Spiel: Nin wollte das Zerwürfnis zwischen Trotzki und dem alten Freund Rosmer nicht akzeptieren, Trotzki empfahl ihm eben dies als Beispiel für seinen Umgang mit Maurin. Nin begehrte gegen den harschen Umgangston in Trotzkis Komitee der Internationalen Linken Opposition auf und nannte die dortigen Auseinandersetzungen Sophistereien und Intrigen. Trotzki tadelte Nins mangelnde Aktivität in diesem Gremium und die Missachtung der Beschlüsse und nannte ihn einen Dilettanten. Trotzki verlangte die Unterwanderung der konkurrierenden sozialistischen Parteien, Nin meinte, dass man von Prinkipos aus die spanischen Dinge nicht beurteilen könne.109 In dem Maße, wie sich Nin von Trotzki entfernte, näherte er sich Maurin. Ende September 1935 vereinte sich Nins kleine kommunistische Linksopposition mit Maurins Block zur „Arbeiterpartei der Marxistischen Vereinigung“ (Partido Obrero de Unificación Marxista, POUM). Der Name verzichtete auf das Etikett „kommunistisch“ und drückte damit die Hoffnung auf Fusion mit weiteren sozialistischen Kräften aus.110 Maurin schrieb 1972 in einem Brief an Alba: „Es gab keine Probleme. Nin hatte die Beziehungen mit Trotzki offiziell abgebrochen und ich war überzeugt, dass Nin es aufrichtig meinte und nicht auf Infiltration in der klassischen bolschewikischen Weise aus war. Der zentrale Punkt war: internationale Unabhängigkeit, kein Kontakt mit Trotzki. Nin willigte ein“.111 Anfang des Jahres 1936 schloss die Internationale Linke Opposition, der Vorläufer der Vierten Internationale, Nin und die Seinen förmlich aus. Weil die POUM dem linksrepublikanischsozialistisch-kommunistischen Wahlbündnis beigetreten war, seien sie „einfach der Nachtrab der Linksbourgeoisie geworden“, befand Trotzki resigniert.112 Die POUM trat dem „Interna-
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Alba, Schwartz 1988, S. 40; Tosstorff 1987, S. 12 – 14 Nin 1931 Trotzki 1986b; Trotzki 1986c; Tosstorff 1987, S. 25 Alba, Schwartz 1988, S. 87 – 111; Tosstorff 1987, S. 51 – 59 Alba, Schwartz 1988, S. 90 Tosstorff 1987, S. 78 f.
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tionalen Büro für Revolutionäre Sozialistische Einheit“ bei, einem Zusammenschluss linkssozialistischer Parteien, der kurz Londoner Büro oder spöttisch „Internationale 3½“ genannt wurde.113 Das breite linksrepublikanische Bündnis für die Wahlen im Februar 1936 war allerdings dringend geboten. Die Reaktion der Militärs, der großen Familien und der Kirche hatte in ganz Spanien zum Gegenschlag angesetzt. Nachdem nun auch in Deutschland, Österreich und Portugal die Demokratie unter die Räder des Faschismus gekommen war, sammelte die spanische Rechte Bauern und Bürger um sich, die durch Kirchenbrände, Reformen und sozialistische Losungen verängstigt waren. José Antonio Primo de Rivera, der Sohn des gescheiterten Diktators, gründete 1933 die Falange, später findet man diese faschistische Bewegung an der Seite der Militärrevolte. Nach Neuwahlen 1934 dominierte die Rechte die Regierung; zwei schwarze Jahre folgten. Zurückgenommen wurde fast alles zuvor Erreichte: Einschränkungen der Kirche, Landverteilungen, auch die Autonomie für Katalonien. Daraufhin erhoben sich im „Spanischen Oktober“ 1934 Landarbeiter, Kleinpächter und Arbeiter in Asturien und in Katalonien. Die Regierung setzte Militär ein, tötete Tausende, setzte Dreißigtausend gefangen, und konnte doch ihre Herrschaft nicht stabilisieren.114 Das linke Wahlbündnis schrieb die Amnestie für die Gefangenen und die Abwehr der faschistischen Rechten auf seine Fahnen. Die Anarchosyndikalisten riefen diesmal nicht zum Wahlboykott auf, sodass die Linken wieder die Mehrheit errangen. Für die POUM erhielt Maurin einen Sitz in der Cortes, dem Parlament in Madrid. In Katalonien hatte die POUM nach den erfolgreichen Wahlen wohl 6.000 Mitglieder, nun konnte sie hoffen, in ganz Spanien Gehör und Gefolgsleute zu gewinnen. Nin mühte sich unterdessen in Barcelona um die Gründung einer eigenen Gewerkschaft, Voraussetzung für ein engeres Zusammengehen mit den Anarchosyndikalisten, ohne die nichts ging, nicht in Katalonien und nicht in ganz Spanien.115 Katalonien erhielt sein Autonomiestatut zurück und damit die eigene Regierung „Generalitat“. Der Reformprozess kam wieder in Gang, wie schleppend auch immer. Zuversicht gewann die Oberhand. Die Rechte schlug dennoch zu. Am 16. Juli 1936 revoltierte in Marokko das Militär gegen die Republik. Ein Anführer und bald der entscheidende war derselbe General Franco, der mit seiner Afrikaarmee den Aufstand in Asturien blutig niedergeschlagen hatte. Er trug den Putsch unverzüglich nach Spanien hinüber. Das Welttheater schlug nun seine Bühne in Spanien auf, zum Vorspiel des großen Kriegs.
Führer der katalanischen Revolution Der Militärputsch, der die drohende Revolution zum Vorwand nahm, hat sie heraufbeschworen. Eine vorauseilende Konterrevolution bahnte der Revolution den Weg.116 Nicht nur dort, 113 114 115 116
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Tosstorff 1987, S. 289 – 291; Alba, Schwartz 1988, S. 98 de Tuñón Lara 1987, S. 40 – 45; Bernecker 2010, S. 128 – 135 Alba, Schwartz 1988, S. 95 – 110 Aróstegui 1987, S. 66
wo Francos afrikanische Truppen mit Hilfe italienischer und deutscher Truppentransporter gelandet waren, überall in Spanien stellte sich das Militär auf die Seite der Aufständischen. In Barcelona rief der linkskatalanische Regierungspräsident Lluís Companys noch am 18. Juli die Bürger auf, ruhig zu Bett zu gehen, und weigerte sich, die Arbeiter zu bewaffnen. Doch als die Putschisten in der Frühe angriffen, hatten die Arbeiter Barrikaden errichtet; sie öffneten mit Hilfe republiktreuer Polizeitruppen die Waffendepots und schlugen die Aufrührer zurück. Die Arbeitermilizen vereitelten den Putsch in Barcelona, in Madrid und in den städtischen Zentren, doch im Westen und Süden besetzten Francos Truppen große Teile des Landes. Katalonien sandte seine Arbeitermilizen an die nahe Aragonienfront. Die vom Chronisten der POUM überlieferten groben Zahlen mögen einen Begriff von der Stärke der Organisationen geben: 13.000 Freiwillige von CNT und FAI, die sich zur gemeinsamen anarchistischen Aktion verbanden, 3.000 von der POUM, 2.000 von der sozialistischen Gewerkschaft UGT. Companys Regierung Generalitat konnte nur noch 200 Polizisten und Militärs aufbieten. Überall im republikanischen Spanien brach sich der Putsch am Opfermut der Arbeiter, vor allem der Anarchosyndikalisten. Diese Milizen ohne Offiziere und Befehlsstruktur retteten im Sommer 1936 die Republik.117 Die POUM war in diesem Moment führerlos, denn Maurin war im besetzten Galizien; er fehlte an allen Ecken und Enden. Andreu Nin musste als „politischer Sekretär“ den abwesenden Generalsekretär ersetzen. Nin war in der Partei nicht verwurzelt, als Führer der kleinen, ehemals trotzkistischen Minderheit genoss er unter den alten „Blockisten“ nicht dieselbe Autorität und hatte wohl auch nicht dieselbe Führungsstärke wie Maurin. Seine Politik war zunächst schwankend. Er ließ die Parteizeitung einige Wochen katalanisch erscheinen, was intellektuelle und kleinbürgerliche Katalanen anzog, aber ignorierte, dass die spanischen Arbeiter ganz überwiegend kastilisch sprachen. Er schmiedete Fusionspläne für die kleine POUM-Gewerkschaft, die aber von Sozialisten und Anarchosyndikalisten zurückgewiesen wurden. Daneben verfolgte ihn Trotzki aus der Ferne mit beißender Kritik.118 Erst im Laufe des Herbstes gewann Nin Profil als Führer, und die POUM wurde zur politisch mitentscheidenden Kraft in Katalonien. Der Abwehrkampf ging in die Revolution über, das Verlangen nach der sozialen Revolution wurde zur Naturgewalt. In Katalonien war sie tiefer und nachhaltiger als irgendwo sonst im republikanischen Spanien. Es war eine Revolution von unten, und sie war anarchistisch. Die Komitees der Milizen organisierten Verteidigung und Alltag als revolutionäre Organe, vergleichbar den Räten der russischen Revolution. Unternehmer und Großgrundbesitzer waren mit den Putschisten geflohen oder verfielen der revolutionären Abrechnung. Arbeiter bildeten Fabrikkomitees in den kollektivierten Industriebetrieben, schlossen die Handwerksbetriebe von den Bäckern bis zu den Friseuren zu Produktionsgenossenschaften zusammen und richteten landwirtschaftliche Kollektiven ein. Der Traum vom freiheitlichen Kommunismus schien zum Greifen nah.119 Eric Blair, später als George Orwell ein weltbekannter Schriftsteller, erlebte Barcelona im Dezember 1936: 117 Alba, Schwartz 1988, S. 111 – 115 118 Tosstorff 1987, S. 110 f.; Alba, Schwartz 1988, S. 114, 119 – 124 119 Bernecker 1978b, S. 36 – 44; Bernecker 1978a; Aróstegui 1987, S. 78 – 86
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„Zum ersten Mal war ich in einer Stadt, in der die arbeitende Klasse im Sattel saß. Die Arbeiter hatten sich praktisch jeden größeren Gebäudes bemächtigt und es mit roten Fahnen oder der rot und schwarzen Fahne der Anarchisten behängt. […] Hier und dort zerstörten Arbeitstrupps systematisch die Kirchen. Jeder Laden und jedes Café trugen eine Inschrift, dass sie kollektiviert worden seien. Man hatte sogar die Schuhputzer kollektiviert und ihre Kästen rot und schwarz gestrichen“.120 Die Akteure betonen den gewaltlosen und geordneten, geradezu fröhlichen Charakter dieser Revolution. Als Nin Anfang September Bilanz zog, sah er die fahrenden Züge und Straßenbahnen und die funktionierenden Betriebe als Zeichen der Reife der spanischen Revolution, größerer Reife, als er sie in der russischen Revolution erlebt habe.121 Doch die erste Phase des Bürgerkriegs, die aus dem vereitelten Putsch gewachsen war, war auch eine Orgie der Gewalt, der blinden Rache und der Todesurteile ohne Prozess. Viele Geistliche fielen dem revolutionären Terror zum Opfer. Auf der anderen Seite standen die Blutorgien von Francos nationalistischen Truppen in jedem eroberten Ort.122 Lähmte die Revolution die ohnmächtige Republik zusätzlich, oder war einzig diese Revolution ihre Rettung, weil nur ihre ärmsten und gedrücktesten Bürger sie verteidigen wollten? So war es offensichtlich. Liberale und bürgerliche Republikaner waren wie gelähmt. In Madrid scheiterte die Regierungsbildung, bis Francisco Largo Caballero sie in die Hände nahm, der einstige Bauarbeiter, der populäre Vorsitzende der Sozialistischen Partei und ihrer Gewerkschaft UGT. In Barcelona wurde das Zentralkomitee der Milizen zur Nebenregierung der ohnmächtigen Generalitat. Nicht die Revolution lähmte die Republik, sondern die Unentschlossenheit der Revolutionäre. Companys hatte nach den dramatischen Julitagen den Anarchisten die Regierung angeboten; die lehnten ab, wie es ihr apolitisches Selbstverständnis gebot. So ließen die Revolutionäre die halbe Macht liegen und mussten zusehen, wie andere sie Stück für Stück wieder aufnahmen. Sie glaubten, der freiheitliche Kommunismus entwickelte sich im Selbstlauf, und mussten erkennen, dass schon für den Bürgerkrieg zentralisierte Macht nötig war.123 Im Lauf des Herbstes traten die Anarchosyndikalisten in Madrid und in Barcelona in die Regierungen ein – die Realität hatte über das anarchistische Ideal gesiegt. Caballero und Companys konnten mit dieser Volksfrontpolitik die Revolution legalisieren und kontrollieren. Statt Kollektivierung wurde Nationalisierung die Losung für die Wirtschaft, förmliche Verwaltung verdrängte die Fabrikkomitees, und die neue Heeresorganisation gliederte sich mittels Wehrpflicht und Kommandostrukturen die Milizen ein.124 Die Revolution, die den Putsch besiegt hatte, war gezähmt, sie musste sich den Erfordernissen des Bürgerkriegs unterordnen.
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Orwell 1975, S. 9 Souchy 1955, S. 97 – 115; Alba, Schwartz 1988, S. 130 – 135, 148 f. Bernecker 2010, S. 169 f.; Aróstegui 1987, S. 83 – 85 Bernecker 1978b, S. 212 – 222; Alba, Schwartz 1988, S. 112 f. Souchy 1955, S. 77; Bernecker 2010, S. 150 – 155; Aróstegui 1987
Manifestation der POUM
Die POUM hatte während der Kämpfe wie alle Arbeiterorganisationen enorm an Einfluss und Mitgliedern gewonnen. Zählte sie zuvor nach Tausenden, so waren es nun Zehntausende. Das intellektuelle und politische Gewicht der POUM in den Revolutionsorganen von Barcelona, dem Zentralkomitee der Milizen und dem Wirtschaftsrat, war womöglich noch größer. Als die von Companys gebildete Volksfrontregierung an die Stelle dieser revolutionären Institutionen treten sollte, stellte sich Nin und dem Exekutivkomitee seiner Partei die alte Frage aller Sozialisten, seitdem Millerand 1899 in das Kabinett Waldeck-Rousseau eingetreten war: teil359
nehmen oder nicht? Die POUM entschied sich dafür und erregte wiederum Trotzkis Zorn.125 In der Volksfrontregierung der Generalitat übernahm Nin das Justiz-Ressort. Er stimmte dort meistens gemeinsam mit dem anarchosyndikalistischen Arbeiterbund CNT, seinem wichtigsten Verbündeten während der Revolution. In der kurzen Zeit seines Ministeramts versuchte er Gesetzlichkeit in Zeiten der Revolution und des Kriegs herzustellen. Er richtete Volkstribunale mit geordneten Verfahren ein, um die Herrschaft der Gewalt zu beenden. Er schuf eine Instanz zur Überprüfung von Todesurteilen. Er arbeitete die juristischen Grundlagen für unkomplizierte Adoptionen von Kriegswaisen aus und legalisierte Heiraten, die vor revolutionären Komitees geschlossen worden waren. Das Volljährigkeitsalter setzte er herab, denn viele Jugendliche kämpften in den Milizen.126 Victor Alba, damals ein junger Redakteur bei „La Batalla“, sah Nins Tätigkeit in der katalanischen Generalitat kritisch, allerdings aus anderen Gründen als Trotzki. Nins Ansehen in der Partei sei dadurch nicht gewachsen. Nin als weithin bekannter Trotzkist habe das Feuer der stalinistischen Gegner erst recht auf die Partei gelenkt.127 Doch die antistalinistische POUM galt den moskautreuen spanischen Kommunisten unabhängig von Nins Person als politischer Gegner. Sie hielten Nins Flügel der vereinigten Partei für trotzkistisch und Maurins Block für bakuninistisch und lehnten daher nahezu jedes Ersuchen um Zusammenarbeit ab. Die Fronten verhärteten sich noch, als „La Batalla“ im August 1936 gegen die Hinrichtung von Kamenew, Sinowjew und anderen alten Bolschewiken protestierte und auch die monströsen Anschuldigungen gegen Trotzki zurückwies: „Trotzki ist für uns, gemeinsam mit Lenin, eine der großen Persönlichkeiten der Oktoberrevolution und ein großer revolutionärer sozialistischer Schriftsteller. Beleidigt, verfolgt, bekunden wir unsere Solidarität mit ihm ebenso offen, wie wir gleichzeitig sagen, dass wir einigen seiner Auffassungen nicht zustimmen“.128 Mit ihrem Protest gegen den Moskauer Prozess hatte die POUM nicht nur in Spanien, sondern auch unter den Parteien des Londoner Büros allein gestanden. Gegen den faschistischen Putsch kamen die befreundeten Parteien aber zur Hilfe. Die Independent Labour Party sandte ein ganzes Kontingent an die Aragonienfront, zu dem auch George Orwell stieß. Schon seit dem August trafen Freiwillige von überall her im Hauptquartier der Partei ein, dem Hotel Falcón an den Ramblas von Barcelona. Ein Zeitgenosse berichtet: „Dort schritt ein Schwarm von Journalisten, Politikern, Emigranten aus aller Welt herum, gaben sich sämtliche sozialistischen und kommunistischen Oppositionsgruppen aus aller Welt ein Stelldichein. Die SAP, vertreten durch Max Diamant und Willy Brandt, Funktionäre der KPO – Richtung Brandler, Rätekommunisten aus Holland, Trotzkisten aus
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Trotzki 1986a Behrend 2005, S. 38 f. Alba, Schwartz 1988, S. 133 – 138 Alba, Schwartz 1988, S. 132
Amerika, Frankreich, England, Südamerika, italienische Maximalisten, deutsche Anarcho-Syndikalisten, der Jüdische Bund, sie waren alle da“.129 Die Aufzählung liest sich wie ein „Who is Who“ der Erzfeinde der stalinistischen Komintern. Das konnte nicht gut gehen, denn die Sowjetunion war inzwischen zum Bündnispartner der Republik geworden – dem einzigen neben Mexiko.
Stalins Falle Vergeblich hatte die Republik in Frankreich um Hilfe gebeten, wo der Sozialist Léon Blum an der Spitze der Regierung stand. Das Frankreich der Volksfront begab sich ins Schlepptau des konservativ regierten Großbritannien, und die Briten organisierten mit Unterstützung des Völkerbunds eine Nichteinmischungspolitik, die Hitler-Deutschlands und Mussolini-Italiens Militärhilfe für Franco begünstigte. Stalins Sowjetunion entschloss sich im September 1936, der spanischen Republik mit Waffen und Hilfsgütern beizuspringen. Bezahlt wurden die Lieferungen mit den Goldreserven der Republik, die in einem geordneten Verfahren auf Schiffen nach Moskau in Sicherheit gebracht worden waren. Als das Gold aufgebraucht war, gab Moskau Kredite. Parallel organisierte die Komintern Freiwilligenverbände, ganz überwiegend Kommunisten und fast zur Hälfte Intellektuelle. Die Internationalen Brigaden griffen schon in die Schlacht um Madrid im November 1936 entscheidend ein.130 Der spanische Historiker rühmt ihren Heldenmut: „Sie taten dies – nach den Gesetzen ihrer Heimatländer – illegal oder zumindest am Rande der Legalität. Noch schwieriger war es, die Länder zu verlassen, die von rechts gerichteten Regierungen beherrscht wurden; die Freiwilligen aus Polen und den Balkanstaaten unternahmen wahre Odysseen, bevor sie ihr Ziel erreichten. Zu Fuß, über Berge und durch Täler, nachts unter freiem Himmel, verborgen zwischen den Kohlen der Lokomotiven oder im Ladeschacht eines Schiffes gelang es ihnen, Grenzen und Kontrollen zu überwinden und sich nach Frankreich durchzuschlagen. Von dort aus traten sie ihre Reise nach Spanien an, die für viele die letzte sein sollte“.131 Stalins Politik war geleitet von Interessen; die Weltrevolution gehörte nicht dazu, sondern einzig die Sicherheit der Sowjetunion. Er wollte die Machtausbreitung der faschistischen Regimes Italiens und vor allem Deutschlands verhindern, das auf dem spanischen Kriegsschauplatz Waffen, Flugzeuge und Logistik für seinen bevorstehenden Kampf um die Weltmacht erprobte. Er wollte dabei keineswegs das Einvernehmen mit den westlichen Demokratien aufs Spiel setzen, vor allem nicht mit Frankreich, mit dem seit 1935 ein Beistandspakt bestand. Deshalb betrieb die sowjetische Politik in Spanien die Beendigung der Revolution. Stalin strebte 129 Tosstorff 1987, S. 294 130 Viñas 1987, S. 220 – 232 131 Viñas 1987, S. 230
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statt der Revolution eine Volksfront an, in der die moskautreuen Kommunisten alle anderen Kräfte dominieren sollten. Ob es auch zu den Zielen stalinistischer Politik gehörte, von den gleichzeitigen Moskauer Terrorprozessen abzulenken und sich internationalistisch zu drapieren, bleibt fraglich, weil sie Geist und Praxis des Terrors nach Spanien trug. Nicht belegt ist auch die oft zu lesende Anschuldigung, die Sowjetunion hätte einen langen Krieg dem Sieg der republikanischen Seite vorgezogen, möglichst bis zum Kriegseintritt der Westmächte gegen Deutschland und Italien. Tatsächlich hat die Sowjetunion einen raschen Sieg Francos vereitelt und so den Bürgerkrieg erst möglich gemacht. Hat sie mit ihrem Feldzug gegen Trotzkisten, Anarchisten und andere Dissidenten auch den Sieg der Republik verspielt? Die Mehrzahl der Autoren weist eine solche Spekulation zurück. Schließlich blieb auch für die republikanische Regierung nur der große Krieg als letzte Hoffnung auf den Sieg.132 Das Eingreifen der Sowjetunion stärkte die Rolle der spanischen Kommunisten ungemein. Die Partei, die vor Beginn des Bürgerkriegs in Spanien kaum stärker als die POUM und in Katalonien sehr viel schwächer gewesen war, wurde binnen Kurzem zur mitgliederstärksten unter den sozialistischen Parteien, wenn auch nach wie vor zurückstehend hinter den Anarchosyndikalisten des Arbeiterbunds CNT und den verbündeten Anarchisten der FAI. Die soziale Zusammensetzung der Kommunistischen Partei wandelte sich. Mittelständler waren vom kommunistischen Kurs gegen die Kollektiven angezogen; Akademiker, Beamte und Militärs suchten Anstellungen. Auch die sozialistische Jugendorganisation und die Gewerkschaft UGT kamen unter kommunistischen Einfluss. Unter sowjetischem Druck besetzten Kommunisten immer mehr Stellen von der Regierung bis hinunter in die Gemeinderäte, in Armee und Polizei.133 Der sowjetische Beistand wurde nicht nur mit Gold bezahlt, sondern auch mit der Unabhängigkeit der Republik. Dem Botschafter Marcel Rosenberg, der – allgemein enthusiastisch begrüßt – Nichteinmischung und Achtung der spanischen Institutionen versprach, folgten an die tausend sowjetische Berater.134 Die spanischen Kommunisten verhehlten nicht, dass sie Weisungen der sowjetischen Repräsentanten ausführten. Dolores Ibárruri, die legendäre „Pasionaria“, soll sich in den Sitzungen des Exekutivkomitees der Kommunistischen Partei ganz unverblümt auf Togliattis Willen berufen haben.135 Palmiro Togliatti, den Nin von seiner Italienreise im Auftrag der Roten Gewerkschafts-Internationale gut kannte, war der Repräsentant der Komintern in Spanien. Weitere alte Bekannte kamen: der Bulgare Stojan Minew, genannt Stepanow, mit dem Nin in Moskau gemeinsam eine Lateinamerika-Konferenz organisiert hatte, und Wladimir Antonow-Owsejenko, Held vom Sturm auf das Winterpalais, wie Stepanow ein Gefährte aus Trotzkis linker Opposition. Beide hatten bereut; Antonow-Owsejenko war nun Stalins Sondergesandter in Barcelona.136
132 Viñas 1987, S. 259 – 261; Aróstegui 1987, S. 159 – 164; vgl.: Schauff 2005, S. 357 – 364; dagegen: Behrend 2005, S. 35 – 37 133 Aróstegui 1987, S. 104 – 108; Alba, Schwartz 1988, S. 212 – 218 134 Kowalsky 2004, S. I/2 Zeile 15 – 20 135 Alba, Schwartz 1988, S. 213 – 216 136 Zu Minew siehe: Firsov 1999; zu Antonow-Owsejenko: Kowalsky 2004, S. I/2 Zeile 20 – 25
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Sollte Andreu Nin Wiedersehensfreude empfunden haben, so war sie einseitig. Bei einem Empfang, auf dem Nin sich als Dolmetscher anbot, ließ Antonow-Owsejenko ihn stehen. Als Nin – abgestimmt mit dem Exekutivkomitee der POUM – bei Companys sondierte, ob es für den in Norwegen internierten Trotzki Asyl in Barcelona geben könnte, raste Antonow-Owsejenko. Er drohte, dass die Sowjetunion ihre Hilfe für Spanien augenblicklich einstellen würde, wenn dies Ungeheuerliche geschehe. Alba nennt die Aktion eine Riesendummheit von Nin, sehr zum Schaden der POUM.137 Natürlich war es unbedacht, alte Freundespflicht über politische Klugheit zu stellen, gerade weil der einstige Freund und Lehrer auf der ganzen Welt keinen Verteidiger mehr hatte. Davids Kampf gegen Goliath war ausgeglichener gewesen. Indessen, was hätte es genützt, sich wegzuducken? Andreu Nin, in Moskau einer der weniger wichtigen Anhänger Trotzkis, stand jetzt an der Spitze einer einflussreichen antistalinistischen Partei. Julián Gorkin, Beauftragter der POUM für internationale Angelegenheiten, überbrachte von Victor Serge aus Brüssel eine Warnung an Nin: „Von euch allen ist er am meisten gefährdet. Stepanow gehörte mit ihm und mir dem Oppositionszentrum an, er hat uns verraten. Jetzt ist er einer der wichtigsten KominternDelegierten in Spanien; um sich zu bewähren wird er daher besonderen Eifer zeigen. Gebt Acht auf Antonow-Owsejenko: Er weiß, dass er umkommen muss, wenn er den gegen euch erteilten Befehlen nicht gehorcht. Die ehemaligen Oppositions-Genossen, die vor Stalin kapituliert haben, sind unsere schlimmsten Feinde geworden. Benachrichtige Nin, er ist in Gefahr. Ich kenne den Mechanismus: Nach den Verleumdungen kommen die Genickschüsse“.138 Der bald folgende Angriff meinte Nin, und er meinte die POUM. In Madrid hatte man den Vertretern der POUM schon im November die Mitwirkung im Verteidigungsrat verweigert, sodass ihre Milizen an der Schlacht um Madrid nur verdeckt in Einheiten des Arbeiterbunds CNT teilnehmen konnten. Antonow-Owsejenko sorgte Mitte Dezember 1936 für die Umbildung der katalonischen Generalitat. Nin schied aus der Provinzregierung aus, und die Kommunisten bekamen mit zwei zusätzlichen Sitzen das Übergewicht. Die Prawda kommentierte die Umbildung der Generalitat am 17. Dezember: „Was Katalonien betrifft, hat die Säuberung von Trotzkisten und Anarchosyndikalisten bereits begonnen; sie wird mit derselben Energie wie in der Sowjetunion durchgeführt werden“.139 Es folgte eine erste Verleumdungskampagne. Durch Katalonien und mehr noch durch jene Provinzen, in denen die POUM nur schwach vertreten und daher wenig bekannt war, schrien die spanischen Kommunisten den Vorwurf des Trotzkismus. Zeitungen, Plakate, Flugblätter und Reden verkündeten es. Und wie im Moskauer Prozess vom August 1936 verband sich der Vorwurf zwanglos mit der Anklage des Verrats, der Kollaboration mit den Franco-Faschisten. 137 Alba, Schwartz 1988, S. 137 – 140, 161 – 168 138 Gorkin et al. 1980, S. 56 f. 139 Gorkin et al. 1980, S. 67; Behrend 2005, S. 39 f.
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Schließlich galt die POUM als Fünfte Kolonne Francos. Da die POUM-Zeitungen von Komintern-Beratern und kommunistischen Beauftragten zensiert wurden, war Gegenwehr kaum möglich.140 Je ungeheuerlicher die Beschuldigungen, desto leichter wurden sie ja geglaubt. Die POUM-Führung konnte die Ausweglosigkeit ihrer Lage noch nicht fassen; sie konzentrierte sich weiterhin darauf, so viel wie möglich von der Revolution zu retten. Mit diesem Ziel suchte sie noch engere Anlehnung an die Anarchosyndikalisten, die aber waren kaum weniger im Schussfeld der Stalinisten. Die Kämpfer der CNT und der POUM an der Aragonien-Front vor Huesca erhielten keine Waffen aus den sowjetischen Lieferungen, wie George Orwell am eigenen Leib erfahren hat.141 Die Zusammenstöße mehrten sich in dem Maße, wie die nun in der katalanischen Generalitat herrschende Volksfront aus Kommunisten und Linksbürgerlichen gegen die anarchistischen Errungenschaften vorging, wie sie Kollektiven auflöste, Enteignungen rückgängig machte, Milizen in die regulären Verbände eingliederte. Die Spannung entlud sich in den „Maiereignissen“ von Barcelona. Sie lieferten die Begründung für die in der Prawda angekündigte Abrechnung. Am 3. Mai griff ein Trupp Polizei unter kommunistischer Führung die anarchistische Besatzung der Telefonzentrale an, die dort seit dem 19. Juli des Vorjahres den Betrieb sicherte. Daraus entwickelten sich tagelange Straßenschlachten zwischen CNT-FAI und POUM auf der einen Seite, und Kommunisten mit den bewaffneten Kräften der Generalitat auf der anderen Seite. Kommunisten und Ordnungskräfte, letztere inzwischen sämtlich unter kommunistischer Leitung, siegten. Die Kämpfe forderten mehr als 500 Tote und wenigstens 1.500 Verletzte. Der Angriff auf die Telefonzentrale kann eine kommunistische Provokation gewesen sein, wie Gorkin, Alba und Souchy überzeugt sind, er war jedenfalls der Funke, der die seit Monaten gelegten Bomben zündete, wie Orwell beobachtete.142 Die Propaganda der kommunistischen Partei behauptete, in Barcelona hätten Trotzkisten und Anarchisten einen Putsch im Rücken der Front angezettelt, um einen Bürgerkrieg im Bürgerkrieg zu entfesseln und Franco zum Sieg zu verhelfen. Der Hauptstoß richtete sich gegen die POUM. Plakate klebten an den Wänden, auf denen die POUM eine grässliche Fratze mit einem Hakenkreuz im Rücken zeigte. Diese zweckdienlichen Verleumdungen gelangten über sowjetische Kanäle auch in die internationale Presse, die linke eingeschlossen.143 Alba übt auch hier wieder Kritik an Nin, der sorglos agiert habe, in regelmäßigen Sitzungen des Zentralkomitees Manifeste verabschiedend, die Hoffnung nährend, dass gemeinsam mit dem Arbeiterbund CNT die Rettung der Revolution und der Sieg über Franco gelingen könne. Nin missachtete die Gefahr noch, als Miguel Valdés namens der katalanischen Kommunisten erklärte: „Man muss Nin und sein Freundesgrüppchen ausrotten“. Er traf keine Vorbereitungen, mit der Partei in den Untergrund zu gehen. Maurin, den inzwischen jedermann tot glaubte, fehlte so sehr.144 140 Orwell 1975, S. 80, 83; Tosstorff 1987, S. 172 – 198; Alba, Schwartz 1988, S. 172 – 186 141 Orwell 1975, S. 69, 86 f.; Tosstorff 1987, S. 279 – 282 142 Souchy 1955, S. 195 – 199; Orwell 1975, S. 187 – 205; Gorkin et al. 1980, S. 74 – 80; Tosstorff 1987, S. 199 – 220; Alba, Schwartz 1988, S. 186 – 192; Aróstegui 1987, S. 133 143 Alba, Schwartz 1988, S. 193, 210 f.; Orwell 1975, S. 213 – 215 144 Gorkin et al. 1980, S. 121; Alba, Schwartz 1988, S. 203; Tosstorff 1987, S. 199 – 220
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Die Maiereignisse boten die Handhabe zum Sturz des sozialistischen Regierungschefs Largo Caballero und zur Ausschaltung der Anarchosyndikalisten aus der Regierung der Republik. Die kommunistischen Minister forderten die Auflösung der POUM und die Verhaftung ihrer Führer. Als Caballero ablehnte – niemals wolle er am Verbot einer Arbeiterorganisation mitwirken – wurde Juan Negrín, ebenfalls ein Sozialist, Präsident eines Kabinetts ohne Anarchosyndikalisten. Das war die totale Unterwerfung der spanischen Republik unter Stalins Politik. Während die betroffenen Organisationen diese Wende verurteilten, weisen Historiker auf die Alternativlosigkeit hin. Während also bei Gorkin Negrín in seiner Schwäche nahezu als Landesverräter erscheint, hielt er nach Aróstegui die letzte Bastion gegen Franco. Mit Stalin hofften auch die Führer der Republik immer noch, dass die Westmächte schließlich gegen Hitler und Mussolini in den Kampf zögen.145
Das Ende Fast einen Monat wartete Negrín, bis er am 16. Juni 1937 die POUM verbot und ihre Führung verhaften ließ. Gorkin hatte noch am 14. Juni den sozialistischen Innenminister, einen alten Journalistenkollegen, um die Wiederzulassung von „La Batalla“ ersucht und gefragt, ob die POUM-Führung direkt bedroht sei. Dessen Wort – ausweichend und beruhigend – galt nichts mehr. Zuerst zerrte die Polizei Nin in ein Auto mit unbekanntem Ziel, dann wurden die Mitglieder des Exekutivkomitees, der Redaktion von „La Batalla“ und 200 weitere „Poumistas“ verhaftet und nach Valencia gebracht. Dorthin hatte sich inzwischen die Regierung vor den herannahenden Franco-Truppen geflüchtet. Julián Gorkin und Victor Alba waren unter den Gefangenen und schildern deren Odyssee. Auf Entscheid des baskisch-nationalistischen Justizministers wurden sie Ende Juni freigelassen, aber noch an der Tür des Gefängnisses vom sowjetischen Geheimdienst abgefangen und nach Madrid gebracht; dort kamen sie in eine Cheka in Antocha. Die Gefängnisse waren überfüllt mit POUM-Leuten, von 1.000 Verhafteten und 50 Getöteten wird berichtet. Eine stalinistische Säuberungswelle lief durch das republikanische Spanien, der neben Anarchosyndikalisten auch immer mehr Kämpfer der Internationalen Brigaden zum Opfer fielen. Sie wurden als Trotzkisten, Anarchisten, Menschewiken verfolgt, wahllos nach Moskauer Muster. Gorkin und Alba erzählen von den Hintermännern der Verfolgung: Palmiro Togliatti, der die Komintern in Spanien repräsentierte und Stalins Entschlüsse übermittelte; der Ungar Ernő Gerő, genannt Pedro, der die Minen für die Maikämpfe in Barcelona gelegt hatte; Alexander Orlow, Statthalter des sowjetischen Geheimdienstes, der die Ausführung überwachte; Francisco Antón, Günstling der Ibárruri, der die Beweise gegen die POUM-Führer zusammenschusterte.146 Alba und Gorkin berichten auch über die verschwundenen und ermordeten ausländischen Kämpfer, darunter Mark Rein, Sohn des menschewikischen Führers und einstigen Bun-
145 Souchy 1955, S. 195 – 201; Gorkin et al. 1980, S. 104 – 115; Behrend 2005, S. 42; dagegen: Aróstegui 1987, S. 159 – 166; Bernecker 2010, S. 156 – 160 146 Kowalsky 2004, S. V/13 Zeile 55 – 60
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disten Rafail Abramowitsch, und der österreichische Kommunist Kurt Landau, dessen Ehefrau Katia einen Hungerstreik der eingekerkerten POUM-Frauen anführte. Auf Protest von Otto Bauer und Friedrich Adler kam Katia Landau frei, ihr Mann blieb verschwunden. Der Generalsekretär der Independent Labour Party listete in seinem Spanienbericht die Kämpfer auf, die an verschiedenen Orten in Barcelona gefangen waren, es waren überwiegend Deutsche aus der linkssozialistischen SAP und der Kommunistischen Partei-Opposition KPO, die in den POUM-Milizen gestanden hatten. Auch nach Andreu Nins Schicksal fragten die Parteien des Londoner Büros und die Gewerkschaften der anarchosyndikalistischen Internationalen Arbeiter-Assoziation entsandten Kommissionen. Sie erhielten von der republikanischen Regierung nur Verweise auf eigene Ohnmacht und sowjetische Stellen.147 Noch in Valencia überreichte ein Wachsoldat Gorkin, den er für Nin hielt, ein Paket mit frischer Wäsche und Obst. Es war von Olga Nin, die ihren Mann bei den anderen Gefangenen glaubte.148 Alarmiert, dass es nicht so war, wandte sie sich an den Justizminister der spanischen Republik. Der beteuerte, dass Nin und seine Genossen frei kämen, denn er halte sie keineswegs für Spione Francos. Ihr Mann lebe auch gewiss noch, denn Nachforschungen hätten ergeben, dass Nin verschiedentlich in Madrid gesehen worden sei. Sie solle sich an die kommunistischen Minister wenden, die Verbindung zum sowjetischen Geheimdienst hätten. Aufzeichnungen dieser Gespräche sind ebenso überliefert wie Olga Nins Klage beim Gerichtshof in Barcelona am 20. August. Olga Nin beschuldigte die Entführer ihres Mannes, dass sie ihn heimlich ermorden wollten, wie Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht oder den italienischen Sozialisten Giacomo Matteotti.149 Da lebte Andreu Nin schon nicht mehr. Hintergrund für die Zerschlagung der POUM und den Mord an Andreu Nin waren die Moskauer Terrorprozesse.150 Für Stalin war es wichtig, eine verbrecherische Komplizenschaft zwischen Trotzkisten und Faschisten auch außerhalb der Sowjetunion glaubhaft zu machen. Die als trotzkistisch deklarierte POUM sollte also zu Francos Falange Kontakte gepflegt und in Francos Auftrag im Mai in Barcelona einen Putsch versucht haben – der Briefkopf der Partei auf entsprechenden Schriftstücken belegte es. Es fand sich auch ein Plan von Madrid mit einer Botschaft an Franco, unterzeichnet mit unsichtbarer Tinte „N.“ – unzweifelhaft Nins Zeichen, denn Spione pflegen ja ihre Botschaften zu signieren.151 Für einen ordentlichen Schauprozess fehlten noch die Geständnisse, vor allem das von Nin, der so offenkundig Trotzkis Mann war. Doch Nin gestand nicht. Er hatte nichts zu gestehen, und er wusste, wie entscheidend es für seine Ehre und die seiner Partei war, sich nicht zu beugen. Da unternahm in der Nacht zum 23. Juni ein Trupp unter Leitung von Alexander Orlow mit Vittorio Vidali vom Militärrat der Internationalen Brigaden und einigen Deutschen aus Orlows Leibgarde einen Überfall auf das Gefängnis in Alcalá de Henares; sie nahmen Nin mit sich und ließen einen Kasten mit deutschem Geld und Papieren zurück. Die Aktion wurde der spanischen und internationalen Öffentlichkeit als Nins Flucht mit Hilfe der Gestapo präsentiert. Nin wurde in 147 148 149 150 151
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Gorkin et al. 1980, S. 111 – 149, die Gefangenenliste: S. 286 f.; Alba, Schwartz 1988, S. 231 – 238 Gorkin et al. 1980, S. 135 Palomar Baró 2008 Tosstorff 1993 Gorkin et al. 1980, S. 123 – 127
ein anderes Privatgefängnis in der Nähe gebracht. Dort folterten ihn spanische Kommunisten tagelang grausam, ohne dass er nachgab. Seine Leiche verscharrten sie im Feld.152 Der Prozess gegen die POUM konnte also nicht wie von Stalin geplant stattfinden. Er verzögerte sich bis zum Oktober 1938, als der Bürgerkrieg in seine letzte Phase getreten war. Das Gericht der spanischen Republik bemühte sich zwischen den Fronten um Schadensbegrenzung. Es sprach die Angeklagten vom Vorwurf der Spionage für Franco frei. Unter den Entlastungszeugen war auch der einstige sozialistische Ministerpräsident Largo Caballero, der sagte, dass Nin durch sein Schweigen „unser aller Leben gerettet“ habe. Das Gericht verurteilte die POUM-Führer hingegen wegen Schuld an den Maikämpfen in Barcelona zu langjährigen Freiheitsstrafen – um sie nicht den Kommunisten auszuliefern, wie Alba meint. Auch Olga Nin und ihre halbwüchsigen Töchter wurden noch im November 1938 verhaftet. Den meisten POUM-Häftlingen gelang mit ihren Bewachern die Flucht, als Franco auf Barcelona vorrückte – zu neuer Gefangenschaft in französischen Internierungslagern.153 Olga und ihre Töchter gelangten nach Mexiko, wo ein Foto Nora und Ira etwa im Jahr 1940 gemeinsam mit Trotzkis Enkel Sewa Wolkow zeigt. Olga ist 1980 in New York gestorben; ihre Urne wurde, wie sie es wünschte, in Andreu Nins Geburtsort El Vendrell beigesetzt.154
Andenken Schon vor Francos Triumph begannen sich die Beteiligten zu zerstreuen. Da es nach dem Münchner Abkommen keine Hoffnung auf ein Eingreifen der Westmächte mehr gab, löste Stalin die Internationalen Brigaden im November 1938 auf und rief die Akteure nach Moskau zurück. Antonow-Owsejenko war schon zuvor abberufen worden, wie auch der sowjetische Botschafter Marcel Rosenberg – beide fielen Stalins Terror zum Opfer. Viele Spanienkämpfer spielten auch nach dem Krieg eine Rolle in den kommunistischen Parteien und in den Staaten des sowjetischen Einflussbereichs, wie der Italiener Palmiro Togliatti oder der Ungar Ernő Gerő.155 Die Wahrheit über Stalins Kampf gegen die POUM, der Teil seines mörderischen Feldzugs gegen Trotzki war, sickerte durch die Lügengewebe; dafür sorgten unter anderem Julián Gorkin, Victor Alba, Victor Serge, der Anarchosyndikalist Augustin Souchy und vor allem George Orwells Katalonienbuch. Diese Zeugnisse bewahren zugleich das Andenken der anarchosyndikalistischen Revolution als eines einzigartigen Versuchs herrschaftsfreier Selbstorganisation von Arbeitern. „Die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst“156, der erste Grundsatz in den von Marx 1864 geschriebenen Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation, und der freiheitliche Kommunismus, in Lenins „Staat
152 Gorkin et al. 1980, S. 178 – 182; Alba, Schwartz 1988, S. 252 f.; Uhl 1999, S. 512; Behrend 2005, S. 42; Schauff 2005, S. 45 153 Alba, Schwartz 1988, S. 254, 261 – 275 154 Gutiérrez-Álvarez 2013 155 Alba, Schwartz 1988, S. 214 f. 156 Marx 1956 – 1990d, S. 14
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und Revolution“ zumindest als Möglichkeit eines entpolitisierten Gesellschaftswesens nach dem Absterben des Staates enthalten, waren die Losungen eines nun entschieden antimarxistischen und antileninistischen Anarchismus. Mit seiner Verneinung des Politischen scheiterte dieser Anarchismus – am Krieg und an der Macht. Andreu Nin verschrieb sich unterschiedlichen sozialistischen Ideen, aber keinem Dogma; Haltung war ihm allemal wichtiger als Ideologie. Treu war er seinen Freunden und Gefährten. Unter seiner Führung verband sich die POUM ganz mit der anarchistischen Revolution. War er – der Flamme der Revolution folgend – der reine Tor? Dagegen steht seine Rolle als Intellektueller und Parteiführer. Seine Ermordung war ein Verbrechen, das durch kein Interesse zu rechtfertigen ist. Es blieb das Kainsmal der spanischen kommunistischen Partei. Der ehemalige Kommunist George Semprùn mahnte 1987 anlässlich des 50. Jahrestages der Ereignisse seine Schriftstellerkollegen: „Der Zeitpunkt ist wohl gekommen an Andreu Nin zu erinnern, den wir selbst gefoltert und ermordet haben“.157 Viele hatten sich bis dahin an Nins Andenken vergangen, darunter so bedeutende Schriftsteller wie Ilja Ehrenburg und Louis Aragon.158 Inzwischen ist dieses Verbrechen von der spanischen Partei öffentlich bekannt. Andreu Nin wurde zum Märtyrer des spanischen Sozialismus und Anarchismus.
157 Alba, Schwartz 1988, S. 217 f. 158 Alba, Schwartz 1988, 240 f. 273 f.; Krammer 2004, S. 535 – 541
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Josip Broz Tito
Josip Broz Tito (1892 – 1980) Der jugoslawische Weg Das Balkanland war von den fünfziger bis zu den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts die kommunistische Alternative zum sowjetischen Modell. Es beflügelte 1956 die Pläne polnischer Reformökonomen, und es zog die Philosophen der Neuen Linken an, die sich mit den Querdenkern des Ostblocks auf der Adriainsel Korčula zur Sommerschule trafen. Damals beeindruckte Jugoslawien mit seinem Sozialismus der Arbeiterselbstverwaltung, mit seinem multiethnischen Föderalismus und seiner geistigen Offenheit, und Josip Broz Tito, der unbestrittene Führer von Partei und Staat, genoss weltweit Anerkennung. Die Hüter des orthodoxen sowjetischen Kommunismus hefteten dem jugoslawischen Sozialismus das Etikett „Titoismus“ an, natürlich um es als ketzerische Abirrung von Marxismus und Leninismus zu brandmarken. Das sahen die jugoslawischen Kommunisten anders, sie wandten sich im Namen eben jener Gründungsväter gegen den Stalinismus. Tito war keineswegs der Schöpfer des „Titoismus“. Er war genial als Parteiführer, als Militärstratege und als Staatsmann, doch ein Theoretiker war er nicht. Dafür stand Edvard Kardelj, der treueste der Treuen unter Titos engen Gefährten, der eigentliche Autor des jugoslawischen Modells des 371
Sozialismus. Tito, Kardelj und ihre Mitstreiter folgten auf ihrem Weg den austromarxistischen und anarchosyndikalistischen Fußstapfen, die neben vielen anderen Otto Bauer und Andreu Nin hinterlassen hatten. Als gute Kommunisten haben sie diese vermaledeiten Spuren nach Kräften und erfolgreich verwischt. Man sollte sie wieder aufdecken.1 Die Weltgeschichte als Weltgericht scheint auch über diese sozialistische Alternative den Stab gebrochen zu haben. Nachdem Jugoslawien in den Bruderkriegen der neunziger Jahre untergegangen ist, schmählicher und blutiger als sonst ein sozialistisches Land, ist in der überquellenden Literatur viel von der Künstlichkeit dieser Balkanföderation die Rede. Sie sei nicht demokratisch legitimiert gewesen – jedenfalls nicht nach westlichem Maßstab. Der Selbstverwaltungssozialismus habe sich als ebenso untauglich erwiesen wie der Staatssozialismus nach sowjetischem Muster.2 Die Jugoslawen selbst blicken heute mit Nostalgie zurück. Der alte Partisan erklärt dem jungen Forscher: „Nach dem Krieg war es ein wunderbares Land von sechs Völkern … Fragen sie mich bloß nicht, warum dieses wunderschöne Land zerfallen ist“.3 Widerspruch kommt auch aus der Wissenschaft. So weigert sich Holm Sundhaussen, die Geschichte des kommunistischen Jugoslawien nur als Vorgeschichte der Katastrophe zu betrachten.4 Wie für das Staatswesen ist auch für Josip Broz Tito nach Verklärung und Denkmalsturz eine kritische Rekonstruktion angesagt. Dabei sind eine ganze Reihe von Biografien hilfreich, die vor allem von britischen Autoren geschrieben wurden – geschuldet wohl den besonderen Beziehungen zwischen Großbritannien und Jugoslawien seit dem Bündnis gegen Hitler. Geoffrey Swain hat wie für Trotzki so auch für den jugoslawischen Führer ein ebenso wohlwollendes wie quellenkritisches Lebensbild verfasst.5 Unentbehrlich bleiben die Zeitzeugen, die Publizistin Phyllis Auty, die lange Interviews mit Tito geführt hat, und Fitzroy Maclean, der britische Offizier bei den Partisanen. Der Historiker Vladimir Dedijer gab zu Beginn der fünfziger Jahre fast eine Autobiografie seines Helden, den er lange Passagen in der Ich-Form erzählen ließ, ohne staatsmännische Verklärung und gelegentlich mit Humor.6 Später hat Milovan Djilas, der vom engsten Mitstreiter zum Gegenspieler wurde, diesem Selbstbild seine kritischen Reflexionen hinzugefügt.7
Reifejahre Tito wurde als Josip Broz am 7. Mai 1892 im kroatischen Kumrovec geboren. Es war also nicht der 25. Mai, der im sozialistischen Jugoslawien mit einer Jugendstafette begangen 1 2 3 4 5 6 7
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Tomić, Stojaković 2013 Ramet 2011, S. 60 – 64, 825 f. Kadenić, Djerić 2013, S. 145 Sundhaussen 2012, S. 515 – 517 Auty 1972; Maclean 1980; Barnett 2006; West 2009; Swain 2011 Dedijer 1953 Djilas 1980
wurde, und den er wohl auch selbst lange für seinen Geburtstag hielt. Seine Eltern waren der kroatische Bauer Franjo und dessen slowenische Ehefrau Marija.8 Das Dorf lag nördlich von Zagreb im Zagorje, dem „Hinterbergland“ an der Grenze zu Slowenien. Die Grenze schied den österreichischen vom ungarischen Reichsteil der Habsburgermonarchie, in Kroatien waren die Ungarn die Herren. Staatssprache, Grundherren und Beamtenschaft bis hinunter zum Eisenbahner waren ungarisch. Den Jungen prägten früh die Erfahrungen von Armut, Widerstand und Völkervielfalt. Der Vater, der sieben Schwestern auszahlen musste und von der Sorge für sieben überlebende von fünfzehn Kindern erdrückt wurde, ergab sich dem Trunk und überließ der Mutter die ganze Last. Hunger und zerlumpte Kleidung überschatteten die Kindheit. Die Mutter gab ihn bald zu ihrer slowenischen Familie, um einen Esser weniger zu haben. Mit sieben Jahren kam er zurück, um als Hütejunge zu dienen und nebenher in die Schule zu gehen. Tito erzählt, wie er von seinem ersten Lohn einen neuen Anzug kaufte, um sich nach Jahren im Dorf als erfolgreicher Mann zu präsentieren, und wie tief es ihn verletzte, dass dieses gute Stück gleich wieder gestohlen wurde. Schmucke Kleidung blieb ihm zeitlebens wichtig.9 Den Widerstandsgeist sog der junge Broz mit der heimatlichen Luft ein. Aus den Tagen des Bauernaufstandes von 1573 ragte die Ruine Cesargrad herüber, und die Dorfjungen steckten sich in ihren Spielen die Hahnenfedern der Aufständischen an die Mützen. Ein Schlachtengemälde dieses Aufstands, der zum Kern der Geschichtserzählung des sozialistischen Jugoslawien gehörte, hing später in Titos Wohnhaus.10 Mit Furcht und Zorn lauschte er den Erzählungen der Mutter von der Schwarzen Gräfin Erdödy, deren Magnatengeschlecht noch immer die Bauern des Zagorje bedrückte. Als Elfjähriger erlebte er den Steueraufstand der Bauern, den die Ungarn mit Einquartierung brachen; wochenlang musste seine Familie vier Soldaten durchfüttern. Auf Demütigungen reagierte der Junge heftig, ob es die Maulschellen des Lehrers, des Pfarrers oder des Lehrherrn waren, er nahm sein Bündel und ging davon. Nach der Schlosserlehre trat er – streikend und demonstrierend – der Gewerkschaft bei und erfuhr mit Genugtuung „die geheime Macht der Metallarbeiter“.11 Mit dem Eintritt in die Gewerkschaft war die Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Kroatiens und Slawoniens verbunden. Der Vielvölkerstaat bot schon dem Kind grenzüberschreitende Erfahrungen. Josip Broz war zwischen dem slowenischen Großvater und seiner kroatischen Familie hin- und hergeschoben worden und sprach bei Schuleintritt besser slowenisch als kroatisch. Die Ideologen des Jugoslawismus – „jugo“ bedeutet slawisch „Süd“ – sahen im Slowenischen nur einen Zweig der einen südslawischen Sprache, aber dem Jungen bereitete die kroatische Unterrichtssprache zunächst Schwierigkeiten. Nach seiner Lehre wanderte er auf der Suche nach Arbeit durch die Monarchie. In Ljubljana war das so aussichtslos wie in Triest. Als er Arbeit fand, versandte der Unternehmer bald darauf die Arbeiter in seine bestreikte böhmische Fabrik. Aber
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Swain 2011, S. 5, Auty 1972, S. 16 f., 28 Dedijer 1953, S. 19 – 28 Schulze 1974; Maclean 1980, S. 24 f. Dedijer 1953, S. 17 – 36; Swain 2011, S. 5 f.
