Soziale Psychiatrie: Zur Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung 3436016748

Die bestmögliche Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit ist ein Recht aller Menschen. Die Qualität der Versorgun

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German Pages [282] Year 1973

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Table of contents :
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . 9
I. Problemstellung und Methode 10
1. Gegenstand und Ziel der Abhandlung . . . . . . 10
2. Methode 14
2.1 Gesellschaftliche Determination des Individuums,
Verhältnis von materiellen Faktoren und Bewußtseinsfaktoren 14
2.2 Kausalbeziehungen . . 18
2.3 Interesse und Objektivität . . . . . . . . . . 1 9
3* Datenquellen 22
4. Zum Begriff der sozialen Ungleichheit 24
5. Zum Begriff der sozialen Schicht . 25
6. Zum Begriff der psychischen Störungen . . . . . 33
II. Soziale Schicht und psychische Erkrankung . . 37
1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . 37
2. Sozialepidemiologische Befunde . . . . . . . . 40
2.1 Prävalenzstudien . . . . . . . . . . . . . . 40
2.2 Inzidenzstudien . . . . . . . . . . . . . . 46
3. Bedeutung der sozialen Selektion 50
4. Soziale K a u s a l i t ä t . . . . . . . . . . . . . . 52
4.1 Ökonomische Faktoren . . . . . . . . . . . . 53
4.2 Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . 54
4.3 Ehe und Sexualität . . . . . . . . . . . . . 61
4.4 Streß-Faktoren in Kindheit und Sozialisation . . 63
4.5 Streß-Faktoren in anderen Bereichen . . . . . . 65Bedeutung der Befundefürpsychische Erkrankungen 65
Bewältigung von Streß . . . . 70
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . 72
III. Soziale Ungleichheit und Reform der psychiatrischen Versorgung . . . . > 74
Die Entstehung der Psychiatrie . . 74
Die Reform der Psychiatrie 77
Der gesellschaftliche Hintergrund für die Entwicklung der Sozialpsychiatrie r 79
Frühe Reformbestrebungen 81
Die Psychoanalyse (82) — Die Mental-Health-Bewegung
(85) , ,
Die moderne Sozialpsychiatrie 88
Die bestimmenden Kräfte der Entwicklung (88) — Realisierung sozialpsychiatrischer Reformen (95)
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . 1 0 3
IV. Soziale Schicht und Behandlung . . . . . . . 105
Soziale Schicht und Prognose . . . . . . . . 105
Therapie als Prognosefaktor 108
Schlechte Therapie oderschlechte >Therapierbarkeit
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Soziale Psychiatrie: Zur Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung
 3436016748

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Gleiss/Seidel/ Abholz

Soziale Psychiatrie

Zur Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung

Die Reihe

Texte zur politischen Theorie und Praxis herausgegeben von Elmar Altvater, HansEckehard Bahr, Wilfried Gottschalch, Klaus Hoizkamp, Urs Jaeggi, Rudolf Wiethölter sammelt Beiträge zur Bildung politischer Theorie und Reflexion politischer Praxis. Autoren und Herausgeber gehen davon aus, daß Wissenschaft von der Gesellschaft neuer, selbstkritischer und differenzierter Entwürfe bedarf, wenn sie ihren emanzipatorischen Anspruch erfüllen soll. Die Reihe bringt Analysen aus der Soziologie, Politologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Rechtswissenschaft und Ökonomie.

Originalausgabe

DM 5.80

Über dieses Buch

Die bestmögliche Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit ist ein Recht aller Menschen. Die Qualität der Versorgung darf nicht vorn Einkommen, Ansehen oder von der Bildung eines Menschen abhängen. Von diesem Grundsatz muß audi die Reform der Psychiatrie ausgehen. Gegenwärtig findet die Misere der westdeutschen Psychiatrie und Psychotherapie, die unerträgliche Vernachlässigung dieses wichtigen Sektors der Gesundheitsversorgung, ein immer breiteres Interesse der Öffentlichkeit und der Fachwelt. Audi der Bundest a g sah sich veranlaßt, die Reformbedürftigkeit der Psychiatrie untersuchen zu lassen. Vorschläge zur Reform werden meist als rein fachspezifische, gewissermaßen technologische Probleme betrachtet. Tatsächlich sind die Mängel der Psychiatrie und Psychotherapie aber audi sozialer Natur. Der vorliegende Band weist diese sozialen Probleme des Versorgungssystems und der Psychiatrie-Reform auf. Ausgehend von dem bestehenden Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und der Häufigkeit und Art psychischer Erkrankung verfolgen die Autoren detailliert Erscheinungsformen und Ursachen der sozialen Ungleichheit in Psychiatrie und Psychotherapie. Sie versuchen, Alternativen zu entwickeln — sowohl für die Verbesserung der Psychiatrie insgesamt als auch speziell fur die Therapie von Patienten aus unteren sozialen Schichten. Über die fachlichen Aspekte hinaus geht es ihnen um die politische Dimension in der Problematik der Psychiatriereform. So stellen sie fachliche wie politische Forderungen für eine Psychiatrie im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung.

Die Autoren

Irma Gleiss, geb. 1945, Diplom-Psychologin, seit 1971 wissenschaftliche Assistentin am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin. Rainer Seidel, geb. 1941, Diplom-Psychologe, nach zweijähriger Tätigkeit in der Psychiatrie seit 1970 wissenschaftlicher Assistent am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin. Heinz-Harald Abholz, geb. 1945, Dr. med., Assistenzarzt in der Inneren Abteilung eines Westberliner Städtischen Krankenhauses.

Texte zur politischen Theorie und Praxis Herausgegeben von: Elmar Altvater Hans-Eckehard Bahr Wilfried Gottschalch Klaus Holzkamp Urs Jaeggi Rudolf Wiethölter Redaktion: Klaus Kamberger

uch

Irma Gleiss Rainer Seidel Harald Abholz

Soziale Psychiatrie Zur Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung

^

^

Fischer Tasdienbudi Verlag

Originalausgabe

Fisdier Taschenbuch Verlag Juli 1973 Umschlagentwurf: Jan Buchholz/ Reni Hinsch Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © Hsdier Tasdienbudi Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1973 Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH/ Hamburg Printed in Germany ISBN 3 436 01674 8

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . .

1.

9

I. Problemstellung und Methode

10

Gegenstand und Ziel der Abhandlung . . . . . .

10

2. Methode 2.1 Gesellschaftliche Determination des Individuums, Verhältnis von materiellen Faktoren und Bewußtseinsfaktoren 2.2 Kausalbeziehungen . . 2.3 Interesse und Objektivität . . . . . . . . . .

14 14 18 1 9

3*

Datenquellen

22

4.

Zum Begriff der sozialen Ungleichheit

24

5.

Zum Begriff der sozialen Schicht .

25

6.

Zum Begriff der psychischen Störungen . . . .

.

33

II. Soziale Schicht und psychische Erkrankung . .

37

Einleitende Bemerkungen

. . . .

37

2. Sozialepidemiologische Befunde . . . . . . . . 2.1 Prävalenzstudien . . . . . . . . . . . . . .

40 40

2.2 Inzidenzstudien

46

1.

. . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

3.

Bedeutung der sozialen Selektion

50

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Soziale K a u s a l i t ä t . . . . . . . . . . . . . . Ökonomische Faktoren . . . . . . . . . . . . Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . Ehe und Sexualität . . . . . . . . . . . . . Streß-Faktoren in Kindheit und Sozialisation . . Streß-Faktoren in anderen Bereichen . . . . . .

52 53 54 61 63 65

Bedeutung der Befunde für psychische Erkrankungen Bewältigung von Streß

65

. . . .

70

. . . . . . .

72

III. Soziale Ungleichheit und Reform der psychiatrischen Versorgung . . . . >

74

Die Entstehung der Psychiatrie

. .

74

Die Reform der Psychiatrie Der gesellschaftliche Hintergrund für die Entwicklung der Sozialpsychiatrie r Frühe Reformbestrebungen

77

Zusammenfassung

. . . . . .

Die Psychoanalyse (82) — Die Mental-Health-Bewegung (85)

,

,

Die moderne Sozialpsychiatrie

Die bestimmenden Kräfte der Entwicklung (88) — Realisierung sozialpsychiatrischer Reformen (95)

Zusammenfassung

. . . . . . . . . . . .

79 81 88

.103

IV. Soziale Schicht und Behandlung . . . . . . .

105

Soziale Schicht und Prognose . . . . . . . . 105 Therapie als Prognosefaktor 108 Schlechte Therapie oder schlechte >Therapierbarkeit< ? 110 Das Stadium vor der Behandlung . 113 Die Bedeutung der Frühbehandlung für den Krankheitsverlauf . . . v . . . . 114 Soziale Schicht und Behandlungsbeginn . . . . . 115 Ursachen verzögerter Einweisimg . . . . . . . 1 1 8 Schichtenspezijfisches Krankheitsverhalten (119) — Soziale Distanz (122) — Informationsmangel (124)

Selektion des Versorgungssystems . . . . . . . 126

Soziale Schicht und Diagnose

. . 128

Soziale Ungleichheit in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung . . . . . . . . Intensität und Dauer der Behandlung . . . . . . Therapiekosten . Qualifikation des Therapeuten . . . . . . . .

134 135 138 139

4.4 Soziale Schicht und psychiatrische Behandlung im allgemeinen . . . . . 140 4.5 Soziale Schicht und spezielle Formen der Psychotherapie . . . ; . . . . . . . . 144 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Therapieeignung und Therapieerfolg bei Patienten aus verschiedenen sozialen Schichten Therapieerwartung und soziale Schicht . . . . . Das Verhältnis Therapeut — Patient . . . . . . Psychotherapie-Eignung des Patienten . . . . . Sind psychotherapeutische Verfahren für Unterschichtpatienten geeignet? . . Soziale Schicht und Therapieerfolg

6.

146 147 152 162 169 173

Die Bedeutung des psychiatrischen Krankenhauses für den Verlauf psychischer Störungen 6.1 Die Bedeutung des psychiatrischen Krankenhauses für Patienten unterschiedlicher sozialer Herkunft . 6.2 Entlassungsbedingungen und soziale Schicht . . . 6.3 Prognostische Bedeutung und Verfügbarkeit ambulanter psychiatrischer Nachbehandlung für Patienten unterschiedlicher sozialer Schicht . . . . . .

182 185

7.

191

Zusammenfassung

179

188

V. Möglichkeiten zur Verbesserung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung benachteiligter Bevölkerungsschichten . . . . . .194 1.

Zur Bedeutung von schichtspezifischen Verbesserungen in der Versorgung • • • *94

2.

Prinzipien der Sozialpsychiatrie und der modernen Psychotherapie . . . . 195

3.

Verbesserungsmöglichkeiten für die Versorgung insgesamt 203 3.1 Prävention 203 3.2 Organisatorische Konzepte 204 3.3 Therapieziel . 208 4. 4.1 4.2 4.3

Arbeitsrehabilitation 212 Begriff der Arbeitsrehabilitation . . . . . . . 212 Bedeutung der Arbeit für psychische Gesundheit . 214 Soziale Schicht und Arbeitsrehabilation . . . . . 220 7

55.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 6.

Verbesserungsmöglichkeiten in der therapeutischen Arbeit mit dem einzelnen Patienten . . . . . . Anwendung traditioneller Verfahren für Patienten aus unteren Schichten . Einführung in die Therapie Verbale Psychotherapie . . . . Nicht-verbale Psychotherapie Anwendungsformen der Psychotherapie . . . . . Die weltanschauliche und politische Dimension des therapeutischen Geschehens . Zusammenfassung

. . . . . .

. . . . . . .

