Nationalismus und Sozialismus im Befreiungskampf der Völker Asiens und Afrikas [Reprint 2021 ed.] 9783112544907, 9783112544891


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German Pages 468 [469] Year 1971

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Nationalismus und Sozialismus im Befreiungskampf der Völker Asiens und Afrikas [Reprint 2021 ed.]
 9783112544907, 9783112544891

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BEFREIUNGSKAMPF DER VÖLKER ASIENS UND AFRIKAS

DEUTSCHE AKADEMIE DER W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N

VERÖFFENTLICHUNGEN D E S INSTITUTS FÜR O R I E N T F O R S C H U N G

Nr. 74

NATIONALISMUS UND SOZIALISMUS IM BEFREIUNGSKAMPF DER VÖLKER ASIENS UND AFRIKAS

A K A D E M I E - V E R L A G 19 7 0



B E R L I N

Protokollband der Sektion I der Tagung des Instituts für Orientforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin anläßlich seines zwanzigjährigen Bestehens vom 2 3 . - 2 5 . 10. 1967. Herausgegeben von Horst Krüger

Erschienen i m Akademie-Verlag G m b H , 108 Berlin, Leipziger S t r . 3 — 4 Copyright 1970 b y Akademie-Verlag GmbH Lizenz-Nr.: 202 . 100/227/70 Offsetdruck und buchbinderische Weiterverarbeitung: V E B Druckerei „Thomas Müntzer'*, 582 B a d Langensalza Bestellnummer: 2013/74 • E S 7 L + 7 B E D V - N r . : 751 671 7 44,-

I n h a l t

Vorwort Horst K r ü g e r : Die Große Sozialistische Oktoberrevolution uhd die indische revolutionäre Befreiungsbewegung in Ausland Martin R o b b e : Nationalismus und Sozialismus im Programm revolutionär-demokratischer Kräfte des Nahen Ostens Jürgen B r a n d t : Die Politik der europäischen Mächte (besonders Frankreichs) im ostarabischen Baum vor dem 1. Weltkrieg und ihre Resonanz bei der Herausbildung der syrisch-libanesischen Nationalbewegung Eberhard S e r a u k y : Theoretische und praktische Aspekte der ökonomischen Konzeption der Baath-Partei in Syrien o Gerhard H ö p p : Uber das Verhältnis von Islam und wissenschaftlicher Weltanschauung im arabischen Raum Helmut N i m s c h o w s k i : Nationalismus und Sozialismus im aktuellen politischen Denken Algeriens Schahnas A 1 a m i : Der Kampf um die Gleichberechtigung der Frau in Iran Johannes I r m s c h e r : Klassische Altertumswissenschaft und nationalstaatliches Geschichtsbild Klaus H u t s c h e n r e u t h e r : Probleme der Nationwerdung und der Staatsentwicklung im transsaharischen Afrika Heinrich L o t & s Die "neue" Politik des deutschen Imperialismus und der Widerstandskampf in Tanganjika (1906-1918) _ Adolf R ü g e r t Ursprünge nationaler Bestrebungen in Kamerun Ruth D e u t s c h l a n d : Zu einigen Besonderheiten des nationalen Befreiungskampfes in Südwestafrika nach dem 2. Weltkrieg Christian R a c h e l : Die soziale Emanzipation Afrikas in ihrer philosophischen Reflexion Wilhelm W i 1 k e : Nationalismus, Gewerkschaften und national-demokratische Revolution in Afrika Manfred N u s s b a u m : Einige ökonomische Probleme im subsaharischen Afrika Heinz K r o s k e : Zum Einfluß des Nationalismus auf die ökonomischen Integrationsbestrebungen unabhängiger afrikanischer Staaten Egon D u m m e r t Das Problem der sozialen Widersprüche in politischen Konzeptionen des 'Sozialismus nationalen Typs1 im tropischen Afrika

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75 89 99 109 121 129 139 151 163 173 185 197 207 217 227

6 Jean S u r e t - C a n a l e : Les fondements sociaux de la "démocratie nationale" en République de Guinée Hans P i a z z a : Die Begegnung von proletarischem Internationalismus und afro-asiatischem Nationalismus in der Antiimperialistischen Liga Renate W ü n s c h e : Der Einfluß verschiedener ideologischer Aspekte auf die Außenpolitik der Nichtpaktgebundenheit Kurt B ü t t n e r : Philosophische Probleme der nationalen Befreiungsbewegung Walter R ü b e n s Indiens national-demokratische Bewegung und ihre alten Traditionen Dolores D o m i n : Zu einigen sozialen und nationalen Aspekten des Aufstandes 1857/59 in Indien Annemarie H a f a e r : Zum Verhältnis der nationalen und sozialen Frage in der indischen Befreiungsbewegung Hirendra Nath l i u k e r j e e : The Role of Revivalism in the Indian National Movement Before and After Preedom Helga M e i e r : Zur Rolle religiöser Reformbewegungen in der indischen Befreiungsbewegung, unter besonderer Berücksichtigung des Arya Samaj Miloslav K r â s a : Problems of Nationalism in Contemporary India Dagmar A n s a r i : Zum nationalen Charakter der modernen Hindi-Erzählung Wilfried L u 1 e i : Zur Bedeutung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution für die Entwicklung der nationalen Befreiungsrevolution in Vietnam Timoteus P o k o r a : Die Konzeption des Fortschritts im Konfuzianismus Erna B a y e r l e o v â : Einige Bemerkungen zur historischen Entwicklung pränationaler Vorstellungen in China Herbert B r ä u t i g a m : Die antiamerikanische Boykottbewegung von 1905 als Faktor zur Bildung des chinesischen Nationalbewußtseins Brigitte S c h e i b n e r : Zur Entwicklung der Auffassung Sun Tatsens über das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung Rainer S c h w a r z : Aspekte des nationalen Kampfes und des Klassenkampfes im Hongkonger Seeleutestreik von 1922 Rudolf H a r t m a n n : Zur Herausbildung des proletarischen Internationalismus in Japan zu Beginn unseres Jahrhunderts

239 249 267 277 289 511 323 335 357 371 377 389 405 411 419 445 455 461

V o r w o r t

Wir sind. Zeugen der wachsenden nationalen Befreiungsbewegung der Völker Asiens und Afrikas, die seit dem Ende des 2. Weltkrieges, besonders aber im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts große Erfolge errungen hat. Diese Emanzipationsbewegung, die die Mehrheit der Menschheit umfaßt, entwickelte sich in vielen Jahren des Kampfes gegen imperialistische Unterdrückung und Ausbeutung. Das Studium ihrer wechselvollen Geschichte, ihrer Erfolge und Bückschläge sowie deren Ursachen und Auswirkungen trägt wesentlich dazu bei, sowohl den gegenwärtigen Stand zu erkennen als auch die Eatwicklungsrichtung und das Tempo des weiteren Vormarsches sowohl der einzelnen Abteilungen wie auch der Gesamtbewegung vorauszusehen. Ausgangspunkt und Grundlage des Befreiungskampfes ist der niemals erloschene Widerstand der Volksmassen gegen das fremde Kolonialjoch. Auf dieser Grundlage entfaltete sich die organisierte nationale Befreiungsbewegung, die entsprechend dem jeweiligen sozial-ökonomischen Entwicklungsstand, dem erreichten Grad der sozialen Differenzierung, dem Charakter und der politisch-ideologischen Reife der Klassenkräfte, die als Träger bzw. Triebkräfte des revolutionären Prozesses in Erscheinung treten, und beeinflußt durch regionale historische Besonderheiten, in unterschiedlichen Formen und mit wechselnden Methoden geführt wird. Die nationale Befreiungsrevolution weist außer dem nationalen Aspekt stets auch einen sozialen Inhalt auf. Dieser ist von entscheidender Bedeutung, da er den sozialen Charakter der Revolution bestimmt. Der sozial-ökonomische Satwicklungsstand in weiten Gebieten Asiens und Afrikas erklärt, daß häufig die nationale Bourgeoisie die Führung der nationalen Befreiungsrevolution in ihrer ersten Etappe übernimmt. In ihrer historischen Tendenz geht die nationale Befreiungsrevolution jedoch über die bürgerlich-demokratischen Revolutionen des aufsteigenden Kapitalismus hinaus und nimmt, dem Charakter der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus entsprechend, einen antiimperialistisch-demokratischen und zunehmend antikapitalistischen Charakter an. Wenn auch, wie bereits aus-

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Vorwort

geführt, die nationale Bourgeoisie in vielen Fällen Hegemon der Befreiungsrevolution in dieser Etappe ist, weil sie Infolge der noch relativ geringen Klassendifferenzierung und infolge des Bestehens des Hauptwiderspruches zwischen der Masse des kolonial unterdrückten Volkes einerseits und der fremden Kolonialmacht andererseits die. Interessen der Nation weitgehend vertritt, so spielen darüber hinaus das Ausmaß und die politisch-soziale Zielstellung der Massenbewegung eine hervorragende Rolle. Von der Breite der Volksbewegung auf eher Grundlage eines antiimperialistischen, antifeudalen und demokratischen Programms hängen Richtung und Stoßkraft des revolutionären Prozesses in hohem Maße ab. Der Fortschritt der nationalen Befreiungsrevolution von der ersten Etappe, in der vor allem der antiimperialistisch-antikoloniale Kampf im Mittelpunkt steht und die nationale Eigenstaatlichkeit hergestellt wird, zur nächsten Etappe,in der die Erringung der ökonomischen Unabhängigkeit und revolutionär-demokratische Umgestaltungen in den Nationalstaaten auf der Tagesordnung stehen, erfordert, daß der Klassencharakter der Führungskräfte verändert wird. Im Unterschied zur ersten Etappe, in der allgemein die nationale Bourgeoisie Hegemon war, treten in der Zeit nach der Herstellung der nationalen Selbständigkeit infolge der beschleunigten Klassendifferenzierung, die u.a. zu einer gesteigerten Aktivität der werktätigen Massen und zur Verschärfung des Klassenkampfes führt, die reaktionären Seiten der nationalen Bourgeoisie zunehmend hervor. Die Ausbeuter- und Unterdrückerfunktion der Bourgeoisie verstärkt sich. Ihre begrenzten Klassenziele machen sie immer weniger fähig, die nationale Befreiungsbewegung weiterzuführen und die antiimperialistische, antifeudale und demokratische Revolution zu vollenden. Es ist erforderlich, daß neue soziale Kräfte - die Arbeiterklasse bzw. revolutionär-demokratische Kräfte des Kleinbürgertums und der Intelligenz - die Führung übernehmen. In den Reihen der nationalen Bourgeoisie selbst vollzieht sich ein Differenzierungsprozeß, in dessen Verlauf sich ihre progressiven Kräfte der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der Intelligenz nähern bzw. sich mit diesen verbünden. Andere Gruppen und Schichten der Bourgeoisie verfolgen zunehmend eine immer reaktionärere Politik, die sie in die Nähe oder sogar auf die Position der imperialistischen und neokolonialistischen Kräfte bringt. Die Erfahrungen lehren, daß das Bündnis der Arbeiterklasse, der werktätigen Bauernschaft mit ihren großen revolutionären Potenzen

Vorwort

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und. der revolutionär-demokratischen Kräfte objektiv notwendig ist, um die Aufgaben der zweiten Etappe der nationalen Befreiungsrevolution im Interesse der Sicherung der nationalen Unabhängigkeit lind des sozialen Fortschritts zu erfüllen. Einige junge Staaten beschreiten den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg und gehen damit bereits in eine neue Etappe der nationalen Befreiungsrevolution über, in der nach Überwindung der von der kolonialen Vergangenheit übernommenen Rückständigkeit die Bedingungen für einön Übergang zur sozialistischen Entwicklung geschaffen werden. Die überaus schwierige Aufgabe, in diesen Ländern die sozialistische Orientierung durchzusetzen, kann nur erfolgreich gelöst werden, wenn der bereits eingeleitete Prozeß der Aktivierung der Voiksmassen auf der Grundlage des festen Bündnisses zwischen der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft sowie aller übrigen patriotischen, fortschrittlichen Kräfte fortgesetzt wird. Hierbei fällt den Kommunisten als Vorkämpfern der nationalen und sozialen Befreiung die historische Aufgabe zu, die proletarische Ideologie in die Massen zu tragen. Im Kampf gegen die innere Reaktion und gegen die Anschläge des Imperialismus und Neokolonialismus setzt sich bei den Völkern Asiens und Afrikas in zunehmendem Ma£e die Erkenntnis durch, daß nationale Unabhängigkeit und Freiheit nur im Bündnis mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern errungen und gesichert werden können. Der gesamte Verlauf der nationalen und sozialen Befreiungsbewegung der Völker Asiens und Afrikas bestätigt die entscheidende Bedeutung des historischen Vormarsches der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus für die Menschheitsgeschichte. Der moderne Kolonialismus rief von Anbeginn den Widerstand der betroffenen Völker hervor. Spontane, aber auch zunehmend organisierte Erhebungen richteten sich gegen die Kolonialherrschaft, vermochten jedoch noch nicht, eine allgemeine Krise des Kolonialsystems auszulösen. Dazu bedurfte es erst der umfassenden Schwächling des Imperialismus überhaupt, mußte die kapitalistische Herrschaft in den Metropolen erschüttert werden und eine allgemeine Krise des kapitalistischen Systems eintreten. Der Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution leitete die neue Phase des nationalen Befreiungskampfes in Asien und Afrika ein. Das System des Imperialismus wurde entscheidend geschwächt. Mit der Errichtung des ersten Arbeiter- und Bauernstaates wurde die historische Alternative zum Imperialismus - der Sozialismus - eine Realität. Der Beginn der allgemeinen Krise

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Vorwort

des Kapitalismus leitete zugleich auch die Krise des Kolonialsystems des Imperialismus ein. Die nationale Befreiungsbewegung der kolonial unterdrückten Völker, die durch das Beispiel des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion starke Impulse erhielt und von der internationalen Arbeiterbewegung unterstützt wurde, erhielt erstmalig eine reale historische Perspektive. Die nationale Befreiungsrevolution nahm einen mächtigen Aufschwung und wurde zu einem festen Bestandteil der weltweiten revolutionären Bewegung gegen imperialistische Unterdrückung und Ausbeutung. Der 2. Weltkrieg erfaßte in einem weit größeren Ausmaß als der erste große Gebiete Asiens und Afrikas. Viele Kolonialvölker wurden gewaltsam in den Krieg einbezogen, der tiefgehende sozial-ökonomische Veränderungen in diesen Ländern zur Folge hatte, die Herausbildung der modernen Grundklassen bzw. den bereits eingeleiteten Prozeß der Klassendifferenzierung beschleunigte und die Entwicklung eines antiimperialistischen politischen Bewußtseins erheblich förderte. Der entscheidende Anteil der Sowjetunion am Sieg über den Faschismus und die revolutionäre Entwicklung in Osteuropa schufen neue, wesentlich günstigere Bedingungen für die nationale Befreiungsbewegung. Für die kolonial unterdrückten und abhängigen Völker ergab sich nunmehr die reale Möglichkeit, die volle nationale Unabhängigkeit zu erringen. Damit begann der Prozeß des Zerfalls des Kolonialsystems, der in den 60er Jahren seinen Höhepunkt erreichte. Die im Verlauf und Ergebnis des 2. Weltkrieges entstandenen günstigeren Voraussetzungen für einen siegreichen nationalen Befreiungskampf konnten nicht zuletzt deshalb zur vollen Wirksamkeit gelangen, weil der Imperialismus als Weltsystem nachhaltig geschwächt worden war und das Beispiel sowie die Unterstützung durch die sozialistischen Länder einschließlich der asiatischen Volksrepubliken schnell an Bedeutung gewannen. Hierdurch wurde das internationale Kräfteverhältnis eindeutig zugunsten der völligen Befreiung der Kolonialvölker verändert. Binnen weniger Jahre errang die übergroße Mehrheit der Kolonialvölker die politische Unabhängigkeit. Die nationale Befreiungsrevolution bildet gemeinsam mit dem sozialistischen Weltsystem und der internationalen Arbeiterbewegung den mächtigen Strom des weltweiten revolutionären Übergangsprozesses vom Kapitalismus zum Sozialismus. Die Entwicklung der Befreiungsbewegung und der Kampf der verschiedenen Klassenkräfte in den einzelnen Etappen der nationalen

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Befreiungsrevolubion ist von heftigen ideologischen Auseinandersetzungen begleitet. Dabei treten uns zwei politisch-ideologische Hauptströmungen entgegen: Nationalismus und Sozialismus. Die bedeutende Rolle des Nationalismus ergibt sich aus der Geschichte der nationalen Befreiungsbewegung, die von der nationalen Bourgeoisie geführt wurde und deren Ideologie der bürgerliche Nationalismus war. Auch nach der Erreichung der staatlichen Unabhängigkeit verfügt der Nationalismus, wenn er gegen Imperialismus und Neokolonialismus gerichtet ist, über progressive .Potenzen. Mit der Polarisierung der sozialen und politischen Kräfte, wie sie sich beschleunigt nach der nationalen Befreiung vollzieht, wird der Nationalismus aber zugleich zur Gefahr für den weiteren Fortschritt, da er die werktätigen Massen sowohl im inneren als auch im internationalen Klassenkampf desorientiert. Unter bestimmten Bedingungen vermögen reaktionäre Kräfte sogar, den Nationalismus in Gestalt des Chauvinismus als ideologisches Mittel zu benutzen, um die Volksmassen für ihre Ziele zu mobilisieren. Ungeachtet des Vorherrschens der bürgerlich-nationalistischen Ideologie entsprechend dem sozialen Charakter der Führungskräfte über lange Perioden der Befreiungsbewegung fanden sozialistische Ideen teilweise bereits vor dem 1. Weltkrieg, in verstärktem Maße jedoch nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, bei den Völkern Asiens und Afrikas Eingang. Die Aufnahme neuer ideologischer Konzeptionen war von der Entstehung und Entwicklung neuer sozialer Gruppen und Klassen abhängig, da erst ihre Existenz die Rezeption der marxistischen Weltanschauung ermöglichte. Besonders dort, wo die sozial-ökonomische Entwicklung zur Herausbildung der beiden Grundklassen der kapitalistischen Gesellschaft - Bourgeoisie und Proletariat - geführt hatte, eine organisierte Arbeiterbewegung im Entstehen war, und der Gegensatz von Kapital und Arbeit zum Hauptwiderspruch zu werden begann, verbreitete sich der wissenschaftliche Sozialismus. Daneben führte die gewaltige Anziehungskraft des Sozialismus zum Aufkommen zahlreicher, verschiedenartiger Sozialismuskonzeptionen, die oft einen utopischen oder kleinbürgerlichen Charakter hatten. Häufig waren sie Ausdruck eines subjektiv ehrlichen Strebens, sozialistisches Denken auf die jeweilige konkrete Wirklichkeit anzuwenden. Dabei konnten die Träger sozialistischer Gedanken teilweise an die im eigenen Volk verwurzelten und seit Jahrhunderten lebendigen egalitären und sozialreformerischen Vorstellungen anknüpfen. Diese Ideologen entstammten zu-

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meist den sozialen Zwischenschichten, besonders der Intelligenz, die unter den Bedingungen einer relativ geringen gesellschaftlichen Differenzierung als Träger progressiver und teilweise sogar revolutionärer Ideen auftraten. Mit der zunehmenden Klassendifferenzierung und Polarisierung der politischen Kräfte wächst jedoch zugleich auch das Streben von bürgerlicher Seite, "Sozialismuskonzeptionen" zu entwickeln, die dem demagogischen Betrug der Massen dienen, um diese an einer revolutionären Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu hindern. Nach der Erringung der nationalen Unabhängigkeit treten in zunehmendem Maße entsprechend dem Reifegrad der Klassenkräfte in den verschiedenen Ländern revolutionär-demokratische Kräfte bzw. die Arbeiterklasse als Führer einer progressiven Entwicklung in Erscheinung. Beide schreiten historisch gesehen in eine Richtung, kämpfen gegen den gemeinsamen Feind - den Imperialismus. Im Prozeß der Konfrontierung mit den zu lösenden gesellschaftlichen Aufgaben, die nur mit Unterstützung der breiten Volksmassen gemeistert werden können, ergibt sich für die Führungskräfte die Notwendigkeit, ein Bündnis aller patriotischen, fortschrittlichen Kräfte herzustellen. Dabei findet eine ständige Entwicklung auch in politischideologischer Hinsicht statt, die' schließlich zum wissenschaftlichen Sozialismus führt. Seine wissenschaftlichen Prinzipien, deren Richtigkeit das sozialistische Weltsystem und die internationale kommunistische Bewegung überzeugend beweisen, üben einen ständig wachsenden Einfluß auf die politisch-ideologische Entwicklung der national-demokratischen Kräfte aus. Diese erkennen mehr und mehr, daß unter kapitalistischen Bedingungen die komplizierten Probleme ihrer Länder, insbesondere die nationale und soziale Frage, nicht gelöst werden können. Die Erfahrungen des Lebens zwingen diejenigen, die aufrichtig für das Wohl ihrer Völker eintreten, sich Immer konsequenter den Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus zuzuwenden . Dieser tiefgehende sozial-ökonomische und politisch-ideologische Umwälzungsprozeß geht keinesfalls gleichförmig und widerspruchslos vor sich. Es handelt sich vielmehr um eine komplizierte, an Rückschlägen reiche und sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Entwicklungsphase. Im Verlauf der politisch-ideologischen Auseinandersetzungen müssen u.a. als historisch bedingte Überbleibsel starke Reste nationalistischen Denkens überwunden werden. Teilweise

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führen diese in Verbindung mit gewissen historischen Besonderheiten der nationalen Entwicklung dazu, daß Konzeptionen eines "nationalen Sozialismus" ausgearbeitet u n d dem wissenschaftlichen Sozialismus entgegengestellt werden. Auch traditionelle Denkweisen, die bei den Völkern Asiens und Afrikas oft noch sehr lebendig sind, beeinflussen und modifizieren die sozialistische Ideologie. Obwohl sich dieser Prozeß entsprechend den jeweiligen historischen Bedingungen, dem sozial-ökonomischen Entwicklungsstadium eines jeden Landes,4 der Klassenposition der Führungskräfte u n d dem Stand der politisch-ideologischen Bewußtseinsentwicklung der Volksmassen in unterschiedlichen Formen vollzieht, verläuft diese Entwicklung trotz aller imperialistischen Störversuche in der Richtung des historischen Fortschritts, der zum Sozialismus führt. Die Asien- und Afrikawissenschaften in der Deutschen Demokratischen Republik leiten ihre Aufgaben aus der prognostischen Erfassung des sich objektiv vollziehenden historischen Entwicklungsprozesses der Völker Asiens und Afrikas ab. Als ein Themenkomplex von hervorragender wissenschaftlicher u n d praktisch-gesellschaftlicher Bedeutung erweist sich die Untersuchung der Problematik der Aufnahme und Verbreitung sozialistischer Ideen sowie der Ausarbeitimg von Sozialismuskonzeptionen in Asien u n d Afrika. U m diese überaus aktuelle Thematik wissenschaftlich zu behandeln, ist es notwendig, die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen, die Entwicklung der Klassenkräfte sowie ihrer politisch-ideologischen Konzeptionen zu untersuchen und diese sowohl in ihrer historischen als auch gegenwärtigen gesellschaftlichen Wechselwirkung zu analysieren. Die Neuhistoriker des Instituts für Orientforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaften stellten diesen Themenkomplex in den Mittelpunkt ihrer Forschungsarbeit. Entsprechend dieser inhaltlichen Ausrichtung wurde In der Sektion I der aus Anlaß des zwanzigjährigen Bestehens des Instituts für Orientforschung vom 2 3 . bis 25. Oktober 1967 durchgeführten Tagung das Thema "Nationalismus u n d Sozialismus im Befreiungskampf der Völker Asiens u n d Afrikas" behandelt. Zugleich stand die Konferenz im Zeichen des 50. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die mit der Schaffung der objektiven internationalen Bedingungen erstmalig der Befreiunsbewegung der Völker Asiens und Afrikas die reale Perspektive eröffnete, den Kampf gegen den Imperialismus siegreich zu be-

Vorwort enden.Das Thema des Festvortrages, der der Gesamttagung vorangestellt wurde, bezog sich auf dieses welthistorische Ereignis. Der vorliegende Protokollband enthält die Vorträge, z.T. in überarbeiteter Fassung, soweit diese schriftlich vorlagen und nicht anderweitig veröffentlicht wurden. An der redaktionellen Bearbeitung des Bandes hat Frau Anita Ulaszewski wesentlichen Anteil.

Horst Krüger

H o r s t

K r ü g e r

Die Große Sozialistische Oktoberrevolution und die indische revolutionäre Befreiungsbewegung im Ausland

Der Sieg des russischen Proletariats unter Führung der bolschewistischen Partei im November 1917> der auf einem Sechstel der Erde die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigte u n d die zahlreichen, auf russischem Territorium lebenden Nationalitäten aus dem zaristischen Völkergefängnis befreite, leitete einen weltweiten revolutionären Prozeß ein. Die Wirkung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution als mächtige Triebkraft für die Entwicklung der nationalen Befreiungsbewegung in Asien und Afrika beruht nicht zuletzt auf der Tatsache, daß die Sowjetmacht in einem riesigen, europäische und asiatische Gebiete umfassenden Land errichtet wurde. Das zaristische Rußland war gekennzeichnet durch eine Vielfalt der sozialökonomischen, politischen u n d kulturellen Bedingungen, die sowohl höchstentwickelte kapitalistische Produktionsverhältnisse als auch zugleich rückständigste feudale und vorfeudale gesellschaftliche Zustände umfaßten. Diese objektiven Bedingungen stellten das russische Proletariat vor die überaus schwierige, historische Aufgabe, nicht nur in den gesellschaftlich entwickelten Gebieten den Sozialismus aufzubauen, sondern auch in den v o m Zarismus unterjochten nationalen Randgebieten in kurzer Zeit die ökonomische, politische u n d kulturelle Rückständigkeit zu überwinden u n d alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu entwickeln. Von Anfang an verwirklichte die Sowjetmacht unter Führung Lenins das Bündnis der sozialistischen Revolution mit der nationalen Befreiungsbewegung . Lenins Voraussage, daß "die sozialistische Revolution nicht nur und nicht hauptsächlich ein Kampf der revolutionären Proletarier eines jeden Landes gegen die eigene Bourgeoisie", sondern zugleich "ein Kampf aller vom Imperialismus unterdrückten Kolonien und Länder, aller abhängigen Länder gegen den internationalen Imperialis>1 mus sein" wird, wurde von der Geschichte glänzend bestätigt. Die Oktoberrevolution leitete den Beginn der Krise des Kolonialsystems des Imperialismus ein, in deren Verlauf die kolonial unterdrückten Völker aus der Reserve des Imperialismus zum Verbündeten der Arbei-

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terklasse wurden. Dieser historischen Entwicklung liegen gemeinsame, objektive Interessen zu Grunde, zu denen der antiimperialistische Kampf, das Streben nach einer ungehinderten wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung und das Bemühen, die nationale Unabhängigkeit zu sichern, gehören. Es bestätigt sich das dialektische Verhältnis: Was den sozialistischen Kräften nützt, dient zugleich der nationalen Befreiungsbewegung und den unabhängigen Staaten. Die Bedeutung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution für die nationale Befreiungsbewegung erschöpft sich nicht in einem einmaligen historischen Akt, sondern findet ihren Ausdruck in einem dynamischen Prozeß von zunehmender geschichtlicher Wirksamkeit. Seit dem Sieg im Hovember blicken die Völker der Welt auf einen Stern, auf den Stern der Sowjetrepublik, nach dem sie sich in ihrem Kampf um die nationale und soziale Befreiung orientieren. Verlieh schon die Existenz der Sowjetmacht seit dem ersten Tage ihres Bestehens durch ihr revolutionäres Beispiel und durch ihre auf den Prinzipien des proletarischen Internationalismus beruhende Politik der Befreiungsbewegung einen gewaltigen Aufschwung, so schuf die Entstehung des sozialistischen Weltsystems nach dem 2. Weltkrieg eine neue historische Situation. Binnen weniger Jahre ist das imperialistische Kolonialsystem zusammengebrochen, und es entstanden auf den Trümmern der ehemaligen Kolonialreiche zahlreiche unabhängige Staaten. Diese stehen nunmehr vor der schweren Aufgabe, ihre politische Unabhängigkeit durch die Erringimg der ökonomischen zu sichern und zu verteidigen. Die Existenz des sozialistischen Weltsystems, dessen stärkste Kraft die Sowjetunion ist, gibt ihnen die reale Möglichkeit, ungeachtet der imperialistischen Gegenoffensive den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg einzuschlagen. Damit aber wächst die Bedeutung des Kampfes der Völker Asiens und Afrikas gegen Imperialismus und Neokolonialismus im Rahmen des gegenwärtigen weltumspannenden Umwälzungsprozesses. In seiner Rede auf dem II. Gesamtrussischen Kongreß der kommuni2 stischen Organisationen der Völker des Ostens im Jahre 1919 wies Lenin darauf hin, daß der Weg zur sozialistischen Revolution in den kolonial unterdrückten Ländern "viele Jahre dauern und viel Arbeit kosten wird". Das größte Hindernis sah Lenin in den "mittelalterlichen", feudalen Verhältnissen, in denen die Hauptmasse der werktätigen Bevölkerung, d.h. die Bauernschaft, in Asien lebte, während die durch die "Schule der kapitalistischen Fabriken" gegangene Arbeiterklasse noch relativ schwach und teilweise erst in der Heraus-

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bildung begriffen war. Die Schwierigkeit der Aufgabe für die Kommunisten bestand u.a. darin, die Erfahrungen der Arbeiterbewegung der forgeschritteneren Länder auf die spezifischen Verhältnisse in den rückständigen ehemaligen Kolonialgebieten anzuwenden und deren werktätige Massen in die aktive, organisierte revolutionäre Bewegung einzubeziehen. Lenin gab auch den überaus wichtigen Hinweis, welcher Weg beschritten werden mußte, um das Bündnis mit den um ihre Befreiung ringenden Völkern herzustellen. Er sagte den Kommunisten: "Sie werden anknüpfen müssen an den bürgerlichen Nationalismus, der sich bei diesen Völkern regt und zwangsläufig regen muß und für den es eine geschichtliche Erklärung gibt".^ Damit wandte sich Lenin gegen ein sektiererisches Vorgehen angesichts der Tatsache, daß die koloniale Befreiungsbewegung von der nationalen Bourgeoisie geführt wurde. Zugleich aber betonte er nachdrücklich, es sei die Aufgabe der Kommunisten, den werktätigen und ausgebeuteten Massen eines jeden Landes klarzumachen, daß "die einzige Hoffnung auf Befreiung der Sieg der internationalen Revolution ist und daß das internationale Proletariat der einzige Verbündete aller WerktätiIL

gen und Ausgebeuteten der Hundertmillionenvölker des Ostens ist". Mit dieser präzisen Aufgabenstellung unterstreicht Lenin den engen Zusammenhang zwischen der nationalen Befreiungsbewegung und der internationalen sozialistischen Revolution. Zugleich aber umreißt er in seiner Rede das Wechselverhältnis zwischen nationaler und sozialer Frage, indem er darauf hinweist, daß die Bauernmassen des Ostens nur dann in die antiimperialistische Befreiungsbewegung einbezogen werden können, wenn diese die Beseitigung der feudalen Produktionsverhältnisse in ihr Programm aufnimmt. Die Erfahrungen der Geschichte der nationalen Befreiungsbewegung der Völker Asiens und Afrikas wie auch des Kampfes der unabhängigen Staaten um die Erhaltung und Festigung ihrer nationalem Unabhängigkeit gegenüber den neokolonialistischen Umtrieben des Imperialismus beweisen, daß beide Seiten - die nationale und die soziale - in einem unlöslichen dialektischen Wechselverhältnis zueinander stehen. Zwar kann die eine oder die andere Seite während bestimmter Etappen der historischen Entwicklung vorübergehend In den Vordergrund treten. Es können jedoch die den Völkern von der Geschichte gestellten Aufgaben keinesfalls auf einseitigem Wege, d.h. durch Verabsolutierung der einen bei gleichzeitiger Ignorierung der anderen Seite gelöst werden.

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Bekanntlich hat Lenin dem revolutionären Befreiimgskampf der Völker des Ostens eine besondere Bedeutung für den Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab-beigemessen.^ Die folgenden Ausführungen sollen, gestützt auf weitgehend unveröffentlichtes Archivmaterial,, zum Verständnis des Einflusses der Oktoberrevolution auf die revolutionäre Befreiungsbewegung der größten und bedeutendsten Kolonie - Indien.- beitragen. Da es sich hierbei um eine sehr umfangreiche und vielschichtige Problematik handelt, begrenzen wir unser Thema in folgender Weises a) Wir beschränken uns auf die Jahre vor und unmittelbar nach der Oktoberrevolution. b) Wir konzentrieren uns auf die indische revolutionäre Bewegung im Ausland, weil bei ihr zuerst und direkt die Wirkung der mächtigen Impulse, die von der Oktoberrevolution ausgingen, feststellbar ist. c) Es stehen die Hauptzentren dieser Bewegung - Europa und Nordamerika - im Mittelpunkt. Auf der Grundlage sozialökonomischer Veränderungen im Laufe des 19. Jh. und unter dem Einfluß traditioneller indischer sowie von außen kommender progressiver Ideen entwickelte sich in Indien in der 2. Hälfte des 19. Jh. eine gegen die britische Kolonialherrschaft gerichtete nationale Bewegung. Diese stand zunächst unter der Führung des liberalen Teiles der indischen nationalen Bourgeoisie. Allmählich bildete sich jedoch ein radikaler Flügel, der unter der Führung revolutionär-demokratischer Kräfte die Interessen der Klasse der nationalen Bourgeoisie konsequenter vertrat. In den Jahren 1905-1908 kam es auf Grund der zunehmenden kolonialen Unterdrückung und Ausbeutung und unter dem Einfluß internationaler Ereignisse zu einem revolutionären Aufschwung der indischen Befreiungsbewegung. Ihre Zentren waren die Provinzen Bengalen, Bombay, Panjab und Madras. In dieser Periode wurden in den Städten breite, vorwiegend kleinbürgerliche Schichten, die aber auf Grund ihrer direkten bzw. indirekten Verbindung mit dem feudalen Agrarsystem nicht in der Lage waren, ein revolutionäres Agrarprogramm zu entwickeln, von der nationalen Bewegung erfaßt. Auf dem lande schlössen sich teilweise die in ihren Einkünften durch die englische Pachtgesetzgebung geschmälerten feudalen ¿wisciienschichten an. In Bengalen, dem Sturmzentrum der indischen nationalen Befreiungsbewegung, wurden diese an der Aufrechterhaltung der beste-

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henden Agrarverhältnisse interessierten Schichten die bhadralog, d.h. die gentry, genannt. Die chinesische Befreiungsbewegung entwickelte durch Sun Yatsen ein radikales Agrarprogramm, dessen revolutionär-demokratischer Inhalt von Lenin hervorgehoben wurde.® Im Unterschied hierzu war die indische Bourgeoisie auf Grund ihrer besonderen Klassenlage nicht bereit, die soziale Frage im Sinne eines konsequent antifeudalen Programms zum Bestandteil der von ihr geführten Befreiungsbewegung zu machen. Die schwerwiegende Folge davon war, daß der indischen nationalen Bewegung bis nach 1917 und bis nach dem Ende des 1. Weltkrieges die "soziale Stütze" (Lenin) in Gestalt der Bauernmassen fehlte und sich keine breite, demokratische Massenbewegung entwickelte. Der Versuch, lediglich mit Hilfe der hinduistischen Religion die Volksmassen für die politischen Ziele der Nationalbewegung zu gewinnen, scheiterte weitgehend, obwohl die Massen noch tief in der traditionellen Denkweise verhaftet waren. Darüber hinaus erhielt hierdurch die Nationalbewegung teilweise einen gewissen antimohammedanischen Akzent, der auf der Grundlage bestimmter sozialökonomischer Entwicklungsunterschiede! zwischen der hinduistischen und mohammedanischen Bourgeoisie u n d auf der Grundlage von Klassengegensätzen, die sich mit der Zugehörigkeit zu verschiedenen Religionen deckten, gefährlichen kommunalistischen Zündstoff anhäufte und zur Spaltung der nationalen Bewegung ausgenutzt werden konnte. Das indische Industrieproletariat war n o c h in der Herausbildung begriffen und hatte sich noch nicht von einer Klasse "an sich" zu einer Klasse "für sich" entwickelt. In Indien waren seit Beginn des 20. Jh. zahlreiche revolutionäre Gesellschaften entstanden, die zu ihren Mitgliedern vor Allem Intellektuelle u n d Studenten aus den bereits erwähnten bhadralogSchichten zählten. Diese soziale Zusammensetzung einerseits u n d das Fehlen einer echten demokratischen Massenbewegung andererseits bewirkten, daß die revolutionären Gruppen weitgehend vom Volk isoliert blieben. Sie entwickelten, gestützt auf traditionelle Ideen, einen stark religiös gefärbten Nationalismus, in dem die freiwillige Selbstaufopferung für das Mutterland eine wesentliche Rolle spielte. Die Volksmassen sollten, durch das revolutionäre Beispiel aufgerüttelt, im Selbstlauf folgen und sich gegen die Kolonialherren erheben. Als in den Jahren 1907-1908 die englischen Unterdrükkungsmaßnahmen einen Höhepunkt erreichten, gingen zahlreiche revo-

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lutionäre Gruppen in die Illegalität. Ihre Hinwendung zum individuellen Terror wurde durch die verschärfte politische Lage gefördert, war aber ideologisch längst vorbereitet. Eine Anzahl führender Mitglieder des revolutionären Flügels war gezwungen, in die politische Emigration zu gehen. Als in Indien der revolutionäre Aufschwung der nationalen Befreiungsbewegung einsetzte, bestand in London bereits ein Kreis indischer Nationalisten, der sich um den indischen Sanskritisten, Geschäftsmann und Politiker, Shyamaji Krishnavarma, und die von ihm herausgegebene radikale Zeitschrift "The Indian Sociologist" gebildet hatte. Diese Gruppe wurde durch die politischen Emigranten der Jahre 1907 und 1908 verstärkt. Da der britische Imperialismus auch zu Unterdruckungsmaßnahmen gegenüber den in England lebenden indischen Nationalisten überging, verlagerte sich das Zentrum der indischen revolutionären Befreiungsbewegung in Europa nach Paris. Hier traten, ähnlich wie in Indien, die radikaleren Elemente stärker in den Vordergrund. Die Festigung der englisch-französischen Allianz in den Jahren unmittelbar vor dem Weltkrieg ließ auch Paris unsicher werden. Als neuer Zufluchtsort schien neben der Schweiz besonders Deutschland geeignet. Ein weiteres Zentrum der indischen revolutionären Bewegung entwickelte sich seit Beginn des 20. Jh. in Nordamerika. Im Unterschied zu den in Europa lebenden politischen Emigranten, bei denen es sich um Intellektuelle, Studenten und Geschäftsleute handelte, hatte das amerikanische Zentrum seine feste soziale Basis in den Tausenden indischer Bauern, die auf der Suche nach Erwerbsmöglichkeiten, z.T. nachdem sie in der anglo-indischen Armee gedient hatten, über Ostasien in die USA und nach Kanada gekommen waren. Hier arbeiteten sie als kapitalistische Lohnarbeiter; einigen von ihnen gelang der Aufstieg zu Besitz und Wohlstand. Hinzu kamen indische Intellektuelle und Studenten, unter denen sich zahlreiche Mitglieder der indischen revolutionären Befreiungsbewegving befanden. Was in Indien wegen der dort herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse unmöglich war, vollzog sich mit der Gründung der Ghadar(Aufstands)partei im Jahre 1913 in San Franzisko auf amerikanischem Boden im kleinen Maßstab: Der Zusammenschluß zwischen demokratischer Massenbewegung und bürgerlichem Nationalismus. Die Ghadarpartei war die erste 7säkulare Bewegung in der Geschichte des indischen Befreiungskampfes.'

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Sowohl das europäische als auch das amerikanische Zentrum der indischen revolutionären Befreiungsbewegung entfalteten eine rege Propagandatätigkeit unter den im Ausland lebenden Indern. Darüber hinaus gelang es den indischen Patrioten, die englische Kontrolle und Zensur zu durchbrechen, die das Eindringen revolutionärer Publikationen nach Indien verhindern sollten. Die britischen Geheimberichte legen Zeugnis davon ab, wie zahlreich die Verbindungen nach Indien waren. Ihr Einfluß beschränkte sich keineswegs auf einen kleinen Kreis illegal arbeitender Revolutionäre, sondern erreichte über die nationalistische landessprachliche Presse breitere Kreise der indischen Bevölkerung. Die indischen Emigranten, Studenten und Arbeiter lebten in Buropa und Nordamerika unter wesentlich fortgeschritteneren gesellschaftlichen Verhältnissen als in ihrer Heimat. In Europa und in den USA stand vor dem 1. Weltkrieg schon die Befreiung von der Bourgeoisie, d.h. der Sozialismus, auf der Tagesordnung. Die Folge war, daß ein Teil der in diesen Gebieten lebenden indischen Revolutionäre eine gewisse Sympathie für den Sozialismus entwickelte. Jedoch handelte es sich hierbei vorwiegend um einen "subjektiven o Sozialismus", wie ihn Lenin nannte. In erster Linie sahen' die indischen Demokraten in der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung ihren Verbündeten gegen den Imperialismus. Die sich auch in Indien verschärfenden Klassengegensätze wurden jedoch weitgehend ignoriert oder sogar geleugnet. Häufig wurde der Hoffnung Ausdruck gegeben, den Kapitalismus in Indien vermeiden zu können. Die Berührung mit der sozialistischen Arbeiterbewegung der fortgeschritteneren Länder bewirkte zunächst nur in einem sehr begrenzten Umfange, daß die bürgerlich-nationalistische Ideologie der indischen Revolutionäre in einigen Zügen durch sozialistisches Gedankengut beeinflußt wurde. Es kam in dieser Phase der Entwicklung noch nicht dazu, daß die Grundprinzipien des Marxismus verstanden und angewendet wurden. Daneben gab es jedoch in der indischen Befreiungsbewegung, besonders unter den Ghadarmitgliedern bäuerlicher Herkunft, anknüpfend an eine latente, zumindest seit der Bhakti'-Bewegung der Feudalperiode bei den indischen Volksmassen verbreitete und niemals erloschene Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit, egalitäre Vorstellungen und utopisch-sozialistische Gedanken. Allgemein verbreitet war ein ausgeprägtes Solidaritätsge9 fühl mit anderen imperialistisch unterdrückten Völkern, das u.a. zu einer Zusammenarbeit mit im Ausland lebenden revolutionären

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Gruppen anderer Nationalitäten führte. Das politische Ziel der indischen Nationalisten war die Errichtung einer unabhängigen demokratischen Republik Indien. Der Ausbruch des 1. Weltkrieges schuf eine neue, für den indischen Befreiungskampf günstige Situation. Die indischen Revolutionäre suchten - ebenso wie die Nationalisten anderer unterdrückter Völker - die imperialistischen Gegensätze auszunutzen. Zum Kampf der beiden imperialistischen Rivalen Deutschland und England nahm die indische revolutionäre Bewegung von dem nationalistischen Standpunkt "Der Feind unseres Feindes ist unser Freund" Stellung. Der deutsche Imperialismus, der bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommen war, verfolgte mit Neid und Bewunderung die englische Kolonialpolitik. Gerade in der britischen Kolonialherrschaft in Indien sah er das Vorbild für die Verwaltung der deutschen Kolonien. Nicht zufällig liefen die von offizieller deutscher Seite während des Weltkrieges entwickelten kolonialen Spekulationen auf die Forderung hinaus, "Mittelafrika soll Deutschlands Indien werden ...'*.10 Das kaiserliche Deutschland war an Indien als Rohstofflieferant und Absatzmarkt für Industriewaren interessiert, konnte aber wegen der englischen Vorherrschaft nur in begrenztem Umfange in den indischen Markt eindringen.^""*" Gegenüber der nationalen Befreiungsbewegung zeigte die imperialistische Kolonialmacht Deutschland vor 1914 keinerlei offizielle Sympathien. Dagegen gab es bei einigen Gruppen des deutschen Monopolkapitals den Wunsch, Großbritannien ganz oder zumindest teilweise aus Indien zu verdrängen. Auf militärischer Seite existierten vage Vorstellungen darüber, welche Rolle 12 Indien in einem Krieg Deutschlands gegen England spielen könnte. Seit Kriegsbeginn sah die deutsche Regierung in den nationalen Befreiungsbewegungen der Völker Asiens und Afrikas ein geeignetes Mittel, mit dessen Hilfe ein zusätzlicher Druck auf die Entente, besonders auf England, ausgeübt werden konnte. Damit wurde auch die indische nationale Befreiungsbewegung für den deutschen Imperialismus interessant. Das Ziel der deutschen Indienpolitik für die Kriegszeit bestand vor allem darin, die indische revolutionäre Befreiungsbewegung gegen England auszunutzen, um einen für Deutschland günstigen Friedensschluß zu erzwingen.Gleichzeitig wurden dabei weitreichende ökonomische und politische Interessen verfolgt, deren Ausmaß mit den folgenden programmatischen Worten umrissen wird: "Der Orient wird uns Absatzgebiete eröffnen ... und uns die enormen,

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z.T. noch unberührten Hilfsquellen seiner Bodenschätze zur Verfügimg stellen". 1 ^ Diese strategische Konzeption fand u.a. ihren Niederschlag in einer umfangreichen Denkschrift, deren Verfasser der deutsche Orientalist u n d Diplomat Max Freiherr v. Oppenheim war. 1 -' Im Gesamtrahmen des sogenannten Eevolutionierungsprogramms, mit dem der deutsche Imperialismus seine militärische u n d politische Position zu verbessern suchte, spielten die "Aufwiegelungen u n d Unternehmungen" gegen Britisch-Indien eine nicht unwesentliche Rolle. Im September 1914 wurde in Berlin auf Initiative indischer Revolutionäre in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Auswärtigen Amt das Indische Unabhängigkeitskomitee als Sammelbecken für die in aller Welt verstreut lebenden indischen Nationalisten gegründet. Es ist hier ausdrücklich zu betonen, daß die indische Seite v o n Anbeginn bestrebt war, ihre Selbständigkeit gegenüber Deutschland zu wahren. So wird z.B. in dem mit der deutschen Regierung getroffenen Übereinkommen die von deutscher Seite zu leistende finanzielle und materielle Hilfe als Kredit bezeichnet, der nach der Befrei16 ung Indiens zurückgezahlt werden sollte. Das Indische Komitee entwickelte mit Unterstützung deutscher Dienststellen eine Reihe von Plänen zur Förderung von Aufständen in Indien. Aus Amerika kehrten mehrere Tausend Ghadarmitglieder nach Indien zurück, um am bewaffneten Aufstand teilzunehmen. Trotz heroischen Opfermutes der indischen Patrioten scheiterten alle Versuche. Neben subjektiven Schwächen der Befreiungsbewegung war die objektive Hauptursache der Niederlage das Fehlen einer breiten Volksbewegung in Indien, auf die sich die Revolutionäre hätten stützen können. Von Bedeutung war die in Verbindung mit der "Nachrichtenstelle für den Orient" des Deutschen Auswärtigen Amtes von indischer Seite betriebene Propaganda. Diese wurde jedoch im Laufe des Krieges durch die zunehmende Isolierung Deutschlands u n d durch das Argument von alliierter Seite, die indischen Revolutionäre seien lediglich Agenten des deutschen Imperialismus, beeinträchtigt. Aus diesen Gründen wurde im Mai 1917 in Stockholm ein Zweigbüro des Berliner Komitees unter der Leitung von Virendranath Chattopadhyaya eröffnet. Parallel zu dieser Entwicklung läßt sich bei Chattopadhyaya u n d anderen Mitgliedern des Indischen Komitees eine zunehmende Desillusionierung hinsichtlich der offiziellen deutschen Haltung zur indischen Frage beobachten. Abgesehen von.Erscheinungen des Herrenmen-

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schentums und. der Arroganz preußisch-junkerlicher Beamten, von denen auch das führende Mitglied des Indischen Komitees, Har Dayal, 17 abgestoßen wurde, ' handelt es sich bei Chattopadhyaya um eine prinzipielle Kritik der Grundlagen der deutschen Orientpolitik. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung standen die einseitige Orien18 tierung auf den Panislamismus und die Weigerung der deutschen Seite, das Selbstbestimmungsrecht der Völker konsequent anzuwenden.19 Bin weiteres Moment, das den Prozeß des Umdenkens förderte, war die in Gesprächen mit Vertretern der von Sozialchauvinisten beherrschten II. Internationale in Stockholm gewonnene Erkenntnis, daß von dieser Seite keine Hilfe für den nationalen Befreiungskampf der Völker Asiens und Afrikas zu erwarten war. Bereits in einem seiner ersten Berichte aus Stockholm schrieb Chattopadhyaya: "We all have the feeling that the question of subject nationalities 20 is being deliberately ignored or put off by the socialists". Wir können somit zusammenfassend feststellen, daß sich bereits Mitte 1917 bei führenden Mitgliedern der indischen revolutionären Bewegung in Europa eine kritische Haltung gegenüber der bis dahin betriebenen Politik herauszubilden begann. Diese sich entwickelnde kritische Grundhaltung erklärt, warum die neuen Möglichkeiten, wie sie sich aus der revolutionären Entwicklung in Rußland ergaben, von indischer Seite bereitwillig aufgegriffen wurden. Aus den uns zur Verfügung stehenden Quellen, geht hervor, daß bereits im September' 1917 engere Verbindungen zwischen Chattopadh21 yaya und Mitgliedern der SDAPR (Bolschewiki) bestanden haben. Die im September und Oktober 1917 vom Stockholmer Zweigbüro des Indischen Unabhängigkeitskomitees veröffentlichten politischen Stellungnahmen und internen Berichte lassen den zunehmenden poli22 tisch-ideologischen Einfluß der Bolschewiki erkennen. Am 1. November 1917 sandte Chattopadhyaya einen Plan für die indische Arbeit in Rußland nach Berlin.^ Sein Inhalt ist in hohem Maße von dem russischen Kommunisten K.M. Trojanowski, dem Herauageber des im Jahre 1918 erschienenen russischen Blaubuches über Indien und Verfasser der im gleichen Jahr veröffentlichten Publikation "Der Orient und die Revolution",^ beeinflußt. Der Ausarbeitung Chattopadhyayas war eine Denkschrift "Projekt p£!einer russischindischen Annäherimg" von Trojanowski beigefügt. Beide Dokumente spiegeln die politische Haltung ihrer Verfasser wider. Bei Chattopadhyaya ist noch der nationalistische Standpunkt dominie-

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rend, der eine Rechtfertigung des Zusammengehens mit Deutschland einschließt. Trojanowski untersucht das Problem von der revolutionären Position des konsequenten Kampfes gegen jeden Imperialismus. Er begründet die Notwendigkeit des gemeinsamen Vorjehens des revolutionären Rußland und der kolonial unterdrückten Völker. Von großer, prinzipieller Bedeutung für die indische Befreiungsbewegung ist sein Hinweis, daß der Schwerpunkt der zu leistenden Arbeit darauf gelegt werden müsse, eine organisierte und bewußte Volksbewegung in Indien zu entwickeln. Es ist sicher kein Zufall, wenn wir in der Propagandatätigkeit des Indischen Komitees in der folgenden Zeit eine stärkere Berücksichtigung des sich in Indien anbahnenden Aufschwunges der Nationalbewegung feststellen können. Eine Woche, nachdem von Stockholm aus der Plan für die Arbeit in Rußland unterbreitet worden war, kündeten die Salven der "Aurora" den Beginn einer neuen Epoche der Weltgeschichte an. Am 7• N o vember 1917 ergriffen die russischen Arbeiter und Bauern unter Führung der von Lenin geleiteten Partei der Bolschewik! die Macht u n d errichteten den ersten Arbeiter- u n d Bauernstaat. Wie bereits eingangs bemerkt, war Rußland zu dieser Zeit ein Abbild der Weltsituation infolge der Vielfalt seiner sozialökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse. Diese objektiv vorhandenen gesellschaftlichen Bedingungen erklären zum erheblichen Teil, warum die Dekrete und Verordnungen der jungen Sowjetregierung gerade bei den Völkern Asiens und Afrikas ein so großes Echo fanden. Es handelte sich um die gleichen, auch sie bewegenden politischen und sozialen Probleme, an deren Lösung in Rußland auf revolutionäre Weise herangegangen wurde. Die Nachrichten über die revolutionären Umwälzungen in Rußland gelangten nur allmählich, häufig auch entstellt, nach Indien, versuqhten doch die britischen Kolonialherren, von panischer Angst ergriffen, den indischen Volksmassen die revolutionäre Botschaft vorzuenthalten. Dennoch übten die Ideen u n d das Beispiel der Oktoberrevolution von 1917 an einen gewaltigen Einfluß auf die indische Befreiungsbewegung aus und trugen wesentlich zu ihr.em revolutionären Aufschwung von 1918 bis 1922 bei. Besonders tiefgehend waren die Auswirkungen auf die Arbeiterbewegung, die sich in dieser Zeit als neue politische Kraft in Indien zu organisieren begann. In ihrer vollen sozialen u n d ökonomischen Bedeutung wurde die Oktoberrevolution in Indien erst in den 20er Jahren unter dem Eindruck des sich in den zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion vollzie-

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henden sozialistischen Aufbaues und unter den Bedingungen einer sich in Indien entfaltenden demokratischen Bewegung, die das politische Bewußtsein der Volksmassen entwickeln half, erkannt.^ Die von der Oktoberrevolution ausgehenden mächtigen Impulse wirkten sich sofort und direkt auf die indische revolutionäre Befreiungsbewegung im Ausland aus, die auch als erste von allen politischen Organisationen Indiens die Verbindung zur Sowjetunion po aufnahm. Von besonderer Bedeutung und weitreichender Wirkung war das bereits in den ersten Dekreten der Sowjetmacht konsequent angewandte 29 7 Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Im Gegensatz dazu stand die Politik der beiden imperialistischen Mächtegruppen, von denen jede nur bestrebt war, das Selbstbestimmungsrecht als Waffe gegen den imperialistischen Konkurrenten anzuwenden, aber sich weigerte, das gleiche in eigener Sache zu t u n . V o n deutscher Seite wurde nicht einmal diese Taktik eingehalten, sondern gerade gegenüber der indischen Befreiungsbewegung verhielt sich die deutsche Regierung - wahrscheinlich mit Rücksicht auf England - in ihren offiziellen Erklärungen sehr zurückhaltend. Natürlich löste diese Haltung bei den Indern Enttäuschung und Erbitterung aus.^ Die Forderung, das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung auf Indien anzuwenden, wurde bereits vor der Oktoberrevolution von den indischen Revolutionären in Europa erhoben. Seit dem Internationalen Sozialistenkongreß in Stuttgart im Jahre 1907, an dem auch die in Paris lebenden Inder B.R.K.R. Cama und S.R. Rana teilnahmen, hatten Chattopadhyaya und andere indische Revolutionäre durch die Berichte Madame Camas von Lenin und der Haltung der russischen Sozialdemokraten zur Frage des Krieges und des Selbstbestimmungsrechtes der Völker Kenntnis, ohne allerdings zu diesem Zeitpunkt die Bedeutung des von Lenin repräsentierten revolutionären Flügels•52der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung zu erkennen.y Bereits Anfang 1917 meldete der britische Geheimdienst aus Berlin, daß die Inder unter Leitung Har Dayals damit beschäftigt seien, ein Memorandum über das Thema "Indien für die Inder" als Beitrag für die bei Friedensschluß zu erwartende Diskussion des Rechtes der Nationen auf Selbstbestimmung auszuarbeiten.^ In allen vom Indischen Komitee in der Folgezeit veröffentlichten Dokumenten und Propagandaschriften wurde dieses Prinzip konsequent vertreten und seine Anwendung auf alle Völker gefordert.

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Hatte sich das Stockholmer Zweigbüro bereits im Oktober 1917 an die Bolschewik! in Petersburg mit der Feststellung gewandt, daß das revolutionäre Rußland einen dauernden Frieden auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker anstrebe, um eine Unterstützung für die indische Sache in diesem Sinne zu e r w i r k e n , ^ so boten die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk eine neue Gelegenheit dazu. Während der Verhandlungen wandte sich das Stockholmer Büro telegraphisch an die sowjetische Delegation mit der Bitte, sich der indischen Sache a n z u n e h m e n . ^ Von sowjetischer Seite wurden die Alliierten daraufhin aufgefordert, ebenso wie Rußland das Recht der Völker auf Selbstbestimmung anzuwenden u n d Indien, Ägypten u n d Irland die Freiheit zu geben. Die deutsche Regierung hatte bis dahin die Verbindung des Indischen Komitees mit den Bolschewiki wohlwollend toleriert, ja, teilweise sogar unterstützt. Das Deutsche Auswärtige Amt erblickte in der gegen England gerichteten indischen Propagandatätigkeit in Rußland eine Förderung der deutschen Interessen. In einem internen vertraulichen Schreiben heißt es dazu: Die Inder vermögen "Verbindungen mit Leuten aufzunehmen, die jede Berührung mit Deutschland oder deutschen Agenten unbedingt ablehnen Erst allmählich erkannte man auf deutscher Seite, daß der Kontakt mit den Bolschewiki bei den Indern deren grundsätzliche antiimperialistische Haltung stärken mußte. Die offizielle deutsche Haltung änderte sich mit der Erkenntnis, daß ein Teil der indischen Revolutionäre nicht mehr kritiklos mit Deutschland zusammengehen würde, sondern in der jungen Sowjetmacht eine Alternative zu sehen begann. Sehr deutlich kommt diese Entwicklung in dem Brief eines Inders zum Ausdruck, der direkt die Frage stellt, "... warum Ihre (d.h. die deutsche - H.K.) Regierung nicht offen die Befreiung der Inder, Iren usw. verlangt ...". Im gleichen Brief heißt es dann weiter: "Wenn Ihr Volk uns nicht beistehen will..., wird es ein anderes sein (vielleicht •58 Rußland), das sich das indische Volk zu ewigem Dank verpflichtet". Inzwischen war Trojanowski in Petersburg nicht untätig gewesen. Auf Grund seiner Vermittlung sandte das sowjetische Außenministerium eine Einladung an Chattopadhyaya, nach Petersburg zu kommen. Sie wurde ihm durch das langjährige Mitglied der bolschewistischen Partei W.W. Worowski , der als diplomatischer Vertreter Sowjetrußlands in Stockholm tätig war, ü b e r g e b e n . ^ Die Deutsche Gesandtschaft in Stockholm setzte sich zunächst dafür ein, Chattopadhyaya

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fahren zu l a s s e n . ^ Jedoch in der ersten Februarhälfte änderte sich der deutsche Standpunkt- plötzlich. Äir gehen sicher nicht fehl in der Annahme, daß hierfür politische Ereignisse, wie die mächtigen Streiks im Januar 1918 in Deutschland, die den nachhaltigen Einfluß der Oktoberrevolution auf die deutsche Arbeiterbewegung widerspiegelten, und das begeisterte Echo, das diese machtvollen Kampfaktionen in Sowjetrußland auslösten, eine wesentliche Rolle bei der Änderung der deutschen Haltung gegenüber den sowjetisch-indischen Verbindungen spielten. Andererseits näherten sich in dieser Zeit die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk einem für den deutschen Imperialismus günstigen Ende, der offensichtlich nunmehr glaubte, auf die Ausnutzung der von den Indern hergestellten Verbindungen mit Sowjetrußland verzichten zu können. Diese plötzliche Veränderung der deutschen Haltung veranlaßte Chattopadhyaya, sich in einem Brief an das Berliner Komitee in folgender Weise zu äußern: "... we are constrained to say that this is one of those cases in which we are regarded as pawns in the German game to be used only in the moment of need. It is true that Troianowski is an opponent of German imperialism as well as of every other imperialism. But that is really no reason why he cannot work for the Indian cause and in this way against England. Are we ourselves not against every form of imperialism?... As it is, the German Government are fighting shy of the question of nationalities in general, as well as of India, in spite of the African colonies being flung in their face; ... it is really a question whether the German Government looks upon us as sincere patriots or merely as 4-1 tools, and pawns and temporary paid agents...". In diesem Brief wird mit seltener Klarheit deutlich, wie sehr das anfängliche Vertrauen der indischen Patrioten auf eine gleichberechtigte Interessengemeinschaft mit dem deutschen Imperialismus im Kampf gegen England bereits einer tiefen Enttäuschung u n d scharfen Kritik gewichen war. Ihre eigenen Erfahrungen mußten die indischen Revolutionäre schließlich zu der Erkenntnis führen, daß der deutsche Imperialismus den nationalen Befreiungskampf der Kolonialvölker niemals vorbehaltlos u n d grundsätzlich unterstützen würde. Die deutsche Regierung quittierte die beginnende Selbstbesinnung auf Seiten der indischen Revolutionäre entsprechend. In einem Geheimschreiben des Auswärtigen Amtes an den Rußlandreferenten in der Deutschen Gesandtschaft in Stockholm vom 19. Februar 1918 heißt es: "Seiner ganzen Uberzeugung nach steht Chattopadhyaya den Maxi-

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malisten sehr nahe. Mit Deutschland geht er genau so lange zusam¿ip men, als er 3s für Indien für vorteilhaft hält". Die maßlose Arroganz des deutschen Imperialismus gegenüber anderen Völkern wird in einer nachträglichen Stellungnahme zu diesen Ereignissen deutlich, in der in bezug auf die Mitglieder des Indischen Komitees gesagt wird: "Solchen Persönlichkeiten fehlt ... das Urteil über die politische Gesamtlage und das Herz für Deutschlands wahre Interessen. Sie haben meist nur das Bestreben, ihren nationalen Wünschen Ausdruck zu geben . Es versteht sich, daß das Auswärtige Amt die Reise Chattopadhyayas nach Rußland ebenso verhinderte wie die von Har Dayal, dem eine noch engere Verbindimg mit sog. "internationalen Anarchistenkreisen" nachgesagt w u r d e . ^ Einer erneuten, von Trojanowski im Jahre 1918 ausgesprochenen Einladung an das Berliner Komitee, einige Mitglieder nach Sowjetrußland zu schicken, -um dort bei der Behandlung der indischen Präge unterstützend zu wirken, konnte auf Grund der deutschen Haltung ebenfalls nicht Folge geleistet w e r d e n . ^ Unter .den im zaristischen Völkergefängnis lebenden Nationalitäten, besonders in den zentralasiatischen Gebieten, war der Islam weitverbreitet. Die sich hier aus der Verbindung von nationaler und religiöser Frage ergebende Problematik u n d deren Behandlung im Verlauf der revolutionären ühtwicklung in Rußland wurde von den in Europa lebenden Indern aufmerksam verfolgt. Bereits im September 1917 wandte sich das Stockholmer Zweigbüro an den Vollzugsausschuß des allrussischen Mohammedanerrats in Petersburg und warnte diesen 46 davor - ganz im Sinne Lenins - zu glauben, daß die "Stockholmer (Sozialisten - H.K.) Konferenz ... sich für die Völker des Orients 47 einsetzen" würde. ' Die junge Sowjetmacht respektierte von Anbeginn die religiösen Gefühle der Mohammedaner u n d vertrat konsequent die nationalen Interessen der islamischen Völker. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der am 7 . Dezember 1917 erlassene Aufruf "An 48 alle werktätigen Mohammedaner Rußlands und des Ostens". In leidenschaftlicher Sprache wird hierin die Bedeutung der Oktoberrevolution für die nationale und soziale Befreiung aller Völker, insbesondere aber der islamischen, dargestellt. Mit der Ungültigkeitserklärung der die Türkei, Persien und Armenien betreffenden zaristischen Geheimverträge legte die Sowjetregierung ein dauerhaftes Fundament für gutnachbarliche Beziehungen zu diesen Völkern. Nicht zufällig wird die indische Befreiungsbewegung in dem Aufruf begei-

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stert begrüßt. Die sowjetische Nationalitäten- und Islampolitik blieb nicht ohne rtirkuüg auf die im Ausland lebenden indischen mohammedanischen Nationalisten. So entwickelte z.B. der Vorsitzende eines Komitees der indischen Mohammedaner, Abdul Jabbar Khairi, einen Plan folgenden Inhalts s Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den günstigen Zeitpunkt nach dem Frieden von Brest-Litowsk u n d mit der Peststellung, daß fast in der ganzen Welt die Atmosphäre mit dem Prinzip der Selbstbestimmung der Völker angefüllt sei u n d zahlreiche neue Republiken gegründet und neue Demokratien errichtet würden, sollte in Nordindien eine Republik "on the most democratic lines" errichtet und von dort aus die revolutionäre Entwicklung in ¿LQ

ganz Indien unterstützt werden. J Khairi, der zusammen mit seinem Bruder im Frühjahr 1918 in Dänemark mit sozialistischen bzw., wie es in den Akten auch heißt, syndikalistischen Kreisen in Berührung gekommen w a r , ^ legte größten Wert darauf, n a c h Sowjetrußland zu reisen, um die dortigen Verhältnisse kennenzulernen.^"*" Der Verwirklichung dieser Absicht stellten sich Schwierigkeiten entgegen, die nur mühsam überwunden werden konnten. Schließlich erteilte das sowjetische Generalkonsulat die Sichtvermerke zur Reise nach M o s k a u , ^ die in die Zeit der Novemberrevolution in Deutschland fiel. Eine unmittelbare Folge der Oktoberrevolution waren die wechselvollen Ereignisse in Turkestan, das auf Grund seiner strategischen Lage in Zentralasien ein Knotenpunkt sowohl imperialistischer als auch antiimperialistischer Interessen bildete. England suchte, gestützt auf die einheimische feudale Reaktion, mit allen Mitteln zu verhindern, daß die Sowjetmacht in diesem an der indischen Grenze gelegenen Gebiet errichtet wurde. Das sicherlich nicht alle Geheimnisse der britischen Subversionstätigkeit in Zentralasien enthüllende Buch "Mission to Tashkent" des Leiters der englichen Agentengruppe, F.M. Bailey, läßt erkennen, welche skrupellosen Methoden hier angewandt wurden. Der deutsche Imperialismus entwickelte noch in letzter Stunde, als seine Niederlage bereits unabwendbar war, abenteuerliche Pläne zur Herstellung einer Verbindung nach Turkestan. Schließlich sind hier auch die panturanischen Pläne von türkischer Seite zu erwähnen, die in den Vorstellungen von Enver Pasha und anderen türkischen Chauvinisten von einem von Istanbul bis Mit54telasien reichenden Großreich gipfelten.^ Gegenüber diesen imperialistischen und von einheimischen Reaktionären unterstützten Umtrieben mußte die Sowjetregierung natür-

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lieh bestrebt sein, dieses strategisch wichtige Gebiet fest in der Hand zu behalten. Die Bedeutung Turkestans für die indische revolutionäre Befreiungsbewegung wird durch den späteren Gang der Ereignisse unterstrichen, als hierher indische Mohammedaner, die Indien als Mujahidin zur Verteidigung des Khalifats verlassen hatten, gelangten. Ein Teil von ihnen wurde um 1920 in Taschkent in einer speziell eingerichteten Schule erstmalig mit der marxistisch-leninistischen Theorie bekannt. Hier gründete M.N. Roy auch die erste indische kommunistische Gruppe im Ausland. Vor diesem vielfältigen und schnell wechselnden historischen Hintergrund ist die Diskussion zu sehen, die sich im Sommer 1918 zwischen dem indischen Komitee und den deutschen Dienststellen um die Einrichtung eines indischen "nationalistischen Zentrums" in Taschkent entwickelte. Ohne Zweifel spielten dabei die Berichte Mahendra Prataps, der als Präsident der Provisorischen Regierung Indiens aus Kabul über Taschkent u n d Petersburg im Frühjahr 1918 nach Deutschland zurückkehrte, eine Rolle. Pratap berichtete u.a. über den Sieg der Bolschewik! in Turkestan u n d die englischen Interventionsversuche in diesem Gebiet.^® Chattopadhyaya .rar grundsätzlich bereit, nach Taschkent zu gehen. Hierbei verfolgte er jedoch nicht die eben erwähnten Interessen des deutschen Imperialismus, sondern erblickte darin nicht zuletzt eine Möglichkeit, nach Sowjetrußland zu gelangen, um dort 67 direkt mit der Sowjetregierung verhandeln zu können.-" Von Stockholm aus wurde bis zum Kriegsende der Verbindung mit Sowjetrußland größte Bedeutung beigemessen und die Aufrechterhaltung des Stockholmer Büros vor allem mit dem Argument gerechtfertigt, daß nur von dort aus der Kontakt mit Rußland gehalten werden könne. In seinem Bericht vom 27.7.1918 schreibt der als V-Mann des Auswärtigen Amtes tätige deutsche Indologe H.v. Glasenapps "Er (d.h. Chattopadhyaya - H.K.) hat auch in Rußland das Interesse an indischen Angelegenheiten geweckt und steht in Verbindung mit einflußreichen B o l s c h e w i s t e n " V o n Seiten der in Stockholm tätigen Inder wurde vielfältiges Propagandamaterial in russischer Sprache herausgegeben. Der Versuch, von Trojanowski verfaßte Schriften, die konsequent antiimperialistische, marxistisch-leninistische Gedanken enthielten, in deutscher Sprache in Berlin zu veröffentlichen, mußte jedoch s c h e i t e r n . ^ In den Reihen der indischen Revolutionäre vollzogen sich in den Jahren 1917 und 1918 lebhafte ideologische Auseinandersetzungen.

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Einzeltie Mitglieder des Indischen Komitees, wie z.B. Chempakaraman Pillai, schlössen sich-der chauvinistischen Deutschen Vaterlands60 partei an. ¿ine interessante Haltung nahm Har Dayal ein. Auf Grund seiner Berührung mit der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Kenntnis theoretischer Schriften des Sozialismus gelangte er zu einer richtigen ideologischen Ausgangsposition, wenn er im Frühjahr 1918 feststellt s "Only the socialists are really interested in freedom. All other parties don't care about Asia and the Asiatics. This is at least my personal experience in Switzerland and other countries". Aber im gleichen Moment wird deutlich, daß er sich nicht zum Marxisten entwickelt und die Prinzipien des proletarischen Internationalismus nicht verstanden hatte. Vielmehr zeigte er, daß er im Grunde ein bürgerlicher Nationalist geblieben war, der die sozialistische Bewegung nur auszunutzen gedachte. Dies wird in seinem Vorschlag deutlich, eine sozialistische Zeitung zu gründen und "thus join the rearguard of the Socialist parties... Give me one other friend and two 'socialists' from India are quite sufficient to get a hearing as 'comrades'. Besides I can write in the regular socialistic style with quotations from Marx etc.etc.". Chattopadhyaya reagierte scharf und abweisend auf diesen Vorschlags "... the idea of Mr. H.D.'s (Har Dayal - H.K.) starting a socialist paper ... is one of the most ridiculous that can ever be made. We should on no account follow the ostrich policy of pretending to be anything else but nationalists. There is no such thing as a socialist party in India and one Indian in a European capital does not constitute a party. We should discourage among the very few Indians now at our disposal in Europe any separatist tendencies". 6 5 Diese Stellungnahme läßt erkennen, daß selbst die ideologisch am weitesten fortgeschrittenen indischen Revolutionäre in Europa im Frühjahr 1918 noch nicht auf der Position des Marxismus-Leninismus standen. Andererseits geht Chattopadhyaya von der richtigen Erkenntnis aus, daß eine sozialistische Partei ihre soziale u n d politische Basis in der revolutionären Massenbewegung des Volkes haben muß. In gewisser Weise erinnert seine Haltung an die Worte M.N. Roys, der zur Frage der Gründung der Kommunistischen Partei in Taschkent im Jahre 1920 bemerkt, daß es keinen Sinn hatte, wenn 6a. sich einige Emigranten als Kommunistische Partei bezeichneten. Die Kommunistische Partei Indiens (CPI) wurde im Dezember 1925 in der indischen Industriestadt Kanpur gegründet.

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Eine andere interessante Linie des Einflusses der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf die indische revolutionäre Befreiungsbewegung verläuft über Kabul, wo im Dezember 1915 durch Raja Mahendra Pratap die Provisorische Regierung Indiens proklamiert worden war. Anfang 1918 reiste Pratap von Afghanistan über Turkestan, wo gerade die Bolschewiki die Macht erobert hatten, nach Petersburg. Hier wurde er von sowjetischer Seite - u.a. von Trotzki und Joffe - freundlich aufgenommen. Wie Pratap berichtete, bestätigte man ihm den Empfang des Telegramms aus Stockholm zur Zeit der Verhandlungen von Brest-Iitowsk und versprach ihm, daß Sowjetrußland auch weiterhin den indischen Freiheitskampf unterstützen werde. Pratap war von der Hoffnung erfüllt, daß die Oktoberrevolution zum Erwachen Indiens beitragen werde. Als im Frühjahr 1919 H.v. Glasenapp dem Auswärtigen Amt meldete, daß Pratap eine Broschüre veröffentlichen wolle, in der er die Deutschen auffordere, "sich den Spartakisten anzuschließen und mit den russischen Bolschewisten gemeinsame Sache zu machen", wurde dies von offizieller, d.h. sozialdemokratischer, Seite als eine Einmischung in die "innerpolitischen Verhältnisse Deutschlands'' bezeichnet, Pratap als "Lobredner Trotzkis" gebrandmarkt und die Veröffentlichung verhindert.66 Die offiziellen deutschen Dienststellen waren über die bei den indischen Revolutionären zu beobachtende ideologische ühtwicklung bestürzt. Bereits im Frühjahr 1918 wurden die indischen Nationalisten in einem vertraulichen Schreiben des Auswärtigen Amtes als zumeist "anarchistische oder ganz links stehende Sozialisten" bezeichnet, bei denen es schwer halten würde, sie mit der deutschen "Politik völlig zufrieden zu machen". 6 '' Uber Chattopadhyaya wurde gesagt, daß er "sich ganz mit den Bolschewiki identifiziert" habe und daß unter diesen Umständen seine Reise nach Rußland "geradezu C O

gefährlich" sei. Raja Mahendra Pratap war nach Ansicht des Auswärtigen Amtes "in Rußland ganz unter den Einfluß der Bolschewiki geraten" u n d glaubte, "daß das Heil Indiens von Rußland kommen w e r d e D i e s e Beispiele zeugen von der Furcht der deutschen Imperialisten, ihr falsches Spiel könnte von den Völkern aufgedeckt werden. Der besorgten Feststellung, die indischen Patrioten könnten zu der Erkenntnis gelangen, "daß von der Verwirklichung der bolschewistischen Revolutionsideale in der ganzen Welt einschließlich Englands für Indien mehr zu erhoffen ist als von Deutschland" brauchen wir nichts hinzuzufügen.

H. Krüger Wir haben uns in unseren bisherigen Ausführungen auf die Tätigkeit der indischen Revolutionäre in Buropa konzentriert. Werfen wir noch einen kurzen Blick auf Nordamerika. Ungeachtet der Rückkehr einer großen Anzahl von Ghadarmitgliedern nach Indien in den ersten Kriegsmonaten in der Absicht, an dem geplanten bewaffneten Aufstand teilzunehmen, setzte die Ghadarpaxtei ihre Tätigkeit während des Weltkrieges von Amerika aus fort. Dabei bestand eine gewisse Zusammenarbeit, auch in Form materieller Unterstützung, sowohl mit offiziellen deutschen Dienststellen als auch mit dem Berliner Indischen Komitee. Wie bereits bemerkt, unterschied sich die Ghadarpartei auf Grund subjektiver und objektiver Bedingungen in ihrer ideologischen Haltung bis zu einem gewissen Grade von der der in Europa lebenden indischen Revolutionäre. Dabei spielten ohne Zweifel die Verbindungen zu dem in dieser Zeit fortgeschrittensten Flügel der amerikanischen Arbeiterbewegung, den militanten "Industrial Workers of the World" (I.W.W.) und zu in Amerika lebenden russischen Revolutionären eine wesentliche Rolle. Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, daß auch die in Nordamerika lebenden Inder von den Ideen der russischen Revolution erfaßt wurden. Schon die Februarrevolution fand ein lebhaftes Echo bei den Ghadarmitgliedern. So schrieb die Zeitschrift "Ghadr" über die wahrscheinlichen Auswirkungen der Februarrevolution auf Indien und über die Lehren, die die Inder aus der russischen Revolution ziehen müßten. Die wichtigste Schlußfolgerung für die Inder sei, die "revolutionären Ideen" zu verbreiten und ohne Unterlaß "den 71 Aufstand zu predigen". Die Nachricht vom Sieg der Oktoberrevolution erreichte die in den USA lebenden Inder zu einem Zeitpunkt, da viele von ihnen nach dem Kriegseintritt der USA auf englisches Betreiben einer großen Verhaftungswelle zum Opfer gefallen waren und ihrer Aburteilung durch amerikanische Gerichte entgegensahen. Es bestand die Gefahr, daß die indischen Revolutionäre an England ausgeliefert würden. In dieser Situation, am 12. November 1917i sandte der Führer der Ghadarpartei, Ram Chandra, einen Brief an Präsident Wilson. Darin wird Wilsons Erklärung begrüßt, daß kein Volk gezwungen werden dürfe, sich dem Joch einer fremden Herrschaft zu unterwerfen. Die Forderung, daß auch Indien nach diesem Grundsatz behandelt werden müsse, vermochte Ram Chandra nicht besser zu begründen, als daß er ausdrücklich mit den Worten "The Council of the Workmen's

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and. Soldiers' delegates in Russia", eine vom Arbeiter- und. Soldatenrat in Petersburg veröffentlichte Erklärung gegen die Unterdrückung Indiens, Ägyptens und Irlands zitierte.^ Bei den Verhaftungen indischer Revolutionäre wurden u.a. auch Kopien eines Briefes, der von der "Indian Nationalist Party" am 12. Dezember 1918 aus New York an den Arbeiter- und Soldatenrat in Petersburg gerichtet worden war, beschlagnahmt. Als mutmaßliche Verfasser wurden der im Jahre 1916 aus Kalkutta geflohene Professor Sailen Nath Ghose, der schon in der Vorkriegszeit in den USA tätige Tarak Nath Das und die amerikanische Bürgerin Agnes Smedley verhaftet. Dieser Brief, aus dem wir hier nur wenige Auszüge zitieren können, ist ein stolzes und aufschluBreiches Dokument, das von einer beachtlichen politischen Reife und von einem tiefen Verständnis für die durch die Oktoberrevolution eingeleitete Entwicklung zeugt. Erstmalig wird hier die Klassenfrage berührt, wenn, nachdem die Sowjetmacht als Regierung "durch das Volk und für das Volk" gekennzeichnet wurde, festgestellt wird, daß die britische Herrschaft in Indien durch die "indischen Schmeichler und Ausbeuter" gestützt wird. Auch diese Worte, daß das 'freie Rußland ein Programm für den Fortschritt der Menschheit verkündet" habe, sind hervorzuheben. Der Brief, der die Bitte um Unterstützung für die inhaftierten indischen Revolutionäre enthält, schließt mit den Worten: "Long live Free Russia! May she be the leader of the movement for true freedom in the world!"^ Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, daß die amerikanische Arbeiterbewegung in der Periode ihres revolutionären Aufschwunges nach der Oktoberrevolution nicht nur gegen die imperialistische Intervention in Rußland protestierte, sondern auch gegen die Auslieferung der indischen Revolutionäre an England auftrat . Wir haben versucht, an einem Teilabschnitt der indischen Befreiungsbewegung zu zeigen, wie die Große Sozialistische Oktoberrevolution die politische Umorientierung und ideologische Entwicklung vieler indischer Revolutionäre zu einer konsequent-antiimperialistischen Haltung und zu Freunden Sowjetrußlands einleitete. Die neue, durch den Sieg der russischen Arbeiter und Bauern sowie durch das Ende des 1. Weltkrieges bestimmte historische Situation verlang- ' te auch von den im Ausland lebenden indischen Revolutionären eine Entscheidung. Den letzten Anstoß gab die Ankunft des Mitgliedes der

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Ghadarpartei Khankoje, der 1919 eine geheime Zusammenkunft mit dem Führer des revolutionär-demokratischen Flügels Bai Gangadhar Tilak in Bombay hatte. Lokamanya Tilak gab ihm den Hat, nach Rußland zu gehen, mit den Worten: "Something may turn out from there".''Zt' Im Jahre 1920 entschied sich die Mehrzahl der Mitglieder des Indischen Komitees auf einer Konferenz in Stockholm für die Sowjetunion. Im nächsten Jahr reiste eine starke Delegation unter Leitung V. Chattopadhyayas nach Moskau. Zusammenfassend können wir feststellen: Der Einfluß der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf die indische Befreiungsbewegung und auf den Verlauf der indischen Geschichte seit 1917 ist ungeheuer tief und vielfältig. Das ganze Ausmaß des Prozesses der Einwirkung und der damit verbundenen, sich noch immer verstärkenden Freisetzung von Kräften und Gegenkräften sind noch längst nicht erfaßt und erforscht. '.iir möchten hier nur auf einige Momente hinweisen, die in Beziehung zu unserem Thema stehen. 'Senn die Oktoberrevolution bewirkte, daß Indien zu einem Hauptproblem der internationalen Beziehungen wurde, so hat die indische revolutionäre Bewegung im Ausland zu dieser Entwicklung beigetragen. Es ist weitgehend das Verdienst der russischen Bolschewiki, daß die indische revolutionäre Befreiungsbewegung auf die Bedeutung der sozialen Frage für die Lösung der nationalen Frage hingewiesen wurde und die Notwendigkeit der Schaffung einer breiten organisierten Massenbewegung erkannte. Zahlreiche indische Revolutionäre fanden den Weg zur Kommunistischen Partei bzw. entfalteten in demokratischen Massenorganisationen eine progressive Tätigkeit. Es gibt kein besseres Zeugnis für die in den 20er Jahren in Berlin tätigen Inder, bei denen es sich zum großen Teil um alte Revolutionäre des Berliner Komitees mit Chattopadhyaya an der Spitze handelte, wenn die Weimarer Regierung sie auszuweisen bzw. auszuliefern suchte, weil sie "die bolschewistische Propaganda in Deutschland" u n t e r s t ü t z t e n . ^ ihre Auslieferung an die Engländer wurde nur dadurch verhindert, daß die Furcht der britisch-indischen Regierung vor der Anwesenheit der indischen Revolutionäre aus Deutschland, die die kommunistische Bewegung in Indien unterstützen würden, noch größer war. üiiemalige Mitglieder der Ghadarpartei - die "Babas" - bildeten den Kern der Kommunistischen Partei im Panjab.

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Das gleiche gilt für die Revolutionäre in Bengalen und anderen Teilen Indiens. Die Ghadarpartei in den USA schloß sich 1921 der III. Internationale an. V. Chattopadhyaya wurde 1927 Mitbegründer der "Liga gegen den Imperialismus" und ihr Sekretär. Man darf ohne Übertreibung sagen, daß er eine ganze Generation indischer Intellektueller und Studenten im fortschrittlichen Sinne beeinflußt und zu Freunden der Sowjetuniongemacht hat. J. Nehru, der ihn seinen "älteren Bruder" nannte, wurde durch Chatto veranlaßt, 1927 nach Moskau zu reisen und sich mit dem sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion bekannt zu machen. Bs wäre leicht, die Liste der Beispiele fortzusetzen. Wir begnügen uns mit der Peststellung, daß die Tätigkeit der im Ausland für die nationale und soziale Befreiung der Völker Indiens arbeitenden Revolutionäre nach 1917 einen neuen politischen Inhalt erhielt und im Zusammenwirken mit zahlreichen anderen, innerindischen und internationalen Faktoren, von denen in steigendem Maße das Beispiel des sozialistischen Aufbaues in der Sowjetunion an Bedeutung gewann, die Entwicklung einer echten demokratischen, tief im indischen Boden verwurzelten Massenbewegung unterstützte. Die Ideen und Lehren der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, an deren Verbreitung die indischen Revolutionäre einen erheblichen Anteil haben, sind, bereichert und verstärkt durch das Beispiel des sozialistischen Weltsystems, heute in Indien aktueller denn jemals zuvor. Die Erfahrungen und die Ergebnisse der Entwicklung in Indien seit 1947 beweisen, daß die nationalen und sozialen Probleme Indiens mit kapitalistischen Methoden nicht zu meistern sind. Die ungelöste soziale Frage droht die nationale Unabhängigkeit zu gefährden. Es entwickeln sich jedoch die Kräfte, die eine Wende herbeiführen können. Die indischen Volksmassen sind in Bewegung gekommen.

S u m m a r y The influence of the Great Socialist October Revolution is largely based on the fact that Soviet power was established in a vast country comprising European as well as Asian territories. Czarist Russia was characterised by a diversity of socio-economic, politi-

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cal and cultural conditions which included most advanced capitalist relations of production as well as most backward feudal and prefeudal social conditions existing at the same time. The Russians were therefore obliged b y this situation to solve within a short period the very difficult, historic task of building up socialism not only in socially more advanced regions but also to overcome the backwardness in the borderlands inhabited b y various nationalities. From the very beginning Soviet power put into practice the alliance between socialist revolution and national freedom movements. The significance of the Socialist October Revolution did not end with a single historic act, but introduced a dynamic process of increasing historic efficacy which is going on even today. Lenin emphasized the close connection between national freedom movements and international socialist revolution. But at the same time he pointed out the reciprocal relation between the national and social question when he stated that the peasantry of the east could be drawn into the anti-imperialist liberation movement only if the latter included abolition of feudal relations of production in its programme. The Indian bourgeoisie leading the national freedom movement was not in a position, because of her peculiar class situation, to link the social question with the national movement which therefore lacked a broad social basis in the peasantry before the end of World War I a n d before 1917• This was the main reason why the secret revolutionary societies of that time remained isolated from the people. When in India a revolutionary upsurge took place in 1905-1908 there were already Indian revolutionary centres existing in Europe and North America. They differed in their social composition, i.e. in Europe the members were mostly intellectuals and students while the Ghadar Party in the USA and Canada had a firm basis in several thousands of Indian workers and peasants. The Indian nationalists living in the more advanced countries also became acquainted to a certain extent with socialist ideas but for them the working class movement was primarily an ally against imperialism. The problem of class struggle was ignored b y them. World War I created a favourable situation for the Indian revolutionaries; it gave them the opportunity of utilizing the differences between the imperialist powers. German imperialism was in-

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terested in India because she delivered raw materials and was also a good market for industrial production. During the War the German Government, tried to utilize the national freedom movements of the Asian and African peoples for imperialist ends. In September 1914 an Indian Independence Committee was founded in Berlin. In collaboration with the German Government the Indian revolutionaries became very active in assisting the plans for a national rising in India. In order to be able to carry out propaganda more effectively a branch office of the Berlin Committee was established in Stockholm in neutral Sweden in May, 1917. During this period of collaboration with the German Government the Indian revolutionaries became encreasingly disappointed and annoyed with Imperial Germany. This critical attitude makes it understandable that the Indian patriots were eager to seize the new possibilities arising out of the revolutionary development in Russia. Already on the 1st of November, 1917 Virendranath Chattopadhyaya, who was in charge of the Stockholm office, sent a plan for the Indian work in Russia to Berlin. The contents of this document were influenced to a certain extent by the Russian Bolshevik K.M. Trojanovsky. The Indian revolutionaries were most of all deeply influenced by the law on self-determination of nations put into practice in Soviet Russia. The example of the Soviet policy towards the Islamic peoples was also very important. When the German Government discovered that the Indians were beginning to look towards Soviet Russia as an alternative to Imperial Germany the German officials tried to prevent further contacts with Petrograd. Daring 1917 and 1918 an ideological differentiation took place among the Indian revolutionaries, proving that it was a long process for a radical nationalist to become a Marxist. Even in spring 1918 the most advanced among them could not be called Marxists. But the direction of their further political development was already apparent at that time. The Indians living in USA were also deeply influenced by the Socialist October Revolution. Among many other proofs of the deep impact of this historic event, a letter from the Indian Nationalist Party addressed to the Workers' and Soldiers' Council in Petrograd should be mentioned here.

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The Socialist October Revolution and the living example of socialist reconstruction in Soviet Russia has helped the Indian freedom movement to frame a more comprehensive political outlook and programme based on a democratic mass movement. This is also the basis for solving the national and social problems of contemporary India.

Anmerkungen 1 W.I.Lenin: Werke. Bd.30. Berlin 1961, S.144. 2 Ebenda, S.136ff. 5 Ebenda, S.147. 4 Ebenda. 5 Ebenda, S.136ff.; W.I.Lenins Werke. Bd.35, S.488. 6 W.I.Lenin: Werke. Bd.18, S.152ff. 7 R.Singhs The Ghadar Heroes. Forgotten Story of the Punjab Revolutionaries of I914-I5. Bombay (1946); K.Singh, S.Singh: Ghadar 1915. India's first armed revolution. New Delhi 1966. 8 W.I.Lenin: Werke. Bd.18, S.I55. 9 H.Krüger: Zur Entwicklung der antiimperialistischen Ideologie in Indien. MIO. IX. Berlin 1963, S.268ff. 10 L.Haase: Wirtschaftliche Dominions. In: Deutsche Kolonialzeitung. 34.Jg. Berlin 1917, S.I83. Dazu: H.Stoecker: Bemerkungen über die deutschen Kriegsziele in Afrika südlich der Sahara. In: Arbeitstagung. Die Politik des deutschen Imperialismus gegenüber den kolonial und halbkolonial unterdrückten Völkern während des 1. Weltkrieges, unter besonderer Berücksichtigung der Kriegsziele. Wiss.Zschr. Humboldt-Univ. Berlin. Ges.Sprachw.R., XIII. Berlin 1964, S.8?l. 11. I.Werner: Zur Indienpolitik des deutschen Imperialismus seit dem Ende des 19«Jh. bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges. In: Sonderheft Zur Geschichte des Kolonialismus und der nationalen Befreiung. ZfG. IX. Berlin 1961, S.277ff. 12 H.Krüger: Zur Indienpolitik des deutschen Imperialismus während des 1. Weltkrieges. In: Wiss.Zschr. Humboldt-Univ., S.866. 1* Public Record Office, London (in der Folge PRO abgekürzt), Deutsches Auswärtiges Amt (im folgenden AA abgekürzt), Wk 11. Bd.11 Bl.32. Schreiben v.Oppenheims an Bethmann-Hollweg vom 18.8.1914.

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M.Freiherr v.Oppenheim: Denkschrift: Die Revolutionierung der islamischen Sebiete unserer Feinde. PRO, a.a.O. Bd.2, Bl. 99. Ebenda, Bl. 30ff. National Archives of India, New Delhi (in der Folge NAI abgekürzt). Home Dept. Pol. B. Febr.1919- No 181-4, p.24.

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H.Krüger: Har Dayal in Deutschland. MIO. X. Berlin 1964, S. 141ff. NAI, AA Wk llf. Bd.38. B l . 5 3 . Hierzu: Brief der Indischen Nationalpartei. Berlin. 16.1.1917 an die Redaktion. In: Der Neue Orient (NO). l.Jg. Bd.2. Berlin 1917, S. 339f.

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NAI, a.a.O., Bd.38. Bl.53.

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Wie V.Chattopadhyaya in einer am 18.3.1934 auf einer Veranstaltung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Leningrad, gehaltenen Rede ausführte, stand er seit September 1917 in Verbindung mit Petersburg: Ungezeichnete, masch. Abschrift der Rede.

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Siehe hierzu das Telegramm an den Vollzugsausschuß des Allrussischen Mohammedanerrats in Petersburg vom 3-9-1917s NAI, a.a.O., Bd.39. Bl. 55f*r Telegramm an den Arbeiter- und Soldatenrat in Petersburg im Oktober 1917s NO. l.Jg. Bd.2. Berlin 1917, S.107.

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NAI, a.a.O., Bd.40. Bl. 22f. Blaubuch. Sammelband v o n Geheimdokumenten. Redaktion und Einführung K.M. Trojanowski. Hrsg.v. Volkskommissariat f. Auswärtige Angelegenheiten, Moskau 1918 (russ. Sprache).

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K.M. Trojanowski: Der Orient u n d die Revolution. Versuch der Konstruktion eines neuen politischen Programms für die Länder des Ostens - Indien, Persien und China. Moskau 1918 (russ. Sprache). NAI, a.a.O., Bl.24-30. T.Mende: Conversations with Nehru. Bombay 1958, S. 16f.; J.Nehru: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Briefe an Indira. Ubersetzg. aus dem Englischen. 4.Aufl. Düsseldorf 1957) S. 980ff.; Z.Imam: The Effects of the Russian Revolution on India, 1917-1920. In: South Asian Affairs 2.- The Movement for National Freedom in India. Ed. b y S.N. Mukherjee. St. Antony's Papers 18. London 1966, S. 74ff.

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Z.Imam, a.a.O., S.86. Jedoch handelte es sich nicht, wie Imam schreibt, um Abgesandte der Oftiadarpartei von Berlin aus, son-

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dem die frühesten Verbindungen wurden von Stockholm aus hergestellt . Dies gilt für die ""Botschaft an die Arbeiter, Soldaten und Bauern" vom 8.11.1917 (W.I.Lenin: Werke. Bd.26, S. 237f.), für das "Dekret über den Frieden" vom 9-11.1917 (W.I.Lenin: Werke. Bd.26, S. 239ff•) und für die "Deklaration der Rechte der Völker Rußlands" vom 15.11.1917 (Dekrete der Sowjetmacht. Bd.l. Moskau 1957, S. 39f., russ. Sprache) als auch für alle folgenden entsprechenden Gesetze und Verordnungen der Sowjetregierung. Siehe hierzu: R.Arzinger: Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart. Berlin 1966, S. 57ff. F.Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914-1918. Düsseldorf 1961, S.386. Als Beispiel hierfür: Brief der Indischen Nationalpartei in Berlin an die Redaktion vom 16.1.1916. In: NO. l.Jg. Bd.2. Berlin 1917, S. 339fRede V. Chattopadhyayas am 18.3.1934-: Ebenda. NAI. Home Dept. Pol. March 1917- Nos. 625-628, S.15. Siehe Anmerkung 22. NAI. AA Wk llf Bd.42. B1.190. Gespräch des Verfassers mit B.N. Datta, Generalsekretär des Indischen Unabhängigkeitskomitees 1917-1918, im Dez. 1958 in Kalkutta; B.N. Datta: All-India Old Revolutionäres Conference. New Delhi 1958, S.7. NAI, a.a.O., Bd.40. B1.20, G.A. 6.11.1918. Brief von Ddvadas aus Genf, Februar ,1918: NO. l.Jg. Bd.2. Berlin 1918, S. 478. Rede V. Chattopadhyayas am 18.3.1934: Ebenda. NAI, a.a.O., Bd.41. B1.42. Tel. 14.1.1918; a.a.O., B1.47. Tel. 23.1.1918. NAI, a.a.O., Bl. 229f- Abschrift eines Briefes V. Chattopadhyayas aus Stockholm vom 12.2.1918 an das Berliner Komitee. NAI, a.a.O., Bl. 236. NAI, AA Engl. Besitzungen Asien 2. Bd.58. Brief des deutschen Gesandten F. Rosen in Holland an das Auswärtige Amt vom 26.5» 1919NAI, a.a.O., Bl. 236. Gespräch mit B.N. Datta, a.a.O. W.I.Lenin: Werke. Bd.25, S.246. NAI, a.a.O., Bd.39. B1.55- Te'l. 3.9.1917-

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Dekrete der Sowjetmacht, a.a.O., S. H 3 f f .

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NAI, a.a.O., Bd.42. Bl. 107f. Brief des deutschen Botschafters Bernstorff in Konstantinopel 15.3.1918 mit Anlage. NAI, a.a.O., Bd.46. B1.102 u. 191.

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Ebenda, Bl. 118f. Ebenda, Bl. 147F.M. Bailey, Lt.-Col.: Mission to Tashkent. London 1946. E.Werners Panturkismus und einige Tendenzen moderner türkischer Historiographie. Ins ZfG. XIII.Jg. Berlin 1965, S. 1342ff.

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M.Ahmad: The Communist Party of India and its Formation Abroad. Calcutta 1962; M.N. Roy: Memoirs. Bombay 1964, S. 419ff.; Sh. Usmani: I met Stalin twice. Bombay 1953» NAI, a.a.O., Bd.42. Bl. 217ff- Handschriftliche Aufzeichnung Glasenapps. 3I.3.I9I8. NAI, a.a.O., Bd.45. Bl. 115f., I30f. NAI, a.a.O., Bl. 112ff. Ebenda. NAI, Engl. Besitzungen Asien 2. Bd.57. Handschriftliche Randbemerkung Wesendoncks zu dem Konzept eines Briefes des Unterstaatssekretärs an den Vorstand des "Bundes der Freunde Indiens". 28.6.1918. NAI, AA Wk llf. Bd.42. B1.188. Brief an B.N. Datta. I8.3.I9I8. Ebenda. - Siehe auch: H.Krügers Har Dayal in Deutschland. MIO. X. Berlin 1964, S. 141ff. NAI, a.a.O., Bd.43. Bl. 55f. Abschrift eines Briefes vom 28.3.

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M.N.Roy, a.a.O., S.495NAI, a.a.O., Bd.42. B1.190. Schreiben des AA an Freiherrn v. Grünau. 27.3-1918. NAI, a.a.O., Bd.47. Bericht Glasenapps an das AA vom 15.4.1919 mit Anlage u. Brief des deutschen Gesandten in der Schweiz Adolf Müller. 6.5.1919-

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NAI, a.a.O., Bd.42. Bl. 92ff. Bericht 19.3.1918. NAI, a.a.O., Bd.41. Bl. 147ff. Handschriftl. Entwurf eines Briefes Wesendoncks. 6.2.1918. NAI, a.a.O., Bd.42. Bl. 191f. Handschriftl. Entwurf eines Briefes Wesendoncks. 27-3-1918. NAI, a.a.O., Bd.41. Bl. 147ff.

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Ausgabe 28.3.1917• NAI. Mikrofilmkopien des National Archives and Records Service,

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H. Krüger Washington, USA: Record Group 118, Records of United States Attorneys and Marshalls. 73 74 75 76

NAI. Home Dept. Pol. June 1918. 491-494-B. NAI. Board of History of Freedom Movement in India. Autobiographie von P. Khankoje, masch. Abschrift. NAI. Home Pol. 1925. No. 149, S.l. Ebenda.

M a r t i n

R o b b e

Nationalismus und Sozialismus im Programm revolutionär-demokratischer Kräfte des Nahen Ostens Die arabischen Völker im Nahen Osten stehen in ihrem Kampf für n a tionale und soziale Befreiung vor schweren u n d komplizierten Aufgaben. Sie haben sich nicht nur mit ihnen fremden u n d feindlichen äußeren Mächten auseinanderzusetzen - zunächst standen sie der osmanischen Herrschaft, dann der Kolonialpolitik kapitalistischer und imperialistischer Staaten gegenüber - , sondern auch mit der inneren Reaktion und der Rückständigkeit, die Feudalismus und Kolonialismus hinterlassen haben. Schon die Erkenntnis der vielfältigen und vielschichtigen Zusammenhänge, in die ihr Kampf hineingestellt ist, bereitet große Schwierigkeiten; sie stößt, indem es ihr um geistige Befreiung geht, ebenfalls auf innere u n d äußere Widerstände, nicht zuletzt auf die Macht der Tradition; ihr Vollzug jedoch ist Voraussetzung und Element der praktischen Befreiung. Der arabische Befreiungskampf schließt darum von Anfang ein das Bewußtwerden seiner objektiven Erfordernisse ein. Nationalismus und Sozialismus wurden zu Kristallisationspunkten in dem Prozeß, in dem die Völker bzw. ihre Führungskräfte um das Verständnis u n d um die programmatische Formulierung ihrer geschichtlichen Stellung und ihrer Perspektive ringen. Und in den weltweiten Klassenauseinandersetzungen der Gegenwart, die sich in jüngster Zeit auch wieder im Nahen Osten zuspitzten und in denen der Imperialismus versucht, seine Positionen zu behaupten und verloren gegangene zurückzuerobern, gewinnt der bewußte Faktor noch an Bedeutung.