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die Südslawen ließen sich nicht als Streikbrecher missbrauchen und erhielten schließlich gemeinsam mit den Tschechen Arbeit. Hier lernte Josip Broz Tschechisch, später auf der Walz bis ins Ruhrgebiet und in Wien recht gut Deutsch. Ehrgeiz und Bildungsstreben waren ihm eigen, und er besaß offenkundig herausragende Talente. Was ihm an systematischer Schulbildung vorenthalten worden war, holte er durch Lektüre nach. Er las viel, vorwiegend sozialistische Literatur von Jack London bis August Bebel. Er zeichnete sich auch in der Arbeit aus, so dass man den Schlosser bei Daimler in Wiener Neustadt als Testfahrer beschäftigte; davon blieb ihm die Liebe zu schnellen Autos. Mit 21 Jahren kehrte Josip Broz nach Kroatien zurück, um seinen Militärdienst abzuleisten, und wurde flugs auf die Unteroffiziersschule in Budapest geschickt. Seit Jahren trieb er Sport, um seine Kondition zu verbessern; in Budapest war es die ungarische Paradesportart Fechten, in der er bei der Armeemeisterschaft glänzte.12 Als der Krieg ausbrach, marschierte die Einheit von Josip Broz gegen Serbien. Er dachte offenbar nicht daran, auf die serbische Seite überzulaufen, wie es Tausende Südslawen aus der habsburgischen Armee taten. Nach Serbiens Niederlage kämpfte er als Führer eines Aufklärungstrupps brav an der russischen Front. Er suchte in der russischen Gefangenschaft keinen Anschluss an jugoslawische Einheiten, die sich formierten, um mit den Alliierten gegen Österreich und Deutschland zu kämpfen. Es gibt kein Anzeichen, dass er für die jugoslawische Idee der Vereinigung aller Südslawen eingenommen oder antihabsburgisch gesinnt gewesen wäre. Der Jugoslawismus hatte in der Sozialdemokratie ebenso Wurzeln geschlagen, wie unter den liberalen und radikaldemokratischen Intellektuellen der Balkanhalbinsel. Die serbischen Sozialdemokraten riefen mit der Balkankonferenz in Belgrad 1910 eine Bewegung für die Balkanföderation aller Südslawen ins Leben, von den österreichischen Slowenen bis zu den Bulgaren. Eine solche Föderation entsprach jedoch nicht der Linie in der österreichischen Partei und ihrer Theoretiker Karl Renner und Otto Bauer. Sie strebten die national-kulturelle Autonomie der slawischen Nationen innerhalb des österreichischen Staatenzusammenhangs an.13 Der serbische Parteiführer Dimitrije Tucović hatte sich in einem Brief an Kautsky, der seinen Artikel gegen die österreichische Annexion Bosnien-Herzegowinas 1908 mit fadenscheiniger Begründung abgelehnt hatte, bitter beklagt, dass die deutsche und die österreichische Sozialdemokratie die kaiserliche Politik in Berlin und Wien gegen Serbien unterstützten.14 Das war bei Ausbruch des Kriegs 1914 nicht anders. Tucović fiel im November 1914; wohl möglich, dass es die Kugel eines österreichisch-ungarischen Sozialdemokraten wie Josip Broz war, die ihn tötete. Zu Ostern 1915 geriet der Unteroffizier an der Karpatenfront schwer verwundet in russische Gefangenschaft, wie Hunderttausende Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee während der großen russischen Gegenoffensive dieses Winters und Frühjahrs. Als Broz schließlich nach mehr als einem Jahr von Wunde und Fleckfieber genesen war, beschäftigte man den Mechaniker erst bei Reparaturen an der Transsibirischen Eisenbahn und dann bei der Wartung
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Dedijer 1953, S. 37 – 39; Djilas 1980, S. 15 – 18; Swain 2011, S. 7 Tucović 1910; Haupt 1979, S. 24 f.; Stavrianos 1964; Rozman 1996 Tucović 1986
einer Dampfmühle. So traf er es nicht gerade so komfortabel wie der Offizier Otto Bauer, der sich bei besserer Verpflegung ohne Arbeitspflicht der Zeitungslektüre widmen konnte, doch ein hübsches junges Mädchen versorgte auch ihn mit Büchern. Auch Josip Broz lernte auf diese Weise passabel Russisch. Im Juni 1917 entkam er nach Petersburg, traf dort aber nicht wie Bauer die Granden der Revolution, sondern reihte sich als Namenloser in die Demonstrationen der Bolschewiki gegen den Krieg und für die Sowjetmacht ein. Die Kerenski-Regierung schaffte ihn nicht nach Hause, sondern zunächst auf die Peter-und-Paul-Festung, auf der zur selben Zeit auch Trotzki saß, und von dort zurück ins Gefangenenlager. Unterwegs gelang Broz die Flucht. Im sibirischen Omsk schloss er sich der Internationalen Roten Garde an. Tito wies in seinen Erinnerungen die Legende zurück, dass er an Oktoberrevolution und Bürgerkrieg teilgenommen hätte. Leider wäre das nicht so gewesen, schon wegen der schweren Verwundung, deren Nachwehen ihn plagten. Sein Trupp sollte die Transsibirische Eisenbahn gegen den konterrevolutionären General Koltschak schützen. Als die Weißen Omsk einnahmen, brachte er sich selbst in Sicherheit. Die blutjunge Pelageja Beloussowa verbarg ihn bei den Kirgisen, wo er sich wiederum bei der Reparatur einer Mühle nützlich machte und sich reitend und Kirgisisch radebrechend in das Nomadenleben einfügte. Der Anführer wollte dem geschickten Mechaniker gerne seine Tochter zur Frau geben, doch als der Bürgerkrieg vorüber war, heiratete Josip Broz Pelageja. Im Herbst 1920 reiste er wie fast alle Kriegsgefangenen der vormaligen habsburgischen Armeen mit seiner hochschwangeren Frau nach Hause. Reich an Erfahrungen und arm am Beutel kam er nach sechs Jahren wieder in Kumrovec an. Dort war die Mutter gestorben, der Vater fortgezogen, und der Bruder konnte keine zusätzlichen Esser gebrauchen. Pelagejas Kind lebte nur zwei Tage. „Trauernd fuhren wir nach Agram [Zagreb], wo ich Arbeit fand“, erinnert sich Tito.15 Der Heimkehrer kam in ein neues Land, in das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das durch Anschluss der südslawischen Gebiete der Habsburgermonarchie an das Königreich Serbien zustande gekommen war. Nur den gutwillig Hoffnungsvollen konnte dies als Verwirklichung der südslawischen Träume erscheinen; es war ein zentralisierter Nationalstaat, der auf der Fiktion der einen dreistämmigen Nation mit einer gemeinsamen Sprache ruhte. Slawische und nichtslawische Minderheiten wie Montenegriner, Bosnier, Makedonier, Albaner, Ungarn und Deutsche lebten neben Serben, Kroaten und Slowenen darin; die Rechte der Nationalitäten und Minderheiten wurden ebenso wenig berücksichtigt wie das Verlangen der Kroaten und Slowenen nach föderaler Autonomie. Die wirtschaftliche Not der Nachkriegszeit verschärfte nationale Rivalitäten und gefährdete den neuen Staat ebenso sehr wie ihn der aggressive Druck des mächtigeren Nachbarn Italien zusammenhielt.16 Josip Broz und seine Frau Pelageja traten gleich nach ihrer Ankunft in die Kommunistische Partei Jugoslawiens ein. Sie hofften auf die Revolution nach russischem Beispiel, denn Unruhen erschütterten den jungen Staat. In der kroatischen Heimat von Josip Broz steckten die Bauern wieder die Hahnenfedern auf, brannten Schlösser nieder und verteilten das Herrenland. Die weithin ungarischsprachige Vojvodina stand unter dem Einfluss von Béla Kuns Rä-
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Dedijer 1953, S. 41 – 48; Auty 1972, S. 45 – 55 Djokić 2007, S. 12 – 39
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terepublik, und in den Städten streikten die Arbeiter. Die Regierung schickte Militär gegen Bauern und Arbeiter.17 Als Josip Broz nach Hause kam, war die revolutionäre Welle schon verebbt und das Land blutig befriedet, auch wenn die Kommunistische Internationale in Moskau das noch für einige Jahre anders sehen wollte und die spätere Geschichtsschreibung des kommunistischen Jugoslawien dem zustimmte. Gemeinsam mit Pelageja agitierte Broz zu den Wahlen im November 1920. Die Kommunistische Partei hatte sich im April 1919 aus den linken Flügeln der kroatischen und der slowenischen Sozialdemokratie und der serbischen Partei gegründet – noch ganz unter dem Eindruck des Sieges der ungarischen Räterepublik. In der Verfassunggebenden Versammlung wurde sie Ende 1920 drittstärkste Fraktion. Doch nicht der Wahlerfolg und die Nutzung der verfassungsmäßigen Rechte bestimmten die Politik der Partei, sondern die Aufforderung der Moskauer Komintern, die Revolution voranzutreiben. Kommunisten griffen zu Bombenanschlägen und Attentaten. Die Regierung antwortete noch vor Jahresende 1920 mit dem Verbot der Partei und schloss einige Monate später die kommunistischen Abgeordneten aus dem Parlament aus. Der Terror brachte jene breite Öffentlichkeit gegen die Kommunisten auf, die den jugoslawischen Staat als einen Fortschritt sah – wie auch immer. Die Illegalität beschnitt zudem die Wirksamkeit der Partei. So verlor sie ihre meisten Mitglieder und Anhänger.18 Broz fand Anfang 1921 Arbeit und Unterkommen bei einem freundlichen Juden in einem Dorf östlich von Zagreb. Wieder hatte er eine Dampfmühle zu warten. Hier gebar ihm Pelageja weitere vier Kinder, von denen nur der 1924 geborene Sohn Žarko überlebte. Obwohl die Kindersterblichkeit in den Bauernländern am Rand Europas allgemein hoch war, zeugt dies doch von besonders schlechter Ernährung von Mutter und Kind und gänzlich fehlender medizinischer Fürsorge. Trotz dieses Kummers waren es Jahre ruhigen Familienlebens im Rahmen der Dorfgemeinschaft, wie sie in Titos Leben nie wiederkehren sollten.19 Da meldete sich 1923 bei ihm in der Mühle ein ehemaliger Offizier, ein Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft und Kommunist wie er. Auch er hatte in der habsburgischen und in der Roten Armee gedient. Phyllis Auty meint, das sei wohl ein Emissär der Komintern gewesen, der die versprengten Truppen sammeln sollte. Unter seinem Einfluss nahm Josip Broz die politische Arbeit wieder auf. Er engagierte sich in der Gewerkschaft, die als Vorfeldorganisation der Kommunistischen Partei noch legal war, verfasste Zeitungsartikel und hielt Reden. Seine Trauerrede beim Begräbnis eines Genossen rief die Polizei auf den Plan, so dass sein Arbeitgeber, inzwischen der unduldsame Neffe des freundlichen Juden, ihm 1925 Arbeit und Wohnung kündigte. Er kam mit seiner Familie in Kraljevica an der Adria unter, wo die Werft ehemals habsburgische Torpedoboote herrichtete. Weil die Werftleitung die Löhne nicht zahlte, organisierte Broz dort einen erfolgreichen Streik, bildete eine Parteizelle und lieh Bücher aus seiner revolutionären Privatbibliothek aus. All dies wurde Gegenstand eines ersten Prozesses, in dem Josip Broz 1927 angeklagt wurde, obwohl die Werft den Unruhestifter schon entlas-
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Ramet 2011, S. 65 – 77 Avakumovic 1964, S. 27 – 37; 42 – 47 Dedijer 1953, S. 53 – 58; Auty 1972, S. 69 f.
sen hatte. Seine Haltung im Prozess beeindruckte Öffentlichkeit und Richter. Der Haftstrafe entzog er sich, er tauchte in den Untergrund ab.20
Karriere in den Wirren der Partei Für das Leben als Berufsrevolutionär legte sich Josip Broz den Namen Tito zu, einen in seiner Heimat gebräuchlichen Vornamen, so seine Begründung.21 Daneben sollte er etliche andere Kampf- und Tarnnamen tragen, aber dieser trug seinen Ruhm. Tito lebte mit der Familie in Zagreb, leitete die Gewerkschaften der Metallarbeiter und der Lederarbeiter und war im dortigen Parteivorstand aktiv. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens bot damals keine guten Karrierechancen – illegal, einflusslos und zerstritten wie sie war. Die „Rechten“ und die „Linken“ trugen ihren Streit vor dem Forum der Kommunistischen Internationale aus und standen dort in schlechtem Ansehen. Die Rechten hatten vorerst die Oberhand und stellten den Parteivorsitzenden, den Belgrader Mathematikprofessor Sima Marković. Marković verteidigte das austromarxistische Erbe, das unter den serbischen und slowenischen Kommunisten lebendig war. Marković vertrat wie der slowenische Parteiführer Etbin Kristan und wie Otto Bauer um die Jahrhundertwende die Auffassung, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht im Kampf um den Nationalstaat zu gewinnen sei, denn jede Grenze schlösse wiederum Minderheiten ein und die Unterdrückung dauere mit neuer Rollenverteilung fort. Nur die verfassungsmäßig gesicherte kulturelle Autonomie in einer sozialistischen Föderation der Völker bedeute wahre Selbstbestimmung. Der Kampf für ein sozialistisches Jugoslawien mit allen Mitteln und Bündnispartnern sei der Weg.22 Stalin fasste das Buch von Marković als Angriff auf seine eigene Schrift zur nationalen Frage auf. Es half auch nichts, dass Marković in einem direkten Schlagabtausch vor dem Exekutivkomitee der Komintern im März 1925 ausführlich aus Stalins Broschüre zitierte.23 Stalin sah den Kampf um nationale Selbstbestimmung bis zur territorialen Lostrennung als revolutionären Kampf, und mit ihm war die Komintern entschlossen, jede nationalistische Bewegung auszunützen und bis zur bolschewikischen Revolution voranzutreiben. Die Kommunisten sollten den jugoslawischen Staat auseinanderbrechen, sie sollten sich dafür mit den separatistischen Bewegungen in Kroatien, in Makedonien und in Montenegro gegen die serbische Vorherrschaft zusammentun. Tatsächlich war nicht nur die nationalkroatische Bauernpartei von Stjepan Radić in der Moskauer Bauern-Internationale Krestintern willkommen, auch die „Revolutionäre Makedonische Befreiungsorganisation“ mit ihrem Bandenkrieg im serbischen Grenzland wurde sowjetischer Bundesgenosse, wie schon im Kapitel über den Bulgaren Stambolijski beschrieben worden ist.24
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Dedijer 1953, S. 59 – 69; Auty 1972, S. 60 – 75; Swain 2011, S. 9 f. Dedijer 1953, S. 83 Marković 1923; Kristan 1898; zu Bauer siehe das Kapitel in diesem Buch. Avakumovic 1964, S. 76 f.; Auty 1972, S. 80 – 82 Avakumovic 1964, S. 60 – 88; Biondich 2000, S. 196 – 198
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Die Komintern nahm die jugoslawischen Kommunisten um Marković nicht nur wegen ihres austromarxistischen Standpunkts in der nationalen Frage unter Beschuss, sie wurden auch beschuldigt, „Liquidatoren“ zu sein. Dieser merkwürdige Kampfbegriff stammte aus den Parteikämpfen der Vorkriegszeit; Lenin hatte ihn den Menschewiki aufgedrückt, weil sie angeblich die im Untergrund arbeitenden Bolschewiki liquidieren wollten. Die jugoslawischen „Rechten“ strebten allerdings wie die Menschewiki nach legalen Wirkungsmöglichkeiten, nutzten die Gewerkschaften, wollten an Wahlen teilnehmen und die Aufhebung des Parteiverbots erreichen.25 Beide Streitpunkte zwischen den „Rechten“ und der Komintern hingen zusammen, die Kommunisten um Marković wollten für eine sozialistische Umgestaltung Jugoslawiens kämpfen, die „Linken“ und die Komintern diesen Staat mit allen Mitteln zerstören. Als Tito die Querelen in der Parteizentrale gewahr wurde, entschloss er sich, den Gordischen Knoten zu zerschlagen. Ohne Sinn für theoretische Spekulationen schlug er mit kräftiger Arbeiterfaust auf den Tisch und sorgte dafür, dass die Komintern einen Offenen Brief an die Jugoslawen schrieb, um die Flügelkämpfe zu beenden. Eine neue, „linke“ Führung aus Absolventen Moskauer Parteischulen wurde eingesetzt, Marković schließlich aus der Partei ausgeschlossen, und Tito, der sich das Wohlwollen der Komintern und besonders Georgi Dimitrows erworben hatte, stieg in der Zagreber Parteiorganisation zum Sekretär auf. Der Offene Brief forderte die jugoslawischen Kommunisten zum revolutionären Kampf auf, wie es der Weltkongress der Komintern von 1928 zur allgemeinen Linie erklärte. Dieser Weltkongress, auf dem Stalin über Bucharin und die Revoluzzer über die Realisten siegten, auf dem die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ zum Hauptgegner erklärt wurden, trieb die Kommunistischen Parteien in eine ultralinke Isolation. Tito tat alles, um die Revolution vorzubereiten. Als Stjepan Radić bei einem Attentat im Parlament im Juni 1928 tödlich verwundet wurde, organisierte er eine Demonstration in Zagreb. Dabei wurde der schon längst von der Polizei Gesuchte verhaftet. Man fand Waffen bei ihm.26 Die nächsten Jahre verbrachte Tito in Haft, und diese Gefangenschaft rettete ihm wahrscheinlich das Leben. Der König Alexander errichtete 1929 eine unmittelbare Diktatur ohne Parlament und Verfassung, wie sie in nahezu allen Ländern Ost-, Mittel- und Südeuropas inzwischen herrschte. Das Königreich hieß nun Jugoslawien – ein vergeblicher Versuch, den Putsch mit der südslawischen Emanzipationsidee zu bemänteln. Die Staatsmacht ging sofort drakonisch gegen jegliche Gegner vor.27 Angetrieben aus Moskau zum bewaffneten revolutionären Kampf, zahlten die Kommunisten, die eher ein heroisches Häuflein als eine Armee waren, einen besonders hohen Blutzoll. Nahezu die gesamte Führung und viele Kämpfer der Partei fielen in den ersten beiden Jahren der Diktatur dem Polizeiterror zum Opfer.28 – Das Gefängnis bildete den Revolutionär, es gab eine Parteiorganisation und Studienzirkel. Fast jedes Buch ließ sich beschaffen, und in dem Literaten und Künstler Moša Pijade, dem Übersetzer des „Kapital“ von Marx, hatte Tito einen vorzüglichen Lehrmeister. Als die Gefängnisleitung den geschickten Metallarbeiter mit der Wartung der Elektrizitätsanlage betraute, nahm er Pi25 26 27 28
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Swain 2011, S. 17 – 20 Avakumovic 1964, S. 89 – 92; Swain 2011, S. 11 f. Djokić 2007, S. 68 – 75; Berend 1998, S. 308 – 344 Avakumovic 1964, S. 93 – 98
jade in seinen Trupp auf. Der helläugige, blonde Arbeiter und der einen Kopf kleinere jüdische Intellektuelle wurden einander wie Brüder, lebenslang. Tito hatte die Elektroversorgung der Stadt zu warten, ideal für Verbindungen nach draußen.29 Sein Ansehen in der Partei stieg während dieser Gefängnisjahre wiederum beträchtlich. Im Frühjahr 1934 wurde Tito entlassen. Er war nun 42 Jahre alt und ein gereifter Revolutionär, der alle Feuertaufen bestanden hatte. Er arbeitete wieder im Untergrund, zwischen dem Zentralkomitee in Wien und Jugoslawien pendelnd, mit schlecht gefälschten Pässen gleichermaßen gefährdet durch die jugoslawische und die österreichische Polizei des Dollfuß-Regimes. Die Parteiführung sandte ihn Anfang 1935 nach Moskau, um dort in der Arbeit für die Komintern den Ritterschlag zu erhalten. Der Parteivorsitzende Milan Gorkić – er hatte seinen Parteinamen wie der Spanier Julián Gorkin in Verehrung für den russischen Dichter Maxim Gorki gewählt – schrieb einen Empfehlungsbrief, in dem er um Nachsicht für Tito bat, der eben ein Arbeiter und kein Intellektueller sei: „Aber er kennt die Partei, er repräsentiert den besten Teil unserer aktiven Arbeiter, und nach einiger Zeit – sechs bis sieben Monate – werden wir ihn für Führungsaufgaben ins Zentralkomitee zurückrufen. Deshalb soll ihn keiner als unbedeutenden Beamten behandeln, sondern als ein Parteimitglied, das in naher Zukunft einer der wirklichen und, wie wir hoffen, guten Parteiführer sein wird“.30 Bei der Komintern arbeitete Tito zunächst in der Balkan-Abteilung an der Vorbereitung des siebenten und letzten kommunistischen Weltkongresses im Sommer 1935 in Moskau. Auf diesem Kongress, der die Volksfronttaktik beschloss und damit der unseligen Orientierung auf den revolutionären Kampf ein Ende machte, stand er gemeinsam mit Gorkić an der Spitze der jugoslawischen Delegation. Ende des Jahres 1936 kehrte er nach Wien zurück, nun verantwortlich für die Organisation. Er verlegte das Zentralkomitee nach Paris. Von Paris leitete Tito die jugoslawischen Freiwilligen nach Spanien; mit mehr als 1.500 Kämpfern stellten sie eines der stärksten Kontingente. Nach dem Rückzug der Internationalen Brigaden gelang es ihm, viele Überlebende auf demselben Weg nach Hause zu bringen und sie so vor den französischen Internierungslagern, den deutschen Konzentrationslagern in Dachau und Auschwitz und auch vor Stalins Verfolgung zu bewahren.31 Misstrauen vergiftete die Atmosphäre in der Parteiführung, ein förmlicher Machtkampf entwickelte sich zwischen Tito und Gorkić. Die allgemeine Hexenjagd auf Trotzkisten, Agenten auswärtiger Mächte, und wie die Anschuldigungen immer lauten mochten, führte zu wechselseitigen Verdächtigungen der jugoslawischen Führer bei der Komintern. So forderte Stalins Terror unter ihnen nicht weniger Opfer als die Diktatur zuhause, von mehr als hundert namhaften Jugoslawen ist die Rede. Auch Gorkić wurde 1937 zur Komintern gerufen und als englischer Spion hingerichtet. Einer der Vorwürfe, die Tito gegen Gorkić erhoben hatte, bezog sich auf ein Schiff mit jugoslawischen Freiwilligen, das nach Spanien gesandt werden 29 30 31
Avakumovic 1964, S. 100; Auty 1972, S. 91 – 96; Dedijer 1953, S. 70 – 80 Zitiert: Auty 1972, S. 120 Auty 1972, S. 136 – 140; Tomić, Stojaković 2013, S. 77 – 82
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sollte, aber vor dem Auslaufen der jugoslawischen Polizei in die Hände fiel. Tito hielt ihn noch Jahrzehnte später für schuldig. Die jugoslawische Führung stand vor der Ausrottung und die Partei vor der Auflösung durch die Komintern, wie es der polnischen und der ungarischen Partei geschehen war.32 Tito kam davon, nicht weil er im einen oder anderen Sinne schuldig oder unschuldig gewesen wäre – Stalins Terror folgte keinen Gründen. Ihn retteten seine vertrauensvollen Beziehungen zu Georgi Dimitrow und zu Wilhelm Pieck, der dem Balkan-Dezernat vorstand. Die Komintern übertrug Tito die Reorganisation und die „Säuberung“ der jugoslawischen Partei.33 Er leistete ganze Arbeit, die Partei kannte sich danach nicht wieder. Die Führung übernahmen junge Männer, treue Gefolgsleute der Komintern-Linie, bedingungslose Stalinisten. In Titos Zentralkomitee von 1938 gaben Edvard Kardelj, und Milovan Djilas den Ton an, Aleksandar „Leka“ Ranković und Ivo „Lola“ Ribar kamen 1940 hinzu. Milovan Djilas schreibt, dass diese alle ihm nahe standen wie Söhne, und sie nannten den 46-Jährigen verehrungsvoll den Alten: „Titos persönliche Macht schuf ein Gefühl von Disziplin, von Parteieinheit und von Hingabe an die Revolution, die Komintern und die Sowjetunion. Wir alle waren froh, imstande zu sein, so für einen Mann zu fühlen, der trotz mancher Spuren des Eigenwilligen ein verdienter Revolutionär und Kämpfer für diese Prinzipien war.“34 In Moskau hatte Tito seine Frau Pelageja Beloussowa wiedergetroffen. Auch sie war 1929 wegen ihrer politischen Arbeit verhaftet und bald wieder freigelassen worden. Danach fuhr sie mit dem Sohn Žarko zurück in die Sowjetunion. Sie hatte in Moskau an einer KominternHochschule studiert, in Kasachstan als Lehrerin gearbeitet und war nun für die Komintern tätig. Den Sohn hatte sie in ein Kinderheim gegeben, wie das in der Sowjetunion damals bei alleinstehenden Frauen durchaus üblich war. Das missfiel Tito, und wohl auch sonst gab es Gründe, sich zu trennen. Tito heiratete schon 1936 die österreichische Kommunistin Lucia Bauer, eine Angestellte des Hotel „Lux“, in dem er wie alle führenden ausländischen Kommunisten wohnte. Beide Frauen gerieten in die Mühlen von Stalins Terror. Lucia wurde 1937 im Lubjanka-Gefängnis erschossen, Pelageja kam nach Stalins Tod frei. Wohl deshalb wollte Tito diese Ehen aus seiner Erinnerung tilgen. Zum Sohn Žarko, den Lucia betreut hatte, hielt er Kontakt. Tito verband sich bald nach Lucias Tod mit der Slowenin Herta Haas, die er 1940 heiratete. Er wohnte mit ihr in einem Vorstadthaus in Zagreb, wo zu seiner Tarnung als Ingenieur Babić alle Annehmlichkeiten des bürgerlichen Lebens gehörten: Auto, Telefon, gediegene Einrichtung und Kleidung. Tito hat diesen Luxus genossen, wie er zu anderen Zeiten – im Gefängnis und im Bürgerkrieg – schlimmste Entbehrungen und Anstrengungen ertragen hat. Am 23. Mai 1941 gebar Herta den gemeinsamen Sohn Aleksandar „Miso“, da war Tito schon über alle Berge. Er war Mitte Mai gewarnt worden, dass die Polizei ihn entdeckt hätte, und nach Belgrad geflohen. Seine Frau wurde von der Ustascha-Polizei verhaftet und in ein Lager ge-
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Dedijer 1953, S. 109; Avakumovic 1964, S. 116 – 119, 124 – 133; Barnett 2006, S. 45 f.; Swain 2011, S. 16 – 22 Avakumovic 1964, S. 134 – 137; Swain 2011, S. 23 – 26 Zitiert: Djilas 1976, S. 269
steckt, den Sohn konnte sie bei Freunden in Sicherheit bringen.35 In Belgrad traf er die Studentin Davorjanka „Zdenka“ Paunović, die während des Kriegs seine Sekretärin und Gefährtin war. Zdenka, die er für seine größte Liebe erklärte, starb 1946 an Tuberkulose.36 Obwohl alle seine Frauen in allen Kämpfen treu neben ihm standen, waren seine Beziehungen zu Männern offenkundig ernsthafter und sehr viel dauerhafter. In der Liebe war er leidenschaftlich und unerhört egoistisch. Milovan Djilas nahm die Säuberung der Partei von den sogenannten Liquidatoren in die Hand, wobei es sich vor allem um Gruppen von Anhängern des früheren Vorsitzenden Sima Marković handelte, der zur selben Zeit in Moskau ums Leben kam.37 Auch in den unteren Rängen der Partei nahmen junge Arbeiter und Studenten die Zügel in die Hand, die von den Flügelkämpfen der zwanziger Jahre nur vom Hörensagen wussten. Die intellektuellen Wurzeln im Austromarxismus, die Sima Marković und seine Anhänger an der Belgrader Universität lebendig gehalten hatten, wurden ausgerissen. Tito verordnete stattdessen der Partei das Studium der „Geschichte der KPdSU (B) – Kurzer Lehrgang“, jener Bibel des Stalinismus, die er selbst bei einem Moskau-Aufenthalt ins Serbokroatische übersetzt hatte.38 Edvard Kardelj flankierte diese Stalinisierung intellektuell mit seinem 1939 in Ljubljana erschienenen Buch über die nationale Frage der Slowenen.39 Darin setzt er sich mit der Auffassung der nationalen Frage von Etbin Kristan und anderen slowenischen Sozialdemokraten vor dem ersten Weltkrieg auseinander, die im Geist des Austromarxismus für eine kulturelle Autonomie der Nationen und Nationalitäten eingetreten waren. Ihr Einfluss muss noch immer groß gewesen sein. Kardelj setzte Lenins und Stalins bekannte Auffassung von der Nation als wirtschaftliche und politische Einheit mit geschlossenem Territorium dagegen. Nur so könne der Kampf um nationale Selbstbestimmung als revolutionärer Kampf geführt werden – alles andere sei reformistisch, opportunistisch.40 Kardelj setzte sich jedoch sehr ernsthaft mit dem austromarxistischen theoretischen Erbe auseinander, und damit bewahrte er es auch. Im neuen Jugoslawien sollte er darauf zurückkommen. Die Partei wurde unter Titos Führung stalinistischer und der Moskauer Komintern ergebener denn je. Sie wuchs wieder auf fünfstellige Mitgliederzahlen an, breitete sich in die entfernteren Provinzen aus und fasste außerhalb der großen Städte Fuß. Da die Komintern die Zahlungen nach dem Fiasko der alten Führung eingestellt hatte, stellte Tito die Organisation notgedrungen auf eigene Füße; Mitgliedsbeiträge und Spenden von Sympathisanten eröffneten Spielräume. Um eine antifaschistische Volksfront mit anderen Parteien, wie die Komintern es von ihren Mitgliedsparteien nun verlangte, bemühten sich die Jugoslawen kaum, und sie konnte aus der Illegalität auch nicht gelingen. Die Partei strebte wohl auch nicht in die Le-
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Auty 1972, S. 168, 199; Djilas 1980, S. 256; Barnett 2006, S. 44 f.; Swain 2011, S. 13, 31; Lupiga 2012 Djilas 1980, S. 258 – 261 Djilas 1976, S. 267 – 315 Dedijer 1953, S. 110 – 113; Avakumovic 1964, S. 137 – 145 Sperans (das ist Kardelj) 1939 Die deutsche Ausgabe: Kardelj 1971, S. 22 – 33, 205 – 216
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galität, führte sie doch gerade hingebungsvoll den Kampf gegen die „Liquidatoren“. Djilas schildert den Kreuzzug gegen altgediente Kommunisten als „Bolschewisierung“.41 Das war nicht ganz dasselbe wie „Stalinisierung“. Wir erinnern uns, dass Trotzki seine Anhänger in Abgrenzung gegen den Stalinismus als Bolschewiki-Leninisten bezeichnete. Tito ist bei der Komintern auch als Trotzkist verdächtigt worden – erstaunlich folgenlos.42 Er erklärte seiner Partei, dass Stalin und seine Volksfrontpolitik unentbehrlich für den Aufbau der Sowjetunion seien, für die Revolution aber, die in Jugoslawien wie den anderen westlichen Ländern anstünde, sei Lenin der richtige Ratgeber. Es war der Lenin von Zimmerwald, auf den er sich berief, der Lenin, der den imperialistischen Krieg unmittelbar in die proletarische Revolution überführen wollte.43 Mit mehr Entschlossenheit als Schrecken sahen die jugoslawischen Kommunisten deshalb den neuen Weltkrieg heraufziehen, der europäischen Urkatastrophe zweiten Teil.
Stalin oder die Revolution: Die Partisanen Unter dem Druck Deutschlands und Italiens musste sich Anfang 1941 auch Jugoslawien dem faschistischen Block anschließen – wie seine Nachbarn Ungarn, Bulgarien und Albanien. Als patriotische Offiziere gegen diesen Teufelspakt putschten, marschierten im April 1941 deutsche und italienische Truppen ein und besetzten das Land; Ungarn, Bulgaren und Albaner erhielten ihr Stück vom Kuchen. In Montenegro und Kroatien entstanden faschistische Satellitenstaaten unter italienischem beziehungsweise deutschem Schirm. Die Regierung floh mit dem König Peter nach London, auch die Armee setzte sich ab. Schon Ende April beschloss die Führung der Kommunistischen Partei, eine Nationale Befreiungsfront mit allen antifaschistischen Kräften zu bilden und den Aufstand gegen die Besatzer vorzubereiten. Als Hitler die Sowjetunion überfiel, rief die jugoslawische Parteiführung zum bewaffneten Widerstand auf und löste eine Vielzahl von Anschlägen auf Einrichtungen der Okkupanten aus. Gleichzeitig erhoben sich die serbischen Bauern. Im August verließen die Kommunisten die großen Städte und formten den Widerstand der Landbevölkerung zur Partisanenbewegung. Das Politbüro bildete nun das Oberste Hauptquartier einer Partisanenarmee, die anfangs nur in den Köpfen Titos und seiner Getreuen existierte, doch als Sammelbecken aller von den Besatzern Bedrückten und Gejagten bald anwuchs. Die Partisanen beherrschten schon im September größere Teile des serbischen und montenegrinischen Berglands. Titos Partisanenarmee verstand sich als Volksbefreiungsarmee, sie zog Kämpfer aller jugoslawischen Völker an, denn die Kommunisten waren als einzige Partei schon vor dem Krieg im gesamten Jugoslawien organisiert gewesen. Sie erhielten viel Zustrom von Serben aus Kroatien, die der Ustascha-Staat in ihrem Siedlungsgebiet Krajina auszurotten begann. Den Kommunisten kamen nun ihre Erfahrungen in der Illegalität zugute,
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Djilas 1976, S. 267 Swain 2011, S. 31 Avakumovic 1964, S. 145 – 158; Djilas 1976, S. 267 – 276; Swain 2011, S. 20 – 28
so schmiedeten sie doch noch die Volksfront, die ihnen bisher misslungen war. Aber es war eine andere, eine revolutionäre Volksfront „von unten“, wie Tito betonte. Sie lief damit Stalins Absichten zuwider, der Parteienbündnisse „von oben“ brauchte, die möglichst in Regierungskoalitionen mündeten. Auch das religiöse Bekenntnis spielte in den Reihen der Partisanen keine Rolle – ob orthodoxer Serbe oder katholischer Kroate, Moslem aus dem Kosovo oder aus Bosnien, ob Jude oder Atheist, alle waren im Kampf gegen die Okkupanten vereint. Eine weitere Besonderheit bei den Partisanen waren die vielen Frauen.44 Diese Vielfalt unterschied die Partisanen von den serbischen Tschetniks, patriotischen Offizieren der königlichen Armee, die ebenfalls im dicht bewaldeten Hügelland Westserbiens ihr Quartier aufgeschlagen hatten und Bauern anwarben. Sie unterstellten sich der königlichen Exilregierung in London, und König Peter ernannte ihren Anführer, Dragoljub „Draža“ Mihailović, zu seinem Kriegsminister. Zunächst unternahmen Partisanen und Tschetniks gemeinsame Aktionen. Als in der Nacht zum 18. September 1941 überraschend der britische Offizier Duane Tyrrel Hudson an der montenegrinischen Küste landete, geleiteten ihn die Partisanen, die das Gebiet beherrschten, freundlich zum Hauptquartier von Mihailović. Auch Tito begab sich dorthin, wie sich zeigen sollte, in die Höhle des Löwen. Die Partisanen versprachen den Tschetniks Waffen aus ihrer Fabrik in Užice, dem Zentrum ihres größten „befreiten Gebiets“. Doch mit Hudson waren Gesandte der königlichen Regierung gekommen, die Mihailović hinterrücks verpflichteten, nicht die Deutschen zu bekämpfen, sondern die Partisanen. Der Kampf gegen die Kommunisten hätte unbedingten Vorrang, um die Wiederherstellung der alten Ordnung in Nachkriegsjugoslawien zu sichern. Ansonsten sei Abwarten angesagt, bis die Alliierten den Achsenmächten den Garaus gemacht hätten. So geschah es. Nachdem die Tschetniks Waffen erhalten hatten, griffen sie die Partisanen an, und sie schauten zu, wie die Deutschen im November 1941 die „Republik Užice“ eroberten.45 So entwickelte sich mitten im Volksbefreiungskrieg ein Bürgerkrieg. Für die Tschetniks bedeutete dies Kollaboration mit den Besatzern und zunehmende Bedeutungslosigkeit für die Briten. Für Tito und seine Partisanen hieß es, den Volksbefreiungskrieg als Klassenkrieg für ein sozialistisches Jugoslawien zu führen. Sie wollten möglichst große Gebiete einnehmen und dort eine neue, revolutionäre Ordnung errichten. Tito stand im täglichen Funkverkehr mit Georgi Dimitrow als Generalsekretär der Komintern. Doch trotz regelmäßiger Berichte und flehentlicher Bitten erhielten seine Partisanen keinerlei Unterstützung aus Moskau, weder Medikamente noch Waffen, nicht einmal Ermutigung. Sie wurden im Gegenteil gewahr, dass sie Stalin in die Quere kamen. Wie im Spanischen Bürgerkrieg, aber weitaus elementarer, da die Sowjetunion sich im Überlebenskampf befand, standen die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion im Widerspruch zur Ausbreitung der Revolution. Namens der sowjetischen Führung verlangte Dimitrow den Verzicht auf jegliche revolutionären Ziele. Die Partisanen sollten die Strategie der „befreiten Gebiete“ aufgeben und die „Proletarischen Brigaden“ auflösen, die Tito als revolutionären Sauerteig innerhalb der diffusen, mehrheitlich bäuerlichen Partisanenarmee formiert hatte – offenbar nach 44 45
Dedijer 1953, S. 138 – 152; Swain 1992; Swain 2011, S. 30 – 33; Kadenić, Djerić 2013 Dedijer 1953, S. 153 – 162; Djilas 1978, S. 123 – 125; Kardelj 1984, S. 19 – 22; Brandes 1988, S. 207 – 211
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Trotzkis Muster im Bürgerkrieg. Auch der rote Stern auf den Käppis der Partisanen missfiel Stalin.46 Er wollte, dass die Partisanen keinen Krieg gegen die Besatzer führten, sondern sich auf Sabotageakte beschränkten. Vor allem sollten sie gemeinsam mit den Tschetniks vorgehen, wie es auch Großbritannien, der wichtigste Verbündete der Sowjetunion, forderte. Auf Drängen der britischen Regierung, die sich ihrerseits der königlich-jugoslawischen Exilregierung beugte, verlangte die Komintern sogar, dass sich die Partisanen dem Oberbefehl von Draža Mihailović unterstellen sollten. Nicht nur die Londoner, auch Stalins Nachrichtenagentur schrieb die Aktionen der Partisanen den Tschetniks zu.47 Auf sich allein gestellt erlitt die Partisanenarmee furchtbare Verluste. Vom 1. August bis 5. Dezember 1941 starben nach deutschen Quellen 11.522 Aufständische im Kampf, die Deutschen verloren nur 203 Tote und 378 Verwundete. Sie erschossen aber 21.809 Geiseln – unbeteiligte Männer, Frauen und sogar Kinder, die sie aus der Schule wegholten.48 Viele Bauern verließen deshalb die Partisanenarmee. Auch der Rote Terror verbreitete Angst und Schrecken. Vor allem in Montenegro, wo der Montenegriner Milovan Djilas das Oberkommando führte, wurden zahllose Todesurteile gegen Kollaborateure und Verräter vollstreckt – unter den Bauern und in den eigenen Reihen. Strafaktionen gegen Unterstützer des Feindes vermengten sich mit der „Bolschewisierung“. Djilas berichtet von der Hinrichtung seines Grundschullehrers, eines vormaligen Marković-Anhängers. Der hatte den Bauern geraten, die Waffen an die Italiener abzuliefern, um so ihr Leben zu retten. In den Augen von Djilas war der Lehrer damit ein Kollaborateur. Tito berief Djilas aus Montenegro ab, da dessen Gewaltregime den Rückhalt in der Bevölkerung gefährdete.49 Mitte 1942 schienen die Partisanen verloren. Sie waren eingekreist von Deutschen, Italienern, Albanern, Bulgaren und Ungarn, gejagt von den serbischen Tschetniks und der kroatischen Ustascha, verlassen von der Sowjetunion. Im kargen Gebirge, wo die Dörfer geplündert und niedergebrannt waren, sahen sie dem Tod durch Hunger und Typhus ins Auge. Angesichts der aussichtslosen Lage, berichtet Titos Chronist Dedijer, machte sich Tito über eine zerstörte Mühle her. Bei der Reparatur kam ihm offenbar die rettende Idee. Er erinnerte sich an ein Buch, das er kürzlich gelesen hatte, „Roter Stern über China“ von Edgar Snow, worin der Lange Marsch der chinesischen Kommunisten unter Mao Zedong beschrieben war.50 Die Geschichte trägt alle Züge einer Legende, doch auch für Titos Partisanen wurde ihr Langer Marsch vom Sommer bis in den Herbst 1942 zum Neuanfang. Das zerlumpte, geschlagene Heer von kaum 2.000 Mann fand auf dem Weg vom Sandschak ins nördliche Bosnien zu neuem Selbstbewusstsein und neuer Stärke. Ihre Verwundeten schleppten die Partisanen wie stets mit sich, denn vom Feind war keine Gnade zu hoffen. Sie trieben Schafe mit, um sich notdürftig zu ernähren. Sie nahmen unterwegs Siedlungen ein, erbeuteten Waffen und gewannen Unterstützung. Bei der Ankunft im Norden zählte das Heer wieder 45.000 Mann, und es wuchs weiter. 46 47 48 49 50
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Dedijer 1953, S. 163 – 174; Swain 2011, S. 41 – 45 Brandes 1988, S. 214 – 225; Djilas 1978, S. 153, 191 – 193; Kardelj 1984, S. 30 – 37 Swain 2011, S. 40 Djilas 1978, S. 102 – 107, 113; Swain 2011, S. 45 f. Snow 1975
Der Lange Marsch der Partisanen
Tito bildete seine Partisanen zu einer ordentlichen Armee um, mit acht Armeekorps, Divisionen, Brigaden und Bataillonen. Aus Parteiführern wurden Generäle und Offiziere. Seine militärische Ausbildung in der österreichisch-ungarischen Armee wird ihm dabei zugutegekommen sein, wichtig waren ebenso die Militärs der königlichen Armee, die nun von den untätigen Tschetniks zu den erfolgreicheren Partisanen überliefen. Tito konnte sich aber auch auf die Kampferfahrung der Spanienkämpfer stützen, die sich als Kommandeure eingliederten; 116 ehemalige Interbrigadisten sind im jugoslawischen Volksbefreiungskrieg gefallen.51 Die befreiten Gebiete dehnten sich aus und erhielten eigene Institutionen. Volksausschüsse organisierten Versorgung, Produktion und Schulunterricht. Seit September 1942 erschien die traditionsreiche Zeitung „Borba“ (Der Kampf) wieder.52 Ende November 1942 gründete sich im nordbosnischen Bihać der Antifaschistische Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens, die Keimzelle von Parlament und Regierung eines neuen Staates. Die Delegierten waren in allen befreiten Gebieten Jugoslawiens gewählt worden, 54 von 71 hatten es tatsächlich ins Hauptquartier geschafft. Es war die erste Wahl in Jugoslawien, an der Frauen teilnahmen. Vorsitzender des Antifaschistischen Rates wurde Ivan Ribar, der Vater von Ivo Lola Ribar, dem Führer der kommunistischen Jugend, der ein Jahr später fiel. Ivan Ribar war als Abgeordneter der Demokratischen Partei Parlamentspräsident in der
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Tomić, Stojaković 2013, S. 79 Auty 1972, S. 241 – 244; Swain 2011, S. 46 – 49
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Konstituierenden Versammlung von 1920 gewesen, eine Kontinuität, die Programm war. In Moskau hatte man Titos Pläne äußerst reserviert aufgenommen. Dimitrow hatte namens der Komintern der Gründung des Rates zugestimmt, sich aber ausbedungen, dass das keine provisorische Regierung würde und nichts gegen die Legitimität der königlichen Exilregierung beschlossen werde. Es ging darum, die Alliierten der Sowjetunion nicht zu verstören.53 .
Das Jahr 1943 brachte mit dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad die Wende des Kriegs. Titos Volksbefreiungsarmee musste weitere Offensiven der Deutschen und Italiener zurückschlagen. Sie befreite im Laufe dieses Jahres große Gebiete im Westen Jugoslawiens von Slowenien bis nach Montenegro, entwaffnete zehn italienische Divisionen und erbeutete große Mengen Kriegsgerät. Tito konnte stolz auf den Anteil seiner Partisanen an der Wende auf dem italienischen Kriegsschauplatz verweisen.54 Die Briten sandten eine Militärmission in Titos Hauptquartier, und seit dem Sommer 1943 auch Waffen und Ausrüstungen. Die Amerikaner folgten, Anfang des Jahres 1944 traf schließlich auch eine sowjetische Militärmission ein. Berichte britischer Offiziere von ihrer Ankunft bei den Partisanen zeugen vom Aufeinanderprallen verschiedener Welten: „Ein bisschen Speckschmalz hier und eine Brotrinde dort und ein Willkommen überall … Keine Stiefel, keine Socken, keine Vitamine, keine Mäntel, wenig Munition, alte, überholte Gewehre … Dennoch überall eine so tiefe Begeisterung und solch ein brennender Glaube, dass eines Tages die Freiheit kommen würde“.55 Titos Weitsicht und Entschlusskraft waren ebenso entscheidend wie der Opfermut seiner Kämpfer. Niemand konnte sich Titos Persönlichkeit entziehen. Der schottische Brigadegeneral Fitzroy Maclean, damals im Hauptquartier der Partisanen, beschreibt ihn: „Tito, für die Außenwelt immer noch ein Mann im Schatten, stand nun in seinem 52. Lebensjahr, ein kräftig gebauter Mann mit stahlgrauem Haar. Seine regelmäßigen, klaren Gesichtszüge waren hager, angespannt und sonnengebräunt … Seine Stimme war angenehm, konnte aber plötzlich scharf werden, er war sauber und praktisch gekleidet: eine dunkle Jacke ohne Rangabzeichen, eine Reithose; am Gürtel eine Pistole im Lederhalfter; an der Mütze ein kleiner roter fünfzackiger Stern; am Finger, überraschend, ein einzelner Brillant [den er nach Maclean vom Moskauer Übersetzerhonorar gekauft hatte, HS] … Tito selber überragte die übrigen Partisanenführer haushoch. Er hatte in den Widerstandskampf gegen die Deutschen dieselben Eigenschaften mitgebracht, die ihm schon in der Vergangenheit geholfen und genützt hatten: Führungsqualitäten, Mut, unerschütterliche Entschlusskraft und Konzentration auf ein einziges Ziel … Der nationalen Befreiungsbewegung erlegte er dieselbe gnadenlose Disziplin auf wie früher der Partei“.56
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Swain 2011, S. 49 f. Tito 1976b, S. 53 Auty 1972, S. 269 Maclean 1980, S. 80 f.
Als der Antifaschistische Rat der Nationalen Befreiung Ende November 1943 zu seiner zweiten Tagung zusammentrat, bat Tito Moskau nicht um Zustimmung. Selbst für die bloße Information beließ er es bei dem nun halboffiziellen Kontakt zu Dimitrow. Stalin hatte die Komintern inzwischen mit Rücksicht auf die Alliierten aufgelöst. Tito hielt weiter Kontakt zu Dimitrow, aber über die Zusammenkunft und ihre Ziele informierte er seinen langjährigen Förderer erst drei Tage vorher. Der Antifaschistische Rat beschloss, was Stalin auf keinen Fall wollte: ein Volksbefreiungskomitee als vorläufige Regierung zu bilden und König Peter die Rückkehr zu verbieten. Nach dem Sieg sollten die jugoslawischen Völker über die Verfassung ihres Staates entscheiden. Titos nüchtern staatsmännische Rede begeisterte die Versammlung, in der auch Herta Haas saß, seine verlassene Ehefrau. Er hatte sie im Frühling 1943 gegen hochrangige deutsche Gefangene austauschen lassen, nun kämpfte sie bei den Partisanen in Kroatien.57 Die Zuhörer fanden sich wieder, wenn er die Etappen des Kriegs ins Gedächtnis rief und das Gewonnene überschaute. Er rechnete mit dem Verrat der Exilregierung und der Tschetniks und mit der Ignoranz der Alliierten ab – die Sowjetunion nicht ausgenommen – und pries die Gemeinsamkeit im Kampf für ein „freies, wahrhaft demokratisches und föderatives Jugoslawien“.58 Von einer sozialistischen Zukunft war ausdrücklich nicht die Rede. Die Versammlung beschloss, Tito zum Marschall von Jugoslawien zu ernennen. In der Rangerhöhung des Führers feierte die Volksbefreiungsbewegung sich selbst. Gleichzeitig tagte die Teheraner Konferenz über die Nachkriegsordnung Europas, und Molotow beschuldigte die Jugoslawen, der Sowjetunion ein Messer in den Rücken gestoßen zu haben.59 Stalins Zorn legte sich erst, als die Westmächte gelassen reagierten. In Teheran akzeptierten Churchill, Roosevelt und Stalin, deren Porträts bei der Gründung des Antifaschistischen Rates die Saalwände geschmückt hatten, endlich die Volksbefreiungsarmee als die wesentliche innere Kraft im Kampf gegen Hitler und Mussolini in Jugoslawien.60 Das war noch nicht der Sieg, noch beherrschten die Deutschen Serbien, die Kämpfe forderten noch einmal große Opfer. Mit knapper Not entkam Tito an seinem Geburtstag einem Bombenangriff auf sein Hauptquartier; danach verlegte die Partisanenarmee ihre Kommandozentrale auf die dalmatinische Insel Vis, wo sie unter militärischem Schutz der Briten stand. Parallel begann das Ringen um die Nachkriegsordnung Jugoslawiens. Churchill lud Tito zu einem Treffen in Italien ein. Aber nicht nur die Briten, auch Stalin übte Druck aus, um die Kommunisten von der Machtübernahme abzuhalten und zum Eintritt in eine Koalition mit der Exilregierung zu bewegen. Am 16. Juni 1944 kam in Vis ein Abkommen zwischen Tito und Ivan Šubašić zustande, einem bürgerlichen Politiker, der nicht kollaboriert hatte und zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten bereit war. König Peter setzte darauf Šubašić als Ministerpräsidenten ein, entließ Draža Mihailović und rief alle Jugoslawen zur Unterstützung von Titos Volksbefreiungsarmee auf.61 Dieses Abkommen sollte die Nachkriegsordnung Jugoslawi-
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Djilas 1980, S. 260 Tito 1976b Djilas 1978, S. 476 – 474; Kardelj 1984, S. 42 – 45 Dedijer 1953, S. 194 – 205; Swain 2011, S. 50 – 55; Brandes 1988, S. 349 – 370, 531 – 543 Kardelj 1984, S. 11 – 15, 46 – 50, 64 – 71; Swain 2011, S. 72 f.