223 223 225 228 234 238 243 245

VI. Zusammenfassimg, Schlußfolgerungen . . . . 250 Literaturnachweise

.261

Vorbemerkung

Konzept und thematische Bestimmung der einzelnen Kapitel wurden von den drei Autoren gemeinsam erarbeitet. Die einzelnen Autoren übernahmen die Bearbeitung bestimmter Kapitel. Die Entwürfe zu den Kapiteln wurden mehrfach diskutiert und jeweils entsprechend umgearbeitet. IRMÄ GLEISS schrieb das IV. Kapitel (Soziale Schicht und Behandlung) ; dabei wurden Materialien aus ihrer unveröffentlichten Diplom-Arbeit am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin zugrunde gelegt. RAINER SEIDEL schrieb das I. (Problemstellung und Methode), das III. (Soziale Ungleichheit und Reform der psychiatrischen Versorgung) und das V. Kapitel (Möglichkeiten zur Verbesserung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung benachteiligter Bevölkerungsschichten). HEINZ-HARALD ABHOLZ schrieb das II. Kapitel (Soziale Schicht und psychische Erkrankung) und den 4, Abschnitt des V. Ka. pitels (Arbeitsrehabilitation); soweit hierbei Probleme der Arbeit und der Arbeitsrehabilitation betroffen sind, wurde die Dissertation von H. H. Abholz >Die Bedeutung des industriell len Arbeitsplatzes für den schizophrenen Patienten — eine Frage für die ArbeitsrehabilitationSozialpsychiatrie< oder »Soziale Psychiatrien Oft wird dieser Begriff nur technisch verstanden, d.h. man will damit zum Ausdruck bringen, daß auch gewisse soziale Faktoren bei der Entstehung und der Behandlung psychischer Störungen eine Rolle spielen. Bei genauerer Analyse spiegeln sich jedoch in diesen sozialen Faktoren die Klassenverhältnisse unserer Gesellschaft wider. Konsequenterweise muß es das weitere Ziel der Arbeit sein, Ansätze zu entwickeln, wie bestehende soziale Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung aufgehoben werden kann, und speziell wie eine Versorgung der unteren sozialen Schichten der Bevölkerung auszusehen habe. Schließlich muß die Arbeit auch Perspektiven aufweisen, wie sich die notwendigen Reformen politisch durchsetzen lassen; denn Reformen, die nur auf dem Papier stehen, nützen nur denen, die im Grunde an Reformen nicht interessiert sind, sich aber unter dem Druck der Öffentlichkeit und der Fachvertreter als reformfreudig darstellen wollen. Gegenstand der vorliegenden Abhandlung ist die Lage der Versorgung psychisch erkranktet Personen. Unter Versorgung ist stationäre und ambulante Behandlung in Krankenhäusern, Anstalten, Kliniken, Privatpraxen zu verstehen; Versorgung umfaßt sowohl psychiatrische Behandlung im engeren Sinne (medikamentöse Therapie, traditionelle und sozialpsychiatrische Methoden stationärer Behandlung, Rehabilitation) wie auch Psychotherapie der verschiedensten Art (Psychoanalyse, Verhaltenstherapie usw., Einzel- und Gruppentherapie usw.); zur Versorgung gehört die Tätigkeit von Allgemein-Ärzten, 13

Wir entnehmen dies den bisherigen Verlautbarungen, besonders den" Hearings und den ersten Kommissionsberichten in der erwähnten Ausgabe der Sozial-' psychiatrischen Informationen.

12

Fachärzten (Psychiater, Neurologen, Kinderärzte), Psychologen (in Kliniken, in Erziehungsberatungsstellen), Krankenpflegepersonal und Sozialarbeitern; Versorgung bezieht sich nicht nur auf Behandlung, Vor- und Nachsorge, sondern auch auf die Verhinderung psychischer Störungen, die sog. Prävention. Was die Begriffe wie »psychiatrische Versorgung«, »Psychotherapier »psychotherapeutische Versorgung« usw. angeht, so erlauben wir uns in diesem Buch durchweg einen lockeren/ nicht ganz konsequenten Gebrauch. Das liegt an der gegenseitigen Durchdringung der verschiedenen Bereiche. »Psychotherapie« z.B. wird sowohl innerhalb psychiatrischer Institutionen betrieben als auch in einer selbständigen Organisations^ form durch Psychotherapeuten oder psychotherapeutische Institute; der Begriff »Versorgung« verhält sich zum Begriff »Therapie« als Oberbegriff; innerhalb eines Behandlungsprozesses/ etwa eines Rehabilitationsvorhabens, läßt sich auch oft nicht trennen zwischen psychiatrischen Maßnahmen und einer im engeren Sinne psychotherapeutischen Behandlung usw. Obwohl unter »Versorgung« nicht nur die Psychiatrie im engeren Sinne verstanden wird, werden wir oft der Kürze halber von psychiatrischer Versorgung sprechen, wo der gesamte Komplex der Versorgung psychisch Kranker gemeint ist. Im Sinne der genannten Zielsetzung unserer Untersuchung werden folgende Problembereiche diskutiert. Zunächst (Rest des Kapitels I) werden methodische Fragen behandelt. Dabei versuchen wir, unseren wissenschaftlichen Ausgangspunkt möglichst klar anzugeben. Kapitel n behandelt dann eine Frage, die dem Problem der sozialen Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung vorgelagert ist, nämlich soziale Unterschiede, die sich bereits bei der Erkrankung zeigen. In Kapitel III wird die soziale Ungleichheit in der Versorgung historisch untersucht, und es werden auf dieser Grundlage die Prinzipien moderner sozialpsychiatrischer Versorgung dargestellt. Den zentralen Teil der Arbeit bildet Kapitel IV zusamtr men mit Kapitel V. In Kapitel IV wird im Detail die soziale Ungleichheit in der Versorgung analysiert. In Kapitel V versuchen wir, Alternativen der Versorgung zu skizzieren und wenigstens im Ansatz Verbesserungsvorschläge zu machen. Kapitel VI bringt eine inhaltliche Zusammenfassung der Analyse; darauf aufbauend wird versucht, die gewonnenen Ergebnisse noch einmal unter allgemeineren Gesichtspunkten zu sehen und politische Konsequenzen zu ziehen.

2. Methode Jede spezielle wissenschaftliche Untersuchung beruht auf gewissen grundlegenden Erkenntnissen oder Annahmen, auf bestimmten Untersuchungsprinzipien und Methoden. Diese Voraussetzungen, die in eine Untersuchung notwendig mit eingehen, können naturgemäß nicht dort ausführlich diskutiert werden. Andererseits sollten sie aber klar zum Ausdruck gebracht werden. Wir gehen von den Erkenntnissen und der Methode des dialektischen und historischen Materialismus aus. Ob uns freilich in allen Teilen der Arbeit gelungen ist, diese Erkenntnisse fruchtbar zu nutzen, ist noch eine andere Frage. Hierüber können nur die weitere wissenschaftliche Diskussion und die Entwicklung der psychiatrischen Versorgungspraxis entscheiden. Was unter dialektischem und historischem Materialismus zu verstehen ist, kann hier in allgemeiner Form natürlich nicht ausgeführt14werden, wir verweisen dazu auf die grundlegende Literatur . Im folgenden sollen aber einige Fragen behandelt werden, bei denen der dialektische und historisthe Materialismus in spezifischer Weise für unseren Untersuchungsgegenstand bedeutsam wird. 2.1

GESELLSCHAFTLICHE DETERMINATION DES INDIVIDUUMS, V E R HÄLTNIS VON MATERIELLEN FAKTOREN UND BEWUSSTSEINSFAKTOREN

Das Individuum ist nicht aus sich selbst heraus verständlich, auch das Wesen der psychischen Störungen bleibt unbegreifbar, wenn man das Individuum als autonome Instanz auffaßt. Nun scheint gerade die Sozialpsychiatrie von der gesellschaftlichen Determination des Individuums auszugehen, nimmt sie doch den Begriff des Sozialen schon in ihren Namen auf und legt größten Wert auf die sozialen Probleme in der Therapie, auf Gruppentherapie usw. Es ist jedoch zu betonen, daß der marxistische Begriff von der gesellschaftlichen Determination des Individuums, den wir hier zugrunde legen, weit mehr umfaßt als die Erkenntnis, daß soziale Einflüsse auf den Menschen einwirken. Dazu müssen zunächst zwei weitere Begriffe geklärt werden. Die Analyse muß sowohl materielle als auch Bewußtseinsu Eine geschlossene und komprimierte Darstellung des dialektischen und historischen Materialismus ist in den »Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie^ Berlin (DDR) 1971, enthalten; in gleicher Weise beziehen wir uns auf die entsprechenden Artikel des »Philosophischen WörterbuchsBewußtseinsfaktoren< beziehen sich auf einzelne Gegebenheiten oder Vorgänge und sind nicht mit den allgemeinen philosophischen Kategorien »Materielles« und >Ideelles< gleichzusetzen. Der Begriff »Bewußtsein« ist auch verschieden von psychoanalytischen .Bewußtseinbegriffen; über den Begriff des Unbewußten in. der marxistischen Psychologie s. Rubinstein 1968, S. 22 f. 16 Parow 1972, S. 7.

*5

zu erklären, warum Erkrankte aus sozial unterprivilegiertem Milieu seltener und später in Behandlungskontakt treten, führt der Autor hauptsächlich *die >Ursachenkomplexe< an: (a) Unfähigkeit, abweichendes Verhalten als pathologisch zu erkennen, (b) negative Einstellungen gegenüber der Psychiatrie und (c) mangelhaften Informationsstand der sozial Unterprivilegierten.17 Auch die schichtspezifische Verteilung von Therapie versucht Parow vorwiegend aus Bewußtseins-Faktoren und inneren Bedingungen zu erklären: die Patienten , aus der Unterschicht bringen schlechtere Voraussetzungen mit, nämlich (a) motivationale und (b) kognitive Voraussetzungen.18 Die einzige von Parow ausführlicher in Erwägimg gezogene äußere Bedingung, die auch hauptsächlich einen materiellen Faktor darstellt, ist die »bürokratische Struktur des Großhospitals«. Diese wirke sich besonders negativ für Personen aus unteren sozialen Schichten aus19; Grund für diese spezifische Auswirkung seien wiederum innere Bedingungen bei den Unterschicht-Patienten, nämlich deren »tendenziell autoritäre Charakterstruktur«20. Wir werden im Fortgang unserer Untersuchung an mehreren Punkten aufzeigen, warum diese einseitige Uberbetonung von Bewußtseinsfaktoren und inneren Bedingungen dem Problem nicht gerecht wird. Kehren wir nun zur Frage der gesellschaftlichen Determination des Individuums zurück. Die geistigen Fähigkeiten* die psychischen Strukturen, die Einstellungen und Werthaltungen des Individuums entwickeln sich in der Tätigkeit und aus der konkreten Auseinandersetzung mit der Umwelt heraus. Das bedeutet, daß die gegenständlichen und sozialen Bedingungen der Entwicklung des Individuums sich in seiner psychischen Struktur widerspiegeln.21 Gesellschaftliche Determination heißt somit nicht einfach, daß auch soziale Einflüsse eine Rolle spielen, sondern daß die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse in die Entwicklung des Individuums eingehend Das bedeutet natürlich nicht, daß man an jeder Einzelfrage, etwa dem Phänomen der psychischen Störungen, die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit untersuchen, solle oder könne. Jedoch sind es bei den einzelnen psychischen oder sozialen Phänomenen jeweils bestimmte Aspekte der gesellschaftlichen Realität, die sich in diesen Phänomenen widerspiegeln, und diese gilt es zu erfassen. Betrachten wir dazu ein Beispiel aus dem Gegenstandsbereich unseres Themas. Wie in Kapitel IV gezeigt wird, kommen Patienten aus unteren sozialen 17 48 19

ebd., S. 42. ebdv S. 68 ff bzw. S. 74 ff. ebd., S. 99 ff. 20 ebd., S. 118. 21 Diesen Überlegungen liegen Ergebnisse der marxistischen Psychologie zugrunde, besonders solche zum Verhältnis von Tätigkeit und psychischer Entwicklung, s. Rubinstein 1968.

16

Schichten meist später in psychiatrische Behandlung als Patienten aus anderen Schichten. Ein Wissenschaftler, der das Individuum aus sich selbst heraus betrachtet, würde diesen Sachverhalt etwa wie folgt formulieren: Er würde feststellen, daß gewisse Individuen aus verschiedenen Gründen, z. B. aus Schuldgefühlen, die mit seiner Symptomatik zusammenhängen, oder aus rein zufälligen Gründen den Besuch beim Arzt hinausschieben. Ein sozialpsychiatrisch eingestellter Untersucher würde diese Erklärung als unzureichend betrachten. Er würde zwar nicht leugnen, daß in gewissen Fällen die Behandlungsverzögerung rein psychodynamisch erklärbar ist22; jedoch würde er mit dem Hinweis auf sozialpsychiatrische Untersuchungen festhalten, daß die Behandlungsverzögerung (zumindest auch) sozial determiniert ist. Er könnte beispielsweise auf das Konzept der sogenannten Toleranz gegenüber ^ psychischen Störungen zurückgreifen und die Bedeutung sozialer Normen und dergleichen herausstellen. Hat man nun mit einer solchen Betrachtungsweise die gesellschaftliche Determination des Individuums in der Frage des Behandlungsverzugs erfaßt? Dies ist nicht der Fall, denn in den innerpsychischen und sozial bestimmten Barrieren, die das Individuum am rechtzeitigen Aufsuchen eines Psychiaters hindern, spiegeln sich weitere wesentliche Aspekte der gesellschaftlichen Realität wider. So kann die Haltung eines Individuums, bei sychischen Störungen nicht den Arzt aufzusuchen, mit der egründeten Angst zusammenhängen, vom Arbeitgeber entlassen zu werden oder nicht wieder eingestellt zu werden. In dieser mehr oder minder bewußten Angst zeigt sich aber ein Aspekt der gesellschaftlichen Realität, nämlich die Arbeitsverhältnisse. Wenn wir diesen Begriff der gesellschaftlichen Determination des Individuums zugrunde legen, und wenn wir uns gegen die Überbetonung von Bewußtseinsfaktoren wenden, so geschieht dies deshalb, weil wir an konkreten Änderungeil und Verbesserungen der psychiatrischen Versorgung interessiert sind/ Wenn man nämlich die gesellschaftliche Determination nur unzulänglich erfaßt, und wenn man sich ausschließlich auf Bewußtseinsfaktoren konzentriert, dann verschenkt man wichtige Erkenntnisse, die man zur wirklichen, nicht nur auf dem Papier stehenden Verbesserung der psychiatrischen Versorgung braucht. Aus einer auf Bewußtseinsfaktoren eingeengten Sichtweise gewinnt man beispielsweise kaum die Kriterien für die Organisation der psychiatrischen Versorgung nach sozialpsychiatrischen Gesichtspunkten, und noch weniger gewinnt man Erkenntnisse über die Durchsetzungsmöglichkeit für sozialpsychiatrische Reformen. Freilich sind die motiva-

P

22

Die Existenz saldier Fälle ist z. B. von Moeller 1971 aufgewiesen woxden.