I. Bejahung u n d Verabsolutierung des Nationalen Als im vergangenen Jahrhundert europäische Mächte, voran England und Frankreich, begannen, in den Nahen Osten einzudringen, ersetzten sie die osmanische Herrschaft durch ihre eigene. Die in der Begegnung mit Europa einsetzende Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse eröffnete den arabischen Völkern, für die in den Jahrhunderten des türkischen Despotismus die Zeit gleichsam stehen geblieben war, jedoch zugleich neue Möglichkeiten für eine Entfaltung ihrer materiellen und geistigen Kräfte im Rahmen eines natio-

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nalen Zusammenschlusses.' Sie nahmen, von bürgerlich-demokratischen Idealen inspiriert, den Kampf sowohl gegen die fremden Herren als auch gegen feudale Erstarrung auf. Einen ersten Höhepunkt erreichte ihre Befreiungsbewegung in dem von ägyptischen Offizieren begonnenen und geleiteten ( OräbI-Aufstand (1879/82), der jedoch von britischen Trupnen blutig niedergeschlagen wurde. In der zweiten Phase des Ringens um nationale Unabhängigkeit übernahmen Vertreter der städtischen Intelligenz die Führving; in Ägypten stand Mustafa Kämil eui ihrer Spitze, der auch Vorsitzender der 1907 gegründeten al-hizb al-watanl ("Vaterlandspartei") wurde, während sich in Syrien, das länger der türkischen Vorherrschaft unterworfen war, die Patrioten in geheimen Bünden und Gesellschaften sammelten. Mit und nach der siegreichen sozialistischen Revolution 1917 in Rußland, die das ganze kapitalistische Weltsystem erschütterte, wandelten sich Inhalt, Konsequenz und Erfolgsaussichten des arabischen Befreiungskampfes. Er wurde zu einem Element des revolutionären Weltprozesses, der zum Untergang des Kapitalismus und zum Aufstieg des Sozialismus führt. Beginnend 1918/19 in Ägypten, kam es in der arabischen Welt zu Aktionen der Volksmassen mit antiimperialistischem lind antifeudalem Inhalt, die bis zum bewaffneten Aufstand führten. Die Zerschlagung des Faschismus durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten im 2. Weltkrieg sowie die Entwicklung des Sozialismus zu einem Weltsystem haben es den arabischen Völkern dann ermöglicht, ihre politische Unabhängigkeit zu erringen und mit Unterstützung der sozialistischen Staaten wiederholt gegen imperialistische Anschläge zu verteidigen, während ihr antiimperialistischer Kampf seinerseits die Positionen der sozialistischen Gesellschaft und der anderen revolutionären Kräfte in der Welt stärkt. In der Führung des arabischen Befreiungskampfes haben verschiedene Fraktionen des Bürgertums und Kleinbürgertums einander abgelöst. Während jedoch die sich mit der kapitalistischen Entwicklung herausbildende nationale Großbourgeoisie, deren Vertreter in Ägypt e n mit der Gründung der Wafd-Partei 1918 Anspruch auf die Führung der Unabhängigkeitsbewegung erhoben, von Anfang an Kompromissen zugeneigt waren, bergen die Zwischenschichten, die auf Grund der verhältnismäßig geringen Polarisierung der Klassenkräfte zahlenmäßig u n d politisch noch heutft bedeutungsvoll sind, echte revolutionäre Potenzen. Aus ihnen rekrutieren sich auch vorwiegend die Kräfte, die nach dem 2. Weltkrieg in Ägypten und Syrien die Führung der

M. Robbe Befreiungsbewegung übernahmen. Die Ba c t-Partei etwa hatte nach eigenen Angaben zur Zeit ihres I. Kongresses 19^7 ihre (zumeist Vinter 30 Jahre alten) Anhänger unter Universitätsangehörigen u n d Lehrern sowie unter Angestellten und freien Gewerbetreibenden.^" Nicht wenige von ihnen hatten zeitweise mit dem Kommunismus kokettiert, dann aber, erschreckt von seiner geistigen Disziplin u n d den Konsequenzen seiner sozialen Forderungen, nach unverbindlicheren Lehren Ausschau gehalten. Die zwölf Mitglieder des Revolutionskomitees, das 1952 den Umsturz in Ägypten leitete, entstammten ebenfalls städtischen und bäuerlichen Mittelschichten. Sie hatten eine höhere Schulbildung genossen u n d bis auf eine Ausnahme die Militär-Akademie nach 1936 besucht, als deren Tore auch den Söhnen 2 nichtprivilegierter Familien offenstanden. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Führungskräfte sahen in einer Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens auf nationaler Grundlage die entscheidende Voraussetzung für jeden Fortschritt, sowohl für die Überwindung der sozialen und geistigen Stagnation als auch für die Befreiung von der Fremdherrschaft. Sie forderten den Nationalstaat als Erneuerung und erneute Verkörperung vergangener Größe und suchten im Islam nach eigenen Quellen, u m der Gefahr einer "geistigen Überfremdung" zu begegnen. Muhammad f Abduh, der bedeutendste islamische Theologe der Neuzeit, stellte dem in Formeln erstarrten "historischen Islam" seiner Zeit einen idealisierten "Früh-" oder "Urislam" gegenüber, in dem er Vernunft und Offenbarung vereint sah; er schuf damit ein Modell zur Aktualisierung und Aktivierung des Islam, das noch heute von praktischer Bedeutung ist' und in seinen Grundzügen mit der Idealisierung des Urchristentums in progressiven christlichen Bewegungen übereinstimmt. Die mit dem Kapitalismus entstehenden neuen sozialen Verhältnisse zerstörten zugleich das alte Ideal der umma, nach dem Staat und Kirche eins waren u n d nach dem das islamische Gesetz (äari r a) das Verhalten der Gläubigen selbst in profanen Fragen des Alltags regelte; das nationale Prinzip verlangte zudem die Eingliederung auch der Nichtmuslime, die vor allem im gemeinsamen antiimperialistischen Kampf vollzogen wurde. Die unbedingte Bejahung der nationalen Eigenständigkeit, für die ungefähr 1930 der Terminus al-qaumlya al- "arablya ("arabischer Nationalismus") geprägt wurde, ist zum allgemein anerkannten u n d verbindlichen Leitbild des arabischen Befreiungskampfes geworden. Das Bekenntnis zum Nationalen hat sich im Nationalismus in gewisser

M. Robbe Hinsicht geradezu verselbständigt, und bis in die Gegenwart formuliert jede bürgerliche oder kleinbürgerliche Partei oder Gruppe in ihm ihre Überzeugung, im Kamen der ganzen Nation zu sprechen; die Ba c t-Partei spricht schon in ihrem Namen von "arabischer Auferwekkung", und die ägyptischen Staatsführer werten die von ihnen 1952 begonnene Revolution als einen Akt nationaler Wiedergeburt und sehen in ihr, wie Samäl 'Abdannäsir ("Nasser") in seiner Abhandlung "Die Philosophie der Revolution" erklärt, "eine Hoffnung verwirklicht, der das ägyptische Volk nachhing u n d nachstrebte, seit es in unserer Ära überhaupt wieder daran dachte, sich selbst zu regieren und sein Geschick in seine eigenen Hände zu nehmen".^ Was aber ist Nationalismus? Hans Kohn, der sich eingehend mit ihm beschäftigt hat, nennt ihn eine "Geisteshaltung, von der die Mehrheit der Bevölkerung ergriffen ist und die den Anspruch erhebt, die Gesamtheit der Bevölkerung erfassen zu können; sie erkennt den Nationalstaat als die ideale Gestalt der politischen Ordnung und die Nation als die Quelle aller schöpferischen Kulturkräfte und des wirtschaftlichen W o h l s t a n d e s " O d e r Eugen Lemberg definiert Nationalismus als "die Bindekraft..., die nationale oder quasinationale Großgruppen integriert". Das geschieht seiner Meinung nach dadurch, daß eine Ideologie der zu integrierenden Gruppe Merkmale zuschreibt, die sie von ihrer Umgebung unterscheidet, ihr eine besondere Rolle ("Sendung") zuweist, sie mit dem Bewußtsein einer Überlegenheit gegenüber der Umwelt erfüllt, das Gefühl einer Bedrohung von außen erzeugt und den einzelnen zur Hingabe an die eigene

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Gemeinschaft veranlaßt. Kohn und Lemberg (andere bürgerliche Gelehrte stimmen grundsätzlich mit ihren Auffassungen überein) beschreiben damit Erscheinungsformen des Nationalismus, ohne indessen sein Wesen zu erfassen. Sie deuten ihn, das ist ihr Grundfehler, als eine primär geistige Integrationskraft. Nach Kohn ist er entstanden "als eine Folge von Veränderungen der Psychologie des Gemeinschaftssinries, der Einstellung des Menschen gegenüber oallen Äußerungen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens". Und Lemberg sieht ihn im seelischen Bedürfnis des einzelnen nach Selbstbestätigung durch intensive Hingabe an eine überindividuelle Instanz begründet. Schon der spätantike u n d christliche Universalismus sind seiner Auffassung nach "eine Art Nationalismus", und Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus werden von ihm als "Integrationsideologien großer nationaler Gesellschaften"9 auf. einen gemeinsamen Nenner gebracht.

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Der Nationalismus bezieht seine Integrationskraft jedoch nicht aus sich selbst, sondern aus gesellschaftlichen Prozessen materieller Natur. &r ist eine ihrem Klassencharakter gemäße Reaktion bürgerlicher und kleinbürgerlicher Kräfte auf das objektive Bedürfnis nach nationalem Zusammenschluß, das sich mit der Entwicklung kapitalistischer Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse herausbildet. Der Nationalismus trägt zur nationalen Integration bei, insofern er dieses historische Bedürfnis im Rahmen der allgemeinen Spontanität, die durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln hervorgebracht wird, auf eine ebenfalls spontane Weise bewußt macht. Nicht jede Idee, die zur Integration beiträgt, ist deshalb schon Nationalismus. Bereits die Stämme der arabischen Halbinsel empfanden mit Stolz ihre Eigenart gegenüber Griechen, Römern, Byzantinern, und in ihrer Dichtung verliehen sie ihrem erwachenden Selbstbewußtsein Ausdruck. Als dann die Araber durch ihre Einigung die Kraft gefunden hatten, von ihrer Halbinsel aus aufzubrechen u n d ein Weltreich zu errichten, haben sie mit der Verbreitung des Islam und der Sprache des Koran, des Arabischen, Gemeinsamkeiten geschaffen und hinterlassen, die auch Jahrhunderte der Fremdherrschaft überdauerten. Doch erst im Zusammenhang mit den ökonomischen Bedingungen, die die Bildung v o n nationalen Gemeinschaften sowohl möglich als auch notwendig machten, entwickelten sich diese Elemente zum eigentlichen arabischen Nationalismus. Dieser Nationalismus kann auch nicht, wie das in der Literatur vielfach geschieht, einfach auf die geistigen Impulse zurückgeführt werden, die er aus Europa erhalten hat. Natürlich ist das in der europäischen Aufklärung geborene Ideal der Nation und des Nationalstaates von der arabischen Befreiungsbewegung aufgegriffen worden; doch das war nur möglich, weil sich - und das ist das Entscheidende - der Drang nach nationalem Zusammenschluß, der in Europa schon zuvor seine programmatischen Formulierungen erhalten hatte, in den arabischen Ländern selbst herausbildete. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen das im Nahen Osten geschah, führten zu verschiedenen Ausdrucksformen des Nationalismus. Auf der arabischen Halbinsel suchten die 'Vahhabiten eine Erneuerung des Arabertums in einem strengen Puritanismus. Der arabische Osten (Palästina, Trans ¡Jordanien, Libanon, Syrien, Irak), der am längsten der osmanischen Herrschaft unterworfen blieb, erlebte eine Renaissance der arabischen Sprache u n d Li-

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teratur. In Ägypten, dessen sich England bemächtigt hatte und in dem sich, neben Syrien, zuerst Elemente einer kapitalistischen Produktion herausbildeten, entstand eine Bewegung, die sich für die Schaffung eines Nationalstaates und für sozial-ökonomischen Fortschritt einsetzte. Die Bestimmung der nationalen Identität ist auf Grund der unterschiedlichen und vielschichtigen historischen Entwicklungen noch heute problematisch. Einmal haben sich Nationalismen in Staatsgrenzen herausgebildet; der Dichter Tauflq al-Haklm beispielsweise spricht von dem Blut der Pyramidenbauern, das noch heute in den Adern der Ägypter fließt, von der Ewigkeit des Niltals und vom Geist des Ägyptertums. Für die Eingliederung nationaler Minderheiten in eine politische Struktur wie den Staat gewinnt dieser Nationalismus, das zeigt etwa der Irak, besondere Bedeutung. Zum anderen sind sowohl im arabischen Westen wie im arabischen Osten regionale Nationalismen entstanden und lebendig geblieben. Die Nationalismen in Staatsgrenzen und regionaler Art werden schließlich vom Panarabismus überlagert, der für die Einheit aller Araber eintritt und sich hauptsächlich auf die Gemeinsamkeit der Geschichte, der Sprache und der Religion beruft.

II. Struktur und Funktion des arabischen Nationalismus Sein gesamtgesellschaftlicher Zusammenhang bedingt die Struktur des arabischen Nationalismus, d.h. diejenigen allgemeinen Züge, die seine spezifische Integrationsfunktion ermöglichen und in denen sie sich ausdrückt. Erstens. Nationalismus entwickelt sieh innerhalb der Spontanität, die der Klassengesellschaft insgesamt eigen ist. Der Mensch begreift in ihm das Nationale nicht in seinem wirklichen Zusammenhang, d.h. als Realisierung historischer Gesetzmäßigkeiten in seinem Tun, sondern erfährt Besonderheiten der geschichtlichen Entwicklung als selbständige und unableitbare ungeschichtliche Wesenheiten. Die Nation wird ihm zum Schicksal, dem er sich unterworfen glaubt. Er versteht sein Handeln als Erfüllung einer "unsterblichen Sendung", wie es die Ba f t-Partei in ihrer Losung formuliert. 11 Oder fAbdannä§ir spricht in der "Philosophie der Revolution" von einer geschichtlichen "Rolle", die "in der Gegend, in der wir leben", umherirrt und ihren Helden sucht. "Und ich weiß nicht, warum", schreibt er in diesem Zusammenhang, "ich habe den Bindruck, daß

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diese Rolle sich heute, erschöpft von ihrer Wanderung, müde und überdrüssig, endlich an unserer Grenze niedergelassen hat und daß sie uns winkt, wir sollten uns rühren, ihre Stichworte aufgreifen und ihr Kostüm überziehen, weil niemand sonst da ist, der sie spie12 len kann." Die Uberzeugung, selbst eine von der Geschichte vorgezeichnete Rolle zu spielen, hat cAbdannäsir zuweilen offensichtlich auch dazu veranlaßt, sich von Bewegtingen treiben zu lassen, von deren Richtigkeit er zunächst nicht überzeugt war; es sei nur an seine wider besseres Wissen gegebene Zustimmung zu der von der Bourgeoisie beider Länder betriebenen Vereinigung von Syrien und Ägypten im Jahre 1958 erinnert. Zweitens. Die nationale Bindung wird dem Menschen - das ist sowohl Ergebnis als auch Element seines spontanen Verhaltens zur gesellschaftlichen Entwicklung - vor allem im Emotionalen bewußt. Das erzeugt die starke, sich ins Prophetische steigernde Emotionalität des Nationalismus selbst. Seine das Primat der Gemeinsamkeit beschwörenden Ideale vermögen leidenschaftliche Begeisterung und Selbstaufopferung zu wecken. Dabei verschwinden in seiner ausgesprochen kleinbürgerlichen, das Spontane und Irrationale bejahenden Mentalität nicht selten die Grenzen zwischen Wunsch und Realität; er verfällt leicht einem Mythos des Wortes, der das Ziel mit seiner Formulierung schon realisiert sieht. In der Bestimmung der nationalen Identität hat das wiederum Unschärfen zur Folge; Sind objektive Paktoren, darunter geographische Lage, Geschichte, Sprache oder Religion, entscheidend, oder das Bewußtsein, derselben Gemeinschaft anzugehören? Beide Standpunkte haben ihre Anhänger, und auch ihre Kombination ist möglich. Drittens. Die Gemeinsamkeiten des Nationalen, die durchaus objektiv vorhanden, den Klassengegensätzen gegenüber aber relativ sind, werden im Nationalismus verabsolutiert. Das Nationale wird dadurch dem Sozialen gegenüber zum übergreifenden Element, die Nation erscheint als eine Art Großfamilie, deren innere Schwierigkeiten vor allem äußeren Einflüssen entspringen, und es entsteht die Illusion, daß die nationale Befreiung die Lösung auch aller anderen Probleme bringt. Die BaCt-Partei charakterisiert gleich zu Beginn ihres auf dem I. Kongreß angenommenen Statuts die arabische Nation als wirtschaftliche, politische und kulturelle Einheit und fährt dann fort: "Alle zwischen den Arabern bestehenden Trennungselemente sind oberflächlicher und trügerischer Natur, und sie werden mit dem Aufkommen des arabischen Nationalbewußtseins zu beste-

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hen aufhören."14 Misll cAflaq stellt in einer Rede 1955 den im Westen geführten Klassenkampf, in dem er "eng umrissene materielle Interessen" aufeinandertreffen sieht, die "Erhebung der Völker des Orients" gegenüber, die seiner Meinung nach "in erster Linie den Charakter einer allgemeinen humanistischen Befreiungsbewegung" trägt. "Die Tatsache, daß sich die Bact-Bewegung auf den Kampf der Unrecht erleidenden Volksmassen stützt", fährt cAflaq fort, "entspringt nicht einer Anschauungsweise, die an die Existenz von Klassen glaubt, sondern bedeutet, daß wir daran glauben, daß diese Volksmassen im Ergebnis ihres Leidens unter Unrecht und Unterdrückung das wahre Wesen der Nation verkörpern. Viertens. Der Antagonismus von Herrschenden und Beherrschten, der in der Klassengesellschaft auch die internationalen Beziehungen bestimmt, läßt im Nationalismus besonders das Trennende zwischen den Nationen hervortreten. Die wirkliche Verflechtung der nationalen Geschicke mit dem Weltgeschehen kommt dadurch nicht genügend zur Geltung bzw. geht ganz verloren.1® Sowohl in der Ba ctPartel als auch unter ägyptischen Führungskräften gab es zeitweilig einen militanten Antikommunismus, der den Kommunisten gerade ihren Internationalismus vorwarf. So wurden in einer Erklärung des Büros der BaCt-Partei vom 11. Mai 194-5 die syrischen Kommunisten beschuldigt, den Sieg der Sowjetunion über den Faschismus zu feiern und dazu aufzufordern, in der Haltung zu den imperialistischen Staaten zwischen den Völkern und ihren Regierungen zu unterschei17 den. ' Wenn sie diesen militanten Antikommunismus auch weitgehend überwunden haben, so fällt es revolutionär-demokratischen Kräften doch bis in die Gegenwart hinein noch schwer, ihre Stellung im revolutionären Weltprozeß, insbesondere ihr Verhältnis zum sozialistischen Weltsystem und zur internationalen Arbeiterbewegung, voll zu verstehen. (Symptomatisch dafür ist Frantz Fanon, wenn er die Dritte Welt Europa gegenüberstellt, ohne zu unterscheiden, daß es hier Werktätige und Imperialisten, sozialistische und kapitalistische Staaten gibt. Er trifft sich damit einerseits mit der Konzeption der chinesischen Führer, die ebenfalls in Reflexion des kleinbürgerlichen Elements, das in die Revolution revolutionäre Potenzen, aber auch die Gefahr von Schwankungen mitbringt, das "Weltdorf" der "Weltstadt" gegenüberstellen, und andererseits mit der bürgerlich-reformistischen These, nach der durch die wissenschaftlich-technischen Umwälzungen der Gegenwart Kapitalismus und Sozialismus einander annähern und nur noch, wie etwa bei Raymond Aron,

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"zwei Arten ein und derselben Gattung", "der progressiven industriellen Gesellschaft", darstellen.18) Fünftens. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft erhält im Nationalismus zwei einander widersprechende, sich ins Irrationale verlagernde Aspekte. Einerseits ist der einzelne angehalten, sich der Nation ein- und unterzuordnen; andererseits wird letztere in individualistischer Fortführung der lehre vom "Gesellschaftsvertrag" als Manifestation des menschlichen Willens aufgefaßt.^ Miäll cAflaq entwickelte, darin von Friedrich Nietzsche beeinflußt, einen Mythos vom Übermenschen, der "mit kühlem Kopf und festem Glauben", selbst wenn ihm alle Erdbewohner entgegentreten, das 20

"Zeitalter des Heldentums" eröffnet. Die ägyptischen Führungskräfte räumten ebenfalls der Persönlichkeit eine überragende Rolle ein; sie handelten in der Revolution nach den Worten von Anwar as-Sädät in der Uberzeugung, "daß das zähe Wollen einiger weniger ausreicht, um gegen rückschrittliche Elemente erfolgreich anzugehen, mit Überkommenem wirksam zu brechen und zersetzenden Einflüs21 sen ohne Schaden zu widerstehen". Nationalismus ist nicht einfach ein "übersteigertes" Nationalgefühl oder Nationalbewußtsein, wie sinngemäß oft zu hören und zu lesen ist. Diese Bestimmung ist, indem sie gleichsam auf ein "Zuviel" an Nationalem verweist, zu quantitiv. Der Nationalismus unterscheidet sich qualitativ von anderen Verhaltensweisen zum nationalen Element in der Geschichte. Seine Spezifik besteht darin, relative Momente in der geschichtlichen Entwicklung, nämlich sowohl Besonderheiten einer Nation anderen gegenüber als auch das Zusammenwirken entgegengesetzter sozialer Kräfte innerhalb einer Nation, zu verabsolutieren und zu mystifizieren. Er ermöglicht es dadurch sozialen Gruppen, ihre besonderen Interessen als gesamtnationale Sendung zu interpretieren und andere Teile der Bevölkerung für ihre Durchsetzung zu gewinnen, und die Stellung eines bestimmten Nationalismus im gesellschaftlichen Gesamtprozeß hängt gerade davon ab, welche Klassen oder Schichten ihr Anliegen in ihm formulieren. Der Nationalismus ist eine notwendige Phase der Selbstbesinnung der um ihre Freiheit kämpfenden Völker. In seiner Konfrontierung einer möglichen Nationwerdung bzw. nationalen Entfaltung mit der Schmach der kolonialen Unterdrückung wirkt er mobilisierend, und Gesang, der die Massen Frantz Fanon nennt ihn einen "großartigen PP gegen die Unterdrücker aufwiegelte". Der Nationalismus ermöglicht

M. Robbe es insbesondere, historisch begrenzte oder überholte Forderungen dem allgemeinen Befreiungskampf unterzuordnen. Wladimir Iljitsch Lenin gab darum den kommunistischen Organisationen des Orients den Rat: "Sie werden anknüpfen müssen an den bürgerlichen Nationalismus, der sich bei diesen Völkern regt und zwangsläufig regen muß und für den es eine geschichtliche Erklärung gibt."^ Selbst nach Erreichung der staatlichen Unabhängigkeit birgt der Nationalismus, insofern und soweit er gegen Imperialismus und Neokolonialismus gerichtet ist, noch progressive Potenzen in sich. Die Versuche der USA etwa, die arabischen Staaten durch militärische Paukte und vor allem mit der Eisenhower-Doktrin in den Kampf gegen das sozialistische Weltsystem einzübeziehen, stießen auf erbitterten Widerstand. "Die Araber waren nicht bereit," erklärte John F. Kennedy rückschauend, "ihren Nationalismus oder ihre Neutralität für ein Bündnis mit den westlichen Nationen aufzugeben". Und er fügte zur Erklärung dieser Fehlleistung amerikanischer Politik hinzu: "Wir überschätzten unsere eigene Stärke und unterschätzten die Stärke 24 des Nationalismus". Auch in den gegenwärtigen Bemühungen um die Überwindung der Folgen der israelischen Aggression ist das besondere Solidaritätsgefühl der arabischen Völker, dessen antiimperialistischer Tri halt sich gerade im Zusammenhang mit dieser Aggression wesentlich verstärkt hat und mit dem auch reaktionäre Politiker und Regierungen rechnen müssen, von großer Bedeutung. (Oder in afrikanischen Staaten, in denen erst verschiedene ethnische Gruppen zur Nation zusammenwachsen, kann der Nationalismus eine politisch stabilisierende Wirkung ausüben.) In dem Maße jedoch, in dem in einer Nation die Polarisierung der Klassenkräfte fortschreitet, wird der Kationalismus zugleich zu einer Gefahr und desorientiert in seiner Verabsolutierung des nationalen Elements in der Geschichte die Werktätigen sowohl im inneren als auch im internationalen Klassenkampf. Die gegen die Existenz Israels gerichteten Aussprüche verschiedener arabischer Politiker etwa waren nicht nur dem antiimperialistischen Inhalt der arabischen Befreiungsbewegung unangemessen; sie unterstützten, wenn auch ungewollt, so doch praktisch - darauf haben inzwischen Vertreter der arabischen Öffentlichkeit selbst verwiesen - die zionistische Propaganda. Lenin ergänzte im Hinblick auf solche Gefahren darum seinen Ratschlag an die Kommunisten des Orients, an den bürgerlichen Nationalismus anzuknüpfen, durch den grundsätzlichen Hinweis: "Zugleich müssen Sie den Weg zu den werktätigen und

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ausgebeuteten Massen eines jeden Landes finden und ihnen in einer ihnen verständlichen Sprache sagen, daß die einzige Hoffnung auf Befreiung der Sieg der internationalen Revolution ist und daß das internationale Proletariat der einzige Verbündete aller Werktätigen und Ausgebeuteten der Hundertmillionenvölker des Ostens ist." Und an anderer Stelle bemerkt Lenin: "Der Grundsatz der Nationalität ist in der bürgerlichen Gesellschaft unvermeidlich, u n d der Marxist, der mit dieser Gesellschaft rechnet, erkennt die geschichtliche Berechtigung nationaler Bewegungen durchaus an. Damit aber diese Anerkennung nicht zu einer Apologie des Nationalismus werde, muß sie sich strengstens auf das beschränken, was an diesen Bewegungen fortschrittlich ist, damit sie nicht zur Vernebelung des proletarischen Klassenbewußtseins durch die bürgerliche Ideologie führe."25 Mit dem Nationalismus können, das ist seine größte Gefahr und sie tritt vor allem nach der Befreiung eines Landes von der Kolonialherrschaft auf, reaktionäre Kräfte die Volksmassen direkt für ihre Ziele mobilisieren. Hablb Bürqlba betrachtet ihn in diesem pc Sinne als "Gegengift gegen den Kommunismus". Die Ba c t-Partei ist nach ihrem eigenen Eingeständnis in ihren ersten Jahren (in teilweiser Verkennung seines Wesens u n d mit Sympathie für seinen Kampf gegen die im Nahen Osten damals besonders verhaßten Kolonialmächte England u n d Frankreich) einer Beeinflussung durch den Fa27 schismus erlegen; ' als ihre rechten Kräfte 1963 im Irak u n d Syrien die Macht ergriffen, terrorisierten u n d mordeten sie nicht nur in beiden Ländern Kommunisten u n d Demokraten, sondern hetzten gleichzeitig gegen die Sowjetunion u n d andere sozialistische Staaten. In den entwickelten kapitalistischen Ländern, in denen die Klassengegensätze voll ausgereift sind, dient der Nationalismus ausschließlich dazu, die Volksmassen die reaktionären Interessen der Herrschenden als ihre eigenen empfinden zu lassen. In Israel ist der Zionismus, der Ende des vergangenen Jahrhunderts als eine kleinbürgerliche Bewegung zur Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina entstanden war, zu einem gegen die arabische Befreiungsbewegung gerichteten aggressiven Programm der israelischen Großbourgeoisie geworden, deren spezifische Interessen grundsätzlich mit der globalstrategischen Zielsetzung der USA und ihrer Verbündeten zusammenfallen. Ernst Trost, ein Wiener Journalist, übernimmt u n d demonstriert diesen Nationalismus, wenn er in seinem Buch "David u n d Goliath. Die Scnlacht um Israel 1967" die israelische

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Aggression als eine Wiederholung von in der Bibel überlieferten Feldzügen und Heldentaten schildert. Und die Emotionen, die das Wort "Nationalismus" im deutschen Spraclibereicfa auslöst, sind Reaktion gerade auf die chauvinistischen Expansiönsbestrebungen, die das deutsche Monopolkapital mit dem Nationalismus verband und in Westdeutschland heute in dem Anspruch auf Alleinvertretung für ganz pg Deutschland wieder mit ihm verbindet.

III. Konzeptionen eines Sozialismus nationalen Typs Der arabische Nationalismus enthält von Anfang auch die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Doch den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften, die ihn vertraten, ging es im Interesse der Errichtung ihrer eigenen Herrschaft - charakteristisch dafür sind die auf dem Gründungskongreß von Mustafa Kämils Vaterlandspartei im Jahre 1907 beschlossenen Prinzipien 7 - in erster Linie um politische Unabhängigkeit ("Autonomie") und parlamentarische Regierungsformen, und nicht selten suchten sie, Gegensätze zwischen imperialistischen Mächten für sich auszunutzen. Allenfalls forderten sie noch eine allgemeine Erziehung (u.a. "die Bekämpfung der Irrtümer und Dummheiten" oder "die Propagierung gesunder religiöser Prinzipien, die zum Portschritt anregen") und gewisse soziale Maßnahmen; den eigentlichen Belangen der Werktätigen jedoch verschlossen sie sich (wie etwa auch Vorkämpfer der bürgerlich-demokratischen Revolutionen in Europa) und lehnten selbst zur Durchsetzung ihrer eigenen Ziele revolutionäre Massenaktionen ab. Erst mit ihrem eigenen Auftreten konnten die Volksmassen ihre spezifischen Interessen zur Geltung bringen und gaben mit ihrem Kampf für soziale Befreiung auch erst der nationalen Bewegung den notwendigen revolutionären Inhalt. Das begann mit der Teilnahme der unter unerträglicher Ausbeutung leidenden Fellachen am c0räbiAufstand; sowohl im Märzaufstand 1919 in Ägypten als auch im nationalen Befreiungskrieg 1925-1927 in Syrien beteiligte sich dann erstmals die junge Arbeiterklasse an der nationalen Befreiungsbewegung und verlieh ihr dadurch größere Konsequenz und erhöhte Durchschlagskraft, während die Bauern an einigen Orten spontan dazu übergingen, Gutsbesitzer, die mit den Kolonialmächten paktierten, zu enteignen und ihr Land aufzuteilen. In den revolutionären Kämpfen nach dem 1. Weltkrieg und unter dem Einfluß der Oktoberrevolution wurden im Nahen Osten, das war

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für die Anerkennung und Durchsetzung des sozialen Inhalts der nationalen Befreiungsbewegung von entscheidender Bedeutung, kommunistische Parteien gegründet, 1922 in Ägypten, 1927 in Syrien und Libanon sowie 1954 im Irak. Sie begannen, das ist ihr Ziel bis heute geblieben, sich für den Zusammenschluß aller patriotischen Kräfte einzusetzen und waren die ersten Organisationen, die im Kampf um die politische Unabhängigkeit zugleich konsequer t für die demokratischen Rechte und sozialen Belange der Werktätigen eintraten. Das Programm der Kommunistischen Partei Ägyptens beispielsweise enthielt neben nationalen Forderungen, wie die Unabhängigkeit Ägyptens, den Abzug der britischen Truppen und die Nationalisierung des Suezkanals, auch Klassenforderungen des Proletariats, darunter den Achtstundentag, gleichen lohn für ägyptische und europäische Arbeiter und die völlige Emanzipation der Frau, und ein Agrarprogramm, das u.a. die Konfiskation des Großgrundbesitzes über 100 Feddan und seine Aufteilung unter landarme und landlose Bauern vorsah.51 Nach dem 2. Weltkrieg wurde von Arbeitern, Intellektuellen und Studenten, aber auch von armen Bauern verstärkt die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit erhoben. Der Kapitalismus war in ihren Augen mit dem Kolonialismus, den sie selbst erlebt hatten und erlebten, identisch, und sie lehnten ihn ab. Demgegenüber gewann der Sozialismus an Anziehungskraft; nicht nur, daß er selbst keinerlei koloniale Unterdrückung kannte, brachte er zudem in den asiatischen Sowjetrepubliken und Volksdemokratien ehemals ebenfalls kolonial unterjochten Völkern einen bewundernswerten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aufstieg. Immer mehr Menschen auch in den Zwischenschichten, die noch bis heute die übergroße Mehrheit der Bevölkerung im Nahen Osten bilden, fühlen sich zu ihm hingezogen. Kleinbürgerliche Gruppen und Parteien bekennen sich, diese Bestrebungen spiegelnd und eigenen Zielsetzungen einordnend, zu einem Sozialismus nationalen Typs. Die BaCt-Partei nahm ihn bereits in den 40er Jahren in ihr Programm auf, während sich die ägyptische Staatsführung in den ersten Jahren nach der Revolution auf das nationale Kapital stützte und auch in offiziellen Äußerungen eine prokapitalistische Haltung einnahm. Erst am 19- Mai 1955» nachdem c Äbdannäsir von der Bandung-Konferenz zurückgekommen war, gebrauchte er zum ersten Male den Terminus "Sozialismus" für die in Ägypten anzustrebende Entwicklung.5"^

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Die soziale Problematik findet im "nationalen Sozialismus", darin geht er über den ursprünglichen Nationalismus hinaus, eine gesonderte Formulierung. Das objektive Bedürfnis und das Drängen der Volksmassen nach sozialen Veränderungen sind 3o stark geworden, daß sich heute fast alle politischen Richtungen und Regierungen im arabischen Raum in dieser oder jener Form - und sei es aus demagogischen Gründen nur in Worten - zum Sozialismus bekennen; lediglich die Regime in Libyen, im Libanon, in Saudi-Arabien sowie in den Golf-Bniraten verzichten noch darauf. Die Konzeptionen eines "arabischen Sozialismus" (al-istiräkiya al- c arablya) sind jedoch, das besagt schon ihr Name, noch eng mit dem Nationalismus verflochten. Sie unterscheiden sich, wie ihre Vertreter nachdrücklich betonen, von jeder "festgelegten Doktrin oder Philosophie", worunter sie auch den Kommunismus verstehen, und erfahren, ebenso wie der "afrikanische Sozialismus", wiederum Modifizierungen in den Parteien und Staaten, von denen sie zum Programm erhoben werden. Die Ba C t-Partei identifizierte Sozialismus anfangs geradezu mit Nationalismüs. In Artikel 4 der "Allgemeinen Prinzipien" ihres Statuts heißt eS: "Die Partei der arabischen Wiedergeburt ist eine sozialistische Partei, indem sie glaubt, daß der Sozialismus eine dem Wesen des arabischen Nationalismus entspringende Notwendigkeit i s t . D e r arabische Nationalismus ist nach den Worten c Aflaqs schon durch seine bloße Existenz Sozialismus; wenn er nicht sozialistisch wäre, würde er aufhören zu existieren. ^ Alle Varianten des nationalen Sozialismus betonen ihre Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit, gleichzeitig gegenwärtige Ideale in die Vergangenheit zurückprojizierend. So gestattete es die in der VAR teilweise vorgenommene Identifizierung von "Sozialismus" u n d "Verstaatlichung" bzw. "staatlicher Regelung", in der Jahrtausende alten öffentlichen Kontrolle über die Bewässerung eine zumindest partielle Vorwegnahme des modernen Sozialismus zu erblicken. (Vorstellungen des "afrikanischen Sozialismus", die aus dem "Panafrikanismus" hervorgegangen sind, orientieren in einer grundsätzlich gleichen Haltung auf die traditionelle Dorfgemeinschaft u n d erblicken in ihr den Ausgangspunkt für eine sozialistische Entwicklung. Leopold Senghor etwa identifiziert die vorkoloniale "negroafrikanische Gesellschaft" als eine "kollektivistische" und "Seelengemeinschaft™ mit dem S o z i a l i s m u s , ^ und der "demokratische Sozialismus" in Indien fetischisiert in ähnlicher Weise überkommene demokratische Elemente in den Dörfern.)

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Die Führungskräfte in Ägypten insonderheit rechnen den Islam zu den Traditionen und seine ursprünglichen Forderungen n a c h Gerechtigkeit und Gemeinwohl zu den gestaltender» geistigen Kräften des "arabischen Sozialismus". Die "Charta der nationalen Aktion" (mltäq al- c amal al-watanx), die im Frühjahr 1962 vom "NationalkongreB der Volkskräfte" verabschiedet wurde, bezeichnet - in einer dem Modell Muhammad c Abduhs nachgebildeten aktualisierenden Deutung - den von seinen geschichtlichen Überwucherungen gereinigten Islam direkt als sozialistische Religion. Alle "göttlichen Botschaften" sind nach ihren Worten "menschliche Revolutionen, die die Würde und das Glück des Menschen erstreben". "Keine Religion", erklärt sie weiter, "kann ein System der Klassenunterschiede annehmen, bei dem auf die Mehrheit die Strafe der Armut, Unwissenheit und Krankheit fällt, während eine kleine Minderheit den Lohn allen Wohlergehens erntet".^® Fortschrittliche Vertreter der islamischen Geistlichkeit, die mit den revolutionär-demokratischen Kräften ein Bündnis eingegangen sind, unterstützen diese Deutung des Islam. Auch die Azhar-Dniversität, die höchste Autorität in Fragen der islamischen lehre, die sich lange ihrer Reformierung widersetzte, begrüßt nach den Worten von Ahmad gasan az-Zaiyät, dem Herausgeber der "Magallat al-Azhar", die Revolution, weil "Revolution zu ihrer Natur gehört u n d Sozialismus zu ihrem Geist ... Die Mission Muhammads kann nicht den Sozialismus leugnen, denn es war seine Botschaft, die den Armen das Recht auf den Wohlstand der Reichen zurückgab".^ Die nationalistische These einer Klassenharmonie u n d islamische Soziallehren fließen in den Konzeptionen eines nationalen Sozialismus mit Ideen der Fabian-Society bzw. der Labour-Party, die schon zu Beginn des Jahrhunderts im Nahen Osten Eingang fanden,^® sowie mit anderem bürgerlichen und reformistischen Gedankengut zusammen. Mläll c Afläq etwa fühlte sich in seiner Jugend zum Marxismus hingezogen, wandte sich dann aber u.a. dem Personalismus des Franzosen Emmanuel Mounier, neoliberalen Gedanken u n d dem extremen Individualismus Andre Gides zu (letzterer bekundete seinerseits besonders in den 30er Jahren eine gefühlsmäßige Sympathie für den Kommunismus, ohne ihn indessen eigentlich zu v e r s t e h e n . S o z i a l i s m u s ist nach c Aflaqs Deutung einfach die Zusammenarbeit aller Bürger bei der Verwertung der Naturschätze des Landes mit dem Ziel, ihr Leben zu verbessern. In seinem Hang zur Mystik u n d zur Romantik nennt er den Sozialismus auch "die Religion des Lebens", "den Sieg

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des Lebens über den T o d " D e n revolutionären Kampf, den er als Inhalt der "arabischen Wiedergeburt" bezeichnet, mystifiziert er ebenfalls und erklärt ihn zum "Geheimnis" und zum "Selbstzweck".^1 Die Klassengegensätze sind für die BaCt-Partei das Ergebnis einer verderbten sozialen Realität, und sie tritt dafür ein, daß diese Gegensätze verschwinden und alle Bürger des Staates ihre menschli¿1 p c chen Werte voll zurückerlangen. Abdannisir wies dem Sozialismus, als er im Mai 1955 zum ersten Male von ihm sprach, gleichfalls die Aufgabe zu, die Kluft zwischen den Klassen zu schließen. Es hat dann in Führungskreisen Ägyptens auch vorübergehend die Überzeugung geherrscht, daß man die sozialen Unterschiede in einer "Atmosphäre der sozialen Erhabenheit und Toleranz" nivellieren kann. In ihrer sozialen Zielsetzung bleiben die Konzeptionen des "arabischen Sozialismus" recht allgemein. Sie sprechen, sich ausdrücklich vom Kommunismus, seinem Kollektivismus und seiner Gottlosigkeit abgrenzend, in abstrakter und individualistischer Weise von der Entfaltung des Menschen, ohne indessen die entscheidende Grundlage und Voraussetzung dafür, die rasche und allseitige Entwicklung der Produktivkräfte, genügend zu berücksichtigen. So nennt das Statut der Bact-Partei den Sozialismus "die ideale Ordnung, die es dem arabischen Volk gestattet, seine Fähigkeiten zu realisieren, und die sein geniales Wesen in jeder Hinsicht f o r d e r t " I n Ägypten wurde die "sozialistische, demokratische und kooperative Gesellschaft" allgemein als eine Entwicklungsform bezeichnet, die das Wohl des Volkes im Auge hat. Soweit im Namen des arabischen Sozialismus direkte soziale Forderungen erhoben werden, bewegen 44

sie sich in den Grenzen der Idee eines "Wohlfahrtsstaates". Doch im allgemeinen läßt man es bei einem ausgesprochenen Pragmatismus bewenden, der sogar ausdrücklich zum Prinzip erhoben wird. Der Sozialismus nationalen Typs bedarf, schon im Hinblick auf seine praktische Bedeutung, gründlicher Analyse und verdient größere Beachtung als bisher (er wird beispielsweise sowohl im Lehrbuch "Marxistische Philosophie" als auch im "Philosophischen Wörterbuch" nicht einmal erwähnt). Er kann etwa keineswegs einfach auf seine geistigen Quellen zurückgeführt und damit abgetan werden, denn bestimmte Ideen können im revolutionären Befreiungskampf eine andere Bedeutung erhalten, als sie etwa im Lehrbetrieb europäischer Universitäten oder in den Programmen sozialdemokratischer Parteien haben.

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Im Sozialismus nationalen Typs - in der Tatsache, daß es ihn überhaupt gibt, und abgesehen von den sehr unterschiedlichen Zielsetzungen in seinen verschiedenen Konzeptionen - spiegelt sich, in traditionellen Verhaltens- und Bewußtseinsformen gleichsam "gebrochen", der objektive Zusammenhang zwischen nationaler und sozialer Frage im Gesamtprozeß des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Der Sozialismus wird, weil der Kampf um soziale Befreiung historisch und notwendig aus dem nationalen Befreiungskampf hervorwächst, als Konsequenz des Nationalismus verstanden; seine (gerade in der traditionellen Formulierung "sozialen Kurswert" erhaltende) Proklamierung ist Reflex und Element des Hauptinhalts unserer Epoche, eben des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus; auf Grund der unausgereiften gesellschaftlichen Verhältnisse und der kleinbürgerlichen Klassenposition seiner Vertreter, die zudem im inneren Klassenkampf nur mangelnde Erfahrungen besitzen, bleiben seine Zielsetzungen zunächst jedoch recht allgemein und unverbindlich und enthalten utopische Elemente. Der nationale Sozialismus ist damit nichts eigentlich Eigenständiges, sondern Widerschein und Teil eines konfliktreichen und vielschichtigen Umbruchs, in dem die nationale in die soziale Revolution hinüberwächst, und es hängt in erster Linie vom politischen Reifeprozeß der Volksmassen und ihrer Führungskräfte ab, ob sozialistische Losungen von reaktionären Elementen in demagogischer Weise genutzt werden können, um alles beim alten zu belassen, oder ob sie auf eine wirkliche Umgestaltung der Gesellschaft orientieren. IV. Bemühungen um eine wissenschaftliche Fundierung des Sozialismus Für die revolutionär-demokratischen Kräfte, das unterscheidet sie gerade von anderen kleinbürgerlichen Richtungen, wird der Sozialismus zum Leitbild, um entscheidende sozialökonomische Veränderungen durchzuführen, durch die die antiimperialistische und antifeudale Revolution einen immer größeren antikapitalistischen Inhalt erhält. In den Jahren 1961-1965 wurde in Ägypten der nichtkapitalistische Sektor in der Industrie, im Außenhandel sowie im Transport- und Finanzwesen vorherrschend (er erreichte inzwischen in der Industrieproduktion 90 %), während die Höchstgrenze für Bodenbesitz auf 100 Feddan herabgesetzt wurde (etwa 230 000 landarme Bauern konnten dadurch Land erhalten). Erst kürzlich wurde auch die Verstaatli-

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chung des Großhandels beschlossen. In Syrien vollzieht sich eine ähnliche Entwicklung; nachdem bereits bis Ende 1957 die Wirtschaftszweige, in denen das Auslandskapital vorherrschte, in Staatseigentum übergegangen waren, erreichte durch Maßnahmen im Januar 1965 der staatliche Sektor einen Anteil von 80 Prozent an der Industrieproduktion . Die nichtkapitalistische Entwicklung ist möglich geworden, weil das sozialistische Weltsystem existiert und den Hauptinhalt, die Hauptrichtung und die Hauptmethode der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bestimmt. Sie ist, indem sie die gemeinsamen Interessen des Proletariats, der armen Bauernschaft sowie der städtischen und ländlichen Mittelschichten zum Ausdruck bringt, sowohl Ergebnis als auch Fortführung der Auseinandersetzungen in den Ländern um die gesellschaftliche Perspektive und stößt auf den erbitterten Widerstand der inneren Reaktion, in deren Lager jetzt auch die ökonomisch entmachtete Groß- und Mittelbourgeoisie übergeht. Indem die israelische Aggression gerade die Regierungen in Kairo und Damaskus stürzen wollte, war sie ihrem Klasseninhalt nach ein imperialistischer Vorstoß gegen den gesellschaftlichen Fortschritt im Nahen Osten, was durch die demagogische Behauptung vom nationalen Hader zwischen Arabern und Juden nur verdeckt werden soll. Die nichtkapitalistische Entwicklung wird von den revolutionärdemokratischen Führungskräften und auch von nicht wenigen Werktätigen zunächst als Realisierung des "arabischen Sozialismus" und der islamischen Soziallehren verstanden. Doch indem sie die Lenkung der gesellschaftlichen Prozesse im. Interesse der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung beinhaltet, gerät sie notwendig und zunehmend in Widerspruch zu überkommenen Verhaltens- und Bewußtseinsfoimen; in ihrer Praxis entsteht das objektive Bedürfnis, die im Nationalismus und im Sozialismus.nationalen Typs vorherrschende und ausdrücklich proklamierte Spontanität durch ein bewußtes Verhalten zu den gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu ersetzen. Das ist die soziale Grundlage für eine Differenzierung der kleinbürgerlichen Führungskräfte, in deren Verlauf sich ihre fortgeschrittensten Vertreter dem wissenschaftlichen Sozialismus nähern. In Ägypten setzte dieser Prozeß in bemerkenswertem Umfange mit und nach den Verstaatlichungsmaßnahmen des Jahres 1961 ein. Es entstand nach den Worten von Hälid Müjjylddin eine Situation, "in der der wissenschaftliche Sozialismus als das theoretische Programm, als das Programm für die wirtschaftliche und politische Tätigkeit, an-

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genommen werden konnte".^ In der "Nationalcharta" wird der wissenschaftliche Sozialismus als "die geeignete Form" bezeichnet, "um die richtige Methode, die zum Fortschritt führt, zu finden". "Keine andere Methode", heißt es weiter, "kann im Ergebnis den gewünschten Fortschritt bringen. Diejenigen, die nach Freiheit für das Kapital rufen, weil sie sich einreden, dies sei der Weg zum Fortschritt, begehen einen schweren Irrtum." Auch die linken Kräfte, die sich nach vorangegangenen heftigen Kämpfen im Februar 1966 in der syrischen Ba rt-Partei durchsetzen konnten, bemühen sich zunehmend um eine wissenschaftliche Durchdringung ihrer Ideologie. Zwar verstehen revolutionär-demokratische Politiker und Theoretiker unter "wissenschaftlichem Sozialismus" (al-istiräklya al- c ilmiya) nicht immer dasselbe wie der Marxismus-Leninismus; zuweilen drücken sie mit diesem Begriff nur ihre Unzufriedenheit mit der empfundenen Unzulänglichkeit bisheriger Sozialismus-Konzeptionen aus, doch schließt die sich in ihm abzeichnende Neuorientierung insgesamt auch die Aufnahme von Erkenntnissen ein, die in der kommunistischen Weltbewegung erarbeitet wurden. In welchen Fragen zeichnen sich die neuen, die Ideologie der revolutionär-demokratischen Kräfte qualitativ verändernden Tendenzen hauptsächlich ab? Zunächst und vor allem gehen maßgebliche Politiker und Theoretiker in den letzten Jahren in der politischen Praxis wie in grundlegenden Erklärungen über die dem Nationalismus eigene These von der Klassenharmonie hinaus und anerkennen, daß es tiefgreifender, im Interesse der Werktätigen liegender Maßnahmen bedarf, um die erstrebte soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. In der "Nationalcharta" etwa wird die Bedeutung der Verstaatlichungsmaßnahmen von 1961 darin gesehen, daß sie den Kommandostellen der Ausbeutung und des Monopolkapitals einen tödlichen. Schlag versetzten und erstmals 47 eine Volksherrschaft in Ägypten ermöglichten. ' Auf der VI. Nationalkonferenz der Ba ct-Partei im Oktober 1963 wurde Kritik daran geübt, daß in der Partei das Kleinbürgertum lange Zeit hindurch Schlüsselstellungen erringen und mit seiner schwankenden Haltung ("Opposition gegen die Ausbeuterklassen einerseits und Furcht vor den werktätigen Kassen andererseits") den Kampf für den Sozialismus negativ beeinflussen konnte. Die "sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft" bedeutet gemäß den theoretischen Überlegungen dieser Konferenz, auf die sich die linken Kräfte der Partei heute berufen, "grundsätzlich die Verwandlung des Privateigentums an

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Produktionsmitteln in allgemeines Volkseigentum"; sie beseitigt weiter endgültig "das Bedürfnis nach einem kapitalistischen Mittler und stellt das Einkommen des einzelnen in unmittelbare Beziehung zu seiner Arbeit und zu seinen Fähigkeiten, verschmilzt die Klassen zu einem einheitlichen Ganzen, hebt die Ökonomie des Profits auf und schafft eine Wirtschaft, die auf die allgemeinen Be¿1 Q

dürfnisse orientiert." Die Anerkennung des Klassenkampfes führt zu der Schlußfolgerung, da£ die Gesellschaft demokratisiert werden muß. In Ägypten wurde bereits vor einigen Jahren die Hälfte aller Sitze in öffentlichen Körperschaften den Arbeitern und armen Bauern zugesichert. Vor allem aber gewinnt die Schaffung von Organisationen entscheidende Bedeutung, die die Interessen der Werktätigen konsequent vertreten und in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zur Geltung bringen. Nachdem in Ägypten die 1957 gegründete "Nationale Union" (al-ittihäd al-qauml) gerade an der utopischen Vorstellung einer Klassenharmonie gescheitert war, beschloß der "Nationalkongreß der Volkskräfte" am Juli 1962 die Schaffung der "Arabischen Sozialistischen Union" (al-ittihäd al-istiräkl al-carabx), die sich nach den Worten von cAbdannäsir auf das Proletariat gründen so11.^ Auch in der Bact-tartei gibt es ernsthafte Bemühungen, sie zu einer revolutionären Organisation der Arbeiter, Bauern und Mittelschichten umzugestalten. Indem die revolutionär-demokratischen Kräfte die sozialen Gegensätze innerhalb ihrer Staaten anerkennen, können sie auch die Schwierigkeiten auf der zwischenstaatlichen Ebene klarer sehen, die dem Streben nach arabischer Einheit entgegenstehen, und zwar sowohl dem Zusammenschluß der Araber in einem Nationalstaat als auch teilweisen Ubereinkommen oder Zusammenschlüssen. Beide Zielsetzungen, die lange Zeit gar nicht oder nur ungenügend unterschieden wurden, können - diese Erkenntnis deutet sich sowohl in der Charta der VAE als auch in Dokumenten der BaCt-Partei an - nur im Kampf gegen den Imperialismus und die innere Reaktion realisiert werden-?® Schon einfache Abmachungen zwischen den sozialökonomisch und politisch unterschiedlichen arabischen Staaten können nur getroffen werden, wie das etwa 1967 auf der Gipfelkonferenz in Khartoum der Fall war, insofern und soweit sie der antiimperialistischen Grundhaltung der arabischen Völker Rechnung tragen. Die staatliche Einigung aller Araber, das erklärte Ziel des Nationalismus, kann erst recht nur das Ergebnis sozialer Wandlungen sein; im Augenblick

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bringt die gesellschaftliche Praxis neben den einigenden auch trennende Momente von wesentlicher Bedeutung zwischen den arabischen Staaten hervor. Die arabischen Einigungsbestrebungen sind damit, sowohl in ihrem Nah- als auch in ihren Fernzielen, in den revolutionären Weltproze£ hineingestellt. Die revolutionär-demokratischen Kräfte gelangen gerade in dem MaBe über den Nationalismus hinaus zu einem Nationalbewußtsein, in dem sie den objektiven Zusammenhang der arabischen Befreiungsbewegung mit den anderen Strömungen, die ihn bewirken, vor allem auch mit der sozialistischen Gesellschaft und dem internationalen Proletariat, begreifen. Auf ihrer VI. Nationalkonferenz bringt die Bact-Partei bei noch gleichzeitiger Abgrenzung von den "lokalen Kommunisten" ihre "tiefe Übereinstimmung" mit den Grundpositionen des sozialistischen Lagers zum Ausdruck und bezeichnet es "als positive aktive Kraft im Kampf gegen den ImperialismusHälid Muhylddin würdigte auf dem politisch-wissenschaftlichen Seminar "Afrika - nationale und soziale Revolution", das vom 24. bis 29. Oktober 1966 in Kairo stattfand, in einem eigenen Beitrag die Zusammenarbeit zwischen den afrikanischen und den sozialistischen Ländern. Ihre Hauptbedeutung sah er darin, "daß sie den frei gewordenen Staaten ermöglicht, die wahre Unabhängigkeit zu erlangen und sich $ller Formen der Unterdrückung zu entledigen".-^ In den Auseinandersetzungen und praktischen Bemühungen um die Lebensfragen ihrer Völker bringen die revolutionär-demokratischen Kräfte in den letzten Jahren ökonomischen Fragen immer größeres Interesse entgegen. Lutfi al-Hüli hat in seinem Grundsatzreferat auf dem erwähnten politisch-wissenschaftlichen Seminar in Kairo ausführlich die entscheidende Bedeutung des Aufbaus einer eigenen unabhängigen Wirtschaft für den Erfolg des Kampfes gegen Imperialismus und Neokolonialismus dargelegt.^ In offiziellen Dokumenten findet die Erkenntnis ihren Niederschlag, daß letztlich im materiellen Produktionsprozeß die Voraussetzungen sowohl für den nationalen Aufstieg als auch für den sozialen Fortschritt geschaffen werden. "Die Produktionsschlacht ist die echte Herausforderung", heißt es in der "Nationalcharta" der VAR, "in welcher der arabische Mensch seine würdige Stellung unter der Sonne erweisen muß. Die Produktion ist das wahre Kriterium für den Dynamismus der Araber. Durch Produktion können wir unsere Unterentwicklung beenden, können wir uns auf den Weg des Fortschritts begeben, Schwierigkei-

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ten überwinden und endlich den Sieg über die Intrigen unserer Pein de erringen." Für die Gestaltung der Produktionsprozesse wird im gleichen Dokument eine "leistungsfähige sozialistische Planung" gefordert.^ Es ist bekannt, daß gerade die VAR im wirtschaftlichen Aufbau und in der Verbesserung des Lebensstandards der Werktätigen Großes geleistet hat. Zwar muß sie jetzt auf Grund der ern sten Polgen der israelischen Aggression wichtige Projekte zurückstellen; doch auch für die Zukunft, für die cAbdahnä§ir in seiner Rede zum Jahrestag der Revolution am 23. Juli 1967 eine "Verstärkung der sozialistischen Revolution" forderte, sind größte Anstren gungen auf den verschiedenen Gebieten der Volkswirtschaft angekündigt . Die Aneignung des wissenschaftlichen Sozialismus durch revolutionär-demokratische Führungskräfte, die auf Grund des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses in der Welt möglich geworden ist und zu seiner weiteren Veränderung zugunsten des Sozialismus beiträgt, ist damit nur angedeutet. -Sie ist ein Prozeß, der ungleichmäßig Verläuft im Hinblick auf Länder und Personen und in dem jeweils mit der Annahme bestimmter Ideen andere unberücksichtigt bleiben (der wissenschaftliche Sozialismus im engeren Sinne wird im allgemeinen von seiner theoretischen Grundlegung im dialektischen und historischen Materialismus getrennt). Auch konnten sich die politisch bewußtesten und ideologisch fortgeschrittensten Kräfte bisher in den Führungskräften noch nicht genügend durchsetzen, und di Volksmassen wurden nur unzureichend aktiviert und in die Regelung der gesellschaftlichen Angelegenheiten (auch der militärischen) einbezogen, so daß vielfach die Voraussetzungen fehlten, gewonnene Erkenntnisse mit der notwendigen Konsequenz in die Tat umzusetzen. Da das Kleineigentum noch massenhaft vorhanden und die Arbeiter klasse schwach entwickelt ist, wirken der wissenschaftlichen Durch dringung der Ideologie auch noch der Nationalismus und der kleinbürgerliche Sozialismus entgegen,- und es können linksiadikalistische Auffassungen entstehen. In einem 1965 geschriebenen Bericht über die ideologische und politische Aktivität an den Universitäten und Hochschulen In Ägypten heißt es etwa, daß die drei allgemeinen Pflichtvorlesungen "Die arabische Gesellschaft", "Die Revolution vom 2 3 . Juli 1952" und "Sozialismus" ein unzureichendes wissenschaftliches Niveau aufweisen und vielfach mit der theoretischen Konzeption der "Nationalcharta" und dem "wissenschaftlichsozialistischen Trend"-der Revolution nicht übereinstimmen. Da-

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durch, gebe es eine Vielzahl von Konzeptionen über die arabische Gesellschaft und den Sozialismus unter den Studenten: Eine Richtung wolle sowohl den Nationalismus als auch den Sozialismus durch den Islam geprägt wissen; eine andere identifiziere Sozialismus nicht mit einer Ersetzung, sondern mit einer Reformierung des Kapitalismus und sehe in ihm eine Revolution der Mittelklasse; für eine weitere Richtung entspringe der Sozialismus aus der arabischen Seele und habe keine Berührung mit dem wissenschaftlichen Sozialismus; wieder andere leugnen bei der Definition den Anteil der Religion . Die wissenschaftliche Fundierung des Sozialismus stößt nicht zuletzt auf antikommunistische Vorurteile, die in den Zwischenschichten, durch den "demokratischen Sozialismus" und die imperialistische Propaganda genährt, noch verbreitet sind. Gamal eAbdannäfir nannte typische Vorbehalte, als er in einem Interview mit der Londoner "Sunday Times" im Juni 1962 erklärte: "Ich war im Begriff, aus verschiedenen Gründen der Kommunistischen Partei beizutreten, doch obwohl ich mit Sympathie die Marxsche Lehre und die Werke Lenins studierte, traf ich auf zwei grundlegende Hindernisse, die ich nicht überwinden konnte. Erstens ist der Kommunismus sein an Wesen nach atheistisch; ich bin aber immer ein aufrechter Mohammedaner gewesen mit einem unerschütterlichen Glauben an eine jenseitige Kraft, die wir Gott nennen und die über unsere Geschicke wacht. Zweitens erkannte ich, daß der Kommunismus einer genauen Kontrolle von Moskau und den zentralen kommunistischen Körperschaften unterworfen ist, und auch das konnte ich nicht akzeptieren."-'6 cAbdannäsir hat seine zunächst strikt ablehnende Haltung zum Kommunismus revidiert und die Verfolgungen und Einkerkerungen von Kommunisten in Ägypten rückschauend als Fehler bezeichnet; die aus der Haft entlassenen Kommunisten wurden von ihm aufgefordert, in der "Arabischen Sozialistischen Union" mitzuarbeiten, und ihnen wurden verantwortliche Funktionen-insbesondere in Institutionen der öffentlichen Meinungsbildung anvertraut; auch in Syrien ist es zu ersten Ansätzen einer Zusammenarbeit zwischen den linken BaCt-Kräften und Kommunisten gekommen, doch gewisse antikommunistische Vorurteile sind bei einigen Vertretern der Gruppen der revolutionär-demokratischen Kräfte offensichtlich immer noch vorhanden. Die Aneignimg des wissenschaftlichen Sozialismus durch die revolutionär-demokratischen Kräfte kann sich natürlich keineswegs in der einfachen Übernahme fertiger Erkenntnisse erschöpfen. Schon

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Lenin nannte es eine "schwierige, spezifische, aber auch besonders dankbare Aufgabe", die allgemeine kommunistische Theorie auf Verhältnisse anzuwenden, "wo die Hauptmasse der Bevölkerung Bauern sind und wo es (entsprechend den damaligen Bedingungen - M.R.) den Kampf nicht gegen das Kapital, sondern gegen die Überreste des Mittelalters zu führen gilt".^ In der Diskussion der besonderen Probleme, vor denen die arabischen Völker stehen, finden in den letzten Jahren zunehmend - das zeigte sich auch auf dem politisch-wissenschaftlichen Seminar "Afrika - nationale und soziale Revolution" - Marxisten-Leninisten und Vertreter der nichtmarxistischen Linken zusammen. Zu den Themen, die vorrangig der Behandlung bedürfen, gehören der Kampf gegen den Neokolonialismus, die Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Weltsystem, die Formen der politischen Organisation der Gesellschaft (besonders die Herausbildung revolutionärer Parteien) sowie die Bestimmung der wirksamsten Methoden zur raschen Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft. In der gegenwärtigen Situation ist das Zusammengehen aller revolutionären Kräfte, sowohl in den Staaten als auch zwischenstaatlich, besonders dringlich. Die bis zur Stunde anhaltende Bedrohung der arabischen Länder durch die israelischen Aggressoren und die imperialistischen Mächte hat auch die innere Reaktion ermutigt. In den Führungsgremien der progressiven Staaten, das entspricht dem Klassencharakter der Zwischenschichten, denen sie zumeist entstammen, kommt es - symptomatisch dafür waren die Vorgänge in der militärischen Führung Ägyptens während und nach der israelischen Aggression - zudem immer wieder zu Differenzierungen und Differenzen. Allein die Volksmassen verfügen demgegenüber über genügend Potenzen, um die Lage dauerhaft zu stabilisieren und die Angriffe der inneren und äußeren Reaktion zurückzuschlagen. Ihnen muß deshalb gerade im Zusammenschluß aller revolutionären Kräfte, die ihre Aktivierung einschließt, die Möglichkeit gegeben werden, die Verteidigung und Fortführung der Revolution in ihre Hände zu nehmen.

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S u m m a r y For the bourgeois and. petty bourgeois forces who headed the Arab liberation movement it was a matter, while setting up their own rule, first of achieving political independence and parliamentary forms of government. In the struggle against foreign domination and feudal torpor they were in favour, in nationalism, of the reform of social life on a national basis which was necessary along with the development of capitalist productive, forces and production relations. The generalisation in nationalism of relative factors in historical development, that is, both the special features of a nation in relation to others and also the inter-relations of opposing forces within a nation, enabled them to mobilise other sections of the population for their interests - understood as interests of the entire nation - right down to the present day. The masses themselves, when they emerge, bring with them their own specific demands and thus bring to the fore the objective dovetailing of national and social problems. Especially since the Second World War workers, intellectuals and students, but also poor peasants, have increased their demands for social justice. Socialism, which brought a splendid upsurge in economy, politics and culture to the Asiatic Soviet Republics and People's Democracies, also formerly under the colonial yoke, wins a continually increasing power of attraction and mo^re and more people of the middle strata, too, who still form the majority of the population in the Near East, feel drawn to it. Petty bourgeois groups and parties, including those in the lead in the UAR and the Ba't Party, acknowledge a socialism of the national type, taking up these aspirations and fitting them into their own aims. Socialism of a national type reflects in a special way the objective links between the national and social problems in the over-all process cJf world-wide transition from capitalism to socialism. Because the struggle for social liberation necessarily and historically arises from the national liberation struggle, socialism is understood as a consequence of nationalism; proclamation of socialism is a reflex and element of this main content of our epoch - the transition from capitalism to socialism. But because of unripe social conditions and the petty bourgeois class position of its representatives, who also have insufficient experience in internal class-struggle, its aims remain extremely general and vague and contain Utopian elements. It depends therefore primarily upon the process of political deve-

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lopment of the masses and their leaders whether socialist slogans can be exploited in a demagogic way by reactionary elements so as to keep things as they are, or whether they orientate towards a genuinely revolutionary transformation of society. For the revolutionary democratic forces - this differentiates them from other petty bourgeois trends - socialism becomes a model in accordance with which to carry out decisive socio-economic changes as a result of which the anti-imperialist and anti-feudal revolution gains an ever increasingly anti-capitalist content. But putting this into practice is just what produces the objective need to replace the spontaneity which predominates in nationalism and socialism of a national type - and is expressly proclaimed - by a deliberately aware attitude to the laws underlying society. This is the social basis for the efforts of revolutionary democratic forces to give socialism a scientific foundation which began in Egypt to a noticeable extent with and following the nationalisation measures taken there in 1961. The term "scientific socialism", which is being used to an increasing extent in Syria recently, does not in fact always mean the same as what is understood under Marxism-Leninism; sometimes it expresses only the dissatisfaction felt at the inadequacy of previous conceptions of socialism, but the new orientation emerging in it does, after all, also include acceptance of ideas which were worked out in the world communist movement.

Anmerkungen Nidäl al-bact fi sabll al-wahda al-hurrlya al-istiräkiya (Der Kampf der Bact für Einheit, Freiheit und Sozialismus). 1. Teil. Beirut 196J, S.168. 2 P.J. Vatikiotis: The Egyptian Army in Politics. Pattern for New Nations? Bloomington 1961, S.4-8/49. - S. auch F. Steppat: Öamäl c Abdannä$ir. Ins Die geistig-politischen Profile der Gegenwart in Asien. Wirtschafts- und Wissenschaftshilfe für Entwicklungsländer. Eine Auswahl von Vorträgen der Seminare der österreichischen Unesco-Kommission. 'Öfien 1964, S. 33f. 3 S. zur grundsätzlichen Problematik H. Hartmann: Islam und Nationalismus. (Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Jahrgang 194-5/46. Phil.-hist. Klasse. Nr.5.) Berlin 1948. 1

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G.A. Nasser: Die Philosophie der Revolution. In: Die arabische Revolution. Nasser über seine Politik. Herausgegeben und kommentiert von F.R. Allemann. Frankfurt/M. 1958, S.II. H. Kohn: Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution. Frankfurt/M. 1962, S.23. E. Lemberg: Nationalismus. Bd. I: Psychologie und Geschichte. Reinbek bei Hamburg 1964, S.20. E. Lemberg: Nationalismus. Bd.II: Soziologie und politische Pädagogik. Reinbek bei Hamburg 1964, S.52, 65 ff. H. Kohn, a.a.O., S.25. E. Lemberg: Nationalismus. Bd.I, S.213. S.F. Gabrieli: Die arabische Revolution. Köln 1962, S.ll ff. Nidäl al-bact fl sabll al-wahda al-hurriya al-istiräklya. 1. Teil, S.172. G.A. Nasser, a.a.O., S.43. Vgl. etwa S. al-Husarl: Mä hiya al-qaumiya? (Was ist Nationalismus?) 3. Aufl. Beirut 1963, S.259, und M. ar-Razzäz: Macälim al-hayät al-carabiya al-gadida (Kennzeichen des neuen arabischen Lebens). 4. Aufl. Beirut i960, S.266. Nidäl al-bact fi sabil al-waljda al-hurriya al-istiräklya. 1. Teil, S.172 f. Ni$äl al-ba ct fi sabil al-wahda al-hurriya al-istiräkiya. 3. Teil. Beirut 1964, S.94 f. Jawaharlal Nehru versuchte am Vorabend des 2. Weltkrieges, die Enge des Nationalismus der kolonial unterjochten Völker allgemein zu erklären und zu charakterisieren: "Der Nationalismus ist ... die treibende Kraft in den Ländern des Ostens, die unter Fremdherrschaft leiden und Freiheit suchen. Ihnen bringt er Einigkeit und Lebenskraft und eine Erleichterung der geistigen Bürden, die die Unterwerfung nach sich zieht. Bis zu einem gewissen Grad ist er eine Tugend, eine fortschrittliche Kraft, die die menschliche Freiheit vermehrt. Aber auch dann ist er ein den Horizont einengender Glaube, und eine Nation, die ihre Freiheit erkämpft, kann wie ein kranker Mensch an. fast nichts anderes mehr denken als an den eigenen Kampf und das eigene Elend. Indien ist keine Ausnahme von dieser Regel und hat oft in der Intensität seines Kampfes die Welt vergessen und nur an sich gedacht." (Zitiert nach H. Vogt: Nationalismus gestern und heute. Texte und Dokumente. Opladen 1967, S. 190 f.)

17 Nidäl al-bact fl sabil al-wahda al-hurrlya al-istiräklya. 1.'Teil, S. 88 ff.

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F. Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von J.-P. Sartre. Frankfurt/M. 1966; R. Aron: Die industrielle Gesellschaft. 18 Vorlesungen. Frankfurt/M. und Hamburg 1964, S.37.

19

Vgl. N. Rejwan: Arab Nationalism. In Search of an Ideology. In: The Middle East in Transition. Studies in ContemporaryHistory. Ed. by W.Z. Laqueur. New York 1958. S.151. M. c Aflaq: Fi sabil al-ba c t (Für die arabische Auferweckung). Beirut 1963, S.21.

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A. as-Sadat: Geheimtagebuch der ägyptischen Revolution. Düsseldorf/Köln 1957, S.44.

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W.I. Lenin: Referat auf dem II. Gesamtrussischen Kongreß der kommunistischen Organisationen der Völker des Ostens. 22. November 1919. In: W.I. Lenin: Werke. Bd. 3 0 . Berlin 1961, S.147. J.F. Kennedy: Der Weg zum Frieden. Hrsg. von A. Nevins. München/Zürich 1964, S . I 3 2 f. W.I. Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage. In: W.I. Lenin: Werke. Bd.20. Berlin 1961, S.19. H. Bourguiba: Nationalism: Antidote to Communism. In: Foreign Äffairs. Vol. 3 5 . No.4. July 1957, S.646 ff.

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a.a.O., S.155 f.

NidSl al-ba c t fl sabil al-wahda al-hurrlya al-istiräklya. 1. Teil, S.169. - Im Jahre I960 erschien im übrigen in Beirut die erste aus dem Deutschen übertragene arabische Ausgabe von Adolf Hitlers "Mein Kampf", nachdem schon im 2. Weltkrieg Teilübersetzungen aus dem Englischen oder Französischen im Handel waren. (Siehe St. Wild: "Mein Kampf" in arabischer Übersetzung. Ins Die Welt des Islams. N.S. Vol. IX (1964). Nr. 1-4, S.207ff.) S.W. Heise: Aufbruch in die Illusion. Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland. Berlin 1964. S.290 ff. Der heute wieder in Westdeutschland vorhandene reaktionäre u n d militante Nationalismus hat sich bezeichnenderweise an der israelischen Aggression im Sommer 1967 entzündet U n d sah sich in dem militärischen Sieg Israels über seine arabischen Nachbarn selbst bestätigt. "Mit einem Blitzkrieg, der schneller gewonnen wurde als je ein deutscher Sieg", schrieb "Der Spiegel" am 12.6.67, "eroberten die Israelis ... die Halbinsel Sinai und die ganze Bundesrepublik. Mit einer Musterdemonstration stählernen Soldatentums - für die Deutschen seit je die imponierendste aller Eigenschaften - schössen sie sich in die Herzen jenes Volkes, in dessen Namen einst alle Juden ausgerottet werden sollten."

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S.F. Steppats Nationalismus und Islam bei Mustafa Kämil. Bin Beitrag zur Ideengeschichte der ägyptischen Nationalbewegung. (Die Welt des Islams. N.S. Vol. IV, Nr. 4.) Leiden 1956, S.338f. S. W.B. Luzki: Nazionalno-oswoboditelnaja woina w Sirii (19251927 gg.). Moskwa 1964. S. L. Rathmann: Araber stehen auf. Über den Befreiungskampf der arabischen Völker bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Berlin I960, S.100 f. Nasser's Speeches (Arabisch). Bd.4 S.745. Nidäl al-bact fl sabll al-wahda al-hurrlya al-iätiräkiya. 1. Teil, S.174. M.cAflaq, a.a.O.,. S.546. L. Senghor: African Socialism. London 1964, S.49. Charta der Vereinigten Arabischen Republik. Kairo 1963, S.72 f. Zit. nach P.J. Vatikiotis: Islam and the Foreign Policy of Egypt. In: Islam and International Relations. Ed. by J.H. Proctor. New York/ Washington/London 1965, S.139 f. S. K.S. Abu Jaber: The Arab Ba c th Socialist Party. History, Ideology and Organization. Syracuse, New York 1966, S.l ff. S u.a. A. Gide: Aus den Tagebüchern 1889-1959. Ins Deutsche übertragen und ausgewählt von M. Schaefer-Rümelin. Stuttgart 1961, S.546, 557, 410 ff. M.'Aflaq, a.a.O., S. 214 f. und 26. Ebenda, S.159 ff. Nidäl al-ba c t fl sabll al-wahda al-hurrlya al-istirlklya. 1. Teil, a.a.O., S.180. Ebenda, S.174. S. L.Binder: The Ideological Revolution in the Middle East. New York/London/Sydney 1964, S.182 ff. Kh. Mohi El-Din: Die ägyptische Revolution, ihre Entwicklung und ihre Perspektiven. In: Probleme des Friedens und des Sozialismus IX/8 (August 1966), S.655. Charta der VAS, S.48. Charta der VAR, S.47. Nidäl al-bact fl sabll al-wahda al-hurrlya al-is'tiräkiya. 6. Teil. Beirut 1965, S.284, f. Interview Nassers mit Gilles Martinet. In: France Observateur. Paris 17.4.1964. - Vgl. auch L. Rathmann: Die Vereinigte Arabische Republik vind die beiden deutschen Staaten im Jahre 1965In: Die nationale Befreiungsbewegung 1965« Bilanz - Berichte -

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M. Robbe Chronik. Bearbeitet v o m Rat für Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften an der Karl-Marx-Universität Leipzig unter Leitung y o n Prof.Dr. iff.Markov. Leipzig 1966, S.89 ff. Charta der VAR, S.86 ff., und Nidäl al-ba c t fl sabll al-wahda al-hurrlya. al-istiräklya. Nidäl al-ba c t fl sabll al-wahda al-hurrlya al-istiräklya. 6. Teil, S.260 f. Kh. Mohi El-Din: Die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen den afrikanischen und den sozialistischen Ländern. In: G.Liebigs Nationale und soziale Revolution in Afrika. Berlin 1967, S.155L.El-Kholi: Der antiimperialistische Kampf in Afrika in der gegenwärtigen Etappe. In: G.Liebig, a.a.O., S.36 ffCharta der VAR, S.58 und 50. al-Istiräkl Nr. 18 vom 2.10.1965. Zit. nach: L.Rathmann: Die Vereinigte Arabische Republik u n d die beiden deutschen Staaten im Jahre 1965. In: A.a.O., S.100 f.

56

Zit. nach: P.Mansfield: Nasser's Egypt. Harmondsworth/Baltimore/Ringwood 1965, S.194.

57

W.I. Lenin: Werke. Bd. 30. Berlin 1961, S. 146.

Jürgen

B r a n d t

Die Politik der europäischen Mächte (besonders Frankreichs) im ostarabischen Baum vor dem 1. Weltkrieg und ihre Resonanz bei der Herausbildung der syrisch-libanesischen Nationalbewegung Das Osmanische Reich war im Mittelalter zum dominierenden Feudalimperium des Vorderen Orients herangewachsen und als erstrangiger Faktor für die internationale europäische Politik nicht wegzudenken. Jedoch im Ergebnis des seit dem Ausgang des 18. Jh. konzentriert einsetzenden inneren sozialökonomischen Verfallsprozesses und der gleichzeitig sich in Europa vollziehenden stürmischen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise bis zum Ende des 19- Jh. wurde es in eine Halbkolonie des europäischen Kapitals verwandelt. Bereits in den 80er Jahren des 19« Jh. hatten insbesondere Frankreich und Großbritannien mit Hilfe der Politik der "pénétration pacifique" sich entscheidender ökonomischer und kulturpolitischer p Positionen im Osmanischen Reich bemächtigt. Eine Hauptmethode, die von den herrschenden imperialistischen Kreisen dieser beiden europäischen Großmächte angewandt wurde, um die osmanische Herrschaft im Innern zu unterhöhlen, bestand in dem Versuch, die erwachenden nationalen Befreiungsbestrebungen der unter türkischer Herrschaft lebenden arabischen Völker für eigene machtpolitische Zwecke auszunutzen. Unter diesen schwierigen Bedingungen mußte sich vor allem auch die syrisch-libanesische Unabhängigkeitsbewegung entwickeln. Die Emanzipationsbestrebungen im syrischen Raum standen, mehr noch als in Ägypten, vor der komplizierten Aufgabe, die objektiv existierende doppelte Frontstellung, die direkte türkische feudale Herrschaft und die Elnmisohungspolitik der imperialistischen Mächte zu erkennen.^ Doch eine klare, den Interessen der syrisch-libanesischen Bevölkerung entsprechende Haltung gegenüber der türkischen Feudaldespotie und der "pénétration pacifique" der europäischen Mächte war nicht möglich, da von einer geschlossenen syrisch-libanesischen Unabhängigkeitsbewegung vor dem 1. Weltkrieg nicht gesprochen werden kann. Auf Grund der unterschiedlichen historischen Entwicklung und des ungleichen sozialökonomischen Niveaus gab es insbesondere zwischen den maronitischen Oberschichten - vertreten durch den hohen katholischen Klerus, die christlich-libanesische Kaufmann-

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schaft und Intelligenz, die die Interessen jener Gruppen widerspiegelte - sowie der meist von muslimischen liberalen Gutsbesitzern, Händlern sowie verschiedenen Gruppen der Intelligenz repräsentierten arabischen Emanzipationsbewegung in den syrischen Kerngebieten prinzipielle unterschiedliche Interessen.^ Die politischen Vertreter der maronitischen Oberschichten setzten insbesondere den Expansionsbestrebungen Frankreichs, das im Libanon auf jahrhundertealte Traditionen aufbauen konnte,^ im wesentlichen keinen Widerstand entgegen, weil sie hofften, mit französischer Hilfe ihre politischen und ökonomischen Positionen in der Levante gegen den Druck der türkischen Zentralregierung entscheidend verbessern zu können. Ihre politischen Programme gingen deshalb meist über beschränkte Dezentralisationsforderungen hinaus und reichten bis zur Forderung nach einer Ersetzung der türkischen durch die französische Herrschaft. Im Gegensatz dazu orientierte sich die groBe Mehrheit aller Gruppierungen der syrisch-libanesischen Emanzipationsbewegung lediglich auf das Verlangen nach stärker betonter Selbstverwaltung der syrischen Provinzen im Rahmen der Erhaltung der Sixistenz des Osmanischen Reiches,® wobei es selbst im Rahmen dieser Forderungen Meinungsverschiedenheiten über den Grad der angestrebten Dezentralisation in den verschiedenen Gebien

ten Syriens gab. Das starke Gewicht des Islam als entscheidende geistige Grundlage nahezu aller Gruppen der muslimischen arabischen Unabhängigkeitsbewegung machte es der türkischen Zentralregierung vor und nach der jungtürkischen Revolution immer wieder möglich, die syrischen Emanzipationsbestrebungen« soweit sie auf sunnitischer Basis beruhten, in panislamische oder gar panosmanische Bahnen zu lenken.^ Eine grundsätzliche Schwäche der syrisch-libandsischen Unabhängigkeitsbewegung vor dem 1. Weltkrieg bestand in der Tatsache, daB die Volksmassen der arabischen Emanzipation zwar wesentliche Impulse gaben, von einer objektiven Teilnahme am Unabhängigkeitskampf, begründet durch ihre ausgeprägte Abhängigkeit von den arabischien herrschenden Klassen und Q der türkischen Besatzungsmacht, jedoch keine Rede sein konnte. Unter Zugrundelegung all dieser Bedingungen ist es verständlich, daß es nur in sehr geringem Maße gelang, nationalarabischen Tendenzen, wie sie z.B. von der Organisation 'al-Fatät' schon weitgehend vertreten wurden, zum Durchbruch zu verhelfen.*®

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Die Uneinheitlichkeit der verschiedenen Gruppen der syrisch-libanesischen Unabhängigkeitsbewegung war die wesentliche Ursache für ihre Unfähigkeit, eine geschlossene Frontstellung sowohl gegen die feudal-türkische Herrschaft als auch gegen die Einmischungspolitik der europäischen Mächte vor dem 1. Weltkrieg zu bilden. Selbst wenn die politischen Vertreter der maronitischen Oberschichten als nahezu bedingungslose Anhänger der französischen Orientpolitik und auf der anderen Seite die sunnitischen Gutsbesitzer und Kaufleute Aleppos, die im wesentlichen für die uneingeschränkte Erhaltung der bestehenden türkischen Herrschaftsmethoden eintraten,11 außer acht gelassen werden, so sind die Differenzen innerhalb der übrigen Gruppen der syrisch-libanesischen Unabhängigkeitsbewegung immer noch prinzipiell genug. Den Beweis dafür brachte z.B. die nicht von einer europäischen Macht redigierte Zeitung des muslimischen Reformers Ahmed Tabärä, 'Al-Ittihid al-Osmani', wenn sie im Jahre 1912 schrieb: "Wir glauben, daß die Ausländer uns nicht lieben... aber sie hetzen nicht gegen unsere Entwicklung."12 Auf der anderen Seite gab es vor dem 1. Weltkrieg einflußreiche Strömungen in der ostarabischen Unabhängigkeitsbewegimg, wie starke Gruppen der Reformbewegung von Damaskus1^ und muslimische Kauf14 leute in Beirut, die zwar die Forderung nach genereller Verstärkung des arabischen Elementes in den Schulen, Verwaltungen usw. erhoben, jedoch weitgehenden politisch administrativen Dezentralisationsplänen im Rahmen der Erhaltrang der Existenz des Osmanischen Reiches skeptisch gegenüberstanden.^ Sie unterstützten und befüiv worteten nur solche Reformen, von denen sie glaubten, daß sie der Propaganda der europäischen Kolonialmächte entgegenwirken konnten, ohne die enge Bindung der arabischen Provinzen an das Osmanische Reich zu gefährden. Die Haltung dieser Vertreter der syrischen Nationalbewegung wiedergebend, berichtete am 5* Januar 1915 der österreichische Konsul Ramzi aus Damaskus nach Wiens "Ohne Reformen aber sei nicht nur kein Fortschritt des Tandes möglich, sondern gehe Syrien einer großen Gefahr entgegen, indem die Bevölkerung ihre Blikke auf eine fremde Intervention zu richten veranlaßt werde. Bezüglich einer solchen wird weiter ausgeführt, daß sie unter allen Umständen, auch wenn sie sich auf die Herbeiführung von Reformen beschränkt, für das Reich schädlich sei, denn durch die von fremder Seite aufoktroyierten Reformen werde der Zusammenhang mit dem Reiche gelockert, wahrend bei den von der Regierung gegebenen die gegenteilige Wirkung, nämlich ein enger Anschluß an das Reich bewirkt werde."16

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Das Mißtrauen, das breite Kreise der muslimisch-syrischen Bevölkerung gegen die europäische 'pénétration pacifique1 hegten, konzentrierte sich insbesondere gegen die französische Orientpolitik, deren tatsächliche machtpolitische Ziele mit dem Herannahen des 1. Weltkrieges immer deutlicher formuliert wurden. Jetzt hoffte die Regierung in Paris, die Abhängigkeit der weltlichen und geistlichen maronitischen Oberschichten von Frankreich als Basis für die Errichtung eines eigenen Kolonialreiches im ostarabischen Raum ausnutzen zu können. So forderte am 20. November 1912 der 'Conseil de la Société dös Stüdes Coloniales et Maritimes1 in einer Erklärung: "Im Falle, daß Syrien durch irgendwelche Umstände aufhören würde, ein Teil des Ottomanischen Reiches zu sein, soll die französische Regierung bekanntgeben, sie sei entschlossen, keine andere Herrschaft als die französische an die Stelle der ottomanischen treten 17 zu lassen." ' Poincaré schränkte in seiner Senatsrede am 21. Dezember 1912 diese Erklärung zwar insofern ein, als er auf die Integrität des Osmanischen Reiches hinwies, gleichzeitig verwies er jedoch nachdrücklich auf die Interessendes französischen Imperialismus in Syrien und Libanon, als er feststellte: "Im Libanon und in Syrien haben wir traditionelle Interessen, und wir werden ihnen Respekt zu verschaffen wissen... wir werden dort keine unserer Traditionen aufgeben, wir werden keine unserer Sympathien, die uns als wohlerworben gelten, verraten, und wir werden da keine unserer 18 Interessen antasten lassen." Gestützt auf diese so nachdrückliche Betonung angeblicher französischer Ansprüche auf die Levante entfalteten die französischen Zeitungen 'Le Temps' und 'Echo de Paris1 eine lebhafte Pressecamp^gne sowohl gegen den französischen Botschafter in Istanbul, insbesondere aber gegen den französischen Generalkonsul in Beirut, Coug&t, dem sie "ungenügende19 Energie bei der Verfolgung französischer Interessen im Libanon" 7 vorwarfen. Konform mit dieser Pressecampagne ging die verstärkte Tätigkeit des weitgehend von der französischen Regierung beeinflußten 'Comi20 té Libanaise' in Paris. Diese Organisation nahm in engem Zusammenwirken mit den feudalen maronitischen Oberschichten des Berglibanon das Ablaufen der Amtszeit des Gouverneurs dieser Provinz zum Anlaß, um weitgehende autonome 21 Sonderrechte für den Berglibanon von der Pforte zu verlangen. Diese Forderungen bezogen sich auf genauere Festlegungen der Rechte des Gouverneurs, auf die Erweiterung der Befugnisse des örtlichen "Conseil administratif",

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der autonomen Justiz, auf das Hecht, die eigenen Post- und Zolleinnahmen im Berglibanon zu belassen, und auf eine Erweiterung der örtlichen Polizeikräfte. Die Pforte, die zunächst nicht bereit war, diese Forderungen zu akzeptieren, mußte unter dem Druck der europäischen Mächte - vor allem Poincaré hatte die libanesischen For22

derungen unterstützt - am 25. Deztember 19.12 ein Protokoll linterschreiben, in dem die von den feudalen maronitischen Oberschichten des Berglibanon vorgebrachten Wünsche akzeptiert rarden.2^ Wenn auch in allen Erklärungen und Manifestationen der profranzösischen libanesischen Organisationen und Zeitungen die Erhaltung des Osmanischen Reiches nicht ausdrücklich in Frage gestellt wurde, so zeigte doch "die ganze fieberhafte für die Realisierung der libanesischen Forderungen entfaltete Tätigkeit das intensive Bestreben Frankreichs, den Schutz der Libanonprovinz für sich allein in Anspruch zu nehmen, wobei es sich infolge 24 der Wichtigkeit der französischen Interessen berechtigt sieht." Noch deutlicher dokumentierte der Besuch eines französischen Geschwaders vom'9*-16. November 1913 im Beiruter Haien den offenkundigen Willen der französischen Regierung, die libanesischen Küstenprovinzen als eine de facto-Kolonie Frankreichs zu betrachten. Auf einem Empfang, den der maronitische Patriarch Hoyeck für den Kommandanten des französischen Geschwaders, Vizeadmiral Boué de Lepeyrère, gab, 2 ^ und anläßlich des Besuches der französischen Offiziere in der St.-JosefsUniversität sowie der Einweihung einer französischen Ingenieurschule, wurde die enge Bindung dieses arabischen Küstenstreifens an Frankreich betont. "Klar und deutlich...", schrieb der österreichische Generalkonsul Pinter am 18. November 1913 aus Beirut an seine Regierung, "...trat hier der Zweck zutage, daß Frankreich, nachdem die Liquidierung der europäischen Türkei zum Großteil erfolgt ist, und das Schwergewicht der orientalischen Frage sich auf Kleinasien konzentriert hat, nunmehr seine Interessen und Rechte auf Syrien, seinem Schoßkinde, deutlich zum Ausdruck bringen will. Dabei trat die französische Escadre hier so auf, als wäre sie im eigenen Lanpc de." Über die Resonanz des französischen Flottenbesuches und das Auftreten der französischen Offiziere im Libanon schrieb Pinters "Von den Universitätshallen 27 des Jesuiten-Ordens bis zu den bescheidenen Armenier-Siedlungen ' der französischen Schwestern, überall klang Frankreichs Name und Ruhm als der Trägerin der Zivilisation in Syrien." 28

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Doch alle noch so vordergründig betonten französischen Kolonialansprüche auf den syrisch^libanesischen Raum, alle noch so prononciert vertretenen profranzösischen Tendenzen des hohen maronitischen Klerus und der christlich-libanesischen Kaufmannschaft konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß der effektive französische Einfluß im wesentlichen auf das christliche Element in der ostarabischen Unabhängigkeitsbewegung beschränkt b l i e b . D i e große Mehrheit nahezu aller sozialen Schichten und Gruppen der muslimischen syrisch-libanesischen Unabhängigkeitsbewegung lehnte eine wie auch immer geartete Verstärkung des französischen Einflusses in diesem Teil des Osmanischen Reiches a b . D i e entscheidende Ursache dieser antifranzösischen Haltung entstand in der seit Jahrzehnten betriebenen einseitigen Unterstützung der maronitisch-libanesischen Oberschichten sowie der Mißachtung der nationalen vor allem aber der religiösen Geistesgrundlagen der muslimischen Bevölkerung Syriens. Bereits in einer 1906 in Beirut erschienenen anonymen Schrift 'La question sociale et scolaire en Syrie1 wurde dieses Problem mit besonderer Klarheit zum Ausdruck gebracht: "Wir lieben Frankreich, aber unsere Gefühle der Liebe können nicht soweit gehen, da£ wir uns selbst vergessen... Im Interesse Syriens wie im Interesse Frankreichs ist es notwendig, daB die Menschen unseres landes ihren nationalen Charakter und ihre eigene Individualität behalten... Wir werden niemals zugeben, daB unsere nationale Kultur sterbe. Wir werden arbeiten, wir werden uns abmühen, wir werden alles verbrauchen, was wir an Kraft und Energie, an Jugend und Seele besitzen, wir werden unser Blut und unser Leben opfern, wenn es nötig ist, aber unsere Kultur wird nicht sterben."^"'" Doch die französische Orientpolitik berücksichtigte die islamisch und teilweise auch schon national-arabisch fundierten Tendenzen innerhalb der syrischen Unabhängigkeitsbewegung nicht in notwendigem Maße. So verschärften sich die Differenzen zwischen der großen Mehrheit aller muslimisch-arabischen Bevölkerungsgruppen und der französischen Politik im ostarabischen Raum "als Produkt der maßlosen und unvorsichtigen Propaganda, die jetzt durch den französischen Generalkonsul bei den Christen des Libanon betrieben wird, da die syrischen Mohammedaner fürchten, bei einer noch weiteren Ausbreitung der französischen Interessen ihre Religion hier einer Gefahr ausgesetzt zu s e h e n . D i e einseitige promaronitische Orientierung der französischen Regierung ermöglichte es der britischen Orientpolitik, teilweise ihre Interessen in Syrien zur

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Geltung zu bringen. Unter geschickter Ausnutzung der antifranzösischen Haltung der sunnitischen Bevölkerung Syriens und Libanons propagierten die britischen Diplomaten ihren angeblichen Hillen, das religiöse Element als wichtigen Bestandteil der syrischen Unabhängigkeitsbewegung anzuerkennen und zu fördern. Pinter schrieb dazu: "Unter dem starken Druck der zielbewußten Politik des englischen Generalkonsuls ist es ihnen (den syrischen Muslims - J.B.) klar geworden, daß sie die zukünftige Ausgestaltung ihrer Lage in der religiösen Festigung zu erblicken habe, wobei die Tätigkeit der englischen Agenten dafür sorgt, da£ es sich nicht mehr bloB um eine englische Interessensphäre, sondern direkt um die Machtsphäre handelt."55 Die Reaktion auf diese britische Politik war unter den "besitzenden mohammedanischen Kreisen"5^ für die Londoner Regierung durchaus nicht ungünstig. In dem Bestreben, "sich der total korrumpierten und verhaßten Vdlayetsbeamten zu entledigen..." wollten die "...besitzenden Kreise Syriens eine fremde Macht einschalten, und Pinter gibt zu verstehen, daß dabei an Großbritannien gedacht war: "Ein Gewährsmann aus den vorerwähnten Kreisen versicherte mir, daß man hierbei einzig und allein an England denke und daß die Mohammedaner Frankreich unbedingt zurückweisen würden, gegen welches' sich eine große Abneigung kundgibt. Sie glauben dadurch am besten ihre großen wirtschaftlichen Beziehungen mit Europa gesichert. Nicht zum geringsten trägt hierzu die intransigente katholische Haltung Frankreichs bei, welche infolge seines Kultusprotektorates prononciert ist."56 Die gegenüber Großbritannien offenbar gewordene teilweise nicht unfreundliche Haltung eines großen Teiles der muslimischen Bevölkerung Syriens und Libanons darf jedoch nicht in der Weise gedeutet werden, als ob diese politischen Gruppen ein britisches Protektorat - analog der maronitischen Forderung nach der französischen Schutzmacht - verlangt hätten. Es handelte sich vielmehr im wesentlichen um eine Reaktion auf die französische Politik und war darüber hinaus darin ursächlich begründet, daß die liberalen muslimischen Gutsbesitzer, Kaufleute und Handwerker sowie große Teile der muslimischen Intelligenz Syriens im Kampf gegen die türkische Feudaldespotie die Unterstützung des britischen Reiches suchten. Den effektiven Einfluß, den die europäischen Mächte, vor allem Frankreich und Großbritannien auf die syrisch-libanesische Unabhängigkeitsbewegung am Vorabend des 1. Weltkrieges ausübten, brachte der Kongreß zum Ausdruck, der vom 18.-23. Juni 1913 in Paris von

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der Mehrheit der syrisch-libanesischen politischen Gesellschaften veranstaltet w u r d e . ^ Auf dieser Tagung blieben die Bemühungen der maronitisch-libanesiachen Konferenzteilnehmer, dem Kongreß eine profranzösische Orientierung zu geben, im wesentlichen erfolglos. Lediglich das Verlangen der Tagungsteilnehmer, ausländische Inspektoren für verschiedene Verwaltungszweige in ihrer Heimat zu akzeptieren, ist in gewisser Hinsicht als ein Zugeständnis an die französische Orientpolitik zu w e r t e n . Trotz des auf der Pariser Konferenz offenbar gewordenen nur geringen Einflusses der französischen Nahostpolitik auf die Gesamtheit der syrisch-libanesischen Unabhängigkeitsbewegung und der Konkurrenz des britischen Imperialismus in Syrien und Libanon war die dominierende Position Frankreichs in diesem Teil des Osmanischen Reiches im Prinzip noch nicht in Frage gestellt. Diese Behauptung stützt sich einmal auf die starken wirtschaftlichen Potenzen, die französische Unternehmungen im syrisch-libanesischen Raum besaßen,^ und z u andern auf die französischen kulturpolitischen Positionen. Auf der Geheimkonferenz der imperialistischen Hauptsiegermächte des 1. Weltkrieges am 20. März 1919 in Paris verteidigte Frankreichs Außenminister Pichon die Ansprüche seines Landes auf Syrien und Libanon mit dem Hinweis auf die bis 1914 in diesen Gebieten 40 vorbereitete Kolonialexpansion. Er verwies auf die 50 000 bis 70 000 Schüler, die in französischen Missionsschulen unterrichtet worden sind sowie auf die französische Franz-Joseph-Universität in Beirut. Vor allem, so gab St. Baker die Rede Pichons sinngemäß wieder, "... wäre das Eisenbahnnetz französisch und Beirut wäre ein rein französischer Hafen. Die Gas- und Elektrizitätswerke wären französisch... Damit wären die französischen Unternehmungen jedoch noch nicht erschöpft, denn Frankreich hätte die Landwirtschaft und den Weinbau vervollkommnet und zahlreiche Faktoreien angelegt. Kein anderes Land hätte auch 41 nur annähernd so die Entwicklung in dieser Region gefördert." Juliette de Groodt-Adant, die in ihrem 1941 erschienenen Buch "Die Geschichte des französischen Einflusses in Syrien" die französischarabischen Beziehungen vom Standpunkt des französischen Imperialismus untersuchte, charakterisierte die Autorität Frankreichs vor dem 1. Weltkrieg in Syrien und Libanon mit den Worten: "Es genügte, Europäer zu sein, damit einem alles erlaubt war. Aber wenn mein Franzose war, dann standen die Beamten u n d die ganze Polizei zur Verfügung, so groß war die Angst aller vor einer Beschwerde, die unsere Konsuln nach Konstantinopel richten könnten."^ 2

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Die Wirksamkeit, die von der französischen Ori en tdiplomatie auf die christlich-arabische Intelligenz ausging, bewies der Ausspruch eines maronitisch-libanesischen Schriftstellers im Jahre 1912s "Die Menschen müssen in unserem Land ihren eigenen Charakter und ihre eigene Individualität behaupten, . i n d e m sie sich in der Schule Frankreichs entwickeln, sich von seinen Ideen begeistern lassen, seine Literatur p f l e g e n . D i e s e Äußerungen entsprachen dem Ziel, auf das die französische Kulturpolitik im Nahen Osten seit Mitte des 19. Jh. in konzentrierter Form orientierte. Es ging ihr hierbei darum, die antitürkische Frontstellung der syrisch-libanesischen Opposition mit der Erziehung zu einem "französischen Arabertum" zu verbinden. Grundlage der französischen Orientdiplomatie war folglich keine von ihr abhängige, sich auf das nationale Bewußtsein gründende arabische Bewegung, sondern die Verhinderung derselben. Dieses Motiv trat zu Beginn der Entfaltung der syrischen Unabhängigkeitsbestrebungea in der Mitte des 19. Jh. noch hinter dem v o n der französischen Politik geförderten antitürkischen Aspekt zurück, rückte jedoch mit dem nahenden Zusammenbruch des Osmanischen Reiches immer stärker in den Vordergrund. Die Ergebnisse dieser französischen Grundeinstellung mußten sich in der Perspektive auf die französisch-syrischen Beziehungen belastend auswirken, da nur die maronitischen Oberschichten, die ihre politische u n d ökonomische Sonderstellung gegenüber dem muslimischen Syrien gewahrt wissen wollten, der notwendigen Konsequenz dieser Politik zum größten Teil folgen konnten. Für die französische Orientdiplomatie war das enge Bündnis mit den maronitisch-libanesischen Feudalen und Kompradoren so lange von unzweifelhaftem Wert, wie diese Gruppen auf die Führung der syrisch-libanesischen Unabhängigkeitsbewegung den bestimmenden Einfluß ausübten. Die Erfolglosigkeit der französischen Politik wurde immer offensichtlicher, je mehr es den muslimisch-syrischen Feudalen und bürgerlich-nationalistischen Elementen gelang, die Führung des antikolonialen Kampfes zu übernehmen. Alle Faktoren, die sich auf die Grundposition der französischen Politik im Nahen Osten auswirkten, änderten nichts an dör Tatsache, daß die herrschenden französischen Klassen auf der Grundlage des gesamten Arsenals ihrer in der Vergangenheit begründeten ökonomischen Positionen, aber auch kulturpolitischer Einflüsse die Errichtung eines eigenen Kolonialreiches vorzubereiten suchten.

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S u m m a r y In the process of the transition of capitalism to its highest stage, imperialism, the powerful mediaeval Ottoman Empire changed into a semi-colony of the European Great Powers after the mid-19th century. It was under these conditions that the independence movement of the Arab peoples under Turkish rule developed up to World War One. The extremely complicated historical task for the Arab nationalist movement before World War One consisted in overthrowing Turkish feudal despotism and also in resisting the attempts of the European Great Powers to prepare for a colonial empire of their own in the Arab territories of the Ottoman Empire with the help"of their policy of "peaceful penetration". In Syria-Lebanon, especially in the coastal regions of Lebanon, French diplomacy in the Orient had secured a predominant influence amongst the Maronite Christian upper classes. This was a serious obstacle to the Syrian-Lebanese independence movement in setting up its own anti-feudal and anti-colonial front at that time.