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ens im Sinne geteilten Einflusses des Westens und der Sowjetunion festschreiben, so bekräftigten es die Siegermächte in der Konferenz von Jalta im Februar 1945.62
Stalin oder die Revolution: Der Bruch Was so fein gesponnen war, hatte keinen Bestand. Das Kräfteverhältnis änderte sich schon, als Titos Armee im Oktober 1944 Belgrad einnahm – die Eroberung des ganzen Landes zog sich noch bis Mitte Mai 1945 hin. Belgrad wurde mit Unterstützung sowjetischer Truppen genommen, da die Volksbefreiungsarmee nicht über Panzerkräfte verfügte, aber Tito hatte sich von Stalin deren unverzüglichen Rückzug nach dem Sieg zusichern lassen. Den Durchmarsch der kommunistischen Volksbefreiungsfront hätte allenfalls eine „Zweite Front“ der Westalliierten auf dem Balkan aufhalten können. Tito hatte nicht verhehlt, dass die Partisanen sie dann bekämpfen würden; es kam nicht dazu.63 Die kommunistische Macht festigte sich in einer Welle von Gewalt am Ende des Kriegs. Unter dem Vorwurf der Kollaboration töteten die Sieger serbische Tschetniks, Anhänger der kroatischen Ustascha und den Besatzern verwandte Minderheiten: Italiener, Deutsche und Ungarn. Die Alliierten lieferten ihnen die Flüchtlinge, die sich vor den Siegern retten wollten, gnadenlos aus. Die Racheakte des Kriegsendes wurden von kaum weniger willkürlichen Schnellgerichten abgelöst. Dragoljub Mihailović und der kroatische Erzbischof Alojzije Stepinac, der das Ustascha-Regime mitgetragen hatte, wurden in Schauprozessen verurteilt, Mihailović zum Tod. Tito gewann völlige Handlungsfreiheit mit den Wahlen vom November 1945, in denen seine Volksbefreiungsbewegung reichlich 80 Prozent der Stimmen erhielt. Das Ergebnis war fragwürdig, da alle irgendwie der Kollaboration verdächtigen von den Wahlen ausgeschlossen wurden, also große Teile der vermutlichen Opposition. Šubašić trat als Außenminister zurück und die Oppositionsparteien boykottierten die Wahl. Damit hatte sich auch die Frage der Monarchie erledigt.64 Tito und seine Genossen – das waren vor allem Edvard Kardelj, Milovan Djilas und Aleksandar Ranković, die seit 1940 das engere Politbüro bildeten – konnten nun ihr eigentliches Ziel in Angriff nehmen, die sozialistische Revolution. Sie wollten nicht nur Jugoslawien revolutionieren, sondern auch die Nachbarländer, in denen gleichfalls kommunistisch geführte Partisanenbewegungen agierten. Kardelj hatte Ende 1944 Togliatti in Rom aufgesucht, Stalins Vertrauten, der im März aus Moskau zurückgekehrt war. Mit Verwunderung und Enttäuschung hörte er, dass der keineswegs beabsichtigte, die norditalienische Partisanenbewegung für eine Machtergreifung der kommunistischen Partei zu nutzen, sondern ein Bündnis mit bürgerlichen Parteien anstrebte und die Revolution in ferne Zukunft verschob. Togliatti habe schon damals die eurokommunistische Strategie vom „historischen Kompromiss“ ver-
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Sundhaussen 2012, S. 48 Dedijer 1953, S. 219 – 224; Swain 2011, S. 74 – 81 Ramet 2011, S. 237 – 239; Sundhaussen 2012, S. 51 – 70
treten, schloss Kardelj im Rückblick.65 Das war Stalins Linie für die westeuropäischen Parteien, die Linie des Ausgleichs mit den Westmächten auf Kosten der Revolution, die Togliatti im Auftrag der Komintern auch schon im spanischen Bürgerkrieg gegen die katalanische Revolution vertreten hatte. Eine entsprechende Neuorientierung verpasste auch Maurice Thorez seiner Kommunistischen Partei Frankreichs, als er einige Zeit später aus Moskau zurückkehrte.66 Die Sicherung der Sowjetunion hatte Stalins unbedingte Priorität, weltrevolutionäre Expansion im Sinne Trotzkis wäre bedrohlich gewesen. Die Jugoslawen handelten deshalb nicht in Stalins Sinn, als sie im eigenen Land eine Ordnung nach dem Muster der Sowjetunion errichteten, doch sie handelten von hinreichender Massenunterstützung getragen, legitimiert durch ihre erfolgreiche Führung im Partisanenkrieg. Die Kollaborateure in einem weiten und unbestimmten Sinne und die vertriebenen Deutschen, Ungarn und Italiener wurde enteignet, Industrieunternehmen im Eigentum auswärtiger Investoren nationalisiert. Den Boden erhielten Neusiedler, bevorzugt ehemalige Partisanen, überwiegend Serben. Die neue Macht schonte das Arbeitseigentum der Bauern noch, auch weil sie die Kämpfer der Volksbefreiungsarmee gewesen waren, presste die Bauern aber mit Zwangsablieferungen und niedrigen Aufkaufpreisen aus. Wie schon von Preobraschenski und Trotzki gefordert und in allen sozialistischen Staaten praktiziert, hatte die Landbevölkerung die Mittel für die beschleunigte Industrialisierung zu liefern. Ende 1946 waren die Kriegsschäden im Wesentlichen beseitigt, und der erste Fünfjahrplan für den Aufbau einer staatlichen Großund Schwerindustrie konnte in Angriff genommen werden. Die Verfassung kopierte die Stalinsche von 1936 und schränkte die bürgerlichen Freiheiten nach sowjetischem Muster ein. Vorfeldorganisationen der Kommunistischen Partei für die Jugend und für die Frauen widmeten sich der Schaffung des Neuen Menschen.67 Der gemeinschaftstiftende Mythos des neuen Jugoslawien war kein Jugoslawismus, keine Schlacht auf dem Amselfeld, kein mittelalterliches Königtum, sondern allein der Partisanenkrieg, in dem alle ungeachtet ihrer Nationalität und Konfession Schulter an Schulter gekämpft hatten. „Brüderlichkeit und Einheit“ waren die Losungsworte, eine Föderation gleichberechtigter Nationen sollte die Lösung bringen. Der liberale Jugoslawismus der Jahrhundertwende und die Fiktion der Zwischenkriegszeit von der einen Nation aus den drei Stämmen der Kroaten, Serben und Slowenen wurden fallen gelassen. Diese drei und dazu die serbokroatisch sprechenden Montenegriner und die den Bulgaren verwandten Makedonier galten nun als eigene Nationen und erhielten jeweils Republiken in historischen Grenzen nach dem Stand vor dem ersten Weltkrieg, territorial zu Lasten Serbiens. Eine eigene Republik bekamen auch die teils moslemischen, teils katholischen, teils serbisch-orthodoxen Bewohner Bosnien-Herzegowinas, die sich gemeinsam serbokroatisch verständigten. Die überwiegend albanische Bevölkerung des Kosovo musste sich ebenso wie die ungarische Minderheit der Vojvodina mit dem Status einer autonomen Region innerhalb Serbiens zufrieden geben.68
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Kardelj 1984, S. 11 – 15, 46 – 50, 64 – 71 Swain 1992, S. 647 – 649; Pons 2001, S. 6 – 13 Swain 2011, S. 83 – 84; Sundhaussen 2012, S. 79 – 82 Sundhaussen 2012, S. 71 – 77
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Offenkundig schwierig war die Lage der Albaner im Kosovo und die Makedoniens als Zankapfel zwischen Jugoslawien, Bulgarien und Griechenland. Vor allem deshalb mögen Tito und seine Führung den alten sozialistischen Traum einer Balkanföderation wieder hervorgeholt haben, der auf der Belgrader Balkankonferenz von 1910 geboren worden war. Die Vereinigung mit Albanien würde das eine Problem lösen, die mit Bulgarien das andere, hoffte man. Der Bulgare Georgi Dimitrow, inzwischen an der Spitze seines Landes, teilte offenbar diesen alten Traum. Der Albaner Enver Hoxha, dessen Kommunistische Partei mit Titos tatkräftiger Hilfe an die Macht gekommen war, beugte sich der jugoslawischen Überlegenheit. Mit Krediten, gemeinsamen Unternehmen, abgestimmter Wirtschaftsplanung, Zoll- und Währungsunion wurde Albanien von Jugoslawien abhängig – so sahen es jedenfalls die Albaner. In Moskau beargwöhnte man die jugoslawische Großmachtpolitik, die ein zweites Kraftzentrum der kommunistischen Welt neben Moskau schuf. Tito und seine Gefährten sahen sich als Vollender der zweiten siegreichen sozialistischen Revolution im Weltmaßstab, als die einzigen, die nach der Sowjetunion aus eigener Kraft zum Sozialismus gekommen waren und deshalb wohl als Mentor der revolutionären Bewegungen in den Nachbarländern auftreten konnten. Sie genossen hohes Ansehen im östlichen Europa. Wohin Tito in seiner prächtigen Marschalluniform auch kam, und er besuchte nahezu alle sozialistischen Länder Europas, überall jubelten ihm die Massen zu. Belgrad wurde der Sitz des 1947 gegründeten Kominform, des Informationsbüros der Kommunistischen und Arbeiterparteien, Nachfolgeorganisation der Komintern.69 Die Jugoslawen beanspruchten bei aller Treue zur Sowjetunion und zu Stalin, Juniorpartner zu sein, nicht Satellit. Bis zum Jahresende 1947 war nicht absehbar, dass sich aus der Juniorpartnerschaft Feindschaft entwickeln sollte. Stalin brach in der ersten Jahreshälfte 1948 mit den Jugoslawen, nicht umgekehrt, wie es landläufige Meinung ist. Über Ursache und Anlass ist viel gerätselt worden, Knackpunkt war aber die jugoslawische Unterstützung für die griechischen Partisanen – für die griechische Revolution, wie Tito es sah. Seit dem Herbst 1943 hatte es Kontakte zwischen den Partisanenbewegungen gegeben. Die militärische und politische Unterstützung Jugoslawiens schürte nun den Bürgerkrieg. Albanien wurde zum Brückenkopf des jugoslawischen Einflusses in Griechenland. Als Tito Ende des Jahres 1947 zwei Divisionen dorthin verlegte, um im Bedarfsfall eingreifen zu können, als er die Bildung einer kommunistischen griechischen Regierung nach dem Vorbild des jugoslawischen Volksbefreiungskomitees betrieb, und als er erkennen ließ, dass auch die Griechen nach erfolgreicher Revolution der Balkanföderation angehören sollten, platzte Stalin der Kragen. Griechenland gehörte nach den Beschlüssen von Teheran und Jalta zur westlichen Einflusssphäre. Stalin opferte auch diesmal die Revolution der Sicherheit. Er verlangte von den Jugoslawen das Ende des griechischen Aufstands und unbedingte Unterwerfung, doch er biss auf Granit.70 Im Januar 1948 bestellte Stalin Tito nach Moskau. Der fuhr aber nicht, sondern sandte Djilas und Kardelj. Stalin behandelte die beiden äußerst grob und erhob eine Vielzahl kleinster und
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Maclean 1980, S. 94 – 97; Djilas, Pejaković 1992, S. 165 – 170; Swain 2011, S. 84 – 87; Kardelj 1984, S. 126 – 130 Swain 1992, S. 641 f., 651 f., 654 – 656
kleinlichster Vorwürfe gegen die jugoslawische Führung. Tito verwahrte sich in langen Briefen gegen die unberechtigten Anschuldigungen und erhielt zur Antwort neue Schläge aus Moskau. Zunächst verlängerte die Sowjetunion den Handelsvertrag mit Jugoslawien nicht, dann zog sie sämtliche zivilen und militärischen Berater ab und rief ihren Botschafter zurück. Am 28. Juni 1948 verstieß eine Kominform-Tagung in Bukarest die jugoslawische Partei aus ihren Reihen. Schließlich wurden Truppen an den jugoslawischen Grenzen zusammengezogen, und die sogenannten Bruderländer stoppten sämtliche Lieferungen. Stalin stieß Morddrohungen gegen Tito aus und rief die Jugoslawen auf, ihre Führung zu stürzen.71 Im Herbst musste sich das von der Blockade schwer getroffene Land um Hilfe an den Westen wenden. Die Briten boten einen Kredit von fünf Millionen Pfund, wenn die Grenze zu Griechenland geschlossen werde. Keine Frage, dass dies geschah, der griechische Aufstand fiel in sich zusammen. Vor allem Großbritannien und die Vereinigten Staaten gaben Jugoslawien fortan Kredite zur wirtschaftlichen Stabilisierung und militärischen Aufrüstung. Um sich gegen eine sowjetische Invasion zu wappnen, steckte das Land in der Folge nahezu ein Viertel seines Nationaleinkommens, etwa ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts, in das Militär.72 Der Parteitag der jugoslawischen Kommunisten stellte sich im Juli 1948 einmütig hinter Tito und die Führungsgruppe. Doch es gab unter den Mitgliedern viele, die die plötzliche Abkehr vom verehrten Stalin und der großen Sowjetunion nicht mit vollziehen wollten. Diese sogenannten Kominformisten wurden grausam verfolgt. Rund 13.000 wurden verhaftet, davon kamen mehr als 8.000 auf die „Kahle Insel“ Goli Otok zur „Umerziehung“. Viele starben an Hunger, Krankheit und Qualen. Etwa fünftausend Anhänger Stalins verließen Jugoslawien. In Bukarest bildete sich kurzzeitig eine Exilregierung, in Moskau formte man eine Jugoslawische Brigade für eine mögliche Infiltration. In den Ländern des Ostblocks setzte eine Hetzjagd auf „Titoisten“ ein, begleitet von einer Pressekampagne mit üblen Beschimpfungen Titos und seiner Partei, variierend zwischen den Vorwürfen des Faschismus und Trotzkismus. Prominenteste Opfer waren der Bulgare Traitscho Kostow und der Ungar László Rajk, die 1949 in Schauprozessen verurteilt und hingerichtet wurden. Beide trugen als führende Kommunisten und Stalinisten selbst für die Tötung zahlreicher Gegner Verantwortung.73 Zur Invasion kam es nicht. Djilas berichtet von einem Gespräch mit Churchill 1951. Der fragte, ob Stalin wohl Europa angreifen würde. Das sei so schwach und uneinig, dass er in zwei Wochen zum Ärmelkanal durchmarschieren könne; er würde es tun, wenn er an Stalins Stelle wäre. Djilas habe entgegnet: „Die Tatsache, dass sie uns noch nicht angegriffen haben, spricht dafür, dass sie nicht beabsichtigen, Europa zu überfallen“.74 Stalins Außenpolitik war nicht aggressiv, sondern defensiv, militärische Konfrontationen unbedingt vermeidend. Die Sicherheit der Sowjetunion war ihm wichtiger als jede revolutionäre Mission. Kardelj sagte über den Kern von Stalins Politik:
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Dedijer 1953, S. 292 – 315; Kardelj 1984, S. 139 – 168; Swain 2011, S. 89 – 97; Sundhaussen 2012, S. 82 – 91 Auty 1972, S. 305; Sundhaussen 2012, S. 113 – 115 Djilas, Pejaković 1992, S. 272 f., 292 f.; Swain 2011, S. 96 – 98 Djilas, Pejaković 1992, S. 317
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„Während des Kriegs und unmittelbar nach Kriegsende ordnete er seine ganze Politik der Politik der inneren Beziehungen in der Antihitlerkoalition unter … Gleichzeitig war er rücksichtslos gegenüber den revolutionären Bewegungen, die er seinen Interessen in der Antihitlerkoalition glatt zu opfern bereit war … Fast möchte ich sagen, dass er Revolutionen und revolutionäre Bewegungen fürchtete“.75
Die neue Ordnung – Selbstverwaltungssozialismus Tito und seine Genossen hatten zunächst gehofft, die Moskauer Anschuldigungen würden sich als Missverständnisse erweisen und sie könnten aus dem Alptraum erwachen. Noch Anfang des Jahres 1949 begannen sie die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft nach stalinistischem Muster, so eine wesentliche Differenz zum sowjetischen Modell ausräumend. Bauernaufstände von Montenegro und Makedonien bis Bosnien waren die Antwort; sie wurden blutig niedergeschlagen. Als Massenverhaftungen und Hinrichtungen die Lage nicht beruhigen konnten, musste man zur einzelbäuerlichen Wirtschaft zurückkehren, unterstützt durch Marktund Maschinengenossenschaften.76 Die jugoslawische Landwirtschaftspolitik entsprach nun etwa dem bulgarischen Weg zu Zeiten der Regierung von Alexander Stambolijski und auch dem Agrarprogramm, das Otto Bauer für die österreichische Sozialdemokratie ausgearbeitet hatte – es war den bäuerlichen Traditionen von waldigen Bergregionen angemessen, die keine großbetriebliche Herrenwirtschaft gekannt hatten. Tito hielt am längsten an der ideologischen und politischen Bindung an Stalin und die Sowjetunion fest, während Djilas und Kardelj um Ablösung und Neuausrichtung rangen. Kardelj erinnerte sich an die monatelange innere Krise, die er durchlebte, stundenlang in seinem Zimmer zu den Klängen Beethovenscher Symphonien auf und ab gehend, und die quälenden nächtelangen Debatten mit den Vertrauten, mit Djilas und dem Wirtschaftsverantwortlichen Boris Kidrič vor allem. Tito war offenbar nicht einbezogen. Nicht um die Grundsatzentscheidung für den Kommunismus ging es Kardelj, die hatte er „am ersten Tag“ getroffen, sondern um die Frage, wie der unter Stalin so entarten konnte. Am Ende stand die Erkenntnis, dass die Kommunistische Partei in der Verschmelzung mit dem Staatsapparat zum Instrument der Diktatur eines Menschen verkommen sei, und dass die Massen der Arbeiter, aller Rechte der revolutionären Sowjets von 1917 beraubt und von aller Macht getrennt, zu Lohnarbeitern des Staates geworden wären.77 Es galt also, von Stalin fortzugehen, zurück zu Lenin und von diesem weiter bis zu den Wurzeln, bis zu Marx und seinen frühen Schriften. Im Frühjahr des Jahres 1949 fuhr die kleine Führungsgruppe des Politbüros zu Tito, der auf der Insel Split Urlaub machte. Es war nicht einfach, ihn von den radikalen Umbauten in Partei und Staat zu überzeugen, Umbauten, de75 76 77
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Kardelj 1984, S. 157 Sundhaussen 2012, S. 132 f. Kardelj 1984, S. 169 – 171
ren Grundrisse Edvard Kardelj gezeichnet hatte. Die Partei wäre in „Bund der Kommunisten Jugoslawiens“ umzubenennen, dem Vorbild jener ersten, unter dem Einfluss von Karl Marx und Friedrich Engels 1847 geformten Arbeiterpartei folgend, für die die beiden Gründungsväter das Kommunistische Manifest geschrieben hatten. Die jugoslawischen Kommunisten sollten keine Partei neuen Typs mehr sein, wie Lenins zentralistisch geführte Bolschewiki, keine Staatspartei, die statt der Arbeiter regierte, indem sie sich Staatsapparat und Wirtschaft unterwarf. Eine ausdrückliche Abgrenzung von Lenin wurde allerdings vermieden, Lenin blieb neben Marx und Engels vorerst der theoretische Ahnherr des jugoslawischen Kommunismus. Widerstrebend gab Tito in der Namensfrage nach, trennte er sich damit doch von einem Stück eigener Geschichte als Parteiführer. Schließlich überzeugte ihn die Kampfansage an die stalinistischen Parteien, die in der Namensänderung lag. Der sechste Parteikongress im November 1952 vollzog die Umbenennung, für die Gesamtpartei wie für die Parteiorganisationen der Teilrepubliken.78 Die Vorstellung von Kardelj und Djilas, dass der neue Bund überhaupt keine politische Partei mehr sein sollte, sondern ein von unten gewachsener Zusammenschluss Gleichgesinnter, konnte Tito nicht akzeptieren; die führende Rolle der Partei müsse auch in neuer Gestalt gewahrt sein. So blieb die Parteireform ein Dauerthema. Erst in der Debatte der späten sechziger Jahre strich auch Tito den Leninismus aus seinen Reden und forderte zum Marx-Studium auf, erst jetzt wurde der Zentralismus zugunsten der Autonomie der Basisorganisationen abgebaut.79 Die Halbherzigkeit spaltete die Führungsgruppe. Bis 1952 waren die Vier – Tito, Djilas, Kardelj, Ranković – noch unzertrennlich gewesen. Dedijer berichtet, dass sie abends regelmäßig gemeinsam aßen, Billard spielten und debattierten, so die Tischgemeinschaft des Partisanenhauptquartiers fortsetzend.80 Solche Intimität mag schon 1953 zu Ende gegangen sein, als Tito wieder heiratete. Ranković selbst hatte ihm schon bald nach Zdenkas Tod Jovanka Budisavljević als Haushälterin geschickt, eine ausnehmend hübsche, glutäugige Serbin aus einem Dorf in der kroatischen Lika und Offizierin der Partisanenarmee. Diesmal wollte er Einfluss auf Titos Brautwahl nehmen. Die Eheschließung ergab sich dann aus Umgang und Umständen. Djilas, dessen Frau sich mit Jovanka befreundet hatte, zeichnet ein liebenswürdiges Bild der zweiunddreißig Jahre jüngeren Frau des Marschalls. Die Zuneigung seiner Umgebung konnte sie nicht gewinnen, Neid und Verdächtigungen verfolgten sie. Zuletzt verbannte Tito sie aus seiner Nähe. Dem vertrauten Maclean erklärte der 85-Jährige: „Sie ging mir einfach auf die Nerven“.81 Die Söhne lebten nicht beim Vater; Aleksandar wuchs bei seiner Mutter auf, der zwanzig Jahre ältere Žarko verlor als Soldat der Roten Armee einen Arm und kehrte noch vor Kriegsende nach Jugoslawien zurück, ohne die Zuneigung des Vaters erwerben zu können. Titos Verhältnis zu den Söhnen blieb schwierig, anders als zu den Enkeln.82 Die Vertrautheit der Großen Vier zerbrach, als Milovan Djilas sich bei der Umbenennung der Kommunistischen Partei nicht wie Kardelj zu Kompromissen drängen ließ, sondern gegen 78 79 80 81 82
Kardelj 1984, S. 174 – 176; Swain 2011, S. 100 – 104 Swain 2011, S. 147 – 157 Dedijer 1953, S. 416 Maclean 1980, S. 114 Djilas 1980, S. 253 – 272
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den Übervater Tito revoltierte. Als Anlass nennt Djilas selbst Titos Hoffnungen auf eine Aussöhnung mit der Sowjetunion nach Stalins Tod und dessen Bereitschaft zur Konfrontation mit den Westmächten im Konflikt um Triest; beides habe ihn eine Rückkehr zum sowjetischen Modell befürchten lassen. In einer Artikelserie, die Ende des Jahres 1953 in der Parteizeitung „Borba“ erschien, forderte Djilas die ideologische und politische Entmachtung der Parteibürokratie, Pluralismus der Ideologien, also Abschied vom Kommunismus als Staatsideologie, eine konkurrierende Partei und den Abschied vom Personenkult um Tito. Unnötig zu sagen, dass er auch Lenin als Leitstern verwarf. Djilas büßte mit Parteiausschluss und Verlust seiner Ämter. Das bedeutete unmittelbar materielle Not, denn „wir hatten keinerlei Reserven an Lebensmitteln oder Geld“, wie Djilas schreibt.83 Das Wohlleben der sozialistischen Elite – gemessen am Standard der Bevölkerung – beruhte auf Amtseinkünften und Privilegien, private Bereicherung war undenkbar. Djilas nährte sich fortan wie einst Trotzki von der Feder. Als er im Westen sein Buch „Die neue Klasse“ veröffentlichte, das weltweite Verbreitung fand, wurde er zu langjähriger Gefängnisstrafe verurteilt.84 Das Buch war eine Kampfansage an den Kommunismus, gerade auch in seiner jugoslawischen Gestalt, und eine Absage an den Marxismus. Der Todesengel der Revolution war zum Racheengel geworden, nicht ohne sich Absolution für die Gewalt zu erteilen, an der er Teil gehabt hatte: „Die Geschichte wird den Kommunisten vielleicht noch zubilligen, dass die Ereignisse und die Notwendigkeit, ihre Existenz zu verteidigen, sie zu vielen brutalen Handlungen gezwungen haben. Dafür aber, dass sie jeden andersartigen Gedanken unterdrückt und zum Wohl ihrer persönlichen Interessen ein ausschließliches Monopol über das Denken errichtet haben, wird die Geschichte die Kommunisten an ein Kreuz der Schande schlagen“.85 In der Reformdebatte der sechziger Jahre trennte sich Tito dann auch von Ranković, der als Geheimdienstchef eigene Herrschaftsstrukturen etabliert hatte und sogar Tito bis in dessen Privaträume bespitzelt haben soll. Dahinter standen grundsätzlichere Differenzen, denn Ranković sah in der basisdemokratischen Selbstverwaltung eine Schwächung von Partei und Staat, die er nicht mit vollziehen wollte.86 An Titos Seite blieb Kardelj, der ihn trieb, die Arbeiterselbstverwaltung zu vollenden, den wichtigsten Pfeiler der jugoslawischen Staatsumwälzung. Im Juli 1950 hatte Tito der Nationalversammlung das Gesetz vorgetragen, mit dem staatliche Unternehmen in die Hände von Arbeiterräten gelegt wurden. Die Arbeitskollektive wählten die Räte, diese kontrollierten die Verwaltungsausschüsse, und gemeinsam bildeten sie die Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe. Aus Staatseigentum sollte gesellschaftliches Eigentum werden, die Arbeiter sollten nicht länger Lohnarbeiter des Staates sein. Anstelle des sowjetischen Staatskapitalismus,
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Djilas, Pejaković 1992, S. 412 Djilas, Pejaković 1992, S. 366 – 380, 418 – 449; Swain 2011, S. 104 – 106 Djilas, Pejaković 1992, S. 200 Swain 2011, S. 141 – 146
wie die Jugoslawen Stalins System nun nannten, trat der Selbstverwaltungssozialismus.87 Im Verlauf der nächsten eineinhalb Jahrzehnte nahm das System mit Gesetzen und Verfassungsänderungen Gestalt an. Die zentrale Planung trat Schritt für Schritt zurück, die Institutionen der Republiken und der Föderation verloren die Mitbestimmung bei der Wahl der Direktoren und die Verfügung über die Gewinne der Unternehmen. Das Rätesystem erstreckte sich auf die kommunale Selbstverwaltung. Die „Grundorganisationen der vereinten Arbeit“ wurden das Rückgrat der staatlichen Organisation, sie wählten die Delegierten für die gesetzgebenden Körperschaften bis hin zum Parlament der Föderation.88 Das war kein parlamentarisches System, es war ein Rätesystem. Der frühe Marx und Lenins „Staat und Revolution“ waren der Ausgangspunkt für das System des Selbstverwaltungssozialismus. Tito, Kardelj und ihre Mitstreiter beriefen sich darauf, dass Karl Marx in seinen Frühschriften und speziell im Kommunistischen Manifest von der „Assoziation freier Produzenten“ als Grundlage der kommunistischen Gesellschaft gesprochen hatte. Und sie bezogen sich auf das Absterben des Staates, das Lenin 1917 als Ziel der Arbeitermacht beschrieben hatte. Die scheinbare Rätemacht der Sowjets und die Aussicht auf das Absterben des Staates hatten die Anarchosyndikalisten seinerzeit zum Eintritt in die Kommunistische Internationale und die Rote Gewerkschafts-Internationale verlockt. Es wäre denkbar, dass die noch weitgehend unerforschten anarchosyndikalistischen Wurzeln des jugoslawischen Sozialismus den Übergang zum Rätesystem begünstigten. Denkbar ist auch, dass die zahlreichen Spanienkämpfer, die mit der katalanischen anarchosyndikalistischen Revolution in Berührung gekommen waren und nun im neuen Jugoslawien an Schaltstellen des Aufbaus saßen, entsprechende Ideen einbrachten.89 Aber das waren keine notwendigen Voraussetzungen des Selbstverwaltungssystems, entscheidend war der radikale Bruch mit dem stalinistischen Staatssozialismus. Die jugoslawischen Kommunisten mussten einfach in anarchosyndikalistisches Fahrwasser kommen, wenn sie Staat und Wirtschaft nicht von oben und zentral, sondern von unten „durch die Arbeiter selbst“ dirigieren wollten. Dieser einzigartige rätedemokratische Großversuch war zumindest für einige Jahrzehnte lebensfähig. Die nachholende Industrialisierung verknüpfte sich mit der Hebung des Bildungsniveaus, mit steigender Lebenserwartung und sinkender Säuglingssterblichkeit. Der Wohlstand wuchs, gemessen in Wohnungsgröße, Zucker- und Fleischverzehr, und dies auch auf dem Land, wo die Bevölkerung noch in der Zwischenkriegszeit bitterarm gewesen war. Ja, auch der Fleischverzehr war damals kein Luxuskonsum, sondern notwendige Eiweißversorgung; er ist Zeitgenossen und Historikern seit dem Mittelalter Maßstab des Wohlstands. Diese Kennziffern und das allgemeine Wirtschaftswachstum entsprachen im Großen und Ganzen dem in anderen ostmitteleuropäischen Agrarländern Erreichten.90 Die Wirtschaftsordnung hatte offenbar in dem Goldenen Vierteljahrhundert zwischen 1950 und 1975 keinen erheblichen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum, das gilt auch für den Vergleich zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Der Nutzen des jugoslawischen Selbstverwaltungssystems lag in der Frei87 88 89 90
Tito 1976c Kardelj 1979b, S. 21 – 36; Brus 1987, S. 63 – 65, 287 – 301 Bauer 1958; Bauer 1964; Tomić, Stojaković 2013, S. 61 f., 81 f. Brus 1987, S. 63, 90 – 94, 136 – 140, 163, 168, 173, 235, 237
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heit und Selbstbestimmtheit des gesellschaftlichen Lebens, nicht im Wohlstandsgewinn. Unterstützt von einer weitgehend zensurfeien Presse- und Medienlandschaft, öffnete sich Jugoslawien für westliche Kultur und Lebensweise. Literatur und Künste nahmen Surrealismus, Atonalität, Abstraktion und Popkultur auf, Lebensstil und Jugendkultur verschmolzen westliche Einflüsse mit den Werten des Selbstverwaltungssozialismus.91 Der Bruch mit dem Stalinismus stürzte das geistige Leben des Landes in eine Krise, aus der es zu neuen Horizonten strebte. Aber die Philosophen machten nicht an den parteiamtlich gezogenen Grenzen des Denkens Halt. Sie verwarfen Stalins Dialektischen Materialismus, wie er in dem von Tito übersetzten Lehrgang der Geschichte der KPdSU im ganzen sowjetischen Block parteiamtlich kodiert war. Sie verabschiedeten Lenins Postulate der Partei und der Revolution, und sie gingen weit zurück zum Junghegelianer Marx, dem Marx der „ÖkonomischPhilosophischen Manuskripte“. Hier entdeckten sie, wie drei Jahrzehnte vor ihnen der junge Herbert Marcuse, die Entfremdung des Menschen von seinem eigensten Selbst durch mechanische, notwendige Arbeit. In dieser Entfremdung erkannten sie das eigentliche Hindernis einer befreiten Welt, deren Praxis freie, humane, schöpferische Aktivität ist. Darin sahen sie den Kern des Marxschen Denkens, und nur in diesem Sinne blieben sie Marxisten. Marxismus als Ideologie, als Rechtfertigung des Bestehenden oder seines revolutionären Sturzes, lehnten sie nun ab.92 Darin gab es lange keinen Widerspruch zum Bund der Kommunisten, der in erbitterten Debatten um die eigene Identität rang. Ein Kreis von Philosophen der Universitäten Belgrad und Zagreb schloss sich 1962 zur Gruppe „Praxis“ zusammen; sie waren seit ihrer Jugend in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, und etliche kamen wie Mihailo Marković und Vojin Milić aus dem Partisanenkampf. Die Gruppe gab seit 1963 die Zeitschrift „Praxis“ heraus, seit dem folgenden Jahr auch eine internationale Ausgabe mit Übersetzungen. Das weltweite Interesse am jugoslawischen Experiment trug den Philosophen die Sympathie der internationalen antistalinistischen Linken ein. Von 1963 bis 1974 organisierte die Praxis-Gruppe die legendäre Sommerschule auf der Adria-Insel Korčula, deren Themen so grundsätzlich waren wie die Teilnehmer berühmt: Herbert Marcuse, Erich Fromm und Jürgen Habermas vertraten die unterschiedlichen Generationen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Ernst Bloch, Lucien Goldman und Ernest Mandel sprachen, der polnische Dissident Leszek Kołakowski und die Lukács-Schülerin Ágnes Heller waren da – und viele, viele andere. Es ging um eine Kritik alles Bestehenden, die den jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus nicht verschonte. Die illustren Gäste trugen ihre Kritik der kapitalistischen Konsumgesellschaft und ihres Repressionsapparates vor; die Dissidenten aus dem Ostblock geißelten den Staatssozialismus sowjetischen Musters; die jugoslawischen Gastgeber griffen die „Technobürokratie“ an, die über die Demokratie der Arbeiterräte als neue Klasse herrsche, und sie beklagten die entfremdete Arbeit, die auch im Selbstverwaltungssystem andauere.93
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Sundhaussen 2012, S. 147 – 151 Marković 1979, S. XI – XXII Marković 1979, S. XXII – XXIV
Edvard Kardelj setzte sich mit der Kritik der Praxis-Gruppe am Selbstverwaltungssozialismus auseinander. Er bezeichnete sie als ultralinke Kritik. Technokratie und Überreste der Klassengesellschaft seien Deformationen des Selbstverwaltungssozialismus, nicht dessen Prinzip. Einerseits griffen die Ultralinken die Institutionen von Partei und Staat als bürokratisch und stalinistisch an und übertrügen die Kritik an Warenproduktion und Konsum in der kapitalistischen Gesellschaft auf das sozialistische Jugoslawien. Andererseits stünden ihre anarchistischen Vorstellungen von der Aufhebung jeglicher Arbeitsteilung und Einkommensunterschiede im Widerspruch zum Gerechtigkeitsempfinden der Arbeiter: „Kein einziger Arbeiter, der besser oder mehr arbeitet, ist bereit, sich mit demjenigen gleichzustellen, der weniger oder weniger kreativ arbeitet; ein Arbeiter will besonders nicht mit seiner Arbeit Parasiten in der Gesellschaft unterhalten, die nichts oder wenig arbeiten“.94 Die ultralinke Kritik liefe darauf hinaus, die Arbeiterselbstverwaltung durch eine Erziehungsdiktatur der Intellektuellen zu ersetzen.95 Wie recht Kardelj hatte, wird die Betrachtung der Utopien von Herbert Marcuse im nächsten Kapitel erweisen. Universitäten und Staat hatten lange zugesehen und zugehört. Auf dem Höhepunkt der innerparteilichen Debatten um die führende Rolle des Bundes der Kommunisten empfand Tito diese „kleinbürgerlichen“ Angriffe dann als zu störend. Die Sommerschule des Jahres 1966 wurde abgesagt und der „Praxis“ für einige Zeit die Subvention entzogen, so dass sie fast ein Jahr lang nicht erscheinen konnte. Die Krise kam 1968, als – inspiriert vom Prager Frühling und vom Aufstand der Studenten in der westlichen Welt – die Studenten der Universitäten Belgrad, Zagreb und Sarajevo demonstrierten. Tito hatte sich mit einer Reise zum Präsidenten Alexander Dubček ausdrücklich mit den tschechoslowakischen Reformern solidarisiert, denn er sah den „Prager Frühling“ von 1968 im Unterschied zum Ungarnaufstand von 1956 nicht als Konterrevolution. Nun stellte er sich hinter die Studenten: „Sitzen wir wirklich so fest auf unseren Stühlen, als seien wir angeschraubt und als könnte uns niemand vom Fleck rücken? Bei Gott, das sind wir nicht! Wir können aus diesen Stühlen fliegen“.96 Die Studenten hatten die Arbeiter aufgerufen, sich gleichfalls gegen die Bürokratie zu erheben. Die Arbeiter gingen nicht auf die Straße, doch es gab auch in den Betrieben Unruhe. Der Gewerkschaftsvorsitzende Vukmanović-Tempo brachte auf dem gleichzeitigen Gewerkschaftskongress den Generalstreik ins Spiel, die anarchistische „direkte Aktion“ des Arbeiterprotestes. Er verlor sein Amt. Nun wollte Tito die Studentenproteste „mit chirurgischem Messer“ von den Forderungen der Arbeiter trennen. Die Praxis-Gruppe sei Teil des Problems, nicht der Lösung. Gegen die führenden Köpfe der Praxis-Gruppe wurde mit Parteiausschlüssen und Relegationen von der Universität vorgegangen, doch die Rechte der Arbeiter wurden erweitert. Die jugoslawische Verfassung erhielt Ergänzungen, die nicht nur die Entscheidun-
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Kardelj 1979b, S. 90 f. Kardelj 1979b, S. 87 – 97 Zitiert: Sundhaussen 2012, S. 155
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gen über Einkommen, Betriebsführung und Produktion, sondern auch Investitionsentscheidungen in die Hände der Arbeiterselbstverwaltung legten.97 Als der langfristige weltwirtschaftliche Aufschwung Mitte der siebziger Jahre zu Ende ging, konnte auch die weitere Dezentralisierung von Wirtschaft und Staat nicht helfen. Die Probleme wuchsen im Gegenteil, indem man die selbstverwalteten Unternehmen weitgehend der Marktkonkurrenz untereinander und im Außenhandel überließ. Die Arbeitslosigkeit stieg auf über zehn Prozent, und noch mehr Jugoslawen suchten über die geöffneten Grenzen im westlichen Ausland Arbeit.98 Es zeigte sich, dass der Selbstverwaltungssozialismus mit dieser Dezentralisation an eine Grenze gekommen war, wo er sich selbst demontierte. Der Amerikaner Wayne Leeman, der Jugoslawien als das einzige Land der Welt rühmte, dessen Führung den syndikalistischen Traum wahr machte, die Kontrolle der Unternehmen in die Hände der Arbeiter zu legen, hatte schon 1970 Fehlentwicklungen gesehen. Der Abbau staatlicher Entscheidungsrechte und Kontrollen gäbe den Sonderinteressen der einzelnen Selbstverwaltungskörperschaften zu viel Raum, die Solidarität zwischen den Unternehmen, Kommunen und Regionen müsse der Marktkonkurrenz weichen, so dass sich die anarchistische Freiheit am Ende nicht vom kapitalistischen Laissez fair unterscheide. Der Rückbau des Sozialstaats wäre unvermeidlich. In der Tat waren die Investitionen zunehmend von lokalen und regionalen Interessen bestimmt, „politische Fabriken“ entstanden, die niemandem nützten, aber Inflation und Arbeitslosigkeit vermehrten. Leeman schloss: „Es scheint darum unwahrscheinlich, dass Jugoslawien die Welt zum Syndikalismus führen wird. Eher scheint es, dass mit der Zeit der traditionelle hierarchische sozialistische Betrieb oder das kapitalistische Unternehmen, oder beide, die Oberhand in Jugoslawien gewinnen werden, weil wir sehen werden, wie zunehmend an Stelle der kommunalen Solidarität das Eigeninteresse sich durchsetzt“.99 So geschah es, der Selbstverwaltungssozialismus räumte in den neunziger Jahren vor dem Kapitalismus das Feld.
Zwischen den Fronten des Kalten Kriegs Indem die kommunistischen Parteien die jugoslawischen Kommunisten exkommunizierten und zugleich die diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen kappten, trieben sie sie in die Arme des gegnerischen Paktsystems. So waren die Gesetze der vom Kalten Krieg geteilten Welt. Allgemein wurde erwartet, dass Jugoslawien nun dem Nordatlantikpakt (NATO) beitreten und sein sozialistisches Gesellschaftssystem aufgeben werde. Aus Moskau ertönten entsprechende Verunglimpfungen. Doch Tito und seine Führung wiesen dies
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Swain 2011, S. 157 – 159; Kardelj 1979b, S. 13 f. Brus 1987, S. 301 Leeman 1970, S. 239
zurück. Sie entschlossen sich, die westliche Hilfe anzunehmen, aber dem Militärpakt fernzubleiben. Der sozialistische Weg des Landes stand schon gar nicht zur Disposition, die jugoslawischen Führer waren Kommunisten bis ins Mark und rangen, wie wir gesehen haben, um einen eigenen Weg entlang dieser Grundüberzeugung. Es hätte sie auch das Vertrauen des Volkes gekostet, das mit ihnen unter revolutionären Losungen durch die Hölle des Partisanenkriegs gegangen war. Edvard Kardelj, der die jugoslawische Delegation bei den Vereinten Nationen leitete, weil Tito seine Flugangst noch nicht überwunden hatte, ging 1949 in seiner Rede nicht mehr – wie noch im Vorjahr – über die sowjetische Attacke auf Jugoslawien hinweg. Er wies solche Anmaßung einer Großmacht gegenüber einem unabhängigen Staat zurück. Dann trug er der Generalversammlung das Konzept der neuen jugoslawischen Außenpolitik vor, ein Programm friedlicher Koexistenz, das die freie Entwicklung jedes Landes und seine unabhängige Wahl der Gesellschaftsordnung einschließt.100 Der alte Freund Moša Pijade, der inzwischen im Politbüro und im Präsidium des Parlaments saß, schrieb überschwänglich nach New York: „Seit Lenins Lippen zu sprechen aufgehört haben, gab es im Weltkommunismus keine so wertvolle Rede“.101 Offenbar hatte er Beziehungen zu Lenins Gedanken über die langdauernde allgemeine Krise des Weltkapitalismus und die notwendige Koexistenz der Systeme hergestellt; wie wichtig blieb es den Jugoslawen doch, die marxistisch-leninistische Nabelschnur nicht reißen zu lassen. Kardeljs Rede hatte schon die Prinzipien der Blockfreiheit enthalten. Bis daraus eine internationale Bewegung wurde, brauchte es noch ein Jahrzehnt. Blockfreiheit im Kalten Krieg, das war ein Gang auf dünnem Seil. Mit dem Korea-Krieg und der Verschärfung des Kalten Kriegs wuchs der Druck zum Eintritt in die NATO, doch Tito erklärte ein ums andere Mal, dass Jugoslawien, nachdem es kein Satellit der Sowjetunion mehr sei, nun nicht Satellit des Westens werden wolle. Die NATO erreichte nur, dass Jugoslawien 1953 einen sogenannten Balkanpakt mit den NATO-Staaten Griechenland und Türkei unterschrieb, der keine militärischen Beistandspflichten enthielt.102 Als Stalin im März 1953 gestorben war, kamen Druck und drängende Angebote auch von der sowjetischen Seite. Tito lehnte eine Einladung ab, er ließ den Berg zum Propheten kommen. So trat Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, der neue Herrscher im Kreml, im Mai 1955 seinen Canossagang nach Belgrad an. Kaum war er aus dem Flugzeug geklettert, entschuldigte er sich wortreich für alles, was Jugoslawien und Tito persönlich angetan worden war. Alles ginge auf Stalin und Djilas zurück. Wortlos winkte Tito ihn zum wartenden Auto. Eine Belgrader Deklaration wurde unterzeichnet, die die Unabhängigkeit Jugoslawiens auf der Basis der Gleichberechtigung, der gegenseitigen Achtung und der Nichteinmischung festschrieb. Dieses Grundsatzdokument der wechselseitigen Beziehungen musste noch manches Mal hervorgeholt werden. Die sowjetische Führung forderte, dass Jugoslawien dem Militärbündnis des Warschauer Vertrags beitrete – man hätte sich ja ausgesöhnt. Den Höhepunkt erreichte der
100 Kardelj 1984, S. 179 101 Kardelj 1984, S. 179 102 Sundhaussen 2012, S. 114
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Druck auf der weltweiten Konferenz der Kommunistischen und Arbeiterparteien, die anlässlich des 40. Jahrestags der Oktoberrevolution im November 1957 in Moskau zusammen kamen. Die Jugoslawen lehnten es rundweg ab, die Deklaration zu unterschreiben, in der fortwährend von der internationalen kommunistischen Bewegung „mit der Sowjetunion an der Spitze“ die Rede war. Einzig der lockere Beitritt Jugoslawiens zum Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon) als assoziiertes Mitglied wurde 1964 erreicht.103 Beide Blöcke bekamen also etwas, aber nicht das, was sie wollten. Titos Jugoslawien hätte die Politik der Blockfreiheit kaum durchhalten können, wenn es allein geblieben wäre. Doch es formierte sich eine Bewegung neuer Staaten Asiens und Afrikas, die sich seit den fünfziger Jahren aus der Kolonialherrschaft befreiten. Wie kam das kleine europäische Land an die Spitze dieser Länder der Dritten Welt? Den Anlass gab Jugoslawiens Wahl als nichtständiges Mitglied in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, wo es auf Indien und Ägypten traf. Diese Drei unternahmen während des Koreakriegs eine Mediation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Tito besuchte dann 1954 Jawaharlal Nehru in Indien, den weltweit angesehensten Staatsmann der ehemaligen Kolonialländer. Auch Nehru sprach schon von Blockfreiheit als Prinzip einer Politik, die unabhängig von Großmächten und Ideologien sein sollte. Auf der Konferenz von Bandung 1955, wo sich die asiatischen und afrikanischen Länder trafen, waren die Jugoslawen Gast und knüpften ihre Netze. Ein Treffen von Indiens Premierminister Nehru und Ägyptens Präsident Nasser 1956 bei Tito auf Brioni schloss sich an, dann machte Tito eine Rundreise durch Afrika, die bei Nasser endete, und schließlich arrangierte er 1960 am Rande der UN-Vollversammlung in der jugoslawischen Botschaft ein Treffen mit Nehru, Nasser, Indonesiens Präsident Sukarno und Ghanas Präsident Kwame Nkrumah. Hier nahm die Gründung der BlockfreienBewegung auf der Konferenz in Belgrad 1961 Gestalt an.104 In Belgrad beschwor dann Tito in seiner Eröffnungsrede die Prinzipien der Vereinten Nationen und der Bandung-Konferenz, also die Prinzipien der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten, der Gewaltfreiheit in zwischenstaatlichen Konflikten und des Rechts auf Entwicklung für die ehemaligen Kolonialländer. Die Bewegung der Blockfreien werde weder prowestlich noch proöstlich sein, sie wolle auch keinen dritten Machtblock schaffen, sondern den kleinen und schwachen Staaten eine Stimme geben, die sie bei weltpolitischen Entscheidungen in die Waagschale werfen könnten. Diese Länder wollten keine Verfügungsmasse der Großen, sondern das Gewissen der Menschheit auf dem Weg zu Freiheit, Gleichberechtigung und Weltfrieden sein.105 In der Literatur wenig beachtet wird ein anderer, wohl der eigentliche Antrieb der Jugoslawen. Sie sahen den antikolonialen Kampf als prosozialistisch an. Im Hinterkopf verfolgten sie noch immer die revolutionäre Umwandlung der Welt, denn sie waren und blieben Kommunisten – allerdings keine, die ihr eigenes Modell exportieren wollten.106 Mit der ersten Füh-
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Kardelj 1984, S. 185 – 198; Auty 1972, S. 307 – 310 Mates 1982, S. 69 – 74 Tito 1976d Tito 1976a, S. 500 – 505; Kardelj 1981, S. 66 f.
rergeneration der neuen Staaten um Nkrumah, Sukarno, Nasser, die den Antikolonialismus mit der Suche nach eigenen Wegen zum Sozialismus verbanden, traten sie in einen fruchtbaren Dialog. Die Blockfreien-Bewegung war keine bloß negative Antwort auf die Spaltung der Welt durch die Großmächte im Kalten Krieg, sondern die Organisation der unterentwickelten Länder im Nord-Süd-Konflikt. Dieser Konflikt als Aufstand der dynamisch wachsenden Weltarmut sollte in den nächsten Jahrzehnten die herrschenden Eliten des Westens beunruhigen und die Neuen Linken beflügeln. Jugoslawien gewann darin seine weltpolitische Rolle. Auch die Hinwendung zu den antikapitalistischen Bewegungen der unterentwickelten Länder verband die Jugoslawen mit der Neuen Linken. Die Blockfreien-Bewegung errang in den sechziger Jahren Sitz und Stimme auf der Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf. Es war jene Abrüstungskonferenz, an der Alva Myrdal an der Spitze der schwedischen Delegation inmitten der Blockfreien und Neutralen teilnahm und dann mit dem Mächtespiel der Großen abrechnete.107 Die Blockfreien meldeten ihre Forderungen nach Entwicklungspolitik und einer neuen Weltwirtschaftsordnung an. Das Echo war auch hier enttäuschend. Als die großen Blöcke seit den sechziger Jahren mit Entwicklungsprojekten und Waffenlieferungen die sogenannte Dritte Welt zum Schlachtfeld ihrer Stellvertreterkriege und ihres Kampfes um Einflusssphären machten, nahm die Bewegung schweren Schaden. Neue Führer wie Tito, Nehru, Nasser konnten unter diesen Umständen nicht wachsen. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks geriet die Bewegung in den neunziger Jahren in den Schatten einer unilinearen Weltpolitik, die ihre Krisen und Kriege nun erst recht in die unterentwickelten Länder verlegte.108 Gunnar Myrdal hat sich mit der Entwicklungspolitik während des Kalten Kriegs grundlegend auseinandergesetzt, es wird also darauf zurückzukommen sein. Die Konferenz von Belgrad 1961 war zweifellos einer der Gipfelpunkte in Titos Leben. Jugoslawiens neues Ansehen in der Welt hob auch den Stolz seiner Bürger und befestigte deren Loyalität; so war es der Entwicklung des Landes förderlich. Und Jugoslawien gewann weltweit Handelspartner, wenn es auch die global ärmsten waren. Zwar wurde nur ein Fünftel des Außenhandels mit den blockfreien Staaten abgewickelt – gegenüber rund der Hälfte mit dem Westen und einem Drittel mit den Ländern des Rats für gegenseitige Wirtschafthilfe, aber das Land war bei seinem Drahtseilakt zwischen Ost und West weniger erpressbar.109 Von 1961 bis zur Konferenz in Kairo 1964, wo Nasser ihn ablöste, war Tito Vorsitzender der Bewegung. Er blieb deren informeller Kopf und hielt auf den Zusammenkünften und vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen Reden, die die Prinzipien der Blockfreien hochhielten. Er wetterte gegen den Rüstungswettlauf der Großmächte, gegen die Apartheid-Politik in Südafrika und gegen den Neokolonialismus, der den unterentwickelten Ländern so gut wie keinen Anteil am Wachstum der Weltwirtschaft ließ. Er verurteilte den Indochinakrieg der USA, ihre Haltung im Nahostkonflikt zugunsten Israels und ihre Unterstützung des Mili-
107 Myrdal, Alva 1976 108 Dagegen: Niebuhr 2011, S. 167 – 171 109 Mates 1982, S. 224 f.; Niebuhr 2011, S. 160
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tärputsches in Chile.110 Er kritisierte ebenso die Intervention der Sowjetunion in Afghanistan und wandte sich in seiner letzten großen Rede auf der Blockfreien-Konferenz in Havanna 1979 gegen die Absicht Fidel Castros und einer Mehrheit der anwesenden Staaten, die Sowjetunion zum natürlichen Verbündeten der Blockfreien zu erklären. Er hielt die ursprünglichen Prinzipien der Bewegung dagegen.111 Tito wurde Ehrendoktor vieler Universitäten, zumeist jener Städte, in denen die Blockfreien ihre Konferenzen abhielten. Der greise Marschall reiste um die Welt und die Welt kam zu ihm. Man wird kaum einen bedeutenden Staatsmann des Westens wie des Ostens und der Dritten Welt finden, bei dem Tito nicht zu Gast war, oder den er nicht auf Brioni empfing. Macleans Fotobiografie ist eine einzigartige Dokumentation solcher Begegnungen.112 So wurde auch sein Begräbnis zu einem weltweiten Gipfeltreffen, das im 20. Jahrhundert nicht seinesgleichen hatte. Er starb am 4. Mai 1980 in einem Krankenhaus in Ljubljana. Millionen seiner Landsleute betrauerten ihn entlang seines letzten Weges mit dem Blauen Zug von Ljubljana nach Belgrad. Dort wurde er am 7. Mai im Mausoleum „Haus der Blumen“ beigesetzt.113 Auf Bitten Indira Gandhis durfte auch Jovanka an seinem Sarg stehen. Tito hinterließ kaum persönliches Gut, denn er hatte die Ressourcen des Staats für sein gutes Leben genutzt. Die Söhne erbten Anzüge und Schmuck, Jovanka musste sich eine Pension und das Wohnrecht in einer langsam verfallenden, vom Geheimdienst überwachten Villa von der neuen Führung erstreiten.114
Menetekel Nationalismus Alle Mittel der Medizin hatten Titos Tod nur hinausschieben können, den jedermann in Jugoslawien als Beginn einer Zeit der Wirren fürchtete. Er hatte keinen Nachfolger, denn Kardelj war 1979 gestorben. Ein kollektives Präsidium aus Vertretern der Republiken sollte das Land führen und das Auseinanderbrechen verhindern. Zunächst schien das möglich. Die Republiken waren nach dem Krieg ja nicht simpel nach dem leninistisch-stalinistischen Territorialkonzept gebildet worden. Die Führungsgruppe hatte sich durchaus den Kopf über dieses Konzept zerbrochen. Als Djilas im Januar 1948 in Moskau ein letztes Mal mit Stalin sprach, wollte er dringend dessen Meinung als Experte wissen. Stalin wehrte Frage und Lob seiner Schrift ab: „Es ist doch Iljitschs, Lenins Ansicht dargelegt, Iljitsch hat das Buch auch redigiert“115, so den Hergang bestätigend, wie er in den voraufgegangenen Kapiteln dieses Buches über Piłsudski, Medem und Bauer dargestellt ist. Lenin hatte ja gemeinsam mit Piłsudski das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf den Nationalstaat ausgeheckt, um die Lunte an
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Tito 1976a Mates 1982, S. 251 – 255; Sundhaussen 2012, S. 130 Auty 1972, S. 311 f.; Maclean 1980; Sundhaussen 2012, S. 113 – 130 Maclean 1980, S. 118 – 121 Barnett 2006, S. 146 Djilas, Pejaković 1992, S. 177
das Zarenreich zu legen und die Autonomiekonzepte des Jüdischen Bunds und der Austromarxisten zu bekämpfen. Kardelj, der sich so intensiv mit der Widerlegung der Austromarxismus und besonders ihres slowenischen Zweigs befasst hatte, sorgte dafür, dass genügend von ihrem Gedankengut in Jugoslawiens Nachkriegsverfassungen einging. Die Autonomie der Vojvodina und des Kosovo, der multiethnische Zuschnitt Bosnien-Herzegowinas, ergänzt um weitgehende kulturelle Autonomierechte der Minderheiten in Sprachen, Bildungswesen, Kirchenwesen, Kunst- und Literatur sollten ein gleichberechtigtes Zusammenleben in den Republiken ermöglichen. Mit Ausnahme Sloweniens beherbergten nämlich alle Republiken Minderheiten aus den anderen Völkern Jugoslawiens. Insbesondere von den Serben, die ein reichliches Drittel der Föderationsbevölkerung stellten, lebte fast jeder zweite nicht im engeren Serbien.116 Die Kombination von nationalterritorialer Staatsbildung und nationalkultureller Autonomie war die Quadratur des Kreises unter dem Banner von „Brüderlichkeit und Einheit“. Auch Sundhaussen bezeichnet sie als nahezu genial – und ohne humane Alternative.117 Gegründet auf den Mythos des Partisanenkampfes, der siegreichen Revolution gegen Okkupanten, Monarchisten und Stalinisten, auf die wirtschaftlichen Erfolge und das weltweite Ansehen des Staates hatte diese Lösung lange Bestand. Die Bildung der sechs Republiken als Heimatstaaten der jugoslawischen Völker setzte jedoch unweigerlich eine Nationsbildung in Gang. Der gegenläufige Prozess, die Bildung einer jugoslawischen Nation, lief der offiziellen Doktrin zuwider, war lange nicht erwünscht und daher schwach. Immerhin gab es 1981 schon 1,2 Millionen Bürger, mehr als jeder Zwanzigste, die sich bei der Volkszählung als „Jugoslawen“ bezeichneten – Menschen, die wie Tito von Eltern zweier Völker stammten, mit einem Partner eines dritten lebten, während ihres Lebens in verschiedenen Teilen des Landes Heimat gefunden hatten.118 Die Republiken wurden zu Nationalstaaten, die Nationalitätenstaaten waren. So sollte sich Etbin Kristans Voraussage vom Ende des voraufgegangenen Jahrhunderts erfüllen, dass man Nationen nicht territorial organisieren dürfe, weil jede Grenze angesichts der vermischten Völkerschaften Mitteleuropas Hader brächte.119 Spannungen im Innern und zwischen den Republiken brandeten auf. Im autonomen Kosovo mit drei Vierteln albanischer Bevölkerung, nur noch durch den Mythos der Amselfeldschlacht von 1389 an Serbien gefesselt, kam es seit den sechziger Jahren immer wieder zu Massendemonstrationen für eine eigene Republik, die blutig unterdrückt wurden. Zwischen den Republiken wuchsen Rivalitäten aus dem Nord-Süd-Gefälle innerhalb der Föderation. Slowenen und Kroaten waren es satt, Teile ihres Wohlstands nach Montenegro, Makedonien und dem südlichen Serbien umverteilt zu sehen. Die treibenden Kräfte dieses Nationalismus der Republiken waren alte und neue Eliten. Es waren die Kirchen, die Religionen und Traditionen gegeneinanderstellten und sich sogar, wie die orthodoxe Kirche in Makedonien, von der serbischen Mutterkirche trennten. Es waren die alten Nationalisten im Land und im Exil, die
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Sundhaussen 1993, S. 101 Sundhaussen 2012, S. 74 Sundhaussen 1993, S. 101 Kristan 1898
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Monarchisten und Ustascha-Anhänger, die den Nationalismus wieder an die alten Königreiche binden und den Revolutions- und Partisanenmythos begraben wollten. Vor allem waren es die Intellektuellen in Universitäten, Akademien und Verlagen, die Schriftsteller und die Publizisten. Sie erklärten die Besonderheiten des Serbokroatischen zu eigenen kroatischen, serbischen, montenegrinischen Sprachen und werkelten an je eigenen Geschichtsbildern, Wörterbüchern, Lehrplänen und Literaturen.120 Unheilvoll verschränkte sich die politische Reformdiskussion an den Universitäten und innerhalb der Partei mit dem neuen Nationalismus. Die Kritik an Bürokratie und „Unitarismus“ – einem vermuteten neuen Jugoslawismus – richtete sich gleichermaßen gegen die hierarchische Struktur der Selbstverwaltung, gegen die Parteibürokratie und gegen die Kompetenzen der Organe des Gesamtstaates. Der Ruf nach schrankenloser Dezentralisierung verband sich mit dem Streben der Republiken und autonomen Gebiete nach voller Staatlichkeit. Sundhaussen schreibt: „Zwischen 1967 und 1971 gingen Proteste und Reformen Hand in Hand, und es ist schwer zu entscheiden, ob die Proteste die Reformen oder die Reformen die Proteste ermöglichten und vorantrieben“.121 Exemplarisch ist der „kroatische Frühling“ von 1971, der sich zur Staatskrise entwickelte. Kulturinstitutionen und Medien lieferten die Argumentation, und die Studenten der Zagreber Universität wurden Initiatoren einer radikalisierten Massenbewegung, die einen selbständigen kroatischen Nationalstaat mit eigener Armee forderte. Die Ereignisse wiederholten sich im folgenden Jahr in Serbien. Der Bund der Kommunisten Kroatiens hatte sich mit der Massenbewegung verbündet, ja an deren Spitze gestellt, und die Parteiführungen der anderen Republiken standen mit ihrem neuen Nationalismus nicht nach. Tito selbst stellte sich gegen die „Unitaristen“, in der Hoffnung, so die Mobilisierung der Straße zu beenden. Kardelj bereitete, begleitet noch immer von Protesten, weitere 23 Verfassungsänderungen vor, die den Prozess der Föderalisierung durch die Verfassungsänderungen der Jahre 1967 und 1968 abschlossen. Im Ergebnis war Jugoslawien kaum noch ein Bundesstaat zu nennen, die Bundesorgane geboten nur noch über die Außenpolitik und die Armee.122 Kardelj, der Schöpfer des eigenartigen jugoslawischen Multinationalismus, hat sich in den siebziger Jahren immer wieder bemüht, diese Reformen zu rechtfertigen und doch von dem Selbstverwaltungssozialismus und der Brüderlichkeit und Einheit Jugoslawiens zu retten, was zu retten war.123 Unübersehbar verstärkten sich seine Zweifel angesichts der Entwicklung, er setzte sich wieder und wieder mit dem austromarxistischen und slowenischen Konzept der Nation und der Kulturautonomie auseinander. Doch es gelang ihm nicht, sich gedanklich von dem leninistisch-stalinistischen Konzept des territorialen Nationalstaats zu lösen. Das Leben zeige, dass sich die Völker mit der kulturellen Autonomie nicht abfinden würden, da es ohne Unabhängigkeit keine politische und kulturelle Macht gäbe.124 Aber war nicht das Wohlstandsversprechen aller Unabhängigkeitskriege ebenso vom Leben widerlegt worden? Immerhin wollte Kardelj gegen Lenin das Recht auf Lostrennung den jugoslawischen Völkern nicht als 120 121 122 123 124
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Sundhaussen 2012, S. 157 – 166 Sundhaussen 2012, S. 176 Sundhaussen 2012, S. 176 – 185 Kardelj 1979a Kardelj 1981, S. 39 f.
Bestandteil ihrer Selbstbestimmung zugestehen. Die einheitlichen Grundlagen des sozialistischen Selbstverwaltungssystems müssten bewahrt werden, wenn sich das Land nun auch von der Föderation zur Konföderation wandle.125 Es gelang nicht. Jugoslawien überdauerte Kardelj und Tito nur um ein Jahrzehnt. Sie beide hatten ungewollt die Lunte des territorialen Nationalstaats auch an dieses multinationale Staatswesen gelegt. Als die Staatengemeinschaft des sowjetischen Blocks 1989/1990 in sich zusammenfiel, riss sie den jugoslawischen Sozialismus mit sich. Bürgerliche nationalistische Parteien drängten in den Wahlen des Jahres 1990 die Kommunisten an den Rand, die Losreißung der Republiken begann. Das Unglück eines kriegerischen Jahrzehnts nahm seinen Lauf, begleitet von Vertreibungen, die seitdem als „ethnische Säuberungen“ bezeichnet werden. Europa vergaß, dass dies sein gängiger Weg zum homogenen Nationalstaat im 20. Jahrhundert gewesen ist. Doch das Ende Jugoslawiens ist eine andere Geschichte, die hier nicht mehr erzählt werden soll.
Große Entwürfe Ausgezeichnet mit Charakterstärke, Verstand und unwandelbaren Grundüberzeugungen hat Josip Broz Tito Unglaubliches vollbracht. Er war ein großer Parteiführer, Heerführer und Staatsmann, der das Charisma der vorzeitlichen Könige besessen hat. So scharte er eine Partei um sich, die ihm absolut ergeben war, gegen Stalin, gegen die Komintern. Diese Partei war die Grundlage, auf der er aus entmutigten, zerlumpten Bauern eine Partisanenarmee schuf, die auf sich allein gestellt das Land von den faschistischen Armeen und deren Kollaborateuren befreite. Die Großmächte ausmanövrierend gelang es ihm, einen sozialistischen Staat zu begründen. Seine Größe forderte Opfer: die Frauen, die ihn liebten, die Genossen, die den Säuberungen anheimfielen, die unzähligen Toten des ungleichen Kriegs, die Massentötungen zur Befestigung der neuen Macht und die Verbannung treuer Stalinisten nach 1948. Titos Ruhm wurde Teil des Opfer- und Revolutionsmythos, der das Land über die tiefe Krise des Bruchs mit der Sowjetunion hinweg trug. Titos Größe brauchte Freunde, Gefährten, Mitstreiter, unter denen der Theoretiker und Politiker Edvard Kardelj herausragte. Sie alle schufen das neue Jugoslawien, das hinsichtlich der nationalen Organisation, der Demokratie und der internationalen Zusammenarbeit eigenes zur Geschichte des Sozialismus beigetragen hat. Jugoslawien war ein multinationaler Staat, der in einer Quadratur des Kreises die Konzepte von Otto Bauer und Lenin verknüpfte. Das unheilvolle, territorial verstandene Selbstbestimmungsrecht der Nationen wurde nicht verabschiedet, aber die Föderation schloss die nationalkulturelle Autonomie der Minderheiten ein. Für Jahrzehnte konnte sich Jugoslawien gegen die zerreißenden Kräfte des Nationalismus behaupten; es war insofern ein Modell multinationaler Brüderlichkeit und Einheit.
125 Kardelj 1981, S. 284 – 286
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Jugoslawien war eine rätedemokratische Gesellschaft, die einzige, die für längere Zeit und im Maßstab eines ganzen Landes verwirklicht worden ist. Das gelang nicht in einer vormodernen Gesellschaft von Bauern und Handwerkern, wie jene, aus der die Utopien Fouriers und Proudhons stammten, sondern in einem sich rasch industrialisierenden Land. Die jugoslawische Rätedemokratie musste basisdemokratische und staatliche Institutionen verknüpfen, um die Komplexität einer Industriegesellschaft zu bewältigen. Auch dies gelang nur so lange, wie das Heil im Kompromiss, nicht im anarchistischen Extrem gesucht wurde. Mit der Bewegung der Blockfreien entwickelten die Jugoslawen eine Vision internationaler Beziehungen in einer besseren Welt. Dieses Programm war mehr als Protest gegen die Spaltung der Welt im Kalten Krieg. Es war ein Zusammenschluss für die Entwicklung der Unterentwickelten in einer solidarischen Weltordnung. Die Blockfreien organisierten sich als Friedensbewegung, als Gewissen der Menschheit auf dem Weg zu Freiheit, Gleichberechtigung und Weltfrieden. Wie viel Utopie in diesem Entwurf war, zeigte auch hier die Realität. Die Bewegung der Blockfreien war nicht zuletzt Titos persönliche Konsequenz aus den Kriegen und Kämpfen des 20. Jahrhunderts, durch die er gegangen war.
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Herbert Marcuse
Herbert Marcuse (1898 – 1979) Prophet der Jugendrevolte Wie ein Erleuchteter erschien der kaum bekannte, fast siebzigjährige amerikanische Professor auf der Bühne der europäischen Studentenbewegung. Seit der legendären Anti-VietnamkriegsKonferenz 1966 sog die rebellische akademische Jugend aus seinen Reden und Schriften Argumente für ihren Kampf gegen das kapitalistische System und alle Autoritäten, während die Konservativen beiderseits des Atlantiks ihn als ideologischen Rattenfänger bekämpften. Marcuses Philosophie speiste sich aus dem Existentialismus Martin Heideggers, der Dialektik von Hegel und Marx und der Psychoanalyse Sigmund Freuds, doch er begriff sich bis zuletzt als Marxist. Darin unterschied er sich von seinen Weggenossen am Institut für Sozialforschung, das erst im Rückblick die Geschlossenheit einer „Frankfurter Schule“ gewann. Er verabschiedete das Proletariat als revolutionäres Subjekt; Hoffnungsträger sah er an den Rändern des kapitalistischen Systems aufstehen, bei diskriminierten Minderheiten und den Befreiungsbewegungen der außereuropäischen Welt. Das verband ihn mit der Neuen Linken, die sich in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an den amerikanischen und westeuropäischen
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Universitäten formierte. Herbert Marcuse, der Philosoph der Jugendrevolte, wie Jürgen Habermas ihn nannte, hat damals die Konzepte der Neuen Linken geprägt.1
Bürgersohn in der Novemberrevolution Herbert Marcuse wurde am 19. Juli 1898 in Berlin geboren. Der Vater war aus Pommern zugewandert und gründete 1901 eine gutgehende Fabrik für Hüte, Mützen und Pelzwaren in der Berliner Königstadt. Seine Mutter Gertrud kam ebenfalls aus einer angesehenen jüdischen Unternehmerfamilie.2 Die Familie lebte nach den Glaubensregeln ohne orthodox zu sein. Der Sohn streifte später die religiöse Bindung ab, wie es damals alle Sozialisten taten.3 Herbert Marcuse wuchs in einem vom Vater errichteten stattlichen Familienhaus in der Charlottenburger Bismarckstraße behütet auf, genoss eine gediegene Gymnasial-Bildung und erfuhr in diesem großbürgerlichen Milieu keine antisemitischen Kränkungen, die er erinnert hätte. Der Kaufmannssohn war den geistigen Dingen mehr zugeneigt als den praktischen und deshalb nicht für die Übernahme des väterlichen Unternehmens, sondern zum Akademiker bestimmt; das väterliche Geschäft übernahm der jüngere Bruder. Der Krieg durchkreuzte zunächst diese Pläne; nach dem Notabitur musste der Achtzehnjährige zum Heer einrücken, kam aber seiner schwachen Augen wegen zu einer Luftschiffer-Ersatzabteilung in Tegel. Er erlebte die Streiks und Anti-Kriegs-Demonstrationen der Arbeiter in den umgebenden Reinickendorfer Großbetrieben und hörte sozialdemokratischen Agitatoren zu. Im Verlauf des Jahres 1917 trat der Bürgersohn in die SPD ein. Marcuse erzählte in den siebziger Jahren wiederholt von dem tiefen Eindruck, den die Novemberrevolution des Jahres 1918 auf ihn machte. Er erinnerte sich, am Alexanderplatz in einer Sicherheitswehr zur Verteidigung revolutionärer Kundgebungen gestanden zu haben, und er wurde in den Arbeiter- und Soldatenrat von Reinickendorf gewählt, der im November den Bürgermeister absetzte und die Versorgung der notleidenden Reinickendorfer in die eigenen Hände nahm.4 Als er zum Jahresende 1918 demobilisiert wurde, trat er aus dem Soldatenrat aus, ebenso aus der SPD, beides wegen des konterrevolutionären Ganges der Ereignisse, insbesondere wegen der Wahl von Offizieren in den Soldatenrat und der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. So sah er es jedenfalls im Rückblick am Lebensende. Damals, bei seiner Rückkehr ins Zivilleben, sagte er zu seinem Bruder Erich: „Ich muss verrückt gewesen sein“. Damals hätte er seine Sympathie nach München gewandt, wo die Revolution unter Beteiligung der Dichter Ernst Toller, Erich Mühsam und Gustav Landauer seinem ästhetischen Empfinden und anarchistischen Streben besser entsprach, erinnert sich der Bruder.5 So bescheiden
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Habermas 1968, S. 13 Kellner 1984, S. 13 f.; Kreutzmüller 2011 Marcuse 2004c, S. 249 Reibe, Ribbe 1988, S. 74 – 78; für die Rolle der Sicherheitswehr siehe: Wiegand 1999, S. 91; Engel 2002, S. 142 – 146 Katz 1982, S. 23 – 34, Zitiert: S. 31; Marcuse 1996, S. 11 f., 98 f.
der Anteil des jungen Marcuse an den Ereignissen gewesen sein wird, so tief grub sich ihm das Revolutionserlebnis ein und behauptete sich über alle Brüche hinweg als Lebensthema. Zunächst wandte er sich von der Politik ab; nie wieder trat er einer Partei bei. Schon während seines Kriegsdienstes als Luftschiffer konnte Marcuse Vorlesungen an der Berliner Universität besuchen, nun warf er sich mit allem Ernst auf das Studium der Germanistik, Literaturgeschichte und Philosophie. Zwei Jahre studierte er in Berlin und zwei in Freiburg im Breisgau. Er schloss dort 1922 mit einer Dissertation über den deutschen Künstlerroman ab, die der Germanist Philipp Witkop betreute. Witkop hatte eine populäre Sammlung von Kriegsbriefen deutscher Studenten herausgebracht, die den Kriegseinsatz als patriotischen Opfergang glorifizierte und so am Mythos von Langemarck baute. Die Wahl des Doktorvaters spricht nicht für Marcuses politischen Instinkt.6 Witkop mag die Auswahl der untersuchten Werke beeinflusst haben – er publizierte selbst über Gottfried Kellers „Grünen Heinrich“ und wechselte Briefe mit Thomas Mann.7 Die Auffassung des Doktoranden vom Roman als künstlerische Wiederspiegelung gesellschaftlicher Wirklichkeit folgte indessen der 1916 erschienenen „Theorie des Romans“ von Georg Lukács. Dieser Erneuerer des Marxismus im Geist des deutschen Idealismus blieb noch lange für Marcuse wichtig. In seiner Dissertation führt er daher den Künstlerroman auf die Absonderung der künstlerischen Lebenswelt von der bürgerlichen zurück; das dramatische Ringen des Künstlers um die Überwindung dieses Zwiespalts wäre dessen zentrales Thema. Wenn Marcuse abschließend meinte, spezifisch germanisches Weltgefühl im tragischen Dualismus von Kunst und Leben zu finden, und im Künstlerroman „das Ringen des deutschen Menschen um die neue Gemeinschaft“ sah, näherte er sich Witkops völkischer Gesinnung an.8 Nach Berlin zurückgekehrt, begründete Herbert Marcuse mit Hilfe des Vaters seine bürgerliche Existenz. In Freiburg hatte er die Mathematikstudentin Sophie Wertheim kennengelernt, die er 1924 heiratete. Er trat in das angesehene Antiquariat von Siegbert Martin Fraenkel ein, wo er sich statt mit dem schnöden Handel mit Literaturrecherche befassen konnte. Die wissenschaftlich annotierte Schiller-Bibliografie von 1925 ist ebenso sein Werk wie der Antiquariatskatalog zu Sozialismus und Revolutionsgeschichte von 1927.9 Er hat die Schriften nicht nur katalogisiert, sondern auch studiert. In diese beschaulichen Berliner Jahre fällt eine intensivere Beschäftigung mit dem Marxismus. Marcuse begann eine Rolle in der Berliner literarischen Welt zu spielen, die sich damals in einem breiten linken Spektrum sammelte. Er arbeitete an einer Zeitschrift mit, in der auch Alfred Döblin, Carl Zuckmayer, Bertolt Brecht und Egon Erwin Kisch publizierten, und er unterhielt in seiner herrschaftlichen Wohnung im väterlichen Haus in der Charlottenburger Bismarckstraße einen literarischen Salon.10 Im Jahr 1927 erschien „Sein und Zeit“ von Martin Heidegger, für Herbert Marcuse ein Erweckungserlebnis. Er löste alle seine Verhältnisse in Berlin auf und ging 1928 mit seiner Frau
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Witkop 1916 Gödden et al. 2001 Marcuse 1981b, S. 120 f., 332 f. Marcuse 1925; Antiquariat s. Martin Fraenkel 1927 Katz 1982, S. 54 f.; Kellner 1984, S. 32 f.; Wiggershaus 1993, S. 114
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und dem im November dieses Jahres geborenen Sohn Peter zurück nach Freiburg, um dort bei Heidegger eine wissenschaftliche Karriere zu beginnen.