*7"

tionalen und kognitiven Besonderheiten der Patienten aus der Unterschicht unbedingt zu berücksichtigen, wenn man Formen der Therapie für Unterschicht-Patienten entwickeln will (siehe dazu Kap. V). Eine einseitige Heranziehung dieser Besonderheiten zur Erklärung schichtspezifischer Unterschiede in der Versorgung läßt aber leicht ein verzerrtes Bild der wirklichen Verhältnisse entstehen. Es kommt dann z.B. dazu, daß dem einzelnen Patienten gewissermaßen der Schwarze Peter zugeschoben wird und die notwendigen Forderungen an den für den Ausbau der Psychiatrie verantwortlichen Staat in den Hintergrund gedrängt werden. 2.2

KAUSALBEZIEHUNGEN

Mit den" eben besprochenen Grundsätzen hängt eine weitere, erkenntnistheoretische Frage eng zusammen. Die Untersuchimg muß darauf ausgerichtet sein, Kausalbeziehungen aufzudecken. Freilich gilt es oft zunächst einmal, die wichtigen Phänomene überhaupt aufzufinden. Wenn man jedoch die Absicht hat, Veränderungen zu erreichen, dann muß man die kausalen Zusammenhänge erkennen. Es ist in diesem Zusammenhang eine Tendenz zu kritisieren, die in einem Teil der Literatur zur sozialen Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung sichtbar wird, nämlich die, sich mit dem Aufstellen gewisser korrelativer Beziehungen zu begnügen. Oft kann man durch eine genauere Analyse der Zusammenhänge wesentlich aufschlußreichere Erkenntnisse gewinnen als durch eine bloße Feststellung vom Typ >x hängt (irgendwie) mit yzusammenvalue decisionsals eine Ausrede sehr gelegen, und wir würden nicht weiter nach den realen Ursachen solcher Vorurteile fragen. Um die Lage der Psychiatrie wirklich zu erfassen und um diejenigen Er88

Becker 1967.

24

Myrdal 1971, J>es. S. 54 £E.

20

kenntnisse zu gewinnen, , die einer wirklichen, tiefgreifenden Verbesserung dienen, müssen wir uns auf den Standpunkt derer stellen, die ein grundlegendes Interesse an der Verbesserung der psychiatrischen Versorgung haben, und das ist die große Mehrheit der Bevölkerung, das sind die arbeitenden Menschen. Das heißt, wir gehen davon aus, daß volle körperliche und geistige Gesundheit ein unverzichtbares Anrecht aller Menschen ist, daß die Güte und Intensität der psychiatrischen Versorgung nicht von irgendwelchen sozialen Bedingungen wie Einkommen, Privatversicherung, Beruf oder Bildung abhängen dürfen. Diese Gesichtspunkte haben die Wahl unseres Themas, die einzelnen Fragestellungen und die gesamte Art des Herangehens bestimmt. Um die Lage der psychiatrischen Versorgung adäquat zu erfassen, und damit: lim objektiver zu sein, muß man — bewußt oder nicht bewußt — vom Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung ausgehen. Ob uns dies freilich in jeder Hinsicht gelungen ist, ist eine andere Frage. Abschließend wollen wir noch ein Beispiel dafür angeben, wie der Interessenständpunkt auch die Interpretation eines Ergebnisses beeinflussen kann. Vor einiger Zeit wurde anhand einiger Daten festgestellt, daß Privatpatienten (allgemein, also nicht spezifisch auf Psychiatrie bezogen) wesentlich besser medizinisch versorgt werden als Kassenpatienten.85 Da man weiß, daß die Trennung in Privat- und Kassenpatienten auf sozialen, nämlich hauptsächlich Einkommensuhterschieden beruht, sollte man in diesem Tätbestand ein Beispiel sozialer Ungleichheit sehen, die es zu beseitigen gilt. Für den Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. waren diese Daten jedoch im Gegenteil (und keineswegs der Absicht des Autors entsprechend, der das Ergebnis gefunden hätte) eine Art Erfolgsmeldung, ein Beweis, daß eine private Organisation der Versorgung bessere Erfolge erbringe.26 Vom Interessenstandpunkt der Begüterten hat die Versicherungsgesellschaft durchaus recht, wenn sie einen Tatbestand sozialer Ungleichheit positiv bewertet. Wenn man vom Interessenstandpunkt der großen Mehrheit der -Bevölkerung ausgeht, ist es dagegen klar, daß der Begriff »soziale Ungleichheit« negativ zu bewerten ist, daß der Tatbestand sozialer Ungleichheit beseitigt werden muß.

88 88

Wesiadc 1972. s. Das Verbandsblatt Das Band zu Millionen, Ausgabe Juli/August 1972.

21

3- Datenquellen Der größte Teil der Daten, die zur Frage der sozialen Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung zur Verfügung stehen, stammt aus dem anglo-amerikanischen Sprachbereich, hauptsächlich den USA. Diese Lage ist überhaupt für die Forschung zu schichtspezifischen Unterschieden kennzeichnend.27 Aus der BRD liegen für die meisten Einzelprobleme keine Untersuchungen vor. Die Analyse der Verhältnisse in den USA ist zweifellos auch für den Leser aus der BRD interessant, zumal sich in der neueren Entwicklung der Reformversuche gewisse Parallelen — wenngleich mit ungefähr zehnjähriger Verzögerung — zwischen den USA oder Großbritannien und der Bundesrepublik zu zeigen scheinen. Jedoch wollen wir besonderen Wert auf die Frage legen, was sich aus dieser Analyse für die Gesundheitsversorgung in der BRD ergibt. Zunächst einmal findet sich eine Reihe von Hinweisen dafür, daß sich die amerikanischen und andere ausländische Ergebnisse in der einen oder anderen Form in unserem Land bestätigen würden, wenn man das Problem mit angemessenen Mitteln empirisch untersuchen würde. (1) Es haben sich, wie in Kapitel II gezeigt wird, für den Zusammenhang von sozialer Schicht und psychischer Erkrankimg in der BRD ähnliche Tendenzen ergeben wie in den USA. Allerdings liegen hier nur wenige Untersuchungen vor. Unmittelbar für die Frage der sozialen Gleichheit oder Ungleichheit in der Behandlung sind uns bisher aus der BRD nur zwei, in Fragestellung und Aussagefähigkeit freilich recht begrenzte Untersuchungen bekannt geworden.28 Auch diese zeigen eine gleichartige Tendenz wie die angloamerikanischen Untersuchungen. (2) Da die Bundesrepublik die gleiche ökonomische Grundstruktur besitzt wie die USA, nämlich die kapitalistische Gesellschaftsordnung, gibt es gewisse Ähnlichkeiten in der Struktur der Gesundheitsversorgimg, die wiederum — wie noch gezeigt wird — Bedeutung für die Frage der sozialen Gleichheit haben. Diese sind im wesentlichen : (a) die Gesundheitsversorgung ist nicht zentral geplant und durchorganisiert; (b) der Einfluß privater Aktivität ist konstitutiv für die Gesundheitsversorgung (privatärztliche Organisation, private Pharma-Industrie); (c) die staatlichen Einrichtungen der Gesundheitsversorgung haben nur geringen Einfluß auf die Produktionsstätten, was wichtig ist für die werksärztliche Versorgung und die Rehabilitation. 87 88

s. Gottschalch et al. 1971, S. 68 ff. Waller 1972; Wesiadc 1972.

22

(3) Es bestehen zwischen den USA und der BRD einige Ähnlichkeiten allgemeiner sozialer Art, die für die gegebene Frage wichtig sind. Insbesondere ist zu erwähnen: (a) die Arbeiter sind soziologisch, aber auch medizinisch und psychologisch gesehen, im Betrieb ähnlichen Bedingungen ausgesetzt; (b) es gibt starke Ähnlichkeiten in der sozialen Schichtung; so sind bisher für verschiedene Fragen schichtspezifischer Unterschiede bei aller Verschiedenheit zwischen den USA und unseren Verhältnissen doch vergleichbare Ergebnisse erzielt worden. Einen letzten Beweis für die vermutete Ähnlichkeit der Befunde könnten allerdings nur entsprechende empirische Untersuchungen in der BRD leisten. Zunächst müssen wir uns aber mit den angeführten indirekten Schlüssen begnügen. Dabei dürfen nun andererseits nicht gewisse Unterschiede zwischen den beiden Ländern übersehen werden, die entsprechende Modifikationen in der jeweiligen Lage der psychiatrischen Versorgung zur Folge haben dürften. Ein Unterschied ist, daß in der BRD seit längerem eine gesetzliche Krankenversicherung besteht; von daher könnten sich soziale Unterschiede in der Behandlung abschwächen; andererseits sind ja erst seit neuester Zeit einige Kassen bereit, die Kosten für psychotherapeutische Behandlung zu übernehmen. Ein weiterer Unterschied ist der, daß in den USA weitgehend das Belegsystem in den Krankenhäusern üblich ist, wodurch der Einfluß privater Interessen in der Krankenversorgung noch größer ist; andererseits gibt es auch in der BRD die Möglichkeit, sich psychiatrisch privat behandeln zu lassen, etwa in speziellen Kliniken und — wenn auch anscheinend in geringem Umfang — auf Privatstationen in den psychiatrischen Krankenhäusern. Ein weiterer Unterschied ist der, daß in den USA psychodynamische und soziologische Konzeptionen in die Psychiatrie wesentlich stärker Eingang fanden, während in Deutschland mehr 29eine biologisch-organische Ausrichtung vorherrschend blieb. Man kann kaum angeben, ob und wie sich dies auf die sozialen Unterschiede in der Behandlung ausgewirkt haben mag. Ein höherer Stand in der Theoriebildung bedingt keineswegs automatisch eine verbesserte Praxis. So ist es, wie aus Kapitel III deutlich werden wird, durchaus fraglich, ob sich die Entwicklung der psychiatrischen Theorien in den USA überhaupt für die Masse der Behandlungsbedürftigen ausgewirkt hat.

89

s. z. B. Alexander u. Selesnidc 1969.