Anmerkungen 1 2

3

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5

Näheres hierzu siehe L. Rathmanns Stoßrichtung Nahost, 1914 1918. Berlin 1963, S. 20 ff. Näheres hierzu siehe u.a.: Ebenda, S. 22 ff.j J. Brandt: Die Politik des französischen Imperialismus in Syrien und Libanon vom Ende des 1. Weltkrieges bis zum Vorabend ,des großen syrischen Volksbefreiungskrieges 1925-27- Diss. Leipzig 1966, s. 31-50. Siehe hierzu auch M. Robbe: Nationalismus und Sozialismus im Befreiungskampf der arabischen Völker. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Berlin 1967. H.9, S.IO3O ff. Näheres hierzu siehe u.a. bei A.Hanna: Die nationale Befreiungsbewegung in Syrien von der Mitte des 19. Jh. bis 1920. Diss. Leipzig 1965, S. 56-120; H. Kohn: Geschichte der nationalen Bewegung im Orient. Berlin 1928, S.212 ff.j R. Har.tmann: Arabische politische Gesellschaften bis 1914. In: Beiträge zur Arabistik, Semetistik und Islamwissenschaft. Leipzig 1944, S. 439-467Näheres hierzu siehe u.a. bei R. Nicolas: Die Geschichte der Vorrechte und des Einflusses Frankreichs in der Levante vom Be-

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ginn des Mittelalters bis zum Friedensvertrag von Paris 1802. Diss. Bern 1917; K. Holdegel: Frankreichs Politik im Vorderen Orient und im Mittelmeer in der Zeit vom Ausbruch des italienisch-türkischen Krieges bis zum Zusammentritt der Londoner Botschafterkonferenz. Diss. Dresden 1954. M. Hartmann berichtet in seinen Reisebriefen aus Syrien, Berlin 1913, S. 108, von einem libanesischen muslimischen Kaufmann, der ihm gegenüber erklärt habe: "An zwei Dingen lassen wir nicht rütteln, an dem Kalifat der herrschenden türkischen Dynastie und an der Zugehörigkeit der arabischen Provinzen zum Osmanischen Reich." Der österreichische Konsul in Aleppo berichtet am 17>5-1913 a*1 seine Regierung von einem Flugblatt, das in Aleppo von einer 'Commission de la Conference arabe' verbreitet wurde. Darin wurden folgende Ziele gefordert: "1. iüitwicklung des patriotischen Gedankens und Bekämpfung einer eventuellen Okkupation; 2. Anerkennving der Rechte der Araber im Ottomanischen Reich; 3. Reformen unter dezentralisiertem Regime." Weiter berichtet der österreichische Konsul, daß sich die wohlhabenden Kreise Aleppos gegen diese Forderungen ausgesprochen haben, weil sie ihnen zu weitgehend waren: "iiis sind durchweg Besitzer von Ländereien, aus welchen sie durch Ausbeutung großen Nutzen ziehen, wobei ihnen die jetzige Regierung eine gewünschte Handhabe bietet." Demgegenüber sei die "arme muslimische Bevölkerung" für diese Vorschläge. "Dieselben sind aber zu schwach und fürchtsam, um sich an einem eventuellen Reformwerk zu beteiligen, zumal sie die Regierung gegen sich haben." In: Haus-Hof- und Staatsarchiv (im folgenden: H.- H.- St.-Archiv), Aien. Generalkonsulat Beirut VII. 2. vom 17.5.1913. Im Gegensatz dazu berichtet aus Damaskus der österreichische Konsul Ramzi am 17.7.19I3 über die Haltung der dortigen politischen Vertreter der syrischen Reformbewegung: Sie hätte die Ergebnisse des Pariser Kongresses "sehr befriedigt aufgenommen". Als Beweis führt er folgendes Detail an: "Den in einer der Sitzungen des Kongresses gefaßten Beschluß, daß kein Patriot einen Regierungsposten ausüben dürfe, solange die Reformen nicht erfüllt sind, wurde von zahlreichen arabischen Politikern zum Anlaß genommen, sich in die Rechtsanwaltsliste einzutragen, mit der Erklärung, diesem Berufe solange zu folgen, bis ihnen die Gewährung der Reformen den eintritt in den Regierungsdienst ermögliche." Ti.-H.-St.-Archiv, Wien. Ks. Damaskus vom 17.7.1913-

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J. Brandt Über die Haltung der Reformpartei Aleppos berichtet am 12.9. 1915 der österreichische Konsul in Aleppo bezugnehmend auf die Stellungnahme des Komitees zu den Ergebnissen des Pariser Kongresses von 1913! "Die Aleppiner Reformpartei bleibt ruhig. Als Grund für diese Haltung der Aleppiner wird deren Abneigung gegen jede einschneidende Veränderung der bisherigen Zustände bezeichnet. Die hiesige Reformpartei setzt sich wie bekannt aus den Notabein, insbesondere auch den Latifundienbesitzern zusammen welche alle aus den bestehenden Zuständen einen großen Vorteil auf Kosten der von ihnen ausgebeuteten Bauern und Arbeiter ziehen ... die Masse der Bevölkerung zählt überhaupt nicht, zu einer Volksmeinung ist nicht der geringste Anlauf zu bemerken." H.-H.-St.-Archiv, Wien. Ks. Aleppo vom 12.9.1913-

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Näheres siehe u.a. H. Kohn, a.a.O., S. 31; H. Delfss Die Politik der Mächte beim Zerfall des Osmanischen Reiches. Diss. Kiel 1954-, S. 127-147; E. Topf: Die Staatenbildungen in den arabischen Teilen der Türkei seit dem Weltkriege nach Entstehung, Bedeutung und Lebensfähigkeit. Hamburg 1929, S. 140; A. Hanna, a.a.O., S. 90-94.

9 10

L. Rathmann: Araber stehen auf. Berlin i960, S. 125. A. Hanna, a.a.O., S. 83-85.

11

Siehe Anmerkungen 6 und 7•

12

Siehe A. Hanna,

13

Ebenda, S. 60.

14

Siehe Anmerkung 6 (Bericht M. Hartmanns, a.a.O., S. 108).

15

a.a.O., S. 107•

Siehe Bericht des österreichischen Konsuls Ramzi vom 5.I.I9I3 aus Damaskus. In:. H.-H.-St.-Archiv, Wien, Ks. Damaskus. Ramzi berichtet: "Man will im allgemeinen von einer Lockerung_des Bandes mit der Zentralregierung nichts hören ... sondern verlangt vielmehr die Verstärkung des arabischen Elementes, der arabischen Sprache in den Verwaltungen, Schulen

...".

16

Bericht Ramzis. In: Ebenda.

17

K. Holdegel, a.a.O., S. 94.

18

J. de Groodt-Adant: Geschichte des französischen Einflusses in Syrien. Köslin 1941, S. 40/41; F. Dettmann: Völkerrecht und französische Machtpolitik von Richelieu bis Reynaud. Berlin 1940, S. 37-

19

Bericht des österreichischen Generalkonsuls Pinter vom 29.1. 1913. In: H.-H.-St.-Archiv, Wien, Gks. Beirut.

20

Bericht Pinters vom I.3.I913 in K.-H.-St.-Archiv, Wien, Bot-

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schaftsarchiv Konstantinopel über die Tätigkeit des 'Comité Libanaise'. K. Holdegel, a.a.O., S. 95» N.S. Kalinin: Nacional'noe dviïenie v Sirii i Livanev 1913 g. Ins Oierki po istorii arabskich stran*. Moskau 1929, S. 124. K. Holdegel, a.a.O., S. 95Ebenda. Siehe Anmerkung 19Lapeyrère begrüßte zu diesem Empfang den maronitischen Patriarchen als "Chef du pays". Der österreichische Generalkonsul schrieb am 18.11.1913 zum Auftreten Lapeyrère*s in Beirut noch folgendes: "In der Tat, noch nie hatte Frankreich seine Interessen in Syrien In so energischer Weise dokumentiert, noch nie die Zugehörigkeit des Libanongebietes zum Ottomanischen Reich so ignoriert wie diesmal." In: H.-H.-St.-Archiv, Wien, Gks. Beirut. Ebenda. Die armenische Bevölkerungsgruppe in Syrien und Libanon gehörte vor und nach dem 1. Weltkrieg in ähnlicher Weise wie die Maroniten zu den Anhängern der französischen Orientpolitik. Siehe Anmerkung 19. Es ist zu betonen, daß nicht nur die Christen des Libanon, sondern auch die der syrischen Kerngebiete zum größten Teil Anhänger der französischen Politik im Nahen Osten waren. Siehe dazu z.B. einen entsprechenden Bericht des österreichischen Konsuls aus Aleppo vom 12.9.1913« Ins H.-H.-St.-Archiv, Wien., Ks.Aleppo. Näheres siehe u.a. bei A. Hanna, a.a.O., S. 75-120. H. Delfs, a.a.O., S. 163/164. Siehe Bericht Pinters vom 23.ll.i9i3 in H.-H.-St.-Archiv, Wien, Gks. Beirut. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Die Vertreter der Reformbewegung von Damaskus waren auf dem Kongreß in Paris nicht vertreten. Siehe dazu A. Hanna, a.a.O., S. 116. Einzelheiten zum Verlauf des Kongresses siehe u.a. bei A. Hanna, a.a.O., S. 113-120. Die Gesamthöhe der im syrisch-libanesischen Raum investierten

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J. Brandt französischen Kapitalien belief sich am Vorabend des 1. Weltkrieges auf rund 200 Mill. Francs; siehe in diesem Zusammenhang auch die von der Marseiller Handelskammer vom 3•-5«1.1919 in der "Al-Maäriq." Januar 1920 auf den Seiten 42-47 veröffentlichten Untersuchungen der französisch-syrischen Beziehungen bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges. H.S.Bakers Woodrow Wilson. Memoiren und Dokumente über den Vertrag zu Versailles. Leipzig 1923. Bd.III, S. 6/7. Ebenda, S. 7J. de Groodt-Adant, a.a.O., S. 33. P. Richard: Frankreich in Syrien. Berlin 1940, S. 9-

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Theoretische und praktische Aspekte der ökonomischen Konzeption der Baath-Partei in Syrien Ein Hauptproblem in der ideologischen Konzeption der syrischen Baath-Partei bildeten vom Zeitpunkt der Gründung an ihre Vorstellungen vom Sozialismus. In der Tatsache, daß auch diese im Ursprung kleinbürgerliche Partei von Anbeginn die Losung eines in seiner inhaltlichen Festlegung weitgehend unklaren Sozialismus vertrat, spiegelte sich der wachsende Einfluß sozialistischen Gedankengutes auf die nationale Befreiungsbewegung des syrischen Volkes. Objektiv drückten sich selbst in dieser noch wenig klar umrissenen Konzeption die Erfordernisse der gesellschaftlichen Situation Syriens aus. Die seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ständig anwachsende antiimperialistische Bewegung drängte auch in Syrien auf Veränderungen hin, die sich in ihrer Orientierung gegen die zerfallende Feudalordnung und gegen nationale Erniedrigung richteten; beide Zielsetzungen wurden zu jener Zeit weitgehend unter nationalistischen Aspekten gesehen. Die nationale Befreiungsbewegung hatte in Syrien 1925/27 i® bewaffneten Aufstand gegen Frankreich unter Beteiligung der jungen Arbeiterklasse des Landes noch vergeblich um die Erlangung staatlicher Souveränität gerungen; die folgenden Jahre waren jedoch durch ein weiteres Erstarken der sozialen und nationalen Bewegung charakterisiert. Innerhalb dieser breiten nationalen Strömung spielten die Mittelschichten - Intelligenz, Kleinbürgertum und Offizierskorps - eine besondere Rolle, die in gewissem Sinn typisch für die gesellschaftliche Situation von sich herausbildenden Nationalstaaten ist, in denen sowohl das Industrieproletariat als auch die Bourgeoisie noch wenig entwickelt sind. Es war ein Wesenszug dieser kleinbürgerlichen Schichten, daß sie die politische Entwicklung durch eine betont nationalistische Haltung, die antiwestliche Tendenzen einschloß, voranzutreiben suchten. Für diese den Klassencharakter der nationalen Entwicklung bewußt negierende Haltung war die politische Auffassung jener Intellektuellen bezeichnend, die um die Jahre 1940/41 eine politische Partei in ihren Vorformen zu bilden begannen. Die Gründer der

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Baath-Partei waren Michel cAflaq und Salahuddln al-Bltär, zwei Lehrer, die ihre Ausbildung in Frankreich erhalten hatten und dabei mit sozialistischen Vorstellungen in erste Berührung gekommen waren, nachdem sie bereits in der Heimat sich zu nationalistischem Ideengut bekannt hatten. Bestimmend für ihre Vorstellungen von einer sozialistischen Gesellschaft waren vor allem die Gedanken Andrfe Gides \ind Romain Rollands gewesen, die in einer idealistisch-unverbindlichen Weise durch soziale Reformen humanistische Ideale verwirklichen zu können glaubten. Diese Eindrücke wurden durch gewisse Übernahmen von einer klassenmäßigen Struktur der Gesellschaft und durch Gedanken sowohl der französischen Aufklärung als auch der deutschen dialektischen Philosophie (Hegel) ergänzt. Die soziale Orientierung ergab sich bei ihnen vor allem aus der Einsicht in die Reform der bestehenden Gesellschaft, wobei die ökonomischen Aspekte dieser Haltung bei der Rückkehr der beiden Parteigründer nach Syrien 1932 noch weitgehend unformuliert geblieben waren. Erst in der zwischen 1935 1936 liegenden Annäherung beider Politiker an die Kommunistische Partei Syriens, die 1927 gegründet worden war, erfuhren ihre Vorstellungen eine mehr den praktischen Erfordernissen ihres Landes angepaßte Veränderung. Allerdings erwies es sich, daß ihrer beider Bindung an die nicht klassenmäßig orientierte Konzeption des kleinbürgerlichen Nationalismus zu stark war, tun einer bewußt den nationalen Erfordernissen entsprechenden Haltung Platz zu machen. Diese Vorstellungen beider Parteigründer von einer Überwindung aller Hemmnisse der Eigenstaatlichkeit verknüpften sich bei ihnen mit einem Sozialismus-Konzept, das gerade durch die feste Verbindung mit dem arabischen Nationalismus seine besondere Prägung erhielt. Dieser beinahe religiös empfundene Glaube an den unlösbaren Zusammenhang von Nationalismus und Sozialismus erfuhr insofern in der politischen Konzeption dieser Partei noch eine weitere Komplizierung, die für die Entwicklung dieser Partei jedoch von größter Bedeutung sein sollte, als der Gedanke einer politischen Veränderung auf den gesamten arabischen Raum bezogen wurde. In dem Begriff "al-bact" ("Auferweckung") drückt sich eine alle Lebensbereiche umfassende Änderung der Gesellschaft aus, die von der Partei in den drei programmatischen Begriffen "Einheit, Freiheit und Sozialismus" formuliert wird. Zur politischen Organisation entwickelte sich die Partei in den Jahren bis 1947, als ihr erster Nationalkongreß stattfand. Bereits vor diesem Zeitpunkt war sie in der nationalen Auseinandersetzung des syrischen Volkes um den Abzug der aus-

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ländischen Truppen, der am 17.4.1946 erfolgte, und in der sich daran anschließenden parlamentarischen Periode durch politische Verlautbarungen hervorgetreten. Auf ihrem I. Nationalkongreß vom 4.-6. April 1947 wurde das Parteistatut beschlossen u n d verabschiedet; somit lagen für die Beurteilung dieser Partei die ersten ihre weitere Entwicklung bestimmenden Dokumente vor."'" Grundidee darin ist die nationalistische These, daß nicht allein einige Klassen des Volkes unterdrückt werden, sondern daß es für die gesellschaftliche Situation der orientalischen Völker bestimmend ist, daß sie in ihrer Gesamtheit ausgebeutet sind. - In den Paragraphen 26 - 37 des Statuts werden die Bestimmungen der Partei für eine Neuregelung des ökonomischen Bereiches der arabischen 2 Staaten formuliert. Der wirtschaftliche Reichtum eines Landes wird darin als Gemeineigentum bezeichnet; die bestehende Güterverteilung betrachtet m a n als ungerecht und verlangt ihre Änderung, ohne jedoch konkrete Maßnahmen oder Machtmittel dafür nennen zu können. Man geht sogar so weit, das Verbot der Ausbeutung zu fordern, da sich der v o n der Partei vertretene Grundsatz der Gleichheit aller Bürger damit nicht verbinden lasse. Dem Staat wird die Nutzung und Lenkung aller gemeinnützigen Körperschaften, der nationalen Rohstoffreserven, der wichtigsten Großproduktionsmittel u n d der Verkehrsmittel übertragen. Ausländische Gesellschaften sollen verstaatlicht werden. Den Landbesitz will man n a c h den persönlichen Fähigkeiten des Eigentümers begrenzt wissen. Es klingen dabei Gedanken Proudhons an, der bereits davon gesprochen hatte, daß nur Arbeit Recht auf Eigentum gewährt. Sogar die allgemeine Wirtschaftsplanung, die Begrenzung des individuellen Kleinbesitzes, Beteiligung der Arbeiterschaft an der Verwaltung der Betriebe sowie Kontrolle des Staates über Innen- u n d Außenhandel werden programmatisch gefordert. Doch enthalten diese Paragraphen auch jene Formulierungen, die Besitz als natürliches Recht bezeichnen, nur eingeschränkt durch das nirgendwo klar umrissene nationale Interesse.Auch wird die nationale Tendenz der ökonomischen Maßnahmen durch die Bestimmung offenbar, daß die Aufsicht des Staates vor allem dem Schutz der nationalen Produktion gegenüber ausländischer Konkurrenz zu dienen habe. Diese Vorstellungen einer ökonomischen Neuregelung waren in ihrer Widersprüchlichkeit u n d in ihrer gewollt avantgardistischen Haltung charakteristisch für die kleinbürgerliche Orientierung dieser Partei in ihren Anfsingen.

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In der weiteren politischen Arbeit der Partei trat wiederholt die Auffassung zutage, daß diese arabische Einheit Vorrang vor jeglichem sozialistischen Experiment habe. Damit wurde der Sozialismus bei einigen Vertretern der Partei zu einer bloßen Lebensform, ohne die ökonomischen Bezüge des eigenen Programms zu berücksichtigen. Die Konzeption der Partei erfuhr innerhalb der politischen Auseinandersetzung der Jahre nach dem ersten Nationalkongreß eine oftmals taktischen Erwägungen angepaßte Modifizierung. Ausschlaggebender Faktor für die schwierige innenpolitische Situation des Landes war die unmittelbare Einflußnahme des französischen, britischen und amerikanischen Imperialismus. Diese politische läge brachte eine zunehmende Verschärfung der Spannungen im ökonomischen, gesellschaftlichen u n d ideologischen Bereich mit sich. Die anstehenden sozialen Veränderungen im Interesse breiter Volksmassen konnten durch die vom Ausland meistens mit Hilfe bestechlicher Militärs inszenierten Machtkämpfe nicht der Verwirklichung nahegebracht werden; darüber hinaus wurde in dem weitgehend von persönlichen Interessen bestimmten Machtkampf der bürgerlichen Parteien das zunehmende politische Scheitern der nationalen Bourgeoisie offenbar. Die politische Arbeit der Partei wie auch die aller anderen demokratischen Organisationen wurde nach der Auflösung des Parlaments am 2. Dezember 1951 durch den vom USA-Kapital finanzierten Militärdiktator Adlb SIsakll in zunehmendem Maße behindert. Eine durch faschistische Methoden bestimmte Machtausübung ließ eine breite Opposition der um Demokratie und Freiheit kämpfenden nationalen Kräfte entstehen. e Aflaq und Bl^är wurden jeweils 1952 und 1954 inhaftiert, doch konnte die Partei in der Koalition dieser breiten Volksbewegung einen gewissen Einfluß bewahren, der sich 1954, als durch eine vom Militär unterstützte Volkserhebung das diktatorische Regime beseitigt wurde, in den ersten Parlamentswahlen nach der Machtübernahme Slsaklls erwies. Durch einige großangelegte Gesetzesvorschläge versuchte die Partei im sozialen Bereich des Landes die weitere Entwicklung mitzubestimmen und auf Teile der Arbeiterklasse u n d Bauernschaft unmittelbar propagandistisch einzuwirken. Ausdruck für diese Haltung war der am 22. Januar 1955 veröffentlichte Vorschlag eines "Gesetzes zum Schutz des Bauern".^ Mit diesem Gesetzesvorschlag suchte man die eigenen Vorstellungen von der Umgestaltung auf dem Lande, die im Statut nur knappe Erwähnung gefunden hatten, zu konkretisieren

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und der sozialen Situation anzupassen. Drei Viertel der Gesamtbevölkerung Syriens waren in der Landwirtschaft tätig, und landwirtschaftliche Produkte bildeten rund 8 0 % des Exports, doch besaß die übergroße Mehrheit der Landbevölkerung keinen Boden, sondern war durch entwürdigende Pachtsysteme von den Grundbesitzern abhängig. Typisch für die Situation war in Syrien damals n o c h die Verbindung von Grundbesitz u n d städtischem Unternehmertum. Mit diesem Gesetzesvorschlag unternahm die Partei nicht den Versuch einer Änderung der Besitzverhältnisse auf dem Land, sondern begnügte sich im wesentlichen mit einer Klärung und Festlegung der zwischen Pächter und Grundbesitzer bestehenden Hechtsverhältnisse. Vor allem den Vertragscharaktör mit den sich daraus für beide Seiten ergebenden Konsequenzen einer rechtlichen Fixierung ihrer Positionen betonte m a n dabei. Die willkürliche Vertreibung des Bauern von seinem gepachteten Boden sollte verhindert werden, die Kündigung des Vertrages dürfe nur im Einverständnis beider Seiten erfolgen. Einzig den Landbesitz des Staates sieht man für die Verteilving an die Bauern vor und konzentriert im übrigen sein besonderes Bemühen darauf, den Bauern die rechtlichen Möglichkeiten zu geben, sich zur Durchsetzung ihrer Forderungen u n d zur Finanzierung wichtiger gemeinsamer Vorhaben gewerkschaftlich zu organisieren. Allerdings wird dabei dem Staat unmittelbarer Einfluß auf die Tätigkeit und Planung dieser Organisationen eingeräumt. Zunehmend orientierte sich die Partei in der Folgezeit auf die außenpolitischen Probleme, denen sich die arabischen Staaten zu jener Zeit gegenüber sahen. Im besonderen der Widerstand gegen den von Großbritannien projektierten Bagdad-Pakt sowie die imperialistische Aggression gegen Ägypten 1956 standen im Mittelpunkt ihrer politischen Bemühungen. Diese Tendenz ihrer Politik verstärkte sich naturgemäß noch, als Bltär am 15. Juni 1956 Außenminister wurde. In der Folge dieses Ereignisses u n d der zunehmenden Annäherung an Ägypten empfing das Einheitskonzept der Partei starke Impulse, so daß die sozialökonomische Orientierung zunehmend verblaßte. Die Haltung des sozialistischen Lagers u n d vor allem der Sowjetunion- am 3. April 1956 war ein sowjetisch-syrischer Handelsvertrag abgeschlossen worden die Waffenlieferungen der CSSR a n Ägypten, die erstmalig das imperialistische Waffenmonopol im Nahen Osten durchbrochen hatten, sowie die Unterstützung des sozialistischen Lagers in der Nahost-Krise 1956 übten großen Einfluß auf die innenpolitische Entwicklung Syriens aus u n d hatten zur weiteren Stärkung der demokratischen Volksbewegung geführt.

E. Serauky Während der Zeit der Union Syriens mit Ägypten hatte sich die syrische Regionalorganisation der Partei durch Beschluß aufgelöst. Nach ihrer Konzeption mußte jeder überregionale Zusammenschluß arabischer Staaten einen Schritt in Richtung auf die Verwirklichung des großen Ziels der arabischen Einheit bedeuten. Dieses Problem der politischen Einheit, ihrer politischen Wirksamkeit und praktischen Umsetzung stand in den Diskussionen der Partei zu jener Zeit im Mittelpunkt und wirkte auch noch nach der Auflösung der staatlichen Einheit am 28. September 1961 fort. Von Bedeutimg für die ökonomische Entwicklung Syriens waren die Anfänge einer nach ägyptischem Vorbild geplanten Bodenreform in Syrien, die einen ersten umfassenden Versuch im Bereich der Umgestaltung der Verhältnisse auf dem Land darstellten. Die Frage nach, der weiteren ökonomischen Entwicklung des Landes war zum Inhalt einer demokratischen Massenbewegung geworden, als die bürgerlich-konservative Regierung Dawälibi nach der Übernahme der Macht den öffentlichen Sektor reprivatisierte u n d auch in allen anderen Bereichen der Volkswirtschaft den alten Zustand wiederherzustellen suchte. In dieser Situation einer verschärften Auseinandersetzung um die demokratischen Errungenschaften des Volkes übernahm am 8. März 1965 die Baath-Partei In Syrien die Macht, nachdem einen Monat zuvor auch im Irak die Herrschaft in die Hände dieser Partei übergegangen war. In Syrien sah sich die Partei vor schwierige Aufgaben gestellt, da die schwache ökonomische Struktur des Landes zu jener Zeit die Reaktion ermutigen mußte. Auch war das Land noch weitgehend von ausländischen Kapitalien und Monopolverbänden abhängig. In dieser Lage sah sich die Partei einer breiten Volksbewegung nach Stärkung der sozialen Errungenschaften, nach Erweiterung des staatlichen Sektors u n d nach Sicherung der erlangten Erfolge gegenüber. Imperialistische Finanzkreise verhängten eine Art von Wirtschaftsblockade über das Land, um die schwierige Finanzlage krisenhaft zuzuspitzen und damit einen reaktionären Umschwung zu bewirken. Auch die nationale Bourgeoisie hörte auf, Kapital in die Wirtschaft zu investieren. Die Devisenreserven schmolzen zusammen, der Export sank, die Preise stiegen an, einige Betriebe mußten schließen und die Arbeitslosigkeit nahm zu. Im April 1964 wurde eine provisorische Verfassung verkündet, in der alle Rohstoffe als Volkseigentum erklärt wurden, Kollektivformen des Besitzes an Produktionsmitteln al s Basis f ü r d.i.© H Ö H © sozialistisch© Gesellschaft bezeichnet u n d verschiedene Stufen der Einbeziehung

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privater Unternehmer in den Rahmen der staatlichen Planung entwikk e l t werden. Das Privateigentum wird garantiert, doch s o l l t e ein zukünftiges Gesetz seine soziale Funktion in der neuen Gesellschaft umreißen; ein Höchstmaß an P r i v a t b e s i t z wird durch Gesetz f e s t g e l e g t . Diese Bestimmungen, die t e i l w e i s e dem Parteistatut entlehnt worden waren, zeigten doch die m o d i f i z i e r t e Haltung der Part e i zugunsten einer realistischeren Einschätzimg der Möglichkeiten einer sozialen Umgestaltung. 1964 b e t e i l i g t e sich der Staat mit 25 % des Kapitals an den 25 Importgesellschaften des Landes. Wie groß noch die Abhängigkeit Syriens vom kapitalistischen Weltmarkt war, kann durch einige Zahlen verdeutlicht werden, die am 27. August 1964 die syrische Wirtschaftszeitung " a l - i q t i § ä d i a l - c arabl" v e r ö f f e n t l i c h t e . Danach b e l i e f sich 196? der Gesamthandelsaustausch mit den Staaten des sozialistischen Lagers auf rund 244 Millionen syrische Pfund, während der Austausch a l l e i n mit den Staaten der EWG rund 454 Millionen syrische Pfund betrug. Auf Grund dieser ökonomischen Situation und der innerhalb des Landes v e r stärkt wirkenden Reaktion sah sich die P a r t e i zu weiteren Schritten in Richtung auf eine Stärkung des staatlichen Sektors gedrängt. Zunehmend waren dabei Differenzierungen innerhalb der Parteiführung zu beobachten. Im Januar 1965 l i e ß die Regierung des General Hafiz I I 5 Wirtschaftsunternehmen verstaatlichen, damit war der Staat zum entscheidenden Paktor im Industriesektor geworden. Die Bourgeoisie des Landes r e a g i e r t e auf diese Maßnahmen mit verstärkt e r Sabotage; es kam zu Händlerstreiks, die von der im geheimen wirkenden Terrororganisation der Muslimbrüder unterstützt wurden. In dieser Z e i t wurde die Forderung nach einer s o z i a l i s t i s c h e n Entwicklung in den Massen des Volkes zur Losung der innerstaatlichen Auseinandersetzung. Die Kommunistische Partei begrüßte die neuen Maßnahmen im Wirtschaftssektor vor allem auch uiwfcer dem Gesichtspunkt einer damit; erweiterten Grundlage f ü r die Entwicklung auf einem nichtkapitalistischen Weg. Die Regierung sah sich mit den neuen Maßnahmen vor d i e Aufgabe einer weiteren Demokratisierung g e s t e l l t , die besonders in der Verwaltung der verstaatlichten Unternehmen, in der Beteiligung der Arbeiter an Verwaltung und Kont r o l l e sowie in der verstärkten Möglichkeit organisatorischer Arb e i t innerhalb der Gewerkschaften liegen mußte. Diese demokratischen Forderungen versuchten d i e rechten Kräfte in der P a r t e i zu hintertreiben. Dieses wiederum verstärkte den Prozeß der Polarisierung innerhalb der P a r t e i . Vom c Aflaq-Bltür-

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flügel der Partei wurde ein revisionistisches Konzept der 'Korrektur' des sozialistischen Prozesses entwickelt. Ziel der Bestrebungen war die Aufweichung und Aushöhlung der bereits gewonnenen Errungenschaften. Durch verschiedene Püblikationsmittel suchte man einen negativen Eindruck von der allgemeinen Wirtschaftslage zu suggerieren, zu deren Überwindung m a n die Abkehr von weiteren Verstaatlichungen empfahl. Mit destruktiven Mitteln suchte man offensichtliche Erfolge der jungen Wirtschaftsunternehmen zu sabotieren. Am 23- Februar 1966 übernahm die progressivste Richtung der Partei die Macht. Die neue Regierung stützte sich stärker als dies bisher der Fall gewesen war auf die Volksmassen. Die Rolle der Arbeiter und B&uern innerhalb der neuen Entwicklung wurde in zunehmendem Maße anerkannt; der syrische Außenminister u n d Stellvertreter des Premierministers Makhos erklärte, daß man die Baath-Partei in eine revolutionäre Klassenorganisation umwandeln müsse. Durch eine Neuordnung im Wirtschaftsapparat war man bemüht, eine Effektivitätssteigerung der nationalen Wirtschaft zu erreichen. In dem 1966 verabschiedeten Zweiten Fünfjahrplan wurde dem Ausbau des genossenschaftlichen Sektors in der Landwirtschaft besondere Beachtung geschenkt, was u.a. darin zum Ausdruck kommt', daß in dem PlanungsZeitraum bis 1970 zu den bereits bestehenden Kooperativen 300 weitere hinzukommen sollen. Das laufende Programm der Bodenreform wurde intensiviert fortgeführt, so daß allein von April bis Mai 1966 26 272 Landarbeiter Boden zur Nutzung erhalten konnten. Diese positive Entwicklung im landwirtschaftlichen Bereich suchte man durch ein neues Bodenreformgesetz zu stärken. Als b e s o n ders wichtig ist in diesem Gesetz die Vereinfachung der bürokratischen Maßnahmen, die Klarstellung der Verantwortlichkeiten und die mehr den praktischen Erfordernissen entsprechende teilweise Dezentralisierung anzusehen. - Die Kommunistische Partei Syriens kritisierte an diesem Gesetz jedoch, daß die Bauern noch immer nicht zur Verteilung unmittelbar herangezogen werden, was den Vorgang demokratisieren und organisatorisch beschleunigen würde. Auch diese Maßnahmen im Bereich der Landwirtschaft mußten im harten Kampf gegen den Klassengegner durchgesetzt werden. So kam es n o c h 1966 zu einem von ehemaligen Feudalherren organisierten Mord an Bauern im Verwaltungsdistrikt Manbag. Auch in weiteren Wirtschaftsbereichen machte sich der Einfluß reaktionärer Elemente bemerkbar, der sich vor allem in einer durch kapitalistische Zwischenhändler bewußt herbeigeführten Teuerung gewisser Lebensmittel ausdrückte.

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Gegen diese Wirtschaftssabotage wurde von staatlicher Seite eingeschritten, indem die Kontrolle des staatlichen Sektors ausgedehnt und intensiviert wurde. Gleichzeitig wurde der wachsenden Notwendigkeit umfassender konkreter Planung und Leitung Rechnung getragen. Deshalb wurde im November 1966 der Industriesektor organisatorisch neu gegliedert. Bei der Durchführung all dieser Maßnahmen stützte sich die Regierung auf die fortschrittlichen Kräfte des Tandes, denen auch bei der praktischen Verwirklichung Einfluß eingeräumt wurde. Wie hoch die Staatsführung die Rolle der Arbeiterklasse bei dieser Entwicklung einschätzt, brachte Ministerpräsident Dr.Zu c ain zum Ausdruck,, als er im März 1967 auf einer Kundgebung sagte, daß die Arbeiterklasse der kämpferische Vortrupp bei der Steigerung des Klas4 senbewußtseins der Werktätigen sei. Ihr als revolutionärster Klasse komme es zu, die Einheit der Werktätigen zu verwirklichen. Die weitere ökonomische Stärkung Syriens - von 1965 bis 1966 stieg das Nationaleinkommen um rund 66 Millionen syrische Pfund war Ausdruck der allgemeinen Festigung und des konstanten Wachstums dieses Staates. Gegen diese progressive Entwicklung richtete der Imperialismus bei seiner jüngsten Aggression im Nahen Osten seine gezielten Bestrebungen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die als Folge des militärischen Uberfalls, der Okkupation syrischen Territoriums und der hohen Flüchtlingszahlen aufgetreten sind, werden durch eine Zusammenarbeit der fortschrittlichen Kräfte überwunden. Ihren Ausdruck fand diese Haltung bei der Regierungsumbildung im Jahre 1967 dadurch, da£ die Baath-Partei durch Verhandlungen mit der Kommunistischen Partei Syriens, mit den Sozialistischen Föderalisten und den Arabischen Sozialisten ein Zusammenwirken aller fortschrittlichen Kräfte zu schaffen bemüht war. Gerade die gemeinsame Anstrengung zur weiteren wirtschaftlichen Stärkung macht eine solche intensive Zusammenarbeit aller Patrioten zur Sicherung und weiteren Stärkung der Errungenschaften des syrischen Volkes -erforderlich. Dabei wird dem syrischen Volk von selten des sozialistischen Lagers jegliche Unterstützung bei Überwindung der Aggressionsfolgen und in der weiteren Stärkung des Staates zukommen.

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S u m m a r y This is a short study of the theoretical concept of socialist development in the Syrian Baath Party; this development will be shown by a few examples, especially in the economic sphere. Startingpoint of our statement are the economic provisions in the Party Constitution of 1947• We can see that, in view of the objective development in the socio-economic sphere, these theoretical ideas were adapted to the real necessities of Syrian society. The hard struggles against the reactionary forces in the fight to establish a firm social basis helped to clarify these theoretical problems; step by step, Syria began to build up a new, non-capitalist society. This reciprocal relationship between ideological and socio-economic development which resulted in securing progressive trends in the Middle East is the main aim to be demonstrated in a few aspects by this study.

Anmerkungen 1 2 5 4

ni^âl al-ba c t fi sabîl al-wahda al-hurrïya al-istiraklya. 1. Teil. Beirut 1963- S.164 ff. u. S.182 ff. Ebenda. S. 177/178. nidâl al-ba ct fï sabîl al-wahda al-hurrïya al-istirâklya. 3. Teil. Beirut 1964. S. 54 f. al-ba c t. 19.3.1967 (Nr. 1228).

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Über das Verhältnis von Islam und wissenschaftlicher Weltanschauung im arabischen Raum Wir bemerken in einigen arabischen Ländern, namentlich in der VAR, Syrien und Algerien, also Ländern, die tinter Führung revolutionärdemokratischer Kräfte aus den Reihen der Zwischenschichten den Übergang in die nationaldemokratische Etappe der Befreiungsrevolution vollzogen haben und den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg beschreiten, eine zunehmende "Verwissenschaftlichung" der ideologischen Konzeptionen ihrer revolutionär-demokratischen Führungskräfte. Diese Konzeptionen, Formen eines Sozialismus "nationalen Typs", die sich in bestimmten Formulierungen den Positionen des wissenschaftlichen Sozialismus annähern, sind ideologischer Ausdruck des Übergangs zur nationaldemokratischen Etappe der Revolution. Sie stellen eine qualitative Weiterentwicklung des Nationalismus der nationalen Bourgeoisie dar. Die Tendenz der "Verwissenschaftlichung" der Ideologie deutet auf eine immer stärker werdende Orientierung der revolutionär-demokratischen Führungskräfte in den progressiven arabischen Ländern auf den wissenschaftlichen Sozialismus hin - ein Prozeß, der langwierig und kompliziert sein wird, denn "in den jungen Staaten können sich das Kleinbürgertum, seine Ideologie, seine gesellschaftlichen Organisationen und sogar die Staatsmacht bei all ihrer Selbständigkeit nicht von der Zwiespältigkeit der Klasse freimachen... Auch hier schwankt das Kleinbürgertum letzten Endes zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat".1 Diese kurzen Bemerkungen sollen auf die Frage hinlenken, wie sich die verschiedenen Tendenzen des heutigen Islam zu dieser "Verwissenschaftlichving" der Ideologie verhalten. (In unserem Beitrag auf dem Kolloquium des ZENTRAAL "Die nationaldemokratische Entwicklung in den arabischen Staaten" im März 1967 wurde bereits auf die verschiedenen Strömungen des modernen Islam eingegangen, so daß wir uns hier nicht zu wiederholen brauchen.) Bekannt ist, daß die reaktionären arabischen Regimes ihren Kampf gegen die progressiven arabischen Staaten unter der Fahne der islamischen Orthodoxie und des bürgerlichen muslimischen Liberalismus

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führen. Sie stützen sich des weiteren auf reaktionäre islamische Gruppierungen innerhalb dieser Staaten, wie z.B. auf die Mus Hülfe ruderschaft und die Tahrlr-Partei. Die Grundtendenz in diesem Kampf feesteht neben direkten sufeversiven Akten gegen die Regierungssysteme der o.g. Länder darin, daß die arabische Reaktion im Bündnis mit dem Imperialismus versucht, die nationaldemokratische Entwicklung in der VAR, Syrien und Algerien als unvereinbar mit den Prinzipien des Qur'in und der Sünna zu erklären, wobei die Konzeptionen ihres Sozialismus "nationalen Typs" vor den gläubigen arabischen Massen als Atheismus diffamiert werden. Zentrum dieser demagogischen Propaganda ist das monarchistische Regime in Sa c üdlArabien, das mit Hilfe seiner einheimischen c Ulamä und von ihm gelenkter internationaler islamischer Organisationen wie des Islamic World Congress und der World Islamic League diesen islamischen p Kreuzzug gegen den Popanz "internationaler Atheismus" anführt. Diese Konzeption kam besonders deutlich im Sommer 1966 zum Ausdruck, als im Zusammenhang mit der von König Faisal vorgeschlagenen "islamischen Allianz" eine Propaganda-Kampagne gegen die VAR und andere fortschrittliche Regimes im arabischen Raum gestartet wurde und "Sozialisten, Linke und Marxisten in gewissen arabischen Ländern mit sozialistischem System"^ als Atheisten verteufelt wurden. In einer öffentlichen Kontroverse zwischen dem Vizepräsidenten der Islamischen Universität von Medina Ibn Bäz, der übrigens am 11.1.1966 in den sa 'üdl-arabischen Zeitungen die auf den Qui^än und die Sünna gestützte Behauptung aufstellte, daß die Erde stillstehe und die Sonne sich um die Erde drehe, und dem fortschrittlichen ägyptischen Publizisten Ahmad Bahä ad-Dln erklärte ersterer, daß "die saudiarabische Regierung den Sozialismus und andere subversive Ideologie bekämpft, weil sie den Atheismus vertreten".-' Man sieht deutlich, daß das Ziel dieser auf den ersten Blick primitiv anmutenden Verleumdungskampagne gegen die progressiven arabischen Regimes und ihre ideologischen Konzeptionen darin besteht, einen Keil zwischen die reaktionär-demokratischen Führungskräfte und die gläubigen Massen zu treiben, indem sie die Sozialismuskonzeptionen der Führungskräfte mit ihrer Tendenz zur "Verwissenschaftlichung" bewußt entstellen, als materialistisch und atheistisch verschreien und dabei auf die keineswegs zu unterschätzende Bedeutung eines subjektiven Faktors in der Revolution, des religiösen Gefühls der Massen spekuliert.

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In diesem erbitterten, weitgehend auf dem Boden des Islam ausgefochtenen Kampf zwischen Reaktion und Fortschritt im arabischen Raum ist heute der progressive Flügel des modernen Islam, verkörpert durch fortschrittliche islamische Theologen, Philosophen, Publizisten und Schriftsteller, eine große Stütze für die revolutionär-demokratischen Kräfte und ihre Ideologie. Das Bündnis beider hat mehrere Gründe: 1. Der Islam ist auf Grund der noch stark verbreiteten kulturellen Rückständigkeit der arabischen Länder, die aus dem Erbe der imperialistischen Kolonialherrschaft und der speziellen sozialökonomischen Entwicklung resultiert (fehlende entwickelte Arbeiterklasse, Fehlen einer einflußreichen revolutionären Partei, Einfluß der islamischen Reaktion auf dem Lande), gegenwärtig die populärste Form der Weltanschauung. 2. Daraus resultiert, daß dieser subjektive Faktor, das religiöse Bewußtsein der Massen, von den Führungskräften nicht übergangen werden kann, sondern in der Form berücksichtigt wird, daß seine Vereinbarkeit mit den von Ihnen vertretenen Ideen der sozialen Befreiung vor den gläubigen Massen nachgewiesen wird. 3. Der Islam kann auf eine positive Tradition im Kampf der arabischen Völker gegen den Kolonialismus zurückblicken. Diese antikoloniale Tradition schlägt sich heute in der antiimperialistischen Stoßrichtung des progressiven Flügels des Islam nieder und ist gleichzeitig für die revolutionär-demokratischen Führungskräfte eine wertvolle Hilfe in ihrem Kampf auch gegen die arabische Reaktion. 4. Jenseits aller philosophischen Auseinandersetzungen entspricht die allgemeine humanistische Zielstellung der nationalen Befreiungsrevolution den islamischen Ideen von sozialer Gerechtigkeit und Brüderlichkeit. Aus diesen Gründen ist das Bündnis zwischen den revolutionär-demokratischen Führungskräften und ihren ideologischen Konzeptionen einerseits und dem progressiven Flügel des Islam andererseits möglich und auch objektiv notwendig, um die politische Grundlage des Staates der revolutionären Demokratie, das Bündnis der Volkskräfte zu sichern. Eine Reihe von Maßnahmen, die das Streben beider Partner ausdrücken, das gegenseitige Bündnis zu festigen und effektiv zu gestalten, wurden in den letzten Jahren in den progressiven arabischen Ländern getroffen. Man denke hier nur an das Bemühen der

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ägyptischen Regierving, die noch immer als unumstrittenes Zentrum des Weltislam geltende Azhar-Universität aufbauend auf ihre revolutionäre Tradition als aktiven Faktor in den Prozeß der nationaldemokratischen Entwicklung des Landes einzugliedern, was deutlich in dem Gesetz Nr. 103/1961 über die Reorganisierung der Universität zum Ausdruck kommt. Seitdem hat die Azhar durch ihre Rektoren und 'Ulamä bei vielen Gelegenheiten betont, "daß sie mit den von Herrn Präsidenten proklamierten revolutionären Zielen übereinstimmt", daß sie den Islampakt verurteilt, der "eine Ausnutzung der Religion für politische Ziele des Imperialismus"^ sei, daß sie o "die im Namen des Islam begangenen verbrecherischen Akte" der Muslimbruderschaft verdammt und entschieden gegen die imperialistische israelische Aggression protestiert.^ Ein anderer Schritt, die loyale muslimische Geistlichkeit der VAR in die revolutionäre Umgestaltung einzubeziehen, ist z.B. der im März 1965 vom Waqf-Ministerium gefaßte Beschluß, die hu$ba, die muslimische Freitagspredigt, in den ägyptischen Moscheen zu vereinheitlichen, wobei die Konzeptionen der jeweiligen Predigt vom Ministerium vorgeschrieben werden und die Organe der ASU stets ein Exemplar der über Rundfunk übertragenen Predigt erhalten.^"*"1 Ähnliche Maßnahmen wurden auch von den Führungskräften Algeriens getroffen. Es sei nur an die Gründung des unter Aufsicht des WaqfMinisteriums stehenden Islamischen Instituts in 'Annabi (7.1.66), 12 an die Imam-Tagung vom 9.11.65 und die Imam-Konferenz vom 19.1.67 erinnert, die das Thema hatte: "Die Funktion des Imim gegenüber den Massen und dem sozialistischen Aufbau des Landes", und auf der Waqf-Minister al- cArabI §a c dünl erklärte, daß "der Imim nicht am Rande der politischen Entwicklung des Landes stehen d a r f " . ^ Diese wenigen Beispiele müssen hier genügen, um das Bündnis zwischen revolutionär-demokratischen Führungskräften und progressivem Flügel des Islam in ihrem gemeinsamen Kampf um gemeinsame Ziele und gegen gemeinsame Feinde anzudeuten, wobei erstere zweifellos die aktive Rolle spielen. In beiderlei Hinsicht. (Ich darf in diesem Zusammenhang auf den Beitrag des Soll. Grzeskowiak verweisen, der ausführlich auf das Problem der Azhar in der VAR eingeht). Im Interesse einer realen Einschätzung des Wesens und der Perspektive dieses Bündnisses erscheint es erforderlich, dasselbe im Zusammenhang mit dem spürbaren Trend zur bereits erwähnten "Verwissenschaftlichung" der Ideologie der revolutionär-demokratischen Führungskräfte zu überprüfen.

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Die deutliche Weiterentwicklung in diesen ideologischen Konzeptionen bemerkt man besonders darin, daß die Frage der Besitzverhältnisse an Produktionsmitteln zum wesentlichen Kriterium des Sozialismus erhoben wird, daß die Klassenantagonismen weitestgehaad anerkannt und der Klassenkampf zumindest theoretisch akzeptiert wird, daß die Rolle der Arbeiter, der Bauernschaft und der Intelligenz im Bündnis der Volkskräfte betont u n d die Schaffung von avantgardistischen Parteien befürwortet wird, daß der Sozialismus nicht mehr als Mittel zur "Klassennivellierung", sondern als Weg zur Beseitigung der Klassen angesehen wird. Der Marxismus-Leninismus wird nicht mehr verteufelt, sondern erfährt eine zwar zurückhaltende, aber würdige Beurteilung; wesentliche Anzeichen der Rezeption der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus sind zu bemerken. Diese qualitativen Veränderungen in den ideologischen Auffassungen der revolutionär-demokratischen Führungskräfte lenken objektiv auf die Frage hin, welche Perspektive das Bündnis zwischen Islam und Ideologie der revolutionären Demokraten haben kann. Diese Frage ist durchaus nicht aus der Luft gegriffen. Es gibt gewisse Merkmale dafür, daß sich in den progressiven arabischen Ländern bestimmte Differenzen zwischen den Ansichten bisher loyaler islamischer Geistlicher und Intellektueller und den o.e. qualitativen Veränderungen in der revolutionär-demokratischen Ideologie abzeichnen. Es sei nur an die überaus feindselige Haltung des einflußreichen Azhariten Muhammad al-Bahi zum Marxismus, aber auch zu den Sozialismuskonzeptionen der arabischen revolutionären Demokraten erinnert: "Die Eiferer dieser Sache versuchen, um die Menschen besser täuschen zu können, ihren Thesen ein 'cachet local' einzuräumen u n d bemühen sich, glauben zu machen, daß sie den wirklichen Bemühungen 14 _ • des Orients entstammen." Desgleichen an die Ansichten Ibrahim Muhammad Ismä'Iis, der gegen die Nationalisierungspolitik und konsequente Durchführung der sozialen Revolution polemisiert« "(Der Islam - d.Verf.) hegt keinen Groll gegen die Reichen, um sie etwa ihrer Rechte, die ihnen vorher verliehen worden sind, zu berauben. Außerdem geht sein Mitleid für die Armen nicht so weit, daß dadurch das Gleichgewicht der sozialen Ordnung durcheinander gebracht w i r d . E i n weiteres Beispiel mag das Fatwä der Azhar-Universität aus dem Jahre 1965 sein, das allen muslimischen Frauen die Heirat mit Marxisten verbietet.^ 6 Interessant dazu der Kommentar der rechten libanesischen Zeitung "al-Hayät": "Wir können nur rückhaltlos das Gutachten der Azhar-Universität befürworten. Wenn die Heirat

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zwischen Musliminnen und Kommunisten nichtig ist, ein Verbrechen in den Augen des islamischen Gesetzes ist, sollte dann nicht auch die Einigkeit zwischen muslimischen Staaten und kommunistischen 17 Staaten verurteilt werden?" ' Es ließen sich noch weitere Beispiele dafür anführen (Klassenkampf, engagierte Literatur, Ramadan-Frage, Frauenemanzipation etc.). Diese Erscheinungen sollten u.E. berücksichtigt werden. Sie deuten an, daß einige Vertreter des progressiven Flügels des Islam, die bisher der Ideologie der revolutionär-demokratischen Führungskräfte loyal gegenüberstanden, mit den Veränderungen in Basis und Überbau nicht mehr Schritt halten und in wesentlichen Fragen mit der Ideologie der Führungskräfte in Konflikt geraten können. Das ist eine durchaus gesetzmäßige Erscheinung, denn der "überlieferte 18 Stoff" der islamischen Religion kann nur in bestimmten Grenzen modifiziert werden. Es erscheint notwendig, die eventuelle Ausweitung dieses Konfliktansatzes im Auge zu behalten, da sie für das Fortbestehen des Bündnisses zwischen den revolutionär-demokratischen Führungskräften und dem Islam ausschlaggebend ist. Das Bündnis kann allmählich wirkungslos werden, wenn sich gestern oder heute noch progressive Vertreter des Islam gegen die "Verwissenschaftlichung" der Ideologie der revolutionären Demokraten wenden und somit zu einem Hemmnis für die nationaldemokratische Entwicklung der betreffenden arabischen Länder werden. Diese Möglichkeit muß u.E. einkalkuliert, darf aber im Interesse der Einheit der Volkskräfte nicht hochgespielt werden. Noch weniger steht etwa die Frage eines umfassenden Säkularismus oder gar Atheismus auf der Tagesordnung, wenn auch aus marxistischer Sicht bei einer konsequenten Durchführung der sozialen Revolution diese Frage einmal akut werden dürfte. Das Hochspielen dieser Konfliktansätze und der objektiv noch nicht auf der Tagesordnung stehenden Fragen des Atheismus und Säkularismus ist eine gefährliche Waffe des Imperialismus und der arabischen Reaktion in ihrem Kampf gegen nationaldemokratische Entwicklung im arabischen Raum. Das zeigen die Ereignisse in Syrien im Uai 1967 ganz deutlich. Bekanntlich erschien Anfang Ifei d.J. in der syrischen Zeitlang "al-Saiä aä-äacbl" (Die Volksarmee) ein Artikel von Ibrahim Halläs, der in provokatorischer Weise die religiösen Gefühle der Uassen beleidigte. In revoluzzerhaftem Ton wurde u.a. behauptet, daß "der einzige Weg zur Errichtung der arabischen

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Zivilisation und Gesellschaft darin besteht, den neuen, sozialistischen Araber zu schaffen, der glaubt, daß Gott, Religion, Feudalismus, Kapitalismus und Imperialismus ebenso wie die Werte, die in der alten Gesellschaft Gültigkeit hatten, Ausstellungsobjekte im Museum der Geschichte"^ seien. Dieser Artikel rief verständlicherweise die Empörung der gläubigen Bevölkerung hervor, diente jedoch auch als Vorwand für die innere Reaktion, geführt von dem Komplizen Sellm Hatüms, Scheich Habannka, dem Chef der Liga der syrischen c Ulami, eine offene Rebellion gegen die Regierung vom Zaune zu brechen. In gerichtlichen Untersuchungen wurde der Beweis erbracht, daß Habanaka mit sa C üdl-arabischen Kreisen und der Verfasser des Artikels mit der syrischen Muslimbruderschaft in Verbindung gestanden haben. Diese Tatsachen sowie das Rücktrittsangebot des syrischen Mufti Ahmad Kaftärö und die Trübung des Verhältnisses zwischen Regierung und orthodoxer Kirche zeigen ganz deutlich am syrischen Beispiel, daß die arabische Reaktion mit allen Mitteln bemüht ist, zwischen Führung und Massen in den progressiven arabischen Ländern einen Keil zu treiben, aber auch eine Spaltung im Bündnis zwischen den revolutionär-demokratischen Führungskräften und dem Islam herbeizuführen, indem sie Versäumnisse und Konfliktansätze in der Bündnispolitik aufspürt und hochspielt, um der politischen Grundlage des Staates der revolutionären Demokratie, dem Bündnis der Volkskräfte einen Schlag zu versetzen. Ähnlich gelagerte Angriffe wurden auch gegen die VAR unternommen, als beispielsweise die sa c üdl-arabische Zeitung "al-Madlna" im Mai 1967 die verleumderische Meldung verbreitete, die VAR-Behörden hätten den Antrag der ägyptischen Muslims abgelehnt, in die neue Verfassung einen Passus über den Islam als Staatsreligion aufzunehmen.^® Diese kurzen und unvollständigen Bemerkungen mögen genügen, um die Kompliziertheit des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen Islam und der sich in zunehmendem Maße dem wissenschaftlichen Sozialismus hinwendenden Ideologie der revolutionär-demokratischen Führungskräfte der VAR, Syriens und Algeriens anzudeuten. Wir glauben verständlich gemacht zu haben, daß dieses Verhältnis nicht durch eine simple scholastische Disputation gekennzeichnet ist, sondern ein höchst politischar Fragenkomplex von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den weiteren Verlauf der nationaldemokratischen Entwicklung im arabischen Raum ist. Im Interesse der Sicherung des Bündnisses der Volkskräfte in diesen Ländern und ihres gemeinsamen

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Kampfes gegen Imperialismus und Reaktion ist es erforderlich, daß der progressive Flügel- des Islam in diesen Kampf einbezogen wird und daß aus diesem Grunde philosophische Differenzen zurückgestellt werden. Es ist jedoch nicht nur zu unserer Selbstverständigung nützlich und notwendig, ideologische Konfliktansätze in dieser Einheitsfront festzustellen und zu analysieren. Das kann uns helfen, gewisse prognostische Schlußfolgerungen zum Nutzen des Kampfes der revolutionär-demokratischen Kräfte zu ziehen.

S u m m a r y In the progressive Arab countries, the United Arab Republic, Algeria and Syria, which have completed the transition to the nationaldemocratic stage of the liberation revolution and taken the noncapitalist path of development, an increasingly scientific approach can be observed in the ideological conceptions of the revolutionary democratic leaders. The nationalism of the national bourgeoisie is thus passing through a qualitative further development. This indicates that the revolutionary democratic leaders of these countries are orientating themselves more and more towards scientific socialism. Imperialism and Arab reaction are conducting a bitter struggle against national democratic developments in the progressive Arab countries. This struggle is to a very great extent carried on under the cloak of Islam. The reactionary Arab regimes rely here upon reactionary Islamic orthodoxy and liberal Muslim modernism, as well as upon Islamic fundamentalist groupings. The progressive wing of modern Islam, represented by progressive Muslim intellectuals and theologians, is a pillar of strength to the revolutionary democratic forces in the struggle against imperialism and Arab reaction. Between the progressive wing and the revolutionary democratic leaders there exists an alliance resting on a very real basis; this alliance has already demonstrated its effectiveness. On the one hand it can be seen in the efforts of the state to draw loyal Islamic priests into the process of revolutionary transformation, and on the other hand it can be seen in ideological support for this state by progressive representatives of Islam. But there are already indications of differences within the alliance which, if they spread, may limit its effectiveness. Assisted by world imperialism,

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Arab reaction is trying to play up these sources of conflict between revolutionary democrats and Islam. This is intended on the one hand to drive a wedge between the leadership and the faithful masses in order to strike a blow at the political foundations of the revolutionary democratic state - the alliance of popular forces - and on the other hand to liquidate the hitherto effective alliance between the leadership and Islam.

Anmerkungen

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Dieser Beitrag widerspiegelt im wesentlichen den Entwicklungsstand des angesprochenen Problems im Jahre 1967. A. Ramsi, A. Lewkowski: Die kleinbürgerlichen Massen in den revolutionären Bewegungen der "dritten Welt". In: Probleme des Friedens und Sozialismus. Berlin. 1, 1966, S.61. The Arab World. Beirut, 23.2.66. Ebenda. Sbenda, 8.6.66. Ebenda. al-Ahrim. Kairo, 2 . 3 . 6 5 . L 1 Orient. Beyrouth, 25.2.66. al-Ahrim. 10.9.65. TASS. 29.6.67. al-Ahräm. 2 8 . 3 . 6 5 . el-Moudjahid. Alger, 8.1.66. Ebenda, 10.11.65. Ebenda, 20.1.67. A. Morabia: Islam et Marxismo vus par un thèologien égyptien. Ins Orient. Paris. 35, 1965, p. 92. I.M. Ismail: Der Islam und die heutigen Wirtschaftstheorien. Kairo (1964?), S.105Le Monde. Paris, 14.8.65. Oriente Moderno. Roma, XIV, 1965, p. 712. F. Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Marx-Engels, Werke. Bd.21, S . 3 0 5 . The Arab World, 5-5.67. Ebenda, 11.5.67.

H e l m u t

N i m s c h o w s k i

Nationalismus und Sozialismus im politischen Senken der nichtproletarischen Führungskräfte Algeriens In Algerien haben sich in den letzten Jahren die Widersprüche zwischen Anhängern und Gegnern der konsequenten nationaldemokratischen, nichtkapitalistischen Entwicklung verschärft. Die Polarisierung der Klassenkräfta schreitet voran. Damit traten auch die zunächst verborgenen Unterschiede und Widersprüche innerhalb der Vertreter und Anhänger der im Juni 1965 etablierten Macht hervor. Diese bildet hinsichtlich iher sozialen Basis eine Allianz heterogener Kräfte der Zwischenschichten. Seit der Konsolidierung der Macht und auf Grund der Notwendigkeit, den Weg der weiteren Entwicklung zu bestimmen, vollzieht sich ein politischer Differenzierungsprozeß innerhalb der nichtproletarischen Führungskräfte. Dieses Ringen für oder gegen die konsequente nichtkapitalistische Entwicklung findet seinen ideologischen Ausdruck in der Auseinandersetzung zwischen dem wissenschaftlichen Sozialismus und den kleinbürgerlichen Sozialismuskonzeptionen, deren Wesenszug der Nationalismus ist. Die algerischen nichtproletarischen Führungskräfte beziehen im allgemeinen - wenn auch mit unterschiedlicher Konsequenz - antiimperialistische lind antikolonialistische Positionen. Sie unterstützen das vietnamesische Volk im Kampf gegen USA-Imperialismus, gewähren den afrikanischen Völkern im Kampf um nationale Befreiung Hilfe und setzen sich für die Formierung der antiimperialistischen Einheit der Länder des afrikanischen Kontinents ein. Charakteristisch ist ihr leidenschaftliches Streben nach Überwindung der Rückständigkeit des Landes auf wirtschaftlichem, kulturellem und sozialem Gebiet und seine Verwandlung in einen hochentwickelten Industrie- Agrar-Staat in historisch kürzester Zeit. Deshalb wirken sie für die Erringung der ökonomischen Selbständigkeit durch systematische und planmäBige Industrialisierung Algeriens. Die beste Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, sehen die algerischen nichtproletarischen Führungskräfte in einer sozialistischen Perspektive, die jedoch von ihnen sehr unterschiedlich interpretiert wird.

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Mehr oder weniger konsequent treten sie für die Einschränkung und Kontrolle der Positionen des ausländischen Kapitals und für die Schaffung eines starken staatlichen Sektors der Wirtschaft ein. Neben diesen unbestritten antiimperialistischen Positionen gibt es jedoch in den Anschauungen und im Handeln der nichtproletarischen Führungskräfte unterschiedlich stark ausgeprägte konservative Erscheinungen, die der Vertiefung der nationaldemokratischen Revolution und der Verteidigung der revolutionären Errungenschaften Grenzen setzen oder sich direkt hemmend auswirken. Solche Erscheinungen sind unter anderem: Die nicht immer richtige Bestimmung der Haupttriebkräfte im revolutionären Prozeß; die Leugnung oder Vertuschung des Klassenkampfes; die Negierung oder Unterschätzung der historischen Rolle der Arbeiterklasse; das Bestreben, sie im Fahrwasser der kleinbürgerlichen Ideologie zu halten und der Verbreitung des Marxismus-Leninismus entgegenzuwirken; gewisse Tendenzen des Antikommunismus; die ungenügende Entschlossenheit, sich auf die werktätigen Massen, besonders auf die Arbeiterklasse zu stützen und diese politisch zu mobilisieren; das Festhalten an autoritären Leitungsmethoden und die Abneigung gegen eine umfassende Demokratisierung des politischen Lebens. Sowohl die progressiven Potenzen als auch die genannten konservativen und reaktionären Bestandteile im politischen Denken und Handeln sind bei den einzelnen nichtproletarischen Führern in unterschiedlich starkem Maße ausgeprägt. Sie bilden keine unveränderliche Größe, sondern unterliegen Veränderungen im revolutionären Prozeß. Die sich innerhalb der Zwischenschichten vollziehende Differenzierung findet ihren Ausdruck in der Entwicklung einer revolutionärdemokratischen und einer reformistischen Strömung innerhalb der nichtproletarischen Führungskräfte. Die revolutionärdemokratische Strömung"*- umfaßt die politischideologisch am weitesten fortgeschrittenen Vertreter des Kleinbürgertums . Sie verfügen in Algerien über die entscheidenden Machtpositionen. Als militante Gegner des Imperialismus, Kolonialismus und Neokolonialismus sowie der feudalen Reaktion wirken sie nicht nur aktiv für die Erringung und Festigung der ökonomischen Selbständigkeit. Die enge Verbundenheit mit den werktätigen Massen, der Haß gegen Ausbeutung und nationale und soziale Unterdrückung und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit bilden die Basis ihres Kampfes für tiefgreifende soziale Umgestaltungen, die sie mit einer

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sozialistischen Entwicklungsperspektive verbinden. Sie bringen die Interessen breiter Volksmassen zum Ausdruck. Die tägliche Auseinandersetzung mit dem Imperialismus und der inneren Reaktion lehrte und veranlaßt sie in wachsendem Maße, sich gewisser kleinbürgerlicher Denk- und Verhaltensweisen zu entledigen, sich der Ideologie der Arbeiterklasse anzunähern sowie ihren ideologischen Reichtum o zu erschließen und ihre geschichtlichen Erfahrungen zu nutzen. Die politisch-ideologisch fortgeschrittensten Vertreter der revolutionären Demokraten (aber durchaus noch nicht alle) grenzten sich von Illusionen bestimmter Kräfte bezüglich der "Interessenharmonie" aller Klassen und sozialen Schichten der algerischen Gesellschaft ab, indem sie die Parole "nationale Einheit" durch die Losung "Einheit der revolutionären Kräfte"^ ersetzten. Sie trugen damit dem sich im Lande entwickelnden Klassenkampf Rechnung. Diese Feststellung bedeutet nicht, daß schon alle revolutionären Demokraten die Illusionen über die angebliche Vermeidbarkeit des Klassenkampfes bereits überwunden haben. Im allgemeinen betrachten sie aber die werktätigen Massen als Triebkraft der sozialen Umwälzung, auf die man sich stützen und die man organisieren muß. Überzeugt von der Notwendigkeit einer starken volksverbundenen revolutionären Staatsmacht,ILarbeiten sie planmäßig für ihre Errichtung "von unten nach oben". Zugleich messen sie der Umgestaltung der FLN in eine revolutionäre Partei als politisch-ideologische und organisatorische Vorhut der werktätigen Massen große Bedeutung bei.'' Sie unternehmen Anstrengungen zur Vergrößerung des Anteils der klassenbewußten Arbeiter und Fellachenund zur Erhöhung ihres politischen Einflusses sowie zur Entwicklung des demokratischen Zentralismus in der Partei. Gleichzeitig bemühen sie sich um die Festigung der Massenorganisationen mit dem Ziel, die Verbindung zu den Werktätigen enger zu knüpfen und sie zur Verwirklichung der revolutionären Beschlüsse zu mobilisieren. Sie beginnen zu erkennen, daß die Stärkung der Gewerkschaften als Klassenorganisationen des Proletariats in dialektischem Verhältnis zur Herausbildung einer revolutionären Partei der Vorhut steht.^ Präsident Boumedienne und andere revolutionärdemokratische Kräfte der Partei- und Staatsführung haben sich wiederholt von pseudosozialistischen Konzeptionen distanziert, indem sie erklärten, daß bei aller Verschiedenheit der Wege das Wesen des Sozialismus einheitlich sei und in erster Linie darin bestehe, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen, die Hauptproduktions-

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mittel zu vergesellschaften, die politische Macht der Werktätigen zu errichten und die materiellen und geistigen Bedürfnisse der Mitglieder der Gesellschaft maximal zu befriedigen. Die revolutionären Demokraten haben erkannt, da£ nur durch die rasche und zielstrebige Industrialisierung des Landes, durch eine umfassende Entwicklung der Produktivkräfte auf der Grundlage der wissenschaftlichen Planung und Leitung der Wirtschaft, durch die Erschließung der Inneren Reserven und die allseitige und umfassende Zusammenarbeit mit den sozialistischen Staaten die nationale Unabhängigkeit konsolidiert und die Lösung der sozialen Probleme erfolgreich in Angriff genommen werden kann. Gleichzeitig ist bei ihnen die Erkenntnis gewachsen, daß der Übergang zum Sozialismus ein langwieriger, komplizierter ProzeB ist, der einen längeren Zeitraum erfordert, in dem die materiellen und subjektiven Voraussetzungen geschaffen werden. Zur Begründung ihrer Sozialismuskonzeption berufen sich die revolutionärdemokratischen Führer nicht selten auf die Forderungen des Urislam nach sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit sowie auf die Lehren der rationalistischen arabischen Philosophen und Denker wie Ibn Ehaldoun.^ Das Bestreben, die progressiven Traditionen des Islam dem sozialen Fortschritt der Gegenwart nutzbar zu machen, erfolgt jedoch mitunter in dem Bemühen, einen eigenen, vom Marxismus-Leninismus gewissermaßen unabhängigen "wissenschaftlichen Sozialismus" zu schaffen. Die Praxis zeigt, daß die Annäherung der revolutionären Demokraten an den wissenschaftlichen Sozialismus auch in Algerien nicht gradlinig und gleichmäßig verläuft. Auch bei den revolutionärdemokratischen Führern Algeriens ist die Illusion noch vorhanden, sie können - auch auf die Dauer - eine über den Hauptklassen stehende Rolle spielen. Die Erfahrungen zeigen jedoch, daß die nationaldemokratische Revolution nur dann konsequent zu Ende geführt und in die sozialistische Revolution übergeleitet werden kann, wenn die revolutionären Demokraten konsequent auf die Positionen der Arbeiterklasse übergehen. Nur dann können sie den Idealen der nationalen Befreiungsrevolution treu und den Erfordernissen der nationaldemokratischen Revolution voll gerecht werden. Man darf die Tatsache nicht außer acht lassen, daß es im politischen Denken und Handeln der revolutionärdemokratischen Führungskräfte noch eine ganze Reihe Elemente des kleinbürgerlichen Nationalismus und utopisohen Sozialismus gibt. Insbesondere sind es die

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Ideen Frantz Fanons, die In bedeutendem Maße das Denken vieler revolutionärer Demokraten Algeriens beeinflußt haben. Gewöhnlich grenzen sich die algerischen Führer, wenn sie vom "wissenschaftlichen Sozialismus" sprechen, vom Marxismus-Leninismus ab, den sie als nicht anwendbar für die Länder der "Dritten Welt" betrachten. Auch die Diktatur des Proletariats wird als nicht den Bedingungen dieser Länder entsprechend abgelehnt. Nicht selten wird die Zugehörigkeit bestimmter Menschengruppen zu Klassen, deren Existenz durchaus anerkannt wird, nicht nach ihrem Platz im System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem Verhältnis zu den Produktionsmitteln, sondern allein nach der Höhe ihres Einkommens bestimmt. Das führt dazu, daß verschiedene Vertreter das Proletariat als "privilegierte Klasse" betrachten, seine historische Rolle nicht oder nicht vollkommen begreifen u n d sich gegen seine Entwicklung zu einer selbständigen politischen Kraft wenden. Damit gepaart sind noch immer bestimmte gegen die Kommunisten gerichtete Restriktionen bzw. Vorbehalte bezüglich einer Zusammenarbeit mit ihnen. Oft wird die Bauernschaft a la Frantz Fanon als revolutionärste, weil ärmste gesellschaftliche Kraft deklariert. Diese vom Marxismus-Leninismus abweichende Einschätzung der sozialen Triebkräfte der nationaldemokratischen und sozialistischen Revolution findet ihre Entsprechung in der Bewertung der Rolle der einzelnen revolutionären Ströme im Weltmaßstab. Als die entscheidende revolutionäre Kraft unserer Epoche wird die "Dritte Welt" betrachtet. Die nicht selten - in Anlehnung an Fanon - vorgenommene Unterscheidung zwischen "armen" und "reichen" Nationen u n d der Hinweis auf das Bestehen und die Entwicklung eines Gegensatzes zwischen dem entwickelten "Norden" und dem zurückgebliebenen "Süden" bilden objektiv eine Konzession an die imperialistische Konvergenztheorie . Die revolutionäre Praxis hat die Unrichtigkeit dieser Theorien vielfach bestätigt. Die fortgeschrittensten Vertreter der algerischen revolutionären Demokraten sahen sich in der letzten Zeit veranlaßt, von ihnen Abstand zu nehmen. Tatsächlich müssen sich solche Denk- und Verhaltensweisen hemmend auf die Entwicklung der n a tionaldemokratischen Revolution auswirken. Die reformistische Strömung rekrutiert sich hauptsächlich aus dem rechten Flügel des Kleinbürgertums und aus den Vertretern der bürokratischen Bourgeoisie. Diese Schichten sind wenig oder gar

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nicht mit den sozialen Interessen der werktätigen Massen verbunden. Sie beziehen in bestimmtem Umfange nach wie vor antiimperialistische Positionen. Aber sie sind nicht daran interessiert, daß die nationaldemokratische Revolution den Punkt überschreitet, wo ihre KlassenInteressen und ihre politischen Führungspositionen in Frage gestellt werden können. Deshalb scheuen sie die politische Mobilisierung der werktätigen Massen und die umfassende Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens. Sie gehen mit den Ausbeuterschichten vielfältige Beziehungen ein und verbünden sich mehr und mehr mit ihren Interessen. Deshalb wenden sie sich gegen die konsequente Liquidierung der ökonomischen Basis der feudalen Reaktion durch eine Agrarreform und gegen die systematische Einschränkung der Positionen der ausländischen Monopole. Sie negieren die Notwendigkeit der Formierung einer revolutionären Kampf- und Massenpartei und sind bestrebt, ihre Stellung im Parteiapparat für ihre egoistischen Klassenziele, zur Stärkung ihrer Machtpositionen und zur antidemokratischen Manipulierung der werktätigen Massen auszunutzen. Sie mißbrauchen Losungen wie "Einheit der Partei" und "Durchsetzung der führenden Rolle der Partei", um die Massanorganisationen ihren engen kleinbürgerlichen nationalistisch-reformistischen Anschauungen gleichzuschalten. Zum Teil werden sie dabei durch bestimmte oben skizzierte Denk- und Verhaltensweisen der revolutionären Demokraten begünstigt. Obgleich auch sie sich der Losung "Sozialismus" bedienen und angesichts des Drucks der werktätigen Massen und bei Strafe ihrer Isolierung nicht umhin können, einzelnen progressiven Maßnahmen zuzustimmen, treten sie doch im ganzen gegen die Vertiefung und Vollendung der nationaldemokratischen Revolution auf. Sie entäußern sich in zunehmendem Maße der antiimperialistischen, progressiven Potenzen und geraten immer mehr in Gegensatz zu den objektiven Erfordernissen der nationaldemokratischen Revolution. Ihre Ideologie wird vom Nationalismus bestimmt. Er äußert sich unter anderem in der Negation der Klassen und des Klassenkampfes, in der Propagierung der "Interessenharmonie" aller Mitglieder der algerischen Gesellschaft, wobei die Interessen der Bourgeoisie mit denen der ganzen Gesellschaft identifiziert werden. Die Klasseninteressen des Proletariats werden hingegen negiert bzw. als gegen die "Einheit der Nation" gerichtet betrachtet. Die Vertreter der reformistischen Strömung unterlassen es, die soziale Basis der aufzubauenden Staatsmaoht und der Partei exakt zu definieren und die

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Rolle der einzelnen Klassen und Schichten im revolutionären Prozeß zu bestimmen. Statt dessen operieren sie mit pseudorevolutionären Schlagworten ohne klassenmäßigen Bezug. Die Ursachen für soziale und politische Konflikte suchen sie nicht in den sozialökonomischen Verhältnissen, sondern im Bereich der Moral. Die Sozialismuskonzeption der kleinbürgerlichen Reformisten ist nicht nur nicht originell, sie ist auch unwissenschaftlich und demagogisch. Die Vertreter der reformistischen Strömung verstehen den Sozialismus nicht als historische Kategorie, sondern als eine Geisteshaltung, unabhängig von Zeit und Raum. Sie leugnen allgemeingültige Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus und die Gesetzmäßigkeiten der Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Ebenso negieren sie die Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung und der Praxis des sozialistischen Aufbaus. Dafür lassen sie sich allein von den Besonderheiten der "Dritten Welt" und speziell des eigenen Landes leiten. So verkünden sie zum Beispiel, Algerien benötige in puncto Sozialismus keine "Belehrungen" aus dem Ausland, denn der Sozialismus habe seine Anfänge und Vorbilder in der Geschichte des Landes. Ihre Idealisierung dient offensichtlich dem Zweck, der unaufhaltsamen Verbreitung des authentischen wissenschaftlichen Sozialismus entgegenzuwirken. Die Sozialismuskonzeption dieser reformistischen Kräfte des Kleinbürgertums ist nicht nur utopisch, sie ist ihrem Inhalt nach gewöhnlicher Sozialreformismus, der die sozialen Widersprüche vertuscht und versucht, die Interessen der Arbeiterklasse und der armen Bauernschaft mit denen der Bourgeoisie auszusöhnen. Im Grunde genommen beschränkt sich diese mit dem tunesischen Destour-Sozialismus verwandte Konzeption darauf, die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus zu beseitigen bzw. zu verhüten. Sie reduziert den Sozialismus auf Nationalisierungen, den Aufbau eines staatlichen Sektors, staatliche Wirtschaftslenkung und Überwindung der Rückständigkeit. Es bleibt zu wünschen, daß die fortschrittlichen Kräfte sich des wahren Charakters dieser Konzeption und der Rolle ihrer Apologeten recht bald voll bewußt werden und erkennen, daß sie unfähig ist, die sozialen Probleme zu lösen und die nationale Befreiung zu vollenden. Zwischen dem wissenschaftlichen Sozialismus und dem Nationalismus ist auch in Algerien der Kampf entbrannt. Er ist Teil der Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der konsequenten

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nichtkapitalistischen Entwicklung In Richtung Soziallsmus. Seine Entwicklung und sein Verlauf werden nicht nur von der Gestaltung des Kräfteverhältnisses im Innern, sondern entscheidend vom Kampf zwischen den beiden Weltsystemen beeinflußt. Die ideologische Diversion des Imperialismus, die darauf gerichtet ist, das Bewußtsein der Völker Asiens und Afrikas im Sinne des Kapitalismus zu manipulieren, verfolgt mit der Propagierung und Förderung imperialistischer und revisionistischer Theorien das Ziel, der immer stärkeren Ausbreitung des Marxismus-Leninismus in den Satwicklungsländern und der Formierung revolutionärer Parteien auf dem Boden des wissenschaftlichen Sozialismus entgegenzuwirken.^ Die Erfolge des sozialistiächen Lagers, die die Überlegenheit des Sozialismus über das kapitalistische System immer aufs neue bezeugen, die Einheit und Geschlossenheit der internationalen Kommunistischen und Arbeiterbewegung fördern die Annäherung der revolutionären Demokraten an den wissenschaftlichen Sozialismus. Die internationale Kommunistische und Arbeiterbewegung sieht eine wichtige Verpflichtung darin, durch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit den revolutionären Demokraten zu helfen, sich dem wissenschaftlichen Sozialismus weiter anzunähern und sich unwissenschaftlicher und den Fortschritt hemmender Theorien zu entledigen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Erfahrungsaustausch mit den Kommunistischen und Arbeiterparteien und die Abhaltung von Konferenzen, wie sie die afrikanischen und arabischen Sozialisten in Kairo (1966) und Algier (1967) durchführten. Die Zusammenarbeit der Marxisten-Leninisten mit den revolutionären Demokraten im nationalen und internationalen Maßstab schließt die sachliche Kritik unwissenschaftlicher Auffassungen und die Verteidigung und Propagierung der Prinzipien des Marxismus-Leninismus ein. Der Fortschritt auf dem nichtkapitalistischen Wege hängt entscheidend davon ab, wie es gelingt, die Ideologie der Arbeiterklasse zur bestimmenden Ideologie in der aufzubauenden revolutionären Partei zu machen. Ihre Formierung steht in dialektischem Verhältnis zu ihrer Verbindung mit dem wissenschaftlichen Sozialismus. Die fortschreitende Revolutionierung der sozialökonomischen Verhältnisse, das zahlenmäßige und organisatorische Erstarken des Proletariats und seine bewußte Teilnahme - im Bündnis mit der armen Bauernschaft und werktätigen Massen - am revolutionären Prozeß, die weitere Vertiefung der Klassengegensätze im Innern und die damit verbundene zunehmende Differenzierung innerhalb der Zwischenschich-

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ten wird die Annäherung ihrer konsequentesten Vertreter an den wissenschaftlichen Sozialismus beschleunigen.

R é s u m é En Algérie aussi s'accomplit d'une manière inégale et contradictoire une liaison, devenue possible à l'époque actuelle, entre le mouvement petit-bourgeois révolutionnaire et le socialisme scientifique, se révélant d'être un processus compliqué et évidemment de longue haleine. L'idéologie actuelle des dirigeants petit-bourgeois algériens comprend aussi bien d'éléments importants du socialisme scientifique, que du nationalisme, du socialisme petit-bourgeois, du révolutionnarisme et du réformisme. Le processus d'appropriation créatrice des théories du socialisme scientifique et d'un refoulement d'idéologies bourgeoises de la part des politiciens et idéologues algériens est avancé d'un degré très différent chez les uns et chez les autres. En même temps nous constatons l'existence d'un abîme entre la reconnaissance du socialisme scientifique ou de certains de ses éléments en théorie et la mise en pratique de ses principes. Malgré son caractère contradictoire l'idéologie actuelle des forces dirigeantes révolutionnaires-démocratiques est essentiellement antiimpérialiste. Sous le mot d'ordre "Socialisme" elle a la tendance à continuer et à approfondir le développement non-capitaliste. Les éléments progressistes, révolutionnaires et démocratiques de l'idéologie se sont enrichis et ils sont devenus décisifs jusqu'à un certain degré. Cependant plus que le développement non-capitaliste s'avance, plus les éléments d'idéologie bourgeoise deviennent une entrave. Et ainsi devient plus impérieuse la nécessité de les vaincre.

Anmerkungen 1

Zum Prozeß der Aneignung des wissenschaftlichen Sozialismus durch die revolutionärdemokratischen Führungskräfte und zum Verhältnis von Elementen des Nationalismus und des wissenschaftlichen Sozialismus in ihrer Ideologie siehe folgende aufschlußrei-

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H. Nimschowski che Artikels F. Moursi: Lutte sociale et pensée socialiste en Egypte.In: Démocratie nouvelle 6/1967, S. 22-32; A. Ramsi / A. Lewkowski; Dia kleinbürgerlichen Massen in den revolutionären Bewegungen der "dritten Welt". In: Probleme des Friedens und des Sozialismus 1/1966, S. 59-65; M. Robbe: Nationalismus und Sozialismus im Befreiungskampf der arabischen Völker. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 9/1967, S. 1029-104-6; W.D. Sotow: Die sozialistischen Konzeptionen der Entwicklungsländer und der wissenschaftliche Sozialismus. In: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 7/1966, S. 770-781; R.Andresjans Revoljucionnye demokraty Asii i Afriki. In: Asija i Afrika segodnja. Moskau 1966, H.10, S.3 f.; G.I. Mirski / W.B. Rybakow: Veliki oktjabr i ideologija revoljucionnych demokratov. In: Idei oktjabrja i ideologija nacionalnoosvoboditelnogo dvizenija. Moskau 1968, S.59 ff-.

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s. R. Uljanowski: Zu einigen Merkmalen der gegenwärtigen Etappe der nationalen Befreiungsbewegung. In: Neues Deutschland, 10.1. 1968, S. 6. So erklärte Präsident Boumédienne am 24-.2.1966: "... je vous dirai, frères travailleurs, d'aller de l'avant sous le slogan de l'unité des forces révolutionnaires dans ce pays. Je dis bien l'unité des forces révolutionnaires et non pas l'union nationale, car il y a des gens qui veulent poignarder la Révolution en employant le terme de l'union nationale. Il y a une différence idéologique très nette entre l'union nationale et l'unité révolutionnaire." In: Documents. les Discours du Président Boumédienne. 19 juin 1965 - 22 avril 1966. Alger 1966. S. I58. Siehe auch Ebenda S. 174-. Im gleichen Sinne äußerte sich Präsident Boumédienne in seiner Rede auf dem 3. UGTA-Kongreß am 5.5.1969 in Algier, S. El-Moudjahid vom 6.5.1969.

t- Am 5.2.1967 fanden zum ersten Male seit Erringung der Unabhängigkeit Gemeindewahlen statt, in denen die Gemeindeparlamente gewählt wurden. Am 25-5-1969 wählte das algerische Volk die Volksvertretungen der 15 Wilayate (Bezirke). 5

Präsident Boumédienne hat in seiner Rede vor Partei- und Staatsfunktionären in Oran am 21.3.1966 unterstrichen, daß die neue FIW-Partei sich auf die revolutionären Soldaten, Bauern und Arbeiter stützen muß und daß in ihr für Gegner des Sozialismus kein Platz sein kann. Wenn es diese Kräfte nicht selbst vorzögen, die Partei zu verlassen, müßte man sie aus der Partei entfernen. In: Documents ... S. 226-229.

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L'avant-projet de charte syndicale. In: El-Moudjahid vom 19.4. 1969, S. 4.

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In der Charta von Algier heißt es zum Verhältnis Islam - Sozialismus: "Die zutiefst gläubigen algerischen Massen haben energisch gekämpft, um den Islam von allen Auswüchsen und jedem Aberglauben zu reinigen, die ihn erstickten oder verfälschten. Sie sind steta gegen die Scharlatane aufgetreten, die aus dem Islam eine Doktrin der Resignation machen wollten, und haben ihn mit ihrem Willen verbunden, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beenden. Die algerische Revolution ist es sich schuldig, dem Islam sein wahres Gesicht, ein Gesicht des Fortschritts, wiederzugeben." Die Charta von Algier. Dokumente des 1. Kongresses der Nationalen Befreiungsfront Algeriens 16. - 21. April 1964. Programm Statut - Schlußresolutionen, Berlin 1965, S. 38. Siehe auch: B. Hadj Ali: Das islamische Proletariat und die Probleme des Sozialismus in Algerien. In: Informationsbulletin. Materialien und Dokumente kommunistischer und Arbeiterparteien. Stern-Verlag-Wien 1967. H.7, S. 66-?o. Frantz Fanon, geb. 1925 auf Martinique, gest. 1961. Von Beruf Psychiater. Schloß sich 1955 der FIN an. Entwickelte in seinen Schriften die Theorie der besonderen Mission der "Dritten Welt" und beeinflußte nachhaltig das Denken vieler Führer der afrikanischen Befreiungsbewegung. Am bekanntesten ist sein Buch "Les damnés de la terre" (Paris 1961). Der algerische Marxist B. Hadj Ali hat sich in seiner Studie Qu'est-ce qu'un révolutionnaire algérien en 1965?, Paris 1963, kritisch mit den Auffassungen Fanons auseinandergesetzt. Siehe auch Henri Alleg: Welchen Weg einschlagen? Probleme der "Dritten Welt". In: horizont 23/1969, S. 8-9Henri Alleg: Die bürgerliche Ideologie im Dienste des Neokolonialismus. In: Probleme des Friedens und des Sozialismus 1/1968, S. 70-76.

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Schahrias

Alami

Der Kampf um die Gleichberechtigung der Frau in Iran Will man über die jüngsten Veränderungen in der gesellschaftlichen und familiären ¡Situation der iranischen Frauen sprechen, so sind einige einleitende Bemerkungen notwendig. Den iranischen Frauen waren seit Jahrhunderten und besonders seit Beginn der islamischen Periode in Iran große Hindernisse in den Weg gelegt, als deren wichtigste einmal die Sitten und Gesetze der patriarchalischen feudalen Gesellschaft, welche die Frau als bloßes Objekt des Besitzes betrachteten, und weiter die islamischen Gesetze anzusehen sind, die bei oft falscher Auslegung sich ganz besonders gegen eine Gleichberechtigung von Mann und Frau richteten. Dennoch ergaben sich ausgangs des 19. Jh. im Zusammenhang mit der Entstehung breiter Volksbewegungen, in denen Teile der iranischen Bevölkerung den räuberischen und gewinnsüchtigen Absichten der Imperialisten, der Engländer und Russen, Widerstand leisteten, neue Faktoren in der gesellschaftlichen Situation der iranischen Frauen. Viele von ihnen nahmen an den Demonstrationen und Kämpfen gegen die fremden Bestrebungen und Einflüsse und für den Schutz der nationalen Interessen in Iran teil, so an den Bewegungen gegen die Vergabe der Tabakkonzession in ausländische Hände, gegen die Aufnahme russischer Anleihen, gegen die koloniale Praxis der imperialistischen Mächte, Iran unter sich in Einflußzonen aufzuteilen, und in den Kämpfen um die Schaffung einer die bisherige Willkür der Machthaber einschränkenden Gerichtsbarkeit. Die gemeinsame Quelle dieser Aktionen, die Empörung gegen die Fremdherrschaft, und das nationale Anliegen überlagerten alle anderen Probleme, so daß der Grundsatz, die Frau müsse vom öffentlichen Leben ferngehalten werden, zeitweise gelockert wurde. Die Männer hatten nicht nur keine Einwendungen gegen die Teilnahme der Frauen an den Bewegungen, sondern so manche von ihnen sind von der Haltung der Frauon stark beeindruckt worden. Hieraus entsprangen auch Einsichten in der Frauenfrage.

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Die Beteiligung der Frauen an diesem Geschehen war die Basis, auf der neue Gedanken über die Situation der Frauen in Iran entstanden, sowohl unter den Frauen selbst wie auch in Kreisen der männlichen Bevölkerung. Schon zu Anfang dieser Periode hatte eine Frau wie Qorrato-'1-1Ejn, eine geniale Persönlichkeit und talentvolle Dichterin, öffentlich die Emanzipation der Frau gefordert •und demonstrativ ihren Schleier abgelegt. Sie lehnte sich gegen den überkommenen Fanatismus auf, bis sie, die Führerin der fortschrittlichen Baha'i-Sekte, schließlich im Jahre 1952 ermordet wurde. Zu den Forderungen, die von den Baha'i erhoben wurden, gehörten die volle Gleichberechtigung der Frau, ihre Entschleierung, ihr Recht auf gleiche Bildung, die Zulassung von Frauen zu wichtigen Ämtern (die Baha'i waren der Ansicht, der Frau sei von Natur aus ein Streben nach Frieden und Glück eigen, was sich bei ihrer Tätigkeit in verantwortlichen Stellen günstig auswirken werde), die Ablehnung der Polygamie und die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau. Bedingt durch die ökonomische Lage Irans in jener Zeit, in der der Feudalismus unumschränkt herrschte, glichen diese Forderungen zwar leuchtenden Funken, vermochten aber nicht, eine Flamme zu entfachen. Wenn auch die Propagierung dieser Ideen unter der Bevölkerung sehr erschwert war und manche der erhobenen Forderungen, so die Beseitigung der Polygamie und die Abschaffung des Schleierzwanges, von den religiösen Institutionen heftig bekämpft wurden, so zeigt sich doch, daß in der Frauenfrage Veränderungen im Denken der Menschen vonstatten gingen, wenn auch vorerst nur bei einer Minderheit, besonders bei fortschrittlichen Intellektuellen. Ihre Teilnahme an der iranischen Revolution, an den Kämpfen um eine Verfassung, hat die Frauen stärker in den Blickpunkt gerückt. Im Qanun^e asasi, dem Grundgesetz vom Jahre 1906, das ein Ergebnis des opferreichen Kampfes des iranischen Volkes war, werden in allen Abschnitten Männer und Frauen nicht unterschieden. Aber schon wenige Jahre später, in der zweiten Sitzungsperiode des Parlaments, als die Großgrundbesitzer die Oberhand in diesem Gremium gewonnen hatten, wurde eine Ergänzung zum Grundgesetz erlassen, welche die Frauen den Männern gegenüber benachteiligte. Auch jetzt waren die ökonomischen Bedingungen noch nicht derart, daß die Frauen ihre Forderungen hätten durchsetzen können. Die einflußreiche Geistlich-

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keit bezeichnete jede Bestrebung in dieser Richtung als religionsfeindliche Baha'i-Lehre und verfolgte sie. Insofern aber ergaben sich Fortschritte, als erstmalig, gegen den Protest der Geistlichkeit, Mädchenschulen, wenn auch in geringer Zahl, gegründet wurden, und sich Frauenvereinigungen bildeten. In die schöngeistige Literatur fanden neue Sedanken über das Frauenproblem Eingang, in Prosa und Poesie wurde gegen den Schleierzwang, gegen die Rückständigkeit der Frau Stellung genommen u n d Kritik geübt. 1 Zur Zeit der Herrschaft Reza Schahs unternahm Iran die ersten Schritte zum Aufbau einer Industrie u n d entwickelte besonders den Textilzweig. Nim wurden Arbeiter für geringen Lohn benötigt, u n d der Zeitpunkt war gegeben, die Frauen in den Arbeitsprozeß einzubeziehen. In dieser Situation ordnete Reza Schah im Jahre 1936 die Aufhebung des Schleierzwanges für die iranische Frau an. Die absolute Macht des Herrschers setzte diesen Schritt gegen die widerstrebende Geistlichkeit durch. Trotz aller sich dabei ergebenden Mängel als Folge ungenügender Vorbereitung und durch die brutale Form der Durchsetzung der Entschleierung, bedeutete diese Maßnahme eine Brücke, die den Weg zu allen weiteren Fortschritten in der Frauenfrage freigab. Eine starke Barriere war zerbrochen. Die Frauen fanden Eingang in die Fabriken, obwohl sie schlecht bezahlt wurden und nur als einfache Arbeiterinnen tätig sein konnten. Frauen begannen aber auch, staatliche Funktionen einzunehmen u n d arbeiteten in Banken und Büros, wenn sie hier auch keinesfalls den Männern gleichgestellt waren. In jener Zeit verlangten die Frauen besonders nachdrücklich die Gewährung gleicher Rechte. Die herausragendste Frauenpersönlichkeit dieser Periode war die Dichterin Parwin E'tesami, die in künstlerischer Form die Emanzipation der Frau forderte und begründete. Eine der Gesetze, die unter der Regierung Reza Schahs erlassen wurden, ist das iranische Ehegesetz vom Jahre 1931- Es verbietet die Heirat weiblicher Personen unter 15 Jahren u n d schaffte damit die entwürdigende Möglichkeit ab, Mädchen bereits im Kindesalter (ab 9 Jahren) zu verheiraten. Als nach dem 2. Weltkrieg die Beschränkungen einer jahrelangen Zensur aufgehoben waren und fortschrittliche Ideen sich mehr und mehr ausbreiteten, als demokratische Parteien und Organisationen gegründet wurden und aufklärend in Stadt und Land wirken konnten, fand ein ganz deutlicher Wandlungsprozeß im Denken der Frauen u n d

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Männer auch In der Frauenfrage statt. Die Frauen nahmen bewußt und. mit festen Zielen am Kampf um die Nationalisierung des iranischen Erdöls teil, und viele waren davon überzeugt, da£ die Verwirklichung ihrer Rechte die Erringung der nationalen Unabhängigkeit voraussetzt. Aber auch für ihre speziellen Hechte traten die Frauen, und zwar Frauen der verschiedensten politischen Überzeugungen und gesellschaftlichen Schichten, in sehr vielen Demonstrationen auf; sie verteilten üirklärungen und sammelten Unterschriften. Zu den erzielten Erfolgen gehört u.a., daß nun auch Frauen in der wissenschaftlichen Laufbahn, in Begierungsämtern und als Lehrer einen dienstlichen Bang erhalten konnten, was bisher den Männern vorbehalten war. Diese Neuregelung ist kein bedeutender Fortschritt, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß sie nur einen kleinen Kreis berührte. Die höheren Funktionen blieben den Frauen weiterhin versagt; sie konnten trotz eines juristischen Studiums an einer Universität auch nicht Bichter oder Staatsanwalt werden. In den letzten Jahren hat sich in Iran vieles geändert: Eine, wenn auch nicht vollkommene, Bodenreform wird durchgeführt; der Feudalismus liegt im Sterben; zur Industrialisierung des Landes sind groBe Schritte unternommen worden; Handelsbeziehungen und kulturelle Verbindungen wurden mit Staaten verschiedener Gesellschaftssysteme geknüpft, und vor allem wurden Kontakte zwischen West und Ost in einem bisher nicht erreichten Ausmaß aufgenommen, wovon die zahlreichen Beisen von Iranern ins Ausland und die Besuche von Ausl ä n d e m in Iran und die Tausende im Ausland studierenden Iraner zeugen. All das hat vielen unserer Landsleute die Augen geöffnet und Neuem gegenüber aufgeschlossener gemacht. Ausdruck dieser für die Schaffung der Gleichberechtigung von Mann und Frau neuen Etappe ist, da£ die iranischen Frauen nach langjährigen Bestrebungen endlich im März 1964 das Hecht erlangten, zu wählen und gewählt zu werden. Schon in der letzten Parlamentsperiode waren acht Frauen als Abgeordnete tätig, und vier wirkten als Senatoren. Eine der Senatorinnen ist Frau Dr. Manutschehrijan, Rechtsanwältin und Vorsitzende der Vereinigung weiblicher Juristen. Sie legte dem Parlament die Ehtwürfe fortschrittlicher und dringend erforderlicher Gesetze vor, so die Entwürfe eines Famaliengesetzes, eines Gesetzes zum Schutz der Kinder und eines Gesetzes zum Schutz der Gefangenen. Leider vermochte sich ihr Entwurf eines Familiengesetzes gegen den Einfluß der Reste feudalistischer Denkweise,

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die den Mann als das Familienoberhaupt betrachtet,, nicht durchzusetzen. Wenn auch der Entwurf durch den Staat und die fanatische Geistlichkeit abgelehnt'wurde, so war der Staat nun gezwungen, selbst einen Gesetzentwurf im Parlament einzubringen. Mit dem am 15. Juni 1967 angenommenen "Gesetz zum Schutz der Familie" wurde der Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die Ablehnung des ersten Entwurfs entgegengetreten. Es gibt viele Bestimmungen des Zivilrechts, in denen die Frau nicht gleichberechtigt ist oder die geradezu frauenfeindlich sind. Das neue Familiengesetz gestaltet nur wenige davon um, die hier vorgeführt werden sollen. Gemäß dem § 11J3 d e s BGB hat der Mann das Recht, zu jeder Zeit seine Frau zu verstoßen. Das neue Gesetz sieht dagegen eine gerichtliche Bitscheidung vor, d.h. bei Uneinigkeit über eine Scheidung wird ein gerichtliches Urteil verlangt. Diese Neuregelung ist ein großer Fortschritt im Sinne des Frauenrechts. Wünscht der Mann, eine zweite (dritte oder vierte) Frau zu heiraten, so bedarf es nach dem neuen Gesetz hierzu der Zustimmung eines Gerichtes. Diese Erlaubnis wird nur dann erteilt, wenn die finanziellen Verhältnisse des Mannes nicht gegen einen solchen Schritt sprechen und erwartet werden kann, daß der Mann seine Ehefrauen gleicherweise gerecht behandelt. Hier ist ganz klar ausgesprochen, daß der Mann berechtigt ist, mehrere Frauen zu heiraten, wenn er nur finanziell dazu in der Lage ist. Der Sinn der Ehe als persönliche Lebensgemeinschaft wird hierbei mißachtet. Lehnt eine Frau die Polygamie ab, so kann das zur Scheidung führen. Eine Scheidung bringt aber der Frau oft derartige Schwierigkeiten und Zumutungen, daß sie darauf notgedrungen verzichtet. Denn erstens sind die Frauen im allgemeinen ökonomisch unselbständig und würden nach einer Scheidung mittellos dastehen. Zweitens müssen sie sich bei einer Scheidung meist von ihren Kindern trennen, denn das Recht auf diese besaß bisher der Mann, und auch das neue Gesetz bringt hier keine wesentliche Änderung bzw. keine eindeutige Begelung. Frau Dr. Manutschehrijan hat in ihrem Gesetzentwurf die Beseitigung der legalen Polygamie vorgesehen. Ihr Vorschlag bestimmt, daß die Familie aus Frau, Mann und Kindern besteht, daß ein Mann zu gleicher Zeit nur eine Ehefrau haben darf und daß nur eine Eheart zulässig ist. Das letztere bedeutet die Abschaffung der sogenannten Zeitehe. Der Mann darf nach dem Gesetz außer vier Ehefrauen noch Nebenfrauen in unbegrenzter Zahl heiraten. Diese Zeitehen, die von wenigen Stunden bis zu vielen Jahren dauern können, sind gültig,

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wenn in einem entsprechenden Vertrag die Zeit und die Morgengabe für die Frau festgelegt werden. Eine Zeitehe-Frau ist nicht erbberechtigt, wohl aber erben die aus dieser Zeitehe stammenden Kinder zusammen mit den Kindern aus der normalen Ehe. - Die von Frau Dr. Manutschehrijan vorgesehene Abschaffung der Polygamie sollte sofort in Kraft treten, die schon bestehenden Mehrehen aber nicht berühren. In der Frage des Sorgerechts für die Kinder legte das BGB im § 1169 fest, daß der Mutter für ihre Kinder nur bis zu deren 2. Lebensjahr und danach dem Vater das Sorgerecht und das Recht der Erziehung zusteht. Eine Ausnahme bildete die Regelung, daß Mädchen bis zum 7' Lebensjahr der Mutter anvertraut werden konnten. Das neue Gesetz sieht dagegen eine gerichtliche Entscheidung über die Vergabe des Sorgerechts vor, sagt aber nichts darüber, welchen Gesichtspunkten oder Richtlinien das Gericht dabei zu folgen hat. Hals es sich an die Bestimmungen des BGB, so ist nichts geändert. In diesem Fall, ebenso wie in der Frage der Polygamie, hat das neue Gesetz den Frauen keine grundsätzlichen Rechtsverbesserungen gewährt. Wenn auch durch Gerichtsentscheidungen im Einzelfall Verbesserungen erzielt werden können, so bleibt doch im ganzen der alte Rechtszustand erhalten. Frau Dr. Manutschehrijan schlug dagegen vor, den § 1169 des BGB wie folgt zu ändern: Mutter und Vater haben gleicherweise das Sorge- und Erziehungsrecht über ihre Kinder. Entstehen Streitigkeiten, so kann das Gericht jedem einzelnen von ihnen oder einer dritten Person oder einer Institution das Sorgerecht übertragen. In jedem Falle hat der Vater den Leb aisunterhalt für seine Kinder zu bestreiten, denn die Mutter hat meist kein Einkommen. Weiter war in dem Entwurf vorgesehen, daß Vater und Mutter auch den Lebensunterhalt \ind die Erziehungskosten ihrer unehelichen Kinder zu tragen haben. Dieser Vorschlag hat in den religiösen Kreisen besondere Erregung hervorgerufen, da die Religion uneheliche Kinder nicht anerkennt . Im § 1117 des BGB war das Recht des Mannes festgelegt, seiner Frau die Ausübung eines Berufes zu untersagen, wenn dies aus ökonomischen Gründen unvorteilhaft war oder das Ansehen der Frau oder des Mannes schädigen konnte. Das neue Familiengesetz sieht das Gleiche vor, allerdings ordnet es eine gerichtliche Entscheidung an. Damit sind dem Manne gewisse Grenzen gesetzt, doch kommt diese Regelung bei weitem nicht jener Lösung nahe, die im Gesetzentwurf von Frau Dr. Manutschehrijan vorgesehen ist. Dort wird der Frau das Recht eingeräumt, unabhängig außerhalb der Familie zu arbeiten,

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und weiter wird der Arbeit der Frau im Hause der gleiche Wert wie einer Tätigkeit außer Haus beigemessen. Das angenommene Gesetz zum Schutz der Familiefc-annman als Ganzes positiv beurteilen und als einen Schritt auf dem Wege zur Verbesserung des Familienrechtes bezeichnen. Wie wir gesehen haben, ist es in seinen Einzelheiten noch unvollkommen und bedarf weiterer Änderungen und auch einer Ausdehnung auf andere im BGB erwähnte, aber im neuen Gesetz nicht berührte Fragen. Der § 1105 des BGB, der das Fundament des Familienrechtes legt, indem er dem Manne die Führung der Familie überträgt, ist unangetastet geblieben. Frau Dr. Manutschehrijan hat vorgeschlagen, diesen Paragraphen des BGB zu annullieren. Andere in keiner Weise im neuen Gesetz berührte Fragen sind die noch gültige Bestimmung des BGB, der Mann habe Wohnort und Wohnung der Frau zu bestimmen, und die Regelungen des Erbrechts. Frau Dr. Manutschehrijans Entwurf enthält dazu wie zu weiteren Fragen des familiären und allgemeinen Rechts der Frau eine große Zahl von Vorschlägen. Diese abgelehnten Vorschläge sollen hier nicht weiter erörtert werden. Doch ist beachtenswert, da£ selbst Frauen der höheren Gesellschaftskreise, die doch viel weniger von den Nachteilen der bestehenden Gesetze berührt werden als die Uasse der iranischen Frauen, der Bäuerinnen, Arbeiterinnen und Hausfrauen, sich derart ernsthaft mit der Frauenfrage befassen, wie es der Entwurf zum Ausdruck bringt. Die erzielten Erfolge haben für die Mehrheit der iranischen Frauen eine große Bedeutung. Diese würde sich noch erhöhen, wenn die Frauen aller Schichten die neugewährten Rechte auf Grund einer ökonomischen Selbständigkeit auch wirklich wahrnehmen könnten, z.B. in der Ehescheidungsfrage. Für die Erreichung der ökonomischen Selbständigkeit, für das Recht auf Arbeit und das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit sind die Frauen bei verschiedenen Gelegenheiten hervorgetreten. So kam es 1965/64 zu Streiks der Frauen in den Esfahaner Textilfabriken. In einer dieser Fabriken wuchs sich der Streik, unterstützt durch die Männer, zu einem allgemeinen Streik aus. Insgesamt läßt sich somit feststellen, daß sich die familiäre und gesellschaftliche Situation der iranischen Frauen in mancher Hinsicht wesentlich zu ihren Gunsten verändert hat, daß es aber, 1

aufbauend auf diesen Erfolgen, noch vieler Bemühungen bedarf, und daß echte demokratische Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit die Masse der iranischen Frauen ihre Forderungen äußern und schließlich verwirklichen kann.