Von Heidegger zu Marx Was war so anziehend an Heideggers Philosophie? Martin Heidegger beantwortete in seinem Buch Fragen der menschlichen Existenz angesichts ihrer Endlichkeit, und er brauchte dazu weder Gott noch Weltgeist. Herbert Marcuse wird wie viele seiner Zeitgenossen von dem aristokratischen Gestus einer Philosophie fasziniert gewesen sein, die auf den Entschluss und die Tat gerichtet war, ohne nach dem besonderen Inhalt zu fragen. Auch dies lag im Zeitgeist angesichts der Ohnmacht, die große Teile der akademischen Jugend spürten, wenn sie den Krieg als verloren, die Revolution als gescheitert und den Versailler Frieden als Diktat sahen. Heidegger verlegte das Gesetz des Handelns in das Dasein des Einzelnen. Das in die Welt geworfene Dasein solle eigentlich werden, indem es sorgend im Bewusstsein des Todes entschlossen sein Geschick entwerfe. Diese Eigentlichkeit, der Entwurf als Tat, als Werk, gebe der Geworfenheit des Daseins Sinn. Damit weise es in der Sorge angesichts des Todes über diesen hinaus. Das uneigentliche Dasein hingegen verdränge den Tod, es verfalle dem alltäglichen Betrieb der Welt mit seinem Gerede und Vergnügen, es verliere sich an die allgemeine Durchschnittlichkeit des Man.11 Diese Philosophie der Verachtung des gewöhnlichen Lebens der gewöhnlichen Menschen, der Entschlossenheit zur Tat angesichts des Todes, war die ideale Unterlage einer konservativen Revolution, wie sie im Kreis um den Dichter Stefan George, mit der Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers vom Untergang des Abendlandes und der autoritären Staatsphilosophie Carl Schmitts durch den Zeitgeist waberte. Sie zog jedoch Revolutionäre aller Richtungen an. Auf dem Umweg über die französischen Existenzphilosophen um JeanPaul Sartre beeinflusste Heidegger noch die Philosophie der Neuen Linken.12 Auch Marcuse wollte Eigentlichkeit im entschlossenen Entwurf der Tat, aber diese Tat sollte die Revolution im Geist von Hegel und Marx sein. Marcuse machte sich in mehreren Aufsätzen an eine Symbiose von Heideggers Philosophie mit einem Marxismus, der von Lukács und Korsch statt von Kautsky kam.13 Seine „Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus“ präsentierte er 1928 in Rudolf Hilferdings Zeitschrift „Die Gesellschaft“. Er führte darin aus, wie die Verdinglichung, Versachlichung des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft dessen Dasein zur Uneigentlichkeit verurteile. Der Schritt aus diesem dumpfen Dasein, den Marx als den von der Klasse „an sich“ zur Klasse „für sich“ beschrieben hatte, sah Marcuse in Heideggers Begrifflichkeit als Befreiung aus der Uneigentlichkeit durch die revolutionäre Tat zur Eigentlichkeit:
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Heidegger 2006, S. 114 – 130, 167 – 180, 252 – 267; Wolin 1991 Wolin 2001, S. XI – XIII; Sartre, Streller 1952; Kittsteiner 2004 Kellner 1984, S. 38 – 68; Abromeit 1999; Wolin 2001, S. 135 – 149
„Es gibt ein Dasein, dessen Geworfenheit gerade die Überwindung seiner Geworfenheit ist. Die geschichtliche Tat ist heute nur möglich als Tat des Proletariats, weil es das einzige Dasein ist, mit dessen Existenz die Tat notwendig gegeben ist“.14 Somit hatte er – Marxens Begrifflichkeit gegen Heideggers tauschend – die Revolutionstheorie aus der Existenzphilosophie abgeleitet. Schon bald entfernte sich Marcuse wieder von Heidegger. Der blockierte um 1930 Marcuses Habilitation.15 Inwieweit dies politische Gründe hatte, bleibt unklar. Den Unmut des Meisters kann auch die Arbeit selbst erregt haben, die Marcuse dann 1932 als „Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“ veröffentlichte. Diese nicht eigentlich lichtvolle HegelExegese spann den Faden bis zur Hegel-Rezeption von Wilhelm Dilthey fort, ohne irgendwo auf die Auseinandersetzung Heideggers mit Hegels und Diltheys Begriff der Geschichtlichkeit einzugehen.16 Heidegger war mit einer einleitenden Bemerkung abgetan, Marx fand übrigens ebenso wenig Erwähnung. – Von Heideggers Bekenntnis zum Nationalsozialismus war Marcuse 1933 ebenso überrascht wie Hannah Arendt und andere Heidegger-Schüler. Zuvor war der Philosoph weder als Antisemit noch als Anhänger der Hitler-Partei kenntlich gewesen. Und ähnlich wie Hannah Arendt, die in ihren Briefen an den Freund Karl Jaspers immer wieder auf Heidegger zurückkam, mühte sich auch Herbert Marcuse bei seinem Besuch im Schwarzwald 1947 und im anschließenden Briefwechsel vergebens um Einsicht und Reue des immer noch verehrten Lehrers.17 Er hat 1934 in einem Aufsatz über die totalitäre Staatsauffassung den politischen Bruch vollzogen. Anlass war ihm Heideggers Ruf an die Freiburger Studenten: „Nicht Lehrsätze und ,Ideen‘ seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz“. Diese Unterwerfung des Geistes unter die schiere Macht, die der Existenzialismus damit vollziehe, sei der eigentliche Titanensturz der klassischen deutschen Philosophie.18 Von Heidegger enttäuscht hatte sich Marcuse verstärkt Marx zugewandt. Anstoß waren die 1932 erstmals veröffentlichten Frühschriften von Karl Marx, namentlich die „ÖkonomischPhilosophischen Manuskripte“ von 1844. Marcuse war der erste, der deren Bedeutung erkannte und sich gründlicher damit befasste. Er fand hier einen noch ganz im Hegelschen Denken wurzelnden Marx, überging dabei aber Marxens Kritik an Hegel und den Junghegelianern. Denn Hegel war für Marcuse der eigentliche Philosoph der Revolution, dessen Dialektik leistete die Kritik alles Bestehenden im Namen der Vernunft. In den Jugendschriften von Karl Marx fand er den Begriff der Entfremdung des Menschen von der Natur und von sich selbst als Gattungswesen. Auch die Neue Linke hat später das Entfremdungskonzept des jungen Marx ins Zentrum gerückt. Sie hat es gegen den Karl Marx des „Kapital“ in Stellung gebracht, der die Arbeitswertlehre zur Grundlage seiner Kapitalismusanalyse machte und daraus die historische Mission der Arbeiterklasse für die Überwindung der kapitalistischen Gesell14 15 16 17 18
Marcuse 1981a, S. 382 f. Kellner 1984, S. 92, 406; Wolin 2001, S. 162; Wiggershaus 1993, S. 122 Marcuse 1989b, S. 8, 363 – 368; Wolin 2001, S. 153, 259 Wolin 2001, S. 166 f.; Wheatland 2012; Arendt et al. 1987, S. 84, 204, 484 Marcuse, S. 43 f.
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schaft begründete.19 Wenn Marcuse nun Marx als Philosophen der Revolution feierte, meinte er nicht die proletarische Revolution zur Überwindung der kapitalistischen Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse, sondern die Aufhebung der Entfremdung. Diese Entfremdung liege in der notwendigen, mühseligen Arbeit an sich. Ihre Überwindung sei das Ziel der Revolution, sodass der Gegensatz zwischen Arbeit und Freizeit ebenso aufgehoben werde wie der zwischen Arbeit und Spiel.20 Diese romantische Utopie sollte sich durch Marcuses weiteres Werk ziehen.
Am Institut für Sozialforschung Mit seinen Marx-Interpretationen empfahl sich Marcuse für das neo-marxistische Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Die Situation in Freiburg war insofern prekär geworden, als sich keine akademische Karriere bot, die Einkünfte aus den Publikationen philosophischer Aufsätze naturgemäß bescheiden waren und die Familie von den väterlichen Überweisungen abhängig blieb. Edmund Husserl, Heideggers Lehrer und Vorgänger auf dem Freiburger Lehrstuhl, empfahl den jungen Mann dem Kurator der Frankfurter Universität, und Marcuse erhielt 1932 die hoch willkommene Einladung des Instituts.21 Das Institut war eine 1924 begründete Stiftung eines schwerreichen Kaufmanns, der nicht nur das Kapital bereitstellte und ein stattliches Gebäude errichten und einrichten ließ und das Kapital bereitstellte, aus dessen Erträgen Mitarbeiter, Bibliothek und Publikationen unterhalten werden konnten. Er stiftete der Universität Frankfurt am Main auch noch Professuren, damit sie marxistische Forscher des Instituts zu Ordinarien ernenne. Denn einer marxistischen Orientierung sollte das Institut folgen und in diesem Sinne Forschungen zur sozialen Lage und den sozialen Bewegungen betreiben. Der Austromarxist Carl Grünberg folgte als erster Direktor gemeinsam mit dem Juniorstifter Felix Weil diesem Programm. Er arbeitete eng mit dem Marx-Engels-Institut in Moskau und seinem Direktor Dawid Rjasanow zusammen, wirkte an der Edition der Marx-Engels-Gesamtausgabe mit und zog kommunistische Wissenschaftler wie Karl August Wittfogel heran, der Marxens altorientalische Klassengesellschaft in der Geschichte Chinas entdeckte. Als Marcuse ans Institut kam, hatte Max Horkheimer seit 1930 die Leitung in Händen. Vorausschauend evakuierte Horkheimer Mitarbeiter, Mittel und Materialien nach Genf, London und Paris, sodass die Nationalsozialisten im März 1933 nur das Institutsgebäude und die Bibliothek beschlagnahmen konnten.22 Marcuse ging daher mit seiner Familie zu Beginn des Jahres 1933 zunächst an die Außenstelle in Genf und im Mai 1934 nach New York. Dort hatte das Institut an der Columbia-Universität Obhut gefunden. Er fand um Horkheimer und Fried19 20 21 22
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Kolakowski 1979, S. 432 – 435; Kellner 1984, S. 77 – 91; Schmidt 1992, S. 16 – 22; Wolin 2001, S. 137; Wendling 2009, S. 37 – 48 Marcuse 1981c, S. 509 – 512; Marcuse 1981d, S. 556 – 560, 586 – 594 Kellner 1984, S. 92; Wiggershaus 1993, S. 122; Marcuse 1996, S. 12 f. Wiggershaus 1993, S. 27 – 54, 128 – 167; Stamm 2009; Walter-Busch 2010, S. 14 – 25
rich Pollock, Lebensfreund Horkheimers und Geschäftsführer des Instituts, schon den engeren Kreis der Mitarbeiter versammelt: den Psychoanalytiker Erich Fromm, den Literatursoziologen Leo Löwenthal und den Staatswissenschaftler Franz Neumann. Der Musikwissenschaftler und Philosoph Theodor W. Adorno konnte erst 1938 aus Oxford herüberkommen, sein Freund Walter Benjamin, gegen schmales Entgelt an der Arbeit des Instituts beteiligt, verzweifelte 1940 daran, das rettende Exil noch zu erreichen.23 Horkheimer sah die Gruppe als versprengte Bürger, von der Katastrophe des alten Europa an die Ufer der Neuen Welt gespült.24 Und Bürger waren sie allesamt, aus jüdisch-großbürgerlichem Hause, weltläufig gebildet, dem Werk von Karl Marx durchaus, der Arbeiterbewegung hingegen nur aus der Distanz zugetan. So fiel es nicht schwer, Horkheimers Gebot folgend zu kommunistischen Emigranten Abstand zu halten und sich nicht politisch zu betätigen – „aus Rücksicht auf die gastgebende Universität“.25 Die „Zeitschrift für Sozialforschung“ war das einigende Band, das die monadenhaften Geistesexistenzen zusammenhielt. An die Stelle von Carl Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ war die theoretisch orientierte „Zeitschrift für Sozialforschung“ getreten. Die Neuorientierung – von konkreter historischer Forschung zu theoretischer Arbeit – war zunächst überdeckt durch die dramatischen Umstände der Emigration. Das Institut wurde unpolitisch, die neo-marxistische Orientierung verschwand hinter der Losung einer Kritischen Theorie. Horkheimer legte 1937 in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ deren Grundsätze dar, anknüpfend an die schon bei seinem Amtsantritt und im ersten Heft der Zeitschrift 1932 gegebene Linie. Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, vornehmlich ihrer aktuellen Ausprägung im Faschismus, sollte im interdisziplinären Zusammenwirken philosophisch beseelter Einzelwissenschaften in eine Theorie der Gesellschaft münden. Erkenntnisleitend sollte die Frage nach dem Grund von Unrecht und den Möglichkeiten menschlichen Glücksstrebens sein. Dabei wäre materialistisch und dialektisch vorzugehen und auf den Marx’schen Konzepten von Klasse, Mehrwert, Ausbeutung aufzubauen.26 Die „Zeitschrift für Sozialforschung“ verfolgte dieses Konzept in einer Vielzahl bedeutender Studien der genannten Forscher, jeweils durch Horkheimer eingeleitet, die im Kreis der Institutsangehörigen intensiv debattiert wurden. Sie erschien weiterhin in deutscher Sprache, also mit der Absicht, nach Europa und in die deutschsprachige Emigration hineinzuwirken. Somit verzichtete das Institut auf Nachhall in der amerikanischen Öffentlichkeit und enttäuschte die Erwartungen der Columbia-Universität. Erst die letzten Hefte 1941/42 erschienen als „Studies in philosophy and social science“, nun nicht mehr in Paris, sondern in New York. Allerdings fremdelten die Gastgeber noch immer mit dem abstrakt umständlichen Stil und der Präsentation der Zeitschrift, wie Marcuse Horkheimer berichten musste.27 Herbert Marcuse fiel im Konzert der Einzelwissenschaftler der Part des Philosophen zu. Er füllte ihn regelmäßig mit Aufsätzen aus, in denen er sich mit Staatsauffassung und Ideolo23 24 25 26 27
Für die Biografien von Horkheimer, Fromm, Pollock, Löwenthal und Wiesengrund-Adorno siehe: Wiggershaus 1993, S. 55 – 113; Walter-Busch 2010, S. 25 – 28 Marcuse 1996, S. 19 f.; Wiggershaus 1993, S. 122; Walter-Busch 2010, S. 69 – 72 Marcuse 1996, S. 19 Walter-Busch 2010, S. 52 – 54 Horkheimer 1996a, S. 199 f.
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gie der Gegner des Liberalismus und Marxismus auseinandersetzte. Er schrieb gegen jene, die dem autoritären faschistischen Staat den Weg bereiteten, ohne schon selbst Faschisten zu sein, wie den Deutschen Carl Schmitt, den Italiener Vilfredo Pareto, den Franzosen Georges Sorel.28 Als Philosoph beteiligte sich Marcuse auch an den Arbeiten des Instituts zu Autorität und Familie.29 Mit dem Psychoanalytiker Erich Fromm vermuteten die Forscher, dass sich der Faschismus in Europa auch deshalb etablieren konnte, weil patriarchalische Familienmuster autoritäre Charaktere prägten. Für Erhebung und Auswertung umfangreicher Fragebogenaktionen gewann Horkheimer Paul Lazarsfeld. Der hatte an der berühmten Studie über die Arbeitslosen von Marienthal mitgearbeitet, die seine Frau Marie Jahoda geleitet hatte, und arbeitete nun im amerikanischen Newark. In der Genfer Außenstelle des Instituts für Sozialforschung besorgte derweil Käthe Leichter, wie ihr Ehemann eine enge Vertraute von Otto Bauer, die Sammlung der europäischen Fragebögen. Horkheimers Institut hatte damals den austromarxistischen Sozialwissenschaftlern methodisch viel, wenn nicht alles zu verdanken. – Indessen brachte die parallel in Genf, Paris, London und Newark betriebene empirische Forschung nicht die erhofften Resultate. Die patriarchalischen Muster und autoritären Einstellungen ließen sich weder nach mehr oder weniger demokratischen Staaten, noch nach politischen Milieus oder sozialen Schichten hinreichend unterscheiden. Die Theorie blieb also in dem veröffentlichten Studienband weitgehend ohne empirischen Unterbau.30 Marcuses Beitrag widmete sich der Autorität als ambivalentes Verhältnis von Freiheit und Unterwerfung in der westlichen Philosophie, von Luthers Einschränkung der Freiheit eines Christenmenschen auf den Glauben, bis hin zu Hegels Verkettung von Herr und Knecht. Und er arbeitete gut marxistisch die enge Verquickung der Familie mit dem Eigentum heraus, aus der sich ihre Bedeutung für den Staat herleitete. Die Wirklichkeit der bürgerlichen Familie „worin die Langeweile und das Geld das Bindende ist“, wie er mit einem Zitat aus der „Deutschen Ideologie“ von Karl Marx schrieb, bedürfe also entschiedener Kritik. Damit wäre dem autoritären Staat der Boden zu entziehen.31 – Das war 1936. In dem Band von 1937 interpretierte Marcuse in enger Abstimmung mit Horkheimer die Wende unter dem Titel „Philosophie und kritische Theorie“. Karl Marx kam nicht mehr vor, von dessen Lehre war indirekt als von einer gescheiterten Philosophie aus dem 19. Jahrhundert die Rede.32 Die Kritische Theorie benutzte hier nicht die Sklavensprache, die nach dem Fabeldichter Äsop benannt ist, sondern sie vollzog die Abkehr vom Marxismus. Ob der Aufsatz eigentlich von Marcuse ist, wie die Aufnahme in die Sammlung seiner Schriften nahelegt, oder gemeinschaftlich mit Horkheimer entstand, wie die Veröffentlichung unter beiden Namen in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ anzeigt, bleibt offen. Horkheimers Autorität hatte lange einen geistigen Zwiespalt in der Gruppe überdeckt, der 1941 anlässlich von Friedrich Pollocks Buch „State capitalism“ aufbrach. Es ging um die Deutung des nationalsozialistischen Systems; bisher hatte die Gruppe es marxistisch als Aus28 29 30 31 32
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Marcuse 1979a Horkheimer et al. 1987 Horkheimer et al. 1987; Dubiel 1992, S. 43 – 46; Wiggershaus 1993, S. 157 – 163, 188 – 199 Marcuse 1979a, S. 171 Marcuse 1979b
fluss und letzte Steigerung des Monopolkapitalismus verstanden. Dem war auch Marcuses Auseinandersetzung mit dem Liberalismus gefolgt. Pollock sah dagegen im Nationalsozialismus ein gänzlich neues Stadium eines bürokratischen Staatskapitalismus, der sich von den Interessen der Wirtschaft abgelöst und das Kommando übernommen habe. Die Entsprechung zum stalinistischen Sowjetsystem lag auf der Hand, die These eines systemübergreifenden Totalitarismus nahe. Franz Neumann schrieb dagegen auf der marxistischen Interpretationslinie seinen 1942 englisch erschienenen „Behemoth“; er zeigte den Nationalsozialismus als totalitären Monopolkapitalismus. Darüber trennte sich die Gruppe, ging Neumann mit Marcuse zum Nachrichtendienst, blieben Horkheimer, Pollock und Adorno in Kalifornien, endeten Zeitschrift und Institut in New York. Dies ist die Geschichte des geistigen Auseinanderfallens, wie Helmut Dubiel sie schlüssig erzählt.33 Rolf Wiggershaus berichtet von der Entfremdung durch Horkheimers Persönlichkeit und Verhalten. Horkheimer, der auf großem Fuß zu leben liebte, in New York im besten Hotel wohnte und im kalifornischen Pacific Palisades ein großzügiges Anwesen erwarb, hatte sich und auch den Geschäftsführer Pollock bei Amtsübernahme durch die Stiftung umfassend absichern lassen. Die Mitarbeiter erhielten nur sehr bescheidene Gehälter. Horkheimer war von der Furcht geplagt, die Stiftungsmittel könnten erschöpft werden, deshalb suchte er Mitarbeiter abzuschieben, kürzte Gehälter und arbeitete gar auf die Schließung des Instituts hin. Die Ängste gewannen Boden nach einigen Fehlspekulationen von Pollock in der Krise 1937; dessen ungeachtet sollen die Kapitalerträge bis Ende der dreißiger Jahre zwischen 75.000 und 90.000 Dollar betragen haben.34 Bertolt Brecht bemerkte sarkastisch: „auf einer gartenparty den doppelclown horkheimer und pollock getroffen, die zwei tuis vom frankfurter soziologischen institut. […] mit ihrem geld halten sie etwa ein dutzend intellektuelle über wasser, die dafür alle ihre arbeiten abliefern müssen ohne die gewähr, dass die zeitschrift sie jemals druckt. so können sie behaupten, dass ,das geld des instituts zu retten, ihre hauptsächlichste revolutionäre pflicht durch alle die jahre war‘“.35 Marcuses Lage war doppelt schwierig durch Adornos Eifersucht, der ihn aus der Position des Philosophen an Horkheimers Seite zu verdrängen suchte. Horkheimer hatte gemeinsam mit Marcuse den großen gesellschaftstheoretischen Entwurf schreiben wollen, den das Programm des Instituts immer angekündigt hatte. Deshalb war Marcuse mit seiner Familie im Mai 1941 an die Pazifikküste gezogen. Nun kündigte Horkheimer ihm kurz nach dem Umzug eine Gehaltskürzung von 330 auf 280 Dollar im Monat an und schickte ihn nach New York, wo er die Situation des Instituts an der Columbia-Universität klären sollte. Vorgeblich war dies bloß für kurze Zeit, sodass Marcuse sich nur mit zwei Anzügen versehen hatte und auf dem Sofa im Büro schlief. Aus den Wochen wurden Monate, seine Mission erwies sich auch wegen widersprüchlicher Instruktionen aus Pacific Palisades als schwierig. Marcuse bat dringend zurückkehren und die gemeinsame Arbeit aufnehmen zu dürfen, aber Horkheimer war nicht mehr
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Dubiel 1992, S. 65 – 80 Wiggershaus 1993, S. 126 f., 279 – 281, 293 f., 327 – 338; Walter-Busch 2010, S. 23 – 29 Brecht 1973, S. 295
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interessiert; er drängte Marcuse im Herbst 1942, ein Stellenangebot des „Office of War Information“ bei der Regierung in Washington anzunehmen.36 Die Zusammenarbeit zwischen Horkheimer und Adorno gedieh. Sie mündete 1944 zwar nicht in die angekündigte große Synthese, aber in die Philosophischen Fragmente „Dialektik der Aufklärung“, jenen bösen Widerruf der Aufklärung, der die Vernunft anklagt, von Beginn der Menschheitsgeschichte an die Natur und sich selbst zerstört zu haben, bis in den Höllensturz des Faschismus hinein. Nicht zufällig ließ zu eben dieser Zeit Thomas Mann den Komponisten Adrian Leverkühn Beethovens Neunte Sinfonie widerrufen. Theodor Adorno hatte als musikwissenschaftlicher Berater Pate bei Manns „Dr. Faustus“ gestanden. Die „Dialektik der Aufklärung“ war von den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ inspiriert, die Walter Benjamin kurz vor seinem Tod an das Institut für Sozialforschung geliefert hatte.37 Bertolt Brecht, der die Thesen des Freundes kannte, notierte im Sommer 1941 deren Quintessenz in sein Tagebuch; er erfasste damit auch den Kern der späteren „Fragmente“: „b wendet sich gegen die vorstellungen von der geschichte als eines ablaufs, vom Fortschritt als einer kraftvollen unternehmung ausgeruhter köpfe, von der arbeit als der quelle der sittlichkeit, von der arbeiterschaft als protegés der technik usw. er verspottet den oft gehörten satz, man müsse sich wundern, dass so etwas wie der faschismus ,noch in diesem jahrhundert‘ vorkommen könne (als ob er nicht die frucht aller jahrhunderte wäre). – kurz, die kleine Arbeit ist klar und entwirrend (trotz aller metaphorik und judaismen), und man denkt mit schrecken daran, wie klein die anzahl derer ist, die bereit sind, so etwas wenigstens misszuverstehen“.38 Sowohl Benjamins Thesen als auch die philosophischen Fragmente zur „Dialektik der Aufklärung“ wurden seit den späten sechziger Jahren zu Schlüsseltexten neulinker Kulturkritik. Seitdem sieht man auf Francisco Goyas Zeichnung die Ungeheuer nicht hervorkommen, wenn die Vernunft schläft, sondern aus deren Träumen selbst entstehen. Gerade wegen ihrer Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit begründeten diese Texte zugleich die unerbittliche Systemkritik der akademischen Opposition in den späten sechziger Jahren, ihr Verlangen nach grundstürzendem Wandel.39 Als Horkheimer die „Philosophischen Fragmente“ Ende 1944 an Marcuse sandte, reagierte der spät, ausweichend, verständnislos.40 Er hielt an einem Geschichtsbild fest, das Handlungsräume öffnete. Er hatte sich schon mit seinem 1941 erschienenen Buch „Reason and Revolution“ (Vernunft und Revolution) von Horkheimer emanzipiert, indem er jede Mimikry ablegend sich zu Hegel, Marx und der Revolution bekannte.41 Diese Abhandlung mit dem Unter36 37 38 39 40 41
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Horkheimer 1996a, S. 199 – 205, 213 f., 234 – 239, 387 – 394; Wiggershaus 1993, S. 183, 295, 330 – 337; Walter-Busch 2010, S. 30 Benjamin, Raulet 2010; Wiggershaus 1993, S. 332 Brecht 1973, S. 294 Kittsteiner 1975, S. 39 Horkheimer 1996a, S. 636 f. Kolakowski 1979, S. 436 f.
titel „Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie“ sollte die in der englischsprachigen Welt verbreitete Meinung widerlegen, dass Hegels Philosophie wegen ihrer Hochschätzung des Staats unter die geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus zu reihen sei. In einem weiten philosophiegeschichtlichen Bogen zeigt Marcuse Hegels Dialektik als Kritik des je Bestehenden, wurzelnd in den Ideen der Französischen Revolution, gerade im Ideal des Staats – nicht in dessen schlechter Wirklichkeit – die Vernunft zum Vorschein bringend. Die Theorien von Karl Marx hätten in ihrer radikalen Kritik den Geist des Hegelianismus bewahrt. Reformpolitiker aller Richtungen, von Lorenz von Stein bis zu den Sozialisten der Zweiten Internationale, verwandelten hingegen die Dialektik in einen Haufen objektiver Gesetze, um für die Lösung aller Widersprüche passende Maßnahmen empfehlen zu können. Konsequent präsentierte er schließlich den Revolutionär Lenin als Hüter der Dialektik, während die Theoretiker des Autoritarismus und Faschismus mit Hegels Geist die Vernunft begraben hätten.42 Im Umkreis des Instituts für Sozialgeschichte war das Echo verhalten, obwohl der Autor das Werk Max Horkheimer und dem Institut für Sozialforschung gewidmet hatte – ungeachtet der schnöden Behandlung, die er erfuhr. Das amerikanische Publikum nahm Marcuses erstes englischsprachiges, erfrischend klares Buch zustimmend auf – mitsamt der revolutionären Tendenz.43 Es sollte ihm später die Türen zum akademischen Betrieb der USA öffnen.
Beim Geheimdienst – Deutschland- und Sowjetstudien Herbert Marcuse trat am 1. Dezember in das „Office of War Information“ in Washington ein. Der Nachrichtendienst war nach dem Kriegseintritt der USA in Reaktion auf den japanischen Angriff auf den Flottenstützpunkt Pearl Harbor (Hawaii) gegründet worden. Mit Marcuse und Franz Neumann hatten sich mehrere andere Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in den Dienst der amerikanischen Aufklärung gestellt; die Emigranten mit ihrer intimen Kenntnis von Gesellschaft und Kultur der Feindländer waren für die Kriegführung hochgeschätzte Hilfe. Herbert Marcuse und seine Mitstreiter hatten sich durch eine Vorlesungsreihe besonders empfohlen, die sie 1941/42 an der Columbia-Universität über das Wesen des Nationalsozialismus und seine Wirkungen auf die deutsche Gesellschaft gehalten hatten.44 Nach dem Zeugnis des Historikers und damaligen Kollegen Stuart Hughes gab es keine andere Emigrantengruppe beim Nachrichtendienst, die so hochkarätige und engagierte Forschung über ihr Land lieferte, wie die vom Institut für Sozialforschung.45 Auf Empfehlung seines Freundes Franz Neumann arbeitete Marcuse seit April 1943 am „Office for Strategic Studies“. Dort war er in der Forschungs- und Analyse-Abteilung als Chefanalyst für Deutschland tätig. Als dieses Amt nach Kriegsende geschlossen wurde, wechselte er gemeinsam mit Neumann zum
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Marcuse 1989c, S. 352 f., 339 Kellner 1984, S. 417 f. Söllner 1986, S. 22 – 31; Wiggershaus 1993, S. 333 Söllner 1986, S. 57
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Nachrichtendienst des Außenministeriums, einer Vorgängerorganisation der CIA.46 Sophie Marcuse arbeitete als Statistikerin im Landwirtschaftsministerium. Im Staatsdienst wurde Herbert Marcuse zum Amerikaner. Die Staatsbürgerschaft, die er beim Eintritt in den Nachrichtendienst erhielt, war das äußere Zeichen. Der Sohn beschreibt den Umzug nach Washington als Wechsel von einem deutschen Emigrantenmilieu in eine amerikanische Umgebung; das Englische drang in die private Kommunikation vor und der USAPatriotismus hielt Einzug.47 Die familiären Bindungen an Deutschland waren zerrissen. Die Eltern und der Bruder Erich mit seiner Familie waren 1939 in letzter Minute nach London entkommen, wo die Schwester Else mit Familie schon lebte. Andere Verwandte waren von den Nationalsozialisten nach Theresienstadt transportiert und ermordet worden.48 Herbert Marcuse gewann Freunde unter den neuen Kollegen. Stuart Hughes gehörte dazu, besonders aber Barrington Moore. Mit dem 15 Jahre jüngeren blieb er lebenslang persönlich und geistig verbunden. Die Freundschaft zu Franz Neumann vertiefte sich während dieses Jahrzehnts. Die Deutschen lernten aus amerikanischer Sicht auf die Weltpolitik zu schauen, während die amerikanischen Kollegen aufmerksam die Bücher von Neumann und Marcuse lasen, den „Behemoth“ und „Reason and Revolution“. Diese Kollegen versicherten später, dass sie sich an der marxistischen Tendenz nicht gestört hätten, denn in der Zusammenarbeit wären die profunde Kenntnis der Deutschen und ihr Idealismus im Kampf gegen den gemeinsamen Feind ausschlaggebend gewesen: „Ich hab gestaunt über die Abwesenheit jeder Art von Dogmatismus seitens dieser Emigranten. Sie sind ja auch unserem, dem amerikanischen Vorbild, nicht einfach und blindlings gefolgt, sondern sie orientierten ihr Denken wirklich an der Frage, was für Deutschland gut sein würde, was geeignet wäre, um Deutschland vor der Wiederkehr des Nationalsozialismus zu bewahren“.49 Marcuse analysierte vornehmlich deutsche Propagandaschriften und nationalsozialistische Literatur. Seine Schlüsse folgten in der Tat nicht den ausgetretenen Pfaden amerikanischen Denkens, und er kritisierte die grobschlächtige und wenig hilfreiche Gegenpropaganda der USA. Seine Urteile sind anhand seiner nachgelassenen Manuskripte wie folgt auf den Punkt zu bringen: Alle moralischen Tabus im öffentlichen und privaten Leben niederreißend hätten die Nationalsozialisten eine Mentalität zynischer Sachlichkeit erzeugt, drapiert mit heidnischer Mythologie. Dagegen müsse eine harte Sprache gesetzt werden: die Sprache der Tatsachen, zu denen die deutschen Verbrechen ebenso gehören wie die unausweichliche Niederlage; die Sprache der Erinnerung, die die katastrophische Geschichtskonstruktion der Nationalsozialisten zugunsten der demokratischen und liberalen deutschen Erfahrung auflöst; die Sprache der Umerziehung, die moralische Integrität wiederherzustellen sucht.50 Marcuse widersprach
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Jansen 1999, S. 40 – 45; Müller 2010, S. 33 – 53 Marcuse 2004c, S. 250 f. Katz 1982, S. 105 f.; Marcuse 19.10.2003 Söllner 1986, S. 27 – 30, zitiert: 27 Marcuse 2007b; vgl. Katz 1989; Marquardt-Bigman 2009, S. 67 – 118
somit wie schon in „Reason and Revolution“ der im angloamerikanischen Raum seit dem Ersten Weltkrieg verbreiteten Idee von einem illiberalen, antidemokratischen deutschen historischen Sonderweg. Mit dem Nationalsozialismus war diese These geradezu zur herrschenden Erklärung geworden, auch innerhalb der Emigration, und sie blieb es in der antifaschistischen Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit. Marcuse war überzeugt, dass sich das Wesen des Nationalsozialismus nicht entschleiern ließe, indem man seine Wurzeln überall in der deutschen Geschichte bei Luther, Herder oder Nietzsche entdecke; fast jeder deutsche Schriftsteller ließe sich zum Vor- aber auch Gegenläufer nationalsozialistischer Konzeptionen machen.51 Das Wesen des Nationalsozialismus erkläre sich aus der Rückkehr zu einer schrankenlosen imperialistischen Politik im Dienst des Monopolkapitals, dessen Verwertungsbedingungen durch den Verlust äußerer Märkte und die Sozialpolitik des demokratischen Staates während der Weimarer Republik stark eingeschränkt worden seien. Damit übernahm er die marxistische Argumentation von Neumanns „Behemoth“. Die Nationalsozialisten hätten nicht den totalen Staat aufgerichtet, sondern die Wesensmerkmale des modernen Staates zerstört: die Autorität des Gesetzes, das Gewaltmonopol und die Souveränität. An deren Stelle hätten sie die dreifache Herrschaft von Partei, Staat und Armee gesetzt.52 – Die geschichtswissenschaftliche Debatte um Ursachen und Wesen des deutschen Nationalsozialismus ist bis zur Gegenwart unabgeschlossen und muss es wohl auch bleiben. Vieles spricht für Neumanns Deutung und damit sowohl gegen die Totalitarismus-These wie auch gegen die Sonderwegs-These als leitendes Paradigma. Die Sonderwegs-These wurde von der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1990 ohne viel Aufsehen fallen gelassen, während die Totalitarismus-These wieder an Einfluss gewann. Marcuses Geheimdienstmemoranden für die amerikanische Nachkriegspolitik folgten der Linie der Kriegsjahre. Die von Franz Neumann geleitete Forschungs- und Analyseabteilung des ehemaligen Amts für Strategische Studien unterstand nun dem Außenministerium. Wie es ihrer Einsicht in Wurzeln und Wesen des faschistischen Behemoth entsprach, erarbeitete diese Gruppe detaillierte Übersichten des nationalsozialistischen Staats- und Parteiaufbaus und Listen der Verantwortungsträger in der Wirtschaft. Sie empfahlen, unmittelbar 220.000 Spitzen des Regimes einzusperren, darunter 1.800 namentlich genannte Wirtschaftsgrößen; wenn der Platz in den Gefängnissen nicht reichte, wäre auf die Konzentrationslager zurückzugreifen. Angesichts des damals noch kaum fassbaren millionenfachen Mords an den europäischen Juden wäre dies allerdings eine Maßnahme politischer Hygiene gewesen. Der demokratische Aufbau sollte sich vor allem auf jene Organisationen und Personen stützen, die die Nationalsozialisten zuerst bekämpft und ausgeschaltet hatten: Kommunisten, Gewerkschafter, Sozialdemokraten, die intellektuelle Linke.53 In Neumanns Abteilung hätte der prominent vertretene ,linkshegelianische Weltgeist‘ einen dritten Weg amerikanischer Nachkriegspolitik für Deutschland gezeichnet, meint eine Kennerin der Denkschriften. Dieser Weg habe jenseits der unbedingten wirtschaftlichen und politischen Zerschlagung Deutschlands gelegen, wie sie der Plan des Finanzministers Henry Morgenthau vorsah, und hätte ebenso die sofortige Aufrüstung
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Marcuse 2007b, S. 43; Claussen 2007 Marcuse 2007c Katz 1989, S. 45 – 49; Jansen 1999, S. 49 – 52
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zum Bundesgenossen gegen Stalins Sowjetunion ausgeschlossen, wie sie die „Falken“ in der politischen Klasse der USA befürworteten. Die Position der Emigranten in der Forschungsund Analyseabteilung des Außenministeriums sei keine Außenseiterposition gewesen.54 Tatsächlich wirkte Franz Neumann in der Anklage beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess mit und Herbert Marcuse reiste 1947 im Regierungsauftrag zur Sondierung des demokratischen Potentials in die amerikanische Besatzungszone Deutschlands. Bei dieser Gelegenheit suchte er Martin Heidegger, den Uneinsichtigen, in seinem Schwarzwaldwinkel auf.55 Doch die amerikanischen Interessen wandelten sich. Mit dem Kalten Krieg wurde Westdeutschland seit 1947 Bastion gegen den Sowjetkommunismus; Entmilitarisierung und Entnazifizierung waren somit hinfällig und eine bevorzugte Zusammenarbeit mit Gewerkschaftern und Kommunisten kam schon gar nicht infrage. Die Analysten waren tief frustriert, keiner mehr als Herbert Marcuse. Nach der Erinnerung von Stuart Hughes hatte der immer am weitesten links gestanden, links von Franz Neumann jedenfalls, irgendwie bei Rosa Luxemburg. Er habe die Vergeblichkeit ihres Tuns im State Office, die vollständige Freiheit bei ebenso völliger Wirkungslosigkeit, mit Zynismus quittiert – bitter lachend einen beschwingten Pessimismus zur Schau tragend.56 Es wurde einsam um Marcuse, die Mitstreiter strebten nach akademischen Karrieren. Barrington Moore und Stuart Hughes gingen ans Russian Reserch Center nach Harvard, und Franz Neumann kehrte an die Columbia Universität zurück, wo man seine Vorlesungen schon vor dem Krieg geschätzt hatte. Marcuse löste Neumann als Leiter der Politischen Abteilung für Mitteleuropa (Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei) ab. Mit dem Beginn des Kalten Kriegs verlagerte sich auch Marcuses Aufklärungstätigkeit auf die Sowjetunion und die Ausbreitung des Kommunismus; im letzten Jahr seiner Tätigkeit im State Department leitete er ein Komitee für die Erkundung des Weltkommunismus.57 Blieb er aus Karrieregründen beim Geheimdienst? Dreierlei führen die wohlwollenden Biografen und Marcuse selbst an: den Mangel an Alternativen, die Krebskrankheit seiner Frau Sophie, der kein Umzug mehr zuzumuten war, und die exzellenten Arbeitsmöglichkeiten. Sich rechtfertigend schrieb er 1969 an den österreichischen Kommunisten Ernst Fischer: „Meine Tätigkeit bestand in der wirklich unbeirrbaren Anstrengung, immer wieder auf die Folgen der Truman-Acheson-Politik hinzuweisen, gegen die Remilitarisierung Deutschlands, die Renazifizierung, den blinden Antikommunismus vorstellig zu werden. Nur eine völlige Unkenntnis der damaligen amerikanischen Verhältnisse kann zu der Ansicht verleiten, dass eine solche Arbeit damals im State Department nicht möglich war, folglich meine Tätigkeit mit der Unterstützung der offiziellen Politik identifizieren. Aber man braucht nun wirklich kein Experte der amerikanischen Politik zu sein, um zu wissen, dass die McCarthy Periode mit dem systematischen Angriff auf – das State Department begann, d. h. gegen die ‚Kommunisten‘ im Department. Ich bin noch 1950 von meinen
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Marquardt-Bigman 2009, S. 205 – 220, 269 f. Müller 2010, S. 55 – 58; Perels 2002; Wolin 2001, S. 166 f. Söllner 1986, S. 56 f. Müller 2010, S. 59 – 61, 144 – 146; Jansen 1999, S. 52 – 55; Marcuse 1996, S. 20 f.
sehr linken Freunden dringend gebeten worden, das State Department nicht zu verlassen, weil meine Arbeit dort für die Sache äußerst wichtig sei“.58 Eine neueste eingehende Untersuchung von Marcuses Rolle im beginnenden Kalten Krieg widerspricht. Er sei in die Geheimdienstarbeit zur Unterwanderung des sowjetischen Einflusses voll integriert gewesen, schließlich sogar „Kommandeur der Kommunismusforschung“ geworden; wie die anderen Mitarbeiter der Forschungs- und Analyseabteilung habe er sich auf der Linie eines „New Deal-Liberalismus“ bewegt, dessen gelegentliche linke Schräglage die unbedingte Loyalität zur amerikanischen Regierungspolitik nicht hinderte. Interne Beurteilungen hätten mehrfach seine Loyalität bestätigt. Marcuse habe zwar nur theoretische Arbeit geleistet, sei damit aber der psychologischen Kriegsführung nützlich und nur einen Schritt entfernt gewesen von der dunklen Seite des CIA, die im Kalten Krieg Sabotage und Subversion, Interventionen und politische Morde einsetzte.59 Solche Urteile mögen der Umdeutungslust junger Forscher und auch dem akademischen Mainstream entspringen; Marcuses Schriften sprechen eine andere Sprache. Im Februar 1947 sandte Herbert Marcuse an Max Horkheimer 33 Thesen für die Diskussion über eine Neuausgabe der „Zeitschrift für Sozialforschung“.60 Er stellte sich die Zeitschrift wohl als ein theoretisches Organ der Revolution vor, ein eher trotzkistisches offenbar. Marcuse sah darin die Welt in zwei Lager geteilt, ein sowjetisches und ein neo-faschistisches, und zwischen beiden die Demokratien zunehmend zerrieben. Einer antirevolutionären Sowjetunion und einer vom Kapital korrumpierten und von der Revolution enttäuschten Arbeiterklasse könne nur noch die anarchistische Revolution der deklassierten Minderheiten und der unterdrückten Kolonialvölker entgegentreten, die den Staatsapparat und den Produktionsapparat des Kapitalismus gleichermaßen zerschlagen und – auch um den Preis einer vorübergehenden Verarmung – eine Rätedemokratie errichten sollte. Dazu brauche es allerdings – anders als das anarchistische Credo wollte – leninistische Avantgardeparteien. Als solche sah Marcuse immer noch die kommunistischen Parteien des Westens. Die Mission der neuen Zeitschrift „würde dann darin bestehen, in den kommunistischen Parteien die revolutionäre Theorie wiederherzustellen und für die ihr entsprechende Praxis zu arbeiten. Die Aufgabe scheint gegenwärtig unmöglich. Aber vielleicht ist die relative Unabhängigkeit vom Sowjetischen Diktat, die diese Aufgabe erfordert, als Möglichkeit in den kommunistischen Parteien Westeuropas und Westdeutschlands gegeben“.61 Horkheimer reagierte auf die Thesen offenbar nicht und ignorierte Marcuses wiederholte Bitte um Wiederaufnahme als Mitarbeiter.62
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Marcuse 2004b, S. 196 Müller 2010, S. 77 – 79, 139 f.; 176 – 180 Horkheimer 1996a, S. 931 – 934; Marcuse 2007a Marcuse 2007a, S. 139 Wiggershaus 1993, S. 429 – 431
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Marcuses revolutionäre Ideen müssen seinen amerikanischen Auftraggebern gut verborgen geblieben sein, oder sie wurden ebenso wenig ernstgenommen wie in Frankfurt am Main. Erst nach dem Tod seiner Frau 1951 kehrte Marcuse dem Geheimdienst den Rücken und folgte wieder einmal Franz Neumann, diesmal nach New York. Er hatte in den letzten Jahren erhebliches Ansehen als „Sowjetologe“ gewonnen, gerade weil er nicht mit den Wölfen heulend die Sowjetunion dämonisierte, sondern sie noch immer als starke antifaschistische Macht und potentiellen Bündnispartner des Liberalismus sah. Die mit dem State Department verbundene Rockefeller-Stiftung hatte an solchen Forschungen Interesse, in ihrem Auftrag arbeitete Marcuse am Russian Institute der Columbia-Universität. Vom Geheimdienst war er bis September 1953 nur beurlaubt, bis er zum Russian Research Center der Harvard Universität wechselte. Dort war er wieder mit Barrington Moore zusammen.63 Er untersuchte den „Soviet Marxism“, weiterhin finanziert von der Rockefeller-Stiftung. Das 1958 erschienene Buch ist eine noch immer lesenswerte, kundige Analyse sowjetischer Ideologie und Politik von Lenin bis Chruschtschow. Die anspruchsvolle philosophische Untersuchung wurde von allen Seiten aus den Blickwinkeln ihrer Vorurteile missverstanden und getadelt. Die einen hielten das Buch für geschönte Rechtfertigung, die anderen für eine Diffamierung der Sowjetunion.64 Marcuse macht seinen amerikanischen Lesern zunächst klar, dass die merkwürdig hohl klingenden Reden aus dem Herzen des Weltkommunismus keineswegs Propaganda seien, sondern Ausfluss einer Theorie, die seit Lenins Tagen die Politik des mächtigen Staates leitete. Nicht auf Marx ginge der Sowjetmarxismus zurück, sondern auf Lenin. Dessen These von der „allgemeinen Krise“, die den Weltkapitalismus erfasst habe und ihn in Wellen von Wirtschaftskrisen und unvermeidbaren inneren Kriegen dem Abgrund zutreibe, widerspreche zwar dem Augenschein und sei schon falsch gewesen, als Lenin sie gegen Karl Kautskys und Rudolf Hilferdings Imperialismustheorien gestellt habe. Beide hatten durchaus eine Stabilisierung des Kapitalismus in einem großen Kartell der imperialistischen Mächte für möglich gehalten. Lenin sah den Imperialismus als sterbenden Kapitalismus, dieses Sterben in der „allgemeinen Krise“ aber als einen längerfristigen Prozess. Deshalb habe er die Losung vom Aufbau des Sozialismus in einem Land ausgegeben, die eine Koexistenz von Kapitalismus und Sozialismus auf längere Sicht prophezeite. Die darauf gründende Politik müsse einen militärischen Konflikt mit den kapitalistischen Ländern auf jeden Fall vermeiden. Sie solle so die Atempause gewinnen, in der das Land industrialisiert und zivilisiert, Russlands Rückständigkeit aufgeholt und die Überlegenheit des Sozialismus erreicht werden könne. Marcuse behandelt also „Allgemeine Krise des Kapitalismus“, „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, „Koexistenz“ und „Atempause“ als Schlüsselbegriffe der sowjetischen Außenpolitik und nicht als Propagandafloskeln, und er stellt ihren inneren Zusammenhang dar. Noch unter Stalin und unter seinen Nachfolgern wären es Leitlinien einer Politik, in der die Sicherheit der Sowjetunion oberstes Gut war, auch gegen revolutionäre Bestrebungen in westlichen Ländern.65 Das widersprach den Grundannahmen der amerikanischen Politik des Kalten Kriegs, die vom Expansionismus und den weltrevolutionären Ambitionen der Sowjet63 64 65
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Müller 2010, S. 180 – 85, 239 f., 415 – 433 Kellner 1984, S. 197 – 199 Marcuse 1989a, S. 70 – 75
union ausging. Tatsächlich sprechen mehr Argumente für als gegen Marcuses These. Hingewiesen sei auf die Ausschaltung der spanischen Revolutionäre im Bürgerkrieg durch die sowjetische Politik, wie im Kapitel über Andreu Nin gezeigt, auf die Volksfront- und Paktpolitik gegen Hitlerdeutschland zu Lasten von Titos Partisanenkampf, und auf die sowjetische Politik für eine Neutralisierung ganz Deutschlands, die in der Stalin-Note vom März 1952 gipfelte. Eric Hobsbawms Jahrhundertrückblick gibt eine schlüssige Darstellung dieser Politik im Kontext des 20. Jahrhunderts.66 Marcuse analysiert weiter, wie die sowjetische Politik sich mühte, die Kluft zwischen Theorie und Wirklichkeit zu überbrücken; denn auch der Aufbau des Sozialismus zog sich hin. Die sowjetische Partei- und Staatsführung entwickelte eine Praxis, die Marcuse als magische Kommunikation bezeichnete. Die Behauptungen über die Realität – Demokratie, Freiheit, Wohlstand, Überlegenheit des Sozialismus – werden als Tendenzen deklariert, die sich durch richtige Politik in Tatsachen verwandeln. Über die Massenkommunikation leitete die Bürokratie so ihre Ziele an die unterworfene Bevölkerung weiter, die mit dem erwarteten Verhalten antworten sollte. Die Führung selbst erliege dieser Magie.67 Marcuse widmete Stalins Terror kaum Aufmerksamkeit, der gehörte nicht zum Kern des Systems. Über weite Strecken erörterte er hingegen die Abtötung von Philosophie, Kunst und Literatur als Opfer des schlechten Realismus jener magischen Kommunikation. Sie dürften nicht länger Hort erträumter, fantasierter, erdachter Gegenwelten sein. In einem Kampf auf Leben und Tod müsse das Regime jegliche Transzendenz als Antagonismus des Bestehenden austreiben. Das Marx’sche Verhältnis von Basis und Überbau sei verkehrt, die Philosophie in die offizielle Theorie verwandelt worden, während das Wahre, Gute, Schöne im Dienst der sowjetischen Wirklichkeit sich selbst zerstörte.68 Ein zweiter Teil befasst sich mit der sowjetischen Ethik, die die moralische Autonomie des Individuums durch ein institutionalisiertes Allgemeininteresse ersetzt habe, gegen die Intentionen von Karl Marx und der späteren Marxisten. Die Werte seien sämtlich aus dem westlichen Tugendkatalog bezogen und fielen zusammen in der Unterordnung der Neigung unter die Pflicht, des Einzelnen unter die Staatsräson, des Lebens unter die Arbeit.69 Marcuse sah die Sowjetgesellschaft auf den Pfad der westlichen Industriegesellschaften einschwenken und war sich darin mit seinem Freund Barrington Moore einig. Eine Gesellschaft, die weiterhin auf Lohnarbeit, Disziplin und Verzicht beruhte, sollte sich nach seiner Überzeugung nicht sozialistisch nennen und könne schon gar nicht das erste Stadium einer kommunistischen Ordnung sein. Er sagte voraus, dass sich die Annäherung beschleunigen würde in dem Maße, wie die technologische Entwicklung Güter nicht nur für die Rüstung, sondern auch für den Konsum bereitstellte. Den befriedigten Konsumbedürfnissen werde die politische Liberalisierung folgen. Welch ein Irrtum beides! So abwegig waren diese Annahmen im damaligen Horizont indessen nicht. Die Tauwetterperiode nach Stalins Tod und der „Sputnik-Schock“, der den Westen angesichts der sowjetischen Weltraumerfolge ergriff, waren der
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Laufer 2004; Hobsbawm 1997, S. 284 – 290 Marcuse 1989a, S. 93 – 99 Marcuse 1989a, S. 128 – 135 Marcuse 1989a, S. 217 – 221
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zeitgeschichtliche Hintergrund. Kritiker griffen die Fehleinschätzungen an und ignorierten den philosophischen Kern der Untersuchung.70
Mit Freud gegen die eindimensionale Gesellschaft Herbert Marcuse hatte sich unterdessen selbst von den Sowjetstudien entfernt, die im Gefolge des Kalten Kriegs aufblühten. Er sah die Sowjetunion als Sackgasse der Revolution, ausweglos in die Industriegesellschaft einmündend. Deshalb unterbrach er die Arbeit über die Sowjetgesellschaft für „Eros and Civilization“, ein Buch, das 1955 in Boston und schließlich auf Deutsch unter dem Titel „Triebstruktur und Gesellschaft“ erschien.71 Er widmete es seiner verstorbenen Frau. In der Endphase ihrer Krankheit 1950/51 hatte er an einer Hochschule für Psychologie in Washington philosophische Vorlesungen zu Sigmund Freud gehalten.72 Freuds späte Schriften, insbesondere der Essay „Jenseits des Lustprinzips“ von 1920, ergriffen ihn ähnlich tief wie seinerzeit die Philosophie Heideggers, weil sie mit Eros und Thanatos, Liebe und Tod, Urgründe menschlichen Lebens aufrührten.73 Heidegger schien abgetan. Nach dem Tod seiner Frau schrieb er an die Freunde: „Es gibt keine widerwärtigere Haltung als Heideggers intellektuelle Spielerei und Transzendentalisierung des Todes“.74 In dieser dunklen Zeit seines Lebens konzipierte er sein hoffnungsvollstes Buch. So wie er einst die Revolutionstheorie von Marx mit Heideggers Philosophie der Tat verbunden hatte, verknüpfte er nun Karl Marx’ Vision vom Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit mit Freuds Triebtheorie. Im dritten Band des „Kapital“ hatte Friedrich Engels ein nachgelassenes Fragment von Karl Marx abgedruckt, in dem das Reich der Freiheit als Überwindung schwerer, mühseliger Arbeit durch technischen Fortschritt und Beseitigung von Herrschaft beschrieben ist. Die Notwendigkeit höre zwar nicht auf, sei aber durch extreme Verkürzung der Arbeitszeit auf ein Minimum beschränkt, wo „der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn“.75 In diesem Reich der Freiheit, so Marcuse, werde das Leistungsprinzip entthront, das die libidinösen, erotischen Triebe des Menschen beschneide. Das Leistungsprinzip, das eine fort-
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Kellner 1984, S. 219 – 224 Marcuse 1979c Kellner 1984, S. 154 Freud 1988 Horkheimer 1996b, S. 199 Marx 1956 – 1990f, S. 828
währende Erhöhung des Lebensstandard fordere und diesen in immer mehr Autos, Fernsehapparaten und Traktoren messe, diene allzu leicht einer Rechtfertigung der Unterdrückung und müsse anderen Kriterien weichen: der weltweiten Befriedigung der Grundbedürfnisse und der Freiheit von Schuld und Angst. Der Fortschritt sei also jenseits des Herrschaftsbereiches des Leistungsprinzips zu suchen.76 Es müsse auf das Realitätsprinzip zurückgeführt werden, das Freud als Bedingung der menschlichen Kultur entdeckt hatte. Das Realitätsprinzip vertritt die Anforderungen der Außenwelt gegenüber dem inneren Lustprinzip, das auf die umgehende Befriedigung der Triebwünsche drängt. Das Realitätsprinzip fordert Aufschub und Verzicht, sodass der Mensch seine Triebenergie bändigen und auf nützliches und schöpferisches Handeln umlenken muss.77 Marcuse geht nun davon aus, dass nur ein Teil dieser Triebunterdrückung kulturnotwendig sei, der größere aber der Unterdrückung und Ausbeutung in Klassengesellschaften diene. Von Herrschaft und Not befreit könne jene überschüssige Unterdrückung des Sexualtriebs wegfallen, die ihn auf Fortpflanzung, Genitalorgane und Freizeit beschränke. Der jetzt nur in der Fantasie und im Traum freie Trieb werde sich entfalten und zum allumfassenden Eros sublimieren, sodass er alle menschlichen Beziehungen bis zur nicht mehr entfremdeten, lustvollen Arbeit durchdringe.78 In diesem Reich der Freiheit sei notwendige Arbeit geringfügig und mühselige durch Technik ersetzt. Die patriarchalische Kleinfamilie, entstanden wegen jener übermäßigen Unterdrückung des Sexualtriebs, löse sich auf. Auch Marcuse verwies auf die Phalanstèren des französischen Frühsozialisten Charles Fourier, Lebens- und Arbeitsgemeinschaften in freier Liebe.79 Schon Fourier hatte ja vermutet, dass zwischen den Menschen eine grundlegende „Anziehung aus Leidenschaft“ wirke, wenn man nur alle entgegenstehenden Verhältnisse beiseiteschaffe. Ganz in der Nähe von Marcuses Wohnort Newton bei Boston lag Brook Farm, wo Mitte des 19. Jahrhunderts eine solche Kolonie entstanden war und der Geist Fouriers noch immer wehte.80 In der schrankenlosen Bejahung des Seins, des Lebens und der Lust sah Marcuse mit Marx, Freud und Fourier auch Friedrich Nietzsche an seiner Seite. Nietzsches „Zarathustra“ predigte ja die Erlösung aus den Mythen der westlichen Religion und Philosophie, die das Leben mit Erbsünde und Schuld belasteten und mit dem Fluch des Todes belegten. Es gäbe keinen außerhalb liegenden Sinn des Seins, keine Pflicht gegen jenseitige und irdische Mächte, nur den ewigen Kreislauf des Lebens, der die Zeit und den Tod besiege.81 Wie Heideggers Eigentlichkeit lugte auch Nietzsches Übermensch aus Marcuses Utopie hervor. Sigmund Freud näherte sich als Mediziner und Naturwissenschaftler dem Wesenskern menschlicher Existenz und fand die großen Triebkräfte des Lebens in der Seele wirkend. Heidegger unternahm dasselbe als Philosoph. Marcuse wagte sich nun entschieden über Medizin und Philosophie hinaus, wenn er beide Sichtweisen miteinander und mit der Gesellschaftstheorie von Marx verbinden wollte. Offenbar waren seine Schlussfolgerungen weder mit Marxens noch 76 77 78 79 80 81
Marcuse 1979c, S. 133 f. Marcuse 1979c, S. 115 – 123 Marcuse 1979c, S. 170 – 189 Marcuse 1979c, S. 184 – 186 Höppner 1987, S. 47 Marcuse 1979c, S. 105 – 109
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mit Freuds Lehre in Übereinstimmung zu bringen. Er gesellte sich wie Wilhelm Reich einer „Freudianischen Linken“ zu, die in einer enthemmten Sexualität die entscheidende Kraft der künftigen Revolution sah.82 Der Einfluss von Marcuse und Reich auf Teile der Neuen Linken war erheblich; er leitete in selbstbezogenen Hedonismus oder gar in Missbrauch, statt in menschheitsumfassende All-Liebe. Die Idee von der befreienden Sexualität brachte aber auch ein neues Bewusstsein der Körperlichkeit, ablesbar an Themen und Thesen gewandelter Sozialwissenschaften: Lebensalter und Leiden, Körperkultur und Körperkult, repressive Pädagogik und Politik drängten in die Öffentlichkeit. Mitte der fünfziger Jahre wendete sich Herbert Marcuses Leben zum Besseren. Er erhielt 1954 einen Ruf als Professor für Philosophie und Politikwissenschaften an die Brandeis-Universität, eine private Universität, die 1948 von der Jüdischen Gemeinschaft der USA in Waltham bei Boston gegründet und nach Louis Brandeis, dem ersten jüdischen Richter am Obersten Gerichtshof benannt worden war. Sie war nicht konfessionsgebunden, Professoren und Studenten waren aber ganz überwiegend jüdisch. Die neue Universität berief gern Gelehrte mit unorthodoxer linker Orientierung.83 An seiner Seite war nun Inge Neumann, Witwe von Franz Neumann, der 1954 bei einem Autounfall gestorben war. Sie heirateten 1956.84 Mit Inge und den beiden halbwüchsigen Söhnen seines nächsten Freundes hatte Marcuse wieder eine vollständige Familie. Sein Sohn Peter war inzwischen verheiratet, selbst Vater und ein erfolgreicher Rechtsanwalt.85 Inge Marcuse hat während dieser zweiten Ehe noch französische Literatur und Geschichte studiert und dann an der Universität unterrichtet; sie gab ihrem Mann Rückhalt, wenn er sich politisch exponierte, denn sie teilte seine Überzeugungen. Ihr widmete Marcuse 1964 seine dunkle Gesellschaftsanalyse „Der eindimensionale Mensch“.86 In diesem wichtigsten seiner Bücher leistete er, was Horkheimer und Adorno beabsichtigt hatten und letztlich schuldig geblieben waren, die Systemanalyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Nichts darin ist veraltet, alles deutlicher als damals. Diese „Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ umfassen westliche wie östliche Gesellschaften. Marcuse sah beide nicht mehr als Alternativen, sondern in fortwährender Annäherung, wie schon in seinem Buch zur Sowjetgesellschaft zu lesen war. Das eigentliche Thema ist die kapitalistische Gesellschaft der USA, sie steht für die entwickelten westlichen Gesellschaften schlechthin. Die eindimensionale Gesellschaft, das ist eine Gesellschaft ohne Transzendenz, also ohne Gegenbilder, die über sie hinausweisen, wo Fantasien von einer anderen Welt als „Fantasy“ vereinnahmt sind, eine Gesellschaft ohne Opposition. Der eindimensionale Mensch, das ist der auf vollkommenes Einverständnis mit dem System zugerichtete Mensch, dem die Dialektik des Denkens abhanden gekommen ist, ohne Erinnerung an eine Vergangenheit, in der es noch Träume gab und für sie zu kämpfen lohnte.