23

4- Zum Begriff der sozialenUrtgleichheit Auf den ersten Blick scheint die Bedeutung des Begriffs »soziale Ungleichheit klar zu sein. Daß er dennoch weitere Erklärung bedarf, sieht man z.B. daraus, daß mit seiner Verwendung ganz unterschiedliche Ideen oder Werthaltungen verbunden sein können. Soziale Gleichheit in der psychiatrischen Versorgung liegt dann vor, wenn die Güte und Intensität der Behandlung (einschließlich der Vorsorge) nicht von sozioökonomischen Bedingungen, also besonders dem Einkommen, dem Grad der Ausbildimg oder dem Beruf abhängen. In diesem Sinn sollen demnach soziale Faktoren keine Rolle spielen. Gerade diese Forderung nach sozialer Gleichheit bringt es aber mit sich, daß in einem anderen Sinne die sozialen Faktoren in besonderer Weise berücksichtigt werden müssen und sehr wohl eine Rolle zu spielen haben: wenn es darum geht, die Therapie inhaltlich zu bestimmen, dann müssen diese sozialen Faktoren in wesentlich größerem Maße, als es bisher geschieht, berücksichtigt werden; dies wird im Verlauf der Abhandlung sicher deutlich werden. Wenn auch der Begriff der sozialen Ungleichheit durchaus geeignet ist, gesellschaftliche Erscheinungsformen gleichsam an der Oberfläche zu beschreiben, so ist er dennoch nicht in der Lage, die wesentlichen Strukturen in einer Gesellschaft vollständig zu erfassen. Dies soll kurz an einer soziologischen Theorie begründet werden. Ein Versuch, den Begriff der sozialen Ungleichheit als Grundlage einer Gesellschaftstheorie zu verwenden, ist der Ansatz von Wiehn. Aufbauend auf Dahrendorf u. a. gibt der Autor Grundlagen einer »Theorie der sozialen Ungleichheit an.30 Soziale Ungleichheit ist nach seiner Definition beliebige Ungleichheit zwischen Menschen oder Menschengruppen, sofern diese Ungleichheit sozial relevant wird; sie ist dann »soziale Ungleichheit und bildet das wichtigste und entscheidende Merkmal der Gesellschaft. Nach der — von uns vertretenen — marxistischen Gesellschaftstheorie kommt man auf diese Weise nicht über relativ oberflächliche Betrachtungen hinaus. Beispielsweise werden hier die verschiedensten Arten sozialer Ungleichheit unterschiedslos in einen Topf geworfen. So hat z.B. in der Realität die Ungleichheit zwischen der Minderheit von Produktionsmittel-Besitzern und der Mehrheit von Nicht-Besitzern einen ganz anderen Charakter und eine ganz andere, viel umfassendere Bedeutung als etwa die Ungleichheit zwischen Privatpatienten und Kassenpatienten; beide genannten Ausdrucksweisen von sozialer Ungleichheit sind wieder ganz verschieden von der Ungleichheit, die zwischen Erwachsenen und Kleinkindern be80

Wiehn 1968, bes. S. 143-151.

24

steht. Wegen dieser Verwischungen im Begriff (wenn man so will; wegen dieser Gleichsetzung ungleicher sozialer Ungleichheit) wird auch der theoretische Zugang zu den Ursachen der Ungleichheit versperrt. Nach unserer Auffassung (s.o. Abschnitt 2) kann man mit einer Theorie, die scheinbar lediglich Beschreibungen liefert und auf Angabe von realen Ursachen verzichtet, für die Praxis wenig anfangen. Wenn wir in der vorliegenden Arbeit den Begriff soziale Ungleichheit verwenden, so deshalb, weil er für einen Bereich wie den der psychiatrischen Versorgung (welcher ja tätsächlich nur einen kleinen Teilbereich der gesellschafdichen Realität umfaßt) gewisse soziale Sachverhalte tatsächlich beschreibt. Ein weiterer Grund, diesen Begriff zu verwenden, ist der, daß er im Sprachgebrauch großer Teile der Bevölkerung einen Wunsch nach Veränderung, ein Streben nach Beseitigung sozialer Privilegien, d.h. daß er demokratische Forderungen zum Ausdrude bringt. 5« Zinn Begriff der sozialen Schicht Der Begriff der »sozialen Schicht verdient eine ausführliche Diskussion. Zum einen werden Begriffe wie »soziale Schichte »Unterschicht usw. von uns ständig benutzt, zum anderen sind die Begriffsbestimmungen in der einschlägigen Literatur äußerst unklar, außerdem spielen Schicht-Begriffe oder Schichtungskonzeptioneti aiich in weiteren, mit unserem Thema verwandten Bereichen eine bedeutsame Rolle, besonders in der Sozialisationsforschung, und schließlich beinhalten die verschiedenen Schicht-Begriffe gewisse" theoretische Implikationen, die reflektiert werden müssen. In der anglo-amerikanischen Literatur werden am häufigsten die Begriffe »social class< und »socioeconomic status (SES)< benutzt; der Begriff »the poor (x* = 509.81, 4 df, p < .001)

In Tabelle II/2 wurden die behandelten Prävalenzraten in Abhängigkeit von sozialer Schicht bestimmt. Bei Betrachtimg der Ergebnisse, die in Tabelle II/2 zusammengefaßt sind, zeigt sich, daß die Rate psychiatrischer Patienten in Schicht V etwa dreimal so hoch wie in den Schichten I und II ist. .

10 11

Vgl. hierzu die Diskussion des Hollingshead-Index im einleitenden Kapitel. Hollingshead u. Redlich 1964, S. 199.

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Tabelle 11/2: Soziale Sdiidit und Anteil psychiatrischer Patienten auf 100 000 (Alter und Geschlecht angepaßt)18 Schicht Rate auf 100 000 Personen der jeweiligen Schickt I. u. II 553 III 528 IV 665 V 1668 Gesamt 808

In Tabelle II/3 nun ist die unterschiedliche Verteilung der Neurosen und Psychosen in Abhängigkeit von sozialer Schicht wiedergegeben. • Tabelle II/3: Verteilung von Psychosen und Neurosen in Abhängigkeit von sozialer Schicht (abgerundete Zahlen)18 Sdiidit °lo Neurosen °/o Psychosen I. u. II 65 35 III 45 55 IV 20 80 V 10 90

Von hundert psychotischen und neurotischen Patienten in Schicht V zeigen allein 90 die Krankheitsbilder der Psychosen; in den Schichten I und II hingegen sind nur 35 von 100 Patienten diesen Krankheitsbildern zuzuordnen. Die schweren psychischen Erkrankungen, die Psychosen, sind also gehäuft in der Unterschicht zu finden. Die Prävalenzraten (behandelte) für die Psychosen können aus den Ergebnissen von Tabelle II/2 und Tabelle II/3 errechnet werden. Für die Schichten I und II muß man die allgemeine Prävalenzrate von 0,55 °/o (dies entspricht der Rate von 553 auf ±00 000) mit dem prozentualen Anteil der Psychosen in dieser Schicht multiplizieren (0,55 ®/o X 35 %>). Das Ergebnis ist 0,19%, oder wieder in die Rate — auf 100 000 bezogen — zurückverwandelt: 190/10000 Personen der Schichten I und II. Für die Schicht V errechnet sich dagegen eine Rate von 1500/100000 (1,668% X 90%). In der Unterschicht trifft man also achtmal soviele psychotische Patienten wie in den Oberschichten. Berechnet man die Prävalenzraten für die Neurosen, so ergeben sich für die Schichten I und II eine Rate von 349, für die Schicht V eine Rate von 97 auf 100 000 Personen der jeweiligen Schicht (s. Tabelle II/7). Es zeigt sich also, daß die Prävaienzrate für die Neurosen in den Oberschichten höher ist. Bei diesen Ergebnissen ist nochmals darauf hinzuweisen, daß 18

Hollingshead u. Redlidt 1964, S. 210. Anpassung für Alter und Geschlecht bedeutet, daß die Ausgangsraten, die für jede Sdiidit gefunden wurden, so gewichtet wurden, daß die Alters- und Geschlechtsverteilung in jeder Sdiidit der Alters- und Geschlechtsverteilung der Gesamtpopulation entspricht. Dadurch ist gewährleistet, daß die ebenfalls mit psychischer Erkrankung korrelierenden Faktoren Alter und Geschlecht keinen verfälschenden Einfluß auf die schichtenspezifischen Unterschiede haben. Auswertung der Tabellen nach Seidel 1971, S. 28 f. 18 Hollingshead u. Redlich 1964, S. 223.

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die behandelte Prävalenz leicht einen falschen Eindruck über die Morbidität vermitteln kann. Würde man die wahre Prävalenz bestimmen, also alle Kranken und nicht nur die behandelten erfassen, so würden die Prävalenzraten vermutlich anders ausschauen. Denn es kann als gesichert gelten, daß die unteren Sozialschichten sowohl weniger eine behandelnde Institution aufsuchen als dies auch nur14 bei stärkeren Störungen ihres Gesundheitszustandes tun. Es kann also schon hier vermutet werden, daß bei Bestimmung der wahren Prävalenz das Verhältnis der Psychose-Raten noch ungünstiger als l : 9 für die Unterschicht ausfallen dürfte. Bei den Neurose-Raten würde sich wahrscheinlich das Verhältnis von etwa 3 : l zu Ungunsten der Oberschichten ebenfalls entsprechend verändern; die Unterschiede in den Raten für die Neurosen zwischen Oberschichten und Unterschicht würden dann sicherlich geringer werden oder sogar verschwinden. Dies kann angenommen werden, weil eine Neurose, als leichtere Form der psychischen Erkrankung, besonders die Patienten der Unterschicht sehr selten veranlassen wird, eine behandelnde Institution aufzusuchen. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß sowohl die Häufigkeit als auch die Schwere der psychischen Erkrankung mit absteigender sozialer Schicht zunimmt. D.h. je geringer das Einkommen, die Ausbildung und je schlechter die Wohngegend, desto größer ist die Prävalenz psychischer Erkrankungen. Gewonnen wurde dieses Ergebnis an den Raten behandelter Prävalenz; es konnte darauf hingeweisen werden, daß diese Angaben wahrscheinlich einen falschen Eindruck von der Verteilung psychischer Erkrankung geben werden. Und zwar ist anzunehmen, daß bei Bestimmung der wahren Prävalenz die Unterschichten sicherlich eine noch höhere Rate an Erkrankungen aufweisen würden. Die wahre Prävalenz nun wurde in einer anderen großen Studie, der Midtown Manhattan Study15 untersucht. Hier wurden insgesamt 1660 Personen im Alter zwischen 20 und 59 Jahren aus einem Bezirk von New York City, der etwa 110 000 Einwohner umfaßt, in die Studie mit aufgenommen. Die soziale Schicht wurde nach Beruf/Ausbildung und Einkommen des Untersuchten bzw. seines Vaters bestimmt; dabei wurden drei soziale Gruppen definiert: unterste, mittlere und oberste Sozialschicht. Diese Studie verwendete bei der Bestimmung psychischer Erkrankung keine Diagnosegruppen üblicher psychiatrischer Kategorisierung. Der Grad psychischer Gesundheit wurde hier anhand eines Fragebogens ermittelt. 14 15

Dies wird im Kapitel IV ausführlich dargestellt. Srole et al. 1962 und Lagner u. Michael 1963.

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Dieser Fragebogen setzte sich aus anderen schon validierten Fragebogen und Tests auf psychische und psychosomatische Erkrankungen zusammen. Die Untersuchten wurden dann einer Skala zugeordnet, die das Ausmaß psychischer Störungen beschrieb (s. Tabelle II/4). _ Tabelle II/4: Kategorien psychischer Gesundheit in Abhängigkeit von sozialer Schicht (in %) i e Psychische Gesundheit Sozioökonomische Stellung unterste oberste Schicht Schicht 4,6 30,0 gut 37,5 25,0 milde Symptome (tägl. Leben ohne Schwierigkeiten) mittelstarke Symptome (noch keine sichtlichen Stö20,0 23,1 - rungen des tägl. Lebens) 12,5 47,3 geschädigt davon: 16,7 6,7 schwere Störung (im tägl. Leben behindert) schwerere Störungen (tägl Leben nur mit Störungen) 5,8 21,3 schwerste Störungen (im tägl. Leben gerade noch funktionsfähig oder schon aus diesem zurück9,3 0,0 gezogen)

In der Gruppe der Gesunden sind Angehörige der obersten Schicht sechsmal so häufig vertreten wie die Angehörigen der Unterschicht. Umgekehrt umfaßt die Gruppe der >Geschädigten< viermal so viel Angehörige der untersten Sozialschicht wie Angehörige der Oberschicht. Obwohl die Studie — wie eingangs geschildert — nur mit Hilfe eines skalierten Fragebogens eine Einteilung des Grades psychischer Gesundheit vornimmt, wurde in einem späteren Stadium der Arbeit anhand der Fragebögen eine Einteilung in wahrscheinliche Krankheitsbilder der üblichen psychiatrischen Diagnostik vorgenommen. Dabei zeigten sich die in Tabelle II/5 wiedergegebenen Befunde. Tabelle IIIS: Kategorien »wahrscheinlichem psychischer Störungen in Abhängigkeit von sozialem Status17 Wahrsdieinliche diagnostische Kategorie Sozioökonomisdher Status Untersch. Mittelsdi. Obersch. Psychoorganische Schäden 4,4 0,9 0,0 U Psychotiker 13,1 8,3 3,6 U Neurotiker 24,5 35,5 42,5 O Psychcsomat. Störungen 8,1 5,2 5,4 NS Persönlichkeitsdefekte/ Soziopathen 14,9 10,1 4,5 Ii doppelt eingestuft: Neurotiker/Psychosomat. 5,5 4,7 6,8 NS Persönlichkeitsdefekt/ Neurotiker 19,7 17,1 11,3 U >Gesund< 9.8 18,0 25,9 O U = Der Prozentsatz der Unterschicht ist auf dem l-%o-Niveau signifikant größer als in der Oberschicht. O = Der Prozentsatz der Oberschicht ist auf dem l-%o-Niveau signifikant größer als in der Unterschicht. _ NS = Nicht signifikante Unterschiede zwischen Ober- und Unterschicht. 18 17

Srole et al. 1962, S. 230. Lagner u. Midiael 1963, S. 402.