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S u m m a r y Aspiring to equality, Iranian women are confronted with grave obstacles, mainly created by the customs of a feudal and patriarchal society and the Moslem laws to which appeal is made to justify discrimination against them. In 1956, faced with the need to employ female labour in the nascent textile industry, Baza Shah, the emperor at that time and father of the present Shah, decreed the abolition of the obligatory wearing of the veil, despite resistance from religious quarters. When, after World War II, censorship was lifted, progressive ideas spread and the recently-formed democratic parties and organizations could conduct a campaign of enlightenment in town and village, there was a change in the thinking of men and women with regard to women's problems. After years of struggle, Iranian women finally obtained the right to vote and to be- elected in March, 1964. During the last legislative period there were eight women members of parliament and four women senators. The Iranian civil code contains many provisions limiting or directed against the equality of women. The new laws provide for only very few modifications. So we can say that though the social and family status of the Iranian woman has improved in certain respects, further efforts and democratic conditions are needed if her aspirations are to be fulfilled.

Anmerkung 1

Näheres über diese Frauenverbände und ihre Ziele siehe Sch. Alami: Über die rechtliche Lage der Frau in Iran. Ins Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschaftsund sprachwiss. Reihe 1965- Heft 5-

J o h a n n e s

I r m s c h e r

Klassische Altertumswissenschaft und national-staatliches Geschichtsbild Die Orientalistik oder, vie man sie früher nannte, die Morgenlandkunde ist, wie bereits ihr Name verdeutlicht, in ihren Ursprüngen und Anfängen durch das europazantristische Geschichtsbild bestimmt gewesen: Sem Gelehrten aus dem Abendlande stand das Morgenland als Objekt seiner Forschungen gegenüber, ohne selbst an diesen teilzuhaben. Der große Wandlungsprozeß, in dem wir mitten drinstehen, ist offensichtlich: In allen Sparten der Orientkunde, für die sich weithin die Bezeichnung Asien- und Afrikawissenschaften eingebürgert bat, dominiert heute der weltgeschichtliche Aspekt, und die Zeit ist nicht mehr fern, daß die Präger dieser Studien in der Mehrzahl asiatische und afrikanische Wissenschaftler sein werden, der Aufgabe verbunden, Sprache, Geschichte und Kultur ihrer Völker und Nationen zu erhellen. Auch die klassische Altertumswissenschaft - will sagen: die griechisch-römische Altertumskunde - hat lange Zeit unter dem Signum des Europazentrismus gestanden und dazu noch im Zeichen einer isolierten Behandlung ihres Gegenstandes, wovon das freilich schon seit langem seiner Ausgangsbedeutung entkleidete Beiwort "klassisch" Zeugnis gibt. Das sich weitende Weltbild und die fortschreitende Forschung ließen jedoch in zunehmendem Maße die klassizistischen Fesseln zum Hemmnis werden und erheischten die Einbeziehung der prähistorischen wie der sogenannten Randkulturen in das Blickfeld des Altertumswissenschäftlers: Symbolhaft entwickelte sich nach dem 1. Weltkrieg das "Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft" zum "Handbuch der Altertumswissenschaft" schlechthin. Das Zentrum blieb unverändert, die Grenzen dagegen wurden fließend. Zugleich wurden neue zusätzliche Fragen an die Altertumsforschung gerichtet, sowohl von den Gelehrten derjenigen Länder, die schon seit Jahrhunderten den klassischen Studien oblagen, mehr aber noch von den Wissenschaftlern solcher Territorien, die durch die vorhin angedeuteten Entwicklungen in die Aufmerksamkeit des Fachgebietes einbezogen worden waren. Standen an den klassischen Pflegstätten nach wie vor die Kulturleistungen der Alten als das Bil-

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Iniischer

dungsgut katexochen im Mittelpunkt, so wurde in den neuen Zentren die Altertumskunde in weitem Umfange zur Hilfswissenschaft für die nationale Geschichte und in dieser Form vornehmlich gepflegt. Das heißt, die russische und später die sowjetische Altertumsforschung fanden Schwerpunkte in der Kultur der Skythen und der Geschichte des bosporanischen Reiches, Rumänen u n d Bulgaren bezogen die Daker bzw. die Thraker in ihre nationalen Geschichtsbilder ein, in Deutschland nahm die Germanen-, in Frankreich die Keltenforschung Aufschwung. Wir haben uns seither daran gewöhnt, ungeachtet der ethnischen Unterschiede die Geschichte des deutschen Volkes minde1 2 stens mit den Germanen, die des bulgarischen mit den Thrakern, die des albanischen mit den Illyrern,^ die des neugriechischen mit den Hellenen des klassischen Altertums zu beginnen und in der Geschichte der Sowjetvölker die alten Staaten in Transkaukasien und Hittelasien, die griechische Kolonialbildung an der Schwarzmeerküste, die Kulturen der Skythen und der Sarmaten voranzustellen,^ und sind nur allzu leicht geneigt, zu vergessen, daß diese umfassende Sicht historischer Abläufe in wesentlichem Ausmaße der klassischen Altertumswissenschaft verdankt wird, deren Chancen u n d Möglichkeiten manchem Kritiker gelegentlich erschöpft zu sein scheinen. Die Völker der Balkanhalbinsel, die im Vorstehenden vornehmlich zur Exemplifikation herangezogen wurden, haben ihre staatliche Selbständigkeit im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts erlangt; unser Säkulum ist gekennzeichnet durch den Befreiungskampf der durch die imperialistischen Mächte unterjochten außereuropäischen Völker und den dadurch herbeigeführten Zerfall des Kolonialsystems. Dieser Weg vollzieht sich, wie die tägliche politische Erfahrung lehrt, keineswegs geradlinig und erfaßt alle Bereiche der nationalen Existenz. Er erfordert den politischen und gegebenenfalls auch militärischen Einsatz u n d auf wirtschaftlichem Gebiet unablässige Wachsamkeit, damit nicht die neuerrungene Freiheit durch neokolonialistische Machensehaften zur Farce wird. Doch auch das genügt noch nicht; zu der äußeren Stärkung der staatlichen Position muß die innere Festigung treten, wenn ein solches junges Staatsgebilde den an es herantretenden Belastungen gewachsen sein soll, d.h., der Entwicklung eines gesunden, kraftvollen National- und Staatsbewußtseins bei allen Bürgern kommt hervorragende Bedeutung zu. National- und Staatsbewußtsein aber schließt geschichtliches Bewußtsein ein, 6 und das ganz besonders bei solchen Staaten, deren Staatsvolk die Kolonisatoren und ihre Ideologen Geschichtlichkeit

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und geschichtsbildende Kraft absprachen.? Über die präkoloniale Zeit hinaus gilt es daher, die nationalen Überlieferungen zurückzuverfolgen und ein Geschichtsbild zu entwickeln, das möglichst weit in die Vergangenheit zurückreicht, um auch darin jene scheinbar jungen Nationen den alten Kolonialmächten gleichzustellen. Es wird deutlich, daß der klassischen Altertumswissenschaft - in Verbindung mit der Altorientalistik, der Archäologie und anderen Disziplinen - für eine nicht geringe Zahl 7on Staaten Nordafrikas und Vorderasiens die gleiche Aufgabe zuwächst, die sie für die Balkanländer, wie vorhin angedeutet, in anerkannter Weise erfüllte. Halten wir uns vor Augen, da£ auf den Trümmern des Alezanderreichs im Vorderen Orient und in Ägypten langlebige hellenistische Staaten entstanden, in denen neben anderen Wissenschaften die Geschichtsschreibung eifrig gepflegt wurde, und bedenken wir, daß das Römische Reich zur Zeit seiner größten Ausdehnung vom Kaspischen Heer bis nach Mauretanien an den Atlantischen Ozean reichte und daß auch für die Römer die Historiographie zu den bevorzugten literarischen Genera gehörte, so wird deutlich, wie vielfältige Nachrichten wir über die damalige Bevölkerung der heutigen Nationalstaaten des nordafrikanisch-vorderasiatischen Ifittelmeergebietes in den antiken Quellen erwarten können. Selbstverständlich sind diese Quellen, soweit sie literarischen Charakter tragen, vom Standpunkt der SieQ ger und dabei wieder speziell - wenigstens zum überwiegenden Teil vom Standpunkt der herrschenden Klasse und zu deren Verherrlichung abgefaßt. Doch kann dieser Tatbestand den mit den Methoden moderner Quellenkritik geschulten Historiker daran hindern, auch in dem Bericht des Siegers die Aufopferungsfähigkeit und den Heldenmut des Unterlegenen zu vernehmen? Es gehört zu den Aufgaben unserer Gegenwart, die Geschichte des Altertums aus einer überholten einseitig imperialen Sicht zu befreien und sie nicht anders als die Geschichte Q der Neuzeit als Weltgeschichte zu erfassen und darzustellen. Es fehlt bereits nicht mehr an Arbeiten - von europäischen und amerikanischen Gelehrten wie von Forschern aus den jungen Nationalstaaten - , welche bewußt die Ergebnisse der Altertumskunde in den Dienst der Nationalgeschichtsschreibung dieser Länder stellen oder, von ihren Verfassern unbewußt, zun Teil vielleicht sogar ungewollt, Vorstudien für ein derartiges Unterfangen leisten. Man kann diese Arbeiten in drei Gruppen zusammenfassen.^

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Zur ersten Gruppe gehören Darstellungen, die mit der welthistorischen Sicht Ernst machen, indem sie neben die klassischen die "Randkulturen stellen und die Beziehungen zwischen beiden herausarbeiten. Sie erwuchsen aus der Einsicht, daß ein historisches Verständnis des klassischen Altertums ohne Berücksichtigung der auf die griechisch-römische Welt einwirkenden Einflüsse nicht möglich ist, und erfuhren besondere Förderung durch Gelehrte solcher imperialistischer Staaten, die in dem außereuropäischen Mittelmeerraum 12

politisch engagiert waren, d.h. durch Engländer, Franzosen, Italiener, Spanier. Schon daraus ergibt sich, daß diese Forschungen primär nicht unter dem Aspekt vollzogen wurden, das Nationalgefühl der bis vor kurzer Zeit noch Tinter Fremdherrschaft stehenden Völker zu stärken. Aber indirekt vermögen sie als e i n e immense Schatzkammer der Auswertung harrender Detailkenntnisse doch e i n e solche Wirkung auszuüben, und das um so mehr, als in wachsendem llaBe einheimische Gelehrte daran teilhaben, welche die Beziehungen der Vergangenheit des eigenen Landes zu dem klassischen Fundament der europäisch-abendländischen Kultur mit Genugtuung herausstellten. Als Beispiel für zahlreiche mögliche nenne ich die Bonner Dissertation des Abessiniers Sergew Hable-Selassie, "Beziehungen Äthiopiens zur griechisch-römischen Welt" (1963), welche vornehmlich die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Horn und dem Reiche von Aksum behandelt und e i n e spätere Aufzeichnung der religiös-kirchlichen Beziehungen in Auseicht stellt,^ und erinnere an den vor knapp einem Jahrzehnt formulierten Programmpunkt der African Classical Association, "the influence of Graeco-Roman civilization upon Africa" zu erforschen. Die zweite Gruppe von Arbeiten, die vorerst natürlich zahlenmäi Big noch zurücksteht, betrifft die bis auf die Antike zurückgeführten National- oder - als deren Vorgänger - Territorialgeschichten nebst den Spezialdarstellung'en der Geschichte eines bestimmten Gebietes im Altertum. Hier finden wir neben einheimischen Verfassern auch Autoren aus den imperialistischen Ländern, die derartige Aufgaben mitunter im Rahmen der Entwicklungshilfe übernahmen. Daß so zustandegekommene Hand- und Schulbücher westlicher Provenienz^ bei der Behandlung der Kolonialperiode in mehr oder minder verklausulierter Form den Kolonialismus verteidigen, unterliegt keinem Zweifel; in bezug auf das Altertum überwiegt jedoch die positive Wirkung, da hier in jedem Falle das Gefühl für historische Kontinuität gestärkt und Geschichtstraditionen gebildet werden.

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Cas eben angezeigte Engagement der klassischen Altertumswissenschaft betrifft, wie offenkundig, in vollem Ausmaße Ägypten und Nordafrika - das tschechoslowakische Kollektivwerk "Dgjiny Afriky" spricht hier mit Recht von der Periode der "fiimskâ okupace" 16 -, gilt aber in weitem Umfange auch für Schwarzafrika.1'7 Treffend nennt der afrikanische Gelehrte A.A. Kwapong in dem Sammelwerk "The Dawn of African History" das Nordafrika der Antike einen Januskopf, von dem das eine Gesicht auf das Mittelmeer gerichtet ist, A8

während das andere südwärts zur Sahara blickt. Kein Wunder also, da£ unter solchem Gesichtswinkel Quellen von der Art des vieldiskutierten "Periplus Hannonis" 1 ^ oder, worauf bereits hingewiesen wurde, die Geschichte des Reiches von Aksum, die wesentlich durch griechisch-römische Fontes erhellt wird, erneut in den Mittelpunkt 20 der Aufmerksamkeit rückte! Der Mittelschüler in der Republik Guinea wird durch sein Geschichtslehrbuch mit auf Afrika Bezug nehmenden Partien aus dem' Geschichtswerk 21des Herodot vertraut und erfährt von der Weltkarte des Ptolemäus - Namen, die dem Oberschü22 1er der DER unbekannt bleiben, es sei denn, er greift zu Burchard Brentjes1 Afrikabuch, das ohne im geringsten Vollständigkeit anzustreben, die Quellen einer 5000jährigen Geschichte zum Sprechen bringt. 2 5 Die dritte Gruppe endlich besteht aus solchen Schriften, die Einzelerscheinungen von der Antike her bis in die nordafrikanischvorderasiatische Gegenwart verfolgen oder komparatistisch Phänomene des griechisch-römischen Altertums neben solche aus den eigenen Kulturtraditionen stellen. Werke dieser Art wenden sich naturgemäB an einen kleinen Kreis von Fachgelehrten; dennoch sollte man sie als Bausteine für die Befestigung des nationalen Geschichtsbildes sowie als Veranlassung zu einem intensiven Studitim der eigenen wie der antiken Kultur in ihrer Bedeutung nicht unterschätzen. Ich denke dabei an Arbeiten wie Cheikh Anta Diop, L'Afrique Noire prè-coloniale, Paris i960, der die antiken und modernen europäischen Gesellschaftsstrukturen zu den afrikanischen in Vergleich setzt und daran "les DÛ. facteures de stabilité dans la société africaine" demonatriert - ein Unterfangen, daß trotz der notwendigen methodischen Einwände und trotz nicht zu übersehender Mängel in der Quellenbenutzung 2 ^ Beachtung verdient. Das vorgetragene Material läßt indes eine Frage unüberhörbar werden: die nach der Berechtigung, die Antike in jene nationalen Geschichtsbilder und Nationalgeschichten einzubeziehen. Die Notwen-

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digkeit solcher Nationalgeschichten als wesentlichen Beitrag zur Entwicklung und Festigung des Nationalbewußtseins wird von niemandem in Zweifel zu ziehen sein; aber wie weit dürfen sie in der Vergangenheit zurückgeführt werden, wenn man bedenkt, daß gerade für die von uns betrachteten Gebiete von einer ethnischen Kontinuität nur sehr eingeschränkt die Rede sein kann, und wenn man weiter berücksichtigt, daß die modernen Nationen erst ein Ergebnis der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus darstellen? Ich meine, es sollte auch hier den jungen Nationen recht sein, was den alten von jeher billig ist. Wir sprachen vorhin davon, daß die deutsche Nationalgeschichte durchaus begründet mit den Germanen begonnen wird, obgleich das deutsche Volk von heute in ethnischer Hinsicht mit den Germanen des Altertums nur sehr wenig zu schaffen hat, und wir anerkennen weiter, daß das griechische Volk der Gegenwart ebenso wie das italienische Volk in erster Linie berufen sind, die Uberreste des klassischen Altertums zu bewahren und mit nationalem Stolz die aus einer großen Vergangenheit überkommenen Traditionen zu pflegen. Warum aber sollte dann das Volk Ägyptens, um ein besonders markantes Beispiel herauszugreifen, ungeachtet der Verschmelzung mit den später eingedrungenen Arabern nicht die Kultur seines Altertums und der hellenistisch-römischen Epoche für sich in Anspruch nehmen, zumal ja über das Koptentum ein direkter Weg zu dieser Vergangenheit zurückführt? Auf der Halleaser Koptologentagung im Dezember 1966 hat E m s t Hammerschmidt mit dem Gedicht eines jungen ägyptischen Intellektuellen bekanntgemacht als Beispiel für Bestrebungen, die koptische Sprache neu zu beleben. Diese Verse, "Das Erwachen" überschrieben, stellen zugleich eine lebendige Illustration dafür dar, was vorhin über die Bedeutung nationaler Geschichtsbilder vorgetragen wurde. Ich zitiere daraus in Hammerschmidts Übersetzung« 26 "Meine Brüder, wo sind unsere Herrlichkeiten unserer fernen Vergangenheit? Unsere Herrlichkeiten, unsere Herrlichkeiten, laßt sie xrns zurückbringen in die Gegenwart und in die Zukunft, meine BrüderI" An dieser Aufgabe teilzunehmen, sind, so meine ich, die Altertumswissenschaftler aller Nationen aufgerufen. 2 ^

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S u m m a r y In Oriental studies, which were originally determined by the picture of Europe as the centre of history, the world-historical aspect now predominates. In the same way the Graeco-Roman study of antiquity has freed itself from its classicist fetters and is directing more aad more attention to the so-called marginal cultures of the ancient world. Scholars of the Balkan peoples, for example, made use of the sources offered by archaeology in the study of their national histories and thus made valuable contributions both to international research into antiquity and to the patriotic education of their own peoples. Just as the Balkan peoples attained national independence in the 19th century, our century is characterised by the liberation struggles of the non-European*peoples from the yoke of the imperialist powers. This struggle is fought primarily politically and economically and, if necessary, by military means, but at the same time it demands that these who lead it develop a powerful national and state consciousness. It is necessary here to develop an historical picture which reaches as far back as possible so as to place the apparently young nations on an equal footing with the eld colonial powers. The same task falls to classical archaeology in this connection, in the case of a no small number of North African and Hither-Asian countries, as that which it fulfilled for the Balkan countries, in the valuable way already indicated. There is already no lack of works by European and American scholars and by researchers of the emergent countries who, although not always conscious of it, have enlisted in this service. Three groups of publications can be distinguished here: the first includes those which work out the relationships between the classical and "marginal" cultures, the second group, still not so large in number, trace national or territorial histories back to ancient times, anA the third group includes investigations which follow up single phenomena from ancient times down to the present day in Herth Africa er Hither-Asia or compare phenomena of Graeco-Boman antiquity with these In the cultural traditions of these territories.

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Anmerkungen 1

K.H. Otto: Deutschland in der Epoche der Urgesellschaft. 2.Aufl. Berlin 1961, bezieht sogar den urgeschichtlichen Abschnitt in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft "auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands" (S.V) in seinen Beitrag zum Lehrbuch der deutschen Geschichte ein. 2 Vgl. etwa D. Kossev, Ch. Christoph und D. Ángelov: Bulgarische Geschichte. Deutsch von L. Markova und M. Jarzeva, Sofia 1963, S. 8 ff. 3 Historia na Shqipërisë, 1 (von S. Islami und K. Frash'eri). Tirana 1959, S. 35 ff. H- Zum BeispielK. naitappriYÔnouXoçi 'Icrcopua xoü ¿XAt)vihoO ëôvouç, vito 'Aveoxri KovaravTtvtôou, (1) 2.Aufl. Athen 1887, S. 79 ff5 So K.W. Basilewitsch u.a.: Geßchichte der UdSSR. (1) Moskau 1947, S. 16 ff. 6 Was von W. Schmidts Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (15) 1967, S. 205 ff. und in der durch ihn ausgelösten Diskussion (J. Streisand ebenda, S. 822 ff., G. Schilfert ebenda, S. 839 ff.) über die Bedeutung des Geschichtsbewußtseins für die sozialistische Gesellschaft gesagt wurde, gilt mutatis mutandis gleichermaßen für die Entwicklung des Geschichtsbewußtseins bei den Bürgern der jungen Nationalstaaten. 7 8

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Dazu T. Büttner: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (11) 1963, S. 419. "L'histoire de la victime a été écrite par l'assasin" sagt sarkastisch P. Hubac: Carthage. 2.Aufl. Paris 1952, S. 16 in bezug auf die karthagische Geschichte. Die Komplizierthôit dieser Aufgabe verdeutlicht eine Rezension von F. Altheim: Deutsche Literaturzeitung (84) 1963, S. 232 ff. Für wichtige Hinweise danke ich C.J. Classen. So W.D. v.Barloewen: Abriß der Geschichte antiker Randkulturen. München 1961 (leider ohne begründete Einleitung). Als Zusammenfassung nenne ich das zu seiner Zeit bahnbrechende Werk von St. Gsell: Histoire ancienne de l'Afrique du Nord. 8 Bände mit so bezeichnenden Untertiteln wie Bd. 7 (2.Aufl. Paris I93O): La république romaine et les rois indigènes, und Bd. 8 (2.Aufl. Paris 1930): Jules César et l'Afrique. Ansonsten zur Geschichte der französischen (und internationalen) Forschung L. Teutschs Das Städtewesen in Nordafrika, Berlin 1962, VI ff. A.a.O., S. 6.

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The Proceedings of the African Classical Association (1) 1958. Vorwort. Die seither erschienenen Hefte der in Rhodesien herausgegebenen Zeitschrift zeigen allerdings eine beachtliche Differenz zwischen Gewolltem und Erreichtem. Im Unterschied zu anderen beginnt der Engländer W.E.F. Ward, "formerly History Master, Achimota College, Ghana", sein für Mittelschulen bestimmtes Buch A History of Africa, (1) London 1960, erst mit den "Old kingdoms of the Sudan" und behandelt das Altertum lediglich als eine Art von "Vorgeschichte". I. Hrbek: Dejiny Afriky. Prag 1966, S. 295 (Beitrag von S. Segert). Wie beispielsweise aus den Darlegungen von E. Sik: Histoire de l'Afrique Noire. (1) französisch von F. léderer, Budapest 1961, S. 98 ff. deutlich wird. R. Olivers The Dawn of African History. London 1961, S. 13 ff. Dazu F. Lasserre: In: Lexikon der alten Welt. Zürich 1965, S. 1190. G.W. Huntingford: The Kingdom of Axum; bei R. Oliver: a.a.O., S. 22 ff.; B. Davidson: Alt-Afrika wiederentdeckt. Berlin 1962. S. 342 s.v. Axum (Das populär geschriebene Werk gibt auch sonst mehrfach Hinweise auf noch zu durchforstende antike Quellen). D.T. Niane und J. Suret-Canale: Histoire de l'Afrique occidentale. Paris 1961, S. 18 ff. Wie das Lehrbuch für Geschichte der 5* Klasse der Oberschule, Berlin 1962, und das Lehrbuch für Geschichte der 6. Klasse der Oberschule, Berlin 1963, zeigen. B. Brentjes: Uraltes junges Afrika. 5000 Jahre afrikanischer Geschichte nach zeitgenössischen Quellen. Berlin 1963. Das Bild der antiken Gesellschaft (S. 19 ff.') gründet sich fast ganz auf das 1864 zum ersten Mal erschienene Werk von F. de Coulanges: La cité antique, zu seiner Zeit eine bemerkenswerte Leistung, heute aber historisch geworden (dazu V. Ehrenberg: Der Staat der Griechen. (1) Leipzig 1957, S. 103). Ch.A. Diop: L'Afrique Noire prê-coloniale, Paris i960. E. Hammerschmidt: Einige Beispiele zu den Wiederbelebungsversuchen des Koptischen im heutigen Ägypten. In: Probleme der koptischen Literatur. Hrsg. von J. Irmscher = Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität 1968 (K 2). Halle 1968. Als eine vornehmliche Aufgabe der Wissenschaftler sozialistischer Staaten erfaßt von W. Markov bei K. Büttner: Die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik in Ostafrika. Berlin 1959« VI.

Klaus

Hutschenreute

Probleme der Nationwerdung und der Staatsentwicklung Im transsaharischen Afrika In Afrika südlich der Sahara vollzieht sich gegenwärtig ein nationaler Werdeprozeß, auf dessen Inhalt und dessen spezifische Formen 1

u.a. Markov hinweist. Wesentlich für eine Analyse dieses vielschichtigen Prozesses ist die Klärung der Wechselbeziehung von Staatsentwicklung und Nationbildung. Sowohl bürgerliche als auch marxistische Autoren heben die Rolle des Staates in diesem Zusam2 menhang hervor. Für die Ausgangssituation bedeutsam ist, d&B die Territorien der heutigen afrikanischen Staaten als Ergebnis ausländischer Eroberung und Macht erst in der 2. Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auf einer sozialökonomisch und ethnisch heterogenen Basis tinter Mißachtung gewachsener ethnischer Strukturen gebildet wurden. Der Nationbildungsprozeß als umfassende soziale Wandlung hat im subsaharischen Afrika aber bei weitem noch nicht die Stufe erreicht, d&B man davon sprechen könnte, daß auf den bestehenden staatlichen Territorien die ethnischen Gruppen, die kleinen und großen Völkerschaften ihre Eeterogenität überwunden und sich integriert hätten. Die nationale Konsolidierung vollzieht sich jedoch in der Regel Innerhalb der Grenzen der Staaten, die den kolonialen Gebietsstand unverändert übernommen haben. Völkerrechtlich findet das seine Widerspiegelung in der Nichtanerkennung der ethnischen Gruppen, der Völker - im Sinne ethnischer Einheiten - als Trä'ger des Selbstbestimmungsrechts, in der Beziehung dieses Rechts auf die Gesamtheit der Bevölkerung der afrikanischen Staaten bzw. noch kolonial beherrschter Gebiete.' Diesen prinzipiellen rechtlichen Standpunkt haben sich auch alle afrikanischen Staats- und Regierungschefs zu eigen gemacht und ihn als Rechtsgrundsatz in die Charta der Organisation der Afrikanischen Einheit aufgenommen.4' Bei der Behandlung von Grenzstreitigkeiten und anderen Konflikten afrikanischer Staaten untereinander durch die OAU wurde von dieser völkerrechtlichen Lage ausgegangen.^ Doch das bedeutet keineswegs, daß sich ausschließlich Innerhalb der bestehenden staatlichen Grenzen der nationale Werdeprozeß voll-

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K. Hutschenreuter

ziehen kann und wird. Es ist möglich,' daß ein solcher Vorgang Staatsgrenzen überschreitet und in einem bestimmten Stadium auch seine rechtliche Anerkennung verlangt. In einem derartigen Fall ist ein Zusammenschluß von Staaten oder von Teilen in dieser oder jener Form eine Möglichkeit, der nationalen Konsolidierung einen größeren Raum zu eröffnen.^ Andererseits ist die Entwicklung mehrerer Nationen innerhalb eines bestehenden Staates nicht auszuschließen. Eine solche multinationale Struktur wirft bereits im Prozeß ihrer Herausbildung die Frage auf, inwieweit dafür eine adäquate Struktur des Staates notn

wendig ist. Für viele afrikanische Staaten ist aber anzunehmen, daß ihre gegenwärtige - sehr unterschiedlich ausgeprägte - ethnische linguistische Heterogenität nur Ausgangspunkt der nationalen Konsolidierung, Vorstufe der Nationbildung im Rahmen eines bestehenden Staates i6t. Ganz eindeutig hat sich in den letzten zehn Jahren erwiesen, daß die Entwicklung von Nationalstaaten, in einigen Fällen von Nationalitätenstaaten, auch in Afrika trotz aller kontinentale und teilkontinentale Zusammenschlüsse fördernden Faktoren eine objektive historische Bitwicklungsetappe ist, die sich nicht überspringen läßt und die durch eine Summe unverrückbarer ökonomischer, sozialer, ethnisch-linguistischer und kultureller Bedingungen gegeben ist. Formen einer sich kräftigenden afrikanischen Einheit können sich nur über die oftmals schwierige bi- oder multilaterale Zusammenarbeit der existierenden Staaten, die auf den Grundsätzen des Völkerrechts beruht, entwickeln. Bas allein ist auch der Weg zur Überwindung von Grenz- und Territorialkonflikten. Das Phänomen des Staates in den Entwicklungsländern, besonders im transsaharischen Afrika, ist von marxistische^ Autoren bisher zumeist unter dem Aspekt des Wesens sowie der Formen der Staatsmacht, ihrer Rolle und ihrer Veränderung im Prozeß der nationalen Befreiungsrevolution und deren Fortführung und Vertiefung unter den Bedingungen der erkämpften Unabhängigkeit untersucht und dargestellt worden. Das ist auch das Hauptproblem sowohl aus theoretischer wie aus praktischer Sicht. Der Kampf der verschiedenen politischen und sozialen Kräfte in Afrika um Wesen und Charakter des Staates bestimmt entscheidend Gang und Richtung der Gesamtentwicklung. Auch für die heutigen Bedingungen Afrikas gilt Lenins Feststellung, daß die Frage der Macht Kernfrage jeder Revolution ist.

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Die Rolle und. Wirkung des Staates bei der Nationbildung wird vom Grundcharakter des Staates, von der eingeschlagenen Eatwicklungsrichtung - hier kapitalistisch, dort nichtkapitalistisch - wesentlich bestimmt. Die nationale Konsolidierimg, das heißt die sozial-ethnische Entwicklung der Völkerschaften vollzieht sich gegenwärtig in diesen zwei Grundrichtungen, mit diesem Inhalt. Beiden ist in bezug auf ihren Charakter als eines national-ethnischen Prozesses Gemeinsames Q eigen, zum anderen gibt es wesensmäßige Unterschiede. Die Gemeinsamkeiten ergeben sich aus der Gleichartigkeit der Ausgangssituation sowie aus dem Wesen der Nationwerdung, die sich in anderen Erdteilen sowohl mit kapitalistischem Inhalt als auch mit sozialiq stischem vollzogen hat. Die relative Unabhängigkeit der Nationbildung von der sozialen und politischen Richtung des Prozesses verlangt, bei der Betrachtung der Wechselbeziehung zur Staatsentwicklung sowohl das Gemeinsame als auch das Spezifische dieser unterschiedlich gerichteten Entwicklungsprozesse in Afrika zu analysieren. Untersucht man unter diesem Gesichtspunkt die Beziehungen Staat und Nationwerdung, so lassen sich zwei Hauptaspekte unterscheiden: a) die Relation der Staatsfunktionen in ihrer Entwicklung zur nationalen Konsolidierung und b) das Verhältnis der Staatsform einschließlich des Staatsaufbaus zum Nationbildungsprozeß. Diese strukturellen und funktionalen Aspekte stehen wiederum in enger Wechselwirkung zueinander und werden - wie bereits erwähnt in bezug auf die Art ihrer Wirkung, die historische Entwicklungsrichtung, die Effektivität, die Beständigkeit und Zeitdauer vom sozialen und politischen Charakter des Staates entscheidend beeinflußt. Dabei ist offensichtlich, daß eine revolutionär-demokratische Staatsmacht in Afrika, die sich auf die Volksmassen stützt und neokolonialistische Einflüsse zurückdrängt, günstige Voraussetzungen für den nationalen Konsolidierungsprozeß schafft, ihn in demokratischen und friedlichen Formen bewußt zu fördern vermag, und andererseits ohne die Beachtung der Spezifik der national-ethnischen Entwicklungsprobleme nicht ihren revolutionär-demokratischen Charakter bewahren und vertiefen kann. Jede Staatsfunktion, die ganze Skala der staatlichen Wirkungsbreite, steht in direkter oder indirekter Wechselbeziehung zu den

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K. Hutsebenreuter

nationalen Bitwicklungsprozessen. Dabei haben zum Beispiel solche staatlich geleiteten oder geförderten Erscheinungen wie die Industrialisierung oder der Aufbau eines Grundschulwesens spezifische Bückwirkungen auf die national-ethnischen Entwicklungen, wie andererseits die staatlichen Maßnahmen von den national-ethnischen Prozessen mittel- oder unmittelbar, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, beeinflußt werden. Die Grundtendenz der Funktion und Wirkung der modernen Staatlichkeit ist in der Regel die nationale Integration, deren konkrete Art und Weise sowie Richtung sich jedoch weitgehend •10

der staatlichen Beeinflussung entziehen. Die Vielfalt und Kompliziertheit der Wirkungen der Staatstätigkeit, die nach Ländern unterschiedliche Ausgangslage, verlangen gründliche Einzeluntersuchungen und erlauben nur in begrenztem Umfange Generalisierungen. Der westdeutsche Soziologe Pfeffer hat die "Ausdehnung der staatlichen Aktivität auf gesellschaftliche Funktionen, die früher nicht in der Zuständigkeit des Staates lagen", als ein Wesensmerkmal der Staatstätigkeit in Entwicklungsländern charakterisiert. Diese an sich zutreffende Feststellung ist jedoch nicht völlig geeignet, die Wirkung der Staatsentwicklung auf den sozialen und politischen Wandel zu erfassen, der Sern und Grundlage der Nationwerdung ist. Die quantitative Ausdehnung der Staatsaktivität ist verbunden mit einer mehr oder weniger bewußten und zielgerichteten Einwirkung des Staates auf die soziale und politische Umwandlung. Der Inhalt des historischen Bewußtseins, das den Staatswillen, prägt, ist grundsätzlich verschieden. Es ist entweder ein Bewußtsein vorwiegend bourgeoiser Führungskräfte, das auf die Schaffung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse gerichtet und von der neokolonialistischen imperialistischen Ideologie beeinflußt ist, oder das die objektiven Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten weitgehend widerspiegelnde, revolutionär-demokratische, teilweise von der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus durchdrungene Bewußtsein intellektueller oder kleinbürgerlich-demokratischer Führungskräfte. In beiden Fällen jedoch ist es der Wille staatsbeherrschender Führungen, den unterschiedlich verstandenen und unterschiedlich gerichteten Prozeß- der Nationwerdung durch das Instrumentarium der Staatsgewalt zu fördern und zu lenken. Doch nur unter den Bedingungen einer nichtkapitalistischen Entwicklung können die historischen Möglichkeiten voll genutzt werden. In dem Maße, wie die Staatsmacht bewußt gestaltetes Instrument einer nichtkapitalistischen Entwicklung wird,

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kann sie den Zerfall der vorkapitalistischen, sozialen und politischen Strukturen sowie die bereits kapitalistischen Sektoren der Volkswirtschaft, die meist vom Auslandskapital beherrscht werden, über eine Vielzahl von Zwischenstufen in sozialistische hinüberleiten. Nur so ist der Prozeß der nationalen Konsolidierung maximal zu beschleunigen, von nicht klassenbedingten Konflikten freizuhalten und in demokratische Formen zu fassen. An cieser Stelle ist es nicht möglich, die einzelnen Seiten der staatlichen Tätigkeit in ihrer spezifischen Wirkung auf den Nationbildungsprozeß - differenziert nach eingeschlagener politischer und sozialer Entwicklungsrichtung - zu analysieren und sie in bezug auf ihr Gewicht oder ihren Einfluß auf die Entwicklungsdynamik zu werten. Einige der Hauptseiten sollen nur genannt werden, um die Breite der Wirkung des Staates zu verdeutlichen. Die staatliche Lenkung der Wirtschafttsentwicklung, die Standortverteilung der Industrie, die staatliche Leitung des KommunikationswesenB, die staatliche Einflußnahme auf die Schaffung eines Inneren Marktes im Rahmen des Gesamtterritoriums, die unmittelbare und mittelbare staatliche Einflußnahme auf die Veränderung der Sozialstruktur besonders auf dem Lande, die Schaffung einer vereinheitlichten Rechtsordnung bei Integrierung von Bestandteilen des traditionellen Gewohnheitsrechts sowie die Gestaltung eines einheitlichen Gerichtssystems, die politische und ideologische Beeinflussung, die staatliche Bildungs- und Sprachpolitik, die Förderung eines Staatsbewußtseins sind einige Bereiche staatlicher Aktivität, deren Einfluß auf die national-ethnischen Prozesse offensichtlich ist. Allen gemeinsam jedoch ist die allmähliche Herausbildung von Standards, gesamtstaatlichen Bezügen und Maßstäben mit integrierender Wirkung und mit basisverändernder Kraft. Von hoher Bedeutung für dein Ablauf national-ethnischer Entwicklungsprozesse mit der Tendenz einer nationalen Konsolidierung im transsaharischen Afrika ist die Gestaltung der Staatsform und ins-

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besondere des Staatsaufbaus. Als Grundentscheidung stellt sich dabei: Verlangt die ethnische Struktur ihre Beachtung oder Beflexion in der territorial-administrativen Gliederung und im Staatsaufbau? Welche strukturelle Lösung, eine unitarische, föderative, konföderative oder eine dazwischenliegende, eine mit oder ohne Autonomieformen ist vom Standpunkt der jeweiligen sozialen und politischen Schichten oder Klassen, besonders aber für einen progressivdemokratischen Staat unter den jeweiligen konkreten Bedingungen zweckmäßig oder gar existenzbedingend?

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K. Hutschenreuter

Auf diese Frage hat die Praxis der afrikanischen Staaten und anderer Entwicklungsländer mit teilweise ähnlichen Ausgangsbedingungen begonnen, erste Antworten zu geben. Die überwiegende Zahl der Entwicklungsländer hat entweder von vornherein einen unitarischen, oft stark zentralisierten Staatsaufbau gewählt oder, falls in der Folge kolonialer Herrschaft eine föderative Struktur auferlegt wurde, diese zugunsten eines zentralisierten Einheitsstaates aufgegeben.^ Die geringe Zahl effektiver bundesstaatlicher Systeme und die bedeutendere Anzahl von Staaten, die in verschiedenen Perioden auf sehr unterschiedliche Art von einem föderativen Aufbau abkamen, geben Grund zu der Feststellung, daß ein föderativer Staatsaufbau von den herrschenden Klassen und Schichten dieser Länder unabhängig von ihren Unterschieden im allgemeinen nicht als geeignet betrachtet wird, ihren Klassenzielen, ihrer politischen Herrschaft 14 und der von ihnen angestrebten Entwicklung zu dienen. Eine föderative Struktur ist offensichtlich zumindest in Afrika in der Kegel kein geeignetes und wirkungsvolles System des Staatsaufbaus eines Entwicklungslandes. Das trifft vor allem für jene Staaten zu, die Ausdruck und Instrument der Weiterführung der nationalen und demokratischen Revolution sind und im Begriff sind, sich zu Staaten der nationalen Demokratie zu entwickeln. Andererseits wäre es völlig verfehlt, aus den bisherigen praktischen Ergebnissan ableiten zu wollen, daß eine andere Lösung als die unitarische grundsätz15 J lieh tinzweckmäßig und ohne Perspektive sei. Als feststehend kann nur gelten: 1. Der Föderalismus spezifisch kolonialer Prägung, der darauf gerichtet war, die Vorherrschaft reaktionärer Innerer Kräfte und einen starken Einfluß des Neokolonialismus unter spezifischen Wirkungsbedingungen zu sichern, und der eng mit Formen des bürgerlichen Parlamentarismus gekoppelt war, hatte in Afrika keine Entfaltungsmöglichkeiten. 2. Viele soziale, ökonomische und politische Faktoren bedingen im transsaharischen Afrika 16 die Tendenz einer straffen Zentralisierung der Staatsgewalt. Aus der Analyse der politischen und sozialen Faktoren allein ist aber die Frage, welcher Staatsaufbau den Bedingungen und Voraussetzungen eines afrikanischen Landes am ehesten entspricht, nicht ausreichend und gültig zu beantworten. Von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung des Staatsaufbaus ist die nationale Frage im konkret historischen Zusammenhang.

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Der Marxismus-Leninismus betrachtet den Föderalismus: 1. als ein Gestaltungsprinzip, das als eine Form der Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zur Lösung der nationalen Frage in einem Land mit multinationaler Bevölkerungsstruktur beitragen kann, das einen zum Sozialismus führenden Weg beschreitet. Diejenigen sozialistischen Staaten haben einen föderativen Aufbau angenommen, die einen ausgeprägt multinationalen Charakter besitzen, deren nationale Gruppen nicht einen relativ kleinen Prozentsatz der Bevölkerung bilden und in denen die nationale Frage ein entscheidendes politisches Problem darstellte. 2. als eine Form des Staatsaufbaus, die unter bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen bei einer für dieses System höchstmöglichen Entwicklung der Demokratie geeignet sein kann, die nationale Zwietracht in einem multinationalen Land einzuschränken oder zu beseitigen. 5. als eine Form staatlichen Aufbaus, die in imperialistischen Staaten ohne multinationalen Charakter zwar keine historische Existenzberechtigung besitzt, aber für die Arbeiterklasse und progressive gesellschaftliche Kräfte damit nicht ohne Bedeutung ist. Eine marxistische Partei prüft aus der Beurteilung der konkret-historischen Situation, welche Form des Staatsaufbaus günstigere Möglichkeiten für den politischen und sozialen Kampf 17

bietet, und bestimmt ihr Verhalten zum Staatsaufbau danach. ' Unter den gegenwärtigen Bedingungen Afrikas, wo es darum geht, wie progressiv-demokratische Kräfte die aktive Aufgabe der Staatsgestaltung im Prozeß der Vertiefung der nationalen demokratischen Befreiungsrevolution erfüllen können, ist es wesentlich für die Beurteilung der objektiven Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit einer bestimmten Art des Staatsaufbaus, ob sie maximal geeignet ist, natipnal-ethnische Zwietracht, die gewöhnlich von Inneren und äußeren reaktionären Kräften geschürt wird, zu beseitigen oder zu verhindern, einer eventuellen multinationalen Entwicklung keine Beschränkung aufzuerlegen, d.h. auf der Grundlage weitgehender Demokratie die nationale Problematik zu lösen. In den jungen afrikanischen Staaten, in deren Grenzen sich über eine längere Periode hin im wesentlichen eine Nation bildet, ist ein föderativer Staatsaufbau auch vom Gesichtspunkt der national-ethnischen Tendenzen weder zweckmäßig noch notwendig. Das schließt nicht aus, daß auch in diesem Fall unter bestimmten Umständen und Bedingungen die administrativ-territoriale Gliederung die ethnische Struktur bis zu einem gewissen Grad berücksichtigen sollte.

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Bei sich abzeichnenden multinationalen Konsolidierungsprozessen oder im Falle starker Zuspitzung ethnisch-nationaler Gegensätze und heim Zusammenschluß von Staaten bzw. Teilen davon kann ein föderativer, bei spezifischen Voraussetzungen auch ein konföderativer staatlicher Aufbau ein vichtiger Beitrag zur Lösung der nationalen Entwicklungsprobleme, zur Verringerung nationaler Konflikte und zur Herstellung harmonischer, auf Gleichberechtigung beruhender BeZiehungen zwischen Nationalitäten sein. Aus dem Umstand, daß das Völkerrecht kein Selbstbestimmungsrecht isolierter ethnischer Gruppen, die noch nicht das Entwicklungsstadium der Nation oder Nationalität erreicht haben, anerkennt, ergibt sich, da£ der Föderalismus nicht die Verwirklichung eines solchen Rechts ethnischer Gruppen sein kann. Den Staatsaufbau frei zu wählen, ist gegenwärtig im Selbstbestimmungsrecht aller ethnischen Gruppen und Völker eines afrikanischen Staates, dessen Subjekt sie sind und das sie gerneinsam ausüben, eingeschlossen. 7 Diese grundsätzliche völkerrechtliche Ausgangslage wird im Falle sich abzeichnender multinationaler Entwicklungstendenzen stark modifiziert. Die Prozesse der Nationbildung, die ihrer Natur nach Ausdruck sozialen, politischen und national-ethnischen Ubergangs sind, bestimmen auch die Rechtssituation als eine transitorische. Obwohl kleine und kleinste ethnische Einheiten nie Subjekte des Selbstbestimmungsrechte werden, sind die sich umformierenden Einheiten, die auf dem Wege zu Nationen und Nationalitäten einem Qualitätswandel unterliegen - auch in Abhängigkeit zur Intensität der von ihnen vertretenden Forderungen - als potentielle Subjekte der völkerrechtlichen Selbstbestimmung anzusehen. Unter der Berücksichtigung der sozialökonomischen und der politischen Faktoren, der Entwicklungsformen sowie des Standes der nationalen Verdeprozesse ist festzustellen, da£ in einem Land des transsaharischen Afrika, in dem sich multinationale Tendenzen durchsetzen, ein föderativer Staatsaufbau, dessen konkrete Gestaltung bestimmten Anforderungen entspricht, ein wirksames, den Interessen der beteiligten Völker dienendes Mittel der Lösung nationaler Probleme, ein Instrument der Zusammenarbeit und allmählichen Integration sein kann. Mindestforderungen an die Gestaltung eines gefestigten Föderativsystems lassen sich aus der Theorie und Praxis der sozialistischen Föderativstaaten ableiten, ohne daß damit mechanische Gleichsetzungen verbunden sein dürfen. Demokratie in allen Sph&ren des politischen und gesellschaftlichen Lebens, völlige Gleichberechtigung aller ethnischen

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Gruppen, Schutz der Minderheiten, Förderung besonders zurückgebliebener Gebiete und Berücksichtigung der ethnisch-nationalen Struk20

tur bei der territorialen Gliederung sind einige der staatlichen Voraussetzungen eines stabilen Föderalismus auch in einem transsaharischen Entwicklungsland.

Summary The processes of national development in Africa south of the Sahara are processes of broad social transformation and ethnic integration. Generally speaking, these processes are taking place within the frontiers of the existing states arbitrarily drawn by the colonial powers. But there are also processes of nation-building which go beyond the existing state frontiers and processes which will produce a multi-national structure of states. The past decade has shown that the emergence of national or nationality states is a necessary stage in African development, too. Forms of continental or partially continental unity have only been effective as multi-lateral or bilateral cooperation of states, in isolated cases as a union of states. Two main aspects emerge in an analysis of the inter-relations between state development and nation-building: the relations between developing state functions and national consolidation and the relationship of the state form, especially the state structuré', and the process of building up the nation. These aspects are closely inter-connected and are decisively influenced by the social and political character of the state power in regard to the nature of the effect, the direction of historical development and effectiveness. A revolutionary democratic state power creates favourable conditions for national consolidation, can encourage it deliberately and in a planned way, and can to a great extent keep it free of conflicts not determined by class. As a basic decision in setting up the state form the question arises as to whether the ethnie structure must be reflected in territorial-administrative organisation and in the state structure. Uost sub-Sahara states have decided, independent of their political and social character, in favour of a strictly centralised unitarism and, during the struggle for independence or afterwards, have decided against a federalism inspired by colonialism. This does not preclude the possibility that, in the event of the appearance of

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multi-national tendencies a federative state structure could not contribute to solving problems of national development and to reducing ethnic friction. However, a federalism of this kind would have to overcome any colonial features, be determined b y democratic principles a n d make creative use of the experience of socialist federative states.

Anmerkungen 1

2

Vgl. W. Markov: La Nation dans l'Afrique tropicales Notion et structure. Communication officielle présentée au V I e Congrès Mondial de Sociologie, Ecian 4-11 septembre 1966; ferner: I. Potechin: Einige Aspekte der nationalen Frage in Afrika. Probleme des Friedens u n d des Sozialismus. 1961. H.ll, S.992 ff. Vgl. u.a. U.S. Dshunusow: Die Nation als sozial-ethnische Menschengemeinschaft. In: Voprosy istorii. 1966. H.4, S.29 russ.j W.I. Koslow: Einige Probleme der Theorie der Nation. In: Voprosy istorii. 1967. H.l, S.99 russ.; P.M. Bogatschew: M.A. Swerdlin, Über den Begriff der Nation. In: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge. 1966. S.6, S.666; J.S. Coleman / C. Rosberg, Jr.: Political Parties and National Integration in Tropical Africa. Berkeley 1964, S.8; G. Myrdal: Jenseits des Wohlfahrtsstaates. Stuttgart 1961, S.162.

3

Vgl. R . Arzinger: Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart. Berlin 1966, S. 243 ff- Arzinger verweist darauf, daß oft imperialistische Kräfte separatistische Bestrebungen unter mißbräuchlicher Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht unterstützen (S. 257).

4

Vgl. K. Hutschenreuter: Die Rolle der internationalen Organisationen der jungen Nationalstaaten Afrikas. In: Völkerrechtliche Probleme der jungen Nationalstaaten. Gesamtredakt. R. Arzinger und G. Brehme, Berlin 1965, S. 117» Charta der Organisation der Afrikanischen Einheit: Präambel. Art. II/l und Art. III, ebenda, S. 181 ff.

5

Vgl. G. Reintanz: Völkerrechtliche Bemerkungen zu afrikanischen Grenzproblemen. In: Ebenda, bes. S. 134 ff. Die Bildung der Bundesrepublik Kamerun im Oktober 1961 kann als Beispiel dafür angesehen werden. Der Zusammenschluß wurde dadurch erleichtert, daß das ehemalige britische Treuhandgebiet

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Südkamerun nach einer Volksabstimmung über den Anschluß sich faktisch zugleich mit der Erreichung der Unabhängigkeit mit Kamerun föderativ vereinigte. In der weiteren Zukunft ist auch ein Zusammenschluß von afrik. Staaten denkbar, ohne daß dem eine nationale Konsolidierung zugrunde liegt. 7

8

Auch MarkoV wirft diese Frage auf, indem er schreibt: "D'autre part, dans das républiques qui contiennent des ethnies fortes en tètes, ayant leur propre fond historique très riche, comme en Nigéria, les difficultés politiques à surmonter montreront si la nation nigérienne réussira à se former ou non. On ne peut exclure au premier abord que les grandes ethnies ne prennent le chemin de nations séparées qui pourraient se retrouver dans une Fédération multi-nationale." W. Markov, a.a.O., S. 8. Die Bezeichnung "national-ethnisch" wird zur Kennzeichnung der ethnischen Entwicklungsprozesse (Umprägung, Auflösung, Integration und Qualitätswandel) auf dem Wege zur Nationwerdung gebraucht. Sie soll den Übergang, nicht eine Identität charakterisieren.

9 10

Vgl. M.S. Dshunusow, a.a.O., S. 24 f. u n d S. 27. Z.B. welche ethnischen Gruppen verschmelzen, welche dagegen Selbständigkeit bewahren werden, ob eine multinationale Entwicklung sich Innerhalb der Grenzen eines afrikanischen Staates durchsetzt, ist nur in beschränktem Umfang durch den Staat zu beeinflussen oder gar zu führen. Das gilt sowohl für die Länder mit kapitalistischer wie für die mit nichtkapitalistischer Tendenz.

11

Vgl. K.H. Pfeffers Die Ausweitving staatlicher Funktionen in den Entwicklungsländern - ein Beispiel für die Probleme soziologischer Kategorienbildung in weltweitem Maßstab. In: Sociologus. Zeitschrift für empirische Soziologie, Sozialpsychologie und ethnologische Forschung. 1964 (Vol.14). H. 2, S. 117.

12

Im folgenden konzentriert sich die Betrachtung auf den Staatsaufbau. Die anderen Bestandteile der Staatsform können in ihrer Wirkung auf die nationale Integration an dieser Stelle nicht untersucht werden. Vgl. K. Hutschenreuter: Die Herausbildung des föderativen Staatsaufbaus in Nigeria, seine Rolle u n d Funktion im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß. Leipzig 1967- Diss., S. 3 ff.

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14

Vgl. St.A. de Smith: Federalism, Human Bights, and the Protection of Minorities. In: Federalism and the New Nations of

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K. Hutschenreuter Africa. Ed. by D.P. Currie. Chicago/London 1964, S. 291 f. de Smith stellt auch dar, daß der Föderalismus In Afrika und Asien als ungeeignet empfunden wird. Allerdings ist ihm bei der Analyse der Ursachen für diese Erscheinung nur teilweise zuzustimmen.

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Kiritschenko ist beizupflichten, wenn er als Maßstab der Fortschrittlichkeit des Staatsaufbaus setzt, inwieweit er die Unabhängigkeit des Staates, die Entfaltung der Produktivkräfte und die Hebung des materiellen Wohlstandes maximal fördert. Allein mit dieser allgemeinen Charakterisierung ist noch nicht viel für eine Wertung gewonnen. Vgl. M.G. Kiritschenko: Der unabhängige Staat der nationalen Demokratie. In: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge. 1962. H.6, S. 648. Zu diesen Faktoren sind u.a. zu' rechnen: die Notwendigkeit zur Zurückdrängung zentrifugaler, desintegrierender Kräfte (dazu zählt die sog. traditionelle Elite), die Notwendigkeit einer £htwicklungsdynamik, der außerordentliche Mangel an technischen und administrativen Kadern, die relativ unentwickelten Klassenbeziehungen, das geringe Bildungsniveau der Volksmassen und in den progressiv-demokratischen Staaten der Mangel an politischer, sozialer und ideologischer Homogenität der Einheitspartei und ihrer Führung. Vgl. eine kurze Darstellung der marxistisch-leninistischen Theorie und Praxis des Föderalismus bei: K. Hutschenreuter, a.a.O., bes. S. 272 ff. Lenin bezeichnete die Föderation befreiter Kolonien als eine Möglichkeit des "Übergangs zur freiwilligen Verschmelzung". Vgl. W.I. Lenin: Werke. Bd. 27. Berlin i960, S. 145. Vgl. die Definition des Selbstbestimmungsrechts bei H. Arzinger, a.a.O., S. 219« Obwohl z.B. bis heute Formen der Autonomie in Afrika noch ohne Bedeutung sind, ist es nicht auszuschließen, daß solche Formen bei der Lösung der zukünftigen Probleme eine große Rolle spielen können.

H e i n r i c h

Loth

Die "neue" Politik des deutschen Imperialismus und der Widerstandskampf in Tanganjika (1906-1918) Die Ostafrika-Politik des deutschen Imperialismus vom Ende des 19. Jh. bis in die Gegenwart besitzt trotz aller Unterschiede, die sich aus den konkreten Wirkungsmöglichkeiten des deutschen Monopolkapitals ergeben, wesentliche Gemeinsamkeiten. In zwei Weltkriegen geschlagen, beweist der deutsche Imperialismus auch durch seine Kontinuität in der Ostafrika-Politik, daß er mit besonderer Hartnäckigkeit seine aggressiven Ziele verfolgt und sich in seinem Wesen über die Jahrzehnte hinweg nicht verändert hat, unbeschadet aller Täuschungsmanöver, wie sie sich z.B. gegenwärtig in dem "neuen Kurs" in der Außenpolitik der Bonner Regierung manifestieren. Seit Wiederbeginn der Expansionspolitik der deutschen Monopole sucht man in der Bundesrepublik nach neuen Argumenten, Versionen und Ideologien, um die völkerfeindliche Politik des Neokolonialismus zu verschleiern. Eine wesentliche Ursache für diese Bemühungen in der Bundesrepublik ist in den nationalen und sozialen Bestrebungen in Afrika zu suchen. Erinnert sei an die These von der "Antikolonialmacht", die tatsächlich jahrelang gewisse Erfolge zu verzeichnen hatte. Unter dem Deckmantel der "Antikolonialmacht" forcierte die Bundesrepublik ihre Expansionspolitik und griff versteckt und offen in den Kampf zur Unterdrückung der nationalen Befreiungsbewegung ein. Auch durch die attraktive These von einer "neuen Politik" versucht die Bundesrepublik, von ihren neokolonialistischen Zielen abzulenken und ihren Einfluß in Afrika weiter auszubauen. In Wirklichkeit macht die neue Bonner Außenpolitik in keiner Weise irgendwelche Zugeständnisse an die nationale Befreiungsbewe1 gung, wie nicht zuletzt das Beispiel Tansania zeigt. Echte Zugeständnisse - das würde eine Abkehr von der seitherigen westdeutschen Konzeption bedeuten, nach der die Entwicklung einer Arbeiterklasse verhindert und eine mit 2dem Imperialismus paktierende Bourgeoisie gefördert werden soll. Echte Zugeständnisse - das wurde aber auch bedeuten, nicht länger die Kapitalhilfe an Tansania dazu auszunutzen, um das Land unter politischen Druck zu setzen, sei es

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in der Frage der Doktrin von der Alleinvertretungsanmaßung oder in der Frage der Bildung eines fortschrittlichen, antiimperialistischen staatlichen Sektors als wichtige innere objektive Voraussetzung für den nichtkapitalistischen Qitwicklungsweg, wie er in der bekannten Arusha-Deklaration von den Führungskräften Tansanias konzipiert wurde; Schon unmittelbar nach der Regierungsumbildung erklärte Kiesingers früherer Kabinettskollege Hans-Jürgen Wischnewski, dessen Ministerressort der Neokolonialismus war, daß "es keine grundsätzlich neue Richtung in der deutschen Entwicklungspolitik" geben wird.'1' Der gleiche sozialdemokratische Minister nannte als "Aufgaben und Möglichkeiten" der "neuen" westdeutschen Afrika-Politik in erster Linie "die Ausbildung von Führungseliten, die Förderung einer wirtschaftlichen Entwicklung von unten her (Schwerpunkte: landwirtschaftlicher und gewerblicher Sektor)" und eine "stärkere Forcierung des Einsatzes" von Formen des kollektiven Kolonialismus.^ Daneben sind aber auch die Bemühungen der Ideologen der Bonner Expansionspolitik nicht zu übersehen, die Propaganda ihrer Ideologie zu verstärken. ® Die ideologische Auseinandersetzung mit den nationalen und sozialen Bestrebungen in Tansania wird dabei auch auf dem Gebiet der antikolonialen Traditionen ausgetragen. Die westdeutsche Propaganda versucht, die progressiven Kräfte durch Verfälschung historischer Tatsachen zu ideologischen Zugeständnissen an die imperialistische Expansionspolitik zu bewegen. So forderte unlängst der Tübinger Universitätsprofessor für Überseekunde Wahrhold Drascher demagogisch, "daß die Europäer nicht blindlings und kritiklos in die gehässigen Kritiken über den Kolonialismus einstimmen und die unzweifelhaften Leistungen der Weißen in Afrika insgesamt negieren ... Die Beschwörung der Vergangenheit im negativen Sinne ist leider geeignet, um den extremen afrikanischen Nationalismus weiter anzuheizen. Die ungeheure Gefahr liegt darin, daß durch solche Darstellungen gerade diejenigen Schwarzafrikaner gehemmt werden, die sich bemühen, im Interesse der Herstellung eines guten Verhältnisses der Rassen mäßigend und versöhnend zu wirken." ? Im Zusammenhang mit den Versuchen, die kolonialen Traditionen des deutschen Imperialismus aufzuwerten u n d sie im Bonner Staat - dem legitimen Erbe des deutschen Kolonialimperialismus - den neokolonialistischen Bestrebungen nutzbar zu machen, erklärt man die nationale Befreiungsbewegung Afrikas zu einer bloßen Nachkriegserscheinung. Die historischen Wurzeln der afrikanischen Befreiungsbe-

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wegung werden verschwiegen oder ihre Motive durch die Behauptung verfälscht, die Ursachen für einzelne Unruhen seien in der Gegnerschaft zur "Unterbindung des Sklavenhandels" oder in anderen unedlen Absichten zu suchen. Anstelle der Wahrheit'setzen die Ideologen der Bonner Expansionspolitik die Legende. Auf dies( Art und Weise werden der ostafrikanischen Bevölkerung die großer Traditionen der frühen antikolonialen Bestrebungen streitig gemacht. Während des 1. Weltkrieges, so heißt es beispielsweise, dachten die Ostafrikaner nicht an Freiheit, sondern blieben dem deutschen Imperialismus "treu und anhänglich ergeben, unterstützten die Kriegsführung und brachten ihr Opfer."8 Die Erringung der politischen Unabhängigkeit der afrikanischen Völker war nach Auffassung der Ideologen der Bonner Expansionspolitik nicht das Verdienst des antikolonialen Kampfes sondern des Kolonialismus, ohne den "die große Emanzipationsbewegung gar nicht Q begonnen" hätte. 7 "Was ist der tiefere historische Sinn der europäischen Expansion, um die es hier geht?" Auf diese selbst gestellte Frage antwortet Wilhelm Röpkes Der Kolonialismus war "sozusagen eine 'List der Geschichte' ... Wenn heute europäische Lebensformen, Gesellschaftssitten und Wirtschaftsmethoden bis in die letzten Winkel der Erde vordringen, so wäre das ohne das vielgeschmähte 'Kolo10 nialzeitalter' unvorstellbar." In einer solchen Konzeption bleibt dann freilich für die frühen antikolonialen Bestrebungen kein Platz mehr. Die zunehmende Aggressivität gegen die nationale Befreiungsbewegung auch auf dem Gebiet der Ideologie zeigt ebenso wie andere Tatsachen, daß die neue Bundesregierung die alte Politik der Expansion mit neuem Etikett verstärkt fortsetzt. Dennoch hat die angeblich neue Politik, der "neue Kurs", der in der Bundesrepublik verkündet wurde, auch auf dem Festland Tansanias, dem traditionellen Expansionsgebiet der deutschen Monopole, gewisse Illusionen über den westdeutschen Neokolonialismus hervorgerufen und hemmt damit objektiv den Kampf der nationalen Kräfte gegen den Imperialismus und für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt. Dennoch fehlt es auch gerade in Tanganjika nicht an historischen Erfahrungen über die Gefährlichkeit der westdeutschen Expansionspolitik unter dem Deckmantel einer "neuen Politik". Die Verkündung eines veränderten Kurses ist in der Ostafrika-Politik des deutschen Imperialismus nicht ntu. Die Veränderung der Form unter Beibehaltung des Inhalts der Politik als spezifische

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Reaktion auf aufkommende antlkoloni&le Bestrebungen unter den Bedingungen monopolistischer Ausbeutungsmethoden führt uns zurück zu den Ursprüngen des antikolonialen Kampfps in Tanganjjika und zu den Bemühungen des deutschen Imperialismus, diese bereits in ihren ersten Anfängen zu unterdrücken. Dutzende von bewaffneten Kämpfen waren die Beaktion der kolonialunterdrückten Bevölkerung Ostafrikas auf die erste, extensive Phase der monopolistischen Kolonialausbeutung, die massenhafte Anwendung von Zwangsarbeit und die gewaltsamen SteuereIntreibungen. Die Illusion der deutschen Kolonialbehörden, daß "sich die verschiedenen Stämme zu einem gemeinsamen Unternehmen nicht zusammentun", weil "die Gegensätze in Sprache, Sitten und Gebräuchen noch viel zu schroff sind und die einzelnen Stämme sich selbst feindlich gegenüberstehen"''''zerstob im Maji-Maji-Aufstand 1905/06. In kurzer Zeit dehnte sich allein im Süden der ostafrikanischen Kolonie der Volkskrieg über ein Gebiet von mehr als o 200 000 km aus. Entgegen der von den Kolonialherren verbreiteten Version griff die Erhebung auch auf den Norden der Kolonie über. Am bewaffneten Kampf beteiligte sich unter anderem auch ein Teil der Wanjamwesi. Gleichzeitig stattfindende Aufstände im Norden der Kolonie hatten lose Verbindung zu den Freiheitskämpfern im Süden. Der groBe Aufstand markierte eine neue Etappe in Tanganjika, unabhängig von der Tatsache seiner Niederlage und unabhängig von seiner Zielrichtung. Der größte und am besten organisierte Aufstand unter deutscher Kolonialherrschaft übersprang erstmals die lokalen Schranken traditioneller Machtausübung und erfaßte große Teile des durch die damaligen Kolonialgrenzen bestimmten Territoriums, das sich größtenteils Jahrzehnte später als Pestland von Tansania zum "nationalen" Gebiet der Vereinigten Bepublik Tansania entwickelte. Die eigentliche antikoloniale Tradition Tanganjjikas wird durch den großen Aufstand begründet, der die Herausbildung einer frühen nationalen antikolonialen Bewegung durch das allmähliche Hinüberwachsen des stammesgebundenen Antikolonialismus in das Erwachen einer nationalen antikolonialen Bewegung einleitete. Der große Aufstand in Tanganjika war Anlaß für den deutschen Imperialismus, seine Ostafrika-Politik erstmals zu revidieren. Im Jahre 1906 proklamierte der neuemannte Leiter des kaiserlichen Kolonialamtes, Bernhard Dernburg, einen "neuen Kurs", eine angeblich vernünftigere Kolonialpolitik. Dernburg bezeichnete es als "auch eine Hauptaufgabe vom wirtschaftlichen Standpunkt, daß es zu kriegerischen Zusammenstößen zwischen Weiß und Schwarz nicht kommen

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darf..."12 Denn "jede Sorte von Unruhen bedeutet", so erläuterte er 1907/ "abgesehen von den Kosten, die der Heimat daraus erwachsen können, eine schwere wirtschaftliche Schädigung des Landes selbst... Es Ist bei Aufständen Iii Kolonien der anscheinend paradoxe Zustand vorhanden, da_8 die Vernichtung des Feindes, also der Zweck aller Kriegsführung, zur eigenen dauernden Schädigung führt, während der •1 *5 Verlust an eigenen Truppen (Sudanesen) weniger Ins Gewicht fällt." 7 Ohne in diesem Zusammenhang alle Aspekte - vor allem die wesentlichen und sich schon vor 1906 herausbildenden Entwicklungstendenzen in Deutschland selbst - dieser "neuen Politik" hier darlegen zu können, die als "fürsorglich und fortschrittlich" und im Interesse Afrikas ausgegeben wurde, so kann festgestellt werden, daß sie auch dem Ziel diente, der antikolonialen Bewegung Tanganjikas entgegenzutreten. Unter dem Deckmantel des "neuen Kurses" gingen die deutschen Kolonialbehörden weiter mit rücksichtsloser Brutalität gegen die antikolonialen Bestrebungen in Tangan j ika vor und steigerten durch Ubergang zu intensiven monopolistischen Ausbeutungsmethoden, die den Interessen des ausgereiften Imperialismus entsprachen, die ökonomische Ausbeutung des Landes. Eine der neuen Maßnahmen in Ostafrika war, wie es Bernhard Dern-14 bürg empfohlen hatte, "die Entwicklung der Eingeborenenwirtschaft", indem man die Häuptlinge ermutigte, Plantagen mit Exportkulturen zu bewirtschaften und Lohnarbeit anzuwenden. Es ist gewiß nicht zufällig, daß heute in der Bundesrepublik der Staatssekretär des Kaiserreiches, Bernhard Dernburg, als Vorbild für eine Afrika-Politik gilt, zu der man sich stolz bekennen darf. In einem redaktionellen Beitrag schrieb die Monatszeitschrift "Neues Afrika": "Eine Feststellung kann man zum 100. Geburtstag von Bernhard Dernburg gleichwohl treffen: Es ist nicht zuletzt sein Verdienst, wenn das Urteil über die deutsche Kolonialpolitik im Ganzen nicht ungünstig ausfällt. Schenkt man westdeutschen Geschichtsdarstellungen Glauben, dann entzog der "neue Kurs" in der Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus den antikolonialen Bestrebungen in Ostafrika wirkungsvoll den Boden. Seit 1906 seien keinerlei "Unruhen" mehr in der Kolonie aufgetreten und in "Fischer Weltgeschichte" wird die "neue Ära" mit den Worten kommentiert: "Erst in der Zeit nach 1906, als die eigentliche Besitzergreifung in den afrikanischen Kolonien abgeschlossen war, zeigten sich die eigentlichen Fähigkeiten und Leistungen der deutsch«! Kolonialverwaltung." Damit wird bewußt die

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Vorstellung erweckt, als ob in den Jahren 1906 bis 1918 die Kontinuität und damit die historische Gesetzmäßigkeit des Befreiungskampfes in Ostafrika unterbrochen worden sei. Das Gegenteil ist der Fall. In diesen Jahren begünstigten soziale Veränderungen die Herausbildung neuer Trieb- u n d Führungskräfte im antikolonialen K a m p f . ^ Unter den zahlreichen Stämmen Tanganjikas festigte sich mit der freiwilligen oder erzwungenen Lohnarbeit auf Plantagen und Bergwerken, beim Eisenbahnbau und beim Transportwesen das Zusammengehörigkeitsgefühl gegen die ausländischen Unterdrücker und ihre afrikanischen Helfershelfer. Die neuen sozialen Kräfte ließen schon damals in ihren Konturen die später entfaltete nationale antikoloniale Bewegung vorausahnen. Diejenigen Häuptlinge, die unbeirrt den Kampf gegen die deutsche Kolonialmacht fortsetzten, vertraten immer weniger die engbegrenzten Interessen ihres Häuptlingstums, sondern stützten sich auf die neuen sozialen Kräfte und wurden deren Sprachrohr. Diese Entwicklungstendenzen wurden dadurch gefördert, daß sich die Küstensprache Kisuaheli in den folgenden Jahren als einheitliche Sprache Tanganjikas weiter ausbreitete. Vielfältigere Kampfformen bildeten sich heraus. Der bewaffnete Aufstand trat in diesen Jahren in den Hintergrund, was nicht bedeutet, daß keine bewaffneten Aktionen mehr stattgefunden hätten. Dagegen erhielt die ideologische Auseinandersetzung mit der kolonialen Fremdherrschaft ein starkes Gewicht. Die sich herausbildende frühe antikoloniale Ideologie wurde damals wesentlich von der islamischen Propaganda gefördert. Welchen Umfang die antikoloniale Agitation annahm, ist aus dem Vorschlag des Bezirksamtes Lindl aus dem Jahre 1910 zu ersehen, alle der antikolonialen Agitation "Verdächtigen" nach der Südsee zu deportieren. "Einen anderen Ausweg kann ich ... nicht finden. Der aggressive Islam schlägt in jede Kerbe nach, die er bei der ... mehr oder weniger unzufriedenen Masse entdeckt und findet so die Möglichkeit, unter seinem Kommando auch die sich früher feindlich gegenüberstehenden Volksstämme zu einigen zum Kampf gegen das Höchststehende u n d Nächststehende, die >10 christliche Hegierungsgewalt." 1 Daß die antikolonialen Bestrebungen in der Periode der Neuformierung der Kräfte und des Übergangs zu vielfältigeren Kampfformen zu- statt abnahmen, ist indirekt auch aus den verhängten Strafen der Kolonialherren wegen "Verbrechen und Vergehen gegen Staat und öffentliche Ordnung (Hochverrat), Landesverrat, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Verbrechen und Vergehen wider die öffentliche

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Ordnung" usw. zu schließen. Von 1908 bis 1912 erhöhten sich die registrierten Strafurteile der deutschen Kolonialbehörden gegen Bewohner Ostafrikas von jährlich 1J 004-,auf jährlich 17 44-3•^^ Der antikoloniale Kampf erreichte unter deutscher Kolonialherrschaft seinen Höhepunkt im 1. Weltkrieg. Recht drastisch schilderte ein deutscher Kriegsteilnehmer, daß die Bewohner Tanganjikas, ganz gleich, in welchem Gebiet sie zu Hause waren, "auch nicht das Schwarze unter den Fingernägeln für ihre weißen Herren übrig hatten und sie dieselben lieber heut als morgen zu allen Teufeln PO

wünschten.. Auf das Ausmaß der bewaffneten Aktionen während der Kriegsjähre wird in den Quellen immer wieder hingewiesen. Die gegen den deutschen Imperialismus gerichteten Aktionen der Bevölkerung breiteten sich über den größten Teil des Kolonialgebietes aus und reichten von allgemeinen Unruhen oder feindlicher Haltung der Bevölkerung über einzelne bewaffnete Widerstandsaktionen bis ?1 zu Aufstandsversuchen und Aufständen. Die antikolonialen Aktionen begannen bei Kriegsausbruch, flachten vorübergehend ab und erreichten 1916 im Aufstand auf dem Makonde-Hochland im Süden der Kolonie ihren Höhepunkt. Der Freiheitskampf in Ostafrika war Bestandteil der gesamten afrikanischen Befreiungsbewegung, die während des 1. Weltkrieges durch die im Keim nationale antikoloniale Bewegung Tanganjikas einen großen Aufschwung nahm und den Widerstandskampf auf eine höhere Stufe hob. Der antikoloniale Kampf der ostafrikanischen Bevölkerung trug zur endgültigen Niederlage des deutschen Imperialismus in Ostafrika bei und bedeutete damit einen nicht zu übersehenden Schritt vorwärts auf dem Weg zur Formierung einer mehr und mehr nationalen antikolonialen Bewegung, obwohl damals in Tanganjika noch keine dauerhafte, alle Gruppen umfassende politische Organisation mit eindeutig festgelegtem Ziel und Programm bestand. Es entstanden damit Voraussetzungen, die schließlich Jahrzehnte später zum Sieg der nationalen Befreiungsbewegung beitrugen. Damals wurden Grundlagen gelegt, die heute den Übergang zu einer Nation erleichtern. Die Veränderung des politischen Bewußtseins in den Kriegsjahren geht aus der amtlichen Berichterstattung unfreiwillig hervor: "Bei der Wiederbesetzung der Kolonie ist von der Möglichkeit auszugehen, daß infolge des Krieges die Eingeborenen sich ihrer Kraft erst bewußt geworden sind, daß von pp der 'schwar1 zen Gefahr jetzt erst wirklich geredet werden kann." Mit dem Namen Bernhard Dernburgs war auch die sogenannte "neue Ostafrika-Politik" in der Periode der "demokratischen" Traditionen

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des deutschen Imperialismus verbunden, nämlich unter der Regierung der Weimarer Republik:. Diese "neue" Politik begann mit dem ausgesprochenen Ziel, die Ergebnisse des 1. Weltkrieges zu revidieren und endete mit der gesetzmäßigen Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus im 2. Weltkrieg. Demburg verfaßte 1926 ein "streng vertrauliches" Memorandum, in dem er darlegte, wie der deutsche Imperialismus mit einer Art "neuer" Politik leichter und sicherer die kolonialen Expansionsziele verwirklichen könne.^ Demburg wandte sich - in erstaunlicher Parallelität mit gewissen Zügen der "neuen" Politik in der Bundesrepublik - gegen die Geschäftigkeit der kolonialen Revanchistenverbände, weil "die Förderung von Kolonialgedanken ... nicht im Wege einer großen und öffentlichen Propaganda erfolgen kann" und "im Ausland vermeidbare Wider24

stände wecken könnte". "Zu einer solchen weiter ausschauenden Politik bedarf es in Deutschland Ruhe und Disziplin... Es ist daher durchaus zu begrüßen, wenn die Kolonialsektion des Auswärtigen Amtes versucht, ein Gegengewicht gegen den Kolonialchauvinismus in Form einer Spitzenorganisation zu schaffen, mit deren Hilfe dann im gegebenen lloment die erforderliche Volksmeinung mobilisiert werden kann. Die historischen Erfahrungen zeigen, daß Immer dann, wenn der deutsche Imperialismus eine "neue" Politik verkündet, die Völker besonders wachsam sein müssen. Die demagogischen Ankündigungen von Veränderungen im Kurs des deutschen Imperialismus geschehen nicht im Interesse der Völker, sondern widerspiegeln die besondere Aggressivität des deutschen Monopolkapitals. Andererseits zeigt die Geschichte, daß es auch dem deutschen Imperialismus nicht gelang, den gesellschaftlichen Fortschritt aufzuhalten.26 Die neuen Tendenzen in Ideologie und Politik des westdeutschen Neokolonialismus zeugen von der gewachsenen Aggressivität der westdeutschen Monopole. In andauernder Unfähigkeit, die Kräfte real einzuschätzen, greift der deutsche Imperialismus auch zur verschärften ideologischen Expansion, um der Theorie von der "Formierten Gesellschaft" unter geschickter Ausnutzung von Erscheinungen des gegenwärtigen Klassenkampfes auch Eingang in die jungen Nationalstaaten zu verschaffen und zur Stärkung der Positionen der in Afrika vorhandenen und im Entstehen begriffenen Elemente einer administrativen, bürokratischen Bourgeoisie aktiv mitzuwirken. "Neue" Afrikapolitik und die als "neue Ostpolitik" bekannt gewordene Bonner Variante der Aufweichungstaktik gegenüber den sozia-

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listischen Ländern haben gemeinsame konzeptionelle Grundlagen. Die Völker Afrikas und. das Staatsvolk der DDR haben im Bonner Herrschaftssystem, das mit seinen Expansionqplänen den Veitfrieden bedroht, einen gemeinsamen Feind, dessen Bändigung im Interesse der europäischen Sicherheit ebenso notwendig ist wie für den Kampf gegen alle Formen des Neokolonialismus. Zur aggressiven Ideologie als psychologisches Kampfmittel des westdeutschen Neokolonialismus gehört auch die Negierung oder Verfälschung der antikolonialen Traditionen der afrikanischen Völker. Deshalb ist es in der gegenwärtigen Situation notwendiger denn je, vor allem die großen Traditionen des antiimperialistischen Kampfes der afrikanischen Völker gegen den deutschen Imperialismus herauszustellen .

S u m m a r y The ideological conflict with the national and social aspirations of Tansania is also being fought out in the field of anti-colonial traditions. West German propagandists are trying to persuade progressive forces to make ideological concessions to the imperialist policy of expansion by falsifying historical facts. The historical roots of the African liberation movement are being suppressed or their motives falsified. The increasing aggressiveness of the opposition to the national liberation movement in the ideological field as well shows, as do other facts, that the new Federal Government continues to pursue the old policy of expansion under a new guise. In Tansania, too, there is no lack of historical experience to warn of the dangerous nature of West Germany's expansionist policy disguised as a "new policy".

Anmerkungen 1

Vgl. Einzelheiten zur Bonner Politik der E1 nmischung in die inneren Angelegenheiten Tansanias unter dem Vorwand der Alleinvertretungsanmaüung bei H. Loth: Griff nach Ostafrika, Berlin 1968, vor allem auf den Seiten 127 ff. und 15* ff.

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Vgl. Die Entwicklungsländer und unsere Hilfe. Zur Entwicklungs-

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H. loth politik der CDU-CSU. Presse- und Informationsdienste der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands. Bonn 1961, S. 52. Im Februar 1967 verabschiedete das Parlament ¿a6 Gesetz über die Verstaatlichung einer Reihe von Banken, Betrieben und Handelshäusern. Die ersten Reaktionen in Bonn auf die in der Arusha-Deklaration angekündigten Maßnahmen waren erwartungsgemäß negativ. Verschleiert, aber deutlich genug, wird Tansania vor "übereilten Schritten" gewarnt und der Abzug des ausländischen Kapitals angedroht. Vgl. Außenwirtschaftsdienst des BetriebsBeraters mit Recht der Europäischen Gemeinschaften. Heidelberg. 13. Jg. Nr. 5, S. 38. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn, vom 29.12.1966. H.-J. Wischnewski: Aufgaben und Möglichkeiten einer deutschen Afrikapolitik. In: Internationales Afrika-Forum. München. 3. Jg. 1967, S. 146. Basis für die auslandspropagandistische Tätigkeit der Bonner Regierung in Tansania selbst ist das sogenannte Goethe-Institut, das aus der berüchtigten "Deutschen Akademie" in München hervorging und unter Hitler eine der vielen Ausbildungsstätten der "fünften Kolonne" war. W. Drascher: In: Afrika und seine Probleme. Zürich/Stuttgart 1965, S. 93Vgl. J.O.W. Scheel: Tanganyika und Sansibar. Bonn 1959, S. 31, und L. Boell: Die Operationen in Ost-Afrika. Hamburg 1951, S. 431. M. Schmitt: Die befreite Welt. Baden-Baden 1962, S. 386. w. Röpke: In: Afrika und seine Probleme. Zürich/Stuttgart 1965, s. 1 5 5 . RKA. Nr. 700. Bl. 129. Bericht aus Udjidji vom 17.4.1905. (Deutsches Zentralarchiv Potsdam). RKA. Nr. 300. Bl. 37. Ebenda. RKA. Nr. 120. Bl. 1 5 . Neues Afrika. Monatsschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur im neuen Afrika. Heft 9« September 1965, S. 284. Fischer Weltgeschichte. Bd. 29- Frankfurt/M. 1965, S. 325. vgl. auch S. 193. Allerdings darf man die sozialen Veränderungen nicht überschätzen. Neue Klassen und Schichten entstanden erst in ihren aller-

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ersten Anfängen. Das trifft auch auf das Kolonialproletariat zu. In DOA waren 1912/13 tätig: beim Bahnbau und beim Bahnbetrieb 20 5 5 0 Arbeiter in Pflänzlings- und Industriebetrieben 92 892 " im Bergbau 2 966 " Vgl. RKA. Nr. 124. Bl.

205.

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RKA. Nr. 702. Bl. 52 ff. Bericht des Bezirksamtes Lindl vom 16.2.1910 an den Gouverneur von DOA.

19

Hie Zahlen sind zusammengestellt aus den offiziellen Strafverzeichnissen. RKA 5076. Bl. 30ff. M. Decher: Afrikanisches und Allzu-Afrikanisches. Leipzig 1932,

20 21

22 23 24 25 26

s. 271/272.

Vgl. K. Heibigs Legende und Wahrheit. Der erste Weltkrieg in Ostafrika und die Solle des Generals Lettow-Vorbeck. Leipzig 1967 (Diss.), S. 164 ff. RKA. Nr. 875. Bl. 50 ff. Bericht des Hauptmanns Linde-Suden vom 20.3.1918 an das Reichskolonialamt. RKA. Nr. 6739. Bl. 163 ff. RKA. Nr. 6739- Bl. 148 ff. RKA. Nr. 6739« Bl. 163 ff. Die besten Vertreter der deutschen Arbeiterklasse haben dies schon der traditionellen deutschen Kolonialpolitik vorausgesagt. Als im Jahre 1906 Bernhard Dernburg einen "neuen Kurs" in der deutschen Kolonialpolitik proklamierte, entgegnete ihm August Bebel im Reichstag: "Sie werden die Eisenbahn und Sie werden das Militär künftig haben, und trotzdem wird es an Aufständen nicht fehlen." Bebel am 1.12.1906, Stenografische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, I. Session. 1. Sessionsabschnitt 1903/04. Bd. 4. Berlin 1904, S. 4061.

Adolf

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Ursprünge nationaler Bestrebungen in Kamerun Durch Zufall erfuhr W.I. Lenin im Jahre 1916 von einem Ereignis in Kamerun zu Beginn des imperialistischen Weltkrieges, das auf eine Widerstandsbewegung hindeutete: von der Hinrichtung des Dualaoberhäuptlings Rudolf Manga Bell wegen angeblichen Hochverrats. Lenin vermutete, daß es sich um prinzipiell ähnliche Vorgänge handeln p müsse, wie sie aus Asien (z.B. Singapur und Annam) bekannt waren. Er wertete sie als "Flammen nationaler Aufstände", als Ausdruck der Krise des gesamten Imperialismus. Jede Krise aber, erklärte er, "räumt mit dem Konventionellen auf, sprengt die äußeren Hüllen, fegt das Überlebte hinweg, legt die tieferen Triebfedern und Kräfte bloß".5 In der diesem Ereignis vorausgegangenen Geschichte des Kameruner Antikolonialismus können wir einige qualitativ bestimmbare Entwicklungsstufen voneinander unterscheiden. In seinen Anfängen besaß der Antikolonialismus in Kamerun - im Unterschied etwa zum antikolonialen Abwehrkampf in Ägypten am Ende des 19. Jh. - keine nationale Komponente. Die Bevölkerung dieser von den Großmächten abgegrenzten Kolonie war ethnisch viel zu sehr zerrissen, in kleine soziale Gemeinschaften bzw. Territorialstaaten aufgesplittert. Die frühen Widerstandsaktionen der 80er und 90er Jahre des 19. Jh. könnte man vielleicht als einen Stammes- oder gruppengebundenen Antikolonialismus charakterisieren. Ihr Ziel bestand in der Verteidigung der Unabhängigkeit und Souveränität, mitunter zugleich ökonomischer Sonderinteressen, die gegebenenfalls an eine bestimmte Position des Stammes im Zwischenhandel gebunden waren, gegen die anrückenden deutschen Kolonialeroberer. Prokoloniale Verhaltensweisen beschränkten sich auf eine Minderheit. Auf die Besetzung der einzelnen Stammösterritorien und der Territorialstaaten im Norden, für die die deutsche Kolonialmacht fast zwei Jahrzehnte lang Krieg führte, folgte eine zweite Entwicklungsstufe des Antikolonialismus. Im Landesmaßstab überschnitt sie sich mit der ersten, bedingt durch den zeitlichen Ablauf der Kolonisierung. Das erste Beispiel dieser Art bildete die Dezembererhebung 1884 in Duala.^ Das hervorstechendste Charakteristikum dieser Etap-

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pe des Antikolonialismus sehe ich darin, daß eine Tendenz des Zurückkehrenwollens zu den vorkolonialen Verhältnissen vorherrscht. Man versuchte, das neue Regime von sich "wieder abzuschütteln oder sich seinem Zugriff, der Repressalien und Bedrückung durch Abwanderung bzw. Flucht zu entziehen. Die Motive sind mannigfaltig. Eine gewisse Analogie zu dieser Entwicklungsstufe des stammesgebundenen Antikolonialismus bietet die Geschichte des Kampfes der zwangsrekrutierten oder kontraktgebundenen Träger u n d Plantagenarbeiter gegen die kolonialkapitalistische Ausbeutung und Versklavung. Unter Trägern und Plantagenarbeitern war der passive Widerstand weit verbreitet, die Flucht zurück in den Schoß des Stammes ein häufig gewagtes Unternehmen einzelner.^ Die spontane Radikalität, die Versuche, die Kolonisierung rückgängig zu machen, überlebten sich mit der Festigung des imperialistischen Kolonialregimes. Gewonnene Einsichten und Erfahrungen widersprachen ihnen. Auf dem nächsthöheren Niveau ihrer Entwicklung richteten sich die antikolonialen Aktionen gezielter gegen das am meisten Bedrückende, gegen das, worin der Kolonialismus seinen jeweils schärfsten Ausdruck fand: die Zwangsarbeit, die Aushebungen, die Steuern, die sadistischen Ausschreitungen, die rücksichtslose Ausbeutung, die Willkür. Es war ein mit friedlichen, notfalls auch mit gewaltsamen Mitteln u n d Methoden geführter Kampf um ein einigermaßen erträgliches Leben oder auch um das Überleben, um die Gewährleistung des kreatürlichen Daseins. Hingewiesen sei hier beispielsweise auf die Ende 1899 ausgebrochenen Aufstände einer Reihe Pangwestämme Südkameruns, die durch die Arbeiterzwangsrekrutierung und die Praktiken der Handelsgesellschaften ausgelöst worden sind. Die Aufstandswelle von 1904/05 war ebenfalls vorwiegend durch Übergriffe der Kaufleute und der Arbeiteranwerber verursacht.® In anderen Fällen beschränkte sich der Widerstand auf Proteste. In Bamum beispielsweise beklagte die einflußreiche Mutter des Königs (Sultans) Joja einem Vertreter der Kolonialmacht gegenüber die durch das Vorgehen der Gesellschaft in Nordwest-Kamerun eingerissenen Verhältnisse. Sie machte auf die Auswirkungen für die Haltung der Bamum zur Kolonialmacht aufmerkn

sam und verlangte entschieden Abhilfe. Auch hierzu gibt es außerhalb der Stämme Parallelen. Den erwähnten Verhaltensweisen entsprachen im Bereich der großkapitalistischen Plantagenwirtschaft die mehrfachen Bittzüge von Arbeiterkolonnen der Bibundi-Pflanzung im Jahre 1900 zum Gouverneur u n d Be-

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zirksamtmann. Sie beschwerten sich über Mißhandlungen, unzureichende Verpflegung und ungenügende medizinische Betreuung. In den folgenden Jahren kam es unter Plahtagenarbeitera und Trägern zu einzelO nen Lohnkämpfen. Für diese Stufe des Antikolonialismus ist mithin eine spontane, kritische Reflexion unerträglicher Kolonialzustände in der Beschwerde oder dem Protest typisch. Aus einer derartigen Protesthaltung konnten gewisse progressive Idealvorstellungen u n d Ideen erwachsen. Sie wurden zunächst unter einem kleinen Teil der Bevölkerung ideologisch wirksam. Wie mir Dr. Peter Sebald über seine noch nicht publiziertem Forschungen zur Geschichte Togos mitteilte, entzündete sich unter den Einwohnern Lomes das politisch^reformistische Denken am Vergleich der in dieser deutschen Kolonie herrschenden Verhältnisse mit denen in den Hauptstädten Nigerias und der Goldküste, wo die Rechtsstellung der Afrikaner günstiger, das Schul- und Medizinalwesen besser ausgebaut Q waren. Infolge der kritischen Gegenüberstellung büßte das deutsche Kolonialregime in den Augen derjenigen, die auch das wesensgleiche, aber etwas anders geartete britische Kolonialregime kannten, den Nimbus der Unabänderlichkeit ein. Die Ergebnisse ihrer Überlegungen faßten die Einwohner Lomes in Petitionen zusammen, in denen 10 sie die Beseitigung bestimmter Mißstände u n d Reformen forderten. Eine Parallele dazu bietet in Kamerun die Geschichte Dualas. Solange die deutschen Kolonialhandelsunternehmer und die Behörden der Häuptlings- und Händleroligarchie des Stammes einen Anteil am gewinnbringenden Zwischenhandel beließen, waren die Angehörigen dieser Schicht bemüht, diejenigen Stammesmitglieder, die die deutsche Herrschaft ablehnten, im Zaume zu halten. Das änderte sich, als die Zwischenhändler in der zweiten Hälfte der 90er Jahre unter Bruch des 1884 geschlossenen Schutzvertrages gewaltsam ausgeschaltet und die Häuptlinge persönlich materiell geschädigt wurden. Die Folge war eine allmähliche Desillusionierung und eine zunehmende Unzufriedenheit. Sie mündete in eine 1899 beginnende Petitionsbewegung, deren Höhepunkte in die Jahre 1902 und 1905 fielen. Auf die Entwicklung des Petitionismus wirkten mehrere Faktoren ein. Zu erwähnen sind die Schulbildung, die ein beschränkter Personenkreis genoß, der häufigere Kontakt mit Angehörigen anderer afrikanischer Stämme und Völker, das Einströmen von Nachrichten über politische Geschehnisse in anderen Teilen des Kontinents, geistige u n d bis zu einem gewissen Grade ideologische Anregungen und Einflüsse aus Euro-

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pa, gewonnen in der Begegnung mit fortschrittlichen, humanistischen Uenschen, durch England- oder Deutschlandreisen einzelner Stammesangehöriger und durch die Berührung mit der christlichen Religion. Datei spielte die Tätigkeit der baptistischen Eigenkirche (Native Baptists) eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die von den Häuptlingen der Bell- und Akwaduala gesondert formulierten und den Kolonialbehörden vorgetragenen Petitionen waren im Grunde gemäfiigt reformistisch. Sie enthielten die spezifischen Wünsche der Häuptlinge für einen modus vivendi. Aber gleichzeitig richteten sie sich gegen Merkmale des kolonialen Alltags und besaBen insofern einen allgemeinen Ausgangspunkt und dadurch historischpolitische Bedeutung für die Entwicklung des stammesgebundenen Antikolonialismus. Sie verlief nicht gradlinig. Im Gegenteil, fortwährende gezielte terroristische Repressalien, nicht zuletzt gegen einen Teil der Bittsteller, und unverminderte Unterdrückung schüchterten die Duala wieder ein und führten zeitweilig zu einem Abflauen der Opposition. AnlaB und Ausgangspunkt für die Entfaltung einer auf den Traditionen des Petitionismus fußenden Widerstandsbewegung war ein vom Gouvernement und Reichskolonialamt gefaßter Beschluß, demzufolge die Stammesangehörigen von ihrem Grund und Boden in der Stadt Duala enteignet und von ihren bisherigen Wohnsitzen vertrieben werden sollten, um das Stadtgebiet für die Kolonialisten freizumachen und dann eine weitestgehende, auch siedlungsräumlich verstandene Rassentrennung einzuleiten. Die möglichst vollständige Trennung der Afrikaner von den Europäern hielten die Urheber des Plans aus unwissenschaftlichen rassentheoretischen und politischen Erwägungen im Interesse des Kolonialismus für dringend erforderlich. Sie wollten auf diese Weise der Gefahr einer Reformbewegung, insbesondere "dem Ansetzen und Entwickeln zur sozialen und politischen Gleichstellung" entgehen, die sie für andöre Kolonialreiche konstatierten. 1 1 Als die Duala Ende November 1911 den ersten formellen Protest erhoben und baten, von den gegen sie beabsichtigten neuen GewaltmaBnahmen abzusehen, war ihnen noch nicht bewußt, in welch unüberbrückbarem Gegensatz sich ihre Interessen zu den Zielen der Kolonialmacht befanden. Sie beriefen sich auf den Vertrag von 1884, der ihnen ihr Recht an dem ihnen gehörenden Grund und Boden garantierte. So aussichtslos eine Rechtsforderung gegenüber einer unumschränkten imperialistischen Kolonialherrschaft auch Immer sein mochte,

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so war sie doch für die Bewußtseinsentwicklung alles andere als bedeutungslos* Denn in den anschließenden Auseinandersetzungen wurde sich der Stamm einiger seiner Interessen bewußter und rückte erstmalig seit 1884 wieder eng zusammen. Im zunächst petitionistischen und daneben passiven Widerstand gegen die Enteignung machten sie sich Gedanken über die Zukunft ihrer Stadt und Kameruns, die über den ursprünglichen Anlaß weit hinaus gingen. Ihre Gedanken und Vorstellungen über einen Weg nach vorn brachten sie am umfassendsten und klarsten in einer an den Gouverneur adressierten Beschwerdeschrift vom 20. Februar 1913 zum Ausdruck. Mit dem Enteignungsbeschluß und seiner Verwirklichung, hieß es darin, mache sich die Regierung des Bruches des Vertrages von 1884 schuldig. Daraus ergäbe sich für sie die Frage, "ob nicht nach dem Geschehenen von dem Vertrage zurückzutreten ... wäre". Der Sinn des Vertrages bestünde darin, daß die Schutzmacht dem Protektorat "die grundlegenden Kenntnisse vom Wesen des Staates" vermittle und "die Volkswirtschaft der Eingeborenen" fördere, daß sie "die Anerkennung der persönlichen Freiheit und der Gleichheit aller Menschen herbeiführe und dann die völlige bürgerliche Emanzipation durch den Staat erfolge: 'aus Untertanen werden Staatsbürger'." Diese ihrem Wesen nach bürgerlich-demokratischen Ideen konkretisierten sie In Minimalforderungens 1. Bildung von unabhängigen, selbständigen Stadtgemeinden nach modernen Grundsätzen, 2. Förderung der produktiven Tätigkeit der Afrikaner, damit eine Volkswirtschaft entstehen könne. 3» Dl-8 Verwirklichung der beiden genannten Maßnahmen werde eine Ubergangsstufe in der Wirtschaft und Denkweise des Volkes einleiten, nach der in der Wirtschaftsweise ein System Eingang zu finden beginnen könnte, in dem jeder die seinem Können, seinen Fähigkeiten am meisten entsprechende Arbeit übernehmen könne. Reichskolonialamt, Gouvernement und Bezirksamt wiesen alle Petitionen ohne Einschränkung zurück, sie verlangten Unterwerfung und versuchten, diese zu erzwingen. Wider alle Erwartungen der Kolonialbehörden fügten sich die Duala nicht in die im Dezember 1913 beginnende praktische Durchführung der Enteignung und der Aussiedlung. Ihr bisheriger Widerstand hatte Immerhin eine Verzögerung der Maßnahmen bewirkt. Andererseits wurden sie sich immer mehr dessen bewußt, daß sie, sofern sie im Widerstand auf sich allein gestellt blieben, unterliegen mußten. In dieser Situation reifte ihr Entschluß, Verbündete zu suchen. Den Umständen nach konnten sie Verbündete nur in den Reihen der deutschen Arbeiterbewegung und un-

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ter den.wenigen entschiedenen bürgerlichen Demokraten in Deutschland sowie in Kamerun selbst finden. Und sie beschlossen beides zu tun. Zu Besprechungen mit ihrem Anwalt und der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion sowie, um das beiderseitige Vorgehen aufeinander abzustimmen, sandten sie Adolf Ngoso Din illegal nach Deutschland. Gemeinsam mit ihrem Anwalt Dr. Halpert, der sozialdemokratischen Partei und einzelnen sie unterstützenden Demokraten erreichten sie für kurze Zeit eine Unterbrechung des Enteignungsverfahrens. Dann aber schlugen die Kolonial- und Polizeibehörden zu und schnitten die von den Duala geknüpften Verbindungen durch Verhaftung und Auslieferung Ngoso Dins wegen angeblichen Hochverrats ab. Diese Maßnahme wurde durch das inkonsequente Verhalten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion begünstigt. Ihre revisionistisch und reformistisch eingestellte Mehrheit übte von einer Position der prinzipiellen Bejahung der imperialistischen Kolonialpolitik aus Kritik an der Art und Weise der Enteignung, nicht aber an der Politik als solcher. Sie sah in dem plumpen Vorgehen der Behörden eine Gefährdung ihrer Bemühungen, die Partei auf einen Kurs der Unterstützung der imperialistischen Kolonialpolitik festzulegen, und plädierte daher für eine geschicktere Politik, die politische Verwicklungen vermeiden sollte. Später, bei Kriegsausbruch, als Manga Bell und Ngoso Din hingerichtet wurden, gingen die Revisionisten im Interesse der Burgfriedenspolitik mit Stillschweigen über den in Kamerun verübten Mord hinweg. Rosa Luxemburg deckte diesen direkten Verrat an der Arbeiterbewegung und an den kolonial unterdrückten Duala in ihrer als "Junius-Broschüre" bekanntgewordenen Schrift "Die Krise der Sozialdemokratie" auf. 1 ^ Doch zurück nach Kamerun. Dort bemühten sich die Duala unter Führung Rudolf Manga Beils, eine umfassendere Widerstandbewegung zu organisieren. Ihr konsequenter Widerstand wirkte zunächst auf die benachbarten Bassa beispielgebend, die sich nun ebenfalls unter ausdrücklicher Berufung auf Manga Bell dem kolonialen Landraüb widersetzten. Zu verschiedenen Stämmen entsandten die Duala Botschafter, so zu dem bekannten Balihäuptling Fonjonge, zu Häuptling Tata von Bagam und König Joja von Bamum. In vielen anderen Orten bis hoch nach Ngaundere im Norden waren die im Binnenland in großer Zahl als Kanzleiangestellte, Handwerker, Vorarbeiter, Firmenangestellte oder Händler tätigen Angehörigen des Dualastammes Träger der Agitation. Soweit die Quellen darüber Auskunft geben, läßt

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sich sagen, daß sie die Kenntnis über die Vorgänge in Duala, ihre in der Auseinandersetzung mit der Kolonialmacht gewonnenen Erfahrungen verbreiteten und verallgemeinerten, indem sie sie als einen für die deutsche Kamerunpolitik charakteristischen Präzedenzfall erläuterten und zum gemeinsamen Widerstand aufriefen. Eines der Hauptargumente war: "Wenn die Deutschen mit uns fertig sind, d.h. i4 uns unser Land abgenommen haben, werdet ihr daran kommen." Man kann daher wohl sagen, da£ hier zum ersten Mal in der Geschichte Kameruns der Versuch unternommen worden ist, eine -umfassendere, potentiell sogar nationale Widerstandsbewegung zu organisieren, damit, wie Ngo^o Din von Deutschland aus an Manga Bell schrieb, "das 1S ganze Land erlöst wird von diesem Jammer". ' Rudolf Manga Bell wurde im Mai 1914- verhaftet. Bei Kriegsausbruch wurden er und Ngoso Din hingerichtet. Aber ihr Wirken hat mit dazu beigetragen, daß die deutschen Kolonialtruppen beim Herannahen der britischen und französischen Expeditionskorps in großen Teilen der Kolonie den Krieg wie in Feindesland führen mußten. Weit verbreitet war die Hoffnung, die Engländer kämen als Befreier, jetzt würde es besser werden, ihnen müsse daher im Kampf gegen die deutschen Kolonialherren geholfen werden. Diese Ansicht bestimmte in vielen Fällen - nicht nur in Duala - die praktische Haltung der Bevölkerung während der Kampfhandlungen. Dieses Phänomen erinnert bis zu einem gewissen Grade an die Hoffnungen, die, wie Dr. Horst Krüger darlegte, Vertreter der indischen Nationalbewegung in den deutschen Imperialismus setzten. Die hiermit zusammenhängenden Fragen der Geschichte Kameruns bedürfen noch der Untersuchung. Aber zweifellos ist in der mit den Namen von Rudolf Manga Bell und Adolf Ngoso Din verbundenen Widerstandsbewegung der Duala, auf die sich die eingangs zitierte Äußerung Lenins bezieht, einer der Ursprünge der nationalen Befreiungsbewegung Kameruns zu sehen. Die Entwicklung dieser Bewegung läßt erkennen, daß sie sich unmittelbar am Vorabend der allgemeinen Krise des Kapitalismus jener Stufe der afrikanischen antikolonialen Bewegungen näherte, die nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland und dem Ende des 1. Weltkrieges etwa durch die Nationalkongresse in anderen afrikanischen Kolonialgebieten gekennzeichnet ist. All dies legt den Schluß nahe, dau der anfänglich stammesgebundene Antikolonialismus eine der Quellen sein könnte, aus denen unter Bedingungen wie in Kamerun der Nationalismus erwuchs.