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Robinson 1969; Kolakowski 1979, S. 438 – 442; Kellner 1984, S. 189 – 196 Wheatland 2009, S. 288 – 290 Katz 1982, S. 210 f.; Marcuse 2002 Marcuse 2005 Marcuse 1987a
Die eindimensionale Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne ernsthafte Widersprüche. Eine entwickelte Technik produziert einen Überfluss an Waren, der jedes Bedürfnis stillt und immer neue – falsche – Bedürfnisse schafft. In dieser Warenwelt scheinen die Unterschiede zwischen den Klassen eingeebnet durch Mode und Kosmetik, Automobilisierung und Populärkultur. Aber nicht Annäherung, sondern Gleichschaltung durch Reklame finde statt, freiwillige Unterwerfung unter die totale Kontrolle des Marktes und der Marken. Von Entfremdung sei kaum mehr zu reden, wenn sich die Menschen in ihren Waren erkennten. So werde auch die Demokratie totalitär.87 Neue Technologien verdrängten den klassischen Industriearbeiter und verlangten nach akademisch gebildeten Angestellten, die den Arbeiterorganisationen fernstehen. Unter der Führung von Gewerkschaften und Arbeiterparteien sei es zu einem betrügerischen Einvernehmen zwischen Arbeiterschaft und Kapital gekommen, das jeden Wandel unterbinde. Den Wohlfahrtsstaat nennt Marcuse eine Missgeburt zwischen organisiertem Kapitalismus und Sozialismus, und prangert doch die finsteren Aspekte der konservativen und liberalen Kritik an, die offen zutage treten „im Kampf gegen eine umfassende Sozialgesetzgebung und angemessene Regierungsausgaben für andere Zwecke als solche militärischer Verteidigung“.88 Woher dieser Widerspruch? Vielleicht, weil Marcuse mit dem Wohlfahrtsstaat die Konsumgesellschaft verband? Die amerikanische Ausprägung des Wohlfahrtsstaats unterschied sich zudem erheblich vom europäischen Muster des Sozialstaats, der eben nicht einfach ein betrügerisches Einvernehmen zwischen Arbeiterschaft und Kapital war, sondern dieses Kapital der korporativen gewerkschaftlichen und steuerlichen Umverteilung unterwarf, wie am schwedischen Beispiel zu sehen sein wird. Welfare-State und Warfare-State, Wohlfahrtsstaat und Imperialismus, sah Marcuse als die beiden Seiten des spätkapitalistischen politischen Systems. Der Kalte Krieg erlaube beiden Systemen im Namen der Bedrohung durch die jeweils andere Seite totale innere Mobilisierung für die nationale Sicherheit. Die Unterschiede zwischen konkurrierenden Parteien verschwänden, die Volkswirtschaften konzentrierten sich mit Unterstützung der Regierung auf die großen Konzerne, verflochten „mit einem weltweiten System von militärischen Bündnissen, monetären Übereinkünften, technischer Hilfe und Entwicklungsplänen“.89 Die Manipulation der Öffentlichkeit verbinde sich mit einer Orwellschen Sprache, die im ritualisierten Gebrauch Begriffe wie Freiheit und Demokratie verkehre, entleere und gegen Widerspruch immunisiere.90 Marcuse klagt die Kulturindustrie an, die nicht nur die Populärkultur ergreife. Hier verweist er auf die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno. Die Künste verlören ihr subversives Potential im Dienst marktförmiger Unterhaltung. Die Sexualität sei allgegenwärtig in Werbung und Öffentlichkeit, und das Lustprinzip, derart geschwächt, setzte dem Realitätsprinzip kaum noch Widerstand entgegen. Ein glückliches Bewusstsein unterwerfe sich den
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Marcuse 1987a, S. 29 – 31 Marcuse 1987a, S. 70 – 72 Marcuse 1987a, S. 39 Marcuse 1987a, S. 107 f.
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herrschenden Verhältnissen. Marcuse spricht von repressiver Entsublimierung, dem Gegenstück jener schöpferischen Sublimierung, die Freud als Grund menschlicher Kultur bloßgelegt hatte.91 Hart geht der Autor mit dem eindimensionalen Denken in den Wissenschaften ins Gericht, vornehmlich mit dem Triumph des Positivismus in Philosophie und Soziologie. Die positivistischen Sozial- und Geisteswissenschaften lösten gesellschaftliche Widersprüche in banale Einzeltatsachen auf und verwandelten sich so in bloße Verwaltungswissenschaften.92 Welche Alternative hatte Marcuse im Sinn? Natürlich jene Freudianische Utopie seines voraufgegangenen Buches. Vorausgehen müsse eine „Große Weigerung“, die Abkehr von Reklame und Krieg, damit die Produktionstätigkeit auf jenes Maß zurückgeführt werden könne, das den wirklichen Bedürfnissen der Menschen entspräche. Die planmäßige Ermittlung und Befriedigung dieser angemessenen Bedürfnisse müssten gesamtgesellschaftliche Institutionen übernehmen. Denn Selbstbestimmung in Produktion und Verteilung könne erst greifen, wenn aus den manipulierten Massen denkende Individuen geworden seien. Freiheit und Glück lägen in der Zukunft, wo ein wesentlich neues geschichtliches Subjekt die Gesellschaft organisieren und reproduzieren könne.93 Dieser Neue Mensch war Vision, und Marcuse traute dem eindimensionalen Menschen die große Revolution folgerichtig nicht zu. Die Große Weigerung werde jedenfalls nicht von der organisierten Arbeiterklasse ausgehen. Das Volk, einst Ferment der gesellschaftlichen Veränderung, sei zum Zement des gesellschaftlichen Zusammenhalts geworden. Doch unter dem konservativen Volksboden wachse das Substrat der Geächteten und Außenseiter, der Migranten und ethnischen Minderheiten, der Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen: „Die Tatsache, dass sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes der Periode markiert. – Nichts deutet darauf hin, dass es ein gutes Ende sein wird“.94 Er schließt das Buch mit den Worten Walter Benjamins: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben“.95 Erstmals hatte er sich ausdrücklich mit den amerikanischen Verhältnissen befasst, und so fand er zahlreiche Leser. Binnen der nächsten fünf Jahre wurden 100.000 Exemplare allein in den USA verkauft, und das Buch wurde in 16 Sprachen übersetzt. Voraussehbar stieß seine düstere Diagnose auch auf Ablehnung, und das nicht nur von konservativer Seite. Die Marxisten konnten eine kapitalistische Gesellschaft, in der die Widersprüche stillgelegt sind und die Arbeiterklasse das System stabilisiert, ebenso wenig akzeptieren.96 Unter den Kritikern war Paul Mattick, ein emigrierter deutscher Anarchosyndikalist, der auch während der Verfolgung in der McCarthy-Zeit der Bewegung treu geblieben war. Mattick bestand auf der herausgehobe91 92 93 94 95 96
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Marcuse 1987a, S. 90 – 97 Marcuse 1987a, S. 123 – 133, 184 – 213 Marcuse 1987a, S. 261 – 263 Marcuse 1987a, S. 267 Marcuse 1987a, S. 268 Kellner 1984, S. 267 – 275; Wheatland 2009, S. 293 – 295
nen Rolle der Arbeiterklasse in der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Nach dem MarxWort, dass das Proletariat revolutionär sei, oder es sei nichts, möge es zwar gegenwärtig scheinen, es sei nichts. Aber weil die Arbeiterklasse am tiefsten betroffen sei von den kapitalistischen Krisen und Kriegszügen, werde sie wohl vorangehen müssen, um die eindimensionale Ideologie der kapitalistischen Herrschaft zu brechen.97 Dies schrieb Mattick in der Festschrift, die der alte Freund Barrington Moore anlässlich von Marcuses Abschied von der Brandeis Universität zusammengestellt hatte. Marcuse beendete seinen Dienst dort Anfang 1965, auf Initiative der Universitätsleitung und wegen Erreichens des Pensionsalters, wie es hieß.98 Politik spielte wohl eine Rolle. Er hatte den Freiraum der Universität für politische Auseinandersetzungen ausgereizt. Marcuses berühmteste Studentin, die Bürgerrechtskämpferin und Kommunistin Angela Davis, meinte in ihrer Autobiografie, dass „man ihn aus politischen Gründen praktisch von Brandeis fortgeekelt hatte“.99 Die Studenten schätzten seine klare Gedankenführung und das Feuer seiner Überzeugungen. Ohne Rücksicht auf heilige Kühe hätte er seinen kritischen Negativismus dem herrschenden Positivismus – der Vergottung des Faktischen – entgegengestellt.100 Marcuse war politisch unbeirrbar. So weigerte er sich, die Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 durch sowjetisches Militär rundweg zu verurteilen, da sich konterrevolutionäre Kräfte den Arbeiterprotest zunutze gemacht hätten, um das Ungarn der Aristokratie, des Nationalismus und des Faschismus wiederherzustellen. Er wäre auf Seiten derer, die zuerst gesprochen hätten, zum Schweigen gebracht wurden und sich wieder erheben würden.101 Anlässlich der Invasion in der Schweinebucht 1961 sprach er auf einer Protestversammlung gegen die Kubapolitik der USA.102 Der Dekan der Soziologischen Fakultät, der bei der Kuba-Protestversammlung an Marcuses Seite gewesen war, resümierte: „Während seiner vielen Jahre an der Brandeis hielt Herbert Marcuse uns allen die mannigfaltige Bedrohung durch den Warfare-Welfare-State ständig im Bewusstsein. Gleichzeitig hat die Aufmerksamkeit für den totalitären Terror niemals seinen Sinn für Humor töten können. Wir danken ihm für beides“.103 Marcuse ging an die Universität von Kalifornien in San Diego und lehrte weiterhin Politikwissenschaften und Philosophie. Er ließ sich im paradiesischen Küstenvorort La Jolla nieder, gewiss ein idealer Ort für den Ruhestand. Es begannen die aufregendsten Jahre seines Lebens.
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Mattick 1967, S. 400; siehe: Mattick 1972 Katz 1982, S. 169 Davis 1977, S. 140 Leiss et al. 1967 Wheatland 2009, S. 289 f. Marcuse 2004b Stein 1967, S. 373; Stein auf der Protestversammlung 1961: Marcuse 2004b, S. 31
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Mit der amerikanischen Neuen Linken In San Diego traf Herbert Marcuse auf die Protestbewegung gegen die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung im Süden und die anschwellenden Aktionen gegen den Krieg der USA in Indochina. Dies waren die beiden Fronten einer amerikanischen Neuen Linken. Die neue Linke unterschied sich von der alten – die anders als in Europa in den USA bedeutungslos war – wesentlich in zweierlei Hinsicht: Sie organisierte sich nicht als Partei und sie stand der Arbeiterbewegung fern. Beides entsprach Marcuses Überzeugungen. Die amerikanische Neue Linke gruppierte sich um den SDS (Students for a Democratic Society), der anders als der deutsche SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) keine marxistischen Neigungen hatte, sondern aus dem Liberalismus der Kennedy-Jahre hervorgegangen war. Die Pogrome des rassistischen Ku-Klux-Klans waren die Initialzündung zur Radikalisierung der „Students for a Democratic Society“. Weiße Mittelklassestudenten der kalifornischen Universitäten solidarisierten sich mit den schwarzen Opfern des „Freedom Summer“ 1964. Sie unternahmen „Freedom Rides“ in die Gettos des Südens und erfuhren dort hautnah Diskriminierung, Verfolgung und Kampf der afroamerikanischen Bevölkerung. Im Jahr 1965 formierte sich dann auch eine breite Bewegung gegen den Krieg der USA in Vietnam. Sit-in und Teach-in, Sitzstreik und Protestforum, entstanden als neue Formen; sie trugen den Protest aus der Universität in die Öffentlichkeit.104 Diese Taktiken wurden alsbald von der europäischen Jugendrevolte übernommen und weiterentwickelt. Angela Davis, die später weltweit berühmte, erste farbige Präsidentschaftskandidatin der USA, die Herbert Marcuse seine beste Studentin nannte, mag hier für die engen persönlichen und politischen Verbindungen stehen; weitaus mehr junge Leute gingen den umgekehrten Weg von Westeuropa in die USA. Marcuse hatte Angela Davis noch von der Brandeis-Universität aus mit einem kleinen Stipendium nach Frankfurt am Main an das wiedererstandene Institut für Sozialforschung gesandt.105 Im Jahr 1966 erlebte sie dort eine Anti-Vietnamkriegs-Demonstration: „Als die Sprechchöre der Demonstranten riefen ,U.S. raus, U.S. raus, U.S. raus aus Vietnam‘ und ,Ho, Ho, Ho Chi Minh‘ wurden sie fast sofort von berittener Polizei angegriffen. Eine junge Frau geriet unter die Hufe der Pferde. Da es vorher abgesprochen war, dass wir uns dem erwarteten Angriff widersetzen wollten, wurde die verwirrende Taktik von Angriff und Rückzug angewandt. Es war so gedacht, dass man die Hauptstraße, die zum Zentrum der Stadt führte, entlangzog und damit den Straßenbahnverkehr lahmlegte. Während die Masse der Demonstranten auf beiden Seiten der Straße auf dem Bürgersteig ging, trennten sich einige in regelmäßigen Abständen von ihrer Gruppe und setzten sich auf die Straßenbahnschienen. Wenn sie die Polizei kommen sahen, warteten sie bis zum letzten Augenblick und nahmen dann wieder in der Masse ihre Zuflucht. Das gelang nicht allen. Als ich an der Reihe war, mich zu setzen und dann zu rennen, musste ich mich sehr sputen, um schnell genug wieder in der Masse unterzutauchen, denn ich wollte nicht in Westdeutschland vor Gericht gestellt werden. Nach mehreren Stunden Sitzen und Rennen und einer beträchtlichen Anzahl von Verhaftungen gelangten wir zur 104 Wheatland 2009, S. 303 – 305 105 Marcuse 2004b, S. 175
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Hauptwache, dem Mittelpunkt der Stadt, und hörten eine zündende Ansprache von Rudi Dutschke an, dem Führer des SDS“.106 Der Übergang vom gewaltfreien Protest zum offenen Widerstand war fließend; die Eskalation des Indochinakriegs und die brutale Unterdrückung der Bürgerrechtsbewegung radikalisierten die Opposition der Afroamerikaner und der Studenten. Auch Angela Davis hielt es nicht länger in Frankfurt bei Adorno und Habermas, als sie von den offenen Kämpfen ihrer schwarzen Brüder mit Ku-Klux-Klan und Nationalgarde hörte. Sie ging zu Marcuse zurück, nun nach San Diego, um ihre Doktorarbeit über Immanuel Kant zu schreiben. Sie wurde Mitglied der „Black Panthers Party for Self-Defense“ und schließlich auch der Kommunistischen Partei, wie sie in ihrer Autobiografie ausführlich beschreibt. Als Angela Davis im Oktober 1970 wegen des unbewiesenen Vorwurfs, Waffen für die Befreiung von Mitgliedern der „Black Panthers“ besorgt zu haben, inhaftiert wurde, stellte Marcuse sie als Assistentin ein. Er sagte im Prozess für sie aus, besuchte sie im Gefängnis, unterstützte die weltweite Kampagane für ihre Freilassung mit Reden und Pressebeiträgen und setzte sich dafür ein, dass sie als Professorin an der Universität von Kalifornien arbeiten konnte.107 Als Angela Davis nach ihrer Freilassung 1972 nach Ostberlin, Prag, Moskau und Sofia reiste, um sich zu bedanken, kritisierte er sie in einem Brief für ihre Stellungnahmen im Sinne der jeweiligen Regierungspolitik. Sie habe damit den amerikanischen Antikommunismus geschürt, ihre Freunde im Westen vor den Kopf gestoßen und Solidarität mit den verfolgten tschechoslowakischen Kommunisten verweigert.108 Der Graben zwischen kommunistischer Parteipolitik und den Neuen Linken entzweite Lehrer und Schülerin. Als die Sit-ins und Teach-ins in Auseinandersetzungen mit Polizei und Nationalgarde mündeten, Beamte aus ihren Büros verjagt, Behörden und Gefängnisse angegriffen wurden, da verwiesen Politiker und Journalisten immer öfter auf Herbert Marcuse als Anstifter. Anlass war sein Essay über „Repressive Toleranz“.109 Die Schrift war schon 1965 gemeinsam mit einem Essay von Barrington Moore als „Critique of Pure Tolerance“ (deutsch 1968: Kritik der reinen Toleranz) erschienen. Marcuse hatte sie seinen Studenten an der Brandeis-Universität zum Abschied gewidmet. Auch Barrington Moore wandte sich in einem Essay gegen eine strikte Entgegensetzung von Demokratie und Diktatur, wobei Freiheit, Konstitutionalismus und bürgerliche Rechte exklusiv der einen und Gewalt und Fanatismus nur der anderen Seite zugerechnet würden. Historisch sei oft genug die eine aus der anderen hervorgegangen. Im Vietnamkrieg würden nun revolutionäre Bauern im Namen der Demokratie mit Bombenteppichen belegt.110 Marcuse ging davon aus, dass die liberalen Gesellschaften insofern totalitär geworden seien, als sie Toleranz – „die große Errungenschaft des liberalen Zeitalters“ – zwar in den Medien noch übten, aber Wirtschaft und Politik „einer allseitigen und wirksamen Ver-
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Davis 1977, S. 138 Marcuse 2004b, S. 9, 158 – 176 Marcuse 2004b, S. 181 – 183 Breines 1968, S. 134 f. Moore 1968, S. 84
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waltung im Einklang mit den herrschenden Interessen“ unterwürfen.111 Marcuse proklamierte ein Naturrecht auf Widerstand für unterdrückte und überwältigte Minderheiten: „Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Einhalt zu predigen“.112 Diese Sätze wurden fortan von seinen Widersachern zitiert, um ihn als Befürworter der Jugendgewalt zu brandmarken. Nach dem Buch „Der eindimensionale Mensch“ und diesem Plädoyer für „Repressive Toleranz“ war Herbert Marcuse der einflussreichste Denker der Neuen Linken in den USA geworden. Es mag noch immer verwundern, dass dies einem alten Professor innerhalb einer Jugendbewegung geschah, einem Mann von durchaus europäischem Habitus mit unverkennbar deutschem Akzent, einem Philosophen, der in einer europäischen Tradition von Hegel über Marx und Lukács bis Horkheimer stand, die in den USA wenig bekannt war.113 Erklärlich wird dies in der Verschränkung von amerikanischer und europäischer Bewegung. Marcuses europäische Berühmtheit und amerikanische Wahrnehmung verstärkten sich wechselseitig.
Idol der europäischen Studentenrebellion Die europäische Studentenbewegung radikalisierte sich rasch nach dem Vorbild der amerikanischen, obwohl die unmittelbaren Anlässe fehlten: eine militante Bürgerrechtsbewegung und ein Krieg, in dem die wehrpflichtige Jugend kämpfen sollte. Angriffspunkte waren hier die hierarchischen Strukturen der Universitäten, die als autoritär und konservativ erlebte Gesellschaft, in Deutschland insbesondere die dem Faschismus noch immer verhaftete Vätergeneration, und staatliche Repressionen, die sich mit der Bewegung aufschaukelten. Herbert Marcuse sprach im Mai 1966 auf der Abschlusskundgebung des Vietnam-Kongresses in Frankfurt am Main, den der Sozialistische Deutsche Studentenbund organisiert hatte. Als Hauptredner begeisterte er Tausende Zuhörer. Er sprach über den irrational aufgeblasenen Kampf gegen den Kommunismus, der „das Amerika der Freiheitsrechte und der Unabhängigkeitserklärung, das Amerika, das vor nicht zu langer Zeit der Feind des Nazismus war, mit wachsenden antidemokratischen, militaristischen und selbst profaschistischen Kräften bedroht“. Und er fuhr fort: 111 Marcuse 1984a, S. 160 112 Marcuse 1984a, S. 161 113 Kuhn 1967; Breines 1968, S. 141; Kellner 1984, S. 2; Wheatland 2009, S. 300 – 303
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„Was meint Vietnam? Vietnam meint China als die neue geschichtliche Stufe. Vietnam meint alle nationalen Befreiungsbewegungen im Bereich der überentwickelten Industriegesellschaft; Befreiungsbewegungen, die die Vernunft, die die Institutionen und die Moralität dieser überentwickelten Industriegesellschaft infrage stellen und bedrohen. Vietnam ist zum Symbol geworden für die Zukunft der ökonomischen und politischen Repression, zum Symbol geworden für die Zukunft der Herrschaft des Menschen über den Menschen“.114 Damit ordnete Marcuse die Bewegung gegen den Vietnamkrieg der USA in eine Weltbefreiungsbewegung ein, und er gab ein Signal für die Ablösung der proletarischen Revolution durch eine maoistische Revolution. Die Anwesenden durften sich als Teil einer Avantgarde zur Befreiung der Menschheit fühlen.
Herbert Marcuse 1967 im Audimax der Freien Universität in Westberlin
114 Marcuse 2004b, S. 63
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Zahllose Einladungen zu ähnlichen Kongressen und an andere Universitäten zwischen Berlin, Paris und Rom folgten. Nach einem für alle Beteiligten denkwürdigen Kongress an der Berliner Freien Universität im Juli 1967 schrieb Marcuse an einen Freund: „Eine sehr aufregende Woche in Berlin, wo ich wie ein Messias empfangen wurde, sprach zu 5.000 Studenten. Dann ein komplett verrückter, teilweise psychedelischer Kongress über die ,Dialektik der Befreiung‘ in London“.115 Angela Davis erinnerte später diesen Kongress und Marcuses Reden als „einen Moment großer Verheißung“.116 Marcuses Popularität wuchs ins Unermessliche, die Medien erklärten ihn zum Guru der Studentenrevolte. In Rom und Paris erschienen Plakate mit den Namen von Marx, Mao und Marcuse. Ein Pariser Student erklärte einem Journalisten: „Wir sehen Marx als Propheten, Marcuse als seinen Interpreten und Mao als das Schwert“.117 Der Enthusiasmus der Bewegung ergriff ihren Philosophen. Als er mehr oder weniger zufällig Zeuge der Mai-Ereignisse in Paris 1968 wurde, fühlte er sich an die Berliner Revolutionswochen 1918 erinnert. In Frankreich hatte die Studentenrevolte, da sie von einem wochenlangen Generalstreik der Arbeiter begleitet wurde, das Land an den Rand des Bürgerkriegs gebracht; sie führte letztlich zum Sturz der Regierung von Charles de Gaulle. Der pessimistische Prophet schöpfte Hoffnung, sah die grundstürzende Umwälzung in Reichweite. „Das Ende der Utopie“ – Motto des Kongresses und seiner Reden in Berlin 1967 – war keine negative Diagnose mehr, sondern der Schlachtruf „Utopie jetzt!“. Sein „Versuch über die Befreiung“ von 1969 bezeichnete den Wendepunkt seines Denkens und bündelte Inhalt und Ton seiner Reden in den Jahren 1966 bis 1968.118 In diesem Essay verkündete Marcuse die Große Weigerung als Tagesaufgabe, die Verweigerung gegenüber dem repressiven Leistungsprinzip der kapitalistischen Warenwirtschaft und ihren falschen Konsumbedürfnissen. Wie er es in „Triebstruktur und Gesellschaft“ entwickelt hatte, solle die Entwicklung einer neuen Sensibilität in befreiter Sexualität autoritäre gesellschaftliche Strukturen überwinden. Die Jugendrebellion könne zwar nicht die Führung einer solchen Revolution übernehmen, aber sie wäre das aufklärerische Ferment einer universellen Befreiung. Die Bewegungen in den Entwicklungsländern von China über Vietnam und Kambodscha bis Kuba erschütterten die festgefügten Überflussgesellschaften des Westens in ihren Grundfesten. So werde auch die Arbeiterklasse der spätindustriellen Demokratien aufstehen und „die befreiende Kraft der roten und schwarzen Fahnen wiedergewinnen“.119 Marcuse sah den Anarchismus wieder aufleben, rief den Geist der Ersten Internationale gegen die Zweite auf, als Marx an der Seite von Bakunin stand und es keinen Marxismus gab, und er erinnerte an den gemeinsamen Kampf von anarchistischen Arbeitern und Intellektuellen im spanischen Bürgerkrieg. Die großen Träume der Vergangenheit Wirklichkeit werden lassen, das hieße,
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Marcuse 2004b, S. 185 Davis 2004, S. 47 Wheatland 2009, S. 301 Marcuse 1984b; Kellner 1984, S. 285 – 287 Marcuse 1984b, S. 241 f.
von Marx zu Fourier und vom Realismus zum Surrealismus fortzuschreiten, zu einer entsublimierten Wirklichkeit, „wo der Hass der Jungen in Gelächter und Gesang ausbricht und sich Barrikade und Tanzboden, Liebesspiele und Heroismus verquicken“.120 Nichts illustriert Marcuses Hochgefühl in diesem historischen Moment mehr, als seine plötzliche Hoffnung auf die Arbeiterklasse. Sie verrauchte, als nichts geschah. Marcuses Erinnerung an Fourier und anarchistische Gemeinschaftsbildungen befeuerte die Kommunebildung auf dem radikalen Flügel der Studentenbewegung. Spektakuläre politische Aktionen und Promiskuität in den Kommunen trieben die Empörung der bürgerlichen Öffentlichkeit auf den Höhepunkt. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund fürchtete seine staatliche Förderung zu verlieren und schloss die Kommunarden aus. Rudi Dutschke, der unbestrittene Führer des Studentenbunds, hatte solche antiautoritären Gemeinschaften gemeinsamen Lebens, wissenschaftlicher Diskussion und politischen Kampfs prinzipiell befürwortet. Für sein eigenes Leben wählte er Liebe und Ehe; der christliche Revolutionär heiratete im Frühjahr 1966 gegen den Protest seiner Genossen eine amerikanische Theologiestudentin.121 Gretchen Dutschke schrieb später über die Kommunen, sie „schienen hauptsächlich darauf aus zu sein, die Frauen zu gemeinsamen Sex-Objekten zu machen. Die politische Arbeit war bei ihnen bis auf weiteres auf die ,persönliche Befreiung‘ reduziert. Das sprach Rudi nicht an“.122 Auch Herbert Marcuse lebte die familienfeindliche befreite Sexualität seiner revolutionären Theorie nicht. Er und Rudi Dutschke wurden Freunde. Zu Dutschkes nahen Freunden aus der älteren Generation zählten ebenso Ernst Bloch, der Philosoph des „Prinzip Hoffnung“, und der Theologe Helmut Gollwitzer. Als Gretchen Dutschkes akademischer Lehrer hatte Gollwitzer eine besonders enge Beziehung zur Familie. Doch die Gesellschaftsanalysen und Revolutionskonzepte von Marcuse beeinflussten Dutschke in seiner politischen Tätigkeit am meisten.123 Rudi Dutschke sagte von Herbert Marcuse, er sei „in den sechziger Jahren der einzige bedeutende politische Theoretiker“ gewesen und hob dessen Buch über den Sowjetmarxismus hervor, weil es eine kritische Analyse „von einem ganz neuen Standpunkt“ geliefert hätte, weder von dem des Trotzkismus noch von dem der Komintern.124 Der Briefwechsel der beiden begann nach dem Berliner Kongress vom Juli 1967 und dauerte bis zu Marcuses Tod. Die beiden erörterten die imperialistische Politik der USA in Vietnam und anderen Entwicklungsländern, Dutschkes Dissertation über die russische Revolution im Licht der „asiatischen Produktionsweise“, und die politische Organisation der Neuen Linken.125 Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke Ostern 1968 besuchte Herbert Marcuse den Freund im Krankenhaus, erleichtert, dass vier Wochen nach dem Kopfschuss Bewusstsein und Sprache schon ein wenig zurückkehrten.126
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Marcuse 1984b, S. 260, 263 Karl 2003, S. 181 – 188 Dutschke 1981, S. 15 Karl 2003, S. 49 f., 79 – 87 Marcuse 1996, S. 135 f. Marcuse 2004b, S. 185 – 253 Karl 2003
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Anfeindungen und Entfremdungen Rudi Dutschke hatte noch im Krankenhaus die Absicht geäußert, einen Neurologen in Boston zu konsultieren, und Marcuse hatte ihn für diesen Fall nach San Diego eingeladen. In der konservativen, von den Auseinandersetzungen der letzten Jahre schwer gebeutelten Universitätsstadt verbreitete sich darauf das Gerücht, dass der aufrührerische marxistische Professor den berüchtigten deutschen Studentenführer an die Universität holen wollte. Nach Angela Davis nun auch noch „Red Rudi“! Die Hetzkampagne gegen Herbert Marcuse erreichte einen neuen Höhepunkt. Rechte Bürgerorganisationen forderten seine Entlassung. Bei einem Besuch des damaligen Gouverneurs von Kalifornien und späteren Präsidenten Ronald Reagan im Herbst 1969 veranstalteten die Studenten eine Protestdemonstration, mit ihnen war Herbert Marcuse. Auch Reagan forderte darauf Marcuses Entlassung. Der Vizepräsident der USA drohte in einem Fernsehinterview: „Marcuse ist ein extrem gefährlicher Professor, der das Denken der jungen Studenten vergiftet“.127 Der Ku-Klux-Klan attackierte Marcuse mit Morddrohungen, sodass er zeitweise bei Freunden Unterschlupf suchen musste und Studenten vor seinem Haus Wache hielten. Ein Film des Dänen Juutilainen dokumentiert die Hexenjagd.128 Tiefer als die Angriffe der Gegner traf das Unverständnis der alten Freunde und Weggefährten. Die Beziehung zwischen Marcuse und Horkheimer hatte sich wie gezeigt schon zu Beginn der vierziger Jahre gelockert, als Horkheimer die Zusammenarbeit mit Adorno vorzog. Marcuse wollte den Bruch offenbar lange nicht wahrhaben. Nach dem Tod seiner Frau Sophie hatte er Horkheimer im Oktober 1951 noch einmal gebeten, ihm eine gemeinsame Arbeit am nun wieder in Frankfurt eröffneten Institut für Sozialforschung zu ermöglichen: „Ich möchte die restlichen Jahre meines Lebens so verbringen, dass ich sie unseren eigentlichen Arbeiten widmen kann, ohne wirkliche materielle Sorgen zu haben. Das kann am besten dort geschehen, wo Sie sind – vorausgesetzt, dass Sie selbst für diese Arbeiten Zeit haben“.129 Halbe Absichtserklärungen Horkheimers – von einer Berufung Marcuses auf den philosophischen Lehrstuhl war die Rede – hielten die Angelegenheit in der Schwebe, bis Adorno nach Frankfurt kam und Professur und Institutsleitung besetzte.130 In den kommenden Jahren vertiefte sich die Kluft in dem Maße, wie Marcuse zu einer grundsätzlichen Kritik der amerikanischen Überflussgesellschaft gelangte und Horkheimer und Adorno sich in der politischen Wirklichkeit der Bundesrepublik einrichteten.131 Schon 1960 erhob Marcuse Vorwürfe gegen Horkheimer und Adorno wegen deren einseitiger Parteinahme für die westliche Position im Kalten Krieg, worauf diese ihm vorwarfen, das sowjetische Sys-
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Marcuse 2004b, S. 77 f., 113, 186 Juutilainen 1996 Horkheimer 1996b, S. 221 Wiggershaus 1993, S. 515 – 518 Walter-Busch 2010, S. 30 – 37
tem schön zu reden.132 Mit dem Vietnamkrieg und den Anti-Kriegsdemonstrationen wurden die brieflichen Auseinandersetzungen heftiger. Horkheimer rechnete 1967 den Anti-Amerikanismus der Demonstranten dem Pro-Totalitarismus zu, und Marcuse konterte: „Ich sehe in Amerika heute den historischen Erben des Faschismus. […] Was in Vietnam geschieht sind Kriegsverbrechen und Verbrechen an der Menschheit. Die ,andere Seite‘ begegnet dem Terror mit Terror, aber sie hat weder Napalm noch ,fragmentation bombs‘ noch ,saturation raids‘. Und sie verteidigt ihr armseliges, mit entsetzlicher Mühe und schweren Opfern etwas menschlicher gewordenes Leben, das die westlichen Machthaber, mit der ganzen brutal leistungsfähigen technischen Perfektion der westlichen Zivilisation systematisch aushungern, verbrennen, vernichten“.133 Zum Eklat kam es, als die revoltierenden Studenten Anfang 1969 die Räume des Instituts besetzten, das sie zuvor in „Spartakus-Seminar“ umbenannt hatten. Adorno rief die Polizei.134 Marcuse hatte um eine Einladung des Instituts für den Frühsommer gebeten, um vor Semesterende in San Diego Urlaub beantragen zu können. Adorno verlangte, dass er nicht auf studentischen Versammlungen auftrete. Das war für Marcuse unannehmbar: „Kurz: ich glaube, dass, wenn ich die Instituts-Einladung annehme, ohne auch mit den Studenten zu sprechen, ich mich mit einer Position identifiziere (oder mit ihr identifiziert werde), die ich politisch nicht teile. Brutal: wenn die Alternative ist: Polizei oder Studenten der Linken, bin ich mit den Studenten“.135 Zu Beginn der Studentenrevolte hatte Marcuse es für einen untragbaren Gedanken gehalten, dass er und Horkheimer nach 35 Jahren der Freundschaft und Zusammenarbeit auf entgegengesetzten Polen angelangt sein sollten, und er hatte kurz darauf in einem anderen Brief gefragt: „Wie kommt es, dass wir über die Ziele so einig sind und so durchaus uneinig über das, was ist?“136 Sowohl die Gemeinsamkeit der Ziele, als auch die Freundschaft beruhten zu einem guten Teil auf Marcuses Selbsttäuschung. Angriffe kamen von allen Seiten. Auch die DDR-Führung nahm Marcuse unter Feuer. Sie tat alles, um ihn als aktuellen CIA-Agenten hinzustellen und ihn so bei den Linken unglaubwürdig zu machen. Deshalb druckte die „Weltbühne“ unter der Überschrift „Wer ist Herbert Marcuse?“ einen diffamierenden, von sachlichen Fehlern strotzenden Artikel aus einem westdeutschen Provinzblatt nach.137
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Horkheimer 1996b, S. 466 bis 469 Horkheimer 1996b, S. 642; Horkheimer 1996b, S. 657 Walter-Busch 2010, S. 218 – 231 Horkheimer 1996b, S. 718 Horkheimer 1996b, S. 648, 667 Marcuse 1996, S. 20 f.; Jansen 1999, S. 52 – 54; Matthias 1969
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Nach der Revolte Mit dem Attentat auf Rudi Dutschke war der Sozialistische Deutsche Studentenbund seines Führers beraubt und zersplitterte in Sekten und Milieus; Ähnliches geschah den amerikanischen „Students for a Democratic Society“. Die Neue Linke hatte beiderseits des Atlantiks Anfang der siebziger Jahre ihren Zenit überschritten.138 Herbert Marcuse zog Bilanz in seiner Schrift „Konterrevolution und Revolte“ von 1972. Er sah die Neue Linke nicht tot, doch geschlagen. In den Demokratien des Westens hätte die „präventive Konterrevolution“ einstweilen gesiegt: im Äußeren durch die blutige Etablierung antikommunistischer Regimes von Ostasien bis Lateinamerika, im Inneren durch die gewaltsame Unterdrückung des Protests der Studenten und Bürgerrechtskämpfer. Es verdeutliche den Ernst der Lage, dass unter den Opfern nicht nur Schwarze wie Malcolm X und Martin Luther King seien, sondern auch weiße Liberale wie die Kennedys. Die Zustimmung der schweigenden Mehrheit zur Politik der Regierung bei den letzten Präsidentschaftswahlen zeige, wie stabil die Überflussgesellschaft wieder sei, wie isoliert der Protest, wie unwahrscheinlich eine Revolution. Die Neue Linke müsse sich rüsten für eine lange Zeit der Neugruppierung, der Aufklärungsarbeit und der Selbsterziehung.139 Auf diese lange Sicht richtete Marcuse seine Überlegungen. Warum zersplitterte und zerstreute sich die Neue Linke? Marcuse sah die Ursachen in der Enttäuschung, die aus der Isolation von den Arbeitern als der Bevölkerungsmehrheit folgte. Seine eigene Meinung über die konservative Arbeiterschaft, auf dem Höhepunkt der Revolte kurzzeitig ins Wanken geraten, stand nun wieder fest. Man müsse aufhören, die Arbeiter gewinnen zu wollen. Die Arbeiterklasse sei der Fetisch der Neo-Leninisten, ihr Kult mit einem schädlichen Anti-Intellektualismus verbunden.140 Marcuse empfahl keine Parteibildungen, sondern basisdemokratische Strukturen. Die Neue Linke solle sich auf den langen Marsch durch die Institutionen machen, wie Rudi Dutschke es empfohlen habe, so das Establishment von innen aufrollend.141 Er wandte sich gleichermaßen gegen die unpolitische Hippie-Kultur wie gegen das politisierende Sektenunwesen. Hart ging er mit den pubertären Ausdrucksformen der Jugendrevolte ins Gericht: „Will die Neue Linke sich zu einer realen politischen Kraft entwickeln, so muss sie […] ihren Ödipuskomplex politisch überwinden. […] Der Gegner wird längst nicht mehr durch den Vater, den Chef oder den Professor repräsentiert; die Politiker, Generäle und Manager sind keine Väter, und das Volk, das sie beherrschen, besteht nicht aus revoltierenden Brüdern. Gesamtgesellschaftlich gesehen hat pubertäre Rebellion nur einen kurzlebigen Effekt; sie erscheint oft kindisch und clownesk“.142 Stattdessen empfahl er Aktionen in volkserzieherischer Absicht:
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Kraushaar 2008, S. 188 – 205; Wheatland 2009, S. 326 – 334; Kellner 1984, S. 300 f. Marcuse 1987b, S. 11 – 15 Marcuse 1987b, S. 15 – 24 Marcuse 1987b, S. 50 f., 60 Marcuse 1987b, S. 56
„Sprengungen von Gerichtsverfahren, die eindeutig den Klassencharakter der Justiz offenbaren; die friedliche Besetzung von Gebäuden, die eindeutig den Zwecken des Militärs oder politischer Kontrolle dienen; die ,Belästigung‘ von Rednern, die offen für die Politik des Kriegs und der Unterdrückung eintreten“.143 Der alte Revolutionär gab nicht auf. Auch wenn er sich später vom Terrorismus der radikalen amerikanischen „Weathermen“ und von den Mordtaten der Rote-Armee-Fraktion distanzierte, empfahl er keineswegs den gänzlichen Verzicht auf Gewalt und Konfrontation mit der Staatsmacht.144 Noch in einem Gespräch vom November 1977 in seinem Wohnort La Jolla blieb sein Verhältnis zur revolutionären Gewalt, nicht nur zur „defensiven“, durchaus uneindeutig.145 Das Aufkommen des neuen, militanten Feminismus verfolgte Marcuse mit Hoffnung. Sein Interesse an dieser Bewegung war nicht nur durch Erica Sherover angeregt, seine langjährige Assistentin, die er im Sommer 1976 geheiratet hatte. Seine Frau Inge war 1973 gestorben.146 Das Interesse an der Frauenbewegung kam aus dem Kern seiner Gesellschaftsutopie. Die Frauen, die dem Produktionsprozess seit jeher ferner stünden, die in Haus und Familie fürsorglich wirkten, die das kreativ-rezeptive Prinzip gegenüber dem aggressiv-produktiven männlichen verkörperten, besäßen an sich schon viel von der neuen Sensibilität einer künftigen sozialistischen Gesellschaft. Er sah die rezeptive Weiblichkeit mit einer ästhetischen Weltaneignung verbunden, die gegebene Wirklichkeiten in Kunst und Fantasie überschreite.147 Für Marcuse war der Feminismus deshalb die „vielleicht wichtigste und potentiell radikalste politische Bewegung“.148 Sie weise tendenziell über die kapitalistische Gesellschaft hinaus. Denn Gleichberechtigung, ja sogar die volle Gleichstellung mit den Männern in allen politischen und sozialen Belangen möge für die Frauen wohl innerhalb des bestehenden Rahmens erreichbar sein. Die Dichotomie der Geschlechter wäre jedoch nur gleichzeitig mit der Klassenspaltung zu überwinden, weil unter kapitalistischen Bedingungen Gleichberechtigung der Frauen in Produktion und Politik die Übernahme des männlichen Habitus bedeuten müsse. In der neuen sozialistischen Gesellschaft erst werde sich das männliche Wesen dem weiblichen angleichen, das Ewigweibliche das Männliche zu neuer Sensibilität hinan ziehen.149 Marcuse sah in der barbusigen Revolutionsgöttin mit der Jakobinermütze auf dem berühmten Gemälde von Delacroix ebenso wie in der Revolutionärin Angela Davis diese ideale Androgynität verkörpert. Es verwundert nicht, dass Feministen mit dieser strikt revolutionären Konzeption wenig anfangen konnten.150
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Marcuse 1987b, S. 57 Kellner 1984, S. 301; Müller 2010, S. 655 Marcuse 1996, S. 145 – 155 Katz 1982, S. 210 f. Marcuse 1987b, S. 77 – 80 Marcuse 1987c, S. 131 Marcuse 1987c Marcuse 1996, S. 65 – 87; Kellner 2004, S. 92
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Zu den Grünen, der anderen dauerhaften Bewegung, die als Spaltprodukt der neuen Linken entstand, hatte Marcuse ein weniger inniges Verhältnis.151 Obwohl er sich gegen die menschliche Hybris wandte, sich die Natur unterwerfen, ja aneignen zu wollen, wie es noch der Vorstellung von Karl Marx entsprochen hatte, wies er die Vorstellung einer menschlichen Gesellschaft im Einklang mit der Natur zurück: „Der vollkommene Frieden in der belebten Welt – diese Idee gehört zum orphischen Mythos, aber zu keiner vorstellbaren geschichtlichen Realität. Angesichts des Leids, das Menschen von Menschen zugefügt wird, erscheint es unverantwortlich verfrüht, sich für universellen Vegetarismus oder synthetische Nahrungsmittel einzusetzen; angesichts der gegenwärtigen Welt hat menschliche Solidarität unter Menschen unbedingten Vorrang“.152 In-Ruhe-Lassen, Anerkennung, Hingabe seien unmöglich, denn „solche Hingabe stößt auf den undurchdringlichen Widerstand der Materie; die Natur ist keine Manifestation des Geistes, sondern dessen wesentliche Grenze“.153 Marcuse beobachtete Feminismus und Ökologiebewegung aufmerksam; er begriff wohl, dass sie die lebensfähigsten Kinder der Neuen Linken waren. Da sie jedoch keine sozialistische Perspektive boten, erwartete er davon nicht allzu viel. Hoffnung erschien zum Schluss von jenseits des Eisernen Vorhangs mit Rudolf Bahro. Dieser Philosoph und Funktionär der Sozialistischen Einheitspartei der DDR entwickelte eine alternative Idee des Sozialismus, die sich zwanglos in Marcuses Konzept eingliedern ließ.154 Anfangs von der Staatsmacht mehr beobachtet als gehindert und unterstützt von einflussreichen Freunden, war es dem linksoppositionellen Kommunisten gelungen, einige Dutzend Kopien seiner „Alternative“ innerhalb der DDR per Post zu verschicken und ein Manuskript in den Westen zu bringen. Daraufhin wurde Bahro aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet. Rudi Dutschke berichtete Marcuse eher skeptisch, ihm schienen Bahros Ideen zu leninistisch, zu sehr fixiert auf eine Avantgarde. Dutschke förderte jedoch den Kongress, der im November 1978 für die Freilassung des Philosophen an der Freien Universität in Westberlin stattfand, nach Kräften.155 Herbert Marcuse reagierte geradezu enthusiastisch mit einem langen Essay.156 Die Geistesverwandtschaft überwältigte ihn. Wie Bahro ging er ja davon aus, dass es keinen „realen Sozialismus“ als Vorstufe des eigentlichen Kommunismus geben könne, der auf immer erweiterter Produktion und steigender Produktivität im Wettlauf mit den Überflussgesellschaften des Westens beruhe. Wie Bahro meinte auch Marcuse, dass die gegenwärtige Technologie – in
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Light 2004 Marcuse 1987b, S. 71 f.; Luke 2004 Marcuse 1987b, S. 71 f. Kellner 1984, S. 311 – 314; Bahro 1990 Marcuse 2004b, S. 236 – 248 Marcuse 1978; Kellner 1984, S. 311 – 313
beiden Systemen – völlig ausreiche, um die wirklichen, angemessenen Bedürfnisse der Menschen vollauf zu befriedigen und damit einen großen Teil der Produktionsarbeit wegfallen zu lassen zugunsten von Freizeit und Freiheit, Bildung und schöpferischer Innerlichkeit. Man müsse nur die auf Aneignung materieller Güter und Genüsse gerichteten „kompensatorischen Bedürfnisse“ auf die Aneignung von Kultur richten. Bahro wollte dies durch die Ausschaltung materieller Anreize und die vollkommen egalitäre Verteilung der Güter nach den Standardbedürfnissen erreichen, denn alles Gerede von der Unersättlichkeit menschlicher Bedürfnisse sei nur ein Reflex der gegenwärtigen Zustände. Das entsprach bestens Marcuses Idee von der Entthronung des Leistungsprinzips. Eine solche Gesellschaft wäre der erträumte, ununterscheidbare Sozialismus und Kommunismus; denn das realsozialistische Zwei-PhasenModell lehnte Bahro ebenso wie Marcuse ab. Marcuse war auch ganz und gar einig mit Bahro, dass nicht nur der Kult der Arbeiterklasse, sondern auch der erweiterte Fetischismus des Volkes untauglich sei. Die wirkliche Revolution der Bedürfnisse könne nur von den bewusstesten, einsichtsvollsten und entschlossensten Gruppen in den verschiedenen Bevölkerungsschichten vollbracht werden. Hier nun lagen Unterschied und Ergänzung der beiden Konzepte. Bahro wollte die Revolution durch „überschießendes Bewusstsein“ erreichen, als Ergebnis einer sich ständig vertiefenden kulturellen und politischen Bildung. Das überschießende Bewusstsein gerate auf diese Weise notwendig mit den herrschenden Produktionsverhältnissen in Konflikt und müsse zur Revolution führen. Marcuse widersprach nicht, wollte aber weiterhin in den menschlichen Trieben nach Liebe und Glück, dem Freudschen Lebenstrieb also, die Kraft sehen, die zur Revolution drängte. Sowohl das überschießende Bewusstsein, als auch der befreite Eros liefen auf die Vervollkommnung des Menschen hinaus. Marcuse wie Bahro waren im Kern Aufklärer und glaubten wie ihre Vorläufer im 18. Jahrhundert an die menschliche „Perfektibilität“, also an den Neuen Menschen. Marcuse hielt Habermas 1977 entgegen: „Ja, wozu brauchen wir eine Revolution, wenn wir keinen neuen Menschen kriegen? […] Das ist der Sinn der Revolution, wie sie Marx gesehen hat“.157 Dass diese sozialistische Gesellschaft nicht einfach eine freie, solidarische und basisdemokratische sein würde, sondern auch eine Diktatur der Philosophenkönige, wie sie in Platons Idealstaat vorgezeichnet war, das war nach Bahros wie Marcuses Konzept unvermeidlich. Marcuse engagierte sich in der Freilassungskampagne für Rudolf Bahro. Zu einer Begegnung kam es jedoch nicht mehr, denn Herbert Marcuse starb am 29. Juli 1979 in Starnberg am Hirnschlag, wenige Monate vor Bahros Entlassung in den Westen. Marcuse war auf dem Weg von Frankfurt, wo er noch im Römerberggespräch mitgewirkt hatte, zu Jürgen Habermas, dem nunmehrigen Statthalter der „Frankfurter Schule“. Rudi Dutschke besuchte ihn in Starnberg im Krankenhaus. Voller Trauer über den Tod des väterlichen Genossen zürnte er dann mit der Ehefrau, die eine Totenfeier nach jüdischem Ritus vorbereitete.158 Sohn Peter und Enkel Harold, die Jahrzehnte später in den Besitz der noch unbestatteten Urne gelangten, sorgten 2003 für die Beisetzung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.159 Diese 157 Marcuse 1996, S. 26 158 Karl 2003, S. 483 – 487 159 Marcuse 2004a
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Rückkehr war im Sinne vieler, die sich an seine großen Reden während der Westberliner Studentenrevolte erinnerten.