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Die Midtown Manhattan Studie, die die wahre Prävalenz untersucht, kommt also zu entsprechenden Befunden wie die anfangs zitierte andere große Untersuchung, die New Haven Study: die Häufigkeit psychischer Erkrankimg nimmt mit abnehmender Höhe der sozialen Schicht zu. Erwähnt werden soll hier noch die 18dritte große amerikanische Studie/die Stirling County Study , bei der eine Gruppe von 1010 Personen einer kanadischen, vorwiegend ländlichen Gegend von etwa 20000 Einwohnern untersucht wurde. Diese Gruppe wurde mit Hilfe eines der Midtown Manhattan Study ähnlichen Fragebogens und zusätzlichen Informationen von Krankenhäusern und Ärzten studiert. Auch in dieser Studie, die sich primär mit der Bedeutung der sozialen Integration am Wohnort beschäftigte, konnte die wesentliche Bedeutung dfer Schichtenzugehörigkeit für das Auftreten und die Stärke psychischer Erkrankung nachgewiesen werden. An dieser Stelle nun soll auf eine Prävalenzstudie aus dem deutschen Sprachraum hingewiesen werden. Strotzka19 untersuchte — neben 500 zufällig ausgewählten Patienten einer österreichischen Landpraxis — 100 psychiatrische Patienten. Psychopathie, Schizophrenie und Schwachsinn finden sich gehäuft in den unteren Sozialschichten, die neurotischen Krankheitsbilder sind auf die verschiedenen sozialen Schichten etwa gleich verteilt. Das Ergebnis läßt sich aufgrund der geringen Größe der Stichprobe nur als Tendenz interpretieren. In Übereinstimmimg mit den bisher zitierten Arbeiten stehen die Ergebnisse des größten Teils weiterer Studien, die die Prävalenz psychischer Störungen in Abhängigkeit von sozialer Schicht untersucht haben. Dies konnten Dohrenwend u. Dohrenwend20 in einer Überblicksstudie zeigen, bei der sie die Ergebnisse aller bekannten Prävalenzstudien zu der Fragestellung zusammenstellten und nur die Arbeiten nicht aufnahmen, die keine klinisch üblichen diagnostischen Definitionen verwendeten. Sie wiesen darauf hin, daß von 24 Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und sozialer Schicht beschäftigten, 19 die höchste Rate psychischer Erkrankung in der Unterschicht fanden; vier weitere zeigten die höchste Rate in der Mittelschicht auf, und nur eine Studie fand die höchste Rate psychischer Störung in der Oberschicht. In einer weiteren, ähnlichen Übersichtsarbeit haben Dohrenwend u. Dohrenwend21 nochmals — aufge18 A. Leighton 1959, Hughes et al. I960, D. C. Leighton et al. 1963. » Strotzka 1969. 80 Dohrenwend u. Dohrenwend 1965. 21 Dohrenwend u. Dohrenwend 1969.

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schlüsselt nach den verschiedenen Krankheitsbildern — die Ergebnisse der verschiedenen Arbeiten dargestellt (s. Tabelle

II/ 6).

Tabelle 11/6: Höchste Rate für die Verteilung unterschiedlicher psychiatrischer Erkrankungen in Abhängigkeit von sozialer Sdiidit22 Psychiatrische Erkrankung Zahl der Studien Zahl der Studien, die die höchste Rate in der Unterschicht finden Schizophrenien 7 5 Manisch-depressive Psychose 7 0 Neurosen 14 6 Persönlichkeitsdefekte 13 10

Es konnte in den verschiedenen Studien fast durchgehend die höchste Prävalenzrate in den unteren Sozialschichten nachgewiesen werden. Aufgeschlüsselt nach Krankheitsbildern war dies besonders deutlich bei den Schizophrenien und Persönlichkeitsdefekten. Für die Neurosen und psychosomatischen Erkrankungen geben die Autoren verschiedener Arbeiten stark unterschiedliche soziale Verteilungen an. Bei den manisch-depressiven Krankheitsbildern scheint eine Häufung in den oberen Sozialschichten vorzuliegen. Die Ergebnisse der Prävalenzstudien geben einen Überblick über die soziale Verteilung von Krankheit, sie müssen jedoch — wie in der Einleitung schon angedeutet — keine Auskunft über die soziogenetische Bedeutung der Schichtenzugehörigkeit geben.23 Einen Schritt näher zur Beantwortung der Frage, ob die soziale Schicht auch eine soziogenetische Bedeutung hat, bringen die Inzidenzstudien. Die Inzidenzstudien geben ja Auskunft über die Neuerkrankungen und sind somit sicherer Indikator für die Bedeutung der sozialen Schicht als ätiologischer Faktor. 2 . 2 INZIDENZSTUDIEN

Betrachten wir noch einmal die Ergebnisse der New Haven Study und sehen wir diesmal nicht nur auf die Prävalenz-, sondern auch auf die Inzidenzraten, die ebenfalls in dieser Studie bestimmt wurden (s. Tabelle II/7). Gab es bei den Prävalenzraten für Neurosen und Psychosen noch hoch signifikante Unterschiede im Vergleich zwischen den sozialen Schichten, so nehmen diese Signifikanzen bei Bestimmung der Inzidenz ab. Dies ist verständlich, weil die 22 23

Zusammengestellt nach Dohrenwend u. Dohrenwend 1969. Denn eine hohe Prävalenzrate für psychische Erkrankungen in der Unterschicht muß nicht bedeuten, daß Personen der Unterschicht aufgrund ihrer Schichtenzugehörigkeit häufiger an psychischen Erkrankungen erkranken. Die hohe Prävalenz kann audi allein darauf hinweisen, daß für die Unterschichten schlechte Therapiebedingungen vorhanden sind und/oder daß die Patienten der Unterschichten häufiger Rückfälle haben.

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Tabelle II/7: Prävalenz, Inzidenz, Wiederaufnahmen und anhaltender Aufenthalt in Abhängigkeit von sozialer Sdiidit für Neurosen und Psydiosen (Raten per 100 000; Alter u. Geschlecht angepaßt)24 Neurosen: Schicht Prävalenz Inzidenz Anhaltender Aufenthalt Wiederaufnahme I u. II 349 69 251 44 78 137 250 30 m IV 17 114 52 82 65 35 V 97 66 8,64 4,40 69,01 X2 = 56,05 3 df 3 3 3 Tugenden< wird in der Sozialisation das geschaffen, was man vom Arbeiter später verlangt94: die widerspruchslose Hinnahme seiner Ausbeutung; die Verkrüppelung eines Teils seiner Fähigkeiten und seiner Bedürfnisse. Dabei soll hier jedoch nicht der Eindruck entstehen, als ob die Sozialisation in der Unterschicht in ihrem Einfluß nicht auch widersprüchliche Momente trägt. Nur ein Beispiel soll hierfür angeführt werden; trotz der Erziehung zum aggressiven Durchsetzen, so wie es im Konkurrenzkampf um den Arbeitsplatz gebraucht wird, erlernt der Angehörige der Unterschicht sehr wohl Solidarität aus dem gemeinsamen Erleben materieller Not und aus dem gemeinsamen Kampf gegen Ausbeutung. Als einzige empirische Studie ist in der Midtown Manhattan Study ein großer Teil der oben beschriebenen Streß-Faktoren im Zusammenhang zu psychischer Erkrankung untersucht 94 So konnte z. B. McKinley 1964, besonders im 7. und 8. Kapitel empirisch nachweisen, wie die Verhältnisse am Arbeitsplatz des Vaters die Erziehungspraxis der Kinder beeinflußt. Als Beispiel sei hier nur ein Befund genannt: Das Maß der Unzufriedenheit mit den Verhältnissen am Arbeitsplatz bestimmt direkt das Maß des verlangten Gehorsams vom Sohn. Siehe zu dieser Fragestellung auch-die Schlußbemerkungen bei Pearlin u. Kohn 1966.

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worden.95 Audi in dieser Studie wurden die Verhältnisse in Ehe, Familie uhd Sozialisation ähnlich wie oben dargestellt; auch hier wurde zumeist eine Häufung der belastenden Faktoren in der Unterschicht gefunden. Ein Teil dessen, was oben für die Unterschichtfamilie beschrieben wurde, konnte in seiner negativen Bedeutung für psychische Gesundheit belegt werden.06 So fand sich eine positive Beziehung zwischen dem Grad psychischer Erkrankung und der Erfahrung einer Scheidung, der Klage über die Ehe und den Sorgen, mit dem zur Verfügung stehenden Geld einen Haushalt führen zu müssen. Nicht untersucht wurde der Bereich der Sexualität. Hier kann aber hypothetisch davon ausgegangen werden, daß besonders nach den Ergebnissen psychoanalytischer, aber auch anderer psychiatrischer Forschung die Unterdrückung von Sexualität eine wesentliche Bedeutung bei der Genese psychischer Erkrankimg haben dürfte. Auch die Unterdrückimg aller sexuellen Äußerungen, die nicht zum eigentlichen Sexualakt gehören, soll hier noch einmal erwähnt werden. Ebenfalls nicht untersucht wurde die starre Verteilung der Geschlechterrollen in der Unterschicht, die sowohl die Unterdrückung all der Bedürfnisse zur Folge hat, die nicht in das jeweilige Rollenbild passen, als audi zu Verrohungen im geschlechtlichen Kontakt führt. Auch hierin müssen gerade für die Genese psychischer Erkrankungen wesentliche Momente gesehen werden. Für den Bereich der Kindheit konnten die Autoren der Midtown Manhattan Studie zeigen, daß allgemeine und finanzielle Sorgen der Eltern mit psychischer Erkrankung im Erwachsenenalter des Kindes korrelieren. Besonders die Identifikation mit den sich sorgenden Eltern korreliert mit psychischer Erkrankung im Erwachsenenalter. Eine dominierende Mutter, so wie sie besonders häufig in den Unterschichtfamilien zufindenist, wurde ebenfalls in Abhängigkeit zu psychischer Erkrankung im Erwachsenenalter gefunden. Werden beide Eltern und besonders der Vater nicht als Personen erlebt, mit denen sich das Kind leicht identifizieren kann, so führt auch dies verstärkt zu psychischer Erkrankung. Auf die Strenge der Unterschichterziehung, auf die Form der Strafverteilung und auf die besondere Betonung des Gehorsam sowie auf die geringe Internalisierung von Werten im Rahmen der Erziehung in den Unterschichten geht die Studie nicht 95

Audi bei der intensiven Studie einer Untergruppe der Untersuchten der New Haven Studie wurde dies versucht. Dabei handelt es sich jedoch um eine kasuistische Darstellung; es sind nur in Ausnahmen statistische Auswertungen vorgenommen worden (Myers u. Roberts 1959). M Die folgenden Darlegungen beziehen sich also, wenn nicht anders hingewiesen wird, immer auf die Midtown Manhattan Study, Lagner u. Michael 1963, bes. 8-14.

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ein. Aber audi hier kann angenommen werden, daß die häufigeren Strafen, das unberechenbare Strafmaß, die stärkere Einschränkung kindlicher Bedürfnisse, das geringere Maß elterlichen Kontaktes als belastende Faktoren für psychische Gesundheit angesehen werden können. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß in den Unterschichten gehäuft Streß-Faktoren in verschiedenen Lebensbereichen, von denen hier nur einige wichtige etwas näher beschrieben wurden, vorzufinden sind. Weiterhin konnte gezeigt werden, daß diese Streß-Faktoren die man auch als negative Erlebnisse bezeichnen kann, mit psychischer Erkrankung korrelieren. Wir sind damit einer Annahme vieler Arbeiten gefolgt, nach der die Häufung psychischer Erkrankung aus der Häufung von negativen Erlebnissen, von Streß, in der Unterschicht abgeleitet wird. In der Midtown Manhattan Study wurde — wie oben schon erwähnt — eine direkte Abhängigkeit des Ausmaßes psychischer Erkrankung von der Stärke des Streß nachgewiesen; gemessen wurde die Streßhäufigkeit gleichwertiger Streßfaktoren. In Abbildung II/i und II/2 soll diese direkte Abhängigkeit getrennt für die verschiedenen Sozialschichten dargestellt werden. In beiden Kurven wird deutlich, daß die verschiedenen SchichAbb. IUI: Grad der psychischen Störung in Abhängigkeit zu Streß-Häufigkeit und sozialer Schicht97

97

leicht veränderte Abbildung nach Lagner u. Michael 1963, S. 382.