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S u m m a r y The emergence of the earliest forms of national aspirations was preceded in the history of Cameroon by a long and complicated development of the resistance of ethnically heterogeneous and from a social point of view - multi-structured population to the German colonial regime. Resistance developed on the basis of the pre-colonial tribal or state-territorial organisation and the new social structures which arose as a result of colonialism. Different stages of development, each with its own characteristic features, can be distinguished in the conflict with colonialism. This is shown in relation to anti-colonialism bound up with the tribes. Amongst the Duala this led to the first attempt, at the end of Germany's thirty-year colonial rule, to organise a broader, potentially even national resistance movement. This leads to the conclusion that one of the sources of national aspirations can be sought in what was at first tribal anti-colonialism.

Anmerkrungen 1 2 3 4

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Siehe W.I. Lenin: Über die Junius-Broschüre. Ins Werke. Bd. 22, S. 318. Siehe W.I. Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung. In: Werke. Bd. 22, S. 362. Ebenda, S. 361. Siehe H.P. Jaeck: Die deutsche Annexion. In: Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien. Bd. 1. Hrsg. von H. Stoecker. Berlin 1960, S. 71 ff• Siehe A. Eüger: Die Entstehung und Lage der Arbeiterklasse unter dem deutschen Kolonialregime in Kamerun (1895-1905)• Ins Ebenda, S. 234 ff. Siehe ebenda, S. 239Deutsches Zentralarchiv Potsdam. Reichskolonialamt Nr. 4291. Bl. 74 f.: Bericht des Stationsbeamten Stoessel über die Zustände in Bamum. Fumbam. September 1906. - Ebenda. Bl. 76 ff.: Protokoll über eine Beschwerde von Frau Na, Mutter des Königs Joja, über das Verhalten des Faktoreileiters der Gesellschaft Nordwest-Kamerun Schulz. Fumbam. 17*9.1906. Siehe A. Rüger, a.a.O., S. 237 ff. Hierzu vgl. die Beobachtungen des linksbürgerlichen Journalisten

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Hellmut von Gerlach, die er 1912 während eines Aufenthalts in Nigeria und Kamerun machte. Siehe H. von Gerlach; Was Afrika mich lehrte. In: Die Weltbühne. Hrsg. von S. Jacobsohn. XXI.Jg. Charlottenburg 1925. Nr. 2 ff. Eine Petition an Kolonialstaatssekretär Solf vom 12.10.1913 hat Manfred Nußbaum in seiner Schrift: Togo - eine Musterkolonie? Berlin 1962, S. 109 ff., veröffentlicht. Deutsches Zentralarchiv Potsdam. Reichskolonialamt Nr. 4427. Bl. 13 ff.: Denkschrift über die Forderung für Erwerb von Eingeborenenland in Duala und Verlegung eines Teils der Eingeborenen von Duala zum Etat 1911, verfaßt von Bezirksamtmann Böhm im Auftrage von Gouverneur Seitz. In: Deutsches .Zentralarchiv Potsdam. Reichskolonialamt Nr. 4428. R* Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie (Junius-Broschüre). In: Ausgewählte Reden und Schriften. I. Bd. Berlin 1951, S.329, 358. - Rosa Luxemburg hat die Schrift im April 1915 während der Haft geschrieben, sie wurde im Frühjahr 1916 in Zürich veröffentlicht. Deutsches Zentralarchiv Potsdam. Reichskolonialaat Nr. 3991* Bl. 6 ff.: Bericht des Bezirksamtmannes von Duala Wieneke über das Verhalten der Duala-Bevölkerung während der ersten Kriegszeit. Herisau. 24.6.1916. Ebenda Nr. 4430. Bl. 288: Ngoso Din an Rudolf Manga Bell. 21.3.1914.

Ruth

D e u t s c h l a n d

Zu einigen Besonderheiten des nationalen Befreiungskampfes ir Südwestafrika nach dem 2. Weltkrieg Südwestafrika, einst Ziel und Ausbeutungsobjekt des deutschen Kolonialismus und heute annektiert durch die rassistische Regierung in Südafrika, ist seit mehr als 20 Jahren Gegenstand jährlicher Debatten und unzähliger Resolutionen der Vereinten Nationen. Zur Diskussion standen und stehen neben vielen anderen Fragen das völkerrechtswidrige Verhalten der südafrikanischen Regierung gegenüber Südwestafrika, das 1949 in der de facto-Annexion des Landes gipfelte, sowie die ökonomische und soziale Lage und die politische Rechtlosigkeit der einheimischen Bevölkerung des Landes als Folge der von Südafrika betriebenen Kolonialpolitik. Die Südafrikanische Regierung widersetzte sich indes nicht nur hartnäckig allen Empfehlungen und Beschlüssen der UNO, sondern scheute auch keine Mittel und Anstrengungen, um die Weltöffentlichkeit über die wahre Situation in Südwestafrika hinwegzutäuschen. Während des fast 6 Jahre dauernden Prozesses gegen die Südafrikanische Republik am Internationalen Gerichtshof in Den Haag hatten zahllose von der Regierung Südafrikas als "sachkundige Zeugen" bezeichnete Personen sowie eine 3000 Seiten umfassende südafrikanische Eingabe an das Gericht die Aufgabe, die vorgebrachte Anklage zu widerlegen. Eine völlige Zufriedenheit der afrikanischen Bevölkerung, Harmonie zwischen Schwarz und Weiß sowie ein angebliches Fehlen jeder politischen Opposition waren dabei gern benutzte "Argumente" sogenannter Experten. Diese Behauptungen sind jedoch bewußte Fälschungen im Interesse des südafrikanischen Kolonialismus. Die jüngste Geschichte Südwestafrikas bezeugt das Gegenteil dieser Behauptungen, denn der Kampf gegen nationale Unterdrückung und koloniale Ausbeutung ist so alt wie der Kolonialismus in diesem Lande selbst und trat nach dem 2. Weltkrieg in eine höhere Phase seiner Entwicklung ein.1 Dabei haben wir es jedoch in Südwestafrika, besonders in den letzten zwei Jahrzehnten, im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern mit einer langsameren Evolution und einer Reihe Besonderheiten des Befreiungskampfes zu tun, die lediglich die Kompliziertheit einer sich auch in Südwestafrika vollziehenden gesetzmäßigen historischen Entwicklung bestätigen.

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Bekanntlich vollzog sich der Zerfall des imperialistischen Kolonialsystems in Afrika im Gegensatz zum asiatischen Kontinent relativ spät und ungleichmäßig. Die Gründe hierfür sind in den sehr unterschiedlichen sozialökonomischen Entwicklungsstufen zu suchen, die die einzelnen objektiven Voraussetzungen des nationalen Befreiungskampfes bilden. Hinzu kommen unterschiedliche nationale Gegebenheiten-, bestimmt durch die Stärke des Gegners, die geographische Lage des kolonialabhängigen Lahdes und anderes mehr. Angewandt auf Südwestafrika mu£ vermerkt werden, daß die Besonderheiten des Befreiungskampfes in diesem Lande, seine langsame Entwicklung, in einer außerordentlichen sozialökonomischen Rückständigkeit, in der die einheimische Bevölkerung gehalten wurde und wird, sowie in dem Zusammenwirken einer Reihe äußerer Faktoren, die dem Kolonialismus im Lande zu besonderer Stärke verhalfen und der Organisierung des Widerstandkampfes große Hindernisse in den Weg legten, begründet sind. Eine Untersuchung über die inneren Ursachen dieser Entwicklung zeigt, daß der südafrikanische Kolonialismus alles unternahm, um mit Hilfe der verschiedensten wirtschaftlichen und politischen Mittel den natürlichen gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß in Südwestafrika aufzuhalten und eine historisch längst überholte Produktionsweise mit ihren politischen und sozialen Instituten zu konservieren. Eine Analyse der sozialen Struktur und des sozialökonomischen ühtwicklungsstandes der einheimischen Bevölkerung Südwestafrikas ergibt folgendes Bild: Die afrikanische Bevölkerung Südwestafrikas gliedert sich ihrer sozialen Struktur nach in zwei große Gruppen, die Bauern und Lohnarbeiter. Die soziale Struktur wird vervollständigt durch eine zahlenmäßig kleine und ökonomisch bedeutungslose Gruppe, die als Mittelschicht bezeichnet werden kann. Von einer einheimischen nationalen Bourgeoisie kann noch nicht gesprochen werden. Ihrer Entstehung steht nicht nur ein allgemein vorherrschender äußerst niedriger Lebensstandard der Afrikaner im Wege, sondern auch noch eine Anzahl künstlich geschaffener Barrieren, die einer Kapitalanhäufung und der Gründung afrikanischer Betriebe kaum zu überwindende Schranken setzen. Die afrikanischen Bauern bilden wie überall in den Ländern Afrikas die zahlenmäßig größte soziale Gruppe. Jedoch im Gegensatz zu anderen ehemaligen Kolonien, in denen bereits größere Teile der Bauernschaft mit der kapitalistischen Produktionsweise in Berührung

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kamen, leben die südwestafrikanisehen Bauern in streng überwachten Reservaten unter Bedingungen größter Abgeschlossenheit und unvorstellbarer gesellschaftlicher Rückständigkeit. Im Dorf ist die Naturalwirtschaft vorherrschend. Die Ware - Geld - Beziehungen sind über erste Entwicklungsphasen nicht hinausgekommen -rnd spielen eine untergeordnete Rolle. Und selbst dort, wo sie ins 'Oorf eingedrungen sind, sind sie oftmals durch den Zwang bedingt, Steuern zu zahlen. Die soziale Differenzierung hat im afrikanischen Dorf Südwestp afrikas noch keine ausgeprägten Formen angenommen. Die Herausbildung größerer Vermögensunterschiede innerhalb der Bauernschaft wird nicht nur durch die allgemein vorherrschende Armut im Dorf hinausgezögert, sondern auch durch gesetzliche Maßnahmen gegen die Herausbildung selbständiger Warenproduzenten. In dieser Richtung wirkt z.B. das für Afrikaner geltende Verbot, Land als Privateigentum zu besitzen - eine Verordnung übrigens, die bereits im Jahre 1907 von der deutschen Kolonialverwaltung erlassen und von den südafrikanischen Behörden beibehalten wurde.^ Zur afrikanischen Bevölkerung gehört, wie bereits erwähnt, eine zahlenmäßig schwache Mittelschicht, die sich aus kleinen Ladenund Caffebesitzern, Transportunternehmern, Handwerkern und einigen wenigen Bauern zusammensetzt, die eine überdurchschnittliche Menge an Vieh besitzt und sich in ihrer sozialen Lage etwas von der Masse der übrigen Bauernschaft abhebt. Zur Mittelschicht gehört auch die junge afrikanische Intelligenz, die aufgrund der Erziehungsund Bildungspolitik der südafrikanischen Regierung gegenüber den Afrikanern zahlenmäßig äußerst schwach ist und in dieser Hinsicht noch nicht einmal einem Vergleich mit anderen ehemaligen Kolonien - die portugiesischen ausgenommen - standhält. Eine letzte Gruppe der afrikanischen Gesellschaft, die aufgrund ihrer sozialökonomischen Lage bedingt zur Mittelschicht gerechnet werden kann, sind die Häuptlinge des Landes. Viele von ihnen verdanken Amt und Stellung den Maßnahmen des südafrikanischen Kolonialismus zur Konservierung der Stammesordnung. In Südwestafrika lassen sich unter den Häuptlingen aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Stellung zwei Hauptgruppen unterscheiden. Eine dieser Gruppen ist vor allem in den Reservaten des Nordens anzutreffen und verfügt, begünstigt durch das Prinzip der "indirekten" Kolonialherrschaft in diesem Teil des Landes, noch über wesentliche Machtbefugnisse über ihre Stammesgenossen. Diese Häuptlinge ziehen außerdem aus ihrem Bündnis mit den Kolonialisten nicht geringe wirtschaftliche Vorteile. Die

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zweite Gruppe unter den Häuptlingen lebt vorwiegend in den zentralen und südlichen Gebieten des Landes, der sogenannten Folizeizone, in der das Prinzip der direkten Kolonialherrschaft praktiziert wird. Sie unterscheiden sich in ihrer wirtschaftlichen u n d politischen läge nicht oder nur wenig von den übrigen Stammesgenossen u n d sind gleich ihnen ihres Landes, Viehs u n d ihrer Freiheit beraubt worden. Aufgrund mangelnder oder fehlender statistischer Angaben können keine detaillierten Aussagen über die wirtschaftliche Lage der Mittelschicht gemacht werden. Es ist jedoch bezeichnend, daß ihr Einkommen offiziell als zu gering betrachtet wird, als daß es staatlicherseits versteuert werden könnte. So liegt die Zahl der afrikanischen Einkommenssteuerzahler im ganzen lande nur zwischen 30 und 40 Personen bei einer Bevölkerung v o n rund 1/2 Hill. Afrikanern.^ Diese Tatsache läßt trotz unzureichenden Quellenmaterials noch eine weitere Schlußfolgerung zu: eine reguläre Ausbeutung afrikanischer Lohnarbeit durch Afrikaner kann bisher kaum Verbreitung gefunden haben. Die bedeutendste soziale Schicht und zahlenmäßig stärkste Gruppe nach der Bauernschaft sind die afrikanischen Lohnarbeiter. Der in Lohnarbeit stehende Teil der Bevölkerung, der in seiner personellen Zusammensetzung jedoch ständig wechselt, beträgt rund ein Viertel der Gesamtzahl aller Afrikaner.^ Dieser für afrikanische Verhältnisse relativ hohe Prozentsatz liegt in der Politik der südafrikanischen Regierung begründet, den Afrikanern als einzige wirtschaftliche Betätigung die Arbeit für die Europäer zuzubilligen. Wichtiger als die zahlenmäßige Stärke der Lohnarbeiter ist jedoch ihr sozialökonomischer Entwicklungsstand, d.h. der Grad der Konsolidierung der Arbeiter zur Klasse. Eine Untersuchung dieser Frage ergibt, daß die endgültige Formierung einer afrikanischen Arbeiterklasse in Südwestafrika noch bevorsteht. Die Anwendung des Kontraktarbeitssystems und der damit erzwungenen Wanderarbeit,'' der hohe Anteil der Landarbeiter und die niedrige Zahl eines mit der GroßQ

industrie verbundenen Stammproletariats prägen nicht nur die Struktur des südwestafrikanischen Proletariats, sondern beeinflussen und verzögern auch seine Herausbildung zu einer selbständigen Klasse. Hinzu kommt, daß sich die afrikanischen Arbeiter fast ohne Ausnahme aus unqualifizierten Kräften zusammensetzen, da ihnen ihr unverschuldeter Bildungsmangel, vor allem aber unzählige ApartheidBestimmungen den Zugang zu qualifizierter Arbeit verschließen.

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Uber die gesellschaftliche Entwicklungsstufe, die die afrikanische Bevölkerung Südwestafrikas erreicht hat, kann zusammenfassend gesagt werden, daß ein Fortbestehen des Häuptlingswesens, eine fast gleichermaßen verarmte Bauernschaft, eine kleine Mittelschicht ohne nennenswerte Ansätze zur Herausbildung einer nationalen Bourgeoisie, eine zahlenmäßig äußerst schwache einheimische Intelligenz und eine in ihrem Formierungsprozeß stark behinderte Arbeiterklasse das Fazit der rund fünfzigjährigen südafrikanischen Herrschaft über Südwestafrika sind. Das Fehlen notwendiger wirtschaftlicher Voraussetzungen für die Schaffung eines eigenen afrikanischen Marktes, ergänzt durch eine bis ins Detail ausgeklügelte SegregationspoliQ

,

tik,7 hemmten die Entwicklung der einheimischen Bevölkerung Südwestafrikas zu einer Nation in viel größerem Maße, als das in anderen afrikanischen Ländern der Fall war. Reservatssystem, Beschränkungen in der Bewegungsfreiheit der ohnehin durch die Weite des Territoriums und mangelnde Kommunikationsmöglichkeiten stark voneinander isolierten Menschengruppen sowie Überwachung jeder poli10

tischen Tätigkeit der Afrikaner erschwerten die Entfaltung einer modernen Befreiungsbewegung. Zu den inneren Ursachen, die der Entwicklung der nationalen Befreiungsbewegung ihren Stempel aufdrückten, gesellt sich eine Seihe äußerer Faktoren, die den Kampf der afrikanischen Bevölkerung ebenfalls behinderten und behindern. Die zahlenmäßig schwache, territorial weit verstreute einheimische Bevölkerung Südwestafrikas sieht sich in dem südafrikanischen Kolonialismus einem Feind gegenüber, dessen ökonomische, militärische und nicht zuletzt politische Stärke von Jahr zu Jahr zunahm und noch zunimmt. Von diesem Feind trennen die Südwestafrikaner weder geographische noch staatliche Grenzen. Ihr Tand befindet sich mit dem der Kolonialherren nicht nur in unmittelbarer Nachbarschaft, sondern wurde faktisch annek11 tiert und inkorporiert. Hinzu kommt, daß Südwestafrika schon von den deutschen Kolonialherren als "Land des weißen Mannes" geplant war. Der Erbe des deutschen Imperialismus im Süden Afrikas verfolgte diese Politik konsequent weiter, so daß in dem Land heute eine relativ starke europäische Bevölkerungsgruppe vertreten ist, die neben politischen 12 auch wichtige wirtschaftliche Machtpositionen in ihren Händen hält. In ihr hat sich die südafrikanische Kolonialbourgeoisie in Südwestafrika einen überaus zuverlässigen Verbündeten geschaffen, der gleich ihr jeglicher politischer Regung der

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Afrikaner feindlich gegenübersteht. Von den Europäern Südwestafrikas tritt niemand als Verbündeter der einheimischen Bevölkerung auf. In welchem Maße die Erlangung der nationalen Unabhängigkeit durch das Vorhandensein eines starken weißen Elementes in den Kolonien behindert wird, hat sich in Afrika in solchen Ländern wie Kenia, Kord-, besonders aber Südrhodesien bereits deutlich gezeigt. Bei der Beurteilung des Befreiungskampfes in Südwestafrika muß man weiterhin beachten, da£ sich ein kolonialabhängiges Volk heute nicht mehr nur "seinem" Kolonialherrn gegenüber sieht, sondern einer ganzen Front imperialistischer Staaten, die auf der Grundlage des kollektiven Kolonialismus aus der politischen Rechtlosigkeit unterdrückter Völker riesige Profite ziehen. In Südwestafrika sind es vor allem amerikanische und englische Monopole,1^ mit denen die Befreiungsbewegung zusätzlich konfrontiert wird. Ihre Regierungen stützen offen oder versteckt den südafrikanischen Kolonialismus und sind an der Beibehaltung des status quo in Südwestafrika interessiert.1^ Ein weiterer Paktor, der sich besonders seit 1960 erschwerend auf die Befreiungsbewegung Südwestafrikas auswirkt, ergab sich aus der Formierung eines Blocks ultrareaktionärer Kräfte im Süden Afrikas, der von den weiBen Minderheiten Südafrikas, Südrhodesiens und den portugiesischen Kolonialisten gebildet wird und dessen erklärtes Ziel darin besteht, die Befreiungsbewegung am Zambesi zum Stehen zu bringen und "eine Bastion für den Kampf gegen die NachbarVölker zu schaffen." J Das Bündnis des südafrikanischen Kolonialismus mit Portugal und Südrhodesien verstärkte außerdem die ohnehin bestehende geographische Isolierung der einheimischen Bevölkerung Südwestafrikas von der Außenwelt durch eine koloniale Barriere im Norden des Tandes und erschwerte jede Verbindung der südwestafrikanischen Befreiungsbewegung mit dem Kampf der anderen Völker Afrikas. Als in Angola der revolutionäre Widerstandskampf begann, unternahm die südafrikanische Regierung alles, um ein Überspringen des Funkens auf Südwestafrika zu verhindern. Die Nordgrenze Ovambolands gleicht heute einer militärischen Befestigung, und im Innern des Gebietes zeugen neuerrichtete Polizeistationen von einer verschärften Kontrolle der südafrikanischen Regierung über die einheimische Bevölkerung. Diese inneren und äußeren Ursachen erschwerten und erschweren den Kampf des südwestafrikanischen Volkes, verhindern können sie

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ihn jedoch nicht. Sie bedingten aber, wie bereits erwähnt, eine Reihe Besonderheiten im Befreiungskampf, die sich wie folgt zusammenfassen lassen. 1. Die südafrikanische Kolonialherrschaft hat, wie bereits erwähnt, die Herausbildung einer nationalen afrikanischen Bourgeoisie verhindert und der Entwicklung einer Mittelschicht, so auch der Intelligenz, Schranken gesetzt. Dadurch wurde die Entwicklung einer modernen Führungsschicht, die, solange die Arbeiter noch nicht als Hegemon in der Bewegung wirken können, an die Spitze des Kampfes um nationale Unabhängigkeit treten könnte, verzögert. Entsprechend dem Entwicklungsstand, den die Bevölkerung Südwestafrikas Ende des 2. Weltkrieges erreicht hatte, lag die Führung des Widerstandskampfes gegen den südafrikanischen Kolonialismus lange Zeit in den Händen der Häuptlinge. Sie waren es, die die Initiative zu neuem antikolonialen Kampf ergriffen, sich an seine Spitze stellten und selbst dann noch über einen nicht unbedeutenden Einfluß verfügten, als die Führung der Bewegung bereits an andere Kräfte übergegangen war. 2. Die Bauern Südwestafrikas sind aufgrund der erzwungenen gesellschaftlichen Rückständigkeit, ihrer Abgeschlossenheit und territorialen Zerrissenheit, ihrer Bindung an ein altes überlebtes System gesellschaftlicher Autorität und der brutalen Kolonialherrschaft politisch noch relativ passiv. Im Gegensatz zu anderen afrikanischen Ländern, in denen die Bauern als Massenbasis des nationalen Befreiungskampfes als zahlenmäßig stärkste Triebkraft bedeutenden Einfluß auf den Verlauf und Erfolg des Kampfes nahmen, sind die einheimischen südwestafrikanischen Bauern mit Ausnahme einiger weniger spontaner Widerstandsaktionen als gesellschaftliche Kraft kaum in Erscheinung getreten. 3. Die afrikanischen Arbeiter des Landes, die sich aufgrund der kurz skizzierten südafrikanischen "Arbeiterpolitik" noch nicht als Klasse konstituieren konnten, werden in ihrer politischen Entwicklung gehemmt. Aus diesem Grunde sind sie auch noch nicht in der Lage, ihrer Rolle als der entscheidenden Triebkraft des nationalen Befreiungskampfes in vollem Umfange gerecht zu werden. Politische Organisationen, vor allem eine gesamtnationale politische Bewegung, entstanden in Südwestafrika relativ spät, nämlich erst zu jenem Zeitpunkt, als Länder wie Ghana und Guinea bereits ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten und Afrika am Vorabend seines bedeutenden Jahres 1960 stand. Später als in anderen afrikanischen Ländern wurde ebenfalls die erste und einzige afrikanische Gewerk-

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schaft im Lande, die nur von kurzer Lebensdauer war, gegründet. 5. Die ersten südwestafrikanischen politischen Organisationen wurden jedoch nicht im Lande selbst, sondern in der Südafrikanischen Union von dort lebenden Südwestafrikanern gegründet. Ihre politische Wirksamkeit beschränkte sich daher vorwiegend auf die außerhalb Südwestafrikas lebenden Landsleute. Obwohl die beiden gesamtnationalen Organisationen (SWANU und SWAPO) in Südwestafrika (Windhoek) gegründet wurden, mußten ihre Führer bald darauf emigrieren, so daß auch diese Organisationen bis zum heutigen Tage in erster Linie vom Ausland aus geleitet werden. 6. Die langjährige Führung der Häuptlinge im Befreiungskampf hatte zur Folge, ddß dieser Kampf vorwiegend auf tribalistischer Grundlage geführt wurde. Dieser den Erfolg der Befreiungsbewegung außerordentlich hemmende Faktor konnte auch von den politischen Organisationen, die schließlich die politische Führung des Kampfes übernahmen, bis auf den heutigen Tag nicht gänzlich überwunden werden. Dadurch ergaben sich große Schwierigkeiten für die Organisierung einheitlicher Massenaktionen und die Bildung einer antikolonialen und antiimperialistischen nationalen Einheitsfront. 7. Die Übertragung des Mandatsstatus (der durch den Mandatar gröblichst verletzt worden ist) auf Südwestafrika nach dem 1. Weltkrieg, die Schwierigkeiten für eine politische Tätigkeit in Südwestafrika und die Führung des Kampfes durch die Häuptlinge bewirkten, daß der Befreiungskampf lange Jahre nicht im Lande selbst geführt, sondern alle Hoffnungen auf eine Lösung des Südwestafrika-Problems in die UNO gesetzt wurden, und die Bemühungen, die Verhältnisse in Südwestafrika zu ändern, sich in der UNO und ihren Ausschüssen konzentrierten. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Entwicklung des nationalen Befreiungskampfes in Südwestafrika von einer Reihe Besonderheiten geprägt wird, die der Entfaltung einer breiten antikolonialen Bewegung äußerst hinderlich waren und es zum großen Teil auch heute sind. Große Anstrengungen der nationalen Befreiungsorganisationen des Landes werden noch vonnöten sein, um die Folgen einer reaktionären Kolonialpolitik und anderer negativer Faktoren zu überwinden und den Kampf um nationale Unabhängigkeit zum siegreichen Ende zu führen.

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S u m m a r y Southwest Africa's long-drawn-out struggle for liberation has been particularly slow and complicated. The absences of a national bourgeoisie, of workers organised as a class and of a national intelligentsia, and the low level of development of the rural population limited the socio-economic possibilities of an organised liberation struggle. Leadership was for a long time in the hands of the tribal chiefs. The peasants have so far remained relatively passive politically, nor are the African workers yet fully equal to their role as the decisive moving force in the national liberation struggle, sirtce as a result of South Africa's "labour policy" they have not been able to form themselves into a class. On the other hand, the colonial power South Africa was able to strengthen its position by integrating the country into its own territory, obstructing its socio-economic development, setting up a bloc of ultra-reactionairy forces round South Africa, drawing the white population into its system of rule, and assuring itself of the support of the imperialist powers for its entire policy. Under these exceptionally difficult conditions the liberation movement had to be organised outside the country, tribal differences had to be overcome and attention at first concentrated on the help of UNO. Tremendous efforts have still to be made to lead the national liberation movement to victory.

Anmerkungen 1

Die nationale Befreiungsbewegung Südwestafrikas nach dem 2. Weltkrieg kann bedingt in drei Etappen unterteilt werden. Die erste Etappe des Kampfes (1945/46-194-9) wurde durch die Initiative fortschrittlicher Häuptlinge eingeleitet, die in jener Zeit Führer und fast alleinige Träger der Bewegung waren. Ihre grundsätzliche politische Forderung - die Beendigung der südafrikanischen Herrschaft über Südwestafrika und die Unterstellung des Landes unter das Treuhandsystem der Vereinten Nationen - wollten sie ausschließlich mit friedlichen und passiven Methoden, vor allem mit Hilfe von Petitionen an die UNO, durchsetzen. Die zweite Etappe der nationalen. Befreiungsbewegung 1949-1958 w a r gekennzeichnet durch politische Initiative und Aktionen verschie-

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dener sozialer Schichten der einheimischen Bevölkerung Südwestafrikas. Das fand vor allem seinen Ausdruck in der Bildung und Tätigkeit der ersten Gewerkschaft des Landes, die 1949 in Lüderitz als Zweig der südafrikanischen Food and Canning Workers Union gegründet wurde, sowie erster nationaler politischer Organisationen, wie der aus dem South West Africa Student Body hervorgegangenen South West Africa Progressive Association (1955) und des Ovamboland People1sCongress (1958)- Das Kräfteverhältnis innerhalb der südwestafrikanischen Befreiungsbewegung verlagerte sich in jener Zeit immer mehr zugunsten der Vertreter jener Organisationen, ohne daß die Häuptlinge jedoch ihre führende Rolle bereits eingebüßt hätten. Die vorerst letzte Etappe nahm 1959 mit der Entstehung und Entwicklung gesamtnationaler Organisationen, der South West Africa National Union und der South West Africa Peoples Organization (1960), ihren Anfang. Diese Organisationen, von denen die SWAPO heute die bedeutendste und einflußreichste ist, haben die Häuptlinge aus ihrer Führungsrolle verdrängt und die Initiative zu tatsächlichen Massenauktionen ergriffen. Sie fordern die sofortige nationale Unabhängigkeit Südwestafrikas und eine progressive Umgestaltung des'Landes auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet. (Siehe dazu: R. Deutschland: Die Lage der afrikanischen Bevölkerung Südwestafrikas und ihr Kampf um nationale Befreiung (194-5-1959). Phil.Diss. Berlin 1967. Kap. 3). 2 3 4

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Siehe dazu u.a. G. Wagner: Some Aspects of the Herero Life. In: African Studies. Johannesburg 1954. Vol. 13. No. 3-4, S. 123. Siehe U.N. Trusteeship Council. Third Session. Supplement. Lake Success. New lork 1948. Document T 175. Im Jahre 1957 hatte Südwestafrikä seinen ersten afrikanischen Hochschulabsolventen (die Mischlingsbevölkerung ausgenommen). Zur gleichen Zeit gab es nur noch sechs weitere Afrikaner, die an südafrikanischen und anderen Universitäten studierten. Nicht ein einziger von ihnen erhielt ein staatliches Stipendium. (Siehe Africa South. Cape Town 1957. Vol. 2. No. 1, S. 71). Siehe U.N. Report of the Committee on South West Africa to the General Assembly. Ninth Session. Supplement No. 14 (A/2666). New York 1954, S. 22; R. First: South West Africa. Harmondsworth, Middlesex 1963, S. 162. Siehe Union of South Africa. Report by the Government of the Union of South Africa on the Administration of South West Africa

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for the year 1946. Pretoria 1947, S. 23; Africa. Handbook to the Continent. Ed. by C. Legum. London 1961, S. 368; U.N. Implications of the Activities of the Mining Industry and the other International Companies having Interests in South West Africa. Report of the Special Committee on the Situation with regard to the Implementation of the Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples. New York 1965, S. 139 (Im folgenden zitiert: Implications of the Activities) . 7

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Der prozentuale Anteil der Kontrakt-Wanderarbeiter an der Gesamtzahl aller afrikanischen Lohnarbeiter liegt in Südwestafrika bei 18 % (Siehe U.N. Implications of the Activities, S.139). Im Jahre 1951 betrug die Zahl der afrikanischen Landarbeiter rund 42 000, der Arbeiter in den Städten (vor allem Hafenarbeiter, Arbeiter der Fischindustrie, Beschäftigte im Handel sowie Hausangestellte) rund 13 000 und in den Bergwerken rund 7 500 Personen. (Siehe L. Jablockov: Polozenie naselenija Jugo-Zapadnoj Afriki. Ins Akademika nauk. Kratkie soobscenija instituta narodov Azii. No. 48. Afrikanskij sbornik. Moskau 1961, S.19)« Die reaktionäre Apartheid-Gesetzgebung der südafrikanischen Regierung erstreckt sich in vollem Maße auch auf Südwestafrika. In Südwestafrika werden auch alle südafrikanischen politischen Knebelungsgesetze, deren Reihe 1950 durch das berüchtigte AntiKommunismus-Gese'tz eingeleitet wurde, zur Anwendung gebracht. Die südafrikanische Regierung vollzog die de-facto-Annexion Südwestafrikas im Jahre 1949 mit Hilfe eines Verfassungsgesetzes, das das Land faktisch als 5- Provinz in das Gebiet der Union eingliederte. In den darauffolgenden Jahren wurden Gesetze erlassen, die diesen Aggressionsakt festigten und ausbauten. Schätzungen zufolge umfaßte die Gesamtbevölkerung Südwestafrikas 1960 525 064 Menschen, von denen 73 15^ europäischer Herkunft waren. Die Europäer beherrschen die profitablen landwirtschaftlichen Produktionszweige (vor allem die Karakulzucht) und sind mit ihrem Kapital in der Sphäre des Handels und in der, wenn aucn nur schwach vorhandenen, Verarbeitungs-, Lebensmittel- und Genußmittelindustrie Südwestafrikas vertreten(Siehe E. Czaya: Achse zum Kap. Berlin 1964, S. 95-96). Die mit Abstand bedeutendsten Monopolgesellschaften in Südwestafrika sind die Consolidated Diamond Mines of South West Africa, Ltd., in der das englische Kapital dominiert, und die vor-

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R. Deutschland

wiegend amerikanische Tsumeb Corporation, Ltd. Auf das Konto der ersten kommen 98 % der gesamten Diamantenproduktion Südwestafrikas, mit der das Land in der "Welt an 5- Stelle rangiert. t)ie Tsumeb Corporation besitzt im Lande (Tsumeb) eine der bedeutendsten Erzminen der Welt, in der neben Blei auch Kupfer, Zink und Germanium gewonnen werden. (Siehe Implications of the Activities, S. 34, 36, 69-72). 14 So liegt der Hauptgrund dafür, daß die Vereinten Nationen bisher zu keiner endgültigen positiven Lösung des SüdwestafrikaProblems kommen konnten, in der direkten oder indirekten Schützenhilfe der imperialistischen Großmächte für die Südafrikanische Republik. 15 Siehe E. Konovalov: Problemy osvobozdenija poslednich kolonij v Afrike. In: MeSsdunarodnaja zizn. Moskau 1964. No. 4, S. 48.

C h r i s t i a n

R a c h e l

Die soziale Emanzipation Afrikas in ihrer philosophischen Reflexion Die sozialen Widersprüche der nationalen Befreiungsbewegung in Afrika bilden letztlich die Grundlage der philosophischen Auffassungen und Systeme afrikanischer Politiker. In diesem Sinne bewahrheiten sich die Worte von Karl Marx: "Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau, verschiedener und eigentümlich gestalteter EmpA

findungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen." Dieser ideologische Uberbau besitzt in Afrika eine weitläufige Differenziertheit, welche bis zum heutigen Tage durch den Zerfall des Kolonialsystems, die Auflösung von Elementen der Stammesgesellschaft und die damit verbundene Herausbildung neuer Klassen und Schichten ständig verfeinert wird. Dennoch wirkt dieser Tendenz der sozialen und ideologischen Differenzierung zunehmend die Tendenz der Integration entgegen, die auf der Grundlage der relativen Vereinfachung der Klassengegensätze beinhaltet, daß sich in Afrika einerseits die internationale Monopolbourgeoisie einschließlich ihrer afrikanischen Verbündeten und andererseits alle werktätigen Klassen und Schichten diametral gegenüberstehen, deren Interessengegensätze sich im Kampf zwischen bürgerlicher Ideologie und mar-, xistisch-leninistischer Ideologie ideell reflektieren. Innerhalb dieses ideologischen Kampfes nimmt die Anerkennung oder Leugnung der sozialen Widersprüche als Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung einen zentralen Platz ein, wobei sowohl den frühen kleinbürgerlich-utopischen Konzeptionen als auch den modernen reaktionär-imperialistischen Theorien für eine "bürgerlich-kapitalistische Emanzipation" der afrikanischen Völker und der Menschen afrikanischer Abstammung in aller Welt das gemeinsame Merkmal eigen ist, den objektiv wirkenden Grundwiderspruch der Epoche zwischen Kapitalismus und Sozialismus aus der politischen Theorie auszuklammern und den Widerspruch zwischen privater monopolkapitalistischer Aneignung und dem zunehmenden Grad der Vergesellschaftung der Produktion in seiner historischen Bedeutung herabzumindern.

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Aus diesen Konzeptionen -' wie an den Auffassungen Garveys, Sengbors und den modernen "Sozialismus"-Theorien in Afrika gezeigt werden soll - wird ersichtlich, daß das bürgerliche KlassenInteresse iuch bei Oberwindung des Kolonialismus zum allgemein-menschlichen erhoben und versucht wird, ähnlich Froudhon, Lassalle und Kautsky in Europa, die Obel des Kapitalismus außerhalb seines sozialen und ökonomischen Grundwiderspruches zu überwinden. So entwarf Marcus Garvey bereits 1920 ein visionäres Bild des künftigen Afrikas, in welchem alle sozialen Widersprüche und Ungleichheiten dadurch gelöst werden sollten, daB es seinen "eigenen" p Kapitalismus aufbaue. Seine unhistorischen philosophisch-sozioligischen Grundthesen beinhalten, daß erstens alle "Schwarzafrikaner" Amerika und Suropa ebenso verlassen müßten wie alle Weißen den afrikanischen Kontinent, daß zweitens nur der "ganz schwarze" Afrikaner fähig wäre, Afrika zu bewohnen, zu befreien und zu führen, und daß drittens allein der Kapitalismus - "Why should not Africa give to the world its black Rockefeiler, Bothshild and Henry Ford?'«das für Afrika geeignete ökonomische System und notwendig für den Fortschritt in der Welt sei.' Um seine Theorie zu verwirklichen und den afrikanischen kontinent zu befreien, bildete er die "Erste gesamtafrikanische Regierung", ernannte sich zum "Ersten Präsidenten ganz Afrikas" und gründete die "Universal Negro Improvement Association" ("UNIA"), h. die 1923 über fünf Millionen Mitglieder besaß. Aus den finanziellen Aufwendungen der Mitglieder wurden eine eigene Polizei, ein Gerichtswesen, Schulen, Krankenhäuser sowie eine kapitalistische Schiffahrtsgesellschaft, die "Black Star Line", gegründet. Die "UNIA" begann die große "Back-to-Africa-Campaign" mit der Rückführung der ersten Amerikaner afrikanischer Abstammung nach Liberia.^ Diese utopische Konzeption Garvey's, die den sozialen Widerspruch zwischen den amerikanischen "farbigen" Werktätigen und den afrikanischen Völkern einerseits und der internationalen, besonders der amerikanischen Monopolbourgeoisie andererseits völlig ignorierte, wurde mit einer Handbewegung vom Tisch der Geschichte gefegt, als Garvey 1926 deportiert wurde, seine engsten und gleichzeitig reichsten Mitläufer in Hader gerieten und dadurch die großangelegte Kampagne zerfiel. Wenn mit der Durchführung der Absichten Garvey's auch erstmals die Amerikaner afrikanischer Abstammung in diesem Umfang zu gemeinsamen Aktionen zusammengefaßt wurden, so diente diese im wesentli-

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chen rassistische Konzeption dennoch objektiv den Zielen des Imperialismus. Sie verschleierte seine sozialen Grundprobleme und richtete sich nicht gegen die kapitalistisch-koloniale Ausbeutung überhaupt, sondern ausschließlich gegen die Vorherrschaft einer Hasse über eine andere. Das bedeutete in der Konsequenz die geistige Vorwegnähme der Ziele der heutigen reaktionären Gruppen der afrikanischen Bourgeoisie, sich als schwarze Kapitalisten sin die Stelle der weißen zu setzen. Es ist daher gesetzmäßig, daß der "Garveyismus" oder "Black Zionism" in der modernen bürgerlichen Ideologie in Afrika seine erste Renaissance erfährt, wie es z.B. in den philosophischen Auffassungen Senghors zum Ausdruck kommt. So beinhaltet die Konzeption der "Negritude" von Senghor letztlich, daß Entwicklungsprobleme Afrikas dadurch gelöst werden könnten, daß die "schwarzafrikanische" Rasse sich auf sich und ihre kulturell-geistigen Traditionen besinne, die "Stimme Schwarzafrikas" sich zum legitimen Bestandteil der imaginären "Universalzivilisation" erhebe und der Afrikaner seine "ursprüngliche schwarzafrikanische Afrikanität" wiedergewinne.® Mit diesen auf der Grundlage der Rasse gebildeten Begriffen soll der sozialen Wirklichkeit und dem Klassenkampf im internationalen Maßstab das Mäntelchen des Kampfes der Rassen, der Kulturen, der Zivilisation übergestreift werden, wobei gleichzeitig vorgetäuscht wird, als gäbe es in Afrika "das eine Afrika", "den überall gleichen Afrikaner" oder eine über den sozialen Widersprüchen schwebende "Afrikanität"P Abgesehen davon, daß Senghor weitere Widersprüche - wie den zwischen den "besitzenden" und den "proletarischen" Nationen - konstruiert, um die Anerkennung des Grunclwiderspruches der Epoche zu vermeiden, muß die besondere Gefährlichkeit seiner schwarzrassistischen Konzeption darin gesehen werden, daß sie neben der Verschleierung der gesellschaftlichen Zusammenhänge vor allem auf das einzelne, abstrakte Individuum orientiert, welches in seiner Suche nach der ihm angeblich eigenen "Afr1kanität" der alten bürgerlichen existentiaüstischen Vereinzelung des Individuums anheimfällt o und damit zur politischen Passivität verurteilt wird. Den Kampf der afrikanischen Werktätigen gegen Kolonialismus und Imperialismus für bourgeoise Klasseninteressen auszunutzen, widerspiegelt sich auch in den von Senghor und anderen afrikanischen Politikern verbreiteten neokolonialistischen "Sozialismus"-Konzeptionen. Dabei bedeutet das Anknüpfen an moderne Begriffe, wie den des Sozialismus, keinen Qualitätsumschlag der bürgerlichen Ideolo-

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gie, es dient vielmehr der besseren Verschleierung der wahren Absicht, das Wesen des sozialen Grundwiderspruches der gegenwärtigen Epoche zu leugnen. Dazu seien zwei Theorien erwähnt, die in Afrika weite Verbreitung fanden. Die erste Theorie neokolonialistischen Charakters, die in dieser Stoßrichtung im subsaharischen Afrika verbreitet wird, besteht in der Deklarierung eines "Sozialismus", der von der Leugnung der Existenz antagonistischer Klassen sowohl im präkolonialen, kolonialen als auch gegenwärtigen Afrika ausgeht und in der Konsequenz mit der Ablehnung der Errichtung eines Staatswesens verbunden ist, Q das die Klasseninteressen der Arbeiter und Bauern repräsentiert. Zur Begründung dieser These wird auf die angeblich fehlende soziale Differenzierung im präkolonialen Afrika verwiesen, wobei durchaus aufgetretene Formen eines Kollektiveigentums im Dorf und Elemente der kooperativen Zusammenarbeit von. Stammesmitgliedern in ihrer Bedeutung verabsolutiert werden und gleichzeitig die großen sozialen Veränderungen, die sich in der Kolonialzeit und der nationalen Befreiungsbewegung vollzogen, unberücksichtigt bleiben. Der reaktionäre Gehalt dieser Theorie besteht darin, daß sie die Tatsache zu verschleiern sucht, daß sich die Völker Afrikas gegenwärtig im aktiven Klassenkampf befinden, im Kampf gegen die - wenn auch heterogene - Klasse der imperialistischen Monopolbourgeoisie. Gleichzeitig lenkt sie vom Kampf gegen die mit dem Neokolonialismus kollaborierenden einheimischen reaktionären Kräfte ab, die eine kapitalistische Batwicklung anstreben und erkannt haben, daß ein Staat der nationalen Demokratie, in dem die werktätigen Klassen und Schichten das Rückgrat des Staatsapparates bilden, In jedem Falle das Haupthindernis ihrer Bestrebungen darstellen wird. Eine zweite reaktionäre Theorie, die in Afrika Verbreitung fand, besteht in der Forderung nach Sozialismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des kleinen und mittleren Privateigentums an den Produktionsmitteln. Die Vertreter dieser These befürworten den S9zialismus in den Sphären der Verteilung, des Austausches, in den zwischenstaatlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen, lehnen jedoch die Schaffung des gesellschaftlichen Eigentums an den Pro10 duktionsmitteln ab. Die geistigen Quellen dieser These liegen im kleinbürgerlichen Opportunismus begründet, der den Sozialismus ohne Revolution auf dem Wege der "gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reinertrages" (Lasalle) oder durch Wirtschaftsreformen, die die Eigentumsverhältnisse unberührt lassen (Kautsky), erreichen wollte.

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Gleichzeitig fand diese Theorie in der rechten Sozialdemokratie einiger entwickelter kapitalistischer Länder in Europa Verbreitung, z.B. in der labouristischen "Sozialismus"-Konzeption der Jahre 1945 - 1951» von wo aus sie über die offiziellen Berater und Dienststellen der ehemaligen Kolonialmächte nach Afrika gebracht wurde. Diese Theorie entspricht besonders den Interessen der afrikanischen Bourgeoisie, da sie das Hauptproblem der sozialen Revolution der gegenwärtigen Epoche verschleiert, sie macht für kleinbürgerliche Kreise den Klassenkampf gegen die Monopole erträglich, sie führt zur Lähmung revolutionärer Potenzen und schafft objektiv Grundlagen für ein Bündnis zwischen imperialistischer Monopolbourgeoisie und einheimischen reaktionären Kräften. Anhand dieser Beispiele wird ersichtlich, daß die bürgerliche philosophische Reflexion der sozialen Emanzipationsbestrebungen der Völker Afrikas willkürliche und verzerrte Darstellungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit beinhaltet, die mit der prinzipiellen Nichtanerkennung der sozialen Widersprüche und des Klassenkampfes als der Triebfeder des gesellschaftlichen Fortschritts auch in Afrika verbunden sind. Trotz ihrer vielfältigen Erscheinungsformen besteht die allgemeine Punktion der bourgeoisen Gesellschaftstheorien in Afrika in zunehmendem Maße darin, den Kampf gegen das sich mehr und mehr herausbildende gesamtgesellschaftliche Bewußtsein bei den afrikanischen Volksmassen und ihren progressiven Führerpersönlichkeiten, aas die Erkenntnis des Hauptinhaltes der gegenwärtigen Epoche einschließt, zu führen und theoretisch zu fundieren. Die reaktionären Bemühungen, die moderne bürgerliche Ideologie in Afrika zu verwurzeln, können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich auch auf diesem Kontinent die Tendenz abzeichnet, daß sich der Einfluß der Ideen des Marxismus-Leninismus verstärkt und' in die ideologischen Konzeptionen der progressiven revolutionär-demokratischen Führungskräfte mehr und mehr wesentliche Elemente des Marxismus-Leninismus integriert werden. So beginnen politische Führungskräfte in Tansania, den Standpunkt des "afrikanischen Familien- oder Stammessozialismus" durch die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus zu ersetzen, sprechen Politiker in Guinea, die vor Jahren die Existenz von Klassen im Lande ablehnten, davon, daß "das Regime der 'Nationalen Demokratie 1 eine Etappe von kurzer Dauer sein kann, das später einer Klassenherrschaft Platz machen muß" und daß der Kampf "der Arbei-

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terklasse und des Volkes" gegen Kolonialismus und Imperialismus "notwendigerweise den Charakter eines Klassenkampfes auf internationaler Ebene besitzt" Derartige theoretische Erkenntnisse, die dem Marxismus-Leninismus entstammen, bestimmen in zunehmendem Maße den Charakter der ideologischen Konzeptionen der linken Kräfte progressiver Parteien, wie der PDG Guineas, der MNR in Kongo (B.) und der TANU und ASP Tansanias, die die sozialen Interessen der Arbeiter, kleinen und mittleren Bauern, der kleinen Warenproduzenten in den Städten und der fortschrittlichen Angehörigen der Intelligenz vertreten. Der Einfluß des Marxismus-Leninismus offenbart sich auch in den Ländern Afrikas, die gegenwärtig von kapitalistischen Entwicklungstendenzen beherrscht werden bzw. noch um die Erringung der politischen Unabhängigkeit kämpfen. In diesen Ländern stimulieren marxistisch-leninistische Ideen den Kampf der sich entwickelnden Arbeiterklasse, wovon die von ihnen durchdrungenen Programme der illegalen KP Südafrikas, der kommunistischen Parteien in Lesotho und dem Sudan, der "Socialist Workers's and Farmer's Party" Nigerias sowie der verbotenen "Parti Africain de l'Indépendance" in Senegal zeugen. Gleichzeitig führt in diesen Ländern das Streben bäuerlicher, kleinbürgerlicher, ja selbst bürgerlicher Kreise, in ihrem Drang nach Selbstbehauptung gegenüber der ausländischen imperialistischen Monopolbourgeoisie ein den Realitäten der historischen Entwicklung entsprechendes Programm zu entwickeln, zu Konzeptionen, die spontan in wesentlichen Gesichtspunkten dem objektiven Inhalt des Marxismus-Leninismus entsprechén, wodurch die offene Einbeziehung marxistisch-leninistischer Erkenntnisse in die ideologischen Konzeptionen der progressiven Parteien und Gewerkschaften erleichtert wird. Zu den revolutionären Führungspersönlichkeiten in Afrika, die den Marxismus-Leninismus zur Grundlage ihrer politisch-ideologischen und philosophischen Konzeptionen erhoben, muß man in erster Linie Kwame Nkrumah zählen, der als Partei- und Staatsführer in Ghana konsequent den Kapitalismus mit seinen imperialistischen und kolonialen Entwicklungsphasen als gesellschaftliches System ablehnte, den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg für Ghana anstrebte und den Aufbau des Sozialismus als das perspektivische Ziel des 12 ghanesischen Volkes ansah. Dabei können Nkrumahs Verdienste auf den relativ selbständigen Gebieten der Philosophie und politischen Ideologie nicht mit einigen politischen Fehlentscheidungen der

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progressiven Führungskräfte Ghanas einschließlich seiner Person selbst identifiziert werden.''' Die historischen Verdienste Nkrumahs im Kampf um die geistige Emanzipation der Völker Afrikas von den Fesseln des Kolonialismus und Imperialismus auf dem Gebiet der Gesellschaftstheorie bestehen im einzelnen darin, daß er erstens theoretisch fundierte Antworten auf Fragen der revolutionären gesellschaftlichen Praxis in der nationalen Befreiungsbewegung Afrikas gab, in denen er sein Parteiergreifen für die Sache der Arbeiter, werktätigen Bauern, der fortschrittlichen Intelligenz und der revolutionären Jugend mit der Wissenschaftlichkeit einer dialektisch-materialistischen philosophischen Analyse in Übereinstimmung brachte und damit die Notwendigkeit der Gültigkeit des Prinzips der Einheit von Parteilichkeit und Wissenschaftlichkeit auch für die Kräfte der nationalen Befreiungsbewegung demonstrierte. Zweitens besteht sein Verdienst darin, daß er mit der Einarbeitung wesentlicher Erkenntnisse der Geschichte der Philosophie und der Klassiker des Marxismus-Leninismus in seine Auffassungen erstmals systematisch die progressiven Erkenntnisse der Menschheitsgeschichte für das philosophische Gewissen der nationalen Befreiungs14 bewegung in Afrika nutzbar zu machen suchte. Drittens besteht sein Verdienst darin, daß er in Anerkennung der historischen Mission der Arbeiterklasse und des sozialistischen Weltlagers die offene Übernahme wichtiger philosophisch-weltanschaulicher Grundthesen des Marxismus-Leninismus vollzog, ihre Übereinstimmung mit dem Denken des "humanistisch und sozialistisch gesinnten Afrikaners" postulierte und in seinen Auffassungen vom Aufbau des Sozialismus in Ghana die Universalität und konkret-historische Anwendungsfähigkeit der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus 1R betonte. J Viertens besteht sein Verdienst darin, daß er im Verlaufe seiner theoretischen Durchdringung der afrikanischen Wirklichkeit ein eigenständiges philosophisch-soziologisches System entwickelte, das spezifische Fragen der Überwindung von Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus und des Aufbaus eines sozialistischen Staates in Afrika in ihrer Verbindung zu allgemeinen philosophischen Fragestellungen beinhaltet und als "Philosophical Consciencism" bewußt auf dialektisch-materialistischen Ausgangsthesen be16 ruht. Mit dieser bedeutenden geistigen Leistung wurde Nkrumahs Philosophie zu einer philosophischen Hauptströmung in Afrika, die

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p a r t e i l i c h , p r i n z i p i e l l und. unversöhnlich der bürgerlichen Ideolog i e gegenübersteht, deren Klaissenfunktion er nachweist und zu deren Überwindung er wesentliche theoretische Grundlagen l e g t . Fünftens sei hervorgehoben, daß Nkrumah mit seiner philosophischen S c h r i f t "Consciencism" den Anstoß zu umfassenden philosophischen Diskussionen in Ghana und anderen Ländern Afrikas gab, die erstmals in diesem Umfang und zum Gegenstand der dialektischen Prozesse der gesellschaftlichen Entwicklung in Afrika, die zum Sozia17 lismus führen müssen, durchgeführt wurden. ' Indem Nkrumah Grundbehauptungen der marxistisch-leninistischen Philosophie als f ü r die nationale Befreiungsbewegung in Afrika r e levant betrachtet, l e i s t e t er sechstens einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung des Marxismus-Leninismus in Afrika und in der Welt und e r ö f f n e t ihm neue Anwendungsbereiche, in denen er seine Schöpf e r k r a f t und weltverändernde 18 Rolle erneut unter Beweis zu s t e l l e n in die Lage v e r s e t z t wird. Die Gesamtkonzeption Nkrumahs enthält eine Reihe einzelner Erkenntnisse, die auf lange Sicht f ü r die theoretische Durchdringung der afrikanischen Wirklichkeit von Bedeutung sein und auch in kommenden Jahren die Lebensfähigkeit seiner Ideen repräsentieren werden. Zu diesen Erkenntnissen gehören seine durch und durch wissenschaftlichen Behauptungen über die m a t e r i e l l e Einheit der Welt, das Primat der Materie gegenüber dem Bewußtsein, die Einheit von Materialismus und Dialektik, die dialektische Entwicklungskonzeption, die k r i t i s c h e Ablehnung a l l e r Spielarten des philosophischen und r e l i g i ö s e n Idealismus, seine Auffassungen über die menschliche Gesellschaft und den Menschen, über die Dialektik von g e s e l l s c h a f t l i c h e r Basis una Überbau 19 sowie über die aktive R o l l e des g e s e l l schaftlichen Bewußtseins. y Diese Auffassungen Nkrumahs sind Bestandteile des revolutionären, zunehmend philosophisch-materialistischen Bewußtseins der progressiven Führungskräfte der nationalen Befreiungsbewegung in A f r i ka, das als eine wesentliche Errungenschaft a l l e r f o r t s c h r i t t l i c h e n Klassenkräfte im antiimperialistischen Kampf um Frieden, Demokratie und Sozialismus in der Welt betrachtet werden muß. Im Gegensatz zu der reaktionären bürgerlichen These, nach der afrikanische Führungspersönlichkeiten 20 wenig Interesse am philosophisch-theoretischen Denken hätten, erweist die Analyse der ideologischen Konzeptionen der progressiven Kräfte in A f r i k a , daß die Vertiefung des sozialen Inhaltes der nationalen Befreiungsbewegung

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philosophisches - sich auf die Totalität der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung beziehendes - adäquates Denken hervorbringt und der dialektische Materialismus in seiner Anwendung auf afrikanische Bedingungen zu einem notwendigen Moment im Kampf gegen Imperialismus und Neokolonialismus geworden ist.

S u m m a r y The class-struggle between the international monopoly bourgeoisie and its African confederates on the one hand and all the working classes and strata on the other is more and more ideally reflected in the conflict between bourgeois ideology and Marxism-Leninism. Earlier lower middle-class Utopian conceptions, like that of Marcus Garvey, have their first renaissance in modern African bourgeois ideology. Leopold Senghor also tries like the ideologists of "Garveyism", to mantle social reality and the international class-struggle in terms formed on the basis of race, e.g. struggle of races, cultures and civilisations. It is evident in the neocolonialist conceptions of "Socialism" in Africa that the interests of the bourgeois class are interpreted as human interests in general during the period of overcoming colonialism. Here attempts are made to eliminate the disadvantages of capitalism without attacking its basic social and economic contradictions, just as Proudhon, Lasalle and Kautsky did in Europe. This applies to conceptions of "Socialism" which deny any antagonistic classes in pre-colonial, colonial and present-day Africa as well as to those demanding "Socialism" and lower and middle-class private ownership of the means of production at the same time. Opposed to these efforts, theoretical knowledge derived from Marxism-Leninism is gaining a growing influence in deciding the character of the ideological conceptions of Left-Wing Party Members of the PDG in Guinea, the MNR in Kongo (B.), the TANU and ASP in Tanzania. The programmes of the Communist Parties, based on the ideas of Marx, Eagels and Lenin, in South Africa, Lesotho, the Sudan and other countries stimulate the struggle of the developing working class. The growing philosophical-materialistic consciousness of progressive leaders in the National Liberation Movement is, as shown in the explanation of Kwame Nkrumah's theoretical merits, an im-

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portant achievement of all progressive class forces in the antiimperialist struggle for peace, democracy and socialism in the world.

Anmerkungen 1 2 3 4

5

K. Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: K. Marx / F. Engels: Werke, Bd. 8. Berlin 1960, S. 139. Vgl. A. Garvey: Philosophy and Opinions of Marcus Garvey or Africa for the Africans. New York 1923. Vgl. auch G. Padmore: Pan-Africanism or Communism. The Coming Struggle for Africa. London, o.J., S. 87, 91, 105 f. Vgl. ebenda; sowie C. Rachel: Utopia africana. Probleme der geistigen Emanzipation in der nationalen Befreiungsbewegung. In: FORUM, Berlin, Nr. 6, 8 und 10/1969Vgl. W.E.B. Du Bois: Dusk of Dawn. Harcourt. Brace. New York, o.J., S. 277-

6

Vgl. L.S. Seaghor: Negritude und Humanismus. Düsseldorf. Köln 1967, S. 178, 237, 242 f.

7

Vgl. ebenda, S. 243. ("Wir wollen uns tief in die Afrikanität verwurzeln, von der die Negritude nur ein Aspekt ist, und zugleich den vier Winden der Welt gegenüber geöffnet bleiben...") Vgl. ebenda, S. 242 ("... die Negritude ... ist ein Existentialismus, ... aufgeblüht unter der Sonne des Glaubens ..."); vgl. auch: L.S. Senghor: On African Socialism, London and Dunmow 1964, S. 132 f.

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11

Vgl. I. Cox: Socialist Ideas in Africa. London 1966; J. Ostrowitjanow: Sozialistische Doktrinen der Entwicklungsländer - ihre Formen und ihr sozialer Inhalt. In: Außenhandel. Berlin, März/April 1965; I. Potechin: Uber den "afrikanischen" Sozialismus. In: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, H. 6/1963, S. 601 ff. Kritische Einschätzungen vgl. in: J. Sago: What "The Observer" should know. In: The Spark. Accra. 22.5.1964, S. 1; N.-B. Dams: Consciencism and Negritude. In: The African Student. University Socialist Review. Vol. 2. Nov. 1964 to Jan. 1965« Accra 1965, S. 15 f; Some Essential Features of Nkrumaism. The Spark Publications. Accra, London 1964. Vgl. J.K. Nyerere: "Ujamaa", the Basis of African Socialism,

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Dar-es-Salaam 1962; The Arusha-Declaration. In: The Nationalist. 6.2.1967» S. Tourê: la Lutte du PDS pour l'émancipation africaine. Conakry, o.J., S. 59512

Vgl. K. Nkrumahs Osagyefo a Socialist State. Accra, cialism. Accra 1962, S. 4 State. Ins The Nkrumaist.

13

Diese beziehen sich vor allem auf die unbegründete zeitweilige Unterschätzung der imperialistischen Aktivität in Afrika, auf die lange und offene Vorbereitung der Vietnam-Reise Nkrumahs (über Peking), die zur formalen Teilung der ghanesischen Führungsspitze führte, und auf die unmotivierte, der historischen Erfahrung der nationalen Befreiungsbewegung widersprechende Unterschätzung der Rolle des Militärs als wesentlichen Machtfaktor. - C.R.

14

Vgl. K. Nkrumahs Consciencism. Philosophy a n d Ideology for Decolonization and Development with particular Reference to the African Revolution. London 1964-, S. 5 f • (Abschnitts Philosophy in Retrospect.)

15 16

Vgl. ebenda, S. 116. Vgl. ebenda, S. 84 O'First, there is the assertion of the absolute and independent existence of matter; second, there is the assertion of the capacity of matter for spontaneous selfmotion.") Diese philosophische Diskussion vollzog sich z.B. in folgenden Veröffentlichungen s - W.E. Abrahams Consciencism, Philosophy and Ideology for Decolonization and Development with particular Reference to the African Revolution. Launching "Consciencism". Speeches delivered at the launching of Osagyefo ' s book Consciencism, Printed by the Government Printing Department. Accra (1964).

17

Launches Seven Year Plan. Steps to o.J., S. I; K. Nkrumahs Towards Soff; K. Nkrumahs Building a Socialist Accra. Vol. 1. December 1964.

s. 1 - 1 5 . - B. Akpatas Philosophical Consciencism by Kwame Nkrumah. A New development of Marxism in the era of the collapse of imperialism and colonialism in Africa. Launching "Consciencism", a.a.O., 3. 25-28. - M.M. Basner: The Role of Categorial Conversion in the "Decolonisation of Africa". Launching "Consciencism", a.a.O., •

s . 29-32. - N.B. Damzs Consciencism and Negritude. In: The African Student. University Socialist Review. Vol. 2. Nov. 1964 to Jan.

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18 19

20

Ch. Rachel 1965. Printed by the Government Printing Department. Accra 1965- S. 15-22. - J. Howlett: Consciencism by Kwame Nkrumah (Book Review). In: Présence Africaine. English Edition. Vol. 2 5 . Nr. 51. Third Quarterly 1964. S. 180 ff. - S.G. Ikoku: On the Application of Consciencism in Ghana and Africa. Launching "Consciencism", a.a.O., S. 53-4-3. - S.G. Ikoku: New Horizons in Modern Philosophy. In: The African Review. Vol. I. No. 1. May 1965. (Printed at the Tema Printing Press. Tema, Ghana). S. 18, 19, 88, 89. - M. Woungly: The Mathematical Equation for Development. Launching "Consciencism", a.a.O., S. 21-24. - M. Woungly: Positive Action and Negative Action. In: The African Student. University Socialist Review. Vol. 2. Nov. 1964 to Jan. 1965, a.a.O., S. 44 f. - Studies in Consciencism. Categorial Conversion. (o.Vf.) The Spark Publications 1964. No. 6. Accra. (Published by the Publicity Secretariat and Printed by the Government Printing Department. Accra.) - J. Sago: Philosophy of our Revolution. In: The Spark. Accra. 26.3.1964, S. 4. Vgl. J. Cox: a.a.O., S. 90 f. Vgl. C. Rachel: "Philosophical Consciencism" - progressive Philosophie in Afrika (Abhandlung über objektive Grundlagen, geistige Quellen, Gegenstand, Inhalt und Struktur der philosophisch-soziologischen Auffassungen Kwame Nkrumahs). Diss. Leipzig 1967. Vgl. J.-C. Bahoken: Der Beitrag der Religionen zur afrikanischen Kultur. In: Neues Afrika. München. H. 7/1961, S. 282 ff.

W i l h e l m

W i 1 k e

Nationalismus, Gewerkschaften und nationaldemokratische Revolution in Afrika1 Die sich in den jungen Nationalstaaten Afrikas vollziehende Differenzierung der sozialen Kräfte, die bei der Weiterführung des Kampfes gegen den Imperialismus und bei der Verwirklichung tiefgreifender sozialökonomischer Umgestaltungen in den Ländern, die den nichtkapitalistischen Weg mit der Perspektive des Sozialismus eingeschlagen haben, auftretenden verschiedenen politischen und ideologischen Strömlingen veranlassen auch die Gewerkschaften als einzige Klassenorganisation der afrikanischen Arbeiter, immer stärker ihren eigenen Klassencharakter zu entwickeln und sich von bestimmten sozialen und politischen Kräften abzugrenzen. Wenn wir bei den fortgeschrittensten politischen Organisationen, den nationaldemokratischen Parteien ein immer stärkeres Ubergehen von progressiv nationalistischen Positionen zum wissenschaftlichen Sozialismus bemerken, so gilt das in viel stärkerem Maße für „die Organisationen der Klasse, die objektiv die revolutionärste und dynamischste Kraft bei der Vollendung der sich ausweitenden und vertiefenden sozialen Revolution in Richtung zum Sozialismus ist. Das ist ein objektiv notwendiger Prozeß, der sich jedoch nicht spontan vollzieht, sondern sowohl von den inneren sozialen, politischen und ideologischen Bedingungen dieser Länder als auch von dem Grad des Einflusses der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung beeinflußt wird. Die afrikanische Gewerkschaftsbewegung hat im nationalen Befreiungskampf eine bedeutend größere Rolle gespielt, als es auf Grund der geringen Entwicklung der Arbeiterklasse hinsichtlich ihres Anteils an der Bevölkerung und entsprechend ihrer Struktur (kaum existierendes modernes Industrieproletariat) vermutet werden konnte. Jüngste Forschungen haben ergeben, daß es bereits zwischen den beiden Weltkriegen in Afrika zahlreiche aktive Gewerkschaften gab, die für die ökonomischen und sozialen Interessen der Arbeiter gegen die Kolonialmacht und die ausländischen Unternehmer kämpften. Nach dem 2. Weltkrieg entwickelten sich die Gewerkschaften zur Massenbewegung. Ausgehend von der Verteidigung der unmittelbaren

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Interessen der Arbeiter nahmen sie aktiv am antikolonialistischen Kampf teil und. wurden so zu einem vorwärtstreibenden Faktor beim Zusammenschluß der antikolonialistischen und antiimperialistischen Kräfte für die Beseitigung der Kolonialherrschaft und für die Erringung der politischen Unabhängigkeit. In einigen Fällen waren die Gewerkschaften die Hauptinitiatoren bei der Bildung nationaler antiimperialistischer und demokratischer Massenparteien. Ihre Aktivität auch auf politischem Gebiet beeinflußte den revolutionären Entwicklungsprozeß dieser Parteien. In den mächtigen Kämpfen der Gewerkschaften in den französischen Kolonien Westafrikas - erinnert sei hier nur an den großen Eisenbahnerstreik im Jahre 1947/48 und an die jahrelangen Kämpfe für die Verabschiedung eines Arbeitsgesetzes - äußerte sich deutlich der Klassencharakter der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften gingen von den Interessen der Arbeiterklasse, von den Bedürfnissen und Forderungen der Arbeiter aus und verbanden sie mit den Interessen des ganzen Volkes im Kampf gegen die Kolonialmacht. Ihr Kampf trug von Beginn an einen politischen, antikolonialistischen, antiimperialistischen Charakter; er vereinigte in sich den nationalen und sozialen Inhalt der nationalen Befreiungsbewegung . Von großer Bedeutung für die Entwicklung des Klassencharakters der westafrikanischen Gewerkschaften, für die Herausbildung des Klassenbewußtseins der Arbeiter war ihre enge Verbindung mit der revolutionären französischen Arbeiterbewegung, der CGT und der Kommunistischen Partei und über sie mit der Weltgewerkschaftsbewegung. Durch diese Kampfgemeinschaft wurden auch die Ideen des proletarischen Internationalismus zu einem wichtigen Charakteristikum dieser afrikanischen Gewerkschaften. Zugleich fanden marxistische Ideen eine weite Verbreitung, sowohl in den Gewerkschaften als auch bei den fortschrittlichsten Kräften der Massenparteien. Neben diesen fördernden Faktoren für die Entwicklung des Klassencharakters der Gewerkschaften gab es auch eine Reihe objektiver Bedingungen u n d internationaler Einflüsse, die sich hemmend auf diesen Prozeß auswirkten und in einer bestimmten Periode, besonders seit Mitte der 50er Jahre, zu einem stärkeren Eindringen des Nationalismus und zu einer gewissen Verdeckung des Klassencharakters der Gewerkschaften führten. Mit der Herausbildung politischer Massenparteien, die alle Bevölkerungsschichten in sich vereinigten und mit der Zuspitzung des

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Kampfes gegen den Kolonialismus und. für die politische Unabhängigkeit, der unter dem Banner des Nationalismus geführt wurde, trat auch immer mehr das Bestreben dieser Parteien in den Vordergrund, die Gewerkschaften in ihre Politik einzuordnen bzw. ihr unterzuordnen . Die Parteien begründeten diese Forderung vor allem damit, daß es gegenüber dem Kolonialismus eine Interessenidentität aller Klassen und Schichten gäbe, in der afrikanischen Gesellschaft kein Klassenantagonismus vorhanden und folglich die marxistische Auffassung vom Klassenkampf für Afrika nicht anwendbar sei. Daraus wurde die Schlußfolgerung gezogen, daß die Gewerkschaften zu einem integrierenden Bestandteil der nationalen Befreiungsfront werden müssen iind daß das Primat in dieser Front der Massenpartei gehöre, die die Interessen des gesamten Volkes und keine besonderen Klasseninteressen vertritt. Teilweise wurde den Gewerkschaften sogar vorgeworfen, daß sie mit der Vertretung der materiellen und sozialen Forderungen der Arbeiter den nationalen Zusammenschluß hemmen würden, da die Arbeiterklasse im Vergleich zu anderen Bevölkerungsschichten, besonders der Bauernschaft, ihrer materiellen läge nach bereits eine privilegierte Schicht sei. Diese Auffassungen fanden aus verschiedenen Gründen einen fruchtbaren Boden in der Gewerkschaftsbewegung. Im wesentlichen besteht die Führungsschicht aus den gleichen sozialen Kräften wie die Führung der politischen Massenparteien, nämlich Beamten und Intellektuellen, die in ihrer überwiegenden Mehrheit aus der Bauernschaft hervorgegangen sind. Gegenüber der Masse der Arbeiter, die zum größten Teil Analphabeten sind, ermöglicht ihnen allein schon ihr Bildungsniveau, eine dominierende Stellung in den Gewerkschaften einzunehmen und deren Orientierung politisch und ideologisch zu bestimmen. Vielfach üben leitende Funktionäre der Gewerkschaften auch verantwortliche Parteifunktionen aus. Die objektiven Voraussetzungen für die Entwicklung des Klassenbewußtseins der afrikanischen Arbeiterklasse waren außerordentlich gering, zumal der unmittelbare Kampf der Gewerkschaften sich nicht gegen einen inneren Feind, sondern gegen die ausländischen Machthaber und Ausbeuter richtete. IVie Lenin nachwies, entsteht das Klassenbewußtsein nicht aus dem gewerkschaftlichen Kampf für die ökonomischen und sozialen Forderungen der Arbeiter, sondern es muß in die Arbeiterklasse hineingetragen werden und muß sich in der aktiven Teilnahme am politischen Kampf für die Beseitigung der im-

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perialistischen Macht und. für die Eroberung der Macht der Werktätigen äußern. In den afrikanischen Ländern entwickelten sich wohl unter dem Einfluß der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung marxistische Kräfte, aber sie organisierten sich nicht in marxistischen Parteien, sondern vereinigten sich mit anderen antiimperialistischen und revolutionär-demokratischen Kräften zu politischen Massenparteien, die ideologisch nicht einheitlich sind und in denen der Nationalismus zum einigenden Band verschiedener, selbst gegensätzlicher Kräfte wurde. Den Keimen des sich entwickelnden Klassenbewußtseins stand der Masseneinfluß des Kationalismus gegenüber, der in seinem antiimperialistischen Inhalt in bestimmtem Maße auch die politischen Interessen der Arbeiter widerspiegelte und verbunden mit dem gewerkschaftlichen Kampf für die täglichen Forderungen der Arbeiter eine mobilisierende Wirkung bei der politischen Bewußtseinsentwicklung ausübte. Der Nationalismus fand auch deshalb einen günstigen Boden in der afrikanischen Gewerkschaftsbewegung, weil er auf einer bestimmten Stufe des antikolonialistischen Kampfes ein Mittel zur Herstellung dér Gewerkschaftseinheit wurde. Die Spaltung der internationalen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung hatte auch ihre Auswirkungen auf die afrikanische Gewerkschaftsbewegung. Dife westafrikanische Gewerkschaftsbewegung spaltete sich ebenso wie die französische in verschiedene Eichtungen (CGT, Force Ouvrière , CFTC), die auch den unterschiedlichen internationalen Gewerkschaftsrichtungen angehörten. War diese Spaltung auch überwiegend von außen in die afrikanische Gewerkschaftsbewegung hineingetragen worden, so widerspiegelte sie doch grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen über die Rolle der Gewerkschaften im antikolonialistischen und antiimperialistischen Klassenkampf. War der Kampf der CGT-Gewerkschaften und des WGB auf die Beseitigung der Kolonialmacht und auf die Erringung der politischen Unabhängigkeit im Interesse der werktätigen Massen gerichtet, so orientierte sich die Force Ouvrière als Filiale des IBFG auf die Zusammenarbeit mit der Kolonialmacht, auf einen "friedlichen Ausgleich" zwischen den Kolonialvölkern und dem französischen Imperialismus und benutzte dazu den Antikommunismus als Hauptwaffe gegen die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung und gegen die progressiven Kräfte in den politischen Massenparteien. Die imperialistischen Kräfte schürten natürlich diese Spaltung der afrikanischen Gewerkschaftsbewegung.

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Im Prozeß des Aufschwungs der nationalen Befreiungsbewegung Mitte der 50er Jahre ergriffen die fortschrittlichen Führer der Gewerkschaftsbewegung und der politischen Massenparteien die Initiative zur Herstellung der Gewerkschaftseinheit auf einer antikolonialistischen, antiimperialistischen Plattform. Die Überwindung der Spaltung der Gewerkschaftsbewegung war um so dringlicher, als der französische Imperialismus mit dem Rahmengesetz von 1956 die bestehende politische Spaltung der Rassemblement Démocratique Africain durch die "Balkanisierung" der afrikanischen Länder zu vertiefen und ein weiteres Anwachsen der Kraft der nationalen Befreiungsbewegung zu verhindern suchte. Mit der Gründung der Union Générale des Travailleurs de l'Afrique Noire im Jahre 1957 gewann faktisch der antiimperialistische Nationalismus in der afrikanischen Gewerkschaf tsbewegung die Oberhand. Die nationalistische Konzeption der politischen Massenparteien wurde nun auch zur Konzeption der UGTAN bzw. der nationalen Gewerkschaftsorganisationen. So sagte Sékou Tourê als Präsident der UGTAN nach dem Konstituierenden Kongreß (Conakry, Januar 1959): "Die UGTAN hat sich für einen afrikanischen Nationalismus ausschließlich afrikanischer Konzeption ausgespro2

chen." Es wurde hervorgehoben, daß die afrikanischen Gewerkschaften an die Stelle der Konzeption des Klassenkampfes, die für die Gewerkschaften der kapitalistischen Länder Gültigkeit habe, den Nationalismus, die afrikanische Solidarität stellen müßten. Diese Ansicht beruhte auf der Auffassung von der Nichtexistenz des Klassenkampfes in der afrikanisches Gesellschaft, von der Interessenidentität aller Klassen und Schichten1 gegenüber dem Kolonialismus und Imperialismus. Die Konzeption des Nationalismus in der afrikanischen Gewerkschaftsbewegung hatte ihre organisatorische Loslösung von den Gewerkschaften Frankreichs und von den internationalen Gewerkschaftsorganisationen zur Folge, wobei jedoch Beziehungen mit der internationalen Gewerkschaftsbewegung auf einer neuen Basis aufrechterhalten wurden. Der Nationalismus hatte für eine bestimmte Periode eine positive Auswirkung auf die afrikanische Gewerkschaftsbewegung. Wenn er auch eine dauerhafte Vereinigving der Gewerkschaften mehrerer Länder oder gar des Kontinents nicht zu erreichen vermochte, weil diese Einheit nicht auf einer klassenmäßigen Grundlage hergestellt worden war, so führte er zumindest zu einem festeren Zusammenschluß der fortschrittlichen Kräfte der Gewerkschaftsbewegung, marxistischer und

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nichtmarxistischer Kräfte. Er half Erscheinungen des Tribalismus und der Familientraditionen in den Gewerkschaften schneller zu überwinden, das gesamtnationale Denken zu entwickeln und somit in gewissem Maße auch zur Erkenntnis der gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse und der anderen werktätigen Schichten und zur Entwicklung einer gemeinsamen Kampffront zur Beseitigung der Kolonialherrschaft und zur Erringung der politischen Unabhängigkeit beizutragen. Und schließlich trug der Nationalismus zur Herstellung eines engen Bündnisses zwischen den politischen Massenparteien und den Gewerkschaften bei. Er führte zur Unterordnung der Gewerkschaften Vinter die politischen Parteien. Letztlich beruht der Nationalismus gerade darauf, daß er unter Negierung der Klassengegensätze und unter dem Banner der nationalen Einheit die spezifische Rolle der Arbeiterklasse im nationalen und sozialen Befreiungskampf der Völker leugnet. Unter Berufung darauf, daß die afrikanische Arbeiterklasse als verschwindende Minderheit der Bevölkerung nicht in der Lage sei, die Führung des nationalen Befreiungskampfes zu übernehmen, daß keine Klasse revolutionärer sein kann als das Volk, beansprucht die politische Massenpartei als "über den Klassen und sozialen Schichten stehend", allein die Interessen des gesamten Volkes zu vertreten. Demzufolge müßten sich die Gewerkschaften der politischen Generallinie der Partei unterordnen und dürften keine Forderungen erheben, die nicht die Zustimmung der Partei finden. Dabei wird jedoch den Gewerkschaften ein bestimmtes Mitspracherecht bei der Ausarbeitung der Politik der Partei zugestanden. Das Vorherrsciien des Nationalismus in der Gewerkschaftsbewegung hat neben gewissen positiven Zügen (Aufrechterhaltung der antiimperialistischen nationalen Einheitsfront) auch hemmende Auswirkungen auf die afrikanische Gewerkschaftsbewegung, die sich besonders in der neuen Etappe der nationalen Befreiungsrevolution, bei der Lösung der sozialen Frage bemerkbar machten. Der Nationalismus verdeckt die objektiv existierenden sozialen Widersprüche innerhalb der nationalen Einheitsfront, er hemmt die Arbeiterklasse, Elemente des Klassenantagonismus und seine Entwicklung rechtzeitig zu erkennen und ihn wirksam zu bekämpfen. Er diente bestimmten Kräften vielfach dazu, marxistische Kräfte in der Gewerkschaftsbewegung zurückzudrängen bzw. den Marxismus nationalistisch zurechtzustutzen. Eine Folge war, daß die Gewerkschaften der Verteidigung der spezifischen materiellen und sozialen Forderungen der Arbeiter

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ungenügend. Aufmerksamkeit schenkten und so ihre elementaren Aufgaben vernachlässigten. Deshalb i s t es auch kein Wunder, daß das Auftreten prokapitalistischer Kräfte und das Entstehen einer bürokratischen Bourgeoisie nach der Erringung der politischen Unabhängigk e i t nicht früh genug auf die entschlossene Gegenwehr der Gewerkschaften und anderer progressiver Kräfte stieß.. Unter dem Deckmantel des Nationalismus versuchen heute reaktionäre Kräfte in den nationaldemokratischen Staaten, die Gewerkschaften unter ihrer Kontrolle zu halten und s i e am konsequenten Kampf f ü r die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse und die Lösung der sozialen Probleme der nationalen Befreiungsrevolution zu hindern. Das bezieht sich nicht nur auf die nationalen Probleme, sondern berührt auch den Bereich des proletarischen Internationalismus, die Stelliing zu den grundlegenden Problemen unserer Epoche, zu den Auseinandersetzungen zwischen dem Imperialismus und Sozialismus. Man muß auch betonen, daß nationalistische Positionen in den Gewerkschaften einen günstigen Nährboden f ü r das Eindringen der abenteuerlichen Ideen der Mao-Gruppe bilden. Der im Verlauf der nichtkapitalistischen Entwicklung vor sich gehende Prozeß der Polarisierung der Klassenkräfte führt dazu, daß der Nationalismus in den Gewerkschaften schrittweise zurückgedrängt wird und daß die Gewerkschaften mehr und mehr danach streben, ihr eigenes P r o f i l a l s Klassenorganisationen der Arbeiterklasse zu entwickeln. Der wachsende Einfluß des wissenschaftlichen Sozialismus in den nationaldemokratischen Parteien und noch stärker in den Gewerkschaften, der Differenzierungsprozeß in den Parteien sowie die o f f e n s i c h t l i c h zutage tretenden Klassenauseinandersetzungen in den nationaldemokratischen Staaten führen dazu, daß die progressiven Kräfte von ausschließlich antiimperialistisch nationalistischen Positionen auf die Klassenposition der Arbeiterklasse, zur Anerkennung und Anwendung des wissenschaftlichen Sozialismus übergehen. Die sozialökonomischen Umgestaltungen in Richtung einer s o z i a l i stischen Perspektive, die beginnende i n d u s t r i e l l e Entwicklung, die fortschreitenden Klassenauseinandersetzungen mit dem Imperialismus und-der inneren Reaktion zwingen objektiv zur Überwindung des Nationalismus in den Gewerkschaften und führen, verbunden mit der wachsenden R o l l e der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung, zur stärkeren Entwicklung des Klassenbewußtseins der a f r i k a nischen Arbeiterklasse als einer wesentlichen Bedingung f ü r die Erfüllung ihrer historischen Mission.

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S u m m a r y There is close cooperation in the national-democratic states of West Africa between the national democratic parties and the trade unions. This cooperation rests upon the traditions of anti-colonial, anti-imperialist struggle and on the common tasks in the new stage of the national liberation revolution. The trade unions in these countries were closely linked in their beginnings with tne revolutionary working-class movement of Prance and with the world trade union movement. The ideas of scientific socialism and proletarian internationalism were therefore widespread. The trade unions also assisted at the birth of the antiimperialist mass political parties and gave them valuable support. These parties are guided by nationalist ideas in uniting the various social strata in the struggle against imperialism and colonialism. They claim leadership over the trade unions, which inevitably leads to a spread of nationalism in the trade union movement. There are both objective and subjective reasons for this penetration of nationalism into the trade union movement. Nationalism, which was never able completely to dislodge the ideas of scientific socialism, had certain positive effects on the African trade union movement. It contributed to a certain extent to establishing trade union unity on a national level and to a close alliance of the trade unions with other progressive, nonproletarian forces. But nationalism also has an obstructive effect which emerges ever more strongly under the conditions of the national democratic revolution. It results in a blurring of the class character of the trade unions and makes it more difficult to develop class consciousness amongst the working masses. It helps reactionary elements to repress Marxist forces in the trade unions and thus to put obstacles in the way of a consistent defence of the interests of the working class and of a solution of the social problems of the national liberation revolution. Nationalism also provides a favourable soil for the infiltration of the adventurist ideas of the Maoist group. The polarisation of class forces taking place in the course of the national democratic revolution, the growing influence of scientific socialism on the national democratic parties and the trade unions has the result that the progressive forces are going over step by step to the class positions of the working class.

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Objectively speaking, socio-economic transformation in the direction of socialism, further forming-up of the working class, sharpening conflict with imperialism, neo-colonialism and internal reaction demand that nationalism be overcome in the trade unions and that they be more clear-cut class organisation9 of the working class to which increasing importance must be attached in the process of consistent advance of the national democratic revolution and building up of the hegemony of the working class.

Anmerkungen 1 2

Der Beitrag stützt sich vor allem auf Erfahrungen in einigen westafrikanischen Ländern. S. Touré: L'action politique du Parti Démocratique de Guinée pour l'émancipation africaine. Tome 3* Anneé 1959» S- S6.

M a n f r e d

N u s s b a u m

Einige ökonomische Probleme im subsaharischen Afrika Einer der wichtigsten, wenn auch nicht der ausschließliche Maßstab für die ökonomische Entwicklung ist bekanntlich das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung. Und hier bewegen sich die Zahlen für die neuentstandenen Staaten im subsaharischen Afrika etwa in der Größenordnung von einem Zwanzigstel bis zu einem Zehntel derjenigen der fortgeschrittenen Industriestaaten. Alle sich mit dieser Problematik befassenden Ökonomen der Welt sind sich mehr oder weniger darüber einig, daß die Kluft sich in den vergangenen Jahren nicht nur nicht verringerte, sondern ständig größer zu werden droht. Die Überwindung der wirtschaftlichen Rückständigkeit und das allmähliche Schließen der Kluft zu den ökonomisch fortgeschrittenen Ländern ist aber nach dem Gewinn der staatlichen Selbständigkeit eine der entscheidenden Fragen für diese Länder geworden. Weder sind innere politische Stabilität noch wirklicher Bestsind politischer Unabhängigkeit nach außen gewährleistet, solange hier keine echten Fortschritte zu verzeichnen sind. Der Berg ökonomischer Literatur, die sich dieser Problematik widmet, ist längst zu eines wahren Kilimandscharo angewachsen. Bnpfehlungen gut gemeinter oder politisch zweckgerichteter Art, Entwicklungsmodelle, optimistische und pessimistische Voraussagen bis hin zu der, daß die sogenannte Dritte Welt in Kürze vor einer Hungerkatastrophe ungekannten Ausmaßes stehe, werden zu Tausenden angeboten. Als Kern aller Untersuchungen schält sich aber immer wieder die Frage heraus: Woher sollen die Mittel stammen, die für den wirtschaftlichen Aufstieg benötigt werden, den der Amerikaner Rostow euphemistisch als "take off" bezeichnet hat - euphemistisch deshalb, weil es sicn in der Realität des heutigen Afrika gar nicht um eiiie ökonomische Aufwärtsbewegung in Form der eleganten Kurve einer emporsteigenden Rakete oder eines Düsenflugzeugs handelt, sondern bestenfalls um ein mühevolles Vorankriechen. Wenn heute, 50 Jahre nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, diese Problematik der ökonomischen Entwicklung Schwarzafrikas vor uns gestellt ist, so erhebt sich vor unserem forschen-

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den Denken ganz natürlich die Frage: Wieso kommt es, daß sich Tausende von Politikern ebenso wie Ökonomen und andere Wissenschaftler den Kopf darüber zerbrechen, wie das wirtschaftliche Wachstum der Entwicklungsländer zu beschleunigen sei, während wir doch das Phänomen des Landes der Oktoberrevqlution vor Augen haben, wo der ökonomische und industrielle Aufstieg in unerhörtem Tempo vor sich ging - lind zwar ohne Entwicklungshilfe von dieser oder jener Seite? Wieso will das, was in der Sowjetunion in so großartiger Weise und mit weltweiten historischen Polgen funktionierte, in den sogenannten Entwicklungsländern nicht so recht vorankommen? Wo liegen die Ursachen, was sind die Quellen der Erfolge, was sind die Lehren auch für Schwarzafrika? Oder inwieweit und inwiefern handelt es sich bei dem sowjetischen Aufstieg um einen einmaligen, mindestens im subsaharischen Afrika unwiderholbaren historischen Vorgang? Denn wir müssen uns, glaube ich, zuallererst die Tatsache in Erinnerung rufen u n d ganz deutlich machen, die heute vielleicht vergessen werden könnte: die Tatsache nämlich, daß das alte Rußland bzw. Sowjetrußland nach der Oktoberrevolution nicht nur einfach ein ökonomisch zurückgebliebenes Land war, sondern par excellence das, was wir heute als ein Entwicklungsland bezeichnen - wenn auch zu jener Zeit dieser Begriff noch nicht gebräuchlich war. Nicht direkt vergleichbar vielleicht den meisten Ländern Schwarzafrikas, schon wegen des Größenunterschiedes in bezug auf Ausdehnung und Bevölkerungszahl, aber vielleicht etwa mit dem heutigen Indien, war Sowjetrußland ein Land vorwiegender Agrarproduktion mit einem gewissen relativ entwickelten u n d konzentrierten industriellen Sektor, dessen Produktion a n Fertigerzeugnissen aber im Außenhandel kaum in Erscheinung trat. Auf die Bedeutung dieser Frage werde ich noch zurückkommen. Zunächst jedoch eine Vorbemerkung: Ganz selbstverständlich für uns alle ist, daß die wirtschaftliche Entwicklung, die Methoden zur Überwindung wirtschaftlicher Rückständigkeit sich von der Frage der politischen und sozialen Verhältnisse, der politischen Macht und ihrer Zielsetzung nicht trennen lassen. Es wäre daher ein müßiges und wenig sinnvolles Unterfangen, wollten wir die erwähnte Fragestellung direkt auf solche Tänder anwenden, die - mindestens vorläufig noch - von Kräften beherrscht werden, welche beschlossen haben, den kapitalistischen Weg zu gehen und sich mehr oder weniger deutlich auf eine enge Zusammenarbeit

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mit und auf die Vormundschaft durch die imperialistischen Mächte orientieren. Für diese Länder kann unsere Fragestellung zunächst nur den einen Sinn haben: Zuallererst die politischen Machtverhältnisse und die p o l i t i s c h e und damit die ökonomische Orientierung zu ändern, bevor mit einigem Erfolg weitere Probleme ökonomischer Art in Angriff genommen werden, die eine Lösung aus dem i m p e r i a l i s t i schen G r i f f und f r e i e wirtschaftliche Entwicklung beinhalten. Wir wollen unsere Überlegungen also auf jene afrikanischen Länder südlich der Sahara beschränken, die sich durch eine progressiv o r i e n t i e r t e Staatsmacht auszeichnen oder auszeichneten, das heißt eine Staatsmacht, die den Weg der kapitalistischen Entwicklung zu vermeiden und sich von imperialistischer Vormundschaft zu b e f r e i e n sucht. Es g i b t eine ganze Anzahl solcher Länder; ich nenne hier nur Tansania, Guinea, oder b i s vor einiger Zeit auch Ghana und Mali. Auch in diesen Fällen brauche ich nicht besonders darauf aufmerksam zu machen, daß schematische Vergleiche der politischen und sozialen Verhältnisse dieser Länder mit denen in der Sowjetrunion etwa kurz nach der Oktoberrevolution bzw. in den ersten Jahren der Sowjetmacht nicht angebracht sind. Ich erwähne nur die Existenz eines r e l a t i v entwickelten und konzentrierten, demzufolge klassenbewußten, wenn auch gegenüber dem Ozean der Bauernschaft zahlenmäßig unterlegenen P r o l e t a r i a t s und die .Führung durch die l e n i n i s t i sche P a r t e i . A l l das f e h l t mehr oder weniger selbst in jenen Staaten Schwarzafrikas, die den nichtkapitalistischen Weg zu beschreiten suchen - oder i s t nur in Ansätzen vorhanden. Und doch - ganz abwegig wird, ßo h o f f e ich wenigstens, der Vergleich mit den Quellen der wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion f ü r Schwarzafrika nicht sein, selbst wenn der Nutzen in e i n i gen Punkten darin bestehen s o l l t e , zu erkennen, daß und warum im subsaharischen Afrika nicht, a l l e s wiederholt werden kann oder wiederholt zu werden braucht, was in der Sowjetunion r i c h t i g und notwendig war. Ich möchte mich in diesem Beitrag auf e i n i g e Komplexe beschränken, die aber gerade jene Probleme beinhalten, die a l l e n denen gewissermaßen auf den Nägeln brennen, die die ökonomische Entwicklung der obengenannten Länder untersuchen. Das erste Problem, das ich hier nennen möchte, i s t die Frage nach den Quellen der Akkumulation und ihrer Realisierung. In einem Lande mit geringer oder v ö l l i g fehlender Industrieproduktion b l e i b t

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- nach eventueller Beschlagnahme möglicherweise vorhandener feudaler oder bourgeoiser Reichtümer - als Hauptquelle innerer Akkumulation die Landwirtschaft und eventuell vorhandene extraktive Industrie, also die Ausbeutung natürlicher Rohstoffvorkommen. Tatsächlich finden wir, daß die^sowjetische Industrialisierung ohne die Akkumulationsquelle der Landwirtschaft nicht denkbar gewesen wäre, wobei wir nicht übersehen können, daß die Realisierung der in der sowjetischen Landwirtschaft erzeugten Werte für die Zwekke der Industrialisierung auf dem Wege des Exports erfolgte und der Staat selbst als Exporteur auftrat. In der Reihe der Exportartikel der UdSSR stand lange Zeit das Getreide an erster Stelle. So machte der Anteil des Getreides am Gesamtexport 1925/26 24,9 d.h. ein Viertel des Exports der UdSSR aus. Die großen Getreideexporte gingen zwar in den Jahren der Kollektivierung zunächst zurück, doch blieben während der Periode der Industrialisierung nach wie vor Agrarprodukte bzw. Erzeugnisse der Waldwirtschaft und der extraktiven Industrie die Hauptausfuhrartikel. So nahmen 1928/29 Holz mit 16,5 Erdöl mit 14 % und Pelze mit 11,5 % die ersten drei Plätze ein. 1938 rangierte dann das Getreide mit 21,9 % wieder vor Holz, das 21,3 % der Ausfuhr stellte. Wenn wir an die hier zu betrachtenden afrikanischen Staaten denken, fällt die frappante Ähnlichkeit der Lage in mancher Hinsicht auf. Auch sie sind auf die Ausfuhr von Agrarprodukten u n d Rohstoffen angewiesen, um im Ausland dafür die notwendigen Güter für ihren wirtschaftlichen Aufbau zu erhalten. Auch sie vollziehen ihren Export bzw. auch schon den Aufkauf der Erzeugnisse von landwirtschaftlichen Produzenten über staatliche Organe, wie Marketing Boards u.ä. Jedoch weist die Situation neben den Ähnlichkeiten auch deutliche Unterschiede auf. Während der Sowjetunion doch eine ganze Reihe von Exportgütern zur Verfügung stand u n d der zeitweilige Hauptausfuhrartikel Getreide nie mehr als etwa ein Viertel des Gesamtexports stellte, sind die afrikanischen Länder oft in einer weniger günstigen Position. Die meisten von ihnen sind auf eine ganz geringe Zahl von Produkten, ja oft auf ein einziges Haupterzeugnis als Exportartikel und damit als Qyelle der Akkumulation angewiesen, wobei es sich fast immer um die bekannten tropischen Erzeugnisse Kakao, Erdnüsse, Sisal etc. handelt. Schon aus dieser Struktur des Exports, den wir als Monokultur-Export oder in etwas günstiger gelagerten Fällen als Oligokultur-Export bezeichnen können, ergibt sich eine viel stärkere Abhängigkeit von Preisschwankungen auf dem kapitali-

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stischen Weltmerkt, seien sie durch Überangebot hervorgerufen oder künstlich manipuliert bzw. eine Kombination von beiden. Hinzu tritt ein Weiteres. Die Sowjetregierung war dank der besonderen politischen Situation im Tande in der Lage, die Exportartikel von den Erzeugern zu sehr niedrigen Preisen zu erhalten bzw. den inneren Markt für Konsumgüter für längere Zeit in sehr engen Grenzen zu halten. Dies war möglich infolge des Bestehens einer starken Staatsmacht und der unermüdlichen Überzeugungs- und Erziehungsarbeit der kommunistischen Partei. Dank dieser Faktoren waren die sowjetischen Werktätigen bereit u n d in der Lage, gewaltige Anstrengungen zu machen und unerhörte Opfer auf sich zu nehmen. Daß diese Menschen sich damit den ewigen Dank der Völker verdient haben, möchte ich unter anderem deswegen erwähnen, weil es heute Leute gibt, die offenbar von alledem nichts wissen wollen und von einer angeblichen Verbürgerlichung der Sowjetunion schwatzen - nur deswegen, weil das Sowjetvolk heute die Früchte seiner Anstrengungen erntet, Früchte, von denen es doch wahrlich genug an andere noch abgibt. Die besondere historische Situation in der Sowjetunion in der Periode der sozialistischen Industrialisierung erwähne ich aber vor allem, weil sie uns zum Teil erklärlich macht, wieso eintretende Preisschwankimgen auf dem kapitalistischen Weltmarkt, die sowjetische Produkte betrafen, keinen allzu großen Effekt auf das Tempo des sowjetischen wirtschaftlichen Aufstiegs haben konnten. Die Sowjetregierung war immer noch in der Lage, eine genügend große Spanne zwischen, sagen wir, Aufkauf- und Exportpreis zu erzielen, u m damit die forcierte Industrialisierung in Gang zu halten - ebenso wie sie die Möglichkeit hatte, von einem Agrar-Exportartikel auf einen anderen auszuweiohen. In Afrika kann ein solches Vorgehen unter den heutigen Bedingungen kaum erfolgreich sein. Die Abhängigkeit von einem oder doch sehr wenigen Hauptexportprodukten einerseits, die relative Schwäche der politischen Macht selbst in den fortschrittlichen Ländern andererseits müssen ein ähnliches Verfahren ausschließen. Wir sehen hier im übrigen noch einmal die enge Verflechtung von politischer u n d ökonomischer Problematik. Die erste aus dieser Lage zu ziehende Schlußfolgerung muß sein, daß die fortschrittlichen Regierungen Schwarzafrikas, soweit sie die Prodiakte ihrer Länder auf dem kapitalistischen Weltmarkt absetzen, viel stärker mit auftretenden Preisschwankungen rechnen müssen bzw. diese in ihre wirtschaftlichen Pläne einzukalkulieren haben.