Nachleben „Weitermachen!“ steht auf dem Grabstein. Es mag sein, dass Herbert Marcuse am Ende seines Lebens die ersehnte Revolution am Horizont aufscheinen sah: im Kampfgeist der Neuen Linken, in der Unbedingtheit von Angela Davis, im jugendlichen Feuer Rudi Dutschkes, in der visionären Alternative Rudolf Bahros. Doch nach dem Ende der Jugendrevolte geriet Herbert Marcuse in Vergessenheit.160 Auch innerhalb der „Frankfurter Schule“, die unter ihrem Erben Jürgen Habermas einen prominenten Platz im geistigen Leben der Bundesrepublik gewann, rangierte er nun weit hinter Theodor Adorno und Max Horkheimer. Die utopischen Potentiale der Kritischen Theorie und der Neuen Linken gingen im kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel unter.161 Das radikale Denken schwenkte auf den liberalen Konsens ein, die Welt zu interpretieren, ohne sie verändern zu wollen. Um den Preis einer einschneidenden Modernisierung der Universitäten hatte die bürgerliche akademische Welt ihre revoltierenden Kinder wieder eingefangen. Die philosophische Abkehr von Marcuse hatte ihre Entsprechung im Politischen. Die ökologische und die feministische Bewegung wurden nach Marcuses Tod zur Grünen Partei, Rudi Dutschke und Rudolf Bahro wirkten bei der Gründung mit, ohne die Richtung noch beeinflussen zu können. Der radikale Anspruch bewirkte eine Modernisierung von Politik über die Parteigrenzen hinaus, um schließlich in einen zeitgemäßen bürgerlichen Konservatismus zu münden. Der lange Marsch durch die Institutionen war in den Parteien so erfolgreich wie an den Universitäten. Aus Teilnehmern und Anhängern der Jugendrevolte wurden grüne oder sozialdemokratische Minister, die mit Orwellscher Sprache im weltweiten Einsatz für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte den Welfare-Warfare-State stabilisieren. Was Herbert Marcuse 1967 im Gespräch mit Jürgen Habermas für die Zukunft befürchtete, scheint eingetroffen: „Wie lange dauert die Stabilisierung des Spätkapitalismus? Werden sich die inneren Gegensätze, welcher Art sie auch sein mögen – ich glaube nicht, dass es nur die sind, die Marx formuliert hat –, wirklich verschärfen oder wird es dem Kapitalismus gelingen, für absehbare Zeit sich zu befestigen auf der Basis eines ökonomischen und politischen Imperialismus, vielleicht sogar mit China und der UdSSR als Markt? Wenn das eintreten sollte, dann können die Herrschenden für einige Hundert Jahre ruhig schlafen. Dann wird es keine Revolution geben“.162
160 Cobb 2004; Walter-Busch 2010, S. 190 – 231; Ottmann 2012, S. 86 – 92 161 Kellner 2004, S. 93 f.; Schultz 2012 162 Marcuse 1996, S. 161
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Samuel Beckett schrieb zum 80. Geburtstag für Herbert Marcuse ein kleines Gedicht über den Weg nach Utopia, unbeirrbar in winzigen Schritten: „Step by step nowhere not a single one knows how tiny steps nowhere stubbornly“.163
163 Abromeit, Cobb 2004, S. 1
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Alva und Gunnar Myrdal
Gunnar und Alva Myrdal (1898 – 1987) (1902 – 1986) Architekten des Volksheims In den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren sie ein berühmtes Paar, so elegant, so schön, so erfolgreich. Inspiriert von der funktionalistischen Moderne Amerikas statteten sie das sozialdemokratische Volksheim ihrer schwedischen Heimat aus, eine soziale Architektur auf den Säulen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit mit der Gleichheit als tragendem Element. Schweden wurde bald zu eng, ihr Wirkungskreis umschloss die Welt: das zerstörte Europa, für das Gunnar Myrdal im Auftrag der Vereinten Nationen eine ökonomische Kommission einrichtete, während Alva in den höchsten Gremien der Weltorganisation soziale Katastrophen bekämpfte. Sollten sich die schwedischen Erfahrungen institutioneller Transformation im Geist der Aufklärung nicht übertragen lassen? Schließlich nahmen sie den Kampf gegen globale Unterentwicklung und Rüstungswettlauf auf. Sie wollten die Welt ebenso radikal zum Besseren verändern, wie andere Revolutionäre auf den Barrikaden, nicht weniger leidenschaftlich. Gelingen und Scheitern lagen auch im Leben dieser beiden nah beieinander. Beide erhielten den Nobelpreis, Gunnar Myrdal den für Wirtschaftswissenschaften, Alva den eigentli447
chen, den Friedensnobelpreis. War es schon ein Menetekel des sich wendenden Zeitgeistes, dass Gunnar Myrdal den Nobelpreis mit Friedrich August von Hayek teilen musste, dem geschworenen Feind des Sozialstaats und Propheten des unbegrenzten Marktliberalismus? Alvas Nobelpreisfeier wurde von einem Buch überschattet, mit dem der Sohn Jan die Kälte seiner Kindheit öffentlich machte. Forderte der Erfolg seinen Preis, übersieht, wer die Welt retten will, seine Nächsten? Die Schwestern Sissela und Kaj widersprachen dem Bruder nicht grundsätzlich.1 Nicht nur die Kinder, auch das Archiv der Schwedischen Arbeiterbewegung in Stockholm, dem die Myrdals alle ihre Briefe und Aufzeichnungen übergaben, lieferten den Biografen reichlich Stoff. Das Bild der Myrdals schwankt – mit Schiller gesprochen – „von der Parteien Gunst und Hass verwirrt“. Als sich seit den achtziger Jahren die Neuen Linken vom Sozialstaat abzukehren begannen, gesellten sie sich zu den konservativen Gegnern der Architekten des Volksheims. Yvonne Hirdman beging mit ihrer Alva-Biografie von 1989 einen „feministischen Muttermord“, der durch die neuere Biografie abgemildert, aber nicht ausgelöscht wird.2 Es folgten vielfache Auseinandersetzungen mit den „Romantikern des Reißbretts“, wie sie Thomas Etzemüller nennt.3
Auf dem Weg zum Ruhm Alva Reimer und Gunnar Myrdal trafen einander im Juni 1919. Europa war durch den großen Krieg verheert, durch Revolutionen erschüttert, es hungerte. Im friedlichen Schweden war es ein herrlicher Sommer. Der 21-jährige Jurastudent war mit zwei Freunden auf einer Fahrradtour durch die Provinz Södermanland westlich von Stockholm unterwegs, auch heute eine bei Wanderern beliebte Gegend. Auf dem Hof des Baumeisters Reimer erhielten sie ein Nachtlager, beim Morgenkaffee trafen sie auf Alva. Gunnar war von der blonden, schlanken, überaus belesenen Siebzehnjährigen fasziniert und bezauberte so auch sie. Da die Mutter verreist war, durfte sie mit den jungen Männern weiterradeln – vorgeblich zu einer Freundin. Zwischen dem lebenslustigen Studenten und der leicht exaltierten Alva, die sich noch in der Schule von Eskilstuna durch die europäische Philosophie und Literatur las, entspann sich eine romantische Liebesgeschichte mit unzähligen Briefen, heimlichen Treffen, Schwüren, Zweifeln und hochfliegenden Plänen. Beide waren Bewunderer der Aufklärung und entschlossen, in deren Geist Großes für Schweden zu leisten. Gunnar hatte sich schon als Schüler in einem langen patriotischen Aufsatz als Nachfahre der Bauern von Dalarna stilisiert, die ihrem König treue Heerfolge gegen fremde Eindringlinge leisteten.4 Alva machte 1922 das Abitur und nötigte ihren Eltern die Erlaubnis zum Philologiestudium in Stockholm ab; sie versprach Gymnasiallehrerin zu werden. Gunnar schloss 1923 sein Studium ab und arbeitete in verschiedenen Verwaltungsstellen in Stockholm und Umgebung. Im
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Myrdal 1990; Bok 1991; Fölster 1994 Ekerwald 2000 Hirdman 1989; Hirdman 2008; Etzemüller 2006 Hirdman 2008, S. 30 – 66; Jackson 1990, S. 36 – 51
Oktober 1924 heirateten sie, nur im Beisein der Trauzeugen. Beide empfanden ihre Kindheit als unglücklich und lehnten ihre Familien ab. Auch wenn die Väter sich zu Bauunternehmern emporgearbeitet hatten, haftete ihnen die ländliche Herkunft an. Gunnars Vater hatte es während des Kriegs mit Spekulationen zu Reichtum gebracht und den allzu gewöhnlichen Familiennamen Petterson in Myrdal geändert. Seine Trunksucht gefährdete jedoch den Wohlstand und verdarb das Familienleben. Alvas Vater war hingegen ein Moralist, Freidenker und Abstinenzler mit sozialistischen Überzeugungen. Die Tochter liebte ihn, und sie verachtete die Mutter wegen deren Launenhaftigkeit und Ausbrüchen gegen Mann und Kinder umso mehr.5 Beide wollten die unerfreulichen Verhältnisse ihrer Herkunft hinter sich lassen und in der Stockholmer Gesellschaft Anerkennung finden. Alvas Biografin meint, Gunnar Myrdal wäre ohne seine Frau Provinzrichter und Politiker der konservativen Agrarpartei geworden.6 Das mag wohl sein, denn der Anstoß zur Lebenswende kam von Alva. Sie hatte im Studium die Tochter des bekannten schwedischen Ökonomen Gustav Cassel kennengelernt. Plötzlich fasste sie den Gedanken, dass die Ökonomie der Weg zu jener weltverändernden Bedeutung werden könnte, die sie für ihren einzigartigen, wunderbaren Geliebten erträumte. Sie entlieh einen Stapel Bücher von Cassel und legte sie Gunnar mit dem entsprechenden Kommentar auf den Schreibtisch. Tatsächlich gab der darauf die juristische Laufbahn auf und studierte mit vollem Ernst und in atemberaubender Geschwindigkeit Wirtschaftswissenschaften. Er wurde Cassels vertrautester Schüler und verteidigte 1927 mit glänzendem Erfolg seine Dissertation über Preisbildung im veränderlichen Umfeld.7 Die Arbeit ruhte noch ganz auf Cassels Theorien flexibler Gleichgewichte. Cassel und auch sein Vorgänger Knut Wicksell standen auf dem Boden der klassischen ökonomischen Theorie. Sie stimmten mit wesentlichen Aussagen der österreichischen Schule der Nationalökonomie überein. Die klassischen Theorien kreisten um das ideale Gleichgewicht des Marktes als Bedingung der richtigen Preisbildung und der Stabilität. Die Schweden glaubten im Unterschied zu den Österreichern nicht, dass sich solches Gleichgewicht von selbst einstellte. Knut Wicksell sah die Marktkräfte in fortwährender Rückkopplung jedes Gleichgewicht in einem dynamischen Fluss auflösen. Die Stockholmer waren nicht nur von den Österreichern, sondern auch von der deutschen historischen Schule um Gustav Schmoller beeinflusst, die auch als Kathedersozialisten verspottet wurden. Die Schmoller-Schule maß den staatlichen Institutionen mehr Gewicht bei und wollte mit regulierender Sozialgesetzgebung die Ausschläge des Marktes auf das Wirtschaftsleben abfangen. Cassel hatte in Berlin bei Gustav Schmoller studiert, und die schwedischen Ökonomen veröffentlichten in deutschen Zeitschriften und Verlagen.8 Myrdal ging nun noch weiter als Wicksell und Cassel, indem er die Erwartungen als wichtigen Einfluss auf Investitionen, Zinsen und Preise einführte. „Die Preisbildung findet im menschlichen Kopf statt“, war seine Folgerung. Er erhielt Anerkennung über Schwe-
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Jackson 1990, S. 52; Hirdman 2008, S. 7 – 16 Hirdman 2008, S. 167 Jackson 1990, S. 53 f. Eliaeson 2000, S. 333
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den hinaus; auch der Österreicher Friedrich August von Hayek, der sein lebenslanger Gegenspieler werden sollte, druckte eine von Myrdals Arbeiten ab.9 Auf Fürsprache seines Lehrers Cassel erhielt Gunnar eine Dozentenstelle an der Stockholmer Handelshochschule. Seine Vorlesungen fasste er zu einem Buch zusammen, das 1932 deutsch unter dem Titel „Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung“ erschien. Er griff die etablierten Ökonomen wegen ihres Anspruchs objektiver, reiner Wissenschaftlichkeit an und forderte, sie müssten die in ihren Begriffen und Modellen verborgenen politischen Werturteile offen legen. Die Wirtschaftswissenschaften seien Politische Ökonomie und müssten sich wieder dazu bekennen. Myrdals Schrift war beeinflusst von den Arbeiten Max Webers über das Problem der Objektivität in den Sozialwissenschaften.10 Ein Augenzeuge beschreibt die stürmische Sitzung im ehrwürdigen Stockholmer Ökonomenklub im Jahr 1930: „Hier hatten wir älteren Ökonomen uns seit Jahren getroffen, uns in unserem Glanz gesonnt, erfüllt von ungeheuchelter gegenseitiger Bewunderung, überzeugt, dass wir schließlich zur einzig wahren und richtigen ökonomischen Erkenntnis gelangt waren. Und dann kam Gunnar Myrdal, damals ein junger Dozent, über den ich wenig mehr wusste, als dass er eine exzellente Dissertation verteidigt hatte. Er stellte alles auf den Kopf. Aus seinem Mund strömte eine lange, glühende Predigt gegen alles, was wir in unserer wirtschaftswissenschaftlichen Bildung für wertvoll gehalten hatten. Und er hatte offensichtlich eine Gruppe enthusiastischer Anhänger unter den Jüngeren“.11 Gunnar hatte die Eltern zum Doktoressen im Stockholmer Kronprinzen-Restaurant nicht geladen, sie hätten in der feinen akademischen Gesellschaft peinlich sein können. Sohn Jan schildert, was ihm die Großeltern erzählt haben: Wie die Großmutter ihr Seidenkleid anlegte und der Großvater den Frack, und wie sie in ihrer guten Stube tanzten und auf den Erfolg des Sohnes anstießen.12 Noch jemand fehlte: Alva. Sie verbarg drei Monate vor der Geburt des langersehnten Kindes ihren veränderten Körper. Die Ehe war inzwischen in eine ernste Krise geraten. Alva fühlte sich einsam und nutzlos, ausgesperrt vor der weißen Tür, hinter der ihr Geliebter in seine Arbeit versunken war. So bezeugen es ihre verzweifelten Briefe und Aufzeichnungen. Nach Jans Geburt besserte sich ihre Situation nicht, das Gefühl der Isolation nahm infolge der Belastung durch Hausarbeit und Kinderpflege sogar zu.13 Eine Reise mit gemeinsamen Studien sollte der Ausweg sein. Die beiden waren schon vorher in auswärtige Bibliotheken gefahren: nach Kiel, nach Leipzig und vor allem nach London. Dabei ging Alva Gunnar zur Hand, exzerpierte, übersetzte, schrieb ins Reine. Nun wollte sie ein eigenes Projekt verfolgen. Bei der Rockefeller-Stiftung beantrage sie ein Stipendium zum Studium der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Sozialpsychologie des Kindes. Sie hatte 9 10 11 12 13
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Magnusson 2005; Myrdal 1933 Einleitung von Paul Streeten in: Myrdal 1975, S. 9 – 11, 13 – 42 Zitiert: Magnusson 2005, S. 59 Myrdal 1990, S. 126; Jackson 1990, S. 54 Hirdman 2008, S. 113 – 126
bereits begonnen, im nahen Uppsala Psychologie zu studieren; das Fach steckte noch in den Kinderschuhen und wurde in Stockholm nicht angeboten. Der Antrag wurde bewilligt, auch weil Gunnar schon eine Studienreise von der Stiftung angeboten bekommen hatte und er Alvas Teilnahme zur Bedingung machte. So fuhren sie im Frühjahr 1929 ab, zunächst nach London, um sich dort in der Bibliothek des British Museum vorzubereiten, dann nach Amerika. Den noch nicht zweijährigen Jan ließen sie bei den väterlichen Großeltern in Gesta.14 In Amerika langten sie am 23. Oktober 1929 an, am Tag vor dem Schwarzen Donnerstag an der New Yorker Börse, der die weltweite große Wirtschaftskrise einleitete. Die Myrdals erlebten das Hereinbrechen der großen Krise, die sich ausbreitende Arbeitslosigkeit und das Elend in den Slums der großen Städte. Sie wunderten sich über die Sprachlosigkeit der Ökonomen und die Hilflosigkeit der Politik, die mit Plakaten und Leuchtschriften auf Straßen und in Eisenbahnwagen Amerikas Prosperität beschwor, gegen jede offensichtliche Wirklichkeit. Als Hätschelkinder der Rockefeller-Stiftung reisten die Myrdals von Universität zu Universität und fanden überall offene Türen. Anfangs fuhren sie per Eisenbahn, dann mit dem eigenen Wagen, den sie sich vom schwedischen Preisgeld für Gunnars Dissertation gekauft hatten. Autos wurden Gunnars Leidenschaft. Die beiden trafen die Koryphäen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und wurden überall zu Empfängen und Vorträgen eingeladen. Gunnar machte sich die amerikanische Rhetorik zu Eigen. Er redete also „in einer einfachen und leicht verständlichen Weise, wie zu kleinen Kindern. Eine hübsche Geschichte am Anfang und dann alle drei Minuten ein Scherz“.15 Alva hätte gemahnt, wenn sie länger blieben, würden seine demagogischen Talente zu sehr ins Kraut schießen, schrieb er an Cassel. In Amerika löste sich Gunnar Myrdal von der klassischen ökonomischen Theorie. Schon aus London hatte er an Cassel geschrieben, dass er nicht sein Leben mit Studien in der Weise von Ricardo und Malthus verbringen wolle, obwohl er die Beschäftigung damit nicht bedaure. Seine Arbeit zum politischen Werturteil in den Sozialwissenschaften forderte in der Konsequenz diese Abkehr, hin zu den Problemen der Gesellschaft. Er suchte Gespräche mit Soziologen – auch in Amerika noch eine junge Disziplin – und er beschäftigte sich intensiver mit Institutionen, von der Familie bis zu den obersten Staatsorganen. Er verließ also die klassische Welt von Preisbildung und Marktgleichgewichten, um sich mit der rechtlichen und sozialen Verfasstheit der Gesellschaft in ihrer Wechselwirkung mit der wirtschaftlichen Ordnung zu befassen. Auch diese Richtung steckte noch in den Kinderschuhen, und Gunnar schaute anfangs mit dem ganzen Hochmut der klassischen Stockholmer Schule darauf. Später hat er diesen Paradigmenwechsel als entscheidend für sein wissenschaftliches und politisches Leben angesehen.16 Auch diesmal war Alva wichtig für die Neuorientierung. Beide wollten einander wieder nahe sein. Während Gunnar mit den Koryphäen der ökonomischen Wissenschaften sprach, hörte Alva an der Columbia-Universität Vorlesungen bei der berühmten Charlotte Bühler zur Kinderpsychologie. Sie besuchte Schulen und Kindergärten und unterrichtete sich über die Sozi-
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Hirdman 2008, S. 127 – 141 Jackson 1990, S. 59 f. Jackson 1990, S. 61 – 63; Myrdal 1974a, S. 15 – 24
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alpädagogik in Amerika. Debatten über Erziehung und Gesundheitspflege verfolgte sie angespannt. Das Paar machte sich mit den sozialerzieherischen Gedanken des großen Bildungsreformers John Dewey vertraut, dessen Einfluss bis zu den Bauernpolitikern in Sofia reichte, und der sich später für Trotzkis Rehabilitierung einsetzen sollte. Dewey sah Erziehung und Bildung als das eigentliche Fundament politischer Demokratie. Gunnar begleitete Alva bei ihren Besuchen. Beide befreundeten sich mit William Isaac und Dorothy Swaine Thomas, deren soeben erschienenes Buch „The Child in America“ Alva schon auf der Überfahrt studiert hatte.17 So kamen die Myrdals aus den USA zurück mit Ideen für Projekte, die sich mit Kind und Familie befassen sollten. Wie viel Kompensation für die Trennung vom eigenen Kind und für den immer wieder von Alvas Körper verwehrten Kinderwunsch mag darin gelegen haben? Kaum zuhause angelangt, packten sie jedoch wieder die Koffer, denn Gunnar hatte auf Cassels Fürsprache eine einjährige Professur in Genf erhalten. Den nun dreijährigen Jan, das fremde Kind, nahmen sie mit. Alva besuchte auch in Genf Vorlesungen über Psychologie und versuchte gleichzeitig, sich um den Sohn zu kümmern. Doch bald erkrankte sie im Zusammenhang mit einer erneuten Fehlgeburt lebensgefährlich. Erst im Sommer 1931 kehrten sie nach Schweden zurück. Sie kamen als veränderte, politisierte Menschen in ein krisengeschütteltes Land.18
Die „Firma Myrdal“ konzipiert das Volksheim Die große Weltwirtschaftskrise griff im Jahr 1931 auf Schweden über. Der Zusammenbruch großer Bankhäuser und Exportfirmen leitete den dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den zentralen holz- und eisenverarbeitenden Industrien ein. Schon in den zwanziger Jahren waren Arbeitskämpfe in Schweden häufiger als im europäischen Mittel. In der Krise fochten Arbeiter und Unternehmer umso heftiger. Im Mai 1931 setzte die konservative Regierung Militär gegen streikende Arbeiter ein. Die Schüsse von Ådalen mit mehreren Toten erbitterten die Arbeiter im ganzen Land. Sie waren zwar eine Minderheit im immer noch bäuerlichen Schweden, doch bei den Reichstagswahlen im folgenden Jahr erreichten die Sozialdemokraten eine relative Mehrheit und konnten gemeinsam mit der Bauernpartei eine Regierung bilden.19 Gunnar und Alva Myrdal traten der sozialdemokratischen Partei bei und stellten sich der neuen Regierung zur Verfügung. Gunnar beriet den Finanzminister Ernst Wigforss, den führenden sozialdemokratischen Theoretiker, der vom sozialen Denken Knut Wicksells und von den staatssozialistischen Ideen im Minority-Report von Beatrice und Sidney Webb beeinflusst war, den britischen Fabiern. Wigforss hatte schon 1919 das Bürgerrecht auf Arbeit und die Pflicht der Regierung zu Beschäftigungspolitik ins Parteiprogramm geschrieben. Nun gab er Gunnar Myrdals Denkschrift über Krisenzyklen und Staatshaushalt als Beilage zur Haushaltsvorlage ins Parlament. Die darin vorgesehenen Programme für öffentliche Arbeiten entsprachen in 17 18 19
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Hirdman 2008, S. 140 – 147; Thomas, Thomas 1928 Jackson 1990, S. 64 f.; Hirdman 2008, S. 148 – 150 Schön 2012, S. 216 – 219; Peters 1975, S. 108 – 110
Anlage und Wirkung weitgehend den von John Maynard Keynes empfohlenen Maßnahmen, die im amerikanischen New Deal durch Präsident Roosevelt umgesetzt wurden. Ein Kernstück war das Wohnungsbauprogramm, das Myrdal 1932 gemeinsam mit dem Göteborger Stadtplaner Uno Åhrén entwickelt hatte. In staatlicher Regie wurden 16.000 Wohnungen mit jeweils zwei Zimmern, Küche und Bad für die städtische Arbeiterschaft gebaut. Sie waren großzügiger bemessen, als es zehn Jahre zuvor im Wohnungsbauprogramm des Roten Wien möglich war. Bisher war auch für die schwedischen Arbeiterfamilien die Einzimmerwohnung ohne eigene Toilette die Regel gewesen; im agrarischen Norden des Landes deckte eine Untersuchung auf, dass weniger als ein Drittel der Kinder ein eigenes Bett zum Schlafen hatten.20 Myrdal stritt für sein Wohnungsbauprogramm mit dem Argument, dass es nicht nur den Arbeitslosen Arbeit brächte, sondern auch die Demokratie befördere, indem es die Ausgrenzung der Arbeiterfamilien in menschenunwürdigen Wohnquartieren beende. Das Programm bedeutete den Übergang vom Krisenmanagement zur planmäßigen, gesellschaftsverändernden Sozialpolitik. Anders als Keynes strebte Myrdal nicht nur nach dem Wiedererlangen des wirtschaftlichen Gleichgewichts. Er erklärte die Überwindung sozialer Ungleichheit zum Ziel der Wirtschaftspolitik. Nach seinem Amerikaaufenthalt war er mehr als zuvor davon überzeugt, dass soziale Ungleichheit im Wesen der kapitalistischen Wirtschaft liege und politische Gegensteuerung erfordere. Er sah nicht nur keinen Widerspruch zwischen Gleichheit und Freiheit, sondern erkannte in der Ungleichheit ein Hindernis der Bürgerfreiheit und des wirtschaftlichen Wachstums.21 Manche Forscher meinen, wenn seine frühen nationalökonomischen Arbeiten gleich in englischer Sprache erschienen wären, hätte man vielleicht statt von einer Keynesianischen von einer Myrdalianischen Revolution gesprochen. Myrdal selbst merkte die „unfreiwillige Originalität“ von Keynes an, die ganz von Wicksellschen Gedanken durchdrungen sei, ohne den Autor zu nennen und zu kennen. Die Angelsachsen hätten ja ein Problem mit der deutschen Lektüre.22 Als Gunnar Myrdal Ende 1933 auf Gustav Cassels Lehrstuhl an der traditionsreichen Stockholmer Handelshochschule berufen wurde, umarmte Cassel ihn und sagte: „Sie sind der gefährlichste Mann in Schweden, aber ich bin stolz, Sie als meinen Nachfolger zu sehen“.23 Die Machtübernahme der Sozialdemokraten war nicht irgendein Regierungswechsel. Sie sollten die Macht volle vier Jahrzehnte behaupten, und sie bauten Schweden währenddessen zu einem neuen Typ des parlamentarischen Staats um, zum Sozialstaat. Das schwedische „Volksheim“ wurde der Prototyp des Sozialstaats. Während die österreichischen Sozialdemokraten um Otto Bauer Niederlage um Niederlage erlitten, errangen die schwedischen Sozialdemokraten ihren Sieg auf dem demokratischen Weg von Wahlen, Mehrheiten und Koalitionen. Das gelang nicht, weil die schwedischen Sozialdemokraten vorsichtiger, klüger, politisch geschickter vorgegangen wären als die Austromarxisten, sondern weil die gegnerischen Kräfte
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Carlson 1990, S. 57 – 60; Ekerwald 2001, S. 549 Myrdal 1961, S. 22 – 32 Angresano 1997, S. 36; Barber 2008, S. XI, 42 – 51; Myrdal 1933, S. 370 Zitiert: Jackson 1990, S. 75
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nicht annähernd so stark und militant waren, wie die österreichischen Christdemokraten samt ihrem rechten Anhang. Schwedische Forscher heben historische Bedingungen hervor, die einen sozialdemokratischen Integrations-Diskurs begünstigten: das traditionelle Bündnis der Krone mit der Bauernschaft gegen die Aristokratie, die Selbstverwaltungstradition, die Schwäche des Großbürgertums, die lutherische Volkskirche und die Freikirchen. Vor allem aber hatte die Amerikaauswanderung der notleidenden Landbevölkerung, die in Schweden mit einem Fünftel der gesamten Bevölkerung entschieden über dem europäischen Durchschnitt lag, schon vor dem Ersten Weltkrieg Konservative und Liberale in Sorge über drohenden Arbeitermangel versetzt. Das Nachdenken über ein „Volksheim“, das allen Schweden Lebenschancen bieten könnte, setzte schon um die Wende zum 20. Jahrhundert ein.24 Den entscheidenden Schritt zum „Volksheim“ als schwedischem Sozialstaat ging jedoch die Sozialdemokratie. Per Albin Hansson, der Vorsitzende der Partei, entriss die Metapher in einer denkwürdigen Rede 1928 dem konservativen Diskurs und markierte so die sozialdemokratische Wende von der Klassenkampfrhetorik zur Bündnispolitik gegenüber Liberalen und Bauernpartei. Hansson forderte soziale und ökonomische Demokratie, nur so könne die Nation zum Heim aller Schweden werden: „Solange die ökonomische Macht in den Händen einiger weniger liegt, solange wird das Volk über keine effektive Kontrolle über die für seinen Wohlstand wichtigen Produktionsmittel verfügen, solange hat die politische Demokratie es nicht vermocht, sich zu einer sozialen und ökonomischen Demokratie zu entwickeln. Das ist die Voraussetzung dafür, dass man behaupten kann, Schweden gehört allen Schweden“.25 Es war das Programm einer sozialen Transformation. Das soziale Programm konnte in der Blütezeit des Nationalstaats und des Nationalismus in Europa nur als nationales Programm daherkommen. Und die Nation hatte ethnische, völkische Gestalt. So wird verständlich, dass ebenso wie gleichzeitig in Deutschland die völkische Rhetorik dominierte. Aber in Schweden wurde sie von den Sozialdemokraten okkupiert und gewann deshalb einen demokratischen Inhalt, während sie in Deutschland durch die Nationalsozialisten zu einem aggressiven, rassistischen Gebrauch verkam.26 Das schwedische Volksheim wollte die Klassengegensätze nicht unter den Teppich kehren, sondern ihre demokratische Aushandlung ermöglichen. Das war nur durch die Stärkung der Lohnarbeiterseite mit der Verhandlungsmacht ihrer Gewerkschaften möglich. Die Transformation geschah in mehreren Schritten, die zu nachhaltigen, institutionellen Veränderungen führten. Den ersten Schritt tat die neue Regierung im sogenannten „Kuhhandel“ mit der Bauernpartei. Der Koalitionspartner erhielt umfassende Preisgarantien für Agrarprodukte und stimmte dafür einer Arbeitslosenversicherung zu, die Leistungen in Höhe der marktüblichen Löhne vorsah. Damit und mit den umfangreichen Programmen öffentlicher Arbeiten verlor die Arbeitslosigkeit ihren Schrecken. Die Besonderheit dieser neuen Institution war, dass die Verwaltung der Arbeitslosenversicherung den Gewerkschaften über-
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Stråth 1996, S. 77 – 80; Stråth 1995; Trägårdh, Rothstein 2007; Henze 1999, S. 31 – 40 Zitiert: Henze 1999, S. 38 Anm. 85 Trägårdh 1990
tragen wurde. Dadurch erreichten die schwedischen Gewerkschaften einen beispiellos hohen Organisationsgrad und gewannen ihre besondere Stärke. Das Abkommen von 1938 im Kurort Saltsjöbad zwischen dem Zentralverband der Gewerkschaften und dem Unternehmerverband war der nächste große Schritt und vollendete diese Macht. Hier sagten die Gewerkschaften zu, den Arbeitsfrieden zu wahren, während die Unternehmer einwilligten, Tarifvereinbarungen an der jeweiligen Obergrenze der Marktlöhne zu schließen. Diese „solidarische Lohnpolitik“ wurde die materielle Grundlage des schwedischen Volksheims. Schweden wurde zum Musterland des sozialen Friedens, zum Hochlohnland und zum Hochsteuerland. In diesen ersten vier Jahrzehnten ihrer Regierung wandelte sich die Sozialdemokratie von der Opposition zur staatstragenden Partei. Sie sah sich selbst als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus und als Verteidiger der schwedischen Nation.27 Die regierenden Sozialdemokraten strebten niemals die Verstaatlichung von Unternehmen an, auch nicht in den Schlüsselindustrien. Auch als Sozialstaat blieb Schweden ein kapitalistisches Land. Nicht Sozialisierung, sondern Umverteilung über Steuern und Sozialpolitik war der Weg der regierenden Sozialdemokraten. Der Lebensstandard der Arbeiter hob sich, der Massenkonsum begann sich zu entwickeln. Die Industriellen hatten freie Hand für Rationalisierungen und konnten die Profite – begünstigt durch Kriegs- und Nachkriegskonjunktur – beträchtlich steigern. Und gegen jedes marktwirtschaftliche Credo erreichte der schwedische Sozialstaat ein beeindruckendes, beispielhaft stabiles Wirtschaftswachstum.28 Die Myrdals standen in den dreißiger Jahren im Zentrum dieser planmäßigen, gesellschaftsverändernden Sozialpolitik. Im Sommer 1934 mieteten sie sich ein Haus in den norwegischen Bergen und schrieben ein leidenschaftliches, gleichwohl daten- und theoriegesättigtes Manifest über „Die Krise in der Bevölkerungsfrage“. Die Myrdals stellten darin den Trend sinkender Geburtenraten als bedrohlich dar und machten klar, dass er nur umzukehren sei, wenn alle Schweden die Möglichkeit zur Familiengründung hätten und in Umständen lebten, in denen Kinder gesund aufwachsen könnten. Es war eine Kampfschrift für die Umgestaltung des Landes in ein wohlgeordnetes, schützendes Heim für alle Schweden, in dem aufgeklärte Eltern Wunschkinder in hinreichender Zahl aufzögen. Diese Schrift löste eine erregte öffentliche Debatte in Zeitungen, Radiosendungen und im Reichstag aus.29 Die Myrdals machten die Bevölkerungspolitik, die gewöhnlich eine Waffe der Konservativen oder gar der Faschisten war, zum archimedischen Punkt sozialdemokratischer Reformpolitik. Von hier aus sollte sich die alte Gesellschaft der kapitalistischen Ausbeutung und Ausgrenzung der Arbeiterschaft aus den Angeln heben lassen. Das Buch der Myrdals war eine Streitschrift gegen den Neo-Malthusianismus, der die allzu vielen Kinder beklagte, die in Krankheit, Unwissenheit und Not bei ungeeigneten Eltern aufwüchsen. Zugleich attackierte das Buch die konservative Scheinmoral, die Verbreitung und Propagierung empfängnisverhütender Mittel verbot und die hohe Zahl gefährlicher illegaler Aborte hinnahm. Es war eine Schrift gegen die Ächtung unehelicher Kinder und ihrer Mütter, gegen die elenden Verhältnisse, die den Ärmsten die Familiengründung verwehrten und zu viele Kinder in ungesunden, überbelegten Wohnun27 28 29
Stråth 1996, S. 88 – 97, 93 f. Hancock 1977, S. 112 – 116; Schön 2012, S. 232 Carlson 1990, S. 99 – 101; Jackson 1990, S. 76 – 79; Etzemüller 2010, S. 122 – 129
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gen ohne hinreichende Bildung groß werden ließen. Die Rang- und Reihenfolge der Problemlösung müsse sein: Arbeit, Wohnung, Löhne, umfassende staatliche Fürsorge und Unterstützung für Kinder und Mütter. Das bevölkerungspolitische Programm der Myrdals wollte Ungleichheit überwinden, nicht durch Umverteilung von den Kinderlosen zu den Familien, sondern indem der Staat die Gewinne, die auch durch das so befeuerte Wirtschaftswachstum steigen würden, steuerlich abschöpfte.30 Die Reihe ihrer Forderungen und Vorschläge war lang: Wirksame Verhütungsmittel müssten in allen Sozialschichten bekannt und zugänglich sein. Die Löhne müssten nicht nur in der Industrie, sondern gerade auch bei den extrem armen Arbeitern auf dem Lande und in der Fischerei steigen. Der Staat müsse die Steuern nicht länger bei den Armen holen, dafür umso mehr bei den Vermögenden, um die geplanten Reformen zu finanzieren. Bemerkenswert ist der universale Ansatz. Günstiger Wohnraum, kostenlose Gesundheitsfürsorge, Ganztagsbetreuung in Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen, kostenloses Schulessen und verbilligte gesunde Nahrung für Mütter und Kinder sollten an alle Familien vergeben werden, nicht nur an Bedürftige. Dadurch wurden aus Fürsorgeleistungen soziale Bürgerrechte. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Sozialstaat und Fürsorgestaat: Soziale Bürgerrechte integrieren und schaffen Gleichheit, während Fürsorgeleistungen die Bedürftigen ausgrenzen. Soziale Bürgerrechte sichern Einkommen, Fürsorgeleistungen die Existenz. Etliche Industrienationen, die sich ihres Wohlfahrtsstaates rühmen, wie der Sozialstaat international genannt wird, sind Fürsorgestaaten geblieben – voran die USA, aber auch die Schweiz. Aufmerken lässt, dass keine Geldzahlungen, sondern Sachleistungen gegeben werden sollten. Auch dieser Vorschlag der Myrdals wurde im schwedischen Volksheim Realität. Dahinter stand der volkspädagogische Gedanke, die Leistungen ungeschmälert dem Kindeswohl zugutekommen zu lassen. Gunnar Myrdal hatte schon aus Uno Åhréns Göteborger Studie zum Wohnungswesen die Erkenntnis gewonnen, dass Sachleistungen besser als Geldleistungen wären. Dort hatte sich gezeigt, dass die Arbeiter häufig noch weniger für Miete aufwendeten, als es ihrem Einkommen entsprochen hätte, und stattdessen lieber Bedürfnisse finanzierten, die in den Augen der Untersucher Luxus waren. Die Kultur der Verschwendung bei den Ärmsten ist allerdings vielfach beobachtet und leicht erklärlich. Wozu soll man sparen, wenn man von der Hand in den Mund lebt? Sparsamkeit ist eine bürgerliche Tugend, die eine gewisse Wohlstandsperspektive braucht. Die konservative Reaktion war äußerst heftig, nicht nur von der politischen Rechten, sondern auch seitens der ökonomischen Zunft. Gustav Cassel beschuldigte Myrdal in einer Artikelserie, seine Argumente gründeten in einem sozialistischen, „um nicht zu sagen reinweg kommunistischen Verständnis der Sozialökonomie“. Die freie Marktwirtschaft habe Schwedens Aufstieg zur Industrienation begründet, und „es sei deshalb zutiefst ungerecht, die bürgerlichen Werte in Gesellschaft und Familie rundweg für asozial zu erklären“.31 Noch bitterer war die Auseinandersetzung mit dem ehemals befreundeten Ehepaar Heckscher. Sie warfen den Myrdals unter anderem vor, in „Marxens alten Kleidern“ daherzukommen.32 Der Vor30 31 32
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Carlson 1990, S. 81 – 94 Carlson 1990, S. 99 f. Carlson 1990, S. 102
wurf des Kommunismus sagte mehr über Werte und Ängste der Kritiker als über das Buch der Myrdals, das ebenso sehr ein Manifest für eine Demokratisierung Schwedens war wie eines für den sozialen Umbau nach den Vorstellungen der Arbeiterbewegung, jedenfalls keines für die Abschaffung des Kapitalismus oder gar der Marktwirtschaft. Auch in jüngerer Zeit noch sind die Absichten der Myrdals vielfach verkannt worden. In einer erregten Debatte beschuldigten die Medien 1997 die Myrdals und insbesondere Alva, einer eugenischen Politik das Wort geredet zu haben. Sie trügen daher Schuld an den mehr oder weniger erzwungenen Sterilisationen Behinderter und sozialer Außenseiter.33 Das geht am Kern des Bevölkerungsbuchs und an der Wahrheit vorbei. Die Myrdals entwickelten ihre bevölkerungspolitischen Maximen demokratischer Geburtenförderung gerade im scharfen Kontrast zur Politik der faschistischen „Diktaturen im Süden“. Alva fasste die Säulen demokratischer Bevölkerungspolitik 1939 für ein internationales Forum zusammen: Freiwillige Elternschaft sei das Ziel. Die Stabilität und nicht unbedingt das Wachstum der Bevölkerung sollten gewährleist werden und daher das Maß setzen. Die Verbreitung, nicht das Verbot der Geburtenplanung und ihrer Hilfsmittel sei daher das Ziel, und zwar gerade in jenen ärmeren und unaufgeklärten Bevölkerungsschichten, die bisher davon ausgeschlossen seien. Die Kinder jeglicher ethnischer und sozialer Herkunft seien zu fördern, denn alle seien in ihrer genetischen Ausstattung gleich wertvolle Träger des schwedischen biologischen Erbes. Das gelte selbstverständlich auch für unehelich Geborene. Deshalb sei die Sorge für die bestmögliche Umgebung, Pflege und Erziehung aller Kinder Kern der Bevölkerungspolitik. Diese Sozialreformpolitik müsse durch umfassende Aufklärung aller Volksschichten ergänzt werden.34 Dass die Myrdals sich nicht gegen die Sterilisation – freiwillig so weit möglich – Behinderter wandten und sie bei erblich geistig Behinderten für wünschenswert erklärten, bot allerdings hinreichend Grund, sie in der Debatte sechzig Jahre später in die Nähe der nationalsozialistischen Rasseneugenik und Euthanasie zu rücken. War aber wirklich dasselbe, was gleich schien, wollte die eugenische Argumentation der Myrdals nicht der Gleichheit aller gegen Rassismus und Ausgrenzung das Wort reden? Zweifellos hat das Buch der Myrdals zur Bevölkerungskrise der verbreiteten schwedischen Praxis, nicht nur Behinderte, sondern auch sozial Unangepasste und Ausgestoßene zwangsweise zu sterilisieren, nicht Einhalt geboten. Und man kann nicht von der Hand weisen, dass Alva in dem erwähnten Artikel von 1939 die Sterilisation verharmlost hat, dass sie sie als Problem einer sehr kleinen Randgruppe darstellte, die keiner bestimmten sozialen Schicht zuzuordnen sei.35 Diese unmenschliche Praxis ist allerdings durch das Buch der Myrdals weder eingeführt noch ausgeweitet worden. Die Myrdals kämpften für ihr sozialpolitisches Programm. Gunnar agitierte in Zeitungen und Versammlungen und überzeugte nicht nur die Arbeiter selbst vom Nutzen solcher Bevölkerungspolitik für ihre Lebensumstände, sondern er gewann auch die sozialdemokratische Parteispitze. Der Ministerpräsident Per Albin Hansson band das Manifest der Myrdals in seine Volksheim-Kampagne zu den Reichstagswahlen 1936 ein.36 Der neugewählte Reichstag bil33 34 35 36
Ekerwald 2001 Myrdal 1939 Myrdal 1939, S. 112 f. Carlson 1990, S. 171
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dete eine Bevölkerungskommission, die mit regelmäßigen Berichten an das Parlament genügend Druck aufbaute, um der konservativen und liberalen Opposition die Zustimmung zur Reformpolitik abzuringen. Gunnar Myrdal wurde zwar nicht der Vorsitzende dieser Kommission, auch Alva, von ihrem Gatten ins Spiel gebracht, wurde es nicht, aber beide waren doch von bestimmendem Einfluss darin.37 Alva, eine moderne, sichtlich amerikanisierte Dame, spielte inzwischen eine eigenständige politische Rolle. Sie war als Expertin vielfach engagiert. Obwohl sie ihre sozialpädagogischen und psychologischen Studien nicht mit einer Dissertation abschloss, weil sie – stets Gunnars Karrierestationen folgend – durch Familie und wiederkehrende Fehlgeburten belastet war, veröffentlichte sie 1935 „Stadtkinder“, ein Buch zur Kindergartenerziehung.38 Sie gründete 1936 ein Sozialpädagogisches Institut und wurde dessen Direktorin. Yvonne Hirdman porträtiert Alva auf dem Gipfel ihres Glücks im Mai 1938, als Institutsdirektorin, Exekutivsekretärin einer Regierungskommission, Autorin und Publizistin, die auf gleicher Augenhöhe mit dem geliebten Gatten vereint für das gemeinsame Projekt wirkt. Sie sei so berühmt gewesen wie Greta Garbo oder Selma Lagerlöf, die beiden anderen weiblichen Stars des Landes.39 Alva reiste landauf, landab, um vor Frauenversammlungen und Volkshochschulen über Geburtenplanung, Kinderaufzucht und Kindererziehung zu dozieren. Sie vertrat einen für ihre Zeit radikalen Feminismus. Die unerträgliche Geringschätzung der Mädchen und Frauen könne nur überwunden werden, wenn man alle Barrieren schleifte, die der Integration der Frauen in die Berufswelt entgegenstünden. Die Frage wäre nicht, ob verheiratete Frauen arbeiten dürften, wie allen Ernstes im Reichstag diskutiert wurde, sondern wie den arbeitenden Frauen Familiengründung und Elternschaft ermöglicht werden. Den Mädchen müsse nicht nur die Bildung in allen Stufen offenstehen, sie dürften auch nicht in den Mühlen von Hausarbeit und Kinderpflege verschlissen werden.40 Alvas Visionen wurden in den nächsten Jahrzehnten Wirklichkeit. Mit dem Ausbau des öffentlichen Sektors im schwedischen Volksheim entstanden Frauenarbeitsplätze in großer Zahl. Verwaltung, Gesundheitswesen, Bildung und Erziehung boten nicht nur einfache, sondern in wachsendem Maße qualifizierte Arbeitsplätze für Frauen. Schweden gewann eine Vorreiterrolle in der Frauenemanzipation weltweit, wenn es auch kein Paradies weiblicher Gleichstellung wurde.41 Die Tatsache blieb, dass Frauenarbeit – so qualifiziert sie auch sein mochte – niedriger bezahlt wurde als Männerarbeit auf gleichem Niveau. Die niedrigeren Frauenlöhne im öffentlichen Dienst wurden in den siebziger Jahren einer der Stolpersteine für die „solidarische Lohnpolitik“, die gleichen Lohn für gleiche Arbeit vorsah. Diese Ungleichheit konnte zum Thema werden, gerade weil die Frauen in besonderem Maße Gewinnerinnen der sozialstaatlichen Transformation waren.42
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Carlson 1990, S. 129 – 150; Jackson 1990, S. 80 Myrdal 1935 Hirdman 2008, S. 133 Hirdman 2008, S. 155 – 167, 179 – 188; Carlson 1990, S. 152 – 154 Skard, Haavio-Mannila 1984 Stråth 1996, S. 106 f.
Mit einem Kreis befreundeter Architekten, Designer und Sozialwissenschaftler entwarf Alva funktionale, arbeitssparende Möbel, Küchen und Wohnungen. Die Krönung war das Kollektivhaus. In diesem Kollektivhaus gab es eine zentrale Küche, die zubereitete Mahlzeiten in jede Wohneinheit senden konnte, es gab auch eine Kinderkrippe, in der die Kleinen rund um die Uhr von geschulten Pflegepersonen versorgt und natürlich von den lieben Eltern jederzeit besucht werden könnten. Das Haus, bei dem auch wieder die Phalanstèren des alten französischen Sozialisten Charles Fourier Pate gestanden haben, blieb ein Prototyp. Aber es war ein Programm. Die versammelten Experten, die schon in einer Stockholmer Ausstellung von 1930 die Ästhetik eines radikal modernen Lebens entwickelt hatten, schufen hier nichts weniger, als jenen skandinavischen Stil, der über ein schwedisches Möbelhaus weltweit verbreitet werden sollte.43 War dies nicht eine Demokratisierung der Moderne?
Die „Firma Myrdal“ am Werk in den dreißiger Jahren
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Carlson 1990, S. 61 – 63
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Auch die Myrdals bezogen ein neues Haus, von den befreundeten Experten vollendet durchkomponiert, absolut funktionalistisch. Im weiten, hellen Arbeitsraum standen die Schreibtische aneinandergerückt zugewandt, im Schlafzimmer trennte eine bewegliche, durchsichtige Wand die beiden, wenn jeder für sich sein wollte. Symbole über Symbole für eine schwierige, innige Gemeinsamkeit. In einem anderen Teil des Hauses lebten die drei Kinder, Jan und seine gegen ärztlichen Rat noch geborenen Schwestern Sissela und Kaj, mit dem Hauspersonal.44 Jan beschreibt später sein Leben in diesem Haus, das dicke Kind, das im Souterrain von der Haushälterin getröstet und gefüttert wird, darüber im Salon die prominenten Dinnergäste, deren Gespräche er hinter der Tür belauschte, und das plötzliche Erscheinen der Mutter in seinem Zimmer, deren Studienobjekt er war – es war ein fortwährendes Auf-der-Hut-sein. Er fasst seine damalige Wahrnehmung so zusammen: „Erst starb Großvater. Danach wurde Gesta verkauft und das Zuhause meiner Kindheit versteigert. Also zog ich zu Alva und Gunnar, um dort zu wohnen. Dann bekamen sie auch ein eigenes Kind“.45 Im Rückblick scheinen die Kritiker in der Überzahl. Schon damals zog die „Firma Myrdal“ mit ihrer Planung für das neue Volksheim der perfekten Schweden nicht nur die Gegnerschaft der Konservativen, sondern auch die Häme der Öffentlichkeit auf sich. Im Licht unserer libertären Moderne scheint an dieser sozialen Ingenieurskunst wenig rühmenswert. So legt es uns etwa Thomas Etzemüller nahe.46 Auch dieses Urteil beruht auf Werten, die vorausgesetzt und nicht offen gelegt werden, denen die Überwindung sozialer Ungleichheit wenig, die sich abgrenzende Individualität hingegen enorm viel gilt. Im Licht von Max Webers und Gunnar Myrdals Erkenntnissen über die Werturteile in den Sozialwissenschaften wäre auch dies zu hinterfragen. Die Nachwelt urteilt ja nicht unbedingt klüger, wenn auch anders. Der schwedische Reichstag legte 1938 eine „Reformpause“ ein, weil der drohende Krieg zu Rüstungsanstrengungen zwang. Auch deshalb fiel es Gunnar nicht schwer, einem Ruf aus Amerika zu folgen. Ihm zuliebe brach auch Alva, auf dem Gipfel ihrer Wirksamkeit und ihres Ruhms in Schweden, ihre Zelte ab. Sie begleitete ihn diesmal mitsamt den drei Kindern, dem elfjährigen Jan und seinen kleinen Schwestern Sissela und Kaj.
Ein schwedischer Tocqueville Die Carnegie Corporation of New York, eine der vielen Stiftungen von Andrew Carnegie, dem reichsten Industriellen seiner Zeit, suchte schon seit Jahren einen geeigneten Forscher, um das „Negerproblem“ in den USA zu untersuchen. Sie wollte jemanden wie den französischen Historiker Alexis de Tocqueville, dem ein Jahrhundert zuvor die Untersuchung des amerika-
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Hirdman 2008, S. 200 Myrdal 1990, S. 152 Etzemüller 2010, S. 159 – 201, 421 – 430
nischen Rechtssystems aufgetragen worden war. Der Blick von außen sollte jenes Übel aufdecken, das ein blinder Fleck auf der Seele des Landes war. Dass die Wahl schließlich auf Myrdal fiel, überraschte die akademischen Zirkel in den USA. Man kannte ihn noch, er hatte die Fäden zur Rockefeller-Stiftung und den dortigen Kollegen nicht abreißen lassen. Und es sprach für ihn, dass er Reputation sowohl in der Wissenschaft wie in der Politik erworben hatte. Aber mit Rassenfragen hatte er sich noch nie beschäftigt, während es in den USA seit jeher genug angesehene Forscher auf diesem Feld gab.47 Als die Myrdals am 10. Oktober 1938 in New York an Land gingen, war die amerikanische Öffentlichkeit entzückt. Die blonde Alva mit ihrem selbstbewussten Auftreten, elegant und selten um ein Wort verlegen, beeindruckte nicht weniger als der fast vierzigjährige Gunnar mit seinen eindringlichen blauen Augen, dem dichten braunen Haar, seinem geistvollen Charme und einem Temperament, das unversehens in tiefe Versunkenheit wechseln konnte. Er gefiel den Frauen und Alva litt.48 Gunnar ging gründlich wie gewohnt vor. Er machte sich mit der umfangreichen Literatur zur Rassenproblematik in den USA bekannt. Nicht erst seit den Tagen des Bürgerkriegs war Schicht auf Schicht aufgehäuft worden, verschieden in Befunden und Urteilen nach der Entstehungszeit, der Hautfarbe und dem Stand der Autoren. Bald liefen Bewerbungen aus Universitäten und Organisationen ein, die auf diesem Feld tätig waren. Myrdal mied die ausgewiesenen Experten. Von dem reichlich fließenden Geld der Stiftung betraute er lieber eine Vielzahl jüngerer Wissenschaftler mit Studien zu allen denkbaren Aspekten des Problems. Er engagierte Soziologen und Politologen, Anthropologen, Wirtschaftsexperten und Historiker, Männer unterschiedlicher politischer Ausrichtung und Hautfarbe, deren Deutungen und Empfehlungen oft genug auseinander liefen. Er selbst bereiste monatelang den Süden, in seiner Begleitung Ralph Bunche, auch ein künftiger Friedensnobelpreisträger. Myrdal und der junge Schwarze kamen sich näher als andere in dem vielfältigen Team, wenn sie gemeinsam durch die Gettos streiften, die Rassentrennung der Jim-Crow-Gesetze durchbrachen, um nächtlich in Myrdals Hotel die Tonbandprotokolle abzuschreiben oder zusammen im Restaurant zu speisen, wenn sie die haarsträubendsten Vorurteile weißer Beamter und Geschäftsleute hervorlockten, darunter bekennende Liberale, wenn sie in schwarze Bordelle eindrangen, wo die Rassentrennung nicht zu gelten schien, oder vor aufgebrachten Ku-Klux-Klan-Männern die Flucht ergriffen. Bunche gestand später, dass er mehr als einmal um sein Leben fürchtete, während Myrdal die reale Gefahr gar nicht sah.49 Gunnar Myrdal glaubte anfangs, die wirtschaftliche Lage der Schwarzen im Süden sei der Schlüssel zum Problem, ihre hoffnungslose Armut, die Überbevölkerung, die sie in die Städte des Nordens trieb. Anders als seine späteren marxistischen Kritiker kam er jedoch bald zu dem Schluss, dass die ökonomische Misere nur ein Aspekt der umfassenden Diskriminierung und Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung war.50 Zwar setzte er sich in seinem Buch nach-
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Jackson 1990, S. 10 – 32 Jackson 1990, S. 88; Hirdman 2008, S. 210 – 217 Jackson 1990, S. 107 – 113, 117 – 129 Aptheker 1946
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drücklich für einen besonderen New Deal zu Gunsten der schwarzen Bevölkerung im Süden ein, forderte Arbeitsbeschaffungsprogramme, Wohnungsprogramme und Bildungsprogramme. Er übertrug also die Empfehlungen, die er für die wirtschaftliche und soziale Gleichstellung der schwedischen Proletarier gegeben hatte, damit sie endlich gleichberechtige Bürger würden, auf das überwiegend ländliche schwarze Proletariat im Süden der USA. Er sah die Unterschiede. So waren die amerikanischen schwarzen Landarbeiter nicht organisiert. Sozialprogramme wären sicher nur durch die gewerkschaftliche Organisation der Afroamerikaner zu erreichen, wie Schweden es vorgemacht hatte. Den entscheidenden Unterschied fand er in dem tiefen ethnischen Riss, der durch die Gesellschaft lief. Als Kern des Dilemmas erkannte er, dass die sogenannte Rassenfrage in den Vereinigten Staaten nicht das Problem der schwarzen Bevölkerung wäre, sondern das Problem aller Amerikaner, des ganzen Staats- und Gesellschaftswesens. Er fand es in der strukturellen Gewalt der Rassentrennung und in der Gegengewalt der überproportionalen Kriminalität von Schwarzen, in den allgegenwärtigen Vorurteilen und in den gestörten Familienbeziehungen, die als Erbe der Sklaverei fortwirkten, in der Abschließung der Afroamerikaner in der Parallelgesellschaft einer eigenen Kultur. Anders als Teile der schwarzen Bürgerrechtsbewegung sah er keinen Ausweg in Absonderung und kultureller Eigenentwicklung. Für ihn, den aufgeklärten Europäer, war die volle Integration der Schwarzen in die amerikanische Gesellschaft das einzig anzustrebende Ziel. Dies könne nur eine Gesellschaft sein, die ihrem eigenen Glaubensbekenntnis endlich folgte, nämlich der Maxime der Aufklärung in ihrer Verfassung, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind. Es war Myrdals tiefste Überzeugung, erkenntnisleitend für Untersuchung und Darstellung: „Das amerikanische Negerproblem ist ein Problem im Herzen der Amerikaner. Dort hat die Spannung zwischen den Rassen ihren Brennpunkt. Dort wird der entscheidende Kampf ausgefochten. Dies ist daher der zentrale Gesichtspunkt dieser Untersuchung. Obwohl unsere Studie die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rassenbeziehungen einschließt, finden wir auf dem Grund unseres Problems das moralische Dilemma der Amerikaner – den Konflikt zwischen ihren moralischen Urteilen auf verschiedenen Ebenen von Bewusstsein und Verallgemeinerung. Das ,Amerikanische Dilemma‘, auf das der Titel dieses Buches Bezug nimmt, ist der vorrangige Konflikt zwischen einerseits dem, was wir das Amerikanische Glaubensbekenntnis nennen wollen, dem die Amerikaner folgen, wenn sie nach nationalen und christlichen Grundsätzen handeln, und andererseits den Werten ihres besonderen individuellen und sozialen Lebens, wo persönliche und lokale Interessen herrschen, wirtschaftliche, soziale und sexuelle Eifersucht, Betrachtungen über Prestige und Gruppenzugehörigkeit, Gruppenvorurteile gegen Personen und Bevölkerungsgruppen“.51 Dieser idealisierende Glaube an die amerikanische Nation grundierte das gewaltige Werk, dessen mehr als 1.400 Seiten Gunnar Myrdal dann während des Kriegs schrieb, gestützt auf die gründlichen Studien seiner vielen Mitstreiter, aber doch als Autor allein. Die Einzeluntersuchungen veröffentlichten die Autoren in einer besonderen Reihe. Myrdal stellte sein Vertrauen in den amerikanischen Verfassungskonsens gegen Rassenpolitik, Völkermord und Kriegs51
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gräuel der Deutschen. Die Amerikaner als die moralisch überlegene Partei in diesem Krieg müssten sich auf ihre Grundwerte besinnen und ihr Verhältnis zu den schwarzen Mitbürgern endlich damit in Übereinstimmung bringen. Die klare Wertorientierung beeinträchtigte den wissenschaftlichen Gehalt nicht. Das Buch ist zugleich eine genaue Analyse der Diskriminierung, der Verwahrlosung und des Elends der schwarzen Bevölkerung, eine Dokumentation ihrer Selbstbehauptung und Gegenwehr, und eine schonungslose Klageschrift gegen die Vorurteile, die Ignoranz, den Verrat Amerikas an den eigenen Idealen. Noch ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen des Werks, auf dem Höhepunkt der schwarzen Bürgerrechtsbewegung nach der Ermordung Martin Luther Kings im Jahre 1968, glaubte Myrdal nicht an Aufstand und Widerstand als Weg zum Recht der Schwarzen. Er wies dies auch ab, weil er Klassensolidarität zwischen schwarzer und weißer Unterschicht angesichts der wechselseitigen Erfahrungen und Vorurteile für unwahrscheinlich hielt. Noch immer setzte er auf das amerikanische Gewissen, das sich regen müsse, um die Verhältnisse seiner schwarzen Bürger den Maximen der Verfassung anzupassen.52 Das amerikanische Gewissen regte sich nicht. Anders als Myrdal meinte, verdankten die Afroamerikaner die Aufhebung der Rassentrennung in den Südstaaten, die ungehinderte Ausübung des Wahlrechts und die legale Gleichstellung nur dem Druck der Bürgerrechtsbewegung. Diskriminierung und Benachteiligung dauern an, wie seitdem bei jedem Jubiläum von Myrdals Werk beklagt wird. Anlässlich eines erfolgreichen Hollywoodfilms über einen schwarzen Butler im Weißen Haus bemerkte der Rezensent, dass Barack Obamas Präsidentschaft nur aus der Perspektive der Baumwollfelder ein glücklicher Ausgang sei. Das Erbe der Sklaverei werde in den Gefängnissen verwaltet, wo mehr Afroamerikaner einsäßen, als aufs College gingen.53
Nachkriegsplanungen – von Schweden in die Welt Die Arbeit am „American Dilemma“ war jäh unterbrochen worden durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Als Hitlerdeutschland im Frühjahr 1940 das neutrale Dänemark besetzte, schiffte sich die Familie nach Schweden ein, um dem Vaterland in der Not beizustehen. Spätestens das Gespräch mit dem Ministerpräsidenten Per Albin Hansson machte Gunnar klar, dass man keinen Wert auf seine politische Mitwirkung legte. Schweden mit seiner sozialdemokratischen Regierung fuhr einen schlingernden Kurs wohlwollender Neutralität gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland. Es verpasste den Zeitungen einen Maulkorb und gestattete Truppentransporte an die finnisch-sowjetische Front. Myrdal, der Amerikareisende, der die Vorbereitung des Landes auf den Widerstand gegen Hitlerdeutschland forderte, störte. Die Myrdals schrieben Bücher über jenes Amerika, das Hitlerdeutschland bezwingen werde.54 Und sie stießen zur „Kleinen Internationale“, einem Kreis meist deutschsprachiger sozialistischer Exilpolitiker. Willy Brandt und Bruno Kreisky waren dabei. Dort entstanden Pläne für
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Myrdal 1971c; vgl. Southern 1994 Graubard 1996; Kinder, Drake 2009; Dell 10.10.2013 Myrdal, Myrdal 1944; Myrdal 1943
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ein Nachkriegseuropa unter sozialdemokratischer Führung, den demokratischen Werten des Westens verbunden, aber offen zur Sowjetunion. Die Myrdals konnten auf ihr schwedisches Volksheim als Muster verweisen. Gunnar erklärte dem jungen Willy Brandt, dass es wichtiger sei, die Industrie zu kontrollieren, als sie zu sozialisieren. Soziale Gleichheit strebe der Staat besser mit Steuern, Familienpolitik und Sozialpolitik an.55 Zum Ende des Kriegs, als der Sieg der Alliierten absehbar war, sandte die schwedische Regierung Gunnar in die USA, um die Aussichten und Planungen für die Nachkriegszeit zu sondieren. Er gewann aus Gesprächen mit hohen und höchsten Politikern und Experten ein düsteres Bild. Eine lange Nachkriegsdepression, wie sie sich nach dem Ersten Weltkrieg über Europa gelegt hatte, schien auch diesmal unabwendbar. Schweden würde seine Exportmärkte verlieren, allen voran den deutschen, und von hoher Arbeitslosigkeit heimgesucht werden.56 Davon musste die Nachkriegsplanung ausgehen. Die ersehnte Gelegenheit zur Gestaltung kam, als die schwedischen Sozialdemokraten 1946 einen Wahlsieg errangen, der eine Alleinregierung möglich machte. Die führenden Männer wiesen zwar Alvas Streben nach dem Erziehungsministerium zurück, weil sie meinten, sie würde von zu vielem zu wenig verstehen, aber Gunnar wurde Handelsminister. Um der erwarteten Exportkrise und Arbeitslosigkeit vorzubeugen, schloss er ein umfangreiches Handelsabkommen mit der Sowjetunion auf der Basis langfristiger Kredite. Konservative Kreise in Wirtschaft und Öffentlichkeit entfachten einen Sturm der Entrüstung. Jeglicher Mangel in Nachkriegsschweden wurde den Lieferungen in die Sowjetunion angelastet. Die Anfeindungen richteten sich direkt gegen den Minister und seine Familie; Alva wurde beschuldigt, Kakao, Tee und Kaffee am Tag vor der Rationierung gehamstert zu haben, und die Mädchen wurden in der Schule beschimpft. Es nützte nichts, dass Myrdal auf die gleichartige Politik der britischen Regierung gegenüber Ägypten verwies. Auch heute stoßen ja Verteidiger von Krediten an wirtschaftsschwache Staaten auf taube Ohren in Europa. Tief gekränkt reichte Gunnar seinen Rücktritt ein. Wie sein alter Förderer Ernst Wigforss meinte, ein Beweis seiner mangelnden Eignung zum Politiker.57 Die Familie kehrte ihrem undankbaren Vaterland den Rücken. Sie zog im Frühjahr 1947 nach Genf, wo Gunnar zum Exekutivsekretär der zu bildenden Wirtschaftskommission für Europa (Economic Commission for Europe – ECE) berufen worden war. Im Auftrag der Vereinten Nationen sollte die Kommission den Wiederaufbau und die Integration Europas über die Gräben des Kriegs hinweg befördern. Myrdal betonte wiederholt und zu Recht, dass die Kommission im letzten Moment gegründet wurde, der angesichts des heraufziehenden Kalten Kriegs überhaupt möglich war.58 Schon die Gründungssitzung im Mai 1947 stand im Schatten der „Truman-Doktrin“, einer Kampfansage der USA an die Sowjetunion gegen die Ausbreitung des Kommunismus in Europa. Bis zur zweiten Sitzung im Juli 1947 war mit der Verkündung des Marshall-Plans die Geschäftsgrundlage der Kommission im Wesentlichen hinfällig. Wie-
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Jackson 1990, S. 173 – 175 Jackson 1990, S. 145 – 147, 178 – 181 Hirdman 2008, S. 267, 275; Barber 2008, S. 90 – 95; Bok 1991, S. 188 – 191 Rostow 1981, S. 72; Jajeśniak-Quast 2012, S. 115 – 120
deraufbau und Integration erfolgten fortan nicht im europäischen Rahmen, sondern innerhalb der gegeneinander abgeschotteten Blöcke. Die Plenarsitzungen wurden zum Forum politischer Ost-West-Auseinandersetzung. Gunnar Myrdal setzte alles daran, die Kommission als Gremium aller europäischen Staaten zu behaupten. Unter Myrdals Leitung gehörte die Europäische Wirtschaftskommission zu den wenigen Organisationen, die noch Brücken zwischen Ost und West aufrecht erhielten. Dies gelang, weil Myrdal darauf beharrte, dass auch die Sowjetunion und die Staaten in ihrem Einflussbereich gleichermaßen vertreten wären, und weil er die Arbeit auf technische Fragen in den Unterkommissionen konzentrierte. Standards und Normen gehörten dazu, aber auch die Verkehrsverbindungen.59 Indessen, wie weit entfernt war alles dies von den Visionen der „Kleinen Internationale“ für ein demokratisches Nachkriegseuropa! Rückblickend sah Gunnar Myrdal die Integration Nachkriegseuropas misslungen, und zwar nicht nur durch den Kalten Krieg, der den Kontinent spaltete. Auch die westeuropäischen Länder hätten über ihren nationalen Interessen die europäische Einigung beiseitegeschoben, nationale Integration und europäische Desintegration bestimmten die Nachkriegsentwicklung, verdeckt durch politischen Zweckoptimismus.60 So sei Europa im Westen propagandistisch auf einen Saum von Küstenstaaten geschrumpft, deren Kooperation – fälschlich mit „europäisch“ gleichgesetzt – die Spaltung vertiefte. Alle großen, so dringlichen Zukunftsprojekte blockierte der Kalte Krieg. Darunter beschreibt Myrdal eine Aufgabe, die heute wieder unter die Räder der europäischen Integration kommt: „Wir sollten die Herausforderung aufnehmen, den Mittelmeerraum aus seiner Armut zu heben; wir sollten in gemeinsamer Anstrengung seine Wälder wieder aufforsten, seine Böden, die Landnutzung und tatsächlich auch das Klima dort verbessern, wir sollten Arbeit für die Unterbeschäftigten schaffen und die Grundlage für eine rasche Industrialisierung legen“.61 Während Gunnar in Genf im Zentrum der internationalen Diplomatie und Politik stand, ertrug Alva die Rolle als Frau an seiner Seite nicht. Seine Affären, ein Problem seit Beginn ihrer Ehe, belasteten die Beziehung mehr als je. Alva nahm schließlich im Herbst 1948 ein Angebot des UN-Generalsekretärs an, in New York das Department für Soziale Fragen aufzubauen. Unter den Spitzenbeamten der Weltorganisation war sie die einzige Frau. Alva hatte sich für diese Aufgabe in verschiedener Weise qualifiziert. Ihr 1941 erschienenes Buch über Nation und Familie war die einzige englischsprachige Darstellung des schwedischen Modells der Familien- und Sozialpolitik und erregte international Aufmerksamkeit.62 Sie hatte sich an der Spitze der schwedischen Organisation in der internationalen Liga berufstätiger Frauen engagiert und in dieser Eigenschaft auch jüngst Schweden auf der Konferenz der Internationa-
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Rostow 1949; Siotis 1969, S. 11 – 16; Barber 2008, S. 97 – 105; Jajeśniak-Quast 2012, S. 120 – 131 Myrdal 1961, S. 208 – 227 Myrdal 1968b, S. 625 Myrdal 1941
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len Arbeitsorganisation (ILO) in Paris vertreten. Und nicht zuletzt galt die Institutsdirektorin als eine erstrangige Expertin für Sozialpädagogik.63 Ihre Abreise nach New York bedeutete die Trennung der Eheleute, wenn auch der Schein aufrecht erhalten blieb und häufig Briefe gewechselt wurden. Alva verließ damit abermals ihre Kinder, diesmal die beiden Töchter, die sich am Beginn der Pubertät befanden. Der Vater war weder willens noch in der Lage, die Lücke einigermaßen zu füllen. Sissela verglich später das Verhalten ihrer Mutter mit dem Jean-Jaques Rousseaus, der den bedeutendsten pädagogischen Roman des Aufklärungszeitalters schrieb und die eigenen Kinder ins Findelhaus gab.64 Die Auflösung der Familie hatte schon begonnen, als Jan 16-jährig von zuhause ausgezogen war, weil die Konflikte mit den Eltern eskalierten. Alva war in New York glücklich, auf einem neuen Gipfel ihrer Wirksamkeit, besonnt von allgemeiner Bewunderung in dieser Männerwelt. Sie entwarf Programme, hielt Reden und brachte Hilfslieferungen in Katastrophengebiete – die Kinder der Welt umsorgend statt der eigenen. Alva, die kluge, schöne, leidenschaftliche Frau, erlebte den Zwiespalt sehr bewusst, wie ihre von Yvonne Hirdman referierten Briefe durch die Jahrzehnte zeigen. Und sie liebte ihre Kinder, obwohl sie sie immer wieder verlassen hat. Den Vater traf – naturgemäß scheint es – nicht dieselbe öffentliche und sogar posthume Verurteilung. Auch die Betroffenen, seine Kinder, gingen offenbar milder mit ihm um als mit der Mutter. Alva arbeitete in diesen Jahren an einem Buch über die Doppelrolle der Frau, das 1956 erstmals erschien. Sie und ihre Mitautorin gingen von zwei Grundtatsachen aus: zum einen von der Industrialisierung, die Haushalt und Erwerbsleben getrennt und dabei die Hausarbeit selbst mechanisiert und vermindert hat, und zum anderen von der gesunkenen Sterblichkeit bei entsprechend geringerer Kinderzahl und längerer Lebenszeit. Nur noch etwa ein Drittel des tätigen Lebens einer Frau wäre infolgedessen durch die Sorge für Kinder und Familie gefüllt; die Frauen könnten also in der übrigen Spanne ohne weiteres berufstätig sein. So trügen sie nicht nur zur Volkswirtschaft bei, sondern entwickelten auch ihre eigene Persönlichkeit. Da sich dessen ungeachtet das Rollenbild der verheirateten Nur-Hausfrau in den westlichen Industrieländern offenkundig behauptete, sei die Emanzipation der Frauen auf halbem Wege steckengeblieben – eine Frage der Einstellungen.65 Alva folgt hier dem Vorgehen ihres Mannes in seinem großen Amerika-Buch, gesellschaftliche Dilemmata nicht simpel durch Politikdefizite im Wirtschaftlichen und Sozialen, sondern durch Defizite im Bereich von Werten und Normen zu erklären. Diese Wertedilemmata wären natürlich politisch aufzulösen. Die moralische Gleichachtung der Frau folgt ihrer faktischen Gleichstellung offenbar nach. Das Buch endet mit der Empfehlung an die Politik, Vätern und Müttern gleichermaßen Sechsstunden-Arbeitstage zu ermöglichen, dann erst wäre die gleichberechtige Wahrnehmung von Berufs- und Familienrolle und somit die volle Emanzipation für beide Geschlechter erreicht. Wäre das auch eine Lösung für Alvas Problem gewesen? Gewiss nicht. Sie zählte zu den Ausnahmen, die Außerordentliches in Politik, Kunst
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Hirdman 2008, S. 276 Bok 1991, S. 176 f., 190 – 206 Myrdal, Klein 1971, S. 37 – 42
und Wissenschaft vollbringen wollen. Solche Anstrengungen verlangen mehr als einen ZweiDrittel-Einsatz, sie sind kaum möglich ohne leidenschaftliche Hingabe in jenem Lebensabschnitt, in dem auch die Kinder die ganze Liebe und Aufmerksamkeit der Mutter fordern. Selten eskaliert der Konflikt so tragisch wie im Haus Myrdal, in der Regel stecken die Frauen zurück. So ist ungeachtet der immensen Sammelarbeit feministischer Geschichtsschreibung unübersehbar, dass die meisten herausragenden Leistungen von Männern vollbracht worden sind – bis heute. 1950 ging Alva nach Paris zur UNESCO als Direktorin der Sektion für Sozialwissenschaft – näher zu Gunnar und zu den Töchtern, doch nicht wirklich nah. In dieser Eigenschaft bereiste sie das erste Mal Indien, den jüngst aus britischer Kolonialherrschaft befreiten Subkontinent. Fasziniert von der exotischen Schönheit des Landes und dem Optimismus der Politiker um Jawaharlal Nehru ging sie 1955 als Schwedens Botschafterin nach Indien. Mit Nehru verband sie bald eine Freundschaft, von der Alva später sagte, es sei eine Liebesgeschichte gewesen, die keine geworden sei. Zwei Jahre später gab auch Gunnar die zunehmend fruchtlose Arbeit an der Spitze der Europäischen Wirtschaftskommission auf und folgte ihr. Seine Hoffnung, an einflussreicherer Position wirken zu können, ja Generalsekretär der Vereinten Nationen zu werden, hatte er aufgegeben, nachdem sein Stockholmer Studienkollege Dag Hammarskjöld für diesen Posten ernannt wurde. Auch war er nicht mehr der strahlend selbstsichere, charmante Mann. Seit einem schweren Autounfall 1952 schleppte er ein Hüftleiden mit sich, und seine depressive Seite trat stärker hervor. Er brauchte Alva wie eh und je.66
Unterentwicklung – das asiatische Drama Auf dem indischen Subkontinent begann Gunnar Myrdal sein zweites großes Werk, das Panorama des Dramas von Südasiens Armut und Unterentwicklung.67 Wieder scharte er – finanziert durch eine amerikanische Stiftung – Mitarbeiter für spezielle Untersuchungen um sich, nur diesmal offenbar mit weniger Glück als in Amerika, denn er stieß in eine kaum bearbeitete Forschungslandschaft vor. Erst seit dem Beginn der antikolonialen Bewegungen interessierten sich westliche Wissenschaftler jenseits der Ethnografie für diese Regionen. Wieder leistete er selbst die Hauptarbeit mit der Niederschrift von drei Bänden, gesättigt mit Daten, Analysen, Studien. Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis alles getan war und das Werk erscheinen konnte. Da war er längst nicht mehr in Indien. Anliegen des monumentalen Werkes war eine allseitige Untersuchung der Staaten und Gesellschaften des nichtkommunistischen Südasiens, mit dem Zentrum im indischen Subkontinent. Myrdal unternahm es, nicht nur die Strukturen bloßzulegen, sondern auch die kulturellen und sozialpsychologischen Gründe für das Handeln der Menschen in diesen Strukturen aufzudecken. Transdisziplinär und transnational pflegte man später solches Vorgehen zu nennen. Wie es ihm gemäß war, legte Myrdal seine Wertprämissen in einem Prolog dar, den 66 67
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er überschrieb: „Der Balken in unseren Augen“. Er grenzte sich ab von jenen oft unausgesprochen interessengeleiteten Perspektiven, die im Zeichen des Kalten Kriegs die Forschung über die Länder der „Dritten Welt“ bestimmten. Der Westen versuchte ebenso wie die sowjetische Seite, diese Staaten zu sich herüber zu ziehen. Myrdal wollte wiederum den Werten der Aufklärung folgen, Modernisierung sollte Überwindung von Ungleichheit, Armut und Rückständigkeit sein.68 Ende der fünfziger Jahre herrschte allgemeine Zuversicht, dass die ehemaligen Kolonien sich nach ihrer Befreiung rasch entwickeln und zu den Industrieländern aufschließen würden. Das erwarteten ebenso die Verantwortlichen der ehemaligen Kolonialmächte, die sich nun zurücklehnten, wie die Eliten der neuen Staaten des Südens, die alle Übel auf die Kolonialherrschaft geschoben hatten. Myrdal setzte sich also mit der „Kolonialthese“ auseinander, die nichts sei als ein Selbstbetrug der einheimischen Oberschichten, um Reformen abzuwehren und die eigene Herrschaft zu rechtfertigen. Myrdal sah schließlich alle Konzepte zur Übertragung westlicher Muster gescheitert, einschließlich der eigenen. Mit der Entwicklungsökonomie war ein eigener Zweig der Wirtschaftswissenschaften entstanden, an dem die besten Ökonomen aus Myrdals Europäischer Wirtschaftskommission mitgewirkt hatten. Der bekannteste war inzwischen Walt W. Rostow, mittlerweile Politikberater für den Vietnamkrieg, der Erfinder einer Stufentheorie selbsttragender Modernisierung mit Take-off. Myrdal sah die Entwicklungsökonomen noch immer der von Marx im Vorwort zum „Kapital“ geäußerten Vorstellung verpflichtet, dass das industriell entwickeltere Land dem minder entwickelten das Bild der eigenen Zukunft zeige. Auch wenn sich die Konzepte wie bei Rostow als anti-marxistisches Manifest drapierten, seien sie nur Variationen von Marxens Auffassung.69 Die Gründe, die Myrdal für die Nichtübertragbarkeit des westlichen Entwicklungsmodells fand, waren vielfältig. Das Klima und der kulturell verwurzelte Traditionalismus – unter den Rechtfertigungen der Kolonialherrschaft immer ganz vorn – spielten durchaus eine Rolle. Entscheidend fand Myrdal aber die entsetzliche Armut der ländlichen Bevölkerung. Unterernährt, ungebildet und von Krankheiten geplagt sei sie einfach unfähig zu gesteigerter Arbeitsanstrengung. Diese ländliche Arbeiterschaft sei unterbeschäftigt, nicht arbeitslos im westlichen Sinne, und nicht einfach für Industrialisierungsvorhaben zu mobilisieren. Die blieben Inseln im Meer der agrarischen Gesellschaften, nicht hinreichend, die ganze Gesellschaft zu transformieren. Hier schlugen auch Erfahrungen mit der ländlichen Armut aus seinem „American Dilemma“ durch. Als erster beschrieb Myrdal das Phänomen der „weichen Staaten“ und der damit verbundenen allgegenwärtigen Korruption. Gesetze würden nicht durchgesetzt, Steuern nicht erhoben, Institutionen funktionierten nicht. Hinter dem Schleier eines formalen Parlamentarismus und anderer äußerlich übernommener Institutionen dauerten die feudalen Herrschaftsverhältnisse fort. Die Lage werde durch Statistiken verdunkelt, deren Daten Parameter schätzten, die nur in Volkswirtschaften mit entwickelten Märkten Sinn machten. Was sagt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf über eine Gesellschaft, in der überwiegend für die bloße Selbsterhaltung der Familie gewirtschaftet wird? Gehen da nicht vor allem wachsender Luxuskonsum und Korruption der Oberschichten in die Hochrechnungen ein? Entwicklung werde 68 69
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Myrdal 1968a, S. 10 – 16; Barber 2008, S. 121 – 150 Marx 1956 – 1990e, S. 12; Rostow 1960
vorgespiegelt, wo Stillstand oder sogar Rückschritt walte. Der von den Vereinten Nationen und ihren Organisationen unter allgemeinem Beifall ausgegebene Terminus „Entwicklungsländer“ statt „unterentwickelte Länder“ sei Schönfärberei.70 Natürlich konnte Myrdal der damals neuen, inzwischen vorherrschenden kulturalistischen Sicht nichts abgewinnen, die Rückständigkeit und Traditionalismus als ebenbürtig Fremdes, als eigenwertige Kultur verklärte. Wegbereiter des Kulturalismus waren schon damals unter seinen Kritikern.71 Einsicht in die Probleme der ehemaligen Kolonialländer bedeutete nicht Resignation. Er zog den Schluss, dass man sich von Großprojekten und von der Industrialisierung als Wachstumspfad abwenden müsse. Als zentrale Aufgabe sah er die Landreform, denn allein auf diesem Wege könne eine grundlegende institutionelle Transformation in Richtung Gleichheit eingeleitet werden. Die Landreform werde die extreme Armut beseitigen und zu intensiverer Bewirtschaftung, Produktivitätssteigerung und Überwindung des Hungers beitragen. Myrdal wies das bis heute vertretene Glaubensbekenntnis der Ökonomen zurück, dass der große Grundbesitz produktiver sei als der zersplitterte bäuerliche. Das gelte zumindest nicht in der extensiven Landwirtschaft unterentwickelter Weltteile. Dort setzte der große Grundbesitz nicht fortgeschrittene Anbausysteme und Techniken ein, sondern beruhe auf der Ausbeutung von wehrlosen Pächtern und Landarbeitern. Er bekräftigte seine tiefe Überzeugung, dass die Überwindung von Ungleichheit Wachstum und Entwicklung fördere, nicht hemme. Die feudalen Ausbeutungssysteme müssten fallen, wie im amerikanischen Bürgerkrieg die Sklaverei und wie in Europa die Leibeigenschaft. Ein weiterer Pfeiler müsste Bildung sein, und zwar solche, die aufklärt und Wissen vermittelt, statt Religiosität und Kastendenken zu verankern. Nur eine aufgeklärte, gebildete, aus Armut und Unterdrückung befreite Bevölkerung gebe Hoffnung, die Übel des weichen Staats und der Korruption zu überwinden. Die Entwicklungshilfe schien Myrdal lange ein wesentliche Mittel zur Erreichung dieser Ziele, unter dem Dach der Vereinten Nationen durch deren Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) institutionalisiert: Weltumverteilung in einem Weltsozialstaat.72 Myrdals Politikempfehlungen für den Ausweg aus dem asiatischen Drama bewegten sich konsequent entlang der aufgeklärt sozialdemokratischen Wertetrias Gleichheit, Demokratie und Entwicklung. Alles sollte auf eine entschlossene sozialstaatliche Transformation hinauslaufen, wie sie in Schweden seit den dreißiger Jahren erfolgreich war, nur das der Hebel als Landreform anzusetzen wäre. In die so entstehende bäuerliche Landwirtschaft sei zu investieren. Entwicklungshilfe sollte Bewässerung, Zugang zu Dünger und Saatgut verbessern; sie sollte die Ressourcen nutzen helfen, die im Umfeld vorhanden wären. Die Grüne Revolution der genveränderten Pflanzen, Insektizide und Kunstdünger sah er skeptisch, wenn ihr keine Landreform vorausgegangen wäre. Sie scheine diese im Gegenteil überflüssig zu machen und biete so keine nachhaltige Problemlösung. In der Tat hat sie ja auch nur für kurze Zeit das Hungerproblem gelockert, heute hungert die Landarmut auf dem indischen Subkontinent wie eh und je, wie die Welternährungsorganisation feststellt. Myrdals Hoffnung auf Entwicklungshilfe scheiterte, sie scheiterte am Egoismus der entwickelten Nationalstaaten, an der Schwä70 71 72
Myrdal 1974a, S. 75 – 109 Geertz 1969 Myrdal 1971b; Myrdal 1974a, S. 110 – 140; Myrdal 1974b
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che der Weltorganisation und an der Korruption in den Empfängerländern. Myrdal lastete das Scheitern wesentlich den USA an, deren Politik die Vereinten Nationen schwächte, den eigenen Konzernen ein globales Feld bereitete und im Feldzug gegen den Kommunismus weiche Staaten mit korrupten Oberschichten in Dienst nahm. Anders als für Herbert Marcuse waren für den Schweden „Welfare-State“ und „Warfare-State“, Sozialstaat und imperialistische Politik, strikte Gegensätze. Seine Maxime war es, den Warfare-State zu bekämpfen um den Welfare-State zu erringen.