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Abb. W2: Prozentsatz der Psychotiker in Abhängigkeit von Streß-Häufigkeit und und sozialer Schicht98

30- ^

Stress-Häufigkeit

ten offensichtlich bei einem gleichen Maß an Streß unterschiedlich stark von psychischer Störung betroffen sind; die für die verschiedenen Schichten unterschiedlichen Steigungen und Ausgangspunkte der Kurven drücken dies aus. Hier zeigt sich, daß die Annahme einer alleinigen Abhängigkeit psychischer Erkrankung von belastenden Faktoren nicht ausreicht, um die Häufung psychischer Erkrankungen allgemein und im speziellen die Häufung der schweren Störungen in den Unterschichten zu erklären. Phillipsder auf den Arbeiten anderer Autoren100 aufbaut, nach denen negative Erlebnisse unabhängig von den positiven Erlebnissen für das Wohlbefinden wirksam sind, formuliert folgende Arbeitshypothese: Die Unterschichten sind nicht nur einer Häufimg negativer Erlebnisse, wie sie in der Midtown Manhattan Studie untersucht wurden, sondern auch einem Mangel vön positiven Erlebnissen ausgesetzt. Er untersuchte anhand eines der Midtown Manhattan Studie ähnlichen Fragebogens 600 Personen auf den Grad ihrer psychischen Gesundheit und setzte diese Ergebnisse in Beziehung zu der Häufigkeit von negativen wie auch dem Mangel an positiven Erlebnissen. Dabei konnte er seine Ausgangshypothese bestätigen, nach der die Unterschichten neben der Häufigkeit ihrer negativen auch besonders wenig positive Erfahrungen haben. Weiterhin konnte er nachweisen, daß auch der Mangel an positiven Erlebnissen mit psychischer Erkrankung korreliert. Hiermit wäre also ein weiterer Faktor benannt, durch 88 88 100

leicht veränderte Abbildung nadi Lagner u. Michael 1963, S. 412. Phillips 1968. Caplovitz u. Bradburn 1964, Bradburn u. Caplovitz 1965.

den die Häufung psychischer Erkrankung in der Unterschicht erklärt werden könnte. Außerdem wäre eine weitere Erklärung auf die Frage gefunden, warum bei gleicher StreßHäufigkeit ein unterschiedliches Ausmaß an psychischer Erkrankung resultiert, so wie es in der Graphik der Midtown Manhattan Studie dargestellt wurde.

6. Bewältigung von Streß In der Midtown Manhattan Studie wird noch eine andere Erklärung für die schichtenunterschiedliche Reaktion auf ein gleiches Ausmaß von Streß herangezogen. In Übereinstimmung mit einigen anderen Autoren wird vermutet, daß die Angehörigen der Unterschicht gehäuft Persönlicükeitsmerkmale und besonders psychische Abwehrmechanismen zur Bewältigimg von Streß besitzen, die nur eine unzureichende Bewältigung auf der psychologischen Ebene erlauben. Die Autoren der Studie finden fünf Charakteristika der Persönlichkeit der Unterschicht, deren Zustandekommen sie teilweise aus den Lebensbedingungen dieser Schichten erklären: 1. ein schwaches Über-Ich (Gewissensinstanz); 2. ein schwaches Ich, das durch geringe Selbstkontrolle und geringe Frustrationstoleranz ausgezeichnet ist; 3. ein mißtrauischer Charakter, der nur geringe zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen erlaubt; 4. ein starkes Gefühl der Unterlegenheit, ein geringer Selbstwert; 5. die Tendenz, Probleme nicht psychisch zu bewältigen, sondern sie nach außen zu wenden, sie in aggressiver Weise nach außen abzureagieren. Dabei wird nicht nur gezeigt, daß dies psychische Abwehrmechanismen sind, die keine ausreichende Bewältigung von Streß auf der psychologischen Ebene erlauben, sondern es wird darüber hinaus darauf hingewiesen, daß diese Persönlichkeitsmerkmale denen der psychisch Kranken sehr ähnlich sind.101 101 Es muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Autoren die gefundenen Persönlichkeitsmerkmale bzw. psychischen Abwehrmedianismen fast ausschließlich aus Beobachtungen und Untersuchungen gewonnen haben, die die Konsumtionssphäre betreffen. Völlig unberücksichtigt bleibt dabei das Verhalten in der Produktionssphäre, von dem aus teilweise auf ganz andere Persönlichkeitsmerkmale geschlossen werden kann. Betrachtet man z. B. die Angehörigen der Unterschicht in diesem Bereich, so kommt die Aussage über eine geringe Frustrationstoleranz in dieser Schicht sehr ins Wanken. Ähnliche Beispiele ließen sich anfügen. Leider ist bisher kaum auf die Widersprüchlichkeit des Verhaltens in dem Bereich der Konsumtion zu dem der Produktion aufmerksam gemacht worden; entsprechend sind auch keine Arbeiten vorhanden, die diese Widersprüdilichkeit zu erklären suchen/

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Die Autoren der Midtown Manhattan Studie erklären also die hohe Rate psychischer Erkrankung in der Unterschicht damit, daß die Angehörigen der Unterschichten besonders vielen belastenden Faktoren ausgesetzt sind und zugleich zur psychischen Bewältigung dieser Belastungen die unzureichenderen Abwehrmechanismen haben. Wollte man diesen Gedanken weiter verfolgen, so hätte jetzt eine Darstellung dieser Abwehrmechanismen in der Weise zu erfolgen, daß psychopathologische Reaktionen, so wie sie sich in den einzelnen Krankheitsbildern zeigen, daraus abgeleitet werden könnten. Man hätte z.B. die Hypothese zu untersuchen, nach der die gestörten Identifikationsmöglichkeiten in der Unterschicht mit den Schizophrenien in Zusammenhang gebracht werden. Oder es könnte ein Zusammenhang zwischen einer starken Selbstkontrolle (wie man sie in den Mittelschichtenfindenkann) und den Zwangsneurosen vermutet werden. Bei diesen Beispielen wird jedoch deutlich, daß bei einem solchen Vorgehen detaillierte Kenntnisse der einzelnen psychischen Erkrankungen notwendig sind. Denn nur so kann man die Genese der einzelnen Erkrankungen nachzuzeichnen und dabei aus den Abwehrmechanismen abzuleiten versuchen. Hier zeigt sich, daß das Gemeinsame der psychischen Erkrankung, mit dem bis zu diesem Punkt operiert werden konnte, nicht mehr ausreicht, die Genese der einzelnen Erkrankungen zu erklären. Es müßten jetzt gerade die unterschiedlichen Momente in den verschiedenen psychischen Erkrankungen herausgearbeitet 102werden, um ein solches Unternehmenbeginnen zu können. Einmal würde dies jedoch über den Rahmen dieses Kapitels hinausgehen, zum anderen kann diese Aufgabe auch nur unter großen Schwierigkeiten vorgenommen werden. Bei dem heutigen Stand wissenschaftlicher Erforschung psychischer Erkrankungen stehen noch zu viele Ergebnisse und Ansätze teils widersprechend, teils unverbunden nebeneinander. Es kann also im vorliegenden Zusammenhang nur bei dem Hinweis auf diese Erklärungsmöglichkeit der schichtenspezifischen Verteilung psychischer Erkrankimg bleiben.103 An dieser Stelle soll noch darauf hinge102 Daß es bis zu einem gewissen Grad sehr viel gemeinsame Momente in den verschiedenen psychischen Erkrankungen gibt, zeigt u. a. die Arbeit von Foulds 1965, der anhand von Interviewbögen Gemeinsames und Unterschiedliches an Persönlichkeitsveränderungen bei den verschiedenen psychischen Krankheitsbildern herausarbeitet. 108 Einige wenige Autoren haben versucht, die Verbindung zwischen schiditenspezifisdien Abwehrmechanismen und Persönlichkeitsstrukturen einerseits und psychischer Erkrankung andererseits darzustellen; dabei wird auch versucht, die Abwehrmechanismen aus der schichtenspezifischen Sozialisation und den Lebensbedingungen zu erklären. Derartige Versuche sind z. B. von folgenden Autoren unternommen worden: Miller u. Swanson 1966, Bernd 1967, Roman u. Harrison 1967, Mitdiel 1969, Grey 1969, Weinberg 1967, Lagner u. Michael 1963, Kap. 16, Myers u. Roberts 1964, Moser 1970, Kap. 9, s. audi: Whiting u. Child 1953.

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wiesen werden, daß neben den zur Bewältigung von belastenden Situationen untauglichen, krankhaften psychischen Abwehrmechanismen, auf die einige Autoren hinweisen, die Unterschichten auch bei der Bewältigung von Problemen in der Realität unserer Gesellschaft stark benachteiligt sein dürften. So werden sie aufgrund schlechterer Ausbildung und mangelnder Informationen bei verschiedensten Problemen weniger Lösungsmöglichkeiten kennen und ergreifen können. Auch das geringere Einkommen dieser Schichten verhindert die Lösung zahlreicher Probleme. Ein Kind, daß z.B. den Feierabend der Eltern durch lautes Spielen stört, kann in der Unterschicht teilweise eben nur durch Anschreien und Verbieten davon abgebracht werden; es kann nicht in ein anderes Zimmer, ein Kinderzimmer, geschickt werden, da die Wohnung nur ein oder zwei Zimmer hat. Schließlich können auch die Angehörigen der Unterschichten ihre Probleme weniger effektiv lösen, wenn die staatlichen und öffentlichen Instanzen, die bei der Lösimg behilflich sein könnten, dazu nicht willens sind oder von den Unterschichten aufgrund sozialer Distanz nicht aufgesucht werden. Klagt z.B. eine Unterschichtfamilie gegen massiv überhöhte Preise für sanitär nicht zumutbare Wohnungen, so dürfte sie sich bei herrschender Rechtsprechung nur in den seltensten Fällen durchsetzen; besonders kraß dürften hier die Verhältnisse in den Slums sein. Die Voraussetzimg, die in diesem Beispiel gemacht wurde, weist auf ein anderes Problem: es dürfte kaum dazu kommen, daß eine Unterschichtfamilie klagt. Viel zu fremd, viel zu undurchsichtig und diesen Familien feindlich ist der Bereich bürgerlicher Gerichte. Die Menschen, die in diesen Institutionen arbeiten, gehören anderen Schichten an, sprechen eine andere Sprache und gehorchen anderen Interessen, die Distanz ist schier unüberbrückbar für eine einzelne Unterschichtfamilie. Ähnliches gilt für den hier auch104besonders wichtigen Bereich der medizinischen Versorgung.

7. Zusammenfassung Ausgehend von dem Befund der Häufung psychisch Kranker in der Unterschicht (hohe Prävalenz) wurde versucht, die Ursachen hierfür ausfindig zu machen. Allein die Inzidenzrate gibt dabei einen Hinweis auf die ätiologische Bedeutung der sozialen Schicht für psychische Erkrankung. Für die hohen Inzidenzraten in der Unterschicht kann nicht allein ein sozialer Abstieg der psychisch Kranken im prämorbiden Stadium 104

Siehe Kap. IV.

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verantwortlich gemacht werden, vielmehr hat die soziale Schicht echte sozial-pathologische Bedeutung. Bei dieser Charakterisierung der Verhältnisse in der Unterschicht wurde besonders auf che Häufimg der Streß-Faktoren hingewiesen. Da Streß-Faktoren und psychische Erkrankung korrelieren, konnte hiermit eine detailliertere Aussage über den Zusammenhang von Unterschicht und dem hohen Grad an psychischer Erkrankung gemacht werden. Die Streß-Häufigkeit reicht dabei allein nicht aus, das Ausmaß psychischer Erkrankung in der Unterschicht zu erklären. Hinzü kommen sowohl ein Mängel an positiven Erlebnissen in diesen Schichten als auch Persönlichkeitsstrukturen und unzureichende psychische Abwehrmechanismen, die denen der psychisch Kranken sehr ähnlich sind/ Angefügt wurde noch, daß die Unterschichten nicht nur für psychische Gesundheit untauglichere psychische Abwehrmechanismen haben, sondern auch allgemein aufgrund ihrer Schichtenzugehörigkeit weniger Chancen haben, mit belastenden Verhältnissen in der gesellschaftlichen Realität fertig zu werden. Insgesamt konnte im Zusammenhang dieses Kapitels nicht detailliert auf die Vermittlung von Streß-Faktoren, Sozialisation und psychische Abwehrmechanismen einerseits und den einzelnen psychischen Krankheitsbildern eingegangen werden.105

105

Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, daß nicht allein psychische Erkrankungen in den Unterschichten gehäuft nachzuweisen sind, sondern auch die somatischen Erkankungen. Einige Überblidcstudien zu diesem Thema seien hier genannt: Lerner 1969, Hurley 1969, Kap. 2 u. 5.