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Aber leider müssen wir das tragische Beispiel Ghanas zur Kenntnis nehmen, dessen gesamter Wirtschaftsplan und alle daraus resultierenden finanziellen Verpflichtungen an imperialistische Mächte auf der Annahme beruhten, daß der Kakaopreis ständig 190 £ per Tonne oder mehr betragen würde. Als dann der bekannte starke Preisabfall - aus welchen Gründen auch immer - einsetzte, hatte dies katastrophale Folgen für die ghanesische Wirtschaft und damit schließlich auch für die Regierung Nkrumah. Die unterschiedliche Situation des Sowjetstaates und der fortschrittlichen Staaten Schwarzafrikas sowohl in bezug auf die Außenhandelsabhängigkeit wie auf die innere Lage gestattet uns aber noch eine zweite Schlußfolgerung. Ich erwähnte bereits, das die über den Außenhandel realisierten Akkumulationsmittel vorsichtig disponiert werden müssen. Dies gilt auch hinsichtlich' ihrer Verwendung. Kehren wir zunächst zu unserem Ausgangspunkt, der Industrialisierung in der Sowjetunion, zurück. Es ist bekannt, daß die kapitalistische Einkreisung den schnellen Aufbau einer Schwerindustrie notwendig, und die Stabilität der politischen Macht ihn auch möglich machte. Die Größe der zu errichtenden Anlagen war im Grunde nur von den zur Verfügung stehenden Mitteln und dem Stand der technischen Entwicklung vorgeschrieben, denn der Bedarf a n Ausrüstungen jeglicher Art war nahezu unbegrenzt. So wurden in der Zeit der ersten 5-Jahr-Pläne nicht zufällig Dnjeprstroi und Magnitogorsk zu sinnfälligen Ausdrücken sozialistischen Aufbaus, so wie es heute die Giganten von Bratsk oder Irkutsk sind. Aber die fortschrittlichen Länder Afrikas sind relativ klein. Nicht eins von den genannten hat mehr als 10 Millionen Einwohner. Andererseits können diese Länder beim Aufbau ihrer Wirtschaft u n d bei der Verteidigung ihrer politischen Unabhängigkeit jederzeit auf die Hilfe der sozialistischen Länder rechnen. So entfällt einerseits die Notwendigkeit, andererseits aber auch die Möglichkeit einer vorrangigen Entwicklung der sogenannten Abteilung I, d.h. der Produktion von Produktionsmitteln. Vor allem aber wird die Kapazität der zu errichtenden Produktionsanlagen, soweit ihre Erzeugung nicht mit einem sicheren Absatz auf dem Außenmarkt rechnen kaan, sich in einer Größenordnung zu bewegen haben, die durch die Aufnahmefähigkeit des inneren Marktes bestimmt sein muß. Es ist daher ganz u n d gar verfehlt, wie es leider geschehen ist, daß riesige Produktionsanlagen errichtet werden, die nach ihrer Fertigstellung als Investruinen Denkmale verfehlter Wirtschafts-

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politik sind. .Ebenso sollten sich die Wirtschaftsplaner überlegen, ob nicht einem an und f-ür sich verständlichen Streben nach nationalem Prestige dienende Einrichtungen, wie kostspielige und ständigen Zuschuß erforndernde Fluglinien und dergleichen, die volkswirtschaftliche Bilanz unnötig belasten. Die mit Hilfe ökonomischen Aufbaus zu erreichende Unabhängigkeit von der imperialistischen Welt muß in der jetzigen Situation Hand in Hand mit einer fühlbaren Verbesserung der Lebenslage der Massen vor sich gehen. Nicht jedes große oder großzügige Projekt soll hier in Bausch und Bogen abgelehnt werden. Aber die Frage, die vor den betreffenden Ländern steht, ist die, ob es sinnvoll ist, eine große Produktionsanlage inmitten eines Meeres kleiner, sich zum großen Teil selbstversorgender Agrarproduzenten bzw. wie der moderne Fachausdruck lautet "auf der grünen Wiese" zu errichten oder aber mit einer gewissen Anzahl kleinerer oder mittlerer Objekte zu beginnen, die sich gegenseitig ergänzen und sich mindestens zum Teil den Absatz ihrer Produkte garantieren. Große Objekte, die über den Bedarf des einzelnen Laiides produzieren, müssen nicht unbedingt zu Fehlschlägen führen. Aber sie werden nur dann ökonomisch lebensfähig, das heißt rentabel sein, wenn sie einen sicheren Markt vorfinden und gleichzeitig einen Markt, der das Land nicht noch abhängiger von der imperialistischen Welt macht. Der regionale Zusammenschluß fortschrittlicher afrikanischer Länder zu gemeinsamen Wirtschaftsgebieten ist ein oft genannter, aber zur Zeit nicht sehr vielversprechender Weg für die Lösung eines Teils dieser Problematik. Viel aussichtsreicher jedoch wäre der Weg eines engsten ökonomischen Zusammenschlusses der fortschrittlichen Länder Schwarzafrikas mit den sozialistischen Ländern. Hier bietet sich ihnen ein Markt, der potentiell in der Lage ist, viel größeren Objekten zur Rentabilität zu verhelfen, als dies der innere Markt der kleinen fortschrittlichen afrikanischen Länder kann. Doch es scheint so, daß der Weg der engen ökonomischen Zusammenarbeit mit den Ländern des Sozialismus nur sehr zögernd gegangen wird. Zwar hieß es in einer in Ghana erschienenen Zeitschrift schon im Jahre 1963 in einem Kwame Nkrumah zugeschriebenen Artikel: "Jedes Mal, wenn die als kapitalistisch anzusprechenden Mächte sich die Unmöglichkeit eines militärischen Sieges über eine Revolution vor Augen führen müssen, greifen sie zur Wirtschaftsblockade als entscheidender Waffe. Nun ist Kuba ein kleines, unterent-

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wickeltes Land; da es nicht genügend Rohstoffe besitzt und infolgedessen gezwungen ist, mehr zu importieren als es exportieren kann, ist von einem permanenten Defizit in seiner Handelsbilanz bedroht. Kuba konnte also die amerikanische Handelsblockade nur mit der Unterstützung einer ausländischen Macht durchbrechen, und das erklärt, weshalb es sich dazu entschloß, seine Wirtschaft in steigendem Maße derjenigen der Sowjetunion zu integrieren. Wenn diese Integration für Kuba eine Lebensnotwendigkeit ist, so ist sie es nicht minder für den Fortschritt der Weltrevolution überhaupt; indem sie die Revolution Fidel Castros konsolidierte, hat sie gleichzeitig auf wunderbare Weise die Möglichkeiten der revolutionären und sozialistischen Bewußtseinssteigerung des gesamten kubanischen Volkes vermehrt. Diese Tatsache ist von nicht abzuschätzender Tragweite, u n d man ist geneigt, sich zu fragen, ob sich hier nicht ein natürlicher Ausweg für alle kleinen im Kampf u m ihre Daseinsberechtigung stehenden unterentwickelten Länder bietet, sich vom Druck des Imperialismus zu befreien." Aber tatsächlich wickelte Ghana noch 1964 nur 15 1/2 % seines Imports und rund 13 % seines Exports mit den sozialistischen Ländern ab. Bei den anderen genannten Ländern liegen diese Ziffern noch niedriger. Ich meine, daß es an der Zeit ist, aus den Ereignissen in Afrika auch praktische ökonomische Lehren zu ziehen und auf eine viel engere Kooperation der fortschrittlichen Länder Schwarzafrikas mit der sozialistischen Welt, ja auf ihre Integrierung in das System der sozialistischen Weltwirtschaft hinzuarbeiten. Der schon oft zitierte und analysierte Nationalismus in den jungen Staaten muß gerade auf dem ökonomischen Felde schnellstens überwunden werden, um echte nationale Unabhängigkeit zu erreichen. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch.

S u m m a r y It is a well-known fact that the economic gulf between the so-called development countries and the advanced industrial countries is not only not decreasing but is steadily increasing. What lessons can be learned from the rapid economic upsurge in the Soviet Union for the countries of Black Africa, and what experience cannot be taken over schematically?

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Since there is a close connection between political orientation and economic development, only the progressively orientated countries of Black Africa will be dealt with here. Both in the Soviet Union and in Africa beyond the Sahara the main source of accumulation is the export of agricultural products and raw materials. But the Soviet Union exports a number of products, while one or a few products determines the export structure of most of the countries 'of Black Africa. There is therefore a very strong dependence on the price fluctuations on the capitalist world market. This calls for a cautious disposal of the available means of accumulation. The limited nature of the home markets of most African countries also permits the construction of big projects and industrial plant only if markets are assured and no additional dependence on the capitalist market can result. Close cooperation with the socialist countries is the way out of this dilemma for progressive countries in Africa beyond the Sahara. This opportunity should be taken advantage of more quickly than has hitherto been the case.

Anmerkung 1

L'Etincelle, 1 5 . 9 . 6 3 .

Heinz

K r o s k e

Zum Einfluß des Nationalismus auf die ökonomischen Integrationsbestrebungen unabhängiger afrikanischer Staaten Im Kampf um die staatliche Selbständigkeit hat zwischen den afrikanischen Völkern sowie auch zwischen diesen und all den anderen kolonialunterdrückten Völkern in Asien und Lateinamerika eine politische Interessenannäherung stattgefunden, deren hervorstechendes Merkmal ihr antiimperialistischer Charakter war. Ohne bestehende oder sich aus der komplizierten sozialökonomischen Position dieser Staaten entwickelnde Widersprüche zu negieren, war diese gemeinsame Seite ihres antikolonialen Befreiungskampfes, besonders in der Periode vor der Erringung ihrer staatlichen Selbständigkeit, sichtbar und übt auch heute noch ihren Einfluß auf die antiimperialisti1 sehe Aktion der progressiven afrikanischen Staaten aus. Seit dem 2. Weltkrieg begannen die Afrikaner, in zunehmendem Maße politisch zusammenzuarbeiten. Sie verwirklichen damit einen Grundgedanken, der schon in der Panafrikanischen Bewegung, seit Be2 ginn unseres Jahrhunderts, zum Ausdruck kam. Auf Grund der gleichen Lage - der kolonialen Unterdrückung und Ausbeutung, ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit, der politischen Machtlosigkeit und des sich daraus ergebenden Kampfes zur Veränderung dieser Verhältnisse - gingen die afrikanischen Völker immer mehr dazu über, ihre Forderungen gegenüber den Kolonialisten und Imperialisten gemeinsam zu vertreten und sich beim Kampf um die Verwirklichung ihrer Forderungen zu unterstützen. Es bildete sich die politische Zusammenarbeit der afrikanischen Völker gegen den Imperialismus und für die Erringung der staatlichen Selbständigkeit heraus. Am prägnantesten wurde das Ziel des gemeinsamen Kampfes auf der Ersten Allafrikanischen Völkerkonferenz, die im Dezember 1958 in Accra stattfand, ausgedrückt. "Völker Afrikas vereinigt euch! Wir haben nichts zu verlieren als unsere Ketten! Wir haben einen Kontinent wiederzugewinnen! Wir haben Freiheit und Menschenwürde zu erringen!"^ Die politische Zusammenarbeit der afrikanisehen Völker brachte bis auf wenige Ausnahmen^ allen Völkern dieses Kontinents ihre

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staatliche Selbständigkeit und. Befreiung von direkter kolonialer Ausbeutung. Das war durch ihre gegenseitige Unterstützung nöglich, durch die Hilfe, die sie von den Staaten des sozialistischen Weltsystems erhielten, durch die Solidarität der Arbeiterparteien in den kapitalistischen Ländern und die Interessengleichheit mit den jungen Staaten in anderen Teilen der Welt, die ihren nationalen Befreiungskampf unterstützten. Erst als 1960 das Kolonialsystem in Afrika weitgehend zusammenbrach., war durch die errungene staatliche Selbständigkeit die wesentlichste Voraussetzung für die ökonomische Integration gegeben, wenn man von der durch die Kolonialmächte organisierten und gelenkten Zusammenarbeit einiger Territorien absieht (Französisch West- und Äquatorialafrika, Föderation von Rhodesien und Nyassaland und Ostafrika). Ab 1960 konnten die afrikanischen Staaten beginnen, Maßnahmen zur Herstellung engerer wirtschaftlicher Beziehungen untereinander einzuleiten. Der Zeitraum zur Realisierung ist aber historisch betrachtet derart kurz, da£ aus objektiven und auch subjektiven Ursachen erst Anfänge einer ökonomischen Integration vorhanden sein können.-' Die objektive Tendenz zur internationalen ökonomischen Integration wurde schon 1915 von Lenin in der Arbeit "Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage" dargelegt. Lenin stellte zwei historische Tendenzen in der nationalen Problematik fest: 1. "Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegung, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Herausbildung von Nationalstaaten;" 2. "Entwicklung und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißung der nationalen Schranken, Herausbildung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw. Beide Tendenzen sind ein Weltgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt im Anfangsstadium seiner Entwicklung, die zweite kennzeichnet den reifen, seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft entgegengehenden Kapitalismus. Im heutigen Stadium der Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus wird die zweite Tendenz durch die Einflüsse der wissenschaftlich-technischen Revolution und die daraus folgende rasche Entwicklung der Produktivkräfte noch verstärkt.*7 Ohne hier auf die kapitalistische Integration und die sozialistische internationale Zusammenarbeit eingehen zu können, sei nur vermerkt, daß

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die allgemeinste Ursache dieser Prozesse im hohen Niveau und in der stürmischen Entwicklung der Produktivkräfte beider Systeme heQ gründet ist. Die Tendenz zur ökonomischen Integration, die bei den Entwicklungsländern zu beobachten ist, hat aber entgegengesetzte Ursachen. Im Unterschied zum international hohen Entwicklungsniveau der Produktivkräfte in den entwickelten imperialistischen Ländern ist das Niveau der Produktivkräfte in afrikanischen Staaten - bedingt durch die Auswirkungen der Kolonialherrschaft - äußerst niedrig. Dieses niedrige Niveau der Produktivkräfte verlangt objektiv Formen der zwischenstaatlichen ökonomischen und politischen Integration, um den großen Abstand zu den entwickelten Industriestaaten zu verringern. Das ist die wesentlichste objektive Ursache für die ökonomische Integration afrikanischer Staaten. Sie begannen, bilaterale und multilaterale Formen der ökonomischen Integration zu verwirklichen. Es seien nur die Währungs- und Zollunionen zwischen verschiedenen francophonen Staaten Westafrikas erwähnt, die Abkommen über die gemeinsame Nutzving des Nigers und des Senegal durch die Anliegerstaaten, der ostafrikanische Gemeinsame Markt u.a. Ihre ökonomischen Ergebnisse sind ein Beginn, der durch die Arbeit der beteiligten Staaten weitergeführt werden muß. Besonders im Rahmen der Organisation für afrikanische Einheit (OAU) könnten die Bestreik bungen zur Integration koordiniert werden. Die ökonomische Integration afrikanischer Staaten ist sowohl Ausdruck der von Lenin formulierten zweiten Tendenz als auch eine Erscheinung in der zweiten Etappe der nationalen Befreiungsbewegung, die jedoch stark von der Entwicklung des internationalen Kräfteverhältnisses beeinflußt wird. Obgleich die afrikanischen Staaten noch dem kapitalistischen Weltmarkt angehören und erst einige fortschrittliche Staaten (VAE, Algerien, Guinea, Tansania, Kongo/Brazzaville) sich in den verschiedenen Stadien der nichtkapitalistischen Entwicklung befinden, ist die ökonomische Integration zwischen ihnen, z.B. der Länder Kenia, Tansania und Uganda im Ostafrikanischen Gemeinsamen Markt, nicht der Verwirklichung imperialistischer Integrationsbestrebungen gleichzusetzen. Die afrikanischen Staaten, besonders die erwähnten progressiven, kämpfen um die Erringung ihrer ökonomischen Unabhängigkeit von den imperialistischen Staaten. In diesem Kampf erkennen sie sowohl die Notwendigkeit einer engeren ökonomischen Zusammen arbeit untereinander als auch mit den Staaten des sozialistischen Weltsystems. Wollen sie die Not-

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wendigkeit der ökonomischen Zusammenarbeit realisieren, prallen ihre nationalen und internationalen Interessen auf die entgegengesetzten Interessen der imperialistischen Hauptmächte. Die afrikanischen Staaten können dabei ihre Bestrebung zur ökonomischen Integration nur im Kampf gegen die imperialistischen Interessen durchsetzen. Deshalb ist der wesentlichste Zug ihrer ökonomischen Integration der antiimperialistische Charakter. Das soll nun nicht heißen, daß sie damit der ökonomischen Zusammenarbeit sozialistischer Staaten gleichzusetzen wäre, deren Charakter ebenfalls antiimperialistisch ist. Von der ökonomischen Zusammenarbeit sozialistischer Staaten unterscheidet sie sich z.B. durch den andersartigen Charakter des Eigentums an den Produktionsmitteln, der noch nicht voll wirksamen planmäßigen Organisation, der Ideologie und des Staatsaufbaus. Aber es kann sich durch die nichtkapitalistische Entwicklung und das sich herausbildende staatliche Eigentum, das entsprechend dem Charakter des Staates Übergangscharakter trägt, sukzessive eine Basis entwickeln, die mehr u n d mehr planende Elemente auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen wirksam werden läßt. Es lassen sich aber schon jetzt gewisse Gemeinsamkeiten mit der sozialistischen ökonomischen Zusammenarbeit erkennen: die Anwendung solcher Prinzipien der Zusammenarbeit, wie Gleichberechtigung in den zwischenstaatlichen Beziehungen, keine Übervorteilung eines Partners durch den anderen, Zusammenarbeit zum Wohle der beteiligten Staaten als auch der gesamten Gruppierung, Förderung der schnellen Entwicklung der Produktivkräfte, um den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen und den Abstand im Niveau der Produktivkräfte zu verringern. Von der kapitalistischen Integration unterscheidet sich die ökonomische Integration afrikanischer Staaten durch das sich herausbildende staatliche Eigentum als Grundlage zwischenstaatlicher ökonomischer Integrationsbestrebungen sowie in den Prinzipien und Zielen der Integration. Nicht die Monopole bestimmen ihren Charakter, sondern sie dient den revolutionären Demokraten u n d anderen Schichten, die die politische Macht in ihren Händen halten, und sie kann nur gegen die Interessen der ausländischen Monopole organisiert werden, die versuchen, diese Integrationsbestrebungen 10

zu beeinflussen. Ihre Integration dient auch nicht der Aufhaltung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, wie das durch die kapitalistische Integration versucht wird, sondern sie ist eine Form, die das Beschrei-

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ten eines nichtkapitalistischen Weges begünstigt, wenn die progressiven Klassen und Schichten den Haupteinfluß auf sie ausüben können . Diese grundlegenden Unterschiede im Vergleich zur kapitalistischen Integration machen sie zu einer Form ökonomischer Integration neben der kapitalistischen und der ökonomischen Zusammenarbeit sozialistischer Staaten. Die objektive Tendenz zur ökonomischen Integration setzt sich aber nicht im Selbstlauf durch, sondern muß von den unterschiedlichsten sozialen Kräften realisiert werden. Sie wird sowohl von den aus der kolonialen Abhängigkeit resultierenden Verhältnissen, als auch von ökonomischen und außerökonomischen Paktoren beeinflußt. Zu den ökonomischen Faktoren zählen u.a. - die nach der staatlichen Selbständigkeit noch fortbestehende enge ökonomische Bindung an die ehemalige Metropole; - die Zugehörigkeit afrikanischer Staaten zu imperialistischen Zoll- und Währungssystemen; - die nahezu gleichartige koloniale Wirtschaftsstruktur; - mangelhafte oder fehlende Kommunikationssysteme. Die Wirkung dieser Faktoren hat zur Folge, daß jetzt erst Anfänge der ökonomischen Integration vorhanden sein können. Auch außerökonomische Faktoren, wie der unterschiedliche Charakter der politischen Machtverhältnisse, die differenzierte Haltung verschiedener Klassen und Schichten zur Integration, die Einflüsse des Nationalismus, aber auch die Haltung des kapitalistischen und sozialistischen Weltsystems, wirken auf den Grad der ökonomischen Integration ein. Greifen wir nur die Wirkung nationalistischer Standpunkte auf die ökonomische Integration heraus. Jüs ist bekannt, daß die drei ostafrikanischen Länder Kenia, Tansania und Uganda bereits seit 1927 einen gemeinsamen Markt bilden und daß sich in den letzten Jahren ein gewisser Desintegrationsprozeß vollzog. Er hat neben ökonomischen Ursachen, wie die einseitige Nutzung der wirtschaftlichen Resultate des Marktes durch die noch ökonomisch mächtigen Schichten der europäischen Siedler und die britischen Monopole in Kenia, auch politische und nationalistische Gründe. In Tansania - beginnend auf Sansibar, seit Februar 1967 aber auch das Festland ergreifend - wird eine nichtkapitalistische Entwicklung angestrabt, die in der Arusha-Declaration begründet wur-

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Im Gegensatz dazu wird in Kenia eine prokapitalistische Entwicklung gefördert, obwohl dies mit dem Slogan eines "afrikanischen Sozialismus" verbrämt wird. Der Einfluß ausländischer Monopole im Lande nimmt jedoch zu, die europäische Siedl.erschicht verfügt weiterhin über bedeutende Positionen in der Landwirtschaft, und das Land gerät auch durch die EWG-Assoziierung zunehmend unter den Einfluß neokolonialistischer Politik. Unter diesen gesellschaftlichen Umständen kann die Politik Tansanias hinsichtlich der ostafrikanischen Zusammenarbeit mit der Sicherung des nichtkapitalistischen Weges innerhalb des Landes in Widerspruch geraten und zur Gewährleistung der progressiven Entwicklung Maßnahmen nötig machen, die gegen gemeinsame Festlegungen gerichtet sind. Unter diesen nationalen Gesichtspunkten hat Tansania 1965/66 Schritte unternommen, um negative Auswirkungen des Marktes zu eleminieren.^ Die durch äußere politische und ökonomische Einflüsse bedingte Behinderung der ostafrikanischen Zusammenarbeit wird von Seiten Tansanias durchaus gesehen. Der Präsident Tansanias, Julius K. Nyerere, wies verschiedentlich darauf hin, daß die feudalistische Tendenz, wie sie in der alten Verfassung Ugandas bis Mitte 1967 fixiert war, den Grad der

14 Zusammenarbeit in Ostafrika beeinflußte. Das, was Nyerere hier in bezug auf Uganda feststellt, trifft in stärkerem Maße auf die prokapitalictische Entwicklung - und ihre Auswirkungen auf die ökonomische Zusammenarbeit - in Kenia zu. Durch sie gehen ebenfalls starke Tendenzen aus, die der Gestaltung der Zusammenarbeit zum Nutzen der drei Länder abträglich sind. Mit Beginn des Jahres 1968 vollzieht sich die Zusammenarbeit der drei Länder in einer neuen Organisationsform, der East African Community (EAC). Es bleibt abzuwarten, ob dadurch die Tendenzen der Desintegration aufgehalten und die ökonomische Integration in Ostafrika verstärkt werden kann. Die EWG-Assoziierung der drei ostafrikanischen Länder zeigt den zunehmenden Einfluß des Neokolonialismus auch in Ostafrika und weist darauf hin, daß die nichtkapitalistische Entwicklung in Tansania dadurch gefährdet werden kann. Die unterschiedliche nationale und sozialökonomische Entwicklung, die sich auf dem afrikanischen Kontinent abzeichnet und in die zwei Entwicklungswege münden, der kapitalistische und der sozialistische, beeinflußt auch die ökonomische Integration.

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Die Länder, die sica au:: dem nichtkapitalistischen '»veg entwikkeln, veränder1 den sozialökonomischen Charakter ihres Staates dahingehend, daü sie die ausländischen und einheimischen kapitalistischen Elemente zurückdrängen, den staatlichen und genossenschaftlichen .Virtschafüssektor fordern, ihn in historisch kürzester Zeit zum vorherrschenden Sektor entwickeln und einen Staat der nationalen Demokratie errichten, in dem die Werktätigen an der Machtausübung teilnehmen. In den Ländern, die de facto eine kapitalistische Entwicklung durchlaufen, wird das ausländische Monopolkapital seine Positionen verstärken, sich die einheimische Bourgeoisie entwickeln und immer mehr Einfluß auf Politik und Wirtschaft nehmen. Diese Länder werden im Klasseninteresse der einheimischen Bourgeoisie geleitet. Diese grundlegenden politisch-sozialen und nationalen Unterschiede werden eine enge, alle Bereiche der Produktion und Zirkulation umfassende ökonomische Integration der afrikanischen Länder stark behindern. Für die ökonomische Integration auf regionaler Ebene werden sich, bedingt durch die aus der Kolonialherrschaft herrührenden ökonomiscaen Schwierigkeiten und die sich nach der Erringung der staatlichen Selbständigkeit herausgebildeten sozial-ökonomischen Unterscniede, folgende grundsätzliche Möglichkeiten ergeben: 1. Zusammenarbeit zwischen Ländern, die den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg beschreiten. Diese Länder können eine enge zunehmend planmäßige Zusammenarbeit auf der Basis ihres sich entwickelnden gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln organisieren. Die Zusammenarbeit wird antiimperialistisch sein und demokratischen Charakter tragen. Der Einfluß imperialistischer Staaten auf sie wird weitgehend ausgeschaltet werden können. 2. Auch zwischen Ländern, die einen kapitalistischen Entwicklungsweg beschreiten, entwickelt sich die ökonomische Zusammenarbeit. Sie wird aber stark durch die imperialistischen Staaten beeinflußt. Dadurch verliert die Zusammenarbeit ihren durchweg progressiven Charakter und wird nur teilweise im Interesse der afrikanischen Länder durchgeführt werden können. Da die Länder beider Gruppen jedoch über den afrikanischen Kontinent verstreut sind, kaum gemeinsame Grenzen miteinander haben - was die Länder, die einen nichtkapitalistischen Weg beschreiten, besonders betrifft -, keine einheitliche Währung besitzen, verschiedenen imperialistischen Währungszonen angehören und auch die Ver-

H. Kroske kehrsverhältnisse zwischen ihnen unentwickelt sind, wird sich als Hauptweg der ökonomischen Integration die Zusammenarbeit benachbarter Staaten herausbilden, um elementarste Voraussetzungen der ökonomischen zwischenstaatlichen Beziehungen herzustellen. 3. Zwischen den Staaten beider Entwicklungswege wird es zu einer ökonomischen Zusammenarbeit auf Teilgebieten kommen. Sie wird unter den gegenwärtigen Bedingungen hauptsächlich in Form von regionalen Zollabkommen, Übereinkünften auf dem Gebiet des Verkehrs und anderen wirtschaftlichen Teilbereichen durchgeführt werden und auch die Errichtung gemeinsamer Wirtschaftsprojekte auf regionaler Ebene, bi- oder multilateraler Art, umfassen. Durch derartige Abkommen wird die ökonomische Verbindung zwischen den Ländern zunehmen und der unbefriedigende, durch die Kolonialmächte bedingte Zustand der ökonomischen Trennung teilweise überwunden werden können. Der Charakter derartiger Übereinkünfte wird im wesentlichen antiimperialistisch sein.

S u m m a r y The effects of the scientific-technical revolution encourage the tendency to integration in the capitalist and the socialist world systems. The developing countries are also involved in this. While the general reason for integration in capitalist and socialist countries is to be found in the high level of development of the productive forces, the process of integration between developing countries is called forth by the low level of the productive forces which, for objective reasons, must be raised so as to narrow the big gap between them and the highly developed capitalist countries. The strength of the separate developing countries is insufficient to achieve this in an historically short period of time. The low standard of development of the productive forces in these countries therefore calls for integration. The economic integration of the developing countries is a new phenomenon in the second stage of the national liberation revolution which cannot be equated with capitalist integration. What is predominant is its anti-imperialist character, its principles and aims, in which it reveals common features with the cooperation between socialist countries without being completely identical with it. If progressive forces influence integration in the developing

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countries it can have a favourable influence on development along non-capitalist lines. Since the objective tendency to integration must depend upon the most varied social forces, it is also influenced by factors which decrease its effectiveness. Such factors are: close economic ties with the former metropolis; membership of imperialist customs and currency systems; an economic structure almost identical with the former colonial structure; inadequate or non-existing communication systems; different conditions of political power; differences in attitude of the various classes and social strata; effects of nationalism and the influences of the world capitalist and socialist systems. The differences in national and socio-economic development influence economic integration, seriously obstructing close economic cooperation covering all fields of production and circulation. There are therefore the following basic possibilities of achieving integration: 1) Cooperation between countries embarking on a non-capitalist course of development; 2) Cooperation between countries embarking on a capitalist or pro-capitalist course of development, and 3) the main path to economic integration, cooperation between neighbouring countries in some fields, so as to establish the elementary conditions necessary for inter-state economic relations.

Anmerkungen 1

Vgl. Materialien des Seminars "Afrika - nationale und soziale Revolution", das von den Zeitschriften Probleme des Friedens U n d des Sozialismus und AL - Talia (Kairo) vom 24. bis 29.10. 1966 in Kairo veranstaltet wurde. Ins Probleme des Friedens und des Sozialismus, 10. Jg. Heft 1-3, 1967. 2 Vgl. W.E.B. Du Bois: The Birth of African Unity, The African Communist No. 1 5 , Oct.-Dec. 1963, f. 14 ff; J. Woddis: Afrika Kontinent im Morgenrot. Berlin 1963, S. 288-294; derselbe: Afrika - der 7eg nach vorn. Berlin 1964, S. 101 ff.; K. Nkrumah: Africa must unite. London 1963, S. 132 ff.; Th. Hodgkin: Nationalism in Colonial Africa. London 1956, p. 181.

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3 J.Woddis: Afrika - der Weg nach vorn. Berlin 1964, S. 102. 4- Südafrikanische Republik, Südrhodesien, Angola, Mocambique, Rio de Oro, Portugiesisch-Guinea, Sao Thome, Kapverdische und Kanarische Inseln sowie Französisch-Somaliland. 5 Vgl. G. Brendel: Probleme der ökonomischen Integration der jungen Nationalstaaten und ihre Auswirkungen auf den Welthandel und die Wirtschaftsbeziehungen mit sozialistischen Ländern. In: Grundprobleme der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Staaten beider Weltsysteme. Berlin 1966, S. 253-265. 6 W.I. Lenins Werke. Bd. 20. Berlin 1961, S. 12. 7 D. Klein: Probleme des staatsmonopolistischen Kapitalismus im internationalen Maßstab. In: Einheit 6/1962, S. 85. 8 D. Klein / H. Wunderlich: Monopole, Integration, Aggression. Berlin 1963« 9 Charta der Organisation der Afrikanischen Einheit. In: Deutsche Außenpolitik. Berlin 1963, Heft 8. S. 682 ff. 10 Mit den Methoden der Balkanisierung oder der Föderierung wird versucht, die Integration zu erschweren oder sie im imperialistischen Interesse zu nutzen. Durch die Assoziierungsverträge und die Bindung an die EWG werden neue neokolonialistische Hindernisse zwischen den unabhängigen afrikanischen Staaten errichtet. Auch die Anzettelung von Militärputschen, um progressive Regierungen zu stürzen, wie es im Fall Ghanas und Malis geschah, ist eine Methode des Imperialismus, die ökonomische Integration und den Zusammenschluß gegen die ausländischen Monopole zu verhindern. 11 The Arusha Declaration and TANU's Policy on Socialism and Seif Reliance. Dar es Salaam 1967» 12 African Socialism and its Application to Planning in Kenya. Nairobi 1965, p. 16. 13 Vgl. H. Kroske: Probleme des Ostafrikanischen Gemeinsamen Marktes. In: Außenhandel. Heft 5 und 6. Berlin 1967. 14 J.K. Nyerere: Freedom and Socialism. Dar es Salaam 1968, p. 328.

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Das Problem der sozialen Widerspräche in politischen Konzeptionen des "Sozialismus nationalen Typs" im tropischen Afrika Einer der wesentlichsten Bestandteile der politischen Konzeptionen revolutionärer Demokraten im tropischen Afrika ist die Einschätzung der sozialen Widersprüche in ihren Ländern. In letzter Zeit ist zu beobachten, daß sich die Auffassungen einiger hervorragender Vertreter des "Sozialismus nationalen Typs" auch in dieser Frage weiterentwickeln. In diesem Beitrag soll auf einige Ursachen und die Bedeutung dieser Erscheinung eingegangen werden. Die Sozialstruktur des tropischen Afrika ist äuBerst vielschichtig und hat in jedem Land und sogar in den einzelnen Zonen mancher Staaten ihre Besonderheiten. Obwohl marxistische und andere fortschrittliche Wissenschaftler bereits eine Reihe wertvoller Untersuchungen über die soziale Struktur des tropischen Afrika angestellt 1 haben, bleibt auf diesem Gebiet noch viel zu tun. In diesem kurzen Beitrag kann nur die allgemeine Tendenz der Klassenentwicklung gezeigt werden, die von Land zu Land sehr modifiziert verläuft. Zweifellos ist: die soziale Differenzierung in der afrikanischen Gesellschaft im allgemeinen noch sehr wenig entwickelt. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung besteht aus Bauern, deren Boden zum größten Teil Gemeineigentum ist und die noch stark in der patriarchalischen Großfamilie und der Dorfgemeinschaft verwurzelt sind. Mit der Einbeziehung zahlreicher Bauern in die Marktproduktion begannen sich jedoch die traditionellen Produktionsverhältnisse zu zersetzen. Besonders in Gebieten, in denen der Anbau von Exportkulturen verbreitet wurde, entwickelte sich die soziale Differenzierung. Es entstand eine Schicht wohlhabender Bauern, die mit ihrem akkumulierten Kapital z.T. als Wucherer, Händler, Transportunternehmer usw. tätig wurden. Selbst wo nach dem Gewohnheitsrecht das Gemeineigentum am Boden bestehen blieb, hinderte dies nicht die zunehmende Konzentration der Agrarproduktion in den Händen reicher Bauern, die in der Regel noch mit dem traditionellen Sozialgefüge verbunden sind, jedoch nicht selten gleichzeitig zahlreiche Lohnarbeiter beschäftigen.

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Die zahlenmäßig relativ schwache Arbeiterklasse bestellt noch zu einem großen Teil aus Wanderarbeitern. Die ständige Arbeiterschaft weist nur in venigen industriellen Zentren eine größere Konzentration auf. Auch die Mehrheit der städtischen Arbeiter bleibt gegenwärtig noch in enger Verbindung zu ihren Familien in den Dörfern, nicht zuletzt deshalb, weil sie diesen sozialen Rückhalt benötigt. Da bis vor kurzem alle groBen Produktionsbetriebe im Besitz ausländischer Monopole oder der Kolonialverwaltung waren, fielen der soziale und der nationale Kampf der Arbeiter im wesentlichen zusammen. Andererseits kam es deshalb in der Produktionssphäre selten zu Konflikten mit der nationalen Bourgeoisie. Afrikanische kapitalistische Elemente außerhalb der Landwirtschaft entwickelten sich vor allem im Handel (Vermittler) und im Dienstleistungsgewerbe, in der handwerklichen Industrie sowie im Transport- und Bauwesen, d.h. in Zweigen, in denen sie weniger der Konkarrenz ausländischer Monopole ausgesetzt sind. Nach der Unabhängigkeit bildete sich relativ rasch eine neue soziale Schicht heraus, die allgemein als bürokratische Bourgeoisie bezeichnet wird. (Zahlreiche Beamte der ehemaligen Kolonialverwaltung sowie Intellektuelle, die in Spitzenpositionen des Staatsapparates aufrückten, leitende Funktionäre und Parlamentarier der Regierungsparteien nutzen ihre Stellung zur persönlichen Bereicherung aus.) Da die ökonomische Basis dieser parasitären Schicht schwach ist, orientiert sie sich auf die in der nationalen Ökonomik herrschenden Gruppen - ausländische Monopole und einheimische Bourgeoisie um ihre eigene Stellung wirtschaftlich zu festigen. Eine Folge dieser Besonderheiten der Sozialstruktur ist, daB bei zahlreichen Afrikanern, die nach ihren sozialökonomischen Merkmalen zur Arbeiterklasse zählen, das Klassenbewußtsein fehlt oder nur wenig ausgeprägt ist. Seine Entwicklung wird gehemmt durch die noch relativ starken Gefühle der Zugehörigkeit zur Großfamilie, zum Stamm oder zur ethnischen Gruppe, manchmal auch zu einer religiö2 sen Gemeinschaft. Infolgedessen wirkt eine vertikale Solidarität, z.B. zwischen einem Unternehmer und einem Arbeiter aus der gleichen Großfamilie, oftmals stärker als die Klassensolidarität. Dies trifft natürlich auch für andere soziale Schichten zu, wie die städtischen Kleinbürger (vom Staatsbeamten oder Angestellten eines staatlichen bzw. privaten Unternehmens bis zum Händler, Handwerker oder selbständigen Taxifahrer) und die Angehörigen der Intelligenz.

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Auch der Nationalismus, der in seinem demokratischen Aspekt nach der Erringung der staatlichen Unabhängigkeit noch eine wichtige positive Rolle spielt, wird von den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften in der nationalen Einheitsfront ausgenutzt, um ihre engen Klassen- und Gruppeninteressen zu sichern und die Arbeiterklasse an der Durchsetzung ihrer berechtigten sozialen Forderungen zu hindern. Aus den zuletzt genannten Faktoren leiten einige bürgerliche Autoren ihre Behauptung ab, daß es im tropischen Afrika keine Klassen gäbe.^ Aber der Grad der Klassendifferenzierung ist keineswegs davon abhängig, in welcher Schärfe die sozialen Gegensätze zutage treten. Andere Autoren anerkennen durchaus eine fortschreitende soziale Differenzierung, knüpfen jedoch große Hoffnungen an die vertikale Solidarität und den Nationalismus, die sie direkt als Schutzwall gegen die Herausbildung eines proletarischen Klassenbewußtseins und das Eindringen der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus beIL

trachten. Nicht selten nutzen auch reaktionäre afrikanische Kräfte die traditionellen Bindungen aus, um ihre Herrschaft zu erhalten. Natürlich kann die vertikale Solidarität eine Zeitlang abstumpfend auf die objektiv vorhandenen Klassengegensätze wirken, aber je tiefer die Ware-Geld-Beziehungen in die alten Produktionsverhältnisse eindringen, um so rascher werden die traditionellen Bindungen ihre Kraft verlieren. Schon jetzt gibt es viele Beispiele dafür, daß die Lohnarbeiter in ihren Klaseenorganisationen, den Gewerkschaften, sowohl für die nationalen Interessen gegen die Vorherrschaft des Auslandskapitals in der Wirtschaft als auch für ihre sozialen Belange gegen die ausländischen und einheimischen Unternehmer kämpfen. Ausgehend von den spezifischen Bedingungen ihrer Länder sind die revolutionär-demokratischen Kräfte bemüht, selbständige Wege für eine nichtkapitalistische Entwicklung zu finden. Dabei bereichern sie mit ihren Ideen und ihrer praktischen Politik die Theorie und Praxis der internationalen revolutionären Bewegung. (Aus diesen Betrachtungen ausgeschaltet sind natürlich solche Deklarationen des "Sozialismus", die nur eine kapitalistische Entwicklung verhüllen sollen.)^ Einige Grundgedanken sind allen Spielarten des "Sozialismus nationalen Typs" im tropischen Afrika weitgehend gemeinsam. Dabei ist zu bemerken, daß die Staaten, in denen die an der Macht befindlichen Kräfte sich für einen nichtkapitalistischen Weg entschieden haben, sogar unter den Ländern des tropischen Afrika, zu denen

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gehören, wo die soziale Differenzierung am venigsten ausgeprägt ist. Ausgehend von dem noch vorhandenen Gemeineigentum an Grund und Boden sowie den demokratischen Traditionen des afrikanischen Dorfes, wie z.B. dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe, soll allmählich eine genossenschaftliche Großproduktion mit modernen Produktionsinstrumenten aufgebaut werden. Die Industrie soll in der Hauptsache planmäßig durch den Staat errichtet werden. Soweit es nötig ist, privates in- und ausländisches Kapital heranzuziehen, soll dieses im Rahmen der gesamtstaatlichen Planung wirksam werden. Die Führung des Aufbaue einer Gesellschaft ohne antagonistische Gegensätze liegt in aan Händen der bestehenden nationalen Einheitspartei, die dafür sorgen soll, daß sich keine krasse soziale Ungleichheit entwickelt. Uber diese Leitgedanken hinaus gibt es jedoch zwischen den Vertretern der verschiedenen nationalen Konzeptionen große Unterschiede, die hier nur vom Gesichtspunkt der Klassenfrage betrachtet werden sollen. In einigen Konzeptionen ist das Bekenntnis zum wissenschaftlichen Sozialismus enthalten, und manchmal bedient man sich bei der Beurteilung der Sozialstruktur bis zu einem bestimmten Grade wissenschaftlicher Kriterien. So liegt z.B. eine sehr detaillierte Analyse der sozialen Struktur von Kongo (Brazzaville) vor, die von führenden Kräften der regierenden Mouvement National de la Révolution erarbeitet wurde.® Diese Einschätzung kann den revolutionären Demokraten Kongos als Grundlage einer richtigen klassenmäßigen Orientierung dienen, wenn der noch vorhandene Schematismus überwunden wird (insbesondere durch eine Unterscheidung zwischen Klassen und sozialen Schichten bzw. Gruppen). Ein Führer der sudanesischen Union in Mali, Idrissa Diarra, führte auf dem Kairoer Seminar im Oktober 1 % 6 u.a. aus, daß die afrikanische Gesellschaft am Vorabend der Unabhängigkeit "Interessengegensätze und den Keim künftiger unvermeidlicher Differenzierung" in sich trägt, aber "die Widersprüche und sozialen Unterschiede haben nicht die Schärfe erreicht, daß sie das allgemeine die Mitglieder der afrikanischen Gesellschaft verbindende Solidaritätsgefühl aufheben könnten". Während sich in den Staaten, die den kapitalistischen Weg beschreiten, diese Widersprüche verstärken, würden "in den Ländern, in denen die Tätigkeit der an der Macht befindlichen MaBsenparteien auf eine allmähliche Lösung der Hauptwideraprü-

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che der Gesellschaft gerichtet ist", die bestehenden Gegensätze überwunden. Anfangs stütze sich die sozialistische Orientierung der Partei vor allem auf "willensmäßige Faktoren", später werde sie durch strukturelle Veränderungen der Basis unterstützt.'' Mehr oder weniger ausgeprägt finden wir bei vielen Vertretern des "Sozialismus nationalen Typs" eine idealisierte Vorstellung von der traditionellen afrikanischen Gesellschaft, wie sie bei Nyerere in einer Arbeit aus dem Jahre 1960 besonders prägnant zum Ausdruck kommt: "Afrika ist dadurch begünstigt", schrieb er, "daß auf diesem Kontinent noch eine Form der gesellschaftlichen Organisation zu finden ist, die den Konflikt zwischen dem Sinzeinen und g der Gesellschaft im wesentlichen löst." Er meint deshalb, daß die marxistische Lehre von den Klassen und vom Klassenkampf in Afrika nicht brauchbar sei. Doch in der gesellschaftlichen Praxis der Länder, die einen fortschrittlichen Weg der sozialen Entwicklung eingeschlagen, haben, kann man ebenfalls weitere soziale Differenzierungen und die Herausbildung sozialer Gegensätze beobachten, wenn auch schwächer als in den Ländern, die sich kapitalistisch zu entwickeln beginnen. Es entstanden Elemente einer bürokratischen Bourgeoisie, es entwickelten sich kapitalistische Elemente im Handel, und die soziale Differenzierung im Dorf schritt weiter voran. Diese Prozesse sind auch bei einer nichtkapitalistischen Entwicklung im tropischen Afrika bis zu einem gewissen Grade unvermeidlich. Zu den wichtigsten Ursachen dieser Erscheinungen gehören die vielfältigen Beziehungen dieser Länder zum kapitalistischen Weltsystem, die faktische Abhängigkeit vom kapitalistischen Weltmarkt, die von den Imperialisten für die Stimulierung der Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse ausgenutzt werden. Ferner haben die jungen Staaten zur Zeit nicht die ökonomische Basis, die Kader und die Erfahrungen, um einerseits auf das private Kapital zu verzichten und es andererseits völlig unter Kontrolle zu halten. Schließlich führt die notwendige ûitwicklung der Marktproduktion in der Landwirtschaft zunächst einaal spontan zur Zersetzung der traditionellen Beziehungen im Dorf einschließlich ihrer kollektiven Elemente und zur Herausbildung individueller Warenproduzenten. Die Organisierung von Genossenschaften und die Erziehungsarbeit kann diesen Prozeß nicht aufhalten, solange der Zusammenschluß in modernen Produktionskollektiven nicht einen ausreichenden materiellen Anreiz bietet. (Die Bemerkung im Referat Professor Suret-Canalea über das

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bisherige Schicksal der Produktionsgenossenschaften in Guinea bestätigt d a s . D i e materielle Grundlage dafür ist jedoch die Einführung einer Agrotechnik, die den bisherigen primitiven Produktionsinstrumenten überlegen ist. Die dafür notwendigen Mittel können jedoch nur allmählich, in einer längeren Periode akkumuliert werden. Die Vorstellung, daß auf dem nichtkapitalistischen Entwicklungsweg die Masse der afrikanischen Bauern aus der traditionellen Dorfgemeinschaft bzw. Großfamilie direkt in eine demokratische oder gar sozialistische Produktionsgenossenschaft übergehen könnte, erscheint stark vereinfacht, weil "willensmäßige Faktoren" einfach nicht ausreichen, um neue gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Es wird wahrscheinlich eine Periode geben, in der sich auf dem Dorfe individuelle Produzenten entwickeln. Die Aufgabe des nationaldemokratischen Staates und der Partei wird es sein, in dieser Periode die Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse zu verhindern und gleichzeitig soviel Elemente des Kollektivismus zu erhalten wie möglich (z.B. durch Organisierung verschiedener Formen der gegenseitigen Hilfe und niederer Formen der Genossenschaften). Erst in dem Maße, wie die objektiven und subjektiven Voraussetzungen geschaffen werden (Industrie, Akkumulationsmittel, Bildungselemente, Arbeiterklasse, Kader usw.), dürfte es möglich sein, auf breiter Front zur Bildung von Produktionsgenossenschaften auf dem afrikanischen Dorf überzugehen. Angesichts der sich entwickelnden sozialen Differenzierung konnte es nicht ausbleiben, daß sich die revolutionär-demokratischen Kräfte gezwungen sahen, gegen solche Elemente vorzugehen, die die nichtkapitalistische Entwicklung bedrohen. So wurden im November 10

1964 in Guinea einige Reformen eingeleitet, die gegen die sich herausbildende Bourgeoisie, gegen Spekulation und Korruption gerichtet waren. Dazu gehörte auch der Beschluß zur Überprüfung der Vermögen der leitenden Politiker und Beamten, der auf dem letzten Parteitag der Parti Démocratique de Guinée (1967) bekräftigt wurde. In Mali wurde im August 1967 das Politbüro der Union Soudanaise aufgelöst, da sich in diesem Kräfte befanden, die zwar Verdienste im nationalen Befreiungskampf erworben hatten, aber jetzt die Durchführung der nationaldemokratischen Entwicklung lähmten und sich persönlich bereicherten. In Tansania nahm das Exekutivkomitee der Tanganyika African National Union im Januar 1967 die ArushaDeklaration an, die eine exakte Begrenzung des Vermögens der lei-

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tenden Funktionäre vorsieht und ihnen jede Beteiligung an kapita11

listischen Unternehmen untersagt. In der Regel gingen solchen Entscheidungen der nationaldemokratischen Führungen Massenaktionen der Werktätigen, insbesondere der Gewerkschaften, voraus, die sich gegen die persönliche Bereicherung einiger Führer, gegen Korruption, Spekulation und Mißwirtschaft richteten. Die fortgeschrittensten Kräfte in der Arbeiterklasse und der Jugend erwiesen sich dabei als die konsequentesten Verfechter einer nichtkapitalistischen Entwicklung. Die Unterschätzung bzw. Negierung sozialer Widersprüche und der objektiven Möglichkeiten ihrer öitwicklung in der afrikanischen Gesellschaft hemmt zweifellos die Ausarbeitung einer wirksamen Strategie und Taktik der nationaldemokratischen Revolution und kann - wie das Beispiel Ghanas zeigt - zur Niederlage der revolutionärdemokratischen Kräfte, zu ihrem Sturz führen. In diesem westafrikanischen Staat hatte die Entwicklung einer bürokratischen Bourgeoisie in den Reihen der leitenden Partei- und Staatsfunktionäre das einheitliche Handeln der Führung der Convention People's Paxty untergraben und das Vertrauen der Mitglieder in die Partei und ihre Ziele erschüttert. Die Parteiorganisation zerfiel praktisch, als eine Gruppe hoher Armee- und Polizeioffiziere am 24. Februar 1966 in einem Staatsstreich die Macht ergriff. Weder seitens der Gewerkschaften noch durch andere Parteiaktivisten wurde ernsthafter orga12

nisierter Widerstand geleistet. Die bisherigen Erfahrungen des politischen und sozialen Kampfes fanden ihren Niederschlag in einer Weiterentwicklung der politischen Konzeptionen der revolutionär-demokratischen Kräfte - nicht zuletzt in der Klassenfrage. Sekou Tour6 verallgemeinerte auf dem VIII. Parteitag der PDG ( 2 5 . September bis 2. Oktober 1967) die Erfahrungen seiner Partei, als er davon ausging, d&£ in der nationaldemokratischen Entwicklung Guineas ein Klassenkampf vor sich geht, da£ sich die Widersprüche zwischen den werktätigen Massen und der nationalen Bourgeoisie verschärfen. Deshalb sei die Durchsetzung der führenden Rolle der Ar1^

beiter und Bauern in allen Bereichen notwendig. ? J. -Nyerere konstatiert in der kürzlich veröffentlichten Arbeit "Socialism and Rural Development", daß in Tansanias Agrargebieten der Beginn eines Klassensystems festzustellen sei und schlußfolgert: "... wenn wir fortfahren, die Entwicklung des Agrarkapitalismus zu ermutigen oder sogar zu unterstützen, werden wir niemals ein sozia-

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listischer Staat werden." Und in der Arusha-Deklaration wird die TANU nicht mehr als eine undifferenzierte Massenorganisation betrachtet, sondern ihre ühtwicklung zu einer Partei der Bauern und Arbeiter proklamiert. Zusammenfassend kann man also feststellen, daß die Gruppierung der sozialen Kräfte, die die nichtkapitalistische Entwicklung unterstützen, sie vorantreiben, ihr endgültig Ziel und Richtung verleihen, mit dem Übergang auf diesen Weg des sozialen Fortschritts nicht abgeschlossen ist. Dieser Prozeß hat eine objektive und eine subjektive Seite: Moderne Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse entwickeln sich im wesentlichen nach der Erringung der nationalen Unabhängigkeit. Auf dieser Grundlage können sich erst die Klassenkräfte, die in der Lage sind, die nichtkapitalistische Entwicklung zu ihrem logischen Ende zu führen, vor allem eine mit der modernen Großproduktion verbundene Arbeiterklasse, formieren und gruppieren. Äußere Kräfte beeinflussen diesen Prozeß. Die neokolonialistische Politik der Imperialisten hemmt mit allen Mitteln die Formierung der progressiven Kräfte, die wachsende Macht und Unterstützung der sozialistischen Länder fördert sie. Die subjektive Seite dieses Prozesses äußert sich darin, inwieweit die revolutionär-demokratischen Führungskräfte sich der Gesetzmäßigkeiten der nichtkapitalistischen iiitwicklung bewußt werden und wie sie es verstehen, ihre Erkenntnisse in die Tat umzusetzen. Diese Kräfte verleihen ihrer politischen Konzeption, ihrer Partei und deren Ideologie erst auf der Grundlage des objektiven Prozesses endgültig Gestalt. Diese gesamte Entwicklung verläuft in Ländern, deren Bevölkerung zum größten Teil aus nichtproletarischen Schichten besteht, die unter dem Druck der Imperialisten und großer ökonomischer Schwierigkeiten zu Schwankungen neigen. Infolgedessen sind empfindliche Rückschläge in einzelnen Ländern möglich, wenn die Führungskräfte in den Grundfragen der Revolution nicht auf der Höhe der Aufgaben stehen. Die revolutionären Führer können diese Grundfragen um so besser im Interesse des sozialen Fortschritts lösen, je klarer sie sich über den objektiven Inhalt und die Aufgaben der jeweiligen Etappe der gesellschaftlichen Umwälzung sind, je exakter sie die Stellving der verschiedenen Klassen und Schichten zu diesen Aufgaben analysieren.

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Die angeführten Tatsachen zeigen; Die revolutionär-demokratischen Führer Afrikas überzeugen sich auf der Grundlage der objektiven sozialökonomischen Entwicklungsprolesse und ihrer politischen Folgerungen davon - wenn auch mit unterschiedlichem Reifegrad, aber doch allgemein in zunehmendem UaBe - , daß die Arbeiterklasse sowie die fortgeschrittenen Teile der werktätigen Bauernschaft, des städtischen Kleinbürgertums und der Intelligenz die Haupttriebkräfte der nationaldemokratischen Entwicklung und den Kern der nationalen Einheitsfront bilden, verbürgerlichte bürokratische Elemente u n d kapitalistische Kräfte dagegen die revolutionäre Umgestaltung hemmen und aus der Führung der nationalen Einheitsfront verdrängt werden müssen. Das Schicksal der nationaldemokratisciien Revolution hängt weitgehend davon ab, ob diese Erkenntnisse rechtzeitig reifen u n d realisiert werden.

S u m m a r y The antagonistic classes of modern society have so far not developed strongly in African society. The objective contradictions existing between the rising bourgeoisie and the proletariat are also weakened b y a number of special circumstances (solidarity within the big families and tribes etc.). Recognition b y the revolutionary leaders of the social forces which encourage or obstruct the national democratic revolution was also made more difficult by the fact that the main contradictions - between the peoples of Africa and the imperialists - for a long time concealed all the other social contradictions in African society. That is why, in almost all conceptions of socialism of a national type, the existence of classes in African society and the possibility of their development was either ignored or very much under-estimated. Idealisation of traditional African society, with its democratic elements, was bound up with the hope of being able to build up a socialist society without internal clas3 conflicts. Experience has shown that in the first phase of non-capitalist development social diferentiation continues and the social forces which threaten anti-capitalist development can become stronger. This situation forced the revolutionary-democratic forces, in practice, to lead the class-struggle against the reactionary elements in their countries. Experience in the politi-

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cal and social struggle led to a further development of the political concepts of the revolutionary democrats in the class question, too. Clear understanding of the social forces which at each stage lead and support or obstruct and endanger non-capitalist developments is an indispensible condition for correct strategy and tactics by the revolutionary democrats and has its share in deciding the success or failure of the national democratic revolution.

Anmerkungen 1

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J. Woddis: Kontinent im Morgenrot. Berlin 1963; ders.: Der Weg nach vorn. Berlin 1964; R. Barbé: Les classes sociales en Afrique Noire. Paris 1964; Akademija Nauk SSSR, Institut Afriki: Raboöij klass Afriki. Moskva 1966; T. Amath: Die Klassenstruktur der Länder Tropisch-Afrikas. Ins PFS 1966. 9. Jg. Nr 2; u.a. M. Diop: Struktur und Lage der Arbeiterklasse in Senegal. In: PFS 1967. 10. Jg. Nr. 1, S. 34. Z.B. P.C. Lloyd (Ed.): The New Elites of Tropical Africa. London 1966, S. 56. Z.B. M. Roberts: A Socialist Looks on African Socialism. In: W.H. Friedland / C.G. Rosberg (Ed.): African Socialism. Stanford/ Cal. 1964, S. 85. Vgl. V. OpluStil: Einige Deutungen des Sozialismus in TropischAf rika. In: PFS 1966. 9. Jg. Nr. 5; I. Cox: Ideen des Sozialismus in Afrika. In: PFS 1966. 9. Jg. Nr. 2. Charte Mouvement National de la Revolution. Session Fevrier-Mars 26.2.66 au 2 6 . 3 . 6 6 . Brazzaville o.J., S. 12 ff. I. Diarra: Massenpartei und Aufbau des Sozialismus. In: PFS 1967- 10 Jg. Nr. 1, S. 27J. Nyerere: Africa's Place in the World. In: Symposium on Africa. Wellesley/Mass. 1960, S. 158. Vgl. Beitrag von J. Suret-Canale des vorl. Bandes. Vgl. J. Suret-Canale: Guinea blickt in die Zukunft. In: PFS 1966. 9. Jg. Nr. 2, S. 119/120. Der Weg zum Sozialismus. Deklaration des Nationalen Exekutivkomitees der Nationalunion von Tanganyika (TANU). In: IAB 1967. 12. Jg. Nr. 5 . E. Dummer: Die Strategie und Taktik der Convention People's Party im Kampf für die nichtkapitalistische Entwicklung in Ghana.

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Phil. Diss. Inst. f. Gesellschaftswiss. Berlin 1966, S. 184 ff. 8 e Congrès à Conakry dès 25 septembre au 2 octobre 1967, Rapport politique et de doctrine du Bureau Politique National du PDG par Ahmed Sékou Touré, S. 6-7; Resolution Générale du 8éme Congrès. Ins Horoya (Conakry) 3.10.1967. 125» K.P. Karunakaran, a.a.O., p. 58-59 - siehe die Ansichten von B.Ch. Pal und Bankim Ch. Chatterji. Siehe dazu J. Nehru: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Düsseldorf 1957, S. 511 f. K.P. Karunakaran , a.a.O., p. 93Siehe auch P. Griffiths: The British impact on India. London 1952, p. 251 ff. L. Rai: The man and his word. Madras 1907, p* 148; ders.: The Arya Samaj. London 1915, p. 240 ff. Siehe dazu auch E. Bevan: Indian nationalism - an independent estimate. London 1914, p. 113; "Just as the Extremists turn away from the Western Liberalism of the Moderates to the ideal of personal government indigenous

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H. Meier to the East, so this section of Extremists turns away from the Rationalism and Secularism of the Moderates to the old r e l i g i ous t r a d i t i o n . . . " . Ausführlich dazu s. B.R. Purohit: Hindu Revivalism and Indian Nationalism. Varanasi 1965, p. 38 f f . ; dazu auch K.P. Karunakaran, a.a.O., p. 52 f f . Siehe auch Ch. Singh: The l i f e of Swami Dayanand Saraswati. Lahore 1905- v o l . I , p. 328-335. S. Natarajan: A century of s o c i a l reform in India. Bombay 1902. p. X I I I ; siehe auch H. Mukherjee, U. Mukherjee: The growth of nationalism in India (1857-1905). Calcutta 1957, p. 72. Ebenda, p. 73Siehe z.B. B.R. Purohit, a.a.O., p. 31-49; siehe auch K.P. Karunakaran, a.a.O., p. 14-15; G.G. Narang: Luther of India. Lahore 1910. Griswold: Indian Evangelical Review. January 1892, z i t i e r t i n : J.N. Farquhar: Modern r e l i g i o u s movements in India. New York 1915, p. 111-112. Ebenda, p. 111-112. Der innere Hauptfeind des zu den ökonomisch führenden europäischen Ländern gehörenden Deutschlands, der Hauptfeind der staatlichen Zentralisation und damit der f r e i e n Entfaltung der Produktivkräfte, waren die eng mit der römisch-katholischen Kirche verbundenen deutschen Pürstenstaaten. Die Bauernschinderei, die Ausplünderung der niederen Stadtbevölkerung durch die herrschende Feudalklasse hatten immer furchtbarere Ausmaße angenommen und trieben die Massen zum Widerstand. Gegen die g e i s t i g e Unterdrückung durch d i e m i t t e l a l t e r l i c h e Kirche eröffneten die deutschen Humanisten ihren Kampf. Die sozial-ökonomischen und politischen Widersprüche hatten sich derart zugespitzt, daß s i e objektiv in einen Widerspruch zwischen Frühkapitalismus und Spätfeudalismus mündeten, der immer nachhaltiger auf seine Lösung drängte. Die ergab sich im Kampf gegen das "große Zentrum des Feudalsystems", die römisch-katholische Kirche. In dieser Situation "zündeten", wie Engels schrieb, "die Thesen wie ein B l i t z in ein Pulverfaß". Siehe Reformation und Revolution. Berlin 1967, S. 6; v g l . M. Steinmetz: Reformation und Bauernkrieg in Deutschland a l s frühbürgerliche Revolution. In: ZfG. Sonderheft 1965, S. 38 f f . ; F. Engels: Der deutsche Bauernkrieg. Berlin 1965, S. 53-

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18 K.P. Karunakaran, a.a.O., p. 65; H. und U. Mukherjee setzen sich gegen die bisher allgemein anerkannte These zur Wehr, den Arya Samaj als eine "revivalist movement" zy. bezeichnen: a.a.O., p. 75» leider haben sie sich nicht genügend Zeit und Platz genommen, um ihre Gegenargumente überzeugend darzulegen. 19 20 21

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Detaillierter s. A.R. Desai, a.a.O., p. 260. J. Nehrus Weltgeschichtliche Betrachtrungen, S. 51 1 • Dayanand und seine Anhänger erkannten vielfach die Überlegenheit Europas auf technisch-wissenschaftliche» Gebiet an und zogen daraus die Schlußfolgerung nach Verbreitung technischer Bildung. Auch das soziale Programm des Arya Samaj versuchte, dem Rechnung zu tragen, blieb aber in dieser Beziehung wesentlich hinter den Bemühungen des Srahmo Samaj zurück. H. und U. Mukherjee vermerken richtig, daß "inspite of his strong advocacy of the 'back to the past' movement, he was modemist enough to appreciate properly the value of science and technocracy". In: A.a.O., p. 72; und B.K. Sarkar geht darüber hinaus und nennt ihn einen großen Futuristen, bezogen allerdings vor allem auf Dayanands zweifelhafte Wiederbekehrungskampagne der Hindus. In: Creative India. Lahore 1957» P« 461464. Siehe B.R. Parohit, a.a.O., p. 8, 11, 55} Dayanand Saraswati, Satyartha Prakash, 51 articles of faith. Siehe Kapitel XIII in Dayanands Satyartha Prakash, das eine Fülle von Ausfällen und böswilligen Verleumdungen des Islams und Christentums enthält.' L. Rai: The Arya Samaj. London 1915» C.F. Andrews, G. Mukerji: The rise and growth of the Congress in India. London 1958, p. 55. Siehe P. Tandon: Punjabi Century, 1857-1947. London 1961, p. 55; S. Webb in seinem Vorwort zu L. Rais The Arya Samaj, p.XI; Punjab Census 1900. part. I, p. 115-116; National Archives of India: Home Dept..Political A, August 1907, Proceedings Nos. 148-255, P'r 5; Punjab District Gazetteers, vol. XXXIV A. Muzaffargarh District 1908. Lahore 1910, p. 70; Punjab District Gazetteers, vol. XXX A. Mianwali District 1915« Lahore 1916, p. 75Siehe SirfienzilIbbetson: Punjab Castes. Lahore 1916, p.247Siehe B.Ch. Pal: Memories of my life and times. 1886-1900, vol. II, p. 80-81.

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Unter den Sikh-Herrschern hatten diese Kreise eine etwas untergeordnete Rolle gespielt, was sich seit der Annexion des Punjab dur.-ch England änderte. Siehe P. Tandon, a.a.O., p.'28. P.N. Böses A history of Hindu civilisation during British rule, vol. I. Calcutta 1894, p. 101. fi. Kumar: The Rowlatt Satyagraha in Lahore. n.d., p. 74 f. A.R. Desai, a.a.O., p. 270-271; K.P. Karunakaran, a.a.O., p. 54 ff. Zum Prarthana Samaj s. Desai, a.a.O., p. 267Aus Satyartha Prakash, zitiert in B.R. Purohit, a.a.O., p.47. Aus Dayanands Aryabhivinaya, Lahore Samvat 1994, p. 214, zitiert in: Karunakaran, a.a.O., p. 85. K.P. Karunakdran, a.a.O., p. 85. Diese Meinung vertrat auch E.P. Maclagan in dem Punjab Census Report von 1891, zitiert in: Karunakaran, a.a.O., p. 86. Ch.H. Heimsath: Indian nationalism and Hindu social reform. Bombay 1964, p. 128. Dazu s. A.R. Desai, a.a.O., p. 269Bereits im Januar 1907 hatte sich im Punjab die Hindu Sabha gebildet; ausführlicher s. B.B. Majumdar: Indian political Associations and Reform of Legislature, 1818-1917. Calcutta 1965, p. 256 ff.; siehe B.R. Purohit, a.a.O., p. 14, 1 2 5 . Ebenda, p. 138. Dazu V.D. Savarkar: Hindutva. Poona 1949, p. 3-4. Detaillierter dazu I. Prakash: A review of the history and work of the Hindu Mahasabha. Delhi 1952, p. 13. V.D. Savarkar, a.a.O., p. XVII-XVIII. Der RSS wurde unmittelbar nach den kommunalistischen Ausschreitungen zu Beginn der 20er Jahre in Nagpur gegründet. Siehe . B.R. Purohit, a.a.O., p. 146. Siehe die Ergebnisse der 4. Allgemeinen Wahlen in Indien vom Februar 1967. Vgl. zwischen den Ansichten und der Tätigkeit des RSS und Hitler. S. N.L. Gupta: R.S.S. and democracy. New Delhi, p. 9-10; auch S. Joshi: R.S.S. - is it a cultural organization? New Delhi 1966, p. 2, 5 ff-, 12-13Siehe B.R. Purohit, a.a.O., p. 154, 1 5 6 . S. Joshi: R.S.S. - is it a cultural organization?, p. 5S.P. Prem: R.S.S. - Policy on Punjabi Suba. New Delhi n.d.

M i l o s l a v

K r â s a

Problems of Nationalism in Contemporary India The problems of nationalism in India about which I wish to speak are neither strictly related to the present time nor exclusively of a historical character. Although they are all deeply rooted in the past and of great importance today, it can be expected that they will be even more urgent in the future. I have in mind the problems arising from and connected with the multinational character of India and the growing manifestations of economic, cultural and political interests of the nationally more or less united Indian states, put forward in the form of national aspirations. I also have in mind, their relations with the hitherto prevailing conception of the Indian nation and all-Indian nationalism. I am naturally able to raise only a few points for discussion in this brief contribution rather than trying to solve the problems concerned. Similarly, I can only limit the scope of the issues instead of attempting to exhaust it entirely. I should like to say right at the beginning that, both from the theoretical and methodological points of view, the basic Marxist approach to understanding of the national question in general seems to me to be in no way contradicted by the objective evolution and character of the national set-up in India. At the same time, however, the many specific aspects and different historical conditions of the Indian scene - as well as of other Asian and African countries - certainly constitute a fresh and highly topical challenge to Marxist historians in verifying, re-evaluating or developing on the basis of new historical evidence and current reality the conclusions and theoretical generalizations that have prevailed hitherto. In my opinion a Marxist reading of the national question and nationalism as a historical phenomenon closely connected with the economic, social and cultural factors of a given area and community is also the best guarantee of the necessary scientific objectivity representing the starting point in tackling the practical implications of nationalism in India and in defining the respective policies involved

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Everything seems to corroborate the fact that the problem of the national question and nationalism in present-day India is appearing in a new form, namely as a multinational question and "regional" nationalism confronting the centre fend competing with each other, and as such on an all-India scale for the first time. Of prime importance in this respect is without doubt the attainment of political independence and the economic and cultural changes that followed as well as the mere possibilities of these changes themselves. Of major significance, however, is the fact that the Congress government has gradually fulfilled, not without reluctance, former demands from the time of the liberation movement and brought the borders of the individual states into harmony with the linguistic regions. In the relatively favourable climate of the secular state and the spreading, basically capitalist pattern of society, administrative conditions have been created for the setting in motion of the economic, cultural and political life of the individual nations and nationalities. The process of the formation and awareness of national identity has reached its consummation or begun to develop more rapidly. Many formerly latent aspects of the problem are coming with infallible clarity into the forefront of political life in India in the twentieth year of its independent development. The conditions of India's contemporary national set-up as depicted previously in the exhaustive paper by Professor W. Ruben are a manifestation of a thousand years of internal ethnic development of an enormous sub-continent, influenced in the modern age particularly by the consequences of colonial policy on the one hand and the development of the liberation movement, especially its final phase represented by an all-India, organized political struggle, on the other hand. The resulting manysidedness of the nationality problem in India is quite well known, its reflection on the ideological and public opinion plane being equally complete. As a rule, considerable differences exist between the objective situation and its realization in thinking and notions, this naturally being connected with the fact that the highly uneven process of development both from the all-India viewpoint and within the framework of the individual states is far from having reached a state of balance and stabilization and that in the contemporary political life of India these problems are modified by so many different and antagonistic conceptions and prejudices from the ancient and more recent

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past. This state of affairs is also naturally influenced, by the fact that the lack of theoretical clarity, the persistently reigning religious and emotional attitudes in society and, above all, the enforcement of class interests, politiqal tactics, the demagogical exploitation of national feeling in the interest of certain political parties, etc. are in themselves a reality exerting a reverse Influence on further development. In many concrete situations and experiences of every-day life the process of expanding differentiation between the national entities of the individual Indian states, hitherto understood largely as administrative or linguistic units, is beginning to come into conflict with the more or less official conception of "the Indian nation" and the deep-rooted tradition of "Indian nationalism". There can be no doubt that certain specific characteristics of Indian society, for example, Hinduism (not, of course, only in the form of a religion, but also as a linking common tradition, a social institution, and a "way of life" in general) or the Indian multicultural synthesis, like modern historical influences and experiences, for instance, the common liberation struggle, the impact of western thinking, or the results of technical and communication progress, etc., have created a strong bond of all-India solidarity, profound Indian patriotism, and "national" consciousness. On the other hand, in those regions of India in which nationalism manifested itself first and most strongly due to their having the essential economic and class basis (for example, Bengal and Maharashtra) it has been understood right from the very beginning as being of an all-India character, its representatives feeling themselves to be the authorized spokesmen of all Indian patriots. This conception of the Indian nation and nationalism has obviously resulted from the conditions then prevailing (the main political interests of the Indian people were after all identical, regardless of the language they spoke), and become a matter of fact which has played an important and positive historical role and still represents a real political force. Politically it has always been and continues to be motivated, too, by the necessity of furthering the unity of the country, either as the main prerequisite of a successful struggle for freedom or later'for strengthening independent status and progressive development. One has to see, however, that the illusion of a single Indian nation (not unlike, for example, the fiction of a Czechoslovak nation between the two

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World Wars) suited in particular the interests of the bourgeoisie of the developed Indian nations which had the biggest political and economic lead and thus also the best position both in the liberation movement and in the organs of power of independent India. From the aspect of an objective evaluation of facts and analogy with the development of the national problem in other countries it would seem more correct to speak of historically and politically conditioned supra-national solidarity as well as the conception of nationalism "from above", although at the moment in harmony with the interests and feeling of the prevailing majority of the population and fundamentally accepted. It would be interesting to analyse the extent to which an influence has been exerted here b y the fact that the iaeas of nationalism reached India as a "finished" component of the ideological influences of the West long before modern industry and a local bourgeoisie originated in the individual parts of the country or, let us say, such a petty problem as the degree to which the conception of nation in the theoretically defined sense has merged with the conception of state nationality (Staatsangehörigkeit) under the influence of English terminology. From this point of view it is interesting to trace the motives behind the demand for a re-adjustment of Indian provinces on a linguistic basis as they have been made in the Congress movement since World War I. It is characteristic that the first instigation came from the Telugu milieu from Andhra as early as in 1913- However, in the course of its further assertion on the platform of the central organs of the Indian National Congress it was always understood rather as a mixture of revivalism of the glory of ancient Indian regions, a sort of rebellion against the rather incidental administrative organization of British India, a preliminary step towards provincial autonomy or on grounds of sua educational and cultural character. In no case, however, was it understood as the expression of a conscious policy of national self-determination or the anticipation of objective tendencies in the development of the nations of the subcontinent. All-India nationalism, whose political background was the class solidarity of the Indian bourgeoisie regardless of nationality and whose greatest strength lay in the widespread popular liberation movement led by the bourgeoisie, naturally could not be theoretically justified b y the postulate of self-determination of nations in the real sense of the word. Consequently there rather predomi-

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nated in the arguments of the unity of common history, tradition, culture and the freedom struggle which drowned or shifted into the background all other loyalties, including the feeling of nationhood in the various developing national communities of India. In theory it was the uniting force of multi-race, multi-language and multi-religion solidarity forming a unique historical synthesis. In political practice, however, it was sometimes narrowed down to a dangerous mark of equality - Indian equals Hindu. This was also one of the reasons why the idea of all-Indian nationalism did not have finally any attraction for the wide masses of the Muslim population, when the absurd theory arising from sufficiently known causes emerged, namely that confessors of Islam all over India formed a special nation. Moreover, it had its unfortunate counterpoint In the ideology of the orthodox Hindu reaction. The conception, of the Indian nation and Indian nationalism has nominally survived also in the conditions of the IndependentIndian Republic. In the preamble of the Indian constitution all citizens are guaranteed justice, liberty, equality and "Fraternity ensuring the dignity of the individual and the unity of the Nation". Furthermore, in the passages devoted to protection of the interests of minorities, discrimination on the grounds of religion, race, caste, or language is excluded. "Nationality" is not mentioned. The term "national" is generally and more or less exclusively used in the sense of pertaining to the state. This state of affairs is still deeprooted and prevailing, being generally considered as normal. For example, in the recent resolution of the Central Executive Committee of the CPI of 30.9.1967 on the problem of the state language, a mention is made of support "of the fullest development of Indian democracy, language, culture, and national unity" (italics - M. Krasa ). Nevertheless, changes are already occurring in the understanding of the substance of the traditional conception of Indian nationalism and the new reality is also asserting itself in relation to the individual Indian nations. Formulations such as "linguistic and ethnic nationality" appear ever more frequently even in documents of an official character, India also being written about as a "multinational community", etc. The political unity of India is not losing its importance but since the time of the national liberation movement it has acquired a qualitatively new character which is, perhaps, not yet generally and fully realised. Under the existing conditions the assimilation

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of advanced national, and maybe also many tribal entities, is practically out of the question. We should not forget that the process is generally influenced by the immensely sensitive atmosphere of the last third of the 20th century, when even the primitive and underdeveloped economic or class relations are to a great extent counterbalanced by the impact of ideas of self-determination as well as the actual examples of its implementation. On the contrary, a growing differentiation and national selfrealization and, on the other hand, a gradual weakening of traditional unifying factors can possibly be expected. The result of all these changes and new tendencies is the gradual emergence of the new content of the agelong "dream of Indian unity" in which the centre of gravity will probably shift still more in the direction of pure statehood and federal, multinational structure. It seems, therefore, that very much indeed, maybe nothing less than the future integrity of the country as a secular state, depends on a thorough analysis of the national question in India as well as on a concrete policy based on such an analysis.

S u m m a r y One of the characteristic features of modern developments in India has been the growing self-realization of numerous Indian nationalities and other ethnic groups in the historically established atmosphere of Indian patriotism and all-Indian solidarity. After the attainment of independence its many formerly latent aspects have emerged into the forefront of political life with infallible clarity. Within the new frontiers of nationally compact administrative units, in the relatively favourable climate of the secular state and the spreading, basically capitalist pattern of economy new conditions have been created for accelerating the process of the formation and awareness of national identity. The deeprooted idea of the "Indian nation" has been confronted with the emerging conceptions of "linguistic and ethnic nationality" or of India as a "multi-national community". The specific conditions of the Indian scene, as far as the national question is concerned, constitute a fresh and highly topical challenge to Marxist historians in verifying, re-evaluating or developing the hitherto prevailing conclusions and theoretical generalizations on the basis of new historical evidence and carefully analysed current reality.

Dagmar

A n s a r i

Zum nationalen Charakter der modernen Hindi-Erzählung In den 30er Jahren nahm der nationale Befreiungskampf in Indien einen neuen Aufschwung. Es ist kein Zufall, daß in der Literatur gerade in dieser Zeit die Erzählung noch ausdrucksvoller als bisher in Erscheinung trat. Das Genre der Erzählung war besonders gut in der läge, auf das ereignisreiche Geschehen der Zeit lebhaft zu reagieren. Die Thematik des nationalen Befreiungskampfes wurde ein fester Bestandteil der literarischen Tradition. Etwa seit den 30er Jahren differierten die Autoren stärker in ihren literarischen Standpunkten. Die mit Premcand begonnene Tradition der sozialen Erzählung wurde vor allem von Yaspäl (geb. 1903), aber auch von U. Aäk (geb. 1910) u.a. weiterentwickelt. Besonders Yaspäl prangerte die Erscheinungen der sozialen Ungerechtigkeit und die traditionellen Vorurteile heftig an; öfter kam es aber dazu, daß in seiner Gestaltung der seelische Reichtum des Menschen weniger zum Ausdruck kam als dessen Verbindung zur Gesellschaft. Dagegen neigte eine andere Richtung zu oft übertriebener Psychologisierung. Nach der Erringung der Unabhängigkeit 194-7 steht verständlicherweise nicht mehr antikolonialer, sondern antifeudaler und antikapitalistischer Kampf im Vordergrund. Eine weitere lebhafte Entwicklung des Genres der Erzählung ist seit dieser Zeit geradezu bezeichnend für Indien. Die älteren Hindi-Erzähler setzen ihr Schaffen fort. Anfang der 50er Jahre wurden jedoch viele Schriftsteller bekannt, die der Literatur neue Impulse brachten, wie Räjendra Yadav (1929), Mohan Räkes (1925), Kamale&var (1932), Mannü Bhandärl (1931), U§ä Priyamvadä (1931), Nirmal Varmä (1929) und andere. Ihre Erstlingswerke erschienen um das Jahr 1950. Diese jungen Prosaiker schreiben auch Romane,^ V O r allem aber Erzählungen. Bei allen individuellen Unterschieden weist ihr Schaffen mehrere Gemeinsamkeiten auf. Im Januar 1956 wurden diese jungen Erzähler - mit ihrer Zustimmung - in der Zeitschrift "Kahänl" (Erzählung) zium ersten Mal als eine literarische Gruppe behandelt.^ Das Jahr 1956 wird als

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historisch für die Herausbildung dieser Gruppe angesehen1957 war Neue Erzählung schon ein akzeptierter Begriff.-' Die Neuen Erzähler kaipen zu einer literarischen Tätigkeit erst' im politisch unabhängigen Indien. Die progressive Tradition cLes nationalen Befreiungskampfes ist bei ihnen nicht mehr lebendig. Allerdings haben sie die Erringung der Freiheit zwar noch sehr jung, jedoch schon bewußt miterlebt. Den historit hen Hintergrund ihres Schaffens bildet die ungleichmäßige und widersprüchliche politische und ökonomische Entwicklung Indiens seit 1947» in der das Land den kapitalistischen Entwicklungsweg beschritten hat. Mit der Ausdehnung des Kapitalismus in Breite und Tiefe bei gleichzeitigem Fortbestehen starker feudaler und halbfeudaler Relikte treten tiefgehende soziale Widersprüche offen zutage und beeinflussen das gesamte gesellschaftliche Leben in zunehmendem Maße. Den anfänglichen Enthusiasmus teilten die Neuen Erzähler mit dem ganzen Volk. Bald mischten sich aber die Hoffnungen auf ein besseres soziales Leben mit der Enttäuschung darüber, daß viele der Versprechungen und Losungen auf dem Papier blieben. In den 50er Jahren überwog in der Neuen Erzählung - in Übereinstimmung mit der älteren gesellschaftskritischen Richtung der Hindi-Literatur - die zornige Note der Empörung über die Unzulänglichkeiten, aber auch Zuversicht, daß diese beseitigt werden. In einzelnen Erzählungen kommt die Antikxiegseinstellung zum Ausdruck, indem auf den sinnlosen Schmerz der Menschen im Kriege hingewiesen wird.® In den 60er Jahren vertieft sich jedoch das Gefühl der Enttäuschung durch die außerordentlich schwierige politische und ökonomische Lage im Lande. Entsprechend der gesellschaftlich-historischen Lage schildert ein Teil der Neuen Erzähler soziale Veränderungen auf dem Dorfe. Die Mehrheit jedoch entnimmt ihre Themen dem Leben der städtischen kleinbürgerlichen Schichten, mit dem sie vertraut sind, besonders der kleinbürgerlichen Intellektuellen, häufig auch der Lage der Frau. Rljendra Yädav sagte dazu selbst: "Ich sage offen, daß ich 7 das Kleinbürgertum kenne und meistens eben darüber schreibe." Oft werden sozial bedingte Konflikte der Gestalten mit der Umwelt behandelt, die sogar zu ihren krankhaften Zuständen führen. Bezeichnend für die Neue Erzählung ist die Abneigung gegenüber SentimentaQ lität und Pathos, die in den indischen Literaturen früher nicht unbeliebt waren. R. Yädav äußerte sich: "Ich bin der Meinung, daß ein sentimentaler Schriftsteller über sensible Menschen nicht schreiben kann."^ Die Neuen Erzähler setzen sich mit der traditio-

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nellen Denkweise auseinander und verstoßen oft bewußt gegen viele traditionelle Elemente der literarischen Gestaltung, z.B. ausdrück10 lieh gegen die Dorf- und Waldromantik; früher geläufige lange Einleitungen werden weggelassen, dafür aber verschiedene Querverbindungen des Individuums zur gegenwärtigen Gesellschaft dargestellt, die Vergangenheit in retrospektiven Passagen erhellt u.ä. Um die Gruppe Neue Erzählung ha.t sich eine lebhafte Diskussion entwickelt. Neue Erzählung erfährt dabei mitunter scharfe Kritik in literarischen u n d populären Hindi-Zeitschriften. Den Schriftstellern wird vorgehalten, daß sie sich für abscheuerregende The11 matik interessieren, sich zu viel mit sexuellen Prägen beschäftigen,''^ keinen Sinn für Romantik und Gefühl haben''' u.ä. Der schwerwiegendste, und sehr häufige Vorwurf ist der, daß die Neue Erzählung keine indische Erscheinung sei und dem indischen Geiste widerspreche. Verschiedene Kritiker, z.B. auch einige namhafte 14 Hindi-Schriftsteller, behaupten, daß die in Neuen Erzählungen geschilderten Ereignisse u n d Empfindungen, wie das Gefühl der Einsamkeit oder erotische Fragen im Leben eines Inders undenkbar geien. Die Kritiker empören sich darüber,''-' daß manche Neue Erzähler ihre Themen im Ausland suchen. Die Kritik an der Neuen. Erzählung wird geübt, ohne die ganze Vielfältigkeit der Erscheinung zu sehen. Sie mag für einige Erzähz.B. aus dem lungen einzelner Schriftsteller zutreffen. Man kann —16 Inhalt u n d der Form mancher Erzählungen v o n N. Varmä oder Ravindra Käliyä'1'' (geb. 1939), die allgemeine Menschlichkeit betonen wollen, kaum herauslesen, wo ihre Handlungen überhaupt spielen. Die Neue Erzählung ist aber keine einheitliche Richtung, sondern umfaßt Vertreter verschiedener ästhetischer u n d ideologischer Anschauungen, deren Werke auch recht verschiedenartig u n d oft widerspruchsvoll sind. Im wesentlichen konnte man - ähnlich wie in der Gruppe Neue Lyrik, die sich in den 40er Jahren formierte - schon in den 50er Jahren zwei Grundrichtungen feststellen. Beide haben zu ihren Gunsten sowohl von der gesellschaftskritischen als auch von der stark psychologisierenden subjektivistischen Tradition der Hindi-Literatur gelernt. R. Yädav, M. Bhandärl, Kamale&var, anfangs auch M. Räkes und einige andere haben von Yafepäl, A&k u n d anderen kritischen Realisten das Interesse für die gesellschaftlichen Beziehungen und von Jainendrakumär u.a. das vertiefte Interesse für die Psyche der Menschen übernommen. Diese Richtung bemüht sich u m eine komplexe vertiefte Darstellving der Psyche und der sozialen

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Umwelt des Menschen. Sie kann a l s direkte Weiterentwicklung der gesellschaftskritischen Tradition betrachtet werden. In den 50er Jahren hatte ditme Richtung ein deutliches Übergewicht. Die wirksamsten Erzählungen von R. Yadav stammen aus jener Z e i t . M. Räkeä ging ebenfalls mit E r f o l g auch an g e s e l l s c h a f t l i c h e Probleme heran. Die andere Richtung scheint mehr von Jainendrakumär übernommen zu haben und neigt zum stärkeren Subjektivismus. Das b e t r i f f t das spätere Werk von M. Räkeö, N. Varmä, in starkem Ma£e U. Priyaipvadä u.a. In den 60er Jahren, besonders mit dem Ende der Nehru-Epoche, v e r b r e i t e t e sich unter den I n t e l l e k t u e l l e n ein Gefühl der Auswegl o s i g k e i t , bedingt u.a. durch den Zusammenbruch der Pancasila-Prinzipien und gefördert durch den verstärkten ideologischen Einfluß der USA. Es tauchen Namen weiterer S c h r i f t s t e l l e r auf, wie R. KäliyS, Düdhnäth Sinh, Avadhnäräyan Sinti u . a . , die in der allgemeinen Depression und Enttäuschung dieser Zeit die sübjektivistische Richtung stärken. Häufig finden sie das Leben sinnlos, verneinen a l l e Traditionen, aber suchen auch nichts N e u e s . ^ in einzelnen 20

Fällen werden Augenblicksempfindungen zum Inhalt der Erzählung. Es entstehen aucn ö f t e r als bisher Erzählungen, die eher in Europa 21 oder Amerika a l s in Indien spielen könnten. Diese Erscheinungen sind aber nicht zu verallgemeinern und als bloße Nachahmung der westlichen Literatur einzuschätzen, wie das indische L i t e r a t u r k r i t i k häufig t u t . Der Einfluß der pessimistischen modernistischen Strömungen der englischen und amerikanischen Literatur i s t z w e i f e l l o s vorhanden, aber eine Ausgangsbasis für Gefühle der Ausweglosigk e i t ergibt sich aus den indischen Verhältnissen und kommt dem pessimistischen Trend entgegen. Dabei spielen die Schwierigkeit der allgemeinen ideologischen Situation und die starke A r b e i t s l o s i g k e i t der I n t e l l e k t u e l l e n die Hauptrolle. Die Lage der S c h r i f t s t e l l e r selbst b i l d e t den sozialen Hintergrund des pessimistischen Abbrechens der Tradition. Die v e r b r e i t e t e Stimmung wirkt auch, besonders ungefähr s e i t 1962, auf die Prosaiker der ersten Richtung, so daß 22 sie zuweilen mehr ins Unterbewußtsein a l s in die Welt blicken. Die g e s e l l s c h a f t l i c h e Seite des menschlichen Lebens b l e i b t t r o t z dem b e i ihnen auch dann nicht unbeachtet. So s t e l l t uns R. Yädav in der Erzählung "Das Warten1,2 ^ eine homosexuelle Frau vor, s c h i l dert aber ihren Zustand als durch soziale Umstände bedingt und g e fördert . Die erwähnte indische K r i t i k r i c h t e t sich vor allem gegen den großen T e i l der Neuen Erzähler, die ihre Themen dem städtischen

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Leben entnehmen. Es heißt o f t , daß Indien ein Iand der Dörfer i s t . Das ändert aber nichts an der Existenz dicht bevölkerter und wachsender Städte und Großstädte in Indien. Die Statistiken weisen nach, daß die Bevölkerung der Städte gleichmäßig zunimmt. Ss i s t eine Tatsache, daß die meisten indischen S c h r i f t s t e l l e r , auch - oder eben - die progressiven, über das Dorf so gut wie nichts wissen. Es i s t nicht unwichtig, daß auch die GPI dem Dorf bisher wenig Aufmerksamkeit schenkte und dabei besonders Uttar Prades vernachlässigt e , der der Heimatstaat der meisten H i n d i - S c h r i f t s t e l l e r und außer Delhi der Schauplatz der meisten Neuen Erzählungen i s t . Dorfprobleme bleiben ungelöst, aber auch die Problematik der Städte nimmt zu, und diese i s t den jungen S c h r i f t s t e l l e r n eingehender bekannt a l s die DorfProblematik. Vor allem wird die Frage der unzufriedenen oder sogar arbeitslosen I n t e l l e k t u e l l e n immer komplizierter und s p i e l t eine immer größere R o l l e in der Indischen Gesellschaft. Gekränkte und b e l e i d i g t e I n t e l l e k t u e l l e , deren Gestalten wir in den Neuen Erzählungen beider Richtungen so häufig und in der Regel sehr gelungen finden, sind auch in der indischen g e s e l l s c h a f t l i c h e n Rea2 iL

l i t ä t eine typische Erscheinung. Dieser T e i l der Neuen Erzählung, der sich mit der Stadt- und Intellektuellenproblematik b e s c h ä f t i g t , s p i e g e l t also eine wesentliche Seite des indischen g e s e l l s c h a f t l i chen Lebens wider. Auch der ä l t e r e H i n d i - S c h r i f t s t e l l e r YaSpal meint dazu: "Es i s t eine historisch gesetzmäßige Notwendigkeit, daß sich Kultur in der Stadt konzentriert und daß die Literatur der Stadt gegenüber aufmerksam wird." 2 ^ Die allgemeinen neuen Intellektuellenprobleme sind i n Indien noch mit der Problematik der zählebigen t r a d i t i o n e l l e n Denkweise gekopp e l t . Oft verleihen die Neuen Erzähler ihren Gestalten wahrheitsgemäß ein tragisches Lebensgefühl, das sich aus der nicht gelösten Auseinandersetzung des Traditionellen und des Neuen e r g i b t . So l e i det in der Erzählung "Bestanden - durchgefallen" von R. Yädav der Vater selbst durch das Leid, das er auf Grund seiner Vorurteile s e i ner Tochter zugefügt hat; in der Erzählung "Fremd unter den anderen" steht der Vater a l l e i n gegen d i e ganze Familie, die sich allmählich auf die Seite des Neuen s t e l l t - daher also sein b i t t e r e s Gefühl der Einsamkeit, das mit dem altindischen Erbe des Einsiedlerlebens nichts gemeinsam hat. Dieses Gefühl eines Menschen, der sich in einer ständigen Konfliktlage mit seiner Umgebung b e f i n d e t , i s t in der Neuen Erzählung auch nicht erstmalig, sondern kam z.B. schon in der Lyrik des größten Urdu-Dichters des 19. Jh., Gälib, o f t zum

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Ausdruck. Die Behandlung erotischer Fragen findet man in der ganzen Geschichte der indischen Literatur; die Neuen Erzähler blicken jedoch auch in diese Fragen sozial-psychologisch tiefer hinein als alle ihre Vorläufer. Die in den meisten Erzählungen vor allem der gesellschaftskritischen Richtung enthaltene Kritik betrifft die überlebten Vorstellungen von der Familie und Gesellschaft, den Haß zwischen den Hindus und Muslims und das Kastenwesen. Indem diese Schriftsteller die retardierenden Traditionen angreifen, reagieren sie mit Verständnis auf spezifisch indische Erscheinungen. In den Erzählungen, die das Leben der indischen Studenten oder Intellektuellen im' Ausland schildern,tfirddie Kollision der Reste der traditionellen Denkweise mit den Bedingungen der modernen kapitalistischen Gesellschaft besonders plastisch dargestellt. Ihre Autoren gehören vorwiegend der sübjektivistischen Richtung an. So schildert Sunltä in og der Erzählung "Wenn PärvatI weint" ohne Vereinfachung die Tiefe des Konflikts eines indischen Studenten in den USA, auf den in Indien seine rückständige Frau vergeblich wartet. In der Erzählung "Die Fische"2'' schildert U. Priyagrvadä ohne Sentimentalität, wie ein naives indisches Mädchen in die USA gelockt und dort verlassen wird und durch schwere Proben zwar abgehärtet, aber auch gewissermaßen boshaft wird. Es war wohl nicht nötig, eine Inderin namens Nayantärä Mukherji zu "MukI" umzunennen, wie es U. Priyamvadä von pü einem Kritiker vorgehalten wurde, aber trotz solcher Äußerlichkeiten behält die Erzählung ihre Eindruckskraft. Die Erzählung "Die Verfluchten"^ von Kämtlnäth ergänzt diese Auslandserzählungen gut. Der Autor zeichnet in ihr das freudlose Leben der Angehörigen eines Auslandsinders, dessen Leere jedoch nicht allein durch seine Abwesenheit bedingt ist, sondern vor allem dadurch, daß sie noch in vorkapitalistischen Kategorien denken und nicht in der läge sind, sich umzustellen. Der Leser fühlt mit der Familie mit, versteht aber auch, daß der vergeblich Erwartete sich nicht danach sehnt, in diese leere Atmosphäre zurückzukehren. - Auch der Ideengehalt vieler Erzählungen mit nicht indischer Problematik, die im Ausland spielen, steht in enger Beziehung zu den indischen Verhältnissen. Z.B. kommen in der Erzählung "Eine Nacht in London"^® N. Varmäs Haß dem Rassismus gegenüber und Sympathien mit afrikanischen Studenten zum Ausdruck. Die Handlung seiner Erzählung "Anderthalb Zoll höher"^ spielt im 2. Weltkrieg in der von den Nazis besetzten Tschechoslowakei. Bei der im indischen Kleinbürgertum bis heute

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verbreiteten Unkenntnis der Tätigkeit der Faschisten in Europa können wir diese .Erzählung nicht anders als außerordentlich gelungen und verdienstvoll bezeichnen. In der Neuen Erzählung finden dichterische Symbole eine bemerkenswert breite Anwendung. Diese haben jedoch mit mystischem Symbolismus nichts zu tun, sondern dienen zur Hervorhebung und Veranschaulichung der Grundidee. Diese ßischeinung ist in der von jeher an Symbolen und dichterischen Bildern reichen indischen Literatur durchaus nicht fremdartig und wurde schon von den etwas älteren Hindi- und Urdu-Schriftstellern wie U. A&k, K. Candar oder A. Abbäs vorwiegend angewendet,^2 wobei diese Autoren eine Anregung und Bestätigung ihrer Methode bei M. Gorki fanden. Neue Erzähler entwikkeln diese Methode weiter, greifen zu originellen Symbolen und Bildern und legen in ältere einen neuen Sinn hinein. So wird in einer Linie der Erzählung "Spiele und Spielsachen von R. Yädav ein künstlerischer Gegenstand in den Händen eines ungezogenen Jungen in der gleichen Weise zerbrochen wie indische Mädchen in Zwangsehen, was in zwei anderen Linien erzählt wird. Alle drei Linien laufen am Side zusammen,'und das Folgende ergibt sich: Das Leben der Frau ist ein Spiel, die Regeln dieses Spiels sind die vom Autor gehaBten Traditionen. - In der Erzählung "Ein Baum in Gestalt eines Fragezeichens"^ ist der Held ebensowenig in der Lage, die von ihm erwünschte "moderne" Lebensweise zu meistern, wie auch einen krummen Baum vor dem Hauseingang beseitigen zu lassen. So steht der Baum wie ein verkörpertes Fragezeichen da, das nach dem Sinn aller Mühe dieses Menschen fragt. - In der Erzählung "Kleine Tijmahals"^ symbolisiert das Grabmal Täjmahal nicht die Liebe, wie es traditionell akzeptiert ist, sondern die absterbende Liebe. Auch Elemente und Bilder aus indischen Volkserzählungen werden ausgenutzt; z.B. von Kamalesvar in der Erzählung "Der kinderlose König".^ Die eine Handlungslinie bildet eine Volkssage, die andere die eigentliche Erzählung. Beide sind so eng verbunden, da£ sie an den Kreuzungspunkten auch wörtlich und stilistisch direkt aneinander anknüpfen. In der subjektivistischen Richtung kommt es allerdings stellenweise zum Spiel mit Symbolen.^ Bei der Beurteilung der Netjen Erzählung ist das Indische nicht schematisch dem Traditionellen und Religiösen gleichzusetzen, wie es viele konservative Kritiker tun. Auch in Indien ist Religion und Tradition etwas Historisches, das sich wandelt. Es gilt herauszuschälen, was an alten Traditionen fruchtbar für die Zukunft gelten

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kann und in welcher Form; aber es ist sinnlos, zu verlangen, daß sich die "gute" Literatur in die indische Tradition verschließt und abkapselt. Hierbei geht es nicht um einen Widerspruch zwischen einer "asiatischen Denkweise" und der Denkweise der westlichen "Industriegesellschaft" schlechthin^ 8 (im Geiste der Aussage Kiplings' "East is East, West is West"), sondern um den historischen Grundwiderspruch zwischen dem Alten und Neuen, der verschiedene, auch tragische Erscheinungsformen annimmt. Auf diesen Widerspruch reagieren die Neuen Erzähler empfindsam im Sinne des Fortschritts. Sie nehmen gewiß ausländische Einflüsse auf, sie tun das jedoch im Prinzip auf eine schöpferische Weise und bekennen sich zu den literarischen Traditionen ihrer Vorläufer.^ So schaffen sie eine humanistische Literatur mit spezifischen nationalen Zügen. Neue Erzähler sind eben Schriftsteller des Indien des 20. Jh. mit allem seinen Widersprüchen. Die häufigste und stärkste Seite ihrer Erzählungen ist die des Protests gegen bloßes Existieren ohne Lebensinhalt und gegen soziale und patriarchalische Schranken des Feudalismus und Kapitalismus, die die menschliche Persönlichkeit verkümmern lassen. Diese Problematik bleibt gerade für Indien auch heute noch sehr aktuell.

S u m m a r y After the attainment of freedom in 1947 a certain change in the literary genre of the Short Story in Hindi is noticeable. In the early fifties many young writers started their literary careers. Since 1956 they have been regarded as a "New Short Story" literary group. One trend strives after a synthetic depiction of social circumstances and the human soul, the other pays more attention to the human soul than to social circumstances. But there are many points common to both, such as efforts to choose new topics and new means of expression, elaboration of old topics from quite new points of view and a very critical attitude towards traditionalism and also towards old traditional means of depiction and egression. The search of the New Short Story writers for new topics and new ways of expression is a subject of much dispute and criticism. The most important and frequent criticism of the New Short Story is that it cannot be understood by an Indian mind and that it is not

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an Indian pl'anomenon at all. This criticism is directed, mainly against those New Short Story writers who pay attention mostly to the town and to the intellectuals. But it is a fact that the problem of dissatisfied intellectuals has become a big social problem in India. Thus these New Short Stories reflect an essential aspect of the Indian social life and cannot be called non-Indian. The same is the case with those New Short Stories which attack the reactionary traditions or depict the problem of Indian intellectuals living abroad. A favourite means of expression of the New Short Story are symbols. This phenomenon itself is not new in Indian literature, but New Short Story writers take up new original symbols or put a new meaning into the old ones. It means a creative development of just one aspect of the Indian literary tradition. The above-mentioned criticism of the New Short Story is based on a confusion of the terms "Indian" and "traditional". The New Short Story rejects only obsolete traditions. It is mainly a reflection of the struggle between the new and the old under the complicated circumstances of India in the fifties and sixties and under the influence of the historical upheavals abroad. Cases of plain imitation of Western literature are extremely rare.

Anmerkungen 1

Z.B. M. Bäkes: Dorähä (Scheideweg). In: Saritä. 1947} M. Bhandärl: Maut (Der Tod). In: Nayä samäj. 1950; Kamalesvar: KämregL (Genosse). In: Apsarä. 1951-

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Z.B. R. Yädav: Pret bolte hai (Die Totengeister sprechen). Dilll 1950; ders.: Ukhre hue log (Entwurzelte Menschen). Bombay 1956; ders.: Kulatä (Eine untreue Frau). Dill! 1958; ders.: Sah aur mat (Schach und Matt). K ä s ! 1959; R. Yädav / M. Bhandhärl: Ek inc muskän (Ein Zoll Lächeln). Dilll 1963; M. Räkes: Andhere band kamre (Dunkle verschlossene Zimmer). Dilll 1961; Kamalesvar: Ek sarak, sattävan galiyä (Eine Straße, siebenundfünfzig Gassen). In: Harns. 1957; N. Varmä: Ve din (Jene Tage). Dilll 1964 u.a.