Heimkehr – Enttäuschungen und Ehrungen Alvas Botschaftertätigkeit in Indien endete 1962. Nach 14 Jahren Abwesenheit kehrten die Myrdals an einem grauen Novembertag nach Schweden zurück, in das Land, von dem zumindest Gunnar grollend Abschied genommen hatte. Sie waren nun an der Schwelle des Alters, gewillt, weiter im großen Maßstab zu wirken, doch ungewiss über die Aufgaben, die sich bieten würden. Für Alva, die als Botschafterin in den Netzwerken schwedischer Regierungspolitik zuhause war, löste sich diese Frage schnell. Sie erhielt die Leitung der schwedischen Delegation für die Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf. Die KubaKrise mit der akuten Drohung eines atomaren Weltkriegs bildete den Hintergrund. Für Jahre pendelte sie nun zwischen Genf, New York, Stockholm hin und her, sich in eine gänzlich neue Materie einarbeitend. Sie war wieder die kompetente, elegante, intellektuell beeindruckende Frau in einer Männerwelt. In einsamen Hotelzimmern schrieb sie zwischen Beratungen, Dinnerempfängen, Begegnungen mit den Führern der Welt, inmitten von Denkschriften und Konzepten beruhigende Briefe an den noch einsameren Gunnar. Und sie war doch ganz in ihrem Element.73 Alvas Berichte von den Abrüstungskonferenzen waren niederdrückend. Sie erlebte die Verhandlungen der Großmächte als ein falsches, gar abgekartetes Spiel. Während die Menschheit in Furcht und Schrecken vor dem finalen Vernichtungskrieg gehalten und die weltweiten Anti-Atombewegungen ignoriert wurden, feilschten die Staatsmänner um Moratorien, die ein Aufholen im Wettrüsten erlaubten, um Obergrenzen jenseits des Vorhandenen, um Weitergabe-Bann und atomwaffenfreie Zonen, die das eigene Revier nicht beschnitten. Als ihre Mission beendet war, schrieb Alva auf Gunnars Drängen und mit seiner Unterstützung ein Buch über das Falschspiel mit der Abrüstung.74 Gemeinsam erhielten die Myrdals 1970 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Für Gunnar blieb der Rückzug in die Forschung. Er gründete ein Institut für Internationale Wirtschaftsforschung und setzte sich mit Publikationen und Vorträgen vor internationalen Organisationen und Vertretern der ökonomischen Zunft für die Überwindung von Weltarmut und Unterentwicklung ein.75 In der Stockholmer Altstadtwohnung vergrub er sich in sein Werk. Im73 74 75
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Hirdman 2008, S. 332 – 344 Myrdal 1976; Deutsch: Myrdal 1983 Barber 2008, S. 155 – 162
mer mehr versank er in Depressionen, über die immerwährende Trennung von Alva, über den mühsamen Fortgang seiner Arbeit am „Asien Drama“, dessen Dimension und tragische Ausweglosigkeit das „American Dilemma“ so sehr übertraf. Endlich war es vollbracht, die drei Bände erschienen 1968. Das Echo war respektvoll und kritisch, also enttäuschend. Da weder die Grundtendenz noch die Analyse des Werkes im Hauptfeld der noch immer modernisierungstheoretischen Entwicklungsökonomie mit schwammen, wurde es weitgehend ignoriert. Unnötig zu sagen, dass es auch die marxistischen Theoretiker nicht befriedigte.76 Gunnar Myrdal erhielt 1974 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, den die schwedische Reichsbank fünf Jahre zuvor gestiftet hatte; Myrdal selbst hatte sich nachdrücklich für diese Stiftung zur Aufwertung der ökonomischen Wissenschaften eingesetzt. Nun bekam er die Auszeichnung mit ausdrücklicher Würdigung seiner frühen, am meisten klassisch ökonomischen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie. Und es war mehr als ein bitterer Beigeschmack, es war eine Enttäuschung, dass er den Preis mit Friedrich August von Hayek teilen musste: der Architekt des Volksheims mit dem Philosophen des autonomen Marktes, der jede soziale Korrektur als Weg zur Knechtschaft sah. War das mehr als ein Versuch des Preiskomitees, gegensätzliche Lehrmeinungen zusammenzubinden, anzuknüpfen an Zeiten, als Myrdal in Hayeks Jahrbuch publiziert hatte? Erst im Nachsatz wies das Komitee auf seine institutionentheoretischen Arbeiten hin, auf sein Zusammenführen ökonomischer mit politischen und sozialen Entwicklungen. In seiner Preisvorlesung hielt Myrdal dagegen. Er sprach über „Die Sache der Gleichheit in der Weltentwicklung“, denn das sei ein grundlegendes, ein moralisches Problem. Er hielt der saturierten westlichen Welt den Spiegel ihrer Ignoranz und ihres Opportunismus vor. Er sprach über die Nahrungsverschwendung der Überflussgesellschaften angesichts des Hungers im Süden: „Die blanke Wahrheit ist, dass ohne einen radikalen Wechsel der Konsumgewohnheiten in den reichen Ländern alles fromme Reden über eine neue Weltwirtschaftsordnung Geschwätz ist“. Er führte die Fehlschläge einer Entwicklungspolitik vor, die von den Großmächten im Kalten Krieg politischen und militärischen Interessen geopfert wurde. „Kriege werden mit zunehmender Missachtung des internationalen Rechts geführt, das die Zivilbevölkerung schützen sollte. Die illegale, unmoralische, ruchlose, grausame amerikanische Kriegführung in Südostasien hat den derzeitigen Höhepunkt dieses steilen Trends seit dem Ersten Weltkrieg markiert“. Was blieb, war ein Appell an die Moral, das Mitgefühl, das Gerechtigkeitsempfinden der Völker.77 Den Weltsozialstaat – die welfare-world – lag in weiterer Ferne als je. Gunnar Myrdal verurteilte den Vietnamkrieg der USA aus tiefster Seele, gerade weil er seinen Glauben an Amerikas Ideale nicht aufgeben wollte. Tocquevilles Mantel lag noch um seine Schulter, wie sein Biograf Jackson schreibt. Er suchte die Amerikaner auf der großen AntiVietnamkriegs-Kundgebung im New Yorker Madison-Square-Garden im Dezember 1966 aufzurütteln, er organisierte als Vorsitzender des schwedischen Vietnam-Komites humanitäre Hilfe für das zerbombte Land, sprach 1968 auf einer Massenkundgebung vor der amerikanischen Botschaft in Stockholm, kurz, er warf seine Autorität und seine Persönlichkeit in jeder
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Barber 2008, S. 140 – 145; für die marxistische Kritik: Mattick 1968 Myrdal 1974c
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denkbaren Weise in den Kampf gegen diesen Krieg.78 Das verband ihn enger mit dem Sohn Jan, der inzwischen Schriftsteller geworden war, einer der namhaften schwedischen Intellektuellen der Neuen Linken. Mit dieser westlichen Linken stand auch Jan Myrdal an der Seite der bäuerlichen Guerillabewegungen der unterentwickelten Länder. Ihr Kommunismus war der chinesische unter Mao Zedong, in strikter Abgrenzung von der Sowjetunion. Jan Myrdal reiste durch China, Vietnam und Kambodscha und schrieb darüber, immer auf der Seite der Guerilla und des antiimperialistischen Kampfes, sympathisierend selbst mit den Roten Khmer, blind gegen deren Gräuel.79 Die linken Positionen des Sohnes stimmten in der Gegnerschaft zur Kriegspolitik der USA und in manchen Fragen des Kampfes gegen die Weltarmut mit dem Vater überein, waren aber total überkreuz mit sozialdemokratischer Tradition und Politik. Folgerichtig verschärften sich die Konflikte mit der Mutter, die in die Regierungspolitik eingebunden war. Seit 1966 war Alva wieder in Stockholm und nahm verschiedene Ministerposten ein – für Entwicklungshilfe, zuletzt für Kirchenfragen. Als Alva in ihren letzten aktiven Jahren die Kommission für Gleichheitsfragen der Sozialdemokratischen Partei leitete, musste sie bemerken, wie sehr sich Anschauungen und Bedürfnisse junger Menschen verändert hatten, wie sehr sich der neue Feminismus von jenen familienpolitischen Maximen unterschied, die sie einst gemeinsam mit Gunnar als Fundament des schwedischen Volksheims entworfen hatte. Ihr behagte nicht, wie frauenzentriert, wie männerfeindlich, wie wenig an Kindern und Familie interessiert diese Bewegung war – ungeachtet des Mutterkults, der auch seinen Platz darin hatte und den sie ebenso wenig verstand.80 Das erstrebte Außenministerium erhielt sie nicht, obwohl sie sogar den Bruch mit dem Sohn in Kauf nahm, um jedes Hindernis fortzuräumen. Bei einem Vorweihnachtsdinner 1967 mit Jan wies Alva ihn darauf hin, wie störend seine politischen Aktivitäten wahrgenommen würden. Mutter und Sohn sahen einander nicht wieder. Jans bitterböse Kindheitserinnerungen rührten 1982 einen Herbst lang die schwedische Öffentlichkeit auf, unmittelbar vor der Verleihung des Friedensnobelpreises an seine Mutter.81 Eine schreckliche Erfahrung für beide Eltern.
Jenseits des Sozialstaats Im Rückblick kann man den zwischen Myrdal und Hayek geteilten Nobelpreis als Zeichen eines Paradigmenwechsels lesen, der über die Wirtschaftswissenschaften hinaus den Zeitgeist prägte. Mitte der siebziger Jahre endete eine Ära der Zukunftsgewissheit, des Vertrauens in planmäßigen Fortschritt zum Wohlstand für alle; sie wich einer neoliberalen Perspektive des Krisenbewusstseins und der Verteilungskämpfe. Der Sieg des Keynesianismus, oder gar des korporativ verfassten Sozialstaats, in dem Gewerkschaften und Sozialdemokraten den Kapitalismus kontrollierten, war ja nie unangefochten. Myrdal hatte sich immer mit gegensätzli-
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Jackson 1990, S. 348 – 352; Myrdal 1971a; Myrdal 1971e Fröberg Idling 2013 Hirdman 2008, S. 350 – 364 Hirdman 2008, S. 365 – 368
chen wirtschaftspolitischen Strömungen auseinandersetzen müssen. Er rannte gegen die Auffassung an, dass Wirtschaftsplanung eine sozialistische, ja marxistische Erfindung sei und der Marktwirtschaft fremd. Wann hätte menschliche Wirtschaftstätigkeit ungeplantes Handeln sein können? Den Streit um die Wirtschaftsplanung hielt er für eine abgestandene und verworrene Kontroverse und den Trend zur Planung sah er unaufhaltsam.82 Mitte der sechziger Jahre antwortete Myrdal in einem Artikel für die „New York Times“ auf amerikanische Vorbehalte gegen den schwedischen Sozialstaat. Zu hoch seien die Selbstmordraten, zu freizügig das Liebesleben der Schweden, sie seien frustriert durch zu viel Gängelung und bequem geworden durch zu viel Sicherheit. Myrdal suchte dies alles zu entkräften und gab sich optimistisch, dass auch die Amerikaner noch ihren Sozialstaat bauen würden. Ihm war klar, was hinter den Anklagen steckte, warum sie von rechts und links kamen: „Den Radikalen erscheint es skandalös, dass in Schweden in mehr als dreißig Jahren eine sozialdemokratische Arbeiterregierung keinerlei Verstaatlichung vorgenommen hat. Ihnen gilt das fortgeschrittene System sozialer Sicherheit als billiger Ersatz für den Sozialismus – ein Ersatz, der zudem revolutionäre Veränderungen verhindern könnte, indem er zwar das Elend der Armen beseitigt, aber die Macht fest in der Hand der Kapitalisten belässt. Die Konservativen im Ausland hassen diesen Typ von Gesetzgebung ihrerseits fast so sehr wie den Sozialismus. Über die Malaise der Schweden sind sich beide allerdings herzlich einig“.83 Auch die schwedischen Gewerkschafter wollten schließlich über den kontrollierten Kapitalismus ihres Sozialstaats hinaus. Die Unternehmensgewinne waren trotz hoher Steuern beträchtlich stärker als die Löhne expandiert, die in den führenden Industrien des Maschinenbaus und der Automobilindustrie unter den Produktivitätsfortschritten lagen. Die Gewerkschaften brachten deshalb 1973 den Vorschlag ein, einen Anteil der Gewinne in Lohnarbeiterfonds unter gewerkschaftlicher Verwaltung abzuführen, um so kollektives Miteigentum der Arbeiter zu begründen. Der Gewerkschaftsführer erklärte kämpferisch: „Das wird ein gründlicher Umbau der Gesellschaft. Wir wollen den alten Kapitalbesitzern die Macht nehmen, die mit dem Eigentum einhergeht. Alle Erfahrung deutet darauf hin, dass Einflussnahme und Kontrolle nicht ausreichen. Das Eigentum spielt eine entscheidende Rolle“.84 Die Empörung des Mitte-Rechts-Lagers schlug hohe Wellen, große Arbeiterdemonstrationen für das Gewerkschaftskonzept vermochten nichts dagegen. Eine konservative Koalition verdrängte 1976 die sozialdemokratische Regierung für einige Jahre von der Macht.85 Damit war auch Alva Myrdals Regierungstätigkeit beendet.
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Myrdal 1961, S. 1 – 12 Myrdal 1971d, S. 40 f. Zitiert: Rosenberg 2013, S. 38 Stråth 1996, S. 99 f.
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Tatsächlich drehte sich der Wind Mitte der siebziger Jahre. Der postindustrielle Strukturwandel zog den Gewerkschaften den Boden weg. Westeuropa erlebte die Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit, die die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften untergrub. Zwischen 1975 und 1995 wurden in zahlreichen OECD-Ländern die sozialen Sicherungssysteme so gekürzt, dass sie auf das Niveau der frühen sechziger Jahre oder – in Großbritannien unter Margaret Thatcher – auf das Niveau der dreißiger Jahre zurückfielen. Der Sozialstaat sollte wieder zum Fürsorgestaat schrumpfen. Es waren überwiegend konservative Mitte-Rechts-Regierungen, die solche Einschnitte vornahmen. Das Schwedische Volksheim behauptete sich noch.86 Erst in den neunziger Jahren wurde auch die Ausstattung des schwedischen Volksheims – öffentliche Einrichtungen im Bildungs- und Gesundheitswesen, Wohnungen und Verkehrsunternehmen – in private Trägerschaft übergeben. Wie überall machte die Profitorientierung die Sozialeinrichtungen nicht billiger, aber weniger verlässlich; der Fürsorgestaat bringt keine sinkenden Sozialquoten. Die großen Sozialsysteme der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung wurden gekürzt und teilweise auf private Vorsorge umgestellt. Sie sollen nicht mehr den Lebensstandard sichern, sondern nur noch die Existenz. Arbeitslosengeld und auch Krankengeld wurden zeitlich begrenzt. Die solidarische Lohnpolitik gehört der Vergangenheit an, die Steuern wurden hingegen abgesenkt.87 Der konservative Gezeitenwechsel hatte nicht eigentlich wirtschaftliche Gründe, er war nicht einfach Ergebnis des postindustriellen Strukturwandels, und er war auch nicht simpel dem Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus im Kalten Krieg geschuldet. War es überhaupt ein Sieg des Konservatismus? Waren es nicht schließlich sozialdemokratische Regierungen wie die britische „New Labour“ und die deutsche Rot-Grüne Koalition unter Kanzler Schröder, die überall in Westeuropa den Sozialstaat demontierten?88 Auf der Linken änderten sich Ideologie und Politik, seitdem sie nicht mehr mit der Arbeiterbewegung und ihren Gewerkschaften und Parteien identisch war. Die Neue Linke, die in den sechziger Jahren aufbrach, ging von Beginn an auf Distanz zu diesen Traditionen. Sie kämpfte nicht mehr gegen soziale Ungleichheit, sondern eröffnete neue Fronten, an denen es statt um Klassenspaltung um Kulturdifferenz ging und die Zivilgesellschaft den Sozialstaat als Leitbild ablöste. Die Zivilgesellschaft setzt auf die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft und die Verantwortlichkeit des Individuums. Nichtregierungsorganisationen aller Art sollen an die Stelle der klassenkämpferischen Gewerkschaften treten. Das Konzept erstrebt eine Pioniergesellschaft nach amerikanischem Muster und ist unvereinbar mit dem korporatistischen Sozialstaat des schwedischen Volksheims. In Schweden hatte diese Debatte daher eine besondere Sprengkraft.89 Die Myrdals mussten den Abbruch des Volksheims nicht mehr erleben. Alva starb am 1. Februar 1986. Als Ministerin, Nobelpreisträgerin, Repräsentantin des Landes in hohen internationalen Missionen erhielt sie ein Staatsbegräbnis. Gunnar lebte danach noch etwas mehr als ein Jahr bis zum 17. Mai 1987 in immer wachsender Einsamkeit.90 Beide waren leidenschaft86 87 88 89 90
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Korpi, Palme 2003, S. 434 – 437 Rosenberg 2013, S. 38 f.; Schmid 2010, S. 238 – 240 Butterwegge 2006, S. 233 – 265 Trägårdh 2007 Hirdman 2008, S. 370 – 372
liche Visionäre, die an nahezu allen Fronten ihres Jahrhunderts gegen übermächtige Gewalten und Verhältnisse kämpften. Wenn man nicht das Unvollendete misst, den Weltsozialstaat und den Weltfrieden, sondern das in Schweden und in der Welt an Forschung, Aufklärung und Politik geleistete, war die Bilanz unzweifelhaft positiv. Gunnar Myrdal schuf eine Ökonomie institutioneller Entwicklung, des wirtschaftlichen Wachstums durch Überwindung von Ungleichheit auf dem Weg institutioneller Reformen. Alva Myrdal verband ihre sozialpsychologischen Ideen mit denen ihres Mannes und fand im Leben von Müttern und Kindern den Schlüssel zur Veränderung der Gesellschaft. Als 1990 der Kapitalismus seinen Endsieg errungen zu haben schien, begrub man Gunnar Myrdals Ökonomie erst einmal zusammen mit den Lehren von John Maynard Keynes und Karl Marx klaftertief. Das war nicht das letzte Wort. Inzwischen wird gefragt, ob die Länder Ost- und Ostmitteleuropas nach 1990 nicht ein Feld für eine sozialstaatliche Transformation nach Myrdals Konzepten geboten hätten?91 Es gab in Ostmittel- und Osteuropa damals die verbreitete Hoffnung, man könne einen Kapitalismus nach schwedischem Muster bekommen, auf einen dritten Weg einschwenken, der den Wohlstand des Westens mit der Sicherheit des Ostens verbinden würde. Um die Jahrtausendwende sagten die Sozialwissenschaftler recht einhellig das Ende des Sozialstaats voraus; inzwischen fragen sie sich, warum es ihn immer noch gibt. Das Beharren der Menschen auf dem Sozialstaat ist zählebig. Vor allem die Arbeiter, die Frauen, die Bewohner von Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wollen am Sozialstaat festhalten, und das sind keine Randgruppen. Das Massenvotum für den Sozialstaat ist in jenen Ländern am höchsten, wo er voll ausgeprägt gewesen ist.92 Das Erbe der Myrdals wird nicht ausgeschlagen.
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Angresano 1997, S. 121 – 145 Brooks, Manza 2006; Edlund 2006
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Epilog
Revolutionen Der Rundgang durch ein Jahrhundert des europäischen Sozialismus bricht hier ab. Er gab einen Eindruck vom „Immer anders“, das auch ein „Immer wieder“ ist und nie ein „Noch einmal“. Alexander Herzen hat am Beginn des modernen Sozialismus, als Marx und Bakunin junge Männer waren und ihm gut bekannt, in einem Epilog auf 1849 geschrieben: „Der Sozialismus wird sich in allen seinen Phasen bis zu den äußersten Konsequenzen, bis zu Absurditäten entwickeln. Dann wird von Neuem aus der titanischen Brust einer revolutionären Minderheit der Schrei der Negation hervorbrechen, und von neuem wird ein Kampf auf Leben und Tod beginnen, in dem der Sozialismus den Platz des heutigen Konservatismus einnehmen und von einer kommenden, uns unbekannten Revolution besiegt werden wird“.1 Das mutet wie eine Prophezeiung an. Herzen legt der Hegelschen Dialektik die Vorstellung vom Rad der Geschichte unter, das sich vorwärts wälzt in ewiger Wiederkehr, Kulturen und Reiche zermalmend und empor tragend. Menschliches Tun erscheint in diesem Bild vielleicht nicht so fürchterlich, wie in Walter Benjamins Vision vom Engel der Geschichte, der auf ein Trümmerfeld schaut, während ihn der Sturmwind vom Paradies rückwärts fort treibt, aber es scheint genauso fruchtlos. Könnte nicht doch Evolution – in Versuch und Irrtum blind variierend und verwerfend – besser erklären, wie sich die Menschheit gegen alle Wahrscheinlichkeit erhält und ausbildet? In evolutionärer Betrachtung wären Revolutionen nicht Lokomotiven der Geschichte, wie Karl Marx die Ereignisse von 1849 begeistert kommentierte.2 Sie wirkten eher wie Mutationen, die bekanntlich nur ausnahmsweise Lebensfähiges hervorbringen, ohne die es aber keine Entwicklung gibt. Die Revolution, wie sie alle in diesem Buch versammelten Helden im Einklang mit dem Sprachgebrauch verstanden, meint eine Staatsumwälzung mit Elitenwechsel, die mit einer Neuverteilung von Eigentum und mit neuen Wirtschafts-, Rechts- und Sozialordnungen einhergeht. Was oben war, soll unten sein, und neues Recht wird gesetzt, das altes zu Unrecht erklärt. Trotzkis und Lenins russische Revolution von 1917 bot nach der französischen von 1789 das klassische Exempel, aber auch hier war die Realität weit entfernt vom Ideal: Dem Staatsstreich – heroisch erst in der Legende – folgte ein langes, blutiges, opferreiches Ringen und eine institutionelle Ordnung, die die Versprechen von Wohlstand, Freiheit und Glück nicht hielt. Anders als die russische und ebenso wie die französische enden die meisten Re1 2
Herzen 1949, S. 458 Marx 1956 – 1990c, S. 85
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volutionen nach solchem Ringen in Kompromissen. Die alten Eliten müssen an der Macht beteiligt werden und der Umbau der Institutionen bleibt unvollständig. Das ist nicht grundsätzlich anders, wenn die Revolutionäre als Besiegte von der Bühne gehen, unumgängliche Anpassungen erfolgen dann zumeist später und halbherzig doch noch. So mündet die Revolution fast immer in Reform, manchmal tiefgreifend genug, um eine Transformation zu sein, eine „Revolution von oben“. Das Frankreich von Jaurès, das Polen Piłsudskis, das Schweden der Myrdals war geprägt durch transformatorische Reformen. Dagegen stand die blanke Konterrevolution, wie sie Alexander Stambolijski in Bulgarien, Otto Bauer in Österreich und Andreu Nin in Katalonien erleben mussten. Revolution und Sozialismus sind oft zusammengedacht worden, die Revolution als Eingangspforte zum Zukunftsstaat, als mit der Endzeiterwartung verbundene Apokalypse. Selbstbild und Fremdzuschreibung identifizierten den Sozialisten mit dem Revolutionär, dem Umstürzler, ja sogar dem Bombenleger. Diesem Bild entsprach am ehesten der revolutionäre Flügel der vielfältigen anarchistischen Bewegung, der verschwörerisch Staatsumwälzungen plante. In der Fixierung auf die Revolution trafen sich Anarchosyndikalisten und russische Bolschewiki, und der Spanier Andreu Nin zog nach Moskau. Bei Trotzki wurde die Revolution permanent, sich in der Konsequenz zur Weltumwälzung weitend, während sie im Staatssozialismus zur Legitimation verblasste. Obwohl noch August Bebel den „großen Kladderadatsch“ erwartete, suchten schon in der Sozialistischen Internationale vor dem Ersten Weltkrieg immer mehr Parteien nach legalen Wegen zur Machtübernahme, wie die französische Partei um Jean Jaurès und die britische Labourpartei, zu der George Bernard Shaw gehörte. Wenn auch Karl Kautsky, Vordenker der marxistischen Sozialdemokratie weit über Deutschland hinaus, noch an der revolutionären Rhetorik festhielt, so war doch sein Weg zur Macht keiner von Staatsstreich und Krieg. Nach den Erfahrungen der russischen Revolution richtete sich die Politik der Sozialisten außerhalb der Kommunistischen Internationale auf demokratische Legitimation durch politische Mehrheiten. Spätestens dann waren Sozialismus und Revolution nicht mehr zwei Seiten einer Medaille, die Transformation der Gesellschaft war wichtiger geworden als die heroische Aktion. Das war kein Verzicht auf die Machtübernahme, bei Strafe der Selbstaufgabe musste der moderne Sozialismus nach der Arbeitermacht streben. Sowohl Otto Bauer als auch Gunnar Myrdal, die beide auf legalen Wegen und durch Reformen die sozialistische Transformation anstrebten, machten die Erfahrung, dass sie ihren konservativen Gegnern nicht weniger verhasst waren als die Revolutionäre auf den Barrikaden. Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte der Sozialismus weithin in den europäischen Industriestaaten eine sozialstaatliche Transformation des Kapitalismus, also die Integration der Arbeiter in die bürgerliche Gesellschaft unter Machtbeteiligung ihrer Parteien und Gewerkschaften. Sozialistische Parteien wurden staatstragend, nicht nur im Ostblock. Herbert Marcuse, der diese Entwicklung mit beißender Kritik verfolgte, verkörperte wieder den reinen Revolutionär, obwohl er sich von der Arbeiterbewegung abgekehrt hatte. Eine Neue Linke löste vollends die Beziehung zwischen Revolution und Sozialismus. Die Revolution wurde zur Rhetorik und zum Wert an sich in einer Jugendrevolte, die Erlösung in der außereuropäischen Welt suchte und vornehmlich die kulturelle Sphäre umwälzte. Revolution und Jugendrevolte sind verschwistert, weil die Revolution das öffentliche Fest ist, der gran478
diose Moment der Freiheit, in dem alle Türen offen zu stehen scheinen, der Karneval, der alle Verhältnisse umkehrt, nicht nur die zwischen oben und unten, sondern auch die zwischen Alt und Jung. Inzwischen hat die Revolution in Rhetorik und Realität ihren Tiefpunkt erreicht. Sie wurde seit 1990 zum schmückenden Etikett von Regimewechseln, zum Instrument weltweiter Machtpolitik. Auch die konservativen Angriffe auf den Sozialstaat seit der marktliberalen Offensive der siebziger Jahre verkehren den Sinn der Begriffe. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu bemerkt treffend: „Diese konservative Revolution neuen Typs nimmt den Fortschritt, die Vernunft, die Wissenschaft (in diesem Fall die Ökonomie) für sich in Anspruch, um eine Restauration zu rechtfertigen, die umgekehrt das fortschrittliche Denken und Handeln als archaisch erscheinen lässt“.3
Nationalismus Pferdefuß des europäischen Sozialismus war das Verhältnis zum Nationalismus. Er stand an der Wiege des modernen Sozialismus, denn Anlass zur Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation gab auch die Solidarität mit dem Januaraufstand des polnischen Adels gegen den Zaren. Sozialismus und Nationalismus entwickelten sich gleichzeitig in Europa, national war damals noch antiabsolutistisch, liberal und links. Dafür steht Karl Kautskys kurzer Weg vom tschechischen Nationalisten zum Sozialisten, die Karriere des Nationalisten Józef Piłsudski in der sozialistischen Bewegung, oder das Katalanentum von Andreu Nin. Soziale und nationale Emanzipationsbewegungen liefen insbesondere im europäischen Osten zusammen, in dessen Völkergemisch die ethnischen Trennlinien auch soziale waren – zwischen deutschen Bürgern und slawischer Landbevölkerung, polnischen Herren und ruthenischen Bauern, ungarischer Oberschicht und Slowaken. In den antikolonialen Befreiungsbewegungen der unterentwickelten Länder wiederholte sich diese Konstellation, sodass sie sich für marxistische Ideologien verschiedener Spielarten öffneten. Ein Kabinettsstück war Lenins gemeinsame Aktion mit Piłsudski, um den Nationalismus als Sprengsatz an das russische Zarenreich zu legen. Dafür mussten alle Konzepte beiseite gewischt werden, die für ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Nationalitäten in Vielvölkerreichen wie dem Zarenreich und der Habsburgermonarchie erdacht waren. Die Gegenargumente Rosa Luxemburgs gehörten dazu, wie das Konzept nationalkultureller Autonomie. Die österreichischen Sozialdemokraten um Otto Bauer entwickelten diese Theorie sozialistischer Nationalitätenpolitik in föderalen Staatswesen. Auch die Perspektive einer europäischen Föderation befreiter Völker war enthalten. Starken Widerhall fand das Autonomiekonzept dieser Austromarxisten bei den Führern des jüdischen Bundes um Wladimir Medem im russländischen Reich, wo es Lenins Pläne unmittelbar durchkreuzte. Lenins Wüten gegen die jüdischen
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Bourdieu 1998, S. 54
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Sozialdemokraten und ihre Ideengeber, die Austromarxisten, nahm groteske Züge an. Das Pamphlet, das Stalin in seinem Auftrag verfasste, verkettete Nation und Territorium und schrieb damit für die Zukunft eine nationalistische Politik der orthodoxen Kommunisten fest. Lenin gab die Losung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker auf Lostrennung aus, um das Zarenreich auseinanderzutreiben. Der amerikanische Präsident Wilson übernahm Lenins Formel, die dadurch zu einem Versprechen an alle und jegliche nationale Bewegung wurde. Die Pariser Friedenskonferenz errichtete darauf eine Nachkriegsordnung kleiner Staaten, einen Sicherheitsgürtel gegen die Ausbreitung der russischen Revolution. Die Rechnung ging auf. Mit Ausnahme der Tschechoslowakei entstanden autoritäre Regime, in denen sozialistische Parteien eine Kümmerexistenz fristeten. Wo der Geist Piłsudskis waltete, war der von Kautsky, Bauer und Luxemburg ausgetrieben, und die jüdischen Genossen Wladimir Medems litten. Wen wundert es, dass die Nationalitätenkämpfe in den neuen Staaten fortdauerten. Die Staatenwelt des Ostblocks entstand nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Sturmwind von Massenaussiedlungen, der die ostmitteleuropäischen Völker entmischte. Der Rassenkrieg der Deutschen im Osten und ihr Völkermord an den Juden gaben Grund und weltweite Legitimation, in erheblichem Ausmaß betroffen waren aber auch Ungarn, Ukrainer, Polen und andere Völkerschaften. Der Nationalkommunismus lag zwar in den Staaten des sowjetischen Machtbereichs im Konflikt mit dem proletarischen Internationalismus des Kommunistischen Manifests, er wurde aber schon wegen seiner Bindungskraft nicht infrage gestellt. Die föderalistische Konzeption nationalkultureller Autonomie war indessen nicht tot. Die jugoslawischen Sozialisten, die als „Bund der Kommunisten“ den Geist des Kommunistischen Manifests beschworen und noch in die austromarxistische Schule gegangen waren, knüpften sowohl bei Otto Bauer als auch bei Lenin an. Nach 1990 sprengte der Nationalismus unter den wohlwollenden Augen des Westens die jugoslawische Föderation, wie der Nationalismus überall beim Zusammenbruch des Ostblocks seine Dienste tat. Kaum irgendwo in Europa ist seitdem der Nationalkonservatismus so dominant in Öffentlichkeit und Politik wie in den Transformationsländern. Auch der westeuropäische Sozialstaat war eine nationalistische Veranstaltung. Das schwedische Volksheim, für dessen Begründung die Myrdals den völkischen Diskurs strapazierten, belegt das Offensichtliche. Der Sozialstaat lässt sich nicht leicht auf europäische Dimensionen dehnen, schon gar nicht, wenn die Europäisierung mit allgemeiner Liberalisierung einhergeht, also mit dem Abbau des Sozialstaats. Die nationale Identität und Solidarität ist nicht einfach durch eine europäische zu ersetzen. Bleibt denn nicht die Solidarität zwischen den Ausgebeuteten, ihrer sozialen Rechte beraubten? Oder ist die ethnische Konkurrenz gerade im Unterbau der Gesellschaftspyramide besonders erbittert? Gunnar Myrdal vermisste schon bei der Betrachtung des amerikanischen Dilemmas jede Solidarität zwischen weißer und schwarzer Unterschicht. Und was gilt noch „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, wenn das Proletariat sich auflöst? Der Sozialismus war trotz seines nationalistischen Pferdefußes immer auch internationalistisch und europäisch. Ideen, Institutionen und Personen durchquerten den Kontinent und verbanden sich, wie der russische Anarchismus und der französische Frühsozialismus, wie Kautskys „Neue Zeit“, die überall Ableger trieb und übersetzt wurde und doch das eine europäische Fo480
rum blieb, wie Proudhons Genossenschaften und der Gildensozialismus der Fabier, die nach Spanien und auf den Balkan vordrangen, wie die Sozialisten aller Richtungen, die der spanischen Republik zur Hilfe kamen. Europäisch war schließlich der Streit der Internationalen um die konkrete Gestalt der Utopie. Solche Utopie wird auch für die Zukunft nicht im nationalen Rahmen zu gewinnen sein.
Visionen Der Sozialismus braucht eine Gesellschaftsvision, die über ein Paradies mit Zuckererbsen und Rosen hinausgeht, wie es Heinrich Heine für Jedermann wünschte, er braucht eine Erlösungshoffnung, hinter der sich die zerstreuten Heere der Armen und Entrechteten sammeln können. Daran fehlt es. Wer träumt schon noch vom Zukunftsstaat? Der Staatssozialismus ist untergegangen, und dem westeuropäischen Sozialstaat scheint ein ähnliches Schicksal beschieden. Die Zivilgesellschaft konnte dem Sozialstaat mit dem Aufstieg der Neuen Linken den Rang ablaufen; seitdem Ökologiebewegung und Feminismus die traditionelle Arbeiterbewegung abgelöst haben, erscheint die Zivilgesellschaft als Inbegriff von Selbstorganisation und Freiheit von staatlichen Zwängen. Sie fiel überdies bei den Linken auf fruchtbaren Boden, weil sie als eigenes, eurokommunistisches Konzept erschien. Der italienische Parteiführer Antonio Gramsci hatte die Zivilgesellschaft als Übersetzung der Hegel-Marxschen „bürgerlichen Gesellschaft“ in seine politische Theorie eingeführt, als eigene Sphäre des Politischen, die nicht dem unmittelbaren staatlichen Zwang unterliegt, wo in Öffentlichkeit und Legalität um die Hegemonie über das Bewusstsein gestritten werden kann. Die Ideen des 1937 Gestorbenen wären kaum bekannt geworden, wenn nicht Palmiro Togliatti, der Gesandte der Komintern im spanischen Bürgerkrieg, dessen wunderbare politische Eignung erkannt hätte: Der isolierte Gefangene konnte weder mit dem Trotzkismus, noch mit dem Stalinismus in Berührung gebracht werden, und er taugte auch gegen den Anarchosyndikalismus, dessen Unausrottbarkeit der jugoslawische Selbstverwaltungs-Kommunismus gerade vor Augen führte. Togliatti publizierte Gramscis Gefängnishefte und beförderte ihn zum Propheten eines entstalinisierten Eurokommunismus, der mit politischen Gegnern Bündnisse suchte. Wen überrascht es, dass Gramscis Schriften weitere Jahrzehnte später gar zur intellektuellen Mode der Neuen Linken wurden?4 Zugleich entfaltete seine „Zivilgesellschaft“ erhebliche Wirkung unter den Dissidenten des Ostblocks, allerdings nur bis zu dessen Zusammenbruch.5 In der Transformation spielte sie wie alle sozialistischen Ideen keine Rolle mehr. Die Zivilgesellschaft macht seitdem Karriere als Konzept eines Laissez-faire-Liberalismus nach amerikanischem Muster, der mit individueller Verantwortlichkeit und staatsferner Fürsorge an die Stelle des Sozialstaats tritt. Nicht soziale Ungleichheit, sondern kulturelle Differenz scheint die modernen Gesellschaften zu gliedern. Schuf sich der postmoderne Strukturwandel nicht vor allem im Dienstlei-
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stungs- und Informationssektor eine atomisierte Arbeitswelt fern von Klassenzusammenhalt und Klassenbewusstsein? Mit Zeit- und Teilzeitverträgen, unter mannigfaltigem Anschein von Selbständigkeit sind diese Lohnabhängigen gleich schwer zu organisieren, wenn sie gering qualifiziert sind, wenn sie als mehr oder weniger legale Immigranten leben, oder wenn sie als akademisches „Prekariat“ auf Selbstverwirklichung bauen. Dieser soziale Wandel kann teilweise erklären, warum gerade zu Zeiten einer erneuten Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich das Klassenkonzept aus der Öffentlichkeit verbannt werden konnte und Klassengegensätze hinter den Trennlinien zwischen Generationen, Geschlechtern, Ethnien verschwinden. Nachvollziehbar wird, warum soziale Gleichheit zugunsten eines Konzepts von Gerechtigkeit aufgegeben wird, das den Ausgleich individueller Bedürftigkeit ins Zentrum rückt. Aber Gerechtigkeit ist nicht genug. Das Kernkonzept des Sozialismus ist unaufgebbar Gleichheit – nicht nur Gleichheit vor dem Gesetz, nicht nur Chancengleichheit, sondern soziale Gleichheit. Für diese Gleichheit müssen Sozialisten in winzigen Schritten, wie es Samuel Beckett Marcuse riet, immer wieder anrennen gegen die Kraft, mit der Herrschaft, Wirtschaft und Kultur – Max Webers drei Sphären menschlichen Tuns – fortwährend Ungleichheit schaffen. Es ist ein Ziel, das nicht erreicht werden kann, aber doch unermüdlich angestrebt werden muss, um es nicht gänzlich zu verfehlen. Dafür muss der Sozialismus über die Neuen Linken und ihre kulturalistischen und liberalen Konzepte hinausgelangen zu einer neuen Idee des Sozialen. Während eines Jahrhunderts hat der moderne Sozialismus in seinem Kampf um soziale Gleichheit Erfahrungen in Fülle gesammelt. Der Erfahrungsschatz kam aus Niederlagen und aus Siegen, er umfasst Konzepte und Institutionen. Die klassischen Institutionen der Arbeiterbewegung – Gewerkschaften, Parteien, Genossenschaften – wurden vielfach fortgebildet, und Institutionen der Staatsführung und der Selbstverwaltung traten hinzu. Die Konzepte unterschieden sich grob danach, ob sie die Gesellschaft von unten oder von oben durch den Staat organisierten, ob sie privates Eigentum an Produktionsmitteln beibehielten oder gänzlich abschafften, ob sie mit der Unvollkommenheit des alten Adam rechneten, oder ob sie – wie schon der Apostel Paulus in den Briefen an seine Gemeinden – einen Neuen Menschen bilden wollten. Die Trennlinien liefen nicht unbedingt zwischen Reformern und Revolutionären, auch nicht zwischen Demokraten und Befürwortern von Diktatur, und die Übergänge waren fließend. Am meisten demokratisch und revolutionär war das anarchistische Ideal der Selbstorganisation von unten. „Durch die Arbeiter selbst!“ war die Losung der Anarchosyndikalisten, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft ohne Staat anstrebten. In Katalonien im spanischen Bürgerkrieg errangen sie ihren größten Erfolg und erlitten sie ihre bitterste Niederlage. Auch danach noch wetterleuchteten Fouriers Phalanstèren und Proudhons Genossenschaften durch die Zeiten. In der Jugendrevolte der sechziger Jahre schien die Kommune unter schwarzroten Fahnen wieder auferstanden. Am anderen Ende der Skala stand die „Diktatur des Proletariats“ der Bolschewiki. Unter dem Etikett von Sowjets – Arbeiterräten – herrschte eine neue Funktionärsklasse absolut, stellvertretend für die Arbeiter die Macht ausübend. Daran zerbrach das revolutionäre Bündnis zwischen Bolschewiki und Anarchosyndikalisten. Dieses Modell der „Diktatur des Proletariats“ wurde mit Variationen zum Muster in den Staaten des sowjetischen Einflussbereichs nach dem Zweiten Weltkrieg, es bildete nicht nur den Kontra-
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punkt der anarchistischen Selbstorganisation, sondern auch den Gegenpol eines demokratischen Staatssozialismus. Radikale Programme haben immer einen Zug ins Fürchterliche; Visionen von Erziehungsdiktaturen oder gar von Menschenzucht entstehen. So unterschiedliche Denker wie Shaw, Trotzki und Marcuse fanden sich in diesem Punkt zusammen. Sie waren Strategen einer totalen, totalitären Aufklärung, in der die Philosophen auf dem Thron alle Fäden in der Hand halten, alles menschliche Wesen planen und lenken. George Bernard Shaws Ideen kreisten um radikale Gleichheit der Lebensumstände und liefen auf die Veredlung des Menschen durch Erziehung und erweiterte Partnerwahl hinaus. Eine neue Rasse weiser Methusalems könne so entstehen. Anders glaubte Herbert Marcuse die Natur des Menschen verändern zu können. Ohne Krieg und Überflusskonsum könnten sich die Menschen von Produktionsarbeit weitgehend befreit ihren erlösten Trieben hingeben. Seine Ideen fanden ein Echo in Rudolf Bahros Alternative einer Erziehungsdiktatur, die überflüssige materielle Bedürfnisse durch überschüssiges kulturelles Bewusstsein ablösen sollte. Nicht zufällig spross aus diesem neulinken Boden eine Ökologiebewegung, die versucht ist, wie seinerzeit Thomas Robert Malthus die Bedürfnisse der Menschen den knappen Ressourcen unterzuordnen. Zur Mobilisierung von Massenbewegungen sind solche elitären Ideen nicht geeignet. Schon Schiller spottete: „Doch weil, was ein Professor spricht, Nicht gleich zu allen dringet, So übt Natur die Mutterpflicht, Und sorgt, dass nie die Kette bricht, Und dass der Reif nie springet. Einstweilen, bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält, Erhält sie das Getriebe Durch Hunger und durch Liebe“.6 Die fruchtbareren Erfahrungen sind deshalb Kompromisse, die das Bedürfnis des Einzelnen mit dem Gesamtinteresse, die Selbstverwaltung mit dem Staat verbinden. Auch die Gleichheit kann nicht in Selbstorganisation, sondern nur durch Institutionen, also durch staatliche Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gesichert werden. Das schwedische Volksheim verankerte korporative Machtbeteiligung der Gewerkschaften und soziale Bürgerrechte institutionell. Auch der republikanische Sozialismus der Partei von Jaurès und das Rote Wien von Otto Bauers Sozialdemokraten stehen für einen demokratischen Staatssozialismus. Eine ähnliche Richtung nahm der Agrarsozialismus Alexander Stambolijskis. Sie alle dachten staatstragend und demokratisch und unterlagen doch dem Furor ihrer konservativen Gegner. Gleichheitsstreben zieht nicht notwendig die allgemeine Sozialisierung von Produktionsmitteln nach sich. Nur das sowjetische Modell forderte das. Das schwedische Volksheim bewahrte das privatkapitalistische Eigentum an Produktionsmitteln. Es war auf den gesetzlich regulierten Konsens von Unternehmern und Gewerkschaften gebaut und setzte auf Umver6
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teilung durch Steuern – erfolgreich, denn Gleichheitsstreben und Wohlstand konnten beeindruckend verbunden werden. Ergänzend entwickelte sich ein umfangreicher staatlicher Verwaltungs- und Dienstleistungssektor. Myrdal unterschied genau zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft. Die Marktwirtschaft wollte er unbedingt erhalten, dem Kapitalismus aber die engen Zügel des Sozialstaats anlegen. Der ungezügelte Kapitalismus werde anderenfalls den Markt durch seine Monopole und seine globalen Zusammenschlüsse zerstören. Auch Proudhon, der verkündete, dass Eigentum Diebstahl sei, meinte damit nicht das Arbeitseigentum der Handwerker und Bauern; der Anarchosyndikalismus hielt am Arbeitseigentum als Grundlage genossenschaftlicher Organisation fest. Auch alle sozialistischen Agrarprogramme jenseits der sowjetischen Kolchoswirtschaft kombinierten wie Stambolijskis Bauernrepublik bäuerliche Wirtschaft und Genossenschaften für produktionsnahe Infrastruktur und Marktzugang. Kautsky war letztlich in der Agrardebatte Eduard David unterlegen, so wie im Revisionismusstreit Bernstein Recht behalten hat. Mit dem Ende des zentralstaatlichen Sozialismus sowjetischen Typs sind also keineswegs alle Varianten des Sozialismus gescheitert. Wenn die sozialen Probleme Europas auch wieder aufspringen, als hätte es alle diese sozialistischen Theorien, Programme, Lösungsversuche nicht gegeben, so wird dieser Erfahrungsschatz doch auf längere Sicht kaum unberücksichtigt bleiben. In der Krise nehmen spanische Arbeiter in anarchosyndikalistischer Tradition Unternehmen in gemeinschaftliche Regie. Vielfältig wird an das uralte europäische Erbe der Gemeinwirtschaft angeknüpft; dafür gab es einen Wirtschaftsnobelpreis, der Gunnar Myrdal Freude gemacht hätte.7 Die Arbeitenden wehren sich gegen den Abbau des Sozialstaats in Europa. Neue Visionen entwickeln sich. Nach Irrtümern, Irrwegen und Niederlagen des europäischen Sozialismus bleibt entschieden mehr als Schmach, Schrecken und verlorene Illusionen, denn die Weltgeschichte ist nicht das Weltgericht, sie ist Evolution menschlicher Gesellschaft. Und Atlas kann die Welt nicht nur auf der rechten Schulter tragen.