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III. Soziale Ungleichheit und Reform der psychiatrischen Versorgung

In diesem Kapitel soll die soziale Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung und der Psychotherapie in einem größeren, historischen Rahmen betrachtet werden. Es läßt sich leicht zeigen, daß soziale Ungleichheit als Erscheinungsform in der psychiatrischen Versorgung und der Psychotherapie stets eine Rolle spielte und Impulse zur Veränderung gab. Wir wollen versuchen, darüber hinaus auch die sozialen Kräfte zu erfassen, die die grundlegenden Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung fördern oder hemmen. Eine Analyse, die dies vernachlässigt, kommt in den Verdacht, es mit dem Wunsch nach Veränderungen nicht sonderlich ernst zu meinen.

l . Die Entstehung der Psychiatrie Die Entwicklung der Behandlung psychisch Kranker wird in der Literatur oft als eine1 Folge von >Revolutionen< gesehen. So unterscheidet Hobbs drei Revolutionen. In der Befreiimg der Irren durch Pinel in Frankreich und Tuke in England, die verbunden war mit einer neuen, wissenschaftlichen Betrachtung der Geisteskrankheit, sieht er die erste der »mental health revolutions«. Als zweite Revolution wird der Einzug psychodynamischer Ideen in die Theorie und Behandlung der psychisch Kranken, besonders durch Freud, bezeichnet. Die dritte Revolution schließlich wird in der modernen Sozialpsychiatrie gesehen. Wenn von der sozialpsychiatrischen Revolution gesprochen wird, so werden damit meist sehr große Erwartungen und Hoffnungen verbunden. Eine Revolution in irgendeinem sozialen Bereich, etwa in der Wissenschaft oder in der psychiatrischen Versorgung, hat nur dann stattgefunden, wenn die Theorie einen qualitativ neuen Charakter erhielt und die Praxis in umfassender Weise verändert wurde. Wenn man dies beachtet und den Begriff Revolution nicht nur moralisch verwendet, so kann man, wie Thom2 gezeigt hat, bisher nur von einer einzigen Revolution 1 8

Hobbs 1964. Thom 1971, bes. S. 19-23.

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in der Psychiatrie sprechen, nämlich der oben zuerst genannten. Wir beginnen die Untersuchung mit jenem Zeitabschnitt, in dem die Psychiatrie entstand. Ein psychiatrisches Versorgungssystem und eine Theorie der Entstehung und Behandlung der psychischen Krankheiten gibt es erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, etwa mit der Durchsetzimg der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der politischen Macht des Bürgertums. Freilich geschehen soziale Entwicklungen nicht mit einem Mal. So gab es auch schon in den Zeiten des Feudalismus vereinzelt Aufbewahrungsanstalten und vereinzelt gewisse Behandlungsversuche3; von einem Versorgungswesen oder einer psychiatrischen Theorie kann man aber nicht sprechen. In der Tat ergab sich unter den Bedingungen der bäuerlichen und handwerklichen Kleinproduktion im Feudalismus weder eine dringende Notwendigkeit noch überhaupt die ökonomische und soziale Möglichkeit, ein System der Aufbewahrung oder der Behandlung von psychisch Kranken einzurichten: einerseits bestand kein Arbeitsmarkt, der durch erhöhte Nachfrage Druck auf die Wiederherstellung der Arbeitskraft hätte ausüben können; andererseits war der bäuerliche oder handwerkliche Klein- oder Familienbetrieb durchaus in der Lage, mäßig gestörte Irre zu Hause zu behalten und zu irgendeiner Form nützlicher Arbeit einzusetzen. Es ist nun interessant zu sehen, daß bereits die Entstehung der Psychiatrie mit den sozialen Unterschieden, mit der damaligen Klassenstruktur zusammenhing/Nach der Analyse von Börner trat das Problem der Irren überhaupt erst als Problem det armen Irren in Erscheinung, entwickelte sich die Psychiatrie nicht am Problem der Irren schlechthin, sondern am Problem der armen Irren.4 Dieser Zusammenhang ist übrigens auch der reale historische Hintergrund des umgangssprachlichen Begriffs >armer Irrermoral treatment^ Verbesserungen für die psychisch Kranken. Diese Verbesserungen hatten aber keinen dauernden Bestand.8 Für die psychiatrische Theorie sind die Leistungen der deutschen >Universi7

Wir können dies hier nicht ausführlich begründen und beziehen uns auf Dörner 1969, teilweise auch auf Foucault 1969. 8 3. Bockoven 1963.

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tätspsychiatrie< wichtig. Besonders die Arbeit Kraepelins erbrachte neue Erkenntnisse für das Erscheinungsbild der psychischen Krankheiten. Da es sich bei alldem, wie gesagt, nicht um grundlegende und umfassende Veränderungen handelt, wenden wir uns nun der Entwicklung der psychiatrischen Versorgung im 20. Jahrhundert zu. Wir haben uns dabei hauptsächlich mit der Sozialpsychiatrie zu beschäftigen, denn diese enthält wesentliche Prinzipien und Elemente einer grundlegenden und umfassenden Veränderung der psychiatrischen Versorgung. Der Zusammenhang von Prinzipien der Sozialpsychiatrie und sozialen Problemen, u.a. der sozialen Ungleichheit, spiegelt sich in der Bedeutung des Wortes >SozialpsychiatrieSozialpsychiatrieSozialpsychiatrie< noch die Bedeutung von »sozialer Psychiatrie^ im Gegensatz zu der herrschenden unsozialen Psychiatrie. Beide Seiten hängen natürlich zusammen. Der Begriff >Sozialpsychiatrie< betont die Forderung nach wissenschaftlicher Vollständigkeit der Analyse; der Begriff »soziale Psychiatrie< stellt den Anspruch aller Mitglieder der Gesellschaft auf eine ihren Bedürfnissen entsprechende psychiatrische Versorgung in den Vordergrund. In diesem Sinne ist etwa auch der Satz von Dörner zu verstehen: »Psychiatrie ist soziale Psychiatrie oder sie ist keine Psychiatrie. Wir werden die Entwicklung der Sozialpsychiatrie nach zwei zeitlichen Abschnitten besprechen. In Abschnitt III/2.2 wird die Zeit bis zum zweiten Weltkrieg behandelt, während sich Abschnitt III/2.3 mit der Sozialpsychiatrie nach dem zweiten Weltkrieg befaßt. Diese beiden Abschnitte zeichnen sich durch unterschiedliche Tendenzen aus; gleichwohl zielen diese Tendenzen in die gleiche Richtung. Während wir uns bei der Analyse der Entstehung der Psychiatrie auf die Länder Europas zu beziehen hatten, sind für die neuere Entwicklung besonders die USA zu betrachten. Wenn auch — gerade was die moderne Sozialpsychiatrie betrifft — andere kapitalistische Länder in einzelnen Punkten größere Fortschritte in der psychiatrischen • n. Bell u. Spiegel 1966, S. 53 ff. 10 in: Dörner u. Plog (Hg.), S. 8.



Versorgung aufweisen und bessere Anregungen geben können, so haben die charakteristischsten Entwicklungen doch in den USA stattgefunden. Zum einen entstand in den USA die Psychohygienische Bewegung, die den Ausgangspunkt der Sozialpsychiatrie darstellt. Zum anderen erfuhr die Psychiatrie nach dem zweiten Weltkrieg in den USA eine bisher kaum gekannte staatliche Förderung, die auch immer wieder von reformfreudigen Psychiatern in unserem Land als Beispiel genannt wird (leider handelt es sich in vielerlei Hinsicht um ein durchaus negatives Beispiel, wie wir noch zeigen werden). Daß im großen und ganzen die Hauptimpulse für Forschung und Praxis der Sozialpsychiatrie in den USA zu finden sind, liegt wohl — wenn auch nicht mit Notwendigkeit — daran, daß die USA zu Beginn dieses Jahrhunderts wie auch nach dem zweiten Weltkrieg das am weitesten entwickelte, führende kapitalistische Land waren. In diesem Land hatten sich daher auch die sozialen Widersprüche in einer besonders scharfen Form zugespitzt. Dies fand wiederum seinen Niederschlag in besonders prägnant hervortretenden Bewegungen und Versuchen, diese Widersprüche aufzulösen. Um beliebige soziale Erscheinungeft, etwa auch die soziale Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung zu verstehen, müssen wir sie auf dem Hintergrund der allgemeinen sozialen Bedingungen in den kapitalistischen Ländern betrachten. Zu diesem Zweck sollen im folgenden die wesentlichen Züge der Sozialstruktur im heutigen Kapitalismus aufgezeigt werden. 2 . 1 D E R GESELLSCHAFTLICHE HINTERGRUND FÜR DIE ENTWICKLUNG DER SOZIALPSYCHIATRIE

Das wichtigste ökonomische Kennzeichen des heutigen, staatsmonopolistischen Kapitalismus ist die Herrschaft großer Kapitälgruppen, der Monopole. Diese Kapitalgruppen verfügen in ihrem jeweiligen Bereich über überlegene Absatz- und Abnehmerpositionen, so daß sie gegenüber allen anderen Unternehmen einen Monopolprofit durchsetzen können und sich so die Konzentration des Kapitals und der Produktion weiter verstärkt. Ein weiteres Charakteristikum unserer Epoche ist die wissenschaftlich-technische Revolution, die eine fortwährende Änderung in den Produktionsmethoden mit sich bringt, besonders die Mechanisierung und Automatisierung sowie die damit verbundene Abnahme der körperlichen Arbeit. Auf cüeser Grundlage ergeben sich wesentliche Veränderungen in der Sozialstruktur der Bevölkerung.11 Zum einen handelt es sich um das absolute Wachstum der Lohnabhängigen. 11

s. »Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus« (Autorenkollektiv), 1972, bes. Kapitel XXXI, sowie audi Kapitel XXXIII.

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Wenngleich Lohnabhängigkeit als solche nicht das alleinige Kriterium der Klassenzugehörigkeit eines Menschen ist — man denke nur daran, daß auch ein hoher Manager der Form nach Lohn bezieht —, so besteht insgesamt doch eine starke Tendenz der Proletarisierung zahlreicher Bevölkerungsschichten durch den Eintritt in die Lohnabhängigkeit. So unterscheidet man heute Industrieproletariat, Handelsproletariat und Büroproletariat. Zu beachten ist für unser Thema dabei besonders die Proletarisierung der Angestellten. Während diese sich früher noch stark in Bildimg, Arbeitstätigkeit und Einkommen von den Arbeitern unterschieden, sind heute bei vielen Gruppen von Angestellten kaum noch Unterschiede wahrzunehmen; manche Gruppen der Angestellten sind sogar weniger qualifiziert als manche Gruppen von Arbeitern und beziehen auch weniger Einkommen. Eine weitere wesentliche Veränderung der Sozialstruktur ist mit der Proletarisierung eines großen Teils des Kleinbürgertums gegeben. Das Kleinbürgertum setzt sich aus jenen Schichten der Bevölkerung zusammen, die einerseits hauptsächlich von ihrer eigenen Arbeit leben, andererseits aber ihre Produktionsmittel selbst besitzen. Hierzu gehören z.B. kleine Kaufleute, Handwerker, aber auch niedergelassene Ärzte. Durch die Überlegenheit der Monopole und die allgemeine Kapitalkonzentration verschlechtert sich die materielle Lage vieler Schichten des Kleinbürgertums (die niedergelassenen Ärzte gehören freilich nicht hierzu). Von den Privilegien dieser Gruppen, die sie in den Zeiten des Kapitalismus der freien Konkürrenz hatten, ist nicht viel geblieben; viele Angehörige des Kleinbürgertums können sich keine Sonderbehandlung in der psychiatrischen Versorgung leisten und sind von deren Mängeln genauso betroffen wie etwa Arbeiter oder kleine Angestellte. Schließlich ist auf die tendenzielle Proletarisierung von großen Teilen der IntelligenzSchicht hinzuweisen. Zur Schicht der Intelligenz gehören Personen, die besonders qualifizierte geistige Tätigkeit ausüben, z.B. Techniker, Lehrer wie auch Ärzte. Ihre Angleichung an die Arbeiterklasse rührt einmal daher, daß auch in der Arbeiterklasse der Grad an Qualifizierung wächst, und zum anderen daher, daß die betroffenen Gruppen der Intelligenz durch ihre Lohnabhängigkeit einer allgemeinen Verschlechterung ihrer materiellen Lebenslage und einer Zunahme von Existenzunsicherheit ausgesetzt sind. Es ist also festzuhalten: unter den Bedingungen des heutigen Monopolkapitalismus geraten immer breitere Schichten der Bevölkerung in den Widerspruch zu den herrschenden Monopolen. Für diese Schichten verschlechtert sich relativ ihre materielle Lage, und ihre Existenzsicherheit verringert sich. An dieser Stelle wollen wir etwas vorgreifen und die Frage 80