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Srlpaträy: Yudhottar Hindi katha sähitya (Hindi-Erzählung nach dem Krieg); C. Vidyälankär: Hindi kathä sähitya kl samasyie (Probleme der Hindi-Erzählung); P. Gupta: Samsämayik kahänl (Zeitgenössische Erzählung);- N3mvar: TLj kl Hindi kahSril (Hindi-

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D. Ansari Erzählung von heute). Vgl. D. Avasthi: Bhümikä (Einleitung). In: Nal kahänl - sandarbh aur prakgti (Neue Erzählung - Rahmen und Charakter). Dilli 1965» S. 15; Nämvarsinh: Nal kahänl aur ek suruät (Neue Erzählung und ein Anfang). In: Ebenda, S. 234. Vgl. z.B. H. Parsal: Nayl kahänl (Neue Erzählung. Vortrag auf einer literarischen Konferenz in Prayäg im Dezember 1957). In: Ebenda, S. 56 ff. R. Yädav: Tin patr aur ek alpin. In: Jah5 Lak§ml kaid haid (Wo Lakschmi eingekerkert ist). Dilli, 2. sams. 1960. Vorwort zu Jatia Laksml kaid haid. Charakteristisch dafür sind z.B. die Erzählungen M. Räkes: Ek aur zindagi (Ein anderes Leben). Dilli -1961 oder R. Yldav: Tütnä (Der Bruch). Dilli 1966. R. Yädav: Bhävuktä aur samvednä (Sentimentalität und Mitgefühl). In: Dharmyug. 10.11.63, S. 17. Z.B. M. Bhandärl: Ekhäne äkäs näi (Hier ist kein Himmel). In: Sresth kahäxiiyä, Ed. R. Yädav. Dilli o.J. oder Kamalesvar: Sap (Di# Schlange). In: Sresth kahäniyä. Z.B. H. Sinh. in einem Leserbrief.In: Säpt.Hind. 22.8.1965. Das mag z.B. für Amarkänt: Zindagi aur jok (Leben und Blutegel). In: Ek duniyä - samänäntar. Ed. R. Yädav. Dilli 1966 oder S. Ma^iyänl: Do dukho kä ek sukh (Ein Glück aus zwei Schmerzen). In: Iigit 3.4.1966 zutreffen, nicht aber für die Neue Erzählung generell. Z.B. der Leserbrief von R.S. Audlcya. Ins Säpt. Hind. 9-2.1964. K. Gupta: Khulä huä patr ek päthak kä ek naye kahänlkär ke näm (Offener Brief eines Lesers an einen neuen Erzähler). In: Säpt. Hind. 29.3-1964; Leserbrief von R.S. Audlcya. In: Säpt. Hind. 9.2.1964 u.a. Jainendrakumär, A. Nägar und C. Vidyälankär in einer Diskussion, die am 11. und 12.4.1964 in Dilli stattfand. In: Säpt. Hind. 3.5.1964, Dinmän 2-5-1964. V.K. Jain: Videäi pariveä ko mahattä deneväle naye racnäkär, sävdhän! (Vorsicht, neuer Schriftsteller, der du auf ausländisches Milieu liiert legst!). In: Säpt. Hind. 29.8.1965Pahär. In: Jalti jhäyl. Dilli 1964. Sab se choti tasvir (Das kleinste Bild). In: Nal kahänniyä. Okt. 1965. Ek prämänik jhüth (Eine glaubwürdige Lüge). In: Nal kahänniya Okt. 1964.

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Z.B. die Mehrheit der Erzählungen R. Yädavs in den Sammelbänden Khel-khilaune (Spiele und Spielsachen). Dilll 1964} Jahä Lak^mi kaid hai (1957) und Chote-chote Täjmahal (Kleine Tajmahals). Dilll o.J.; M. Bhandäri: RSnl mä kä cabüträ (Piedestal der heiligen Mutter) oder Ekhäne äkäs näi. In: Sresth kahäniyä. Dilll o.J.; M. Räkes: Malte kä mälik (Herr der Trümmer). In: Naye bädal. Dilll 1957 u.a. ^

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Z.B. R. Käliyä: Träs (Die Angst). In: Nal kahäniyä. Jan. 1965; Kämtänäth: Dincaryä kä ant (Das Ende des Tagesablaufs). In: Nal kahäniyä. Febr. 1965. Z.B. A. Sinh: Skäs kä dabäv (Druck des Hipmels). In: Nal kahäniyä. Jan. 1965» Die .Erzählung ist größtenteils in der 1. Person Mehrzahl geschrieben, also in einer gewissen Wir-Form. Dadurch kommt es zu einer merkwürdigen Kreuzung des Subjektivismus und der Entpersönlichung. Das Ergebnis ist weder ein Blick in die Tiefe-der menschlichen Seele, dessen Möglichkeit im subjektiven Stil immer verborgen ist, noch ein realistischer Blick auf die Umgebung und die Beziehungen zwischen den Menschen, sondern eine mehr oder weniger naturalistische Beschreibung der Empfindungen und Beobachtungen der "Wir-Helden". Z.B. R. Yädav: Ek kati hui kahäni (Eine abgebrochene Erzählung). In: Dharmyug. 14.6.1964, oder D. Sinh: MamI tum kyö udäs ho? (Mutti, warum bist du traurig?). In: Nal kahäniyä. Jan. 1965» Z.B. R. Yädav: Kinäre se kinäre tak (Von einem Ufer zum anderen). In: Kinäre se kinäre tak. Dillx 1965; M. Bhandärlj Tisrä ädmi (Der dritte Mensch). In: Yahx sac hai. Dilll 1966. Pratiksä. In: Kinäre se kinäre tak. Dilll 1963. Vgl. E. Shils: The-Intellectual between Tradition and Modernity. In: (The Indian Situation. The Hague 1961, S. 100 ff. Kahäni aur äj kl zindagi (Erzählung und das heutige Leben). In: Nal kahäniya. April 1965, S. 80. PärvatI jab roegi. In: Säpt. Hind. 14.8.1966. Machliya. In: Dharmyug. 3.5.1964. V.K. Jain, a.a.O. Säp-grast. In: Nal kahäniyä. Dez. 1965. Landan kl ek rät. In: Jaltl jhäyl. Dilll 1964. -Derh inc üpar. In: Nai kahäniyä Jan. 1965• Z.B. die Einakter U. A&k: Sükhi däli (Der trockene Ast) oder Laksml kä svägat (Willkommen, Iakschmi!). In: Tüfän se pahle (Vor dem Sturm). Ilähäbäd 1948; die Novelle K. Candar: Jab khet

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jage (Als die Felder erwachten). 1951; A. Abbäs: Cär dil, car rähe (Vier Herzen, vier Wege). Ilähäbad 1959. 33 Khel-khilaune, Dilll 1954. 34 R. Yädavs Prasnväcak per. In: Chote-chote Täjmahal. Dilll o.J. 35 Ders.s Chote-chote Täjmahal. Ins Ebenda. 36 Räjä Nirbamsiyä. In: Kahänl. Jan 1956. 37 Z.B. H. Varmä: Jalti jhäpl. In: Jaltl jhärl. Dilll 1964; Märkandeya: DücLh aur davä (Milch und Arzneimittel) In: Ek duniyä-samänäntar. Dilll 1966; z.T. M. Rlkes: Glas taink (Aquarium). In:ffaulädkä äkäs. Dilll 1966. 38 In diesem Sinne sind auch z.B. auf der Konferenz der All Indian Writers' Association 1959 die Beiträge Traditions and the Modern Writer von N. Raghunathan, Indian Tradition and Contemporary Writing von K. Chandrasekharan und The Indian Tradition and the Contemporary Writer von R.M. Sarma gehalten. 39 Vgl. R. Yädav: Kahänl - nal kahänl tak. In: Säpt. Hind. 31.7. 1966 und 26.6.1966.

W i l f r i e d

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Zur Bedeutung der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution für die Entwicklung der nationalen Befreiungsrevolution in Vietnam "Wie die aufgehende Sonne die Finsternis verjagt, so ist mit der Oktoberrevolution ein neues Licht in der Geschichte der Menschheit aufgegangen." Mit diesen bildhaften Worten begann Ho chi Minh 1957 einen Artikel zur Würdigung des 40. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland. Er ging im folgenden auf die weltweite Bedeutung der Oktoberrevolution und ihre Auswirkungen auf die verschiedenen Länder und Klassen ein. Zu dieser Frage wurde in der letzten Zeit bereits viel geschrieben worden, und auch im Beitrag des Kollegen Dr. Piazza wird ausführlich darauf eingegangen. Ich möchte deshalb gleich zu Vietnam kommen, ohne dieses Tand als Sonderfall zu betrachten. Im Gegenteil, wenn ich auch glaube, daß in Vietnam die Auswirkungen der Oktoberrevolution direkter und unmittelbarer wirksam wurden als in vielen anderen Ländern der kolonialen und halbkolonialen Welt, so haben doch die erfolgreiche Revolution in Rußland, die Gründung des ersten sozialistischen Staates, der Aufschwung der internationalen Arbeiterbewegung und der Beginn der allgemeinen Krise des Kapitalismus in der Welt nicht nur zu einem Aufschwung der nationalen Befreiungsbewegung in quantitativer Hinsicht geführt, sondern ihr auch vielerorts einen neuen Inhalt gegeben. In Vietnam ist das ganz deutlich. Nach einer gewissen Stagnation und Ausweglosigkeit zu Beginn des 20. Jh. wuchs die antikoloniale Bewegung nicht nur erneut an, sondern sie verwandelte sich allmählich in eine zielbewußte nationale Bewegung mit klarem politischen und sozialen Programm. Natürlich wirkten dabei auch andere Faktoren, wie die ökonomischen Veränderungen im Land, die Konstituierung der Bourgeoisie und des Proletariats als Klassen für sich, das Aussterben der monarchistischen Gelehrten u.a., doch die Rolle der Oktoberrevolution muß an hervorragender Stelle genannt werden. Ich zitiere noch einmal Ho chi Minh. Er schreibt in dem bereits genannten Artikel: "Die vietnamesischen Revolutionäre haben den belebenden Einfluß der Oktoberrevolution und die Lehren des Marxismus-Leninismus durch die Kommunistische Partei Frankreichs und die Kommunistische Partei Chinas kennenge-

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lernt. Für die Revolutionäre Vietnams war das wie das heiß ersehnte Wasser für einen durstigen Wanderer, wie Reis, der sättigt und no neue Kraft gibt. Ho chi Minh geht dann auf die Bedeutung der Existenz der Sowjetunion für die weitere Entwicklung des nationalen Befreiungskampfes in Vietnam ein. Ich möchte mich jedoch vor allem auf die Frage konzentrieren, welches Echo die Oktoberrevolution unmittelbar in Vietnam fand. Ho chi Minh weist auf zwei grundlegende Probleme hin: die Wege, auf denen der Marxismus-Leninismus nach Vietnam kam und die Situation, in der sich die patriotische Bewegung Ende des 1. Weltkrieges befand. Denn, obwohl die Kommunistische Partei Vietnamserst 13 Jahre später gegründet wurde, läßt sich eindeutig nachweisen, daß die Oktoberrevolution nicht nur dem Marxismus-Leninismus in Vietnam Eingang verschafft hat, sondern daß sie ihn binnen weniger Jahre zur wichtigsten theoretischen Grundlage des nationalen Befreiungskampfes werden ließ. Das Erstaunliche dabei ist, daß die Zahl der bewußten Marxisten und organisierten Kommunisten bis zum Jahre 1951 (Gründung der Partei der Werktätigen Vietnams) recht niedrig war. Hier einige Ausführungen, die etwas vom Thema wegzuführen scheinen, jedoch zum Verständnis notwendig sind. Bis zur Jahrhundertwende hatte die antikoloniale Bewegung in Vietnam unter der Führung königstreuer konfuzianistischer Gelehrter gestanden. Ihr Ziel war die Wiederherstellung des idealisierten Königreichs der vorkolonialen Zeit. Auch einige bäuerliche Führer hatten keine andere Alternative. Ende des 19. Jh. ging diese - vor allem mit bewaffneten Mitteln kämpfende Bewegung - an den Schlägen der Kolonialsoldaten und ihrer inneren Schwäche zugrunde. Es folgte eine neue Gelebrtengeneration, die sich gegen die rückwärts gewandte Abgeschlossenheit aussprach und im Ausland nach neuen Vorbildern suchte. Ihr Blick fiel vor allem auf Japan, dessen Sieg über Rußland 1905 in ganz Südostasien Aufsehen erregte, und auf China, wo sich zahlreiche Reformideen bemerkbar machten. Diese neue Richtung, die besonders auf Reformen orientierte, zeigte trotz mancher traditioneller Überbleibsel bürgerliche Züge. Die meist in Geheimgesellschaften organisierten Reformer beunruhigten zwar die Kolonialbehörden, da sie aber bewußt auf eine Massenbasis verzichteten und sich vom Volk isolierten, blieb ihre Wirksamkeit doch sehr beschränkt. Während^ des 1. Weltkrieges schien der Widerstand trotz einzelner Aktionen im wesentlichen gebrochen. Auf der anderen Seite gingen in Vietnam wichtige wirtschaftliche und sozial-ökonomische Verän-

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derungen vonstatten. Die Kolonialherrschaft hatte das feudale Wirtschaftsgefüge teilweise zerstört und einige exportintensive Zweige der Landwirtschaft (Reis, Kautschuk), des Bergbaus (Kohle, Zinn) und der Leichtindustrie (Textilindustrie) stärker gefördert. Die Franzosen sahen sich gezwungen, mehr Schulen für Vietnamesen zu eröffnen, um sich einen Stamm von niederen Beamten und Fachkräften zu schaffen. Diese jungen Leute, die meist aus bürgerlichen und den traditionellen Gelehrtenkreisen stammten, bildeten bald den Grundstock der neuen patriotischen Bewegung. Die "Kampagne zur Ausnutzung des Wertes der Kolonien" nach dem 1. Weltkrieg führte zum zahlenmäßigen Anwachsen und zur Konzentrierung des Proletariats (obwohl insgesamt immer noch schwach: für 1930 werden 220 000 Industrie-, Gruben- und Plantagenarbeiter angegeben) und gab auch der einheimischen Bourgeoisie einige Entwicklungsmöglichkeiten. Diese beiden Klassen waren es, von denen die Suche nach neuen Wegen und Zielen ausging. Die Königstreue und die Geheimbündelei wurden als untauglich verworfen, ohne einen befriedigenden Ersatz zu haben. Manche forderten, Japan nachzueifern, andere suchten Verbindung zu Sun Yatsen, wieder andere schließlich meinten, man müsse die Methoden Europas studieren, um die Kolonisten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Auf der anderen Seite führten Arbeiter die ersten Streiks durch, bei denen auch politische Forderungen erhoben wurden. Es fehlte also nicht an Entschlossenheit, wohl aber an einer klaren politischen Zielsetzung und straffen organisatorischen Formen. Das war die Situation, als die ersten Vietnamesen von der Oktoberrevolution erfuhren. Das zaristische Rußland war nie Vorbild gewesen, die Patrioten hatten sich nie dafür interessiert, und auch der Marxismus war zu dieser Zeit noch völlig unbekannt. Es war nicht ein Programm, eine politische Zielsetzung, die Interesse fanden, sondern die Tatsache des Erfolges über den gehaßten Unterdrükker. In Vietnam selbst wax die Information allerdings lange Zeit schwierig. Sie erfolgte zum Teil mit negativem Vorzeichen, d.h., die patriotischen Kräfte versuchten, aus den verleumderischen Artikeln der französischen Kolonialpresse die Wahrheit über die Vorgänge in Rußland herauszulesen.' Aus der gleichen Quelle erfahren wir auch", daß es im September 1919 schon "Bolschewiken" in Vietnam gab. (Avenir du Tonkin v. 17.9.1919).^ Zweifellos waren es nur sehr wenige, doch selbst wenn man berücksichtigt, daß nicht jeder, der sich als Marxist oder Bolschewik betrachtet, auch einer war, bleibt

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doch die Frage, wann und wie sie mit dem Marxismus-Leninismus in Berührung gekommen waren. Es gab zwei Wege, die gleichermaßen daran Anteil hatten: über Frankreich und über China. In beiden Ländern gab es viele Vietnamesen. Genaue Zahlen sind nicht bekannt; wir wissen nur, daß allein während des 1. Weltkrieges ca. 100 000 Vietnamesen als Soldaten u n d Arbeiter nach Frankreich kamen, die keineswegs alle unmittelbar nach Kriegsende nach Hause zurückkehrten. ^ Zum größten Teil waren sie Bauernsöhne aus Nordvietnam. Daneben gab es Intellektuelle und Matrosen. Viele von ihnen waren außerordentlich beeindruckt vom Kampf der progressiven Kräfte in Frankreich. Bisher hatten sie meist Franzosen und Weiße insgesamt mit Kolonialisten gleichgesetzt. Ihre Bemühungen um Kontakt fanden häufig Entgegenkommen. Viele Vietnamesen traten französischen Gewerkschaften, Jugend- und StudentenOrganisationen, der Sozialistischen Partei und später auch der KEP bei. Am Parteitag der Sozialistischen Partei 1920 in Tours, auf dem ein Teil der Delegierten für den Anschluß an die III. Internationale stimmte u n d auf dem die KEP gegründet wurde, nahm ein Vietnamese als Vertreter der Kolonien teil: Nguyen ai Quoc (das ist Ho chi Minh). Unter den Mitgliedern der KEF finden wir Namen prominenter Vietnamesen, wie Nguyen van Tao, später Minister für Arbeit in der DRV, der Mitglied des ZK der KEF war und auch einen Namen, der uns in der DDR besonders gut bekannt ist, Bui Lam, langjähriger Botschafter der DRV in Berlin. Die KEF trug in dieser Zeit eine große Verantwortung. Sie mußte den begeisterten, tatendurstigen aber unwissenden Menschen aus den Kolonien die wirkliche Bedeutung der Oktoberrevolution nahebringen. Sie mußte sie mit dem Wesen des Marxismus vertraut machen. Ho chi Minh sagte dazu 1922: "Für die Eingeborenen ist 'Bolschwismus' das charakteristischste und ausdrucksvollste Wort, da es die Bourgeoisie besonders oft als Schreckgespenst verwendet. Sie fassen das Wort 'Bolschewismus' als Zerstörung alles Bestehenden und Befreiung von der ausländischen Unterdrückung auf. Die erste Bedeutung, die diesem Wort beigelegt wird, entfremdet uns die unwissende und zaghafte Masse, die zweite führt sie zum Nationalismus."® Aufgabe der KEF war es also nicht nur, die Arbeiterklasse im eigen e n Tand zum Umdenken gegenüber den Kolonien zu bewegen, sondern den Kolonialvölkern die in Sowjetrußland praktizierte Lehre Lenins zur nationalen u n d kolonialen Frage richtig zu erklären. Erst n a c h der Oktoberrevolution kam es auf beiden Seiten zur Einsicht in die

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"Notwendigkeit, die Arbeiterklasse des Mutterlandes und die koloniale (besser antikoloniale Bewegung - W.L.) in einer Einheitsfront zusammenzuschließen" schreibt Nguyen Hong Phong in der Nghien cuu lieh su" vom Mai 1 9 6 0 D i e französischen Kommunisten wandten die Erfahrungen Sowjetrußlands in der Zusammenarbeit der Arbeiterklasse des Unterdrückerlande s mit den Massen des unterdrückten Landes im Falle Vietnams recht gut an. Der Vizepräsident der IRV, Ton duc Thang, der damals Matrose auf einem französischen Schiff war, berichtet, mit welcher Ausdauer französische Arbeiter ihren Kollegen von Lenin und den Arbeitern in Rußland erzählten, um ihnen klar zu machen, warum sie gegen eine Intervention gegen den jungen Sowjetstaat kämpfen müßten. Ton duc Thang berichtet auch, wie er sich 1917/18 bemühte, die Vorgänge in Rußland zu verstehen und wie ihm "einige französische Arbeiter halfen, klarer zu sehen: das ist eine sozialistische Revolution, eine Revolution der armen werktätigen Q Menschen." Die vietnamesischen Patrioten erhielten von der KPF. eine wirksame Unterstützimg. Die von Ho chi Minh auf dem V. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale vorgetragenen Vorschläge zur koloniQ alen Frage' wurden von ihr weitgehend verwirklicht s - Die 'Humanité" brachte regelmäßig Material zur kolonialen Frage, und auch andere Publikationen zu diesem Problem wurden in Frankreich und seinen Kolonien verbreitet. Ho chi Minh erhielt Unterstützung bei der Herausgabe der Wochenzeitung "Le Paria" (1922). Wenn auch die kommunistischen Publikationen zahlenmäßig mit denen der Bourgeoisie nicht mithalten konnten (in die Kolonien kamen sie meist nur auf illegalem Wege), störten sie doch die Kolonialisten, wie die Reaktion französischer Zeitungen in Indochina (z.B."Impartial" [Saigon] vom 28. Januar und vom 1 5 . September 1922) deutlich zeigt.'10 - Die Propaganda unter den Angehörigen der Kolonialvölker wurde verstärkt. - Junge Leute wurden an die "Kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens" in Moskau delegiert, darunter eine ganze Anzahl Vietnamèsen. - Es wurden große und keineswegs erfolglose Anstrengungen unternommen, um die in Frankreich arbeitenden Menschen aus den Kolonien zu organisieren. Viele Vietnamesen setzten die politische Tätigkeit nach ihrer Rückkehr in die Heimat fort. Ton duc Thang z.B. gründete 1921 in Saigon die erste illegale Arbeiterorganisation. Sie

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spielte in Südvietnam eine gewisse Rolle, bis sie sich 1926 der "Thanh nien" anschloß.'1'1 - Schließlich wurde unter der französischen Bevölkerung eine umfangreiche Aufklärungsarbeit zur Kolonialfrage geleistet. Auf diese weise machte die KEP die ersten vietnamesischen Patrioten (Arbeiter und Intellektuelle) mit dem Marxismus vertraut. Sie konnte das tun, weil die Oktoberrevolution die innere Bereitschaft dazu geschaffen hatte. Über den prominentesten Vietnamesen, der aus dieser "Schule" hervorging, Ho chi Minh, sagt der langjährige Generalsekretär der Partei der Werktätigen Vietnams und jetzige Vorsitzende der Vaterländischen ?ront Truong Chinh: "Der glorreiche Erfolg der Oktoberrevolution hatte einen entscheidenden Einfluß auf das kämpferische Leben von Ho chi Minh, der nun den Namen Nguyen ai Quoc annahm. iür bemühte sich, den Marxismus-Leninismus zu studieren und beschloß, sich den Kurs, dem das russische Volk gefolgt war, zu eigen zu 12

machen." Ho chi Minh wurde zu einem eifrigen Propagandisten der Oktoberrevolution und der Lehren Lenins. In der "Humanité" und dem "Le Paria" erschienen viele Artikel von ihm, wie "Gedanken zur Kolonialfrage" (25.5.1922), "Lenin und die Kolonialvölker" (27-1.1924), "Die russische Revolution und die Kolonialvölker" (21.3.1924), "Lenin und die Völker des Ostens" ( 2 7 . 7 . 1 9 2 4 ) E s ist deshalb nicht verwunderlich, daß Ho chi Minh bald in der Sowjetunion zu finden war. Allgemein bekannt ist, daß er als Delegierter der KPF am V. Weltkongreß der Komintern 1924 in Moskau teilnahm und in den folgenden Jahren als Vertreter unter den Emigranten aus Südostasien in China wirkte. Zu Unrecht ist bisher jedoch der Tatsache kaum Beachtung geschenkt worden, daß er vorher am Kongreß der Bauerninternationale (Chresintern) teilnahm, und daß er in dieser Organisation mitarbeitete. In dieser Tätigkeit liegt faktisch der Beginn einer neuen Haltung der Führer der patriotischen Bewegung Vietnams gegenüber den Bauern, die bisher nur als "Soldaten" und Kämpfer,niemfels als "Bauern-an-sich" in die Pläne der Widerstandsbewegung einbezogen wurden. Die Bauern als wichtigste Verbündete der Arbeiterklasse in der nationalen Befreiungsrevolution und überr haupt diese beiden Klassen als Träger der Bewegung, das war ein völlig neuer Gedanke, der - vordemonstriert in dem relativ rücksbändigen Rußland mit einer zahlenmäßig noch schwachen Arbeiterklasse und überwiegender Bauernbevölkerung - schnell Anhänger ge-

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wann. Bei einem anderen Teil der Patrioten stieß er jedoch auf strikte Ablehnimg, weil sie die Fähigkeit der Volksmassen zum bewußten aktiven Handeln leugneten. In der nationalen Bewegung Vietnams begann ein Differenzierungsprozeß. Während sich die erste Richtung 1925 zur "Vietnam Thanh nien Cach Mang Dong Chi hoi" zusammenschloß, in der marxistische Ideen eine große Rolle spielten, gründeten die anderen 1926 die "Viet nam Quoc Dan Dang", die sich eng an Tschiang Kaischek anlehnte. Doch aus China kam nicht nur der verderbliche Einfluß Tschiang Kaischeks, über China kamen auch viele neue Impulse aus der Sowjetunion. Auch in China gab es damals viele Vietnamesen, doch im Unterschied zu denen in Frankreich, die als Folge des Krieges oder aus wirtschaftlichen Gründen dort lebten, waren sie zum größten Teil Söhne von Mandarinen, Großgrundbesitzern, Kapitalisten, die aus Unzufriedenheit mit der Kolonialherrschaft ins Ausland gegangen waren. Sie wollten lernen, vor allem in politischer Hinsicht. Hier in China traf sie der gewaltige Einfluß, den die Oktoberrevolution auf dieses Land ausübte, in dem 3 Jahre nachdem die "Geschützsalven der Oktoberrevolution den Marxismus-Leninismus" gebracht hatten, wie Mao Tsetung in früheren Jahren mehr als einmal 14 ausführte, bereits eine kommunistische Partei gegründet wurde. Doch zu China wird hier an anderer Stelle geschrieben. Von den patriotischen Vietnamesen, die sich meist in Südchina (Kanton und Shanghai) aufhielten, waren die allerwenigsten Kommunisten, doch alle verfolgten aufmerksam die Maßnahmen der Sowjetregierung. Besonders bewegte sie die Politik zur nationalen Befreiung. Die Schaffung von selbständigen Staaten in Finnland und der Mongolei und die Gründung der Union der Sowjetrepubliken überzeugten sie, daß die Sowjetregierung bereit war, allen Nationen das Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zuzugestehen. Keinesfalls mußte dem auch die Ijostrennung folgen. Ho chi Minh schreibt dazu: "Ganz im Gegenteil, die Anerkennung dieses Rechtes hat die Voraus^ Setzungen für eine freiwillige Union freier Völker auf der Grundlage voller Gleichberechtigung geschaffen."''^ Es sei daran erinnert, daß die Regierung der DRV 1946 bereit war, das Verbleiben in der "Französischen Union" ernsthaft zu prüfen, wenn diese Rechte garantiert worden wären. In Südchina befand sich in den 20er Jahren das Zentrum der vietnamesischen nationalen Bewegung. Im Lande selbst war sie noch unorganisiert bzw. lokal und klassenmäßig beschränkt. Die lokale Be-

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schränktheit bezog sich nicht nur auf die von den Franzosen künstl i c h geschaffenen Tonkixig, Armani und Cochinchina, sondern die meisten Organisationen gingen über einzelne Orte nicht hinaus. Außerdem forderten v i e l e Organisationen nach wie vor einen bestimmten Bildungsstand und hohe Beiträge, so daß die werktätigen Klassen und Schichten von vornherein von der Mitgliedschaft ausgeschlossen waren. 1924 machten die Vietnamesen in China auf sich aufmerksam, als sie ein Bombenattentat auf den Generalgouverneur Indochinas, Merlin, b e i seinem Besuch in der französischen Konzession Sa-dien in Kanton versuchten. Z w e i f e l l o s wirkte das Attentat wie ein Signal f ü r ein erneutes Aufleben der antikolonialen Bewegung. Trotzdem war die Gefahr nicht zu übersehen, daß s i e wieder in ihren alten Fehler v e r f i e l , sich nur auf Elitegruppen und individuellen Terror zu orientieren. In dieser Situation kam Nguyen a i Quoc nach Kanton. Für die patriotischen Kreise war er kein Unbekannter mehr. Sein Memorandum an die Versa-iller Friedenskonferenz, in dem er die Unabhängigkeit f ü r die Völker Indochinas f o r d e r t e , seine Zeitungsartik e l und die Mitarbeit in verschiedenen Organisationen hatten s e i nen Namen unter den Emigranten bekannt gemacht. Besonderes I n t e r esse brachte man ihm jedoch entgegen, w e i l er aus der Sowjetunion kam. Sein Auftreten hatte großen A n t e i l an der Klärung der Standpunkte. Während ein T e i l der Rechtsschwenkung Tschiang Kaischeks f o l g t e und 1926 eine eigene P a r t e i , die VNQDD, gründete, scharte sich die Mehrheit um die 1925 von Nguyen a i Quoc, Le hong Phong und Ho tung Mau gegründete "Thanh nien". Das war noch keine marxistische Organisation, doch die führenden Funktionäre machten die Mitglieder ganz bewußt mit den Ideen des Marxismus-Leninismus v e r traut. In den Organisationen der "Thahh nien" wurden Studienzirkel abgehalten, und Mitglieder wurden als Studenten oder zur Mitarbeit in internationalen Organisationen nach Moskau geschickt. Leider habe ich keine Zahlen gefunden, doch Hinweise auf diese Tatsache 16 g i b t es genügend. Viele der leitenden Kader der "Thanh nien"und später der KP erwarben einen großen T e i l ihres politischen Wissens bei Aufenthalten in der Sowjetunion: Ho chi Min Ii (der 1933 sogar ein Studium an der Parteihochschule der UdSSR begann),' 1 '' Le hong Phong (Mitbegründer der Thanh nien und Vorsitzender der Auslandsl e i t u n g ) und andere. Gegen den Widerstand eines T e i l s der M i t g l i e der betrachteten die meisten ihre Organisation als Vorstufe der Kommunistischen P a r t e i . Einer der größten V o r t e i l e der "Thanh nien" war, daß sie sich das Ziel s e t z t e , ihre Organisation auf ganz Vi©tj—

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neun auszudehnen and dem nationalen Kampf eine zentrale Führung und ein politisches Programm zu geben. Ohne darauf näher einzugehen, kann festgestellt werden, daß die "Thanh nien" unter den Arbeitern relativ viele Anhänger gewann. In vielen Städten gehörten Arbeiter zu ihren geheimen Gruppen; in Saigon gingen die ersten illegalen Arbeiterorganisationen in sie 18 ein. Auf diese Weise wurden die Arbeiter mit den neuen revolutionären Ideen bekannt. Die marxistische Erkenntnis, daß die Arbeiterklasse die revolutionärste Klasse ist, veranlaßte die Patrioten, ihr große Aufmerksamkeit zu schenken. Komplizierter ist die Präge des Einflusses auf die Bauern und damit im Zusammenhang, inwieweit die revolutionären Ereignisse in Rußland auf die vietnamesische Landbevölkerung wirkten. Ich kann dieses Problem nur aufwerfen, ohne darauf eine Antwort geben zu können. Zwar machte die Oktoberrevolution die Führer der nationalen Bewegung auf die "Kraft der vielen Millionen Bauern'" aufmerksam, und die Losung "den Boden denen, die ihn bearbeiten" begeisterte sie. 1 ^ Uber die Tätigkeit der "Thanh nien" unter den Bauern und auch über die politische Aktivität der aus dem Ausland zurückgekehrten Bauernsöhne ist aber wenig bekannt. Wie groß der Rückstand zu den Städten ist, kann ich nicht sagen, falsch wäre es jedoch, diesen Einfluß völlig zu negieren. Denn als im Sommer 1930 in den Provinzen Nghe An und Ha Tinh ein Bauernaufstand begann, kam es zur Wahl von Volksräten, die in deutlicher Anlehnung an die russischen Sowjets und die kurze Zeit vorher in der chinesischen Provinz Djianghsi entstandenen Sowjetgebiete "Xo-viet" genannt werden. Nicht nur im Namen, sondern auch in der Zielsetzung ist das Vorbild unverkennbar: Das Land wird aufgeteilt, Komitees der armen Bauern übernahmen die Macht, Volksgerichte und Einheiten der Selbstverteidigung entstanden, der Vermittlung von politischem Wissen und dem Lernen überhaupt wird große Aufmerksamkeit geschenkt. Die gerade gegründete KP hielt den Aufstand für verfrüht und schlecht vorbereitet, stellte sich jedoch an seine Spitze, als er einmal ausgebrochen war. Zweifellos hat sie den weiteren Verlauf des Aufstandes stark beeinflußt, trotzdem muß festgestellt werden, daß die Bauern der neuen Form des Aufstandes bereits sehr aufgeschlossen gegenüberstanden. Interessant ist außerdem, daß die Arbeiter- und Bauemklasse erstmals den Versuch unternahm, sich an die Spitze des antikolonialen Kampfes zu stellen. Zweifellos ist dieser Bauernaufstand, der nicht anders begann als viele andere vorher, deshalb zu solcher

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Bedeutung gelangt, weil unter Führung der KP und unter Einbeziehung der Arbeiter von Vinh und einigen anderen Städten in Vietnam erstmals die marxistische Revolutionstheorie einschließlich der Erfahrungen und Erkenntnisse der Oktoberrevolution u n d der Ereignisse in China in der Praxis angewandt wurde. Diese Tatsache wird auch durch verschiedene Fehler, die noch auftraten (sektiererische Einschränkung nur auf Arbeiter und Bauern) nicht abgeschwächt. Trotz der Zerschlagung der "Xo-viet" und trotz der Verhaftung u n d Ermordung vieler Kader der KP begann mit dem Aufstand von Nghe-Tinh eine neue Etappe im nationalen Unabhängigkeitskampf, die Etappe unter Führung der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei. Nicht die einheimische Bourgeoisie wie in Indien, Indonesien, Burma und anderen Ländern, sondern Arbeiter und Bauern stehen an der Spitze. Vietnam gehört zu den ersten unter den kolonialen Ländern, in denen die Kommunisten (auch wenn sie nicht immer ausdrücklich als solche auftreten) die anerkannten Führer der nationalen Bewegung werden; es ist eines der ersten Länder, wo der Kampf - trotz mancher Fehler - auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus geführt wird.20 Als sich die einheimische Bourgeoisie als unfähig erwies, die Führung im nationalen Befreiungskampf zu übernehmen (der Aufstand von Yen Bai im Januar 1930 war ihre einzige große Aktion, die faktisch mit der physischen Vernichtung ihrer revolutionären Kader endete), konnte die Arbeiterklasse diesen Platz einnehmen, gestützt nicht nur auf die Theorien des Marxismus-Leninismus und die Erfahrungen in der Sowjetunion und China, sondern auch auf die unmittelbare Hilfe der III. Internationale. "In Anwendung der Lehren Lenins und mit Hilfe der Kommunistischen Internationale konnte nach der Oktoberrevolution das Proletariat in den Ländern der Welt, darunter das vietnamesische Proletariat, sich eine Partei neuen Typus schaffen, um die Führung der Revolution zu übernehmen," heißt es in einem redaktionellen Artikel der theoretischen Zeitschrift der Lao2*1

dong-Partei,"Hoc Tap"zum 95« Geburtstag Lenins. Als im Jahre 1929 in Vietnam gleich drei kommunistische Parteien entstanden, die miteinander rivalisierten, beauftragte die Kommunistische Internationale Ho chi Minh, ihren Zusammenschluß zu einer 22 Partei herbeizuführen, was ihm am 3. Februar 1930 auch gelang. Welche Bedeutung in Vietnam dem Einfluß der Oktoberrevolution auf die Schaffung der KP Vietnams beigemessen wird, beweist ein Zitat aus dem Leitartikel der"Hoc tap" anläßlich des 40. Jahrestages

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der Oktoberrevolution. Es heißt darin: "Die Entstehung der Kommunistischen Partei Indochinas ist eindeutig das wichtigste Ergebnis des Vorbildes der Oktoberrevolution für unser Land. Sie war der Beginn einer grundlegenden Wende in der- Geschichte unserer nationalen Revolution."2^ Die III. Internationale half auch, als nach der Niederlage von 1930/31 fast alle Genossen der z jntralen Leitung und der Leitungen von Nord-, Mittel- und Südvietnan verhaftet oder ermordet waren. Der Genosse Le hong Phong, ein erfahrener Funktionär, der sich in Moskau aufhielt, wurde nach China geschickt, um eine Auslandsleitung (Ban chi huy hai ngoai) der Partei zu schaffen. Diese sólita vorerst die Leitung der Partei übernehmen und den Parteiapparat wieder aufbauen. Von Nanning, wo sich die Auslandsleitung niedergelassen hatte, knüpfte sie Verbindung nach allen Teilen Vietnams an. 1935 konnte auf einem Parteitag in Macao ein neues ZK gewählt werden. Erster Sekretär wurde Ha huy Tap.der der Auslandsleitung angehört hatte. Von den neun Mitgliedern des ZK kehrten sieben unmittelbar nach Vietnam zurück, nur Ho chi Minh blieb in der Sowjetunion und Phong chi Kien als Verbindungsmann 24 zur Kommunistischen Internationale in China. Auf diese Weise gelang es relativ schnell, die Schlagkraft der Partei wiederherzustellen, was der revolutionären Bewegung in den Jahren 1935/36, in denen verhältnismäßig günstige Bedingungen herrschten (Volksfrontregierung in Prankreich), sehr zustatten kam. Ich habe mich auf die Bedeutung der Oktoberrevolution für die Neuorientier\mg der nationalen Befreiungsbewegung und die Entstehung der Kommunistischen Partei Vietnams (bzw. Indochinas) konzentriert, selbstverständlich beschränkt sich die Bedeutung der Oktoberrevolution für Vietnam nicht darauf. Der erste sozialistische Staat und das sozialistische Lager sind für den nationalen Befreiungskampf Vietnams bis zum heutigen Tage von großer Wichtigkeit. Nur einige Beispiele: Die Zerschlagung der japanischen Mandschuarmee im Sommer 1945 durch die Rote Armee war die Voraussetzung für den Sieg der Augustrevolution, denn im Unterschied zu anderen Ländern Südostasiens hatte Japan in Vietnam noch starke Truppenverbände stehen. Ein anderes Beispiels Die Genfer Konferenz 195^ hätte in der IndochinaFrage nicht erfolgreich abgeschlossen werden können, wenn nicht die Vertreter der Sowjetunion mit großer Ausdauer und Entschlossenheit alle Hindernisse aus dem Weg geräumt hätten. Und nicht zuletzt muß die Unterstützung der UdSSR und des gesamten sozialistischen Lagers

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für das vietnamesische Volk im gegenwärtigen Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus hervorgehoben werden. Ohne das Bestehen und die Hilfe des sozialistischen Lagers könnte ein Land wie Vietnam dem Imperialismus nicht erfolgreich widerstehen. Die materielle und politische Unterstützung ist jedoch nur eine Seite. In Vietnam weiß man auch die Bedeutung der Oktoberrevolution in theoretischer Hinsicht für die Ausarbeitung des Weges u n d der Methoden des Befreiungskampfes zu schätzen. Ho chi Minh spricht das deutlich aus. Er sagt: "Der Sieg der Augustrevolution in Vietnam hat die Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Lehre von der nationalen und kolonialen Frage, die Richtigkeit des von der Oktoberrevolution im Jahre 1917 vorgezeichneten Weges bestätigt. Er hat gezeigt, daß die nationale Revolution, um zu siegen, sich auf eine breite nationale Front gegen den Imperialismus stützen, die Bauernfrage lösen, eine Volksarmee besitzen, die brüderliche Hilfe der Völker und des Proletariats anderer Länder genießen und unter der Führung der Arbeiterklasse vonstatten gehen muß."^-' Die Große Sozialistische Oktoberrevolution in Rußland gab den Anstoß für einen neuen Aufschwung des nationalen Befreiungskampfes in Vietnam, u n d sie ist heute n a c h 50 Jahren noch glänzendes Vorbild. Parteifunktionäre und Historiker Vietnams stellen das Immer pc wieder fest. Deshalb bereiteten sich auch die Völker der DRV seit langem auf die Feiern zum 50. Jahrestag vor. Ein Organisationskomitee beschloß Anfang August 1967 einen umfassenden Plan für die Feierlichkeiten. Das Komitee, dem auch der Generalsekretär der Partei der Werktätigen Vietnams, Le Duan, angehört, wurde von Ton duc Thang geleitet, der 1919 gerneinsam mit französischen Matrosen gegen 27eine imperialistische Intervention in Sowjetrußland demonstrierte. Heute ist er Vizepräsident des sozialistischen Vietnam. Auf der genannten Tagung des Vorbereitungskomitees wurde die Notwendigkeit unterstrichen, die Freundschaft und die engen Verbindungen mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Ländern zu verstärken. Es gelte, das Studium des Marxismus-Leninismus weiterhin zu vertiefen u n d konkrete Schlußfolgerungen aus den Erfahrungen der Oktoberrevo28 lution zu ziehen.

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Diese werden eine erneute Bestätigung der in den Thesen des ZK der KPdSU zum 50. Jahrestag getroffenen Feststellung sein: "Die Ideen der Oktoberrevolution, die Ideen des Kommunismus sind die führenden Ideen unserer Zeit, die große schöpferische Kraft der modernen Geschichte."2^

Summary The revolutionary message of the October Revolution reached the Vietnamese patriots through two channels - through France and China. In France Vietnamese soldiers, workers and students came into contact with the French working class and with Marxism. French communists explained to the Vietnamese the content and meaning of Lenin's theories on the national and colonial question. Of greatest importance in this connection was recognition, as a result of the experiences of the Russian Revolution, of the fact that the peasant masses are the most important allies of the working class in the national liberation revolution. This alliance has formed the basis of the Vietnamese people's successful struggle down to the present day. Controversy on this basic question in all national liberation novements led to differentiations within the national movement in Vietnam. In the period which followed that section of the patriotic forces which was not prepared to go along with the masses linked up closely with Chiang Kai-shek. But China also furnished other, progressive influences, especially those from the Soviet Union. Many patriotic Vietnamese lived in China, and in the 1920's the centre of the Vietnamese national movement was in South China. Led by Marxist-trained patriots, the Vietnamese liberation movement was increasingly shaped by the inclusion of and orientation around the working class and the peasants. The peasants' uprising of Summer 1930, in which was reflected the experience of the Russian Soviets and the Soviet areas which had developed in China and which

W. Lulei was led "by the recently founded Vietnamese Communist Party, ushered in a new stage in the Vietnamese liberation revolution. Unlike India, Indonesia and other countries, the national movement in Vietnam was now headed by workers and peasants, and not by the national bourgeoisie. The Vietnamese Communist Party received effective aid from the Third International. The support given by the international proletariat, the Soviet Union and other socialist countries has played a decisive part in enabling the Vietnamese people to offer successful resistance to repeated imperialist attacks. International solidarity makes it possible for the heroic Vietnamese people to inflict repeated defeats upon US imperialism.

Anmerkungen 1

Ho chi Minhs Die Oktoberrevolution und die Befreiung der Völker des Ostens. In: Ho chi Minh: Ausgewählte Heden und Aufsätze. Berlin 1961» S. 377. 2 Ebenda, S. 390. 3 Vgl. Tran van Giau: Giai cap cong nhan Viet-nam. Su hlnh thanh va su phat trien cua no tu giai cap tu minh den giai cap 'cho minh«. Ha-noi 1958, S. 3 0 5 . 4- Vgl. ebenda, S. 3O6. 5 Vgl. ebenda, S. 3 3 3 . 6 Ho chi Minh: Gedanken zur Nationalfrage. In: Ausgewählte Reden und Aufsätze. Berlin 1961, S. 12. 7 Nguyen hong Phong: Dong chi Nguyen ai Quoc voi ly luan cua chu nghia Le-nin ve van de dan too va dan toe thuoc dia. In: Nghien cuu lich su. 14. thang 5/1960, S. 8. 8 Vgl. Tran van Giau, a.a.O., S. 3 1 1 f. 9 Ho chi Minh: Rede über die nationale und koloniale Frage auf dem V. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale. In: Ausgewählte Reden und Aufsätze. Berlin 1961, S. 70. 10 Vgl. Tran van Giau, a.a.O., S. 3 3 3 f. 11 Vgl. ebenda, S. 3 1 2 . 12 Truong Chinh: President Ho-chi-Minh beloved leader of the Vietnamese people. Hanoi 1966, S. 12; zu diesem Problem vgl. audh Nguyen hong Phong, a.a.O., S. 1-10. 13 Vgl. Ho chi Minh: Ausgewählte Reden und Aufsätze. Berlin 1961,

S. 11-13, S. 51-57, s. 71-73.

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Mao Tsetung: Uber d i e demokratische D i k t a t u r des Volkes. B e r l i n 1956, S. 6 f . 15 Ho c h i Minh: Die O k t o b e r r e v o l u t i o n und d i e B e f r e i i m g d e r Völk e r des O s t e a s . I n : A . a . O . , S. 385. 16 Vgl. Tran van Giau, a . a . O . , S. 3 1 5 . 17 Vgl. Truong Chinh, a . a . O . , S. 20. 18 Vgl. Hai Khach: Dang cong san Viet-nam thanh l a p t r o n g mot h o i —canh l i e h su nao? I n t Nghien cuu l i e h s u . N r . 47 ( 2 / 1 9 6 3 ) , S. 1 f , 12; v g l . auch Tran van Giau, a . a . O . , S. 395-421. 19 Tran van Giau, a . a . O . , S. 324. 20 Zu den X o - v i e t Nghe-Tinh v g l . Hong quang: May y n g h i ve van de nghien cuu y n g h i a va t a c dung l i e h su cua X o - v i e t Nghe-Tinh. Ins Nghien cuu l i e h s u . N r . 35 ( t h a n g 2 / 1 9 6 2 ) , S. 5 - 1 0 . 21 Suc song v i d a i cua chu n g h i a Le-nin.- I n : Hoc t a p . N r . 4 . 1965, S. 23. 22 Zur Gründung d e r Kommunistischen P a r t e i Vietnams v g l . T.C. Nhin l a i cac co so b i mat cua co quan l a n h dao Dang Cong san Dongduong ( t u 1930 den 1935)- I n : Nghien cuu l i e h s u . N r . 37 (thang 4 / 1 9 6 2 ) , S. 20-25; und Nguyen Nghia: Gop them mot i t t a i l i e u ve cong euoe hop n h a t cac t o chuc cong san dau t i e n cuaViet-nam va v a i t r o cua dong c h i Nguyen-ai Quoc. I n : Nghien cuu l i e h s u . Nr. 59 (thang 2/1964),. S. 3 - 8 . 23 Ky nguyen v i d a i n h a t cua l i e h su l o a i n g u o i . I n : Hoc t a p . Nr. 1 0 . 1957, S. 1 . 24 Vgl. T.C. Nhin l a i cac co so b i mat cua co quan l a n h dao Dang Cong san Dong-duong ( t u 1930 den 1935)« I n : Nghien cuu l i e h s u . N r . 37 (thang 4/1962) S. 23-24. 25 Ho c h i Minh: Die O k t o b e r r e v o l u t i o n und d i e B e f r e i u n g d e r Völk e r des O s t e n s . I n : A . a . O . , S. 391 f . 26 Vgl. Suc song v i d a i cua chu n g h i a L e - n i n . I n : Hoc t a p . N r . 4 . 1965, S . 19-28; Hong Quang: Cach mang thang Muoi va l i e h su h i e n d a i . I n : Nghien cuu l i e h s u . N r . 44 ( t h a n g 11/1962), S . 3 - 8 ; Chiem Te: Nhan dan phuöng Dong da t i e p thu b a i hoc cua Cach mang thang Muoi nhu t h e nao? I n : Nghien cuu l i e h s u . N r . 8 ( t h a n g 10/1959, S . - 1 6 - 4 0 . 27 Vgl. Chiem Te, a . a . O . , S . 35. 28 Vgl. Neues Deutschland. 11.8.1967« 29 50 J a h r e Große S o z i a l i s t i s c h e O k t o b e r r e v o l u t i o n . Thesen des Z e n t r a l k o m i t e e s d e r KPdSU. I n : Neue Z e i t , Moskau. N r . 28. 1967, S. 64.

T i m o t e u s

P o k o r a

Die Konzeption des Fortschritts im Konfuzianismus Einige Bemerkungen über Hang Youwdis Utopie und deren Vorgeschichte Kang Youweis Leben (1887-1927) fällt in die Zeit zwischen dem Eindringen Suropas in China und dem Scheitern der ersten Etappe der chinesischen Revolution nach der Aufnahme des Marxismus und der Gründung der KP Chinas. Unter den philosophischen Schulen Chinas war der Konfuzianismus bestimmt die einflußreichste, besonders wenn von Staatsphilosophie und Staatstheorie die Bede ist. Um es aphoristisch zu sagen, gehörte aber der Konfuzianismus nicht zu den geistreichsten Philosophien, seine ständige Tendenz zur Starrheit, Orthodoxie und Dogmatisierung wird wohl kaum jemand leugnen. Allerdings war der Konfuzianismus bei aller Starrheit gewöhnlich immer bereit, andere Ideen und Anregungen nicht nur zu untersuchen, sondern sie sich gegebenenfalls auch wirklich anzueignen. Man muß feststellen, daß der Konfuzianismus für Jahrhunderte, ja sogar für Jahrtausende seine eigene Gestalt nur deshalb ständig erneuern und erhalten konnte, weil er sich den stets neuen Bedürfnissen anzupassen wußte. In diesem Sinne wurde der Konfuzianismus nach der Gründling des vereinigten Reiches durch die Qin und die Han schon von Dong Zhongshu (etwa 179 bis etwa 104 v.u.Z.) so gründlich ergänzt und reformiert, daß man von einem Neo-Konfuzianismus sprechen könnte, wäre diese Bezeichnung nicht schon einer viel späteren Zeit (Ende der Tang) vorbehalten. Das ausgehende 1. Jh. v.u.Z. sowie die zwei folgenden Jahrhunderte haben bestimmt einen tiefen Verfall dieser Lehre erlebt, die damals nicht nur die allgemeinen Staatsgedanken zu stützen versuchte, sondern sich allzusehr in der Form der Prophezeiungstexte (chan und wei) in häufiger Prostitution an die einzelnen Herrscher diffamierte und kompromittierte. Zwar entstand damals eine Gegenrichtung, die durch ihre skeptische, ja manchmal sogar materialistische Haltung der damaligen Philosophie einen Ausweg aus der Sackgasse zeigen wollte, uns interessiert hier aber die Reaktion des Konfuzianers He Xiu (129-182).

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Natürlich, seine Reaktion war nicht nur negativ, d.h. er reagierte nicht nur auf die Verhältnisse seiner Zeit, sondern in seinem für die Geschichte der Philosophie leider zu wenig ausgewerteten Kommentar zu Gong-yang-zhuan kommt He Xiu eigentlich zu Dong Zhongshu zurück. Der sogenannte Gong-yang-Kommentar war aber keineswegs nur philosophischen Charakters oder gar einer esoretischen Prägung, da er auch den berühmten Historiker Sima Qian (etwa 140 bis etwa 90 v.u.Z.) inspirierte. Mit der Erwähnung des Geschichtsschreibers sind wir aber auch gleichzeitig bei der Geschichte, d.h. in unserem Falle bei der Konzeption der historischen Bewegung in Stufen, angelangt. Auch in dieser Hinsicht finden wir eine klare Verbindungslinie zwischen Dong Zhongshu und He Xiu, die gleichfalls durch das allgemein bekannte Kapitel "Veränderung der sozialen Ordnung" (Li-yun) im Li-ji verläuft, wo die geschichtliche Entwicklung der (chinesischen) Menschheit in ihren Grundprinzipien sehr knapp geschildert wird. Diese Theorie der stufenweisen Entwicklung ist auf den ersten Blick mit der Vorstellung des historischen Fortschritts zu verbinden, und, was für uns ganz besonders wichtig ist, sie ist mit den älteren wie auch manchen späteren chinesischen Konzeptionen nicht vereinbar. Denn die übliche Meinung, die natürlich nicht nur in China verbreitet war, sah den fast ständigen Verfall der Gesellschaft, beginnend schon mit der alten goldenen Zeit. Das ist letzten Endes auch die Idee des Kapitels Li-yun, dem aber eine besondere Bedeutung wegen der Einbeziehung des Begriffs der stufenweisen Entwicklung zukommt. Außerdem gab es (und gibt es auch noch heute) Theorien des zyklischen Verfalls und eines ebenso regelmäßigen wie auch unaufhaltsamen Aufstiegs, die natürlich zum Teil fatalistisch gefärbt sind. Einen Fatalismus, aber auch einen ständigen Glauben an eine folgerichtige Entwicklung von primitiven, rohen Zeiten über verfeinerte zu einer zeitgenössischen Vollkommenheit finden wir bei dem materialistischen Philosophen Wang Chong (27 bis etwa 97)• Die zwei Ideen des Fatalismus und der historischen Entwicklung scheinen innerlich widersprüchlich zu sein, aber wir müssen uns mit ihnen nicht weiter befassen. Für unsere Zwecke genügt es festzustellen, daß die Vorstellung von Wang Chong über die Vollkommenheit seiner Zeit philosophisch und historisch ausweglos ist. Man könnte natürlich an seiner Basis der Entwicklungstheorie weiterbauen, wenn man den Fatalismus varlassen würde.

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Nun hat He Xiu die allgemeinen Ansichten von Dong Zhongshu über die drei Zeiten (san shi) so abgeändert, daß diese bei ihm als abgestufte Entwicklung erscheinen: die Zeit der Unordnung (shuai luan), des Aufgehenden Ausgleichs {sheng ping) und endlich des Großen Ausgleichs (tai ping). Besonders der letzte Ausdruck war nicht neu, denn er ist schon im Jahre 240 v.u.Z. belegt (in Lü-shi-chunqiu). Was uns aber hier interessiert, ist nicht das Datram des Entstehens der Begriffe, sondern ihr Inhalt. Das aber ist eine der Schwierigkeiten beim richtigen Verstehen der chinesischen Philosophie, der wir auch heute begegnen - daß nämlich dieselben Ausdrücke oder Losungen äußerst verschieden ausgelegt werden. Machen wir jedzt endlich den großen Sprung zu Kang Youwei, denn bei He Xiu sind die drei Zeiten zwar schon konkret benannt, aber immer noch mit Konfuzius verbunden (und zwar mit dem, was dieser gelesen, gehört und persönlich gesehen hatte). Mit Kang Youwei erlangen die drei Zeiten schon eine vollkommen selbständige Bedeutung, nämlich die einer Vergangenheit, die unwiderruflich vergangen ist und durch die Übergangszeit zur vollkommenen, wir würden sagen, zur utopischen Zukunft gelangen soll. Der Gedanke des Zyklus ist also nicht vorhanden. Da kann man schon ohne weiteres sagen, daß so eine Vorstellung sich im wesentlichen mit unserem Begriff des Fortschritts deckt. Wie wir gesehen haben, konnte sich Kang Youwei zum Teil auf älteres Gedankengut stützen, so daß die Idee des Fortschritts nicht erst bei ihm, am Ende des 19. Jh., erscheint. Natürlich spielte auch die Zeit, in der Kang Youwei lebte, keine unwichtige Rolle bei der Formierung seiner Ansichten. Kang Youwei war jedoch nicht nur Philosoph, sondern hauptsächlich auch Politiker. Es ist sehr gut bekannt, daß Kang Youwei die ganze Welt mehrmals bereist hat und daß er seine Reiseeindrücke seinen Landsleuten in zahlreichen Schriften vermittelte. Trotzdem scheint es doch so gewesen zu sein - seiner eigenen Aussage gemäß und im Einklang mit den Angaben seiner Zeitgenossen - daß er seine großartige Utopie des Großen Ausgleichs (tai ping) wie auch besonders die der Großen Einigung (da tong) schon vor seinen Kontakten mit dem westlichen Denken formuliert hatte. Damit will ich nicht sagen, Kang Youweis Ansichten seien später nicht mehr bereichert worden, denn es ist u.a. bekannt, daß er sogar Lenin wie auch die Oktoberrevolution hoch schätzte. Desto mehr muß man mit den Einflüssen der westlichen, ins Chinesische übersetz-

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ten Bücher rechnen, die Hang Youwei z.T. bestimmt gelesen hatte. Kang Youwei zitiert selbst in seinem Buch Da-tong-shu einen Herrn Pu, den man mit Sicherheit als François .M.C. Fourier identifizieren kann; und vielleicht kannte Kang Youwei auch den Namen Karl Marz. Aus dieser Information kann man unmöglich schließen, daß Sang Youweis Große Einigung mit den westlichen Vorstellungen über die kommunistische Zukunft identisch sei oder gar auf diesen Vorstellungen basiere. Wir haben allen Anlaß zu glauben, daß eine etwaige Beziehung der Ideen von Hang Youwei zu den westlichen nur indirekt sein kann; d.h. daß Kang Youwei die Probleme Chinas in bezug auf den Westen durch die Applikation des traditionellen Gedankenguts seines Landes an neue Bedingungen zu lösen suchte. Diese Feststellung soll wiederum nicht heißen, daß er ausschließlich ein traditioneller Denker gewesen sei. Im Gegenteil, manche seiner Theorien waren sehr radikal und niemals vorher in China geäußert worden. So•propagierte Kang Youwei z.B. eine vollkommene Gleichheit aller Menschen einschließlich der Frauen, ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Stellung. Er forderte die Abschaffung des privaten Eigentums und natürlich auch des Erbrechtes, verlangte die Abschaffung der Staatsgrenzen als eine Voraussetzung zur Errichtung einer vereinigten Welt, hatte die Absicht, ein allgemeines Schulwesen einzurichten usw. Mehrere seiner Ideen waren stärker utopischen Charakters. Man könnte gewiß sagen, so eine Utopie besäße keine praktische politische oder philosophische Bedeutung, und sie nur als eine gewisse Kuriosität behandeln. Es ist aber wichtig, zu versuchen herauszufinden, inwieweit Kang Youweis Ideen mit chinesischer Tradition verbunden sind und ob sie vielleicht nicht auch später eine gewisse Rolle gespielt haben. Es ist z.B. bekannt, daß Kang Youweis Lehrer in einem von den Taiping verwalteten Gebiet wirkte,, und schließlich ging doch diese mächtige Bewegung von Südchina, Kang Youweis Heimat, aus. Schon in der Selbstbezeichnung der Aufständischen erscheint der mehr als zweitausend Jahre bekannte Ausdruck des Großen Ausgleichs (nicht der Großen Gleichheit, wie man ihn gewöhnlich übersetzt). Die Möglichkeit einer Annahme rebellischer, ketzerischer, nichtkonfuzianischer Gedanken kann man ja schon bei den Vorfahren von Kang Youwei voraussetzen. Es ist die schon in dem erwähnten Kapitel Li-yun vorkommende Idee von da tong, der Großen Einigung, von

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der z.B. J. Needham nicht glaubt, daß sie konfuzianischen Ursprungs ist. Needham sagt ausdrücklich: "No one knows how it got inserted in the Li Chi ... It must have been by a very peculiar historical turn of events that this highly subversive acc.ount became embedded in one of the Confucian Classics. Dasselbe könnte man im allgemeinen von Kang Youwei und dem Taiping-Aufstand sagen, aber leider auch mit dem Zusatz, da£ man nicht imstande ist, die direkte Beziehung festzustellen oder gar zu beschreiben. Kang Youweis Theorien waren nicht nur utopisch, was natürlich unter Umständen auch positiv ausgenützt werden konnte, sondern manchmal auch folgewidrig und sogar widerspruchsvoll. Ohne Rücksicht auf die theoretisch vollkommene Große Einigung wurde die gelbe Rasse, d.h. auch die Chinesen, ausdrücklich bevorzugt. Obzwar Hang Youwei in derselben Weise auch die weiße Rasse schätzt, erscheint ihm doch die braune Rasse als eine niedrigere, unter der aber noch die schwarze Rasse steht. Man kann zwar aus seiner persönlichen Erfahrung in den Begegnungen mit den Europäern erklären, warum Kang Youwei auch die Weißen hochschätzt, aber ansonsten ist es klar, daß er fest im Banne der einheimischen Tradition bleibt. Das hat zur Folge, daß nur die Anpassung der anderen Völker und Rassen an das chinesische Beispiel wünschenswert und annehmbar ist. Kang Youwei wird gewöhnlich als einer der letzten hervorragenden Konfuzianer betrachtet. Das ist soweit richtig, denn heutzutage ist es eine absolute Ausnahme, sich selbst für einen Konfuzianer zu erklären. Es ist aber keineswegs so, daß das traditionelle, stets mit dem Konfuzianismus eng verbundene Gedankengut schon vollkommen abgeschafft wäre. Ganz im Gegenteil, wir finden es zwar ausdrücklich verneint, faktisch aber doch recht aktiv wirksam. Es handelt sich z.B. um die große Utopie, daß man Alles ohne Rücksicht auf die objektiven materiellen Bedingungen allein durch eine Große Vereinigung des Volkes erreicht, daß das chinesische Beispiel allein ausschlaggebend und verbindlich ist und eine völlige Abschaffving aller fremden Ideen voraussetzt. Diese Feststellung kann man letzten Endes bejahen, denn es ist das Abschaffen fremder Gedanken, das den nötigen Raum für einheimische Ideen freiläßt. Die Idee des Fortschritts gehörte ursprünglich nicht zum Konfuzianismus, wurde aber von ihm übernommen und angepaßt. Ein ähnlicher Prozeß verläuft in China - glaube ich - vor unseren Augen mit dem marxistischen Begriff des Fortschritts. Daß dies kein Gewinn für den Marxismus ist, muß ich wohl nicht betonen.

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R é s u m é Les penseurs et historiens de la Chine ancienne cherchaient l'âge d'or habituellement aux temps immémoriaux et légendaires. Comme ça bien sûr les époques suivantes étaient revêtues d'un caractère rétrograde. Ce ne fut qu'à l'époque Han qu'on créa une théorie des trois âges (San Shih), ça veut dire d'un développement par degrés. C'est surtout au chapitre des changements de l'ordre social (Liyun) â Li-chi que l'idée de l'unification désirée a trouvé son expression, qui jointe à l'idée plus ancienne de la Grande Réconciliation (Tai-p'ing) de Ho Hsin (2 e siècle de notre ère), a été réunie en conception confucienne, qui devrait devenir plus tard très influente, malgré son origine dûe à d'autres écoles philosophiques . Ces idées radicales de l'égalité et du progrès reparaissent au 19 e siècle sous le nom de la grande Révolte T'ai-p'ing et en tenant compte de la pensée d'autres sources elles sont proposées par K'ang-yu-wei (1857-1927) en utopie radicale pour l'humanité entière. Cependant son espérance en une unité parfaite était en partie sinocentrique tout en donnant une préférence â la race jaune (et blanche) . Les conceptions radicales chinoises d'aujourd'hui et qui prétendent de se baser sur la conception marxiste du progrés sont imbibées pareillement d'idées nationalistes, car cette conception n'est pas compatible avec une orthodoxie simplificiée.

Anmerkung 1

J. Needham: Science and Civilisation in China. Vol. 2: History of Scientific Thought. Cambridge 1962, pp. 167/168.

Erna

B a y e r l e o v á

Einige Bemerkungen zur historischen Entwicklung pränationaler Vorstellungen in China Die verschiedensten Erscheinungsformen des Nationalismus haben in jeder Nationalgeraeinschaft ihre spezifischen Züge, die in erster Linie durch die geschichtliche Entwicklung einer bestimmten Nation gegeben werden. Zu dieser ziemlich komplizierten Problematik kann man im allgemeinen nur sagen, daß bei der Entstehung der einzelnen Erscheinungsformen des Nationalismus bereits die Lage des Landes - und zwar vom geographischen Gesichtspunkt aus gesehen -, weiterhin die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Situation des Iandes, seine Machtlage, seine kulturelle Entwicklung und viele andere Faktoren eine große Rolle spielen. Es ist selbstverständlich, daß diese Erscheinungen bei einer Nation, die fremde Völker unterdrückt, eine ganz andere Form annehmen als bei einer unterdrückten oder um ihre nationale Befreiung kämpfenden Nation. Die vielfältigen Ideen, die die Ideologie des Nationalismus gestalten, stehen im Rahmen der einzelnen Nationalgemeinschaften in unterschiedlichem Verhältnis zueinander und unterliegen zahlreichen Veränderungen, denn sie haben in verschiedenen konkreten Situationen auch verschiedene Form und Intensität. In ihren ursprünglichen Formen können wir eine spontane Entwicklung verfolgen, während sie später einer bestimmten Gesetzmäßigkeit unterliegen. Deswegen ist es besser, diese ursprünglichen Formen als pränationale Form zu bezeichnen. Man sollte die Entwicklung des Nationalbewußtseins im breiteren Kontext beachten, um sie besser zu begreifen und in klarem Lichte richtig einzuschätzen. Vielleicht wäre es möglich, auf Grund einer genauen Untersuchung des konkreten Materials zu einem besseren Verständnis der schwierigen Problematik beizutragen. Und besonders in solchen Ländern, in denen die Untersuchung dieser Fragen mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, ist es um so nötiger, eine Reihe historischer Tatsachen in ihrer Gesamtheit und nicht isoliert zu beobachten, denn gerade in diesen Faktoren könnten wir vielleicht den Schlüssel zur Lösung finden. Zunächst einige Bemerkungen über die Frühentwicklung dieser Erscheinungsformen, am Beispiel China gesehen. Vor allem ist es nö-

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tig, die geographische Lage Chinas in Betracht zu ziehen. Die Grenzen Chinas sind Infolge der geomorphologischen Verhältnisse zum größten Teil natürlich. Die Ostküste wird von den Wellen des Ozeans umspült, und die Westgrenze wird überwiegend durch eine lange, schwer zugängliche Gebirgskette gebildet, wogegen den Norden des Landes Wüste, Steppen und dichte Wälder begrenzen. Nur im Süden erscheint die Grenze künstlich gebildet. Doch einst in der Vergangenheit wucherte auch da ein nur schwer durchdringlicher Dschungel. Das sind die Grenzen, bis zu denen sich China von seinem ursprünglichen Ausgangspunkt, dem Huanghe-Tal ausgehend, Schritt für Schritt ausdehnen konnte und ausgedehnt hat. Dadurch entstanden auch Bedingungen für eine Zivilisation, die sich - besonders zur Zeit primitiver Verkehrsmöglichkeitezt - weitgehend isoliert von den Westzivilisationen entwickelt hat. Weiter stimulierten die klimatischen Bedingungen und die Bonität des Bodens in China die Batwicklung des Ackerbaus, der sogar in vielen Gegenden intensiv gepflegt werden konnte. Schon am Anfang der chinesischen Geschichte finden wir primitiven Ackerbau, der die Grundlage der ganzen chinesischen Wirtschaft bildete. In diesem Zusammenhang möchte ich hier auf einige für unsere Untersuchungen interessante Tatsachen aufmerksam machen. Weil es im Norden nicht möglich war, den Ackerbau weiter als bis zu den Wüsten- u n d Steppengrenzen zu betreiben, fanden die Chinesen nie Anlaß, diese Gebiete zu kolonisieren, denn der Ackerbau war mit ihrem Leben so verknüpft, daß sie in ihrer Frühzeit eine andere Lebensart wohl kaum annehmen konnten. Die Ausbreitung der Chinesen richtete sich stets nach der Sonne; deswegen wurde zuerst die Gegend im Flußgebiet des Yangzijiang und später weiteres Land im Süden besiedelt. Allerdings lebten in jenen im Norden gelegenen unwirtlichen Steppen- und Wüstengebieten bereits in der ältesten Zeit verschiedene Jäger- und Hirtenstämme und später Nomaden, welche sich in ihrer Lebensweise von den Ackerbauern vollkommen unterschieden. Das waren die sogenannten Barbaren, welche die chinesischen Ansiedler von jeher beunruhigten. Gegen sie wurden schon im Altertum Schutzwälle errichtet, die zur Zeit des Imperium Qin zur Großen Mauer verbunden wurden. Und es waren später die verschiedensten Stämme und Völker, welche oftmals in mächtigen Wellen gegen diese Mauer anrannten. Einige Forscher halten diese Barbaren für verschiedene prototürkische oder andere später auftauchende uns schon bekannte Völker; es scheint aber, daß diese Identifikationen nicht

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den historischen Tatsachen entsprechen. Im Gegenteil unterstützen archäologische Funde eher die Annahme, .daß diese barbarischen Stämme sich ethnisch nicht sehr von den Stämmen unterschieden, welche sich am frühesten von der gemeinsamen neolithischen Basis absonderten und die Grundlagen zur chinesischen Zivilisation legten. Aber wenn auch einige Stämme ethnisch verschiedenartig waren - wofür wieder die weiteren Zusammenhänge sprechen dürften, auf die Migration der Bevölkerung hinweisend, zu welcher es zwischen dem 7. bis 9> Jh. v.u.Z. auf dem ganzen Steppengebiet Eurasiens kam -, ändert das nichts an der Sache, denn im Laufe der Gründung der ältesten Heimstätte der Chinesen im Flußtal des Gelben Flusses war nicht die Zugehörigkeit zu einem Stamme, sondern die Lebensweise ausschlaggebend, was zur Vereinigung von Völkergruppen mit gleicher Entwicklungsstufe, d.h. zur Assimilation führte. Das ist ersichtlich trotz der chinesischen Uberdeckung, welche im Laufe der Jahrhunderte die Eigenarten der Stämme und Rassen ausgleichen konnte, denn noch heute gibt es genügend Überbleibsel dieser einstigen Verschiedenartigkeit. Historische Quellen berichten eindeutig darüber, daß barbarische Stämme auch inmitten der chinesischen Bevölkerung lebten, sich in derselben auflösten oder sich in Randgebiete zurückzogen, wo der Ackerbau nur extensiv betrieben wurde, oder aber in die Berge gedrängt wurden, wo Voraussetzungen für eine Bodenkultur nicht gegeben waren, oder sich schließlich überhaupt hinter die Grenzen des heutigen China zurückzogen. Wenn wir auch die alten barbarischen Stämme nicht mit den heutigen nationalen Minderheiten identifizieren können, ist es nicht uninteressant, auf die Tatsache hinzuweisen, daß diese Minoritäten zum Großteil in den Randgebieten Chinas leben. So wie bereits zwischen den chinesischen Ansiedlern und diesen barbarischen Stämmen eine natürliche Grenze bestand, vor allem infolge der erwähnten geographischen und wirtschaftlichen Bedingungen, bildete sich auch eine künstliche Scheidewand, welche sich im Laufe der Zeit immer mehr verdichtete. Es ist natürlich, daß sich innerhalb der agrarischen Gemeinschaft eine ganz andere Lebensweise entwickelte als innerhalb der Gemeinschaft von Steppenbewohnern und daß sich die Kluft zwischen beiden immer mehr vertiefen mußte, wenn es auf der einen Seite zu einem wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung kam, wohingegen auf der anderen Seite kein Fortschritt zu verzeichnen war. Dieses Gefühl einer sicheren kulturellen Überlegenheit wird bereits von dem altchinesischen Philosophen Mengzi zum Ausdruck gebracht. Es heißt bei ihm: "Ich habe gehjört,

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daß man Barbaren zur chinesischen Kultur bekehren kann; ich habe nie gehört, daß man sich von den Barbaren bekehren lassen müsse."''Die gemeinsame Kultur der Ackerbauern brachte eine sich immer mehr steigernde Annäherung, und trotz der verschiedensten Eigenarten entstand im Laufe der Zeit der gemeinsame Nenner, das "Chinesische". Wir werden nun sehen, wie die alten Chinesen anfingen, sich dieser Zugehörigkeit zu China bewußt zu werden. Eine der ersten überlieferten Bezeichnungen für die Bewohner Chinas, der Ausdruck zhuxia, deutet bereits ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft an, repräsentiert durch die Dynastie Xia. Weiter finden wir in den alten Quellen als Bezeichnung für das chinesische Gebiet tianxia ('Alles unter dem Himmel"). Das umfaßte alles, wohin ihre Welt - oder besser gesagt - ihre kulturelle Wesensart reichte. Auch die weitere Bezeichnung zhongguo ("das Reich der Mitte") zeugt von dieser Weltauffassung: China, inmitten der Welt liegend, das Zentrum der Zivilisation bildend, an dessen Peripherie allerdings irgendwelche ungebildeten Barbaren lebten, deren bewaffnete Horden zwar das Reich bedrohen, aber niemals besiegen konnten, denn die Kraft Chinas lag nicht in seinen Waffen, sondern in seinem Geiste, in seiner weit höher entwickelten Kultur. Aus diesem Grunde kommt es auch mehrmals zu einer widerspruchsvollen Situation - die Eroberer werden gezwungen, die Lebensart und die Kultur der Chinesen anzunehmen oder sich dieser zumindest anzupassen. Für China benützte man auch das Zeichen hua, dasselbe Zeichen wie für "blühend". Und die Chinesen nannten sich selbst huaren, und nach der erfolgreichen Dynastie Han- sehr oft haaren oder hanzu, "Han-Leute", "Nationalität Han", im Unterschied zu den übrigen nichtchinesischen Bewohnern des chinesischen Staates, was man in den westlichen Quellen gewöhnlich nicht unterscheidet. Andererseits übertrug sich die Bezeichnung "Barbaren", welche sich ursprünglich nur auf bestimmte nichtchinesische Stämme bezog, auch auf alle fremden Völker, welche die chinesische Kultur nicht angenommen hatten, die europäischen Nationen schließlich nicht ausgenommen. Zu den Grundelementen, aus denen sich das chinesische Nationalbewußtsein entwickelte, gehört in erster Linie das allgemeine Verständigungsmittel, welches in China vor allem die Schrift und dann erst die Sprache ist. Das Chinesische nämlich, die Hauptsprache des Sino-Thai-Zweiges der chinesisch-tibetischen Sprachgruppen, zerfällt in viele regionale Dialekte, welche oft gegenseitig unverständlich sind. Analoge Verhältnisse können wir daher auch für die

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alte Zeit voraussetzen.. (Um eine allgemeine Verständigung zu erreichen, führt m a n heute die chinesische Schriftsprache ein, welche sich sich an den Pekinger Dialekt anlehnt.) Aber die Schrift, die einen ideographischen Charakter hat, wurde schon in der Vorzeit zum kulturellen Bindemittel, die Gebiete einigend, in welchen man verschiedene Dialekte gebrauchte. Derselbe Text kann verschieden gelesen werden, behält aber immer seine Bedeutung. Das ermöglicht nicht nur eine Übernahme ins Vietnamesische, sondern sogar ins Koreanische u n d Japanische, in Sprachen, die zu Sprachgruppen ganz anderer Struktur gehören. (Schon Leibniz, nebenbei bemerkt, sieht in der piktographischen Schrift die Möglichkeit eines internationalen Verständigungsmittels.) Die chinesische Schrift trug sicherlich in großem Maße zur Entstehung einer gewissen kulturellen Einheitlichkeit ganz Ostasiens bei. China ist nicht nur das Land mit der größten Bevölkerungszahl, sondern auch das Land mit der ältesten historischen Tradition, deren Anfang bis in die Zeit der sagenhaften A~Vinen gelegt wird, welche sich, wie es heiBt, große Verdienste um die Entstehung der chinesischen Zivilisation erworben hatten. Aber auch der historisch nachweisbare Beginn der chinesischen Geschichte reicht bis in das 18. Jh. v.u.Z. zurück, und von diesem Zeitabschnitt an können wir die chinesische Geschichte bis in die Gegenwart verfolgen. Und schon an der Schwelle der chinesischen Geschichte sehen wir die wunderbaren Erzeugnisse der Shang-Bronzegießer, schon aus jener Zeit stammen die Inschriften auf den Orakeltafeln. Bereits in der darauf folgenden Dynastie Zhou entstanden die klassischen Bücher, u n d die philosophischen Schulen der Konfuzianer und der Taoisten wurden gegründet, die zu einer unerschöpflichen Quelle des chinesischen Denkens geworden sind. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sich die chinesische kulturelle Tradition gerade aus diesen Wurzeln entwickelt hat. Das äußert sich nicht nur in der schöpferischen Tätigkeit selbst, sondern auch in der ganzen Stellungnahme zur kulturellen Überlieferung. Als Beispiel könnte man jene bekannte Feindschaft der chinesischen Gebildeten gegenüber dem Begründer des einheitlichen chinesischen Reiches Kaiser Qin Shi Huangdi anführen, weil er im Jahre 213 v.u.Z. angeordnet hatte, eine große Auswahl alter Werke, die verdächtigt wurden, der regierenden Dynastie gefährlich zu sein, zu verbrennen. Obwohl ich an dieser Stelle nicht einmal in flüchtigen Umrissen die Entwicklung der materiellen u n d geistigen Kultur Chinas geben

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kann, finde ich es nötig zu erwähnen, daß sich aus den reichen Traditionen des Landes außerordentliche geistige Werte herausgebildet haben, aus denen dann eine charakteristische Volkskultur entstanden ist, die unter anderem auch die kulturelle Entwicklung von Korea und Japan beeinflußt hat. Und so konnte es geschehen, daß, wenn eine fremde Dynastie den chinesischen Thron bestiegen hatte, die chinesische Kultur der festeste Damm gegen diese Eindringlinge war. Nicht einmal zur Zeit der Eroberung Chinas durch die Mongolen kam es, wie es bei einen Volk mit einer geringen Tradition zu befürchten wäre, zu einer Stagnation der chinesischen Kultur. Im Gegenteil, unter der Herrschaft der Dynastie Yuan erfreuten sich besonders das Drama und der Roman einer großen Blüte. Und für unsere Untersuchungen ist es interessant, daß sogar im Falle einer Übernahme fremder Einflüsse dieselben im Geiste der heimischen Tradition umgeschmolzen wurden. Ein markantes Beispiel ist der Buddhismus, der auf dem Boden Chinas eine ganz andere Gestalt angenommen hat als in seinem Ursprungsland. Weiterhin ist es bemerkenswert, daß der Hauptgrund für die Verfolgung des Buddhismus unter der Herrschaft der Sechs Dynastien und der Dynastie Tang, außer in den wirtschaftlichen Aspekten (die buddhistischen Klöster konzentrierten nämlich viel Boden in ihren Händen) auch darin lag, daß seine Lehre nicht im Einklang mit dem Ideal der chinesischen Familie stand, das sich auf die Pietät der Söhne zu den Vätern und den Ahnenkult stützte. Es war nicht nur die Philosophie und besonders der Konfuzianismus, der für eine erhebliche Zeit als Staatsdoktrin galt, sondern es war der ganze Lebensstil, angefangen mit einem visuellen Durchleben der Verse und endend bei den einfachen Eßstäbchen, der eine Vorstellung kultureller Zusammengehörigkeit bildete und zum Bewußtwerden der nationalen Eigenart führte. Und gerade dieser besondere Charakter pränationaler Vorstellungen, der sich wie ein roter Faden durch Chinas Geschichte zieht und dessen Spuren, die mit einer sinozentrischen Auffassung der Welt verbunden werden, wir noch in der Gegenwart verfolgen können, liegt der Benennung "chinesischer Ethnozentrismus" zu Grunde. Oft wird auch eine Bezeichnung für jene kulturellen Werte gesucht, in denen die nationalen und übernationalen Momente enthalten sind, und die Orientalisten E.O. Heischauer und J.K. Fairbank versuchen, dafür 2 recht treffend den Namen "Kulturalismus" durchzusetzen.

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Ich habe versucht, die Hauptzüge der pränationalen Vorstellungen, die wir noch im 19. Jh. finden können, anzudeuten. Vielleicht kann man schon in der vergangenen Zeit im traditionellen China vereinzelte nationale Tendenzen finden, aber Erscheinungsformen eines modernen Nationalismus treten erst in der Zeit des Zusammenstoßes Chinas mit den imperialistischen Großmächten auf. Die Erforschung dieser Frage ist jedoch schon die Aufgabe der Historiker, die sich mit der neuen Geschichte Chinas befassen.

S u m m a r y It is possible to trace the development of pre-national ideas in China from ancient times up to the nineteenth century* when as a result of the impact of imperialism on East Asia the modern national movement began to emerge. This paper summarises the development of these pra-national ideas, which have their own specific characteristics in each national community. The formation of these ideas in China was influenced by the geographical situation and the size of the country, and particularly by the fact that unlike the "barbarians", who were hunters, shepherds and nomads, the Chinese had a settled agricultural way of life. Ethnic origins became less important than the whole way of life as a criterion to distinguish Chinese from non-Chinese. This Sino-centric attitude can be clearly seen in the way the Chinese referred to themselves, in their sense of identity (Chuhsia, T'ien-hsia, Chung-kuo, Hua-ren, Han-ren, Han-tsu). The growth of this attitude was also encouraged by the flourishing culture of China, and particularly by the existence of writing as a cultural bond between parts of the country where differing dialects were used, and between different countries in this part of the world. This cultural foundation helped to form a strong barrier against barbarian raids and even withstood temporary usurpation of the throne by foreign invaders. This complex of pre-national ideas is usually called Chinese ethnocentriem, Sino-centrism. For the complex of cultural values comprising both national and supra-national elements the term "culturalism" has been recently adopted.

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Anmerkungen 1 2

H. Wilhelm: Mong Dsl. Jena 1921. Buch III A, S. 58. E.O. Reischauer / J.K. Fairbank: East Asia, The Great Tradition. Harvard Universität 1960. Vol. I.

H e r b e r t

B r ä u t i g a m

Die antiamerikanische Boykottbewegung von 1905 als Faktor zur Bildung des chinesischen Nationalbewußtseins Im Arsenal der politischen Kampfmittel kommt dem Nationalboykott in China eine besondere Bedeutung zu. Allein zwischen 1905 und 1951/32 kam es elfmal zu großen, zumeist das ganze Land erfassenden Bewegungen dieser Art, die sich neunmal gegen Japan richteten, mit dem China im Zeitraum von 25 Jahren mehr als fünf Jahre in 0 Boykottfehde lag. Mitte der 20er Jahre war Großbritannien Objekt eines scharfen chinesischen Boykotts, und der erste große chinesische Nationalboykott von 1905, der geradezu einen Prototyp bildet, richtete sich gegen die USA. Es dürfte kein Zufall sein, daß im Prozeß der nationalen Formierung des Widerstandes gegen koloniale und halbkoloniale Unterdrückung, gegen ökonomische Ausbeutung und politische Diskriminierung die großen antiimperialistischen Bewegungen in Asien, angefangen von China, über Indien bis hin zur Türkei, im Gewand der Nationalboykotte erscheinen. Zur Bestimmung der historischen Position dieser Boykottform - insbesondere ihrer bewußtseinsbildenden Elemente - trägt die Erfassung charakteristischer Vorgänge jener Zeit bei. Als 1901 die modern ausgerüsteten Armeen der imperialistischen Mächte den Volksaufstand der sogenannten Boxer, der Yihetuan, im Blute erstickt und starke Kontingente der Invasionstruppen in den nördlichen und nordöstlichen Provinzen Chinas und seiner Hauptstadt Peking selbst Garnison bezogen hatten, schien das Ende der ohnehin nur noch formell existierenden politischen Selbständigkeit Chinas unmittelbar bevorzustehen. Großbritannien, das Deutsche Reich, Frankreich, Rußland und Japan zielten mit ihrer Ostasienund Chinapolitik auf möglichst günstige Ausgangspositionen, um bei dem vermuteten Zusammenbruch des chinesischen Staatsverbandes die schon vorher offiziell proklamierten Einflußsphären unter ihre direkte Kolonialverwaltung bringen zu können. Außer dem russischjapanischen Streit tun die Mandschurei und Korea und dem bewaffneten Vorstoß der Briten nach Tibet scheiterten die Aufteilungspläne an der gegenseitigen Rivalität der Kolonialmächte und dem Einspruch der USA, in deren Resultat China weiterhin im Status einer Hyper-

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kolonie Häfen und. Zugänge für die Mächte offenhalten sollte. Zwar mußte China zu seinen alten Indemnitäten mit der Unterzeichnung des "Boxerprotokolls" sich erneute Lasten aufbürden lassen, aber der Zusammenbruch des Landes trat nicht ein. Bei aller Zersetzung und dem fortschreitenden Zerfall der Mandschu-Herrschaft gab es jedoch seit dem Jahre 1904 einen Umschwung in der Haltung zu innenpolitischen u n d gesamtnationalen Angelegenheiten sowohl von Persönlichkeiten der Regierung, der Beamtenkreise, noch mehr aber in der Händlerschaft und in der jungen, meist im Ausland oder durch ausländische Lehrer herangebildeten Intelligenz und auch in den Volksmässen der Städte. [Dokument 1] Diese in verschiedenen sozialen Kräften wurzelnde Haltung reichte in ihren Anfängen einige Jahrzehnte zurück, und sie war stets eine direkte oder indirekte Reaktion auf den Druck ausländischer Mächte. Obwohl die Mandschu-Dynastie in allen entscheidenden Fragen seit der Unterzeichnung des Nanking-Vertrages von 1860 vor den Mächten kapituliert hatte u n d sogar Bündnisse gegen die innenpolitische Opposition mit ihnen einging, förderte sie gleichzeitig Bestrebungen der hohen und mittleren Beamtenschaft, um vor allem auf lokaler Ebene die Auswirkungen der erzwungenen Verträge abzufangen und eventuellen Willkürakten oder einseitigen Vertragsinterpretationen entgegenzuwirken. Alles was jedoch über verschleierten Widerstand und Obstruktion hinausging, wie Opiumhandel, in der Missionsfrage, Konsulargerichtsbarkeit usw., diente den ausländischen Mächten als Vorwand für Krieg oder erpresserische Maßnahmen. Mit der fortschreitenden Formierung eines, wenn auch zunächst noch schwachen, eigenständigen Bürgertums innerhalb und außerhalb des Landes, das sofort eine junge und tatenvolle Intelligenz a n seiner Seite fand, verstärkte sich um die Jahrhundertwende der Drang nach echter nationaler Selbständigkeit und nach Überwindung der feudalen Zustände, was sich sowohl in den Reformbestrebungen als auch in der Entfaltung antidynastischer revolutionärer Tätigkeit manifestierte.^ Auf der Suche nach Wegen zu einem erneuerten u n d unabhängigen Tand wandten sich die patriotischen Kräfte Chinas immer stärker dem japanischen Vorbild zu. Japan, das ursprünglich genau wie China unter dem Druck ungleicher Verträge u n d diskriminierender Behandlung gelitten hatte, gelang nach dem japanisch-chinesischen Krieg zumindest formell die Anerkennung als gleichberechtigte Großmacht, wenn auch seine expansionistischen Ziele in China bald auf den Wi-

H. Bräutigam derstand der alten Vertragsmächte, insbesondere Deutschlands und Rußlands, später auch Englands und der USA stießen. Das Streben nach Gleichwertigkeit mit den tonangebenden imperialistischen Mächten weißer Hautfarbe verstärkte nicht nur das Band gegenseitiger Sympathien, sondern es führte nach der Jahrhundertwende zur Intensivierung der kulturell-wissenschaftlichen und technisch-militärischen Beziehungen zwischen Japan und China. Der Strom von Japanern, der sich über China ergoß, setzte unmittelbar nach dem sogenannten Boxerkrieg ein. Tausende Japaner fanden Anstellungen als Experten in Ministerien und Provinzverwaltungen, als Techniker und Militärberater, als Kaufleute, Wissenschaftler, und schließlich strömten sie auch nach China als buddhistische Pilger. Sie lösten nicht nur die bis dahin dominierenden Europäer, die wesentlich teurer bezahlt werden mußten, in vielen Sphären des politischen, ökonomischen und kulturellen Lebens ab, sondern sie traten zugleich als zähe Agitatoren der Erfolge ihres Landes auf. Das wirksamste Instrument für diesen Zweck war das neuerstandene Pressewesen. Die neuen Zeitungen und Zeitschriften, weitgehend Gründungen und Eigentum von Japanern, überschwemmten China yrie nie zuvor mit Informationen über das Weltgeschehen. Einen großen Platz nahmen selbstverständlich die Ereignisse des russisch-japanischen Krieges ein, in dem, 1904 begonnen, die Japaner ständig ihre Überlegenheit demonstrierten. Die Siege der Japaner und die Niederlagen des Russischen Reiches erbrachten den Völkern Asiens erstmalig den Nachweis, daß die gefürchteten, waffenstarrenden imperialistischen Mächte nicht nur nicht unverwundbar sind, sondern daß eine solche Macht sogar von einem bisher unterschätzten kleinen Volk Ostasiens zurückgeschlagen werden kann. So feierten die Chinesen den geglückten Übergang über den Yalu vom 1. Mai 1905 und den japanischen Sieg über die russische Flotte vom 25 • Mai 1905, deren Kunde sich im Nu über das ganze Land verbreitete, nicht weniger begeistert als die Japaner selbst. Elemente eines gegen die imperialistischen Mächte gerichteten Widerstandsgeistes wurden seit 1904 in der jungen Beamtenschaft, die entweder durch ausländische Schulen gegangen oder in den Legationen europäischer Hauptstädte herangewachsen waren, mit einer solchen Deutlichkeit spürbar, daß auch sie zu einer. Keimzelle des "Jung-China" gerechnet werden. Mit den Methoden der imperialistischen Politik besser vertraut als ihre Vorgänger und erfüllt von einem starken patriotischen Gefühl, wichen sie beispielsweise den

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Auseinandersetzungen in den gemischt besetzten Seezollämtern oder in den Provinzialbüros für Ausländerangelegenheiten nicht mehr aus. In der höheren Beamtenschaft und in der lokalen Gentry - der Grundherren- und Gelehrtenschicht - fand der Slogan "China für die Chinesen" bereitwillige Aufnahme, was sich darin niederschlug, daß 1904 erstmalig der Versuch zu verzeichnen ist, eine an Ausländer erteilte Konzession, und zwar handelt es sich um die Bahnkonzession Hankou-Kanton, die die "American China Development Company"^ besaß, wegen Nichterfüllung übernommener Verpflichtungen zu kündigen und schließlich zurückzukaufen.® Damit begann eine breite Welle von Bildungen chinesischer Gesellschaften für Bahn- und Bergbauprojekte, deren Hauptzweck zunächst darin bestand, erteilte Konzessionen in chinesische Hand zurückzugewinnen und dem Eindringen ausländischen Kapitals bis zu n

einem gewissen Grad einen Riegel vorzuschieben. Gleichfalls im Jahre 1904 lief der 1884 zwischen den USA und China geschlossene Ausschließungsvertrag ab, der die Zuwanderung chinesischer Arbeiter inhibierte, und dessen Verlängerung die USA 1894 auf weitere zehn Jahre erzwungen hatten. Unter dem Druck einer breiten Volksstimmung erklärte das chinesische Außenministerium schon zu Anfang des Jahres 1904, daß man nicht mehr mit der alten Passung des Vertrages einverstanden sei und neue Verhandlungen o darüber pflegen wolle. Zu den permanenten Schikanen gegen die etwa 100 000 besonders in Kalifornien ansässigen Chinesen durch einen rassistisch aufgeputschten Mob kamen einige Fälle menschenunwürdiger Behandlung chinesischer Vertreter des Handels und einer RegieQ rungsdelegation, was die antiamerikanische Stimmung der Chinesen zum Siedepunkt brachte. Schon Mitte 1904 tauchte in den Zeitungen der Auslandschinesen, so in Honolulu, der Gedanke auf, dem durch Amerika aufgezwungenen Ausschließungsvertrag mit einem allgemeinen Warenboykott zu begeg-

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nen. Seit alter Zeit wurden die Boykottmethoden namentlich von den Handels- und Gewerbegilden angewandt und waren gleichsam ein ungeschriebenes Gesetz, allen Schichten der chinesischen Bevölkerung bis zu den Matrosen und Schauerleuten bekannt. Ließen sich beispielsweise ausländische Kapitäne oder Reedereien Ungerechtigkeiten gegen chinesische Mannschaften zu Schulden kommen, traf sie 11 der Boykott. Von diesen durchaus nicht seltenen, aber doch mehr lokalen und individuellen Boykottfällen läßt sich die Entwicklungslinie zu den großen Massenboykotts verfolgen, die im politischen

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Leben Chinas bis zu den 3Oer Jahren eine eminente Bedeutung erlangen sollten. Im doppelten Würgegriff einerseits der Feudalherrschaft und andererseits der imperialistischen Mächte versuchten insbesondere die am stärksten mit dem internationalen Markt verbundenen Kreise der Handelsbourgeoisie, eine Position auf der politischen Bühne zu fin12 den. Mit dem Quasi-Ultimatum der Shanghaier Handelskammer vom 10. Mai 1905 an die USA, da£ nach Ablauf von zwei Monaten im Falle eines Nichteingehens auf die chinesischen Forderungen zur Vertragsrevision der Boykott amerikanischer Erzeugnisse beginnen würde, dürfte allein schon deutlich werden, daß es sich um eine planvolle und nicht um eine spontane Bewegung handelte. [Dokument 2] Wochen und Monate vor diesem Auftreten gab es nicht nur zahlreiche Presseerörterungen zu dieser Frage, sondern in den Gremien der Handelskammern von Shanghai, Kanton und anderer chinesischer Handelsstädte wurden Programme, Losungen, Verfahrensweisen und nahezu alle Eventualitäten der künftigen Entwicklung erwogen. Nur unter diesen Voraussetzungen ist die Perfektion verständlich, mit der der Boykott dann in der Folgezeit, in der zweiten Jahreshälfte von 1905, ablief. 15 In der Beurteilung der außenpolitischen Konstellation konnten die Organisatoren und Leiter dieser Bewegung nicht an der Tatsache vorbeigehen, da£ die Existenz der ungleichen Verträge solche Formen des Widerstandes verlangte, die eine bewaffnete Intervention imperialistischer Mächte nach Möglichkeit ausschloß. Innenpolitisch reifte zwar der Zerfall der Dynastie heran, aber der Schlag gegen die Reformbewegung von 1898 ließ eine mehr loyale Haltung gegenüber dem Hof angezeigt erscheinen, zumal einige einflußreiche Persönlichkeiten anfänglich dieser antiamerikanischen Bewegung Sympathien entgegenbrachten, wenn auch ganz sicher mit dem Motiv, den amerikanischen Verhandlungspartner unter Druck zu setzen, um dem unruhigen Volk im Lande bitter notwendige diplomatische Erfolge vorweisen zu können.1^ [Dokument 3] Schon die Anfänge des Boykotts führten zu einer beträchtlichen Unruhe in den Kreisen des amerikanischen Chinageschäftes. So stand die Standard Oil Company hinter Rockhill, der als Sonderbeauftragter mit Repressalien drohte und vor allem die Bestrafung der Boykottführer, wie Ceng Shaoqing, den Vorsitzenden der Fujian-Gilde in der Shanghaier Handelskammer, forderte.1-' Das Hauptargument der amerikanischen Intervention war weit hergeholt: Es sah im Boykott

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eine Verletzung des Vertrages von 1 8 5 8 , der freien Handel garantierte und den die chinesische Regierung laut Artikel XV zu schützen verpflichtet war. Mit dem Zeitpunkt der Auslösung des Boykotts bildeten sich allein in Süd- und Südost-China in nahezu hundert größeren Städten Komitees und Vereinigungen zum "Widerstand gegen den amerikanischen Vertrag". Die Resonanz erstreckte sich bis tief ins Lan desinnere, wenngleich sie auch im Norden bald auf die Opposition der hohen Beamtenschaft mit dem Hauptvertreter Yuan Shikai stieß. Über das Kräfteverhältnis zwischen Handelsbourgeoisie und den bestehenden Machtorganen geben Verlauf und Intensität des Boykotts vor allem im Shanghaier und im Kantoner Gebiet Aufschluß. 1 ^ Monatelang stand das gesamte politische Geschehen in Südchina im Zeichen der Boykottagitation, der Massenversammlungen, des Wirkens der Kontroll- und Vollzugsorgane, insgesamt Ausdruck einer systematischen Organisation, die faktisch als neue Machtorgane solange von der Dynastie und ihren Generalgouverneuren geduldet wurden, wie sie sich im Bereich traditioneller Selbstverwaltungsinstitutionen bewegten. Die anfängliche Duldung des Boykotts durch einige Gouverneure des Südens wich im Herbst unter dem offiziellen Druck der Amerikaner auf die Zentralmacht entschiedeneren Maßnahmen. [Dokument 4] Dieser bislang breiteste Versuch des jungen Bürgertums, auf der Grundlage einer antiimperialistischen Plattform in das politische Geschehen einzugreifen, wurde vom Auftreten weiterer sozialer Kräfte begleitet. Erstmalig ist die massenhafte Beteiligung von Studenten und Schülern in einer politischen Bewegung zu verzeichnen, die damit eine Vorahnung über ihre künftige Bedeutung vermitteln sollten. Schüler und ihre chinesischen Lehrkräfte traten vor allem aus den amerikanischen Erziehungsinstituten aus und stellten sich der

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Boykottagitation zur Verfügung. Gleichermaßen wird die Teilnahme von Frauen und Mädchen als neues Element in der politischen Entwicklung Chinas vermerkt, das den Grad der fortschreitenden Emanzipation kennzeichnet. Der Bruch mit den traditionellen Zuständen und das Sprengen feudaler Fesseln manifestierte sich nicht nur in der Teilnahme Hunderter von Frauen an Massenkundgebungen, wobei ihr Einsatz als Rednerinnen und Agitatoren besonders hoch zu bewerten i s t . ^ Halbproletarier und die Massen der Stadtarmut nahm®eine nicht minder entschlossene antiamerikanische Haltung ein. Stärker als bei den vorher genannten Gruppen und Schichten gingen sie über

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den Warenboykott hinaus und übten schon Formen des politischen Streiks. Sie traten aus dem Dienst amerikanischer Firmen aus, ver?0 weigerten den Transport amerikanischer Waren und Personen. Der Boykott erreichte nicht das von den Initiatoren gesteckte Ziel, nämlich die Abschaffung des amerikanischen Ausschließungsgesetzes und die Zulassung der freien Einwanderung chinesischer Arbeiter nach den USA. Teilerfolge errang die Boykottbewegung zweifellos auf politischem Gebiet, indem sich die USA gezwungen sahen, gewisse diskriminierende Praktiken in der Behandlung der Chinesen aufzugeben. Die Vertreter der imperialistischen Mächte in China verfolgten diese Bewegung mit größter Besorgnis, da sie sowohl die Formierung der patriotischen Kräfte und deren erhöhtes politisches Bewußtsein als auch die ökonomischen Einbußen eines sie möglicherweise treffenden Warenboykotts fürchteten. [Dokumente 5 und 6] Der dem amerikanischen Chinageschäft durch die Boykottbewegung zugefügte Schaden war zwar beträchtlich, aber nicht dauerhaft. Zeitweilig verloren vor allem die amerikanischen Petroleum- und Weizenexporteure 22 ihre Märkte in Süd- und Mitteichina an ihre Konkurrenten; in Nordchina, wo Generalgouverneur Yuan Shikai den Abbruch des Boykotts rigoroser als seine südchinesischen Kollegen durchgesetzt hatte, fanden sie einen gewissen Ersatz. Vorzugsweise handhabte die chinesische Bourgeoisie das Instrument des Nationalboykotts als politisches Kampfmittel. Nach dem hier vorgelegten Material sind die Aussichten, mit diesem Instrument politische und ökonomische Erfolge zu erzielen - bei der allgemeinen Voraussetzung der Kongruenz zwischen objektiver historischer Aufgabe und richtiger politischer Orientierung - , wohl, vor allem abhängig A) von Art und Intensität der gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen. - Da wohl in allen Fällen der nationale Boykott vom politisch und ökonomisch schwächeren Land ausgeht, wird das boykottierte Land in seinem ökonomischen Gefüge nur in begrenzten Teilbereichen betroffen, die je nach ihrer Bedeutung für das Gesamtsystem politische Rückwirkungen zeigen. B) vom Grad der politischen Reife der Boykottführung als auch der einbezogenen Volksmassen. - Dank der Initiative der aktivsten Kreise der Handelsbourgeoisie, die sich durch ihre Handelskammern in Shanghai und Kanton repräsentierte, kam es zu einem raschen Aufschwung der Boykottbewegung, die unter der These des nationalen

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Zusammenschlusses bei allen Schichten der Bevölkerung Unterstützung fand. Die ungleichmäßige Verteilung der Lasten im chinesischen Xager und die ausgeprägte Ungleichmä.ßigkeit der Entwicklung zwischen Süd- und Nordchina trug wesentlich zur inneren Zersetzung der Boykottfront bei. Unter diesen beiden Aspekten verdient das Gesamtresultat dieser patriotischen Volksbewegung unter Führung progressiver Teile der Handelsbourgeoisie eine sehr positive Bewertung. Nicht zu übersehen sind jedoch zwei Momente der Boykottauswirkungen, die nicht eindeutig als historisch fortschrittlich aufzufassen sind., 1. Die Abkehr von ausländischen Produkten einschließlich der Forderung auf Verzicht von Anwendung ausländischer Maschinen, die ganz analog der indischen Entwicklung jener Zeit starke Tendenzen zur Wiederbelebung traditioneller einheimischer, d.h. feudalzeitlicher Kleinproduktion zeigte. 2. Das Nationalbewußtsein und der nationale Zusammenschluß der verschiedenen sozialen Bestandteile des chinesischen Volkes erhielt zwar durch die Nationalboykotte starke Impulse, gleichzeitig nutzte die politische Führung das außenpolitische Kampfmittel des Nationalboykotts dazu, um die innenpolitischen sozialen Fragen zu paralysieren, was sich in den folgenden Boykottwellen immer deutlicher zeigte. Über den Wert des politischen und aktiven Boykotts äußerte sich Lenin im Zusammenhang mit der Haltung zur DUMA. Er maß den aktiven Methoden des Boykotts vor allem unter dem Aspekt der Erweiterung der politischen Agitation und der Möglichkeit der Hinüberführung des politischen Kampfes zu einer neuen Qualität große Bedeutung b e i . ^ In diesem Sinne erfüllte der erste große antiimperialistische Boykott in China weitgehend seine historische Aufgabe. Er belebte das politische Bewußtsein breiter Volksmassen und förderte die Revolutionierung' vor allem in Südchina. An der Schwelle der antidynastischen Ernebung trug der erste große chinesische Nationalboykott zur Sammlung und Mobilisierung der Volkskräfte wohl in entscheidendem Maße bei. In dieser antiimperialistischen Bewegung überzeugten sich breite Teile der Bevölkerung von der Möglichkeit, die Initiative des politischen Handelns übernehmen und den alten Machtapparat ausschalten zu können.