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Abbildungsverzeichnis Karl Kautsky (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
12
Karl und Luise Kautsky vor ihrem Haus in Berlin-Friedenau um 1912 (Zeichnung: Robert Himmelsbach)
31
George Bernard Shaw (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
46
George Bernard Shaw in Ayot Saint Lawrence, auf seine zum Sonnenlicht rotierende Schreibhütte schauend (Zeichnung: Robert Himmelsbach)
76
Jean Jaurès (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
84
Jean Jaurès spricht am 25. Mai 1913 gegen die Wehrpflicht (Zeichnung: Robert Himmelsbach)
110
Józef Klemens Piłsudski (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
120
Józef Klemens Piłsudski mit dem Lieblingspferd Kasztanka an der österreichisch-russischen Front 1914 (Zeichnung: Robert Himmelsbach)
146
Alexander Stambolijski (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
160
Stambolijski im Licht des Kerkerfensters schreibend (Zeichnung: Robert Himmelsbach)
182
Wladimir Medem (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
202
Die Synagoge in Minsk um 1900 (Zeichnung: Robert Himmelsbach)
214
Leo Trotzki (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
240
Leo Trotzki spricht aus seinem gepanzerten Zug zu Rotarmisten (Zeichnung: Robert Himmelsbach)
271
Otto Bauer (Zeichnung: Tilo Himmelbach)
290
Bauer als Außenstaatssekretär 1919 (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
307
Andreu Nin (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
334
Manifestation der POUM (Zeichnung: Robert Himmelsbach)
359
Josip Broz Tito (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
370 539
Der Lange Marsch der Partisanen (Zeichnung: Robert Himmelsbach)
385
Herbert Marcuse (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
408
Herbert Marcuse 1967 im Audimax der Freien Universität in Westberlin (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
435
Alva und Gunnar Myrdal (Zeichnung: Tilo Himmelsbach)
446
Die „Firma Myrdal“ am Werk in den dreißiger Jahren (Zeichnung: Tilo Himmelsbach) 459
540
Personenregister A Abramowitsch, Rafail (1880 – 1963) 231, 331, 366 Abramowski, Edward (1868 – 1918) 128 Acheson, Dean (1893 – 1971) 422 Adler, Friedrich (1879 – 1960) 13, 25, 43, 80, 82, 254, 266, 291 f., 300 – 303, 305 f., 309, 313, 316, 323, 331 – 333, 366 Adler, Kathia (1879 – 1969) 333 Adler, Max (1873 – 1937) 31, 254, 291, 293 f., 296, 306, 323 Adler, Victor (1852 – 1918) 17, 21, 28, 36, 38, 43, 67, 108, 245, 254, 294, 299, 300 f., 303 – 305, 318 f., 328 Adorno, Theodor W. (1903 – 1969) 415, 417 f., 428 f., 433, 438 f., 444 Åhrén, Uno (1897 – 1977) 453 Alba, Victor, eigentl. Pere Pagès (1916 – 2003) 342, 355, 360, 363 – 365, 367 Aleksandrow, Todor (1881 – 1924) 195 f. Alexander I., König von Jugoslawien (1888 – 1934) 378 Alexander II., russ. Zar (1818 – 1881) 17, 123, 180, 205 Alexander III., russ. Zar (1845 – 1894) 124 Allemane, Jean (1843 – 1935) 102 Alter, Wiktor (1890 – 1943) 237 f. Anin-Schatz, Maxim (1885 – 1975) 229 Antón, Francisco Sanz (1909 – 1976) 365 Antonow, Alexander Stepanowitsch (1888 – 1922) 272
Antonow-Owsejenko, Wladimir (1883 – 1939) 362 f., 367 Aragon, Louis (1897 – 1982) 114, 368 Archer, William (1856 – 1924) 50 Arendt, Hannah (1906 – 1975) 413 Aristoteles (384 – 322 v. u. Z.) 67, 355 Arlandis, Hilario (1888 – 1939) 343 f., 347 f. Äsop (620 – 564 v. u. Z.) 416 Astor, Nancy (1879 – 1964) 81 Astor, Waldorf (1879 – 1952) 81 Atatürk, eigentl. Mustafa Kemal (1881 – 1938) 178 Attlee, Clement (1883 – 1967) 64 Auer, Ignaz (1846 – 1907) 32 Augustus (63 v. u. Z. – 14 n. u. Z.) 79 Austerlitz, Friedrich (1862 – 1931) 316 f., 322 Aveling, Edward (1849 – 1898) 53 f., 57, 75 Axelrod, Pawel Borissowitsch (1850 – 1928) 206, 246 f.
B Babeuf, François Noël (1760 – 1797) 93, 96 Bacon, Francis (1561 – 1626) 67 Bahro, Rudolf (1935 – 1997) 442 – 444, 483 Bakalow-Zerkowski, Zanko (1869 – 1926) 165 – 168, 173, 176, 178, 186, 190, 197 Bakunin, Michail Alexandrowitsch (1814 – 1876) 8, 32, 53, 71, 93 – 95, 127, 221, 338, 341, 345, 349 f., 436, 477 Bartel, Kazimierz (1882 – 1941) 154 Basile, Carlo Emanuele (1885 – 1972) 79
541
Battenberg, Alexander, Fürst Alexander I. von Bulgarien (1857 – 1893) 162, 167 Bauer, Helene, geb. Gumplowicz, gesch. Landau (1871 – 1942) 126, 132, 299 f., 312, 317, 329 f., 332 f. Bauer, Ida (1882 – 1945) 292 Bauer, Karl 293 Bauer, Katharina, geb. Gerber (1862 – 1912) 292 Bauer, Lucia (1912 – 1937) 380 Bauer, Otto (1881 – 1938) 43, 126, 131 f., 229, 254, 258, 266, 269, 291 – 333, 366, 372, 374 f., 377, 392, 402, 405, 416, 453, 478 – 480, 483 Bauer, Philipp (1853 – 1913) 292 Bebel, August (1840 – 1913) 19, 22 f., 25, 27 f., 32, 36 f., 39, 68, 82, 90, 104 f., 107, 109, 249, 302, 305, 374, 478 Beck, Józef (1894 – 1944) 155 Beckett, Samuel (1906 – 1989) 48, 445, 482 Beer, Max (1864 – 1943) 52 f., 56, 65, 68 f., 74, 105 Beethoven, Ludwig van (1770 – 1827) 392, 418 Belinski, Wissarion Grigorjewitsch (1811 – 1848) 245 Beloussowa, Pelageja (1904 – 1967) 375 f., 380 Beneš, Edvard (1884 – 1948) 193 Ben Gurion, David (1886 – 1973) 228 Benjamin, Walter (1892 – 1940) 415, 418, 430, 477 Bentham, Jeremy (1748 – 1832) 244 Bergson, Henri (1859 – 1941) 72, 87 Bernstein, Eduard (1850 – 1932) 19, 22 f., 25 – 33, 39, 64, 67 f., 102 f., 171, 176, 213, 255, 291, 339, 484 Besant, Annie (1847 – 1933) 55 f., 59, 75 Bismarck, Otto von (1815 – 1898) 2, 10, 18, 22 f., 88 Blagoew, Dimitar (1856 – 1924) 163, 165, 168 f., 171, 179 f., 184 Bland, Edith (1858 – 1924) 75 Bland, Hubert (1855 – 1914) 55, 59, 63, 75
542
Blanqui, Louis-Auguste (1805 – 1881) 92, 94, 96, 101 f., 127, 251 Blavatsky, Helena (1831 – 1891) 55 Bloch, Ernst (1885 – 1977) 396, 437 Blum, Léon (1872 – 1950) 89, 331 Bobrzyński, Michał (1849 – 1935) 143 Bogdanow, Alexander Alexandrowitsch (1873 – 1928) 169, 261 f., 296, 345 f. Böhm, Wilhelm (1880 – 1949) 308 Böhm-Bawerk, Eugen von (1851 – 1914) 293 Bojadshiew, Iwan 194 f. Borghi, Armando (1882 – 1968) 346, 349 f. Boris III., Zar von Bulgarien (1894 – 1943) 184, 196 Borochow, Ber (1881 – 1917) 227 f. Boulanger, Georges (1837 – 1891) 94, 108, 112 Bourchier, James David (1850 – 1920) 192 Bourdieu, Pierre (1930 – 2002) 479 Brandeis, Louis (1856 – 1941) 428 Brandler, Heinrich (1881 – 1967) 280, 360 Brandt, Willy (1913 – 1992) 360, 463 f. Branting, Hjalmar (1860 – 1925) 301 Braun, Heinrich (1854 – 1927) 21 f. Braunthal, Julius (1891 – 1972) 310, 325, 327, 333 Brecht, Bertolt (1898 – 1956) 411, 417 f. Brehm, Alfred (1829 – 1884) 20 Breitner, Hugo (1873 – 1946) 317 Brentano, Lujo (1844 – 1931) 22, 31 Breschkowskaja, Jekaterina (1844 – 1934) 211 Breton, André (1896 – 1966) 287 Briand, Aristide (1862 – 1932) 102, 105, 107 Bronstein, Alexandra Lwowna (1872 – 1938) 244 – 246, 279, 284, 286 Bronstein, Anna Lwowna (1850 – 1910) 242 Bronstein, Dawid Leontjewitsch (1847 – 1922) 242, 270 Bronstein, Nina (1902 – 1928) 245, 260, 279, 281, 284, 286
Bronstein, Sinaida (1901 – 1933) 245, 260, 279, 281, 284 Brouckère, Louis de (1870 – 1951) 13, 332 Brousse, Paul (1844 – 1912) 96, 102 Broz, Aleksandar Mišo (geb. 1941) 380 Broz, Franjo (1857 – nach 1920) 373 Broz, Marija, geb. Javeršek (1866 – 1918) 373 Broz, Žarko (1924 – 1995) 376, 380, 393 Brügel, Fritz (1897 – 1955) 328 Brussilow, Alexej Alexejewitsch (1853 – 1926) 145 Bucharin, Nikolai Iwanowitsch (1888 – 1938) 198, 266, 276 f., 279 f., 282, 287, 345, 349, 378 Buckle, Henry Thomas (1821 – 1862) 67 Budisavljević, Jovanka (1924 – 2013) 393 Budjonny, Semjon Michailowitsch (1883 – 1973) 149, 269 Bühler, Charlotte (1893 – 1974) 451 Bülow, Bernhard von (1849 – 1929) 30 Bunche, Ralph (1903 – 1971) 461 Burns, John Elliot (1858 – 1943) 62 Butler, Samuel (1835 – 1902) 72 Buttinger, Joseph (1906 – 1992) 327
C Caballero, Francisco Largo (1869 – 1946) 354, 358, 365, 367 Cabrini, Angiolo (1869 – 1937) 108 Calvignac, Jean-Baptiste (1854 – 1934) 91 Cambó, Francesc (1876 – 1947) 354 Carnegie, Andrew (1835 – 1919) 460 Cäsar, Gaius Iulius (100 – 44 v. u. Z.) 80 Cassel, Gustav (1866 – 1945) 449 – 453, 456 Chemeriski, Alexander (1880 – 193?) 214 f. Chesterton, Gilbert Keith (1874 – 1936) 47 Chiang Kai-schek (1887 – 1975) 280 Chlumsky, Adolph (1842 – 1919) 15 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch (1894 – 1971) 399, 424 Churchill, Winston (1874 – 1965) 180, 286, 387, 391 Clarke, William (1852 – 1901) 59
Clemenceau, Georges (1841 – 1929) 78, 185, 310 Cole, G.D.H. (1889 – 1959) 311 Combes, Émile (1835 – 1921) 103 Companys, Lluís (1882 – 1940) 357 – 359, 363 Comte, Auguste (1798 – 1857) 123 Cromwell, Oliver (1599 – 1658) 80 Curzon, George (1859 – 1925) 150, 192 Czernin, Ottokar Graf (1872 – 1932) 303
D d’Arc, Jeanne (1412 – 1431) 74 Dan, Lydia (1878 – 1963) 301 Dan, Theodor/Fedor (1871 – 1947) 43, 301 f., 331 f. Danew, Stojan (1858 – 1949) 181 Danneberg, Robert (1882 – 1942) 308, 317 Danton, Georges (1759 – 1794) 100, 331 Darwin, Charles (1809 – 1882) 18 – 20, 72, 292 Daskalow, Raiko (1886 – 1923) 162, 173, 181 – 184, 186, 196 f., 199 Daszyński, Ignacy (1866 – 1936) 143, 147, 150, 152, 157, 299 David, Eduard (1863 – 1930) 176, 319, 484 Davis, Angela (geb. 1944) 431 – 433, 436, 438, 441, 444 Dedijer, Vladimir (1914 – 1990) 372, 384 Delacroix, Eugène (1798 – 1863) 441 Deltour, Félix (1822 – 1904) 87 Denikin, Anton Iwanowitsch (1872 – 1947) 270 Deutsch, Julius (1884 – 1968) 304 f., 309 f., 326, 426 Dewey, John (1859 – 1952) 190, 287 f., 452 Diamant, Max (1908 – 1992) 360 Dickens, Charles (1812 – 1870) 65 Diederichs, Eugen (1867 – 1930) 111 Dietz, Johann Heinrich Wilhelm (1843 – 1922) 21 Dilthey, Wilhelm (1833 – 1911) 413 Dimitrow, Alexander (ca. 1878 – 1921) 173, 181 f., 185 f., 192, 194 – 196
543
Dimitrow, Georgi (1882 – 1949) 198 f., 285, 331, 378, 380, 383, 386 f., 390 Disraeli, Benjamin (1804 – 1881) 53 Djilas, Milovan (1911 – 1995) 372, 380 – 382, 384, 388, 390 – 393, 399, 402 Dmowski, Roman (1864 – 1939) 136 f., 139 – 141, 147 f., 151, 157 Döblin, Alfred (1878 – 1957) 411 Dollfuß, Engelbert (1892 – 1934) 14, 324 – 327, 329, 379 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch (1821 – 1881) 145, 353 Dragiew, Dimitar (1869 – 1943) 166 – 168, 173, 182, 184 Dreyfus, Alfred (1859 – 1935) 99 – 103, 108, 111 f., 116, 217 Dubček, Alexander (1921 – 1992) 397 Dumas, Alexandre (1802 – 1870) 138 Dupuy, Charles (1870 – 1923) 99 Durkheim, Émile (1858 – 1917) 87 Dutschke, Gretchen (geb. 1942) 437 Dutschke, Rudi (1940 – 1979) 433, 437 f., 440, 442 – 444 Dzierżyński, Feliks (1877 – 1926) 138, 232
E Ebert, Friedrich (1871 – 1925) 39, 313 Ehrenburg, Ilja Grigorjewitsch (1891 – 1967) 155, 368 Eidelman, Boris (1867 – 1939) 208 Einstein, Albert (1879 – 1955) 81 Eisenstadt, Isaiah Judin (1867 – 1937) 224, 226, 230 Eisner, Kurt (1867 – 1919) 31, 34, 39, 295 Ellenbogen, Wilhelm (1863 – 1951) 316, 329 Engels, Friedrich (1820 – 1895) 3 f., 6, 8, 14 f., 20 – 26, 28 f., 34, 52, 56, 64, 95, 102, 127, 253, 259, 393, 414, 426 Erdödy, Gräfin Anna Maria von (1779 – 1837) 373 Erlich, Henryk (1882 – 1942) 233, 235, 237 f.
544
F Fabius Cunctator (280 – 203 v. u. Z.) 54 Ferdinand I., Fürst von Bulgarien (1861 – 1948) 162 f., 177, 180 f., 183 Ferrer, Francisco (1859 – 1909) 337 Ferry, Jules (1832 – 1893) 88 Feuchtwanger, Lion (1884 – 1958) 286 Fey, Emil (1886 – 1938) 325 Fichte, Johann Gottlieb (1762 – 1814) 89 f. Fidel Castro Ruz (geb. 1926) 402 Fischer, Ernst (1899 – 1972) 199, 322, 327, 329, 331 f., 422 Fischer, Ruth (1895 – 1961) 285 Fischer, Samuel (1859 – 1934) 16 Fourier, Charles (1772 – 1837) 3, 57, 77, 93, 406, 427, 437, 459, 482 Fraenkel, Siegbert Martin (1883 – 1941) 411 Franco, Francisco (1892 – 1975) 335, 356 – 358, 361 – 367 Franzel, Emil (1901 – 1976) 327 Freud, Sigmund (1856 – 1939) 133, 292, 409, 426 – 428, 430, 433, 450 Freyberger, Ludwig (1865 – 1934) 25 Fried, Erich (1921 – 1988) 328 Fromm, Erich (1900 – 1980) 396, 415 f. Frumkin, Boris Markowitsch (1872 – nach 1939) 228
G Galliffet, Gaston de (1830 – 1909) 101 Gandhi, Indira (1917 – 1984) 402 Gapon, Georgi Apollonowitsch (1870 – 1906) 225 Garbo, Greta (1905 – 1990) 458 Gaudí, Antoni (1852 – 1926) 337 Gaulle, Charles de (1890 – 1970) 436 George, Henry (1839 – 1897) 51 f., 59 George, Stefan (1868 – 1933) 412 Georgiew, Nedeltscho (1876 – 1925) 182 Gerő, Ernő (1898 – 1980) 365, 367 Gerschenkron, Alexander (1904 – 1978) 163 f., 176, 191, 200, 253, 282
Gerschuni, Grigori Andrejewitsch (1870 – 1908) 211 Geschow, Iwan (1849 – 1924) 181 Glöckel, Otto (1874 – 1935) 317 f. Gogol, Nikolai Wassiljewitsch (1809 – 1852) 245 Goldman, Emma (1869 – 1940) 272, 346 Goldman, Lucien (1913 – 1970) 396 Goldstein, Bernard (1889 – 1959) 237 Gollwitzer, Helmut (1908 – 1993) 437 Gömbös, Gyula (1886 – 1936) 326 Göring, Hermann (1893 – 1946) 156, 199 Gorki, Maxim (1868 – 1936) 81, 245, 261 f., 270, 273, 351, 379 Gorkić, Milan (1904 – 1937) 379 Gorkin, Julián (1901 – 1987) 363 – 367, 369 Goya, Francisco de (1746 – 1828) 418 Grabski, Władysław (1874 – 1938) 128, 172 Gramsci, Antonio (1891 – 1937) 98, 481 Greulich, Herman (1842 – 1925) 108, 127 Grillparzer, Franz (1791 – 1872) 164, 292 Grosser, Bronisław Slawek (1883 – 1912) 216, 224, 231 Grünberg, Carl (1861 – 1940) 414 f. Guesde, Jules (1845 – 1922) 93, 95, 101, 103 – 106, 112 Gumplowicz, Ludwig (1838 – 1909) 299 Gumplowicz, Władysław (1869 – 1942) 126
H Haas, Herta (1914 – 2010) 380, 387 Haase, Hugo (1863 – 1919) 39, 115 Habermas, Jürgen (geb. 1929) 396, 410, 433, 443 f. Haeckel, Ernst (1834 – 1919) 18 – 20 Haller, Józef (1873 – 1960) 147, 149, 155 Hallström, Per (1866 – 1960) 73 Hammarskjöld, Dag (1905 – 1961) 467 Hamsun, Knut (1859 – 1952) 210 Hannibal (um 246 – 183 v. u. Z.) 54 Hansson, Per Albin (1885 – 1946) 454, 457, 463 Hanusch, Ferdinand (1866 – 1923) 311, 319 Hardie, Keir (1856 – 1915) 62 Hauptmann, Gerhart (1862 – 1946) 245
Hayek, Friedrich August von (1899 – 1992) 448, 450, 471 f. Heckert, Fritz (1884 – 1936) 349 Heckscher, Ebba (1874 – 1960) 456 Heckscher, Eli Filip (1879 – 1952) 456 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770 – 1831) 21, 27, 59, 89 f., 294, 409, 412 f., 416, 418 f., 434, 477, 481 Heidegger, Martin (1889 – 1976) 409, 411 – 414, 422, 426 f. Heine, Heinrich (1797 – 1856) 1, 4, 481 Heller, Ágnes (geb. 1929) 396 Herder, Johann Gottfried (1744 – 1803) 421 Herr, Lucien (1864 – 1926) 89, 100 Hervé, Gustave (1871 – 1944) 37, 106, 108 f., 112 Herzen, Alexander Iwanowitsch (1812 – 1870) 124, 127, 477 Herzl, Theodor (1860 – 1904) 215, 227, 292 Hilferding, Rudolf (1877 – 1941) 29, 41, 255, 291, 293 f., 299, 312, 412, 424 Hillebrand, Oswald (1879 – 1926) 308 Hitler, Adolf (1889 – 1945) 80 f., 156, 285 f., 298, 332, 326, 352, 361, 365, 372, 382, 387, 413, 425, 463 Höchberg, Karl (1853 – 1885) 18 – 21, 26 Hodža, Milan (1878 – 1944) 176, 199, 320 Homer (800 – 701 v. u. Z.) 210 Horkheimer, Max (1895 – 1973) 414 – 419, 423, 428 f., 434, 438 f., 444 Hoxha, Enver (1908 – 1985) 390 Hryniewiecki, Ignacy (1855 – 1881) 123 Hudson, Duane Tyrrel (1910 – 1995) 383 Hughes, Stuart H. (1916 – 1999) 419 f., 422 Hus, Jan (um 1369 – 1415) 15 Husserl, Edmund (1859 – 1938) 414 Hutchinson, Henry Hunt (? – 1894) 56, 65 Huysmans, Camille (1871 – 1968) 13, 116 Hyndman, Henry Mayers (1842 – 1921) 52 – 54, 64, 67, 95
I Ibáñez, Jesús (1928 – 1992) 343 f., 348 Ibárruri, Dolores (1895 – 1989) 362, 365 Ibsen, Henrik (1828 – 1906) 69 f., 245 545
Iglesias, Pablo (1850 – 1925) 338 f. Isaac, William (1863 – 1947) 242, 452
J Jabotinsky, Wladimir (1880 – 1940) 228 Jäger, Gustav (1832 – 1917) 51 Jahoda, Marie (1907 – 2001) 324, 416 Jaich, Anton (1804 – 1871) 14 Jaspers, Karl (1883 – 1969) 413 Jaurès, Benjamin (1823 – 1889) 88 Jaurès, Jean (1859 – 1914) 3, 31, 37, 44, 68, 78, 82, 85 – 118, 180, 187, 246, 249, 260, 269, 274, 295, 314 f., 478, 483 Jaurès, Louis (1860 – 1937) 86 Jaurès, Louise, geb. Bois (1867 – 1931) 87, 105 Jędrzejewicz, Janusz (1885 – 1951) 155 Jevons, William Stanley (1835 – 1882) 59 Jodko-Narkiewicz, Witold (1864 – 1924) 132, 143 Joffe, Adolf (1883 – 1927) 255, 261 f., 266, 278, 281 Jogiches, Leo (1867 – 1919) 126, 129 f., 134 f., 137, 206 Joyce, James (1882 – 1941) 48 Jurenew, Konstantin Konstantinowitsch (1888 – 1938) 261
K Kahlo, Frida (1907 – 1954) 287 Kamenew, Lew Borissowitsch (1883 – 1936) 43, 256, 262, 264 – 266, 270, 278 f., 281, 286, 360 Kamenewa, Olga Dawidowna, geb. Bronstein (1883 – 1941) 218, 256 Kant, Immanuel (1724 – 1804) 4, 89 f., 294 f., 433 Kaplan, Jaschka (1879? – ?) 210 – 212 Kapp, Wolfgang (1858 – 1922) 311, 323 Kardelj, Edvard (1910 – 1979) 371 f., 380 f., 388 – 395, 397, 399, 402 – 405 Karl I., Kaiser von Österreich (1887 – 1922) 147, 301, 304
546
Karl VII., König von Frankreich (1403 – 1461) 74 Kasprzak, Marcin (1860 – 1905) 129 Katayama, Sen (1859 – 1933) 139 Katharina II., russ. Zarin (1729 – 1796) 204, 242 Katz, David 208 Kautsky, Benedikt (1894 – 1960) 44 Kautsky, Felix (1892 – 1953) 44 Kautsky, Hans (1864 – 1937) 36 Kautsky, Johann (1827 – 1896) 14 f. Kautsky, Karl (1854 – 1938) 13 – 44, 53, 57, 67, 72, 79, 88, 95, 97, 102 – 104, 109, 131, 165, 168 – 171, 176, 179, 198 f., 207, 210, 217 – 220, 223, 234, 248, 253 – 256, 273 f., 291, 293 – 295, 297, 300 – 302, 312, 319, 331, 339, 374, 412, 424, 478 – 480, 484 Kautsky, Karl, sein Sohn (1891 – 1938) 44 Kautsky, Louise, geb. Strasser (1860 – 1950) 25 Kautsky, Luise, geb. Ronsperger (1864 – 1944) 14, 25, 28, 31, 33, 36, 44, 198 Kautsky, Minna, geb. Jaich (1837 – 1912) 14 – 16, 25 Kautsky, Minna, deren Tochter (1856 – ?) 15 Keller, Gottfried (1819 – 1890) 57, 411 Kelles-Krauz, Kazimierz (1872 – 1905) 138 Kelsen, Hans (1881 – 1973) 312 Kennedy, John F. (1917 – 1963) 440, 432 Kennedy, Robert F. (1925 – 1968) 440 Kerenski, Alexander Fjodorowitsch (1881 – 1970) 185, 198, 262 – 265, 315, 375 Kerr, Alfred (1867 – 1948) 71 Kessler, Harry Graf (1868 – 1937) 145, 148 Keynes, John Maynard (1883 – 1946) 78, 82, 309, 453, 475 Kidrič, Boris (1912 – 1953) 392 King, Martin Luther (1929 – 1968) 440 Kingsley, Charles (1819 – 1875) 77 Kirow, Sergei Mironowitsch (1886 – 1934) 286
Kisch, Egon Erwin (1885 – 1948) 411 Kołakowski, Leszek (1927 – 2009) 396 Kolarow, Wasil (1877 – 1950) 198 Kollontai, Alexandra (1872 – 1952) 259, 275, 346 Koltschak, Alexander Wassiljewitsch (1874 – 1920) 270, 274, 375 Kopelson, Semach (1869 – 1933) 206, 208 Korfanty, Wojciech (1873 – 1939) 157 Kornilow, Lawr Georgijewitsch (1870 – 1918) 198, 263, 270 Korsch, Karl (1886 – 1961) 20, 42, 412 Kościuszko, Tadeusz (1746 – 1817) 135 Kossowski, Wladimir (1877 – 1941) 206, 208, 217 f., 220, 224, 226, 230 Kostow, Traitscho (1897 – 1949) 391 Krassin, Leonid Borissowitsch (1870 – 1926) 250 Kraus, Karl (1874 – 1936) 292, 313 Kreisky, Bruno (1911 – 1990) 330, 332, 463 Kremer, Arkadi (1865 – 1935) 134 f., 206 – 208, 211, 213, 216 – 218, 220, 226 Kristan, Etbin (1867 – 1953) 295, 377, 381, 403 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch (1842 – 1921) 20, 32, 53, 57, 93, 169, 270, 338, 341 f., 345 Krupskaja, Nadeshda (1869 – 1939) 81 Kubrick, Stanley (1928 – 1999) 11 Kühn, Julius (1825 – 1910) 172 Kun, Béla (1886 – 1938) 308, 375
L Lafargue, Paul (1842 – 1911) 22, 93, 95 – 99, 106 Lagerlöf, Selma (1858 – 1940) 458 Lamarck, Jean-Baptiste de (1744 – 1829) 72 Landau, Katia (1905 – nach 1984) 366 Landau, Kurt (1903 – 1937) 366 Landau, Lech (1897 – 1920) 299, 317 Landau, Max (1860 – 1927) 299 Landau, Olga (1899 – 1900) 299 Landau, Władysław Henryk (1901 – 1933) 299, 329 Landau, Zbigniew (geb. 1931) 329
Landauer, Gustav (1870 – 1919) 410 Landy, Stanisław (1855 – 1915) 124 f. Lange, Friedrich Albert (1828 – 1875) 17 Lanzer, Felix (1898 – 1939?) 317, 329 Lanzer, Wanda (1896 – 1980) 299, 317, 329 Lanzer-Sillén, Helma (geb. 1931) 299 Lassalle, Ferdinand (1825 – 1864) 3, 16 f., 23, 28, 32, 53, 133 Lawrow, Pjotr Lawrowitsch (1823 – 1900) 127, 135, 175 Lazard, Max (1875 – 1953) 189 Lazarsfeld, Paul (1901 – 1976) 324, 416 Lee, George Vandeleur (1830 – 1886) 49 f. Leichter, Käthe (1895 – 1942) 328, 416 Leichter, Otto (1897 – 1973) 310, 316 f., 325, 327 – 329, 333, 416 f. Lenin, Wladimir Iljitsch (1870 – 1924) 14, 29, 32, 35, 37, 39, 42 – 44, 52 f., 79, 81, 109, 124, 131, 149 f., 169, 186, 194, 198 f., 203, 210, 213, 219, 221 – 224, 229, 231, 233 f., 236, 241 f., 244 – 250, 252 f., 256 – 270, 272 – 279, 281, 287, 293, 296 – 298, 302 – 304, 327, 331 f., 345 f., 350 – 352, 360, 367, 378, 381 f., 392, 394 – 396, 399, 402, 404 f., 419, 424, 477, 479 f. Lentz, Stanisław (1861 – 1920) 6 f. Leser, Norbert (geb. 1933) 314, 327, 333 Leval, Gaston (1895 – 1978) 343 f., 347 f. Levenstein, Adolf (1870 – 1942) 10, 28 Levin, Scholem (1883 – 1968) 211 Levy, Paul (1886 – 1971) 43 Lévy-Bruhl, Lucien (1857 – 1939) 87, 90 Lewandowska, Leonarda 125 Liber, Mark (1880 – 1937) 220, 222, 230, 237 Lieberman, Herman (1870 – 1941) 299 Liebknecht, Karl (1871 – 1919) 39, 82, 254 f., 313, 323, 366, 410 Liebknecht, Wilhelm (1826 – 1900) 19, 21 – 23, 39, 53, 64, 82, 102, 124, 127, 132, 305 Limanowski, Bolesław (1835 – 1935) 128, 148 List, Friedrich (1789 – 1846) 162
547
Litwak, Abraham, eigentl. Chaim Jankl Helfand (1874 – 1932) 207 f., 231 Litwinow, Maxim Maximowitsch (1876 – 1951) 81 Lloyd George, David (1863 – 1945) 78, 192 Loach, Ken (geb. 1936) 336 London, Jack (1876 – 1916) 374 Longuet, Jean (1876 – 1938) 103, 309 Losowski, Alexander, ursprüngl. Solomon Abramowitsch Dridso (1878 – 1952) 259, 346, 348 – 353 Löwenthal, Leo (1900 – 1993) 415 Lubomirski, Zdzisław (1865 – 1943) 147 f. Lueger, Karl (1844 – 1910) 292 Lukács, Georg (1885 – 1971) 42, 396, 411 f., 434 Lunatscharski, Anatoli Wassiljewitsch (1875 – 1933) 81 f. , 249 f., 259 – 262, 346 Luther, Martin (1483 – 1546) 89 f., 416, 421 Lüttwitz, Walther von (1859 – 1942) 323 Luxemburg, Rosa (1871 – 1919) 16, 26 f., 33-43, 103 f.,109, 129 – 132, 134 – 137, 142, 206, 219, 221, 223, 229, 248 f., 254 f., 296, 313, 323, 366, 410, 422, 479 f. Lwow, Georgi Fürst (1861 – 1925) 262 Lyssenko, Trofim Denissowitsch (1898 – 1976) 72
M MacDonald, James Ramsay (1866 – 1937) 55, 62 – 64, 77 f., 80, 85, 112, 192, 255 Machno, Nestor (1888 – 1934) 270, 272, 308, 347 Macià, Francesc (1859 – 1933) 349, 354 Maclean, Fitzroy (1911 – 1996) 372, 386, 393, 402 Mahler, Gustav (1860 – 1911) 292 Majakowski, Wladimir Wladimirowitsch (1893 – 1930) 116 Makarenko, Anton Semjonowitsch (1888 – 1939) 82 Malcolm X (1925 – 1965) 440 Mallarmé, Stéphane (1842 – 1898) 94 548
Malon, Benoît (1841 – 1893) 96 Malthus, Thomas Robert (1766 – 1834) 17 – 19, 451, 483 Mandel, Ernest (1923 – 1995) 396 Mandler, Karl (1905 – ?) 319, 326 Mann, Thomas (1875 – 1955) 411, 418 Mao Zedong (1893 – 1976) 384, 436, 472 Marat, Jean Paul (1744 – 1793) 331 Marchlewski, Julian (1866 – 1925) 126, 129 f., 137, 150 Marcuse, Else (1901 – ?) 441, 443 Marcuse, Erica, geb. Sherover (1938 – 1988) 441, 443 Marcuse, Erich (1905 – 1945) 410, 420 Marcuse, Gertrud (1876 – ?) 410 Marcuse, Harold (geb. 1957) 443 Marcuse, Herbert (1898 – 1979) 396 f., 409 – 445, 470, 478, 482 f. Marcuse, Inge, verwitwete Neumann (1910 – 1973) 428, 441 Marcuse, Peter (geb. 1928) 412, 428, 443 Marcuse, Sophie, geb. Wertheim (1901 – 1951) 411, 420, 422, 438 Marković, Mihailo (1923 – 2010) 396 Marković, Sima (1888 – 1939) 377 f., 381, 384 Marmorek, Hilde (1892 – 1979) 329 Marmorek, Schiller (1878 – 1943) 329 Martin des Pallières, Jeanne (1897 – 1961) 284 Martow, Julij Ossipowitsch (1873 – 1923) 37, 109, 207 f., 222, 246 – 248, 252, 258 f., 261, 263, 265, 274, 302 f., 331 Marx, Eleanor (1855 – 1898) 54, 57, 75 Marx, Jenny (1814 – 1881) 16 Marx, Karl (1818 – 1883) 3 f., 6, 8, 11, 14, 16 – 25, 27 – 30, 32 f., 42, 44, 50, 52 – 54, 56 f., 59 f., 64, 67, 71 f., 77, 90, 93 – 95, 97 f., 100, 102 f., 112, 124, 127, 168 f., 174, 203, 210, 215, 219, 245, 253, 259, 273, 276, 291 – 295, 297, 309, 324, 347, 350, 367, 378, 392 f., 395 f., 409, 412 – 416, 418 f., 424 – 427, 431, 434, 436 f., 442 – 444, 456, 468, 475, 477, 481
Masaryk, Tomáš Garrigue (1850 – 1937) 193, 269 Maslow, Arkadi (1891 – 1941) 285 Matejko, Jan (1838 – 1893) 6 Matteotti, Giacomo (1885 – 1924) 366 Mattick, Paul (1904 – 1981) 430 f. Maurice, Frederick Denison (1805 – 1872) 77 Maurín, Joaquín (1896 – 1973) 342 – 344, 347, 349, 353 – 357, 360, 364 Mayenburg, Ruth von (1907 – 1993) 348 McCarthy, Joseph Raymond (1908 – 1957) 422, 430 McNulty, Matthew Edward (1856 – 1943) 49 Medem, David (1836 – 1893) 209 f. Medem, Gina, geb. Birenzweig (1886 – 1977) 204, 226 f., 236 f. Medem, Natascha (1916 – 1917) 236 Medem, Rosalie (? – 1898) 209 f. Medem, Wladimir Dawidowitsch (1879 – 1923) 203 – 238, 242, 244, 246 f., 249, 257, 297, 316, 402, 479 f. Mehring, Franz (1846 – 1919) 22, 253, 256 Mendel, Hersch (1890 – 1969) 225 Mendelson, Stanisław (1858 – 1913) 124 – 126, 128, 134 Mercader, Ramón (1913 – 1978) 288 Meunier, Constantin (1831 – 1905) 7 Michailowski, Nikolai Konstantinowitsch (1842 – 1904) 175 Michel, Louise (1833 – 1905) 93 Michelet, Jules (1798 – 1874) 100 Mickiewicz, Adam (1798 – 1855) 123 Mihailović, Dragoljub Draža (1893 – 1946) 383 f., 387 f. Mihalache, Ion (1882 – 1963) 171 Milić, Vojin (1922 – 1996) 396 Mill, John (1870 – 1952) 135, 206, 208, 215, 217, 219 f., 222, 224 Mill, John Stuart (1806 – 1873) 17, 52, 244 Millerand, Alexandre (1859 – 1943) 96, 99, 101 – 106, 314, 359 Minew, Stojan, genannt Stepanow (1893 – 1941?) 362 f.
Mirbach, Wilhelm von (1871 – 1918) 269 Mises, Ludwig von (1881 – 1973) 293 Mitschurin, Iwan Wladimirowitsch (1855 – 1935) 72 Molkenbuhr, Hermann (1851 – 1927) 38 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch (1890 – 1986) 387 Monatte, Pierre (1881 – 1960) 343 – 345, 352 Moore, Barrington (1913 – 2005) 77, 420, 422, 424 f., 431, 433 Morgan, Lewis Henry (1818 – 1881) 176 Morgenthau, Henry (1891 – 1967) 421 Morosow, Sawwa Timofejewitsch (1862 – 1905) 250 Morris, May (1862 – 1938) 76 Morris, William (1834 – 1896) 53, 57, 59, 76 f. Morus, Thomas (1478 – 1535) 2, 77 Mościcki, Ignacy (1867 – 1946) 154 Most, Johann (1846 – 1906) 17 Mühsam, Erich (1878 – 1934) 410 Müntzer, Thomas (um 1490 – 1525) 2 Mussolini, Benito (1883 – 1945) 79 f., 83, 156, 195 f., 324 – 326, 352, 354, 361, 365, 387 Mutnik, Abraham (1868 – 1930) 208 Myrdal, Alva (1902 – 1986) 401, 447 – 475, 478, 480 Myrdal, Gunnar (1898 – 1987) 401, 447 – 475, 478, 480, 484 Myrdal, Jan (geb. 1927) 448, 450 – 452, 460, 466, 472 Myrdal, Kaj, verh. Fölster (geb. 1936) 448, 460 Myrdal, Sissela, verh. Bok (geb. 1934) 448, 460, 466
N Napoleon Bonaparte (1769 – 1821) 79 f., 204 Narutowicz, Gabriel (1865 – 1922) 152 Nasser, Gamal Abdel (1918 – 1970) 400 f. Negrín, Juan (1892 – 1956) 365 Nehru, Jawaharlal (1889 – 1964) 400 f., 467 549
Nĕmec, Anton (1858 – 1926) 38 Neumann, Franz (1900 – 1954) 415, 417, 419 – 422, 424, 428 Nietzsche, Friedrich (1844 – 1900) 6, 71 f., 87, 145, 245, 421, 427 Nin, Andreu (1892 – 1937) 286, 335 – 368, 372, 425, 478 f. Nin, Ira (1923 – ?) 348, 367 Nin, Nora (um 1927 – ?) 348, 367 Nin, Olga Pawlowa, geb. Tarejewa (1900 – 1980) 348, 353, 366 f. Ninković, Milica (1854 – 1881) 15 Nkrumah, Kwame (1909 – 1972) 400 f. Noske, Gustav (1868 – 1946) 41, 310, 313
O Obama, Barack (geb. 1961) 463 Obbow, Alexander (1887 – 1975) 199 Oberwinder, Heinrich (1845 – 1914) 16 Olivier, Sidney (1859 – 1943) 55, 59, 63 Omarschewski, Stojan (1885 – 1941) 190 f. Orlow, Alexander Michailowitsch (1895 – 1973) 365 f. Orwell, George (1903 – 1950) 335 f., 357, 360, 364, 367, 429, 444 Owen, Robert (1771 – 1858) 77
P Pabst, Waldemar (1880 – 1970) 323 Paderewski, Ignacy Jan (1860 – 1941) 148 Paine, Thomas (1737 – 1809) 81 Pantelejew, Juri Alexandrowitsch (1901 – 1983) 268 Pareto, Vilfredo (1848 – 1923) 416 Parvus, Alexander, eigentl. Israil Lasarewitsch Helphand (1867 – 1924) 27, 33, 249, 251, 254 f. Patterson, Jane (1839 – 1924) 75 Paul, Ernst (1866 – 1933) 327 Paunović, Davorjanka Zdenka (1921 – 1946) 381, 393 Payne-Townshend, Charlotte, Frau von G. B. Shaw (1857 – 1943) 56, 75, 77 Péguy, Charles (1873 – 1914) 116
550
Pelin, Elin (1877 – 1949) 164 Pelloutier, Ferdinand (1867 – 1901) 93 Perl, Feliks (1871 – 1927) 126, 134, 142 Pestaña, Ángel (1886 – 1937) 342, 344, 346, 349 Peter II., König von Jugoslawien (1923 – 1970) 382 f., 387 Petkov, Nikola (1893 – 1947) 199 Picasso, Pablo (1881 – 1973) 337 Pieck, Wilhelm (1876 – 1960) 380 Pijade, Moša (1890 – 1957) 378, 399 Piłsudska, Aleksandra, geb. Szczerbińska (1882 – 1963) 141 f., 147, 155 Piłsudska, Maria (1842 – 1884) 122 f. Piłsudska, Maria, geb. Koplewska, gesch. Juszkiewicz (1865 – 1921) 136, 141 Piłsudska, Wanda (1918 – 2001) 141, 147 Piłsudska-Jaraczewska, Jadwiga (geb. 1920) 141 Piłsudski, Bronisław (1866 – 1918) 122, 124 f. Piłsudski, Józef Klemens (1867 – 1935) 121 – 158, 196, 204, 210, 217 f., 223, 235, 245, 256, 298 f., 317, 402, 478 – 480 Piłsudski, Józef Wincenty (1833 – 1902) 122 Platon (428/427 – 348/347 v. u. Z.) 355, 443 Plechanow, Georgi Walentinowitsch (1856 – 1918) 22, 128, 135, 139, 165, 169, 176, 179, 206 – 208, 213, 215, 228, 246 – 248, 250, 252, 256, 258, 261, 294 Plehwe, Wjatscheslaw von (1846 – 1904) 214 f. Pleyl, Josef (1902 – 1989) 327 Polgar, Alfred (1873 – 1955) 88 Pollak, Oscar (1893 – 1963) 316 Pollock, Friedrich (1894 – 1970) 414, 416 f. Portney, Yekusiel Noah (1872 – 1941) 206, 230, 234 Potuček, Onkel von Karl Kautsky 15 Preobraschenski, Jewgeni Alexejewitsch (1886 – 1937) 276 – 278, 282 f., 287, 389 Protogerow, Alexander (1867 – 1928) 195 f.
Proudhon, Pierre-Joseph (1809 – 1865) 3, 17, 32, 70, 93, 95, 97, 103, 338, 341, 347, 349, 406, 481 f., 484 Prus, Bolesław (1847 – 1912) 123 Prystor, Aleksander (1874 – 1941) 155, 232
R Radek, Karl (1885 – 1939) 42, 259, 266, 283, 287, 331, 352 Radić, Stjepan (1871 – 1928) 171, 377 f. Radtschenko, Stepan (1869 – 1911) 208 Radziwiłł, Janusz (1880 – 1967) 147, 156 Rajk, László (1909 – 1949) 391 Rakowski, Christian Georgijewitsch (1873 – 1941) 171, 177, 194, 257, 259, 261, 278, 283 f. Ranković, Aleksandar Leka (1909 – 1983) 380, 388, 393 f. Rappoport, Charles Léon (1865 – 1941) 106 Reagan, Ronald (1911 – 2004) 438 Reclam, Anton Philipp (1807 – 1896) 16 Reeves, Maud Pember (1865 – 1953) 75 Reich, Wilhelm (1897 – 1957) 428 Reille, René (1835 – 1898) 89, 91 f., 99 Reimer, Albert A. (1876 – 1943) 448 Rein, Mark (1909 – 1937?) 365 Renan, Ernest (1823 – 1892) 227 Renaudel, Pierre (1871 – 1935) 102 Renner, Karl (1870 – 1950) 131, 217, 254, 291, 293 – 296, 298 f., 303 f., 306, 308, 310, 313 – 315, 318, 323 f., 333, 374 Reumann, Jakob (1853 – 1925) 319 Reymont, Władysław Stanisław (1867 – 1925) 137 Ribar, Ivan (1881 – 1968) 385 Ribar, Ivo Lola (1916 – 1943) 380, 385 Ricardo, David (1772 – 1823) 17, 59, 67, 451 Rickert, Heinrich (1863 – 1936) 294 Rivera, Diego (1886 – 1957) 343, 349, 353 f. Rivera, José Antonio Primo de (1903 – 1936) 356 Rivera, Miguel Primo de (1870 – 1930) 343, 349, 353 f.
Rjasanow, Dawid Borissowitsch (1870 – 1938) 259, 414 Robespierre, Maximilien de (1758 – 1794) 100, 248, 331 Robinson, Moritz (1884 – 1953) 330 Rocker, Rudolf (1873 – 1958) 344, 350 Rolland, Romain (1866 – 1844) 86 Roosevelt, Franklin D. (1882 – 1945) 387, 453 Roscher, Wilhelm (1817 – 1894) 17 Rosenberg, Marcel (1896 – 1937) 362, 367 Rosmer, Alfred (1877 – 1964) 259, 345, 347, 350, 352, 355 Rostow, Walt Whitman (1916 – 2003) 268 Roth, Joseph (1894 – 1939) 205 Rousseau, Jean-Jacques (1712 – 1778) 20, 466 Rydz-Śmigły, Edward (1886 – 1941) 148, 155, 158
S Sabunow, Janko (1869 – 1909) 166 – 168, 172 Sachs, Feliks (1869 – 1935) 138, 140 Saint-Simon, Claude-Henri (1760 – 1825) 77, 93 Sakasow, Janko (1860 – 1941) 162, 165, 168 f., 171, 177, 179, 184 f., 198 Sartre, Jean-Paul (1905 – 1980) 5, 412 Sassulitsch, Wera Iwanowna (1849 – 1919) 206, 246 f., 258 Scheidemann, Philipp (1865 – 1939) 39 f., 148, 313 Scheu, Andreas (1844 – 1927) 17, 51, 57 Schiller, Friedrich (1759 – 1805) 74, 114, 142, 411, 448, 483 Schitlowski, Chaim (1865 – 1943) 223, 228, 237 Schmitt, Carl (1888 – 1985) 412, 416 Schmoller, Gustav (1838 – 1917) 22, 449 Schnitzler, Arthur (1862 – 1931) 292 Schönberg, Arnold (1874 – 1951) 292 Schopenhauer, Arthur (1788 – 1860) 72 Schumpeter, Joseph Alois (1883 – 1950) 40, 82, 293, 312, 324 551
Sedow, Lew, Sohn von Leo Trotzki (1906 – 1938) 252, 254, 278 f., 281, 283 – 287 Sedow, Sergej, Sohn von Leo Trotzki (1908 – 1937) 254, 279, 281, 286 Sedowa, Natalja, Lebensgefährtin von Leo Trotzki (1882 – 1962) 246, 250, 252, 254, 261, 279, 284, 281, 286 f. Seghers, Anna (1900 – 1983) 328 Segré, Roberto (1872 – 1936) 312 Seguí, Salvador (1886 – 1923) 341 f., 349 Seipel, Ignaz (1876 – 1932) 312, 314 f., 320, 324 Seitz, Karl (1869 – 1950) 303, 305, 309, 317 f., 322, 326 Semprùn, George (1923 – 2011) 368 Serge, Victor (1890 – 1947) 281, 308, 340, 347, 352 f., 363, 367 Sering, Max (1857 – 1939) 176 Seydewitz, Max (1892 – 1987) 285 Shakespeare, William (1564 – 1616) 59, 327 Shaw, George Bernard (1856 – 1950) 26, 30, 47 – 83, 85, 88, 91, 95, 210, 282, 478, 483 Shaw, Lucinda Elizabeth, geb. Gurly (1830 – 1913) 49, 75 Shaw, Tom (1872 – 1938) 192 Shelley, Percy B. (1792 – 1822) 56 Signac, Paul (1863 – 1935) 94 Sinowjew, Grigori Jewsejewitsch (1883 – 1936) 43, 198, 262, 264 – 267, 270, 274, 278 – 281, 286 f., 349, 360 Siqueiros, David Alfaro (1896 – 1974) 288 Sitte, Willi (1921 – 2013) 7 Skobelew, Matwej (1885 – 1938) 302 Sławek, Walery (1879 – 1939) 143, 155, 157 Słowacki, Juliusz (1809 – 1849) 123 Smith, Adam (1723 – 1790) 17 Snow, Edgar (1905 – 1972) 384 Sobieski, Jan III., polnischer König (1629 – 1696) 150 Sokolnikow, Grigori Jakowlewitsch (1888 – 1939) 259, 267, 275
552
Solages, Ludovic, Marquis de (1862 – 1927) 89, 91 f., 99 f. Sombart, Werner (1863 – 1941) 5 Somm, Henry (1844 – 1907) 101 Sorel, Georges (1847 – 1922) 116, 416 Sosnkowski, Kazimierz (1885 – 1969) 143, 147 f., 154 Souchy, Augustin (1892 – 1984) 364, 367 Spartakus (+ 71 v. u. Z.) 2, 439 Spencer, Herbert (1820 – 1903) 176 Spengler, Oswald (1880 – 1936) 412 Spinoza, Baruch (Benedikt) de (1632 – 1677) 215 Spenzer, Moissej Filippowitsch (um 1859-?) 243, 270 Srednitskaja, Pati (1867 – 1943) 206 Stalin, Josef Wissarionowitsch (1878 – 1953) 43, 53, 81 – 83, 188, 196, 198 f., 229, 231, 237 f., 241, 251, 257, 265 – 268, 275, 277 – 289, 297 f., 320, 326, 330, 332, 352, 360 – 363, 365 – 367, 377 – 384, 387 – 392, 394 – 396, 399, 402, 405, 422, 424 f., 480 Stambolijska, Milena Daskalowa (1875 – 1944) 172 f., 183 Stambolijska, Nadeshda (1901 – ?) 173, 195 Stambolijski, Alexander (1879 – 1923) 161 – 200, 299, 312, 320, 377, 392, 478, 483 f. Stambolijski, Asen (1904 – ?) 173, 194 Stambolijski, Stoimen 162 Stambolijski, Wasil (1894 – 1923) 197 Stampfer, Friedrich (1874 – 1957) 34 Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch (1863 – 1938) 81 Stantschow, Dimitar (1863 – 1940) 192 Stantschowa, Nadeshda (1894 – 1957) 192 f. Starhemberg, Ernst Rüdiger (1899 – 1956) 323 Stein, Lorenz von (1815 – 1890) 419 Stepinac, Alojzije (1898 – 1960) 388 Stolypin, Pjotr Arkadjewitsch (1862 – 1911) 252 Struve, Peter (1870 – 1944) 208
Stürgkh, Karl Graf von (1859 – 1916) 300 Šubašić, Ivan (1892 – 1955) 378 f. Subatow, Sergej Wassiljewitsch (1864 – 1917) 213 – 215, 244 Sukarno (1901 – 1970) 400 f. Sulkiewicz, Aleksander (1867 – 1916) 132 f., 138 Sun Yat-sen (1866 – 1925) 280 Švehla, Antonin (1873 – 1933) 171, 193 Swerdlow, Jakow Michailowitsch (1885 – 1919) 265 Swift, Jonathan (1667 – 1745) 71 Świtalski, Kazimierz (1886 – 1962) 155 Syrkin, Nachman (1868 – 1924) 214, 227 f. Szwarce, Bronisław (1834 – 1904) 125
T Tandler, Julius (1869 – 1936) 317 f. Terry, Ellen (1847 – 1928) 76 Thatcher, Margaret (1925 – 2013) 276, 474 Thomas, Dorothy Swaine (1899 – 1977) 452 Thomas, William Isaac (1863 – 1947) 452 Tomasi di Lampedusa, Giuseppe (1896 – 1957) 2 Thorez, Maurice (1900 – 1964) 389 Thugutt, Stanisław (1873 – 1941) 152 Tiberius Gracchus (162 – 133 v. u. Z.) 2 Tito, Josip Broz (1892 – 1980) 371 – 406, 425 Tocqueville, Alexis de (1805 – 1859) 460, 471 Togliatti, Palmiro (1893 – 1964) 362, 365, 367, 388 f., 481 Toller, Ernst (1893 – 1939) 410 Tolstoi, Leo (Lew Nikolajewitsch) (1828 – 1910) 245, 249, 353 Tompkins, Molly (1898 – 1960) 79 Topalović, Živko (1886 – 1972) 24 Toulouse-Lautrec, Henri de (1864 – 1901) 94 Trebitsch, Siegfried (1869 – 1956) 69, 80 f. Trojanowski, Alexander Antonowitsch (1882 – 1955) 298
Trotzki, Leo (Lew Dawidowitsch Bronstein) (1879 – 1940) 24, 35, 42 f., 53, 64, 82, 111, 115, 142, 150, 163, 169, 171, 176, 178, 186 f., 190, 198, 210, 218 – 221, 229, 231, 233, 240 – 289, 296 – 299, 302 f., 316, 336, 345 – 347, 352 – 355, 357, 360, 362 f., 366 f., 372, 375, 382 f., 389, 394, 452, 477 f., 483 Truman, Harry S. (1884 – 1972) 422, 464 Tschajanow, Alexander Wassiljewitsch (1888 – 1937) 170, 176, 187 f., 320 Tschernow, Wiktor Michailowitsch (1873 – 1952) 185, 262, 270 Tschernyschewski, Nikolai Gawrilowitsch (1828 – 1889) 17, 93, 244 f. Tschitscherin, Georgi Wassiljewitsch (1872 – 1936) 259 Tuchatschewski, Michail Nikolajewitsch (1893 – 1937) 149, 272 Tucović, Dimitrije (1881 – 1914) 374 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch (1818 – 1883) 210 Turlakow, Marko (1872 – 1940) 173, 181 f., 185 f., 194, 197
U Uljanow, Alexander Iljitsch (1866 – 1887) 124 Urizki, Moissei Solomonowitsch (1873 – 1918) 210, 259, 261 f., 266, 269 Uspenski, Gleb Iwanowitsch (1843 – 1902) 245
V Vaillant, Edouard (1840 – 1915) 93 f., 96, 101, 105, 109 Valdés, Miguel (1900 – 1983) 364 Vandervelde, Émile (1866 – 1938) 82, 192, 198, 319 Veber, Adrien (1861 – 1932) 97 Vidali, Vittorio (1900 – 1983) 366 Villain, Raoul (1885 – 1936) 115 f. Viviani, René (1863 – 1925) 100, 102, 105 f.
553
Vollmar, Georg von (1850 – 1922) 32 Vukmanović-Tempo, Svetozar (1912 – 2000) 397
W Wagner, Richard (1813 – 1883) 50, 71, 74, 337 Waldeck-Rousseau, Pierre (1846 – 1904) 101, 105, 359 Wallas, Graham (1858 – 1932) 55, 59, 63 Wankow, Ilja (1869 – 1948) 164 f., 168 Warszawski, Adolf, genannt Warski (1868 – 1937) 126, 129 Waryński, Ludwik (1856 – 1889) 124, 126 – 128 Wasilewski, Leon (1870 – 1936) 143, 148 f. Wasow, Iwan (1850 – 1921) 164, 169 f., 191 Wat, Aleksander (1900 – 1967) 155 Webb, Beatrice, geb. Potter (1858 – 1943) 54 – 59, 63 f., 70 f., 73, 75, 77, 79, 81 f., 452 Webb, Sidney, 1. Baron Passfield (1859 – 1947) 54 – 59, 63 f., 70 f., 77, 79, 82, 213, 452 Weber, Max (1864 – 1920) 31, 156, 252, 450, 460, 482 Weil, Felix (1898 – 1975) 414 Weitling, Wilhelm (1808 – 1871) 3 Weizmann, Chaim (1874 – 1952) 217, 220 Wells, H.G. (1866 – 1946) 63 Wicksell, Knut (1851 – 1926) 449, 452 f. Wigforss, Ernst (1881 – 1977) 452, 464 Wilbuschewitsch, Manja (1880 – 1961) 214 Wilde, Oscar (1854 – 1900) 48 Wilhelm II., deutscher Kaiser (1859 – 1941) 24, 32, 107, 147 Wilson, Charlotte M. (1854 – 1944) 75 Wilson, Woodrow (1856 – 1924) 78, 131, 149, 304, 310, 480 Windelband, Wilhelm (1848 – 1915) 294 Witkop, Philipp (1880 – 1942) 411 Witos, Wincenty (1874 – 1945) 147, 150, 152 f., 157, 171, 193 f. Witte, Sergei Juljewitsch (1849 – 1915) 251 f. 554
Wittfogel, Karl August (1896 – 1988) 414 Wojciechowski, Stanisław (1869 – 1953) 132 f., 153 f. Wolf, Christa (1929 – 2011) 11 Wolkow, Sewa (Wsewolod) (geb. 1926) 284, 288, 367 Wrangel, Pjotr Nikolajewitsch (1878 – 1928) 194
Z Zankow, Asen (1883 – 1964) 198 Zereteli, Irakli (1881 – 1959) 302 Zetkin, Clara (1857 – 1933) 150, 256 Zola, Émile (1840 – 1902) 99 f., 245 Zuckmayer, Carl (1896 – 1977) 411 Zweig, Stefan (1881 – 1942) 328 Zyromski, Jean (1890 – 1975) 331