stellen, welche Konsequenzen die eben skizzierte Sözialstruktur für die soziale Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung besitzt. Die soziale Ungleichheit, die in Kapitel IV analysiert wird, ist nicht in erster Linie etwa die Ungleichheit zwischen der winzigen Minderheit der Großkapitalisten und Staatsspitzen gegenüber der großen Mehrheit der Bevölkerung. Soziale Unterschiede bestehen in einem viel breiteren Bereich. Auf den ersten Blick scheint da ein gewisser Widerspruch zu bestehen: einerseits ist eine Tendenz der Proletarisierung breiter Schichten und damit eine gewisse soziale Nivellierung gegeben, andererseits bestehen aber doch auch innerhalb dieser Schichten Unterschiede in der Versorgung. Dazu ist dreierlei zu sagen. Zum einen sind die genannten Tendenzen in der Sozialstruktur eben Tendenzen; sie verwirklichen sich in einem durchaus widersprüchlichen Prozeß, mit zeitlichen und räumlichen Verzögerungen oder Beschleunigungen. Zum zweiten gibt es außer den beiden Hauptpolen in der Sozialstruktur des Monopolkapitalismus, dem Großkapital und der Mehrheit der Bevölkerung, auch noch Zwischenschichten. Aus diesen beiden Gründen kann die eine oder andere Schicht sich noch in gewissen Bereichen Privilegien in der Gesundheitsversorgung erhalten. Zum dritten umfassen gerade die' psychischen Krankheiten gegenüber anderen Krankheiten besonders auch soziale oder sozialpsychologische Aspekte. Aus diesem letzteren Grund zeigen sich gewisse soziale Ungleichheiten in der psychiatrischen Versorgung, die in solchem Ausmaß in der sonstigen medizinischen Versorgung nicht mehr zufindensind. Aufgrund dieser Zusammenhänge entsteht auch jenes Verhältnis von Aufhebung der sozialen Ungleichheit in der Versorgung und der allgemeinen Reform der Psychiatrie, das wir im weiteren Verlauf noch herauszuarbeiten versuchen. Dieses Verhältnis ist kurz gesagt dadurch gekennzeichnet, daß einerseits eine Aufhebung der sozialen Ungleichheit in der Versorgung nur auf dem Wege einer allgemeinen Reform der Psychiatrie möglich ist, daß aber andererseits eine allgemeine Reform der Psychiatrie nur mit der gleichzeitigen Aufhebung der sozialen Ungleichheit in der Versorgung möglich ist. 2 . 2 FRÜHE REFORMBESTREBUNGEN

Im Zeitraum vom Beginn dieses Jahrhunderts bis zum zweiten Weltkrieg weist die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung gegenüber den früheren und den nachfolgenden Perioden unterschiedliche Charakteristika auf. Dabei betrachten wir die Psychoanalyse und die Mental-Health-Bewegung ge81

trennt. Der Grund dafür ist lediglich der, daß die Psychoanalyse von allen Autoren als eine der Revolutionen in der Theorie und Behandlung psychischer Störungen betrachtet wird.12 Nach unserer Analyse nimmt die Psychoanalyse innerhalb der Gesamtentwicklung der psychiatrischen Versorgung und der Theorie keine qualitativ andere Stellung ein als die anderen Strömungen oder Reformversuche. Die Psychoanalyse Obwohl die Psychoanalyse S. Freuds und auch die ersten wichtigen psychoanalytischen Schulen (Adler, Jung) in Europa entstanden, entfaltete die Psychoanalyse ihre Hauptwirkungen in den USA. Insbesondere nahm mit der Entwicklung der Psychoanalyse die Psychiatrie in den USA einen ganz anderen Verlauf als in Deutschland. In Deutschland, wo die Psychiatrie biologisch-organisch orientiert blieb, blieb die Psychoanalyse von Psychiatrie und Universität getrennt, in den USA drang sie sehr bald in die psychiatrische Theorie ein. Schon 1908 hatte A. Brill eine psychoanalytische Praxis in New York eröffnet; 1909 reiste Freud auf Einladung des Psychologen G. Stanley Hall zu Vorlesungen an der Clark-University in die USA. 1910 wurde die erste amerikanische psychoanalytische Gesellschaft gegründet.13 Bedeutende amerikanische Psychiater waren z.T. selbst Analytiker oder schenkten der Psychoanalyse große Aufmerksamkeit, wie etwa die Psychiater Franz Alexander und Adolf Meyer (der als einer der Begründer der Sozialpsychiatrie anzusehen ist). Offenbar hat die Psychoanalyse das Denken in der amerikanischen Psychiatrie sehr stark beeinflußt. Bedeutet dies nun eine Revolution der Psychiatrie? Legen wir die von uns bisher verwendeten Kriterien für das Vorliegen einer Revolution an: qualitativ neue theoretische Erkenntnis und umfassende Veränderung der Praxis! Die Befürworter der revolutionären Wirkung der Psychoanalyse führen das grundlegend Neue an Freuds Theorie an, nämlich daß er in Absetzung gegenüber der biologisch-organischen Betrachtungsweise psychodynamische Mechanismen als Kausalfaktoren des psychischen und besonders des psychopathologischen Geschehens eingeführt habe. Sicher ist ein qualitativ neues Moment darin nicht zu verkennen. Andererseits war dies jedoch, worauf Thöm hinweist14, mit einem Rückfall hin zur Spekulation anstelle wissenschaftlicher Methodik verbunden. Auch kann man bei der Psychoanalyse keineswegs von einer einheitlichen 18

besonders ausgeprägt bei Zilboorg 1941 (Nachdruck 1967). Daten zur Entwicklung der Psychoanalyse s. Alexander u. Selesnick 1969, S. 272 ff. 18

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Thom 1971, S. 21 f.

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und umfassenden neuen Theorie sprechen, sondern es liegt eine Vielzahl einzelner nur partiell wirksamer Strömungen und Schulen vor. Was nun die Praxis betrifft, so liegt klar auf der Hand, daß die Psychoanalyse keine umfassende Veränderung der Versorgung bedeutete. Vielmehr war sie in ihrer konkreten praktischen Auswirkung, wie in Kapitel IV dargelegt wird, auf eine sehr geringe Anzahl von Personen beschränkt, und zwar auf Angehörige gewisser sozial privilegierter Schichten der Bevölkerung. Dies zeigt aber nicht nur, daß die Psychoanalyse in der Tat keine Revolution der Versorgung brachte, sondern gibt auch den Schlüssel zur Eklärung dafür. Hierzu ist zunächst eine Bemerkung zum Verhältnis von psychiatrischpsychotherapeutischer Praxis und Theorie notwendig. Es scheint allgemein anerkannt zu sein, daß die Psychoanalyse in erster Linie eine Entwicklung innerhalb bürgerlicher Kreise oder Schichten war. Man sollte dies noch etwas präzisieren. Patienten und Therapeuten entstammten hauptsächlich dem Kleinbürgertum; dabei dürften allerdings auch Einflüsse der damals schon historisch überholten Landaristokratie, des Adels, eine Rolle gespielt haben. Die Theorie Freuds — wobei in erster Linie deren allgemeinpsychologischen und soziologischen Bestandteile gemeint sind — weist u.a. folgende Merkmale auf: (a) sie betont das Unbewußte als entscheidende Determinante menschlichen Verhaltens; (b) sie sieht die letzten Ursachen menschlichen Verhaltens in biologischen Gegebenheiten, hauptsächlich den Trieben, und vernachlässigt die gesellschaftlichen Bedingungen der menschlichen Existenz. Diese beiden Charakteristika spiegeln in gewisser Weise die Lage des Kleinbürgetums im Monopolkapitalismus. Für dessen Theoretiker waren die neuen Existenzbedingungen des Kleinbürgertums, nämlich die soziale Ungleichheit, die Angst vor der Zukunft, die Angst vor sozialen Konflikten, das Erleben der eigenen Machtlosigkeit, nicht erklärbar. Daher faßten sfe die Determination der psychischen Entwicklung als irrational und in gewisser Weise auch fatalistisch auf, und das zeigt sich bei Freud eben in den genannten Merkmalen seiner Theorie. Dabei scheint es uns nicht entscheidend zu sein, daß Freud selbst dem Kleinbürgertum entstammte, sondern daß er auch hauptsächlich in den Schichten des Kleinbürgertums wirkte. Obwohl Freud durchaus sozialkritisch eingestellt war und auch die soziale Begrenztheit seiner praktischen Arbeit klar sah und sogar sehr beklagte15, bildete die soziale Selektion seiner durchweg aus 15

Hinweise auf die entsprechenden Stellen bei Freud s. Lerner 1972, S. 3.

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begüterten kleinbürgerlichen Familien stammenden Patienten doch eine Begrenzung16seiner Erfahrungsgrundlage, die er nicht überschreiten konnte. Eine umfassende Theorie kann tätsächlich nur im Zusammenhang mit einer umfassenden Praxis erarbeitet werden. Der Zusammenhang zwischen Behandlungspraxis und Theoriebildung läßt sich sogar innerhalb einzelner psychoanalytischer Theorien verfolgen. So drückte der polnische Analytiker Wassermann einmal die Ansicht aus, daß die von Freud sich absetzende Theorie Adlers auf das unterschiedliche Pätientengut Adlers zurückzuführen sei. Wassermannversuchte, aus Krankengeschichten Freuds und Adlers, und zwar rückschließend aus verschiedenen Details dieser Berichte, den sozioökonomischen Hintergrund der Patienten zu ermitteln. Er teilte die Patienten in drei Kategorien ein: (a) Wohlhabende, (b) Mittelstand, (c) Arme; die letzte Gruppe enthielt u.a. Lehrlinge, Dienstpersonal,17 Kraftfahrer. Das Ergebnis ist in Tabelle III/i festgehalten. Tabelle Ulli: Aus Krankengeschichten Freuds und Adlers erschlossene soziale Herkunft ihrer Patienten Adlers Patienten Freuds Patienten (a) 74 °/o 25 % (b) 2 3 °/o 39»/o (c) 3 % 35 % n = 67 n = 43

Nach der Theorie Adlers spielt das organisch oder durch die Lebenssituation bedingte Minderwertigkeitsgefühl eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Individuums. In dem Versuch, die Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden, wird das Machtstreben des Individuums zur zentralen Determinante seines Handelns. Der Autor der genannten Untersuchung führt aus, daß die Theorie von Minderwertigkeitsgefühlen und Machtstreben tatsächlich die Lage von Personen in untergeordneten Positionen wiedergibt, die ja vermutlich bei den Patienten Adlers sehr stark vertreten waren. Hinzuzufügen ist, daß Adler und seine Schüler^ gewisse sozialkritische Elemente in ihrer Theorie aufweisen und daß sie großen Wert auf Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse legen. Offensichtlich haben wir hier also ein Beispiel vor Augen, wie die psychotherapeutische Praxis, insbesondere die soziale Zusammensetzung der Patienten, die Entwicklung der Theorie beeinflussen kann. Dem widerspricht übrigens nicht die Auffassung, daß auch die Persönlichkeitsstruktur Adlers für die Entwicklung seiner Theorie eine Rolle spielte.18 Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei noch erwähnt, daß die Patienten 16 17 t8

vgl. Mette 1958, Schorochowa 1969. Wassermann 1958; Tab. III/l ist aus Angaben des Textes zusammengestellt. vgl. Ansbacher 1959 in einer Antwort auf Wassermann 1958.

Adlers vermutlich nicht etwa aus Schichten der Arbeiterklasse kamen; vielmehr dürfte es sich um Personen aus unteren Schiditen des Kleinbürgertums gehandelt haben. Bei dem Unterschied zwischen den Patienten Freuds und den Patienten Adlers dürfte es sich also darum handeln, daß Freud vorwiegend Patienten aus oberen Schichten und Adler vorwiegend Patienten aus unteren Schichten des Kleinbürgertums behandelte. DieMental-Health-Bewegung Die Entwicklung der Sozialpsychiatrie in den USA ist verbunden mit der amerikanischen psychohygienischen Bewegung, der sogenannten >Mental-Health-Bewegung