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Dokument 1 DZA 09.02. Bd. 1099- Bl. 117 (Broschüre S. 1-27) "Stand und Aufgabe der deutschen Industrie in Ostasien" Hildesheim 1905 (anonym) *) 5.7 "In China bereiten sich große Dinge vor. Während die eigenen Kriege von 1840, 1860, 1885 und 1894 an diesem eigenartLgai alten Kulturkoloß vorübergegangen waren, ohne ihn aus seinem lethargischen Selbstgenügen aufzurütteln, ... hat die Kunde des russischjapanischen Krieges das ganze Land ergriffen und erweckt." "Das im letzten Jahrzehnt zum größten Teil mit japanischem und englischem Gelde entwickelte Zeitungswesen und die Tausende von sprachkundigen Emissären, reisenden Händlern, Photographen, Lehrern, Instrukteuren, buddhistischen Missionaren und Fachleuten aller Art, die Japan ins Land geschickt hat, haben die Kunde der japanischen Siege in China verbreitet." 5.8 "Der Koloß ist erwacht, das Volk lauscht auf den Zehenspitzen den Siegesberichten und horcht der wundersamen Mär vom kleinen Japan, das den übermächtigen Feinden ihre Kriegskunst, ihr Wissen und ihr Können abgelauscht hat, ihre Telegraphen, Eisenbahnen und Maschinen einführt, ihre Waffen und Schiffe gekauft und sie jetzt mit den eigenen Waffen geschlagen hat. Die Erkenntnis, daß Japan allein durch Aneignung des fremden Wissens groß geworden und so ungeheure Erfolge erzielt hat, daß es jetzt den fremden Mächten im kriegerischen wie im friedlichen Können gewachsen ist und diese, die es wie auch China bislang gefürchtet hatte, heute um seine Fremdschaft werben, ist dem chinesischen Volk ebenso urplötzlich und überraschend gekommen, wie die dauernden großen Erfolge der Japaner Europa und Amerika überrascht haben. Es freut sich dieser Siege im Gefühl der Befreiung von langjähriger fremder Bevormundung; nur wenige denken darüber hinaus und denken mit Sorge an die Zukunft und die Gefahren, die China drohen von dem früher mißachteten, ja verhaßten und jetzt so plötzlich groß und stark gewordenen kleinen Nachbar. Alle aber empfinden, daß China sich nicht länger der Überlegenheit des fremden Wissens und Könnens entziehen kann und darf. Die Nutzanwendung ist zu überraschend und überwältigend gekommen; im ganzen Lande gärt es, das Volk sagt sich: was Japan kann, können wir auch ... Fremde Missionare, Kaufleute und Zeitungen berichten

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H. Bräutigam übereinstimmend aus allen Teilen des weiten Landes über dieses Erwachen und stellen Betrachtungen an über die Umwälzungen, die bevorstehen."

*) Als Verfasser dieser Schrift, die Max v. Brandt, der langjährige deutsche Gesandte in Peking, mit einem Vorwort versah, konnte Ohlmer identifiziert werden, der 40 Jahre im Dienst der chinesischen Seezollverwaltung stand. Dokument 2 Zhu Shijia, 1958, S. 146. Ceng Shaoqing (Ceng Zhu) an das Waiwübu (Außenministerium) "Das Einwanderungsverbot für chinesische Arbeiter im neuen amerikanischen Vertrag berührt selbst die Kreise der Gelehrten und Händler, da er diskriminierend und antihuman ist. Der Gesandte Liang widersetzte sich der Unterzeichnung. Die USA entsandten einen Sonderbeauftragten, der bei dem Hohen Ministerium intervenierte. Da diese Angelegenheit die Gesamtheit des Reiches und das Leben des Volkes berührt, war es Ceng Zhu u.a. unmöglich, gleichgültig zu bleiben, und da wir fürchten, daß die Kräfte für eine Auseinandersetzung unzureichend sind, haben wir die Vorstände der Handelsgilde am 7• Tag des 4. Monats (10. Mai) zusammengerufen und den Beschluß gefaßt, keine amerikanischen Waren mehr zu verwenden und den Boykott aufzunehmen. Das an das Hohe Ministerium gerichtete Telegramm lautet: 'Die amerikanischen Vertragsbestimmungen diskriminieran die chinesischen Heisenden von den Arbeitern bis hin zu den Gewerbetreibenden. Der Gesandte Liang ist nicht willens, den Vertrag zu unterzeichnen. Wie wir hörten, intervenierten die USA beim Hohen Ministerium. Diese Angelegenheit berührt die Gesamtheit des Reiches und das Leben des Volkes. Wir sehen uns gezwungen, inständig zu bitten, den gefahrvollen Weg des Widerstandes zu beschreiten, indem wir uns auf die Landesgesetze stützen und die Handelsinteressen schützen, was wir durch unsere Unterschrift bekräftigen. Dem amerikanischen Gesandten sollte mitgeteilt werden, daß die öffentliche Meinung sich nicht fügen wird. Die Volksmassen und die Händler sind entschlossen, amerikanische Waren nicht mehr zu verwenden lind ohne offizielle Billigung den Boykott dagegen zu betreiben. Wenn Amerika den gegenseitigen Nutzen der Handelsinteressen betont, so muß dies auch auf uns Anwendung finden. Wir bitten inständig,

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Festigkeit zu bewahren. Mögen sich die Umstände zum Guten wenden.' Des weiteren haben wir Telegramme an die Handelshäfen gerichtet. Die Antworten bestätigen, daß allerorts entsprechend verfahren wird. Seither haben sich am 9., 11. und am 1J. Tage (12., 14. und 16. Mai) die in Shanghai vertretenen Landsmannschaften von Fujian und Guangdong zur Beratung zusammengefunden und ihre Solidarität zum Ausdruck gebracht. Überdies ist die gesamte Studentenschaft des von der amerikanischen Mission errichteten Herz-Jesu-Seminars (qingxin shuyuan) aus diesem Institut ausgetreten, was selbst in ganz Amerika Aufsehen erregte. Die amerikanischen Handelskreise von Shanghai wandten sich telegraphisch an ihre Regierung, den neuen amerikanischen Gesandten, Rockhill, dringend nach Shanghai zu schicken. Diese Nachricht wollen wir hiermit sogleich unterbreitet haben. Am meisten fürchten die Ausländer hier, daß die Volksmassen in Bewegung geraten und keine amerikanischen Waren mehr verwenden. Da Amerika dies dringend zu verhindern wünscht, wandte sich der amerikanische Konsul brieflich an Ceng Zhu, um in persönlichen Verhandlungen alles beizulegen. ..." Dokument J Zhu Shijia, 1958, S; 163 f • "Note des Generalgouverneurs von Guangdong, Cen Chunxuan, an den amerikanischen Konsul über die Unmöglichkeit der Unterdrückung des gegen den diskriminierenden Vertrag gerichteten Volkszornes vom 21. August 1905. In Beantwortung Ihres Schreibens teile ich Ihnen mit: Die beiden Schreiben Ihres Generalkonsulates vom 9. und 16. August und der Brief vom 17. August sind hier eingegangen. Sie befassen sich mit dem Widerstand der chinesischen Händler gegen den amerikanischen Vertrag, womit sich der Generalgouverneur vertraut gemacht hat. Was den Widerstand gegen den amerikanischen Vertrag anbetrifft, so findet er im gesamten Inland und im Ausland Widerhall und beschränkt sich keineswegs auf die Provinz Guangdong. Da jedoch die meisten in den Vereinigten Staaten ansässigen Auslandschinesen aus Guangdong stammen, äußert sich die Volksstimmung hier am stärksten. Der selbständige Zusammenschluß der Kaufleute dient dem Schutz der

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gemeinsamen Interessen und unterscheidet sich grundlegend von allen Aktionen früherer Auslandsfeindlichkeit und des Religionshasses. Jedweder äußerer Eingriff in diese Angelegenheit, wie etwa ein gewaltsames Verbot, würde nicht nur den Widerstand noch mehr stärken, sondern geradewegs Verwicklungen provozieren. ... Aus Gründen der Reform des Parlaments unseres Landes, die erst im Dezember beendet sein wird, kann die Angelegenheit der diskriminierenden Artikel des Arbeiterausschließungsvertrages vorläufig nicht von diesem Gremium "behandelt werden. Indessen ist es mir eine große Ehre, die Meinung meiner Hohen Regierung zum Ausdruck zu bringen. Im besonderen steht zu befürchten, daß (der Inhalt des Vertrages - H.Bi) den Kaufleuten noch nicht vollständig zur Kenntnis gekommen ist. Deshalb sollte der Vertrag vollständig veröffentlicht werden. Indessen wird den Kaufleuten von Guangdong der Kaiserliche Erlaß bekanntgegeben, daß die 'Gesellschaft zum Widerstand gegen den Vertrag' noch vor dem Monat Dezember ihre Tätigkeit einstellen soll, und die Kaufleute werden aufgefordert, den normalen freien Handel zu pflegen. Alle Versammlungen und öffentlichen Reden sollen vinterbleiben. In der Annahme, daß die Grundsätze der Zivilisation Eures Landes und das mächtige Wort Eures großen Präsidenten zur Geltung gelangen werden, sind die Erwartungen der Kaufleute und einfachen Menschen im In- und Auslande ganz davon erfüllt, daß der Friede zwischen unseren beiden Ländern erhalten werden kann. Es wäre von beiderseitigem Nutzen, wenn Ihr Generalkonsulat dem Bericht an Ihre Regierung die Ansicht beifügen würde, daß eine womöglich baldige Sondersitzung zu dieser Angelegenheit mit der baldmöglichen Proklamation der veränderten Artikel des Arbeiterausschließungsvertrages ihren tiefen Widerhall nicht verfehlen würde. Ob die Kaufleute und das Volk amerikanische Waren kaufen oder nicht, liegt in inrem Belieben; der Generalgouverneur kann hier nur ermahnend und schlichtend wirken, aber er kann keine Gewaltmaßnahmen anwenden, denn der Handel innerhalb des Volkes verbietet eine internationale Einmischung. ..." Dokument 4 Zhu Shijia, 1958, S. 164. "Bekanntmachung des Hauptamtes für ausländische Angelegenheiten der Provinz Fujian zur Unterdrückving der antiamerikanischen Boykottbewegung .

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Das Hauptamt für ausländische Angelegenheiten der Provinz Pu^ian und das Hauptamt für handelspolitische Angelegenheiten der Provinz Fujian erlassen folgende Bekanntmachung: Gemäß der Throneingabe des Zensors Wang Buying vom 31. August 1905 wird festgestellt, daß die Unruhe infolge des Widerstandes der Arbeiter und Kaufleute gegen den amerikanischen Vertng in allen Provinzen das Maß überschritten hat. Daher wird gebetjn, Gesetze zu erlassen und dem Schutze der Ordnung Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen, um die Lage wieder zu stabilisieren. Laut eines Thronberichtes des früheren Mitgliedes des Waiwubu CAußenministerium), Minister Wang, haben hinsichtlich des amerikanischen Arbeitervertrages wiederholt Verhandlungen zwischen dem Gesandten Liang Cheng und dem Waiwubu einerseits und der amerikanischen Regierung andererseits stattgefunden, wobei die amerikanische Regierung aktenkundig die bevorzugte Behandlung der chinesischen Kaufleute, Gelehrten, Studenten und Touristen zusicherte, was auch die Billigung des Parlamentes gefunden hat und nun mit aller Kraft in die Tat umgesetzt werden soll. In der neuerlichen Eingabe des Zensors heißt es: 'Wächst der Volkszorn, so werden die Reden des Volkes verwirrt, und es wird schwer, den Pöbel im Za,ume zu halten, denn derselbe wird, die Lage ausnützend, Räuberei und Plünderung begehen. Daher fürchte ich, daß in dieser Situation Verwirrung entsteht. Zur Vermeidung von Mißverständnissen ist es dringendst erforderlich, dies dem Volke kundzutun und die Zweifel des Volkes zu zerstreuen.' Die aufrichtige Freundschaft zwischen China und Amerika ist eine Sache, der wir uns nicht widersetzen dürfen. Die früheren Arbeiterverträge mit Amerika wurden in friedlichen Verhandlungen erzielt, wobei selbstverständlich das Waiwubu mit der gebotenen Ruhe über dringende Punkte in Verhandlungen Veränderungen herbeiführte und eine gerechte Handhabung durchsetzte, ohne daß es zu einer Sperre für amerikanische Waren kam. Unvermittelt an Boykott zu denken, wird nur zu einer Störung der zwischenstaatlichen Beziehungen führen, und darüber hinaus erleidet auch der chinesische Handel große Verluste. Wiederholt hat das Waiwubu die Provinzbehörden angewiesen, den Kaufleuten vollständige Belehrung zuteil werden zu lassen, dem Handel normal zu obliegen und die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Außerdem werden auch die Behörden zur Verantwortung gezogen, wenn sie dem Erlaß nicht den nötigen Nachdruck verleihen, was in der Folge zu überprüfen ist.

H. Bräutigam In der festen Erwartung, daß alle friedlich ihrem Gewerbe nachgehen, möchte es der Kaiserliche Hof nicht versäumen, nachdrücklich in diesem Sinne zu ermahnen. Falls Unwissende weitere Unruhe stiften und wenn sich daraus Zwischenfälle ergehen, dann sollen sie einer strengen Untersuchung zugeführt werden. Um dem Unheil zu steuern, muß der Kaiserliche Erlaß zur allgemeinen Kenntnis gebracht werden. Ehrfurchsvoll befolget dies! ... Nunmehr haben die Verhandlungen über den Arbeitervertrag bereits begonnen. Wir wiederholen daher den den Kauflcuten durch den Generalgouverneur zur Kenntnis gebrachten Kaiserlichen Erlaß, wonach dem Handel auf normale Weise zu obliegen ist und in Ruhe den Verbesserungen auf dem Verhandlungswege entgegenzusehen. Vorsicht sollte walten, um keine Unruhen heraufzubeschwören, was Untersuchung nach sich ziehen wird. Die vereinigten Gilden bringen diesen Erlaß zur Kenntnis, wobei hierdurch allen Kaufleuten und dem Volke anheimgestellt wird, Gehorsam zu leisten. Verstoßet nicht dagegen! Besondere Bekanntmachung Amtliche Bekanntmachung 1. Januar 1906." Dokument 5

DZA 09.02. Bd. 25. Bl. 5-5. Konzept Bericht Mumm an R K

Peking 12.1.1906

Bl. 3 "Während vor Jahresfrist Deutschland den zweifelhaften Vorzug genoß, die bestgehaßte fremde Macht in China zu sein, haben sich die Verhältnisse seither in ganz merklicher Weise geändert." Zu den verschiedenartigen Gründen rechnet Mumm die Verminderung deutscher Besatzungstruppen in Shandong, die das Mißtrauen in aggressive Pläne Deutschlands zerstreut haben. "Es ist anzuerkennen, daß sich die unter japanischem Einfluß stehende chinesische Fresse seit einigen Monaten eines friedfertigen Tons gegen uns befleißigt." "Endlich ist ein für die Stellung Deutschlands in China günstiges Moment, daß sich in Folge der amerikanischen Chinesischen-Ausschließung und des jüngsten (unleserlich) Zwischenfalles die Stimmung weiter chinesischer Kreise gegen Amerika

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und England gewandt hat. Damit ist die Aufmerksamkeit von uns abgegangen. ..." Bl. 4 "Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, daß die Boykottbewegung, wie sie uns in beiden letzten Anlässen zu Tage getreten ist, ein ... Symptom darstellt, das auch von uns zu beachten ist. Was heute Amerika und England passiert, kann sich morgen uns gegenüber wiederholen ..." "Der Chinese beginnt sich seit dem japanisch-russischen Kriege zu fühlen ..." Bl. 5 "Mit wachsender Besorgnis sehe ich dagegen den kaufmännischen Zusammenschluß Chinas gegen die Fremden, wie er sich in der Verweigerung neuer und in der Kündigung bestehender Konzessionen, im Boykott fremder Waren, ... u n d der Macht der Gilden offenbart. Diese Bewegung ist eine nachhaltigere fremdenfeindliche, als der ... leicht niederzuschlagende Aufstand unwissender Massen. Die fremden Regierungen und die fremde Kaufmannschaft werden da, unter Hintansetzung gegenseitiger Rivalität, alle Kraft zusammennehmen müssen, wenn den vielen fetten Jahren jetzt nicht eine Seihe von mageren folgen soll." gez. Mumm Dokument 6 DZA 09.02. Bd. 25. Bl. 164 Zeitungsausschnitt

(vermutlich North China Daily News - H.B.) Shanghai 20.5-1906

American Interests in China By A.W. Bash - Projector of the Canton - Hongkong Railway. "Opportunities for the investment of American Money in railway and other industrial enterprises in China just at this time are practically invisible. The situation is chaotic. We have just been the object of a popular boycott, now officially declared at an end, but the state of public opinion in the Celestical Empire is so rampantly anti-foreign that, handicapped as we have been, and with so many influences working under the surface against us, it will require delicate and masterful handling of the situation for many

H. Bräutigam months, and a radical change in the policies of our official representatives in China, to save the situation for Americans who desire to go into China und put their capital and energy into the development of this rich field." Bash behandelt dann — gewisse Möglichkeiten für amerikanisches Handelskapital, sich mit englichen oder japanischen Unternehmen zusammenzutun, für die gegenwärtig das Feld offen ist. — Die Situation in China ist interessant, und es sollte für die Amerikaner nicht belanglos sein, ob sie an der künftigen chinesischen Entwicklung teilhaben. — Amerika habe ein Recht, am künftigen großen Eisenbahnsystem Chinas stark beteiligt zu sein. In einem halben Jahrhundert wird China genauso erwacht sein, wie Japän jetzt, und seine gewaltigen Vorräte an Bodenschätzen werden eine neue orientalische Welt bilden. Die Regierungen Europas stellen sich auf eine solche Entvc cklung ein. "If this policy be not changed, American interests are certain to languish in competition with those of English, German and Japanese financiers, who are strongly backed up by their governments. It must be recognized that conditions in China have changed sharply in the last decade. Americans got their present foothold under the old order of things, when only business conditions had to be reckoned with. Even business men in China have been slow to see that they cannot get along without taking diplomacy into account. Business in China is to-day more than half a matter of diplomacy - I feel like saying that it is all diplomacy." — Die europäischen Mächte sind wegen der Geschäfte in China, Das ist das Ziel ihrer Diplomatie. Ihre Kaufleute und Finanziers werden mit allen Kräften unterstützt, die ihre diplomatischen Vertreter nur aufzubringen vermögen. Deutsche Kanonenboote stehen an der Seite des deutschen Handels. Die Deutschen beschäftigen in ihrem Konsulat in Shanghai sogar Leute, die nur chinesische Zeitungen übersetzen. So sind sie in enger Verbindung mit der Situation. — Klage über gescheiterte neue Konzessionsversuche, weil amerikanische Regierung nicht energisch genug ... — Klage über den Verlust der früheren Konzession für die KantonHankou-» Eisenbahn. Bash führt weiter aus: "American speculative interests posing as investors and developers

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have had much to do with bringing about the present state of public opinion, it is true. The acute cause of the boycott was the wretched treatment of Chinese of the very highest class by our customs authorities ••• China is awakening. It may be a feature of this awakening process along with a development of Western ideas of education there comes an intense feeling of patriotism that is jealous of all outside interference in Chinese affairs. Among the lower classes it takes the form of a savage hatred of all things foreign. Among the very highest of the Chinese there is something of this feeling, but more of the commendable, if it were only practicable, desire that China shall remain for the Chinese and that foreigners shall not develop and control their fatherland."

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S u m m a r y The imperialist policy-of economic exploitation and political trusteeship of Cnina met with increased resistance by patriotic individuals and broad strata of the population at the beginning of the 20th century. The anti-imperialist movement in China exploited the contradictions between the Great Powers very cleverly and gained considerable self-confidence especially in the course of the Russo-Japanese war when, for the first time, a small Asiatic nation inflicted a decisive defeat on a hitherto much-feared Great Power. To the extent to which the rising Chinese bourgeoisie and their political representatives gained positions of public influence and power they defended the national aspirations which the decaying Manchu dynasty was no longer capable of defending. As an answer to the unequal treaties forced upon them - the Exclusion Acts of 1894 and the intended prolongation of these - and as a protest against the discriminatory treatment of Chinese living in the USA, the Chambers of Commerce of Shanghai and Canton organised a trade boycott against the USA. This national boycott, the biggest of its kind so far in China, met with a response in almost all parts of the country and was effectively supported, especially by small traders and the city poor, so that US trade with China suffered serious losses for several months. At the same time, mass action forced a more humane treatment of Chinese living in the USA. Although this great national boycott, which took place on the eve of the anti-dynastic uprising, contributed considerably to mobilising popular forces, some aspects of the effects of the boycott, such as tendencies to a one-sided return to feudal small production and a paralysing of the social contradictions in this process, should not be overlooked.

Anmerkungen 1

Je nach den sozialen Trägern und der Stoßrichtung oder Zielstellung des Boykotts lassen sich seine verschiedenen Typen voneinander unterscheiden, wenn auch recht unterschiedliche Voraussetzungen, vor allem politischer und ökonomischer Art, die eindeutige Bestimmung dieses politischen Kampfmittels erschweren mögen. Unter Nationalboykott, also eine der Boykottformen, soll im folgenden politischer Widerstand zur Wahrung

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gesamtnationaler Interessen verstanden werden, wobei politische Erfolge durch die ökonomische Schädigung des Gegners angestrebt werden. Die Aktivitäten des Nationalboykotts, wie wir ihn in China antreffen, stehen zweifellos in enger Wechselwirkung mit dem wachsenden Nationalbewußtsein des aufkommenden Bürgertums und vor allem der Handelsbourgeoisie, die mehr und mehr zur politischen Führung des Landes drängen. Auf die Anfänge dieses Prozesses und seine historische Überschaubarkeit weist u.a. Purcell hin: "In 1840 British troops on their way to the 'Opium War' with China were camped on the Esplanade at Singapore and not a muriner was heard from the Chinese of the town; seventeen years later Lord Elgin, on his way to Peking to dictate terms to the Chinese in the Second China War, was fSted by the Chinese merchants of Singapore; the British advance on Peking in 1860 would have been impossible without the help of Chinese carryingcoolies from Canton. Though the ferment of nationalism had begun to work in the minds of the mandarins of the Ch'ing dynasty, it was not they who were to lead the Chinese into the camp of nationhood." V. Purcell: The Chinese in Southeastern Asia. London 1952, p. XXX-XXXI. 2 Datum und unmittelbarer Anlaß der antijapanischen Boykotte waren: 1908 der Tatsu Maru-Zwischenfall, 1909 die Frage der Andong-Mukden-Bahn, 1915 die "21 Forderungen", 1919 die Shandong-Frage, 1923 die Frage der Zurückerlangung Port Arthurs und Dairens, 1925 der Zwischenfall vom 3O.5., 1927 die Truppen-Entsendung nach Shandong, 1928 der Jinan-Zwischenfall, 1931 die Ereignisse von Wanbaoshan und von Mukden als Beginn der offenen Aggression der Japaner in Nordost-China. In diese Liste sind die begrenzteren und lokalen Boykotte, die u.a. auch deutsche Waren trafen, nicht aufgenommen. Vgl.: Der Lytton-Bericht. Leipzig 1933, S. 172; A. Retzbach: Der Boykott, eine sozial-ethische Untersuchung. Freiburg i.Br. 1916; R. Egetmeier: Der Boykott als internationale Waffe. Diss. Tübingen 1929, S. 9 ff.; F. Otte: Der Wirtschaftsboykott in

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China. Ins Ostasiatische Studien. Bd. 1, o.J., S. 100. Die wichtigsten chinesischen Quellen zu dieser Frage sind: A Ying. Fanmei huagong jinyue wenxueji (literarische Denkmäler über den antiamerikanishen Widerstand gegen die Ausschließungsgesetze) . Beijing 1962; Dai Jitao. Zhongguo duli yundongde qidian (Grundlagen der chinesischen Unabhängigkeitsbewegung). Guangzhou 1925; Ding Han. 1905 nian Guangdong fanmei yundong (Die antiamerikanische Bewegung in Guangzhou von 1905.)In: Jindaishi ziliao 1958. 5, S. 8-51; He Zuo. 1905 nian fanmei aiguo yundong (Die antiamerikanische und patriotische Bewegung von 1905). In: Jindaishi ziliao 1956. 1, S. 1-90; Minbao (Volkszeitung), Tokyo 1905 ff.» Qing Ruji. Meigou qinhua shi (Die Geschichte der amerikanischen Aggression gegen China). Beijing 1952; Su Shabing. 1905 nian fanmei yundong gedi kaihui jibiao (Zeittafel der anläßlich der antiamerikanischen Bewegung von 1905 stattgefundenen Volksversammlungen). In: Jindaishi ziliao 1954. 1, S. 13-25; iin Weiqian. Zhongguo zhengdang shi (Geschichte der politischen Parteien in China). Shanghai 1927; Zhu Shijia. Meiguo pohai huagong shiliao (Materialien über die Verfolgung chinesischer Arbeiter in den USA). Beijing 1958. 3

1905 gründete Sun Yatsen im japanischen Exil die "Tongmenghui", Liga der Verbündeten. Seit 1905 wird die "Minbao", Volkszeitung, als theoretisches Organ der Liga in Tokyo herausgegeben. Uber Aktivitäten von Geheimgesellschaften und über breite Volksbewegungen in den Provinzen Shenxi, Gansu, Hubei, Jiangxi, Henan, Zhile, Shandong, Guangdong und Guangxi berichtet der amerikanische Gesandte, Conger, an Hay am 14.12.1904. Er bezeichnete die damalige Hebellion in Jiangxi als antidynastisch. Darüber hinaus richteten sich Angriffe auch gegen beliebige Ausländer. Papers Relating to the Foreign Relations of the United States (im folgenden zitiert: Papers Relating). 1904, PP•200-203. 4 "In 1905 and 1906 new factors began make their appearance. The Chinese of Honan and Shansi, educated to the new nationalism by the cries of 'China for the Chinese1 resounding all over the flnpire, ... They therefore commenced to agitate, and were considerably aided by a genuine movement on the part of the Chinese coal-miners in Honan." P. Weale: The coming struggle in Eastern Asia. London 1908, p. 579. 5 Im Frühjahr 1896 kam A.W. Bash aus Seatie als Agent dieser Com-

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pany mit Empfehlungsschreiben des State Department. Der amerikanische Charge ¿'Affaires, Charles Denby, informierte die Chinesen, daß die Gesellschaft so wohlhabend sei, um alle Bahnen bauen zu können, die China nur wünscht. Anfang November 1896 einigte sich Bash mit Sheng Xuanhuai über eine Strecke von Lugouqiao (Marco Polo-Brücke bei Peking) bis Hankou. Die Amerikaner ließen dieses Projekt jedoch fallen und setzten 1898 die Konzession für die Hankou-Kanton-Linie durch. W.R. Braisted: The United States and the American China Development Company. In: Far Eastern Quarterly. Vol. XI (1951) No. 2, p. 148/9. 6 Der einschlägige Schriftwechsel zwischen Dezember 1904 bis August 1905 zur Konzessionskündigung und die Erpressung einer Summe von 6 3/4 Million Dollar von China. In: Papers Relating. 1905, pp. 124-1357 Der "Ostasiatische Lloyd"(OAL) vom 28.7.1905, S. 171 berichtet: Als Bash, der Vertreter der amerikanischen Gesellschaft, die die Konzession für den Bau der Hankou-Kanton-Bahn verloren hatte, den Versuch machte, eine Genehmigung für den Bau einer Strecke in der Provinz Zhejiang zu erhalten, fand am 24.7.1905 eine Versammlung ei nflußreicher Zhejiang-Leute im Amtsgebäude für fremde Angelegenheiten in Shanghai statt, wo in patriotischen Reden die Rückgewinnung verlorengegangener Rechte und die Übernahme der Projekte durch chinesische Unternehmen gefordert wurde. OAL, dito, erwähnt Bestrebungen der Handelskammer von Tianjin, die Deutschland erteilte Konzession für den Bahnbau Tianjin-Jinan zurückzukaufen. Dem Delius-Bericht über Chinas Außenhandel und wirtschaftliche Entwicklung des Jahres 1904 ist zu entnehmen, daß alle Bemühungen von Ausländern, Eisenbahnkonzessionen zu erhalten, erfolglos waren. Die wichtige Linie Hankou-Sichuan (wenn auch damals weder technisch noch finanziell realisierbar - H.B.) wurde ausdrücklich chinesischen Gesellschaften vorbehalten. Eine gemischt chinesisch-portugiesische Gesellschaft erhielt jedoch das Recht des Baues der etwa 150 km langen Bahn von Macao nach Kanton. Da die portugiesischen Teilhaber aus Macao chinesischen Blutes waren, handelte es sich de facto um ein rein chinesisches Unternehmen. Deutsches Zentralarchiv Potsdam (DZA). 09,02. Bd. 1155« Bl. 582 f. Ein Jahr früher, 1903, bot sich noch folgendes Bild: "Das englisch-französische Yünnan-Syndikat hat das Recht zur Ausbeutung von 89 Minen erworben. Das Conzessionsgebiet umfaßt

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etwa ein Drittel der Provinz und enthält die reichsten Lager." Heintges-Bericht über Handel und Schiffahrt in China 1903. DZA. 09,02. Bd. 1155. Bl. 147. 8 Bereits am 24.1.1904 und am 3.5.1904 teilte Prinz Qing dem amerikanischen Gesandten, Conger, mit, daß China nicht zu einer Verlängerung des Vertrages in der alten Fassung bereit sei. Man wäre jedoch einverstanden mit Verhandlungen über einen neuen Vertrag. Papers Relating. 1904, pp. 117 f. 9 Fälle von unmenschlicher Behandlung häuften sich wieder - nach den antichinesischen Pogromen der 70er und 80er Jahre - in den USA nach der Jahrhundertwende. Die Quarantänemaßnahmen wurden gegen landende Chinesen besonders schikanös gehandhabt. Selbst eine offizielle Regierungsdelegation, die sich 1904 unter Zhang Yinxuan auf dem "Wege nach England befand, mußte entwürdigende Prozeduren der anthropologischen Vermessungen über sich ergehen lassen. He Zuo. 1956. 1, S. 8-12. 10 Im Sommer 1904 setzte eine heftige Kampagne der Presse der Auslandschinesen und der jungen einheimischen Presse gegen die Verlängerung des Ausschließungsvertrages ein. Die Xin Zhoungguo bao (Neu-China-Zeitung) in Honolulu forderte wohl als erste einen Boykott der amerikanischen Waren als Form des Widerstandes. He Zuo. 1956. 1, S. 12. Am 5.5.1905 schrieb die Shanghai Shibao (Times): "Solange dieser Vertrag existiert, schändet er unser Land, lähmt er den Handel und fügt ans gewaltigen Schaden zu. Uns erfüllt tiefe Hoffnung, daß die Patrioten des Landes gemeinsam aufstehen und ihm (dem Ausschließungsvertrag - H.B.) eine Antwort zuteil werden lassen." He Zuo. 1956. 1, S. 13-14. 11 Mit welchem Grad von Solidarität die chinesische Kaufmannschaft mißliebigen Regulativen oder Verfahren insbesondere der von Ausländern beherrschten Seezollbehörden entgegenzutreten vermochte, beweist ein Fall vom November 1874, über den der deutsche Konsul, Lueder, in Kanton an den deutschen Geschäftsträger, v. Holleben, unter deii 25.11.1874 berichtete. Als der Seezolldirektor Kleinwächter die im Kantoner Hafen tätigen Lösch- und Landeboote zollamtlich zu registrieren (d.h. zu besteuern - H.B.) versuchte, boykottierte die gesamte Geschäftswelt Kantons den ausländischen Schiffsverkehr und setzte nach 2 Wochen die Zurücknahme des Registrierungsregulativs durch. Der Konsul bedauert "den Sieg des chinesischen Widerstandes als möglichen Präze-

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d e n z f a l l " , kann jedoch nicht daran vorbeigehen, daß der "mit schweren Opfern erkaufte vierzehntägige Streik aufs Neue" "den einmütigen Zusammenhalt des chinesischen Handelsstandes" bezeuge, der "in einer europäischen Stadt von 1,5 Millionen Einwohnern unmöglich" wäre- DZA. 09,02. Bd 940. Bl. 48/49. Im Mai 1905 wandte sich eine Gruppe chinesischer Geschäftsleut e , die sich gerade in den USA aufhielten, in Telegrammen an die Qing-Regierung, an verschiedene Ministerien sowie an einflußreiche chinesische P o l i t i k e r und an den chinesischen Gesandten in den USA und forderten die Beseitigung des Ausschließungsvertrages . A l l e i n am 13•5• gingen v i e r Telegramme beim Waiwübu (Außenministerium) ein, die den Widerstand j e einiger hundert chinesischer Geschäftsleute in Großstädten der USA, wie P h i l a delphia und New York, in ihren Handelskammern zusammengefaßt, gegen den Ausschließungsvertrag zum Ausdruck brachten. He Zuo. 1956. 1, S. 12-13. In der Außenpolitischen Umschau/China/ des OAL vom 28.7.1905 heißt es: "Die Organisation des Boykotts i s t geradezu bewunderungswürdig und hat z w e i f e l l o s wieder einmal a l l e n Ausländern die außerordentliche Macht eines einigen China vor Augen geführt. Solange die Boykottbewegung auf die zunächst b e t e i l i g t e n gebildeteren Kaufmannskreise beschränkt b l e i b t , wird man ihrem weiteren Verlauf ohne Sorge entgegen sehen können. Wie aber, wenn sie auch auf die Massen ü b e r g r e i f t , wenn es den Agitatoren g e l i n g t , die Kulis mobil zu machen? Bereits haben die Dockarbeiter und Bootsleute eine Versammlung gehabt, in der der Vorschlag gemacht wurde, keine amerikanischen S c h i f f e mehr zu löschen und keine amerikanischen Waren mehr anzurühren. Vorläufig i s t diese Aktion noch v e r t a g t ; eine zweite Versammlung i s t zum 30. Juli einberufen worden, was wird sie beschließen?" . . . Rockhill l e g t als Nachfolger von Conger in seinem Bericht vom 17»8.1905 an das Secretary of State sein Vorgehen in der Boykottangel egenheit dar. Aus den beigefügten Anlagen - Schreiben R o c k h i l l ' s vom 7.8.1905 an Prinz Qing - geht hervor, daß Natung Rockhill schon Zusagen zur Unterdrückung des Boykotts gegeben hat. Rockhill rügt die Haltung des Prinzen, da er in seinem Brief vom 1.7.1905 Sympathien f ü r die Boykottbewegung zu erkennen gegeben habe. Würde der antiamerikanische Boykott nicht wirksam unterdrückt werden, so wären Schadenersatzforderungen an die

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H. Bräutigam chinesische Regierung und weitere Repressalien zu erwarten. Papers Relating. 1905. PP- 212-214. Rockhill sandte am 14.8.1905 eine Note an den Prinzen Qing, worin er die Degradierung und Bestrafung von Ceng Shaoqing forderte. Papers Relating. 1905. p. 214. Der Boykott fand in Süd- und Mittelchina starken Widerhall und wird überall diszipliniert geführt, während er in Nordchina durch Generalgouverneur Yuan Shikai, der für die Provinz Zhili ein Boykottverbot erläßt, hintertrieben wird. OAL 11.8.1905« He Zuo. 1956. 1, S. 33-45. Die Welle der Boykottagitation drang bis tief ins Innere Chinas. Mit dem Auftreten der redegewandten Jungchinesen aus der amerikanischen Schule wuchs das Empfinden der ausländischen Kreise, daß China heute "aufgeweckt und gefährlich" sei. OAL 8.9.1905. Die Boykottbewegung förderte wie kein politisches Ereignis vordem die Emanzipation der chinesischen Frauen. Sowohl In Shanghai als auch in Kanton standen Frauen als Agitatorinnen und Versammlungssprecher an der Seite der Männer. He Zuo. 1956. 1,

s. 30-31, 35.

An einer Massenkundgebung in Kanton, die am 20. Juli 1905 stattfand, sollen nach einem Bericht der North China News unter den 1 500 Teilnehmern über 100 Frauen gewesen sein, die auch ihre politische Meinung zum Ausdruck brachten. Papers Relating. 1905. p. 211. 20 Lt. OAL vom 4 . 8 . 1 9 0 5 , S. 220, hat die Gilde der Bootsleute be. schlössen, keine amerikanischen Waren mehr ins Innere des Landes zu befördern. Der OAL nimmt prinzipiell Stellung gegen den Boykott als politische Kampfwaffe, da sich die Volksmassen ihrer Kraft bewußt werden könnten. F. Otte, der Leiter der Zollstation Hokow an der Grenze von Yunan war, stellt als Augenzeuge fest, daß um 1907/8 der antiamerikanische Boykott auch in diesem entfernten Landesteil spürbar war. Chinesische Arbeiter weigerten sich eine gewisse Zeit, amerikanisches Petroleum umzuladen. OAS. Bd. 1. Wirtschaftsboykotte in China, S. 96 f. 21 In den Boykottzielen spielen nach Otte auch Erwägungen der einheimischen Bourgeoisie über die Zurückgewinnung des von Ausländern beherrschten Marktes und der Kampf gegen die Zwangstarife

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eine nicht unbedeutende Holle. OAS Bd. 1, S. 1 0 5 . Im Vergleich zum Vorjahr sank der Import amerikanischen Petroleums 1905 um etwa 20 Millionen Tael. Während die ausländischen Importgesellschaften sämtlich gute Preise erzielt haben sollen, mußten die chinesischen Händler große Verluste in Kauf nehmen, da in der zweiten Hälfte des Jahres die Nachf: age aus dem Landesinnern fast gänzlich ausblieb. Delius-Bericht über den Handel von Shanghai 1905 (18.8.1906). DZA. 09,02. Bd. 1156, B1.298. Nachklänge waren auch in den folgenden Jahren noch spürbar. Für das erste Quartal 1907 konstatiert Delius Gewinne des Borneound Sumatra-Öls auf Kosten des amerikanischen Konkurrenten. "Während amerikanisches Petroleum zurückgegangen ist, kamen aus Borneo und Sumatra größere Mengen als 1906." DZA. 09.02. Bd. 1157, Bl. 54. 23 Die Einfuhr von Weizen verdoppelte sich von 1905 - 1906 nahezu. In der Zeit des antiamerikanischen Boykotts gewannen die kanadischen und australischen Weizenhändler bedeutend an Boden. Außerdem wurde auch der Markt nördlicher Provinzen (von den Amerikanern - H.B.) erschlossen, während früher der Weizenstrom nach Südchina und vor allem nach Kanton ging. Delius-Bericht über Chinas Außenhandel und wirtschaftliche Entwicklung 1906. DZA. 09,02. Bd. 1157, Bl. 22724 Der OAL vom 11.8.1905, S. 263, stellt Betrachtungen über die Boykottunlust eines Teiles der Shanghaier Händler an, die ihre Geschäftsverbindungen in die Hände anderer übergehen sahen. In der Passivität Nordchinas macht sich ein wichtiger Faktor zur Zersetzung der Boykottfront bemerkbar. 25 W.I. Lenins Werke. Bd. 9- Berlin 1960, S. 174 f., S. 209-211; ders., Bd. 1 3 . Berlin 1965, S. 20, 22 f., 33. ^8 f. 22

B r i g i t t e

S c h e i b n e r

Zur Entwicklung der Auffassungen Sun Yatsens über das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung Kampf und Wirken Sun Yatsens für ein freies und unabhängiges China umfassen einen Zeitraum von nahezu 4-0 Jahren, begonnen mit ersten Kontakten zu chinesischen Geheimgesellschaften während des Studitims Ausgang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts bis zur Reorganisation der Guomindang zu einer revolutionären Volkspartei und zur Einheitsfront mit der Kommunistischen Partei Chinas in den letzten Jahren vor seinem Tode 1925 in Beijing. Der vorliegende Beitrag soll sich auf einige Bemerkungen zur Entwicklung der Auffassungen Sun Yatsens über das Hecht der Nationen auf Selbstbestimmung als Bestandteil der nationalen. Frage und ihrer Lösung beschränken. Wesen und. Inhalt der nationalen Frage in China wurden zu Ausgang des 19• Jh. bestimmt durch die Fremdherrschaft der Qing-Dynastie der Manzu, durch die Stagnation der gesellschaftlichen Entwicklung auf der Stufe halbfeudaler Produktionsverhältnisse und die koloniale Unterdrückung und Ausbeutung durch die ausländischen Mächte. Die Verwirklichung des Rechtes auf Selbstbestimmung mußte in Anwendung auf die Verhältnisse in China in der Befreiung von jeglicher ausländischer Unterdrückung und der Bildung eines souveränen und unabhängigen Staates bestehen, die den Weg für eine allseitige Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte ebnete. Sun Yatsen findet über die Idee des Nationalismus und Nationalbewußtseins zum Gedanken der Selbstbestimmung. Er erkennt schon sehr früh, daß das Ziel der Revolution nur in der komplexen Verwirklichung nationaler und sozialer Maßnahmen bestehen kann. Diese Erkenntnis spiegelt sich wider in der Konzeption der Drei Volksprinzipien (Sanminzhuyi): Prinzip des Nationalismus, Prinzip der Demokratie, Prinzip des Volkslebens, das letztere häufig auch als Prinzip des Volkswohlstandes oder des Sozialismus bezeichnet. Die Drei Volksprinzipien waren das Programm zur Schaffung einer bürgerlich-demokratischen chinesischen Republik mit dem Kurs auf Entwicklung der Industrie und Landwirtschaft und des- Verkehrswesens und zeigten somit den Weg zur Lö-

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sung der nationalen und sozialen Frage. Die Kampflosung der 1905 in Tokyo gegründeten "Liga der Verbündeten" (Tongmenghui), einer von Sun Yatsen geleiteten revolutionären Organisation, lautet in Übereinstimmung mit dem Hauptinhalt der Drei Volksprinzipien: "Verjagt die fremden Eindringlinge, erneuert China, errichtet die Repup blik, gleiches Eecht auf Boden." Die Aktionen der Liga der Verbündeten im Kampf um die nationale Befreiung waren zunächst gegen die als Fremdherrschaft verhaßte Qing-Dynastie gerichtet, und nur in diesem Sinne ist die Losung "Verjagt die fremden Eindringlinge" zu verstehen. Sun Yatsen selbst sieht in der nationalen Unterdrückung durch die Manzu, in der Zurückdrängung demokratischer Ideen und Reformen durch diese Regierung und der ökonomischen Rückständigkeit Chinas die Hauptursachen der kolonialen Unterdrückung durch die ausländischen Mächte.^ Der Antimanzu-Charakter des Kationalismus Sun Yatsens und seine enge Bindung an die alten chinesischen Traditionen wird deutlich aus der Tatsache, daß nach dem Sieg der Revolution und der Abdankung des letzten Qing-Kaisers Sun Yatsen als Provisorischer Präsident der chinesischen Republik sich am 15* Februar 1912 in Nanjing an das Grab Zhu Yuanzhangs begibt, des Begründers der der Herrschaft der Manzu vorausgegangenen letzten chinesischen Dynastie der Ming, um diesem die Entthronung der fremden Dynastie der Manzu zu verkünden.4 Sun Yatsen hofft, daß die europäischen Staaten und die USA die Revolution in China unterstützen und eine von Fremdherrschaft und aus den Fesseln des Feudalismus befreite chinesische Republik als gleichberechtigten Partner anerkennen werden. Nach dem Sieg der Xinhai-Revolution vom Jahre 1911 richtet Sun Yatsen in seiner Eigenschaft als Provisorischer Präsident eine Erklärung an die freundschaftlich. gesinnten ausländischen Regierungen in der alle vor dem Ausbruch der Revolution mit der Qing-Dynastie abgeschlossenen Verträge, Anleihen, Entschädigungszahlungen sowie Konzessionen ohne Änderung der Bedingungen anerkannt werden. Diese Erklärung und die damit dokumentierte Haltung gegenüber den ausländischen Mächten hat wiederholt zu solchen Einschätzungen geführt, daß Sun Yatsen die Notwendigkeit des antiimperialistischen Kampfes in dieser Periode der revolutionären Bewegung noch nicht erkannt habe. Zweifellos hegt Sun Yatsen gegenüber den imperialistischen Mächten unbegründete Illusionen, die. sich u.a. in dem Bestreben nach Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen und dem Wunsch auf Hilfe für den Auf-

B. Scheibner bau des eigenen Landes widerspiegeln, und in seinen Äußerungen offenbart sich, daß er das Wesen der imperialistischen Kolonialpolitik nicht zu analysieren vermag.^ Aber auch solche Einschätzungen, daß Sun Yatsen versucht habe, die Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten auszunutzen, erfassen nicht die ganze Kompliziertheit dieses Problems. Ich bin der Auffassung, daß Sun Yatsen trotz aller Illusionen sich der Unvermeidlichkeit der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus bewußt war, gleichzeitig aber die Gefahr erkannte, die eine Intervention der ausländischen Mächte für die Revolution in China bedeuten mußte, und der zu begegnen, 7 die eigenen Positionen nicht ausreichend gefestigt waren. Sun Yatsens Definitionen der Begriffe "Nation", "Rasse", "Staat" bleiben bis zuletzt subjektiv und verschwommen. Die Nationen sind für Sun Yatsen etwas durch die Kräfte der Natur Geschaffenes, die Staaten dagegen aus der Anwendung militärischer Gewalt EntstandeQ nes, wobei er gleichzeitig den Begriff der "Nation" mit dem der "Rasse" vermengt. Diese Vorstellungen beeinflussen die Gedanken Sun Yatsens über die Lösung der nationalen Frage und speziell die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes gegenüber den Nationalitäten auf chinesischem Territorium. Die Fahne der chinesischen Republik vom Jahre 1912 symbolisiert mit ihren fünf farbigen Streifen lediglich die Nationalität der Han, wie sich die Chinesen selbst bezeichnen, die Nationalitäten der Mongolen, der Manzu, der TibeQ ter sowie der Hui. Die zahlreichen kleinen Nationalitätengruppen finden bei ihm keine Beachtung. Die Vorläufige Verfassung der chinesischen Republik vom 11. März 1912, ein Ergebnis der Xinhai-Revolution, gewährleistet vor dem Gesetz die Gleichheit der Rasse, des Standes und der Religion 10 sowie die Gewährung bürgerlich-demokratischer Freiheiten für alle. Artikel 3 der Verfassung nennt als zum Territorium der chinesischen Republik gehörige Gebiete die 22 chinesische! Provinzen, das Gebiet der Inneren und das der Äußeren Mongolei, Tibet und das Gebiet von Qinghai. Der Bevölkerung dieser Provinzen und Gebiete wird in Artikel 5 der Verfassung das Recht zugestanden, je fünf Delegierte in das Parlament zu entsenden, mit11Ausnahme von Qinghai, für das nur ein Delegierter vorgesehen ist. Die Annahme dieser Vorläufigen Verfassung bedeutete für China einen gewaltigen Fortschritt. Eine Schwäche der Bewegung zeigt sich darin, daß damit das Ziel der Revolution im wesentlichen als erreicht betrachtet wurde. Sun Yatsen tritt zugunsten Yuan. Shikais,

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der die Anerkennung und Unterstützung der ausländischen imperialistischen Mächte findet, vom Posten des Präsidenten zurück, um sich seinen Plänen der sozial-ökonomischen Entwicklung zuzuwenden. Erst viel später erkannte er, wie verhängnisvoll sich dieser Rücktritt 12

auswirken muBte. Yuan Shikai setzt die Vorläufige Verfassung außer Kraft und jagt das Parlament auseinander. Es gelingt den revolutionären Kräften zwar, die Bestrebungen Yuan Shikais zur Restauration der Monarchie zu zerschlagen, aber für eine erneute Vereinigung unter der Vorläufigen Verfassung reichen die Kräfte nicht aus, und nach dem Tode Yuan Shikais stürzen Militärpartikularisten das Land in einen permanenten Bürgerkrieg. Der Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland führte auch in China zu einem neuen Aufschwung in der revolutionärön Bewegung. Unter den Bedingungen der Auslösung der allgemeinen Krise des Kapitalismus ynd des Beginns der Krise des imperialistischen Kolonialsystems gewann die Forderung nach Selbstbestimmung auch für China zunehmende Bedeutting. Kennzeichnend für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen durch den jungen Sowjetstaat und seine außenpolitischen Grundsätze gegenüber den kolonial unterdrückten und abhängigen Völkern sind die "Deklaration der Rechte der Völker Rußlands" vom 1 5 . November 1917 und der "Aufruf an alle werktätigen Mohammedaner Rußlands und des Ostens" vom 3 . Dezember Im Januar 1918 hatte der amerikanische Präsident Wilson in seiner 14-Punkte-Erklärung für die Friedensregelung nach dem Weltkriege die Prinzipien der Demokratie, Freiheit und nationalen Selbstbestimmung verkündet. An diese Deklaration hatten sich auch für China neue Hoffnungen geknüpft, die aber bei den Friedensverhandlungen in Versailles in der Behandlung der Shandong-Frage und später bei den Beratungen der Washingtoner Konferenz vom Jahre 1921 14 nachhaltig zerstört werden sollten. In seinen Vorträgen zum Prinzip des Nationalismus setzt sich Sun Yatsen im Jahre 1924 mit den verlogenen Deklarationen der imperialistischen Staaten über das Recht auf Selbstbestimmung auseinander, indem er diesen die praktische Verwirklichung des Rechtes auf Selbstbestimmung durch Sowjetrußland gegenüberstellt. Nach seinen Worten sind die Hoffnungen der Völker, die die Wilson'sehe Erklärung weckte,^ enttäuscht worden; und er sagt: "Die schwachen Nationen auf der Welt haben nicht nur keine Möglichkeit der Selbst-

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bestimmung, sind nicht nur ohne Freiheit, sondern das ihnen auferlegte Joch ist im Vergleich zu früher noch drückender geworden."^® Den Vergleich über die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes weiterführend, spricht er davon, daß die Auffassungen Rußlands und Wilsons nur scheinbar übereinstimmen und führt diesen Gedanken zu Ende mit den Worten: "... die Erklärungen des Imperialismus zeigten keinerlei größeren Nutzen. Aber mit der russischen Revolution er17 wuchs für die Menschheit der Welt eine große Hoffnung." ' Die russische Arbeiter- und Bauernregierung bietet dem chinesischen Volk, der chinesischen Südregierung in Guangzhou und der Nordregierung in ßeijing die Aufnahme diplomatischer Beziehlingen 1R an. Die Anerkennung des Prinzips der Gleichberechtigung findet ihren Ausdruck in der Annullierung der ungleichen Verträge mit China und in dem Anerbieten, die gegenseitigen Beziehungen auf der Basis der Gleichberechtigung und Achtung der staatlichen Integrität und Souveränität zu gestalten. Sun Yatsen und seine Gesinnungsgenossen hatten die revolutionäre Entwicklung in Rußland schon seit dem russisch-japanischen Krieg mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und pflegten Kontakte mit emigrierten russischen Revolutionären. Mit Hilfe sowjetischer Berater, die auf Wunsch Sun Yatsens im Herbst 1923 in Guangzhou eintreffen, und in Zusammenarbeit mit Genossen der Kommunistischen Partei Chinas nimmt allmählich das Programm zur Reorganisation der Guomindang Gestalt an. Damit wird die von Sun Yatsen geleitete Guomindang zu einer revolutionären Volkspartei des Blocks der chinesischen Arbeiter, Bauern, der städtischen Kleinbourgeoisie und der nationalen PO Bourgeoisie. Das Bündnis mit der Sowjetunion und die Einheitsfront mit der Kommunistischen Partei Chinas kennzeichnen eine neue Etappe der revolutionären Bewegung unter Sun Yatsen, die ihren Ausdruck auch in der Propagierung der Drei Volksprinzipien in überarbeiteter und ergänzter Form findet. Ifes Prinzip des Nationalismus wird als Kampf gegen jegliche politische und ökonomische Unterdrückung durch die ausländischen Mächte und für die Gewährleistung der Souveränität Chinas bestimmt. In seinem 25-Punkte-Programm des staatlichen Aufbaues («Jianguo dagang) formuliert Sun Yatsen die Forderung nach Selbstbestimmung: "Was die Aggressionsmächte außerhalb des Landes betrifft, so muß die Regierung ihnen Widerstand leisten und gleichzeitig die Verträge mit allen Staaten revidieren und die internationale Gleichberechtigung unseres Vaterlandes und seine staatliche Souveränität wiederherstellen."2'1

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Den Gedanken der ausländischen Hilfe für die ökonomische Entwicklung Chinas hält Sun Yatsen aufrecht, sofern diese Hilfe die Unabhängigkeit des Landes nicht beeinträchtigt. Sun Yatsen erkannt allmählich, daß die Schaffung einer demokratischen Republik nur im Prozeß der Auseinandersetzung mit den in China herrschenden Militärpartikularisten und im Kampf gegen den Bürokratismus zu erreichen ist. Ohne sich von seinen alten Auffassungen über die drei Etappen dep Schaffung der Republik, die Etappe der Militärverwaltung, Etappe der Erziehung und Etappe der Verfassungsgebung2' lösen zu können, bezieht er die Arbeiter und Bauern über die Bildung von Gewerkschaften und Bauernvereinigungen nach 24 \ind nach in diesen Prozeß ein. Unter dem Einfluß des Beispiels Sowjetrußlands findet Sun Yatsen, der für China gegenüber den ausländischen Mächten immer konsequenter den Anspruch auf Selbstbestimmung vertritt, auch in Ansätzen zu einer Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationalitäten innerhalb Chinas. Diese Anerkennung ist ausgedrückt in dem bereits zitierten 25-Punkte-Programm des staatlichen Aufbaues,2^ das Sun Yatsen selbst als Teil seines politischen Testamentes bezeichnet.26 Nach klarer wird dieser Grundsatz im Manifest des ersten Nationalkongresses der Guomindang vom Januar 1924 ausgesprochen. Dort heißt ess "Die Guomindang erklärt feierlich die Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung für alle Nationalitäten Chinas. Nach dem Siege der Revolution gegen Imperialismus und Militärpartikularisten wird eine freie und geeinte chinesische Republik aufgebaut werden, beruhend auf dem freiwilligen Zusammenschluß aller Nationalitäten." Hier zeichnet sich eine Annäherung an die Lenin'sehen De27 finitionen des Prinzips der Selbstbestimmung der Nationen ab. Diese Annäherung schließt aber keineswegs eine Anerkennung des Rechtes auf Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates ein. Ibs Problem der nationalen Autonomie löst sich für Sun Yatsen in der weitgehend selbständigen Verwaltung der Provinzen und Bezirke auf, die für das gesamte Territorium vorgesehen ist. Sun Yatsen ist von der Überlegenheit und Ausstrahlungskraft der alten Kultur der Han-Nationalität2® so fest überzeugt, daß er darin die Basis für den Zusammenschluß aller Nationalitäten auf chinesischem Territorium zu einem großen und einheitlichen "Staatsbürgerverband" s i e h t . D e r Gedanke der Assimilierung der nicht-chinesischen Nationalitäten offenbart sich auch in den Plänen der ökonomischen

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4-51

Entwickimg. Punkt 10 des in "The International Development of China" entwickelten Planes sieht Meißnahmen zur Bevölkerungsumsiedelung in die weniger dicht bevölkerten Gebiete der drei nordöstlichen Provinzen, der Mongolei, Xinjiang, Qinghai und Tibet und die Brachlandgewinnung in diesen Gebieten vor.'0 Trotz dieser notwendigen Einschränkungen, soweit es das Problem der nationalen Minderheiten Chinas betrifft, zeigt sich, daB die Anerkennung des Rechtes der Nationen auf Selbstbestimmung Sun Yatsen über einen engen nationalistischen Standpunkt hinausführt. So Wendet er sich gegen die Propagierung kosmopolitischer Gedankai durch die imperialistischen Mächte, weil er darin nur ihre Furcht vor dem Aufkommen nationaler Ideen in den unterdrückten Ländern sieht.''' In der Stärkung des Nationalbewußtseins der schwachen und unterdrückten Nationen einerseits und der Zurückdrängung und Zerschlagung der Unterdrücker-Mächte andererseits sieht Sun Yatsen für die schwachen Nationen und damit auch für China den Weg zur Hinwendung - er selbst spricht konkret von Bückkehr - zu den Prinzipien des Internationalismus. Diese Überlegungen führen Sun Yatsen mit logischer Konsequenz zu der Schlußfolgerung, daß sich die schwachen und unterdrückten Nationen in ihrem Kampf um die Befreiung vom kolonialen Joch vereinen müssen." Sun Yatsen übernimmt damit die Lehre Lenins von den unterdrückten und vinterdrückenden Nationen,und er hinterläßt der Guomindang als Vermächtnis, in diesem Sinne mit der Sowjetunion gemeinsam in dem Kampf um die Freiheit der unterdrückten Nationen zusammenzugehen. Der Kampf und das Gedankengut Sun Yatsens müssen als Bestandteil der nationalen Befreiungsbewegung betrachtet werden und verdienen unsere Aufmerksamkeit bei der Erarbeitung der theoretischen Probleme dieser Bewegung. Sun Yatsen propagiert die Gedanken des Nationalismus und Nationalbewußtseins zu einem Zeitpunkt, da sich in China der Prozeß der Formierung der Klassenkräfte für die Überwindung der feudalen und kolonialen Gesellschaftsordnung vollzieht und die inneren und äußeren Widersprüche sich verschärfen. Seine Gedanken bereiten den Boden für eine breite Volksbewegung vor und sind in diesem Sinne fortschrittlich und revolutionär. In der Niederlage der Revolution von 1911 offenbart sich die Schwäche einer bürgerlich-demokratischen Bewegung, die ohne das Bündnis mit allen anderen progressiven Kräften der Nation zum Scheitern verurteilt ist.

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Das Beispiel des Rechtes auf Selbstbestimmung der Nationen zeigt, stellvertretend für die gesamte Konzeption Sun Yatsens, daß er sich erst durch das Bündnis mit der Sowjetunion und über die Einheitsfront mit der Kommunistischen Partei Chinas aus den Schranken seines bürgerlichen Klassenstandpunktes befreien konnte u n d über die Grenzen des bürgerlichen Nationalismus hinauszuwachsen begann.

S u m m a r y Sun Yatsen (1866 - 1925) developed his ideas on self-determination from his principle of nationalism. Sun Yatsen's nationalism had first an anti-Manchu character and was bound b y old Chinese traditions. It was not clearly orientated upon the conflict with imperialism . The provisional constitution of the Chinese Hepublic of March 11th 1912 guaranteed to the nationalities within Chinese territory equality of race, position and religion and the bourgeois-democratic liberties. But this constitution was annulled b y Yuan Shih-kai. Influenced b y the Great Socialist October Revolution and the new relations developing between the young Soviet state and China, Sun Yatsen detailed his ideas on the right of Nations to self-determination in an analysis of Tilson's Fourteen Points. Sun Yatsen began to represent China's claims to self-determination more and more consistently to the foreign powers, and moved towards a recognition of the right of nationalities within China to self-determination. The problem of national autonomy was solved in principle for him b y self-administration of the provinces and districts. The idea of gradual assimilation of the non-Chinese nationalities emerges not only in his conviction of the radiating power of Han culture but also on plans for economic development. In his remarks on internationalism and cosmopolitanism, and in his demand for a union of all suppressed nations in the struggle for liberation, Sun Yatsen showed that with his recognition of the rights of nations to self-determination he was also developing beyond the bounds of bourgeois nationalism.

B. Scheibner Anmerkungen 1 2 3

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Vorwort zur Herausgabe der Min Bao. Nov. 1905- Ins Sun Zhongshan xuanji. Beijing 1956. Bd. I, S. 71. Manifest der Tongmenghui. In: Ebenda, S. 68. Diesen Gedanken finden wir vor allem in seiner Schrift: Die echte Lösung der chinesischen Frage vom Jahre 1904. Vgl. ebenda, S. 56 ff. J. Cantlie / C.S. Jones: Sun Yat Sen and the awakening of China. .London 1912, S. 154 ff. Erklärung des Provisorischen Präsidenten an alle befreundeten Staaten. In: Zongli quanshu. Shanghai 1930. Bd. II, S. 8 ff. Vgl. Sun Zhongshan xuanji. Bd. II, S. 606 ff. Sun Yatsen führte vor seiner Rückkehr nach China u.a. in England Verhandlungen, die eine Unterstützung der jungen chinesischen Bepublik gewährleisten und vor allem eine Intervention Japans verhindern sollten. Vgl. J.M. Shukow: Die internationalen Beziehungen im Fernen Osten 1870-1945. Berlin 1955, S. 156/57 und S. 164. Sun Zhongshan xuanji. Bd. II, S. 591 ff. Vgl. Zongli quanshu. Bd. II, S. 81 ff. Vgl. Abbildung der Flagge der chinesischen Republik. In: J. Cantlie / C.S. Jones, a.a.O., zwischen S. 170 und 171: Fünf farbige Parallelstreifen: Rot - Han (Chinesen) Gelb - Man zu Blau - Mongolen Weiß - Tibeter Schwarz - Hui (Bei Cantlie/Jones: Mohammedaner). Xinhai geming (Dokumentensammlung). Bd. 8. Shanghai 1957,

s. 30.

Ebenda, S. 3 2 . Brief Sun Tatsens vom 28.8.1921 an G.V. Cicerin. In: Sun Zhongshan xuanji. Bd. I, S. 434/436. Vgl. Die internationalen Beziehungen im Fernen Osten, S. 207 und Sovetsko-kitajskie otnoäenie 1917-1957- Moskau 1959, S. 35/36Vgl. Hu Sheng: Diguozhuyi yu Zhongguo zhengzhi, Beijing 1963, S. 160 ff. Sun Zhongshan xuanji. Bd. II, S. 628. Ebenda. Bd. II, S. 629Ebenda. Bd. II, S. 630/31. Vgl. Schreiben des Rates der Volkskommissare der RSFSR vom 25.7.1919. In: Sovetsko-kitajskie otnosenie, S. 43/45-

B. Scheibner 19 20 21 22 23 24 25

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Vgl. S.L. Tichvinskij: Sun Jat-sen - drug sovetskogo sojuza. Moskau 1966, S. 9 f. Vgl. S.L. Tichvinskij: Sun Jat-sen - vnesnepoliticeskie vozzrenija i praktika. Moskau 1964, S. 289. Jianguo dagang vom 12.4.1924. In: Sun Zhongshan xuanji. Bd. II, S. 569Sun Yat-sen: The International Development of China. New York and London 1929, S. 8/9 und S. 2 3 6 . Jianguo dagang vom 12.4.1924. In: Sun Zhongshan xuanji. Bd. II, S. 569 ff. Ebenda, Bd. II, S. 845 und 8 6 5 . Jianguo dagang vom 12.4.1924. In: Sun Zhongshan xuanji. Bd. II, S. 569. Dort heißt es unter Punkt 4: "... Was die nationalen Minderheiten innerhalb des Landes betrifft, so muß die Regierung ihnen helfen und sie unterstützen, um ihnen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverwaltung zu geben." Testament Sun Yatsens. In: Sun Zhongshan xuanji. Bd. II, S. 921. Sun Zhongshan xuanji. Bd. II, S. 526. Vgl. ebenda, Bd. I, S. I 6 3 . Vgl. ebenda, Bd. II, S. 644. Sun Yat-sen: The International Development of China. S. 8. Vgl. auch: Zongli quanshu. Bd. I, S. 8 5 8 . Sun Zhongshan xuanji. Bed. II, S. 6 3 2 . Vgl. ebenda, Bd. II, S. 626 und 6 3 2 . Vgl. hierzu: ¿benda, S. 5 3 3 , 597 und 659/660. Vgl. ebenda, S. 6 3 1 . Vgl. ebenda, S. 922.

R a i n e r

S c h w a r z

Aspekte des nationalen Kampfes und des Klassenkampfes im Hongkonger Seeleutestreik von 1922 Der Kongkonger Seeleutestreik von 1922 war durch Ausmaß und Wirkung eines der wichtigsten .Ereignisse in der Anfangsetappe der chinesischen Arbeiterbewegung vor dem 1. Revolutionären Bürgerkrieg (der chinesischen "Großen Revolution") 1924/27 und spielte auch in der nationalrevolutionären Bewegung Chinas überhaupt eine bedeutende Rolle. Der von Januar bis Anfang März dauernde Streik wurde vorbereitet und geführt von dem erst ein Jahr zuvor gegründeten Chinesischen Seeleuteverband, einer der ersten chinesischen Gewerkschaften, deren Aktivität von mehrjähriger Dauer und spürbarem Erfolg zu werden vermochte. Es traten jedoch nicht nur über 20 000 Seeleute auf insgesamt 166 engliscnen, chinesischen, japanischen, holländischen, amerikanischen, norwegischen und anderen Schiffen in den Streik. Auf Grund eines vorher mit anderen Hongkonger Gewerkschaften und Gilden geschlossenen förmlichen Bündnisses traten mehr als 100 000 andere chinesische Arbeiter und Angestellte mit in den Streik, um die Seeleute zu unterstützen, von Dockarbeitern und Mechanikern bis zu Salzfischhändler-Gehilfen und Latrinenreinigern. Die insgesamt ca. 140 000 Streikenden verließen Hongkong und hielten sich für die Dauer des Streiks in der vier Eisenbahnstunden entfernten Stadt Kanton auf, wo sie nicht der Hongkonger Regierungsgewalt unterstanden. Hier vermochten sie auszuharren, bis die Hongkonger Reeder und die Hongkonger Regierung, nachdem sie mit allen Methoden der Gewalt und der Demagogie gescheitert'waren, einlenken mußten, den erst verbotenen Seeleuteverband als Verhandlungspartner anerkennen mußten und schließlich in einem offiziellen Vertrag die Erfüllung der i Streikforderungen zusagten. Auf diese Weise hatten zum ersten Mal seit dem Eindringen der imperialistischen Mächte in China chinesische Arbeiter die Kraft eines organisierten Massenstreiks gegen die ausländischen Unternehmer erprobt und demonstriert. Ihr Sieg rief ein gewaltiges Echo in ganz China hervor. Das Proletariat, die politischen Parteien, die reaktionären Machthaber und die ausländischen Imperialisten, alle zogen •=>us den Hongkonger Ereignissen ihre Schlußfolgerungen.

R. Schwarz Diese weittragende Bedeutung des Hongkonger Seeleutestreiks von 1922 war von seinen Organisatoren weder vorausgesehen, geschweige denn geplant gewesen. Der Chinesische Seeleuteverband hatte anderen chinesischen Gewerkschaften subjektiv in keiner Beziehung etwas voraus. Die chinesischen Seeleute von 1922 gehörten genauso zu der "amorphen Masse" des "rückständigen und zweifach versklavten chinesischen Proletariats" wie alle anderen Berufszweige. Verschiedene Fakten aus der Zeit des Streiks bestätigen dies (erzwungene Streikbeteiligung, lokalseparatistische Erscheinungen, terroristische Kampfmethoden, naive Losungen). Das Statut des Seeleuteverbandes o von 1921 verrät bei den Seeleuteführern kein höheres theoretisches Niveau u n d keine weitergehenden Ziele als sie schon aus der "4. MaiBewegung" 1919 bei arbeiterfreundlichen progressiven Intellektuellen bekannt sind (wobei es eine Besonderheit des Seeleuteverbandes war, daß er sich ohne direkte Führung durch Intellektuelle entwikkelte). Koalition und Streben nach sozialen Verbesserungen, darin bestand vorläufig das ganze Ziel des Seeleuteverbandes, u n d schon das bedeutete einen beachtlichen Schritt vorwärts über die Grenzen der bis dahin bestehenden Seeleuteorganisationen hinaus, deren soziale Absichten sich auf passive Linderung der Notlage ihrer Mitglieder beschränkten. Der Seeleuteverband schloß erstmals eine große Masse von Seeleuten zusammen, die durch die Konkurrenz bei der Arbeitssuche und durch vielfältige überlebte ideologische Vorstellungen untereinander gespalten waren. Er erweckte diesen Teil des geduldigen chinesischen "Arbeitsviehs", das sich nach Meinung seiner Ausbeuter glücklich schätzen sollte, überhaupt Arbeit zu haben, zum Kampf für seine Interessen. Der Hongkonger Seeleutestreik von 1922 war ein normales Produkt der chinesischen Arbeiterbewegung auf ihrem damaligen Stand, als sie das Stadium des bewußten Klassenkampfes noch nicht erreicht hatte, noch nicht erreicht haben konnte. Die Streikforderungen waren elementarster Art: Anerkennung der Gewerkschaft als Interessenvertretung der Arbeiter und Verbesserung der Lebenslage durch Lohnerhöhungen und Veränderungen im Heuersystem.^ Erst der Streik selbst offenbarte den Seeleuteführern überhaupt den grundlegend klassenfeindlichen Charakter der Unternehmer u n d der Kolonialregierung. Bis dahin hatten sie geglaubt, durch Bitten an die Unternehmer ihre Absichten erreichen zu können, und hielten die Regierung für "überparteilich", der Streik sollte nur als "letztes Mittel" dienen. Nach dem Streik glaubten sie, sich auf die Zu-

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sage des Klassenfeindes und seiner Agenten verlassen zu können, nachdem sie einmal die Kraft der Seeleute im Bündnis mit anderen Arbeiterverbänden gezeigt hatten, wobei aie übersahen, daß es nicht allein die Kraft der Arbeiter war, die den Streiksieg bewirkt hatte. Von der Erkenntnis, daß Streiks keine endgültige Sicherung der Lebenslage der Arbeiter bringen können und daß das Ziel der chinesischen Arbeiterbewegung die völlige Befreiung von imperialistischer und kapitalistischer Ausbeutung sein mußte, waren sie noch weit entfernt. Für diese Erkenntnis bedurfte es der marxistischen Theorie, die wie in allen Ländern erst in die Arbeiterbewegung hineingetragen werden mußte. Das Ausmaß una die Wirkung des Hongkonger Seeleutestreiks von 1922 ergaben sich objektiv aus den besonderen Bedingungen, Vinter denen die Seeleute kämpften, in ihrer ganzen Breite unwiederholbar in "gewöhnlichen" Streiks anderer chinesischer Arbeiter. Obwohl grundsätzlich alle in den Hongkonger Hafen einlaufenden Schiffe mit chinesischer Besatzung bestreikt wurden, richtete sich der Streik vor allem gegen englische Reedereien (82 der bestreikten 166 Schiffe waren englische), die zu fast W % die chinesische Schiffahrt (Ubersee- und Küstenschiffahrt) beherrschten. Die Kronkolonie Hongkong, Englands wichtigster wirtschaftlicher und militärischer Stützpunkt auf chinesischem Territorium und einer der größten Welthäfen, gründete sein blühendes Wirtschaftsleben fast ausschließlich auf die Schiffahrt. Diese wurde durch den Streik der Seeleute lahmgelegt. Der Solidaritätsstreik der übrigen chinesischen Arbeiter und Angestellten und ihre Übersiedlung über die "offene Grenze" der Kolonie nach Kanton machte Hongkong (dessen Bevölkerung zu 98 70 aus Chinesen bestand, ein Fünftel der Gesamtbevölkerung stand im Streik) vollends zur toten Stadt. (Die wirksame Maßnahme, praktisch die gesamte chinesische Arbeiterbevölkerung aus Hongkong zu evakuieren, war keine Erfindung des Seeleuteverbandes. Bereits I858 im 2. Opiumkrieg war diese Taktik, noch älteren Vorbildern folgend, angewandt worden, zuletzt hatten sie vor dem Seeleuten im Jahre 1920 zehntausend Hongkonger Mechaniker in einem 18tägigen Streik demonstriert). Im benachbarten Kanton, dem damals einzigen, schwachen Stützpunkt der nationalen Revolution in China, herrschte die von der Guomindang getragene Regierung Sun Yatsens, die im offenen Kampf gegen die reaktionären Militärdespoten Nordchinas stand. Das imperialistische England, das eine der Gruppierungen der Militärdespoten

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unterstützte und der nationalrevolutionären Bewegung Sun Yatsens feindlich gegenüberstand, war für diese zu mächtig, um einen offenen Kampf zu beginnen oder zu provozieren. Der ohne Mithilfe der Kanton-Regierung oder die Führung der Guomindang ins Leben gerufene Seeleutestreik bot die Möglichkeit, der englischen Kolonie einen empfindlichen Schlag zu versetzen, ohne daß die Kanton-Regierung dafür verantwortlich gemacht werden konnte. 3s genügte, den Streikenden den Aufenthalt in Kanton zu ermöglichen, den größten Teil der Streikkosten (offiziell in Form eines Darlehens)^ zu tragen und in den Verhandlungen zwischen dem Seeleuteverband einerseits und den Hongkonger Reedern und der Hongkonger Regierung andererseits eine Vermittlerrolle zu spielen, die noch dazu für die Kanton-Regierung als Prestigegewinn gelten konnte. Der ökonomische Schaden, den der Streik der englischen Kolonie zufügte, und die ideelle Bedeutung eines Sieges chinesischer Arbeiter gegen englische Unternehmer, wogen für die Kanton-Regierung mehr als die eigenen durch den Streik entstehenden Verluste. Außer in der objektiv antiimperialistischen Rolle des Seeleutestreiks sind die Gründe für die Unterstützung desselben durch die Kantoner Guomindang-Regierung auch in der allgemein arbeiterfreundlichen Politik der Guomindang und in traditionellen Beziehungen zwischen den Revolutionären Sun Yatsens und Seeleuten aus der gemeinsamen konspirativen Tätigkeit zur Vorbereitung von Aufständen und Kämpfen in der Zeit von 1915 bis 1917^ zu suchen. Bei aller Unterstützung durch die Kanton-Regierung, ohne die der Seeleutestreik zum Scheitern verurteilt gewesen wäre, kann nicht die Rede davon sein, daß die Kanton-Regierung den Streik organisiert habe, wie es die Gegner der streikenden Seeleute verkündeten. Ebensowenig trifft die Behauptung zu, der Streik sei von "russischbolschewistischer Seite angezettelt" worden. Es ist sicher, daß die revolutionären Organisationen des Weltproletariats (Kommunistische Internationale, Rote Gewerkschafts-Internationale) Anfang 1922 noch keinen Einfluß auf den Chinesischen Seeleuteverband ausübten. (Auf einer in den letzten Tagen des Streiks in Moskau stattfindenden Konferenz des zuständigen Fachgremiums der Roten Gewerkschafts-Internationale, des Internationalen Propaganda-Komitees der Transportarc

beiter wurde der Streik nicht einmal erwähnt.) Eine andere Frage ist es, ob sich nicht eventuell damals ein Vertreter der Kommunistischen Internationale oder der Roten Gewerkschafts-Internationale in China befunden haben kann, der versucht haben könnte, während des

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Streiks Kontakt zu den Hongkonger Seeleuteführern aufzunehmen. Jedoch finden sich nirgends in den Forderungen oder Aktionen der Streikenden Auswirkungen eines derartigen Einflusses. Auch die in der modernen chinesischen Geschichtsschreibung aus verständlichen propagandistischen Gründen verbreitete Behauptung, der Streik habe unter Führung der Kommunistischen Partei Chinas gestanden, entspricht erwiesenermaßen nicht den Tatsachen. Erst durch den Streik von 1922 wurden die Kommunistische Partei Chinas und die Rote Gewerkschafts-Internationale auf den chinesischen Seeleuteverband nachdrücklich aufmerksam gemacht u n d versuchten in der Folgezeit, Einfluß auf ihn zu gewinnen. Für die Guomindang war der Eindruck des Hongkonger Seeleutestreiks von 1922 mitbestimmend für die stärkere Zuwendung zur Arbeiterbewegung, die auf dem I. Köngreß der Guomindang im Januar 1924 manifestiert wurde. Die organisierte Arbeiterbewegung wurde neben der Armee eine der Hauptstützen der national-revolutionären Bewegung im 1. Revolutionären Bürgerkrieg, erwünscht und gebilligt jedoch nur, solange sie im Rahmen des Programms der Guomindang blieb und die Führung und Kontrolle der Regierung anerkannte. Das heißt, die Arbeiterbewegung sollte sich nicht gegen chinesische Unternehmer richten, u m den "Klassenfrieden" innerhalb des nationalrevolutionären Blocks nicht zu gefährden, sie sollte, mit den Aktionen der nationalrevolutionären Armee abgestimmt, gegen die reaktionären chinesischen Militärdespoten kämpfen (siehe die drei Shanghaier Aufstände 1926/27) und im Rahmen der außenpolitischen Erfordernisse gegen die Stützpunkte der imperialistischen Mächte in China vorgehen (der große Shanghaier Streik von 1925 wurde in japanischen Unternehmen abgebrochen, als die außenpolitische Linie es erforderte, ebenso der Hongkong-Kanton-Streik 1925/1926, als sich der Kurs der Nationalregierung gegenüber England änderte). Von wesentlicher Bedeutung war der .Hongkonger Seeleutestreik von 1922 für die Entwicklung der in ihren Anfängen steckenden chinesischen Arbeiterbewegung. Zum ersten Mal entwickelte sich für diesen Streik eine allumfassende Solidaritätsbewegung, die einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung des Klassenbewußtseins der chinesischen Arbeiter leistete. Der Sieg der Seeleute über ihre mächtigen Gegner förderte nicht nur das Nationalgefühl gegen die imperialistischen Unterdrücker des chinesischen Volkes, er war für die Arbeiter in allen Teilen des Landes auch ein Ansporn zu eigenen sozialen Kämpfen gegen einheimische wie ausländische Unternehmer. Die erste große

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Streikwelle, die alle Industriegebiete Chinas erfaßte und a n deren über 100 Streikfällen mehr als 500 000 Arbeiter beteiligt waren, entwickelte sich wesentlich unter dem Eindruck des Hongkonger Streiks.

S u m m a r y A Chinese seamen's strike crippled the British Crown Colony of Hongkong early in 1922. As the first organized mass strike in China, this action demonstrated that the Chinese proletariat had awakened in the struggle against capitalist exploitation. The special effectiveness of this strike resulted objectively from the conditions prevailing in Hongkong, not from the intentions of the seamen's leaders, who aimed at simple social improvements. An important condition for victory in the seamen's strike was the support given b y Sun Yat-sen's anti-imperialist national revolutionary government. A movement of solidarity amongst the entire Chinese proletariat developed for the first time in aid of this strike. This, and the first big strike wave in all the industrial centres in the country which developed under the influence of the Hongkong seamen's strike, were of great importance for the development of proletarian class-struggle in China.

Anmerkungen 1

2 3 4 5 6

Deng Zhongxia: Zhongguo zhigong yundong jian shi [Kurze Geschichte der chinesischen Gewerkschaftsbewegung]. (1919-1926). (Zhongguo xiandai shi ziliao congkan). Beijing 1957» S. 44-67; DZA Potsdam, Deutsche Gesandtschaft/Botschaft in China. Nr. 2314, Bl. 292/293; Zhongguo laogdng yundong shi [Geschichte der chinesischen Arbeiterbewegung]. Taibei 1959, S. 168/169, 177-195DZA Potsdam, Deutsche Gesandtschaft/Botschaft in China, Nr. 3274, Bl. 170/171. Deng Zhongxia, a.a.O., S. 62/63. J. Chesneaux: Le mouvement ouvrier Chinois de 1919 A 1927. Paris 1962, S. 265Deng Zhongxia, a.a.O., S. 10. Mezdunarodnyj komitet propagandy transportnych rabotich. Avgust 1921 g. - nojabr' 1922 g. Moskva o.J.

R u d o l f

H a r t m a n n

Zur Herausbildung des proletarischen Internationalismus in Japan zu Beginn unseres Jahrhunderts Soweit bekannt, gibt es bisher noch keine zusammenfassende Darstellung über die Entwicklung des proletarischen Internationalismus in Japan. Zwar entstand eine breite, massenwirksame internationalistische Politik des japanischen Proletariats im Zusammenhang mit einem allgemeinen Aufschwung der Arbeiterbewegung in Japan erst nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, ihre Anfänge jedoch liegen früher. Der Beitrag verfolgt den Zweck, diese Anfänge in ihrer Entwicklung aufzuzeigen und zu demonstrieren, daß die Gedanken des proletarischen Internationalismus in Japan so alt sind wie der Beginn der organisierten Arbeiterbewegung selbst. Die Herausbildung des proletarischen Internationalismus in Japan umfaßt etwa die Zeit bis 1905 und läßt sich in drei aufeinanderfolgende Perioden einteilen. Die erste geht einher mit der Herausbildung der Arbeiterklasse. In dieser Zeit, in der Periode vor dem japanisch-chinesischen Krieg von 1894/95, war die Arbeiterklasse Japans noch unorganisiert und weitgehend sporadisch in ihren Aktionen. Ihre äußerst drückende Lage - extrem niedrige Löhne, eine Arbeitszeit oft bis zu 16 Stunden täglich ohne einen arbeitsfreien Tag, Kinderarbeit, Kontraktsystem und Prügelstrafe - riefen wiederholt heftige spontane Aktionen der Arbeiter hervor, die dazu führten, daß die sogenannte soziale Frage immer häufiger in Zeitungen und Zeitschriften Gegenstand von Diskussionen wurde. Damit verbunden ist das Eindringen erster sozialistischer Ideen in Japan. Besonders seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts beschäftigen sich Teile der japanischen Intelligenz erstmals mit der internationalen Arbeiterbewegung. Gefördert wurde dies durch die Tatsache, daß sich seit den 70er Jahren Hunderte japanische Intellektuelle zu Studienzwecken in den fortgeschrittensten Ländern Europas und den USA aufhielten, wo sie mit einer bereits stark entwickelten sozialistischen und Arbeiterbewegung in Berührung kamen. Eine sozialistische Bewegung existierte in Japan selbst jedoch noch nicht. Das Interesse an der internationalen sozialistischen und Arbeiterbewegung bewegt sich somit vorerst auf rein theoretischen Bahnen.

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R. Hartmann Bereits 1881 informiert Kozaki Hiromichi in seinem Artikel

"Über die Ursachen moderner sozialistischer Parteien" über die I. Internationale und deren Tätigkeit. Er bezeichnet sie als "eine A

Gruppe von Sozialisten, die Arbeiter vieler Länder vereinigt". 1893 veröffentlicht Kusaka Chöjirö, der in den achtziger Jahren in Deutschland studierte, einen Aufsatz über "Marx und Lassalle". Hierin kommt er zu der Aussage, daß das "Gedeihen der heutigen sozialistischen Parteien in Wahrheit in ihrem Internationalismus begründet" liege.^ Konkrete Schlußfolgerungen für Japan zog man jedoch noch nicht. Die soziale Frage, die Frage des Klassenkampfes war in Japan noch bei weitem nicht so ausgeprägt wie in den fortgeschrittenen Ländern Buropas und den USA. Das soziale Problem wurde weitgehend überdeckt vom nationalen, d.h. dem Kampf um die Erringung der völligen Gleichberechtigung unter den Staaten, der Herstellung der vollen Souveränität, die Japan mit dem Abschluß der ungleichen Verträge nach der gewaltsamen Erschließung des Landes in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts geraubt war. Erst nach dem japanisch-chinesischen Krieg gelang es Japan, von den imperialistischen Großmächten als gleichberechtigter Partner anerkannt zu werden. Der Kampf um die Wiedererlangung der vollen Souveränität des Landes stand somit im Mittelpunkt und ließ kaum Raum für einen Internationalismus. Selbst Saka'i Yüzaburö, der als erster Japaner an einem Kongreß der II. Internationale (Brüssel 1891) teilnahm und der durch seine mehrjährigen Studien in Frankreich und Belgien mit der sozialistischen Bewegung Buropas recht gut vertraut war, hatte keinerlei Verständnis für die internationale Haltung der Sozialisten, obgleich er wiederholt sozialistische Ideen in Japan propagierte. So fand er es beispielsweise unverständlich, daß, als "in Frankreich die Kommune errichtet wurde, die deutschen Sozialisten (bekanntlich befand sich Deutschland zu jener Zeit noch mit Frankreich im Kriege - R.H.) wiederholt die Rüstungen im eigenen Lande kritisierten, die Arbeiter in London, Wien, Berlin und anderen Städten" sämtlich zu den Kommunarden hielten.^ Die zweite Periode beginnt nach dem japanisch-chinesischen Krieg. Die japanische Arbeiterklasse nahm infolge der Prosperität der japanischen Wirtschaft nach dem Sieg über China zahlenmäßig rasch zu. Sie begann sich zu organisieren, bildete erste moderne Gewerkschaften und führte disziplinierte Streikkämpfe. Eine sozialistische Bewegung entwickelte sich von der "Gesellschaft zum Studium sozialer Probleme" (Shakai-mondai-kenkyükai, 1897) über die

R. Hartmann. "Gesellschaft zum Studium des Sozialismus" (Shakaishugi-kenkyükai, 1898) zur "Sozialistischen Liga" (Shakaishugi-kyökai, 1900). Das Denken und Fühlen ging mehr und mehr übe» den nationalen Rahmen hinaus. Die Rödö Sekai (Welt der Arbeit), das erste Organ der Arbeiter Japans und später auch Organ der ¿japanischen Sozialisten, gegründet im Dezember 1897, publizierte ab Januar 1899 in einer eigens dafür eingerichteten Rubrik unter der Überschrift "Sozialismus" kontinuierlich über die sozialistische und Arbeiterbewegung in anderen Ländern. 1900, noch während des Entstehungs- und Festigungsprozesses einer sozialistischen Bewegung, kamen die japanischen Sozialisten erstmals praktisch mit der Frage des Internationalismus in Berührung, als sich in China die imperialistischen Mächte zur Niederschlagung der antiimperialistischen Ihotuan, des sogenannten Boxeraufstandes, vereinigten. Die Rödö Sekai nahm wiederholt zu den Ereignissen in China Stellung. Bereits im Oktober 1898 schreibt sie im Zusammenhang mit der Liquidierung der Hunderttagerefonn in China (11. Juni bis 21. September), daß die westlichen Mächte jetzt eine gute Gelegenheit zur Teilung Chinas sähen und bereits gierig über das arme iL

China herfielen. Der räuberische Charakter des Eingreifens der imperialistischen Mächte während des Boxeraufstandes in China wird immer wieder betont. Im Juli 1900 schreibt die Zeitschrift: "China war lange Zeit ein Kadaver für die europäischen Mächte und Amerika. Lange Zeit stand es unmittelbar davor, eines natürlichen Todes zu sterben; jetzt aber beunruhigt eine Partei, die sogenannten Boxer, eine Partei, die den Geist 'China den Chinesen' ... repräsentiert, ganz China. Und die Mächte nutzen dies als eine gute und günstige Gelegenheit, große Schiffe und Truppen zu entsenden, um gegen die Boxer zu kämpfen und das Land des Drachens schließlich unter sich aufzuteilen."^ Die Ihotuan wird somit richtig gesehen als eine antiimperialistische, nationale Bewegung für die Unabhängigkeit des Landes, eils eine Bewegung, die als Ueaktion "für die ungerechten Handlungen gegenüber China in der Vergangenheit durch die sogenannten zivilisierten Mächte" entstand. Bei aller Sympathie für die Aufständischen, die aus fast allen Stellungnahmen der Zeitschrift zu den JSreignissen in China spricht, bei aller Verurteilung der annektionistischen Ziele der ausländischen Mächte in China fällt auf, daß die Intervention Japans in China nicht angegriffen wird, obgleich sich Japan mit über 20 000 Soldaten an der Niederschlagung der Ihotuan beteiligte. Die japanischen

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Soldaten werden sogar noch ob ihres "Heldenmutes" gelobt. Am 1. August 1900 schreibt die Rödö Sekai: "Es ist das erstemal, da_ß Japaner Seite an Seite mit Weißen kämpfen, und erstere geben eine bessere Figur ab als die letzteren. Unsere Soldaten sind die besten auf dem Schlachtfeld ..." Die wichtigste Ursache für diese widersprüchliche Haltung dürfte sein, daß die sozialistische Bewegung erst in den Anfängen steckte, das Klassenbewußtsein unentwickelt war. Noch befand sich die Arbeiterklasse weitgehend unter dem Einfluß eines bürgerlichen, teilweise sogar feudalen Denkens.^ Der bürgerliche Nationalismus, die mit dem ¿japanisch-chinesischen Krieg einsetzende und ihren Höhepunkt in der Vorbereitung des 2. Weltkrieges findende Propagierung des Gedankens, daß Japan berufen sei, ganz Asien zu befreien und ihm ein besseres Leben zu bringen, hatte Eingang in alle Schichten des japanischen Volkes gefunden. Hiervon mußte sich die Arbeiterklasse erst befreien. Auch betrachtete die junge sozialistische Bewegung den Staat noch nicht als Instrument der herrschenden kapitalistischen Klasse, sondern als eine über den Klassen stehende neutrale Institution. So gab es die illusionäre Vorstellung, daß Japan China bei dessen "bevorstehender Rekonstruktion des Reiches" helfen solle, damit es der Gefahr einer Aufteilung unter die Mächte o endgültig entgehe. Um China vor einer Aufteilung unter die Mächte zu bewahren, schlug die Rödö Sekai am 1. August 1900 sogar vor, daß sich "die englischsprachigen Nationen und Japan vereinigen, um China und sein Territorium zu schützen und nicht zuzulassen, daß Rußland und Deutschland Räubereien in China begehen". Hier wird ein weiterer Grund für die widersprüchliche Haltung sichtbar. Daß gerade die Räubereien Rußlands und Deutschlands angeprangert werden, ist sicher in der Tatsache zu suchen, daß diese beiden Länder gemeinsam mit Frankreich Japan nach dem japanisch-chinesischen Krieg zwangen, auf die Annexion der Ljaudung-Halbinsel zu verzichten. Japan hatte diese Demütigung noch nicht überwunden, und die japanischen Sozialisten hatten sich von der Woge des Nationalismus und Chauvinismus, die sich nach dem japanisch-chinesischen Kriege verstärkte, noch nicht völlig lösen können. Die dritte Periode schließlich umfaßt die Haltung der japanischen Sozialisten während der Vorbereitung und Durchführung des russischjapanischen Krieges. Ist die Haltung zu den Ereignissen in China 1900 noch unklar, widersprüchlich und nicht klassengebunden, so ändert sich das in den folgenden Jahren bis zum russisch-japanischen

R. Hartmann Krieg. Der Kampf der japanischen Sozialisten gegen diesen Krieg weist echte Merkmale des proletarischen Internationalismus auf. Im Mittelpunkt ihrer Anschauungen stand nicht mehr die Nation Japan schlechthin, sondern standen die Volksmassen Japans, stand vor allem die Arbeiterklasse. Das abstrakt nationale Denken mußte mehr und mehr einem Klassendenken weichen. Dieser Prozeß wurde gefördert durch die ständig stärker werdenden UnterdrückungsmaBnahmen gegen die demokratische, insbesondere Arbeiterbewegung durch die herrschende Klasse, die sich mit dem im März 1900 erlassenen "Polizeigesetz für Ruhe und Sicherheit" ein juristisches Instrument schuf, die organisierte Gewerkschaftsbewegung Japans völlig zu zerschlagen sowie Streiks und gewerkschaftliche Propaganda unter Strafe zu stellen. Dieses Polizeigesetz diente auch dazu, die im Mai 1901 gegründete Sozialdemokratische Partei Japans sofort wieder zu verbieten. Der Übergangsprozeß vom abstrakt nationalen Denken zum Klassendenken stellt sich dar als logische Konsequenz der Entwicklung des Klassenkampfes überhaupt, des Erkenntnisprozesses im Ergebnis der Auseinandersetzungen mit der herrschenden kapitalistischen Klasse. Während des Krieges entfalteten die japanischen Sozialisten eine rege Tätigkeit. In ihrem inzwischen neugegründeten Organ, der Wochenzeitschrift Heimin Shimbun, und der Shakaishugi (bis Februar 1903 unter dem Namen Rödö Sekai bekannt), in einer Reihe ausländischer Zeitungen und Zeitschriften sowie in den von ihnen organisierten Veranstaltungen gegen den Krieg wiesen sie immer wieder darauf hin, daß der Krieg gegen Rußland kein Krieg des japanischen Volkes sei, sondern lediglich den Interessen der herrschenden kapitalistischen Klasse und dem Adel diene. Das Volk müsse hingegen nur Opfer bringen, angefangen bei der Mehrarbeit über Steuer- und Preiserhöhungen bis zur Verkrüppelung oder dem Tode an der Front. Selbst ein Sieg Japans sei mit einer Verschlechterung der Lage des arbeitenden Volkes verbunden, wie sich das bereits im Gefolge des Sieges im japanisch-chinesischen Kriege gezeigt habe. Deshalb müsse das einfache Volk diesen Krieg konsequent ablehnen. Im Kampf gegen den russisch-japanischen Krieg machten sich die japanischen Sozialisten auch die Erfahrungen der sozialistischen Bewegung aus anderen Ländern zu eigen. Als sich der Ausbruch des Krieges im Herbst 1903 deutlich abzeichnete, als die Woge des Chauvinismus das ganze Tand erfaßt hatte, erklärte Kinoshita Nao'e auf einer öffentlichen Veranstaltung der Sozialistischen Liga im November 1903s "Jetzt, meine Damen und Herren, sind all Ihre Gedanken

R. Hartmann auf die Mandschurei gerichtet. In die Mandschurei! In die Mandschurei! Doch sollten wir uns in dieser Zeit der deutschen Genossen von heute vor 3^ Jahren erinnern", als sie, "obgleich die Bevölkerung des gesamten Kaiserreiches im Kriegsfieber raste", sich mutig dem Krieg entgegenstellten. Und er gelobte, daß, falls der Krieg gegen Rußland ausbrecht^ sollte, "zumindest wir Sozialisten die Haltung der deutschen Sozialisten von vor 34 Jahren einnehmen werden."^ Auch der in jener Zeit führende japanische Sozialist Kotoku Shüsui erklärte kurz nach Ausbruch des Krieges: "Was mich an der Geschichte des preußisch-französischen Krieges am meisten interessiert, sind nicht die militärische Strategie von Bonaparte und Moltke, nicht die Außenpolitik von Bismarck und Thiers, sondern ist in Wahrheit die Haltung der Arbeiter in den damaligen großen europäischen 10

.Ländern zu diesem Krieg." Bei den ¡japanischen Sozialisten hatte sich trotz all ihrer pazifistischen Grundeinstellung die Erkenntnis des Klassencharakters von Kriegen weitgehend durchgesetzt. Daher vertraten sie mit Recht die Meinung, daß der Kampf gegen den Krieg nicht nur eine Angelegenheit der Arbeiterklasse in den jeweils kriegführenden Ländern ist, sondern Sache der einfachen Menschen in aller Welt, insbesondere der Sozialisten. Schon im April 1900 wies die Rödö Sekai auf die Möglichkeit eines Kriegsausbruches zwischen Japan und Rußland hin und schloß: "Wir wenden uns gegen den Krieg, weil jeder und alle Kriege äußerst drückend für die arbeitende Klasse werden. Wir sind sicher, daß es einen Weg gibt, Kriege zwischen Nationen zu verhindern, der darin besteht, daß alle Sozialisten der Welt sich sämtlich vereinigen und in der Zukunft gegen den Krieg auftreten sollten."11 Und in ihrer ersten Nummer nach Kriegsausbruch schrieb das Organ der japanischen Sozialisten, die Heimin Shimbun: "Wir sind davon überzeugt, daß auch unsere Brüder, das einfache Volk in Rußland, eine gleiche (Antikriegs-) Haltung ... annehmen werden. Wir sind davon überzeugt, daß das einfache Volk in England, Amerika, Deutschland und Frankreich, insbesondere unsere Genossen, ihren Kampf ver12 stärken und unsere Sache unterstützen werden." Getreu ihrer internationalistischen Einstellung sandten die japanischen Sozialisten kurz nach Kriegsausbruch an die Sozialdemokraten Rußlands einen Brief, in dem sie ihre Verbundenheit mit den russischen Sozialdemokraten zum Ausdruck bringen und die Notwendigkeit gemeinsamer Aktionen aller Arbeiter der Welt betonen. Es heißt

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hierin: "Ihr und wir sind Genossen, sind Brüder, sind Schwestern! Wir haben keinen Grund, (einander) zu bekämpfen ... Gerade heute müssen wir die Worte von Marx in die Tat. umsetzen: 'Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! Und auf dem Amsterdamer Kongreß der II. Internationale im August 1904 schüttelten sich der Vertreter der japanischen Sozialisten, Katayama, und der Vertreter der russischen Sozialdemokraten, Plechanov, unter stürmischem Beifall die Hände als Zeichen der Solidarität der Arbeiterklasse beider Länder. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß sich die Idee des proletarischen Internationalismus in Japan vom ausgehenden 19. Jh. bis zum Beginn unseres Jahrhunderts entwickelte. Das bis zum japanisch-chinesischen Krieg 1894/95 herrschende beschränkt nationale Denken auch unter den progressiv gesinnten Japanern erfuhr nach 1895 eine Wandlung. Der Kampf um die Wiedererlangung der vollen politischen Souveränität des Landes hatte 1899 mit der Liquidierung der Exterritorialität endgültig sein Ziel erreicht. Das Interesse und Verständnis der progressiv gesinnten Teile des japanischen Volkes an und für Probleme des nationalen u n d Klassenkampfes in anderen Ländern nahm zu. Mit der Herausbildung einer organisierten sozialistischen und Arbeiterbewegung, den sich mehr u n d mehr zuspitzenden sozialen Kämpfen gegen Unterdrückung u n d Ausbeutung im eigenen lande sowie durch das Studium sozialistischer Schriften und des Kampfes der internationalen sozialistischen und Arbeiterbewegung wuchs die Erkenntnis, daß der Hauptfeind der Klassenfeind ist und im eigenen Lande steht, die Arbeiter aller Länder aber Brüder und solidarisch miteinander verbunden sind.

S u m m a r y Proletarian internationalism began to emerge in Japan at the turn of the century. It can be divided into three phases of development. The first, before the Sino-Japanese war of 1894/95, is characterised b y the fact that in connection with the infiltration of the first socialist ideas news of the 1 st and 2nd International and of action b y proletarian internationalism also reached Japan. But nationalist ideas predominated, because of the struggle for complete national independence and of the lack of an organised labour movement. After the Sino-Japanese war an organised labour and socialist movement

R. Hartmaan developed. At the same time Japan regained its sovereignty (1899)* Practical interest in the labour and liberation movements in other countries increased. The primary yardstick at that time was the attitude to the I Ho Tuan movement in China. While the Bodo Sekai, the most important organ of the working class at that time, sympathised to a very large extent with the I Ho Tuan and condemned the attitude of the European powers and of the USA as a predatory policy, they considered the intervention of Japan as an aid to China. This revealed the continued Influence of reactionary bourgeois ideology. increasing suppression of the Japanese working-class movement after 1900 caused its more advanced representatives to understand more and more clearly that the main enemy was the class enemy and that the workers of all countries were brothers. This was expressed most clearly in the Russo-Japanese war in the letter to the Russian Social Democrats and in the appearance of Sen Katayama as representative of the Japanese Socialists at the Amsterdam Congress of the 2nd International in 1904.

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Rikugo Zasshi. Nr. 7. April 1881. Marukkusu to Rasaru. Ins Kokka Gakkai Zasshi. 15.2.1893. Saka'i Yüzaburö, Shakai-mondai no shinsö. In: Kokumin no Tomo. 13.3.1894. Rödö Sekai. 15.10.1898. Ebenda. 1.7.1900. Ebenda. 1.8.1900. Erinnert sei oier nur an das patriarchalische System, das, aus der Zeit des Feudalismus überkommen, die Normen des gesellschaftlichen und privaten Lebens nach wie vor tief durchdrang. Rödö Sekai. 1.8.1900. Shakaishugi. 18.11.1903. Shükan Heimin Shimbun. 28.2.1904. Rödö Sekai. 15.4.1900. Shükan Heimln Shimbun. 14.2.1904. Ebenda. 13.3.1904.